Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert: Motive, Sprechweisen, Medien 9783737003759, 9783847103752, 9783847003755

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Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert: Motive, Sprechweisen, Medien
 9783737003759, 9783847103752, 9783847003755

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Tim Lörke / Robert Walter-Jochum (Hg.)

Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert Motive, Sprechweisen, Medien

Mit 18 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0375-2 ISBN 978-3-8470-0375-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0375-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft e.V. Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Norbert Bisky : Abzug. Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Tim Lörke und Robert Walter-Jochum Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Zu diesem Band . . .

9

Motive Hans Richard Brittnacher Judas oder : Die Unvermeidlichkeit des Bösen. Literarische Lösungsversuche eines theologischen Rätsels . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Mathias Meert Patriarch und Prophet. Erwählung und Prüfung als religiöse Erfahrungen in Beer-Hofmanns Ja‚kobs Traum und Zweigs Jeremias . . . . . . . . . .

33

Yvonne Nilges Thomas Mann und die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Markus Schleich »Even Jesus Wanted a Little More Time«. Die Passion Christi bei Tom Waits, Nick Cave und Johnny Cash . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Franziska Thiel »Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes«. Die Apokalypse als religiöse Form im Ersten Weltkrieg am Beispiel von Karl Kraus’ Die letzte Nacht und Kriegsbildern von Otto Dix . . . . . . . . . .

97

Imke Rösing Die politische Instrumentalisierung der Apokalypse in der nationalsozialistischen Literatur am Beispiel von Joseph Goebbels’ Roman Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6

Inhalt

Markus Kraiger Islamischer Fundamentalismus in der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Analyse von Christoph Peters’ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Frank Weiher Wo ist mein Gott? Er hat mich verlassen! Über religiöse Motive des Vampirismus in Bram Stoker’s Dracula und True Blood . . . . . . . . . . 161 Laura Gemsemer Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz. Religiöse Elemente in P. C. und Kristin Casts House of Night Novels und in Stephenie Meyers Twilight-Saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Monika Wolting Auswege aus der Eigenverantwortlichkeit? Religion, Esoterik und Parapsychologie in Daniel Kehlmanns F . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Sprechweisen Wolfgang Braungart Religion, Subjektivität, Autorschaft. Am Beispiel von Heines Tannhäuser (1836) und Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) . . . . . . . . . . 227 Jens Ole Schneider ›Leben‹ als säkulare Ersatzreligion? Monistischer Weltdeutungsanspruch und perspektivisches Sprechen in Hugo von Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Ariane Totzke Schwindsüchtige Erlöser, psychotische Pfaffen und der »Fall Barbin«. Oskar Panizzas ästhetischer Vandalismus im Deutschen Kaiserreich . . . 277 Tim Lörke Ästhetisches Kerygma. Zur religiösen Dimension der Gedichte Gottfried Benns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Lukas Pallitsch Dichtung an der Schwelle: Zwischen dem Irrealis der Gegenwart und der Erinnerung an die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Inhalt

7

Paweł Piszczatowski Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan aus dem Band Die Niemandsrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Brigitte Schwens-Harrant Literatur als Litanei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Robert Walter-Jochum Vom Bekenntnis zum Plädoyer: Religion, Sexualität und Identität bei Jean-Jacques Rousseau und Josef Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Alina Timofte Das Gebet eines Hyperchristen? Zur Dekonstruktion einer religiösen Gattung in Frost von Thomas Bernhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Stefanie Burkhardt Das Heilige und das Phantastische. Religionswissenschaftlicher Exotismus in der indienbezogenen Literatur Mircea Eliades . . . . . . . 405 Ludmila Peters Postkoloniales Sprechen von Religion und Religiosität – Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Marie Gunreben Literatur als Theodizee? Providenz und Kontingenz erzählter Welten am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Sand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 St¦phane Boutin Die Eschatologie des Ereignisses. Zum messianischen Universalismus von Lost und Badiou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Swen Schulte Eickholt Sehnsucht nach der Immanenz. James Camerons Avatar – Aufbruch nach Pandora als Utopie des göttlichen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Medien Peter Sprengel Gladius Dei. Bild und Religion in Erzähltexten um 1900 . . . . . . . . . . 517

8

Inhalt

Paul Onasch »Wenn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden.« Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons

541

Michael Fisch »Ich liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung«. Hubert Fichtes Blick auf Islam und Koran in dessen Erzählzyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Ralph Olsen und Sebastian Kuppel Das religionskritische Bilderbuch Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel – Anmerkungen zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Stefan Neuhaus »Lasst Brian frei!« Religion und Postmoderne am Beispiel von Monty Python’s Life of Brian (GB 1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Benjamin Beil Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels . . . . 625 Kai Matuszkiewicz Religion in digitalen Spielen – Eine Frage des Genres

. . . . . . . . . . . 645

Christian Dölker und Lorenz Trein »But try to remember, this is a work of fiction.« Zur Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Robert Baumgartner »Drücken Sie ›Enter‹, um Gott zu töten …« – Das Computerspiel als Medium des Deizids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705

Tim Lörke und Robert Walter-Jochum

Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Zu diesem Band

Religiöse Fragestellungen, Themen, Denk- und Ausdrucksformen scheinen weltweit an der Schwelle des 21. Jahrhunderts eine Renaissance zu erleben. Debattenschlagworte wie »Rückkehr der Religion(en)«1, »Wiederkehr der Götter«2, »Neue Religiosität«3 oder »Megatrend Respiritualisierung«4 verdeutlichen eine Entwicklung, die in Medien, Politik und Lebenswelt tagtäglich abzulesen ist und dabei eine Vielzahl von unterschiedlichen Phänomenen betrifft.5 Wie nicht anders zu erwarten, wird diese Entwicklung von verschiedensten Disziplinen anerkannt und analysiert, nicht zuletzt in den Bereichen der Philosophie6, der Soziologie7 oder den Geschichtswissenschaften.8 Religion erscheint dabei als Wurzel zahlreicher Formen sozialer Praxis, der Vergemeinschaftung und Gesellschaftsbildung sowie als Quelle zeitgenössischer politischer und ideologischer Gedankengebäude, die ein Spannungsverhältnis zwischen säkularem und sakralem Weltbezug aufwerfen und entsprechend auf ein breites mediales wie akademisches Interesse stoßen. Angesichts dessen überrascht es, wenn im Be1 Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«. München 2001. Joachim Kunstmann: Rückkehr der Religion. Glaube, Gott und Kirche neu verstehen. Gütersloh 2010. 2 Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004. 3 Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.): Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gütersloh 2005. 4 Matthias Horx: Megatrends der späten neunziger Jahre. Düsseldorf 1995. 5 Birgit Weyel u. Wilhelm Gräb (Hg.): Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen 2006. 6 Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005; Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt. Frankfurt a. M. 2009; Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981; ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart 1986; ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 4 1997; ders.: Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien. Stuttgart 2007. 7 Pierre Bourdieu: Religion. Berlin 2011; Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Darmstadt 2002. 8 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009.

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Tim Lörke und Robert Walter-Jochum

reich der (germanistischen) Literaturwissenschaft eine Tendenz ausgemacht werden kann, die enge Verbindung zwischen Dichtung und Literatur auf der einen und religiösen Vorstellungen, Ideen oder ihren säkularen Transformationen auf der anderen Seite infrage zu stellen oder gar zu ignorieren.9 Der vorliegende Band reagiert auf diese Irritation, indem er Beiträge versammelt, die das Verhältnis zwischen Religion und Literatur und verwandten Künsten reflektieren und die Bedeutung religiöser Motive und Themen, Gedanken- und Sprachfiguren sowie entsprechender lebensweltlich-pragmatischer Bezüge in den Blick nehmen. Er legt damit Zeugnis davon ab, inwiefern religiöse Sedimente die Literatur bis in die Gegenwart intensiv prägen oder dieser Anlass zur Auseinandersetzung geben. Darüber hinaus weist er auf wichtige gesellschaftliche Entwicklungen hin, wenn es um die Frage der Rezeption von Literatur geht, die sich auf religiöse Themen und Denkfiguren bezieht und sich aufgrund dessen in den Brennpunkt der benannten gesellschaftlichen Debatten begibt, in denen sie kontrovers und bisweilen im Zeichen eines sanctus furor diskutiert wird. Ziel dieses Bandes ist es, einen Überblick über das weite Feld der Verhältnisse zwischen »Religion« und »Literatur« zu geben, ohne durch eine zu starke inhaltliche Schwerpunktsetzung bereits den Fokus zu verengen und so die vielfältigen Gestalten dieser Schnittstelle nicht in den Blick zu bekommen. Die drei Sektionen »Motive«, »Sprechweisen« und »Medien« sind somit weniger nach thematischen als vielmehr strukturellen Kriterien der Bezugnahme von Literatur auf verschiedene Momente der Religion gebildet worden. Im Kern der Beiträge steht dabei die Vermessung einer Welt, die sich der Herausforderung durch die Religion zu stellen hat. Norbert Biskys Bild Abzug, das auf dem Titel des Bandes zu sehen ist, führt die Spannungen emblematisch vor. Hier ist es unentscheidbar, ob der Abzug des Numinosen aus der Welt, symbolisiert durch das fortgetragene Kreuz, eine Befreiung von religiös motivierten Unterdrückungsund Bestrafungsszenarien darstellt oder im Gegenteil diese erst hervorbringt. Das strahlende Blau, die Farbe der Transzendenz, in das Bisky seine Schreckensvision taucht, hält die Deutungen offen.

9 So der Befund in Wolfgang Braungart: Die Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geist der Theodizee. In: ders., Gotthard Fuchs u. Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Band I: um 1800. Paderborn u. a. 1997, 17–34.

Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert

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Motive Ein wichtiges Feld der Bezugnahme von Literatur auf Religion liegt im Bereich der Themen und Motive. Religion speist sich in aller Regel aus großen Erzählungen: Bibel, Koran, Heiligenlegenden, aber auch Zeugnisse Einzelner, die ihren persönlichen Weg zu einem bestimmten Glauben bekennen, teilen mit der Literatur die Analogie der Struktur, man könnte gar versucht sein zu sagen: über diese Formen ist Religion immer auch schon selbst Literatur. Der Anschluss an solche zum Teil an der Wurzel religiöser Entwicklungen stehenden, zum Teil aber auch fortwährend neu produzierten religiösen Texte erfolgt damit im Rahmen einer intertextuellen Bezugnahme.10 Texte und mediale Darstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts bedienen sich eines tradierten Themenschatzes, für den die Gleichnisse Jesu und sein biblisch überlieferter Lebens- und Passionsweg ebenso relevant sind wie die bildgewaltigen Erzählungen der Propheten des Alten Testaments oder die Lebensgeschichte des Propheten Mohammed. Die Aufnahme solcher Motive dient dabei unterschiedlichsten Zwecken: Im Mittelpunkt steht häufig die Übertragung auf zeitgenössische Problemwelten – religiöse Themen und Motive stellen dann aufgrund ihrer historischen Bindekraft Ankerpunkte dar, von denen aus die Orientierung in der Gegenwart erfolgversprechend erscheint;11 ein Verfahren, das insbesondere in den Kriegsund Krisenzeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur hat, wie die Beiträge der Sektion zeigen. Themenfelder wie Apokalypse und Passion, aber auch einzelne Figuren wie Jesus und Judas oder religiöse Bewegungen bis hin zu Kreuzrittern und Dschihadisten fungieren so seit jeher als Anreger historisierender, politischer und aktualisierender Deutungen in dämonisierender, satirischer oder sakralisierender Absicht. Aktualisierungen bringen dabei häufig auch Umdeutungen mit sich: Der aufnehmende Kontext entscheidet darüber, welche Aspekte eines religiösen Intertexts hervorgehoben, welche negiert werden und an welchen Stellen alternative Deutungen und Verwendungen aufscheinen – und die intertextuelle Bezugnahme auf religiöse Grundlagen führt nicht selten dazu, dass neue spirituelle Welten in der Literatur Gestalt gewinnen,

10 Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993. 11 Hier ist natürlich der Begriff der Kontingenzbewältigung von Bedeutung, der als Wurzel der Literatur wie der Religion angesetzt worden ist. Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 22009; ders.: Arbeit am Mythos. Sonderausgabe. Frankfurt a. M. 1996. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M./Leipzig 1995. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1991; Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012.

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Tim Lörke und Robert Walter-Jochum

wie es etwa bei manchen nicht zuletzt von ihren literarischen Weiterentwicklungen geprägten neureligiösen Bewegungen der Fall ist.

Sprechweisen Während die motivisch-thematische Bezugnahme zeitgenössischer Literatur auf religiöse (Kon-)Texte und Motive sicherlich den quantitativ größten Teil des Feldes »Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert« ausmacht, kommt daneben einem stärker vermittelten Rückgriff der Literatur auf die sprachliche und symbolische Verfasstheit von Religion eine wichtige Rolle zu. In ihrer Geschichte haben praktisch alle religiösen Bewegungen eigene Rituale, Formen und Gattungen entwickelt, in denen sie textproduktiv werden. Diese Sprechoder Redeweisen prägen naturgemäß auch die Literatur, die sich aus religiösen Zusammenhängen entwickelt hat und sich dieser markanten, anspielungsreichen Formen bedient und somit – bisweilen vollständig jenseits einer thematischen Orientierung an religiösen Sujets – auf Strukturen religiöser Gedankenbildung und Rede Bezug nimmt.12 Gebet, Litanei, Glaubensbekenntnis oder Beichte sind religiöse und theologische Formen, die in ihrer Wirksamkeit auch von areligiösen Autoren bzw. Dichtern mit einer rein weltlichen Agenda erkannt und anverwandelt werden. Nicht zuletzt bietet die Verwendung dieser Formen auch spezifische Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung mit der Religion und ihren Institutionen, sodass in dialektischer oder ideologiekritischer Weise auf sie zurückgegriffen wird, um die in ihnen traditionell transportierten Inhalte infrage zu stellen oder gar zu desavouieren. Die Literatur nutzt darüber hinaus die Kraft der tradierten religiösen Redeweisen in Bereichen der Wissens- und Identitätsproduktion: Autorschaft, Subjektivität und Identität sind Themen, die unmittelbar in der Auseinandersetzung mit religiösen Sprechweisen virulent werden – und das auch in eher säkularisierten Kontexten, wie sie die in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts abgebildete Lebenswelt zur Verfügung stellt; die diskursiven »Erfolge«, die die entsprechenden Formen als Dispositive13 in vorangegangenen konfessionellen Umfeldern bei der Produktion von Identität und Subjektivität erzielen konnten, nehmen (kirchen-)historisch informierte Autoren zum Anlass, unter den ver12 Auf dieses Wechselverhältnis der Formen literarischen und religiösen Sprechens hat zuletzt aufmerksam gemacht Heinz Schlaffer : Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012. 13 Zu diesem Begriff und Gedankengang vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1994. Vgl. hierzu auch ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974.

Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert

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änderten Bedingungen ihrer Zeit strukturell analoge Vorgehensweisen zu erproben. Schließlich werden diskursive Knotenpunkte, die traditionell mit religiösen Inhalten codiert waren, weiterhin verhandelt: Begriffe wie »Providenz und Kontingenz«, »das Heilige«, »der Mythos«, »das Phantastische« oder »Immanenz und Transzendenz« haben auch im 20. und 21. Jahrhundert nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt, wie die Analysen medialer Produkte heutiger Tage, die in diesem Band vorliegen, zeigen.

Medien Die dritte Sektion dieses Bandes widmet sich den Medien, in denen sich die Auseinandersetzung mit Religion, Religiosität und verwandten Themen vollzieht. Hier wird erkennbar, mithilfe welcher medialen Formen religiöse Diskurse und Strukturen im 20. und 21. Jahrhundert verhandelt werden. Traditionell spielen hierbei Bildmedien eine nicht zu unterschätzende Rolle, die in der Religion seit der Antike einen zentralen Raum einnehmen. In literarischen Praktiken der Ekphrasis schreibt sich diese Relevanz im 20. Jahrhundert ebenso fort wie in bildlichen Anknüpfungen in Film, TV-Serie und Computerspiel – Medien, die auf ganz eigene, zum Teil interaktive Weise den Bezug zur Religion herstellen. Durch die Fokussierung auf den Medien-Begriff wird auf der anderen Seite darüber hinaus deutlich, dass vor allem auch Rezeptionsphänomenen eine gravierende Rolle für religiöse Gehalte in medialen Produkten der Gegenwart zukommt. Das (Massen-)Medium steht immer direkt in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung; in den (Massen-)Medien wird diese in ganz anderem Tempo, einem neuen Maß an Direktheit und einer durch die Phänomene der Social Media, die hier eine Katalysatorfunktion einnehmen, zuvor ungekannten Drastik geführt. Die medialen Diskurse, die an Werke anknüpfen, die sich diesen Auseinandersetzungen stellen, verdeutlichen, dass religiöse Fragestellungen und Themen vielfach emotional hochaufgeladen und bisweilen auch irrational debattiert werden, wie an den rezeptionsorientierten Forschungsbeiträgen in dieser Sektion deutlich wird. Die Herausgeber sind in erster Linie den Beiträgern dieses Bandes, die vielfältige Einblicke in ihre laufende Forschung gewähren, zu Dank verpflichtet. Die Finanzierung des Bandes erfolgte durch Gelder aus der leistungsorientierten Mittelvergabe am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin sowie durch eine dankenswerterweise gewährte großzügige Zuwendung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der FU Berlin e. V. Dem Künstler Norbert Bisky, Leipzig, sei für

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Tim Lörke und Robert Walter-Jochum

die Gewährung der Abdruckrechte der Titelabbildung, V& R unipress für die gute, reibungslose Zusammenarbeit in der Herstellung des Bandes herzlich gedankt.

Motive

Hans Richard Brittnacher

Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen. Literarische Lösungsversuche eines theologischen Rätsels

Die literarischen und bildkünstlerischen Ausprägungen der neutestamentlichen Judas-Figur könnten kaum vielseitiger und gegensätzlicher sein. Die Evangelien, die am Beginn der Rezeptionsgeschichte des Stoffes stehen, sind Erzählungen von bemerkenswerter literarischer Einsilbigkeit, nicht frei von Äquivokationen und von einer so einzigartig hohen zeichenhaften Dichte, dass sich die extremen Ausschläge in der Rezeptionsgeschichte des Stoffes wohl auf die Ambivalenzen des Urtextes zurückführen lassen. Seine deutungsbedürftige Enigmatik verweist zuletzt auf eine abgründige theologische Aporie. Vier Beispiele mögen zunächst diese thematische Disparatheit kurz veranschaulichen (I.). Die ambivalente und sogar widersprüchliche Codierung der Judas-Figur in den Evangelien steht im Zentrum der sich anschließenden Überlegungen (II.), um die Konjunkturen der Judas-Rezeption des 20. Jahrhunderts als Profilierungen einer intrikaten theologischen Problematik begreifen zu können (III.).

I. 1. Die für das Mittelalter so wirkungsmächtige Legenda aurea (um 1264) des Jacques de Voragine erzählt die Geschichte des Judas in auffallender Symmetrie zur Paradiesvertreibung sowie zu den Mythen um Moses und Ödipus:1 Als die kinderlose Cyborea träumt, sie werde endlich einen Sohn gebären, von dem jedoch Verderben für das ganze Volk Israel ausgehen soll, beschließt sie gemeinsam mit ihrem Mann Ruben, das Kind in einem Binsenkörbchen auf dem Meer auszusetzen. Der Knabe aber wird an die Gestade der Insel Skarioth getrieben und von einer Königin geborgen, die den kleinen Jungen als ihr eigenes Kind annimmt und Judas nennt. Als sie später selbst ein Kind zur Welt bringt, 1 Voragine erzählt die Geschichte des Judas als Teil der Legende um Matthäus, den dreizehnten Apostel, der an die Stelle des Verräters trat. Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Lateinisch/ Deutsch. Hg. v. Reinhard Nickel. Stuttgart 1988, 178–185.

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Hans Richard Brittnacher

wird dieses vom Findelkind als Rivale empfunden und ermordet. Judas flieht, gelangt an den Hof des Pilatus und wird dort Hofmeister. Beim Versuch, seinem Herrn begehrte Früchte aus einem fremden Garten zu verschaffen, kommt es zum Kampf mit Ruben, dem Besitzer des Gartens. Judas erschlägt ihn – und hat damit, ohne es zu wissen, den eigenen Vater getötet. Pilatus setzt seinen treuen Diener als Besitzer des Gartens ein und verheiratet ihn mit Cyborea, der Frau des Erschlagenen – so lebt Judas unwissentlich an der Seite seiner Mutter. Als diese eines Tages ihrem neuen Mann ihre Seelenpein wegen des ausgesetzten Kindes beichtet, kommt es zur Anagnorisis: Judas erkennt sich und seine Schuld. Er schließt sich Jesus und seinen Jüngern an, um Buße zu tun. Freilich setzt sich auch hier sein schäbiger Charakter durch: Aus Geldgier, erbost über die Verschwendung einer kostbaren Salbe, die er zu seinen Gunsten verkaufen wollte, verrät er Jesus. Als er sich schließlich aus Reue über seine Tat erhängt, entweicht das Böse aus seinem aufbrechenden Leib, weil der verräterische Kuss, die Berührung von Jesu Wange, seine Lippen geheiligt und so seinen Mund versiegelt hatte. Die Legende des Judas also erzählt die Geschichte des Christusverräters als den Mythos vom Findling, der das Unheil in die Welt bringt, weil ihn ein mythisches Los zur unverbesserlichen Bosheit designiert hat. 2. Dante Alighieri beschreibt in seiner Divina Commedia (1307/21), dem theologischen und literarischen Höhepunkt des ausgehenden Mittelalters, im 34. Gesang die Wanderung des Dichters und seines Unterweltführers Vergil durch die unwirtliche Giudecca – auf dem tiefsten Grund des Höllenkraters, der beim Sturz Luzifers auf die Erde entstanden ist und in neun sich trichterförmig verjüngenden Kreisen bis zum Erdmittelpunkt führt, entdecken die Unterweltreisenden nach einem strapaziösen Gang durch eine von eisigen Winden und trostloser Kälte geprägte Landschaft eingefroren in eine Eisplatte den Fürsten der Finsternis, ein grässlich anzusehendes Monster, dessen Dreiköpfigkeit noch in der Gottesferne dem Trinitätsgedanken widerwillig Tribut zollt. Hier, im ewigen Eis der absoluten Herzenskälte, hat auch Judas seinen Platz gefunden, neben den Königsmördern und Verrätern Cassius und Brutus: Jeder von ihnen wird vom dreimäuligen, bittere Tränen der Reue aus sechs Augen weinenden Satan verschlungen und wieder ausgeschieden, nur um erneut von seinen Zähnen zermalmt zu werden: »›Der droben, den die größten Qualen drücken, ist Judas‹, sprach der Meister.«2 Der Christusverräter erscheint bei Dante als der Verworfenste aller Sünder. Die Divina Commedia dokumentiert die Orthodoxie des mittelalterlichen Christentums am Ausnahmefall: Für Judas kennt Gott keine Gnade.

2 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Die Hölle, 34, 58f. Hg. v. Erwin Laaths. Wiesbaden o. J., 193.

Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen

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3. Die erste – nie aufgeführte – Tragödie des wenig später als Skandalautor des wilhelminischen Zeitalters berühmt gewordenen Carl Sternheim trägt den Titel Judas Ischarioth. Die Tragödie vom Verrat (1901). Sie stellt einen schwarzbärtigen, charismatischen, virilen und patriotischen Judas ins Zentrum des Geschehens, einen Rabauken mit dem Herz auf dem rechten Fleck, der sich zunächst von der Begegnung mit Jesus bezaubern lässt. Als Jesus jedoch, statt die verhassten römischen Besatzer aus dem Land zu jagen, den Witwen und Waisen auf Blumenwiesen in Galiläa bei erbaulichen Predigten ein ewiges Himmelreich verspricht, wendet sich der kriegerische Judas vom sanftmütigen Jesus ab. Er erkennt in ihm nicht länger den geweissagten Messias, sondern den naiven Theoretiker einer gefährlichen Appeasement-Politik, der schlimmer noch als die Pharisäer seinen Frieden mit dem römischen Kaiser gemacht hat und daher zum Verräter an der Sache des jüdischen Volkes geworden ist. Diesen Jesus muss Judas verraten – das ist sein persönliches Schicksal, das den Untertitel von Sternheims Drama begründet: Die Tragödie vom Verrat.3 Hält Judas an seiner Liebe zu Jesus fest, verrät er seine Idee der Freiheit, bleibt er seiner Idee treu, muss er Jesus verraten. Wenn Jesus in stoischem Gehorsam – »Sein Wille geschehe«4 – schließlich das Opfer auf sich nimmt, sogar seinen Verräter Judas, unmittelbar nach seiner Gefangennahme, wie es in einer Regieanweisung heißt, »fast verstehend«5 anblickt, deutet sich bereits die Einsicht in den Heilsbeitrag von Judas’ Verrat an. Die letzte Szene jedoch zeigt den an der Ambivalenz von Liebe und Hass irre gewordenen Judas, der in der Schöpfung kein Zuhause mehr findet: »Er stürzt durch wildes Gestrüpp blutend sich einen Weg schlagend den Hügel hinan«.6 Sternheim deutet den Verrat des Judas als politisch verständliche, vielleicht sogar notwendige, wenn auch vergebliche Handlung – und die Geschichte des Verräters als tragische Aporie eines Menschen zwischen (politischer) Pflicht und (persönlicher) Neigung. 4. Schon bei Sternheim war die Beziehung zwischen Jesus und Judas nicht frei von erotischer Rivalität – zugespitzt wird dieser Aspekt des Motivs in dem Musicclip Judas (2011) der amerikanischen Popsängerin Lady Gaga. Die für ihre extravaganten Outfits und die treibenden hooklines ihrer Songs bekannte Sängerin verbindet bei ihrem Auftritt ikonographische Merkmale der Maria Magdalena mit denen einer leichtgeschürzten, tanzenden Salome. Die zwölf Apostel formieren sich hier zu einer Bikergang, die mit ihren Motorrädern auf der 3 Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher : Der rebellische Apostel. Zur Judas-Darstellung bei Carl Sternheim und Egon Friedell. In: Zagreber Germanistische Beiträge 22 (2013), 1–15. 4 Carl Sternheim: Judas Ischarioth. Die Tragödie vom Verrat. In: Carl Sternheims Gesamtwerk, Bd. 7: Frühwerk. Hg. v. Wilhelm Emrich. Neuwied/Berlin 1967, 65–124 u. 783–788 (Kommentar), hier 125. 5 Sternheim: Judas Ischarioth (Anm. 4), 126. 6 Sternheim: Judas Ischarioth (Anm. 4), 127.

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Hans Richard Brittnacher

Autobahn fährt und in einen Club einkehrt. Der orientalisch wirkende Jesus scheint der sanftmütige Repräsentant der Rebellen zu sein, Judas hingegen – ihn stellt der in der Serie The Walking Dead als Zombiekiller Daryl Dixon bekannt gewordene Schauspieler Norman Reedus dar – ist der gewalttätige Outlaw, der keinem Streit und keiner Barliebschaft aus dem Wege geht. Magdalena/Lady Gaga liebt Jesus, aber fühlt sich zugleich vom düsteren Charme des Judas angezogen: »Jesus is my virtue, and Judas is the demon I cling to«.7 Die naive Liebende und Sünderin bezeichnet sich selbst als »holy fool«, eine heilige Närrin, die Judas seine Untreue verzeiht und im letzten Drittel des Clips in einer Geste der Versöhnung beiden Männern die Füße wäscht. Die Schlussszene jedoch deutet das Scheitern der Botschaft der Nächstenliebe an: Magdalena wird gesteinigt und liegt am Ende des Clips wie eine leblose Puppe am Boden. Lady Gagas Judas lässt sich als eine an den Figuren des Neuen Testaments entwickelte Parabel über die Ambivalenz der Liebe, über Verrat und Vergebung verstehen– eine ironische Reverenz der Postmoderne vor der anthropologischen Weisheit des Neuen Testaments und eine Erinnerung an die wahren Opfer religiös motivierter Gewalt: Frauen wie Maria Magdalena. Die obligatorische Aburteilung des Judas kann diese Version des Stoffs sich ersparen. Es konnte nicht ausbleiben, dass eine so freie – und freizügige – Auslegung der Evangelien die Sittenwächter in Gestalt der Catholic League for Religious and Civil Rights auf den Plan rief, die ein Verbot des Songs forderte.

II. Wie eigenwillig oder hermeneutisch unorthodox solche Varianten des JudasStoffes auch sein mögen – die Figuren, Bilder und Erzählsequenzen sind durchaus aus den Evangelien vertraut. Ihr spielerischer Einsatz mag im Einzelfall blasphemisch anmuten, aber nicht willkürlich. Genau besehen haben schon die Evangelien uneinheitlich über Judas gesprochen – sogar die drei synoptischen Evangelien weichen in ihrer Darstellung zum Teil erheblich voneinander ab, und vollends das Johannesevangelium, das späteste der vier, das eine stark veränderte, im Gegensatz zu der tendenziell eher neutralen Darstellung der Synopsis die Figur des Judas geradezu dämonisierende Perspektive liefert. Zu Beginn, vor den Ereignissen der Passion, behandeln alle vier Evangelien die Judas-Gestalt mit auffallender Nachlässigkeit – er wird lediglich als einer der von Jesus berufenen Jünger erwähnt, der sich nur dadurch auszeichnet, dass er als letzter genannt wird und einen deutungsbedürftigen Beinamen be7 Vgl. das Video online unter : www.myvideo.de/watch/8122937/Lady_Gaga_Judas (21. 01. 2015).

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sitzt, eben Iskarioth – was, je nach theologischer Observanz, auf Judas’ Herkunft aus dem Dorfe Karioth oder auf die Sekte der Sikarier, der ›Dolchmänner‹, eine Zelotengruppe, oder auf einen aramäischen Übernamen verweist, womit Judas als ›Mann des Betrugs‹ charakterisiert wäre.8 Außerdem handelt es sich bei Judas (hebr.: Jehuda) um einen Judäer, keinen Galiläer wie Jesus und die anderen elf Jünger. Die Szene der Fußsalbung in Bethanien, bei der eine Frau Jesu Haupt und Füße mit edlem Nardenöl salbt – bei Markus und Matthäus ist sie namenlos, bei Johannes ist es Martha, die Schwester des Lazarus, auf den vielen bildkünstlerischen Darstellungen dieser Szene erscheint jedoch zumeist Maria Magdalena als die Christus mit diesem Liebesdienst ehrende Gestalt –, empört alle Apostel wegen des verschwenderischen Umgangs mit dem kostbaren Öl, dessen Erlös besser für die Armen hätte verwendet werden sollen. Bei Johannes hat die Last dieser aufsässigen Reaktion der Jünger Judas allein zu tragen; er erscheint hier als der Querulant, der die anderen aufwiegelt, aber nicht etwa mit philanthropischen, sondern egoistischen Hintergedanken: »Er sagte dies aber nicht, weil ihm die Armen am Herzen lagen, sondern weil er ein Dieb war und die Kasse hatte und das Eingelegte beiseite brachte.« (Joh 12, 6) Warum sich Jesus einen Verräter als Jünger, einen Dieb als Kassenwart gewählt haben soll, wird nicht infrage gestellt. Nur selten wurden in der Literatur Zweifel an der Loyalität anderer Apostel so laut wie im Fall von Judas: dabei hat Petrus Jesus immerhin dreimal verraten, dabei zweifelte Thomas die Auferstehung an. In Jurij Dombrowskijs Roman Die Fakultät unnützer Dinge (1964–1975) kommt der russische Wanderpriester Koturga, ein einstiger Erzbischof, zu einem bitteren Befund: »Bedenken Sie nur, was für eine Gesellschaft er [Jesus] ausgesucht hat: Petrus verleugnete ihn, Thomas zweifelte, Judas verriet ihn. Drei von zwölfen. 25 Prozent Ausschuss.«9 Aber nur Judas wurde unisono verdammt, die anderen Zweifler wurden heiliggesprochen. Unmittelbar im Anschluss an die Salbungsszene kommt es zum sogenannten Verrat – allerdings fällt in den Evangelien selbst nur ein einziges Mal dieser Begriff, und selbst dort ist der Ursprung zweifelhaft (Lk 6, 16).10 Ansonsten wählen die Evangelisten insgesamt 16-mal das griechische Verb paradidûnai, das so viel wie ›ausliefern‹, ›übergeben‹ meint und erst im übertragenen Sinne

8 Ausführlicher dazu die Kommentare zu den Evangelien, z. B. Joachim Gnilka: Evangelischkatholischer Kommentar zum Neuen Testament: Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband. Zürich/Düsseldorf 1998, 141, oder FranÅois Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Düsseldorf 2009, 215. 9 Jurij Dombrowskij: Die Fakultät unnützer Dinge. Frankfurt a. M. 1990, 272. 10 Vgl. dazu: Matthias Krieg: Judas als Figur des Neuen Testaments. In: Matthias Krieg u. Gabrielle Zangger-Derron (Hg.): Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch. Zürich 1996, 13–28, hier 16.

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auch ›verraten‹ bedeuten kann.11 Die Einheitsübersetzung gibt mittlerweile 10 der inkriminierten Stellen nicht mehr wie noch die Luther-Übertragung mit ›verraten‹, sondern mit ›ausliefern‹ wieder.12 Bei Markus, im ältesten der vier Evangelien, wird kommentarlos mitgeteilt, dass Judas zu den Hohepriestern geht, um Jesus auszuliefern (Mk 14, 10f.). Matthäus unterstellt ihm bereits ausdrücklich ein finanzielles Interesse (Mt 26, 14–16), wobei der lächerlich geringe Betrag der ihm versprochenen 30 Silberlinge weitere Fragen nach sich zieht.13 Bei Lukas erfahren wir, dass Judas den Gang zu den Hohepriestern antritt, weil der Satan in ihn gefahren sei (Lk 22, 3–6), was wiederum die Frage nach der verantwortlichen Schuld eines vom Teufel Besessenen aufwirft. Noch dringlicher wird die Frage nach der Schuld, bedenkt man das Szenario des Abendmahls, wo Jesus im berühmten vestrum unum einen der Jünger als den bezeichnet, der ihn verraten – bzw. ausliefern – wird: Da wurden sie traurig und einer nach dem anderen fragte ihn: Doch nicht etwa ich? Er sagte zu ihnen: Einer von euch zwölf, der mit mir aus derselben Schüssel isst. Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre. (Mk 14, 19–21)

Ähnlich heißt es bei Lukas, der Verräter sitze mit am Tisch, und auch hier fällt über ihn der Fluch des Weherufs: »Denn der Sohn des Menschen geht dahin, wie es bestimmt ist: doch wehe dem Menschen, durch den er ausgeliefert wird. » (Lk 22, 22) Die Verse von Markus und Lukas sind bereits in sich deutungsbedürftig, weil hier die theologische Diskrepanz von Determinismus und persönlicher Schuld aufbricht. Gerade für das Urchristentum war es wichtig, den Tod Jesu als ein von den Schriften des Alten Testaments vielfach vorausgesagtes Heilsgeschehen bezeugt zu sehen.14 Wenn die Schrift aber fordert, dass der Menschensohn, um das Erlösungswerk zu vollenden, sterben muss, welche Schuld trifft den Verräter, der doch nur tut, was getan werden muss? Bei Matthäus wird als designierter Verräter noch präziser eben der bezeichnet, der mit Jesus (gleichzeitig) die Hand in die Schüssel tauche (Mt 26, 23). Diese gegenständlich präzise Beschreibung ist in der Rezeption gelegentlich auch als Hinweis auf ein 11 Vgl. die Ausführungen von Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik. Die Lehre von Gott. Bd. 2, 2. Zürich 1988, 453–563. 12 Vgl. Almut-Barbara Renger: Die Ambiguität des Judas. Zur Mythizität einer neutestamentlichen Figur. In: Andrea Polaschegg u. Daniel Weidner (Hg.): Das Buch in den Büchern. München 2012, 85–101, hier 88. 13 30 Silberlinge entsprechen etwa 10 % jener 300 Denare, die nach Auskunft von Markus und Johannes das Öl wert war, das Maria bei der Salbung Jesu in Bethanien verwendete. Vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Düsseldorf/Zürich 2002, 54ff. 14 Vgl. dazu Luz: Evangelium nach Matthäus (Anm. 13), 81.

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Initiationsgeschehen gelesen worden: Hier werde nicht etwa der Verräter vor allen Augen bloßgestellt, hier werde einer aus der Schar der Jünger ausgezeichnet, nämlich jener, der die schwerste Aufgabe zu leisten habe: den Menschensohn auszuliefern, damit das Heilswerk erfüllt werden kann. Anders sei Jesu dringliche Bitte schwer zu verstehen: »was du tust, das tue bald!« (Joh 13, 28) Diese Deutung des Verrats als einer von Jesus selbst gewünschten Handlung wird immer wieder bemüht, wenn es um die Frage geht, warum Judas im Garten Gethsemane Jesus mit einem Kuss verraten habe.15 Denn der Kuss ist nicht nur eine Geste der Vertraulichkeit und Zuneigung, sondern auch des Abschieds von Freunden. Was die einen als Zeichen der äußersten Heuchelei werten, mit der ein Freund verraten und dem Martertod überantwortet werde, erscheint anderen als Ausdruck einer im geheimen Einverständnis verabredeten Handlung. Auch über das Ende des Judas sind sich die beiden Evangelien, die davon berichten, uneins: Bei Matthäus bereut Judas, als er sieht, dass Jesus zum Tode verurteilt wird, seine Tat; er will sich des materiellen Zeichens seiner Schuld, der 30 Silberlinge, entledigen, aber die Pharisäer weigern sich, das Blutgeld zurücknehmen. So wirft er es auf den Boden des Tempels und erhängt sich (Mt 27, 3–10). Darin wird seit dem Frühchristentum theologisch die Steigerung und Vollendung von Judas’ unseligem Erdenleben gesehen; denn am Ende krönt er seine Sünderlaufbahn mit der unverzeihlichsten aller Sünden, der Sünde wider den Heiligen Geist, das heißt dem Zweifel an Gottes Gnade.16 Andererseits will nicht recht einleuchten, dass Judas bereut, was er voller Überzeugung getan hat, wenn dann geschieht, was er doch gar nicht anders erwarten konnte. Plausibel ist seine Reue jedoch, wenn die durch den Verrat ausgelösten Ereignisse eine andere als die erwartete Richtung genommen haben. Es fehlt daher in der Nachgeschichte des Judas nicht an Interpretationen, die seinen Verrat eher als Verzweiflungstat begriffen haben, mit der ein ungeduldiger Jünger einen zaudernden Messias zum Handeln und zur Offenbarung seiner Herrlichkeit provozieren wollte. Die späte Einsicht des Judas in den unbedingten Opferwillen seines Herrn – und damit die Einsicht in seinen nicht wiedergutzumachenden

15 Davon unberührt bleibt die Frage nach der Notwendigkeit dieser ostentativen Identifizierung des doch stadtbekannten, überall frei predigenden Jesus. Spätestens der triumphale Einzug in Jerusalem hat Jesus den öffentlichen Stellen bekannt gemacht. 16 Mit Augustinus beginnt die Verdammung der desperatio des Judas. Luther hat diese Deutung noch verfestigt: »Judas, indem er Christum verrieth, thät eine große Sünde, aber nicht zum Tode; darnach, da es ihn gereuete und sich durch den Glauben nicht wieder aufrichtete, ward die Sünde schwerer und größer, und folgete daraus, dass er verzweifelte.« Luther, Tischreden Nr. 1537. Zit. n. Bernhard Dieckmann: Judas als Sündenbock. Eine verhängnisvolle Geschichte von Angst und Vergeltung. München 1991, 31. Vgl. auch Friedrich Ohly : Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld. Opladen 1976, 36–42.

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Fehler – hat ihn dann in tiefe Verzweiflung gestürzt und in den Selbstmord getrieben. Die von Lukas verfasste Apostelgeschichte erzählt hingegen, dass Judas von dem Geld des Verrats einen Acker vor den Toren Jerusalems erwarb, auf dem er zu Tode stürzte: sein Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus. Das wurde allen Einwohnern von Jerusalem bekannt; deshalb nannten sie jenes Grundstück in ihrer Sprache Hakeldamach, das heißt Blutacker. Denn es heißt im Buch der Psalmen: Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen! (Apg 1, 18–20)

Die Apostelgeschichte fabuliert den Tod des Judas als grässliches Strafgericht, das den Verräter des Lohnes seiner Taten nicht froh werden lässt, aber erinnert mit der ausdrücklichen Berufung auf die Weissagung der Psalmen ein weiteres Mal an den rätselhaften Zusammenhang von Prädestination und persönlicher Schuld und damit an ein theologisches Geheimnis an der Grenze zur Aporie. Zumal die bildkünstlerische Rezeption hat die beiden Perikopen vom Tode des Judas zumeist zusammengerückt und zeigt einen erhängten Judas mit aufklaffenden Eingeweiden. In der Idee vom Selbstmord, dem einsamen Sterben des Judas, rücken Jesus und sein Verräter enger zusammen: Der eine stirbt nach dem Willen seines göttlichen Vaters, der andere nach dem Willen der Heiligen Schrift, der eine am Kreuz auf Golgotha, der andere am verdorrten Baum in der Einöde, beide zugleich einsam und erhöht. Judas stirbt aus Reue über einen Verrat, der es Jesus erlaubte, zum Erlöser aller Menschen zu werden, nur des einen nicht, der ihm dies ermöglichte. Der eine wird von den Toten aufstehen, der andere, von aller Erlösung ausgeschlossen, auf immer tot bleiben. Die Fülle der Bilder, der Gesten und Zeichen, der deutungsbedürftigen Worte, mit der die Geschichte des Judas eher schlaglichtartig angedeutet als erzählt wird, die schroffen Fügungen der einzelnen Handlungssequenzen, die Einfärbungen der Worte und Bilder durch Stimmungen und Tonfall, ihre Begleitung durch signifikante körpersprachliche Zeichen der Akteure, und gleichzeitig der eklatante Mangel an nachvollziehbaren Motivierungen, der irritierende Gleichmut, mit dem die Evangelien die Ereignisse in ihrer bloßen fatalen Abfolge mitteilen, dann aber wieder auch der offensichtliche hatespeech des Johannesevangeliums, das um jeden Preis einen ultimativ Schuldigen will, einen menschlichen Abgrund, ein Urbild der Verworfenheit – all das wirft eher Fragen auf, als Antworten zu geben, und begründet die extreme Vielfalt und thematische Breite der rezeptionsgeschichtlichen Dokumente, die auf den in den Evangelien noch zurückhaltend angedeuteten Antinomien eine Kulturgeschichte extrem gegensätzlicher Narrationen und Theologumena blühen ließ.

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III. An erster Stelle steht dabei selbstverständlich die Ikonographie des Bösen, die in Judas eine ihrer wirkungsmächtigsten, noch heute gültigen personalen Verkörperungen fand und die sich bald innig mit dem Antisemitismus verschwisterte. Judas ist in die Kulturgeschichte als Inbegriff des Verräters eingegangen, eines erbärmlichen und schäbigen Lügners und Heuchlers, der seinen Meister und Freund für 30 Silberlinge verriet und selbst einen jämmerlichen Tod starb, der jeden Anspruchs auf Größe entbehrt. Nur als sozialer Außenseiter kann Judas diese Last an Niedertracht schultern: Schon frühe Illustrationen zeigen ihn deutlich von den anderen Jüngern unterschieden, als mickrige, geduckte, alleinstehende Figur, die weitab von den anderen sitzt, am Tischende oder wie ein Hund zu Füßen Jesu, ganz ohne oder mit einem schwarzen Heiligenschein. Im Garten Gethsemane nähert er sich Jesus als klebriger Schleicher mit tückisch gespitzten Lippen, vor den Pharisäern erscheint er als Krämer und Kriecher, mit Gier im Gesicht und Heimtücke im Herzen. Unübersehbar erhebt der Satan Anspruch auf seine Seele, sei es, dass er als schwarzgeflügelter und geschwänzter Dämon in seiner Nähe steht und seinem gelehrigen Schüler wohlgefällig über die Schulter schaut, sei es, dass er als kleines Teufelchen mit dem Bissen aus der Hand des Herrn beim Abendmahl in den Mund des Judas fährt, sei es, dass er beim Sterben frohlockend mit der Seele des Judas in den Klauen aus dem Mund des Erhängten entweicht oder als Quälgeist an dem Strick zerrt, der dem reuigen Judas die Luft abschnürt. Später kommen als unmissverständliche Attribute seines Verrats noch der Geldbeutel mit den Silberlingen und ein gelber oder roter Umhang hinzu, in den sich der Übeltäter hüllt, um sich zu verbergen oder den Dolch zu verstecken. Die Malerei und Bildhauerei des Abendlandes haben Judas, zu diesem Befund kommt der Padre Ettore P., der in Walter Jens’ Der Fall Judas (1975) einen Antrag auf Seligsprechung des Verräters zu prüfen hat, ein »doppeltes Kainsmal« eingebrannt: »Das Zeichen des Verrats und das Zeichen des Wuchers … zwei Symbole, die Judas bis in unsere Tage hinein […] zum Stellvertreter der gesamten Judenschaft machten.«17 Die religiöse Kunst hat das ganze Kapital physiognomischer Denunziation aufgebraucht, um Judas durch abstoßende Hässlichkeit, durch Rothaarigkeit, wulstige Lippen, runzlige Haut, schielende Augen und Hakennasigkeit zu entstellen.18 Der Name des Judas wurde zur Antonomasie des Verrats, und spätestens seit den Passionsspielen des 16. 17 Walter Jens: Der Fall Judas. Stuttgart 1975, 87. 18 Ausführlicher zum Thema der bildkünstlerischen Denunziation des Judas vgl. Hans Richard Brittnacher: Die Physiognomik des Verräters. Der Judas des Leonardo von Leo Perutz. In: Zagreber Germanistische Beiträge 21/2012, 49–74; vgl. auch Art. »Judas Ischariot«. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hg. v. Engelbert Kirschbaum SJ. Freiburg i. Br. 1968, Bd. 2, Sp. 444–448.

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und 17. Jahrhunderts gilt Judas immer wieder auch als Charaktertyp des jüdischen Volkes, als der schlimmste der Gottesmörder, in dessen Physiognomie alle antijudäischen Ressentiments zu abstoßender Kenntlichkeit entstellt werden.19 Diese exklusive Negativierung der Judasfigur, die durch immerwährenden Gebrauch in der bildkünstlerischen Überlieferung, in der Literaturgeschichte und der religiösen Gebrauchsliteratur geradezu dogmatischen Charakter gewonnen hat, liefert auch heute noch sicherlich die am weitesten verbreitete Deutung der Gestalt: Sie fragt nicht nach den Gründen des Verrats, sie nimmt ihn als Faktum, das auf die schwarze, in ihrer Opakheit nicht weiter ergründliche Seele des Bösen verweist. Gerade im übertragenen Sprachgebrauch hat sich die Bedeutung von Judas als einer Metapher heimtückischer Bosheit erhalten, etwa in Anne Dudens Erzählung Das Judasschaf (1985): In etlichen Schlachthöfen hält man sich ein Judasschaf […]. Es steht bereits vor dem Schlachthaus, wenn der nächste Lastwagentransport von Schafen ankommt. Das Judasschaf dreht sich um und führt die Herde unfehlbar und klar auf die Plattform […] die Schafe folgen […]. Das Judasschaf tritt jetzt zur Seite, die anderen Schafe gehen durch die Tür und werden sofort betäubt, aufgehängt undsoweiter. Das Judasschaf geht zurück und erwartet die nächste Herde.20

In der Erzählung Flowering Judas (1930, dt.: Blühender Judasbaum) der amerikanischen Südstaatlerin Katherine Anne Porter geht es um einen Verrat im Kontext der mexikanischen Revolution, als dessen Symbol der sprichwörtliche Baum erscheint, in Erich Mühsams Drama Judas von 1921 um einen Verräter im Arbeitermilieu, in Karl Schönherrs Volksstück Der Judas von Tirol (1897) um die Auslieferung des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer usf. Allerdings sind gerade der Literatur Korrekturen am Judas-Bild zu verdanken, die sich mit der einfältigen Schuldzuweisung an den Sündenbock Judas, der alles zu dulden hatte, was je an Phantasien über das Fremde und Dunkle und Böse ersonnen wurde, nicht länger abfinden wollte. Einen nachhaltigen Wandel der Judas-Betrachtung leitete Friedrich Gottlieb Klopstock an, dessen tief empfundener und skrupulöser Pietismus eine so unbegründete, bloß emblematische Sicht des Bösen nicht hinnehmen konnte. In seinem Messias (1748–1773) gelang es ihm, ohne die Täterschaft des Judas zu bestreiten, doch dem Leser ein seelisches Drama vor Augen zu stellen, das den Verrat als zwar verwerfliche, aber auch verständliche Handlung erscheinen lässt: Wie Jesus im Auftrage Gottvaters handelt, so handelt auch Judas im Auftrage seines Vaters, der ihm im Traum erscheint. Der Judas bei Klopstock ist kein monströser Fin19 Zur antisemitischen Tradition der Judasdarstellung vgl. Dieckmann: Judas als Sündenbock (Anm. 16) sowie Mirjam Kübler : Judas Iskariot: Das abendländische Judasbild und seine nationalsozialistische Instrumentalisierung. Waltrop 2007. 20 Anne Duden: Das Judasschaf. Berlin 1985, 49.

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sterling, sondern ein schöner, junger Mann, der sich von Jesus zurückgesetzt fühlt. Der Vater drängt den von der Eifersucht auf Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, gepeinigten Sohn, sich nicht länger benachteiligen zu lassen, sondern die Initiative zu ergreifen und den allzu zögerlichen Jesus zu einer demonstrativen Machtausübung und Selbstoffenbarung als Messias zu zwingen: Suche »ihn […] zu bewegen, damit er sich endlich / […] furchtbarer zeige, / Und, mit Schande, Bestürzung und Schmach sie zu Boden zu schlagen, / Sein so lang’ erwartetes Reich auf einmal errichte.«21 In solchen Varianten der Judas-Figur zeigt sich der Verräter immer selbst als das Opfer eines vorangegangenen Verrats: Bevor er Jesus verraten hat, war seine Liebe von Jesus verraten worden, was zu Kummer und impulsivem Zorn führte. Die Fülle der Texte, in denen Christus von Judas als Zauderer erlebt wird, als Phantast und verträumter Deserteur, der seine Mittel nicht einsetzt und nicht auf die Unterstützung der ihm bedingungslos ergebenen Anhänger vertraut, reicht bis zu dem Musical Jesus Christ Superstar (1969/70), das in der Verfilmung durch Norman Jewison (1973) populär wurde – hier ist es, auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung, ein schwarzer Judas, der in Jesu Spiritualität angesichts der anstehenden Aufgabe einen Affront erkennt, der ihn zum Verrat nötigt.22 Die Vorstellung vom ungeduldigen Judas, der einen zögerlichen Messias zum Handeln bewegen will, ist eng verwandt mit dem Bild von Judas als Patriot und Freiheitskämpfer, den der Hass auf die Römer beseelt. Er sehnt einen kriegerischen Messias herbei, um die römischen Götzendiener aus dem Lande zu jagen. Dass Jesus die Wechsler aus dem Tempel trieb, nährte die Vorstellung von einem Messias, der mit fundamentalistischer Energie und handgreiflichem Nachdruck dem Messiasbild der religiösen Orthodoxie entspricht und zugleich sein Volk politisch befreit. Es fehlt daher in der Literatur nicht an Deutungen des Judas als eines zornigen Israeliten und glühenden Befreiungskämpfers, der aus tiefer Enttäuschung einen in seinen Augen berechtigten, sogar notwendigen Verrat begeht, weil er die fundamentale Friedfertigkeit des von Jesus verbreiteten Evangeliums angesichts der politischen Realität der Unterdrückung nicht verstehen oder akzeptieren kann. Hier wäre u. a. an Egon Friedells Judastragödie (1916) zu denken oder an Schalom Aschs berühmten Roman Jesus. Der Nazarener (1939; jidd.: Der Man fun Natseres). Dem rebellischen Judas verwandt, aber nihilistischer in ihrer apokalyptischen Kälte sind Figuren wie der Jehuda in Max Brods Roman Der Meister (1941), der aus der Einsicht in die absolute 21 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias, 3, 632ff. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Karl August Schleiden. München 1962, 195–772. 22 Noch weiter geht Anthony Burgess in seinem Roman Jesus and the Love Game (1976), in dem sich ein gutwilliger Judas von den Pharisäern überreden lässt, ihnen den Aufenthaltsort Jesu zu verraten, damit sie den angesichts drohender Aufstände Gefährdeten in Schutzhaft nehmen können.

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Sündhaftigkeit der Welt eine totale Vernichtung der Schöpfung herbeisehnt. Jehuda verrät Jeschua (Jesus), als er sein Missverständnis einsieht: die Brandreden Jesu zielten nicht auf den Untergang, sondern auf die Erneuerung der Welt.23 Emergent werden im 20. und 21. Jahrhundert aber auch Interpretationen, die sich nicht länger auf Forcierungen überkommener Judas-Bilder oder auf ihre Umdeutung beschränken, sondern nach dem Muster »Was die Evangelien nicht erzählen« die Geschichte weiter-, neu- oder umschreiben, die Evangelientexte also nicht länger als der Weisheit letzten Schluss nehmen, sondern nach dem Modell der populär gewordenen Alternate-History-Konstruktionen, mit der Lizenz zu größerer konzeptioneller Freiheit, die Judas-Geschichte um alternative Varianten bereichern. Ein frühes Beispiel dafür findet sich in Michail Bulgakows Der Meister und Margarita (1940), der inmitten des Stalinismus im Moskau der 40er-Jahre literarisch einen Hexensabbat entfesselt, bei dem nicht nur der Teufel Voland seinen Schabernack mit den russischen Bürokraten treibt. Der an Amnesie leidende Held des Romans, der ›Meister‹, phantasiert eine alternative Geschichte um Pilatus und Judas: In ihr avanciert Pilatus zum tragischen Helden und zugleich zum Vertreter jener Moskauer Bürger, die sich nicht entschlossen der Staatsmacht entgegenstellen. Pilatus hat die Hinrichtung Jeschuas, den er nicht als Gott, wohl aber als einen lauteren, sanftmütigen Menschen kennengelernt hat, nicht verhindert, was er sich nicht verzeihen mag. Dieser von Reue geplagte Pilatus findet in Judas einen Gesinnungsbruder : Ausdrücklich bekräftigt Jeschua Pilatus’ Frage, ob es sich bei Judas um einen guten Menschen handele: »Ein sehr guter und wißbegieriger Mensch.«24 Es ist wohl nicht allein der unberechenbare Terror des Stalinismus, sondern die Unzuverlässigkeit der menschlichen Natur der Grund dafür, dass in Bulgakows Roman, der dem Leser ein alternatives Evangelium zur Prüfung vorlegt, der Verräter Judas von seiner Geliebten und Vertrauten Nisa in einen Hinterhalt gelockt und vom Geheimdienst des Pilatus grausam im Garten Gethsemane ermordet wird. Den energischsten Zugriff auf den Text der Evangelien und die am stärksten gegen den Strich gebürsteten Interpretationen bilden jene literarischen Dokumente, die mit der theologischen Unverzichtbarkeit des Verrats argumentieren – durch das sogenannte Judasevangelium, dessen Existenz zwar schon seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, aber erst seit dem Fund des Codex Tchacos im Jahre 1976 auch dem Wortlaut nach bekannt ist, erhält diese These

23 Vgl. dazu Josef Imbach: »Judas hat tausend Gesichter.« Zum Judasbild der Gegenwartsliteratur. In: Harald Wagner (Hg.): Judas Iskariot. Menschliches oder heilsgeschichtliches Drama. Frankfurt a. M. 1985, 91–142, hier v. a. 93. 24 Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. München 1994, 39.

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theologisches Gewicht, da hier Judas als mit Jesus innig Vertrauter erscheint.25 Wenn – so etwa lässt sich die Argumentation dieser Traditionslinie zusammenfassen – Christi Tod am Kreuz notwendig war, um die Erlösung der Menschen durchzuführen, dann war auch der Verrat, der dem voranging, unumgänglich. Damit aber bietet sich zwingend eine andere Deutung des Verrats als Liebesdienst und als eigentliches Opfer an: Da Jesus selbst auf die Weissagung der Schrift anspielt und den Verräter, der doch nur tut, was getan werden muss, zugleich ob seines Schicksals bedauert – besser wäre es für ihn, nie geboren zu sein (Mk 14, 21) – erscheint die Tat des Judas als ein ultimativer Liebesbeweis und zugleich als das ultimative Martyrium: Aus Liebe zu Christus und im Wissen um die unverjährbare Verwerflichkeit seines Tuns nimmt Judas, der Erwählte aus dem Kreis der Jünger, die ewige Höllenpein auf sich, um Jesus die Agonie und damit der Menschheit die Erlösung zu ermöglichen. In seiner so raffinierten wie amüsanten Kasuistik des Judas-Themas hat Jorge Luis Borges in seinen Tres versiones de Judas (Drei Fassungen des Judas, 1944) diese Argumentation durchgespielt: Nils Runeberg, ein Theologe, der die Rehabilitation des Judas betreibt, kommt in der pointiertesten seiner drei Fassungen des JudasStoffs zu dem Schluss, Judas, nicht Jesus, gebühre rechtens die Anbetung als wahrer Gott. Walter Jens hat in seinem als Dokumentation eines gescheiterten Kanonisierungsverfahrens angelegten Text Der Fall Judas (1975) theologisch durchaus bedenkenswerte Gründe für eine längst fällige Abbitte zusammengetragen. Demzufolge leistete Judas nur, was ihm abverlangt worden war : »hätte er sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste – er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.«26 In Luise Rinsers Magdalena-Roman Mirjam (1983) ist die Behauptung von Judas’ Verrat nichts als üble Nachrede von interessierter Seite: »Wie haben sie Jehuda verzeichnet im Zorn, wie haben sie ihn zum gemeinen Verbrecher gemacht […] ein so leidenschaftlich Liebender wie kein andrer von uns.«27 Auch für Rinser gehören Jesus und Judas als »dunkle[ ] Zwillingsbrüder« zusammen: »sie starben beide am selben Tag, beide am Holz, beide den Erstickungstod; beider Namen verbunden in alle Ewigkeit. Jeschua das Licht, Jehuda sein Erdenschatten.«28

25 Vgl. dazu Elaine Pagels u. Karen L. King: Das Evangelium des Verräters. München 2007; vgl. auch Rudolf Neuhäuser : Judas der Verräter. Religion – Literatur (Leonid Andrejew, Nikos Kazantzakis, Jurij Dombrowskij) – Film. In: Dietrich von Engelhardt (Hg.): Verrat. Geschichte, Medizin, Philosophie, Kunst, Literatur. Heidelberg 2012, 291–320, hier 294f. 26 Walter Jens: Der Fall Judas. Stuttgart 1975, 8. 27 Luise Rinser : Mirjam. Frankfurt a. M. 1983, 67. 28 Rinser : Mirjam (Anm. 27), 64.

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In dem Maße freilich, in dem Judas restlos exkulpiert, sogar zum Märtyrer befördert wird, droht die Passionsgeschichte ihren soteriologischen Ernst zu verlieren. Die Figuren des Geschehens erinnern dann an Marionetten, das Szenario der Heilsgeschichte an die abgekartete Partie eines boshaften Demiurgen – dies zumindest legen Überlegungen nahe, die Mario Pomilio in seinem Roman Das fünfte Evangelium (Il quinto evangelio, 1975) durchgespielt hat, der seinen Judas in einer theatralen Nachstellung der Passionsgeschichte eine bittere Anklage führen lässt: »Gib dich keinen Illusionen hin, wir sind alle in derselben Situation […]: Lockvögel eines Geschicks, das größer war als wir. Wir waren nur Komparsen und Marionetten eines – anscheinend – unvermeidbaren Dramas. […] Es bedurfte eines Verräters, eines Richters, eines Henkers […].«29 Solche Überlegungen mögen rabulistisch anmuten – sie sind in der Tat oft von größerem theologischem als literarischem Reiz. Interessanter und innovativer als theologische Weißwäschen sind Darstellungen, denen es gelingt, Judas’ Ambivalenz plausibel zu veranschaulichen. Diesbezüglich hat vielleicht kein Text den Abgrund der condition humaine tiefer sondiert als Leonid Andrejews Erzählung Judas Ischariot (1909). Judas erscheint als gespaltener und eben deshalb authentischer Mensch, grausam von der Natur vernachlässigt, ausgestattet mit einem herrischen und zugleich liebesbedürftigen Charakter. Die äußerliche Gespaltenheit des zyklopischen Judas ist Ausdruck der seelischen Verletztheit eines empfindsamen und gepeinigten Menschen: das kurze rote Haar konnte die seltsamen und auffälligen Formen seines Schädels nicht verbergen, wie vom Nacken her mit einem zweifachen Schwertstreich gespalten und neu zusammengefügt, war er deutlich viergeteilt und flößte Mißtrauen und sogar Furcht ein. In einem solchen Schädel konnten nicht Frieden und Sanftmut wohnen, in einem solchen Schädel mußte immer der Lärm grausamer, blutiger Kämpfe dröhnen. Auch Judas Gesicht schien zwiespältig. Die eine Seite mit dem schwarzen, scharf spähenden Auge war lebhaft und beweglich und legte sich gern in zahlreiche Fältchen. Die andere hatte keine Fältchen, sie war leblos-glatt, flach und straff; und obwohl sie ebensogroß war wie jene, ließ das weit offene blinde Auge sie riesig erscheinen.30

Dieser Judas ist eine Laune der Natur, dessen Misstrauen angesichts der immer wieder erlittenen Demütigungen nur zu berechtigt ist: Er will kein herablassendes Mitleid, sondern Anerkennung wie alle anderen und ertrotzt sich, was ihm verweigert wird. Immerzu misst er sich mit den Jüngern, immerzu fordert er ihre Toleranz heraus, immer wieder betrügt und übervorteilt er sie, um sie zu einem Verhalten zu nötigen, das der Liste seiner erlittenen Demütigungen eine weitere hinzufügt. Umgekehrt lässt ihn sein profundes Misstrauen an der Auf29 Mario Pomilio: Das fünfte Evangelium. Salzburg 1977, 289. 30 Leonid Andrejew: Judas Ischariot. In: ders.: Judas Ischariot. Erzählungen 1907–1916. Hg. v. Karlheinz Kasper. Berlin 1989, 5–85, hier 7f.

Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen

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richtigkeit der ihm erwiesenen Zuneigungen zweifeln und so steigert er sich in eine Spirale aus immer neuem Verlangen nach Liebe und immer stärkerer sozialer Isolation hinein. Es ist die seelische Disposition des Außenseiters, der keinen Grund zum Vertrauen kennt und in unablässigem Hadern sich selbst am wenigsten traut. An Judas wird aber auch die doppelte Signatur des Stigmas offenbar : Was ihn von den anderen unterscheidet, ist es zugleich, was ihn vor allen anderen auszeichnet. In seinem enormen, aus der Erfahrung der Not und Selbstverachtung gespeisten Hochmut glaubt er allein sich Jesus ebenbürtig – und tatsächlich ist er der Einzige, der aufgrund seiner psychischen Qualen die Einsamkeit Jesu im Garten Gethsemane nachzuempfinden vermag. Der Verrat des Judas ist hier die ultimative Kränkung eines anderen, die dieser, um Judas’ Nihilismus zu widerlegen, dennoch liebend verzeihen muss. Nur ihm gebühre es, von Jesus wiedergeliebt zu werden, nicht den Jüngern, die sich aus Feigheit dem Liebesdienst versagten; »Wer liebt, der fragt nicht, was er tun soll!«31 Vor seinem Selbstmord empfiehlt er sich Jesus, in dem er eher den kreatürlichen Menschensohn als den zur Erde herabgestiegenen Gottessohn, als Bruder im gemeinsamen Schmerz, erkennt: »Ich komme zu Dir. Nimm mich freundlich auf, ich bin sehr müde. Dann wollen wir zusammen, Du und ich, Arm in Arm, wie Brüder auf die Erde zurückkehren.«32 Mit seinem Selbstmord erliegt dieser Judas nicht der desperatio, wie sie eine auf die Bezichtigung des Bösen erpichte Theologie dem traditionellen Judas zuweist, sondern vollbringt einen bis ins Äußerste getriebenen Treuebeweis, eine »imitatio christi ex negativo, die sich nicht umsonst auf dem Gipfel eines Berges wie der Tod Jesu auf Golgotha vollzieht«,33 freilich stirbt er nicht wie Christus als Opfer, erhaben im Leiden am Kreuz, sondern von eigener Hand, an einem »einzelne[n] Baum, halbverdorrt und krumm, vom Winde gequält«.34 Die besondere Leistung von Texten wie dem Andrejews besteht darin, das anthropologische Kapital der biblischen Erzählungen auszuschöpfen, statt auf die Zumutung, die sie darstellen, durch Reduktion oder Entschärfung zu reagieren.35 Die Deutung der Evangelien als ›Frohbotschaft‹ leugnet oder verschweigt zumindest jene finstere Dialektik, für die eben nicht nur das Selbstopfer Gottes, sondern auch das Opfer des Verräters unabdingbar ist. Das mysterium 31 Andrejew: Judas Ischariot (Anm. 30), 80. 32 Andrejew: Judas Ischariot (Anm. 30), 84. 33 Vgl. Rainer Goldt: Der Judasstoff in der russischen Literatur und Philosophie. In: Bodo Zelinsky u. Jessica Kravets (Hg.): Das Böse in der russischen Kultur. Köln/Weimar/Wien 2008, 263–278, hier 269. 34 Andrejew: Judas Ischariot (Anm. 30), 83. 35 In diesem Sinne bezeichnet Renger Rezeptionszeugnisse der Judastradition als Disambiguierungen eines ursprünglich ambiguen Mythos, vgl. Renger: Die Ambiguität des Judas (Anm. 12).

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proditionis ist nicht zum halben Preis zu haben. Wer von Judas erzählt, darf den Verrat nicht verschweigen, aber auch nicht den Missbrauch des Verräters. Erst Jesu Opfer brachte die Lösung vom Gewaltzusammenhang,36 aber ohne jene, die das Opfer verrieten, die es verurteilten und töteten, wäre die Lösung aus gewaltträchtiger Naturverfallenheit nicht möglich gewesen. Die Ächtung des Judas leugnet dessen heimliche Teilhabe am Opfer – und ist daher verantwortlich für eine mit der Figur des Verräters identifizierte Geschichte der menschlichen Niedertracht, die doch eine der condition humaine ist.

36 Vgl. zu dieser Deutung des Opfers Ren¦ Girard: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987.

Mathias Meert

Patriarch und Prophet. Erwählung und Prüfung als religiöse Erfahrungen in Beer-Hofmanns Jaákobs Traum und Zweigs Jeremias1

Dass religiöse Themen und Motive in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts besonders produktiv und relevant sind, zeigt sich deutlich anhand der literarischen Bibelrezeption zahlreicher Autoren und Autorinnen der Moderne.2 Literarische Bezüge zu biblischen Themenkomplexen bzw. das Auftauchen biblischer Figuren, Geschichten und Stoffe in literarischen Texten stellen die jahrhundertealte Beziehung zwischen Bibel und Literatur nicht nur textintern dar, sondern zeugen auch aus der Perspektive des jeweiligen Autors – insbesondere bei komplexen intertextuellen Rezeptionsformen der Schrift – von einer Auseinandersetzung mit der Bibel als breit rezipiertem Kulturgut ebenso wie Offenbarungsdokument monotheistischer Religionen. Vor allem das Aufgreifen und intertextuelle Verarbeiten des alttestamentlichen bzw. hebräischen Textmaterials nimmt nicht zuletzt bei Schriftstellern jüdischer Herkunft häufig identitätsspezifische Konturen an, die sich im Umfeld deutschsprachiger jüdischer Literatur auf Themen wie das »persönliche Gottesverhältnis […], Konflikte über die jüdische Existenz und das Ringen um die Bewahrung der jüdischen Identität«3 beziehen. In dieses mehrschichtige und spannungsvolle Feld von Religion, Literatur und Identität schreiben sich im frühen 20. Jahrhundert zwei Wiener Schriftsteller jüdischer Provenienz ein, die unmittelbar zur österreichischen literarischen Moderne gehören: Richard Beer-Hofmann (1866–1945) und Stefan Zweig (1881–1942).4 Im Besonderen die gegen Ende des Ersten Weltkrieges erschie1 Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext meines vom Fonds für wissenschaftliche Forschung Flandern (FWO-Vlaanderen) geförderten Promotionsprojekts an der Vrije Universiteit Brussel. 2 Einen detaillierten Überblick über die literarische Bibelrezeption im 20. Jahrhundert liefert der von Heinrich Schmidinger herausgegebene Doppelband: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. 2 Bde. Mainz 1999. 3 Armin A. Wallas: Deutschsprachige jüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Bd. 1. Hg. v. Andrea M. Lauritsch. Wuppertal 2008, 106f. 4 Zum ›Jüdischen‹ in der Wiener Moderne bzw. im Dichterkreis des ›Jung-Wien‹, zu dessen prominentesten Vertretern man neben Hofmannsthal und Schnitzler auch Beer-Hofmann

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nenen Dramen der beiden Autoren – Zweigs Jeremias: eine dramatische Dichtung in neun Bildern (1917)5 und Beer-Hofmanns Ja‚kobs Traum. Ein Vorspiel (1918)6 – bilden einen Ort der Reflexion über biblisch-jüdische Figuren und Geschichten, die sowohl in intertextuellen Poetiken artikuliert wird als auch mit weiteren politisch-ideologischen Positionierungen zusammenhängt, die – nicht zuletzt in der Rezeption – dazu führen, dass die jeweiligen Werke als zeitgeschichtliche Kommentare gelesen werden können.7 Beer-Hofmanns Drama Ja‚kobs Traum, das als ›Vorspiel‹ im Rahmen seines als Trilogie geplanten Zyklus über die Historie von König David angesiedelt ist und dessen Fabel im Sinne einer identifikatorischen Familiengeschichte schließlich in Davids späteres Königreich mündet, stellt die problematische Situation des Erzvaters Jakob dar, aus dessen Nachkommenschaft nach Vorgabe des Pentateuch das spätere Volk Israel gegründet wird. Am anderen Ende dieser hebräisch-biblischen Zeitachse greift Zweigs Jeremias die Figur des gleichnamigen Propheten auf, um die Geschichte der Zerstörung Jerusalems und das darauf folgende babylonische Exil als »Tragödie und Hymnus des jüdischen Volkes«8 in den Rahmen eines hoffnungsvollen Plädoyers für ein übernationales Diasporajudentum zu integrieren, dessen kosmopolitische und universelle Lesarten er hervorhebt.9

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zählt, vgl. u. a. Sarah Fraiman-Morris (Hg.): Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des ›Fin de SiÀcle‹. Tübingen 2005. Vgl. dazu auch Harry Zohn: Jüdische Züge in den Werken des Dichterkreises ›Jung-Wien‹. In: Karlheinz F. Auckenthaler (Hg.): Numinoses und Heiliges in der österreichischen Literatur. Bern 1995, 35–57. Autobiographische Rückblicke auf die in Wien erlebte (jüdische) »Welt von Gestern« in und nach der Jahrhundertwende bietet Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 2010. Stefan Zweig: Tersites – Jeremias. Zwei Dramen. Frankfurt a. M. 1982. Richard Beer-Hofmann: Die Historie von König David und andere dramatische Entwürfe. Paderborn 1996. So wird in der Beer-Hofmann-Forschung oft angenommen, dass die frühzeitige Veröffentlichung von Beer-Hofmanns Drama im Jahre 1918 vor allem als Antwort auf wachsende antisemitische Stimmungen gegen Ende des Ersten Weltkrieges zu lesen sei. Vgl. dazu auch die im Paratext des Stückes kryptisch formulierten Aussagen des Autors bezüglich der vorzeitigen Veröffentlichung des Stückes in Buchform: »Es wäre mir gewünscht gewesen, ›Ja‚kobs Traum‹ […] bis zur Vollendung meiner Arbeit [i. e. der gesamten Historie von König David] unveröffentlicht zu lassen. Ereignisse veranlassen mich auf meinen Wunsch zu verzichten«. BeerHofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 540. Vgl. die während der Kriegszeit an Martin Buber gerichteten Briefe vom 08. 05. 1916 und vom 21. 01. 1917. Stefan Zweig: Briefe 1914–1919. Hg. v. Knut Beck, Jeffrey B. Berlin und Natascha Weschenbach-Feggeler. Frankfurt a. M. 1998, 106–108 u. 130–132, hier 106. Von Buber unterscheidet sich der junge Zweig nach eigener Angabe nur darin, dass er »nie wollte, dass das Judentum wieder Nation wird und damit sich in die Concurrenz der Realitäten erniedrigt« und er die »Diaspora liebe und bejahe als den Sinn seines Idealismus, als seine weltbürgerliche allmenschliche Berufung«. Zweig: Briefe 1914–1919 (Anm. 8), 130. Vor allem als Antikriegsdrama bzw. als ›pazifistisches‹ Drama fand Zweigs Jeremias in der Rezeption internationale Anerkennung. Zu Zweigs jüdischer Stellungnahme vgl. u. a. Marc H. Gelber : Stefan Zweig und die Judenfrage von heute. In: ders. (Hg.): Stefan Zweig heute. New York 1987, 160–180. Zu den ›pazifistischen‹ Aktivitäten des Schriftstellers vgl. u. a. die Aufsätze zum

Patriarch und Prophet

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Über die unterschiedlichen Biographien und politisch-ideologischen Weltansichten ihrer Autoren hinaus dialogieren beide Stücke in besonderem Maße im Hinblick auf eine den jeweiligen Protagonisten zugrunde liegende und zugleich kollektiv orientierte (religiöse) Erfahrung der ›Erwählung‹, die mit ständiger Prüfung verbunden ist und sich in zwei Identitäten auf der Bühne ausdrückt: der des Patriarchen und der des Propheten. Leitfäden zur vorliegenden Analyse dieser Thematik bei Zweig und Beer-Hofmann bilden die unterschiedlichen (dramatischen) Subjektkonstitutionen, Darstellungen des Religiösen und Formen biblischer Intertextualität. Untersucht wird diese Thematik dagegen nicht im Sinne auktorialer (Selbst-)Inszenierungen.10 Liest man beide Stücke zusammen, so ergibt sich aus Figurenkonstellation und Handlungsaufbau ein vielschichtiges und nuanciertes Mosaik religiöser Erwählungsmöglichkeiten, was zu einem vergleichenden und intertextuellen Dialog über Erwählung in Religion und Literatur einlädt.

Bibelgedächtnis und Intertextualität Verweise auf biblische Texte und Figuren in der Literatur umfassen im konzeptuellen Rahmen der Intertextualität nicht nur formale, thematische und funktionelle Aspekte, die zum konkreten Textverständnis beitragen; vor allem adaptierende Text-Text-Beziehungen reflektieren den transformatorischen Prozess, den die Bibel als Prä- und Intertext bei Textkontakten voraussetzt. Zudem ist auch die Bibel an sich kein unproblematischer, »feststehender Ur(sprungs)text«, sondern kulturhistorisch stets einem »Prozess ständiger Veränderungen, wie z. B. Editionspraktiken«11, Übersetzungen und unterschiedlichen Auslegungstraditionen unterworfen.12 Mit der Konzeptualisierung einer übergreifenden Thema ›Krieg und Frieden‹ und ›Judentum und Exil‹ in: Mark H. Gelber u. Klaus Zelewitz (Hg.): Stefan Zweig. Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Riverside 1995, 11–160 u. 167–240. 10 Vor allem bei Beer-Hofmann taucht die auktorial intendierte Stilisierung zum ›erwählten‹ Autor wiederholt auf. Zur (biographischen) ›Erwählung‹ im Sinne seines jüdischen Selbstverständnisses vgl. Ulrike Peters: Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M 1993. Zur Idee der ›Erwählung‹ des Dichters bei Beer-Hofmann vgl. Antje Kleinewefers: Das Problem der Erwählung bei Richard Beer-Hofmann. Hildesheim/New York 1972. 11 Marion Keuchen, Stephan Müller u. Annegret Thiem (Hg.): Inszenierungen der Heiligen Schrift. Jüdische und christliche Bibeltransformationen vom Mittelalter bis in die Moderne. München 2009, 9. 12 Auch in den Bibelwissenschaften hat das Paradigma der Intertextualität methodologischen Eingang gefunden. Vgl. u. a. Dana Lowell Fewel (Hg.): Reading between Texts. Intertexuality and the Hebrew Bible. Westminster 1992. Aus theologischer Perspektive bildet Literatur als »außerkanonische Schriftauslegung« oft eine Brücke zur Bibel. Vgl. dazu u. a. Andrea

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derartigen Bibelintertextualität als »Inszenierung« setzen Marion Keuchen, Stephan Müller und Annegret Thiem an die Stelle eindimensionaler Bibelrezeptionen den Zweirichtungsverkehr dynamischer Bibeltransformationen. Zwar verweisen Bibelintertexte auf spezifische Geschichten und Figuren, in der produktiven und umdeutenden Aneignung des Stoffes im literarischen Text kommt es aber »zu einer Neu-Konstruktion des Referenztextes, die nur im Dialog mit diesem funktionieren kann«13, und jede intertextuelle ›Inszenierung‹ lässt in unterschiedlichen Zusammenhängen neue Bibelbilder bzw. eine ›neue Bibel‹ entstehen. Interessanterweise nehmen die Dramen Zweigs und Beer-Hofmanns keine räumlich-zeitlichen Aktualisierungen oder »Annäherungen«14 vor. Sie behalten in ihrer nach- bzw. neuerzählenden Darstellung das komplette Setting der israelitisch-hebräischen Bibelwelt. Die jeweiligen Bibelgeschichten funktionieren hier anders formuliert nicht als verborgene, kryptische Hintergründe in modern(isiert)en Handlungsräumen, sondern rufen deutlich erkennbare Figuren, Stoffe und Welten hervor, die zum Grundbestand der Tenach gehören. Dass die hebräische Bibel als kanonischer Text gerade für das kollektive und kulturelle Gedächtnis des Judentums und dessen (Text-)Gemeinschaft eine identitätsstiftende Funktion ausübt, die jüdische Kultur sich in der Rückbesinnung und Tradierung biblischer Geschichten als »Erinnerungsgemeinschaft«15 konstituiert, verleiht Bibelbearbeitungen eine besondere mnemotechnische Aufgabe: In Literatur wird nicht nur kulturelles Bibelgedächtnis gespeichert und vor dem »Schock des Vergessens«16 bewahrt, in den aneignenden und umdeutenden Bezügen ihrer Intertextualität fungieren literarische Bibeltransformationen als eine poetische und – vor allem – performative ›Memoria‹. Zweig und BeerHofmanns Dramen stellen sich im intertextuellen Modus als eine transformatorische »Partizipation« dar, als das »im Schreiben sich vollziehende dialogische

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Henneke-Weischer u. Christoph Gellner: Bibel und Literatur. In: Erich Garhammer u. Georg Langenhorst (Hg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur. Würzburg 2005, 157–167, hier 165. Keuchen, Müller, Theim (Hg.): Inszenierungen der Heiligen Schrift (Anm. 11), 11. Erläuterungen zu Beer-Hofmanns Historie von König David liefert in demselben Band: Norbert Otto Eke: »Gott will mich frei«. Richard Beer-Hofmanns Die Historie von König David. In: ebd., 113–128. G¦rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M 1993, 415f. Martin Buber : Warum gelernt werden soll. In: ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Gerlingen 1992, 730–732, hier 730. Zur jüdischen Geschichte und Memoria vgl. u. a. Yosef Hayim Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle/London 1989. Zum Zusammenhang zwischen Religion und kulturellem Gedächtnis bzw. zur jüdischen Religion als Paradigma kultureller Mnemotechnik vgl. Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. München 2000. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, 215.

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Teilhaben an den Texten der Kultur«17, das zwar bekannte und kanonisierte Geschichten heraufbeschwört, sie in adaptierender Evokation jedoch zugleich neu liest bzw. neu ›inszeniert‹. Beer-Hofmanns zweiaktiges Ja‚kobs-Drama fokussiert im Grunde genommen zwei wichtige Handlungsstränge im Leben des gleichnamigen biblischen Protagonisten. Der erste Akt findet am Hof Jizchaks in Be¦r-Scheba statt und berichtet – nach 1. Mose 27 – anhand von Dialogen zwischen Rebekah und Edoms Frauen indirekt über Ja‚kob, der anstelle seines Bruders mit List den Erstgeburtssegen von seinem Vater bekommen hat. Zu einer späteren Versöhnung zwischen Edom und Ja‚kob kommt es im zentralen zweiten Akt, auf einer »später Beth-El genannt[en]«18 Höhe, wo der Letztere versucht, sich mit seinem Sklaven Idniba‚l vor der Rachgier seines älteren Bruders zu verstecken.19 Nach der brüderlichen Versöhnung erschaut Ja‚kob im nächtlichen Traum fünf Engel – Gabri¦l, Rapha¦l, Uri¦l, Micha¦l und Sama¦l –, die ihm von seiner Erwählung durch Gott berichten. Die separaten biblischen Erzählungen der Schau der Himmelsleiter (1. Mose 28, 10–19) und des Kampfes Jakobs am Jabbok (1. Mose 32, 23–33) werden in der Traumszene Ja‚kobs intertextuell verknüpft und durch den dramatischen Rahmen des Dialogs um die zentrale Verkündigung der Erwählung herum konzentriert.20 Indem aus der Chronologie des biblischen Rahmens bestimmte Handlungen weggelassen werden (z. B. Jakob und Laban, Lea, Rahel in 1. Mose 29f.), spitzt das selektierte Textmaterial die dramatische Handlung auf die Begegnung der Brüder und Ja‚kobs darauf folgende Begegnung mit den Engeln zu. Betont wird somit die Außenseiterposition des Protagonisten in seinem problematischen Familienkontext sowie auch die Angst und existentielle Unsicherheit, die im Lichte seiner zukünftigen Aufgaben vorherrschen und das Stück »nach vorne, auf die Zukunft hin«21 orientieren. Anhand des umfangreich modulierten Dialogs mit den Engeln wird das Schicksal des Einzelnen stellvertretend auf die spätere kollektive (Leidens-)Geschichte des

17 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt a. M 1990, 38. In der Intertextualität ihrer Bezüge sieht Lachmann Literatur als die mnemonische Kunst par excellence, die das Gedächtnis für eine Kultur stiftet, es aufzeichnet und sich in Gedächtnisräume einschreibt. 18 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 32. 19 Die hebräisch orientierten Namen der Figuren – Ja‚kob (Jakob), Edom (Esau), Jizchak (Isaak) etc. – gleichen den (ver)deutsch(t)en Übersetzungen der Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Zur Namentheorie Franz Rosenzweigs vgl. Helga Kuhlmann: In und jenseits der Sprache: Gottes Namen nennen. Die Namentheorie Franz Rosenzweigs als Bibeltransformation. In: Keuchen, Müller, Thiem (Hg.): Inszenierungen der Heiligen Schrift (Anm. 11), 13–30. 20 Vgl. dazu auch: Hans-Gerhard Neumann: Richard Beer-Hofmann. Studien und Materialien zur Historie von König David. München 1972, 24f., und Peters: Richard Beer-Hofmann (Anm. 10), 114f. 21 Neumann: Richard Beer-Hofmann (Anm. 20), 28.

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jüdischen Volkes hin perspektiviert und kulminiert in dem Namenswechsel Ja‚kobs in »J†sro-El«.22 Auch Zweigs »Dramatische Dichtung in neun Bildern« geht im Vergleich zum biblischen Buch des Propheten Jeremias verdichtend vor. So stehen die warnenden Worte von Zweigs Propheten an König, Volk und Priesterschaft im Zeichen des Aufrufs und richten sich direkt an die eigene (Volks-)Gemeinschaft, d. h. an das kriegslüsterne Jerusalem bzw. dessen leicht manipulierbare Einwohner – die biblischen Gerichtsworte und Weissagungen gegen ›fremde Völker‹ (vgl. Jer 46–51) fehlen beispielsweise im Zweig’schen Text. Zudem wird das historische Prophetentum des biblischen Jeremias in der dramatischen Makrostruktur auf die Herrschaft Zedekias, des letzten Königs aus Juda23, konzentriert. Zwar warnt Jeremias als Sprachrohr Gottes vor den schrecklichen Folgen eines gegen Babylon gewünschten Krieges, er stellt aber vor der sich vollziehenden Katastrophe seine Aufgabe bzw. sein persönliches Gottesverhältnis auch selber (moralisch) infrage. Im Dialog mit dem biblischen Prätext situiert auch dieses Stück die problematischen und zerstörerischen Folgen der Erwählung deutlicher im familiären Bereich, beispielsweise anhand der umfangreichen Szenen zwischen Jeremias und seiner Mutter im ersten und im fünften Bild des Stückes, was die Tragödie seiner späteren Einsamkeit als verkannter Prophet, die aufgrund der Erwählung gebrachten (persönlichen) Opfer und die Prüfungsidee durch Leiden im Dienste Gottes explizit(er) inszeniert.

Die Bibel im Paratext Inszenierungen der Schrift finden in beiden Dramen nicht nur im intertextuellen Bereich der Handlung und der Figurenkonstellation statt. Auch in ihren jeweiligen Paratexten kommt die biblische ›Zitierbarkeit‹ auf explizite und markierte Weise zum Ausdruck. Umrahmt werden beide Stücke von diversen Bibelzitaten, versehen mit ihren jeweiligen Kapitelangaben und Verszahl, die im Rahmen des textuellen Ganzen unterschiedliche Funktionen ausüben, den konkreten Umgang mit dem biblischen Textmaterial betonen oder spezifische Charakteristika der individuellen bzw. der kollektiven Erwählung in der dazugehörenden Szene hervorheben. 22 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 109. 23 Zedekia gilt historisch als letzter König des jüdischen Südreiches Juda vor dem babylonischen Exil. Der biblischen Geschichte zufolge kam es zu einer Reichstrennung der Dynastie Davids in ein nördliches (Israel) und ein südliches (Juda) Königreich. Vgl. dazu u. a. Hans Schmoldt: Biblische Geschichte. Chronologie, Texte, Analysen. Stuttgart 2000, 170f. Die jüdische Bevölkerung in Zweigs Drama identifiziert sich durchgehend als ›Israel‹ sowie metonymisch als ›Jerusalem‹.

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Jedem der neun Bilder von Zweigs Drama sind Bibelzitate aus den Büchern der großen Propheten als direktes ›Motto‹ vorangestellt. Zitiert wird aus den biblischen Weissagungen von Jeremias, Hesekiel, Jesaja sowie auch aus der Geschichte Hiobs. Nicht von ungefähr beschränken sich die zitierten Prophetenworte nicht inhaltlich auf die konkrete Situation von Jeremias, sondern schaffen ein Bild des ›Prophetischen‹ schlechthin, das sich in (vergeblichen) Warnungen, Unheilsverkündigungen und Polemik ausdrückt, damit aber zugleich auch – wie bei den paratextuell evozierten Bibelpropheten – eine positive, hoffungsvolle (Heils-)Botschaft der Wiederkehr und des Erbarmens verbindet. Die paratextuelle Lektüre der Bibelzitate im Dialog mit der jeweils darauf folgenden Szene weist schon deutlich auf thematische oder motivische Ähnlichkeiten hin und bietet dem Leser darüber hinaus auch Raum zur Identifikation des Protagonisten mit den evozierten biblischen Ikonen. So sorgt das dem achten Bild vorangesetzte Hiobzitat – »Oh, dass Hiob versuchet würde bis ans Ende«24 – unter anderem dafür, dass der aktualisierende Leser eine intertextuelle Identifikation des Zweig’schen Protagonisten mit dem klagenden Hiob vornehmen kann, die sich im Rahmen der Prüfungs- und Versuchungsthematik situiert: »Wer hat Ihm gedient wie ich in Israel […] ? Wehe, wehe dass ich so treu gedient dem Treulosen!«25 Ähnliche Möglichkeiten zu intertextuellen Identifikationen sind auch in den einleitenden Versen Jesajas (Jes 49, 1–3, 6f.) zu Ja‚kobs Traum zu finden, die dem Figurenverzeichnis vorangehen und Beer-Hofmanns Ja‚kob in das (deutero)jesajanische Umfeld der ›Gottesknechtslieder‹ einschreiben. Liest man die dramatische Darstellung von Ja‚kobs Erwählung im Zusammenhang mit der im Paratext auftauchenden enigmatischen Figur des nicht weiter identifizierbaren ›Knechtes‹ Jahwes, so schreibt sich Beer-Hofmanns Text auch paratextuell teilweise in die Tradition prophetischer Berufungsgeschichten ein.26 Dass die Bibel zitierbar, zugleich aber auch als Kulturtext und als jüdisches Religionsdokument (›Wort Gottes‹) auratisch wirken kann, davon zeugt im Besonderen Beer-Hofmanns seitenlanger und sorgfältig dokumentierter Anhang »Aus der Heiligen Schrift zu Ja‚kobs Traum«27, der dem Drama hinzugefügt ist und aus zahlreichen Bibelstellen besteht, die die gleiche Thematik behandeln. 24 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 271. 25 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 283. Neben anderen sah Margarete Susman in der Figur des Hiob die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes auf exemplarische Weise symbolisiert und vorgezeichnet. Vgl. Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des Jüdischen Volkes. Zürich 1946. 26 Zur problematischen Deutung der Figur des Gottesknechts bzw. zur Exegese der Gottesknechtslieder im Buch Jesaja vgl. u. a. Hans Schmoldt: Das Alte Testament. Stuttgart 2004, 234f., und Werner H. Schmidt: Einführung in das Alte Testament. Berlin/New York 1995, 214f. 27 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 110–117.

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Dieser Paratext betont bzw. bestätigt im Gegensatz zum Zweig’schen Pendant nicht nur explizit den religiös-auratischen Charakter der Bibel als »Heiliger Schrift«, er schafft auch den Kontext für die im Text verwendeten obskuren Begriffe und legitimiert den literarischen Gebrauch von Bibelelementen.28 Ebenfalls erlaubt der Anhang dem Leser, die im Drama vorgenommene Auswahl und die Bearbeitungen des biblischen Textmaterials anhand der relevanten und pro Vers akribisch aufgelisteten Bibelstellen detailliert nachzuvollziehen. Wenigstens paratextuell reflektiert Ja‚kobs Traum hier den eigenen Bearbeitungsprozess, der die Texttransformationen in einem expliziten und markierten Vergleich zum biblischen Text ansiedelt und ein dialogisches (Neu-)Lesen beider Texte ermöglicht. Liest man die dialogische Richtung dieses Paratextes im Derrida’schen, antihierarchischen Sinne des ›Supplements‹, so erscheint der Anhang nicht nur als ein zusätzliches Surplus, »une pl¦nitude enrichissant une autre pl¦nitude«29, sondern er impliziert und inszeniert im Rahmen des textuellen Ganzen zugleich, »par la marque d’un vide«30, das Supplementaritätsbedürfnis des Beer-Hofmann’schen Dramentextes.

Erwählung und Berufung Die dramatische Gestaltung der religiösen Thematik in Zweigs und Beer-Hofmanns Texten in Bezug auf die alttestamentarische Erwählung, d. h. die göttliche Auswahl einer für ein spezifisches Amt oder Ziel geeigneten Person und deren Berufung, konzipiert als die Indienststellung und Beauftragung des Erwählten mit einer konkreten Aufgabe, hängt grundsätzlich mit der unterschiedlichen Identitätskonstruktion des Protagonisten als Erzvater bzw. als Prophet zusammen. So intensiviert sich die Entwicklung Ja‚kobs von einem durch List (Erst-) Gesegneten zum erwählten und berufenen Erzvater Israels im Aufbau des Stückes nicht zuletzt in der Kontrastwirkung zu seinem Bruder Edom. Dazu trägt im ersten Akt in besonderem Maße die direkte Charakterschilderung des Protagonisten durch Rebekah bei, die den Leser schon auf Ja‚kobs (geistige) Außenseiterposition aufmerksam macht. Im Gegensatz zum irdisch-materialistischen Edom stellt Rebekah Ja‚kob als vom Herrn erwählt dar,

28 Nach Armin A. Wallas zeugen Aktualisierungen des biblischen Textmaterials (sowie auch die Tendenz zur Parodie und zur Verfremdung) im 20. Jahrhundert von einem »gebrochen[en] Zugang zur biblischen Überlieferung« bzw. von einer Rezeption der Schrift als vorrangig literarischem Text. Vgl. Wallas: Deutschsprachige jüdische Literatur (Anm. 3), 105f. 29 Vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, 208. 30 Derrida: Grammatologie (Anm. 29), 208.

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Weil er einhergeht, voll von dunklen Fragen, Und du [i. e. Edom] dich froh und satt sicher freust! Weil, aller Ahnen Zweifel Traum und Sehnen – Ein nie verstummend Fordern – in ihm klingt, Weil er, nicht Gott in ferne Himmel einsargt, Nein – täglich, Herz an Herzen, mit Ihm ringt! Weil du – nur jagen kannst und opfern, morden! Und er vor aller Wesen Leid erblasst […] Weil auf ihm Gnade ist – und auf dir – keine!31

Die identitätsstiftende Differenz zwischen den Brüdern bildet für Ja‚kob aber kein (bleibendes) Hindernis. Gerade als grundsätzliche Differenz wird sie von ihm akzeptiert und in den Rahmen unterschiedlicher Indienststellungen inkorporiert: »Gott braucht mich so – und anders dich! Nur weil Du, Edom bist – darf ich, Ja‚kob sein!«32 Zur brüderlichen Versöhnung trägt schließlich auch die Entscheidung bei, aus freier Wahl ihren ›Bund‹ als Brüder zu erneuern, sodass die Brisanz von Edoms aus Wut geschworenem Eid, nicht zu ruhen, ehe er das Blut seines Bruders gesehen hat, umgangen wird: Kurz zustoßend ritzt er seinen und Edoms Arm So – schneid ich in euch ein, heilige Zeichen! Feindlicher Bruder, du, vom Mutterleib her – Aus freier Wahl sei mir von neuem Bruder! […] Blutbrüder werden Edom und Ja‚kob. Mein Blut sieht heut – und niemals, Edom, wieder!33

Das in der Bruderkonstellation zum Ausdruck kommende Thema der freien Wahl deutet auf ein zentrales Problem hin, mit dem sich Ja‚kob im Laufe der Bewusstwerdung seines Erwähltseins mehrmals konfrontiert sieht. Die erst im späteren Verlauf des Aktes von den Engeln direkt angesprochene Auserwählung Ja‚kobs führt anfänglich nicht nur zu Unsicherheit in Bezug auf seinen konkret auszuführenden Auftrag. Die instrumentalisierend-deterministisch anmutende Erwählung durch den allmächtigen Gott dementiert vor allem Ja‚kobs erwünschtes Recht, gehört zu werden: »Er wählt, beschließt – ward ich gefragt? – und sendet die Botschaft mir – hat hier noch Rede Sinn?«34 In einem anfänglich bloß fragilen Vertrauen steht er dem »namenlosen«35 Gott seiner Väter gegenüber, der ihn »zu nah umweht«36, nicht zuletzt in Erinnerung an das hier aus einer Kinderperspektive gedeutete ›Trauma‹ der Akedah, der Opferung bzw. 31 32 33 34 35 36

Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 27f. (Hervorhebungen im Original). Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 77 (Hervorhebungen im Original). Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 75 (Hervorhebungen im Original). Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 94. Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 69. Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 46.

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Bindung Isaaks (1. Mose 22): »Wem Gott – als Kind – Vertrauen so zertrat – wo darf der trauen noch und sicher fühlen?!«37 Die zentrale Erfahrung mit dem Religiösen findet in einem (Wach-)Traum statt, in dem sich nicht nur das von Rebekah schon angedeutete Mit-Leiden Ja‚kobs mit allen Wesen der Schöpfung realisiert – anorganische Elemente wie Quell und Stein fragen ihn nach dem ›Warum‹ ihres Leidens –, sondern auch die Beauftragung Ja‚kobs zum Patriarchen des späteren israelischen Volkes konkrete Gestalt annimmt: »Ein Stamm, ein Volk, sprießt aus deinen Lenden […] Aus Uru-Schalims Felsen wachsen Throne – Ja‚kob – Könige aus deinem Blut!«38 Ja‚kobs Selbstverständnis geht aber eindeutig über rein materialistisch-patriarchale Aufgaben hinaus: Wählt Er, nur um zu schenken, Dass er uns Gut und Macht und Glanz verspricht? Taugt Ihm mein Blut zu mehr nicht, als zu Königen? Ich will nicht Herrschaft! Weiß er denn das nicht? Mizrajim, Babel und des Meerlands Fürsten – Wie – glaubt Er wirklich sie von mir beneidet?39

Seine künftigen Aufgaben liest Ja‚kob eher aus der Perspektive eines gottesvertrauten Künders, als tröstender »Zeuge seiner Wunder«40 bzw. als Gottes »ewiger Mund und ewiger Anwalt« auf Erden, das Leid der Welt »mit Seinem Worte lösend«.41 Im Gespräch mit den göttlichen Boten auf der Himmelsleiter fordert Ja‚kob als Grundlage seiner Berufung nicht von ungefähr ein direktes und ›dialogisches‹ Verhältnis zu Gott selbst, über die Engel als Zwischeninstanzen hinaus42, das auf ein prinzipielles und grundlegendes Vertrauen gegründet ist: »Du, der mich wählt – Du, den ich wähle, sprich! Sag ihnen, dass wir […] doch aneinander hangen, ewig – Du und Ich!«43 Der Erwählte bleibt im Beer-Hofmann’schen Text kein Befehle empfangender Knecht, sondern wird zum »Gesprächspartner Gottes von Rang«44, der nach freier Entscheidung seine Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 44. Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 94. Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 96 (Hervorhebungen im Original). Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 100. Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 97. Vgl. dazu auch Kleinewefers: Das Problem der Erwählung bei Beer-Hofmann (Anm. 10), 24f. 42 Vgl. Ja‚kobs Antwort auf den gebieterischen Ton der Engel: »Ein Wurm bin ich! Und weise doch zurück euch in euer dienend Amt […] Von Ihm zu mir – von mir zu Ihm – seid Boten ihr – nur Boten!« Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 97 (Hervorhebungen im Original). 43 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 104. Nach Martin Buber ist »[a]lles Glaubensverhältnis Israels […] dialogisch; […] Der Mensch kann reden, er darf reden; wenn er nur wirklich zu Gott redet, gibt es nichts, was er ihm nicht sagen darf.« Vgl. Martin Buber : Der Glaube der Propheten. Heidelberg 1984, 207. 44 Eke: »Gott will mich frei« (Anm. 13), 119. 37 38 39 40 41

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Erwählung annimmt und sich überzeugt für seine Berufung entscheidet: »Gott wählt mich aus – Gott will mich frei!«45 Steht die Erwählung und Berufung Ja‚kobs im Zeichen einer dialogischen Auseinandersetzung mit Gott, so führt Zweigs Jeremias die Erwählungsthematik in die prophetische Existenz hinein, die Jerusalem vor einem im Bündnis mit dem ägyptischen Pharao Necho anzufangenden Krieg gegen Babylon zu warnen hat. Jeremias sieht sich nachts in wiederholten (Alb-)Träumen mit seiner Berufung durch einen gleich nahen Gott konfrontiert. Zwar geschieht dies nicht wie bei Ja‚kob vermittelt im ausführlichen Gespräch mit göttlichen Boten, was Raum für Dialog und weitere Auskünfte schafft, sondern als eine ekstatischprophetische Visionsschilderung, die die Autonomie des Einzelnen problematisiert und die unmittelbaren Folgen des Krieges – das zerstörte Jerusalem und den Untergang des israelischen Königreiches – apokalyptisch darstellt. Insbesondere in der Wechselwirkung von ekstatisch-unpersönlicher Instrumentalisierung und nachträglicher Bewusstwerdung konstituiert sich die spannungsvolle Annahme von Jeremias’ Erwählung. Nicht zuletzt dank der vielen und umfangreichen Szenenanweisungen gibt der Text eindrucksvoll Einsicht in die konfliktreichen und psychosomatischen Ausdrucksformen der Prophezeiungen: Jeremias erscheint im ersten Bild mit dem Blick »eines Trunkenen«, reagiert »immer fiebriger« und »erbebend vor Leidenschaft«, ist »voll Schreck und Ingrimm« und »Wildnis«. Aus seiner Vision zum Propheten »erweckt«46, steht das Flehen des Protagonisten im Zeichen einer Suche nach Bestätigung seiner ›Berührung‹ durch Gott: Wen du berührest, Herr, der ist erwählet, wen du erwählest, Herr, der ist berufen. War schon dein Ruf dies, der an mich ergangen, o sieh, ich habe ihn vernommen; bist du es, Herr, der mich gejagt, o sieh, ich flieh’ dir nicht, […] Nur mach mich wissend, dass ich dich nicht fehle, tu auf die Himmel deines Wortes, dass ich dich erschau’, dein Knecht.47

45 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 97. Ja‚kobs verändertes Verhältnis zum Sklaven Idniba‚l deutet schon auf die spätere freie bzw. freigesetzte Beziehung zwischen Ja‚kob und Gott voraus. Auch hier wird die Meister-Knecht-Beziehung durchbrochen, indem Ja‚kob Idniba‚l aus dem Sklavendienst befreit: »Idniba‚l aus G¦bal, des Jizchaks aus Be¦r-Scheba Knecht – sei frei!« Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 61 (Hervorhebung im Original). In Erinnerung an seine (innerliche) Entwicklung zum freien Gesprächspartner, der das Leiden der Welt annimmt, bekommt Ja‚kob den Namen ›J†sro-El‹, der »mit Gott dem Herren rang« (ebd., 106). 46 So der Titel des ersten Bildes: »Die Erweckung des Propheten«. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 119. Auch Ja‚kob ›erwacht‹ am Ende des Beer-Hofmann’schen Stückes zum erwählten Patriarchen Israels. 47 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 121. Im Gegensatz zur Zweig’schen Unsicherheit findet im biblischen Prätext die eindeutige Berufung Jeremias’ in einem direkten Gespräch mit Gott statt: »Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker« (Jer 1, 5).

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Dass die Leidensvisionen beim Protagonisten aber Schrecken und Unglauben verursachen, er seine Träume lieber als Betrug und Wahn entlarvt sieht, taucht in den darauffolgenden Bildern mehrmals auf. In den Gesprächen mit seinem späteren Gehilfen Baruch und den Einwohnern Jerusalems kämpft Jeremias mit der zerstörerischen und gewalttätigen Seite Jahwes: Er will nicht glauben, »dass Gottes sei dieser schreckhafte Wahn«48, und erscheint dem Volk noch lieber als »Lügner« und »Narr seines Wahns« anstatt »Erfüller solcher Schrecknis« und »dieser Wahrheit Prophet«49, was von dem psychologischen und existenziellen Zweifel zeugt, der mit dem Prophetenamt Jeremias’ verbunden ist, und zugleich auch beim Volk Jerusalems seine Glaubwürdigkeit als überzeugter Künder von Gottes Wort problematisiert.50 Die eingreifenden Folgen seiner Erwählung gewinnen nicht zuletzt an Konturen, indem Jeremias’ ›Erweckung‹ zum Propheten ihn aus seiner gesalbten und von der Mutter geplanten Ausbildung zum Priester losreißt, was über den amtlichen Opferdienst hinausgeht und Jeremias ständig zum Verkünden seiner Visionen anregt: Nein, Mutter, nicht Opferers Dienst hab’ ich genommen – selbst will ich das Opfer sein. Ihm bluten entgegen meine Adern, Ihm brennet mein Fleisch, Ihm flammet meine Seele. Ich will Ihm dienen, wie keiner gedient, seine Wege sind meine Wege nunab. […] Oh, Wagen Elias, auffahrend im Feuer, reiß mit meine Rede, dass sie niederstürzte wie Donner in der Menschen Tag! Wehe, mir brennet die Lippe schon, fort, ich muss fort …51

Die individuelle Erwählung bricht somit mit der einseitigen Vorstellung des Priesters als »Lobkünder« im Dienste einer spezifischen Tradition, dessen Stimme dem Herrn nur »lobsinge« bzw. seinen Namen »lobpreise[ ]«.52 Undenkbar erscheint daher der vom Propheten vorausgesagte Untergang der Hauptstadt im Gegensatz zu der vom Volk als selbstverständlich empfundenen älteren Verheißung des Erez Israel53, d. h. des dem jüdischen Volk von Gott versprochenen und gelobten Landes, wie es sich im Zweig’schen Text zur Zeit des Königs Zedekia darstellt und metonymisch mit der von der Masse oft wiederholten pathetischen Formel »Ewig währet Jerusalem!« verbunden wird. Auch 48 49 50 51 52

Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 173. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 173. Vgl. dazu auch Rüdiger Görner : Stefan Zweig. Wien 2012, 20f. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 130. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 128–130. Max Weber sieht aus religionssoziologischer Perspektive in der persönlichen Offenbarung bzw. in der Kraft des Propheten als persönlicher Charismaträger einen wichtigen Unterschied zum Priester im Dienste einer heiligen Tradition. Vgl. dazu sowie zur soziologischen Rolle des Propheten innerhalb der (religiösen) Gesellschaft: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1980, 268f. 53 Armin A. Wallas: Kleine Einführung in das Judentum. Innsbruck 2001, 56. Diese auch in Ja‚kobs Traum an Ja‚kob mitgeteilte Verheißung des ›Gelobten Landes‹ geht im biblischen Rahmen schon auf Abrahams Bund mit Gott zurück. Vgl. 1. Mose 15, 18f.

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wenn sich Jeremias im ausführlichen Gespräch mit seiner Mutter anfänglich vor das ethische Dilemma gestellt sieht, den schrecklich-apokalyptischen Träumen mehr zu vertrauen als der von seiner Mutter unterstützten und tradierten Botschaft von »Gottes Barmherzigkeit«54, nimmt er seine Beauftragung zum Diener und prophetischen Mahner pflichtbewusst an: »ich fühl’ einen Ruf nur … einen Ruf, der mich rufet … und ich folge dem Ruf«.55 So entwickelt sich der Berufene zum Rufer, der im Laufe des Stückes (vergeblich) versucht, einen Krieg gegen Babylon zu verhindern bzw. das kriegslüsterne Volk vom Frieden zu überzeugen: Nur in Träumen spricht Gott zu den Menschen, und auch mir hat er Träume gesandt. Mit Entsetzen hat er gefüllt meine Nächte und mich wach gemacht in die Zeit, er hat mir einen Mund gegeben, dass ich rede, und eine Stimme, dass ich schreie. Er hat die Angst in mich eingetan, dass ich sie über euch werfe wie ein brennend Tuch […] Brüder in Israel, Brüder in Jerusalem, einen Sturm hört ich fahren im Traume wider Zion, und Kriegsvolk wider unsere Mauern […] hüte dich, Volk von Jerusalem!56

Das Ergebnis der hier vorgenommenen prophetischen »Wendung zum Kommenden« ist nicht a priori prädestiniert, bleibt aber im Sinne Martin Bubers vor allem gemeinschaftsorientiert: »Prophezeien heißt, die Gemeinschaft, an die das Wort gerichtet ist, unmittelbar oder mittelbar vor die Wahl und Entscheidung stellen«.57 Die Wahl für den Frieden kommt im Stück aber zu spät. Erst nach der militärischen Niederlage gegen Babylon und der darauf folgenden Belagerung Jerusalems beginnt der König Zedekia, der von der Bevölkerung zum Krieg aufgehetzt wurde, auf Jeremias zu hören. Zu einer »Umkehr« kommt es erst im achten Bild, am »Tag nach Jerusalems Fall«58, indem Jeremias – als besessenes Sprachrohr Gottes – nun auch über die Schuld der Israeliten hinausgeht und den künftigen Untergang Babels sowie das Wiederaufstehen Jerusalems prophezeit, was den überlebenden Einwohnern der Stadt Tröstung bietet. Kennzeichnend nimmt auch diese (Heils-)Verkündigung Formen ekstatischer Besessenheit an, deren Form und Inhalt der Protagonist sich nach dem (göttlichen) Sprechakt nur teilweise bewusst59 ist und die anhand von umrahmenden Szenenanweisungen intensiviert wird: Der Prophet spricht »verwirrend«, »immer jauch54 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 131. 55 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 131f. 56 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 143f. Wie der am Anfang des Textes durch seine nächtliche Berufung ›erweckte‹ Jeremias soll auch das eingeschlummerte Volk Jerusalems mittels seiner pathetischen Mahnreden erweckt werden. 57 Buber : Der Glaube der Propheten (Anm. 43), 18. 58 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 272. 59 »Was habe ich gesagt? Ein Dunkles liegt um mich, und glänzt mich’s von innen an …Was habe ich gesagt … Oh, und warum blickt ihr mit einmal auf zu mir wie Durstige …« Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 298.

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zender«, »in einem wilden Gemenge von Jubel und Ekstase«, was auch auf die Zuhörer zum ersten Mal ansteckend wirkt, da sie »ihn jauchzend umdrängend, zu seinen Füßen hinstürzend, seine Knie umfassend« in »wilder Hingerissenheit« zuhören.60

Prüfung durch Leiden Aus dem Vorangehenden ergibt sich eine breite Palette möglicher Ausdrucksformen der religiösen Erwählung und Berufung, analog zur unterschiedlichen Konstitution des jeweiligen Protagonisten zum Erzvater bzw. Propheten. Dass Jeremias und Ja‚kob ihre Erwählung aber nicht bloß als Gnade oder direktes Privileg empfinden, sondern explizit unter ihren (Auf-)Gaben leiden, umrahmt die beiden Stücke mit der Idee der Prüfung ihrer Überzeugung durch Leiden, die beide Protagonisten letztendlich durchstehen. So bringt im Falle Jeremias’ das Erwähltsein nicht nur Angst und Schuldgefühle angesichts des prophezeiten Leidens mit sich – er fürchtet, der »harte Vollstrecker härtesten Spruchs« zu werden61 –, die Annahme der Erwählung verunmöglicht auch ein normales (Familien-)Leben mit Frau und Kindern, was in Momenten des Zweifels am eigenen Amt zum Gegenstand persönlicher Klagen wird: »Ein Weib heimführen in Wüstung? Kinder zeugen dem Würger? Wahrlich, nicht bräutlich nahet die Stunde!«62 Sieht sich das jüdische Volk als Opfer von Jahwes Zorn, so kennt auch der Prophet, der »Fürchterliche, der Qualen hat« und »Marter, die kein Irdischer weiß«,63 nach eigener Angabe keine Liebe mehr. Als Unheilsverkündiger scheint er in Israel nur Zweifel zu säen, wird vom Volk in aller Öffentlichkeit verhöhnt und gerät aufgrund seiner (politischen) Antikriegsreden in Konflikt mit dem Hohepriester Pashur und dem (falschen) Propheten Hananja, die in ihren jeweiligen Ämtern auch »Gottes Willen« verkünden und von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt sind.64 Verstoßen wird der Protagonist sogar von seiner Mutter, die ihn als »Gottesleugner« und »Frevler« aus ihrem Haus verweist und verflucht: »Wer nicht glaubet an Zion, ist nicht mehr mein Sohn! […] ich fluche 60 61 62 63 64

Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 297. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 127. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 125. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 288. Somit konfrontiert der Text die Erwählung Jeremias’ zum (richtigen) Propheten Gottes mit bereits besetzten Ämtern, die ebenfalls behaupten, im Namen Gottes zu sprechen. Im Figurenverzeichnis des Stückes wird der demagogische Hanaja bezeichnenderweise als »Prophet des Volkes« umschrieben. Vgl. auch Jeremias’ Antwort an Pashur : »Wer ist so vermessen, dass er sich unterfange, ihm allein habe der Herr die Weisheit zugeteilt und das Geheimnis Willens! Nur in Träumen spricht Gott zu den Menschen, und auch mir hat er Träume gesandt!« Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 143.

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dem, der Tod schreit über Israel«.65 Gerade im fünften Bild wird der verstoßene Jeremias in der Konfrontation mit seiner Mutter erneut im familiären Umfeld geprüft: Dazu angemahnt, gegenüber seiner todkranken Mutter die Belagerung Jerusalems zu leugnen, sodass sie friedlich sterben kann, gelingt es dem gedemütigten Propheten nicht, sie davon zu überzeugen.66 Dazu trägt aber nicht nur der stammelnde Jeremias bei, Jahwe selber scheint einzugreifen und verhindert, dass in seinem Namen gelogen wird: JEREMIAS wie ein Gewürgter röchelnd Ich … kann es nicht sagen … das Wort … Er lässt nicht … Er … Mir die Kehle verdorrt … Die Hand … Die grausame Gotteshand … Mir … die Seele geschnürt … die Kehle umspannt … Gott … Gott, gib mich frei … gib mich frei …67

Jeremias’ Klage über das direkte göttliche Eingreifen (»Gott, gib mich frei«) kontrastiert hier mit dem dialogisch-freigesetzten Gottesverhältnis Ja‚kobs (»Gott will mich frei«). Aber auch der Letztere thematisiert anklagend die Folgen seiner Erwählung durch einen allzu nahen und zu viel verlangenden Gott für das eigene Leben. Nicht Edom, der den väterlichen Segen verfehlt, sondern Ja‚kob ist nach eigener Angabe angesichts der alles umfassenden Leidensproblematik bedauernswert, da Erwähltsein heißt, »traumlosen Schlaf nicht kennen, Gesichte nachts – und Stimmen ringsum tags!«68 Mit der eigentlichen Berufung zum Erzvater gibt sich Ja‚kob aber nicht zufrieden; er sieht sich im Rahmen der Leidensthematik, die das konkrete Individuum übersteigt, als Gottes Anwalt, der im Rahmen der andauernden Schöpfung – »Er schuf sie nicht – Er schafft!« – »Gott entschulden soll!«69 Ähnlich geprüft werden die Protagonisten auch mit der (vergeblichen) Versuchung, angesichts des überwältigenden Weltleidens ihrer Berufung abzuschwören und zu anderen Göttern zu fliehen: Jeremias bekommt vom babylonischen König Nabukadnezar das Angebot, sein »Magier« zu werden und ihm das Schicksal zu deuten; Ja‚kob wird von seinem Bruder gebeten, den »allzu nahen Gott« zu fliehen und sich auf »stumm[e] und reglos[e]« »fremde Götter« zu verlassen, bei denen (nur) »heilige Priester die

65 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 131. 66 Vgl. auch das dem Bild vorangehende Bibelzitat Jesajas: »Doch der Herr wollte ihn mit Leiden zermalmen« (Jes 53, 10). 67 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 214. 68 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 71. 69 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 91 und 71. Zu Recht liest Norbert Otto Eke Beer-Hofmanns Drama hier im Rahmen der Theodizee-Problematik. Vgl. dazu: Norbert Otto Eke: Rettung des Sinns. Ja‚kobs Traum und das Projekt einer Geschichtstheodizee. In: ders. u. Günther Helmes (Hg.): Richard Beer-Hofmann (1866–1945). Studien zu seinem Werk. Würzburg 1993, 128–155.

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Botschaft zwischen uns und ihnen tragen!«70 Dass beide Protagonisten auf ihrer persönlichen Berufung beharren und trotz – im Rahmen der Prüfung gerade wegen – des (individuellen) Leidens die Schicksalsschläge der Erwählung durchstehen, perspektiviert ihre Auserwählung stellvertretend auf die kollektive Leidensgeschichte des jüdischen Volkes hin, das bei beiden Autoren literarisch auch als das »Volk des Leidens«71 dargestellt wird. Im Gespräch Ja‚kobs mit den göttlichen Boten versucht nicht von ungefähr der gefallene Engel Sama¦l mit dem Argument der bevorstehenden Leidensgeschichte Israels den späteren Erzvater davon zu überzeugen, die Erwählung abzustreiten. In einem fast prophetischen Duktus im Hinblick auf die realen Leidenserfahrungen der Shoah schildert Sama¦l das bevorstehende Schicksal des heimatlosen jüdischen Volkes: SAMAÊL stark einfallend, in Hohn und Erbitterung: […] Wohl darfst du wandern! Aber rasten? Heimat? Sie wird dir Wort – du sinnst ihm ewig nach! Volk wirst du, d’raus sich alle Beute holen – An dir zu freveln? Wem wär’s nicht erlaubt? […] Heimatloses Volk – sie weisen dir die Tür, Der räudige Bettler höhnt – und rühmt und preist sich, Dass er nicht eines Stammes ist mit dir! […] Man speit ins Antlitz dir … […] Du Liebling Gottes, wirst der Welt verhasster, Als Pest – als giftiges Kraut – als tolles Tier!72

Die zukünftige Leidensgeschichte Israels wird auch von Jahwe nicht bestritten, der als »Stimme« interessanterweise auch selbst am Dialog teilnimmt und die Schuld ausspricht. Er verbindet sich im Leiden aber mit seinen Auserwählten, was der Forderung Ja‚kobs nach ›seligem Vertrauen‹ entspricht: »Um meinen Namen magst du Un-Erhörtes dulden – doch noch in Martern, fühl’, dass ich – dich nie verwarf! […] Ich will ja nur […] mich dir so tief verschulden, dass ich – zur Sühne – dich erhöh’n vor allen darf!«73 Auch Jeremias verkündet dem jüdischen Volk gegen Ende des Stückes nochmals die intrinsische Verbindung von Erwählung, Glauben und (harter) Prüfung durch Leiden, denn »was wäre IsraÚl unter den Völkern, prüfte es nicht ewig sein Gott?«74 Damit wird aber im Zweig’schen Text eine besondere mes70 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 72. 71 Vgl. Wallas: Deutschsprachige Jüdische Literatur (Anm. 3), 149. 72 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 101f. (Hervorhebungen im Original). 73 Beer-Hofmann: Die Historie von König David (Anm. 6), 105. 74 Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 310. Vgl. auch die zum ersten Male bestätigenden Antworten der Masse: »ja, er redet recht […] ja, es steht geschrieben: ›Selig der Mensch, den Gott strafet, darum weigert euch der Züchtigung des Allmächtigen nicht‹ …« Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 310.

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sianische Botschaft der Hoffnung verbunden, die an die ins Exil ziehenden Einwohner Jerusalems gerichtet ist: Wandervolk, Gottesvolk, rüste zur Reise, Blick in die Ferne Blick nicht zurück! Die verweilen, Haben die Heimat, Doch die wandern, Haben die Welt! Auf, ihr Gebeugten, Auf, ihr Besiegten, […] Wandervolk, Gottesvolk, auf in die Welt!75

Zerstört ist Jerusalem zwar als Hauptstadt des Königreichs, ihre jüdische Identität und Verbundenheit behalten die Einwohner aber »inwendig«, in Erinnerung und Vertrauen, »denn Weltwanderschaft ist unser Zelt«.76 Das neue Jerusalem erscheint somit als symbolisches Konstrukt und geistige Heimat, das die kommende Diasporagemeinschaft zusammenhält und vereinigt: »Wer glaubt, schaut immer Jerusalem! […] Wo euch Glaube inwohnet, überwölbt euch helle seine mauerne Krone: Wer glüht sieht immer Jerusalem!«77 Mit der ins Exil auswandernden jüdischen Gemeinschaft endet auch die Inanspruchnahme des von Gott zur Verkündigung dieser Botschaft berufenen Propheten Jeremias, der am Ende des Stückes symbolischerweise in die am Anfang des Stückes noch feindlichen, hier aber vereinten und hoffnungsvollen ›Stimmen‹ der Masse »unscheinbar eingegangen« ist.78

Fazit Die um die zentrale Erwählungs- und Berufungsthematik herum konzentrierten Dramen Jeremias und Ja‚kobs Traum zeugen in besonderem Maße von den fruchtbaren thematischen und intertextuellen Verbindungen, die Literatur, Bibel und Religion im Werk Stefan Zweigs und Richard Beer-Hofmanns eingehen. Als Bibelinszenierungen im inter- und paratextuellen Raum dialogieren beide Dramen in der produktiven Aneignung von biblischen (Kultur-)Texten und Geschichten, die sie aufbewahren und neu lesen. Aus der dialogischen Lektüre 75 76 77 78

Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 321. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 311. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 323. Zweig: Tersites – Jeremias (Anm. 5), 325. Vgl. dazu auch: Görner : Stefan Zweig (Anm. 50), 21f.

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beider Dramen ergibt sich ein nuanciertes Porträt religiöser Erfahrungen im Bereich der individuellen Erwählung, das parallel zur Identitätskonstruktion des Protagonisten als Propheten bzw. Patriarchen unterschiedliche Formen annimmt: als Zeuge und Anwalt Gottes im aufgeforderten freien Dialog oder als prophetische Ekstase, die die problematisierte Autonomie des Einzelnen als Gottes Sprachrohr darstellt. Im Zusammenhang mit der ständigen Prüfung der unterschiedlichen Inanspruchnahmen reflektieren Zweig und Beer-Hofmann den intrinsischen Bund von Erwählung und Leiden, der über das individuelle Klagen des Einzelnen hinausgeht und kollektiv die (zukünftige) Leidensgeschichte des jüdischen Volkes thematisiert. Diese wird bei Ja‚kob in einem dialogischen Vertrauensbund mit Gott frei angenommen, am anderen Ende des biblischen Rahmens bei Jeremias in einen übernationalen Exildiskurs der geistlich-symbolischen Glaubensvereinigung inkorporiert.

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Thomas Mann und die Religion* Gläubigem Bejahen Bleiben wir versagt. Wollen dem nur nahen, Der in Sehnsucht fragt! Zweifle, träume weiter – Zweifel, Traum und Qual Baun die Himmelsleiter Auf – zu Gottes Saal! (Richard Beer-Hofmann: Chor der Engel: Zu Ja‚kobs Traum [1906].)1

»Thomas Mann und die Religion« mit den Worten eines anderen Autors einzuleiten, mag sonderbar anmuten. Exemplarisch veranschaulicht der obige Auftakt freilich das ›doppelte Dispositiv‹, das der im Folgenden zu konturierenden Thematik eignet: Es ist dies zum einen der ausnehmend hohe Grad an Fremdeinflüssen, der – zumal im Hinblick auf die Idee der Transzendenz – der Gedankenwelt von Thomas Mann durchgehend zugrunde liegt; zum anderen verweisen jene Verse, gleichsam als Vorklang der Josephsromane, auf eben das, was als Signatur der Zeit Manns Auseinandersetzung mit der Religion leitmotivisch prägt: die zweifelnde, sehnsüchtige und quälende »Suche nach dem verlorenen Gott« – unter dem epochalen Vorzeichen des von Nietzsche diagnostizierten Todes Gottes.2 Thomas Mann selber sprach von der »religiöse[n] Schamhaftigkeit«, die ihm eben jenes »gläubige Bejahen« der zitierten Eingangsverse nicht verstattete.3 Der * Der folgende Beitrag beruht auf einem Forschungsprojekt, das die Verfasserin gegenwärtig ausarbeitet: Auf der Suche nach dem verlorenen Gott: Thomas Manns Theologie. 1 Richard Beer-Hofmann: Chor der Engel: Zu Ja‚kobs Traum [1906]. In: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1963, 662. 2 Thomas Mann beruft sich in sympathievoller Anteilnahme auf Beer-Hofmanns Gedicht in seinem Keyserling-Essay des Jahres 1920: Thomas Mann: Klärungen. In: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke [u. a.]. Frankfurt a. M. 2002ff. Bd. 15.1, 290. Die Bandund Seitennachweise aus den Werken Thomas Manns beziehen sich im Folgenden, sofern nicht anders angeführt, auf diese Ausgabe (gesetzt, dass die entsprechenden Bände bereits erschienen sind) und werden im Text in Klammern angegeben. 3 Brief von Thomas Mann an Karl Justus Obenauer vom 01. 01. 1937. In: Thomas Mann: Briefe. 3 Bde. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. 1962–1965. Bd. 2, 15.

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Gretchenfrage suchte und wusste er sich, wann immer sie explizit an ihn gerichtet wurde, wirksam zu entziehen – sei es ironisch, humoristisch, bisweilen auch energisch oder (oftmals) dilatorisch. Gleichwohl reicht die Fülle religiöser, namentlich auch theologischer Bezüge in Manns Œuvre von dem frühen, nicht erhaltenen antiklerikalen Drama Die Priester, das Thomas Mann bereits als Schüler unter dem Eindruck von Schillers Don Carlos verfasste,4 bis hin zum letzten, Fragment gebliebenen Werkplan Luthers Hochzeit (1955), der seinerseits wiederum von Richard Wagner inspiriert wurde.5 Religiöse Fragestellungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Manns Werke, sind in mannigfaltigen Erscheinungsformen allenthalben gegenwärtig. Offenkundig wie latent grundieren sie das Schaffen Thomas Manns – sofern sie es, v. a. im Spätwerk, nicht sogar dominieren – und erschöpfen sich dabei durchaus nicht in unmittelbarer literarischer Verarbeitung. Vielmehr erstreckt sich die Thematik auch und nicht zuletzt auf die Notizbücher, die Essays, die Tagebücher sowie Manns Korrespondenz; sie begleitet Thomas Mann kontinuierlich von den frühesten Aufzeichnungen bis hin zu seinem Tode. Kein Zweifel: Manns Verhältnis zum Glauben und zur Religion war so komplex und kompliziert, wie es andererseits grundlegend, ja existenziell für sein gesamtes künstlerisches Wirken war. Seine Josephsromane hat Mann (in Anspielung auf seinen Abraham) denn auch bezeichnenderweise ein »Gottsucher-Werk« genannt;6 diese Wortschöpfung trifft nicht nur auf die Joseph-Tetralogie, sondern cum grano salis auch auf Thomas Manns Gesamtwerk zu. Nein, ich besitze keine [Religion]. Darf man aber unter Religiosität jene Freiheit verstehen, welche ein Weg ist, kein Ziel; welche Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit, Demut bedeutet; ein Suchen, Versuchen, Zweifeln und Irren; einen Weg, wie gesagt, zu Gott oder meinetwegen auch zum Teufel […] – nun, vielleicht daß ich von solcher Freiheit und Religiosität etwas mein eigen nenne. (13.1, 583: Betrachtungen eines Unpolitischen)

Es ist eine skeptisch-andachtsvolle, freigeistig-kritische und gleichwohl essenzielle Auseinandersetzung mit dem Numinosen: ein der Modernität entsprechendes, dabei in seiner individuellen Ausprägung mit allen persönlichen Entwicklungen und Wendungen so andauerndes und tief gehendes »Suchen«, das sich in dem Gesamtwerk Manns dokumentiert, dass auch die Grenzen zwischen Theologie und Anthropologie bezeichnenderweise infrage gestellt werden: 4 Thomas Mann: On Myself [1940]. In: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 13, 132. 5 Thomas Mann: Briefe Richard Wagners [1951]. In: Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4), Bd. 10, 798. 6 Brief von Thomas Mann an Agnes E. Meyer vom 27. 06. 1942. In: Mann: Briefe (Anm. 3). Bd. 2, 263.

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Ich sehe […] im Religiösen etwas sehr Menschliches und in der Theologie eine Wissenschaft vom Menschen und nicht – von Gott. Wie sollte man von dem auch wohl Wissenschaft haben. Und doch stehe ich zum Religiösen […] nicht so, daß ich mich gern entschieden ungläubig nennen hörte. Scherz mit dem Heiligen kann eine Form der Bescheidenheit sein und eine behutsame Art sich ihm zu nähern.7

Dieser lebenslangen, verschlungenen Annäherung also und ihren Manifestationen in den Werken Thomas Manns wollen wir uns nachfolgend zuwenden. Wir begeben uns dabei auf eine Orientierungssuche an der Zeitenwende, in das intellektuelle Spannungsfeld von Säkularisierung und Resakralisierung; dies ist es, was das Thema – ganz besonders bei diesem Autor – so vielschichtig und so ergiebig macht. Tatsächlich ist das Spektrum denkbar breit – von Manns familiären, schulischen und kirchlichen Prägungen über die Erscheinungsformen von Ersatz- und Kunstreligion in Philosophie und Musik, das Phänomen des Kulturprotestantismus, die Rolle des Katholizismus und anderer Konfessionen (vgl. Thomas Manns spätere Nähe zu den Unitariern) bis schließlich hin zu religionswissenschaftlichen und theologischen Fragestellungen: dem Verhältnis von Humanum und Divinum, Mythos, Judentum und Christentum, dem ganzen Problemkreis von Theodizee, Erwählung, Versuchung, Sünde, Schuld, Erlösung, Segen und Gnade (welch letzterer Begriff eine besonders exponierte Rolle im Weltbild des späten Thomas Mann gespielt hat). Von herausragender – dialektischer – Bedeutung sind für Mann zeitlebens die Reformation und das Reformationszeitalter gewesen. Dies spiegelt sich in seinen Werken ebenso wie der Einfluss diverser Traditionen und Schulen, die bei Thomas Mann in hohem (und zunehmendem) Maße, aber durchaus nicht ausschließlich theologischer Provenienz sind. »Auf der Suche nach dem verlorenen Gott« war Mann in zahlreichen ›Disziplinen‹: Sein Verhältnis zur Religion war immer auch ein ›fächerpluralistisches‹.

I. »Thomas Mann und die Religion« mit allen Facetten darzustellen, bezeichnet ein eklatantes Desiderat in der kaum noch zu überblickenden Thomas-Mann-Forschung. An Versuchen, sich der Thematik anzunehmen, mangelt es auf den ersten Blick freilich nicht; sporadische einschlägige Untersuchungen gibt es seit Ende der 1940er-Jahre, sie sind jedoch auffällig selektiv und unvollständig, oftmals (auf theologischer Seite) dogmatisch voreingenommen oder (auf germanistischer Seite) theologisch zu dilettantisch, kaum zum Kern der Sache 7 Brief von Thomas Mann an Jonas Lesser vom 23. 01. 1945. In: Mann: Briefe (Anm. 3), Bd. 2, 410.

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vorstoßend geblieben. Abgesehen von wenigen instruktiven Einzelstudien, die nachfolgend im Einzelnen erläutert werden sollen, kann von wirklichen Ergebnissen bislang nur sehr bedingt gesprochen werden, und der Forschungsstand ist insgesamt verblüffend vage, lückenhaft und unbefriedigend. Die bisherigen Arbeiten zum Thema lassen sich wie folgt zusammenfassen. Noch zu Thomas Manns Lebzeiten setzte eine »umfangreiche Weltanschauungsdiskussion« ein,8 die sich dezidiert der Frage, ob Mann nun ein gläubiger oder ein ungläubiger Thomas sei, verschrieben hatte. Der Diskurs war eher ideologisch als wissenschaftlich motiviert und kam denn auch durchweg zu negativen, ja bisweilen diffamierenden Befunden.9 Jene Tendenz setzte sich auch nach 1955 noch einige Jahre fort, wurde in den 1960er-Jahren jedoch schließlich dauerhaft von seriöseren Bemühungen auf theologischer wie germanistischer Seite abgelöst. Diese beiden Forschungsstränge seien im Folgenden separat nachgezeichnet, da sie bis heute leider noch weitgehend unabhängig voneinander existieren. Der erste Theologe, der sich differenziert der »religiösen Frage« bei Thomas Mann zuwandte, war Ernst Steinbach in einem Aufsatz des Jahres 1953. Es handelt sich hierbei um eine umsichtige Replik auf obige ›Weltanschauungsforschung‹, weshalb denn auch der Doktor Faustus, v. a. in Erwiderung auf Holthusen, den Hauptgegenstand der Untersuchung bildet.10 Steinbach gebührt das Verdienst, sich zum ersten Male vorurteilsfrei den theologischen Bezügen im Doktor Faustus anzunähern, d. h. Thomas Manns Verständnis von der »Frage des Menschen nach sich selbst«11 fern von Anklagen gegen irreligiösen Humanismus, ein unchristliches Gottesbild und das bloße Spielen mit Topoi und Motiven überhaupt erst ernst zu nehmen. Der Aufsatz würdigt die Theologie des Doktor Faustus insofern, als er drei theologisch verbürgte und tradierte Ebenen aufzeigt, die das Verständnis des Romans bestimmen (und die auch für Manns literarische Werke im Allgemeinen gelten können). Es seien diese, so Steinbach, in aufsteigender Reihenfolge die theologischen Ebenen von Kausalität und De8 Werner Frizen: Thomas Mann und das Christentum. In: Helmut Koopmann (Hg.): ThomasMann-Handbuch. Frankfurt a. M. 32005, 307–326, hier 307. 9 Hervorgehoben seien hier v. a. Hans Egon Holthusen: Die Welt ohne Transzendenz: Eine Studie zu Thomas Manns Doktor Faustus und seinen Nebenschriften. Hamburg 1949, sowie Wilhelm Grenzmann: Dichtung und Glaube: Probleme und Gestalten der deutschen Gegenwartsliteratur. Bonn 1950. Mann fühlte sich durch diese Darstellungen verletzt und bezeichnete die Erstere als »Spott- und Dummheitsliedchen«, die Letztere als eine von »düsteren Anschauungen« durchdrungene Invektive eines »Papisten«. Vgl. den Brief von Thomas Mann an Erika Charlotte Regula vom 09. 08. 1953. In: Mann: Briefe (Anm. 3). Bd. 3, 302 bzw. den Brief an Jonas Lesser vom 15. 10. 1951. In: ebd., 226. 10 Ernst Steinbach: Gottes armer Mensch: Die religiöse Frage im dichterischen Werk von Thomas Mann. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 50 (1953), 207–242. 11 Thomas Mann: Fragment über das Religiöse [1931]. In: Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4). Bd. 11, 424.

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termination, diejenige von Freiheit und Verantwortung und schließlich diejenige von Eschatologie und Transzendenz.12 Thomas Manns Behandlung dieser theologischen Probleme hätte man fortan detaillierter nachgehen müssen, und tatsächlich begann sich von den 1960erJahren an eine intensivere Anteilnahme an Manns Werken von theologischer Seite zu entwickeln, die freilich weiter auf Manns Spätwerk – zumal den Doktor Faustus und nun auch die Josephsromane – beschränkt blieb. Wissenschaftliche Studien erfolgten in den nächsten Jahrzehnten überkonfessionell, wenngleich evangelische Theologen bei Weitem die Majorität bildeten und noch heute bilden. Unterdessen fällt ins Auge, dass Steinbachs – als Anregung gedachter – Aufsatz, noch zu Manns Lebzeiten erschienen, in der sich danach konstituierenden theologischen Thomas-Mann-Forschung keine nennenswerte Resonanz gefunden hat. Die einschlägigen Bezüge in Thomas Manns Werken wurden zwar – zumal dort, wo sie durch die Gestalt des Teufels und Leverkühns Theologiestudium bzw. biblische Stoffvorlagen evident waren – bemerkt, aber die eigentliche Analyse beschränkte sich zumeist auf die Josephsromane; und weithin ließen die religiösen Motive in Thomas Manns Werk die theologischen Gelehrten ratlos. Die einschlägigen Bemühungen blieben jedenfalls hinter dem Pionier-Aufsatz von Steinbach in den folgenden Dezennien qualitativ weit zurück. Das begrenzte Textkorpus, das in Augenschein genommen wurde, erweiterte sich kaum, und die Forschungsergebnisse stagnierten und wiederholten sich.13 Thomas Mann blieb in der theologischen Forschung eine Randfigur und 12 Nicht ganz so ausgewogen ist der Beitrag Martin Doernes: Thomas Mann und das protestantische Christentum. In: Die Sammlung 11 (1956), 407–425, der ein wenig über das Ziel hinausschießt und – auf obige tendenziöse Schriften apologetisch-überschwänglich reagierend – veritable »religiöse Geheimreserven« in Manns Œuvre gewahrt (421). 13 Exemplarisch sei verwiesen auf den renommierten Alttestamentler Gerhard von Rad: Biblische Joseph-Erzählung und Joseph-Roman. In: Neue Rundschau 76 (1965), 546–559, der konstatiert, die Zyklizität des Mythos schließe bei Thomas Mann eine heilsgeschichtliche Entwicklung aus und Gott werde vom Menschen in Manns Tetralogie lediglich auf Feuerbach’sche Projektionsmanier hervorgedacht. Sodann Wilhelm Kantzenbach: Theologische Denkstrukturen bei Thomas Mann. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 9 (1967), 201–217 – ein aufrichtiger Annäherungsversuch, der letztlich freilich nur Manns »Scheu vor primärer Fixierung« festzuhalten vermag (205); Hans Jürgen Baden: Thomas Mann und die Theologie. In: ders.: Poesie und Theologie. Hamburg 1971, 99–124, der zwar mit Recht den bedeutsamen Aspekt des Humors bei Thomas Mann berührt, sich aber damit begnügt, beiläufig anzumerken, dass Humor und Glaube gut miteinander harmonierten; Kurt Aland: Martin Luther in der modernen Literatur : Ein kritischer Dokumentarbericht. Witten/Berlin 1973 [darin: Thomas Mann und die Reformation Martin Luthers, 295–368, Thomas Manns Schauspiel Luthers Hochzeit, 369–397, und Thomas Mann und das Christentum, 398–430], der eine achtbare Zitatkompilation, doch nur einen dürftigen Kommentar vorlegt (dabei das Augenmerk der theologischen Thomas-Mann-Forschung zumindest – folgenlos – alternativ auch einmal auf Manns letzten Werkplan lenkt); Hans Küng: Gefeiert – und auch gerechtfertigt? Thomas Mann und die Frage der Religion.

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ist es als theologisch unsicherer Kantonist im Grunde bis heute noch geblieben. Der rein theologische Zugriff auf das Thema erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als erkenntnishemmend. Zu summarisch suchte man von theologischer Seite dem großen Gegenstande beizukommen, der sich andererseits perspektivisch einseitigen, selektiven Studien entzog. Besonders wurde die spezifisch ästhetische Dimension von Thomas Manns Spätwerk entweder vernachlässigt oder verkannt. Der Tenor dieser Untersuchungen ist daher ein wiewohl nicht polemischer, doch oftmals verständnisloser und daher nur begrenzt ergiebiger.14 In: Walter Jens u. ders. (Hg.): Anwälte der Humanität: Thomas Mann – Hermann Hesse – Heinrich Böll. München 1989, 81–157. Hier wird gar der biblische Joseph gegen den Thomas Mann’schen ›ausgespielt‹, Manns Christologie-Begriff verengt und – inkorrekt – ein prinzipielles Desinteresse Thomas Manns an den theologischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts unterstellt (während Manns Hochachtung für den führenden Vertreter der Bekennenden Kirche und Widerstandskämpfer Martin Niemöller zutreffend zumindest knapp erwähnt wird). 14 Eine Ausnahme stellt etwa der sehr verdienstvolle konzise Beitrag Konrad Amelns dar, welcher – durchaus singulär in den 1960er-Jahren – Manns Romanerstling gewidmet ist und die darin enthaltene Rabenaas-Strophe als Kirchenliedstrophen-Parodie (1840) eines Freunds von Friedrich Engel, Friedrich Wilhelm Wolff, nachweist: Über die »Rabenaas«Strophe und ähnliche Gebilde. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13 (1968), 190–194. Die Frage, ob Thomas Mann die Rabenaas-Strophe seinerseits – wie manche Zeitgenossen und gar Hymnologen – für authentisch hielt und woher er die Textvarianten in seinem Roman bezog, ist bis heute nicht geklärt. Auszuschließen ist nach den Forschungen der Verfasserin zumindest Manns Kenntnis der Strophe aus zeitgenössischen Lübecker Gesangbüchern (vgl. das in mehreren Auflagen erschienene Lübeckische evangelisch-lutherische Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, auf Anordnung des hohen Senates bearbeitet von dem geistlichen Ministerium). – Abermals auf Manns Tetralogie rekurriert Dietmar Mieth: Epik und Ethik: Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns. Tübingen 1976, doch kommt er zu einem überraschenden, denkwürdigen Fazit, das einen neuen Ansatz in dem ansonsten von theologischem Unbehagen dominierten Humanitätsdiskurs bei Thomas Mann bietet. Die Josephsromane, so der katholische Theologe Mieth, seien »narrative Ethik« (11), darin zugleich aber auch eine bedenkenswerte Nachfolge im Sein – und Thomas Manns »Aufmerksamkeit und Gehorsam« persönliche Umschreibungen für das Komplementärpaar einer Vita contemplativa und Vita activa (222). Leider geht Mieth kaum auf die biblische Vorlage ein, nimmt auch die Josephsromane als literarisches Kunstwerk nicht in den Blick; immerhin ist er sich ästhetischer Zusammenhänge und daraus resultierender Fragestellungen jedoch bewusst, die in seiner Monographie noch »nicht auf den Begriff gebracht werden können« (43). – Auf ebendiese biblische Vorlage und Manns Bibelexegese in der Tetralogie konzentriert sich schließlich – 16 Jahre später – Christoph Jäger : Humanisierung des Mythos – Vergegenwärtigung der Tradition: Theologisch-hermeneutische Aspekte in den Josephsromanen von Thomas Mann. Stuttgart 1992. Diese Monographie sticht ebenfalls aus der theologischen Thomas-Mann-Forschung hervor, da sie Manns Bibellektüre erstmals ernstlich untersucht, teilweise auch Quellensynthese betreibt und dabei zu frappierenden Ergebnissen gelangt. So kann Jäger belegen, dass Thomas Mann neben Luthers Übersetzung noch diverse Nebenquellen, v. a. die Zürcher Bibel, zu Rate zog und dass sich gar Spuren des hebräischen Originaltextes in den Josephsromanen finden. Es ist dies ein faszinierender

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Seit der Jahrtausendwende sind in der theologischen Thomas-Mann-Forschung – auch bedingt durch das Zentenarium dieses Romans – die Buddenbrooks in den Vordergrund getreten. Es wird mithin auch in der jüngsten Zeit stark selegiert, doch hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit seither tendenziell verschoben. Zu nennen sind hier insbesondere zwei vorzügliche Aufsätze von Ada Kadelbach, die sich auf Manns Romanerstling beziehen.15 Ebenfalls den Buddenbrooks gewidmet ist ein gehaltvoller Beitrag von Jan Rohls,16 und das Verdienst, die erste Buchpublikation über Thomas Manns Theologie vorgelegt zu haben, gebührt schließlich – im Jahr 2008 – dem Theologen Christoph Schwöbel.17 Schwöbels Monographie ist die einzige Untersuchung (nicht nur unter Theologen, sondern überhaupt), die es bis heute unternommen hat, das Spektrum von Thomas Manns theologisch inspirierten Werken etwas auszuweiten. Freilich beschränkt auch Schwöbel sich auf die »großen Romane« – so auch der Untertitel seiner Studie –, was bedeutet, dass außer dem Zauberberg auch hier im Grunde kein ganz neues Werk-Kapitel aufgeschlagen wird. Die Betrachtungen eines Unpolitischen werden zwar beiläufig erwähnt, ebenso Der Erwählte, doch bleibt die Darstellung insgesamt hinter dem Themenpotenzial zurück. Von einer ersten umfassenden Durchdringung des Gegenstandes darf mithin auch hier noch nicht gesprochen werden. Schwöbel intendiert denn auch weniger eine innovative, ambitionierte Forschungsleistung denn eine »kleine Sammlung theologischer Essays«,18 die unsystematisch aufeinander folgen und zwar oftmals interessante Anregungen, jedoch kaum mehr als Assoziationen liefern (eine Ausnahme bildet etwa die tatsächlich wegweisende, faszinierende Darstellung des Dämonischen bei Paul Tillich und im Doktor Faustus). Die Unter-

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Ausgangspunkt, der noch ausführlicherer Bearbeitung harrt und Manns Theologie in den Josephsromanen als Ergänzung zu Mieths theologischer Ethikstudie vorbildlich untersucht. Ada Kadelbach: Was ist das? Ein neuer Blick auf einen berühmten Romananfang und die Lübecker Katechismen. In: Manfred Eickhölter u. Hans Wißkirchen (Hg.): Buddenbrooks: Neue Blicke in ein altes Buch. Lübeck 2000, 36–47, sowie dies.: Thomas Mann und seine Kirche im Spiegel der Buddenbrooks. In: Thomas Mann und seine Kirche. Hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Hannover 2001, 9–23. Während ersterer Beitrag instruktive Einblicke in die von Thomas Mann benutzten KatechismusAusgaben gewährt – die Mann z. T. korrekt, z. T. bewusst anachronistisch den Generationen zuordnet –, schließt sich der zweite Aufsatz an die Forschung Amelns an (s. Anm. 14) und weist weitere, diesmal von Luther und Paul Gerhardt stammende Kirchenliedverse in Manns Romanerstling nach. Jan Rohls: Thomas Mann und der Protestantismus: 100 Jahre Buddenbrooks. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), 351–378. Dieser Aufsatz ist zumal aufgrund seiner Berücksichtigung der Providenzlehre in Manns erstem Roman (»Dominus providebit«) von besonderer Bedeutung. Christoph Schwöbel: Die Religion des Zauberers: Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns. Tübingen 2008. Schwöbel: Die Religion des Zauberers (Anm. 17), 3.

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suchung ist bewusst als »Bändchen«19 konzipiert, das dem gewaltigen Thema weder eingehend gerecht werden kann noch will, sondern sich eher als Liebhaberstudie eines literaturbewanderten theologischen Gelehrten und Bewunderers von Thomas Mann versteht. Schwöbels ästhetische Sensibilität ist ein großer Vorzug seiner Analyse; gleichwohl kommt er selten zu wirklich neuen Ergebnissen, die er, hätte er ebenso viel Zeit und Mühe wie Elan in seine Studie investiert, dank seiner Kompetenz und dem fachübergreifenden Zugriff auf das Thema gewiss hätte erbringen können. Es ist, so Schwöbel, freilich ein weites Feld, das gründlich zu bearbeiten erst noch aufwendig unternommen werden müsste: »Zu reichhaltig sind die Bezüge auf Theologisches in Thomas Manns literarischem Werk, zu vielschichtig die kommentierenden Äußerungen in seinen Reden und Aufsätzen, zu komplex das Netz der Beziehungen, das sich durch beides, Erzählerisches und Kommentierendes eröffnet«.20 Auch die seit geraumer Zeit publizierten Tage- und Notizbücher finden keine Beachtung. In ihrem Vorgehen, »Thomas Mann und die Religion« mehr episodisch als vertieft und eindringlich zu untersuchen, muss Schwöbels Monographie daher leider als repräsentativ für einen Großteil der theologischen Thomas-Mann-Forschung gewertet werden – wiewohl sie sich von diesem durch ihre interdisziplinäre Offenheit abhebt und durch eine partielle Erweiterung des Textkorpus auszeichnet. Die germanistische Forschung zu einschlägigen Teilaspekten der Thematik ist quantitativ weniger augenfällig als die theologische. Nur selten hat sich die Literaturwissenschaft mit explizit theologischen Fragestellungen in Manns Werken beschäftigt, begann damit jedoch in den 1960er-Jahren, d. h. etwa zeitgleich mit der theologischen Forschung – und zu derselben parallel. Es hat bis in die jüngste Zeit hinein fast keine Korrelationen, kaum interdisziplinäres Zusammenwirken gegeben; selbst eine wechselseitige Kenntnisnahme ist weithin nicht auszumachen, obgleich auch germanistische Gelehrte sich selektiv zumeist denselben Werken Thomas Manns zuwandten. Anders als die theologischen Gelehrten sind germanistische freilich früh quellenkritisch vorgegangen und haben zudem fachübergreifende Ansätze – meist im Hinblick auf die Philosophie – verfolgt. In den 1960er-Jahren war hier Herbert Lehnert prägend. Seine Forschungen, die sich auf Archivstudien des Thomas-Mann-Archivs in Zürich stützen, sind v. a. dank ihrer philologischen Akribie auch heute noch von Wert – so etwa im Nachweis idiosynkratischer Glaubensvorstellungen, die Mann von Nietzsche übernommen hatte –, wenn sie auch im Ganzen noch in Präli-

19 Schwöbel: Die Religion des Zauberers (Anm. 17), 10. 20 Schwöbel: Die Religion des Zauberers (Anm. 17), 252.

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minarien verharren und von der zu simplen Grundthese ausgehen, Mann habe von Theologie nicht viel verstanden.21 Vorbildlich ist der Anstoß Willy R. Bergers, der Thomas Manns Verständnis von Humanum und Divinum in den Josephsromanen neu zu überdenken sucht. Die partielle Identität von menschlichem und göttlichem Geist, die stete Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch in der »rollenden Sphäre« und den mithilfe des Menschen ›werdenden‹ Gott führt Berger eben nicht auf Feuerbachs Projektionstheorie zurück, sondern auf den Einfluss Max Schelers.22 Der Mensch als Gottes Mitbildner, Mitstifter und Mitvollzieher : Thomas Manns synergetische Theologie wird hier in Beziehung zur Stellung des Menschen im Kosmos (1928) gesetzt – ein Ausdruck, den Mann als Reminiszenz an Schelers philosophische Anthropologie und als Scheler-Reverenz in seinem Fragment über das Religiöse (1931) denn auch explizit verwendet.23 Dies ließe sich noch eingehender konturieren, und von hier aus ließen sich Traditionslinien bis zurück zu Spinoza und Goethe verfolgen, was Berger in seiner Studie nicht unternimmt, für Manns Theologie jedoch von großem weitergehenden Interesse wäre. Die Literaturwissenschaft, für ästhetische Transformationsprozesse von Haus aus sensibilisiert, hat in den vergangenen Dekaden bedeutsame Impulse v. a. zur Religionsphilosophie und zu Kontrafakturen von Bibelzitaten geliefert – wenn auch stets in auswählenden Einzelstudien, die sich auf die bereits genannten Werke Thomas Manns beschränkten und deren Augenmerk dabei gleichwohl nie primär auf der Thematik lag. Dieser letztere Umstand unterscheidet die Literaturwissenschaft von der theologischen Thomas-Mann-Forschung, vermag aber zu erklären, warum auch in der germanistischen (aus anderen Gründen) ein »geistiges Band« bis heute fehlt: Beide Disziplinen, Theologie wie Germa21 Dies wiederum hat zur Folge, dass die meisten Positionen Lehnerts inzwischen antiquiert sind. Es wird hier ein zu einseitiger und enger Blickwinkel auf die Thematik deutlich, der daher rührt, dass Lehnert zwar hinter etliche von Manns Quellen zurück, aber nicht ganz in sie hinein und schließlich zusammenhängend wieder aus ihnen heraus, d. h. auch über sie hinaus geht. – Herbert Lehnert: Thomas Manns Vorstudien zur Josephs-Tetralogie [1925–1926]. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), 459–506; ders.: Thomas Manns Josephstudien 1927–1929. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), 378–406; ders.: Zur Theologie in Thomas Manns Doktor Faustus: Zwei gestrichene Stellen aus der Handschrift. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40 (1966), H. 2, 248–256; ders.: Thomas Manns Lutherbild. In: Georg Wenzel (Hg.): Betrachtungen und Überblicke: Zum Werk Thomas Manns. Berlin/Weimar 1966, 269–381. Die von Lehnert vorgelegte Monographie (Thomas Mann: Fiktion, Mythos, Religion. Stuttgart 1965) darf nicht als Gesamtdarstellung zum Thema missverstanden werden, da sie Manns Theologie in vielen Werken und Beziehungsfeldern außer Acht lässt. 22 Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. Köln/Wien 1971. 23 Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4). Bd. 11, 424.

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nistik, haben »Thomas Mann und die Religion« auf ihre Art zumeist nicht wirklich ernst genommen, und die quellenbezogenen Erkenntnisse von literaturwissenschaftlicher Seite, als Vorstudien für die Thematik von so großem Wert, sind nach ihrer Erarbeitung für die »religiöse Frage« bei Thomas Mann kaum fruchtbar gemacht worden. Wo doch, so ist dies oftmals beiläufig und gleichsam als Nebensächlichkeit geschehen. Besondere Stimuli bieten germanistische Forschungsbeiträge, deren Titel bezeichnenderweise nicht unmittelbar auf Thomas Manns Gottessuche verweisen: Vor allem Hans Wißkirchen und Werner Frizen sind an dieser Stelle zu erwähnen.24 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sowohl in der theologischen als auch in der germanistischen Thomas-Mann-Forschung teilweise hilfreiche Vorarbeiten zum Thema geleistet worden sind, eine wirklich umfassende, kohärente und systematische Gesamtdarstellung allerdings noch aussteht. Sie müsste auf die oben skizzierten Anregungen aufbauen, dieselben zueinander in Beziehung setzen, z. T. auch anders akzentuieren, wo nötig grundlegend erweitern, v. a. aber auch und nicht zuletzt in etlichen Bereichen völlig unerforschte Wege gehen. »Thomas Mann und die Religion« stellt noch immer eine große Terra incognita dar, die es gründlich wie zusammenhängend zu erfor24 Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman: Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus. Bern 1986. Das Religiöse in letzterem Roman verknüpft Wißkirchen anregend mit den Thesen Adornos, Kierkegaards und Walter Benjamins (die »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit« in Manns Roman; die Musik als teuflische, das Christentum unterminierende und schließlich negierende Kunst). Werner Frizen: Thomas Manns Zauberberg und die »Weltgedichte« der Zeitenwende. In: Arcadia 22 (1987), 244–269, thematisiert biblische Anklänge in Manns Roman. – Die germanistischen Studien hingegen, deren Titel auf eine (thematisch begrenzte) Behandlung von Manns Theologie durchaus schließen lassen könnten, erfüllen diese Hoffnung selten. Vgl. etwa repräsentativ Käte Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk. München 1981; Walter Jens: Die Buddenbrooks und ihre Pastoren: Zu Gast im Weihnachtshause Thomas Manns. Lübeck 1993. Bernd Hamacher (Thomas Manns letzter Werkplan Luthers Hochzeit: Edition, Vorgeschichte und Kontexte. Frankfurt a. M. 1996) legt eine achtbare quellenkritische Darstellung vor, nimmt sich Luthers Theologie und ihrer Rezeption bei Thomas Mann indessen nur oberflächlich an. Enttäuschend schließlich ist die Analyse Werner Wienands: Größe und Gnade: Grundlagen und Entfaltung des Gnadenbegriffs bei Thomas Mann. Würzburg 2001, die sich mit religiös-theologischen Implikationen des Gnadenbegriffs bei Mann durchaus nicht auseinandersetzt und dabei auch zentrale Werke (wie etwa Das Gesetz und wiederum Luthers Hochzeit) schlichtweg übergeht. – Inwiefern die intensive Quellensuche von germanistischer Seite schließlich nicht nur aufschlussreich, sondern auch irreführend sein kann, verdeutlicht ein Aufsatz von Andreas Urs Sommer: Der Bankrott »protestantischer Ethik«: Thomas Manns Buddenbrooks. Prolegomena einer religionsphilosophischen Romaninterpretation. In: Wirkendes Wort 44 (1994), 88–110. Ungeachtet dessen, dass verschiedene innerprotestantische Bewegungen hier problematisch miteinander vermengt werden, zitiert Sommer durchgehend Max Weber – was für die Buddenbrooks freilich nicht bedeutsam ist. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus erschien ja erst 1904/1905.

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schen gilt. Indes lässt sich beobachten, wie ein ernsthaftes Interesse an dem Thema in den letzten Jahren zugenommen hat; die jüngsten Untersuchungen zu ausgewählten theologischen Aspekten haben dargelegt und lassen weiterhin erahnen, wie viel der Themenkomplex tatsächlich zu bieten hat, wofür auch die vorzügliche Monographie von Friedhelm Marx über Christusfigurationen bei Thomas Mann ein Beispiel ist.25 Eine interdisziplinäre Öffnung deutet sich in den letzten Jahren an, die Forschungslücken mehr und mehr erkennen lässt.26 Die Arbeiten Hermann Kurzkes zu Thomas Mann und der Religion seien besonders unterstrichen,27 sodann auch eine Vortragsreihe und ein Symposion in Zürich bzw. Davos.28 In den letzten Jahren erschienene Dissertationen haben sich gleichfalls Teilaspekten des Themas gewidmet.29 Vielleicht ist es daher berechtigt, von einem allmählichen Paradigmenwechsel zu sprechen, der sich in letzter Zeit vollzieht, indem die kritische Theologie bei Thomas Mann als solche zunehmend gewürdigt und analysiert wird. Die bedeutendsten Beispiele dafür sind Jan Assmanns Buch über Thomas Mann und Ägypten, in dem das theo25 Friedhelm Marx: »Ich aber sage Ihnen …«: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M. 2002. 26 Vgl. dazu die einschlägigen Lemmata in theologischen Lexika. Während Thomas Mann in die dritte Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart von 1960 erstmals aufgenommen wurde, sich hier allerdings noch nichts Konkretes findet (der Artikel spricht lediglich von Manns »seelisch differenziertem und intellektuell kompliziertem Verhältnis zur Religion«), stammt der entsprechende Eintrag in der vierten Auflage des Jahrs 2002 von einem Germanisten: Friedhelm Marx. Auch die Theologische Realenzyklopädie des Jahres 1992 räumt angesichts der »zahlreiche[n] bedenkenswerte[n] theologische[n] Ansätze und religionswissenschaftliche[n] Reflexionen sowie d[er] lebenslange[n] Beschäftigung Thomas Manns mit christlichen und religiösen Fragestellungen« ein, dass »nach derzeitigem Forschungsstand« noch immer ein großes Desiderat vorliege – ein Desiderat, das bis heute noch besteht. – W. Greiner: Thomas Mann. In: Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 7 Bde. Tübingen 3 1957–1965. Bd. 4 (1960), 723ff., hier 724; Friedhelm Marx: Thomas Mann. In: Hans Dieter Betz u. a. (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 9 Bde. Tübingen 41998–2007. Bd. 5 (2002), 764ff.; Markus Fischer : Thomas Mann. In: Gerhard Müller u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. 36 Bde. Berlin/New York 1977–2004. Bd. 22 (1992), 56–60, hier 60. 27 V. a. Hermann Kurzke: Mondwanderungen: Ein Wegweiser durch Thomas Manns JosephRoman. Frankfurt a. M. 1993, und die Biographie: ders.: Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk. München 1999. 28 Die Vorlesungsreihe Der ungläubige Thomas: Zur Religion in Thomas Manns Romanen fand 2009/2010 in Zürich statt, das Symposion Zwischen Himmel und Hölle: Thomas Mann und die Religion im Rahmen der Davoser Literaturtage 2010. Die Ergebnisse beider Veranstaltungen wurden 2012 in den Thomas-Mann-Studien (Nr. 24 und Nr. 25) publiziert. 29 Vgl. Mat†as Mart†nez: Doppelte Welten: Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996; Tilo Müller : Frömmigkeit ohne Glauben: Das Religiöse in den Essays Thomas Manns (1893–1918). Frankfurt a. M. 2010; und Wiebke Buchner: Die Gottesgabe des Wortes und des Gedankens: Kunst und Religion in den frühen Essays Thomas Manns. Würzburg 2011.

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logische Thema konstitutiv ist, sowie die jüngst erschienene Monographie von Heinrich Detering über Thomas Manns Beziehung zu den Unitariern.30 Eine umfassende Gesamtdarstellung über »Thomas Mann und die Religion« ist jedenfalls längst an der Zeit. Sie könnte dabei nicht nur von historischem, sondern auch von weitergehendem Erkenntnisinteresse sein und mitwirken, aus der geschichtlichen Distanz heraus neue Zugänge zu Grundfragen der menschlichen Existenz zu erschließen. Die Aktualisierung christlich-theologischer Begriffe und Denkstrukturen bei Thomas Mann wäre ebenso zu untersuchen wie die Skepsis ihnen gegenüber, der vielgestaltige Umgang mit Zweifel und Verzweiflung in seinem Gesamtwerk, das Sondieren von (kunst- und ersatz-)religiösen Alternativen und die Gottessuche in einem undogmatischen, »religiös fundierte[n] und getönte[n] Humanismus«.31 Denn eben dieses ist die Religion in Thomas Manns Gesamtwerk ja: eine faszinierte ebenso wie faszinierende Orientierungssuche im skeptisch-ehrfürchtigen »Glauben an den Glauben« (13.1, 551: Betrachtungen eines Unpolitischen), der Bestandteil der Conditio humana ist.32

II. »Thomas Mann und die Religion« bezeichnet mithin einen Themenkomplex, bei dem es sich noch immer um zu leistende Grundlagenforschung handelt. Zu dieser gehören etwa Manns religiöse Prägungen durch Schule, Kirche und Familie, die sich mit zeitlich nachfolgenden, ebenfalls noch frühen Einflüssen durch Kunst- und andere Formen von Ersatzreligion vermengen. In der chronologischen Reihenfolge Wagner – Nietzsche – Schopenhauer eröffnen sich hier nacheinander musikalische und philosophische Beziehungsfelder, die Thomas Mann ein Leben lang begleiten und sich bis ganz zuletzt in seinem Gesamtwerk niederschlagen. Was bedeutet Wagners Musik mit ihren ostentativen (auch sehr 30 Vgl. bereits die bahnbrechenden Darstellungen Jan Assmanns: Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien. München 2000 [darin insbesondere: Zitathaftes Leben: Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, 185–222], sowie schließlich ders.: Thomas Mann und Ägypten: Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion: Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann. Frankfurt a. M. 2012. 31 Brief von Thomas Mann an Herbert Frank vom 19. 03. 1947. In: Mann: Briefe (Anm. 3). Bd. 2, 531. 32 Es handelt sich bei diesem Ausdruck um ein Nietzsche-Zitat aus dessen Brief an Franz Overbeck vom 22. 10. 1879. Vgl. hierzu Thomas Mann: Notizbücher. 2 Bde. Hg. v. Hans Wysling u. Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M. 1991/1992. Bd. 2, 302, sowie Andreas Urs Sommer : Thomas Mann und Franz Overbeck. In: Wirkendes Wort 46 (1996), 32–55.

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frei ausgeführten, z. T. pseudo-)theologischen Sujets für das religiöse Verständnis Thomas Manns? Wird dieses durch den »dekadenten Wagnerismus«33 nunmehr unreflektiert symbolisch aufgeladen, erotisiert und also inhaltlich verwandelt oder ganz bewusst als kunstreligiöses Artefakt gewertet – oder aber als tatsächliche Alternative zum bisher Bekannten angesehen?34 »Thomas Mann und die Religion« dokumentiert sich hier, in der Berührung mit Wagners Musik, zum ersten Male – d. h. also noch vor der Nietzsche-Rezeption. Warum und wie entsteht hier eine signifikante Reibungsfläche im Hinblick auf Manns religiöses Erbe, was ist symptomatisch für das Fin de siÀcle, was individuell bedingt, und was zeichnet den Autor Thomas Mann in seiner spezifischen Behandlung kunstreligiöser – musikalischer – Themen aus? Was die Musik betrifft, so sollte diese im Kontext von Religion und Theologie auch im Hinblick auf Pfitzners Palestrina, Schönberg und Luther untersucht werden. Dass hier später ein Umschlag von ästhetisierter, ja ästhetizistischer Transzendenz ins Dämonische erfolgt, ist evident; wie aber wird eine solche bei Thomas Mann möglich, wie gestaltet diese sich konkret, und vor welchem theologischen Hintergrund? Welche Rolle kommt der Kunstreligion bei zunehmender theologischer Durchdringung in Manns Œuvre späterhin noch zu? Die für Mann kaum zu überschätzende Christentum-Kritik vonseiten Nietzsches wird andeutungsweise vorweggenommen durch zwei exzerpierte Voltaire-Zitate aus dem Notizbuch des Jahres 1894, d. h. aus der frühesten Münchner Zeit, die später in die Buddenbrooks eingeflossen zu sein scheinen.35 In den Jahren 1895 und 1896 schafft sich der junge Thomas Mann schließlich den Fall Wagner bzw. die Morgenröte und Die fröhliche Wissenschaft an.36 Diese drei frühesten Nietzsche-Lektüren sind allesamt von besonderer Bedeutung für Thomas Manns Theologieverständnis. In der Fröhlichen Wissenschaft kulminiert im berühmten »Gott ist tot«-Zitat (Aphorismus 125) bekanntlich Nietzsches ›Theothanatologie‹, die für Manns weitere Auseinandersetzung mit der Religion existenziell gewesen ist; die Morgenröte enthält zumal in ihrem dritten Hauptstück (57–96) breite Textpartien, in denen das Christentum – der Metaphysik- und Moralkritik methodisch und argumentativ verwandt – von Grund auf destruiert wird. Von hier aus könnte Manns einschlägige Nietzsche-Rezeption verfolgt werden – in seiner Lektüre auch anderer Werke Nietzsches sowie später auch von Nietzsches Briefen, die in seinem Gesamtwerk laufend Spuren 33 Vgl. dazu Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus: Studien zur europäischen Literatur des Fin de siÀcle. Berlin/New York 1973. 34 Einschlägige Auseinandersetzungen damit sind essayistisch seit dem Versuch über das Theater (1908) nachweisbar und dauern bis zu Manns Tode neben den fiktionalen Werken in sämtlichen Bereichen (Notizbüchern, Briefen und Tagebüchern) an. 35 Mann: Notizbücher (Anm. 32), Bd. 1, 25f. 36 Mann: Notizbücher (Anm. 32), Bd. 1, 50.

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hinterlassen: von den frühen kleinen Erzählungen noch vor der Jahrhundertwende über Fiorenza und das weitere fiktionale Schaffen bis hin zu den Essays. Auch der Einfluss von Nietzsches Reformations- und Luther-Bild auf Thomas Mann wäre näher zu analysieren. Vielversprechend und wegweisend für Mann scheint überdies Nietzsches Beschäftigung mit Jesus und Paulus. Es stellt sich die Frage, inwiefern – und ob – v. a. Nietzsches späte Philosophie überhaupt kompensatorisch wirken kann, da ihre Konzeption des atheistischen Übermenschen für Mann weithin ohne Folgen bleibt. Aus Nietzsches Postulat vom Tode Gottes leitet Thomas Mann zeit seines Lebens eine verstärkte »Suche nach dem verlorenen Gott«, aber nicht Nietzsches Alternative ohne Gott, d. h. kein innerweltliches Surrogat des Gottesgedankens ab. Nietzsches Christentum- (wie auch seine allgemeine Religions-)Kritik vermengt sich zudem mit der psychologischen Moralkritik, dem Perspektivismus, in einem Maße, dass das eine nicht wirklich getrennt vom anderen gesehen und/oder rezipiert wird. Der Philosophie Schopenhauers scheint demgegenüber der Rang einer veritablen Ersatzreligion sehr viel deutlicher zuzukommen – siehe Buddenbrooks –, was bis zu den Vertauschten Köpfen (1940) und darüber hinaus in Zukunft zu analysieren wäre.37 Gerade in den frühesten, kleinen Werken Thomas Manns ist das Moment der Nachahmung – noch nicht als »In-Spuren-Gehen«, sondern als mimetische literarische ›Handwerksübung‹ – besonders zu berücksichtigen. Tatsächlich reicht das Spektrum religiös-theologischer Motive in Manns frühesten literarischen Werken von rein äußeren Effekten (der spektakulär aufflammende Himmel in Der Wille zum Glück, 1896) bis hin zum substanziellen Selbstmord (Der Tod, 1897) – mit sehr geringem zeitlichen Abstand zwischen den jeweiligen Schilderungen.38 Die Thematik gestaltet sich in den frühesten Novellen im Spannungsfeld von Manns literarischen Ambitionen einstweilen noch diffus. Ausgehend von den Buddenbrooks (1901; vgl. dazu auch die von Mann erwogenen, themenbezogenen Motti aus der Lyrik August von Platens) und immer unter Einbeziehung von Thomas Manns Notizbüchern und Briefen wäre Gladius 37 Wertvolle Ansätze zu Thomas Manns Schopenhauer-Einfluss im theologischen Zusammenhang finden sich bei Werner Frizen: Zaubertrank der Metaphysik: Quellenkritische Überlegungen im Umkreis der Schopenhauer-Rezeption Thomas Manns. Frankfurt a. M. 1980, bei Hans Wysling: Schopenhauer-Leser Thomas Mann. In: Schopenhauer-Jahrbuch 64 (1983), 61–79, und bei Edo Reents: Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption. Würzburg 1998. Zu Nietzsche vgl. im vorliegenden Zusammenhang v. a. die Zitatnachweise bei Herbert Lehnert (Anm. 21). Hier wie dort bleibt einiges zu tun, wie denn auch die musikalische Theologie bei Thomas Mann in ihren verschiedenen Erscheinungsformen von der kunstreligiösen bis zur dezidiert theologischen Perspektive noch geschlossen zu verfolgen ist. 38 Die Thematisierung des Selbstmords führt Georges Fourrier schon früh scharfsichtig zurück auf Nietzsches Götzendämmerung: ders.: Thomas Mann: Le message d’un artiste-bourgeois (1896–1924). Paris 1960, 60f.

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Dei (1902) sodann ausführlich zu behandeln. Als psychologische Vorstudie zu Fiorenza (1907) ist Der christliche Jüngling im Kunstladen freilich nicht nur mit Manns Drama, sondern – durch die Darstellung des visionären Glaubenseifers – auch mit der Erzählung Beim Propheten (1904) verwandt. Hier tun sich, von Manns Romanerstling abgesehen, erstmals kritische Variationen eines übergeordneten Themas auf, die es im Zusammenhang wie einzeln noch zu untersuchen gilt. Was faszinierte Thomas Mann an dieser Themenwahl des religiösen Radikalismus, der auch später – gleichsam als ›Supremat‹ (erinnert sei nur an Leo Naphta) – in den verschiedensten Kontexten immer wieder literarische Gestalt annimmt? Konkrete Anlässe (wie etwa die Begegnung mit Ludwig Derleth aus dem George-Kreis im Falle der Erzählung Beim Propheten) und deren nuancierte fiktionale Übertragung kommen hier ebenso in den Blick wie die erneute intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche (der asketische Priester, der Wille zur Macht etc.) in Verbindung mit religiösem Fanatismus und Theokratie, aber auch Manns erstmalige Faszination durch (vor-)reformatorisch verstandene Ideenkomplexe. Interessant auch, dass Thomas Mann bei Geistlichen und »Mönche[n] im Bes.[onderen]« eine »Parallele zur Verachtung der Litteraten von heute« gewahrt;39 dieser Assoziation ist nachzugehen, zumal so viele Geistliche in Manns Œuvre begegnen (vgl. die Buddenbrooks-Pastoren oder den Oberkirchenratspräsidenten Wislizenus in Königliche Hoheit bis hin zum Geistlichen Rat Chateau in Felix Krull – eine Figurenreihe, die bis zur pfarramtlichen »Kanzelrhetorik« in der frühen Novelle Enttäuschung (1896) zurückreicht (2.1, 81)). Die Analogien zwischen Geistlichen und Literaten beim jungen Thomas Mann weisen eine Wahlverwandtschaft zu Manns frühem Verständnis von Juden, Frauen und Literaten auf und wären daraufhin zu untersuchen40 – während die jüdische Theologie beim jungen Thomas Mann durchaus noch keine nennenswerte Rolle spielt. »Thomas Mann und die Religion« beschränkt sich für lange Zeit auf die Auseinandersetzung mit dezidiert christlichen Glaubensfragen, und es wäre wünschenswert, zu zeigen, inwiefern sich dieser Umstand mit der Zeit verändert. Überhaupt gilt es, in einer systematischen Gesamtuntersuchung diverse Phasen der Theologie Thomas Manns so präzise wie möglich zu explizieren. Seine theologischen Quellenstudien zumal für das Drama Fiorenza sind vielfach durch recht subjektive Impulse geprägt, von Selbstidentifikationen (oppositionell zur Hauptquelle Villaris) bestimmt.41 39 Mann: Notizbücher (Anm. 32), Bd. 1, 213. 40 Vgl. dazu Heinrich Detering: »Juden, Frauen und Litteraten«: Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Frankfurt a. M. 2005. 41 So z. B. in Manns denkwürdigem Kommentar zu Savonarola: »Bei den geborenen Protestanten und Märtyrern handelt es sich garnicht um die Sache, sondern um ihr Temperament, ihre physiologische Beschaffenheit. Sie würden protestiren wie auch immer sie die Welt angetroffen hätten.« – Mann: Notizbücher (Anm. 32), Bd. 1, 218.

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In Savonarolas Mission erblickt Thomas Mann zudem ein »Kunstwerk«;42 die Kunstreligion wird hier also nicht nur auf die Musik, sondern auch auf das charismatische Wort, d. h. nicht zuletzt auf die »Litteratur« bezogen. Der Literat (Thomas Mann selber) als moderner Mystagog also, und die Literatur durchaus auch ohne Musik als autonomes kunstreligiöses Medium? (Hier wäre abermals an Stefan George zu denken.) Das Christentum, so Thomas Mann, ist Geist.43 Es ist bezeichnend, dass »Geist« in sehr komplexen, vielschichtigen Konnotationen bei Thomas Mann vorkommt: vom Heiligen Geist bis zum Synonym von »Esprit«. Diese verschiedenen Konstellationen, Einflussnahmen, Erkenntnis- und Darstellungsinteressen Thomas Manns verweisen auf eine Palimpseststruktur – für Manns Werke im Ganzen repräsentativ –, welche Schicht für Schicht freizulegen unternommen werden will. So wirft selbst ein auf den ersten Blick ›untheologisches‹ Werk wie Königliche Hoheit (1909) weitreichende Fragen auf. Sie betreffen das Motiv des Hochmuts, die Bedeutung der christlichen Nächstenliebe und andere religiöse Motive, die den Roman als sorgfältig zu entschlüsselnden Subtext bestimmen. Es wird zu fragen sein, inwieweit auch der Heiterkeit in Königliche Hoheit bereits die humoristisch-theologischen Implikationen zukommen, die dem späteren Thomas Mann so wichtig wurden. Wie ist die schwindende Bedeutung der Kirche und die dazu umgekehrt proportional steigende Relevanz einer religiös grundierten Sozialethik erklärbar : genrespezifisch, d. h. in der – traditionell weltlich ausgerichteten – ›Märchenstruktur‹ des Romans; zeitbedingt (Säkularisierung); autobiographisch? Auf die Spendung von Sakramenten bzw. kirchliche Segenshandlungen verzichtet freilich auch Königliche Hoheit nicht (vgl. auch etwa den Schlussteil Die Taufe in dem Gesang vom Kindchen, 1919), desgleichen ist an den rudimentären Bezug auf die Sprüche Salomos und Luthers Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott in dem »fromme[n], trotzige[n] Wort: ›Turris fortissima nomen Domini‹« zu erinnern, das in Königliche Hoheit »halb nur noch leserlich« am Hauptportal des Schlosses »eingemeißelt stand« (4.1, 49 und 4.2, 250 – dies auch eine Analogie zur Providenzthematik in den Buddenbrooks). Von 1918 bis 1921 und dann wieder ab 1933 bis hin zu Manns Tode sollten natürlich auch die Tagebuchaufzeichnungen gebührend herangezogen werden. Wie steht es mit »Thomas Mann und der Religion« in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918)? Christentum und Demokratie stehen hier im Mittelpunkt, aber auch der (katholische) Glaube als feierliches Antidot zur Zivilisation; die 42 Mann: Notizbücher (Anm. 32), Bd. 1, 232. 43 Vgl. die Fragmente zu Manns Litteratur-Essay (d. i. Geist und Kunst, 1909–1912) in der kommentierten Edition von Hans Wysling: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Hg. v. Paul Scherrer und dems. Bern/München 1967, 123–233, hier 218 (Notiz 124).

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Reformation und das ›deutsche Wesen‹; der Kulturprotestantismus und die selektive Bezugnahme auf Luthers Theologie; kirchliche und menschliche Humanität. Die Betrachtungen sind für das Thema von besonderem Belang, indem sie sich gleichsam prismatisch darstellen: Lichtdurchlässig und lichtbrennend, sind sie zugleich ein zentrales Bindeglied zwischen Manns Theologieverständnis vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Hier werde ein »religiöses«, kein politisches Problem traktiert, wird Mann zwei Jahre darauf bekennen: »Ein religiöses Problem und damit ein persönliches sowohl wie ein ewiges Problem«, indes: es war die Frage, was förderlicher sei: die Tugend oder die Sünde, das heißt Zweifel und Erkenntnis, – wobei »Tugend« mir gleich galt mit der Vernunft, der humanitären Aufklärung, »Sünde« aber ein anderes Wort für Romantik war. (15.1., 290: Klärungen)

»Thomas Manns Religion« ist, noch einmal, also eine große »Suche«, die in einer zunehmend desorientierten Welt und an der Schwelle einer Zeitenwende nach neuem Sinn und Wegen in die Zukunft fragt. In besonderem Maße gilt dies auch für den Zauberberg (1924) mit seinem Mikrokosmos multioptionaler Sinnstiftung. Zumal die Reflexionen über den »Homo Dei« sind hier einschlägig: Es sei nur auf die Naphta-Figur mit ihrer eigenwilligen Synthese von christlichem Gottesstaat und Kommunismus verwiesen.44 Die lange Entstehungszeit des Zauberbergs, in die schließlich auch Manns demokratische Wende fällt, wirft besondere Fragen auf: Die oben konstatierte Palimpseststruktur erhält eine zusätzliche Schicht, zeichnet sich doch schon die religiöse Thematik der Josephsromane ab, angefangen bei den für sie wesentlichen Quellen (Mereschkowski) und kulminierend in den zahlreichen Bibelbezügen und -kontrafakturen, die den Zauberberg nicht nur als Anti-Bildungsroman, sondern auch als ›Heilsgeschichte‹ lesbar machen. Vom Sündenfall über die Offenbarung bis zur Apokalypse bilden sich umfassende Beziehungsfelder. Durch die »Fülle des Wohllauts« gerät die musikalische Ersatzreligion nunmehr auch in direkte Konkurrenz zu einer ›Vita activa‹, indem sie selber keinen ›Sitz im Leben‹ hat und Qualitäten aufweist, die das große Thema der Lebensfeindlichkeit weiter variieren und vertiefen. Auch die humanistische Position Settembrinis wäre genau zu untersuchen – wie denn dem Begriff der »Humanität« vor dem Hintergrunde ihrer theologischen ›Kompatibilität‹ besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Thomas Mann hat seit den Zwanzigerjahren zunehmende 44 Grundlegend in diesem Zusammenhang Hans Wißkirchen: »Gegensätze mögen sich reimen«: Quellenkritische und entstehungsgeschichtliche Untersuchungen zu Thomas Manns Naphta-Figur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), 426–454. Vgl. auch Frizen: Thomas Manns Zauberberg und die »Weltgedichte« der Zeitenwende« (Anm. 24) sowie – den Wandel der Zauberberg-Konzeption betreffend – Terence James Reed: Der Zauberberg: Zeitenwandel und Bedeutungswandel 1912–1924. In: Hermann Kurzke (Hg.): Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Würzburg 1985, 92–134.

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Skepsis gegenüber einer rein säkularen Humanität bekundet, wie sie von Settembrini verkörpert wird. Die Forschung hat bisher dazu geneigt, zwischen humanistischen und christlichen Betrachtungsweisen im Falle Thomas Manns scharf zu differenzieren. Derweilen ist es problematisch, zumal Manns essayistische Äußerungen als unverbindliche Manifestationen einer bloßen Diesseitsreligion zu betrachten. Vielmehr sollte danach gefragt werden, wie sich Humanum und Divinum im Gesamtwerk Thomas Manns zueinander verhalten, und es sollte die anthropologisch verstandene, kritische Theologie des Autors als solche ernst genommen werden. Der Begriff »Humanität« blickt ja sowohl auf eine aristokratisch-bürgerliche Tradition als eben auch auf eine theologische zurück, die im 18. Jahrhundert – siehe Herder – zu verschmelzen begannen; Aufgabe sollte es daher sein, Manns eigene Position in dieser Frage über die Dekaden hinweg zu untersuchen. Die Bedeutung Goethes und mit ihm Spinozas wäre hier ebenso zu berücksichtigen wie diejenige Lessings, auf die sich Mann beruft und in deren Nachfolge er sich erblickt; später wäre auch an die Humanitätskonzepte moderner Theologen wie Paul Tillich zu denken. So sehr er die Gefahr des Umschlags einer rein säkularen Humanität in ihr Gegenteil erkannt hat, ist Mann doch nie zu einer ungebrochen ›gläubigen‹ religiösen Haltung gelangt, sondern der »Zweifel als Glaube« ist für ihn stets deren integrierender Bestandteil.45 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind Thomas Manns Bedenken gegenüber Goethes »angeblich dezidierte[m] Heidentum« in der Essayfassung von Goethe und Tolstoi (1925), der er den Untertitel Fragmente zum Problem der Humanität gegeben hat: Goethe hat, bei aller Abneigung gegen das »Kreuz«, wie man weiß, der christlichen Idee häufige und ausdrucksvolle Ehrfurchtszugeständnisse gemacht. Das Leidensheiligtum der pädagogischen Provinz ist so bedeutend wie überraschend; und wenn er in der Kirche »etwas Gebrechliches und Wandelbares« sah und in ihren Satzungen »gar viel Dummes« fand, so hat er doch bezeugt, daß »in den Evangelien der Abglanz einer Hoheit wirksam sei, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je das Göttliche auf Erden erschienen ist.« »Über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums«, sagte er mit Sympathie und offenkundigem Gefühl der Bundesgenossenschaft, »wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird der menschliche Geist nicht hinauskommen.« Aber Goethes Christlichkeit wird manifest in seinem bewunderungsvollen Schülerverhältnis zu Spinoza […]. Ist freilich die dualistische 45 Vgl. Thomas Manns in dieser Hinsicht bedeutungsvolle Rede über Lessing (1929): »Daß dieser große Dialektiker kein satirischer Nihilist wurde, […] daß er gütig war, das ist es, was sein Volk und die Völker ihm am höchsten anrechnen sollten. Er spielte wohl mit dem, worüber er tief und lange nachgedacht, aber er spielte nicht um des Spieles willen. Er war ein so gläubiger, liebevoller und hoffender Geist, als nur je einer gelebt und sich um das Menschliche gemüht hat.« – Mann: Rede über Lessing [1929]. In: Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4), Bd. 9, 240 und 245.

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Trennung von Gott und Natur Grundbedingung der Christlichkeit, so war Spinoza Heide, und Goethe war es mit ihm. Allein mit Gott und Natur ist die Welt nicht ausgedacht, das Menschliche, das Humane gehört mit hinein, und Spinozas Humanitätsbegriff ist christlich, insofern er das menschliche Phänomen als das Bewußtwerden der Gott-Natur im Menschen, als ein Durchbrechen dumpfen Seins und Webens, als ein Sichlösen also von der Natur und damit als Geist bestimmt. Auch ist jene berühmte »Beilegung der Leidenschaften durch ihre Analyse« unbedingt nichts Heidnisches, und das Spinoza-Motiv der »Entsagung«, das zum Generalmotiv von Goethes Leben und Werk wurde, wie für Schiller die Idee der Freiheit und für Wagner die der Erlösung, ist es ebensowenig. (15.1, 879f.)

Aus dieser Textpassage scheint eine aufrichtige Affirmation des Christentums zu sprechen – in einer ganz eigenen Umwertung der Werte. Es sollte untersucht werden, was Thomas Manns demokratische Wende nicht nur für sein Verständnis des Christentums im Allgemeinen, sondern auch für das des Protestantismus im Besonderen bedeutet. In diesem Punkt wäre besonders der theologischen Einflussnahme Ernst Troeltschs nachzugehen, dessen Naturrecht und Humanität [!] in der Weltpolitik (1923) ganz offenkundig auf Thomas Mann gewirkt hat (vgl. dazu Mann in 15.1, 723–726, 1923, dort über Troeltsch und dessen Bekenntnis zur Demokratie). Troeltschs theologische Außenseiterrolle, die ausgehend von kulturgeschichtlichen Studien zur Rolle des Christentums in der Moderne eine religiöse Deutung der Wirklichkeit anstrebte, ohne dabei binnentheologische Apologetik zu betreiben, musste Thomas Mann in den Zwanzigerjahren hochwillkommen sein. In Troeltschs Beschreibung des sogenannten Neuprotestantismus dokumentiert sich jener religiöse Individualismus, der Manns eigene Suche nach einem modernen Gottesbild prägt: Die moderne – zumal protestantische – Religiosität, so Troeltsch, sei eine »Religion des Gott-Suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen«.46 Die persönliche, auch eklektische Gottessuche durch alle Skepsis, Zweifel und (Gewissens-)Nöte hindurch wird bei Troeltsch geradezu zum Leitmotiv, und es wäre darzulegen, wie Troeltschs Theologie im Einzelnen auf Thomas Mann gewirkt hat, auch im Hinblick auf sein Verständnis der jüdischen Religiosität, die mit den Josephsromanen nun zunehmend ins Blickfeld rückt.47 46 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Volker Drehsen u. a. 20 Bde. Berlin/New York 1998ff., Bd. 8, 310. 47 Die erste Erwähnung Troeltschs findet sich in den Betrachtungen, dort unter Bezugnahme auf die protestantische Leistungsethik: »Ich lege einigen Wert auf die Feststellung, daß ich den Gedanken, der modern-kapitalistische Erwerbsmensch, der Bourgeois mit seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein Geschöpf protestantischer Ethik, des Puritanismus und Kalvinismus, völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare Einsicht erfühlte und [in den Buddenbrooks] erfand und erst nachträglich, vor kurzem, bemerkt habe, daß er gleichzeitig von gelehrten Denkern gedacht und ausgesprochen worden. Max Weber in

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Joseph und seine Brüder (1933–1943) nimmt im Rahmen von Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Religion naturgemäß eine zentrale Stellung ein. Das Verhältnis von Mythos und Glauben in Joseph und seine Brüder müsste eingehend analysiert werden, zumal auf ihre grundlegenden Inkompatibilitäten hin: Die ›Entdeckung‹ des einen persönlichen und transzendenten Gottes durch Abraham und seine Nachkommen ist mit der polytheistischen Beschaffenheit des Mythos nicht vereinbar, ebenso wenig die für die Romane charakteristische Zielrichtung, d. h. das (trotz mythischer Wiederholungen) doch so wesentliche Telos der Josephsromane als ›eschatologischer Heilsgeschichte‹, denn gegenüber der Linearität derselben kennzeichnet den reinen Mythos eine ›selbstreferenzielle‹ Zyklizität. Mischformen zwischen Mythos und monotheistischer Religion durchziehen freilich den ganzen Romanzyklus. Vor diesem Hintergrund sollte auch die ›Parallelaktion‹ der Josephsromane zu Wagners Ring-Tetralogie neu gesichtet werden, ist es doch der theologische Aspekt der Transzendenz und Heilsgeschichte Gottes, der die Zyklizität des in sich geschlossenen, immanenten Mythos Wagner’scher Provenienz im Joseph immer wieder teleologisch übergreift.48 Sogar das mnemonische Leitmotiv weist, indem es mythisch ist, in den Josephsromanen zugleich narrativ über den Mythos hinaus, denn: Max Weber bemerkt [in seinen religionssoziologischen Studien zum antiken Judentum] überaus klug, daß, wenn Jesus wirklich das Kreuzeswort »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« gesprochen habe, dieser Ruf keineswegs ein Ausdruck der Verzweiflung und Enttäuschung, sondern ein solcher höchsten messianischen Selbstgefühls gewesen sei. Denn jenes Wort ist nicht ›originell‹, kein spontaner Schrei; es ist voller Rückwärtsbeziehung. Es bildet den Anfang des 22. Psalms, der von Anfang bis zu Ende Verkündigung des Messias ist. Jesus zitierte, und das Zitat bedeutete: »Ja, ich bin’s.«49

Bemerkenswert ist, dass die theologischen Entmythologisierungsversuche Rudolf Bultmanns (Neues Testament und Mythologie, 1941), die während Manns Arbeit an Joseph, der Ernährer publiziert wurden und in der Folgezeit eine enorme Wirkung zeitigten, für Thomas Mann bedeutungslos bleiben (erneut wird hier seine Vorliebe für theologische Außenseiterpositionen deutlich). Ebenso wenig hat Mann aber auch ein Jahrzehnt zuvor, als der Mythos durch die Nationalsozialisten korrumpiert wurde, den Mythos ›entmythologisieren‹ wollen, sondern gerade in seiner Humanisierung eine neue Möglichkeit der zeitlosen – d. h. zugleich auch zeitgenössischen – Gottessuche erblickt. Die moderne Heidelberg und nach ihm Ernst Troeltsch haben über ›die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus‹ gehandelt«. (13.1, 159) 48 Vgl. dazu Yvonne Nilges: »Enthusiastische Ambivalenz«: Wagner als Paradigma des modernen Künstlers im Urteil Thomas Manns. In: wagnerspectrum 14 (2011), 137–155. 49 Thomas Mann: Die Einheit des Menschengeistes [1932]. In: Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4), Bd. 10, 756.

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theologische Mythos-Forschung kommt heute zu Ergebnissen, die Thomas Mann in vielem bestärken und bestätigen könnten. Eine besondere theologische Rolle spielt im Joseph der Humor, der im Spätwerk Thomas Manns immer bedeutsamer wird und dabei zusehends an theologischer Relevanz gewinnt – in eben dem Maße, in welchem auch die »Gnade« sich bei Mann zum Kardinalbegriff entwickelt. Beide, Humor und Gnade, stehen in steter Wechselwirkung miteinander. Dieser Nexus wäre noch zu untersuchen, wobei Thomas Mann sich auf fiktionale Vorlagen sowohl von christlicher als auch von jüdischer Seite beruft.50 In seinem Schloss-Essay des Jahres 1941 beispielsweise bewundert Mann Kafka als »religiöse[n] Humorist[en]«, der »in scherzenden Schmerzen« bewegend versuche, »zu Gott, in die Gnade zu gelangen«.51 Die Fähigkeit, Leiden und Schmerz mit dem Antidot des Scherzes zu begegnen, sodass eine veritable Sch(m)erz-Theologie entsteht, wird noch für die »Durchheiterung« des Doktor Faustus von fundamentaler Bedeutung sein. Im Zusammenhang mit den Josephsromanen gilt es auch, Manns Verhältnis zum Judentum neu zu sichten, das sich vor dem Hintergrund der Judenverfolgung des Nationalsozialismus tief greifend gewandelt hat. Dieses Thema sollte im vorliegenden Kontext freilich ausschließlich unter religiös-theologischem Vorzeichen behandelt werden.52 In Lotte in Weimar (1939) wäre v. a. zu demonstrieren, wie Goethes Religionsund Theologieverständnis Manns eigenes spiegelt und transzendiert – in der doppelten Gebrochenheit seiner essayistischen Goethe-Rezeption und deren ästhetischer Transformation im Roman. Das Gesetz (1944) wäre vor dem Hintergrund der Josephsromane zu interpretieren – als Fortentwicklung der vorgesetzlichen zur gesetzlichen jüdischen Religiosität. Der Gottsucher Mose erhebt sich »in Gottes Nähe« und erfindet, anders als in der Überlieferung, durchaus in eigener Person – aber aufgrund eines »Gotteseinfalls« – die hebräischen Schriftzeichen und meißelt mit ihnen die Zehn Gebote eigenhändig in die Tafeln. Gleichwohl ist der Dekalog als das Sittengesetz jüdisch-christlicher Tradition, das gegenüber Hitler verteidigt 50 Vgl. etwa den Einfluss des anglikanischen Geistlichen und Autors Laurence Sterne. Dazu Yvonne Nilges: »Humor und Größe haben viel miteinander zu tun«: Thomas Mann und Laurence Sterne. In: Thomas Mann-Jahrbuch 24 (2011), 143–154. Auch an Goethes »humoristischen Heiligen« Philipp Neri wäre hier zu denken. 51 Thomas Mann: Franz Kafka und »Das Schloß« [1941]. In: Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 4), Bd. 10, 778 und 775f. 52 Zu Thomas Mann und der ›jüdischen Frage‹ im weiteren Sinne vgl. die inzwischen umfangreiche einschlägige Forschungsliteratur. Ein bewegender Zeitzeugenbericht, der die ganze Diffizilität dieses gleichfalls hochgradig komplexen Themas aus der persönlichen Erinnerung heraus veranschaulicht und der von der Forschung bislang noch nicht wahrgenommen wurde, findet sich bei dem jüdischen Schriftsteller Fritz Beer : Thomas Mann und der jüdische Autoschlosser. In: ders.: Kaddisch für meinen Vater. Wuppertal 2002, 89–103.

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werden muss, nicht Ausdruck einer rein säkularen menschlichen Gesittung, sondern transzendiert diese im Sinne des Bundesgedankens, der schon in den Josephsromanen eine grundlegende Rolle spielte.53 Was aber geschieht, wenn dieser Bund, der unverbrüchlich sein sollte, durch die Hybris des Menschen gebrochen wird? Thomas Manns Doktor Faustus (1947) geht dieser Frage bis auf ihren dunkelsten Grund nach. An die Stelle des Gottesbundes tritt der Teufelsbund, der Zweifel als andere Seite des Glaubens schlägt um in Verzweiflung. Die unerhört vielschichtige Theologie des Romans sollte nicht nur von ihren traditionellen Quellen her, sondern auch und v. a. vor dem Hintergrund der modernen Theologie analysiert werden, die von Mann weit intensiver reflektiert worden ist, als bisher von der Forschung dargestellt wurde. (Insbesondere der Einfluss des ebenfalls im amerikanischen Exil lebenden Tillich war weit größer, als bislang angenommen worden ist.54) Dabei sollten u. a. auch die von Adorno angeregten Textänderungen im Schlussteil des Romans auf ihre theologische Relevanz hin untersucht werden.55 Der Begriff der »Gnade« avanciert im Doktor Faustus vollends zum zentralen Thema. So wird auch der Rechtfertigungsgedanke vor dem Hintergrund der Gnade zu betrachten sein – der merkwürdige Versuch Thomas Manns zumal, ›Werkgerechtigkeit‹ als eine solche des künstlerischen Produzierens gewissermaßen umzuwidmen. »Daß mein Schriftstellertum als ein unter religiösem 53 Vgl. hierzu die wegweisende Studie Wolf-Daniel Hartwichs: Die Sendung Moses: Von der Aufklärung bis Thomas Mann. München 1997. 54 Vgl. dazu Schwöbel: Die Religion des Zauberers (Anm. 17), dort freilich v. a. über Paul Tillich und das Dämonische. 55 Vgl. Die Entstehung des Doktor Faustus (1949). Darin zu Adorno mit Rücksicht auf Leverkühns apokalyptisches Oratorium: »Er war nicht sehr eingenommen von dem Gedanken, der sich bei mir doch längst unwiderruflich befestigt hatte, das Oratorium auf Dürers apokalyptische Blätter zu gründen, und wir kamen überein, daß der innere Raum des Werkes möglichst ins allgemein Eschatologische erweitert werden, möglichst die ganze ›apokalyptische Kultur‹ aufnehmen und als eine Art von R¦sum¦ aller Verkündigungen des Endes dargestellt werden müsse« (19.1, 522). Zu Adorno und dem Schlusse des Romans: »Und doch bin ich versucht, zu sagen, daß sein Hauptverdienst um das Kapitel nicht im Musikalischen, sondern auf dem Gebiet der Sprache und ihrer Nuancen liegt, wie sie, ganz zuletzt, ein Moralisches, Religiöses, Theologisches umwerben. […] Er fand [nämlich] im Musikalischen nichts zu erinnern, zeigte sich aber grämlich des Schlusses wegen, der letzten vierzig Zeilen, in denen es nach all der Finsternis um die Hoffnung, die Gnade geht, und die nicht dastanden, wie sie jetzt dastehen, sondern einfach mißraten waren. Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zu viel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen. [… I]ch fand erst jetzt die Wendungen von der ›Transzendenz der Verzweiflung‹, dem ›Wunder, das über den Glauben geht‹ und die vielzitierte, beinahe in jeder Besprechung des Buches vorkommende, versartige Schlußkadenz mit der Sinnverkehrung ausklingender Trauer zum ›Licht in der Nacht‹.« (Ebd., 573f.) – Zur Änderung des Manuskriptes durch Erika Mann, die Tilgung der religionshistorisch-mythologischen Vorlesung Johannes Rhegius’ betreffend: »aus der Halle-Theologie [wurde] ein ganzer Professor mitsamt seinem Kolleg hinausgeworfen« (ebd., 560).

Thomas Mann und die Religion

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Antrieb stehender Versuch der Rechtfertigung und Schuldbegleichung zu interpretieren ist, habe ich gelegentlich ausgesprochen«, so Mann noch am 8. Februar 1953 in einem Brief an Eberhard Hilscher.56 Der Erwählte schließlich (1951) verweist bereits in seinem Titel auf einen weiteren zentralen Komplex von »Thomas Mann und die Religion«. Erwählung zieht sich in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen wie ein roter Faden durch Manns Œuvre, hier als Heiligen- und Papstlegende im Verhältnis zu Religion, Mythos, Psychoanalyse, Parodie und einschlägigen Themenkomplexen, die näher zu untersuchen sind. Thomas Manns letzter Werkplan, das Fragment gebliebene Drama Luthers Hochzeit (1955), beschließt seine lebenslängliche Beschäftigung mit Luther. Es stellt sich die Frage, inwiefern Luthers Persönlichkeit und Theologie, das LutherBild bis zu Nietzsche und Wagner (der, wie gesagt, ebenfalls ein Drama über Luthers Hochzeit plante) Thomas Mann geprägt haben und wie sich sein eigenes Luther-Bild im Laufe der Jahrzehnte wandelte.

III. Thomas Manns Gottessuche ist eine verschlungene, existenzielle Orientierungssuche nach dem lebendigen Geist – wobei das Wort »Geist« in all seinen religiösen und profanen Lesarten zu beachten ist. Eine zusammenhängende Untersuchung von Manns ›Bruchstücken einer großen Konfession‹ wäre für die Zukunft sehr zu wünschen. »Auf der Suche nach dem verlorenen Gott« lassen sich, so die These der Verfasserin, zwei Haupttendenzen ausmachen, die Manns Gesamtwerk zusehends bestimmen: Es ist die Suche nach »humaner« Einheit – und, damit einhergehend, die Suche nach einem undogmatischen Gottes- und Religionsverständnis, das aber andererseits sehr wohl auf ausgeprägte theologische Kenntnisse zurückgreift und diese literarisch fruchtbar macht. Die Gottessuche nach dem proklamierten Tode Gottes wird bei Mann zu einem »Erlebnis«, zu einer »Leidenschaft«, die intellektuell gebrochen, gleichwohl immer gegenwärtig und tatsächlich unentbehrlich ist (14.1, 190: Über »Fiorenza«: Brief an eine katholische Zeitung, 1908). Es ist der ›Sitz im Leben‹, der »Thomas Mann und die Religion« konstituiert und über die Dezennien hinweg heterodoxe Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche aufweist. Die Liste der Hauptund Nebenpersonen in der Theologie Thomas Manns ist lang, beginnt mit den Patriarchen der Bibel und reicht über die Repräsentanten der Reformation 56 Der Brief an Hilscher, der abermals auf das Religionsverständnis Goethes rekurriert, wird hier zitiert nach Thomas Mann: Selbstkommentare: Joseph und seine Brüder. Hg. v. Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1999, 328.

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(neben Luther zumal Erasmus von Rotterdam, Calvin, Zwingli, Müntzer) bis zu den Theologen des 20. Jahrhunderts (Ernst Troeltsch, Paul Tillich, Reinhold Niebuhr, Martin Niemöller u. a.). Manns Gesamtwerk »konfrontiert mit seiner literarischen Verarbeitung theologischer Themen die Theologie mit den kulturellen Folgen ihrer Tätigkeit«.57 Es tut dies durchdringend in einem Themenkreis, der so reich an Abstufungen, Schattierungen und (ästhetischen) Differenzierungen ist wie der jeweils korrespondierende literarische Tonfall. Dies erstmals zusammenhängend zu erhellen, ad bonam partem und ad malam partem, ist Ziel und Aufgabe noch für die Zukunft.

57 Schwöbel: Die Religion des Zauberers (Anm. 17), 275.

Markus Schleich

»Even Jesus Wanted a Little More Time«. Die Passion Christi bei Tom Waits, Nick Cave und Johnny Cash

1.

»Und an dem Abend, an dem er hingerichtet wurde …« – Die stoffliche Genese der Passion

Die Passion Christi – aufgefasst als das Leiden Christi vom Moment seiner Gefangennahme an bis hin zu seiner Kreuzigung – ist wohl das Kernstück von Jesu Wirken.1 In ihr, speziell durch die Auferstehung,2 wird aus dem Menschen Jesus das Opfer Gottes. Und obwohl diese Sequenz in einen größeren Kontext eingebunden ist, kann an ihr doch die Selbstopferung Jesu für die Menschheit als pars pro toto für die Gesamtheit von Jesu benevolentem Wesen gewertet werden. Jesus’ death is related substantively to his life. His kingdom-proclamation, his emphasis on the status of little children, his associates at the dining table, his interpretation of Scripture, his practices on the Sabbath, his ministry of healing – all of these and more find their culmination, sometimes paradoxically, in the cross. […] Jesus’ death represents a microcosm of his life: Jesus (himself) asserts that the purpose of his coming was not to be served, but to serve and to give his life a ransom for many.3

Die Passion nimmt eine prominente Rolle in allen vier Evangelien ein, aber auch in einer Vielzahl der Apokryphen. Und obwohl sie die abendländische Literatur 1 Das Leben und Wirken von Jesus Christus bietet zahlreiche Episoden, die für sich selbst genommen schon Motive und Stoffe für die Weltliteratur abgeben. Von »Jesus als Stoff« zu sprechen, ist ein bedenkliches Vorhaben. Um eine gewisse Vergleichbarkeit der ausgewählten Songs zu gewährleisten, liegt der Fokus hier auf der Passionsgeschichte, die hier im Sinne eines Stoffes aufgefasst wird. 2 Das Motiv der Auferstehung findet sich allerdings schon früher und ist ergo Gegenstand einer hitzigen Debatte. »Beginning no later than the second century, Christianity’s critics made the most of such apparent parallels. Several of these serve as useful reminders of the extent to which popular cultural typologies of both Jewish and Graeco-Roman ruler cults would have lent themselves to the reception as well as the propagation of a resurrected and ascended Jesus.« (Markus Bockmuehl: Resurrection. In: ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Jesus. Cambridge 2001, 102–120, hier 112.) 3 Joel B. Green: Crucification. In: Bockmuehl (Hg.): Cambridge Companion to Jesus (Anm. 2), 87–101, hier 99.

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nachhaltig geprägt hat, hat die »über-künstlerische, religiöse Bedeutung des Jesus-Stoffes seine freiere Entfaltung lange gehindert«.4 Die Transgression der »dogmatischen Gestalt des geschichtlichen Jesus«5 zu einem säkularisierten, »literarisch aufgegriffenen Christus-Mythos«6 ist ein langwieriger Prozess. Große Teile der Kunstproduktion des Mittelalters, das christlich-theologisch organisiert – ergo kontrolliert – mit den religiösen Vermächtnissen umgeht, sind weniger Fortschreibung eines Stoffes denn Konservierung religiösen Selbstverständnisses. Erst durch »das Schwinden orthodoxer Gläubigkeit seit der Aufklärung«7 konnte die verklärt-religiöse Sicht auf Jesus einer »rationalisierenden Darstellung«8 weichen – wobei sich erste Erschütterungen der starren Glaubensstrukturen schon bei Luther finden lassen.9 Um das bis dato Unerklärliche fassbar zu machen, wird die Auferstehung im Zuge einer Emanzipation von Religionen häufig als akribisch inszenierter Sektenkult dargestellt. Der Erlöser wandelt sich zum Scharlatan. Ein weiterer Paradigmenwechsel der Jesus-Rezeption wurde durch David Friedrich Strauß’ Schrift Das Leben Jesu kritisch untersucht initiiert, der Jesus als Menschen verstanden wissen wollte und somit Jesu Biographie zur Säkularisierung freigab: Strauss’ significance was considerable […]. The essence of the Christian message was that Jesus had lived and died a human being and any attempt to diminish that fact was wrongheaded.10

Daraus resultierte, dass Jesus zu einem populären Sujet des historischen Romans und Dramas wurde. Die Figur wurde »je nach Weltanschauung des Autors […] als Sozialrevolutionär, als mythisierte Persönlichkeit oder als pathologische[r] Fall«11 interpretiert. Durch die neue Flexibilität des Stoffes erschienen immer mehr Werke, die sich mit Jesus befassen. Einer Übersättigung des Stoffes durch ständige Nacherzählung wurde dadurch entgegengetreten, »daß man den Charakter hauptsächlich durch Spiegelungen in den Meinungen der Umwelt wiedergab«.12 Neben der Alteration der Perspektive versetzten viele Autoren den 4 Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 102005, 437. 5 Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zürich/Köln 1978, 15. 6 Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Anm. 5), 15. 7 Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 439. 8 Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 439. 9 Vgl. Alan Torrance: Jesus in Christian Doctrine. In: Bockmuehl (Hg.): Cambridge Companion to Jesus (Anm. 2), 200–220, hier 211–216. 10 James Carleton Paget: Quests for the historical Jesus. In: Bockmuehl (Hg.): Cambridge Companion to Jesus (Anm. 2), 138–156, hier 142. 11 Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 441. 12 Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 441.

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Stoff in die Gegenwart, wo sie »Jesus ein zweites Mal Verständnislosigkeit, Untreue und Opfertod erleben ließen«,13 um die Aktualität des Stoffes zu verdeutlichen. Darüber hinaus lösten sich die Texte immer mehr vom historischen Jesus und wurden zu Transfigurationen, deren »Repräsentanten […] ein ähnliches Schicksal erleiden, ohne es zu wollen«.14 Die Figuren, die Ähnlichkeiten zu Jesus aufweisen, aber deren Tod nicht zwangsläufig ein religiös motiviertes Selbstopfer ist, kommen als verkannte Revolutionäre oder soziale Apostel daher. Diese Auslegungen der Jesus-Figur variieren durch alle Gattungen und Epochen, nicht nur die Literatur muss sich in diesem Interpretationsspielraum immer aufs Neue orientieren, auch andere Künste sind mit dieser Problematik konfrontiert. So merkt Theodore Ziolkowski über cineastische Bearbeitungen der Jesus-Figur an: Dramatizations of the Gospels beginning in the Middle Ages portrayed Jesus in a variety of Hypostases, ranging from a coarse jester to the serious teacher, from the severe judge to the gentle lover. If films since 1900 have cast Jesus in guises extending from the athletic preacher to the student revolutionary, their practice is fully consistent with a centuries old tradition of ambivalence regarding his role and character.15

Jesus präsentiert sich in allen der Aufklärung folgenden Epochen als zutiefst polyvalente Figur, an welcher Fragestellungen an Gesellschaft, Religion und Politik durchgespielt werden können. Schlussendlich wird Jesus im 20. Jahrhundert auch in die Populärkultur überführt.16 Allerdings, so ein Vorwurf, der mit dem Übergang vom kulturellen ins popkulturelle Gedächtnis einhergeht, verlieren die Passion und vor allem die Figur Jesus ihre Bedeutung. Gerade religiöse Gruppen hadern mit der zunehmenden Trivialisierung,17 aber auch von säkularer Seite wird diese Entwicklung teils kritisch gesehen: Finally, symbols are organic, they are born, grow and die. A symbol emerges when the situation for it is ripe. It grows and matures, unfolding over time as succeeding generations use it to interpret their lives and devote themselves to reflect on the meaning that is encoded in it. Jesus would be the best example of this […]. A symbol can also die. […] When this happens, the symbols that represented that revelation grow silent and eventually lifeless, either disappearing or persisting only as clich¦s.18

Die Auseinandersetzung mit Jesus – ob positiv oder negativ konnotiert – ebbt ab, in der Popkultur kommt Jesus, so die Annahme, etwa die gleiche Funktion zu wie 13 14 15 16

Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 442. Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (Anm. 4), 443. Theodore Ziolkowski: Fictional Transfigurations of Jesus. Princeton 1972, 1. Vgl. David Lyon: Jesus in Disneyland: Religion in Postmodern Times. Cambridge 2000, IX–XII. 17 Vgl. Darrell L. Bock u. Daniel B. Wallace: Dethroning Jesus: Exposing Popular Culture’s Quest to Unseat the Biblical Christ. Dallas 2007. 18 Kelton Cobb: The Blackwell Companion to Theology and Popular Culture. Oxford 2005, 116.

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einem winkenden Buddha in einem fernöstlichen Restaurant. Jesus wird zu einem weitestgehend sinnfreien Zitat, also Beginn einer Verweiskette, deren Ursprung kaum noch auszumachen ist. Im Folgenden soll an drei Beispielen untersucht werden, inwieweit die Popularmusik19 – ganz im Sinne Roy Shukers als pars pro toto der Popkultur verstanden – dieser Überlegung Rechnung trägt oder bereits archiviert geglaubte Diskurse der Passion fortschreibt. Bei der Auswahl lag der Fokus auf einer gewissen Vergleichbarkeit. Während Jesus als Figur sicher in vielen Songs Erwähnung findet, ist Liedgut, das sich explizit mit der Passion auseinandersetzt, sehr viel rarer gesät. Im Folgenden werden also drei Songs herangezogen, die sich dezidiert mit der Passion auseinandersetzen: Tom Waits Walking Spanish, Nick Cave & The Bad Seeds The Mercy Seat und Johnny Cashs Hurt, die in chronologischer Reihenfolge besprochen werden.

2.

»Slip Him a Picture of Our Jesus« – Tom Waits’ Walking Spanish

Der Song Walking Spanish des amerikanischen Singer-Songwriters Tom Waits aus dem Jahre 1985 ist dem Album Rain Dogs entnommen, dem neunten Album dieses Interpreten. Der Sound dieses Albums ließe sich als »pre-rock integrity from old dirty blues, [and] the elegiac melancholy of New Orleans funeral brass, into a singularly idiosyncratic American style«20 beschreiben. Der Titel des Songs ist eine dem Slang entnommene Umschreibung für den letzten Gang eines zum Tode verurteilten Sträflings. Konkret bedeutet dieser Terminus: Walking Spanish refers to the involuntary and humiliating stride of someone whose neck and lower torso are being held and raised by someone to spur him along in a controlled manner or, more loosely, to being forced to do something.21

Dieser Vorgang wird am Ende des Songs mit Jesus in Verbindung gebracht – »even Jesus wanted just a little more time, when he was walking Spanish down

19 In diesem Zusammenhang muss deutlich zwischen Gospelmusik und Popularmusik unterschieden werden. Gospelmusik entspringt keinem kommerziellen Interesse. Sie kann zwar später als Popmusik vermarktet werden, aber sie ist eigentlich für den gemeinsamen Gesang in der Kirche konzipiert und nicht für eine Aufnahme (vgl. Roy Shuker: Popular Music. The Key Concepts. London 22002, 127f.). Die hier ausgewählten Songs verstehen sich alle nicht als Gospels, stehen also in keiner kirchlichen Tradition. 20 Arion Berger : Rain Dog Album Review. Online unter : www.rollingstone.com/artists/tom waits/albums/album/301318/review/5941245/rain_dogs (14.07. 2014). 21 Corinne Kessel: The words and music of Tom Waits. London 2009, 114.

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the hall«22 –, was den Song klar innerhalb der Stoffgeschichte der Passion positioniert. Der Song beginnt sofort in medias res: Noch bevor Gitarre, Bass, Drums und Saxofon zu spielen beginnen, setzt die rauchige Stimme des Erzählers ein, der mit umgangssprachlichen Mitteln die Geschichte eines Kriminellen vorträgt, dessen Todesurteil bald vollstreckt werden wird. Dieser Erzähler ist auf der Ebene der Medienorganisation in ein ganz konkretes musikalisches Umfeld implantiert. Dieses Verfahren lässt sich in vielen Songs von Tom Waits finden: Waits uses instrumentation, arrangements, and genre styles to define his characters and to narrate his strange and unusual tales, whether at a barroom piano telling a sad love song or screaming through a bullhorn accompanied by the crow of a rooster. Structurally often very simple, such as when following basic blues or classic folk patterns, Waits’s compositions find their distinct character through his unusual textures, sounds, percussion, rhythms, and recording techniques.23

Diese Feststellungen treffen auch auf Walking Spanish zu. Der Song folgt einer simplen Struktur, die aus vielen narrativen Strophen besteht, die alle mit »walking spanish down the hall« enden und abschließend mit einem markanten rhythmischen Element untermalt werden, was die narrativen Einheiten voneinander abgrenzt. Das musikalische Umfeld, in dem sich der Erzähler akustisch bewegt, ist dabei immens wichtig für die Erzählung als solche, denn es setzt die Figuren in Szene und bietet eine Atmosphäre, in der die Geschehnisse sich entfalten können. Von der dominanten Form der Popmusik unterscheidet sich dieser Song nicht nur durch eine starke Betonung der narrativen Elemente, sondern auch durch den kompletten Verzicht auf einen Refrain. Die Handlung des Songs bzw. die Geschichte, die der Storyteller im Song erzählt, ließe sich derart zusammenfassen: Walking Spanish concerns a criminal on death row who is unable to evade persecution and ends up »walking Spanish down the hall«. This criminal is a perpetrator of violence, armed with » a homemade special«. An unspecified malicious act has been committed with his blade camouflaged »in his trick towel«, and he is once again incarcerated and forced to walk that painful and opprobrious gait, »walking Spanish« down the hall. This character attempts to live his life consequence-free, like the vagabond who is not bound by societal order or restraints […]. Selfrighteous and rebellious, he did not submit to interrogation or torture when he was caught and would never succumb to the will of others, no matter how hard they tried. He faces his unavoidable execution, knowing that there is nothing he can do to prevent it. Despite his brash humanity, as he is forced to remove his watch and rings before his execution, 22 Tom Waits: Walking Spanish. In: ders.: Rain Dogs. New York 1985, 2.33. 23 Kessel: The words and music of Tom Waits (Anm. 21), 16.

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he cannot help submitting to some extent to his immense vulnerability, as »Even Jesus wanted just a little more time« when he was forced to walk Spanish to his death.24

Die erste Strophe beschreibt die Festnahme, die zweite und dritte Strophe den Prozess und die letzte Nacht in Gefangenschaft vor der Hinrichtung, es folgt ein Saxofonsolo und in der letzten finalen Strophe folgt der Gang zur Exekution. Auf komplexe Art und Weise parallelisiert der Erzähler Jesus und den Verbrecher Mason.25 Beide sind vor dem Auge des Gesetzes Verbrecher, stehen in einer Außenseiterbeziehung zur Gesellschaft, beide haben sich nicht zu ihrer angeblichen Schuld bekannt und sogar unter Folter nicht »gesungen«;26 Auch die Auferstehung Jesu findet im Song Erwähnung: Die Zeile »Tomorrow morning there’ll be laundry, but he’ll be somewhere else to hear the call«27 erinnert stark an die Waschfrauen, die kommen, um Jesus zu salben, nur um ein leeres Grab vorzufinden, und schlussendlich werden beide von Pontius Pilatus, »Pilate«,28 gerichtet. Gerade der letzte Satz »even Jesus wanted just a little more time, when he was walking Spanish down the hall«, schaltet die beiden Schicksale gleich. Zu erwarten wären, der Logik der Evangelien folgend, eine Vergebung der Sünden und die Auferstehung, denn mit der Zeile »take off your watch and rings and all«29 wird die bevorstehende Exekution durch den elektrischen Stuhl angedeutet, für die alle metallischen Gegenstände abgelegt werden müssen. Der Erzähler wählt für die Wiedergabe einen neutralen Stil, wechselt immer wieder den Blickwinkel,30 enthält sich jedoch eines eigenen Kommentars, einer Wertung. Eine derartige Wertung würde man in einem Popsong im Chorus erwarten, in dem Moment also, in dem der Song seine Kernaussage trifft oder seine emotionalsten Inhalte vermittelt.31 Interessanterweise bleibt ein Chorus in diesem Song aus, obwohl der Song an mehreren Momenten sein dynamisches 24 Kessel: The words and music of Tom Waits (Anm. 21), 114. 25 Dieser wird in der Zeile »Every face looks right up at Mason; he’s walking Spanish down the hall« (Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 1.00) erwähnt. Eine interessante Verbindung ließe sich zu Morris Odell Mason herstellen, einem wegen Mordes zur Todesstrafe verurteilten Verbrechers, der im Erscheinungsjahr von Waits’ Song hingerichtet wurde. 26 Mason, der »never sang when he was wood winked, they tried it all but he never would« (Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 1.12), erinnert auch in dieser Situation an Jesus, denn auch dieser wurde beim Prozess vor dem Sanhedrin wegen seines Schweigens gezüchtigt und hat sich dennoch der Kooperation verweigert. 27 Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 1.20. 28 Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 2.27. 29 Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 2.29. 30 Er wechselt in der Nullfokalisierung (»focalisation omnisciente ou z¦ro«) zu verschiedenen internen Fokalisierungen (»focalisation interne«) der Häftlinge im Sinne von Genettes Konzept der Fokalisierung. 31 Richard Middleton: Chorus. In: John Shepherd u. Peter Wicke (Hg.): Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World. Volume II: Performance and Production. London/New York 2003, 507f., hier 507.

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Potenzial aufblitzen lässt: Bei jedem Strophenwechsel gibt es einen signifikanten Einsatz des Schlagzeugs, eine schnelle, lauter werdende Abfolge kurzer Schläge auf die Snare-Drum und einen kompletten Rhythmusbruch. Aus diesen Schlagzeugsoli erwächst im Blues und auch im Rock zumeist der Refrain, die Erwartungshaltung wird also Mal um Mal enttäuscht, wenn wieder die Strophe einsetzt. Der eindrucksvollste Moment ist sicherlich das Saxofonsolo, das aus der eher monotonen Klangstruktur des Songs herausragt. Dieses Solo setzt nach der dritten Strophe ein, in der letzten Nacht bevor Mason hingerichtet wird. Es ist der Moment einer Reflexion, der in der Strophe schon eingeleitet wird durch den Satz »don’t say goodbye, he’s just leaving early, he’s walking Spanish down the hall«.32 Aus der kaleidoskopartigen33 Darstellung der Geschehnisse durch Gerüchte und Tuscheleien, die von den Gefangenen ausgetauscht werden, entsteht der Eindruck eines geteilten Schicksals. Es ist davon auszugehen, dass alle Gefangenen dieses Traktes zum Tode verurteilt sind, und ergo lässt diese paradigmatische Aussage – eine Verabschiedung sei unangebracht und man werde sich wiedersehen – die Vorstellung aufkommen, es käme zu einer Art Wiedervereinigung all dieser Gestalten auf einer anderen Ebene. Die Tom-Waits-Expertin Corinne Kessel beschreibt diesen Ort, der in vielen Songs dieses Künstlers thematisiert wird, folgendermaßen: Waits’s unsettling catalogue of fallen criminals comprises dreamers as well as wanderers, in that they are always searching for a haven, a glorious abode where their crimes are truly forgotten and forgiven, a place of grace where sirens do not instill gutwrenching fear and they can begin to live life again without constantly having to look over their shoulder or sleep with one eye open.34

Im Kontext der Passion wäre dieser Ort das Himmelreich und das Leben nur ein kurzer Moment, aus dem sich Mason etwas früher verabschiedet als die anderen. Der Himmel wird zum glorifizierten Ort der Erlösung vom weltlichen Leiden. Der instrumentale Solopart, der im Song die strukturelle Funktion der Bridge übernimmt, vertont diese Erwartungshaltung. Der Trommelwirbel, der das Solo einleitet,35 mündet zum ersten Mal in einer dynamischen Amplifizierung. Der Song bricht das erste Mal aus seiner monotonen Klangstruktur aus und bestätigt die klangliche Eruption, die nach jeder Strophe antizipiert wurde und dann doch nicht auftrat.

32 Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 1.29. 33 Als Quellen für die Stimmenvielfalt innerhalb der Gefängnismauern nennt der Erzähler : Punk Sander, Latella, St Bartholomew, Blind Jack Dawes, Baker und ›The Machine‹. 34 Kessel: The words and music of Tom Waits (Anm. 21), 114. 35 Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 1.35.

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Musikalisch treten hier zwei Saxofone in einen Wettstreit, die beide darum bemüht sind, sich in die höchsten Lagen zu spielen. Nicht nur aufgrund seines rein instrumentalen Charakters unterscheidet sich dieser Abschnitt vom restlichen Song, die Höhenlage, die hier produziert wird, weicht von der basslastigen und somit mit dem Boden zu assoziierenden Grundlage ab. Wenn man diesen Prozess deuten will, so erscheint diese Passage als Reflexion über Christi Himmelfahrt (die Saxofone) und das Verlassen der Welt (Bass, Gitarre und Schlagzeug). Situiert man diese Stelle innerhalb des Songs, so schließt sie an die letzte Nacht an, an deren Ende der letzte Gang zum elektrischen Stuhl steht. Hier wird also der eigene mit Jesu Tod in Einklang gebracht. Zum Anfang der zweiten Strophe hieß es schon »slip him a picture of our Jesus«36, als eine Art Hoffnungsschimmer. Ausgehend von diesem Hinweis auf den Sohn Gottes und dessen Ende evoziert der Song eine mögliche Erlösung und den Übergang in eben denjenigen Bereich, in dem alle Vergehen »truly forgotten and forgiven«37 sind. Die letzte Strophe wird dann zum Prüfstein dieser Hoffnung. Mason wird vor Pilatus geführt, der hier nicht nur Richter, sondern auch Henker ist, und muss alle metallischen Gegenstände ablegen: Die Hinrichtung beginnt. In diesem Moment setzt Mason seine Gefühlswelt mit der von Jesus gleich, der vor der Hinrichtung ebenfalls menschliche Angst verspürt hat. Der Gedanke »even Jesus wanted just a little more time, when he was walking Spanish down the hall«38 nimmt der eigenen Angst die Gefahr, denn Jesus ist zwar am Kreuz gestorben, aber auferstanden. Die Stelle, anhand derer diese Prämisse überprüft werden kann, ist der finale Trommelwirbel.39 Dieser mündet nicht in einem weiteren Saxofonsolo, in keiner akustischen Explosion, sondern verläuft sich im Leeren. Ein fade-out40 tritt an die Stelle der Auferstehung. Langsam und leise gleitet der Song ins Nichts. Dieser insgesamt zwölf41 Sekunden währende Abschnitt wirkt wie ein banges Warten auf die Erlösung, doch der Song offeriert nichts dahin Gehendes. Viel eher schafft diese extreme akustische Reduktion eine Grundlage für die Frage, inwieweit Jesus und Mason für einen Vergleich kompatibel sind. Mason, der ja erwartet, in den Himmel aufzufahren, nähert sich immer mehr dem Tod, entfernt sich immer mehr vom Diesseits, was sich auch an der dynamischen Ent36 37 38 39 40

Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 0.32. Kessel: The words and music of Tom Waits (Anm. 21), 114. Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 2.33. Waits: Walking Spanish (Anm. 22), 2.41. Dieser Terminus beschreibt das Ende eines Songs, in dem die Instrumente normal weiterspielen, lediglich die Lautstärke sukzessiv abnimmt. 41 Als heilige Zahl sowohl im Alten Testament – die 12 Stämme Israels – als auch im Neuen Testament – die 12 Apostel Jesu – vertreten.

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wicklung des Klangbildes ablesen lässt, welches kontinuierlich weiter in den Hintergrund rückt. Je stärker sich die Stille ausbreitet und je länger sie anhält, umso mehr muss Mason zweifeln, dass er Jesus tatsächlich in den Himmel folgen kann. Im Kontext des hier vorherrschenden Schweigens tritt die vielleicht wichtigste Differenz zutage, die bisher zugunsten einer Betonung der gemeinsam geteilten Angst vor dem Tode in den Hintergrund rückte: Am Kreuz wird Jesus zum Opfer, auf dem elektrischen Stuhl bleibt Mason ein Täter, der sich nun mit dem Dilemma konfrontiert sieht, dass sein Leben hier auf Erden endet und ihm der Zugang zum Himmelreich verwehrt bleiben könnte. Alle Souveränität, die Mason über den ganzen Song hinweg ausstrahlte, zerschmilzt in der großen Ungewissheit, wie es und ob es weitergeht. Der Song endet an genau diesem Punkt und lässt offen, was danach kommt. Er rückt damit das ambivalente Verhältnis eines Verbrechers zu Jesus in den Fokus: Mason möchte Jesus gerne folgen, sich mit ihm identifizieren, um sich nicht mehr mit seiner eigenen kriminellen und von Jesus eigentlich differenten Natur beschäftigen zu müssen. Doch im Angesicht des Todes ist Mason mit sich selbst, seinen Gedanken und final auch seinen Zweifeln allein, also all den Aspekten, die er bis zum Moment seiner Exekution mit Jesus zu teilen glaubte.

3.

»The Face of Jesus in My Soup« – Nick Cave & The Bad Seeds’ The Mercy Seat

Der Song The Mercy Seat von Nick Cave & The Bad Seeds ist dem 1988 erschienenen Album Tender Prey entnommen. Dieses ist der fünfte Langspieler dieser internationalen Formation, die aus Australiern, Deutschen und Schweizern besteht. Insgesamt ist der Stil dieser Band dem experimentellen Rock zuzuordnen, ihr ist vor allem der Einfluss der Berliner Avantgarde-Band Einstürzende Neubauten anzuhören, die sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Sound von Nick Cave & The Bad Seeds hatte. Der Song beschreibt, ähnlich wie Walking Spanish, die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten und seine Exekution auf dem elektrischen Stuhl, dem Mercy Seat. Dieser steht im Zusammenhang mit dem alttestamentarischen Opferritual42 an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, in dem besagter Stuhl mit dem Blut eines Opferbullen getränkt wird; ebenso findet sich die 42 Diese Referenz ist für bibelkundige Hörer ausgesprochen offensichtlich: »And of course the biblical references are there before us, the one from the high point of the Yom Kippur ritual when the blood of the bull is sprinkled over the mercy seat while incense wafts over it in Leviticus 16:11–19« (Roland Boer : Under the Influence? The Bible, Culture and Nick Cave. In: Journal of Religion and Popular Culture 12 (2006), H. 6 3–39, hier 29).

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hebräische Vorstellung der Blutrache: »the law of blood guilt, an eye for an eye, a tooth for a tooth«.43 Neben dem Alten Testament finden sich aber viele Referenzen zum Neuen Testament, allen voran die explizite Erwähnung von Jesu Geburt und Tod, die eine Einordnung des Songs in den Kontext der Passion Christi nachvollziehbar machen. Der Song beginnt damit, dass der Erzähler seine Festnahme, seine Zeit im Gefängnis und abschließend seine Exekution darstellt. »The Mercy Seat is a strange, gothic and performative narrative, a dialogue half sung, half spoken, which warps together human retributive justice and a different ›beyond‹ of death«.44 Im Vergleich zu vielen anderen Popsongs ist dieser Song signifikant länger (7:18 Minuten), sehr textlastig und auch von der Struktur komplexer. Er besteht aus Intro, Strophe, Refrain, Strophe, variiertem Refrain, Strophe, variiertem Refrain, variiertem Refrain, Strophe, Refrain und anschließend 13 (!) Wiederholungen des Refrains, die nur marginale Veränderungen des Textes beinhalten. There are fifteen repetitions of this chorus over a track that lasts seven and a quarter minutes, albeit with variations as the electric chair heats up and cooks its victim – his head and then the seat burns, glows, smokes, melts, while his blood boils in successive versions of the chorus.45

Eine akustische Herausforderung ist schon das Intro, hier spricht eine verzerrte Stimme in einem diffusen klanglichen Umfeld. Unzusammenhängende Gitarrenakkorde, eine Geige, die gestimmt wird und ein paar Töne spielt. Die Stimme murmelt: »It began when they came and took me from my home and put me in Death Row … Of which I am nearly wholly innocent you know. And I’ll say it again: I am not afraid to die.«46 Mit diesem letzten Satz setzt die Strophe ein, die ein dynamisches Konglomerat verschiedener Soundquellen ist. Generell scheint die Stimme hier noch unterzugehen, der gemurmelte Sprechgesang ist kaum zu verstehen,47 er geht unter in einem monotonen Rhythmus, der ausschließlich auf der Snare-Drum gespielt wird, einigen Akkorden auf dem Cembalo und einem hohen Geigenton im Hintergrund. Der Sprechgesang beschreibt die sinistre 43 Boer: Under the Influence? (Anm. 42), 29. 44 Lyn McCredden: Fleshed Sacred: The Carnal Theologies of Nick Cave. In: Tanya DalziellAshgate u. Karen Welberry (Hg.): Cultural Seeds: Essays on the Work of Nick Cave. Burlington 2009, 167–187, hier 179. 45 Boer: Under the Influence? (Anm. 42), 29. 46 Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat. In: dies.: Tender Prey. London/New York 1987, 0.04. 47 Ein Problem, das sich auch anderen Interpreten dieses Songs stellt: »But there is something very curious about this: most of the lyrics are mixed down, so much so that it is often difficult to decipher what Cave is in fact singing« (Boer : Under the Influence? (Anm. 42), 27).

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Stimmung einer Zelle und der Abendmahlzeiten. »I began to warm and chill to objects and their fields […]. All things either good or ungood«,48 heißt es hier, Alltäglichkeiten werden aufgeladen, stehen schon jetzt im Kontext der baldigen Exekution. Gerade im Vergleich zum Refrain,49 in dem die Stimme zu einer kräftigen und dominanten Melodie findet, wirkt der Sprechgesang der Strophe fast verloren im musikalisch aggressiven Territorium; das gilt für alle Strophen, denn auch »the two verses are not at all clear for they are muttered sotto voce«.50 Der Gesang des Refrains erhebt sich aber über das unharmonische und teils dissonante Feld, das nun noch durch einen zusätzlichen, marschartigen Drum-Beat ergänzt wird. Die Melodie trägt den Text voller Überzeugung vor, fast schon überkonfident heißt es: »And the mercy seat is waiting […]. An eye for an eye, a tooth for a tooth and anyway I told the truth and I’m not afraid to die«.51 Hier werden alttestamentarische Gerechtigkeitsvorstellungen besungen und dahin gehend kritisiert, dass die weltliche Justiz hier falsch geurteilt hat. The repetition of the ›eye for an eye‹ the lex talionis – the very concept of the ›mercy seat‹ (the electric chair, God’s throne), […] are all echo modes of discourse around the Old Testament. Here, in this mode of discourse, the convict is concerned with the justice of the law acting upon him. His assertion that there was no proof, that he did not lie, suggests that he thinks the lex talionis is acting unfairly upon him: his judicial killing is the unfair action of the law.52

Damit wird die lex talionis aber nicht per se infrage gestellt, sondern nur in Bezug auf das eigene Schicksal als fehlerhaft gebrandmarkt. Die Figur, die hier spricht, ist ein Vertreter des Auge-um-Auge-Prinzips und ihre sture Haltung, keine Angst vor dem Tod zu haben, entspringt der Auffassung, lediglich zu Unrecht verurteilt worden zu sein. Dem gegenüber stünden ein Paradies und eine Vergebung der Sünden. Diese beiden Konzepte aus Altem und Neuem Testament werden in zwei Strophen, die allerdings melodisch genauso strukturiert sind wie der Refrain,53 miteinander verglichen. I hear stories from the chamber how Christ was born into a manger and like some ragged stranger died upon the cross and might I say, it seems so fitting in its way, he was a carpenter by trade, or at least that’s what I’m told.54 48 49 50 51 52

Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 0.18. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 0.39. Boer: Under the Influence? (Anm. 42), 27. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 0.39. Robert Eaglestone: From Mutiny to Calling upon the Author : Cave’s Religion. In: DalziellAshgate u. Welberry (Hg.): Cultural Seeds (Anm. 44), 139–153, hier 147. 53 Der signifikante Unterschied zur Strophe, so stellt es auch Boer fest, liegt in der besseren Verständlichkeit: »These verses are sung with exactly the same melody and musical sequence

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Jesus und die damit verbundene Erlösung werden ironisch präsentiert, der Zimmermann, der wie ein zerlumpter Fremder ans Kreuz genagelt wird, erscheint dem Erzähler passend und schafft somit Distanz zwischen sich und der messianischen Erlösung. Sehr viel glorreicher ist die Präsentation des alttestamentarischen Gottes: In Heaven His throne is made of gold, the ark of His Testament is stowed, a throne from which I’m told all history does unfold. Down here it’s made of wood and wire and my body is on fire and God is never far away.55

Dass diese beiden Stellen so gesungen werden und musikalisch mit dem Refrain korrespondieren, zeigt diese beiden Ansätze als finale Ausgangsmöglichkeiten aus der Gefangenschaft. Sie nehmen musikalisch die Exekution, die durch die finale, 13-malige Wiederholung des Refrains verdeutlicht wird, vorweg und antizipieren mögliche Szenarien. Der elektrische Stuhl wird dadurch zum Drehund Angelpunkt verschiedener Diskurse: »Here the mercy seat, or ark of the covenant […], Christ’s manger and cross, his throne in heaven, and the electric chair all merge into one«.56 Allerdings scheint die Vergebung durch Jesus Christus im Einklang zu stehen mit einer Aufgabe der eigenen Haltung und einem Eingeständnis der Schuld. Da die Sprechinstanz Jesus und das damit verbundene höhere Gericht nicht anerkennt, beharrt sie auf ihrer Unschuld vor den weltlichen Instanzen. Ergo lassen sich keine Wehmut und keine Reue erkennen; es herrschen im Gegenteil nur Trotz und brachiales Auftreten vor, mit denen sich der Protagonist in dem unsicheren Umfeld zu behaupten sucht. Tatsächlich wird die Stimme in der abschließenden Refrain-Dichte sogar gedoppelt, was anfangs den Eindruck erwecken könnte, die Überzeugung, im Recht zu sein, wäre weiterhin intakt. Diese 13 Refrains, die sich alle voneinander unterscheiden, variieren in einem interessanten Verlauf: In Refrain 1–4 bleibt die Musik gleich, in Refrain 5 schwillt die Geige im Hintergrund an, in Refrain 7 spielt diese Geige ein Solo, deren Nachläufer die folgenden Refrains bis zum Schluss begleiten. Der Einsatz der Geige, ihre zuckenden Bewegungen und Läufe, sind im Kontext mit dem elektrischen Stuhl schwer anders zu deuten denn als Stromstoß, der durch den Körper des Verurteilten gejagt wird. Dieser beschreibt zum einen, wie bereits erwähnt, die Temperaturentwicklung unter der verdrahteten Haube auf seinem Kopf, die ihn dem Tod näher bringt, und zum anderen verändert sich das Selbstverständnis der eigenen Schuldbewertung. of the chorus quoted earlier. Are they verses or chorus? They are sung with the melody of the chorus but their content is not at all that of the chorus. Above all, they can be clearly understood«. Boer : Under the Influence? (Anm. 42), 31. 54 Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 1.14. 55 Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 1.44. 56 Boer: Under the Influence? (Anm. 42), 32.

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Dieses wandelt sich vom ursprünglichen »and anyways I told the truth and I’m not afraid to die«57 über »and anyway there was no proof, nor a motive why«58, »and I’ve got nothing left to lose and I am not afraid to die«59 und »and anyway there was no proof, but I am not afraid to lie«60 zu »and anyway I told the truth, but I’m afraid I told a lie«.61 Diese Entwicklung verläuft konträr zur Dynamik der Refrains: Während die aggressive Musik zunehmend dynamischer wird, wächst die Unsicherheit in jenem Maße an, in dem die Selbstsicherheit abnimmt. Damit beschreibt der Song »the progress from denial of his own actions to an acknowledgement that he has lied, that he is not innocent«.62 Dieser innere Zerfall oder »the deconstructing the self before our eyes in a macabre dance of self-exposure«63 lässt sich über die Performanz des Textes nachvollziehen. Der Gesang im Refrain stellt den einzigen melodischen Aspekt des Songs dar (s. o.), doch ab der dritten Wiederholung des letzten Refrains tritt eine innere Zerrissenheit zutage: Die Stimme wird gedoppelt, doch anstatt eines amplifizierenden Effekts, der durch ein synchrones Übereinanderlegen der Tonspuren erzielt werden kann, entsteht durch eine minimale Verschiebung eine polyrhythmische Dissonanz. Diese beiden Stimmen, die auseinanderstreben, nehmen einander nicht nur Durchschlagskraft, sie beeinträchtigen auch die Verständlichkeit. An einigen Stellen lässt sich nur schwer rekonstruieren, ob beide das gleiche singen.64 Diese unkoordinierte Polyphonie lässt sich als ein Ringen zwischen Gerechtigkeitskonzepten des Alten und Neuen Testaments auffassen, wobei das letztgenannte Konzept angesichts des bevorstehenden Todes die Oberhand gewinnt: At this time, there emerges a New Testament discourse about admission and forgiveness, and so trust in Christ. And in this discourse, the convict’s brave ›I’m not afraid to tell a lie‹ changes as his ›head is burning‹ (both literally and metaphorically) and he yearns to be done with the (Old Testament) ›measuring of truth‹: at the last he admits ›I’m afraid I told a lie‹. And this would be, one imagines, the beginning of the process of (messianic) forgiveness beyond the law (that is: forgiveness beyond an economics of law and retribution) and so redemption.65

Die allerletzten Worte werden nunmehr von der übermäßig lauten Musik fast verschluckt, aus der Selbstbehauptung ist eine Selbstaufgabe geworden, ein 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 0.42. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 2.47. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 3.02. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 6.11. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 6.38. McCredden: Fleshed Sacred (Anm. 44), 180. McCredden: Fleshed Sacred (Anm. 44), 179. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 4.05. Eaglestone: From Mutiny to Calling upon the Author (Anm. 52), 147.

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Sich-selbst-Ausliefern an die höhere Gewalt von Jesus und die mit ihm verbundene Erlösung. Allerdings gibt der Song keine eindeutige Antwort auf die Frage nach einem möglichen Nachleben: Here, while the rhetoric66 and narrative do run together, the song stops before a resolution of the problem of the relationship between law and forgiveness, so perfectly pitched here, can be reached. […] the song uses the rhetoric of both but offers a resolution in relation to neither.67

Der Song endet damit, dass die Stimme verschwindet, der Song aber mit ungehemmter Brachialität weiterspielt.68 Es kommt zu keiner harmonischen Erlösung, der Körper, hier konkret als Körper des Protagonisten, wird weiter von der elektrischen Ladung geschüttelt. Der Wegfall des Gesangs kann mit dem Tod gleichgesetzt werden, leblos bleiben die menschlichen Überreste zurück und langsam wird das Prozedere eingestellt, bis nur noch ein dissonantes, verstörendes Geräusch übrig bleibt, das wie ein Echo des Todeskampfes den akustischen Raum füllt. Dadurch, dass die Musik weiterläuft, bleibt der Song dem Diesseits verhaftet und verwehrt den Eintritt in andere Sphären. Er endet aber auch nicht abrupt, entscheidet sich also auch nicht für die Möglichkeit, das große Nichts darzustellen. Die Frage, ob der elektrische Stuhl mit Jesu Kreuzigung vergleichbar ist, bleibt offen. Jesu Tod, die damit eingeleitete Vergebung der Sünden und die Konzeption der Auferstehung werden in diesem Song stellvertretend als Gegenpol zur diesseitig orientierten Praxis des Alten Testaments angeführt. Eine Verifikation dieser Prämissen, ebenso der des Alten Testaments, bleibt aber aus und somit überträgt der Song die unentschlossen-abwägende Haltung des Sträflings durch sein ambivalentes Ende auf den Interpreten, der sich nun fragen kann, ob hier eine Transfiguration Jesu gestorben ist oder ein Mörder mit Mord bestraft wurde.

4.

»Take My Crown of Thorns« – Johnny Cashs Hurt

Der Song Hurt des Countrysängers Johnny Cash ist die erste und einzige Single des Albums American IV aus dem Jahre 2002. Hierbei handelt es sich um die letzte nicht posthume Veröffentlichung Cashs, die nur aus Coverversionen besteht. Das Original des Songs findet sich auf dem Album The Downward Spiral, »originally written by Nine Inch Nails’69 Trent Reznor«70 aus dem Jahr 1994. Im 66 67 68 69

Beider Testamente. Eaglestone: From Mutiny to Calling upon the Author (Anm. 52), 147. Nick Cave & The Bad Seeds: The Mercy Seat (Anm. 46), 6.37. Eine amerikanische Industrial-Rockband. Oft N.I.N. abgekürzt bzw. als NI9 stilisiert. Be-

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Gegensatz zu dieser Version wird die Zeile »take my crown of shit«71 im Cover des Countrysängers Cash durch »take my crown of thorns« ersetzt. Diese Dornenkrone, die in drei Evangelien explizit erwähnt wird,72 wird Jesus kurz vor73 seiner Kreuzigung zusammen mit einem Zepter aus Schilf und einem roten Mantel als satirisches »königliches« Symbol von römischen Soldaten zugeteilt. Durch diese biblische Referenz erhält der Song einen strukturgebenden Bezug zur Passion, der sich im Original nicht findet. Der Song beginnt mit den Gitarrenakkorden, welche als Grundlage der Strophe dienen (C, D, Am). Schon bevor der Gesang einsetzt, wird eine beklemmende Stimmung erzeugt: Die Akkorde werden arpeggio74 gespielt und münden in einem Moll-Akkord, zusätzlich handelt es sich um zwei in stereo75 angeordnete Gitarrenspuren, die zwar die gleichen Töne spielen, aber mit einer minimalen Verzögerung voneinander. Der Effekt, der hierdurch erzeugt, wird ist einerseits beengend, da sich die Stimme, die später einsetzt, zwischen den Gitarrenspuren positionieren muss, und evoziert gleichzeitig eine immense Zerbrechlichkeit, denn durch die minimalen Abstände der Tonfolgen bleibt ein Abgleiten in die rhythmische Dissonanz latent vorhanden. Wenn die Singstimme in diese extrem fragile Welt tritt, wird diese bedrückende Stimmung deutbar : »I hurt myself today, to see if I still feel. I focus on the pain the only thing that’s real. The needle tears a hole, the old familiar sting. Try to kill it all away, but I remember everything.«76 Emotional völlig entleert, setzt sich ein Drogenabhängiger den goldenen Schuss, um ein letztes Mal zu testen, ob er überhaupt noch etwas spüren kann. Schon hier wird mit der Jesus-Thematik gespielt, denn die Spritze, die in die

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74 75 76

merkenswerterweise kursieren Interpretationen des Bandnamens, die diesen auf die Länge der Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, zurückführen (vgl. Greg Rule: Electro Shock! Groundbreakers of Synth Music. New York 1999, 8). Dave Urbanski: The Man Comes Around: The Spiritual Journey of Johnny Cash. New York 2009, 174. Nine Inch Nails: Hurt. In: dies.: The Downward Spiral. New York 1994, 3.28. Matthäus 27, 29; Markus 15, 17 und Johannes 19, 2–5. Interessanterweise findet sich die Dornenkrone in der kunsthistorischen Ikonographie häufig auch während der Kreuzigung an Jesus. Dass Jesus sie nach dem Leidensweg und Kreuzgang noch trug, wird in keinem Evangelium der Bibel erwähnt, ebenso findet sich kein derartiger Vermerk in den Apokryphen. Hierzu passend spricht man in der Musiktheorie auch von gebrochenen oder aufgelösten Akkorden. Eine Gitarre findet sich im linken Ende des auditiven Raumes, die andere im rechten. Wenn beide Gitarrenspuren identisch sind, klingt es wie eine Gitarre, die zentral positioniert ist. Johnny Cash: Hurt. In: ders.: American IV. The Man Comes Around. New York 2004, 0.13.

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Haut einsticht, erinnert an die Lanze des Longinus,77 die Jesus am Kreuz in die Seite stach.78 Es herrscht Endzeitstimmung, die noch zusätzlich durch die Performanz des Gesangs amplifiziert wird. Nicht nur durch das offenkundige Alter der Stimme, sondern auch durch die gebrechliche Betonung der Worte79 innerhalb einer tristen Melodik80 wird das traurige Schicksal eines Junkies kurz vor seinem Tode greifbar. Die sprachlichen Bilder und die musikalische Einbettung »hit at specific primal points of interest, namely : mortality and the fleeting passage of time«.81 Allerdings kommt es zu einer interessanten musikalischen Veränderung, die mit der Zeile »Try to kill it all away, but I remember everything«82 korrespondiert: Dieser Vers endet nicht auf a-Moll, sondern auf G-Dur, was einen markanten Tonartwechsel kennzeichnet. Die Stimmung, die durch den Wechsel von Moll zu Dur vom Tristen ins Optimistische schlägt, scheint mit den Erinnerungen im Widerspruch zu stehen, die man auch durch Drogenkonsum nicht abtöten kann. Mit dieser G-Dur-Tonalität wird aber auch der Refrain eingeleitet, der ausschließlich aus Dur-Akkorden besteht und somit den Übergang in einen von der Strophe distinkten akustischen Raum eröffnet. Dadurch werden zwei Effekte erzielt: Zum Ersten scheinen die Drogen in einem nicht sprachlichen83 Raum ihre Wirkung zu entfalten und zum anderen findet sich konträr dazu eine gesangliche Retrospektive auf die Vergangenheit, denn schließlich wird hier proklamiert, die Sprechinstanz erinnere sich an alles bisher Geschehene. Eine Konkretisierung wird erwartet, bleibt aber im Refrain, der sich anschließt, aus. Hier heißt es: »What have I become, my sweetest friend? Everyone I know goes away in the end.«84 Dies lässt sich als tief gehende Analyse der eigenen Entwicklung in die offenbar falsche Richtung lesen, verbunden mit der Einsicht, dass die Menschen um die Sprechinstanz herum weniger werden. Konkret wird hier ein spezifisches Schicksal eines Junkies beschrieben, der in völliger Isola77 Details über die Person Longinus finden sich allerdings nur in apokryphen Testamenten z. B. im Nikodemusevangelium (auch acta pilati). 78 Vgl. Johannes 19, 34. 79 Diese Fragilität und Kraftlosigkeit lässt sich neben dem Gesang aber auch im Gitarrenspiel festmachen: Viele Akkorde enden mit einem stählernem Surren, das immer dann auftritt, wenn die Saiten nicht stark genug an den Bund gedrückt werden. Durch den Freiraum, den die Saite erhält, reibt sie sich an den Bünden des Griffbretts, was zu einem unsauberen Abschluss des Tones führt. 80 Ab Minute 0.34 mündet jeder Arpeggio-Akkord der Gitarre auf einem dumpfen und tiefen Klavierakkord, der die Last der Situation untermauert. 81 Urbanski: The Man Comes Around (Anm. 70), 176. 82 Cash: Hurt (Anm. 76), 0.45. 83 Es findet sich keine textuelle Reflexion über eine ansetzende Intoxikation. 84 Cash: Hurt (Anm. 76), 0.56.

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tion die Droge personifiziert und ihr sein Leid klagt, während der goldene Schuss zu wirken beginnt. Auf einem abstrakteren Level wird hier aber die generelle Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens mit einer höheren Instanz im Angesicht des Todes besprochen. Diese Stellung erhält »my sweetest friend« schon dadurch, dass der Sprecher noch da ist, während alle anderen entschwunden sind und der Moment »in the end« jetzt einsetzt. Prädestiniert für eine derartige Rolle wäre im thematisch-christlichen Kontext dieses Songs einerseits Jesus, als menschlicher Sohn Gottes, oder Gott selber. Konträr zu dieser thematischen Misere, sowohl konkret als auch abstrakt, findet sich ein widersprüchlich anmutender musikalischer Rahmen. Die Gitarrenakkorde, bei denen es sich ausschließlich um Dur-Akkorde (C, D, G) handelt, werden ungebrochen und in eine Schlagrichtung85 gespielt, was ihnen eine extreme Konstanz und Festigkeit verleiht, ebenso bildet das tiefe Klavier nun eine festive Harmonie mit den Gitarren. Zusätzlich finden sich im Gitarrenspiel kurze subtile Rhythmuswechsel,86 die Mikromelodien bilden. Dieser offenkundige Widerspruch von Leid und positiver Stimmung ließe sich – auch hier greift der christlich-biblische Überbau – durch eine Antizipation des Himmelreichs erklären. Es gibt keine Notwendigkeit, die eigene Vergangenheit, also den eigenen Abstieg – »what have I become« – zu erklären, denn die Instanz, die zu richten hat, weiß alles. Als logische Konsequenz heißt es im Gesang »And you could have it all, my empire of dirt. I will let you down, I will make you hurt«87 als vollständiges Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit und der eigenen Schuld. Das »empire of dirt« stellt die weltliche Existenz als letztendlich nichtig und unbedeutend dar, die Aussage, eine Enttäuschung zu sein und zu verletzen, repräsentiert den Willen zur Reue. An dieser Stelle gibt es keinen Versuch der Rechtfertigung mehr, sondern nur noch eine unausgesprochene Darlegung menschlicher Verkommenheit. Das musikalische Crescendo, welches die Harmonien und Melodien dynamisch vorantreibt und dem sich auch die zuvor noch gebrechliche Stimme in kraftvoller Manier angeschlossen hat, mutet wie eine Annäherung an das Licht der Erlösung an. Die positive Musik erscheint als barmherzig, als vergebend und wird zum angestrebten Ziel außerhalb der traurigen Daseinsform, die die Sprechinstanz im Gesang vermittelt. Die sich anschließende Strophe fokussiert eben diese Klagerufe und moniert die irdischen Leiden. Hier heißt es: »I wear this crown of thorns upon my liars chair, full of broken thoughts that I cannot repair.«88 An dieser Stelle kommt es 85 Das Plektrum wird nur wiederholt von oben nach unten (tiefe E-Saite zu hoher E-Saite) gespielt anstatt wie üblich abwechselnd von oben nach unten und anschließend von unten nach oben. 86 Cash: Hurt (Anm. 76), 1.05. 87 Cash: Hurt (Anm. 76), 1.16. 88 Cash: Hurt (Anm. 76), 1.48.

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zur Gleichsetzung des eigenen mit Jesu Schicksal. Die Dornenkrone, hier als pars pro toto für Jesu Leiden und als Verweis auf das Imperium aus Dreck aufzufassen, situiert die Gefühlslage des Sterbenden in der Passion und konterkariert sie gleichsam: Einerseits erwarten beide den Tod, doch wo bei Jesus von einem bangen Warten gesprochen werden muss, das auch mit den Worten »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«89 als solches gekennzeichnet wird, handelt es sich bei der Transfiguration in Hurt um ein fast schon sehnsüchtiges Erwarten. Denn hier ist das Diesseits zerfahren, von zerbrochenen Gedanken ist hier die Rede, die ihr musikalisches Äquivalent in den Arpeggio-Akkorden finden, die nun wieder die Strophe tragen. Ebenso bricht die Dynamik ein, der Gesang wirkt jetzt, im Kontrast zum Refrain, verwaist und einsam. Im Unterschied zur ersten Strophe findet sich im letzten Strophenabschnitt90 noch ein Synthesizer, der derart hochfrequent ist, dass er eine fast schon dissonante, störende Funktion gewinnt. Dieses Element stellt akustisch die anwachsende Unerträglichkeit des Daseins dar und repräsentiert den Ort, an dem sich die Sprechinstanz befindet. Im Gesang heißt es: »beneath the stains of time, the feelings disappear. You are someone else, I am still right here.«91 Eben dieses »right here« ist der Schnittpunkt der zwei Dimensionen Leben und Tod. Einerseits steht es stellvertretend für die emotionale Endzeitstimmung des Diesseits, einen Standpunkt also, aus dessen Blickwinkel Jesu bereits vollzogene Transgression vom Menschen zum Sohn Gottes (»someone else«) neidvoll betrachtet wird. Andererseits steht dieses »right here« auch unter dem Vorzeichen der eigenen Grenzüberschreitung. Wie bei dem Ende der ersten Strophe kommt es zum Wechsel von Moll- und DurAkkord, wobei das G-Dur exakt mit dem »right here« korrespondiert92 und somit den positiven Ausweg aus der Misere aufzuzeigen scheint. Der letzte Refrain ist in Struktur und beteiligten Instrumenten sowie von Text und Gesang mit dem vorausgegangenen in großen Teilen identisch und inszeniert zum zweiten Mal, wie der Sterbende sich die Begegnung mit seinem Schöpfer vorstellt. Ein signifikanter Unterschied liegt in der Dynamik: So ist der Abschnitt »And you could have it all, my empire of dirt. I will let you down, I will make you hurt«93 am Ende bedeutend lauter als in der ersten Version. Die Gitarren spielen schneller, kaum hörbar unter der zunehmenden räumlichen Fülle des Klaviers, und bereiten somit den Weg für den letzten Teil des Lieds94 als Hybrid aus Refrain und Outro. 89 90 91 92 93 94

Markus 15, 34 und Matthäus 27, 46. Cash: Hurt (Anm. 76), 2.08. Cash: Hurt (Anm. 76), 2.10. Cash: Hurt (Anm. 76), 2.28. Cash: Hurt (Anm. 76), 2.51. Cash: Hurt (Anm. 76), 3.12.

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Musikalisch stellt dieser Part die absolute Klimax des Songs da: Alle Instrumente spielen wiederholt den G-Akkord, sowohl das Klavier als auch eine unbestimmte Anzahl von Gitarren, die zusammen eine Wall of Sound bilden, aus der die einzelnen Komponenten nur noch schwer zu trennen sind. Der Gesang wiederholt die Melodie des Refrains, allerdings mit einer produktionstechnischen Abweichung: Er ist übersteuert, als würde der Gesang über seine natürlichen Grenzen hinauswachsen. Zusammengenommen mit der brachialen Wiederholung des höchsten Akkords des ganzen Stückes (G-Dur) scheint der Tod einzusetzen und den Übergang in eine andere Sphäre final einzuleiten. Im Gesang heißt es in dieser Passage: »If I could start again a million miles away, I will keep myself, I would find a way.«95 Im Moment des Todes schwindet aber alle Sicherheit, in Gottes Reich sicher aufgenommen zu werden. Die gesamte Musik bewegt sich schier unaufhaltsam dem Finale entgegen, doch das angestrebte Ziel erscheint plötzlich zweifelhaft. Die Vorstellung, das eigene Leben zurückdrehen zu können, Fehler zu umgehen und richtig zu leben, steht im Widerspruch zum offensichtlichen Abschluss mit der eigenen Vergangenheit. Was danach kommt, bleibt unklar, auch wenn prototypische Szenarien von Himmelreich und Erlösung anderes suggerieren. Am Ende bleibt eine bittere Traurigkeit, dass es kein Zurück mehr gibt und man sich einer elementaren Ungewissheit überschreibt, deren tatsächlicher Existenz man sich nicht sicher sein kann. Hurt löst diese Spannung nicht auf, sondern endet abrupt. Der ganze Pomp und die Dynamik verhallen im Nichts, was bleibt, sind die nun mehr gesprochenen Worte »I would find a way«, die ziellos, einsam und eben ohne Orientierung im leeren Klangraum stehen. Aber wie der tatsächliche, nicht hypothetische Weg aus dem Leben hinaus aussieht, bleibt offen.

5.

(No) Stairway to Heaven: Dubiose Transfigurationen Jesu und die Passion im Winterschlaf

Die Verbindung von Jesus zu Kriminellen, gerade auch im Kontext der Passion, die sowohl Prozess als auch Hinrichtung beinhaltet, ist zwar nicht neu,96 doch die drei Songs gehen auf sehr innovative Art und Weise mit Jesus um. In allen drei Songs findet Jesus zwar als konkrete Figur Erwähnung, er wird 95 Cash: Hurt (Anm. 76), 3.13. 96 Tatsächlich finden sich bereits in der Bibel derartige Sichtweisen: »The Jerusalem elite regarded Jesus as a threat to their own status as those authorised to speak and act on God’s behalf, and they presented Jesus to the Jewish people as a false prophet and to Pilate as a rebel. For all these reasons, it was necessary that Jesus be put to death«. Joel B. Green: Crucification (Anm. 3), 87.

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aber weder aktualisiert, nacherzählt noch aus fremder Perspektive geschildert. Es geht um mehr (Hurt, Walking Spanish) oder weniger (The Mercy Seat) bewusste Transfigurationen von Jesus. Dabei steht in allen drei Songs ein sehr spezieller Moment in Jesu Leben im Vordergrund: der Moment, in dem Jesus sich am Kreuz opfert und folglich den Tod besiegt. Alle drei Songs beinhalten eine reflexive Komponente, in denen sich die Figuren mit Jesus vergleichen und komparativ annehmen, sie würden Jesus ins Paradies folgen. Ebenfalls interessant ist das Milieu, in dem diese Konfrontationen mit Jesus als Erlöser stattfinden. Alle drei Figuren haben ihr Leben mit krimineller Energie in eine ausweglose Situation manövriert: durch Schädigung anderer (Walking Spanish, The Mercy Seat) oder durch Schädigung der eigenen Person (Hurt).97 Sie alle wollen das Leben und die damit verbundenen Probleme hinter sich lassen, dem weltlichen Gericht entfliehen oder endlich in der Vergebung ankommen. Jesus wird zur Konzeption all dieser Ziele und die Identifikation mit ihm scheint sicher und zielführend. Was die Songs ebenfalls eint, ist, dass in den letzten Momenten der Zweifel überwiegt und Angst vor dem Ungewissen alle drei Figuren näher an Jesus heranrückt und sie gleichzeitig von ihm distanziert. Sie kommen Jesus näher, da sie sich mit seiner Angst identifizieren, die er verspürte, als er ans Kreuz geschlagen wurde, doch sie rücken dadurch von ihm ab, dass kein Song die Identifikation mit Jesus als richtig und zielführend verifiziert. Keiner der drei Songs geht den Schritt über die Grenzen des Diesseits hinaus. Sie alle verharren vor der Himmelfahrt, richten sogar den Blick ganz klar auf den leblosen Körper (Walking Spanish, The Mercy Seat) und trennen die Figuren in diesem Moment von Jesus, der eben diesen finalen Schritt gegangen ist, wie die Evangelien berichten. Durch das Ausloten der Grenzen zwischen Dies- und Jenseits wird aber die vielerorts vertretene These, dass die Popkultur Jesus nur noch als Klischee behandelt, weil sie keine Fragen mehr an diese Figur hat, da in der materialistischen Welt der Popkultur das Himmelreich auf Erden bereits zu haben ist, zumindest partiell widerlegt. Für die Sprechinstanzen dieser Songs könnte die Auseinandersetzung mit Jesus nicht dringlicher oder gar ernster sein. Und da es sich um popkulturelle Konfigurationen handelt – denn nichts anderes sind sie –, darf man sie als Ausprägungen eines Gegendiskurses zur als dominant rezipierten Disneyfication von Jesus begreifen. Auch in derart dem Diesseits zugewandten Zeiten ist die Auseinandersetzung mit dem Tod – und der Frage, wie 97 Im Vergleich zu den Mördern in The Mercy Seat und Walking Spanish scheint Hurt keine drastisch-verbrecherische Komponente zu beinhalten. Allerdings sollte der durch den goldenen Schuss selbst induzierte Tod im größeren Kontext des Drogenmilieus gesehen werden, das durchaus ein kriminelles ist.

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dieser beschaffen sein könnte – nicht endgültig abgeschafft – sie mag an Präsenz eingebüßt haben, doch spezielle situative Faktoren stellen sie in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die drei Sprechinstanzen der besprochenen Songs illustrieren diese Refokussierung trotz oder gerade wegen ihrer prekären Extremsituationen quasi par excellence. Denn man darf sie, mit ein wenig Abstraktionswillen, in ihrem Verhältnis zu Jesus als prototypisch für die Popkultur lesen. Jesus scheint für den Lebenswandel der Figuren keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben – sonst wäre ihnen ihre gegenwärtige Zwangslage erspart geblieben –, doch in den finalen Momenten ihrer irdischen Existenz scheint der Moment gekommen, in dem Jesus eben doch bedeutsam wird. Die Passion mag also nicht mehr im Zentrum des popkulturellen Gedächtnisses stehen, ist aber an den Randbereichen jederzeit abrufbar. Solange es Fragen – und hier sind es konkret religiöse, nicht zwangsläufig mit dem Christentum verbundene Fragen – an diesen Topos gibt, wird er überdauern. Er mag manchmal in Kitsch, Phrase oder Pose gehüllt sein, aber es kommt nie zu seiner völligen Absenz. Die Passion befindet sich so gesehen höchstens im Stand-by-Modus – Kelton Cobb bezeichnet diesen als Winterschlaf – »a symbol [Jesus] can go into hibernation, ready to be awakened when the conditions are right«98 –, und oft braucht es nur einen Knopfdruck, um das System neu zu starten. Ob es dadurch zu einer Auferstehung kommt, ist eine andere Frage; wahrscheinlich aber die nach wie vor dringlichste … auch in der Popkultur.

98 Cobb: The Blackwell Companion to Theology and Popular Culture (Anm. 18), 117.

Franziska Thiel

»Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes«.1 Die Apokalypse als religiöse Form im Ersten Weltkrieg am Beispiel von Karl Kraus’ Die letzte Nacht und Kriegsbildern von Otto Dix

I.

Hinführung: Die Faszination der Apokalypse

Nach Aufklärung, Materialismus, Darwinismus und Nietzsches ›Gott ist tot‹Nihilismus stellt sich immer mehr die Frage nach ›Glaube‹ und religiösen Konzepten in Zeiten steter Säkularisierung. Auch im 20. Jahrhundert sind ideengeschichtliche Konzepte von Religiosität und Religion in Leben und Kunst weit verbreitet und werden in neue literarische Formen gebracht, denn auch in dieser vergleichsweise säkularisierten Zeit spielen Formen von Religiosität sowohl in der Lebenswirklichkeit der (deutschen) Bevölkerung2 als auch in deren künstlerischer Produktion eine große Rolle. Dabei nimmt die Apokalypse, welche ihren Ursprung in der Johannesoffenbarung des Neuen Testaments hat, als religiöses Modell eine prägnante Stellung für die Kunstproduktion und -rezeption ein. Das visionär Geschaute des Johannes von Patmos in der Offenbarung vom Weltgericht und der Erlösung im kommenden Heil Gottes wird in den Künsten wie Literatur und Bildender Kunst aufgegriffen und ästhetisch transponiert. Besonders hierin liegt das Potenzial und die Faszination der Offenbarung: in der Ästhetisierung des Untergangs. Daher wird im konventionellen Sprachgebrauch wie auch in den Künsten oft mit dem Begriff der Apokalypse als bloßer Weltuntergang operiert. Insbesondere die Literatur greift apokalyptische Visionen aus der Johannesoffenbarung auf und abstrahiert diese, wobei das Spannungs- und Wechselverhältnis von Ende und Neuanfang neben den Schreckensvisionen der 1 Karl Kraus: Apokalypse. Offener Brief an das Publikum. In: Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1989, 9–20, hier 16. 2 Vgl. Klaus Vondungs These zur Affinität der deutschen Bevölkerung zu religiösen Konzepten, vor allem zur Apokalypse: Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus. München 2013, oder ders.: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988: »Aber in Deutschland wird der apokalyptische Ton besonders laut und häufig angeschlagen« (ebd., 9).

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Weltvernichtung ein zentrales Motiv darstellt. Dabei wird vor allem auf die besondere Klangqualität und den Bilderreichtum der Johannesoffenbarung nicht zuletzt durch intertextuelle und intermediale Bezüge rekurriert.3 Selbst mit Zunahme der Säkularisierung der Gesellschaft besitzt das religiöse Denkmodell der Apokalypse eine enorme Anziehungskraft und Wirkungsmächtigkeit. In der Moderne wird dies in der Kunst durch die Auseinandersetzung mit Industrialisierung, Großstadt und Technisierung deutlich. Verstärkt seit 1900 provozieren die Menschen und mit ihnen die zivilisatorischen Neuerungen apokalyptisches Schreiben. Vor allem zu Zeiten der Krise4 ist die Apokalypse eine prädestinierte Form der künstlerischen Artikulation und besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügt sie über eine enorme Faszination: Der Erste Weltkrieg als universale Zäsur, der die Zeit in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹ abgrenzt, verdeutlicht den Menschen aufgrund moderner Erfahrungen wie Militarisierung und letztlich Massenvernichtung erschreckend eindrücklich, dass die Untergangsvisionen ein totales und globales Ausmaß erreicht haben. Dabei speisen sich die apokalyptischen Ängste nicht mehr nur ausschließlich aus religiösen Untergangs- und Erneuerungsphantasmen, sondern vielmehr aus den zivilisatorischen Prozessen der Moderne selbst,5 wie beispielsweise die Jahre zwischen 1914 und 1918 verdeutlichen. Gerade diese ›modernen Apokalypse-Vorstellungen‹ weisen als Weltvernichtung religiöse Muster aus dem neutestamentlichen Gemeingut der Johannesoffenbarung auf; doch gibt es nach den apokalyptischen Schrecken des Ersten Weltkrieges überhaupt noch einen Glauben an ein kommendes Heil? Ob sich die Apokalypse des Ersten Weltkrieges wirklich ›nur‹ als bloßer Weltuntergang verkürzt in der Literatur und Bildenden Kunst widerspiegelt – also ohne 3 Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das fiktive Oratorium von Adrian Leverkühn Apocalipsis. Die Komposition des Protagonisten aus Thomas Manns Doktor Faustus (1943–1947) ist von Albrecht Dürers Zyklus zur Johannesoffenbarung, Apocalipsis cum figuris (1498) inspiriert. Vgl. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1980. 4 Die Genese apokalyptischer Texte, so lässt sich konstatieren, vollzieht sich meist in Zeiten der Bedrohung und Krise – der enge Konnex von Krisenszenarien und Apokalypse findet sich schon im Ursprung der neutestamentlichen Apokalypse: Die Entstehung der Johannesoffenbarung wird auf das Ende der Regierungszeit des römischen Kaisers Domitian (81–96) datiert. Die Jahre 95/96 werden gemeinhin als eine Krisenzeit beschrieben, in der es zu spannungsvollen Auseinandersetzungen mit dem römischen Staat sowie dem Kaiserkult kam und der Druck der Christenverfolgung zunahm. Nach traditioneller Geschichtsschreibung wird der römische Kaiser als pessimus princeps und tyrannischer Herrscher dargestellt, in dessen Regierungszeit der Herrscherkult besonders intensiv betrieben wurde und er sich Kolossalstatuen bauen ließ. Vgl. Hans Conzelmann u. Andreas Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament. Stuttgart 2004, 397. 5 Vgl. hierzu die Einleitung in: Gunter E. Grimm u. a. (Hg.): Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1986, 7–13, hier 8f.

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kommendes Reich Gottes – oder ob sich auch in Zeiten der totalen Zerstörung andere Transformationen apokalyptischer Denkmodelle finden, wird anhand des Epilogs Die Letzte Nacht aus Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (1919) sowie an ausgewählten Werken von Otto Dix beleuchtet. Mit diesen Beispielen soll verdeutlicht werden, dass ›neue‹, moderne Formen apokalyptischer Vorstellungen auch mit einer bestimmten apokalyptischen Schreibweise respektive einem apokalyptischen Ton korrelieren. Obwohl sich apokalyptische Texte schon im Alten Testament beispielsweise im Buch Daniel oder Jeremia finden, ist das letzte Buch der Bibel Namensgeber der Apokalypse und hat als apokalyptisches Denkmodell die abendländische Kultur maßgeblich geprägt.6 Ihren Namen erhielt diese Gattung durch das erste Wort im griechischen Original: !poj\kuxir, was mit ›Enthüllung‹ oder ›Offenbarung‹ übersetzt wird. Als Gattungsbezeichnung »Apokalyptik« wird der Begriff auf die religiösen Schriften angewandt, die geheimes Wissen über die Geschichte und Zukunft der Welt und deren Ende offenbaren.7 Die Botschaft der neutestamentlichen Apokalypse liegt im Aufzeigen der Schrecken der kommenden Endzeit, dem Weltgericht und der Errichtung einer neuen Welt: das neue Jerusalem, das kommende Heil. Die Apokalypse enthält Motive, die zum kulturellen Gemeingut avancierten und sich auch in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit niederschlagen. So steht beispielsweise folgende Beschreibung aus der Offenbarung stellvertretend für das allgemeine Verständnis von apokalyptischen Szenarien:8 »da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde« (Offb 6, 12–13). Ferner sind die apokalyptischen Reiter, die Plagen sowie Tiermetaphorik und Finsternis Motive, die mit Zerstörung und Weltuntergang assoziiert werden. Auch die Darstellung des Antichristen prägt die Offenbarung, zudem findet sich in ihr ein steter Dualismus zwischen Alt und Neu, Ende und Anfang, der auf qualitativer, moralischer sowie personaler und bildlicher Ebene auch in Karl Kraus’ Werk enthalten ist. Die Offenbarung ist durch die Kombination von Sprache qua Rede und Schrift geprägt, wobei ihr ein intermedialer Übersetzungsvorgang eigen ist: von der Optik oder Akustik in die Sprache und Schrift: »und [ich] hörte hinter mir 6 Vgl. Eduard Reuss: Johanneische Apokalypse in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, II. Section, 22. Theil. Hg. von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (1843); abgedruckt in: Klaus Koch u. Johann M. Schmidt (Hg.): Apokalyptik. Darmstadt 1982, 31–40. 7 Vgl. Conzelmann u. Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament (Anm. 4), 44f. 8 Die folgenden Textbeispiele aus der Johannesoffenbarung sind entnommen aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Hg. von der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999, 280–297.

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eine große Stimme wie von einer Posaune, die da sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch« (Offb 1, 10–11) oder : »Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung« (Offb 1, 3). Diese Übersetzung vollzieht sich durch eine Fülle an Vergleichen respektive Tropen: Ungewöhnliches, die Empirie Übersteigendes soll benannt, das Transzendente vermittelt werden. Somit greift Johannes von Patmos in seinem visionären Sprechen auf bekannte innere Bilder zurück, um das Unbekannte zu vermitteln; Johannes möchte den Glaubensgemeinden näher bringen, was nur schwer greifbar und kaum darstellbar ist. Die Stimme Gottes beispielsweise wird mit einer Posaune verglichen (Offb 1, 10). Hier wird deutlich, dass das Apokalyptische schon in der Johannesoffenbarung mit dem Problem der sprachlichen Repräsentierbarkeit konfrontiert wird. Durch den Versuch der Darstellung des scheinbar Nicht-Darstellbaren wird die Sprache an ihre Grenzen getrieben, muss neue Formen der Darstellung generieren und erfährt so eine Erweiterung – nicht zuletzt auch eine Erweiterung des Interpretationsspielraums aufseiten der RezipientInnen. So ließe sich fragen, ob das Niederschreiben des Geschehens nicht auch eine Erweiterung der Sprache darstelle.9 Neben dem visionären Sprechen liegt eine weitere Besonderheit der Offenbarung in der Klangqualität: Zum einen findet sich eine Rhythmisierung durch formelhaftes Sprechen und Wiederholungen beispielsweise der Akklamationsformel ›Amen‹ oder des Halleluja. Zum anderen wird eine bestimmte Klangqualität über die Evokation zahlreicher Naturgeräusche wie Blitz und Donner oder Tiergeräusche vermittelt. Des Weiteren lässt sich eine große Stimmenvielfalt erkennen: In der Offenbarung herrscht eine enorme Polyphonie, die Jacques Derrida als »apokalyptischen Ton« bezeichnet: Man verliert den Überblick über die Erzählerstimmen. Wer sagt wem was? Wer richtet was an wen? »Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Text apokalyptisch.«10

II.

Die Apokalypse bei Karl Kraus

Mit den Letzten Tagen der Menschheit hält Karl Kraus (1874–1936) die neuen Erfahrungen und Umbrüche der Moderne literarisch fest und reagiert unzweifelhaft auf den großen Bruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Kraus verfasst die 9 Neben dieser Transformation findet sich auch das Moment der Transkription in der Offenbarung. Johannes ist angehalten, seine Eindrücke/das Gesehene und das von Gott Diktierte zu verschriftlichen. Er fungiert somit gewissermaßen als Archivar und Protokollant zugleich. 10 Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. In: ders.: Apokalypse. Hg. von Peter Engelmann. Graz/Wien 1985, 11–75, hier 60.

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einzelnen Teile seiner Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, der Intellektuelle und Künstler auch außerhalb der Habsburgermonarchie maßgeblich beeinflusste. Zu seinem Hauptwerk zählt neben Die letzten Tagen der Menschheit vor allem seine satirische Zeitschrift Die Fackel (1899–1936), die besonders durch sein sozialkritisches und politisches Schreiben besticht. Verweist schon der Titel der Tragödie auf ein apokalyptisches Moment, so zeigen bereits frühere Texte Kraus’ kritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen seiner Zeit.11 So resümieren Zeitgenossen wie Bertolt Brecht beispielsweise über Kraus: »Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand«12, und Walter Benjamin erklärt, Kraus stehe an der Schwelle des Weltgerichts, um vor diesem anzuklagen.13 Bereits 1908 befasst sich Kraus in seinem offenen Brief Apokalypse mit dem vermeintlichen Ende der Menschheit: Für die Übel dieser Welt erkennt er das Agens im »fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit«.14 Denn die technikbesessene und fortschrittsgläubige Gesellschaft kranke an sich selbst und steuere Anfang des 20. Jahrhunderts direkt auf einen drastischen Wendepunkt zu: Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich […] kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheit der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte […]. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Sicherheit dieser Ordnung ohneweiteres hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, daß ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.15

Kraus attestiert seiner Zeit den kommenden Untergang, denn »[d]er wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.«16 Kraus’ Zeitdiagnose findet sich ähnlich in den Letzten Tagen der Menschheit: »In allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren

11 Vgl. bspw. Die Erde will nicht mehr (1909) oder den Essay, der der Textsammlung ihren Namen gab Untergang der Welt durch schwarze Magie (1912). 12 Walter Benjamin: Karl Kraus [Allmensch. Dämon. Unmensch] (1931). In: ders.: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hg. von Gerhard Seidel. Leipzig 1970, 126–164, hier 142. 13 Vgl. Benjamin: Karl Kraus (Anm. 12), 142. 14 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 11. 15 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 10. 16 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 14.

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Werken, die zu erfinden ihr so viel Geld gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.«17 Dass, wie oben konstatiert, auch ›moderne‹ apokalyptische Texte direkte Bezüge zur Johannesoffenbarung aufweisen, belegt auch Kraus’ ApokalypseBrief: »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt«.18 Kraus’ Interpretation der Johannesoffenbarung zeigt dabei deutlich das moderne Krisenbewusstsein zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Natur werde dem Lieblingswunsch der Menschheit nachgehen und sie an ihrer Hybris des Fortschritts und der uneingeschränkten Technikgläubigkeit zugrunde gehen lassen.19 Auch die Religion wird von Kraus in den Blick genommen, denn auch sie vermag nicht mehr zu trösten. Zwischen all den ›Angriffen‹ finden sich Verweise auf die Offenbarung des Johannes. Als Intertext legen sich Auszüge aus dem letzten Buch der Bibel unter den offenen Brief von Kraus. Ein Hypotext, der direkt und indirekt zum Vorschein kommt, beispielsweise in Form eines apokalyptischen Reiters, der durch Deutschland zieht – »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und daß sie sich einander erwürgten« –, der Heuschrecken, die über die Menschen kommen, oder der »große[n] Hure«, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«.20 Diese »Tragik einer gefallenen Menschheit«21 manifestiert sich für Kraus, der von Anfang an großer Kriegsskeptiker war, im Ersten Weltkrieg. Die technische Vernichtung von Mensch und Natur erreicht ein bis dato unbekanntes Ausmaß. In dieser Zeit schreibt Kraus Die letzten Tage der Menschheit. Er arbeitet von 1915 bis 1917 an den Akten und veröffentlicht diese während des Krieges in seiner Zeitschrift Die Fackel. Der Druck des Gesamtwerkes wird 1920/1921 vorgenommen. Der Epilog Die letzte Nacht jedoch wird schon im Dezember 1918 als Sonderdruck veröffentlicht.22 Das Stück hat keine fortlaufende Handlung, es sind eher lose aneinandergereihte, kurze Szenen mit sowohl realen als auch fiktiven Figuren in verschiedenen Situationen des Kriegsalltags. Die Handlungsorte sind u. a. Wien, Südtirol oder, wie in Die letzte Nacht, ein Schlachtfeld. Der Autor selbst hielt ob der 17 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 11. Vgl. hierfür die Figurenrede des Doktor-Ing. Abendrot in Die letzte Nacht weiter unten im Text. 18 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 11. Vgl. Offb 12, 9: » Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt […]«. 19 Vgl. Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 11f. Für Kraus ist vor allem die Luftschifffahrt Symbol dieses Fortschritts. 20 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 14. 21 Kraus: Apokalypse (Anm. 1), 10. 22 Zur ausführlichen Darstellung der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Werkes siehe Christian Wagenknecht: Entstehung und Überlieferung. In: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Schriften. Hg. von Christian Wagenknecht. Bd. 10. Frankfurt a. M. 1986, 775–785.

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Dichte seines Werkes eine Aufführung des gesamten Stückes für ausgeschlossen. Der Epilog jedoch wurde von Kraus persönlich als separater Text rezitiert; und auch als Bühnenstück wurde zu Kraus’ Lebzeiten nur Die letzte Nacht, losgelöst vom Gesamtwerk, aufgeführt. Die Handlung, so beschreibt es Kraus selbst in seinem Vorwort, führt durch Hunderte Szenen und Höllen, »ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos«.23 Er gibt klare Anweisungen zum Umgang mit dem Werk: All jene, die geduldet haben, dass die schrecklichen Gräuel des Krieges überhaupt geschehen konnten, sollen das Recht zu lachen hinter die Pflicht zu weinen stellen.24 Und zur Verortung seines Werkes merkt Kraus an: Auch wenn die Taten im Buch noch so unwahrscheinlich anmuteten, sie »sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten«.25 Auch findet sich schon in der Vorrede ein expliziter Verweis auf Intertextualität, wenn er schreibt, die grellsten Erfahrungen seien Zitate.26 Auffällig am Epilog ist die widersprüchliche Struktur mit vielen Orts-, Figuren- und Sprecherwechseln, die nicht konsistent erscheint. Die Figuren interagieren kaum miteinander, sind entindividualisiert und wirken wie Hülsen oder Masken. Der Erste Weltkrieg ist in Die letzte Nacht allgegenwärtig, er ist eine apokalyptische Materialschlacht und der Mensch wird eben auf dieses Material reduziert. Schon die erste Regieanweisung beinhaltet ein apokalyptisches Szenario: »Schlachtfeld. […] Sternenlose Nacht. Der Horizont ist eine Flammenwand. Leichen. Sterbende. Männer und Frauen mit Gasmasken tauchen auf.«27 Dieses bekannte apokalyptische Bild einer sternenlosen Nacht wird hier um eine neue, moderne Komponente erweitert: die Gasmaske. Die Kombination aus tradierten und neuen, spezifisch modernen apokalyptischen Bildern findet sich im gesamten Epilog: Kriegsberichterstatter steigen mit einer Kodak aus einem Auto; oder der Schauplatz wird wie folgt beschrieben: »Ein scharlachfleckiger Mond tritt aus den Wolken, die in schwarzgelben und farbigen Fetzen hängen. […] Drei Panzerautomobile erscheinen.«28 Auch in der Figurenrede wird die neuartige apokalyptische Verschränkung direkt verbalisiert, wenn die Stimmen von Unten von »apokalyptischen Autobusse[n]«29 sprechen.

23 Karl Kraus: Vorwort. In: Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 9–11, hier 9. 24 Vgl. Kraus: Vorwort (Anm. 23), 9. 25 Kraus: Vorwort (Anm. 23), 9. Kraus, der sich als ›malenden‹ Chronisten beschreibt, verweist hier selbst implizit auf das intermediale Potenzial apokalyptischer Szenarien, vgl. dazu weiter unten Otto Dix’ Transpositionen apokalyptischer Muster. 26 Kraus: Vorwort (Anm. 23), 9. 27 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 731. 28 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 758. 29 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 763.

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Die Regieanweisungen am Ende des Epilogs lassen die apokalyptischen Motive dann kulminieren: Blutregen, Ascheregen, Völlige Finsternis, Weltendonner und Untergang.30 Wie bereits erwähnt, weisen die ›modernen‹ Apokalypse-Darstellung religiöse Muster der Offenbarung auf, und so finden sich auch in Die letzte Nacht neben der apokalyptischen Bilderwelt weitere Bezüge zur Johannesoffenbarung wie etwa das visionäre Sprechen. Das Reden an sich wird in Die letzten Tage der Menschheit durchgehend thematisiert, nie aber so apokalyptisch wie im Epilog. Auch das Ende des Sprechens, somit das Ende der Stimme, geht damit einher : »Der Zweite. Einen schweigsamen Helden, / den schweigen wir tot.«31 oder »Der Sterbende. Geschwinde—geschwinde— / seht, wie ich—mich— winde—«.32 Solche Wortfetzen der sterbenden Soldaten sind im Epilog zahlreich zu finden, mit diesen demontiert Kraus zugleich auch das gängige Bild des Soldaten als Retter, der im Ersten Weltkrieg »zu einer Christus-Figur« mit Attributen der Hingabe stilisiert wurde.33 Schon hier macht Kraus deutlich: Der Glaube an eine transzendente Hilfe, das Übertragen realer Gegebenheiten in religiöse Stilisierung ist im Ersten Weltkrieg ein starkes Bedürfnis, doch stets gefährdet. Die Verbindung von Stimme und apokalyptischen Bildern ist das Prägnante am Epilog, man könnte sogar von einem ›Drama der Rede‹ sprechen, da sich eine Vielfalt von Redeformen erkennen lässt. Polyphonie und Misstöne steigern sich im Verlauf des Epilogs, bis die Kakophonie abbricht und im Schweigen nachhallt: »Ruhe. Stimme von Oben. Der Sturm gelangt. Die Nacht war wild. / Zerstört ist Gottes Ebenbild! Großes Schweigen.«34 Ein weiterer Aspekt vom Ende des Sprechens sind die schon erwähnten Satzfragmente. Die Sprache ist zerrissen, es ist eine Rede des Endes und das Ende der Stimme: »Der Sterbende. Mein Weib–ach—ich—bitt— / das ist—eine Qual—«.35 Hier lässt sich eine direkte Verbindung zu Derridas Überlegungen zum »apokalyptischen Ton« ziehen: Wenn das Reden über das Ende das Ende selbst ist – »la fin de la fin«36 –, ist folglich der, der diese Prophezeiung ausspricht, der letzte Mensch, der spricht. Hier steht nicht nur der Mensch unmittelbar vor dem 30 31 32 33

Vgl. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 764–770. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 737. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 736. Vgl. Modris Eksteins: Der Große Krieg. Versuch einer Interpretation. In: Rainer Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin 10. Juni bis 28. August 1994. Berlin 1994, 13–22, hier 16. 34 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 770. 35 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 737. 36 Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie (Anm. 10), 47.

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Ende, sondern die Sprache selbst. Besonders diese Verbindung von Sprachverlust und apokalyptischem Geschehen lässt sich bei Kraus sowohl formal als auch inhaltlich erkennen. Auch der Gesang des Chores der Hyänen kann als Variante des apokalyptischen Tons betrachtet werden; er beinhaltet Wiederholungen und Reime, sodass ein Beschwörungscharakter entsteht: »So sei’s! So sei’s! / Doch nur leis! Nur leis! / Die Schlacht war heiß / und durch euren Schweiß / und durch unseren Fleiß / ist gestiegen der Preis.«37 Die Tiermetaphorik – hier in Form der Hyänen – ist zudem ein tragender Aspekt der Bildlichkeit und tritt gemeinsam mit den aus der Johannesoffenbarung zum Allgemeinplatz avancierten Motiven wie Feuer und Finsternis als apokalyptisches Inventar auf. Im Epilog finden sich auch die bekannten Plagen als Vorboten der Apokalypse, doch wird in Die letzte Nacht deutlich, dass sich die Moderne ihre apokalyptischen Vorboten nun selbst schafft: Doktor-Ing. Abendrot. Als Ritter vom Geist greifen wir noch zum Schwert, / wenn sich längst schon der Flammenwerfer bewährt, / und sind entschlossen, mit Dünsten und Dämpfen / und Minen bis aufs Messer zu kämpfen. / […] / Mit unseren ausgesuchtesten Gasen / jagten wir aus dem Feld nur die falschen Hasen. / Doch fortan, kein Hase bleibt auf dem Platz, / dank unserem Lungenpestersatz!38

Wie in der Johannesoffenbarung erhält in Kraus’ Epilog die Gestalt des Antichristen eine tragende und bildliche Rolle: Hier ist es der Herr der Hyänen, dessen »riesenhafte Silhouette«39 sein Gefolge verstummen lässt. Der Antichrist dient nicht nur dem typisch apokalyptischen Dualismus, ihm wird in der modernen Apokalypse bei Kraus eine weitere, essenzielle Bedeutung zuteil. Der Kraus’sche Antichrist konterkariert die gesamte Offenbarung, er pervertiert sie und gibt ihr somit eine neue, moderne Dimension. Die neue, kommende Zeit ist nicht mehr das Reich Gottes, sondern seines – die Hölle: »Und der es einst vollbrachte, / an seinem Kreuz verschmachte, / wert, daß man ihn vergißt. / Ich tret’ an seine Stelle, / die Hölle ist die Helle! / Ich bin der Antichrist.«40 Auch hier beginnt nach dem Weltgericht eine neue Zeitrechnung, doch anders als in der Johannesoffenbarung siegt hier nicht das Gute, sondern das Böse: Und die gekreuzigt hatten, / wir treten aus dem Schatten / mit gutem Judaslohn! / Mich schickt ein andrer Vater! / Von seinem Schmerztheater / tritt ab der Menschensohn. Er weicht dem guten Bösen. / Er wollt’ die Welt erlösen; / sie ist von ihm erlöst. […].41

37 38 39 40 41

Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 749. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 744f. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 750. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 750. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 751f.

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Hier wird das bekannte Paradigma vom Ende und Anfang aus der neutestamentlichen Apokalypse verkehrt. Das kommende göttliche Heil als Neuanfang wird zum Anfang der Höllenherrschaft. Auf die Rede des Antichristen folgt im polyphonen Zusammenschluss ein kulminierendes Gewirr aus Stimmen, als Klimax lassen sie das Alte und das Neue aufeinander treffen – »Stimme von Unten. Mit Steinen schmeißen? Ein altes Verfahren! / Da sind unsere Handgranaten schon neuer.«42 – und nach Weltendonner und Untergang muss die Stimme von Oben feststellen: »Zerstört ist Gottes Ebenbild!«43 Daraufhin ertönt die Stimme Gottes nach langem Schweigen und beklagt: »Ich habe es nicht gewollt.«44 Mit diesen Worten zeigt sich bei Kraus die Resignation Gottes, er offenbart seine Machtlosigkeit. Hier wird die Empörung und ein Vorwurf an Gott deutlich: Er ist nicht mehr in der Welt, ist verbannt und isoliert: Nichts zeigt deutlicher das Ende des Glaubens als ein machtloser Gott; eine Interpretation, die auch an Nietzsches Diktum ›Gott ist tot‹ erinnert. Es handelt sich folglich bei Kraus’ Darstellung der Apokalypse um einen apokalyptischen Text ohne erlösenden Neuanfang. Vor allem moderne Endzeitszenarien, so Klaus Vondung in Die Apokalypse in Deutschland (1988), kennen nur noch das endzeitliche Moment, nicht aber mehr die Erwartung eines kommenden Reiches: »Wir können nur die erste Hälfte der herkömmlichen apokalyptischen Vision meinen; die zweite Hälfte, die Errichtung der neuen, vollkommenen Welt, die früher dem Untergang Sinn und Ziel verlieh, hat sich verflüchtigt.«45 Hierfür prägte Vondung in seinem Standardwerk zur Apokalypse den Begriff der ›kupierten Apokalypse‹, doch scheint es mir mit Blick auf Kraus’ Tragödie nicht ausreichend, mit diesem Begriff zu operieren. Denn besonders auf die Moderne bezogen lässt sich in vielen apokalyptischen Texten eine andere Art des Heilsversprechens erkennen, ein übergeordneter Sinn ist durchaus ersichtlich, oftmals jedoch negativ konnotiert – es fungiert der Schrecken als Prinzip des kommenden Reiches. So gestaltet es sich auch in Die letzte Nacht, hier gibt es ein Heilsversprechen, doch ist es eines der Hölle: »das Heil ist doch gekommen, / der Antichrist ist nah!«46 In diesem Falle erscheint es mir treffender, von einer ›pervertierten Apoka42 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 765. 43 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 770. 44 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 770 (im Original gesperrt gedruckt). Auch hier eine intertextuelle Verknüpfung von Weltkrieg und Apokalypse, da Kaiser Wilhelm im Krieg den prominenten Satz äußerte: »Ich habe den Krieg nicht gewollt«, welcher später auf Postkarten verbreitet wurde; vgl. Postkarte Wilhelm II, 1915; Deutsches Historisches Museum Berlin; Inventarnr. Do 2004/281. Online unter www.dhm.de/datenbank/ dhm.php?seite=5& fld_0=20042864 (20. 07. 2015). 45 Vgl. Vondung: Die Apokalypse in Deutschland (Anm. 2), 12. 46 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 751.

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lypse‹ zu sprechen. Das Moment der Perversion ist sowohl auf der Bedeutungsals auch auf der Darstellungsebene zu finden, denn es ist direkt in der Figurenrede enthalten. Im Monolog der Stimme von Oben lässt sich das apokalyptische Sprechen erkennen, hierbei handelt es sich um eine ungewöhnlich lange Sprechperiode, die sich über drei Seiten erstreckt und durch unabgeschlossene Sätze und eine expressive Fülle besticht. Diese Rede ohne Punkt und Komma treibt sich selbst immer weiter und erzeugt ob ihrer Dynamik auch Totalität, sodass sie eine Anklage an die gesamte Menschheit und zugleich die Rede über das Ende darstellt: Wir sind denn entschlossen, euern Planeten / mit sämtlichen Fronten auszujäten / und mit allen vermessenen Erdengewürmen, / die sich erfrechten, die Sphären zu stürmen, / und wie immer sie sich gewendet haben, / das Bild der Schöpfung geschändet haben, / die Tiere gequält und die Menschen versklavt, / die Schande geehrt und die Würde bestraft, / die Schlechten gemästet, die Guten geschlachtet, / die eigene Ehre am tiefsten verachtet, / sich als Hülle irdischer Güter benutzt, / ihre Sprache durch ihr Sprechen beschmutzt, / und Seele und Sinne, Gedanke und Wort / und ihr Jenseits nur aufgemacht für den Export […].47

Für diesen Aspekt bietet erneut Jacques Derrida mit seinen Überlegungen Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie (1985) interessante Ansatzpunkte: Immanent bei Derrida ist das destruktive Moment beim Lesen apokalyptischer Texte. Er führt an, dass das Sprechen über die Apokalypse selbst schon apokalyptisch sei und somit Ähnlichkeit mit dem hat, was es bezeichnet. Jede Rede über die Apokalypse kann »sich von ihrem Objekt nicht ausschließen«.48 Er charakterisiert apokalyptische Texte als »Prophezeiung« und »Ermahnung« und hebt das Faktum des »Verkündens des Endes« und mit diesem die Stimme hervor.49 »Man weiß in der Apokalypse nicht mehr genau, wer seine Stimme oder seinen Ton dem anderen leiht […].«50 Dabei ist bezeichnend, dass der apokalyptische Signifikant nicht nur »den Inhalt der Erzählung oder das Verkündete bezeichnet«, sondern »bald die Verkündung selbst und nicht mehr das Verkündete«:51 Das Reden über das Ende ist folglich das Ende selbst. Das Reden über das Ende und die schon benannte Polyphonie machen auch 47 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 766f. 48 Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen (Anm. 10), 65. 49 Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen (Anm. 10), 45. 50 Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen (Anm. 10), 60. 51 Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen (Anm. 10), 61.

Ton in der Philosophie Ton in der Philosophie Ton in der Philosophie Ton in der Philosophie

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die Rede einer Stimme von Oben in Die letzte Nacht zu einem apokalyptischen Text: Die Ewigkeit ist bereits angebrochen. / Lang’ wartetet ihr und warteten wir, / wir harrten geduldig, ihr hofftet mit Gier. / Und damit doch auf eurer noch hoffenden Erde / nun endlich der endliche Endsieg mal werde, / und damit sich dagegen kein Widerspruch regt / haben wir sie erfolgreich mit Bomben belegt!52

Besonders bei der Rezitation treten die reinen Reime hervor, aufgrund der Länge der Rede hat man Schwierigkeiten, den Inhalt der Anklage zu greifen, der Sinn entgleitet und die Rede ist eine Rede ohne Vermittlung von Inhalten, ohne Verkündung. Über die Sprache wird nur noch wirres Durcheinander vermittelt. Somit wird die Sprache als mündliches Kommunikationssystem außer Kraft gesetzt. Die Stimme kann keine Offenbarung mehr vermitteln, sie befindet sich folglich im Leerlauf. Hier wird die Rolle des Sprechens der neutestamentlichen Apokalypse verkehrt – pervertiert. Das visionäre Sprechen als essenzielles Paradigma eines apokalyptischen Textes wird ad absurdum geführt. In der Schrift jedoch wird der Sinn dieser Rede verständlich und im Lesen wird die Anklage an die Menschheit deutlich und vermittelbar. Daher muss die Verbindung von gesprochener Sprache und Schriftsprache in die Analyse apokalyptischer Texte mit einbezogen werden, da auch der Johannesoffenbarung die Kombination aus Stimme und Schrift immanent ist.

III.

Der Erste Weltkrieg als Apokalypse bei Otto Dix

Neben der Literatur findet sich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg als apokalyptisches Szenario vor allem auch in der Bildenden Kunst. Unter den zahlreichen Soldaten des Ersten Weltkrieges waren Künstler unterschiedlichster Nationalitäten und Überzeugungen, von denen einige voller Tatendrang und Erlebnishunger in den Krieg zogen, da dieser zuweilen als »moderne religiöse Ekstase« angesehen wurde, so der US-amerikanische Maler Marsden Hartley (1877–1943).53 Doch viele von ihnen fielen auf den Schlachtfeldern wie Guillaume Apollinaire (1880–1918), Wilfred Owen (1893–1918), Umberto Boccioni (1882–1916), August Macke (1887–1914), Henri GaudierBrzeska (1891–1915) oder Georg Trakl (1887–1914). Die Maler unter ihnen 52 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 22), 769. 53 Brief von Marsden Hartley an Alfred Stieglitz, zit. n. Hans Jürgen Papies: »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt«. Selbstzeugnisse bildender Künstler. In: Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 33), 85–106, hier 92. – Dass das bekannte Bild von der Kriegseuphorie und der allgemeinen jubelnden Begrüßung des Krieges eher Legende denn Realität ist, macht Gerd Krumeich deutlich: Bilder vom Krieg vor 1914. In: ebd., 37–46, hier 37.

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hielten das Kriegsgeschehen in eindrücklichen Bildern fest. »Die schnell hingeworfenen Skizzen, mit denen sie an vorderster Front ihre Hefte füllten, und ihre nach der Rückkehr ins Hinterland entstandenen Gemälde sind ergreifende und wahrheitsgetreue Zeugnisse.«54 Während sich die Futuristen dem Krieg bedingungslos verschrieben hatten und im Krieg die »einzige Hygiene der Welt« sahen, wie Filippo Tommaso Marinetti 1909 in seinem ersten Manifest deklarierte,55 wurden in den avantgardistischen Strömungen auch Stimmen laut, die im Krieg den reinen Schrecken erkannten, und auch zuvor treue Anhänger Marinettis relativierten mit zunehmenden Kriegserfahrungen ihre Zustimmung zum Krieg. Besonders der Verlust junger Künstlerfreunde, die im Krieg gefallen waren, wurde beklagt, was sich etwa in Franz Marcs Nachruf auf seinen Freund August Macke widerspiegelt: Wie viele und schreckliche Verstümmelungen mag dieser grausame Krieg unserer zukünftigen Kultur gebracht haben! Wie mancher junge Geist mag gemordet sein, den wir nicht kannten und der unsre Zukunft in sich trug. Und manchen kannten wir gut, ach nur zu gut! – August Macke, der ›junge Macke‹, ist tot. […] Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst um einen Helden ärmer geworden.56

Aufgrund der Erfahrungen an der Front litten viele von ihnen unter psychischen Erkrankungen und auch noch nach 1918 entstanden Arbeiten, die von der Angst und Zerstörung des Krieges geprägt waren. Im kollektiven Gedächtnis ist der Erste Weltkrieg, mit den Worten des Historikers George F. Kennan, die große Urkatastrophe dieses Jahrhunderts – »the great seminal catastrophe of this century«.57 In dieser Zeit wurde die »Darstellung des Krieges […] problematisch und entzog sich […] der ästhetischen Interpretation«.58 So konstatiert Paul Klee 1915: Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt. Heute ist der gestrige-heutige Übergang. In der großen Formgrube liegen Trümmer, an denen man noch teilweise hängt. Sie liefern den Stoff zur Abstraktion.59 54 Philippe Dagen: 1918/1998. Die Farbe der Tränen. Der Erste Weltkrieg aus Sicht der Maler. Internetauftritt zur Ausstellung unter der Schirmherrschaft der UNESCO. Online unter : www.memorial-caen.fr/10EVENT/EXPO1418/d/present.html (09. 07. 2014). 55 Vgl. Richard Cork: Das Elend des Krieges. Die Kunst der Avantgarde und der Erste Weltkrieg. In: Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 33), 301–396, hier 319. 56 Nachruf auf August Macke, Oktober 1914, zit. n. Papies: »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt« (Anm. 53), 98. 57 George F. Kennan: The Decline of Bismarck’s European Order: Franco-Russian Relations 1875–1890. Princeton 1979, 3. 58 Rainer Rother : Die bittere Wahrheit hinter dem propagierten Schein. Bilder des Ersten Weltkrieges. In: Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 33), 9. 59 Tagebucheintrag, zit. n. Papies: »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt« (Anm. 53), 93.

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So sagten sich die Künstler der europäischen Avantgarde60 schließlich auch von den Regeln der bis dato gängigen Schlachtenmalerei los und die ›Kriegsmalerei‹ des Ersten Weltkrieges bringt keine großen historischen Kriegsbilder im Sinne der tradierten Schlachtenmalerei mehr hervor.61 Auch Otto Dix (1891–1969), einer der bedeutendsten deutschen Maler und Grafiker des 20. Jahrhunderts, zieht anfänglich mit Optimismus in den Krieg und meldet sich im August 1914 freiwillig zur Artillerie. Seine Selbstbildnisse aus dieser Zeit demonstrieren Aggressivität und zeigen Dix als schroffes Abbild eines Soldaten (siehe hierzu Abb. 1: Selbstbildnis als Soldat, 1914).

Abb. 1: Otto Dix: Selbstbildnis als Soldat, 191462

Durch die kurzen Pinselstriche und die Dominanz von Schwarz und Rot erhalten die Bilder etwas Blutrünstiges und Erwartungsvolles: »Selbst der Nachname, der auffällig auf einer weißen Fläche unter dem Datum des Gemäldes 60 Wie bspw. in Deutschland die Expressionisten, in Frankreich die Kubisten, in England die Vortizisten oder in Italien die Futuristen. 61 Vgl. Ekkehard Mai: »Ja, das ist der Krieg!« Zur Militär- und Schlachtenmalerei im Kaiserreich. In: Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 33), 241–258. 62 Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Abbildung entnommen aus Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 326.

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steht, wirkt so aggressiv wie Graffiti an einer Straßenmauer. Hier ist ein Mann dargestellt, der nach dem Kampf hungert«.63 Doch ändert sich Dix’ Haltung zum Krieg drastisch; als existenzielle Erfahrung hält er den Krieg in Radierungen fest. Auch er realisiert, dass diese modernen Kriegserfahrungen nur mit modernen Techniken gemalt werden können: Die Zeit des heroischen Realismus und der patriotischen Allegorien war endgültig vorbei. Die Detonation von Geschossen, die Allmacht der Artillerie, der totale Krieg konnte nicht mehr nachgeahmt, sondern er mußte transponiert werden. Gebrochene Linien, grelle Farben waren notwendig, nicht etwa, um Details der Schlacht darzustellen, sondern um ihre unmenschliche Gewalt zum Aus[d]ruck zu bringen.64

Dix malt die Schrecken des Krieges mit der ihm typischen Aggressivität in Form und Farbe: 1917 beispielsweise das schockierende Kriegsbild Leuchtkugel (Abb. 2). Der Kunsthistoriker Philippe Dagen beschreibt das Bild wie folgt:

Abb. 2: Otto Dix: Leuchtkugel, 191765

Leuchtgeschosse erhellen, was sonst im Dunkel der Nacht verborgen bleibt: ein Haufen durcheinandergeworfener, verrenkter Leichen, abgerissene Köpfe, zerfetzte Gliedmaßen, ein Totentanz. […] Die Farbdissonanzen verleihen dem Bild eine gewaltige Kraft, die auch spürbar wird in der dynamischen Pinselführung des Künstlers, den Defor63 Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 326. 64 Dagen: 1918/1998 (Anm. 54). 65 Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Abbildung entnommen aus Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 349.

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mationen, dem grellen Rot und Weiß und den Blautupfen, die teilweise das Grün und das Grau überdecken.66

Die Gouache zeigt eine apokalyptische Nacht, in der der Krieg einmal mehr die Entsetzlichkeit der Vernichtung offenbart. Aus dem Dunkel blitzen apokalyptisch rote und weiße Lichter und enthüllen eine grausame Szenerie: Beleuchtet durch einen gespenstisch grünen Schimmer der Leuchtkugel wird ein Gemenge toter Soldaten sichtbar, die verstrickt und entstellt im Stacheldraht hängen. Die Gesichter der Toten sind entstellt, maskenhaft oder skelettiert. Sie sind Symbole der Vernichtung, die sich durch den Ersten Weltkrieg wie durch die Kunst ziehen und die Welt in reale apokalyptische Landschaften verwandeln. Apokalyptisch auch, da das Bild neben der Zerstörungsgewalt zudem durch eine enorme ›polyphone Fülle‹ besticht:67 ›Misstöne‹, die verstörend wirken und dem Bild eine besondere Intensität – wenn man will: Lautstärke – verleihen. Neben den unruhigen Strichen des Stacheldrahts und den entstellten Gesichtern wird die nächtliche Landschaft durch weißlich-hellblaue Wellenlinien durchbrochen, die zu einer Verzerrung beitragen und wie ein ›Zerklirren‹ die Landschaft durchbohren. Das Bild besticht des Weiteren durch den Dualismus von Hell und Dunkel: Die Nacht wird aufgerissen durch das flackernde Licht, das wiederum die Toten offenbart. Diese sind mit weißer Pinselführung vom Schwarz und Grün abgehoben und erhalten durch diesen Kontrast eine noch stärker zersetzende Wirkung. Viele der Soldaten, die überlebten, erholten sich nie von ihren körperlichen und seelischen Verletzungen. Die furchtbaren Verwundungen, die sie auf dem Schlachtfeld davongetragen hatten, werden von Künstlern aus alliierten Ländern kaum oder gar nicht dargestellt, es wird vermieden, diese Opfer abzubilden.68 In Deutschland hingegen stellen sich Künstler wie beispielsweise Max Beckmann diesen Kriegsverletzungen.69 Doch ist kein Maler unerbittlicher und zynischer in dieser Darstellung als Dix, er scheint »besessen von den grauenhaftesten Erscheinungsformen der Kriegsverletzungen«.70 So malt Dix 1920 eine verstörende Bildserie von Kriegsversehrten. Makaber stellt Dix beispielsweise vier Kriegs66 Dagen: 1918/1998 (Anm. 54). 67 Marinetti fasst den Begriff der Polyphonie aus der Musik für die Bildende Kunst mit dem »Effekt der Fülle und Vehemenz«, die »der Komplexität und der Intensität der Psychologie des modernen Menschen entsprechen.« Giovanni Lista: Klänge und Polyphonie der Stadt bei den Futuristen. In: Karin v. Maur (Hg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, 380–383, hier 380. Zur Verwendung des Terminus »Polyphonie« in der Bildenden Kunst vgl. auch Susanne Ulbrich: Die Polyphonie in den Bildern Paul Klees. In: Tatjana Böhme u. Klaus Mehner (Hg.): Zeit und Raum in Musik und Bildender Kunst. Köln u. a. 2000, 151–162. 68 Vgl. Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 379. 69 Vgl. bspw. Die Heimkehr aus Beckmanns Zyklus Hölle (1919). 70 Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 379.

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krüppel (Abb. 3) dar : groteske Gesichter, die als Anklage an die hastige Chirurgie gelesen werden können, die die Verwundeten im Krieg über sich ergehen lassen mussten. »Das Maschinenzeitalter hat die Waffen erfunden, die ihre Körper auf dem Schlachtfeld zerrissen, aber es kann ihnen nur die rudimentärsten Hilfsmittel bieten, um ihre zerschmetterten Kiefer, Augen und Arme zu ersetzen.«71

Abb. 3: Otto Dix: Kriegskrüppel, 192072

Auch nach 1918 bleibt der Krieg also als Thema seiner Bilder präsent. Dix greift die gesamte Bandbreite von Wut und Verzweiflung auf und veröffentlicht 10 Jahre nach Kriegsbeginn, 1924, den wohl größten Zyklus zu diesem Thema. In 50 Radierungen mit dem Titel Der Krieg zeigt Dix auf eindringliche Weise die erlebten Schrecken und Abgründe der Kriegszeit.73 Die Ausgabe mit 24 OffsetReproduktionen sowie die Neuauflage von 2002 und viele weitere Publikationen zu Dix und dem Krieg sind mit der Radierung Sturmtruppe geht unter Gas vor als Cover versehen (Abb. 4). Diese ist wohl eine der markantesten Dix-Radierungen 71 Cork: Das Elend des Krieges (Anm. 55), 382. 72 Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Abbildung entnommen aus: Otto Dix 1891–1969. Gemälde. Zeichnungen. Druckgraphik. Hg. von Kunstgalerie Gera. Gera 1982, 43. 73 Als Zyklus Der Krieg wurden diese Radierungen 1924 das erste Mal ausgestellt. Die Radierungen wurden in einer Auflage von 70 Exemplaren herausgegeben und erhielten von vielen Kritikern lobende Einschätzungen. Daraufhin wurde eine erschwinglichere Buchausgabe mit 24 Offset-Reproduktionen und einem Vorwort des Schriftstellers Henri Barbusse produziert. 1963 wurde der Zyklus von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin mit allen 50 Radierungen wiederaufgelegt, 2002 erneut vom Jonas-Verlag.

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und wirkt zuweilen wie die Illustration der Kraus’schen Szene in Die letzte Nacht, in der das apokalyptische Szenario prägnant mit der modernen apokalyptischen Komponente der Gasmaske verbunden wird. Auch andere Radierungen des Zyklus wie Soldatengrab zwischen den Linien, Toter im Schlamm, Sterbender Soldat oder Totentanz Anno 17 wirken fast wie Abbilder des apokalyptischen Textes von Kraus. H.-Georg Lützenkirchen beschreibt die Bedeutung der Radierungen in seiner Rezension zur Neuauflage des Zyklus 2002 wie folgt:

Abb. 4: Titel Mappe Der Krieg74

Dix [schuf] in einmaliger Qualität ein Abbild der grausigen Kriegswirklichkeit. Ein Horror in Dunkelheit, nur von unechten Granatlichtern erleuchtet. Was aber sieht man im Blitzlicht? Klaffende Wunden. Löcher in den Leibern. Vermoderte Leichenteile. Zerstörte leere Landschaften. Gekrümmte Figuren – das Menschsein reduziert auf einen irrealen Totentanz. Hier ist der Mensch nicht mehr als jedes andere Kriegsgerät. Zerstört wie diese ist er tot.75 74 Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Umschlagabbildung der Ausgabe des Jonas-Verlages: Otto Dix: Der Krieg. 50 Radierungen von 1924. Hg. von Dietrich Schubert. Marburg 2002. 75 H.-Georg Lützenkirchen: Wahre Bilder vom Krieg. Otto Dix’ Zyklus »Der Krieg« endlich

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Der Zyklus zeigt das apokalyptische Ausmaß des Krieges – wenn man will: ›die letzten Tage der Menschheit‹ – und kann selbst als Apokalypse – als eine moderne Offenbarung – gesehen werden. Die Radierungen legen das gesamte Ausmaß des Krieges offen, verhüllen oder chiffrieren nichts und kommen zum selben Schluss wie Kraus’ Stimmen von Oben aus Die letzte Nacht: völlige Zerstörung ohne Aussicht auf einen göttlichen Neuanfang. Keine Erlösung der Menschheit durch gegenseitiges Mitgefühl, kein Überwinden der Kriegsgräuel lässt sich in den Bildern erkennen. Wenn Derrida apokalyptische Texte als Prophezeiung und gleichsam Ermahnung beschreibt, so findet sich dies auch hier : Dix’ Bilder können als Mahnung gegen das Vergessen gelesen werden. Auch in diesen Radierungen lässt sich eine Art der ›pervertierten Apokalypse‹ erkennen: Obwohl der Krieg vorbei, die Apokalypse über die Menschheit gekommen ist und außer Tod und Zerstörung nichts hinterlassen hat – so endet die fünfte und letzte Mappe der Radierungen auch mit dem Bild Tote vor der Stellung bei Tahure76 –, existiert eine Art des Lebens weiter : Widerwärtige Würmer und Insekten künden vom ›neuen Leben‹ nach dem Tod; kein kommendes Reich Gottes nach den Qualen, sondern Ungeziefer und Verwesung, nirgends so deutlich dargestellt wie auf der Radierung Schädel (Abb. 5).

Abb. 5: Otto Dix: Schädel, 192477

wieder in einer Buchausgabe. In: literaturkritik.de 2003, Nr. 5. Online unter : www.litera turkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5941& ausgabe=200305#biblio (14. 08. 2012). 76 Vgl. Otto Dix: Der Krieg. 50 Bildtafeln nach den Radierungen. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin. Leipzig 1963, 86. 77 Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Abbildung entnommen aus Dix: Der Krieg (Anm. 76), 65.

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Henri Barbusse, dessen Vorwort in der Ausgabe von Der Krieg bei der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (1963) enthalten ist, konstatiert, dass »[e]in wahrhaft großer deutscher Künstler […] hier in grellen Blitzen die apokalyptische Hölle der Wirklichkeit [schuf]!«78 Wenn wie bei Kraus die Stimme versagt, um die Schrecken der Schlachtfelder zu fassen, so überträgt Dix die ›Apokalypse des Ersten Weltkrieges‹ in visuelle Bilder. Auch Dix hält in seinen Radierungen die Anonymität des Mordens und Zerstörens fest, so wie Kraus in Die letzte Nacht, wenn seine dramatis personae keine Namen oder individuellen Züge erhalten, sondern eben auch ›nur‹ Sterbende, Soldaten oder Reporter sind. So erhält die ›Unmenschlichkeit‹ des Krieges einen weiteren Sinn, wie Heinz Lüdecke treffend herausstellt: »[E]s bedeutet hier nicht nur Pervertierung menschlicher Eigenschaften ins Inhumane, sondern fühllose Abwesenheit alles Menschlichen, konsequente Verdinglichung.«79 Und wie ist in solch einem inhumanen Zustand der Welt noch Religiosität möglich? Die individuelle Gottesbeziehung, die subjektive Seite des Religiösen80 gerät im Ersten Weltkrieg in die Krise. Ein »Verlangen nach Frömmigkeit und religiösem Schutz«81 war nach Kriegsausbruch ein gesteigertes Bedürfnis, doch erschütterte der Kriegsalltag dieses grundlegend. Auch in Dix’ Darstellungen des Krieges finden sich wie bei Kraus ›Pervertierungen‹ – als Mittel, die an die Grenzen getriebenen Darstellungsmöglichkeiten der Wirklichkeit zu erweitern. Dix resümiert im Dezember 1963: Deswegen mußte ich in den Krieg gehen. […], wenn man dann vorkommt, langsam vorging an die Front, also vorn, da war eine Hölle von Trommelfeuer, naja – jetzt kann man lachen –, da war Scheiße in der Hose. […] Also das sind alles Phänomene, die mußte ich unbedingt erleben. Ich mußte auch erleben, wie neben mir einer plötzlich umfällt und weg, und die Kugel trifft ihn mitten. Das mußte ich alles ganz genau erleben. Das wollte ich. Also bin ich doch gar kein Pazifist. Oder vielleicht bin ich ein neugieriger Mensch gewesen. Ich mußte das alles selber sehen. Ich bin so ein Realist, wissen Sie, daß ich alles mit eigenen Augen sehen muß […] Das Leiden Christi, das kannste dir ja in der Bibel erzählen lassen. Aber eigentlich mußt du es selber erleben […].82

Der Erste Weltkrieg als Apokalypse zerstörte »allen Konsens über die Werte der Kultur« und »provozierte unterschiedliche Analysen« bezüglich einer nicht 78 Henri Barbusse: Vorwort. In: Dix: Der Krieg (Anm. 76), 16. 79 Heinz Lüdecke: Vorwort. In: Dix: Der Krieg (Anm. 76), 14. 80 Hier wird Bezug genommen auf die gegenwärtigen Diskussionen in der deutschsprachigen Religionspsychologie. Vgl. Christoph Bochinger: Religiosität. In: Hans D. Betz u. a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7. Tübingen 2004, 413f. 81 Christoph Auffarth: Religiosität/Glaube. In: ders. u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Bd 3. Stuttgart/Weimar 2000, 188–196, hier 189. 82 Otto Dix: Über Kunst, Religion, Krieg. Gespräch mit Freunden am Bodensee, zit. n. Papies: »Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt« (Anm. 53), 90.

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mehr traditionellen Religiosität:83 1917 sah der Soziologe Max Weber beispielsweise in den Kriegsjahren einen »unendlichen Kampf der Werte«, den Untergang der religiösen Einheit des christlichen Monotheismus und das Aufkommen eines ›Polytheismus der Moderne‹.84 Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto hingegen kam 1917 zu seiner »›Weltformel‹ der Religion« des »Numinosen«; sie beruht ausschließlich auf religiösen Erfahrungen und beinhaltet zudem die Ambivalenz von »›Schrecken‹ und ›Faszination‹«,85 die sich sowohl in der Johannesoffenbarung als auch in den künstlerischen Auseinandersetzungen des Ersten Weltkrieges findet. Für Rudolf Otto besteht der neue Konsens nicht mehr »im Stolz der zivilisierten Nationen gegen die ›Unmenschen‹ […], sondern Religion gegen Atheismus, Materialismus, Moderne«.86 Wenn die Apokalypse als Offenbarung, wie Derrida konstatiert, auch eine Ermahnung darstellt und sich das Reden über die Apokalypse selbst als apokalyptisch erweist, so sind sowohl Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit als auch Otto Dix’ Bilder des Ersten Weltkrieges Zeugnisse, die die Schrecken des Krieges enthüllen, über diesen berichten und gleichsam selbst apokalyptisch sind, da sie der Menschheit ihren eigenen selbstverschuldeten Untergang prophezeien und zugleich ermahnen: Der Weltkrieg, der so unterschiedliche Formen von Religiosität generierte, darf nicht vergessen werden, denn neben all den Menschenleben, die dieser vernichtet, zerstört er auch Kultur, Geist und Glauben, und unsere Welt kann nicht bestehen, wenn diese vernichtet sind.

83 84 85 86

Auffarth: Religiosität/Glaube (Anm. 81), 191. Auffarth: Religiosität/Glaube (Anm. 81), 192. Auffarth: Religiosität/Glaube (Anm. 81), 192. Auffarth: Religiosität/Glaube (Anm. 81), 192.

Imke Rösing

Die politische Instrumentalisierung der Apokalypse in der nationalsozialistischen Literatur am Beispiel von Joseph Goebbels’ Roman Michael

1.

Einleitung: Faszination Apokalypse

Die Apokalypse als religiöses, kulturgeschichtliches und literarisches Phänomen prägt den christlich-abendländischen und viele andere Kulturkreise seit Jahrtausenden. Besonders in Krisenzeiten bieten die gewaltigen Bilder des endgültigen Untergangs eine Symbolisierung der Gefahr. In der jüdisch-christlichen Tradition bedeutet Apokalypse jedoch nicht allein den Untergang, sondern ebenso einen Neuanfang, wobei zudem die gegenwärtige, verkommene Welt durch eine neue, vollkommene abgelöst wird. Mit diesem Strukturmerkmal verbindet sich in der Apokalypse ein teleologisches Zeit- und Geschichtsverständnis, wobei die als defizitär empfundene Gegenwart im Licht der Wendung zum Heil und zur Erlösung im Reich Gottes nach dem Untergang in der nahen Zukunft steht. Hiermit hängt die der Apokalypse inhärente Deutungshoheit über Gegenwart und Zukunft zusammen. Die Vernichtung einer bedrohlichen Gegenfigur, häufig als Antichrist dargestellt, wird in der Apokalypse zur Bedingung der Heilsteleologie. Ein strikter Dualismus trennt somit sowohl die alte, verkommene und immanente von der neuen, vollkommenen und transzendenten Welt als auch die »guten« Gläubigen vom »bösen« Feind und seinen Anhängern. Hieraus resultiert der als notwendig empfundene Endkampf gegen diesen als grausam und widerwärtig dargestellten Gegner. Gerade der Inszenierung einer gegenwärtigen Krise als Kampf zwischen Gut und Böse sowie dem Pathos des Endgültigen verdankt das apokalyptische Modell seine Faszination. Auf rechter und linker politischer Seite war es im und nach dem Ersten Weltkrieg populär : im Expressionismus, bei Ernst Jünger, Carl Schmitt, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck und Walter Benjamin.1 1 Vgl. hierzu Gerhard Kurz: Braune Apokalypse. In: Jürgen Brokoff u. Joachim Jacob (Hg.): Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Göttingen 2002, 131–146, hier 132f., sowie Klaus Vondung: Von Vernichtungsangst und Untergangsangst. Nationalismus, Krieg, Apokalypse. In: Rolf Grimminger u. a. (Hg.): Lite-

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Und auch in der nationalsozialistischen Weltdeutung nahm die Figur der Apokalypse, die im christlichen Kontext insbesondere in Anlehnung an die Johannesoffenbarung des Neuen Testaments definiert wird, eine zentrale Rolle ein.2 Sie bot in der Übertragung auf das eigene Referenzsystem eine Symbolisierung zentraler NS-Vorstellungen und Ideologeme.3 rarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995, 232–256. Die apokalyptischen Entwürfe von Schmitt, Jünger und Benjamin untersucht Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001. 2 Die germanistische Forschung zur Apokalyptik in der NS-Literatur ist überschaubar. Zudem existieren recht wenige aktuelle Publikationen zum Thema. Klaus Vondung, der mit seinen Publikationen zur Apokalypse die Forschungsdiskussion maßgeblich mitbestimmt, geht in seiner grundlegenden Monografie: Die Apokalypse in Deutschland (München 1988) sowie in mehreren Aufsätzen auf die Verbindung von Apokalyptik und National(sozial)ismus ein. Jürgen Brokoff erarbeitet in seiner Untersuchung apokalyptischer Texte der Weimarer Republik ebenfalls wichtige allgemeine Einsichten in diesem Kontext. Überblicke über die »völkische Utopie« bieten Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1988, und Georg L. Mosse: Tod, Zeit und Geschichte. Die völkische Utopie der Überwindung. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Deutsches utopisches Denken im 20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1974, 50–69. Auch Anna Neumaiers Untersuchung von Hitler-Reden hinsichtlich ihrer apokalyptischen Dimension liefert zentrale Erkenntnisse: dies.: Apokalyptik als Redeform des Nationalsozialismus. Eine Diskursanalyse früher Reden Hitlers. Bremen 2010. 3 Die Loslösung religiöser Vorstellungen, Symbole und Riten aus dem ursprünglichen Kontext und ihre gleichzeitige Übertragung auf politische und historische Ereignisse sowie ideologische Deutungen sind ein zentraler Bestandteil der NS-Inszenierung und Weltanschauung. Vgl. zu dieser Sakralisierung z. B. Neumaier: Apokalyptik als Redeform (Anm. 2), 28f., sowie Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen 1971. In den 1960er-Jahren führte Hans-Jochen Gamm den Begriff des »braunen Kults« in die Debatte um die unbegreiflich scheinende Folgsamkeit der Deutschen im Nationalsozialismus ein: ders.: Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion. Ein Beitrag zur politischen Bildung, Hamburg 1962. – Mit der These der kultischen Inszenierung hängt die Frage nach der Bestimmung des Nationalsozialismus als politische Religion zusammen. Den Begriff der politischen Religion in Bezug auf totalitäre Regime des beginnenden 20. Jahrhunderts prägte Eric Voegelin mit seiner 1938 erschienenen Schrift: Die politischen Religionen. Aus der komplexen Forschungskontroverse um diese Interpretation des Nationalsozialismus, die sich u. a. aus politik-, religions-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Argumenten speist, können an dieser Stelle nur einige Stimmen genannt werden: Siehe z. B. Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Klaus Hildebrand (Hg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. München 2003, 45–71; Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus als säkulare Religion. In: Gerhard Besier (Hg.): Zwischen »nationaler Revolution« und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft während der konsolidierten NS-Gewaltherrschaft (1934–1939). München 2001, 43–63; Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. München 2 2002, v. a. 325–381. – Eine wichtige Grundlage zur Auseinandersetzung mit politischen Religionen sind die drei von Hans Maier herausgegebenen Bände: Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band III: Deutungsgeschichte und Theorie.

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Diese Adaption der religiösen Apokalypse bzw. ihrer Bilder, Symbole und Strukturen schlug sich auch in der NS-Literatur nieder. Zahlreiche NS-Dichtungen sowie dramatische und epische Werke sind geprägt von messianischen und eschatologischen Vorstellungen sowie pseudoreligiösen Glaubensbekenntnissen etwa zu Volk, Blut und »Führer«. In dramatischen Formen, wie z. B. dem Thingspiel Das Frankenburger Würfelspiel (1936) von Eberhard Möller, ist diese Verwendung des Apokalyptischen ebenso zu finden wie in aktivistischen Gedichten, beispielsweise in den Gedichten Gerhard Schumanns. Und schließlich bedienten sich auch Autoren erzählender Gattungen entsprechender Motive. So der promovierte Germanist und spätere Reichminister für Volksaufklärung und Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland, Joseph Goebbels: Er schrieb mit Michael (1928)4 einen politischen Roman, in dem Strukturen und Elemente der Apokalypse verwendet werden, um dem Leser das Konzept des »nationalen Sozialismus« aufzuzeigen. Im Sinne des aufschlussreichen Artikels von Tobias Schneider über Bestseller im »Dritten Reich« kann Michael als einer der nationalsozialistischen Romane gelten, die teilweise schon vor 1933 die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus verarbeiteten und von der NS-Literaturpolitik aufgegriffen und gefördert wurden. Zur genuinen NS-Literatur zählt Schneider Propaganda-, Kriegs- sowie Blut-und-Boden-Romane.5 Dass im Falle von Michael der Autor zu einer der Hauptfiguren der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie München 2003; ders. u. Michael Schäfer (Hg.): »Totalitarismus« und »Politische Religion«. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band II. München 1997; ders. (Hg.): »Totalitarismus« und »Politische Religion«. Konzepte des Diktaturvergleichs. München 1996. 4 Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 161940. Der Text wird im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl im Fließtext zitiert. 5 Vgl. Tobias Schneider: Bestseller im Dritten Reich. Ermittlung und Analyse der meistverkauften Romane in Deutschland 1933–1944. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), H. 1, 77–97, hier 86ff. Mit einem qualitativen Ansatz zur Bestimmung von BestsellerRomanen im »Dritten Reich« kommt Schneider zu dem Ergebnis, dass drei Viertel der meistverkauften Romane während der NS-Herrschaft nichtpropagandistische Unterhaltungsliteratur waren. – Die Frage »Was ist NS-Literatur?« wird von der germanistischen Forschung nicht einheitlich beantwortet. Viel zitierte, aber auch kritisierte Definitionsversuche stammen von Ralf Schnell und Klaus Vondung. Letzterer befindet die kombinierten Kriterien »öffentliches Bekenntnis« der Autoren zum Nationalsozialismus sowie »offizielles Selbstverständnis«, also die Berufung der Nationalsozialisten auf diese Texte, als sinnvolle formale Bestimmungsmerkmale. Er weist dabei auf die inhaltliche Schwierigkeit hin, von der uneinheitlichen NS-Ideologie auf ideologisch einheitliche Inhalte der Literatur zu schließen. Vgl. ders.: Der literarische Nationalsozialismus. Ideologische, politische und sozialhistorische Wirkungszusammenhänge. In: Horst Denkler u. Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Stuttgart 1976, 44–65. Einen hilfreichen, wenn auch rein phänomenologischen und auf wenige Beispiele beschränkten Definitionsansatz bietet Schnell: Was ist »nationalsozialistische Dichtung«? In: Jörg Thunecke (Hg.): Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Bonn 1987, 28–45, der durch 13 definierende Thesen versucht, sich der NS-Literatur anzunähern.

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aufstieg, macht das Beispiel besonders eklatant. So kann der Roman Michael als Paradebeispiel dafür gelten, wie die ursprünglich religiöse Figur der Apokalypse in der nationalsozialistischen Literatur dazu instrumentalisiert wurde, wesentliche Bestandteile der NS-Ideologie und -Weltdeutung durch die appellative Funktion an das Publikum zu transportieren. Dieser These soll im Folgenden, nach einem Blick auf die christliche Apokalypse und deren nationalsozialistische Adaption, durch eine Analyse des Romans nachgegangen werden.

2.

Die »nationalsozialistische Apokalypse«

Der zentrale kanonische Text apokalyptischer Deutungen im christlichen Kontext ist die Offenbarung des Johannes.6 Zwar speist sie sich aus zahlreichen Elementen einer langen und vielschichtigen apokalyptischen Tradition und ist damit keineswegs nur originelle oder begründende Schrift, doch macht sie unter anderem ihre Wort- und Bildgewalt zum Referenzpunkt des apokalyptischen Diskurses. Diese Bezugnahme resultiert zudem daraus, dass die Johannesoffenbarung durch den in Ich-Perspektive berichtenden Verfasser gleich zu Beginn als apok‚lypsis bezeichnet wird, also als Offenbarung, Enthüllung (vgl. Offb 1, 1). Johannes als Verfasser der Offenbarungsmitteilung trifft die Entscheidung zu schreiben nicht selbst, sondern ihm wird die Offenbarung, die Gott an Jesus weitergab, durch Engel vermittelt (vgl. Offb 1, 9–3, 22). Aus der Selbstbezeichnung entwickelte sich »Apokalypse« als literarische Gattungsbezeichnung: Ihr werden Werke zugeordnet, die der Johannesoffenbarung in Inhalt und Form ähnlich sind. Zentrale strukturelle Merkmale des komplexen, visionär vermittelten Textes im Neuen Testament lassen sich als Bestimmungskategorien der Apokalypse festhalten: die Determination des Geschichtsverlaufs durch Gott, die Erwartung des Endes, die katastrophale Zerstörung der bisherigen Welt, Dualismen, das Jüngste Gericht, in dem alle Menschen, auch die Toten, entsprechend ihrer Taten gerichtet werden, und schließlich die heilbringende Wende hin zur Gottesherrschaft für die wahren Gläubigen. Bilder von Schmutz gegenüber Reinheit, Krankheit gegenüber Gesundung sowie Finsternis gegenüber Licht prägen die Apokalypse. Zentrale Elemente der Johannesoffenbarung sind das Erscheinen Jesu als Messias, der am Ende der diesseitigen Welt die wahren Gläubigen aus dem Elend und der Unterdrückung der Gegenspieler befreit, und ein friedvolles tausendjähriges, irdisches Reich errichtet (vgl. Offb 20, 1–6), sowie der Kampf gegen die satanische Gegenspielerfigur und ihre Anhänger, die schließlich 6 Hier im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Luther-Übersetzung in ihrer revidierten Fassung von 1984 mit der Abkürzung der Johannesapokalypse: Offb.

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endgültig besiegt werden, sodass die göttliche Herrschaft, symbolisiert durch das himmlische Jerusalem, beginnt (vgl. Offb 21, 1–22, 5). Gewalt gegenüber dem Feind und seinem Gefolge erscheint in dieser Konstellation zwingend notwendig und durch den Wahrheitsanspruch der Apokalypse zudem legitimiert. Denn mit der Referenz auf Gott und Jesus fordert die Apokalypse neben Unbedingtheit und Universalismus absolute Wahrheit ein.7 Die Apokalypse kann neben dieser religiösen und literarischen Dimension auch als politische Rede verstanden werden, die Analyse und Handlungsanweisung der zeitgenössischen krisenhaften Situation liefert.8 Problematisch wird diese Verbindung der literarischen Apokalypse und ihres inhärenten Gewaltpotenzials mit einer real-historischen Situation, wenn Menschen sich an die Stelle Gottes als ausführende Instanz im Heilsplan setzen. An diesem Punkt nun ergibt sich die Verbindung der religiösen Apokalypse mit säkularen bzw. modernen politischen Bewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die »Abkömmlinge der religiösen apokalyptischen Tradition« sind und »sich von ihren religiösen Wurzeln [gelöst haben].«9 Neben dem Unterschied, dass in diesen modernen Apokalypsen nicht mehr Gott in die Geschichte eingreift, sondern der Mensch, nennt Klaus Vondung als weitere wichtige Differenz die Umwandlung der transzendenten Erlösungsvorstellung in eine irdische. An die Stelle der Herrschaft Christi im tausendjährigen Reich tritt nun eine Nation, Klasse oder Rasse bzw. ein Führer als deren Repräsentant. Ob moderne Adaptionen der traditionellen christlichen Apokalyptik als säkularisiert verstanden werden können, darüber herrscht in der einschlägigen Forschungsliteratur Uneinigkeit. So wird häufig formuliert, die Apokalypse sei seit der Aufklärung von ihrem religiösen Kern gelöst und säkularisiert worden, habe dabei aber ihre teleologische Ausrichtung auf den Endzustand behalten;10 überhaupt habe der rationalistische Modernisierungsprozess eschatologische und chiliastische Vorstellungen insgesamt säkularisiert.11 Für die Untersuchung

7 Vgl. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 1), 24, und Klaus Vondung: Der Preis des Paradieses: Gewalt in Apokalypse und Utopie. In: Reto Sorg u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München 2010, 33–46, hier 35. 8 Vgl. Neumaier : Apokalyptik als Redeform (Anm. 2), 8f. 9 Vondung: Der Preis des Paradieses (Anm. 7), 36. Vgl. hier auch zu dem Phänomen, dass die »Frommen selbst zum Schwert greifen«, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (35f.). – Vgl. zur Differenz und Analogie zwischen dem christlichen und modern-säkularen (politischen) apokalyptischen Modellen auch: Vondung: Apokalypse in Deutschland (Anm. 2), 10f., 50, 62ff., 334f. 10 Vgl. Hans Krah: Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom »Ende« in Literatur und Film 1945–1990. Kiel 2004, 15; Eva Horn: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie. In: Sorg u. Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse (Anm. 7), 101–118, hier 117. 11 Vgl. Richard Saage: Zur Differenz und Konvergenz von Utopie und Apokalypse. Von Gustav

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der nationalsozialistischen Apokalyptik bietet Jürgen Brokoff mit seiner Analyse von Texten der Weimarer Republik einen wichtigen Ansatz: Diese übertragen seiner Meinung nach die Vernichtung der immanenten Welt als Triumph der Transzendenz in den Bereich des Politischen und ersetzen auf diese Weise Gott durch eine andere Transzendenz. Das Prinzip der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz bliebe dabei entgegen der Säkularisierungsthese, die von einer Verweltlichung und Immanentisierung ausginge, erhalten.12 Dieser moderne apokalyptische Diskurs sei dementsprechend nicht als Säkularisierung der Transzendenz zu verstehen, sondern als inhaltliche Neubesetzung, wobei durch die Überlegenheit der Transzendenz über die Immanenz das Deutungsmonopol über die Zukunft sowie der unbeschränkte Geltungsanspruch bestehen bleibe. »Säkularisierung und politisch-religiöse Transzendentisierung sind demnach nur zwei verschiedene Sichtweisen derselben Ersetzung der Transzendenz.«13 Die nationalsozialistische Apokalypse verspricht Heil und Erlösung in einem kommenden Reich. Als dieses wird jedoch nicht das transzendente Reich Gottes prognostiziert, sondern ein irdisches. »[D]as Dritte Reich wurde von den Nazis nicht als das Ende der Welt angesehen.«14 Nicht Gott greift hier in die Geschichte ein und wird zum Vollstrecker des Weltgerichts, sondern das »Erlösungswerk [wird] der Gemeinschaftsperson der innerweltlichen Ekklesia selbst aufgetragen«.15 Das tausendjährige Reich, das Teil des »Dritten Reiches« ist, wird dabei ebenso wenig als von Jesus Christus regiert vorgestellt, wie dieser als Messias fungiert. In vielen nationalsozialistischen Interpretationen wird diese Funktion Hitler zugesprochen. Bekannt wurde der Begriff des »Dritten Reichs« in Bezug auf den Nationalsozialismus durch Arthur Moeller van den Bruck mit seinem 1922 publizierten Werk Das dritte Reich.16 In Anlehnung an Joachim di Fiores historisierende Interpretation des tausendjährigen Reichs aus dem 20. Kapitel der Johannesoffenbarung deutet Moeller van den Bruck die drei Reiche als das

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Landauer zu Franz Werfel und Oskar Maria Graf. In: Sorg u. Würffel: Utopie und Apokalypse (Anm. 7), 17–32, hier 17f. Vgl. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 1), 10f. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 1), 76. Mosse: Tod, Zeit und Geschichte (Anm. 2), 68. Klaus Vondung: Die Apokalypse des Nationalsozialismus. In: Michael Ley u. Julius H. Schoeps (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion. Bodenheim 1997, 33–52, hier 40. Der Begriff »Drittes Reich«, der bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungebräuchlich war, war keineswegs nur von den Nationalsozialisten besetzt. Vgl. zum Verständnis vom »Dritten Reich« im Nationalsozialismus: Claus-Ekkehard Bärsch: Sinn und innerweltliche Eschata: Mystik, Apokalyptik und Politik. In: Ulrich van Loyen u. Michael Neumann (Hg.): »Unveralteter Sinn«. Figuren des Rückzugs. Berlin/Wien 2004, 55–108, hier 76ff., sowie ders.: Politische Religion des Nationalsozialismus (Anm. 3), 47ff. u. 330ff.

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Heilige Römische Reich deutscher Nation, das Reich Bismarcks und schließlich eines, in dem eine Verbindung von Nationalismus und Sozialismus herrscht.17 Dass der Nationalsozialismus keineswegs als kohärente Ideologie angesehen werden kann und auch innerhalb der Riege führender NS-Ideologen, zu denen z. B. Alfred Rosenberg, Adolf Hitler und Joseph Goebbels zu zählen sind, höchst unterschiedliche Weltanschauungen und -interpretationen herrschten, wird hier vorausgesetzt.18 Bestimmte Konstanten der Übertragung religiöser und spezifisch apokalyptischer Schemata auf das historische, gesellschaftliche und politische Geschehen lassen sich jedoch in den zentralen Schriften und Reden feststellen.19 Vor allem »in der Struktur des Deutungsmusters, in den einzelnen Deutungselementen und in verschiedenen, aber signifikanten Bildern und Symbolen«20 sind Adaptionen der ursprünglich religiösen durch die nationalsozialistische Apokalyptik festzustellen: die Deutung der Gegenwart als Krisensituation und verdorbene Welt; die daraus resultierende Annahme des notwendigen Untergangs und der Vernichtung des Feindes für die Erlösung; Krieg und Kampf; das heilsteleologische Geschichtskonzept sowie die Auserwähltheit und Gemeinschaft der treuen Gläubigen; die Existenz einer Erlöserfigur, die zugleich die Führung übernimmt; das in Aussicht gestellte, vollkommene irdische Reich, das »Dritte« oder »tausendjährige Reich«; der strikte Dualismus zwischen alter und neuer Welt, Auserwählten und Feinden; Bilder von Schmutz versus Reinheit, Finsternis versus Licht, Krankheit versus Gesundheit sowie Flut und Feuer als Symbole für den Untergang, aber auch den Neuanfang. Dabei werden in dem apokalyptischen Weltbild der Nationalsozialisten Juden als Verkörperung des Bösen angesehen. Häufig auch im Kollektivsingular als »der Jude« bezeichnet, erscheinen sie als endzeitlicher Feind, gegen den ein finaler Kampf nötig ist; siegten sie, so wäre die ganze Welt dem Untergang geweiht. In diesem apokalyptisch argumentierenden Antisemitismus folgt aus dem strikten Dualismus von Juden und »Ariern« die als unumgänglich angesehene Ver-

17 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. Hamburg 31931, hier v. a. das Kapitel: Das dritte Reich, 229–245. 18 Vgl. Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? (Anm. 3), 57. 19 Vgl. z. B. Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. Paderborn u. a. 1998; Saul Friedländer : Das Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. München 1998, 101ff.; Bärsch: Politische Religion des Nationalsozialismus (Anm. 3). – Immer im Blick zu behalten bei dieser Betrachtung ist die Trennung von apokalyptischer Weltanschauung und realem Handeln der Nationalsozialisten, gipfelnd im Genozid an der jüdischen Bevölkerung. Vgl. hierzu Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 1), 157, der im Rahmen seiner Analyse von Hitlers apokalyptischer Weltanschauung auf die »Standortgebundenheit« verweist: »Aus der Perspektive des geistig Kämpfenden – und nur von hier aus gesehen – handelt es sich bei der physischen Vernichtung der ›Juden‹ um eine apokalyptische Tat.« 20 Neumaier : Apokalyptik als Redeform (Anm. 2), 72.

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nichtung »des Juden«, ohne die die Deutschen und die Welt keine Erlösung finden könnten.21

3.

Der literarische Ruf nach Umsturz: Goebbels’ Roman Michael

Der Roman Michael ist das einzige literarische Erzeugnis des promovierten Germanisten Joseph Goebbels, das veröffentlicht wurde. Die erste Fassung des Romans, der in Tagebuchform anderthalb Jahre im Leben des Protagonisten Michael nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod schildert, entstand vor den nationalsozialistischen Kontakten von Goebbels, die endgültige erschien 192822 im Verlag der NSDAP, dem Eher-Verlag. Im November 1930 war Michael als Fortsetzungsroman in der von Goebbels bis 1933 herausgegebenen NSZeitung Der Angriff zu lesen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war Goebbels schon zu einer Größe innerhalb der NSDAP aufgestiegen.23 Seine vorherigen Versuche, den Roman bei anderen Verlagen zu platzieren, waren fehlgeschlagen und insgesamt ist Michael, besonders im Vergleich mit anderen Werken, die vor 1933 erschienen und unter der NS-Herrschaft zu Bestsellern wurden, als mäßig erfolgreiches Buch zu beschreiben.24 Figuren und Handlung des heute vorliegenden Tagebuchromans entsprechen der Fassung von 1923, die den Titel Michael Voormann trägt, es ist jedoch eine ideologische Radikalisierung festzustellen, wie Kai Michel detailliert herausgearbeitet hat.25 So ist der publizierte Roman deutlich nationalistischer, wie die

21 Vgl. zu der Interpretation »des Juden« als Antichrist durch die Nationalsozialisten z. B.: Bärsch: Sinn und innerweltliche Eschata (Anm. 16), 85ff. 22 In der Forschungsliteratur wird häufig das im Roman vermerkte Veröffentlichungsjahr 1929 angegeben, richtig ist jedoch 1928. Vgl. Kai Michel: Vom Poeten zum Demagogen. Die schriftstellerischen Versuche Joseph Goebbels’. Köln u. a. 1999, 7. 23 Vgl. Ralf Georg Czapla: Die Entfesselung des Prometheus. Erlösungssehnsüchte und Geschichtseschatologie in Gedichtentwürfen des jungen Joseph Goebbels. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 29 (2004), H. 1, 55–83, hier 66. 24 In der einschlägigen Untersuchung von Schneider : Bestseller im Dritten Reich (Anm. 5), in der die Zahl von 300.000 Exemplaren als Maßgabe für die Definition als Bestseller gewählt wird, ist Michael nicht aufgeführt. Bis 1942 sind 17 Auflagen des Romans zu verzeichnen; mit der zwölften Auflage wurden 56.000 Exemplare verkauft. Die tatsächliche Rezeption des Buches lässt sich schwer beurteilen, bezüglich der Auflagenzahlen existieren zudem Thesen über eine künstliche Anhebung. Vgl. Czapla: Entfesselung des Prometheus (Anm. 23), 67, sowie Jan Andres: Die Konservative Revolution in der Weimarer Republik und Joseph Goebbels’ Michael-Roman (1929). In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 11 (2007), 141–165, hier 147. 25 Vgl. Michel: Vom Poeten zum Demagogen (Anm. 22), 128, passim. Zu den Veränderungen von der frühen zur publizierten Fassung vgl. auch Ulrich Nill: Die »geniale Vereinfachung«.

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Veränderung des Untertitels von Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern zu Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern anzeigt. Auch ist die zuvor diffuse Führerhoffnung konkretisiert und das dargestellte Bild von Russen und Juden deutlich negativer.26 Zahlreiche Zitate und Anleihen aus der deutschen und europäischen Literatur, nicht zuletzt der Bibel, aber auch den eigenen Schriften Goebbels’, prägen den Roman.27 Die Sprache ahmt durch Reihungsstil, parataktische Sätze und zahlreiche Ausrufezeichen den expressionistischen Stil nach, wodurch die Form den als revolutionär dargestellten Inhalt widerzuspiegeln scheint. Besonders in ihren Naturbeschreibungen und Liebessequenzen ist die Sprache zugleich aber auch sehr idyllisierend. Zudem weist Michael in der wiederholten Aufrufung der deutschen heimatlichen »Scholle« (vgl. z. B. 13, 113, 123) und mit seinem archaisierenden Ton Affinitäten zur Blut-und-Boden-Literatur auf.28 Inhaltlicher Dreh- und Angelpunkt des Romans ist die Annahme einer notwendigen Revolution zur Schaffung des »nationalen Sozialismus«. Hiermit verknüpft ist ein eschatologisches Motto, das im Vorspruch formuliert wird:29 »Zersetzung und Auflösung bedeuten nicht Untergang, sondern Aufgang und Anbruch. Hinter dem Lärm des Tages wirken in der Stille die starken Kräfte einer neuen Schöpfung.« (7)

3.1

Kultur und Gesellschaft: Revolution und Modernität

Michael ist dominiert von moralisierenden Wertungen, die oftmals antithetisch aufgebaut sind. Diese betreffen vor allem die Künste und den akademischen Bereich, die christliche Religion, die Bevölkerungsschichten Bürgertum und Arbeiterschaft sowie die Abgrenzung der Deutschen von Russen und Juden. Generell bewertet Michael die gegenwärtige Situation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Soldat diente, kritisch und konstatiert eine »zerfallende Zivilisation« (86): Es existiere kein Gefühl mehr für Ehre und Pflicht (vgl. 21), das deutsche Volk sei ein »armes, irrendes, verlorenes Volk« (108) und die junge Generation eine »hungernde, darbende, frierende Jugend« (149). Auch

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Anti-Intellektualismus in Ideologie und Sprachgebrauch bei Joseph Goebbels. Frankfurt a. M. u. a. 1991, 156ff. Vgl. Gerhart Mayer: Der Held im Dienst einer nationalistischen Ideologie: Joseph Goebbels’ Roman Michael. In: Joachim Schwend u. a. (Hg.): Literatur im Kontext – Literature in Context. Festschrift für Horst W. Drescher. Frankfurt a. M. u. a. 1992, 391–400, hier 392f. Augenscheinlich stellt sich Goebbels mit der Form seines Romans und dem Leidensweg seines Protagonisten in die Tradition von Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Vgl. hierzu z. B. Kurz: Braune Apokalypse (Anm. 1), 141. Vgl. Nill: Die »geniale Vereinfachung« (Anm. 25), 162ff. Vgl. Andres: Konservative Revolution (Anm. 24), 152.

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das politische System der Weimarer Republik wird negativ beurteilt: Ohne dass die heimkehrenden Soldaten sich mit hätten einbringen können, »hatten die Schieber schon aus den Scherben des alten Reiches ein neues Zwitterding zusammengeleimt« (37). Die »heutigen Führer« (106) seien ebenso wie die demokratischen Parteien nicht ernst zu nehmen (vgl. 111). Viele der im Roman vermittelten Standpunkte und Werte lassen sich als negativierend beschreiben: antiintellektuell (vgl. 14, 36), antibürgerlich (vgl. 64), antisemitisch (vgl. 57f.), antikonfessionell (vgl. 145), antidemokratisch (vgl. 25), antiinternationalistisch (vgl. 35), antimarxistisch (vgl. 15) und antimodernistisch. Dabei werden diese Ansichten jedoch textintern umgedeutet. Eine »Modernität« im Sinne von Modeerscheinungen, aufgeklärten Werten oder einem emanzipierten Frauenbild wird beispielsweise verworfen und demgegenüber derjenige als modern definiert, der »ewige Inhalte in wechselnde neue Formen füllt« (42). So präsentiert sich »Antimodernität im revolutionären Gewand«.30 Michael befindet sich selbst als Revolutionär der jungen Generation (vgl. 64f.). So sei »unser Jahrhundert […] in seiner inneren Struktur durchaus expressionistisch. Das hat mit dem Modeschlagwort nichts zu tun. Der Expressionist baut sich eine neue Welt. […] Expressionistisches Weltgefühl ist explosiv.« (77) Diese Auffassungen von »modern« und »revolutionär« paaren sich in Michael mit einem bestimmten religiösen Verständnis:31 »Der moderne Mensch ist notwendigerweise ein Gottsucher, vielleicht ein Christusmensch.« (81) Das zentrale Prinzip, das hiermit verbunden wird, ist das Opfertum, und so erfolgt etwa in der Mitte des Romans die Erkenntnis: Das Leben ist ein Opfer für den Nächsten: Und mein Nächster ist der gleichen Blutes. […] Zum modernen Deutschen gehört nicht so sehr Klugheit und Geist, als das neue Prinzip, das bedenkenlose Aufgehen, sich Opfern, die Hingabe zum Volk. […] [W]ir modernen Deutschen sind so etwas wie Christussozialisten. (81f.)

Im Verlauf des Romans sieht sich Michael immer mehr in der Rolle des revolutionären Propheten, der den nahenden und unumgänglichen Umsturz der Verhältnisse erkennt, und zudem als Vertreter der jungen Generation mit umsetzen wird. So ist er in langen Passagen gepeinigt von einer zunächst unbestimmten Suche, einer Sehnsucht nach Erfüllung und Erlösung, die er schließlich im Nationalsozialismus und der körperlichen Arbeit findet. Der Erweckungs- und Offenbarungsmoment liegt in der Rede eines nicht benannten, aber als Adolf Hitler zu identifizierenden Mannes, die Michael in München 30 Michel: Vom Poeten zum Demagogen (Anm. 22), 166. 31 Vgl. Walter Delabar : Goebbels’ Moderne. Versuch über die Modernität der Literatur des »Dritten Reiches« und ihrer Repräsentanten. In: Erhard Schütz u. Gregor Streim (Hg.): Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945. Bern u. a. 2002, 173–191, hier 185.

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erlebt. Von hier an versteht er sich eindeutig als politischer Revolutionär für das kommende deutsche Reich.

3.2

Politik: Aufbruch zur national-sozialistischen Gemeinschaft

Die politische Konzeption, die in Michael entworfen wird, illustriert die Verbindung eines bestimmen Verständnisses von Sozialismus mit einem radikalen Nationalismus. Dieses Ideal vom »nationalen Sozialismus« ist mit einem Opferund Erlösungsgedanken verbunden, der aus der christlichen Tradition stammt und das konservative Programm, das als modern und revolutionär vermittelt wird, sakralisiert.32 Der »neue Sozialismus« fokussiert sich wie der »klassische« vorrangig auf den Arbeiter ; das Bürgertum wird negativ mit Geld und Kapitalismus assoziiert und dem Vorurteil ausgesetzt, es verfolge keine Ziele, wodurch es zugrunde gehe (vgl. 118).33 Die Arbeiterschaft hingegen habe die »Weltmission« (ebd.), das deutsche Volk zu befreien. Die vorliegende Konzeption von Sozialismus rückt den Opfergedanken für die Gemeinschaft in den Mittelpunkt und er entstehe somit, wenn »Opferwillige« (133) vom linken und rechten politischen Ufer für das neue Reich zusammenfänden: »Sozialist sein: das heißt, das Ich dem Du unterordnen, die Persönlichkeit der Gesamtheit zum Opfer bringen. Sozialismus ist im tiefsten Sinne Dienst. Verzicht für den Einzelnen und Forderung für das Ganze.« (25, vgl. 41) Schließlich verdiene der »klassische Sozialismus« nicht länger die Bezeichnung, da er sich mit dem Geld verbrüdere und einem schädigenden Pazifismus folge (vgl. 109f.). Krieg, der als »reales« Ereignis immer wieder durch Erinnerungen Michaels an den Ersten Weltkrieg in den Text einfließt (vgl. z. B. 9f.), wird als unabdingbare Komponente des Politischen und des Lebens im Allgemeinen verstanden. So sei »[u]nsere ganze deutsche Geschichte […] nichts anderes als eine fortlaufende Kette des Kampfes der deutschen Seele gegen ihre Widersacher.« (113) Krieg und Kampf werden hier als natürliches Prinzip verstanden, was an sozialdarwinistische Theoreme erinnert: Der Krieg ist die einfachste Form der Lebensbejahung. […] Kampf, wenn der Mensch diese Erde betritt. Kampf, wenn er sie verläßt, und dazwischen ein ewiger Kampf um den Platz an der Futterkrippe. […] Die Natur selbst ist antidemokratisch. Im ganzen Universum macht sie nicht zwei Lebewesen einander gleich. (24f.)

32 Vgl. Michel: Vom Poeten zum Demagogen (Anm. 22), 143–147. 33 Michaels Beziehung zu Hertha Volk scheitert, da er sie als noch zu sehr im Bürgerlichen verankert beurteilt und dies nicht mit seinem revolutionären Drang vereinbaren kann (64, 150).

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Als Anfang der erstrebten Revolution erkennt Michael den Ersten Weltkrieg. Mit dem Anklang der »Dolchstoßlegende« wird jedoch davon ausgegangen, dass das revolutionäre Potenzial »verfälscht, umgebogen, degradiert« (37) wurde. Nicht den verlorenen Krieg betrauert Michael, sondern die »verfälschte Revolution«. In der jungen Generation »brodle« es jedoch, und nach etwas Zeit werde aus dem Gedanken die Tat (vgl. 36). Die noch ausbleibende Wehrhaftigkeit gegen die Unterdrückung des deutschen »Herrenvolk[s] der Welt« (91) resultiert Michael zufolge aus der Trennung der oberen und unteren Bevölkerungsschichten. Seien diese vereint, »dann gehört uns die Erde. Aber das erreichen wir nie durch Reden und Resolutionen. Da muß ein heiliger Gewittersturm hineinfegen. Wir müssen von vorne anfangen.« (ebd.) Anvisiertes Ziel des neue[n] Nationalismus [ist] Deutschlands Zukunft, nicht die Restaurierung einer einmal zerbrochenen Vergangenheit. Was heißt das, Nationalismus: wir stehen zu Deutschland, weil wir Deutsche sind, weil Deutschland unser Vaterland, die deutsche Seele unsere Seele ist, weil wir alle Stück der Seele Deutschlands sind. (113)

Der im Text konzipierten national-sozialistischen Revolution liegt also eine apokalyptische Figur zugrunde: Die Zerstörung der jetzigen, verkommenen Welt ist notwendig, um in einem zukünftigen Reich Erlösung erlangen zu können. Auf die entsprechenden Verhältnisse bezogen, bedeutet dies den nötigen Untergang der Weimarer Republik und deren negativ assoziierter Implikationen wie Liberalismus, Kapitalismus und Bürgertum zugunsten des kommenden »vaterländischen« Reiches des nationalen Sozialismus. Dieses apokalyptische Strukturmerkmal von Untergang und Neuanfang durchzieht den gesamten Text, wie die zitierten Textpassagen exemplarisch zeigen. Sakralisiert wird die revolutionäre Figur zudem durch die Benennung als Schöpfung, wie im Vorspruch (7f.) und der im Folgenden zitierten Textpassage von Seite 36 deutlich wird. Die vielfache Verwendung von »neu« bestimmt die Vorstellung der zukünftigen »kollektivistischen Sozialverfassung«34 und ihrer Vorbedingungen: »Revolutionen schaffen erst neue Menschen, dann neue Zeiten. […] Zerstört muß werden, wenn neu geschaffen werden soll.« (37) Das Programm vom »neuen deutschen Menschen« (vgl. 113) ist somit nicht vorwiegend ein biologisch-rassisches, sondern ein gesellschaftlich-politisches; die zentrale Kategorie ist der deutsch-nationale Sozialismus der zukünftigen »Volksgemeinschaft«, in die sich der deutsche Mensch einzugliedern habe.35 Zur Bildung der Gemeinschaft der Deutschen sei die Revolution durch einige wenige notwendig. Denn Revolutionen, so ist sich Michael sicher 34 Frank-Lothar Kroll: Endzeit, Apokalypse, Neuer Mensch – Utopische Potentiale im Nationalsozialismus und im Bolschewismus. In: Uwe Backes (Hg.): Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart. Köln 2002, 139–158, hier 149. 35 Vgl. hierzu Kroll: Endzeit, Apokalypse, Neuer Mensch (Anm. 34), 149.

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– und das, was wir heute erleben ist eine großangelegte kulturelle Revolution – werden immer von Einzelnen gemacht. Die Massen werden mitgerissen. Revolution ist ein schöpferischer Akt. Sie überwindet die letzten Rudimente zusammenbrechender Epochen und räumt der Zukunft die Wege frei. (36)

In radikaler Ablehnung des Liberalismus, den die Volkssouveränität auszeichne, sieht Michael als anzustrebendes politisches System und Gesellschaftsprinzip die »Aristokratie der Leistung« (137, vgl. 114), eine Diktatur weniger (vgl. 115). Der »beste Mann« in diesem »Persönlichkeitsprinzip« (114) habe seine – in Michael im organischen Wortsinn verwendet – Wurzeln im Volk: »Keine Eiche wächst ohne Boden, Wurzel und Kraft. […] Das Volk ist sein [des Mannes] Boden, die Geschichte seine Wurzel, das Blut seine Kraft. […] Die Rasse ist der Nährboden aller schöpferischen Kräfte.« (ebd.) Mit dieser rassischen Definition von Volk, die ihre Bilder aus dem Biologischen schöpft, wird die Vorstellung der Abgeschlossenheit der deutschen Gemeinschaft deutlich. Eine ontologische Bestimmung der Deutschen findet zudem durch die Annahme einer »deutschen Seele« (113) statt. Auch im Prozess der Revolution richtet Michael die Hoffnung auf eine Führerfigur, wie in einem Dialog mit Hertha Volk deutlich wird: »Ich fühle lang schon diese notwendige Pflicht, aber ich finde noch nicht das erlösende Wort. Mir ist es, als wäre ein anderer, ein Größerer bereits in der Reife; der wird eines Tages aufstehen unter uns und den Glauben an das Leben des Vaterlandes predigen. […] Einer wird kommen! Hätte ich diesen Glauben nicht mehr, ich wüßte nicht, warum ich weiter leben sollte.« (41)36

Diese messianische Erwartung des »Einen« wird schließlich in München erfüllt.

3.3

Religion: Opfer und Erlösung

Während seiner Zeit in München landet Michael schicksalsgelenkt, so scheint es, in einem Saal, in dem eine Versammlung der Rede eines Mannes lauscht. Immer mehr ist Michael hiervon, wie die andere Anwesenden auch, gefesselt. Die Rede, deren Inhalt der Leser nicht erfährt, löst körperliche Reaktionen aus, die Menschen halten nicht mehr an sich, sie jubeln und weinen und verstehen sich plötzlich als »Kameraden«, die ein gemeinsames Ziel verfolgen (vgl. 101f.).37 Der Redner, um den ein Licht zu leuchten scheint (vgl. 101) und aus dessen Augen dem apokalyptischen Bildrepertoire entstammende »Flammenstrahlen« (102) 36 Vgl. zur Erwartung des »einen Mannes« im Roman auch Seite 60. 37 Gerhard Kurz betont in diesem Kontext den performativen Charakter der Rede, der die nationalsozialistische mit der apokalyptischen Redeweise verbindet: Vgl. ders.: Braune Apokalypse (Anm. 1), 144.

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schießen, wird von Michael als Prophet erkannt (vgl. 102): »Was in mir seit Jahren lebte, hier wird es Gestalt und nimmt greifbare Formen an.« Das Erlebnis ist »Offenbarung! Offenbarung!« und »Wie das jüngste Gericht donnert Wort um Wort und Satz um Satz.« (ebd.) Mit dieser deutlichen Anlehnung an die Johannesoffenbarung wird die zunächst subjektive Sehnsucht Michaels nach dem nationalen Sozialismus zur transzendenten Erkenntnis erhoben. Die Offenbarung bezieht sich hier jedoch nicht auf Jesus, sondern, wie in der erneuten Begegnung mit dem Redner deutlich wird, auf den »Segen der Arbeit! Das, was ich fühlte, litt und trug, hier faßt einer es in Worte. Mein Glaubensbekenntnis! […] Die Arbeit ist Erlöserin! Nicht das Geld, Arbeit und Kampf machen uns frei, Dich und mich, uns alle und wir alle das Vaterland.« (149) Der als Hitler zu identifizierende Mann scheint mehr zu sein als »nur« ein Prophet, er ist der erwartete Messias, auf den sich Michaels seinsbestimmende Hoffnungen richteten.38 Als er zu Beginn des Romans nur eine Ahnung des kommenden Erlösers hat, der »den Glauben an das Leben des Vaterlandes predigen [wird]« (41), äußert Michael dies mit religiösem Vokabular. Bei der zweiten Begegnung scharen sich schon »tausend Menschen« um diesen und bilden eine »gläubige[ ] Gemeinde« (149). Anders als der christliche Messias, Jesus, bringt der sakralisierte Redner jedoch nicht direkt das Heil, sondern die Deutschen müssen ihren Part in der national-sozialistischen Revolution übernehmen, um das kommende Reich zu errichten. Wie in der Johannesoffenbarung werden in dieser Szene, jedoch aktivistisch gewendet, die Gläubigen als die Auserwählten des Jüngsten Gerichts verstanden: »Minderheiten siegen nur, wenn sie besser sind als die Mehrheit.« (149) Die Stilisierung Hitlers als Messias ist dabei keine Verneinung des im Text präsenten christlichen Glaubens, sondern dieser, und insbesondere der Glaube an Jesus, werden in das Konzept des nationalen Sozialismus integriert, wodurch dieses sakralisiert wird. Ein transzendenter Glaubensbezug bleibt somit bestehen, wird aber parallel gesetzt mit einer sakralisierten, innerweltlich-profanen Gläubigkeit. Der hier vertretene Glaube ist klar antikonfessionell. Während in den Anfängen des Romans noch die Anklänge eines traditionellen christlichen Glaubens Michaels deutlich werden – er hält Zwiesprache mit Gott (vgl. 11, 31), erkennt die Schönheit Gottes in der Natur (vgl. 10) und meint, der auferlegten Bestimmung durch Gott nachkommen zu müssen (vgl. 14) –, wird rasch eine religiöse Auffassung etabliert, die als deutschnationaler Christusglaube beschrieben werden kann. Dieser enthält zum einen eine »die eigene Omnipotenz

38 Gerhart Mayer weist darauf hin, dass die Beschreibung der ersten Begegnung mit Hitler in Goebbels’ Tagebuch und das Erlebnis im Roman fast wortgleich geschildert werden. Vgl. ders.: Der Held im Dienst einer nationalistischen Ideologie (Anm. 26), 392.

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betreffende Auffassung von Gott«39 (vgl. 116, 127), der zufolge Gott Teil des deutschen Menschen ist (vgl. 26) und dieser dadurch Gott ähnlich (vgl. 127). Zum anderen wird die währende Suche nach Gott zum Charakteristikum des »wahren Deutschen« erhoben (vgl. 32, 81f.). Der hier präsentierte »Gott der Stärke« (ebd.) »hilft dem Tapferen und schlägt den Feigen« (43), wie auch Jesus »hart und unerbittlich« (50) sei. Im Sinne dieses eigenwilligen und auf die politisch-gesellschaftliche Konzeption zugeschnittenen Religionsverständnisses ist Michael überzeugt: »Das Christentum ist keine Religion für viele […]. Von wenigen gepflegt und in die Tat umgesetzt, ist es eine der köstlichsten Blüten, die eine Kulturseele je getrieben hat.« (33) Eine Kulturseele kann »selbstverständlich« nur Deutsche auszeichnen. Michaels Auseinandersetzung mit der Religion und insbesondere mit Jesus erstreckt sich auch auf seine schriftstellerische Tätigkeit: Er schreibt ein Christusdrama (vgl. 51f.). In diesem »Text im Text« wird der nationale Christusglaube deutlich. Im und durch den Glauben an Jesus erhalte der deutsche Mensch die Kraft, Tote zu erwecken und ein Heer für die Volksgemeinschaft zu bilden: »›Wir sind vereint im Glauben, / Im starken Willen / Nach junger Form und Fülle der Verheißung / Und werden so das neue Reich gestalten.‹« (97) Hier ist die Vorstellung der Auferstehung der Toten für den »deutschen Kampf« ersichtlich. Michaels Leidensweg, der den des deutschen Volkes im Roman widerspiegelt, seine Suche nach Erlösung und das eingeforderte Opfertum spielen zudem eindeutig auf den Sühnetod Jesu als Opfer für die Menschheit an: »Die Idee des Opfers gewann zum erstenmal in Christus sichtbare Gestalt. Das Opfer gehört zum Wesen des Sozialismus.« (82) Die »modernen deutschen Menschen« benennt Michael dementsprechend, wie bereits zitiert, als »Christussozialisten« (81). Dem Tod des Einzelnen wird durch die Hingabe an das Kollektiv Sinn zugesprochen.40 Michael selbst geht diesen Weg für die Gemeinschaft, so stellt es der Text dar, indem er Bergarbeiter wird: »Arbeiten will ich. Ein Beispiel geben. Mich selbst erlösen; einen Weg für die anderen brechen. Durch Opfer zur Erlösung!« (122)41 Zuvor reifen in ihm apokalyptisch-visionäre, diffuse Vorstellungen und Ideen des kommenden Reiches und es quält ihn die Sehnsucht nach 39 Claus-Ekkehard Bärsch: Goebbels und die Apokalypse. In: Die Zeit, Nr. 36, 02. 09. 1988. Online unter : www.zeit.de/1988/36/goebbels-und-die-apokalypse, 2 (27. 07. 2014). 40 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Der junge Goebbels. Erlösung und Vernichtung. München 2004, 90. Vgl. zu diesem Aspekt in der NS-Literatur, den Tod als wesentlichen Bestandteil der Hingabe an das Volk darzustellen und somit dem Tod der »Gefallenen für die Nation« Sinn zuzusprechen: Mosse: Tod, Zeit und Geschichte (Anm. 2), 55f. 41 Kritisch gewendet formuliert dies Gerhart Mayer: »Seine [Michaels] einzige konkrete Tat besteht freilich nur darin, daß er sich mit Bergarbeitern solidarisiert, indem er ihren harten Alltag teilt.« Mayer : Der Held im Dienst einer nationalistischen Ideologie (Anm. 26), 395. – Goebbels widmet den Roman seinem Freund Richard Flisges, der 1923 in einem Bergwerk während seiner Arbeit starb. Vgl. zu den autobiographischen Zügen des Romans: ebd., 393f.

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Erfüllung (vgl. 51). Nachdem ihm die Bibel (vgl. 93) und der Geist keine Erlösung von den Qualen brachten, tut dies die Arbeit (vgl. auch 147): Der Krieg weckte mich aus tiefem Schlaf. Er brachte mich zur Bewußtheit. Der Geist quälte mich und trieb mich zur Katastrophe; er zeigte mir Tiefe und Höhe. Die Arbeit erlöste mich. Sie machte mich stolz und frei. Und nun habe ich mich aus diesen dreien neu geformt. Den bewußten, stolzen und freien deutschen Menschen, der die Zukunft gewinnen will! (153)

Wie er es als Ideal für die junge Generation forderte, meistert Michael schließlich den Übergang vom Gedanken zur Tat und meint dadurch, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Man muss das eigene Leben überwinden und sich dienstbar machen, so lehrt es Michael (vgl. 88): »Michael versteht sich kurz vor seinem Tod als Märtyrer, als prophetischer Vorkämpfer für das neue Reich«.42 Das apokalyptische Strukturmerkmal, das das Revolutionskonzept prägt, spiegelt sich in seinem Werdegang wider : Erweckung, Katastrophe und Neuschaffung. Diese Figur von Zerstörung und Neubeginn wird schon zu Beginn durch das Symbol des Phönix als Selbstcharakterisierung Michaels deutlich (vgl. 9). Am Ende sieht er, der vormalige Student, sich mit den anderen Bergarbeitern in einer Schicksalsgemeinschaft, die den Typus des neuen deutschen Menschen bilden können (vgl. 146). Als notwendige Voraussetzung für die Erlösung der Volksgemeinschaft wird die eigene Erlösung in Form der Opferung dargestellt, wie es Michaels »vermeintliche[r] Opfertod«43 vorführt. Das Tagebuch endet mit dem Ausruf »Wir alle müssen Opfer bringen!« Der Epilog ist ein Brief eines Arbeitskollegen, der Hertha Volk, Michaels frühere Freundin, über seinen Tod im Bergwerk benachrichtigt.

3.4

Michael: Kampf gegen Satan

Michael ist der Erzengel, der in der Johannesoffenbarung im Himmel gegen den Drachen, den Satan, kämpft und ihn besiegt, sodass dieser mit seinen Engeln auf die Erde fällt (vgl. Offb 12, 7). Mit der Benennung seines Protagonisten Michael, so kann gemutmaßt werden, stellt ihn Goebbels in diese apokalyptische Tradition. Ab dem frühen Mittelalter galt Michael als Schutzpatron der Deutschen.44 Zudem deutet der Name Michael auf den deutschen Michel hin, die nationale Personifikation der Deutschen. Diese beiden Seiten, der nationale Charakter 42 Mayer: Der Held im Dienst einer nationalistischen Ideologie (Anm. 26), 396. 43 Mayer: Der Held im Dienst einer nationalistischen Ideologie (Anm. 26), 398. Vgl. auch Bärsch: Goebbels und die Apokalypse (Anm. 39), 2, sowie Kurz: Braune Apokalypse (Anm. 1), 142f. 44 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse (Anm. 1), 140.

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sowie die Erwehrung und der Kampf für das Deutsche gegen den »Satan«, sind im Roman inhaltlich ausgeführt. Als Gegenspieler der Deutschen werden Russen und Juden dargestellt. Der Roman ist antisemitisch. Die zentrale diesbezügliche Stelle, die eher wie ein Pamphlet denn ein Tagebucheintrag anmutet, soll aufgrund ihrer Relevanz ausführlich zitiert sein: Keinen Juden sah ich bis heute. Das ist ein wahres Labsal. Der Jude ist für mich direkt ein körperlicher Ekel. Ich bekomme Übelkeitsanfälle bei seinem Anblick. Der Jude ist uns im Wesen entgegengesetzt. […] Er hat unser Volk geschändet, unsere Ideale besudelt, die Kraft der Nation gelähmt, die Sitten angefault und die Moral verdorben. Er ist das Eitergeschwür am Körper unseres kranken Volkes. Religion? Naiv wie Ihr seid. Was hat das mit Religion oder gar mit Christentum zu tun? […] Der Jude ist nicht schöpferisch: Er ist im Wesen händlerisch veranlagt. […] Das Volk will, sagt der Jude. In Wirklichkeit will er. Er versteckt sich hinter dem Volk unter der Maske der Massenfreundlichkeit, um seine Ziele um so rücksichtsloser verfechten zu können. […] Wer den Teufel nicht hassen kann, der kann auch Gott nicht lieben. Wer sein Volk liebt, der muß die Vernichter seines Volkes hassen, aus tiefster Seele hassen. […] Christus kann gar kein Jude gewesen sein. Das brauche ich erst gar nicht wissenschaftlich zu beweisen. Das ist so! (57f.)

Eine Vielzahl radikal antisemitischer Stereotype werden in diesem Textabschnitt deutlich. Im grundsätzlichen Kollektivsingular wird »der Jude« »uns Deutschen« diametral gegenübergestellt und »ihm« Religiosität sowie Kulturschaffung abgesprochen, wie dies schon bezüglich der NS-Weltdeutung deutlich wurde. Zum Teufel degradiert, wird »dem Juden« die Schuld an der konstatierten Verdorbenheit des deutschen Volkes zugesprochen (vgl. auch 79) und das Judentum negativ mit Kapitalismus, Liberalismus und Marxismus verknüpft (vgl. auch 82, 138). Die Krankheits- und Schädlingsmetaphorik verstärken den zum Ausdruck gebrachten Judenhass.45 So ist für den deutsch-nationalen Christen auch ohne Nachweis klar, wie es in Anlehnung an Houston Stewart Chamberlain eine weit verbreitete NS-These war, dass Jesus kein Jude gewesen sein kann.46 An anderer Stelle wird Jesus als »der diametralste Gegenpol zum Judentum« (82) beschrieben und abermals mit Schädlingsmetaphern die todbringende Gefahr durch die »Unrasse unter den Rassen der Erde« (ebd.) ausgeführt. Aufgrund dieses Charakters hätten die Juden Jesus mit seiner Ausrufung der Liebe und der Kritik an ihren vernichtenden Absichten ans Kreuz geschlagen. »Der Jude« wird als Antichrist stigmatisiert.47 Die Bestimmung des deutschen Volks geschieht so 45 Vgl. Andres: Konservative Revolution (Anm. 24), 156. 46 Vgl. Bärsch: Sinn und innerweltliche Eschata (Anm. 16), 96. 47 Vgl. Bärsch: Der junge Goebbels (Anm. 40), 97f.

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über den manichäischen Dualismus von christlich-deutsch und antichristlichjüdisch, was als typisches Merkmal der »nationalsozialistischen Apokalyptik« gelten kann. Doch wird nicht eine jüdische Figur als direkter Gegner Michaels dargestellt, sondern ein Russe, über dessen Religion keine Informationen geliefert werden. Im Kontext der Beschäftigung mit der »große[n] Rasseseele« (34) Dostojewski findet Michael durchaus anerkennende Worte über Russland und vermutet: »Wenn Russland erwacht, dann wird die Welt ein nationales Wunder sehen.« (35) Zugleich wird jedoch der Marxismus-Leninismus und Internationalismus Russlands – das »Gemengsel aus jüdischer Rabulistik, feigem Blutterror, grenzenloser Duldungsbereitschaft der breiten Massen« (ebd.) – als verwerfliche Politik degradiert, die eine Antithese zur eigenen angestrebten deutschen Politik bildet. In der Person des russischen Studenten Iwan Wienurowsky, mit dem sich zunächst eine Freundschaft Michaels anzubahnen scheint (vgl. 32), wird im Roman eine Gegenfigur etabliert, die einen revolutionären russisch-nationalen Sozialismus verkörpert (vgl. 75f.). Ein Brief Wienurowskys über dessen Rückreise nach Russland formuliert dieselben Axiome der kommenden Generation, wie sie Michael vertritt, jedoch in Bezug auf Russland: Kampf sei das zentrale Gesetz der Welt, Russland werde die neue Welt errichten, die »›deutsche Jugend, die im Begriff steht, sich selbst zu erlösen‹« (120), sei stark, die Jugend Russlands jedoch stärker. So prognostiziert er einen Kampf zwischen Russen und Deutschen, dem Michael in Erwiderung des Briefes in seinem Tagebuch zustimmt: »Ja, wir werden die Klingen kreuzen, der deutsche und der russische Mensch. Germane und Slawe!« (121) Nach einem Streit der beiden, in dem Michael Wienurowsky ins Gesicht schlägt (vgl. 92f.), kommt es am ersten Arbeitstag Michaels im Bergwerk zum imaginären Kampf zwischen ihm und Wienurowsky, der mit apokalyptischer Feuermetaphorik beschrieben wird (vgl. 126f.). Der als »Du Bestie! Du Teufel! Du Satan!« (129) beschimpfte Wienurowsky wird von Michael besiegt, wodurch dessen Weg und der des »deutschen Menschen« (148) allgemein zur Erlösung frei zu sein scheint. Einige Zeit später erfährt Michael vom Tod Wienurowskys – er ist in Petersburg ermordet worden (vgl. 151f.). Deutlich wird die immanentisierte Anlehnung an die endzeitliche Vorstellung des Kampfes von Erzengel Michael gegen den in der Johannesoffenbarung auch als Drache, Schlange und Teufel bezeichneten Satan. Dies stellt den Beginn der Unterwerfung des Bösen zugunsten des kommenden Reiches des Heils dar. Generell ist die Sprache in Michael geprägt von der Bildmetaphorik des apokalyptischen Untergangs, Feuer und Flut (vgl. z. B. 12, 75, 84, 98).48 So wird beispielsweise ein Kohlengebiet expressionistisch anmutend beschrieben: »Grauer Nebel! Rauch! Lärm! Kreischen! Ächzen! Flammen schlagen auf gegen 48 Vgl. Andres: Konservative Revolution (Anm. 24), 155.

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den Himmel!« (53) und eine Springflut: »Am Strande donnert das jüngste Gericht. […] Die Wellen rasen! Aufschäumen die weiten, weißen Kämme. Das Meer heult, johlt, schreit, pfeift und zischt. […] Erschütterung! Anbetung!« (69) Das Hören von Beethovens letztem Quartett wird ebenfalls mit der zentralen Vokabel der Johannesapokalypse als »Offenbarung des Endes« (90) beschrieben.

4.

Schlussbetrachtung: Transzendente Überhöhung des »nationalen Sozialismus«

Überblickt man die Analyse von Joseph Goebbels’ Roman Michael, so wird deutlich, dass das gesamte politische Programm auf dem Grundgerüst der Apokalypse, und insbesondere der Johannesoffenbarung, erbaut ist und aus dieser Quelle zugleich die Bildsprache bezogen wird. Dass der Text die nationalsozialistische Ideologie transportieren soll, steht außer Frage. Der Antisemitismus, die Inszenierung der deutschen exklusiven Gemeinschaft, die Degradierung des politischen Systems der Weimarer Republik, das Verständnis von Leben und Gesellschaft als Kampf, die Führersehnsucht usw. sprechen eine eindeutige Sprache. Christlich-religiöse Vorstellungen, insbesondere die von Heil, Erlösung und Opfer, sowie die apokalyptischen Strukturelemente werden dabei in den Dienst des politisch-gesellschaftlichen Programms gestellt. Dem sakralisierten Opfergedanken für das Kollektiv kommt dabei besondere Bedeutung zu. So wird der gesellschaftliche Entwurf vom nationalen Sozialismus religiös überhöht: In der Arbeit findet Michael seine Bestimmung und seinen Frieden und stirbt schließlich – so suggeriert es der Text – für die zukünftige deutsche Gemeinschaft. Mit dieser Umdeutung christlicher Bezüge vollzieht sich zudem eine Messianisierung, eine Verklärung des Protagonisten zur Erlöserfigur : Mit seinem Märtyrertod erhält Michael selbst Züge Jesu. Der »moderne Christusglauben«, der sich hier manifestiert, ist als eine Inanspruchnahme religiöser Motive (Jesu Opfer für die Menschheit, seine Rolle als Messias usw.) zu verstehen, die entsprechend der eigenen Ideologie verfremdet werden. Auf mehreren Ebenen wird in diesem literarischen und zugleich politischaktivistischen Aufruf die christliche Apokalypse instrumentalisiert: Der märtyrerhaft für die deutsche Gemeinschaft endende Lebensweg des Protagonisten Michael entspricht der apokalyptischen Struktur ebenso wie der im Text prognostizierte Revolutionsverlauf; Bilder und Metaphorik sind der Johannesoffenbarung entlehnt. Die zentralen Merkmale der Apokalypse werden im Roman mit der NS-Ideologie gekoppelt und dienen der Symbolisierung und Untermauerung der politischen Haltung. In dem Roman wird die »nationalsozialis-

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tische Apokalypse« durchgespielt und das politisch-gesellschaftliche Konzept auf diese Art und Weise religiös überhöht. Durch die visionäre Schau Michaels – er berichtet wie Johannes in der IchPerspektive – und die Referenz auf die Offenbarung wird der im Text vorgestellte Geschichtsverlauf als heilsteleologisch und wahr dargestellt und die politischgesellschaftliche Konzeption erscheint in diesem Licht absoluter Wahrheit. Das Ende der gegenwärtigen Ära, als politisch, kulturell und gesellschaftlich verkommen dargestellt, ist im Text unabdingbar. Doch nicht Gott bestimmt in dieser literarisch fixierten NS-Apokalypse den Verlauf, sondern die Menschen. Durch die häufige Ansprache als »wir« – erstaunlich für Tagebucheinträge – wird ab dem Vorspruch (vgl. 7) eine imaginäre Gemeinschaft der Leser und des Protagonisten geschaffen und diese in das als modern inszenierte Konzept des nationalen Sozialismus integriert. So ist von einer aktivistischen Apokalyptik zu sprechen, die zur nationalsozialistischen Revolution für das zukünftige deutsche Reich aufruft. Aus der christlichen Apokalypse übernommen, und für die nationalsozialistische existenziell, ist die Aufteilung in Dualismen. Stark geprägt von dichotomen Gegenüberstellungen und Kontrastfiguren sind die historisch-politischen Analysen in Michael. So prägen weltliche antithetische Gegenüberstellungen des »Bösen« (Bürgertum, Geld, Juden, der »alte Sozialismus«, Internationalismus, künstlerische Avantgardisten, Marxismus, Liberalismus etc.) und des »Guten« (Arbeit, Deutschtum, Volk, Jugend, Blut, Krieg, nationaler Sozialismus etc.) den Roman.49 Eine Krankheits- und Schädlingsmetaphorik degradiert »den Juden«, der den Deutschen antithetisch gegenüberstellt wird. Der »reale« Kampf Michaels gegen den Russen Iwan Wienurowsky wird darüber hinaus durch die Referenz zur Johannesoffenbarung als apokalyptischer Endkampf gegen den Satan inszeniert. Auf diese Weise wird die notwendige Überwindung der verkommenen Gegenwart als Faktum transzendenter Wahrheit überhöht. Hiermit einher geht, wie im christlichen Vorbild, die Skrupellosigkeit gegenüber dem Feind. Seine Vernichtung ist hier wie dort die Bedingung für das kommende Heil der »Gläubigen«. Das Richten über Tod und Leben, Untergang und Heil im Jüngsten Gericht klingt auch in Michael an. Das Revolutionskonzept ist grundsätzlich von einer Sprache und Struktur des Zusammenbruchs und Neuanfangs geprägt. Nur nach der Zerstörung des Alten kann das Neue entstehen. Diese apokalyptische Figur wiederholt sich in Michaels persönlichem Werdegang, den er selbst als Erweckung, Katastrophe und Neuschaffung beschreibt. Darüber hinaus wird universaleschatologisch davon ausgegangen, dass das Heil der ganzen Welt von Deutschlands Neubeginn abhängt (vgl. 118, 132). 49 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse (Anm. 1), 143.

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Die Offenbarung, die von Johannes im Neuen Testament als Selbstbezeichnung für seinen Text verwendet wird, ist das zentrale Moment des Romans. Erst hiermit, im Erscheinen »des einen Mannes«, der als Hitler zu erkennen ist, lösen sich die Sinnsuche und Qual von Michael auf. Die Erlöserfigur steht, wie die gesamte Konzeption, für eine weltliche Ideologie, die umzusetzen Michael unabdingbar scheint – und sie wird durch die Referenzialität zur Offenbarung des Johannes auf die Ebene transzendenter Unantastbarkeit gehoben. Sie wird, so verspricht es der Text, die »neuen deutschen Menschen« aus der krisenhaften Konstellation zur Rettung führen. Michael ist mit dieser Interpretation der heilbringenden Funktion der Führerfigur nicht allein: Die Gemeinschaft treuer Anhänger, die der Anziehungskraft des Mannes erliegen, lassen sich identifizieren als Äquivalent zu den wahren Gläubigen, die Jesus treu zur Seite stehen – und demnach zum Zeitpunkt des Untergangs der alten Welt und des Jüngsten Gerichts auf der Seite des Lebens stehen, das kommende, hier irdische Reich also betreten werden. Hierfür müssen im Text die »nationalen Sozialisten« im Gegensatz zur biblischen Quelle aktiv werden, sie müssen aufwachen und für ihre Sache kämpfen, um zur Erlösung in der exklusiven Volksgemeinschaft zu gelangen. Die Strukturen und Elemente der christlichen Apokalypse sind in Michael also übernommen und dabei einer inhaltlichen Neubesetzung unterzogen worden. Der Mensch greift hier in das unabdingbare Geschehen ein und die Erlösungsvorstellung ist weltlich. Dies wurde anfangs als Merkmal der nationalsozialistischen Apokalyptik festgestellt. Im Roman wird dabei eine aktivistisch-appellative Adaption der Apokalyptik deutlich. Das transzendente Ziel der Heilsteleologie, das Reich Gottes, ist hier neu besetzt als weltliches Reich des nationalen Sozialismus. Doch kann durch die analysierte religiöse Überhöhung von einer Struktur der Vernichtung der immanenten Welt durch die »politischreligiöse Transzendentisierung«50 im Sinne Jürgen Brokoffs gesprochen werden. Dabei kann die Volksgemeinschaft im kommenden deutschen Reich als »heiliger« Referenzpunkt des politisch-gesellschaftlichen Entwurfs angesehen werden. Die absolute Hingabe an das Volk, das an einigen Stellen auch über das Blut definiert wird, darf laut den zentralen Aussagen des Romans auch vor der Selbstopferung keinen Halt machen – der Begriff »Christussozialisten« (vgl. 81f.) führt die politische und die religiöse Bedeutungsebene zusammen. Hierauf spitzt sich der Verlauf der Geschichte im Roman zu, die deutsche Gemeinschaft ist der ersehnte und erwartete Endpunkt, für den Michael als Märtyrer stirbt. Sie wird durch die religiösen Implikationen der politischen Kon-

50 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik (Anm. 1), 76.

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zeption zum transzendentalen Ziel.51 Die Deutungshoheit über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ein absoluter Wahrheitsanspruch des politischen Konzepts vom nationalen Sozialismus werden im Roman auf diese Weise suggeriert. Die Funktion der Apokalypse als politische Rede, die Analyse und Handlungsanweisung für die als krisenhaft wahrgenommene Gegenwart leistet, kann wohl kaum deutlicher instrumentalisiert werden als in diesem nationalsozialistischen Roman.

51 Vgl. zu diesem Aspekt des transzendentalen Glaubens an die Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus: Vondung: Die Apokalypse des Nationalsozialismus (Anm. 15), 35.

Markus Kraiger

Islamischer Fundamentalismus in der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Analyse von Christoph Peters’ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges

Spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre hat die Beschäftigung mit religiösem Fundamentalismus zunehmend Eingang in die Gegenwartsliteratur gefunden, wobei dem islamischen Fundamentalismus eine besondere Aufmerksamkeit zukommt.1 Das gestiegene öffentliche Interesse an der Thematik ist nicht zuletzt einer Reihe von religiös motivierten Terroranschlägen geschuldet, die in der Weltbevölkerung für Erschütterung und Entsetzen gesorgt haben. Das gilt insbesondere für den Anschlag auf die Botschaft von Israel in Buenos Aires (1992), den Bombenanschlag auf das World Trade Center (1993), den Anschlag von Luxor und auf Touristen in Kairo (1997) sowie für die Terroranschläge auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Daressalam und Nairobi (1998). So unterschiedlich die Schauplätze und Ziele dieser Anschläge auch sein mögen, haben die Taten eines gemeinsam: Sie wurden alle von Islamisten2 verübt. Infolgedessen wurde der Islam – vor allem in der westlichen Welt – als eine zunehmende Bedrohung wahrgenommen. Ihren Kulminationspunkt erreichte diese Wahrnehmung durch die Terroranschläge des 11. September 2001, in deren Folge der Islam, der für den Großteil der westlichen Bevölkerung bis dato eine terra incognita darstellte, durch die US-Regierung offen zum Feindbild erklärt wurde. Angesichts der zahlreichen kontroversen gesellschaftlichen und politischen Debatten, die nach den Anschlägen geführt wurden, ist es keineswegs überra1 Als einer der Ersten setzte sich Hanif Kureishi, ein britischer Schriftsteller mit pakistanischen Wurzeln, in seinem Roman The black album sowie in dem Theaterstück My Son the Fanatic mit der Thematik des islamischen Fundamentalismus auseinander. Vgl. Hanif Kureishi: The black album. London 1995, sowie ders.: My Son the Fanatic. London 1997. 2 Unter dem Begriff des »Islamismus« ist in diesem Zusammenhang ein sozialwissenschaftliches Konzept zu verstehen, das seit den 1990er-Jahren zur näheren Bestimmungen von Gruppierungen und Weltanschauungen, die sich explizit auf den Islam berufen, verwendet wird. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff des Islamismus siehe u. a. Herbert L. Müller : Vom Islamismus zum Djihadismus. In: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 13/2007, 47–61, oder Armin Pfahl-Traughber : Islamismus als extremistisches und totalitäres Denken. In: ebd., 79–95.

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schend, dass sich eine mittlerweile beträchtliche Anzahl an Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen der Themen Terrorismus und islamischer Fundamentalismus angenommen hat, um mögliche Antworten auf die Frage nach den Hintergründen und Tatmotiven von (Selbstmord-)Attentätern in den Diskurs einzubringen.3 Dabei reicht das Spektrum der literarischen Auseinandersetzungen von einer bloßen Beschäftigung mit grundlegenden religiösen Fragestellungen bis hin zu religiösen Radikalisierungsprozessen.4 Ein besonders brisantes Beispiel für den letztgenannten Fall bildet der 2006 erschienene Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges5 des deutschen Schriftstellers Christoph Peters. Darin schildert Peters die Geschichte des zum Islam konvertierten Deutschen Jochen Sawatzky, der seine perspektivlose Vergangenheit als Kleinkrimineller und Arbeitsloser hinter sich gelassen hat und sich nach seiner Konversion immer stärker radikalisiert. Im Zuge seiner Radikalisierung reist Sawatzky, der fortan nur noch auf den Namen Abdallah hört, nach Ägypten, das gerade von einer Reihe von Anschlägen auf Staatsvertreter und Touristen erschüttert wird, um sich dort einer islamischen Terrorzelle im Kampf gegen die ›Ungläubigen‹ anzuschließen.6 Ziel des geplanten Anschlags ist der 3 Mit dem islamischen Fundamentalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen beschäftigt sich insbesondere der unter dem weiblichen Pseudonym Yasmina Khadra publizierende algerische Schriftsteller Mohammed Moulessehoul. Das gilt vor allem für seine Romane Die Schwalben von Kabul (2002), Die Attentäterin (2005) und Die Sirenen von Bagdad (2006). Zu den weiteren Schriftstellern, die sich mit der Thematik befassen, zählen u. a. John Updike, Kiran Nagarkar, Mohsin Hamid und Sherko Fatah. Vgl. hierzu: John Updike: Terrorist. New York 2006, Kiran Nagarkar: God’s Little Soldier. Neu Delhi 2006, Mohsin Hamid: The Reluctant Fundamentalist. Orlando 2007 und Sherko Fatah: Das dunkle Schiff. Salzburg 2008. 4 Obwohl der Fokus dieses Aufsatzes auf dem islamischen Fundamentalismus liegt, sei hier zumindest am Rande erwähnt, dass sich auch einige Romane mit christlichem Fundamentalismus auseinandersetzen. Das betrifft allen voran die Bestsellerserie Left Behind von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, die in den USA beträchtliche Erfolge verzeichnet hat. Die dortige Popularität der insgesamt 16 Bände umfassenden Reihe ist vor allem deswegen problematisch, weil sie eine dispensationalistische Vorstellung vom Ende der Welt vertritt, die keineswegs unumstritten ist. Vgl. Markus Kraiger : Fundamentalistische Denkformen in Finale und Die Attentäterin. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 45 (2012), H. 1/2, 77–88. Zur Kontextualisierung dieser Romane und des darauf basierenden Computerspiels vgl. auch den Beitrag von Benjamin Beil: Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels, in diesem Band 625–643, hier 627 mit Anm. 16. 5 Christoph Peters: Ein Zimmer im Haus des Krieges. München 2006. Im Folgenden im Fließtext in Klammern nachgewiesen. 6 Der Roman spielt zwar im Jahr 1993, er greift allerdings einige Geschehnisse auf, die sich historisch erst später zugetragen haben. Dabei handelt es sich um den Anschlag auf den Tempel von Luxor, der 1997 von der islamischen Terrorgruppe Gamaa Islamija verübt wurde und bei dem 62 Menschen ums Leben kamen. Darüber hinaus weist die Figur Jochen Sawatzky frappierende Parallelen zu dem Fall des deutschen Konvertiten Steven Smyrek auf. Smyrek war ebenfalls auf die schiefe Bahn geraten und wegen kleinerer Delikte vorbestraft. In einer Moschee in Braunschweig lernte er Mitglieder der verbotenen Kaplan-Bewegung kennen und

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Tempel von Luxor. Doch als sich die Terrorgruppe in Schlauchbooten dem Anschlagsziel nähert, gerät sie in einen Hinterhalt, den außer Sawatzky nur wenige überleben. Nach seiner Festnahme wird Sawatzky in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Kairo gebracht, wo er auf seinen Prozess vor dem Militärgericht wartet, an dessen Ende das Todesurteil stehen wird. Unterstützung erhält Sawatzky von Claus Cismar, dem deutschen Botschafter in Ägypten. Da es sich bei Sawatzky um einen deutschen Staatsbürger handelt, bemüht sich Cismar auf allen diplomatischen Kanälen und gegen Widerstand der ägyptischen Behörden, eine Auslieferung des Angeklagten nach Deutschland zu erwirken. Außerdem will Cismar durch die mehrfachen Verhöre von Sawatzky die Beweggründe für den Anschlag eruieren sowie eine Erklärung dafür finden, was Menschen wie Sawatzky dazu antreibt, für die eigene Überzeugung nicht nur den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen, sondern sogar das eigene Leben zu opfern. Er will wissen, »wie diese Religion funktioniert, derentwegen intelligente junge Leute zu Mördern werden, die sich als Heilige aufspielen. Er will wissen, warum unbescholtene Bürger zustimmend nicken, wenn sie von Anschlägen hören« (119f.). Je intensiver sich Cismar mit Sawatzkys Glauben an den Islam und den Zielen des Attentats auseinandersetzt, desto stärker gerät auch seine eigene Vergangenheit als ehemaliger Sympathisant der 68er-Bewegung in den Fokus. Obwohl sich Cismar bereits vor Jahrzehnten von diesem ideologischen Ansatz distanziert hat, muss er im Laufe des Romans feststellen, dass sich seine Sympathie für die Idee eines radikalen und notfalls auch gewaltsamen Kampfes gegen das politische und gesellschaftliche Establishment der damaligen Bundesrepublik Deutschland von Sawatzkys Überzeugung im Kern kaum unterscheidet. Das gilt insbesondere für den Glauben an die Legitimität und die Notwendigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele. Der einzige Unterschied der beiden Figuren betrifft die Rolle der Religion für die jeweilige Handlungsmotivation. Während Religion für Cismar, der sich selbst als einen religiösen Skeptiker bezeichnet, keine tiefer gehende Bedeutung hat, stellt sie für Sawatzky die entscheidende Triebfeder seines Handels dar. Sein Glaube an den Islam motiviert ihn sogar dazu, sein Leben im Kampf gegen die ›Ungläubigen‹ zu opfern. Weshalb Sawatzky zum Islam konvertiert ist, welche Rolle der Islam tatsächlich für seine Handlungsmotivation spielt und wie er den Terroranschlag religiös zu legitimieren versucht, soll nachfolgend untersucht werden. Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, dass der Islam für Sawatzky eine entscheidende Rolle spielt, was nicht zuletzt an der Häufung von Koranzitaten, konvertierte zum Islam. 1997 reiste er nach Tel Aviv, um mögliche Anschlagsziele auszuspähen, wurde aber am dortigen Flughafen festgenommen und 1999 wegen der Vorbereitung eines Selbstmordanschlags zu zehn Jahren Haft verurteilt.

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die von Sawatzky kontinuierlich in seine Reflexionen einbezogen werden, erkennbar ist. Verstärkt wird dieser Leseeindruck durch die Zweiteilung des Romans sowie durch die jeweils verwendete Erzählperspektive. So greift Peters im ersten Teil, der hauptsächlich Sawatzkys Gefühle, Gedanken und Reflexionen thematisiert, aber nur ein Viertel des Gesamttextes umfasst, auf eine Ich-Erzählsituation zurück, wodurch der Leser nicht nur an Sawatzkys Gefühlsleben, sondern auch an dem Geschehen – allem voran an der Vorbereitung des Anschlags – unmittelbar beteiligt wird. Im zweiten Teil erfolgt dann ein Wechsel zu einer personalen Erzählhaltung, die neben Cismars Lebenssituation insbesondere die Verhöre von Sawatzky in den Fokus rückt. Weshalb Sawatzky ausgerechnet zum Islam konvertiert ist, lässt sich anfangs nur erahnen, da man über seinen Lebensweg sowie über seinen familiären Hintergrund zunächst nur wenig erfährt. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er sich zu Beginn des Romans bereits in Ägypten befindet und sein Leben in Deutschland, das in erster Linie von negativen Erinnerungen geprägt ist, längst hinter sich gelassen hat. Für seine alleinerziehende Mutter scheint er nur Spott übrig zu haben: »Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; […] froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe.« (12) Über Sawatzkys Vater erfährt man lediglich, dass er Amerikaner ist und von der Existenz seines Sohnes nichts weiß. Ob Sawatzkys familiäre Situation als möglicher Auslöser für seine spätere religiöse Radikalisierung angesehen werden kann, erscheint eher fraglich, da eine derartige Verbindung weder von Sawatzky selbst noch von anderen Figuren des Romans erwähnt wird. Unstrittig ist hingegen, dass Sawatzkys negative Erinnerungen an sein Leben in Deutschland in einem engen Zusammenhang mit seiner Karriere als Kleinkrimineller und Drogenabhängiger stehen. So heißt es in dem Bericht, den Cismar nach Sawatzkys Inhaftierung anfertigt: »Nach hiesigen Recherchen ist Sawatzky seit dem 2. 2. 1985 wegen verschiedener Drogendelikte in DEU [gemeint ist Deutschland] rechtskräftig verurteilt. Das Urteil lautete: Zwei Jahre Haft auf Bewährung, die Bewährungsfrist ist inzwischen abgelaufen, Auflagen gab es keine.« (87) Ausschlaggebend für Sawatzkys kriminellen Werdegang ist möglicherweise die Perspektivlosigkeit, mit der er sich in Deutschland konfrontiert sah. Wie in einer seiner Reflexionen deutlich wird, hat er in Deutschland keine Zukunft mehr gesehen – weder beruflich noch privat: »Ich habe keinen Beruf gelernt, für eine Ausbildung bin ich zu alt. Hilfsarbeit, mehr oder weniger vierzig Stunden pro Woche: Supermarktregale füllen, Gemüse hacken, Bauschutt schleppen. Gelegentliche Überprüfungen durch die Polizei wegen zurückliegender Straftaten. […] Zum Schluß Bitterkeit, weil die Zukunft hinter einem gelegen hätte.« (25) Den entscheidenden Wendepunkt in Sawatzkys Leben markiert seine Konversion zum Islam. Ausgangspunkt der intensiven Beschäftigung mit der Reli-

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gion ist Sawatzkys erste Begegnung mit Arua Mashrudi, in die er sich wenig später verliebt. Im Gegensatz zu Sawatzky ist Arua allerdings eine gemäßigte Muslimin, die den Islam als »eine Religion des Friedens« (39) bezeichnet und sich von seinen späteren Anschlagsplänen deutlich distanziert. Wie er selbst eingesteht, hätte sie sein Vorhaben keinesfalls gebilligt: »Arua wird nicht stolz sein, wenn sie erfährt, daß ich gefallen bin. Sie wird laut fluchen und still weinen.« (25) Dennoch hat sie indirekt zu Sawatzkys Entwicklung beigetragen, indem sie ihn beim Erlernen der arabischen Sprache unterstützt hat. Auf Cismars Nachfrage, wie Sawatzky dazu gekommen ist, »sich mit dem Islam auseinanderzusetzen« (184), bleibt Arua jedoch unerwähnt. Stattdessen flüchtet er sich in eine Erklärung, die wie ein religiöses Erweckungserlebnis anmutet: »›Ein Geschenk. Alhamdu Lillah. Eine Gnade – wenn Ihnen das Wort etwas sagt. Man kann das nicht erklären. Es geschieht. Vielleicht hat es sich lange vorbereitet, ohne daß ich es gemerkt habe. Im Nachhinein denke ich, daß es so gewesen ist. Nur so fügt sich alles zusammen. Auch das, was vorher war. Die dunkle Zeit.‹« (185) Damit ist in erster Linie Sawatzkys Drogenabhängigkeit gemeint. Erst auf Cismars erneute Nachfrage berichtet Sawatzky von seiner ersten Begegnung mit Arua: »›Ich habe jemanden getroffen. Irgendwann. Jemanden arabischer Herkunft, der auch diese Klarheit hatte. […] Ich bin diesem Jemand gefolgt. Einfach so. Ich konnte nicht anders. Mir war egal, ob es ihm auffiel.‹« (187) Beide Äußerungen sind rational nur schwer greifbar. Stellenweise gewinnt man als Leser sogar den Eindruck, als wäre Sawatzky selbst nicht bewusst, weshalb der Islam eine derart große Anziehungskraft auf ihn ausübt. Möglicherweise setzt er seine Erklärungen aber auch als gezielte Strategie ein, um seine Konversion sowie die islamisch-fundamentalistische Ausrichtung der Terrorgruppe gegen mögliche Kritik zu immunisieren. Auffällig an Sawatzkys Erklärungsversuchen ist auch, dass sich sein Leben durch seine Konversion – zumindest in seinen Augen – deutlich zum Positiven gewandelt hat. Drei Tage nach der ersten Begegnung mit Arua habe er beschlossen, »sein Leben zu ändern. […] Er verbot sich alle Drogen bis auf Haschisch. Er duschte, rasierte sich, räumte die Wohnung auf, packte seine verdreckte Wäsche zusammen, fuhr zum Waschsalon. Angeblich litt er in den folgenden Tagen nur unter leichten Entzugserscheinungen.« (188) Seine Radikalisierung sei schließlich in der Ibn-Taimiya-Moschee erfolgt, wo er Karim Huwaidi – einen der späteren Attentäter – kennenlernte, der den Anschlag von Deutschland aus mit geplant hat. Bereits als Sawatzky zum ersten Mal die Moschee betritt, verspürt er »eine Art innerer Ruhe« (191). Es kommt ihm sogar so vor, »als wäre er nach Jahrzehnten in der Fremde an seinen Ursprungsort zurückgekehrt« (191). Einen Tag nach der Begegnung mit Karim kauft er sich eine zweisprachige Ausgabe des Koran, den er fortan aufmerksam studiert. Auch wenn Sawatzky anfangs kein Wort versteht, gestaltet er sein Leben nach den

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Regeln des Koran um. Die Attraktivität des Islam sieht Sawatzky vor allem in seiner simplen Umsetzbarkeit begründet: »›Der Islam ist eine einfache Religion. Sie macht es dem Menschen leicht. Er ist eine Anleitung, die es uns ermöglicht, im Einklang mit dem Willen Gottes zu leben. Daraus erwächst innerer Frieden. Islam bedeutet: ›Frieden durch Unterwerfung‹. Unser Glaube ist klar […]. Das reicht. Man muß ein paar Regeln akzeptieren, die nicht schwer zu befolgen sind.‹« (194) Angesichts seiner Drogenabhängigkeit und seiner Laufbahn als Kleinkrimineller scheint Sawatzkys Konversion genau zum richtigen Zeitpunkt zu erfolgen, schließlich bekommt er sein Leben dadurch wieder in den Griff. Aus Sawatzkys Sicht handelt es sich bei seinem (positiven) Lebens-Wandel aber keineswegs um einen glücklichen Einzelfall, der zufällig eingetreten ist, sondern um eine schicksalhafte Fügung, die auch anderen Menschen zugutekommen könnte. Entscheidende Voraussetzung ist der Glaube an den Islam, der für Sawatzky gewissermaßen eine Allzweckwaffe gegen die Probleme in der Welt darstellt. Er scheint sogar der Auffassung zu sein, dass er in einem islamischen Staat niemals derart negative Erfahrungen wie Drogenkonsum oder Kleinkriminalität gemacht hätte: »›In einem islamischen Staat säße ich überhaupt nicht hier [im Gefängnis], weil ich nie in diese Leere gefallen wäre.‹« (185) An dem Zitat offenbart sich eine Argumentationsstrategie, die sich für Sawatzkys Denken als typisch erweist. Erstens stellt Sawatzky es so dar, als hätte er seinen Lebens-Wandel nur durch eine Konversion zum Islam vollziehen können. Eine andere Lösung seiner Probleme – z. B. eine Drogentherapie oder ein Resozialisierungsprogramm – wird von ihm nicht in Betracht gezogen. Das gilt auch für den Glauben an eine andere Religion, der Sawatzky bei der Bewältigung seiner Lebensprobleme möglicherweise in gleichem Maße geholfen hätte. Zweitens vertritt er die Auffassung, dass er in einem islamischen Staat niemals auf die schiefe Bahn geraten wäre. Diese Einschätzung scheint seiner Ansicht nach jedoch nicht nur für ihn, sondern für alle Menschen, die nach den Regeln des Islam leben, zu gelten. Darüber hinaus ist mit seiner Behauptung eine radikale Kritik am Zivilisationsstil ›westlicher‹ Gesellschaften – dazu zählen u. a. Individualismus, Säkularismus, Rationalismus und Pluralismus7 – verbunden, die Sawatzky als ungläubig, dekadent und korrupt verunglimpft. Den einzigen Ausweg aus diesem ›Degenerationszustand‹ sieht er in der Errichtung eines Gottesstaates. 7 Thomas Meyer unterscheidet drei basale Zivilisationsstile, nämlich den Traditionalismus, die Modernisierung oder Liberalisierung und den Fundamentalismus. Während der Traditionalismus kulturelle und soziale Traditionsbestände gegen Modernisierungsbestrebungen zu verteidigen sucht, radikalisiert der Fundamentalismus die defensive Abwehrhaltung des Traditionalismus, indem er in einen offensiven Kampf gegen die Modernisierung tritt. Vgl. Thomas Meyer : Identitätspolitik. Vom Missbrauch des kulturellen Unterschieds. Frankfurt a. M. 2002.

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Indem Sawatzky den Islam aus seiner persönlichen Erfahrung heraus zur normativen Lebens- und Staatsordnung aller Menschen erklärt und ihn dadurch politisch absolut setzt, erweist er sich als islamischer Fundamentalist.8 Seine eindimensionale Sichtweise wäre weitaus weniger problematisch, wenn er sich nach seiner Konversion nicht weiter radikalisiert hätte. Weshalb Sawatzky ausgerechnet einen derart radikalen Weg einschlägt, lässt sich zunächst nur mutmaßen. Zwar findet er im Islam – trotz seiner anfänglichen Skepsis – den nötigen Halt, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen: »Aber das Buch [der Koran] ist stärker. Es hält einen fest, bricht den Widerstand. […] Zum ersten Mal, seit mein Gedächtnis etwas vermerkt, herrschte Ruhe. Und sie kehrte wieder, immer wenn ich las. Bis heute.« (32f.) Dennoch hätte er sich im weiteren Verlauf nicht zwangsläufig einer Terrorzelle anschließen müssen, sondern seinen Glauben auch friedlich ausleben können. Immerhin vergehen von Sawatzkys erster Auseinandersetzung mit dem Islam bis zur Ausübung des Terroranschlags sechs Jahre. Zeit genug, um die eigenen Beweggründe ausreichend zu reflektieren. In diesem Zeitraum durchläuft Sawatzky mehrere Stationen. Zunächst schließt er sich mit Karim Huwaidi und Mohammad Bashir zu einer Gruppe zusammen, um in regelmäßigen Treffen über den Islam zu diskutieren. Bis er von der Gruppe als gleichwertiges Mitglied anerkannt wird, muss er allerdings ein Initiationsritual durchführen: »Nach acht Monaten habe ich mich reif gefühlt, den letzten Schritt zu vollziehen und die Shahada [das Glaubensbekenntnis des Islam9] zu sprechen, vor Zeugen, wie es

8 Unter dem Etikett des Fundamentalismus wird in diesem Zusammenhang eine Ideologie bzw. Weltanschauung verstanden, die folgende Merkmale aufweist: Erstens wird für die jeweiligen Grundannahmen (Fundamente) ein Absolutheitsanspruch erhoben. Zweitens haben diese Grundannahmen den Status von unbezweifelbaren Dogmen, wodurch die eigene Position gegen Kritik immunisiert werden soll. Drittens zeichnet sich der Fundamentalismus durch ein radikales Schwarz-Weiß-Denken sowie durch eine Intoleranz gegenüber anderen Sichtweisen aus. Häufig kommt es dabei zur Ausbildung von Feindbildern. Zu den bisherigen Merkmalen kann optional noch ein politischer Gestaltungswille hinzukommen, wie es bei der im Roman thematisierten Terrorgruppe der Fall ist. Für eine ausführliche Diskussion um den Begriff des Fundamentalismus siehe u. a. Thomas Meyer: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne. Reinbek 1989, und Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der Kampf der Kulturen. München 2000. 9 Die Schahada ist das islamische Glaubensbekenntnis und die erste der sogenannten fünf Säulen des Islam. Nach dem Koran handelt es sich bei den fünf Säulen um bestimmte Rituale, die jeder Muslim gewissenhaft befolgen muss. Die Schahada besteht darin, folgende Zugehörigkeitsformel auszusprechen: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott und dass Mohammed sein Gesandter ist.« Zu den weiteren Säulen zählen das tägliche Gebet (sal–t), das gesetzmäßige Almosen (zak–t), das alljährliche Fasten im Ramadan (sawm) und die Pilgerfahrt nach Mekka (hadsch). Vgl. Malek Chebel: Islam für Anfänger. Darmstadt 2012, 35–39. In einem weiteren Sinn gilt die Schahada auch als »Zeugnis, das man dadurch ablegt, dass man für den Islam mit den Waffen kämpft, und vor allem dadurch, dass man für ihn im ›Heiligen

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vorgeschrieben ist. Das war im April ’88 […]. Vordergründig ging es um mich. Doch es geschah etwas anderes, etwas, das weit darüber hinaus reichte: Wir sahen die Rechtsleitung Allahs in unserem Leben. Jeder für sich und wir als Gemeinschaft. Wir waren nicht irgendein versprengtes Häufchen in Bockenheim, sondern Teil der Umma, die Länder und Zeiten übergreift.« (239)

Durch den Vollzug der Schahada wird Sawatzky endgültig in die muslimische Gemeinschaft aufgenommen, fortan hört er nur noch auf den Namen Abdallah. Spätestens zu diesem Zeitpunkt scheint eine Umkehr nicht mehr denkbar zu sein, zumal sich Sawatzky – möglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben – wertgeschätzt und gesellschaftlich integriert fühlt. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass er sich durch den Einfluss der Gruppe in der Folge immer stärker radikalisiert. Wie in einem Bericht, den Cismar im zweiten Verhör von Sawatzky verliest, deutlich wird, weicht der bloße Austausch über Glaubensfragen nach diesem Ritual durch die Kontaktaufnahme zu einem ägyptischen Terrornetzwerk rasch einem politischen Aktionismus. Demzufolge trifft sich Sawatzky in der Folge angeblich mehrfach mit »eine[m] Mann aus Alexandria, der in Afghanistan gekämpft hat« (182). Nach der Inhaftierung bestätigt sich zudem der Verdacht einer »Verwicklung [Sawatzkys] in terroristische Aktivitäten der Dschihad-Gruppe über seine Mitwirkung an dem vereitelten Anschlag in Luxor vom 14. 11. 1993 hinaus« (202). So sprechen »zahlreiche Indizien und Zeugenaussagen dafür, daß Sawatzky bereits vor dem Anschlag vom 14. 11. 1993 logistische Hilfe bei der Planung und Vorbereitung terroristischer Aktivitäten in Ober-ÄGY geleistet habe« (203). Doch was treibt Sawatzky dazu, sich immer weiter zu radikalisieren und sogar den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen? Wie er selbst mehrfach betont, verfolgt seine Terrorgruppe vorrangig politische Ziele: »Ich habe mich entschlossen, mein Leben zu opfern. So Gott will. […] Achtzig Prozent weniger Besucher, seit unsere Angriffe verstärkt wurden. Wenn die Touristen lange genug fortbleiben, bricht die Wirtschaft zusammen, dann wird sich das Volk erheben und die Regierung hinwegfegen, dann wird die Herrschaft Gottes wiederhergestellt.« (25) Sawatzkys Äußerung ist zu entnehmen, dass die Terrorgruppe in Ägypten einen islamischen Gottesstaat errichten will. Mit diesem Vorhaben ist zugleich eine vehemente Kritik an der Regierung Mubaraks verbunden, die als ungläubig und korrupt denunziert wird, da sie sich der Macht des US-Imperialismus gebeugt habe. Dieser Missstand wird von der Terrorzelle schließlich zum Anlass genommen, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen: Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt […]. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns Krieg‹ stirbt«. Siehe Arent J. Wensinck u. Johannes H. Kramers (Hg.): Handwörterbuch des Islam. Leiden 1976, 663.

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aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. (15)

Die Ursache für die als Verfallsprozess wahrgenommene Entwicklung Ägyptens sieht Sawatzky in dem zunehmenden Kapitalismus begründet, der die Bedeutung des Glaubens immer stärker ins Abseits rückt. Der Anschlag dient somit vorrangig dem Ziel, das gegenwärtige politische System zu stürzen und die Religion wieder stärker in der Politik zu verankern: »›Der Islam ist keine Wochenendreligion, kein Privatvergnügen für zu Hause. Er muß das ganze Leben durchdringen. Die Trennung von Religion und Staat, wie sie im Westen propagiert wird, ist nicht nur falsch, sondern gefährlich.‹« (249) Sawatzkys Kritik an der Säkularisierung offenbart erneut seine eindimensionale Sichtweise: Indem er die Trennung von Religion und Staat als falsch und gefährlich bezeichnet, erklärt er den Islam zur einzig gültigen Lebens- und Staatsordnung und liefert damit einen weiteren Beleg für den oben erwähnten Absolutheitsanspruch, der sich für Fundamentalisten als typisch erweist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, welche Argumente Sawatzky für seine Forderung anführt: »›Ich habe gemerkt, wie schwierig es ist, in einer ungläubigen Gesellschaft gemäß der Weisung Allahs zu leben. Genaugenommen ist es unmöglich, wenn man sich nicht völlig zurückzieht. Und Rückzug wäre nicht im Sinne des Islam.‹« (249) Aus Sawatzkys Sicht soll der Islam nicht nur im privaten Rahmen ausgeübt werden, sondern alle Lebensbereiche durchdringen, andernfalls droht der Mensch zu zerbrechen. Konfliktpotenzial sieht Sawatzky vor allem in der Berufswahl: »Wenn man hinsieht, stellt man fest, daß es keine Arbeit gibt, die nicht direkt oder indirekt das System des Unglaubens stützt. Der Westen hat die Habsucht zum Prinzip gemacht, alle wirtschaftlichen Vorgänge basieren darauf. Selbst Geld, das sauber wäre, wenn es das gäbe, wird von Banken verwaltet, die damit spekulieren, Zinsen einfahren.« (238) Sawatzkys Kritik am ›westlichen‹ Wirtschaftssystem wirft unweigerlich die Frage auf, weshalb der Kapitalismus – zumindest suggeriert das seine Äußerung – einen Widerspruch zum Islam darstellt.10 Darüber hinaus bleibt Sawatzky eine Erklärung schuldig, welche 10 Die Frage nach der Vereinbarkeit des Islam mit dem Kapitalismus ist in der Forschung sehr umstritten. Der französische Historiker und Orientalist Maxime Rodinson vertritt zum Beispiel die Auffassung, dass »wirtschaftliche Tätigkeit, das Streben nach Gewinn, der Handel und folglich auch die Produktion für den Markt […] sowohl durch die Überlieferung als auch durch den Koran begünstigt [wird]«. Siehe Maxime Rodinson: Islam und Kapitalismus. Frankfurt a. M. 1971, 41. Demgegenüber stuft der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Helmut Leipold den Islam als eine wirtschaftsfeindliche Religion ein, die »wenig Freiraum für die Entfaltung einer pluralen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit und für die

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Berufe sich seiner Ansicht nach mit dem Islam vereinbaren lassen und welchen Einfluss die Politik auf die Wirtschaft nehmen soll. Summa summarum erhärtet das den Verdacht, dass Sawatzky auch hier eine eindimensionale Sichtweise vertritt, die selbst in der islamischen Welt keineswegs unstrittig ist. Die fehlende Verankerung des Islam innerhalb der Gesellschaft und der Politik ist für Sawatzky aber nicht der alleinige Motivator zur Durchführung des Anschlags. Wie bereits oben angedeutet, sind die Motive des Anschlags hauptsächlich in den als negativ eingestuften Auswirkungen des US-Imperialismus zu sehen, der als Verkörperung der Gottlosigkeit aufgefasst wird: »Wir sind überzeugt, daß es in der gegenwärtigen Situation, angesichts des Versuchs des Westens, sich die islamische Welt einzuverleiben – wegen des Öls und weil sie den Widerspruch gegen die Gottlosigkeit verkörpert –, nicht reicht, das Gebet zu verrichten, im Ramadan zu fasten, auf die Pilgerfahrt zu sparen. Spätestens als die Amerikaner die Erlaubnis erhielten, von Saudi-Arabien aus, dem Land der Heiligen Stätten, die Brüder im Irak anzugreifen, konnten wir nicht mehr wegschauen.« (250f.)

Die Ziele der Terrorgruppe beschränken sich aber keineswegs auf Ägypten, sondern nehmen auch globale Ausmaße an: »Die Spaltung der Umma, der nationalistischen Irrwege wird überwunden werden. Überall schließen sich die Leute zusammen, um das Haus des Islam wiederaufzubauen. Wenn es gelingt, diese Kräfte zu bündeln, wenn der Ölreichtum, den Gott den Muslimen geschenkt hat, nicht länger für den Luxus der Emire und Prinzen verschwendet, sondern für den Aufbau eines islamischen Staates verwandt wird, dann wird dieser Staat eine Weltmacht sein, und dort wird der Wille Gottes herrschen, nicht die Gesetze der Spekulanten und Bonzen, denen es egal ist, was aus den Seelen der Menschen wird. Diese Einigung wird kommen. Das ist eine Frage der Zeit. Insha Allah.« (251)

Analog zu seinem Konversionsprozess und dem damit verbundenen LebensWandel hält Sawatzky auch im politischen Bereich eine stärkere Verankerung des Islam für das einzige Mittel zur Überwindung der gegenwärtigen Situation. Das gilt insbesondere für den zunehmenden Kapitalismus und US-Imperialismus. Ein alternatives Modell zur Überwindung der als Bedrohung empfundenen ›Verwestlichung‹ wird von ihm nicht in den Blick genommen. Anstatt über eine Modernisierung einiger Grundsätze des Islam nachzudenken, die der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung besser gerecht würde, versteift sich Sawatzky auf eine traditionalistische Auslegung des Koran, der es im Wesentlichen darum geht, »das Ergebnis der historischen Entwicklung Vernunft geleitete Gestaltung des Rechts in Staat, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Teilordnungen [lässt]«. Siehe Helmut Leipold: Wirtschaftsethik und wirtschaftliche Entwicklung im Islam. In: Hans Nutzinger (Hg.): Christliche, jüdische und islamische Wirtschaftsethik. Über religiöse Grundlagen wirtschaftlichen Verhaltens in der säkularen Gesellschaft. Marburg 22006, 131–149, hier 137.

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des islamischen Mittelalters so weit wie möglich zu bewahren«.11 Geschützt sollen vor allem diejenigen Normen und Vorschriften werden, die über Jahrhunderte tradiert wurden. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Traditionalisten reformistischen oder modernistischen Ansätzen ablehnend gegenüberstehen, da sie aus ihrer Sicht eine Bedrohung des ›wahren Islam‹ bedeuten. In diese Richtung zielt auch Sawatzkys Äußerung. Problematisch an seiner Argumentation ist allerdings, dass er seine Überzeugung zum wiederholten Male als einzig wahr darstellt und auf dieser Basis den Einsatz von Gewalt zu legitimieren versucht, wie an der nachfolgenden Bemerkung deutlich wird: »›Der einzige Sinn, den der ganze Affenzirkus für uns hat, ist, die Illegitimität und Gottlosigkeit des Regimes vor den Augen der islamischen Öffentlichkeit bloßzustellen. Wenn das gelingt, war unser Tod nicht umsonst.‹« (302) Gemessen an der Öffentlichkeitswirksamkeit ist der Anschlag auf den Tempel von Luxor ohne Zweifel als Erfolg einzustufen. Zwar wird die Reaktion der Öffentlichkeit auf den Anschlag im Roman nicht explizit thematisiert, in der Folge verübt eine andere Terrorgruppe jedoch ein Attentat auf den Ministerpräsidenten Atef Sidki, bei dem ein vierzehnjähriges Mädchen zu Tode kommt (vgl. 179). Ob beide Anschläge in einem direkten Zusammenhang stehen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten, Sawatzky bestreitet jedenfalls, von der Planung des zweiten Attentats gewusst zu haben. Selbst wenn beide Anschläge letztlich gescheitert sind, haben sie ihre Wirkung keineswegs verfehlt. Wie der Roman mehrfach deutlich macht, wird Ägypten zu dieser Zeit – die Handlung spielt im Jahr 1993 – von einer ganzen Serie von Anschlägen heimgesucht. Zur Verdeutlichung ist dem Bericht, den Cismar anlässlich der Inhaftierung von Sawatzky anfertigt, ein separates Dokument mit einer Auflistung aller Anschläge beigefügt. Demzufolge wurden in dem Zeitraum vom 1. Januar bis zum 7. November 1993 35 Anschläge verübt, bei denen insgesamt 59 Personen ums Leben gekommen sind und 174 Personen zum Teil schwer verletzt wurden (vgl. 90–92). Sieht man sich Cismars Auflistung der Anschläge genauer an, fällt auf, dass es sich bei den Zielpersonen hauptsächlich um Touristen, Polizisten oder Regierungsbeamte handelt. Trotz der Unterschiedlichkeit der Attentate verfolgen sie mehrere gemeinsame Ziele, die auch dem Anschlag auf den Tempel von Luxor zugrunde liegen: die Schwächung der ägyptischen Wirtschaft, den Sturz der Regierung Mubaraks und die langfristige Etablierung einer islamischen Republik. Diese Beobachtung gewinnt jedoch erst dann an Plausibilität, wenn man das letztgenannte Attentat nicht – wie Sawatzky selbst behauptet – als »militärische Operation« (132), sondern als Kommunikationsstrategie auffasst, die durch die 11 Fritz Steppat: Die politische Rolle des Islam. In: ders. (Hg.): Vorträge zum XXI. Deutschen Orientalistentag. Berlin 1983, 22–36, hier 24.

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Entwicklung der Massenmedien erst ihre volle Wirkung entfaltet.12 Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die Medien durch ihre weltweite LiveBerichterstattung eine Bühne für Terroristen geschaffen und sind dadurch »aus ihrer Rolle als kritischer Beobachter und Berichterstatter mehr und mehr in eine aktive Rolle des Konfliktteilnehmers geraten«.13 Diese Entwicklung will auch Sawatzky nutzen, um durch den Anschlag eine möglichst hohe Öffentlichkeitswirksamkeit zu erlangen: »Diesen Krieg entscheiden Bilder, nicht die Zahl der Opfer. Je dramatischer sie sind, desto weniger Leute müssen getötet werden.« (47) Aus diesem Grund hat die Terrorgruppe um Sawatzky auch den Tempel von Luxor als Anschlagsziel ausgewählt, da er als eine der bekanntesten ägyptischen Touristenattraktionen gilt. Außerdem sind die ägyptischen Tempel nach Sawatzkys Auffassung »Zeugen des Götzendienstes, für den […] im Haus des Islam kein Platz [ist]« (44). Auch wenn der Anschlag letztendlich scheitert, wird er aufgrund seiner abschreckenden Wirkung auf Touristen, die nicht zuletzt auf die mediale Berichterstattung zurückzuführen ist, vermutlich eine erhebliche Schwächung der Tourismusindustrie bedeuten. Zwar wird im Roman weder die Berichterstattung über den Anschlag noch die Reaktion der Öffentlichkeit erwähnt, der Bericht von Cismar vom 2. 12. 1993 legt jedoch nahe, dass sich die ohnehin angespannte Sicherheitslage in Ägypten durch das Attentat auf den Ministerpräsidenten Atef Sidki, das sich nur elf Tage nach Sawatzkys Anschlag ereignet, weiter verschärft hat (vgl. 203). Obwohl sich ein Zusammenhang nicht nachweisen lässt, kann das spätere Attentat durchaus als Reaktion auf den Anschlag von Luxor gewertet werden, da beide Taten auf eine Destabilisierung des politischen Systems abzielen. Die dramatische Sicherheitslage und die Vehemenz, mit der die Regierung sowie das ägyptische Militärgericht gegen Attentäter vorgehen – Sawatzky und seinen Mitstreitern droht die Todesstrafe –, legen zudem nahe, dass beide Anschläge als ernst zu nehmende Bedrohung wahrgenommen werden, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Allein vor diesem Hintergrund können sie aus Sicht der Attentäter als Erfolg eingestuft werden. Beängstigend ist insbesondere die Bereitschaft, das eigene Leben für ein 12 Frank Leptien vertritt die interessante These, dass terroristische Strategien, die auf den Einsatz von Massenmedien basieren, ihre Wirkung in Demokratien deutlich effektiver entfalten, wohingegen sie in Diktaturen oder totalitären Systemen vergleichsweise wirkungslos sind, da Informationen über Anschläge aufgrund der Kontrolle über die Medien wesentlich besser unterdrückt werden können. Aus diesem Grund hält Leptien terroristische Anschläge in Demokratien insgesamt für wahrscheinlicher. Vgl. hierzu: Frank Leptien: Terrorismus für die Medien? Terrorismus durch die Medien? In: Rissener Einblicke 2002, H. 10/11, 72–83. 13 Carsten Bockstette: Terrorismus und asymmetrische Kriegsführung als kommunikative Herausforderung. In: ders. u. a. (Hg.): Strategisches Informations- und Kommunikationsmanagement. Handbuch der sicherheitspolitischen Kommunikation und Medienarbeit. Bonn 2006, 202–221, hier 205.

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bestimmtes Ziel zu opfern. Wie Sawatzky mehrfach betont, spielt es für ihn keine Rolle, ob er den Anschlag überlebt oder nicht: »›Für einen Kämpfer auf dem Weg Gottes hat der Tod keine Bedeutung. Weder der eigene noch der irgend eines anderen. Die letzte Stunde des Menschen steht fest, bevor er geboren ist.‹« (141) Aus diesem Grund beschäftigt sich Sawatzky nicht damit, was mit ihm nach seiner Inhaftierung geschieht. Entscheidend ist lediglich, ob der Anschlag die intendierte Wirkung erzielt. Die Kraft für diese Tat schöpft Sawatzky allein aus seinem Glauben an Gott. Allerdings scheint seiner Ansicht nach nicht jeder Gläubige zu einer solchen Tat fähig zu sein: »›Aber ein Krieger wird man nicht über Nacht. Nicht jeder ist dazu berufen‹« (233). An seiner Äußerung offenbart sich ein Exklusivitätsanspruch, der sich für fundamentalistische Denkformen als typisch erweist. Im Zuge dessen wird der eigenen Gruppierung der Status des Auserwähltseins zugesprochen, um die Gruppenidentität zu stärken und sie von anderen Denkformen abzugrenzen. Häufig ist der Glaube an das eigene Auserwähltsein auch mit bestimmten Heilserwartungen verbunden, wie es bei Sawatzky der Fall ist: »Und auf Gottes Weg soll kämpfen, wer das irdische Leben für das Jenseits verkauft. Und wer auf Gottes Weg kämpft, gleich, ob er fällt oder siegt, wahrlich dem geben wir gewaltigen Lohn.« (39) Die Vorstellung einer jenseitigen Fortexistenz scheint für Sawatzky ein entscheidender Motivator seines Handelns zu sein. Sie ist jedoch an eine notwendige Bedingung geknüpft: die Existenz Gottes. Hier liegt die Krux in Sawatzkys Argumentation. Indem er die Existenz Gottes nicht nur als gegeben voraussetzt, sondern von dieser Annahme auf die alleinige Gültigkeit des Islam schließt, verliert er andere Denkformen bzw. alternative Weltbilder aus dem Blick. Bemerkenswert ist, wie Sawatzky die Existenz Gottes rechtfertigt: »›Jeder, der eine religiöse Erfahrung gemacht hat, weiß, daß Gott ist.‹« (241) Im Umkehrschluss fehlt denjenigen, die eine derartige Erfahrung bisher nicht gemacht haben, der Zugang zu diesem Glauben. In Sawatzkys Augen handelt es sich dabei um eine Schwäche, die aus dem mangelnden Vertrauen der Menschen in Gott resultiert. Aus undogmatischer bzw. erkenntniskritischer Perspektive verbirgt sich hinter Sawatzkys Aussage jedoch nichts anderes als eine bedürfniskonforme Immunisierungsstrategie, die den alleinigen Zweck verfolgt, die eigene Sichtweise gegen jegliche Kritik abzuschirmen. Das geschieht vor allem dadurch, indem der Glaube an Gott von Sawatzky zu einem exklusiven Erkenntnisprivileg stilisiert wird, das nur einer elitären Gruppe, nämlich den ›wahren‹ Gläubigen, zugänglich ist.14 Innerhalb der Textwelt wird aus diesem Privileg schließlich ein Monopolanspruch auf die richtige bzw. einzig wahre Auslegung des Koran abgeleitet. Darüber hinaus liefert das vermeintlich höhere Wissen Rechtfertigungsinstrumente, mit denen die Terrorgruppe eine Vor14 Vgl. Peter Tepe: Ideologie. Berlin/Boston 2012, 178f.

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zugsstellung gegenüber Nichtgläubigen begründet. Im Roman zeigt sich das insbesondere an dem politischen Gestaltungswillen, der von der Terrorgruppe mehrfach betont wird. Indem die behauptete Korruption sowie der Kapitalismus der Regierung Mubarak auf die fehlende politische Verankerung des Islam zurückgeführt werden, soll die eigene Forderung nach der Gründung einer islamischen Republik, in der die Trennung zwischen Religion und Staat aufgehoben ist, als einzige Lösung erscheinen, um den mutmaßlichen gegenwärtigen ›Krisenzustand‹ zu überwinden. Dazu scheint jedes Mittel recht. Selbst vor Anschlägen schreckt die Terrorgruppe nicht zurück, auch wenn sie zivile Opfer nach sich ziehen. Legitimiert werden die terroristischen Aktivitäten, indem sich die Gruppe darauf beruft, den Willen Gottes auszuführen. Häufig werden zur Stützung der Argumentation auch Koranzitate angeführt, die den Kampf gegen die Ungläubigen zur Pflichtaufgabe der ›wahren‹ Gläubigen machen sollen: »Und tötet sie [die Ungläubigen], wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verführung ist schlimmer als töten.« (22) Die Berufung auf die heilige Schrift vereinfacht das Denken in erheblichem Maße, da die Verantwortung für das eigene Handeln nicht vom Individuum selbst übernommen werden muss, sondern als Ausführung des Willens Gottes interpretiert wird. Diese Strategie ist auch bei Sawatzky erkennbar : »›Wir kämpfen nicht, weil wir gewinnen werden, sondern weil uns der Kampf vorgeschrieben ist. Sieg und Niederlage liegen in Gottes Hand. Er weiß, was Er tut, wohin Er uns führt. Darauf vertrauen wir.‹« (311) Um den Kampf gegen die Ungläubigen zusätzlich zu legitimieren, kommt es oftmals auch zur Ausbildung von Feindbildern, die sich sowohl auf eine bestimmte Gruppierung als auch – wie im Falle der Terrorgruppe um Sawatzky – auf ein politisches System beziehen können. Im Zuge dieser grundsätzlichen Gegnerschaft15 werden Annahmen über den Gegner entwickelt, die als überzogen oder aus empirischer Sicht als unhaltbar einzustufen sind. Häufig findet auch eine Dämonisierung des Gegners statt, die sich für die eigenen Ziele aus mehreren Gründen als nützlich erweist. Erstens setzt die Dämonisierung Kräfte zur Bekämpfung des Gegners frei, die sonst nicht oder nur in begrenztem Maße zur Verfügung stehen würden. Zweitens wird der vermeintliche Gegner dadurch zu einem angreifbaren Feind stilisiert, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Drittens vereinfacht die Dämonisierung das eigene Leben und Denken in beträchtlichem Ausmaß, da alles Negative den Machenschaften des Gegners zugeschrieben wird und man sich selbst »nicht für den wahrgenommenen 15 Eine grundsätzliche Gegnerschaft liegt dann vor, wenn der Gegner in wesentlichen Punkten Auffassungen vertritt, die mit dem eigenen Überzeugungssystem unvereinbar sind. Vgl. Peter Tepe u. Tanja Semlow: Dämonisierung des Gegners: Feindbilder. In: dies. (Hg.): Mythos No. 3. Mythos in Medien und Politik. Würzburg 2011, 10–34, hier 13f.

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Verfall verantwortlich zu fühlen braucht, da die Schuld beim ›Feind‹ liegt«.16 Viertens steigert die Dämonisierung das Selbstbewusstsein sowie »den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe«17 und ermöglicht »durch eine klare Abgrenzung nach außen die Integration von weiteren Personen in das eigene System«.18 Die hier rekonstruierte Argumentationsstrategie ist jedoch keine genuine Schöpfung des Islam, sondern kann im Prinzip bei allen religiösen sowie areligiösen Weltanschauungen zur Anwendung kommen, die zum Fundamentalismus neigen. Trotz einer gewissen Plausibilität, die sich auch in Sawatzkys Argumentation nicht leugnen lässt, erweisen sich die von den jeweiligen Vertretern als unrevidierbar dargestellten Kernannahmen aus undogmatischer Sicht als nichts anderes als »hypothetische Konstruktionen, die grundsätzlich nie einen Gewissheitsstatus erlangen können«.19 Vor allem Theorien, »die sich auf höheres Wissen berufen, [stehen] generell unter dem Verdacht, bedürfniskonforme Konstruktionen zu sein, die die jeweiligen Werte und Ziele, die als hypothetische Konstruktionen praktischer Art aufzufassen sind, in eine postulierte höhere Dimension projizieren und als durch Erkenntnis bestimmten Typs erfassbare höhere Entität denken.«20 Die Gründe, weshalb die Enttarnung von Sawatzkys Argumentationsstrategie so schwerfällt, sind in der Konzeption des Romans zu sehen. Einerseits hat Christoph Peters mit Sawatzky eine Figur geschaffen, die mit einer unumstößlichen Vehemenz für ihre Überzeugung eintritt und sogar den eigenen Tod billigend in Kauf nimmt. Obwohl Sawatzky in Ägypten die Todesstrafe droht, lehnt er eine Auslieferung nach Deutschland und damit die Aussicht auf eine geringere Strafe dezidiert ab: »›Was soll ich in Deutschland? Mit Kriminellen in einem begrünten Innenhof Kreise drehen, Papiertüten falten, ab und zu Sport?‹« (131) Andererseits erhält Sawatzky mit Claus Cismar einen Gegenspieler, der seiner Argumentation nur wenig entgegenzusetzen hat. Stellenweise wirkt Cismar von Sawatzkys Auftreten regelrecht beeindruckt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens wirkt Sawatzky in seiner Argumentation »merkwürdig klar« (134), da er seine Tat keineswegs leugnet, sondern sie mit plausiblen Argumenten verteidigt, die auch Cismar nicht von der Hand weisen kann. Das gilt 16 Melanie Reddig: Die Radikalität des religiösen Fundamentalismus. In: Lena-Simone Günther u. a. (Hg.): Radikalität. Religiöse, politische und künstlerische Radikalismen in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2: Frühe Neuzeit und Moderne. Würzburg 2013, 176–191, hier 178. 17 Kazem Hashemi: Fundamentalismus. Absage an die Moderne. München 2002, 47. 18 Hashemi: Fundamentalismus (Anm. 17), 47. Vgl. Peter Tepe: Grundsätzliches über Feindbilder. In: Aufklärung und Kritik 9 (2002), H. 2, 51–60. 19 Tepe: Ideologie (Anm. 14), 178. 20 Tepe: Ideologie (Anm. 14), 179.

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insbesondere für seine Kritik an der Regierung Mubarak: »›Mubarak ist der einzig verläßliche Partner, den Sie [gemeint ist Cismar] in der Region haben. Da ist es zweitrangig, wie viele Leute er verschwinden, foltern, umbringen läßt, weil sie für den Islam, für Allah eintreten. Sie unterstützen den ägyptischen Staatsterrorismus durch Ihre bloße Anwesenheit und indem Sie schweigen.‹« (134) Zweitens hat Sawatzky bereits vor dem Anschlag mit seinem Leben abgeschlossen. Dadurch verfügt er über »eine Kraft, die ihn unangreifbar erscheinen lassen soll« (134). Von der Bereitschaft, das eigene Leben für ein bestimmtes Ziel zu opfern, ist Cismar derart fasziniert, dass er sich sogar fragt, »ob es einen Winkel gibt, in dem er ihn heimlich darum beneidet« (304). Kurz darauf hat Cismar »das verrückte Bedürfnis, [Sawatzky] irgend etwas zu schenken, […] das ihm seine letzten Wochen erleichtert« (306). Intuitiv greift er »in seine Jackentasche und zieht den grünschwarzen Pelikan-Füller heraus, ein Geschenk von [seiner Frau] Ines aus ihrem ersten gemeinsamen Jahr« (307). Diese auf den ersten Blick absurd wirkende Handlung hängt drittens mit Cismars derzeitiger Lebenssituation sowie mit seiner Vergangenheit als Sympathisant der 68er-Bewegung zusammen. In beiden Lebensphasen fehlt es ihm an der nötigen Entschlossenheit, um sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. So ist Cismar in der gegenwärtigen Situation weder in der Lage, seine Ehe zu Ines, die sich als »eine gemeinsam errichtete Fehlkonstruktion« (97) erweist, zu beenden noch um eine berufliche Versetzung nach Deutschland zu bitten, obwohl er aufgrund der hohen Arbeitsbelastung zunehmend mit massiven gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, die in einem Zusammenbruch auf der Weihnachtsfeier kulminieren. Zu seiner Studentenzeit hat sich ein ähnliches Bild gezeigt. Zwar erwog Cismar, als RAF-Sympathisant mit gewaltsamen Mitteln gegen »die Übermacht des Unrechtsstaates« (139) vorzugehen, und zeigte sich bitter enttäuscht, als die Revolution schließlich scheiterte, dennoch entschied er sich letztendlich dafür, »daß Gewalt kein Weg ist« (139). Sawatzky verkörpert das genaue Gegenteil zu Cismar. Indem er den Ungläubigen nicht nur den Kampf ansagt, sondern sogar bereit ist, sein Leben für dieses Ziel zu opfern, verfügt er über eine Entschlossenheit, die dem Botschafter in jeglicher Hinsicht fehlt. Der Fall Sawatzky stellt den Botschafter sogar vor die unangenehme Frage, wie sehr er selbst die Ideale seiner Jugend zugunsten seiner Karriere verraten hat und wie sehr er selbst ein Teil des Systems geworden ist, das er früher gehasst hat. Die Gegensätzlichkeit von Cismar und Sawatzky verdeutlicht zudem, weshalb radikale Überzeugungen wie der islamische Fundamentalismus eine zunehmende Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielen: Gerade in pluralistischen Gesellschaften, in denen ein offener Wettbewerb der Ideen herrscht, wird das Überangebot an Weltdeutungen »von vielen Menschen

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nicht als Errungenschaft begriffen, sondern im Gegenteil als Zeichen eines universellen ›Sinnverlustes‹ bzw. ›Wertezerfalls‹ gedeutet«.21 Dem drohenden Sinnverlust setzen fundamentalistische Denkformen ein geschlossenes Weltbild entgegen, das eindeutige Antworten auf elementare Fragen des Lebens – z. B. nach dem Sinn des Lebens – liefert und den Anhängern eine klare Handlungsund Lebensorientierung bietet. Das erreichen Fundamentalisten, indem sie sich auf scheinbar ewig gültige Fundamente beziehen, die »Geborgenheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit«22 bieten. An Attraktivität gewinnt der vom Fundamentalismus konstatierte Absolutheitsanspruch vor allem dann, wenn Menschen »faktisch in einer deprivierten sozialen, politischen oder ökonomischen Situation leben und von wichtigen Gütern und Positionen ausgeschlossen bleiben«.23 Diese Beschreibung trifft auch auf Sawatzky zu, da er durch seine Drogenabhängigkeit und seine Vorstrafen auf die schiefe Bahn geraten ist und weder einen Beruf erlernt hat noch gesellschaftlich integriert ist. Erst durch seine Konversion zum Islam sieht er wieder eine Perspektive in seinem Leben und findet in der Gruppe um Karim Huwaidi und Mohammad Bashir die soziale Anerkennung, die ihm lange Zeit verwehrt geblieben ist. Obwohl Cismar Sawatzkys Entschlossenheit bewundert, ist Ein Zimmer im Haus des Krieges keineswegs als ein Plädoyer für den Fundamentalismus zu lesen. Vielmehr geht es Christoph Peters darum, den Radikalisierungsprozess eines Drogenabhängigen und Kleinkriminellen zum Terroristen und Attentäter nachzuzeichnen sowie die Beweggründe für den Anschlag aufzuzeigen. Das gelingt Peters, indem er mit Sawatzky eine Figur schafft, die sich entgegen der Pauschalvorstellung von Terroristen nicht als irrationaler Fanatiker erweist, sondern nachvollziehbare Argumente für den Anschlag liefert, die auch Cismar nicht von der Hand weisen kann. Trotz eines gewissen Grundverständnisses für Sawatzkys Tat besteht das Ziel des Romans nicht in einer Legitimation des Anschlags, sondern darin, die (soziologischen) Entstehungsbedingungen des Fundamentalismus sowie die typischen Argumentationsmuster von fundamentalistischen Überzeugungen zu demaskieren. Auch wenn Sawatzkys Konversionsprozess stellenweise etwas konstruiert wirkt – das gilt insbesondere für die ominöse erste Begegnung mit Arua, der er unerklärlicherweise bis nach Hause folgt –, macht der Roman deutlich, weshalb der Islam einen derart großen Reiz auf Sawatzky ausübt. Einerseits hat er sich durch seine Drogenabhängigkeit 21 Michael Schmidt-Salomon: Fundamentalismus und Beliebigkeit. Das Projekt der Aufklärung im 21. Jahrhundert. In: Roland Seim (Hg.): Mein Milieu meisterte mich nicht. Festschrift Horst Herrmann. Münster 2005, 14–34, hier 19. 22 Schmidt-Salomon: Fundamentalismus und Beliebigkeit (Anm. 21), 19. 23 Michael Baurmann: Soziologie des Fundamentalismus. Der Ansatz der sozialen Erkenntnistheorie. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2007/2008. Düsseldorf 2008, 301–314, hier 310.

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und seine kriminellen Delikte ins gesellschaftliche Abseits manövriert und sehnt sich nach sozialer Anerkennung. Andererseits mangelt es ihm an einer Perspektive, da er nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Zusammengenommen befindet sich Sawatzky in einer deprivierten Lebenssituation, die ihn für fundamentalistische Denkformen empfänglich macht. Durch seinen Glauben an den Islam verleiht er seinem Leben wieder einen Sinn und bekommt sogar seine Drogenabhängigkeit in den Griff. Außerdem erfährt er durch den Kontakt zu Karim Huwaidi und Mohammad Bashir eine soziale Wertschätzung, die ihn in seinem Glauben bestärkt. Auch wenn die Gründe für Sawatzkys Radikalisierung durchaus nachvollziehbar erscheinen mögen, darf sein Werdegang vom Drogenabhängigen zum islamischen Fundamentalisten nicht über den Beliebigkeitscharakter seiner Konversion hinwegtäuschen. Wie deutlich geworden ist, erfolgt seine Konversion nämlich nicht aus einer intrinsischen Motivation heraus, sondern bedarf eines Anstoßes von außen: der Begegnung mit Arua. Die Zufälligkeit dieser Begegnung offenbart zwei Gefahren des Fundamentalismus. Erstens können fundamentalistische Überzeugungen Menschen, die sich in einer Krisensituation befinden, sehr schnell in den Bann ziehen. Zweitens spielen die weltanschaulichen Hintergrundannahmen der jeweiligen Überzeugung nicht zwangsläufig eine primäre Rolle bei der Entscheidung für eine bestimmte Denkform. Ausschlaggebend ist eher, dass man ein Ziel verfolgt, welches eine klare Lebens- und Handlungsorientierung bietet. Zwar findet Sawatzky im Islam neben der Klarheit und Sicherheit auch den inneren Frieden, der ihm jahrelang gefehlt hat, dennoch hätte er sich unter anderen Umständen – z. B. durch ein anderes soziales Umfeld – auch für eine alternative Überzeugung entscheiden können. Die Attraktivität des Islam zieht aber nicht nur Sawatzky in den Bann. Ungeachtet der seit dem 11. September 2001 geschürten Ängste vor einer islamischen Bedrohung und der gestiegenen Islamfeindlichkeit24 hat sich nach einer Studie des Islam-Archivs in Soest die Zahl der zum Islam konvertierten Menschen in Deutschland zwischen Juli 2004 und Juni 2005 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum vervierfacht.25 Auch wenn die Mehrheit der Konvertiten als un24 Nach einer Umfrage zur religiösen Vielfalt in Europa, die der Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit TNS Emnid im Sommer 2010 durchgeführt hat, ist die Islamfeindlichkeit in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich höher. Demnach haben in Westdeutschland lediglich 34 % eine positive Meinung von Muslimen, in den neuen Bundesländern Ostdeutschland sind es sogar nur 26 %. In den Niederlanden ist der Anteil der Befragten, die eine positive Haltung gegenüber Muslimen haben, mit 62 % etwa doppelt so hoch. Vgl. Detlef Pollack: Wahrnehmung und Akzeptanz des Islams. In: Politik und Kultur 1 (2011), 10. 25 Vgl. Kristina Maroldt: Islamischer Aufbruch: Jetzt fängt ein neues Leben an. In: Der Spiegel Wissen 2 (2013), 70–75.

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gefährlich einzustufen ist, lässt sich eine kontinuierlich steigende Zahl vor allem junger Männer von Hasspredigern in islamistische Kreise ziehen. Welche potenziellen Gefahren diese Entwicklung birgt, hat beispielsweise die SauerlandGruppe gezeigt. Auch die Ausbreitung des Salafismus um den deutschen Konvertiten Pierre Vogel stellt ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. Zwar positioniert sich Vogel klar gegen Terroranschläge und Ehrenmorde, da er sie für unvereinbar mit dem Islam hält, dennoch steht sein manichäisches Weltbild mit seiner dezidierten Abgrenzung von der nichtmuslimischen Welt unter dem berechtigten Verdacht, eine Radikalisierung von sehr religiösen Jugendlichen zu befördern. Welche Gefahren von Religionen vor allem dann ausgehen, wenn sie für politische Zwecke instrumentalisiert werden, hat die Analyse von Ein Zimmer im Haus des Krieges gezeigt. Neben der Warnung vor der Bedrohung, die vom Fundamentalismus ausgeht, hat der Roman deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich mit Entstehungsbedingungen fundamentalistischer Überzeugungen sowie mit den Beweggründen von Attentätern auseinanderzusetzen. Erst wenn man ein Verständnis dafür entwickelt, weshalb es ausgerechnet junge Menschen vorziehen, das eigene Leben bei einem Selbstmordattentat zu opfern, können sinnvolle Präventivmaßnahmen ergriffen werden. Die Aufgabe der Literatur besteht darin, dieses Verständnis zu ermöglichen, indem sie uns fremde Kulturen nahebringt und uns in die Seele von Attentätern und anderen religiösen Fanatikern blicken lässt. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Versuch nicht vergebens sein wird.

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Wo ist mein Gott? Er hat mich verlassen! Über religiöse Motive des Vampirismus in Bram Stoker’s Dracula und True Blood Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Johannes 11, 25 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Johannes 6, 54

Die Auferstehung religiösen Eifers hat seit der Jahrtausendwende ein Ausmaß erreicht, mit dem wohl kein Mensch in dieser Form gerechnet hat. Unversehens sieht man sich in Zeiten der Glaubens- und Religionskriege versetzt, unversehens gehört der Terror gegen Andersgläubige vonseiten religiöser Fanatiker wieder zum Alltag der medialen Berichterstattung und der öffentlichen Diskussion. Mit erschreckender Offenheit macht Religion hierbei aus ihren machtpolitischen Motiven keinen Hehl. Die vielleicht denkwürdigsten Worte Jesu Christi, »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18, 36), scheinen im religiösen Denken und Empfinden der Gegenwart keine Rolle mehr einzunehmen. Wirkt dieser religiöse Eifer eo ipso schon anachronistisch, wird der Anachronismus dadurch auf die Spitze getrieben, dass sich mittelalterliche bis archaische Weltbilder zur Ausübung ihrer Gewalt der technischen Errungenschaften des Fortschritts bedienen. Zudem entfaltet jeder Terroranschlag seine eigentliche Wirksamkeit mithilfe seiner Verbreitung durch die Medien; Redaktionen machen aus denen, die nicht betroffen sind, Betroffene, die schon beim nächsten Mal fällig sein könnten. Ihrer Aufklärungspflicht nachkommend, werden Medien auf höchst perfide Weise zu Komplizen von Terroristen, die lokale Anschläge verüben, von denen sie wissen, dass sie durch mediale Verbreitung zum globalen Terror werden. Friedrich Kittler hat in seinem furiosen Essay Draculas Vermächtnis von 1982 gezeigt, dass wohl in keinem Werk der Weltliteratur den Medien und dem technischen Fortschritt eine derart zentrale Rolle zukommen wie in Bram Sto-

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kers Roman Dracula. Der Vampir, der uns allen von Murnaus Nosferatu bis zur Twilight-Saga medienaffin wie kein Zweiter erscheint,1 wird in Stokers Roman durch ›neue Medien‹, durch Schreibmaschinen, Protokolle, Telegramme und akustische Speichermedien, und den durch sie generierten Wissensvorsprung seiner Verfolger vernichtet, und keine der zahlreichen Vampirverfilmungen hat auf die Präsenz der Medien in Dracula ihren Blick gerichtet, außer derjenigen von Francis Ford Coppola.2 Den kritischen Stimmen zum Trotz trägt Coppolas Verfilmung von 1992 ihren Titel Bram Stoker’s ›Dracula‹ allein durch diesen Umstand zu Recht.3 Coppola und sein Team – und hier vor allem sein Kameramann Michael Ballhaus – machen durch das voyeuristische Auge des Films explizit, was Stokers Roman implizit eingeschrieben war : jene Geschichte neuer Medien, die Kittler in seinem literaturwissenschaftlichen Essay betont hat. Jedenfalls waren Draculafilme, solange Coppolas medientechnischer Scharfblick die verstaubtesten Geräte noch nicht wiedererkannt hatte, von Murnau über Polanski bis zu Werner Herzog nur eine experimentalpsychologische Aufmerksamkeitssteuerung, die mit aller Macht – mit Eckzähnen und phallischen Burgruinen, mit Wölfen und halbnacktem Fleisch – vom Surren der Apparatur ablenkte. Was nirgendwo ins Bild kam, waren Mina Harkers Schreibmaschine und Dr. Sewards Phonograph. So solidarisch mit ihnen läuft der Filmprojektor.4

Abgesehen davon, dass ein guter Vampirfilm, oder wie im Falle von True Blood eine gute Vampirserie, auch ein Pensum an (halb-)nacktem Fleisch zu liefern hat,5 richtet Coppolas Scharfblick sich auch auf einen weiteren Aspekt des 1 »Die oft gestellte Frage, wie viele Dracula-Filme es eigentlich gibt, ist nicht einfach zu beantworten. Karsten Prüßmann verweist in seinem Buch Die Dracula-Filme auf das Guinness Book of Movie Facts, nach dem Dracula seinen engsten Rivalen Frankenstein mit 155:109 schlägt. Andere Untersuchungen sprechen gar von mehreren hundert Filmen, weil sie Draculafilme mit Vampirfilmen gleichsetzen.« Rainer M. Köppl: Der Vampir sind wir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight. St. Pölten/Salzburg 2010, 189f. 2 Vgl. Friedrich Kittler : Draculas Vermächtnis. In: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, 11–57, hier 56. Kittlers Essay wird in dieser Ausgabe mit »Berkeley, 22. März 1982« angegeben, dennoch verweist Kittler auf Coppolas Film von 1992. Es muss somit eine nachträgliche Überarbeitung stattgefunden haben, die im Band allerdings nicht erwähnt wird. 3 Einerseits wird bei aller Kritik die Tatsache, dass der Film explizit Bram Stoker’s ›Dracula‹ heißt, überschätzt, denn laut Coppola (vgl. den Regiekommentar zu Der Pate I, DVD Timecode: 00:00:47) ist er stolz darauf, den Autor des verfilmten Werks zu nennen; so heißt es eben auch Mario Puzo’s ›Der Pate‹. Kritische Stimmen beziehen sich auf eine Werktreue, die angeblich durch die Autorennennung impliziert werde, die der Film aber letztlich nicht einhalten würde. 4 Kittler: Draculas Vermächtnis (Anm. 2), 56. 5 Die Fokussierung auf die Erotik und Sexualisierung des Vampirstoffes verlief bei Weitem nicht so geradlinig und ohne Weiteres, wie Kittler es darstellt. Erst der Hammer-Film Dracula (Großbritannien 1957) von Terence Fisher mit Christopher Lee in der Titelrolle lenkt den

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Dracula-Stoffs: Er rückt, wie vorher keine andere Verfilmung, das Thema Religion ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Natürlich wurde seit jeher allen Vampiren mit Hostie, Weihwasser und Kruzifix auf den Leib gerückt, eben weil Dämonen mit christlichen Zeichen zu bannen sind, doch Coppolas Film holt auch hier ans Licht, was in Stokers Roman nur im Schatten zu erahnen war : den Konflikt des Okzidents mit dem Orient, den Konflikt zwischen Christentum und Islam sowie die Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Dracula und Jesus Christus. Coppolas Bram Stoker’s ›Dracula‹ erzählt, anders als seine literarische Vorlage, die Vorgeschichte Draculas und spielt somit die im Roman vorgenommene Kopplung des Vampirfürsten an den walachischen Woiwoden Vlad III. voll aus. Die erste Szene des Films, von düsterer Musik begleitet, die eine Art Pendelschlag aufweist, der an das Te Deum des Ersten Aktes von Puccinis Tosca erinnert, zeigt, wie ein steinernes Kreuz von einer gewaltigen Kuppel zu Boden stürzt und zerbirst; auf der Kuppel prangt nun vor einem rötlich bedrückenden Horizont die Sichel des islamischen Halbmonds. Ein Verweis auf die Stadt Konstantinopel, die 1453 von den Osmanen unter Sultan Mehmed II. erobert wurde. Das Jahr 1462. Nach dem Fall von Konstantinopel stürmte unter dem Banner des Islam eine gewaltige türkische Streitmacht nach Europa und fiel, die gesamte Christenheit bedrohend, über Rumänien her. In Transsilvanien stellte sich den Eroberern ein rumänischer Ritter vom Orden des Drachen, genannt Dracul, entgegen.6

Diese einleitenden Sätze, aus dem Off erzählt, situieren Graf Dracula unmittelbar als Kämpfer im Konflikt zweier Weltreligionen. Nicht der politische Eroberungswille der Osmanen wird in den Mittelpunkt des Erzählten gestellt, sondern durch das »Banner des Islam« wird die Religion selbst in den Kontext des Eroberungswillens gestellt. Mit der Nennung des Namen Dracul unterliegt der Film allerdings leider einem Fehler, da Dracul, Vlad II., hier nicht gemeint ist, sondern dessen Sohn Vlad III., genannt Dra˘culea.7 Von Dra˘culea leitet sich natürlich Bram Stokers

Blick auf die ausgeprägte sexuelle Macht des Vampirs, von der Murnaus Nosferatu (Deutschland 1921) mit Max Schreck und Tod Brownings Dracula (USA 1930) mit Bela Lugosi in der Hauptrolle noch nichts wissen. Vgl. hierzu auch: Karsten Prüßmann: Die DraculaFilme. München 1993, 90. Wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird, spielt in True Blood die ausgeprägte sexuelle Potenz der Vampire eine entscheidende Rolle. 6 Bram Stoker’s ›Dracula‹. Regie: Francis Ford Coppola. USA 1992. DVD, 00:00:40. Sowohl Bram Stoker’s ›Dracula‹ als auch True Blood werden im Folgenden nach der deutschen Übersetzung zitiert. 7 Auch Karsten Prüßmann irrt in Die Dracula-Filme bezüglich des Vorbilds für den Vampirfürsten. »›Vorbild‹ für die von Bram Stoker geschaffene Kunstfigur des Grafen Dracula war der berüchtigte walachische Fürst Vlad Tepes II. genannt ›Dracula‹.« Prüßmann: Die DraculaFilme (Anm. 5), 27. Einen Vlad Tepes II. hat es nie gegeben. Vlad II., genannt ›Dracul‹, ist der

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Titel Dracula unmittelbar ab und mit diesem Namen hat es eine besondere Bewandtnis. Am wahrscheinlichsten ist es wohl, dass Dra˘culea »Sohn des Dracul« oder »kleiner Drache« heißen soll, während sein Vater Dracul – »der Drache« – hieß. Nur leider heißt »drac« im Rumänischen »Teufel«, sodass man seinen Namen auch als »Sohn des Teufels« übersetzte. Möglich ist aber darüber hinaus auch eine Ableitung des Namens von »Dragul« bzw. »Dragu(o)lea«. »Dragostea« ist im Rumänischen »die Liebe«, sodass Dra˘culea auch als »der Beliebte« zu übersetzen wäre.8 Bram Stokers Entscheidung, wenige Wochen vor Drucklegung des Romans dessen Titel von The Undead in Dracula zu ändern, erwies sich als genialer Schachzug des Iren, denn damit erhielt der Roman jene spezifische und zugleich geheimnisvolle Aura des Schrecklichen, Gewalttätigen und Atavistischen, die in allen westlichen Sprachen […] unmittelbar anklingt: Drache, Dragone, Dragon, Drac. Aber es steckt mehr darin als nur der Drache, es folgt das verführerische, weibliche Suffix, das den Titel zu einem Fanal der Doppeldeutigkeit macht.9

Dracula ist zum Inbegriff des Vampirs geworden, und er ist es, der dem Vampirmythos seine entscheidende Wendung um 1900 gibt, denn von nun an ist der Vampir Inbegriff despotischer Gewaltherrschaft, adeliger Souveränität und eines chauvinistischen Hedonismus. Er ist hierdurch mehr geworden als ein parasitärer Blutsauger, wie er es etwa bei Voltaire, Marx und Engels ist.10 Sein halb verwestes Zombie-Image – waren doch Vampire im Volksglauben der östlichen Gebiete der K.u.K.– Monarchie aufgeblähte, halb verweste Leichen, die durch die Faulgase der Gärungsprozesse schmatzten und denen letztes Blut aus den Mundwinkeln lief11 – hat er aufgegeben und wird von nun an sexy. Dies

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Vater des als Vorbild fungierenden Woiwoden Vlad III., posthum genannt T¸epes‚ – Der Pfähler. Vgl. hierzu auch: Heiko Haumann: Dracula. Leben und Legende. München 2011, 8–13. Vgl. hierzu auch Haumann: Dracula (Anm. 7), 9. Bram Stoker: Dracula. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Andreas Nohl. Göttingen 2012, 556. Vgl. Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 224f. Der Frage, warum im Aberglauben vieler Völker die Toten wiederkehren, geht Sigmund Freud in mehreren Schriften ausgiebig nach. Der Vampir ist als Untoter nur eine der Formen, in welcher die Toten ihre Hinterbliebenen heimsuchen. Dass in Transsilvanien, übrigens bis in die Gegenwart – kurz vor Weihnachten 2003 grub in Marotinu de Sus der 76-jährige Petre Toma noch eine Leiche aus und vollzog an ihr die Rituale des Vampirmords, da er sie für einen Strigoi (Untoten) hielt –, der Glaube herrscht, dass die Toten als Vampire wiederkehren, belegen immer wieder Grabfunde, an deren Skeletten man ausmachen kann, dass den Leichen posthum der Kopf abgetrennt und zwischen die Beine gelegt wurde; auch wurde den Toten ein Pfahl durch das Herz getrieben und man verstopfte den Mund mit einem faustgroßen Stein, damit er in Zukunft nicht mehr zubeißen könne. Eine besonders witzige

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freilich gilt derart spät ausschließlich für den männlichen Vampir, während der weibliche Vampir, der Vamp, schon immer sexy war ; schließlich ist verführerisch fatale Schönheit kulturhistorisch seit Stammmutter Eva, ja schon seit ihrer Vorgängerin Lilith, Inbegriff der Weiblichkeit.12 Durch Gary Oldman in der Titelrolle wird in Coppolas Film der Vampirfürst Dracula um eine Seite bereichert, die ihn bis dahin nicht ausgezeichnet hat: Dracula wird zu einer feinfühligen, sensiblen Figur, die in manchen Sequenzen unglaublich zerbrechlich und gleichzeitig auratisch unnahbar wirkt. Der große Pluspunkt ist aber, dass Oldman hierbei nie zum melancholischen Softie verkommt; von einer Sekunde auf die andere kann dieser Dracula wieder in seine bestialische und gewaltbereite Aggressivität umschlagen. Man nimmt ihm den brutalen Gotteskrieger, der im Kampf gegen den Islam ganze Wälder gepfählter Menschen aufstellte, jederzeit ab, ohne dass hierbei aus dem Blick gerät, dass diese Bestie letztlich ein Mensch in all seiner Widersprüchlichkeit ist. Für die Entwicklung des Vampirbildes der letzten knapp 25 Jahre war Gary Oldmans Darstellung überaus entscheidend, wobei man hierbei nicht übersehen sollte, dass die neue sensible Seite Draculas auch teilweise im öffentlichen Bewusstsein zu einer starken Verwässerung des einst so blutrünstigen Vampirmythos geführt hat. Entscheidend hierbei waren aber in erster Linie die Vampirromane von Anne Rice, deren Verfilmung Interview mit einem Vampir (1994) einen cineastischen Tiefpunkt der Vampirdarstellungen bildet. Sobald eine ganze Generation bei Vampiren in erster Linie an süße Boys wie Brad Pitt und Robert Pattinson statt an Christopher Lees ohnehin furchteinflößende Erscheinung denkt, wird der Vampirmythos seiner archaischen Elemente beraubt und droht somit letztlich verloren zu gehen. Der gerade erst vorbeigezogene Hype um Vampire durch Twilight wäre dann letztlich kein Hype um Vampire mehr. Man geht m. E. nicht zu weit, wenn man diagnostiziert, dass True Blood diesbezüglich wieder einiges ins rechte Zwielicht rückt. Die archetypische Gewalt des Vampirmythos ist unmittelbar an seine reliMöglichkeit nach rumänischem Glauben, den Vampir in seinem Grab zu halten, ist die, viele getrocknete Erbsen dem Sarg beizugeben. Vampire haben dem Aberglauben zufolge einen Zähltick – Grundlage für die Erfindung des Grafen Zahl, im Original Count von Count bzw. The Count, aus der Sesamstraße –, sodass der Vampir bis zur Morgendämmerung immer mit dem Erbsenzählen beschäftigt ist. Auch hieran wird deutlich, dass der Vampir selbst zu einem Studienobjekt der Psychoanalyse wird. Der Zähltick wie die Schwellenangst, auf die im weiteren Verlauf noch einzugehen sein wird, machen den Vampir auch zu einem Musterbeispiel der Zwangsneurosen. Vgl. hierzu auch: Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 112–141. 12 Aus diesem Grund wird auch der ständige Hinweis auf eine Femme fatale so wie auf ihr Gegenstück, die Femme fragile, in der Literaturwissenschaft auf Dauer trist und ermüdend. Beide Formen sind, da Männerphantasien, in der abendländischen Kultur seit jeher der Status quo von Weiblichkeit.

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giösen Implikationen gekoppelt. Der unumstößlich zentrale Aspekt des Vampirs ist es, ausschließlich menschliches Blut zu trinken. Die Ersatzhandlung bei Anne Rice und Stephenie Meyer, den Durst nach Menschenblut durch Tierblut zu stillen, erschüttert darum den Vampirmythos in seinen Wurzeln; sie macht aus Vampiren irgendetwas, das allerdings ein Vampir nicht mehr ist. Auch medial werden diese Untoten auf Dauer wohl keine Wiedergänger sein.13 Coppolas Verfilmung koppelt Draculas Durst nach menschlichem Blut unmittelbar an das Blut des Heilands Jesus Christus. In Johannes 6, 54 erfährt die Menschenmenge, die Jesus umsteht: »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.« Im symbolischen Akt wird dieser Worte beim Abendmahl von den Gläubigen gedacht. Als Vlad III. bei Coppola erfährt, dass seine Frau Elisabetha sich das Leben genommen hat, weil eine falsche Nachricht der Türken ihr den Tod ihres Prinzen übermittelte, und Vlad vom Priester hört, dass sie nun als Selbstmörderin verdammt ist, zieht er in unermesslicher Wut sein Schwert und bohrt es in ein steinernes Kreuz der Kapelle.14 Wie dereinst der Speer des römischen Hauptmanns Longinus dem Gekreuzigten eine Seitenwunde stach, so schlägt nun Draculas Schwert dem Kreuz eine Wunde, aus der nun Blut austritt, das Dracula in einem goldenen Kelch auffängt, wie dereinst Josef von Arimathäa das Blut des Erlösers im Heiligen Gral auffing. Dracula trinkt dieses Blut und spricht die Worte: »Blut ist Leben – und es wird mein sein.«15 Natürlich verbirgt sich hinter dieser Szene mehr als ein blutrünstiger Schockeffekt, in dem es in erster Linie darum ginge, dass, auf Wirkung bedacht, Blut in Strömen fließt. Man muss den symbolischen Gehalt dieser Szene ernst nehmen. Dracula trinkt das aus dem Kreuz rinnende Blut des Messias; und eben dieses Blut Christi bewirkt bei Dracula, was es laut Johannes verspricht: Wer es trinkt, der hat das ewige Leben. Dracula überwindet den eigenen Tod und erlebt die christliche Auferstehung, allerdings unter satanistischen und nekromantischen Vorzeichen. Zwei wesentliche Aspekte der christlichen Heilslehre sind dem Vampirmythos implizit inhärent, die es bei der »Arbeit am Mythos« (Hans Blumenberg) des Vampirs immer wieder aufs Neue explizit zu machen gilt. Blut zu trinken, wenn auch natürlich lediglich in einem symbolischen Akt, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums unter den Weltreligionen, und man würde es 13 Auf diesen Aspekt werde ich in Bezug auf True Blood noch näher eingehen. 14 Die medientheoretischen Aspekte dieses Bildes habe ich in Die Kastration des Pfählers untersucht. Vgl. Frank Weiher : Die Kastration des Pfählers. Über Dracula und Twilight. In: Christian Baier u. a. (Hg.): Die Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden, Probleme der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung. Bamberg 2014, 147–165, hier vor allem 152. 15 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:04:45.

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eher mit mystisch-archaischem Voodoozauber verbinden als mit einem wöchentlichen Ritual der Kirche. Der zweite Aspekt ist der, dass das Heilsversprechen Christi, den Tod zu überwinden, sich in einem Bild offenbart, das in jeder Vampirgeschichte, ob literarisch oder filmisch erzählt, eine schauerliche Schrecksekunde bildet: die eindringliche Erkenntnis: Das Grab ist leer! Werfen wir zunächst den Blick auf den Verzehr von Blut und seine Implikationen für den Vampirmythos, um hieran zu zeigen, wie Coppolas Film dem Blutrausch Draculas eine religiöse Semantik unterlegt. Der Verzehr von Blut stellt für das Judentum ein absolutes Tabu dar. In Levitikus 17, 10–14 ist zu lesen: Und welcher Mensch, er sei vom Haus Israel oder ein Fremdling unter euch, irgend Blut ißt, wider den will ich mein Antlitz setzen und will ihn mitten aus seinem Volk ausrotten. Denn des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, daß eure Seelen damit versöhnt werden. Denn das Blut ist die Versöhnung, weil das Leben in ihm ist. Darum habe ich gesagt den Kindern Israel: Keine Seele unter euch soll Blut essen, auch kein Fremdling, der unter euch wohnt. Und welcher Mensch, er sei vom Haus Israel oder ein Fremdling unter euch, ein Tier oder einen Vogel fängt auf der Jagd, das man ißt, der soll desselben Blut hingießen und mit Erde zuscharren. Denn des Leibes Leben ist in seinem Blut, solange es lebt; und ich habe den Kindern Israel gesagt: Ihr sollt keines Leibes Blut essen; denn des Leibes Leben ist in seinem Blut; wer es ißt, der soll ausgerottet werden.

Dieses Gesetz verbietet den Blutverzehr in toto, völlig unabhängig davon, ob es sich nun um Menschen- oder Tierblut handelt. Blut als Nahrung ist hier tabu, weil »des Leibes Leben […] in seinem Blut [ist]«, und hieran wird die oft betonte Doppeldeutigkeit des Tabus deutlich: Der Verzehr von Blut ist unrein, weil das Blut selber heilig ist. Bei der Schlachtung des Viehs muss das Blut dem Gott selber geopfert werden, daher die Aufforderung, man »soll desselben Blut hingießen und mit Erde zuscharren«. Blut ist Leben, und somit kommt es im Judentum dem Schöpfer zu, der dieses Leben geschenkt hat. Von der Opferung des Blutes an die Erde weiß auch die Odyssee, die darüber hinaus auch noch ein Detail verrät, das unmittelbar im Zusammenhang mit dem Vampirismus zu verorten ist: Und nachdem ich flehend die Schar der Toten gesühnet, Nahm ich die Schaf ’ und zerschnitt die Gurgeln über der Grube; Schwarz entströmte das Blut: und aus dem Erebos kamen Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. […] Aber ich eilt und zog das geschliffene Schwert von der Hüfte, Setzte mich hin, und ließ die Luftgebilde der Toten Sich dem Blute nicht nahn, bevor ich Teiresias fragte.16 16 Homer : Odyssee. In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. München 2004, 127.

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Odysseus, der vom verstorbenen Seher Teiresias den Heimweg nach Ithaka erfragen möchte, opfert den Toten Blut, die, unmittelbar vom Duft angezogen, sich der Opferstätte nahen. Lebendiges Blut zieht hier die Toten, die, in typisch griechischer Lebensbejahung, nach dem Leben gieren, an, damit sie ihr Schattendasein wieder aufgeben können. Die Ernährungsweise des Vampirs zielt also unmittelbar auf den Lebenssaft selbst, auf das, was nach jüdischer Tradition ohnehin heilig und darum tabuisiert ist und auch bei Homer die Energie enthält, nach der die Toten dürstet und die sie wiedererlagen wollen. Schrecklich ist der Vampir, weil diese spezifische Ernährungsweise unmittelbar auf das Lebenselixier der Lebenden gerichtet ist.17 Spezifisches Merkmal des Vampirmythos ist es darüber hinaus, den Ernährungsakt zu sexualisieren. In gewisser Hinsicht trifft der Vampirismus uns Menschen an unserer natürlichsten und kreatürlichsten Stelle: Er erinnert uns daran, dass wir Säugetiere sind und dass Saugen die Grundlage unserer Ernährung, ja unseres Überlebens ist. Die erste Welterfahrung des Menschen ist oral. Der Vampir trifft uns deshalb genau dort, wo wir kreatürlich sind, und verweist auf unsere tierische Abstammung; darauf, dass wir im Intimsten Säugetiere sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung der weiblichen Brust in Vampirfilmen – und hier vor allem bei Coppola – nicht allein pornografisch motiviert; sie stellt mehr dar als ein Signum für das weibliche Opfer, das feministische Filmkritik in den Genres Horror und Porno prinzipiell vermutet.18 Die weibliche Brust koppelt die sexuelle Komponente des Vampirismus an seinen ernährungsspezifischen Aspekt, ebenso wie nach Freud der erste Lustgewinn des Menschen im Saugen an der Mutterbrust besteht. Der infantile Lustgewinn sichert hier das Überleben des Säuglings, ist also unmittelbar an seine primär orale Welterfahrung gekoppelt.19 Die Verführungsszene Jonathan Harkers in Draculas Schloss bildet einen der 17 In der Tat ist eine spezifische Bluternährung ein ausgesprochener Sonderfall in der Natur, denn die einzigen Säugetiere, die sich ausschließlich von Blut ernähren, sind die drei amerikanischen Fledermausarten Desmodus rotundus, Diphylla ecaudata und Diaemus youngi, die sogenannten Vampirfledermäuse. Da diese ausschließlich auf dem amerikanischen Kontinent beheimatet sind, prägten sie nicht den Vampirmythos, wie er auf dem Balkan entstanden ist, sondern diese Fledermäuse wurden aufgrund ihrer Ernährung nach den untoten Wiedergängern benannt. Sie gelangen an das Blut des Wirts, wie es bei den Vampiren in True Blood genau dargestellt wird: die Haut wird mit scharfen Eckzähnen aufgebissen und dann wird das Blut mit der Zunge aus der Wunde geleckt. Wie der Vampir kommen sie übrigens regelmäßig zu ihrem ›Opfer‹ zurück, um an der gleichen Wunde zu saugen. 18 Vgl. etwa: Linda Williams: Filmkörper : Gender, Genre und Exzess. In: Montage AV. Zeitschrift für audiovisuelle Kommunikation.18/2/2009, 9–30, vor allem 17. 19 Vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, James Strachey u. Angela Richards. Bd. V: Sexualleben. Frankfurt a. M. 2000, 37–145, 267, 125f.

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Höhepunkte des Films. Coppola inszeniert ein geheimnisvolles Setting, indem surrealistische Elemente den Auftakt der Szene begleiten. Jonathan verlässt nach der bedeutenden Spiegelszene, in welcher Dracula ihn rasiert hat, sein Zimmer, um Erkundungen über das Schloss und die seltsame Lebensweise des Grafen anzustellen. Während er durch die Gänge des Schlosses schleicht, rennen drei Mäuse über einen metallenen Trägerbalken; allerdings rennen sie auf der Unterseite des Balkens, gerade so, als seien die physikalischen Gesetze in Draculas Welt außer Kraft gesetzt.20 So geht Jonathan denn auch über eine steinerne massive Freitreppe und man sieht unterhalb der Treppe den Sternenhimmel.21 Aus einem Flacon, den Jonathan in einer Truhe der Kemenate, denn er ist bereits in bedrohlicher Nähe der Vamps, öffnet, tropft das grünliche Duftöl nach oben.22 Schließlich hört Jonathan die silberhelle Stimme einer Frau, die seinen Namen ruft.23 »Es war wie der unerträgliche süße Ohrenkitzel einer Glasharfe, wenn sie von geschickter Hand gespielt wird.«24 Mit dem Klang dieser Stimme sagt sie schließlich zu Jonathan: »Komm zu mir! Leg dich hin! Lass dich in meine Arme sinken!«25 Der Umstand, dass die Vamps bereits in Stokers Roman fließendes Englisch sprechen, hat Kittler zu der These verführt, es handele sich bei den drei grässlich schönen Weibern allein um Imaginationen von Jonathan Harkers Begehren.26 Hier muss man die Fiktionalitätsebenen in Bezug auf Dracula gründlich trennen. Natürlich ist der Vampir, zumal der Vamp, kulturhistorisch betrachtet imaginiertes Wunschbild masochistisch und oralsadistisch veranlagter Männerwie Frauenphantasie. Sie jedoch für Imaginationen der Protagonisten innerhalb der fiktiven Welt zu erachten, schießt über das Ziel hinaus. Ein logischer Fehler bezüglich des fließenden Englischs innerhalb der Romanstringenz mag bei Stoker vorliegen; eine gelegte Fährte, die den Interpreten dahin führen soll, dass er erkennt, es handle sich bei den drei Vamps allein um eine Imagination Harkers, ist dieser Umstand allerdings nicht. Unlogisch mag der Umstand sein; unlogischer wäre es aber, wenn allein Imaginationen Harkers Blut bis zur Neige trinken würden. Natürlich kann man auch dies – im Zuge der Neurosen vor allem – symbolisch deuten, aber zumal für allen symbolischen Gehalt von Kunstwerken gilt: Das Fiktive lebt hier davon, dass es innerhalb der fiktiven Welt real ist.

20 21 22 23 24 25 26

Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:29:03. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:29:16. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:30:10. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:30:20. Stoker : Dracula (Anm. 9), 62. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:30:20–00:31:04. Kittler : Draculas Vermächtnis. (Anm. 2), 26f.

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Der Film, mit seiner realen Macht der Bilder, macht aus der Echtheit der Vampirladies keinen Hehl. Kaum legt sich Harker auf ein großes, mit einem Zeltdach aus Tuch überspanntes Bett, schon taucht eine der Vamps aus den Seidentüchern des Bettes zwischen Jonathans Beinen auf.27 Der Vamp – gespielt von Monica Bellucci – erscheint mit nackten Brüsten, fährt mit den Händen über die Innenseite von Jonathans Oberschenkeln und spätestens Jonathans Zurücklegen des Kopfes, einhergehend mit seinem Stöhnen, machen aus der Analogie der Szene zum Oralverkehr keinen Hehl.28 Dieser wird dann allerdings, nachdem eine zweite der Vampirladies erscheint und Harker sich mit beiden wollüstig liebkost, wobei die Vamps bereits ihre Fangzähne ausfahren, drastisch in Szene gesetzt, indem die dritte Harker in den Schritt beißt. Harkers entsetzter Aufschrei geht unmittelbar wieder in wollüstiges Stöhnen über.29 Neben ihrer erotischen realen Macht enthält diese Szene starke Symbolstrukturen, die auf entscheidende Momente des Vampirmythos verweisen. Durch Coppolas Inszenierung wird zum einen das oralsexuelle Moment stark in den Vordergrund gerückt, die Szene beginnt ja mit einer Art Vorspiel, das allerdings nicht einen herkömmlichen Sexualakt nach sich ziehen, sondern seinen Gipfel im Biss in den Genitalbereich erfahren wird. Im viktorianischen England genügte Stoker für die Symbolik noch ein einfacher Satz: »Das blonde Mädchen kniete sich neben mich und starrte mich mit fast hämischer Gier an.«30 Der vampirische Kontext gibt hier der Gier eine fabelhafte Doppeldeutigkeit, denn in unserer Realität kann die Gier von knieenden Mädchen nur sexuell verstanden werden. »Im England des Jahres 1897 war ein Mädchen, das sich ›auf die Knie niederließ‹, keines, das man mit nach Hause brachte und seiner Mutter vorstellte; Harker ist im Begriff, oral vergewaltigt zu werden[.]«31 Ein weiteres Bild koppelt die Brust unmittelbar an den erwähnten Säugetieraspekt: Einer der Vamps beißt in Harkers Brustwarze, leckt und saugt aus dieser Blut.32 Zwar dient hier nicht die weibliche Brust der Ernährung, sondern die männliche, aber die Verdrehung der Geschlechterrollen ist ohnehin Merkmal des Vampirmythos, da er den Menschen immer auch – um mit Freud zu sprechen – da trifft, wo die Struktur des Es seine ursprünglich ›polymorph perverse‹ Struktur noch erhalten hat.33 27 28 29 30 31

Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:31:20. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:31:20–00:31:31. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:32:38. Stoker : Dracula (Anm. 9), 62. Stephen King: Danse Macabre. Die Welt des Horrors. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber. München 2000, 118. 32 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:32:45. 33 Zur polymorph perversen Struktur der kindlichen Sexualität, vgl. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Anm. 19), 97.

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Die Heimsuchung durch die Vamps steht in unmittelbarem Kontext von Harkers Lebenssituation in London, denn Jonathan tritt seine Reise nach Transsilvanien zwischen seiner Verlobung und seiner Trauung an. Von seiner zukünftigen Frau Mina aber wissen wir, sowohl im Roman als auch in Coppolas Film, dass sie in sexuellen Belangen äußerste Zurückhaltung an den Tag legt. Coppola macht dies durch ein cleveres Detail deutlich, das man in Stokers Roman vergeblich sucht. Als Mina ihre Freundin Lucy besucht und sie bei ihr im Salon sitzt – Mina sitzt an der Schreibmaschine und arbeitet –, fällt ihr bei dem Satz »Eine Ehe bedeutet mehr als fleischliche Gelüste«34 ein Buch mit dem Titel Arabian Nights vom Schreibtisch. Darin herumblätternd entdecken die beiden ein Bild, das einen Koitus a tergo darstellt.35 Minas Fragen an Lucy, ob das wirklich ginge, verraten ihre Unschuld in sexuellen Belangen. Dabei ist natürlich der Verweis auf Arabische Nächte kein Zufall, sondern er steht unmittelbar im Kontext des Grafen Dracula, da sein Kampf gegen die Türken sowie sein Land Transsilvanien die Demarkationslinie zwischen Orient und Okzident bildet. In bester Manier des Orientalismus kommt hier dem Orient noch die sinnliche Seite zu, dasjenige, das wir bei der aktuellen Erstarkung des Islamismus am wenigsten mit dem Orient verbinden. Harker also macht seine erotischen und oralsadistischen Erfahrungen zwischen Verlobung und Ehe. »Es ist nicht gut, das aufzuschreiben, denn eines Tages könnte es Mina unter die Augen kommen und ihr Schmerz bereiten, aber es ist die Wahrheit.«36 Genau in diesem Kontext nimmt Coppolas Film die stärkste Veränderung bezüglich Stokers Roman vor. Die Liebe und Ehe zwischen Jonathan und Mina, samt ihrer Problematik, verblassen angesichts der Geschichte, die Coppolas Film durch den Prolog eröffnet: wie Dracula der Wiedergänger Vlad III. ist, ist Mina die Wiedergängerin Elisabethas, freilich ohne fürs Erste ein Vampir zu sein. Mina gilt von daher, seit Dracula ihr Bild bei Jonathan entdeckt hat, sein gesamtes Trachten und Streben. Durch diesen Zug bekommt der gesamte Film auch jenseits des Vampirismus eine metaphysische Grundierung. Unsterblich wie der wandelnde Vampirfürst ist hier eben auch die Liebe, allerdings, und dies verleiht der gesamten DraculaVerkörperung bei Coppola einen extrem menschlichen Zug, unter umgekehrten, weil positiven Vorzeichen. Durch den Grundimpuls, den Coppolas Film Dracula verleiht, kehrt sich die vampirische Gier nach Blut um in das Moment unsterblicher Liebe und zwischenmenschlicher Treue. Hierdurch ist Draculas Treiben und Trachten, sein Abfall von der Kirche und ihren strengen Gesetzen, 34 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:19:15. 35 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:19:35. 36 Stoker : Dracula (Anm. 9), 62.

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die seine Prinzessin als Selbstmörderin verdammen, getragen von den drei christlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe. »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« (1. Kor. 13, 13) Coppola weicht hier insofern von Stokers Romanvorlage ab, als es hier Mina ist, die dem Untoten den erlösenden Tod schenkt. Von einem »look of peace«37, der Dracula bei seiner Vernichtung auszeichnet, ist freilich schon bei Stoker die Rede. Coppola und sein Team überhöhen diesen Aspekt allerdings zum Erlösungsparadigma des Titelhelden, sodass die Liebe Gottes das letzte Wort über den walachischen Wiedergänger fällt. Schwer verwundet liegt Dracula vor dem steinernen Kreuz, in welches er dereinst sein Schwert gebohrt hatte und aus dem das Blut Christi ausgetreten war. Jetzt schließt sich die steinerne Wunde, nachdem Dracula die Worte gesprochen hat: »Wo ist mein Gott? Er hat mich verlassen! Es ist vollbracht!«38 Dann erklingt Minas Stimme aus dem Off: »Dort, in der Gegenwart Gottes, verstand ich endlich, wie meine Liebe uns alle von den Mächten der Finsternis befreien konnte. Unsere Liebe ist stärker als der Tod.«39 Bei aller religiösen Dimension ist es gerade diese Transzendenz, zu der True Blood, aus guten Gründen, nicht vordringt. Hier platzen die Vampire, wenn man sie tötet, in einer Fontäne aus Blut und Schleim auseinander, liegen als Lache auf dem Boden und offenbaren somit nicht, ob ein Gott über sie ein, wie auch immer geartetes, Urteil fällt. Sowohl in der sexuellen Heimsuchung Harkers durch die Vampirladies als auch im Fall der unsterblichen Liebe Draculas zu Mina/Elisabetha offenbart der Vampirismus ein stark antibürgerliches Element. Dies hängt unmittelbar mit der Maßlosigkeit seines Verlangens, seiner sexuellen Ekstasen und seiner unmenschlichen Ernährungsweise zusammen. Eine Integrationspolitik des Vampirs in eine moralisch-sittlich integere Gesellschaft – wie immer diese auch aussehen mag – ist nicht möglich, weil der Vampir immer das unheimliche Fremde markiert. So geht es, wenn einer zum Herzen der Finsternis vordringt. Conrads Novelle, Stokers Roman, Coppolas Novellenverfilmung [Apocalypse Now] –: sie alle führen an den Punkt, wo die Macht des Anderen oder Fremden als ihr eigener Kolonialismus entzifferbar würde, wenn es nicht so unerträglich wäre, die Schrift auf dem Fleisch zu lesen.40

Die Berührung mit dem Fremden oder die Heimsuchung durch das Fremde, wie der Vampirismus sie beide seit jeher markiert, ist vor allem eine Berührung und 37 38 39 40

Bram Stoker : Dracula. London 1966, 334. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 01:53:34. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 01:54:08. Kittler : Draculas Vermächtnis (Anm. 2), 27.

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Heimsuchung mit und durch das Fremde in uns. Dies lässt sich an einem Detail des Vampirmythos entziffern, den True Blood immer wieder wirkungsvoll in Szene setzt und auf dessen Variation auch Coppolas Verfilmung sowie Stokers Roman anspielen: die neurotische Schwellenangst des Vampirs, die nur dadurch zu überwinden ist, dass der Besuchte den Besucher bittet, einzutreten. »Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ein, ungehindert und aus freien Stücken!« Er kam mir keinen Schritt entgegen, sondern stand dort wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn in Stein verwandelt. Doch in dem Augenblick, als ich die Schwelle überschritten hatte, kam er geradezu überschwänglich auf mich zu, reichte mir die Hand und drückte dabei so fest, dass ich vor Schmerz zusammenfuhr – eine Empfindung, die keineswegs dadurch gemildert wurde, dass sich die Hand eiskalt anfühlte – wie die Hand eines Toten.41

Draculas Grußformel ist nicht die eines normalen Eigentümers, der einen Besucher – und käme dieser auch zum ersten Mal – bei sich willkommen heißt. Dracula muss, aus einem gewissen Grund, den es zu erläutern gilt, seinen Gast darauf hinweisen, dass er in Draculas Reich selbst den ersten Schritt machen muss. »Er kam mir keinen Schritt entgegen, sondern stand dort wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn in Stein verwandelt.« Bevor Harker die Schwelle übertritt, ist Dracula das, was er ist: tot. Erst als Harker den Schritt wagt, der ihm, dem nichts Ahnenden, ja völlig unbedenklich erscheinen muss, erwacht der Tote zu neuem Leben, wird zum untoten Wiedergänger. Coppola setzt diese Szene etwas anders um, als sie bei Stoker geschildert wird. Hier ist der Graf in seinen Gesten bereits lebendig, bevor Harker eintritt. Seine Willkommensgeste, mit Lächeln unterlegt, wirkt im Wesentlichen einladend, hierdurch aber auch hämisch verführerisch. Das Analogon findet sich aber sowohl in dem kurzen Blick, den Dracula auf die Schwelle wirft,42 vor der Harker steht, als auch in dem zaghaften Schritt, den Harker über die Schwelle nimmt.43 Explizit schwenkt die Kamera von Harkers Gesicht runter zu seinen Füßen und zeigt die schmale Fuge zwischen Zarge und den Steinplatten der Eingangshalle des Schlosses. In der ersten Staffel von True Blood soll der Vampir Bill Sookie im Haus ihrer Großmutter besuchen und True Blood spielt die Eintrittsszene des Vampirs überdurchschnittlich betont aus. Immer wieder betont Bill, dass er ohne Sookies Aufforderung das Haus nicht betreten darf. Die lustvolle Ausschmückung dieser Szene, die ausgiebige Darstellung der Schwäche des Vampirs, in das Haus der Person – und zwischen Bill und Sookie knistert es schon länger deutlich spürbar und nachhaltig – einzutreten, die man begehrt, hat ihren Ursprung natürlich in 41 Stoker : Dracula (Anm. 9), 31. 42 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:12:42. 43 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:12:48.

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einer psychoanalytischen Implikation des Unheimlichen, das der Vampir in höchstem Maße verkörpert. Das Jenseits des Todes, aus welchem der Vampir als Untoter wiederkehrt, ist auch ein Bild, eine Metapher für das Jenseits in uns.44 Die Schwelle, die er nur auf Einladung hin überschreitet, markiert die Demarkationslinie zwischen Ich und Es, dem Bewusstsein und dem Unbewussten, zwischen Ratio und Trieb. Hierbei gilt es zu bedenken, dass ›Heim‹ der Stamm des Wortes ›unheimlich‹ ist. »Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.«45 »Der traditionelle Vampirmythos versichert uns, dass der Vampir aus seiner verwunschenen Zone nur dann zu uns kommen kann, wenn wir ihn einladen. Der Vampir ist nie ein ungebetener Gast, denn wir müssen ihn zuerst willkommen heißen.«46 Ist dieser Eintritt einmalig gewährt, steht es dem Vampir in der Regel für alle Zeiten frei, jederzeit wieder einzutreten. Hier nimmt True Blood eine Veränderung des Mythos vor, indem es dem Gastgeber frei steht, das Gastrecht jederzeit aufzuheben. Hierbei findet aber in True Blood eine ausgesprochen geglückte Verschiebung zwischen metaphorisch-symbolischer und tatsächlicher psychologisch-intimer Ebene statt: Wenn Sookie Bill ihres Hauses verweist und die Einladung aufhebt, dann hat er längst in ihrem Herzen, ihrem Schoß und ihrem Blut einen Platz gefunden. Zwischen Menschen und Untoten entwickeln sich hier Beziehungen, Affären, Freundschaften, Handelsabkommen, wie sie derart realistisch in Vampirgeschichten bis dato nicht üblich waren.47 True Blood bildet eine der klügsten Adaptionen des Vampirmythos und trifft hierbei einen Nerv unserer Gegenwart auf erstaunliche Weise. Unter der Oberfläche dieser Fantasystory offenbart sich unmittelbar das eigentliche Thema der Serie: die Pluralität der Möglichkeiten von Lebensentwürfen in der Gegenwart. 44 Vgl. Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 119–121. 45 Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Studienausgabe (Anm. 19), Bd. IV: Psychologische Schriften. Frankfurt a. M. 2000, 241–274, 267. 46 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 144. 47 Allein die Beziehung zwischen Jessica und Hoyt könnte den Gegenstand einer eigenen Untersuchung bilden. Jessicas ausgeprägtes Triebleben – sie war vor ihrer Verwandlung zum Vampir von ihren christlichen Eltern derart streng erzogen worden, dass Sexualität in ihrem Leben überhaupt keine Rolle spielen durfte – stößt immer wieder an die Grenzen ihrer monogam ausgerichteten Beziehung zu Hoyt. Anders als in Twilight – vgl. Weiher : Die Kastration des Pfählers (Anm. 14), 164f. – stellt die dauerhafte Unterdrückung der Triebsphäre für die Vampire in True Blood keine Option dar. Wenn sich in Staffel 5 der Serie ein fundamentalistischer Vampirjägerclan zusammenrottet, dem sich bald auch der von Jessica enttäuschte Hoyt anschließt, kommt es zu einer Szene, die den strengen Phallokratismus des viktorianischen Englands, der Stokers Dracula prägt, erneut aufleben lässt. Wie es in Dracula Lucys Verlobtem zukommt, diese als Vampir zu pfählen, soll in True Blood Hoyt Jessica den Todesstoß geben. Der chauvinistische Spruch des Komplizen zu Hoyt: »Komm, steck ihn ihr nochmal kräftig rein!« wäre zur Unterstreichung der assoziierten Symbolik allerdings gar nicht nötig gewesen. Wenn Verlobte und Ex-Partner Vamps pfählen, steht dahinter immer die Wiedererrichtung monogam phallokratischer Ordnungen.

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Wie in Stokers Roman sind diese aber erfüllt und geprägt von zwei privaten wie gesellschaftlichen Aspekten: Sexualität – samt Wunsch- und Trieberfüllung – und Religion – inklusive ihrer moralischen und sittlichen Implikationen. Der moralisch-religiöse Aspekt, der gesellschaftliche Normenkodex, begegnet uns in Stokers Roman in der Figur des Vampirjägers Abraham van Helsing. Bereits sein Vorname verweist auf die religiösen Implikationen seinen Handelns. Coppola unterstreicht diesen Aspekt durch eine Darstellerdopplung wie im Falle Mina/Elisabethas durch Winona Ryder : van Helsing wie der Priester, der Vlad III. darauf hinweist, dass Elisabetha als Selbstmörderin von Gott verflucht sei, werden von Anthony Hopkins gespielt. Dracula überwindet zwar den Tod, nicht aber seinen religiösen, letztlich dann doch tödlichen Widersacher. »Im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht verkörpert van Helsing Thanatos, den Todestrieb, Dracula ist Eros, weil er sogar über den Tod hinaus leben und lieben will.«48 Coppolas Verfilmung unterstreicht diesen Aspekt derart stark, wie dies bis zu seiner Adaption nicht üblich war.49 Bei Coppola werden somit die Elemente des Dionysischen, die dem Vampir durch seine Bindung an den Eros zu eigen sind, betont. Dies macht auch ein Detail aus der Szene deutlich, in der Lucy, Minas Freundin, von Dracula kurz nach seiner Ankunft in London verführt wird. Coppola gelingt es wie nur wenigen Filmemachern, sich die ästhetische Form der Periode zu eigen zu machen.50 Das populärste Beispiel hierfür ist sicherlich die Taufe aus Der Pate, in der Michael Corleone Satan abschwört, während gleichzeitig in seinem Auftrag die Morde an den Gegnern und Verrätern des Corleone-Clans begangen werden. Zu Beginn dieser szenischen Periode sitzen Mina und Lucy auf einer Bank, zwischen ihnen im Hintergrund steht ein Obelisk, Symbol sowohl orientalischer als auch phallokratischer Herrschermacht. Mit den ersten Regentropfen setzt nun die Musik ein, welche die folgenden Szenen zur Periode verbindet.51 In den heranziehenden Gewitterwolken sieht man das Gesicht Draculas. Dann wird das Schiff, die Demeter, gezeigt, in der Dracula von Varna nach London reist; der Text aus dem Logbuch des Kapitäns wird aus dem Off gelesen. Dann sieht man wieder Lucy und Mina, von Regen durchnässt, in einem Labyrinth lachend und 48 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 136. 49 So erscheint etwa Klaus Kinski in der Rolle des Dracula in Werner Herzogs Nosferatu. Phantom der Nacht (Deutschland/Frankreich 1979) durchweg als melancholischer, todessehnsüchtiger Vampirfürst. Er ist gerade nicht von Lebens- und Liebesgier getrieben, sondern ausschließlich von der Todessehnsucht. Dracula hat hier ausschließlich den einen Wunsch, endlich sterben zu dürfen und zu können. Der Ennui, die unerträgliche Langeweile und der Lebensüberdruss des Fin de siÀcle, wird bei Herzog durch Graf Dracula in die Ewigkeit übertragen. Seine einzige Sehnsucht gilt dem Tode. 50 Alfred Lorenz: Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner. Band I. Tutzing 1966, 1–10. 51 Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:36:07.

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verspielt umherlaufen, was Dracula im Regenschleier lachend kommentiert. Mina und Lucy küssen sich. In dieser Sekunde zeigt das Bild den Zoo von London, in dem ein Wolf ausbricht. Das Tierische wird entfesselt und dies verweist natürlich auf die Triebstruktur der Protagonisten, da Lucy und Mina ja ihren homosexuellen Neigungen in ihren durchnässten Kleidern dezenten Freiraum geben. Wieder wird das tosende Meer gezeigt, Draculas Kisten mit Heimaterde im Bug des Schiffes, Dracula scheint sich in einer der Kisten in einer kokonartigen Schleimblase zu verjüngen, erscheint dann aber als behaartes Biest, mehr Werwolf als Vampir. Ein kräftiger Blutschwall klatscht an ein Segel des Schiffs; Dracula beginnt, die Besatzung aufzufressen. »Dritter Juli, der zweite Maat ist verschwunden. Nähern uns Gibraltar.«52 In dem Moment, in dem das Blut an das Segel klatscht, wird der Männerchor, der ein ›Sanctus‹ singt, deutlich hörbar. Aus zarten Harfentönen bei den ersten Regentropfen entwickelt, dominiert das ›Sanctus‹ von nun an die gesamte Periode. Dann wird der Vollmond gezeigt, das zyklische Zeichen für die frei fließende Triebstruktur, für welche auch der Wolf, der Werwolf zumal, ein Zeichen ist.53 Schließlich springt Dracula in Wolfsgestalt vom Schiff, rennt durch die Straßen, direkt zu Lucys Haus. Nun beginnt die Szene der Heimsuchung Lucys durch den Vampir. Lucy verlässt wie paralysiert in roten, fließenden Gewändern ihr Schlafzimmer, geht in den Park des Hauses, Mina bemerkt dies, entdeckt auf ihrem Bett die abgelegte Halskette mit dem Kruzifix, ruft ihr hinterher, eilt die Treppe im Park hinunter. Unter dem dünnen Stoff ihres Nachtgewandes treten hierbei die Brüste deutlich hervor.54 Somnambul und besessen, von einer unwiderstehlichen Macht angezogen, schreitet Lucy durch den Park, vorbei an einer kleinen Satyrstatue, die einen kräftigen Zug aus einer Weinamphore nimmt.55 Hierdurch wird der dionysische Kontext, in welchem diese Szene zu verorten ist, betont. Schließlich sieht Mina Lucy bei der Kopulation mit Dracula auf einer Steinbank56, die hier Assoziationen an einen Altar weckt. Der nekromantische Weiheakt, den der Vampir mit seinem Opfer hier vollzieht, spielt sich exakt vor der Krypta ab, in welcher später Lucys Leichnam begraben werden wird. Der Altar markiert somit einen Schwellenort zwischen Diesseits und Jenseits, Transzendenz und Immanenz; jene Schwelle zwischen den Welten also, auf der in Zukunft auch Lucy untot leben wird. Darüber hinaus weckt Lucys rotes Kleid im eng anliegenden Bauchteil durch die ringartigen Absetzungen Assoziationen an das segmentierte Abdomen eines Insekts, und dies aus gutem Grund: Lucys Metamorphose vom Menschen zum 52 53 54 55 56

Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:37:19. Vgl. Weiher : Die Kastration des Pfählers (Anm. 14), 163. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:39:31. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:40:15. Bram Stoker’s ›Dracula‹ (Anm. 6), 00:40:15.

Wo ist mein Gott? Er hat mich verlassen!

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Vampir, die durch Draculas Biss und die zu vollziehende Bluttaufe in Gang gesetzt wird, steht ab jetzt bevor. Lucy ist hier also, sowohl im zoologischen als auch im mythologischen Kontext, eine Nymphe57, sodass die Bezüge zum Dionysischen erneut unterstrichen werden. Bezeichnenderweise beginnt auch das Intro zu True Blood mit dem Bild einer Larve, die unter der Wasseroberfläche der sumpfigen Südstaatenlandschaft sitzt, in der True Blood spielt. Es handelt sich hierbei um die riesige Larve eines Schwanzlurchs, wohl um die des in den USA beheimateten Schlammteufels, der auch ›devil dog‹ genannt wird. Der Schlupf einer Fliege aus ihrem Kokon im Intro komplettiert das Bild der Metamorphose vom Menschen zum Vampir. True Blood reflektiert, und das ist dann doch für eine TV-Serie überraschend, sowohl den Vampirismus als auch religiös-politische Themen und Probleme der Gegenwart auf hohem Niveau. Man kann auch ohne Weiteres die gesamte Serie als große Metapher über Weltanschauungskämpfe in der Gegenwart lesen. Blicken wir hierfür noch einmal auf die besonderen Ernährungsgewohnheiten des Vampirs. Anne Rice und Stephenie Meyer haben mit der Ersatzhandlung, statt Menschen- Tierblut zu trinken, die den Vampiren offen steht, den Vampirismus in eine Richtung geschoben, die zu einer Verwässerung des Mythos führen muss, weil der Schrecken des Vampirs unmittelbar damit zusammenhängt, dass er Menschen auf tödliche Weise austrinkt. Die ursprüngliche Ernährungsweise des Menschen als Säugetier erfährt im klassischen Vampirmythos seine tödliche pervertierte, gleichzeitig aber oralsadistische und sexualmetaphorische Ausprägung. Es ist ohne Frage ein Verdienst des Zivilisationsprozesses der Religionen, Blut durch Wein zu ersetzen, das Symbol anstelle des Eigentlichen zu verwenden, zivilisiert anstelle der archaischen Gewalt symbolische Ordnungen zu setzen. »Die Geschichte der Zivilisation, ist die Geschichte der Introversion des Opfers.«58 Religiöser Terror, der erneut Blut fließen lässt, ist von diesem Zivilisationsprozess denkbar weit entfernt. Innerhalb der Kultur steht es Menschen aber frei, ihren Ängsten, ihren Sehnsüchten, auch den pervertierten, den Gewaltfantasien und sexuellen Exzessen, Freiraum zu verschaffen. Der Vampir, ob als männlicher Gewaltherrscher oder weiblicher Vamp, ist hierbei immer eine Metapher für unser unzensiertes Es, das sich im Roman, im Film frei gehen lassen kann. Im Horror begegnet sich das Ich ohne Gewissen. Sublimierung bedeutet eben auch, dass Menschen ihren Trieben im Fiktiven freien Lauf lassen können. Der Vampir braucht kein Gewissen, weil er einen archaischen unzensierten Teil von uns 57 In der Zoologie bezeichnet man als Nymphe die Larven von hemimetabolen Insekten, die ihr Aussehen durch die Metamorphose zum erwachsenen Tier nicht gänzlich ändern, ebenso wie die ›neue Lebensform Vampir‹ ja weitestgehend die individuellen Merkmale des vormals Sterblichen beibehält. 58 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 2005, 62.

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versinnbildlicht. Die Angst, die Horror erzeugt, trifft den Rezipienten immer auch in seiner Einsamkeit und Isolation als Individuum,59 und sie ist immer auch eine Angst vor sich selbst. Bereits die Grundidee von True Blood wie der Titel, wenn man denn einen Moment über ihn reflektiert, machen vieles an der Verwässerung des Vampirmythos wieder gut, was sich durch Meyer im Rekurs auf Anne Rice einzubürgern drohte. Wenn es einer japanischen Firma erst nach langjähriger Forschung gelingt, Tru Blood herzustellen, ein Vampirnahrungsmittel, das es Vampiren erlaubt, auf menschliches Blut zu verzichten, dann wird unmittelbar deutlich, dass in dieser Serie für Vampire eine tierische Ersatznahrung nicht infrage kommt. Die Ernährungsweise des Vampirs und die mit ihr einhergehende Gefahr für die Mitmenschen ist also ein gesellschaftliches Stigma, das Vampire dazu verdammt, ein isoliertes Schattendasein zu führen. Mit Tru Blood wird nun alles anders: Wenn sie sich allein von diesem künstlichen Blut ernähren, kann Vampiren die Integration in die Gesellschaft gelingen. Bei diesem Schritt aber stoßen die Vampire in True Blood auf die übliche Xenophobie, die auch aufgeklärten Gesellschaften eigen ist. »True Blood ist vor allem eine Milieustudie und eine schonungslose Bestandsaufnahme der amerikanischen Gesellschaft.«60 Bereits im Prolog der ersten Folge sieht man auf dem Fernseher in einer Tankstelle, in der zwei Teenager Tru Blood – oder besser noch V – kaufen wollen, den weiblichen Vampir Nan Flanagan, Vorsitzende der American Vampire League. Sie ist blond, adrett, die klassische Lobbyistin. Sie fordert in einem Interview, dass eine Gesetzesnovelle verabschiedet wird, die Vampiren die gleichen Bürgerrechte einräumt, wie andere Staatsbürger sie haben. Wie ein roter Faden wird diese Thematik die gesamte Serie durchziehen. Die Vampire erscheinen einerseits als Opfer der blutdurstigen Menschen, andererseits sind die Oberklasse-Vampire in ihren Nadelstreifenanzügen eindeutig als Anspielung auf die gierigen Inhaber von »Heuschschrecken-Fonds« zu erkennen. Die letzte Episode der ersten Staffel von True Blood endet mit der je nach politischer Einstellung erfreulichen oder schockierenden Nachricht, dass der Staat Vermont die MenschVampir-Ehe legalisiert habe. Ein unübersehbarer Hinweis auf die politischen Turbulenzen, die das Thema »gay marriage« immer wieder in den USA (aber nicht nur dort) auslöst.61

Der Ernst der Lage, samt seiner bio- wie geopolitischen Implikationen, wird in der sechsten Staffel von True Blood deutlich. Die moderne Wissenschaft hat sich die Aufgabe gestellt, den Geheimnissen der Vampire bis auf den Grund zu kommen. Erforschung und Berechnung sind von nun an der Garant für 59 Vgl. King: Danse Macabre (Anm. 31), 25. 60 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 251. 61 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 261.

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menschliche Sicherheit. Hierfür wurde ein Internierungslager errichtet, in das Vampire deportiert werden. Durch die blauen Overalls, die Vampire dort tragen, werden umgehend Assoziationen an Guantanamo geweckt. Dort wird gefoltert, mit UV-Licht und Silberketten, an den Vampiren werden Kopulationsstudien vorgenommen, ihre Fähigkeiten und ihr Sozialverhalten werden in kleinen Versuchskammern erforscht. Durch den Aufklärungswahn »einer verwilderten Wissenschaft«62 verweist dieses Lager natürlich auf Mengeles perverse Versuche in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs. Hiermit legt True Blood einen Finger in die offene Wunde der modernen Gesellschaft. Natürlich ist es Menschen nicht zuzumuten, nachts von Vampiren besucht, ausgesaugt und getötet zu werden. So wie die Interessenvertreterin Nan Flanagan für die Rechte der Vampire eintritt, tritt der neue Gouverneur für die Rechte und die Sicherheit der Menschen ein. Aber die totale Sicherheit ist gekoppelt an die Ausrottung der Gefahr, die nun wiederum in einem freiheitlichen System Rechte für sich in Anspruch nehmen kann. Diese Sicherheit ist aber genau in dem Moment zu teuer erkauft, in dem für sie inhuman gehandelt wird. Das ist genau das Problem, das unauflösliche Dilemma des freiheitlich aufgeklärten Westens, dass er seinen Exportschlager, die Freiheit, in Reaktion auf den Terror in einem Atemzug eingeschränkt hat und die Sicherheit an die erste Stelle gerückt ist. So kommt denn in der sechsten Staffel den modernen Medien eine gesonderte Rolle zu. Handys dienen der Ausspähung, Videoüberwachung beobachtet das Treiben von allen Bürgern – Menschen wie Vampiren. Unmittelbar fühlt man sich an die derzeitigen NSA-Affären erinnert. Auch Folter scheint, in True Blood wie in Guantanamo, sobald sie der Sicherheit und Aufklärung von (hypothetischen) Straftaten dient, ohne Weiteres erlaubt zu sein. Für den Zuschauer erlaubt ist all dies nicht mehr ; längst sind in den vergangenen Staffeln die Vampire – Bill, Jessica, Erik, Pamela und die vielen anderen – zu individuellen Personen geworden, bei denen wir mitfühlen, Beweggründe nachvollziehen, Persönlichkeitsstrukturen erfasst haben. Wenn Jessica in einen weißen Raum geführt wird, in dem sie mit einem anderen Vampir an der Kopulationsstudie ›teilnehmen‹ soll – andernfalls droht Folter durch UVLichtspots –, dann regt sich plötzlich im Betrachter das, was im Vampirmythos eine völlig neue Dimension darstellt: die Scham. Der Voyeurismus, als zentrales Moment des Horrors, wird auf eindringliche Weise für den Zuschauer spür- und erfahrbar, weil wir plötzlich merken, dass wir widerwillige Komplizen des Voyeurismus sind. Die Erniedrigung des Opfers wird somit reflektiert, ohne dass vermieden wird, den voyeuristischen Impuls beim Zuschauer zu bedienen. Der

62 Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt a. M. 2003, 1084.

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Horror ist abgewandert vom schrecklichen Vampir zum noch viel schrecklicheren Menschen. Wenn sich denn schließlich am Ende der Staffel die Vampire auf schreckliche Weise für das rächen, was ihnen angetan wurde, wenn Erik etwa einem Wärter bei lebendigem Leib den Penis samt Hoden ausreißt, Bill ihm anschließend das Gesicht eintritt und das Blut hierbei in Strömen fließt und spritzt, dann empfindet man eine Genugtuung, die unmittelbar an unsere Instinkte appelliert, an einen Rache- und Vergeltungsdurst, der sich wohl nicht humanisieren lässt. Wieder einmal wird uns deutlich: »Der Vampir sind wir.«63 »Anhand der Vampire kann True Blood reale Probleme in einer fiktiven Welt so thematisieren, wie man sie derzeit in der Realität nicht diskutieren könnte, ohne dass die religiösen Rechte und die moralische Mehrheit sofort aufheulten.«64 In der literarischen Epoche der Aufklärung war die Fabel das beliebte literarische Mittel, auf Missstände aufmerksam zu machen. Nur Verhüllungstaktik konnte ihr Enthüllungspotenzial entfalten. Durch das Erstarken religiöser Weltanschauungen und einen nicht näher definierten Begriff von Religionsfreiheit scheint derzeit die Epoche der Aufklärung so zeitgemäß wie nie.

63 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1). 64 Köppl: Der Vampir sind wir (Anm. 1), 263.

Laura Gemsemer

Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz. Religiöse Elemente in P. C. und Kristin Casts House of Night Novels und in Stephenie Meyers Twilight-Saga

1.

Einleitung

Die Welt der House of Night-Jugendvampirromanreihe von P. C. und Kristin Cast präsentiert sich als ein Patchwork-Geflecht von religiösen Elementen, das sich aus den verschiedensten Kulturkreisen, von Cherokee-Mythologie und griechischer Antike bis hin zum Christentum, zusammensetzt. Dabei verkörpert die Göttin Nyx – »the ancient personification of Night«1 – den Grundstein für das fiktive Transzendenzsystem2 und trägt deutlich Züge einer Großen Muttergöttin. Zum einen gilt es, dieses Geflecht nachzuzeichnen. Zum anderen prägt die fiktive Religion um die Vampirgöttin Nyx die literarische Realität der mittlerweile 16-bändigen Reihe3 bis in deren Grundmauern. So werden vor allem zentrale Genderaspekte durch die Verortung der Romane in einem vampirischen Matriarchat4 bestimmt.

1 Kristin Cast u. P. C. Cast: Marked. London 2009, 46. 2 Der hier verwendete Religionsbegriff versteht sich als Arbeitsdefinition im Sinne des Figel’schen Transzendenzbegriffes. Vgl. Johann Figl: Handbuch Religionswissenschaft. Innsbruck/Wien 2003. 3 Kristin Cast u. P. C. Cast: House of Night Novels. 12 Bde. New York/London 2007–2014. Außerdem Supplementbände: dies.: House of Night Novellas. 4 Bde. New York/London 2001–2014. 4 Die Bezeichnung ›Matriarchat‹ wird oft mit ›Mutter-‹ oder ›Frauenherrschaft‹ übersetzt und leitet sich von lat. mater und gr. ‚rchein als begriffliche Nachbildung zu ›Patriarchat‹ ab. Der Begriff ist allerdings eher im Sinne gesellschaftlicher Dominanz denn politischer Herrschaft zu verstehen, sodass ›Matriarchat‹ nicht automatisch als Umkehrung patriarchaler Machtverhältnisse zu denken ist. Vgl. Doris Hodel: Matriarchat/Patriarchat. In: Hubert Cancik u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4. Berlin/Köln 1998, 120–127, hier 120. Matriarchat lässt sich aber auch mit ›Am Anfang war die Frau‹ übersetzen, da arch¦ auch Anfang bedeutet. Da sich ein Matriarchat nicht letztgültig nachweisen lässt, spricht die Forschung von Matrilokalität oder Matrilinearität. Fällt beides zusammen, geht man von sogenannter Matrifokalität aus. Vgl. Vera Zingsen: Matriarchat. I. Religionswissenschaftlich. In: Hans Dieter Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 4 2002, 913f.

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Vergleicht man die zwar erfolgreiche, aber lange nicht so bekannte House of Night-Reihe mit Stephenie Meyers Twilight-Saga5 um das hybride Pärchen Bella (Mensch) und Edward (Vampir), geben sich insbesondere die jeweiligen Sexualitätsdiskurse als religiös determiniert zu erkennen und lassen sich einerseits als matriarchale Freizügigkeit und andererseits als mormonische Abstinenz charakterisieren. Die religiöse Einbettung der House of Night-Romane, die starke Parallelen zu Matriarchatsvorstellungen sowie zur neureligiösen Bewegung Wicca6 aufweist, bestimmt die literarische Wirklichkeit dabei nicht minder grundlegend als der biographische Hintergrund der bekennenden Mormonin7 Stephenie Meyer dies für die Twilight-Saga tut. Ein komparatistischer Blick auf beide Reihen fokussiert im Folgenden die Verkettung von religiösen Elementen und Sexualitätsdiskurs und zeigt ebenso kontrastierend wie verbindend die Determiniertheit der beiden Jugendvampirromanreihen durch ihre religiös-ideologische Verankerung auf,8 wobei Religion und Literatur sich in der zeitgenössischen Trivialliteratur, die wohl nie erfolgreicher war als heute, außerordentlich produktiv verzahnen.

2.

Matriarchale Sexualitätsdiskurse in den House of Night Novels

Im Mittelpunkt der House of Night-Reihe steht nicht nur die Göttin Nyx, sondern in erster Linie die bis zum 5. Band alleinige Ich-Erzählerin Zoey Redbird, die beginnt, sich zum Vampir zu verwandeln. Diese Verwandlung wird innerhalb 5 Stephenie Meyer: The Twilight-Saga. 4 Bde. London 2006–2008. 6 »Wicca – auf Deutsch auch als neue Hexen bekannt – ist für den Matriarchatsdiskurs interessant, da die Grosse Göttin im Kult eine wichtige Rolle spielt. Wicca propagiert ein immanentes Verständnis des Göttlichen, das sich in der Natur manifestiert – deshalb die Wichtigkeit, die der Natur, häufig als Mutter Erde verehrt, zugeschrieben wird […]. Das Göttliche verkörpert sich nicht nur in der Natur, sondern auch im (menschlichen) Körper und in der Sexualität, die als lebensschöpferische Potenz aufgefasst wird.« Meret Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat. Zürich 2011, 359. Ausführlich hat Kathrin Fischer zu Wicca gearbeitet. Vgl. Kathrin Fischer : Das Wiccatum. Volkskundliche Nachforschungen zu heidnischen Hexen im deutschsprachigen Raum. Würzburg 2007. 7 Zu den heiligen Schriften der Mormonen zählen neben dem Buch Mormon und einigen anderen Schriften auch das Alte und Neue Testament, nur dass diese nicht als endgültige Worte Gottes angesehen werden. Als Begründer der Bewegung gilt Joseph Smith. Die 1830 gegründete und ab 1838 sogenannte Church of Latter-Day Saints (kurz LDS) basiert auf dessen Erscheinungen und Offenbarungen. Vgl. Michael Klöcker : Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen). In: Monika Tworuschka u. Udo Tworuschka (Hg.): Religionen der Welt. Grundlagen, Entwicklung und Bedeutung in der Gegenwart. München 1992, 400f. 8 Aufgrund der Komplexität des religiösen House of Night-Kosmos werden an dieser Stelle nicht alle Zweige des religiösen Geflechtes betrachtet. Der Fokus wird stattdessen auf diejenigen Aspekte gelegt, welche die Reihe besonders stark von Meyers Saga abheben.

Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz

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der Romanreihe als Ergebnis eines pubertätsbedingten Hormonanstiegs, der einen bestimmten DNA-Strang triggert, imaginiert.9 Jene Jugendlichen, genannt fledglings, die sich nun zu verwandeln beginnen – ein Prozess, der einige Jahre in Anspruch nehmen kann –, werden von einem sogenannten Tracker10 aufgesucht und mit dem Sichelsymbol der Göttin Nyx magisch markiert. Nach ihrer Markierung beginnen sie, das ›Haus der Nacht‹ zu besuchen, ein Vampirinternat, in dem sie ihre Verwandlung zum erwachsenen Vampir abschließen sollen und eine spezielle Schulausbildung erhalten, zu der neben Literatur oder Vampirsoziologie auch Kurse wie ›Spells and Rituals‹ gehören.11 Die gesamte Handlung folgt dabei im Grunde einer Coming-of-Age-Struktur, wobei der Plot sich ebenso als Schwellen- wie als Umwandlungsphase beschreiben lässt.12 Wie Harry Potter und Co. bekämpfen Zoey und ihre »›nerd herd‹«13 außerdem das Böse und retten die Welt. Das Erfolgsrezept ist somit ein altbekanntes: »[Die Autorinnen] schicken Edward (Twilight) nach Hogwarts (Harry Potter) Verzeihung: Zoey in das House of Nights.«14

2.1

Nyx oder die Große Mutter

Die House of Night-Reihe gleicht einem Patchwork-Geflecht von religiösen Elementen.15 So leiten die Autorinnen den ersten Band der Serie beispielsweise

9 10 11 12

Vgl. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 26f. Vgl. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 3. Vgl. bspw. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 116 bzw. 159. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat sich als erster ausführlich mit der strukturellen Dreischrittigkeit von sogenannten Übergangsritualen auseinandergesetzt. Gennep geht davon aus, dass das Leben des Menschen aus einer Folge von Etappen besteht. Bringt das Individuum eine Etappe hinter sich, findet Veränderung statt. Ein klassisches Beispiel stellen die Initiationsriten dar, die den Übergang vom Kind zum Erwachsenen begleiten. Aufgrund der Wichtigkeit solcher Übergänge und ihrer strukturellen Ähnlichkeit hielt Gennep es für wichtig, eine besondere Kategorie der Übergangsriten – die rites de passage – einzuführen. Er beobachtet 1. Trennungsriten (rites de s¦paration), welche die Ablösungsphase einleiten, 2. Schwellen- oder Umwandlungsriten als Zwischenphase (rites de marge), wobei sich Erstere auf einen Raum- und letztere auf einen Zustandswechsel beziehen, und 3. Angliederungsriten (rites d’agr¦gation) als abschließende Integrationsphase. Arnold van Gennep: Les rites de passages. New York 1969 [1909], 13f. Die mittlere Phase, die bei Gennep noch unter rites de marge verhandelt wird, wurde von Victor Turner ausführlich hinsichtlich ihrer Liminalität aufgegriffen und ergänzt. Vgl. bspw. Victor Turner : The Ritual Process. New York 1969. 13 Kristin Cast u. P. C. Cast: Untamed. Bd. 4. New York 2008, 23. 14 Lena Ullrich: Bücher : ›Gezeichnet‹ von Phyllis und Kristin Cast. Online unter : www.geo.de/ GEOlino/kreativ/buecher/fantasy/buecher-gezeichnet-von-phyllis-und-kristin-cast-63240. html (25. 07. 2014). 15 Der Essayband Nyx in the House of Night arbeitet an verschiedenen Stellen ausführlich, wenn

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mit »Hesiod’s poem to Nyx, the Greek personification of night«16 ein und legen so die (hauptsächlich) namentliche Provenienz nicht nur ihrer nunmehr eigenen Version der ursprünglich griechisch-antiken Nyx17 offen, sondern auch des Titels der Jugendvampirromanserie, wenn es da, die Theogonie zitierend, heißt: »There also stands the gloomy house of Night«.18 Nyx ist aber nicht nur die Göttin der Nacht. Innerhalb des House of NightKosmos gilt sie in erster Linie als Göttin der Vampire und wird somit zur Mutter der ›Kinder der Nacht‹, als welche Vampirfiguren immer wieder gerne bezeichnet werden.19 Als »Kinder der finsteren Nacht«20 gelten bei Hesiod dagegen Hypnos (Schlaf) und Thanatos (Tod), wobei sich höchstens Letzterer mit etwas Wohlwollen in Bezug zur Figur des Vampirs setzen ließe. Allerdings entpuppe sich die antike Nyx als eine schillernde Göttin, die man »sich immer auch als nährende Mutter mit einem hellen und einem dunklen Kind im Arm vor[stellt]«.21 Auch als Urmutter und Ursprungsfigur gelte die antike Göttin in ihrer Doppelrolle als personifizierte Gottheit und rein abstraktes Prinzip.22 Dieses dürften schon eher Konzepte sein, welche das Cast-Autorinnenduo inspiriert haben. Die Markierung der Vampiranwärter mit einem Halbmond scheint hinsichtlich Nyx’ griechisch-antiker Identität als Göttin der Nacht nicht weiter verwunderlich, doch weist das Symbol des Halbmonds auf der Stirn der Jungvampire intertextuell viel tiefer in den als matriarchal imaginierten Göttinnenkult hinein: Marion Zimmer Bradley beschreibt in ihrem Bestseller The Mists of Avalon,23 wie die Stirn der auf Avalon lebenden Priesterinnen bei ihrer Initiation in den Kult der Großen Mutter mit einem blauen Halbmond tätowiert wird, als Zeichen, im Dienst der Göttin zu stehen und sich dieser geweiht zu haben.24 Zimmer Bradley dienen dabei die Texte der Autorin Starhawk25 als

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

auch semiwissenschaftlich, die einzelnen religiösen Anleihen der Autorinnen heraus. Vgl. P. C. Cast (Hg.): Nyx in the House of Night. Dallas 2011. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), Frontmatter. Vgl. auch Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008, 37–56. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), Frontmatter bzw. Hesiod: Theogonie. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1999, 744f. Vgl. bspw. Detlef Klewer : Die Kinder der Nacht: Vampire in Film und Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 2007. Hesiod: Theogonie (Anm. 18), 759f. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht (Anm. 17), 40. Vgl. bspw. auch die Darstellung der Nyx von Taddeo Zuccari im Palazzo zu Caprarola von 1562/63. Vgl. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht (Anm. 17), 40ff., 52 u. 56. Marion Zimmer Bradley : The Mists of Avalon. London 1982. Vgl. Zimmer Bradley : The Mists of Avalon (Anm. 23), 154 oder auch 152. Vgl. bspw. Starhawk: The Spiral Dance. A Rebirth of the Ancient Religion of the Great Goddess. San Francisco 1999 [1979].

Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz

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Muster für die Ausbildung ihrer Avalon-Priesterinnen, sodass Zimmer Bradleys literarische Fantasy-Bearbeitung der Artussage in einen unmittelbaren Zusammenhang zur neuen Hexenbewegung (bekannt als Wicca) rückt, der Starhawk als prominente Vertreterin angehört.26 Die mythenumwobene Insel Avalon wird u. a. im fünften Band der House of Night-Reihe zudem als »ancient isle of the goddess«27 bezeichnet. Die Göttin Nyx rückt dadurch zum einen in eine nicht zu übersehende intertextuell-diskursive Relation mit dem Konzept einer Großen Mutter(-Göttin), wie sie nicht nur in The Mists of Avalon beschrieben wird, sondern auch von AutorInnen verschiedener Fachrichtungen vor allem im Rahmen der umstrittenen (feministischen) Matriarchatsforschung oder der tiefenpsychologischen Schule C. G. Jungs ausgiebig untersucht wurde.28 Zum anderen wird dieser Bezug durch die literarische Inszenierung beispielsweise der detailliert beschriebenen Rituale29 zusätzlich mit Wicca-Elementen untermauert, sodass die Darstellung der Göttin Nyx unübersehbare Parallelen zu dieser neureligiösen Bewegung aufweist, die ihrerseits ebensolch eine Muttergöttin verehrt.30 Typischerweise steht hinter dieser letztlich archetypischen Vorstellung auch das Konzept einer unter vielen Namen verehrten Muttergöttin, die trotz zahlreicher Gestalten und Namen immer dieselbe bleibt.31 Tatsächlich assoziieren die Casts ihre Göttin auch nicht nur mit anderen Personifikationen der Nacht, sondern legen ihr die Worte »›I am known by many names …Changing Woman, Gaea, A’akuluujjusi, Kuan Yin, Grandmother Spider, and even Dawn …‹«32 in den Mund – Göttinnen, die vor allem mit dem Prinzip der Erde assoziiert werden,33 was sich als intertextueller Bezug zur Matriarchatsforschung lesen

26 Vgl. Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat (Anm. 6), 381. Die Verbindung zu den sogenannten ›Kindern der Erde‹ im Sinne einer Parallele von Wicca-Anhängern und den CastVampiren arbeitet auch Lankford heraus. Vgl. Bryan Lankford: The Elements of Life. In: Cast (Hg.): Nyx in the House of Night (Anm. 15), 129–142. 27 Vgl. Kristin Cast u. P. C. Cast: Hunted. Bd. 5. London 2009, 386. 28 Vgl. hierzu u. a. Fritz Stolz: Muttergottheiten. In: Cancik u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (Anm. 4), 166–168. Oder prominent Erich Neumann: Die Grosse Mutter. Zürich 1956. Ebenso Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. München 1980. 29 Die rituellen Anrufungen der Göttin Nyx seitens ihrer Vampirpriesterinnen und das Ziehen des magischen Kreises im Rahmen dieser Rituale weisen eine unübersehbare Nähe zu den praktischen Anweisungen auf, die Starhawk beschreibt. Vgl. Starhawk: The Spiral Dance (Anm. 25). Vgl. auch unten: Anm. 60. 30 Vgl. insbesondere Fischer : Das Wiccatum (Anm. 6). 31 Vgl. auch Apuleius: Der Goldene Esel. Metamorphosen. Übers. u. hg. v. Edward Brandt u. Wilhelm Ehlers. München/Zürich 1989, 11,5. 32 Cast u. Cast: Marked (Anm.1), 45. 33 Vgl. Karen Mahoney : Night in the House of Good and Evil. Nyx’ Portrayal in The House of Night Series. In: Cast (Hg.): Nyx in the House of Night (Anm. 15), 7.

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lässt.34 Johann Jakob Bachofen schreibt: »Wo immer die Gynaikokratie uns begegnet, verbindet sich mit ihr das Mysterium der chthonischen Religion, mag diese an Demeters Namen sich anknüpfen, oder dem Muttertum in einer andern gleichgeltenden Gottheit Verkörperung leihen.«35 So erklärt Nyx der Protagonistin Zoey auch: »›[…] it was the ancient Greeks touched by the Change who worshipped me as the mother they searched for within their endless Night.‹«36 An verschiedenen Stellen deuten die Romane sogar an, dass auch die christliche Gottesmutter Maria eigentlich nur eine weitere Inkarnation von Nyx sei.37 Der 4. Supplementband der House of Night-Serie thematisiert dies weiterhin, wenn Nyx und Mutter Erde, die überraschend inkonsequent dennoch als zwei Gestalten imaginiert werden, sich unterhalten und Nyx der Mutter Erde erläutert: »›Humans are calling me many names.‹ […] ›Some call me Sarasvati.‹ […] ›Nidaba is the name some of your children whisper in their prayers.‹« Während sie diese und andere Namen nennt, verändert Nyx jeweils ihre äußerliche Erscheinung. Auf Mutter Erdes Frage, welcher Name ihr denn am liebsten sei, antwortet sie schlicht: »›Nyx. It reminds me of night, and I do so love the peacefulness of night and the beauty of moonlight.‹«38 Heide Göttner-Abendroth – kritisierte, aber dennoch grundlegende Matriarchatsforscherin39 – bemerkt hierzu, die Verehrer der großen Göttin hätten gewusst, dass sie überall dieselbe sei, die eine mit tausend Gesichtern.40 Dieser Vorstellung folgen offensichtlich auch die CastAutorinnen. Die Matriarchatsforschung geht weiterhin davon aus, dass eine solche (Große Mutter-)Göttin auch als dreifache Göttin dargestellt worden sein soll, das heißt als Jungfrau, Mutter und alte Frau.41 Dieses Konzept findet ebenfalls Einzug in

34 Überhaupt sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die folgenden Referenzen auf MatriarchatsforscherInnen oder Wiccatum etc. grundsätzlich in ihrer diskursiven Einflussnahme von Interesse sind, sozusagen als Intertext. Ob oder wie umstritten die An- und Einsichten bspw. der Matriarchatsforschung sind, sei dahingestellt. 35 Johann Jakob Bachofen: Mutterrecht und Urreligion. Stuttgart 1954 [1861], 100. 36 Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 45. Hervorhebung: L. G. 37 Vgl. hierzu Cast u. Cast: Untamed (Anm. 13), 148. Vgl. auch Kristin Cast u. P. C. Cast: Tempted. Bd. 6. New York 2009, 26. Ebenso Cast u. Cast: Hunted (Anm. 27), 425. 38 Vgl. Kristin Cast u. P. C. Cast: Kalona’s Fall. Suppl. 4. London 2014, 6f. 39 Göttner-Abendroth gilt trotz aller Kritik als Pionierin der systematischen Matriarchatsforschung und hinsichtlich ihrer (populären) Wirkung als Klassikerin oder auch »Grande Dame der Matriarchatsforschung«. Vgl. Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat (Anm. 6), 222. Vgl. auch: Stefanie Krauß: Heide Göttner-Abendroth (geb. 1941). Eine kritische Vorstellung der Klassikerin der Matriarchatsforschung. In: Anna-Katharina Höpflinger u. a. (Hg.): Handbuch Gender und Religion. Göttingen 2008, 95–104. 40 Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung. Stuttgart u. a. 1988, 100. 41 Vgl. bspw. Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros (Anm. 28). Dieser Trias haben sich auch wichtige Künstler gewidmet. Vgl. etwa E. Munchs »Kvinnen« von 1894, bekannt als »Die

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die Cast’sche Nyx-Darstellung42 und zieht sich ikonographisch als Sichel, Vollmond und Neumond43 durch den Matriarchatsdiskurs, was sich erneut elegant in das Konzept der Göttin Nyx und deren Identität als Göttin der Nacht eingliedert. Dass die Große Mutter seit Beginn ihrer Erforschung als »mother of dead as well as living«44 gedacht wurde, die für den ewigen Zyklus von Leben, Tod und Auferstehung verantwortlich ist, sodass »es in den religiösen Vorstellungen des Matriarchats keinen Gegensatz von Leben und Tod« gibt,45 fügt sich ebenso nahtlos in die Vorstellung von Nyx als Vampirgöttin ein, wie es bereits ihre Verbindung zum Mond, das heißt zur Nacht getan hat. Im Grunde führt das Autorinnenduo erfolgreich mehrere (ikonographische) Motivstränge zusammen, die prädestiniert sind, in eine fruchtbare Wechselwirkung zu treten. Auf den Patchwork-Charakter weisen die Autorinnen selbst offen hin: »[P. C. Cast:] the foundation of our vampire world is matriarchal […]. It’s heavily pagan and Wiccan based, with a huge influx of Native American myth and legend.«46

2.2

Physische und religiöse Identitäten

Wenn die Kinder der Göttin der Nacht vom Tracker aufgesucht und markiert werden, verdeutlichen dessen rituelle Worte »Night [d. h. Nyx] has chosen thee« die unwiderrufliche religiöse Verankerung des Cast’schen Vampirs:47 Durch die Kennzeichnung mit dem Halbmond wird der fledgling unmittelbar, unverkennbar und unwiderruflich in die Religion der matriarchalen (Vampir-)Göttin eingebunden. Die nunmehr entstehende religiöse Verankerung des Vampirs sorgt dabei unweigerlich für Konfliktpotenzial, da sie diesen weiterhin von der christlich-fundamentalistisch gezeichneten Gesellschaft – verkörpert durch die ›People of Faith‹ – absondert. Deren engstirnigere Vertreter vermuten im Vampir den Satan höchstpersönlich und betrachten pubertäres Fehlverhalten als

42 43 44 45 46 47

Frau in drei Stadien« (Rasmus Meyer Collection, Bergen, Norwegen), oder G. Klimts »Die drei Lebensalter der Frau« von 1905 (Rom, Galleria Nazionale d’Arte Moderna). Kristin Cast u. P. C. Cast: Betrayed. Bd. 2. New York 2007, 102. Vgl. bspw. Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros (Anm. 28), 5, oder Robert Graves: Die weiße Göttin. Berlin 1981, 79. Jane Ellen Harrison: Prolegomena to the Study of Greek Religion. Princeton 1991 [1903], 266. Christa Mulack: Die Weiblichkeit Gottes. Matriarchale Voraussetzungen des Gottesbildes, Stuttgart/Berlin 1983, 143. Vit Wagner : Fame’s at stake for Cast of two. In: thestar.com. 29.03.09. Online unter : www. thestar.com/entertainment/2009/03/29/fames_at_stake_for_cast_of_two.html (25. 07. 2014). Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 4.

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nicht auszuschließenden Grund für den genetischen Wandel, der die Metamorphose zum Vampir einleitet.48 Jana Oliver betont in ihrem Essay By Their Marks You Shall Know Them,49 wie Tätowierungen50 – denn um eine solche handelt es sich zumindest optisch bei dem Halbmond der Göttin – gemeinhin als soziales Statement gelesen werden, also Identität und Zugehörigkeit des Tätowierten reflektieren.51 Allerdings führt Oliver aus: »What is a statement of belonging in one context can be evidence of difference – and an excuse for discrimination – in another.«52 Nyx’ Halbmond nimmt unverkennbar solch eine Funktion ein und beschwört dadurch auch den entsprechenden gesellschaftlichen Konflikt herauf, da (soziale) Identität hier durch das Prinzip Inklusion/Exklusion erzeugt wird. Diese narrative Konstellation böte den House of Night-Romanen ein breites Fundament für gesellschaftspolitische Diskurse,53 was die Reihe im Gegensatz zur HBO-TV-Serie True Blood54 und deren Romanvorlage der Southern Vampire Mysteries von Charlaine Harris55 aber nicht auslotet, sondern nur andeutet.56 Ähnlich der Idee Stephenie Meyers, dass einige Vampire nach ihrer Verwandlung besondere Gaben entwickeln, werden einige von Nyx’ (Vampir-) Kindern neben der visuellen Markierung mit »›Goddess-given gifts‹«57 be48 Vgl. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 25f. 49 Jana Oliver : By Their Marks You Shall Know Them. In: Cast (Hg.): Nyx in the House of Night (Anm. 15), 31–45. 50 Es handelt sich um keine tatsächlichen Tätowierungen, die der Vampir nach dem erfolgreichen Wandel gestochen bekommt, sondern um magisch auftretende Zeichnungen, einer Tätowierung ähnlich, die das Gesicht individuell verzieren. Der Einfachheit halber wird im Folgenden dennoch von Tätowierungen gesprochen. 51 Vgl. Oliver : By Their Marks You Shall Know Them (Anm. 49), 39. Vgl. weiterhin Frank-P. Finke: Tätowierungen in modernen Gesellschaften. Osnabrück 1996, insb. 131–143. 52 Oliver : By Their Marks You Shall Know Them (Anm. 49), 40. 53 Allerdings ließe sich das religiöse Modell der Serie durchaus politisch lesen. 54 True Blood (True Blood). Creator: Allan Ball, HBO. USA seit 2008. Erstausstrahlung: 07. 09. 2008 (deutschsprachige Erstausstrahlung: 11. 05. 2009). 55 Charlaine Harris: Sookie Stackhouse Novels. 13 Bde. New York 2001–2013. Auch bekannt als Southern Vampire Mysteries. 56 Die Auseinandersetzung mit der vampirfeindlichen Kirche Fellowship of the Sun wirft das Thema des anscheinend unweigerlich aufkommenden Rassismus gegenüber den Vampiren in der Sookie Stackhouse-Serie auf, sobald die Vampire versuchen, sich zu integrieren bzw. friedlich neben der menschlichen Gesellschaft zu leben. Harris hebt die gesellschaftspolitischen Fragen, die die Vampirthematik in den literarischen Raum wirft, besonders stark hervor, während diese Problematik bei P. C. und Kristin Cast nur am Rande des Geschehens eine Rolle spielt. Vgl. bspw. Charlaine Harris: Living Dead in Dallas. Bd. 2. London 2009. Die Fernsehserie True Blood, die sich an verschiedenen Stellen sehr weit von ihrer literarischen Vorlage entfernt, hebt die politische Thematik u. a. durch die Einführung des in dieser Art bei Harris nicht existierenden Charakters der afroamerikanischen Tara besonders stark hervor. 57 Kristin Cast u. P. C. Cast: Awakened. Bd. 8. London 2010, 94.

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schenkt, sogenannten Affinitäten, die sich in den unterschiedlichsten Formen manifestieren können: »›Every High Priestess is given an affinity – what you would probably think of as special powers – by the Goddess.‹«58 So haben die Freunde der Protagonistin, ebenso wie sie selbst auch, die Fähigkeit, eines der Elemente oder gar alle fünf zu kontrollieren. Bereits Bram Stoker schreibt seiner Dracula-Figur diese Fähigkeit zu, was beispielsweise die Francis-Ford-CoppolaVerfilmung von 1992 magisch-rituell aufgeladen in Szene setzt, wenn Dracula alias Gary Oldman die Winde beschwört.59 Im Kontext der neuen Hexenbewegung erhält dieses Motiv jedoch eine deutlich (esoterisch-)spirituelle Dimension, da die Anrufung der fünf Elemente auch zu jedem Wicca-Ritual gehört.60 Im Laufe der Reihe lässt sich weiterhin beobachten, dass diese Gaben dazu neigen, den Charakter der jeweiligen Figur zu spiegeln.61 Ebenso reflektieren die Tätowierungen der ausgewachsenen Vampire, die beim Vollzug des sogenannten Change auftreten, das Innere ihrer Träger, und das Gesicht von Zoeys Freundin Stevie Rae, die gerne mal als »bumpkin«62 bezeichnet wird und deren Gabe eine Affinität zur Erde ist, ziert nach ihrer erfolgreichen Verwandlung »[a] beautiful pattern of tattoos made of swirling flowers with long, graceful stems all twined together«.63 Ihre visuelle Markierung spiegelt folglich nicht nur ihren Charakter, sondern auch ihre Gabe und damit die Zugehörigkeit zu Nyx’ Religion wider. Das metamorphische Konzept, das sich hier präsentiert, lässt innere und äußere Metamorphose Hand in Hand gehen und sich nicht vom religiösen Bezug trennen: »Nyx serves as a divine tattoo artist […]. In the world of the House of Night, Marks are unique to the individuals who wear them, clear reflections of their owners’ identities: their passions, personalities, and destinies.«64 Dieses Konzept wird auch dadurch unterstrichen, dass Zoeys Auserwähltsein sie mit einer Reihe existenzieller Konflikte konfrontiert, die sie mithilfe ihrer Freunde und ihrer Affinitäten einen nach dem anderen bewältigt. Als göttliche Auszeichnung und Anerkennung erhält sie immer neue Markierungen, die bald nicht mehr nur ihr Gesicht, sondern auch Rücken, Hände und weitere Körperteile schmücken.65 Die innere Veränderung, das heißt das Wachstum und die 58 Vgl. auch Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 60. 59 Vgl. Dracula (Bram Stoker’s Dracula). Regie: Francis Ford Coppola. USA 1992, 01:12:58–01:13:07. 60 Vgl. Starhawk: The Spiral Dance (Anm. 25), 80–101. Vgl. parallel hierzu bspw. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 183ff. 61 Vgl. hierzu Langford: The Elements of Life (Anm. 26). 62 Kristin Cast u. P. C. Cast: Burned. Bd. 7. London 2010, 94. 63 Kristin Cast u. P. C. Cast: Chosen. Bd. 3. New York 2008, 290. 64 Oliver : By Their Marks You Shall Know Them (Anm. 49), 42f. 65 Vgl. bspw. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 337f. u. 343. Der typische Cast’sche Vampir erhält keine solchen Tätowierungen, und seine Körperzeichnung beschränkt sich auf das Gesicht. Zoeys Auserwähltsein spiegelt sich also auch äußerlich wider.

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Reife, die mit der Entwicklung von Persönlichkeit und Identität einhergehen und die sie mit jeder Prüfung Stück für Stück erlangt, drücken sich erneut in einer äußerlichen Veränderung aus. So verliert Zoey konsequenterweise all ihre Tätowierungen, als sie aufgrund völliger psychischer Überforderung in einen komaähnlichen Zustand fällt.66 Zoey wird als intrapsychisch fragmentiert beschrieben und muss sich während einer Art Jenseitsreise mit ihren verschiedenen Selbstanteilen auseinandersetzen.67 Erst als die Krise überwunden ist und alle Selbstanteile integriert, kehren auch die Markierungen zurück:68 »It’s not easy being the Chosen one. Just ask Buffy Summers. Ask Harry Potter. And ask Zoey Redbird, the latest of the ›lucky‹ candidates picked by fate to save the world from darkness.«69 Die hier dargestellten individualistischen Identitäten der Figuren lassen sich geradezu an deren physischer Oberfläche ablesen.

2.3

(Matriarchale) Sexualität

Sexualität wird innerhalb der feministischen Spiritualität70 als heilig und als lebensschöpferische Potenz aufgefasst, wobei ein besonderes Augenmerk der weiblichen Sexualität und Lust gilt.71

Die aufgezeigte Verankerung der Göttin Nyx in paganen Traditionen und Vorstellungen einer großen weiblichen (Mutter-)Gottheit weist gleichzeitig auf die non-patriarchale Herkunft und auf die entsprechende literarische Ausgestaltung nicht nur der Göttin, sondern auch des geführten Sexualitätsdiskurses hin. Auch die neben der menschlichen und meist christlich-patriarchalen Gesellschaft existierende Vampirgesellschaft wird von den Cast-Autorinnen innerfiktional auf makrokosmischer wie mikrokosmischer Ebene als dezidiert matriarchal dargestellt. Die weiblichen Hohepriesterinnen der Nyx führen die Cast’sche Vampirgesellschaft politisch an.72 Männern kommt die Rolle von 66 Es dürfte sich – positiv ausgedrückt – um ein intermediales Zitat der Serie Buffy the Vampire Slayer (Buffy – Im Bann der Dämonen). Creator: Joss Whedon. USA 1997–2003. Erstausstrahlung: 10. 03. 1997 (deutschsprachige Erstausstrahlung: 09. 10. 1998) handeln. In The Weight of the World (Die Last der Welt), Season: 5, Episode: 21 ist die Vampirjägerin Buffy von ihrer Aufgabe, (stets aufs Neue) die Welt zu retten, überfordert, sodass sie in einen Zustand der Katatonie verfällt. 67 Vgl. Cast u. Cast: Burned (Anm. 62), 150–153. 68 Vgl. Cast u. Cast: Burned (Anm. 62), 311. 69 Jeri Smith Ready : Freedom of Choice. Kalona, A-ya and the Raven Mockers. In: Cast (Hg.): Nyx in the House of Night (Anm. 15), 105–115, hier 105. 70 Zumindest die Dianische Wicca-Tradition, der auch Starhawk angehört, kann dem spirituellen Feminismus zugeordnet werden. Vgl. hierzu Fischer: Das Wiccatum (Anm. 6), 66. 71 Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat (Anm. 6), 129. 72 Vgl. Cast u. Cast: Untamed (Anm. 13), 79.

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Kriegern zu, die ihren Vampirfrauen schützend zur Seite stehen. Ihnen wird zwar großer Respekt gezollt, dennoch sind es die Priesterinnen, die sie anführen.73 »›But our belief system isn’t about female power suppressing male power. It’s about a healthy balance between the two.‹«74 Die Cast’schen Vampire sehen sich dabei in einer Verwandtschaftslinie mit den als »›heavily matriarchal‹«75 bezeichneten Amazonen. Im Vergleich zur Twilight-Protagonistin Bella Swan, die sich zwar beschwert, Edward sei »›bizarrely moral for a vampire‹«,76 dann aber doch akzeptiert, ihn erst heiraten zu müssen, bevor sie ihm sexuell näherkommen darf,77 führt Zoey Redbird ein durchwachsenes und vielseitiges sowie definitiv aktives und moralisch einwandfreies, da gesellschaftlich akzeptiertes, polyandrisch ausgerichtetes Liebesleben: Eine Hohepriesterin – und Zoey ist eine »High Priestess in Training«78 – hat für gewöhnlich einen Krieger an ihrer Seite, ihren »›Oathbound‹«,79 »›sworn […] Warrior‹«,80 sowie einen menschlichen »consort«81 und zusätzlich noch einen regulären, vampirischen »›mate‹«82 als festen Partner. Alle drei Arten dieser Verbindung führen unweigerlich eine starke Intimität mit sich, was teilweise dazu geführt hat, dass sich Fans der Serie bereits auf der FacebookSeite der Autorinnen über die Protagonistin Zoey beschwerten und sie als »slut«, »tramp« oder »whore«83 beschimpften. Kristin Cast äußert sich hierzu unmissverständlich: My Mom and I are often asked when we will make her [Zoey] choose just one guy to be with forever and ever and ever and ever. I can tell you that won’t be happening anytime soon. She’s a teenager and it’s unhealthy for a teen to be focused on one guy and one guy only.84

Obwohl »›freedom to choose and mutual desire‹«85 großgeschrieben werden, zeigt sich, dass die Vampirgesellschaft nicht nur sexuell freizügig, sondern

73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. bspw. Cast u. Cast: Chosen (Anm. 63), 183. Cast u. Cast: Burned (Anm. 62), 84. Vgl. auch Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 125. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 125. Stephenie Meyer: Eclipse. Bd. 3. London 2007, 475. Vgl. Meyer : Eclipse (Anm. 76), 399. Bspw. Kristin Cast u. P. C. Cast: Destined. Bd. 9. New York 2011, 248. Cast u. Cast: Tempted (Anm. 37), 75. Cast u. Cast: Tempted (Anm. 37), 81. Bspw. Cast u. Cast: Tempted (Anm. 37), 46 oder 81. Bspw. Cast u. Cast: Destined (Anm. 78), 35. Vgl. Kristin Cast: Misunderstood. Multiple Partners in our Matriarchal (and Patriarchal) Past. In: Cast (Hg.): Nyx in the House of Night (Anm. 15), 145–151, hier 145. 84 Cast: Misunderstood (Anm. 83), 145. 85 Cast u. Cast: Destined (Anm. 78), 200.

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insbesondere polyandrisch ausgerichtet ist, was das Bild einer matriarchalen Gesellschaft weiterhin akzentuiert.86 Es ist zu vermuten, dass die Autorinnen die monogame Twilight-Liebe kritisch betrachten und die freizügigere Darstellung der Protagonistin der House of Night-Romane unter Umständen als bewusstes Gegenmodell zu Meyers Protagonistin entwickelt wurde. In jedem Falle schließt Kristin Cast ihren mit der Kritik der Fans beginnenden Essay Misunderstood. Multiple Partners in our Matriarchal (and Patriarchal) Past mit dem eindeutigen Hinweis, Zoeys sexuelle Einstellung genderpolitisch werten zu dürfen: The House of Night series and Zoey’s juggling act have modernized ancient mythology and the history of our species, reaching back to our matriarchal past and using it as a tool to empower women of all ages. I am not asking you to run around being in relationships with multiple men at the same time, or encouraging anyone else to. I just want women to stop judging each other and stand together. If men can pat themselves on the back, so can we.87

3.

Stephenie Meyer und die ewige einzige Liebe. Abstinenz, Perfektion und Mormonen

Die Twilight-Saga lässt sich im Grunde über den Klappentext des ersten Bandes zusammenfassen: »About three things I was absolutely positive. First, Edward was a vampire. Second, there was part of him – and I didn’t know how potent that part might be – that thirsted for my blood. And third, I was unconditionally and irrevocably in love with him.«88 Mit Wibke Wetzker ließe sich ergänzen: »Bella […] will sich mit ihrem Traumvampir um jeden Preis vereinen, aber Edward, dieser fiese Kontrollfetischist, lässt sie zappeln: ›Wenn ich es mache, dann für immer.‹«89

3.1

Abstinenz

Der »unbitten apple«90, den Edwards Schwester Alice während der Schulpause unberührt auf ihrem Tablett liegen lässt, kann sinnbildlich für den gesamten 86 87 88 89

Vgl. auch Hodel: Matriarchat/Patriarchat (Anm. 4), 126. Cast: Misunderstood (Anm. 83), 151. Stephenie Meyer: Twilight. Bd. 1. London 2006, Klappentext bzw. 170f. Wibke Wetzker : Untot – Von Menschen & Monstern. Getrunken wird zu Hause: ›Twilight‹ und ›True Blood‹. In: Spex. Magazin für Popkultur. Online unter : www.spex.de/2010/07/14/ getrunken-wird-zu-hause-twilight-und-true-blood-film-kino-dvd/ (11. 03. 2013). 90 Meyer : Twilight (Anm. 88), 17.

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Identitätsdiskurs und speziell für den Sexualitätsdiskurs des sich intradiegetisch als Vegetarier bezeichnenden Vampirs91 gelten, wobei der Begriff des Vegetarismus insofern überschrieben wird, als er sich ausschließlich auf die Definition eines Verzichtmodells beschränkt, wie im Folgenden deutlich wird.92 Zwar verknüpft auch Meyer Sexualität und Blutgenuss, wenn Edwards Brüder auf seine Frage, was in der Hochzeitsnacht auf ihn zukomme, antworten, es sei »›a very great pleasure. Second only to drinking human blood.‹«,93 doch invertiert – oder kastriert94 – die bekennende Mormonin Stephenie Meyer diesen Verweis auf die für den Vampirroman klassische Analogie von Sexualität und Biss:95 Denn gerade der überwältigende Lustgewinn, den die körperliche Liebe verspricht, hält Edward davon ab, mit Bella zu schlafen. Aus Angst, die Kontrolle über seinen Durst zu verlieren oder sie aufgrund seiner übermenschlichen Stärke zu verletzen oder gar zu töten,96 hält er sich sogar beim Küssen konsequent zurück.97 Interessanterweise wird durch diese Zurückhaltung aus explizit moralischen Gründen eine erotisch knisternde Stimmung eigener Art evoziert, die ich in Ermangelung eines ähnlich treffenden Begriffes im Deutschen als Poetics of Suspense bezeichnen möchte.98 Der hier gezeichnete Moralkodex präsentiert sich als explizit der jüdisch-christlichen Tradition angehörig, wenn Edward sagt, er, der bereits getötet, gestohlen, gelogen und auch begehrt habe,99 91 Meyer : Twilight (Anm. 88), 164. 92 Vgl. hierzu auch Laura Gemsemer : Du bis(s)t, was du isst. Diätetik und Identität im (Jugend-)Vampirroman. In: Elisabeth Hollerweger u. Anna Stemmann (Hg.): Narrative Delikatessen. Kulturelle Dimensionen von Ernährung. Siegen 2015, 123–140, sowie dies.: The Unbitten Apple. (Abstinente) Sexualität in Stephenie Meyers Twilight-Saga. In: Esra Canpalat u. a. (Hg.): Literatur und Sexualität. Tagungsband des 5. Studierendenkongresses Komparatistik. Berlin 2015, 95–106 (im Druck). 93 Stephenie Meyer: Breaking Dawn. Bd. 4. London 2008, 85. 94 Vgl. Hans Richard Brittnacher: Zahnlos, Blutarm, Keusch – Die Kastration einer Metapher. Über Vampirserien. In: Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2011, 129–143. 95 Zum Verhältnis Sexualität und Vampir(-literatur) vgl. bspw. Hans Richard Brittnacher : Ästhetik des Horrors. Gespenster. Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1994, 141–148. 96 Vgl. Meyer : Twilight (Anm. 88), 271. 97 Vgl. bspw. Meyer: Twilight (Anm. 88), 247. 98 Wiebke Wetzker spricht nicht nur vom längsten Vorspiel der Filmgeschichte, sondern gar von einer pornografischen Grauzone. Vgl. Wetzker : Untot (Anm. 89). Tanya Erzen stellt den Begriff der liminalen Erotik in den Raum, der ebenfalls treffend scheint, wobei der Liminalitätsbegriff dabei ausschließlich entkontextualisiert zu denken wäre. Vgl. auch Anm. 124. Vgl. Tanya Erzen: Fanpire. The Twilight Saga and the Women Who Love It. Boston, MA 2012, xxiii. Auch der Begriff des ›Abstinence Porn‹ verdankt sich bis zu einem gewissen Punkt der Unerfülltheit und dennoch enormen Präsenz der erotischen Spannung. Vgl. Christine Seifert: Bite Me! (Or Don’t). In: Bitchmagazine 2008. Online unter : bitchmagazine.org/article/ bite-me-or-dont (29. 07. 2013). 99 Vgl. Meyer : Eclipse (Anm. 76), 402f.

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wolle Bella »›out of temptation’s way‹«100 halten, denn seine Tugend sei alles, was er noch habe, also solle sie ihn erst heiraten,101 wobei Meyer ihm das alttestamentarische ›Du sollst nicht töten‹102 der Zehn Gebote in den Mund legt. Der Bezug zu Meyers eigenem Glauben, der schließlich aus dem Christentum erwachsen ist, zeigt sich deutlich. Vor diesem Hintergrund muss auch die asketische Darstellung des Vampirs als Vegetarier betrachtet werden, da das diätetische Verzichtsmodell eine deutliche Nähe zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (kurz HLTKirche) aufweist, die predigt, den natürlichen Menschen ›abzulegen‹, um durch Jesu Sühneopfer selbst Heiligkeit und Gottheit zu erlangen: For the natural man is an enemy to God, and has been from the fall of Adam, and will be, forever and ever, unless he yields to the enticings of the Holy Spirit, and putteth off the natural man and becometh a saint through the atonement of Christ the Lord […].103

Jana Riess beobachtet hierzu treffend: In Twilight, the problem of a carnal, sinful nature is embodied and symbolized by the figure of Edward. His sole purpose in life (well, death) is to feed on human blood, to be literally carnal and carnivorous. Edward […] makes the decision to reject this way of life for a better, if more difficult, one. He makes this choice on a daily basis, and the temptation is always strong, especially when a new girl shows up at high school whose blood ›sings‹ to him. […]. Edwards’s self-control goes a long way toward throwing off the natural man […].104

Indem Edward seine fleischliche, sündige Natur überwindet, nähert er sich außerdem dem Status mormonischer Göttlichkeit, denn die HLT-Kirche glaubt an die Perfektion der Menschen, die sie als »gods in embryo«105 betrachtet. »›Godhood‹, a distinctive LDS term«106, kann dabei »through ages of afterlife«107 erlangt werden, und welche literarische Figur fügt sich eleganter in die Idee eines Lebens nach dem Tode ein als die des Vampirs? Dies mag auch als Begründung gelten, warum Meyer ihre Teenie-Romanze überhaupt mit der Figur des Vampirs verbunden hat, da sich der Aspekt des jenseitigen Lebens durch diese Gestalt elegant mit jenem der asketischen Zurückhaltung koppeln lässt. 100 101 102 103 104 105 106 107

Meyer: Eclipse (Anm. 76), 402. Vgl. Meyer: Eclipse (Anm. 76), 403. Vgl. Meyer: Eclipse (Anm. 76), 402. Mosiah 3, 19. Vgl. Joseph Smith (Übers.): The Book of Mormon: An Account Written by the Hand of Mormon upon Plates Taken from the Plates of Nephi. New York 1950 [1830]. Jana Riess: Book of Mormon Stories That Steph Meyer Tells to Me. LDS Themes in the Twilight Saga and The Host. In: BYU Studies 48, H .3 (2009), 141–147, hier 142f. Douglas J. Davies: An Introduction to Mormonism. Cambridge 2003, 79. Davies: An Introduction to Mormonism (Anm. 105), 79. Claudia L. Bushman: Contemporary Mormonism. Latter-Day Saints in Modern America. Westport, CT/ London 2006, 3.

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Tatsächlich charakterisiert die Ich-Erzählerin Edward als göttlich bzw. gottgleich,108 als engelhaft109 und überhaupt einem griechischen Gott viel ähnlicher, als es erlaubt sein dürfte.110 Zugleich wird er als kalt111 oder eisig112 und oft still113 bzw. bewegungslos114 beschrieben: wie Stein,115 Granit,116 Marmor117 oder glitzernder Diamant.118 Die überwältigende Perfektion des Vampirs lässt ihn in den Augen der Ich-Erzählerin zur Statue119 werden: »A statue coming to life.«120 Dieser invertierte pygmalische121 Charakter des Twilight-Vampirs wird zusätzlich betont, da der metamorphische Übergang von lebloser Statue zu belebtem Marmor immer wieder akzentuiert wird.122 Beschreibungen dieser Art heben insbesondere den Übergang von leblos zu belebt, aber auch von natürlich zu künstlich hervor und somit das liminale Paradox, quasi das »betwixt and between«123 des Vampirs, der sich auf dem Limes zwischen Leben und Tod, aber auch zwischen Mensch und Monster bzw. Mensch und Gott bewegt.124 108 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 224 oder 255. 109 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 272. Auch Brittnacher betont: »die Nähe des Vampirs zum Bild Luzifers, der seit Miltons ergreifender Darstellung in Kunst und Literatur nicht länger als mit Klauen und Schwanz bewehrter Höllendrache erscheint, sondern in der düsteren Schönheit und dem unbeugsamen Stolz eines gefallenen Engels.« Hans Richard Brittnacher: Zur Theorie des Vampirs oder das Nachleben des Mythos in der Dichtung. In: Mario Grizelj (Hg.): Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen. Würzburg 2010, 91–114, hier 102. Zu einer expliziten Lesart der Cullens als Engel vgl. auch Adelheid Kegler : ›Wir werden verwandelt, und die Toten ersteh’n unverweslich‹. Das Märchen vom steinernen Edward und der Stolper-Bella. In: Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik: Der Vampir 27 (2009), 111–130. Ebenso: Codrut¸a Gosa u. Andrea S¸erban: The Vampire of the Third Millenium: From Demon to Angel. In: Oc¦anide. Revista online de la Sociedad EspaÇola de Estudios Literarios de Cultura Popular 4 (2012). Online unter : oceanide.netne.net/articulos/art4-10.pdf (29. 03. 2013). 110 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 180. 111 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 202, 225, 232 und passim. 112 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 242, 248, 271 und passim. 113 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 228, 242, 231 und passim. 114 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 261. 115 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 229, 228 und passim. 116 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 354. 117 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 384 und passim. 118 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 228, oder Meyer: Eclipse (Anm. 76), 389. 119 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 87 und passim. 120 Meyer: Twilight (Anm. 88), 261. 121 Vgl. Ovid: Metamorphosen. Übers. u. hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2012, 10, 243–297. 122 Vgl. Meyer: Twilight (Anm. 88), 260f., 242 oder 402. 123 Victor Turner : Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage. In: Melford E. Spiro (Hg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Seattle 1964, 47–55. 124 Der Liminalitätsbegriff eignet sich als entkontextualisierte Denkfigur, da sie den intermediären Zustand des Vampirs treffend zu beschreiben weiß. Nach den anthropologischen Liminalitätsmodellen zeichnet sich die Phase der Liminalität jedoch gerade durch ihre zeitliche Begrenzung aus, und ihre Strukturlosigkeit ist stets in Bezug zur Struktur zu

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In der Gestaltung des Vampirs als Marmorstatue, vor allem aber auch als Diamant – »throw[ing] rainbows in the sunlight«125 –, mit dem Edward sich sogar selbst identifiziert,126 liegt eine narrativ wie diskursiv konsequente Erklärung auf die Frage, weshalb der Twilight-Vampir in der Sonne eigentlich glitzere, anstatt zu brennen. Die innere – auf Abstinenz beruhende – Perfektion des Vampirs spiegelt sich in seiner äußeren, nahezu verklärten, in jedem Falle glorifizierten Gestalt wider.127 Indem der Twilight-Vampir konsequent als kalter, marmorner Gott inszeniert wird, verortet Meyer ihn zudem weit entfernt von jeglicher warmen, fleischlichen, d. h. kreatürlichen und potenziell sündigen Wesenheit. »[D]ie Motive der Versteinerung und Kälte« ausschließlich als Metapher für »die seelische Isolation Edwards« zu lesen, der »vor der Erfahrung seiner Leidenschaft für Bella partnerinlos und einsam war«128 und ebenfalls der Erlösung bedürfe, mag grundsätzlich erst einmal stimmen, übersieht dabei aber den ideologischen Impetus. Die skulpturale Perfektion und leblose Materialität des Twilight-Vampirs macht ihn zur liebens- und verehrungswürdigen, aber auch zur begehrenswerten Kunstfigur.129 Dies geht nicht nur mit dem Perfektionsdiskurs des Meyer’schen Vampirs konform, sondern hebt innerhalb dieses Diskurses auch

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verstehen. Für diesen grundlegenden Hinweis bedanke ich mich bei meinem Kollegen Mario Bührmann. Eine ausführliche Zusammenfassung der wichtigsten Liminalitätstheorien findet sich außerdem bei Rolf Parr : Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsaspekten, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, 11–63. Zur Liminalität des Vampirs vgl. insb. Clemens Ruthner : Am Rande. Tübingen/Basel 2004, ders.: Zur Theorie der Liminalität oder die Grenzwertigkeit der Fantastik. In: Grizelj (Hg.): Der Schauer (roman) (Anm. 109), 77-90, sowie ders.: Phantastik und/als Liminalität. In: Wiebke Amthor u. a. (Hg.): Wilde Lektüren. Bielefeld 2012, 35–52. Meyer: Eclipse (Anm. 76), 389. Vgl. Meyer: Eclipse (Anm. 76), 389. Allerdings werden die nicht vegetarischen Vampire ebenfalls als äußerlich perfekt beschrieben. Dies stellt weniger einen Bruch dar, als dass es mit Meyers Transzendenz-/ Transformationsdiskurs konform geht: Würden auch diese Vampire sich through ages of afterlife (vgl. Anm. 107) in asketischer Selbstverleugnung zu einem höheren Zweck üben, wären sie ebenfalls in der Lage, über sich selbst hinauszuwachsen. Kegler : ›Wir werden verwandelt, und die Toten ersteh’n unverweslich‹ (Anm. 109), 123. Karin Nykvist schlägt außerdem eine interessante Lesart vor, wenn sie Jacob als Natur und Edward als Kultur versteht. Vgl. Karin Nykvist: The Body Project. In: Mariah Larsson u. Ann Steiner (Hg.): Interdisciplinary Approaches to Twilight. Studies in Fiction, Media, and a Contemporary Cultural Experience. Lund 2011, 29–45. Allerdings ließe sich dieser Antagonismus auch einer postkolonialen Lesart unterziehen. Vgl. Uwe Schwagmeier : Don’t Cullenize Me! Vampire, Werwölfe und Spuren des (post-)colonial gothic in Stephenie Meyers Roman-Tetralogie Twilight. In: Jana Mikota u. Sabine Planka (Hg.): Der Vampir in den Kinder- und Jugendmedien. Berlin 2012, 179–193, hier 186ff. Dies gilt vor allem, bedenkt man die literaturgeschichtliche Zuschreibung des Werwolfs als Proletarier und des Vampirs als Aristokrat.

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die zwischen (monströser/)göttlicher und menschlicher Existenz oszillierende Identität des Vampirs hervor. Meyer nimmt Bella dabei weder die Möglichkeit zur Liebe, noch überlässt sie ihre Protagonistin dem Wahnsinn und seinen glühenden Krallen, wie es etwa Hoffmanns Nathanael geschieht, als er sich der Leblosigkeit seiner Geliebten bewusst wird.130 In Anbetracht des religiösen Hintergrunds der Autorin und der massiven Häufung nahezu vampirverherrlichender Umschreibungen liegt eine Interpretation des Twilight-Vampirs als gottgleiche Kreatur generell und spezifisch im mormonischen Sinn nahe.131 In jedem Falle verblasst der durchschnittliche Mensch ethisch neben der selbstbeherrschten Vorbildlichkeit und äußerlich neben der marmornen Perfektion des Twilight-Vampirs: »In keeping with her religious background, Meyer tells us that such superhuman self-discipline and moderation will elevate its practitioners to angelic heights, turning Gothic monsters into romantic heroes.«132 Im Grunde sind es sogar die angelic heights, die im Vordergrund stehen, quasi unter dem Deckmantel des romantischen Helden. Abstinente Diätetik und sexuelle Abstinenz, verdichtet im Motiv des unversehrten Apfels, erweisen sich als zwei Seiten eines Verzichtsmodells, das sich als asketisch beschreiben ließe, wobei gelebte Sexualität, wenn überhaupt, dann in einem monogamen ehelichen Rahmen präsentiert wird.

130 Vgl. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. In: ders.: Nachtstücke. Stuttgart 2003 [1816], 7–45, hier 41. 131 Die Darstellung des Vampirs als marmorner Gott oder Statue ist allerdings nicht genuin Meyers Verdienst. Bereits Anne Rice (The Vampire Chronicles. 11 Bde. New York/London 1976–2014) oder Charlaine Harris (Anm. 55) haben ihre Vampire als marmorne Statuen charakterisiert und inszeniert. Der statueske Rice-Vampir ist jedoch ein finsterer Gott und trotz aller narrativen Konsequenz als steinharte, eiskalte, marmorne Kunstfigur bleibt er ideologiefrei. Vgl. Anne Rice: The Vampire Lestat. New York 1985, 465. Auch bei Charlaine Harris lässt sich ein ganz ähnlicher, ebenfalls ideologiefreier Umgang mit diesem Motivkomplex beobachten, welcher sich konstant durch das ganze Genre zieht. Bill wird bspw. als »rock hard« und »gleaming like white marble in the moonlight« beschrieben. Charlaine Harris: Dead until Dark. Bd. 1. New York 2001, 15 bzw. 58. Die motivische Nähe zu Meyer ist frappant, und es fällt schwer, der Autorin Glauben zu schenken, wenn sie felsenfest behauptet, sie habe sich nie zuvor mit Vampiren auseinandergesetzt. Vgl. Eli Sanders: 10 Questions for Stephenie Meyer. In: Time Magazine. 21. 08. 2008. Online unter : www.time. com/time/magazine/article/0,9171,1834663,00.html (08. 04. 2012). 132 Carol Veldman-Genz: Serial Experiments in Popular Culture: The Resignification of Gothic Symbology in Anita Blake Vampire Hunter and the Twilight Series. In: Giselle Liza Anatol (Hg.): Bringing Light to Twilight. Perspectives on a Pop Culture Phenomenon. New York u. a. 2011, 43–58, hier 54.

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Ewige Ehe und ewige Liebe – die perfekte Familie

Die Ehe, welche das ungleiche Pärchen eingeht, lässt sich ebenfalls vor dem Hintergrund der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage lesen: Es geht um die Vorstellung, dass die Mitglieder der HLT-Kirche sich mit ihren Partnern nicht nur verbinden, ›bis dass der Tod euch scheidet‹, sondern bis in alle jenseitige Ewigkeit. Das Konzept der sogenannten ewigen Ehe gründet sich auf Mt 16, 19 und folgt der Vorstellung, dass was auf Erden gebunden wurde, auch im Himmel gebunden ist. Laut Interviews mit bekennenden Mormonen, die Claudia L. Bushman geführt hat, spielt bei der Konversion zum Mormonentum insbesondere die Angst vor dem Tod und die Befürchtung, den Partner für immer zu verlieren, eine ausschlaggebende Rolle. »Members find these principles moving.«133 Die hier befragte Ingrid Adams antwortete der Interviewerin »I just wanted to make sure that I would have my husband and two kids for eternity.«134 Bushman zufolge öffneten sich vermehrt Familien dem Glauben der HLT-Kirche, die bereits mit Verlust konfrontiert wurden.135 So überrascht es nicht weiter, wenn Bella und Edward ihren Pfarrer vor der Hochzeit bitten, den für das ungewöhnliche Paar ohnehin recht unglücklichen Satz »›till death do us part‹« – schließlich ist Edward bereits tot und Bella kurz davor zu sterben, da Edward sie nach der Hochzeit verwandeln wird – in das adäquatere und romantischere »›as long as we both shall live‹«136 zu ändern. Da Edward und Bella bestenfalls bis in alle Ewigkeit leben, kommt ihre Eheschließung damit der ewigen Ehe der Mormonen unweigerlich nahe. »Latter-day Saints see life after death as a continuation of life on earth. Those who have married in the temples will continue their families in the great hereafter.«137 Auch könnte man die Vampirfamilie, in die Bella schließlich einheiratet, als ideale mormonische Familie betrachten,138 »als Überfamilie, die von keinerlei Tod geschieden werden kann«.139 Die soziale Einbindung des Individuums in eine Familie kristallisiert sich deutlich als grundlegende Facette des Identitätsdiskurses der Twilight-Saga heraus. »Although Bella and Edward are the center of the novel’s narrative, the series is equally concerned with contemporary American nuclear family […]. Identity, in the series, occurs within the context of 133 134 135 136 137 138

Bushman: Contemporary Mormonism (Anm. 107), 20. Bushman: Contemporary Mormonism (Anm. 107), 19f. Vgl. Bushman: Contemporary Mormonism (Anm. 107), 19. Meyer: Breaking Dawn (Anm. 93), 45. Bushman: Contemporary Mormonism (Anm. 107), 38. Vgl. hierzu Leonie Viola Thöne: Die Figur Edward Cullen. Moderner Mormonen-Missionar oder Vampir-Romantiker? Dresden 2009, 57–65. 139 Nadja Israel: Vampire als Kriegsgewinnler. In: Culturmag. 29. 05. 2010. Online unter : http:// culturmag.de/crimemag/stephenie-meyer-the-twilight-saga-collection-box-set/881 (11. 03. 2013).

Matriarchale Freizügigkeit und mormonische Abstinenz

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group identity, particularly family«,140 konstatiert Anna Silver. Meyers Romane ignorierten Individualismus zugunsten von Zugehörigkeit.141 Im Prinzip habe Meyer gar keinen Liebesroman, sondern eine »romance about family and the human need for community«142 geschrieben. »In contrast to models of adolescence that envision young adulthood as a break from the family towards individuation and autonomy, Meyer posits adolescent and adult identity as being formed within the context of the family.«143 Familienbildung wiederum stehe in den Twilight-Romanen sinnbildlich für Zivilisation.144 Ihr Vegetarismus mache die Cullens – so Edwards Familienname – zu politisch korrekten Vampiren, die die Menschlichkeit in ihre Existenz als Untote zu integrieren suchten.145 Es geht aber nicht nur um zivilisiertes Verhalten oder Political Correctness: Erst die Familienbindung ermöglicht die (transzendierende) Höherentwicklung. »Mormons believe that a family is the unit that allows for the experiences that lead toward the perfection that Christ’s grace provides.«146 Intradiegetisch heißt es da: ›I have witnessed the bonds within this family – I say family and not coven. These strange golden-eyed ones deny their very natures. But in return have they found something worth even more […] it seems to me that intrinsic to this intense family binding […] is this peaceful character of this life of sacrifice.‹147

Ob man es die Verleugnung der eigenen Natur, das Ablegen des natürlichen Menschen oder schlicht Selbstverleugnung zu einem höheren Zweck nennen möchte – letzten Endes geht es um ein aufopferungsvolles Leben, welches die Figur des Meyer’schen Vampirs über sich selbst erhebt, ja transzendiert. Dieses Motiv darf bedenkenlos religiös genannt werden.

140 Anna Silver : Twilight Is Not Good for Maidens: Gender, Sexuality, and the Family in Stephenie Meyer’s Twilight Series. In: Studies in the Novel 42 (2010), H. 1, 121–138, hier 122. 141 Vgl. Silver : Twilight Is Not Good for Maidens (Anm. 140), 124. 142 Silver : Twilight Is Not Good for Maidens (Anm. 140), 127. 143 Silver : Twilight Is Not Good for Maidens (Anm. 140), 127. 144 Thöne: Die Figur Edward Cullen (Anm. 138), 57. 145 Wolfgang Frühwald: Twilight oder die Wiederkehr der Untoten. In: Magazin 15 (2010), 7ff., hier 8. 146 Kristi A. Young: Testifying. Mormonism and the Writings of Stephenie Meyer. In: J. Michael Hunter (Hg.): Mormons and Popular Culture. The Global Influence of an American Phenomenon. Bd. 2, Santa Barbara, CA u. a. 2013, 39–50, hier 42. 147 Meyer: Breaking Dawn (Anm. 93), 666.

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Conclusio Abschließend lassen sich an dieser Stelle vor allem zwei Dinge festhalten: Einerseits wird offenbar, dass die religiöse Einbindung der beiden grundsätzlich differenten Jugendvampirromanserien neben zahlreichen anderen Motiven verantwortlich für den jeweiligen Umgang mit Sexualität und Liebe ist. Dabei heben sich vor allem die Konzepte von Sexualität und Partnerschaft im vampirischen Matriarchat der House of Night Novels auffällig vom menschlichen Patriarchat ab: sei es innerhalb der House of Night-Romane selbst als auch im Vergleich zu Stephenie Meyer oder letztlich zu den heutzutage realiter gelebten Verhältnissen. Auf diese Art entsteht ein durchweg kontrastierendes Gegenbild zum inner- wie außerliterarisch gemeinhin vorherrschenden Moralkodex. Die einander diametral entgegengesetzten Sexualitätskonzepte lassen sich in ihrer religiösen Grundausrichtung einerseits als konservativ, patriarchal, (christlich/) mormonisch und andererseits als (feministisch-)emanzipiert, matriarchal, pagan – und wohl ein wenig utopisch – beschreiben. Dass letzteres Modell sich bezüglich seiner Polygamie aber im Grunde erst seit 1890 von der Lebensweise der Mormonen unterscheidet, die letztlich bis heute gegen den Ruf ankämpfen, nach wie vor polygam zu leben, da Mehrfachehen zu Beginn der neureligiösen Bewegung gang und gäbe waren – wobei immer noch patriarchal ausgerichtet – mutet doch äußerst ironisch an. Der Sexualitätsdiskurs, den die Twilight-Reihe führt, wird von der feministischen Kritik zu Recht angeprangert, da sich in eben diesen Sexualitätskonzepten auch die unterschiedlichen Auffassungen von Geschlechteridentitäten und Rollenvorstellungen erkennen lassen, die aufgrund des enormen Erfolgs beider Reihen diskursive Virulenz erlangen.148 Für viele Stimmen der feministischen Kritik wird die oben bereits erwähnte Beschwerde der LeserInnen, Zoey solle sich doch endlich entscheiden, schockierend sein. Die Autorinnen der House of Night-Romane positionieren sich jedenfalls sehr deutlich, wenn etwa Kristin Cast solch eine zwar hochromantische, aufgrund von Bellas völliger Selbstaufgabe aber ebenfalls hochkritische Entscheidung als schlichtweg ungesund bezeichnet. Gerade diese Themen von Liebe und Sexualität – egal ob polyandrisch oder monogamer »Blümchensex«149 – stoßen im Jugend(vampir)roman jedoch auf

148 Für ein verhältnismäßig neutrales Für und Wider einer feministischen Kritik an der Twilight-Saga vgl. Natalie Wilson: Seduced by Twilight. The Allure and Contradictory Messages of the Popular Saga. Jefferson, NC/London 2011. Die Vielzahl an Print- und Onlineveröffentlichungen der feministischen Kritik tendiert dazu, sehr emotional zu werden. 149 Lars-Olav Beier : Blümchensex. In: Der Spiegel 28, 2010. Online unter : www.spiegel.de/ spiegel/print/d-71558832.html (25. 07. 2014).

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eine gierige Horde wilder LeserInnen, welche auch den weniger anspruchsvollen und innovativen Liebesromanen zu ihrer Zählebigkeit verhelfen.150 Andererseits beginnt sich immer deutlicher herauszukristallisieren, dass Identität sich in der zeitgenössischen Popkultur – und unter Umständen darüber hinaus – offensichtlich an der Körperoberfläche verorten lässt. Die Tätowierungen der House of Night-Zöglinge bieten hierfür ebenso ein Beispiel, wie es Edwards glorifizierter Körper tut. Die in der House of Night-Reihe dargestellten Identitäten lassen sich geradezu an der physischen Oberfläche der Figuren ablesen. Karin Nykvist beobachtet parallel dazu auch bezüglich der Twilight-Saga treffend: »[O]ur bodies are important of who we are – or what we want to be.«151 Sie geht so weit, den »gaze at the body self«152 als das eigentliche Herzstück der Twilight-Reihe zu erkennen. Ebenso wie Zoeys oder Stevie Raes innere (Ver-)Wandlung sich äußerlich spiegelt, geschieht dies auch mit der Twilight-Protagonistin Bella: »Bella’s perceived exterior mirrors her experienced interior : her inner self is written on her outer shell. This idea of the body being a readable sign is as important to the Twilight series as it is in contemporary culture at large.«153 Dies gilt auch für die House of Night Novels und scheint Nykvists Beobachtung sowie die kulturelle Spannweite des Body Projects – so der Titel des Aufsatzes der schwedischen Literaturwissenschaftlerin – zu bestätigen: Das Äußere wird als ästhetischer Spiegel des Inneren wahrgenommen und entsprechend inszeniert. Die Prüfungen, denen Zoey und Bella sich ausgesetzt sehen, kann man außerdem als Teil eines Initiationsgeschehens lesen, wobei die Symbolik von Tod und Wiedergeburt154 eine sehr wörtliche Dimension annimmt, führt man sich vor Augen, dass Bella und Zoey im Laufe der Romanreihen nicht nur erwachsen(er) werden, sondern sich auch in Vampire verwandeln, wofür sie in gewisser Weise erst sterben müssen: »Bella Swan überlebt in der Twilight-Serie nur um den Preis, kein Mensch mehr zu sein. Kann dies als genretypisches happy ending einer solchen Buchreihe verstanden werden?«,155 fragt Wolfgang Frühwald. Vor 150 Vgl. parallel hierzu bezüglich der Phantastik: Hans Richard Brittnacher : Gescheiterte Initiationen. In: Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen 2006, 15–29, hier 29. 151 Nykvist: The Body Project (Anm. 129), 32. 152 Nykvist: The Body Project (Anm. 129), 30. 153 Nykvist: The Body Project (Anm. 129), 30. 154 Vgl. hierzu bspw. Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt. Frankfurt a. M. 1988, sowie: Peter Freese: Die Initiationsreise. Tübingen 1998, oder : Matthias Hurst: Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation. In: Wirkendes Wort 52 (2002), H. 2, 257–275. 155 Frühwald bezieht sich mit dieser Frage jedoch auf den posthumanen Aspekt der Verwandlung zum Vampir in seinem Bezug zur Zukunft der medizinischen Forschung und dem »alte[n] Menschheitstraum von ewiger Jugend.« Frühwald: Twilight oder die Wiederkehr der Untoten (Anm. 145), 9.

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dem Hintergrund einer Initiationsstruktur ließe sich dies deutlich bejahen, denn: »Um es pointiert auszudrücken: Das Kind muss sterben, um als Erwachsener wiedergeboren zu werden.«156 Dies zeigen innerhalb der House of Night-Romane besonders deutlich die rituellen Worte des Trackers, der nicht nur »Night has chosen thee« verkündet, sondern auch »thy death will be thy birth«.157 Die Verwandlung zum Vampir kann somit deutlich als Metapher des Erwachsenwerdens aufgefasst werden. Im Grunde ließe sich das gesamte Genre des zeitgenössischen Jugendvampirromans sogar als metaphora continua lesen, sozusagen als Allegorie des Erwachsenwerdens. Mircea Eliade beobachtet außerdem, dass sich der Neophyt am Ende seiner Prüfungen einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation erfreue: Er sei ein anderer geworden.158 Eben dies verdeutlichen auch die Tätowierungen, nach deren Auftreten Zoey sich kaum wiedererkennt.159 Bella dagegen erkennt ihr Spiegelbild zunächst überhaupt nicht: »Who was she? […] And her eyes! […] All the while I studied and reacted, her face was perfectly composed […].«160 Schützend, geradezu abwehrend stellt die Ich-Erzählerin die grammatikalische dritte Person zwischen ihr neues und altes Ich.

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Hurst: Tod und Wiedergeburt (Anm. 154), 259. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 4. Vgl. Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt (Anm. 154), 11. Vgl. Cast u. Cast: Marked (Anm. 1), 338. Meyer: Breaking Dawn (Anm. 93), 372.

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Auswege aus der Eigenverantwortlichkeit? Religion, Esoterik und Parapsychologie in Daniel Kehlmanns F

Ein Blick auf den Alltag macht anschaulich, dass das Thema Spiritualität zu einem wieder in der Öffentlichkeit diskutierten Thema geworden ist. Gesellschaftliche Systeme arbeiten sich beständig an unterschiedlichen Formen der Spiritualität ab. Diese Beschäftigung findet unabhängig davon statt, ob sie behindernd oder aufbauend, gewollt oder ungewollt, glaubwürdig oder heuchlerisch wirken. Bestimmte spirituelle Handlungen, Praktiken und Gedankengänge werden von der Gesellschaft ignoriert, andere entfalten dagegen eine Wirkung, die es notwendig macht, sich mit ihnen auf der gesellschaftlichen Ebene zu befassen. Tanja Dückers schreibt am Ende des Jahres 2012 einen Beitrag unter dem Titel Die falsche Rückkehr zur Religion, in dem sie eine neue Mode nicht nur unter den Prominenten, sondern auch in den breiten Reihen des Bürgertums feststellt: Man preist sich als »religiöser Mensch« und »belächelt« »Atheisten als gefühlskalte Technokraten«.1 Die Autorin beklagt die neueste Entwicklung, indem sie schreibt: »Das ist bitter für alle Menschen, die mal an die Autonomie des Subjekts, an die Würde des Selber-Denkens und -Fühlens und an so etwas wie eine emanzipatorische Fortschrittsgeschichte geglaubt haben.«2 Lotmans Annahme, dass die »kulturellen Kodes«3 für die Fiktionalität literarischer Texte als gegeben gelten, wirft im Hinblick auf die Leitthemen dieses Beitrags – »Religion«, »Esoterik« und »Parapsychologie« – Fragen nach der Verankerung dieser in der narrativen Welt auf. Die Einschließung der Religion in das gesellschaftliche Leben in Europa wird widerspruchslos angenommen. 1 Tanja Dückers: Die falsche Rückkehr zur Religion. In: Zeit-Online vom 28. 12. 2012. Online unter : www.zeit.de/gesellschaft/2012-12/zeitgeist-religion (02. 07. 2014). 2 Dückers: Die falsche Rückkehr zur Religion (Anm. 1). 3 Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1989, 377, 405. Lotman schreibt: Jeder Text ist »eingebettet in eine bestimmte extratextuelle Struktur, deren abstrakteste Ebene man als […] ›Kulturmodell‹ definieren könnte.« Damit ein Text auf bestimmte Weise funktionieren kann, genügt es also nicht, dass er selbst auf eine bestimmte Weise organisiert ist; es ist vielmehr unerlässlich, dass die Möglichkeit einer solchen Organisation auch in der Hierarchie des Kulturkodes vorgesehen ist.

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Dagegen strebt die »Parapsychologie« durch populär- und wissenschaftliche Diskurse die Verbreitung ihrer Annahmen, Entdeckungen und Forschungen in der Breite der Gesellschaft an. Um eine literarische Darstellung dieser kulturellen Kodes und die Darstellung ihrer Funktion wird es in diesem Beitrag gehen. Als Untersuchungsgegenstand für die dargestellte Problematik wird der Roman F4 von Daniel Kehlmann aus dem Jahre 2013 herangezogen. In F wird die Geschichte von drei Brüdern erzählt. Jedem Bruder wird ein gesondertes Kapitel gewidmet. In den einzelnen Kapiteln kommen die Brüder als homodiegetische Erzähler selbst zu Wort und jeder von ihnen berichtet aus der eigenen Perspektive über die Ereignisse eines Tages, des 8. August 2008. Die Multiperspektivität des Erzählens erreicht der Autor durch das Einsetzen von drei homodiegetischen Erzählern. Die Geschichte wird unter Rückgriff auf das Stilmittel der Analepse mit unterschiedlichen Erinnerungsversatzstücken aus der Vergangenheit der Protagonisten angereichert. Diese Erzählungen werden von zwei weiteren Kapiteln eingerahmt, in denen ein heterodiegetischer Erzähler eingeführt wird, der über einige Ereignisse berichtet, die entweder einer tiefer liegenden Vergangenheit angehören (1984, erstes Kapitel) oder sich in der jüngsten erzählten Zeit abgespielt haben (2012, letztes Kapitel). Die Geschichte ist schnell zusammengefasst: Drei Brüder von zwei Müttern – das Zwillingspaar Eric und Iwan5 und ein knapp zwei Jahre älterer Junge namens Martin – wachsen bei ihren Müttern auf. Nach einer esoterischen Sitzung verlässt der Vater die Kinder ohne Angabe von Gründen und taucht erst nach vielen Jahren wieder auf. Die Brüder werden unterdessen erwachsen, Eric verdingt sich in der Finanzbranche, Iwan wird Kunstwissenschaftler und Kunstkritiker und Martin sucht seine Berufung als katholischer Priester. Alle drei erleben in ihren Berufen ein Desaster : Eric verstrickt sich in den falschen Bilanzen seiner Firma, Iwan malt Bilder unter dem Namen eines alternden und dann gestorbenen Maler-Freundes, Martin findet nicht zum Glauben und erkennt die Sinnlosigkeit seiner Aufgabe. Zudem scheitern sie auch im Privaten – Erics Ehe wird geschieden, Iwan stirbt an den Folgen von Messerstichen, nachdem er sich in einen Streit zwischen vier Jugendlichen eingemischt hat, Martin bleibt in seiner Esssucht und dem Unfrieden mit seinem Bruder Eric verfangen. Die Handlung des Romans setzt analeptisch in der Vergangenheit ein, als die Brüder noch Kinder (13, 13 und 14) sind. Im ersten Kapitel wird ein Ausflug der Brüder mit ihrem gemeinsamen Vater Arthur zur einer öffentlichen, groß angelegten Hypnose-Veranstaltung dargestellt. Durch das Einsetzen von verschiedenen Erzählinstanzen in verschiedenen Kapiteln – fünf (ggf. sechs, falls 4 Daniel Kehlmann: F. Reinbek 2013. Im Text mit dem Kürzel »F« gekennzeichnet. 5 Die Namen erhalten sie von ihrem Vater Arthur in Anlehnung an die Ritter der Tafelrunde. Auf dieses mögliche intertextuelle Spiel wird in diesem Beitrag nicht eingegangen.

Auswege aus der Eigenverantwortlichkeit?

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der Erzähler des ersten Kapitels ein anderer ist als der im letzten Kapitel) – wird das Ausmaß des dargestellten Geschehens nur dem Leser ersichtlich. Sowohl die Figuren als auch die Erzähler wissen zu wenig, um Geschehensinformationen und Figureninformationen zu einem Gewebe zu verbinden. Iwan stirbt am 8. August 2008 in seinem entlegenen Atelier an Verletzungen, die ihm auf offener Straße zugefügt worden sind.6 Diesen Fortgang erfährt nur der Leser, da er von Iwan als Ich-Erzähler geschildert wird. Eric glaubt von dem Tod seines Bruders unterbewusst zu wissen, er hatte an diesem Tag, dem 8. August, Vorahnungen, ihm sind Personen erschienen, die das Geschehen vorhergesagt haben sollen. Martin hätte über die Messerstiche Genaueres erfahren und den Tod seines Bruders verhindern können, hätte er sich nicht hinter dem Schleier des Beichtgeheimnisses der katholischen Kirche versteckt und den Täter, der ihm sein Vergehen anvertraut hatte, dazu bewegt, auch der Polizei gegenüber Rechenschaft über die Tat abzulegen, bzw. hätte er die Aufdeckung der Tat selbst in Angriff genommen. Die beiden Themenschwerpunkte: Vorahnungen, Seelenverwandtschaft, Unterbewusstsein, Wiederkehr aus dem Reich der Toten – kurz das Betätigungsgebiet der Parapsychologie – und die Religion beeinflussen, wie es der kurzen Darbietung des Geschehens in F zu entnehmen ist, die Handlungen der Figuren, auch der von den Figuren erbrachte Zugang zu Religion und Parapsychologie wird im Text zu einem wichtigen Element des Figurenaufbaus. In diesem Beitrag wird im ersten Schritt nach der Figurencharakteristik7 im Spiegel dieser beiden Aspekte gefragt. Im zweiten Schritt wird versucht, Parapsychologie und Religion im Sinne kultureller Kodes im Hinblick auf Kehlmanns Text F zu bestimmen und als mögliche Fluchtwege vor der Übernahme der Eigenverantwortlichkeit zu deuten. In diesem Beitrag wird von der Annahme ausgegangen, dass die Figur zur Bedeutung eines literarischen Textes beiträgt, und zugleich davon, dass die Figur immer von historisch variablen Typologien abhängig ist.8 Jede der drei Hauptfiguren in F repräsentiert einen anderen Zugang zur Welt.9 Martin widmet sein 6 Dieser Vorfall erinnert an den an Dominik Florian Brunner am 12. September 2009 verübten Mord. Brunner wurde von Jugendlichen ermordet, nachdem er zuvor vier Schüler vor diesen Jugendlichen geschützt hatte. Der Fall löste eine Debatte um die Zivilcourage aus. Der Schriftsteller Andreas Eschbach erinnert an das Kapitalverbrechen in seinem Roman Todesengel (2013). 7 Die Figurencharakteristik wird in Anlehnung an Fotis Jannidis: Figur und Person. Berlin 2004 vorgenommen. 8 Vgl. Jannidis: Figur und Person (Anm. 7) 9 Das Zwei- oder Drei-Brüder-Motiv ist ein häufiges literarisches und mythologisches Motiv. In vielen Rezensionen zu Kehlmanns F taucht die Parallele zu Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski auf. Auf diese möglichen intertextuellen Beziehungen wird in diesem Beitrag nicht eingegangen.

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Leben dem Ausüben des Priesteramtes und ist Spezialist für Rubiks Zauberwürfel, Iwan wird beinahe Künstler und Eric will sich in der Finanzwelt betätigen. Alle drei werden, jeder auf eine andere Weise, mit den Kodes der Spiritualität – Religion, Esoterik, Parapsychologie – konfrontiert. Sehr weit verstanden bedeutet Spiritualität eine persönliche Beziehung zu einer höheren Macht. Sie setzt ein Dogma bzw. eine Gewissheit voraus, dass Glauben möglich ist und über unterschiedliche Wege erfolgt. Zu den bedeutendsten gehören die zwei im Roman F thematisierten Wege: »Religion« und »Parapsychologie/Esoterik«. Die Annahme eines sinnvollen Wirkens einer übernatürlichen Kraft bildet den Grundstein der Spiritualität. Auch wenn gerade diese Fragestellungen der Religion, der Parapsychologie bzw. der Esoterik große Teile der heutigen Gesellschaft betreffen, finden sie nur selten Eingang in die zeitgenössische deutschsprachige literarische Reflexion. Anders bei dem Bestsellerautor Daniel Kehlmann. Kehlmann nähert sich in F den Gefilden der Religion, der Esoterik, der Parapsychologie, der Spiritualität, des Übernatürlichen, des Höheren, des weder mit empirischen noch rationalen Mitteln Erforschbaren. Gerade wegen dieser Thematik erfährt der Roman eine nicht eindeutige Einschätzung seitens der Literaturkritik in Feuilletons und Besprechungen. Dem bei den Kritikern entstandenen Gefühl, »am Nasenring durch die Manege gezogen« zu werden,10 das durch das immer wieder auftauchende Motiv des Übernatürlichen provoziert wird, soll hier widersprochen werden. Um der Aussage von F näherzukommen, soll der Text auf mehreren Ebenen gelesen werden. Kehlmann führt verschieden angelegte Erzähler ein, aber erst durch die Zusammensetzung dieser Erzählebenen entsteht ein klares Bild der von Kehlmann geschilderten Diegese wie auch des Stellenwerts und der Funktion von Religion, Parapsychologie und Esoterik in der Existenz seiner Figuren. In der hier vorgenommenen Charakteristik wird der Fokus der Untersuchung zum einen hauptsächlich auf die Einstellung, die die Figuren zu den zwei kulturellen Kodes aufweisen, und zum anderen auf die Funktion, die die Figuren den kulturellen Kodes zuschreiben, gerichtet. Im ersten Schritt wird auf die direkte Figureninformation eingegangen und im zweiten auf die Figurenhandlungen, die als indirekte Figureninformation behandelt werden. Dabei wird die Frage im Hintergrund stehen, inwiefern die Handlungen der Figuren aus dem gesellschaftlich kodierten Recht auf Freiheit resultieren.

10 Andreas Breitenstein: Meister der Manege. Daniel Kehlmann und sein neuer Roman »F«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 07. 09. 2013. Online unter : www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/litera tur/meister-der-manege-1.18145933 (02. 07. 2014).

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Das Zwillingsphänomen aus der Sicht der Parapsychologie Den ersten wichtigen Punkt dieser Abhandlung stellt die übernatürliche und außerhalb des Bewusstseins verlaufende Kommunikation zwischen den beiden Brüderfiguren Eric und Iwan dar. Sie werden ganz zu Anfang des Romans in den Ausführungen des heterodiegetischen Erzählers charakterisiert. Es wird deutlich auf ihr »Zwillingsdasein« und das damit in Verbindung stehende besondere, zum Teil auch mit herkömmlichen Methoden nicht erklärbare Verhältnis hingewiesen, das auf mehreren Seiten infolge unterschiedlicher Beispiele, Gegebenheiten, Statements wie auch durch direkte Figureninformationen zur Sprache gebracht wird. Schon diese Eigenschaft der Figuren wirft Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit auf: »Wie jedes Mal kam etwas an ihrer Ähnlichkeit ihm falsch vor, übertrieben, wider die Natur. Und dabei sollten sie erst einige Jahre später damit beginnen, sich gleich zu kleiden.« (F, 10) Im achtzehnten Lebensjahr wissen sie für kurze Zeit selbst nicht mehr, »wer von ihnen wer war. Danach sollte sie immer wieder das Gefühl überkommen, dass sie sich einmal verloren hatten und seither jeder das Leben des anderen führte« (F, 11). […] sie waren ganz konzentriert auf sich selbst, gefangen im Rätsel ihrer Verdoppelung. »Wir denken ständig dasselbe.« »Auch wenn es komplizierte Dinge sind. Ganz dasselbe.« »Wenn man uns fragt, fällt uns die gleiche Antwort ein.« »Sogar wenn sie falsch ist.« Dann hatten sie mit ein und derselben Stimme gelacht […]. (F, 14f.) Erik war so verblüfft gewesen, dass er sofort entschieden hatte, so zu tun, als fände er es komisch, aber gerade als er hatte Luft holen und lachen wollen, hatte Iwan neben ihm angefangen zu kichern. So war es eben, wenn man eins war und zugleich zwei und wenn kein Gedanke einem je ganz allein gehörte. (F, 16)

Der Erzähler bezieht sich auf das aus Erfahrungsberichten und parapsychologischen Forschungen erbrachte Wissen über das Zwillingsphänomen, das auf eine besondere übernatürliche Verbindung von zwei Menschen rekurriert. Dieses Phänomen wird von der Wissenschaft als gegenaufklärerisch und als nicht haltbar eingestuft. Der Erzähler weist auf die Erlebnisse der Zwillingsbrüder und die Erfahrung von Martin – dem dritten Bruder – hin und vermittelt dem Leser Informationen von einer spirituellen Bindung, unerklärlichen Ereignissen, instinktivem Wissen, dem Vorhersehen gewisser Begebenheiten, prophetischen Vermutungen wie auch dem instinktiven Verarbeiten von Sinneseindrücken. Eric und Iwan exemplifizieren durch die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und ihr Handeln das konkrete Problem, das in F eine literarische Reflexion erfährt. Der Erzähler wie auch die drei Ich-Erzähler berichten über die Erfahrungen der drei Brüder, die mit dem Zwillingsphänomen konfrontiert werden. Angesichts der Gewichtigkeit der Ereignisse und der Redundanz der Berichterstattung ist anzunehmen, dass der Autor diese enge Verbindung in den

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Mittelpunkt seines Textes stellt. Auch wenn der Erzähler als zuverlässiger Erzähler eingestuft werden kann, wobei die Redundanz seiner Figurenbeschreibung auch in dieser Hinsicht Fragen aufwirft, so lässt sich diese Behauptung bezüglich anderer Erzähler des Romans nicht mit der gleichen Berechtigung aufstellen. Erik – der Ich-Erzähler des dritten Kapitels »Geschäfte« – unterscheidet die realen Ereignisse in seinem Leben nicht von denen, die unter Halluzinationen in seinem Gehirn entstehen. Iwan geht dem Beruf des Fälschers nach, so kann auch seine Glaubwürdigkeit infrage gestellt werden. Auch Martin zeigt nach außen eine andere Haltung als die, die er in seinen Gedanken zum Ausdruck bringt. Die Figureninformationen, die vom Erzähler wie auch den Figuren selbst erbracht werden, bewegen sich jenseits des normalen Bewusstseins und verweisen auf parapsychologische Fähigkeiten der beiden Brüder, die das normale Erkenntnisvermögen überschreiten. Diese im ersten Kapitel verstärkt erbrachte Figureninformation erweist sich als ausschlaggebend für das Geschehen wie auch für die Handlungen der Figuren im Kapitel »Geschäfte« und für eine gewichtige Äußerung Erics im Kapitel »Jahreszeiten«. Das Kapitel »Geschäfte«, das der Schilderung des Tagesablaufs des 8. August 2008 aus der Perspektive des unzuverlässigen Ich-Erzählers11 Eric gewidmet ist, behandelt das Thema der übernatürlichen Verbindung der beiden Zwillingsbrüder auf eine besonders aufschlussreiche Art: Eric – von Medikamenten abhängig und am Rande des finanziellen und familiären Ruins stehend – vermischt die reale Ebene seines Lebens, die der Leser häufig durch die Erzählungen seiner beiden Brüder oder durch die Folge der Ereignisse entziffern kann, mit Halluzinationen, die er an diesem Tag fortwährend erleidet. Unter die vielen abnormen Momentaufnahmen, mit denen Eric an diesem Tag konfrontiert wird, werden einige gemischt, die unmittelbar auf das dargestellte Geschehen im Kapitel »Von der Schönheit« rekurrieren. ein hochgewachsener Mann [ist] im Zimmer. […] Er hat eine hässliche Zahnlücke ganz vorne. Nicht gut, denke ich. »Nein«, sagt der Mann. »Gar nicht gut.« […] »Misch dich nicht ein«, sagt der Mann. »Geh einfach vorbei. Wenn du sie siehst, misch dich nicht ein. Lass es bleiben. Sprich die drei nicht an, geh weiter.« Mir ist schwindlig. Nicht einmischen? Weitergehen? (F, 193f.)

Kurze Zeit später trifft er zwei Kinder, die zu ihm sagen: »›Lass die drei […]. Misch dich nicht ein, geh weiter‹« (F, 205). Und noch ein drittes Mal wird Eric gewarnt: »›Jetzt ist es passiert‹, sagt der Mann neben mir im Lift. ›Jetzt geht es zu Ende.‹ Er hat einen Hut und hässliche Zähne. […] ›Du musst wissen, heute ist 11 Vgl. Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitivnarratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: ders.: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998, 3–40.

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kein Tag wie alle. Manchmal wird es leichter für uns. Der Tod bringt uns näher heran.‹« (F, 222f.) Diese scheinbar abnormen Begegnungen erhalten ihr Realitätspotenzial durch die Konfrontation mit der Erzählung des Zwillingsbruders Iwan. Er verwickelt sich tatsächlich in einen Streit unter Jugendlichen und wird dabei tödlich verletzt. Etwas stimmt da nicht. Sie streiten sich. Die drei haben den Vierten in die Mitte genommen […]. Ich bleibe stehen. Warum bleibst du stehen, frage ich mich. Verschwinde […]. Gleich bin ich bei ihnen. […] Sie beachten mich nicht. Was tun? […] »Er ist am Ende«, sage ich. […] Ich muss ohnmächtig gewesen sein. […] Da fällt mir auf, dass sich etwas in MorningTowers Hand entfaltet hat, etwas Kleines und silbrig Böses. (F, 299–306)

Genau auf diesen Vorgang wird in den halluzinationsartigen Begegnungen in Erics Erzählung Bezug genommen. Dem Leser wird immer bewusster und deutlicher gemacht, dass es eine spirituelle Verbindung zwischen den beiden Brüdern gibt, dass sie miteinander in einem besonderen, übernatürlichen Kontakt stehen müssen. Der Leser ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der ironischen Herangehensweise des Autors, die sich allmählich herausstellen wird. Im Kapitel »Geschäfte« taucht zweimal eine nicht näher bestimmte Figur auf – eine Person mit Hut und einer hässlichen Zahnlücke. Ihre Erscheinung ist nur für Eric bestimmt, andere Personen – etwa weitere Fahrstuhlinsassen –, in deren vermeintlicher Präsenz sie vorkommt, nehmen sie nicht wahr. Eric kann zu diesem Zeitpunkt nur sehr bedingt die normale Welt und die abnorme Welt auseinanderhalten, lediglich der Leser entschlüsselt die rätselhafte Warnung des Phantoms: »›Misch dich nicht ein‹« (F, 194). Der Modellleser12 weiß, dass diese Worte eine realitätsgetreue Warnung beinhalten, die an den richtigen, aber auch zugleich den falschen Bruder gerichtet wird. Denn sowohl Eric wie auch Iwan werden an diesem Tag im Abstand von einigen Viertelstunden mit den »dreien« eine Zusammenkunft erfahren müssen. Hier wird die Frage aufgeworfen, wer diese rätselhafte Figur ist und ob im Text an anderen Stellen Informationen über sie eingestreut werden. Der Mann mit dem Hut und der hässlichen Zahnlücke erscheint noch einmal im Kontext des Sterbevorgangs von Iwan und ein weiteres Mal in der von Arthur Friedland – dem Vater der Brüder – verfassten Familiengeschichte »Familie«. Dabei handelt es sich um die Figur eines der ältesten Vorfahren der Familie – eines einäugigen Mannes, der nach seinem Tod unter den Lebenden der Nachfolgegenerationen verweilt und sich zeitweise den Nachkommen in seiner verkrüppelten Gestalt

12 Vgl. Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. München 1996.

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zeigt. Der Erzähler des Romans erwähnt die Figur des einäugigen Mannes an einigen Stellen: An seinem Bett tauchte ein einäugiger Mann mit nur einem Bein auf, uralt und verwittert, der ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte und Unverständliches zuraunte. (F, 152) Einmal tauchte ein alter Mann auf, dem ein Auge fehlte und ein Bein; der behauptete, mit ihm verwandt zu sein. (F, 153)

Der Erzähler führt zudem eine Figur ein, deren Figureninformation dasselbe Muster – ein Mann mit einem Defekt versehen – aufweist: Bei Lüttich verlor er drei Finger, vor Antwerpen ein Ohr, bei Prag eine Hand […]. Als die Eindringlinge fort waren, war er noch am Leben, aber die Seinen erkannten ihn kaum mehr ; es dauerte zwei Tage, bis er starb. Er kam zurück. Noch heute sieht man nachts jemanden, der wohl sein Geist ist, mit müdem Ausdruck durchs Haus streifen. (F, 148)

Auch wenn die einzelnen Phantomfiguren von der Beschreibung her keine gemeinsamen Züge aufweisen, so besteht zwischen ihnen doch eine strukturelle Ähnlichkeit. Sie werden durch bestimmte Merkmale im Aussehen charakterisiert, die sie als hässlich, verkrüppelt oder verstümmelt darstellen, und sie nehmen am Leben ihrer Nachkommen teil. Nach der zweifachen Warnung (seitens des Mannes im Fahrstuhl und der Kinder auf der Bank) trifft Eric in der Tat auf drei sich im Streit befindende Jugendliche. Kehlmann benutzt bei der Beschreibung seiner Figuren ein eingegrenztes Reservoir an relevanten Merkmalen. Die Jungen tragen Message-TShirts mit unterschiedlichen Aufschriften, eine Aufschrift wird in drei Erzählungen der Brüder vorkommen, die offensichtlich zur relevanten Figureninformation wird: »auf dem zweiten steht bubbletea is not a drink I like« (F, 206). Die drei Halbwüchsigen streiten sich mit dem Verkäufer. Der Ich-Erzähler, Eric, sagt: »Ich will schon weitergehen, aber dann ziehen sie schimpfend ihrer Wege, verschwinden ins nächste U-Bahn-Loch, und ich kann ein Hotdog kaufen.« (F, 206) Entweder nimmt Eric unbewusst die Aufforderung der ihn begleitenden Einbildungsgestalten auf oder er ist so mit seiner angeschlagenen physiologischen und psychischen Verfassung beschäftigt, dass er auch ohne diese Vorwarnungen nicht in den Streit eingegriffen hätte. In diesem Moment, als die drei Jungen weiter unterwegs sind (der Modellleser weiß, dass sie bald Iwan treffen und ihn mit einem Messer tödlich verletzen werden), ruft Iwan Eric an und berichtet von seiner Vorahnung: »›Ich dachte mir, ich sollte mal anrufen.‹ […] ›Warum?‹ ›Nur so ein Gefühl. Alles in Ordnung?‹ ›Natürlich.‹ ›Warum habe ich dann so ein Gefühl?‹ ›Vielleicht, weil ich heute mit dir [sprechen wollte].‹« (F, 207)

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Dem Leser werden für die »unerklärlichen« Situationen immer neue Interpretationsmöglichkeiten angeboten. An dieser Stelle wird erneut auf die parapsychologische Verbindung der Zwillingsbrüder hingewiesen. Die Figureninformation bezieht sich erneut auf die paranormale geschwisterliche Beziehung. Die zweite Zusammenkunft Erics mit dem Mann mit der hässlichen Zahnlücke dient der Auskunft, dass Iwan tot ist: »›Jetzt ist es passiert‹ […] ›Jetzt geht es zu Ende‹« (F, 222). Um den Bezug auf Iwans Tod zu bekräftigen, wird noch zusätzlich hinzugefügt: »›Im Grunde gibt es dann auch keinen Unterschied mehr zwischen den beiden, Iwan.‹« (F, 222) Eric scheint weder über das Treffen mit dem Geist noch über die Ansprache mit dem Namen Iwan verwundert zu sein. Wahrscheinlich ist diese Haltung auf seinen allgemein sehr labilen psychischen Zustand zurückzuführen, dessen er sich bewusst ist. Der Modellleser verbindet allerdings die Namensverwechslung mit der eingangs geschilderten Szene: »für kurze Zeit [wussten sie] selbst nicht mehr sicher […], wer von ihnen wer war. Danach sollte sie immer wieder das Gefühl überkommen, dass sie sich einmal verloren hatten und seither jeder das Leben des anderen führte« (F, 11). Im Schlusskapitel »Jahreszeiten« kommt dieselbe Figureninformation in einem anderen Kontext zur Sprache: »›Wir waren Zwillinge. Das verstehst du nicht. Ich bin nicht nur ich, und er ist … war nicht nur er. In gewisser Weise waren wir immer eine Person. Das ist schwer zu erklären.‹« (F, 368) Der Mann mit dem Hut und den hässlichen Zähnen spricht eine Wahrheit aus, die Eric die nächsten Jahre begleiten wird, zwar nicht als formulierter Satz, aber als ein Gefühl, und Eric wird wissen, dass dieses Gefühl mit dem Tod von Iwan in Verbindung zu bringen ist: »›Du musst wissen, heute ist kein Tag wie alle. Manchmal wird es leichter für uns. Der Tod bringt uns näher heran.‹« (F, 223) Im letzten Kapitel erfährt der Leser von der Erzählerstimme, dass Eric in seinem Unterbewusstsein über den Tod des Bruders Bescheid wissen müsse, auch das Datum, der Tag, an dem sein Leben zu Ende ging, sollte ihm bewusst sein. »Er hatte davon gesprochen, dass er nie wieder vollständig sein werde seit dem Tag, an dem sein Zwillingsbruder gestorben sei.« (F, 376) Die Figur mit der Figurenbeschreibung in Form des Message-T-Shirts »bubbletea is not a drink I like« (F, 127) erscheint auch in weiteren Kapiteln, in der dritten Erzählung Iwans und der ersten Martins. Für den Leser entsteht eine Fortsetzungsgeschichte, die, obwohl vom Schluss her erzählt, eine besondere Spannung in den Roman bringt. Als Eric und Iwan miteinander telefonieren, steigen die drei Jungen in der Eric-Erzählung in die U-Bahn ein. Als das Gespräch zu Ende ist, steigen sie in der Iwan-Erzählung aus. Iwan erhält keine Vorwarnungen hinsichtlich des Treffens mit den Jugendlichen. Diese Warnungen galten nur seinem Bruder Eric. Die Jungen streiten, Iwan greift ein und wird dabei tödlich verletzt. Er sucht nicht nach Hilfe, sondern versucht, sich in sein Atelier, das als einsamer, entlegener Ort beschrieben wird, zu flüchten. Im

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Fahrstuhl, mit dem er seinen Zufluchtsort erreichen will, trifft er eine unwirkliche, dem Leser aber schon bekannte Figur : Ein Mann steht neben mir, eben war er noch nicht da. Er hat eine hässliche Zahnlücke und einen zerbeulten Hut. Er sagt: »Jägerstraße 15b.« »Ja«, sage ich. »Das ist hier. Das ist die Adresse dieses Hauses. Jägerstraße 15b.« »Jägerstraße 15b«, wiederholt er. »Fünfter Stock.« (F, 310)

Kurze Zeit später erscheint die Figur noch zwei weitere Male: Und da ist er wieder, mit seinem Hut und seiner Zahnlücke, und noch während ich ihn sehe, ahne ich, dass er gleich wieder verschwinden wird. »Geh zu deinem Bruder«, sagt er, »hilf ihm. Jägerstraße 15b, fünfter Stock. Geh dorthin!« […] und dort ist er schon wieder und blickt von außen herein, kein schlechtes Kunststück, im fünften Stock auf dem Sims das Gleichgewicht zu halten! Ich kann es an seinen Lippen ablesen: Jägerstraße 15b, fünfter Stock […]. (F, 311)

Es könnte scheinen, dass sich die seltsame Figur ständig in den Brüdern irrt. Kehlmanns Kunstgriff ist aber vermutlich raffinierter als nur die Bestätigung der »Ironie des Schicksals«. Der Autor führt an dieser Stelle den charakteristischen Modus für den »unzuverlässigen Erzähler«, die dramatische Ironie, ein. Um es noch deutlicher erscheinen zu lassen, lässt der Autor die Figur zum vierten Mal in immer aberwitzigerer Form erscheinen: Dort steht wieder der dürre Mann und rückt an seinem Hut und sagt: »Jägerstraße 15b, fünfter Stock!« Er hebt die Hände, um sich Gehör zu verschaffen, wippt nervös auf seinen Füßen. »Dort findest du ihn, dort ist dein Bruder!« Nein, sage ich, ich bin dort, und das ist hier. Aber er hört mir nicht zu, so eilig hat er es, die Information erneut loszuwerden: »Jägerstraße 15b, fünfter Stock!« Er hüpft und winkt, von seiner Ruhe ist nichts mehr übrig, tatsächlich verblasst er schon, und ich weiß, ich werde ihn nicht mehr sehen. (F, 316f.)

Spätestens bei dieser Beschreibung wird deutlich, dass es sich um eine ironische Form der Darstellung der unbewussten, parapsychologischen, übernatürlichen Seite des Menschen handelt. Das »Unbewusste« – die Phantomfigur, die Erik und Iwan am Rande ihres Bewusstseins erschien – hat sich offensichtlich in den beiden Brüderpersonen geirrt. Kehlmann führt die Ironie auf eine sehr subtile Weise ein. Die Kraft des Unbewussten lässt er im Laufe des ganzen Romans in die Figureninformationen und die Handlung einfließen, um es nach und nach zu unterminieren und zum Teil als den Willen seiner Figuren zu solcher Sichtweise oder auch als Bestandteil der Halluzinationen erscheinen zu lassen. Das Fatum, das Schicksal und die Vorsehung entpuppen sich immer stärker als Einbildungen der Figuren selbst.

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Esoterische Praktiken Erfahrungen mit Hypnose bilden einen weiteren thematischen Schwerpunkt der Handlung im Roman F, der an das Parapsychologische angrenzt. Auch dieses Thema wird von Kehlmann sowohl auf der Figuren- wie auch auf der Handlungsebene eingeführt. Das hypnotische Verfahren wird im Text mehrmals auf der histoire-Ebene signalisiert. Zweimal weisen die Hypnose bzw. ein hypnotischer Zustand Auswirkungen auf das Geschehen und auf die Handlungen der Romanfiguren auf. Durch die Hypnoseerfahrung verändert sich auch die Figurenbeschreibung. Bezeichnend für Kehlmanns Poetik ist die Einführung einer weiteren (dritten) Begegnung mit dem Hypnotiseur, die im Gegensatz zu den zwei vorangegangenen sowohl für die Figuren als auch für das Geschehen im Roman wirkungslos bleibt. Damit wird die Wachsamkeit des Modelllesers erneut geweckt, da seine Erwartung bestimmter Folgen eines solchen Treffens enttäuscht wird. Unter Rückgriff auf die Formel der dramatischen Ironie stärken Kehlmann bzw. sein Erzähler auf der discours-Ebene die Kommunikation zwischen dem Leser und den Figuren. Jedes Treffen der Familienmitglieder mit dem Hypnotiseur Lindemann zieht erhebliche Veränderungen im Leben der Figuren nach sich. Arthur, Eric, Iwan und Martin besuchen im ersten Kapitel von F eine Großveranstaltung dieses Hypnotiseurs. Während der Veranstaltung kommt es zu einem unter Hypnose geführten Gespräch Arthurs mit Lindemann. Arthur erzählt von seinem Leben. Lindemann fordert ihn auf, sein Leben von nun an zu verändern. Lindemann fragt Arthur : »[…] Wohin willst du?« »Weg.« »Von hier?« »Von überall.« »Dann hör zu.« […] »Das ist ein Befehl, den du befolgen wirst, weil du ihn befolgen willst, und du willst es, weil ich es befehle […]. Von heute an bemühst du dich. Egal, was es kostet. Egal, was es kostet. Wiederhole!« »Egal, was es kostet.« (F, 43)

Zu Anfang des Romans wird Arthur folgendermaßen charakterisiert: »Es war das Jahr 1984, und Arthur hatte keinen Beruf. Er schrieb Romane, die kein Verlag drucken wollte […]. Etwas anderes tat er nicht, aber seine Frau war Augenärztin und verdiente Geld.« (F, 7) Nach dem Vorgang verändert sich die Figurenbeschreibung Arthurs. Arthur wird »berühmt«, wie Martin sagt (F, 91). In der Figureninformation kommen noch weitere Details zum Vorschein: »Ich habe ein Haus […]. Es liegt an einem kleinen See […]. Dort kann ich den ganzen Tag arbeiten. […] Manchmal reise ich irgendwohin […]. Meine Arbeit war lange Zeit besser als mittelmäßig […].« (F, 361)

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Nach der Hypnoseerfahrung verlässt Arthur seine Familie, bricht den Kontakt zu seinen Söhnen ab und führt ein einsames, arbeitsames und schöpferisches Leben. Das zweite Treffen mit Lindemann zeitigt bedeutende Folgen für Arthurs Sohn Iwan. Lindemann stellt in einem scheinbar harmlosen Gespräch den Berufswunsch von Iwan, dem angehenden Maler, infrage: »›Maler?‹ […] Sein Geschichtsausdruck hatte sich verändert, es war nichts Verbindliches mehr darin. ›Maler – wirklich?‹ […] ›Aber meinen Sie das ernst? Maler?‹« (F, 265) Dieses angestoßene, aber nicht fortgeführte Gespräch mit der scheinbar bedeutungsvollen Veränderung in Lindemanns Gesichtsausdruck wird Iwan bald im Traum verfolgen: Kurz darauf […] erschien er mir so deutlich im Schlaf, dass es mir bis heute vorkommt, als wäre ich ihm insgesamt dreimal begegnet. […] »Und du glaubst, du hast es in dir? Die Kunst. Das Malen. Die Schöpferkraft. Glaubst du das wirklich? […] du bist leer. Hohl bist du.« (F, 266)

Nach diesem Traum verändert sich die Figureninformation. Iwan verzichtet auf die bis zu diesem Zeitpunkt angestrebte Malerkarriere, wird Kunstkritiker und malt Bilder unter dem Namen eines anderen Künstlers, mit dem er zusammenlebt. Bis zu dieser Beschreibung erscheint im Text die Hypnose – oder ein der Hypnose ähnlicher Zustand – als das Verfahren, das imstande ist, den Werdegang der Figuren und auch sie selbst zu verändern. Ganz zum Schluss des Textes führt der Autor ein weiteres Treffen mit dem Hypnotiseur Lindemann vor. Arthur ist mit seiner Enkelin Marie, der Tochter von Eric, unterwegs. Auf einem Rummelplatz treffen sie einen Kartenleser und Wahrsager : Lindemann. Der Erzähler scheint von den vorherigen Treffen nichts zu wissen. Arthur erkennt Lindemann zwar, sagt es aber offensichtlich nicht. Der Leser versteht die Situation relativ schnell durch Signale, die im Text gesetzt werden. Diese Begegnung liefert dem Leser eine neue Figureninformation über Lindemann. Er ist nicht mehr Hypnotiseur, sondern ein Wahrsager. Lindemann ist nicht mehr die Figur, die sich in dem Handwerk der Hypnose betätigt, Menschen beeinflussen kann, Denk- und Arbeitsweisen der Figuren im Roman zu verändern imstande ist. Lindemann kann niemanden mehr beeinflussen, sein Handwerk ist die Gaunerei und Schwindelei, er kann die Karten nicht lesen, kann die Zukunft von Marie weder voraussagen noch verändern. Auch an diesem Vorgang wird der Rückgriff auf die dramatische Ironie auf der discours-Ebene des Textes lesbar. Die im Text dargestellten Ereignisse erzeugen beim Leser in Konfrontation mit der letzten Szene eine widersprüchliche Deutung. Die Sicht des Lesers auf das Geschehen wird sich mit der Einführung dieser letzten Begegnung mit Lindemann verändern. Es kommen hier zwei sich

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widersprechende Kommunikationssysteme zur Sprache, das eine konnotiert die wirkungsvolle hypnotische Tätigkeit Lindemanns, das andere das Gaunerhafte des Rummelplatz-Zauberkünstlers. Die Information des inneren Kommunikationssystems steht der des äußeren Kommunikationssystems konträr gegenüber. Das innere Kommunikationssystem bilden die drei Ich-Erzähler und die ArthurFigur, das äußere bildet das des Lesers. Der Leser und Arthur wissen über die frühere Identität des Wahrsagers Bescheid. Lindemann ist schwerhörig und fast blind. Arthur bedient sich Lindemann’scher Sätze, die dem Modellleser aus dem ersten Kapitel (F, 43) bekannt sind: »›Was immer es kostet‹, sagte Arthur. ›Man muss sich nur bemühen. Was immer es kostet.‹« (F, 358) Nur der Leser und Arthur verstehen den Kontext dieser Äußerung. Lindemann versteht die Worte Arthurs nicht, Marie kann von den Ereignissen vor über dreißig Jahren nichts wissen, auch der Erzähler äußert sich in dieser Hinsicht nicht. Durch Arthurs Spiel mit den alten Sätzen Lindemanns stellt sich erneut die dramatische Ironie von Kehlmanns Text ein. Der Leser weiß mehr als die Figuren (Marie und Lindemann) und womöglich auch als der Erzähler. Figuren sind mentale Modelle, bei deren Konstruktion kulturelle Kodes eine bedeutende Rolle spielen. Zugleich aber sind sie kommunizierte mentale Modelle, wie Jannidis13 sie deutet. Das heißt, ihre jeweiligen Funktionen im Text – Zwillinge, Hypnotiseur, Bestsellerautor, Priester, Mörder – bestimmen sie. Es ist bekannt, dass nicht alle Figureninformationen gleich wichtig sind, einige bleiben für die kommunizierte Intention des Textes irrelevant. Kehlmann schreibt seinen Figuren verschiedene Informationen ein, die mehrmals im Text vorkommen, sie können sowohl materieller (T-Shirt, Mann mit dem Hut, einäugiger Mann, der Rubik-Würfel) als auch psychologischer bzw. im Falle der Zwillinge parapsychologischer Art sein.

Die Frage nach dem Glauben Eine hohe Relevanz hat in F die Haltung der Figuren der Religion – als einem kulturellen Kode – gegenüber. Schon auf der dritten Seite des Romans verkündet Arthur : »›Gott gibt es nicht‹« (F, 9). Einige Seiten weiter wird der Leser mit den Gedanken des Priesters Martin vertraut gemacht: »Und jetzt das Bekenntnis des Glaubens. Ich […] trage vor, was ich gerne glauben würde: Gott, der Allmächtige […]. Ja, es wäre schön.« (F, 56) Und zum Ende des Romans liefert Martin eine Figureninformation in Bezug auf eine dritte Figur des Romans – Eric: »›Jeden Tag erklärt er mir, dass Gott über die Welt wacht und besonders über ihn. Jeden Tag!‹« (F, 368) Damit erschafft Kehlmann drei Figuren mit einem gänzlich ver13 Jannidis: Figur und Person (Anm. 7), 204.

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schiedenen Zugang zur Religion, zur Glaubensfrage: eine nicht gläubige Figur, eine um den Glauben ringende Figur und eine gläubige Figur. Arthurs Zugang zur spirituellen Welt ist anfangs deutlich markiert, an die Existenz einer höheren Instanz, die über das Schicksal der Menschen entscheidet, glaubt er hingegen nicht. Während der Hypnoseveranstaltung scheint sich seine Weltsicht zu verändern, allerdings erfährt der Leser nicht, was seine Beweggründe dafür gewesen sind, die Familie und das bis dahin geführte Leben zu verlassen. So liegt die Feststellung der Veränderung seiner Einstellung zum Übernatürlichen im Ermessen der Interpretation des Vorgangs durch den Leser. Es bleibt nur eine Annahme, eine Interpretationsmöglichkeit, die dem Leser nahegelegt wird, dass die Veränderung während der versuchten Hypnose stattgefunden hat. Der Text liefert keine Figurenbeschreibung in dieser Hinsicht. Arthur schreibt einen Roman, dank dessen er einen relativ großen Ruhm erlangt. In dem Roman versucht er sich an den Quantentheorien, die besagen, dass die ganze Welt aus Energien besteht. Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei »Atome« ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? Eine Zahl, die konstant bleibt […]. Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes. (F, 87)

Falls der Leser an dieser Stelle vermuten sollte, in diesem Zitat würde die Weltanschauung Arthur Friedlands dargeboten, wird er vermutlich enttäuscht werden, denn gleich kommt der relativierende Erzähler zu Wort: »So geht es über fünfzig Seiten, und beinahe funktioniert es […]. Nur beschleicht einen das Gefühl, auch dies sei nur eine ironische Demonstration von – ja, was eigentlich?« (F, 88) Auch im Falle der Konstruktion der Figur Arthur ist es aufschlussreich, von der Kategorie der dramatischen Ironie zu sprechen, da, wie sich im letzten Kapitel herausstellt, Arthur weder an Gott noch an Schicksal, Fatum, Vorsehung, Energien und Familiengeister glaubt. Der Leser vernimmt von Arthur folgende Äußerung, die er an Marie richtet: »›Aber meine Zukunft!‹ ›Such sie dir aus. Such dir aus, welche du haben willst.‹« (F, 361) Mit dieser Bekundung wird eine Haltung markiert, die besagt, dass Arthur in diesem Moment eher an die absolute Freiheit des Menschen glaubt, als dass das Fatum oder das Schicksal über das menschliche Leben entscheiden würde. Eine gegenteilige Position vertritt Eric, der von der Existenz und der Wirkung Gottes überzeugt ist. Zu dieser Einsicht ist er nach einigen Schicksalsschlägen gelangt. Eric hat eine Finanzfirma geleitet, die die Vermögen vieler reicher

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Kunden verwaltete. Das Geschäft lief nicht gut, Eric hat die Fehler, die er bei den Anlagen gemacht hat, durch falsche Bilanzen vertuscht. Vor ein paar Jahren war noch alles in Ordnung. Die Investitionen waren ertragreich, die Bilanzen passabel. Dann gab es einen Engpass in der Liquidität, und mir fiel auf, dass mich nichts daran hinderte, einfach zu behaupten, ich hätte Gewinne gemacht. […] behauptet man einen Gewinn, bleibt alles beim Alten […] man gleicht den Verlust aus […]. (F, 187f.)

Irgendwann sieht sich die Eric-Figur am Rande des finanziellen und familiären Ruins stehen, überlegt auszuwandern, einen Selbstmord zu begehen und flüchtet sich in die Tablettenabhängigkeit. Als die Wirtschaftskrise ausgebrochen ist, kann er alle seine Verfehlungen mit dem Argument der negativen Entwicklung des Wachstums im Allgemeinen vertuschen. Die Wirtschaftskrise von 2008 ist für Eric der Moment der Hoffnung auf ein rechtmäßiges Leben. Er ist der Auffassung, dass »›Gott Wunder tut‹« (F, 367) und dieses Wunder – die Wirtschaftskrise – alleine von Gott für Eric bestimmt wurde. »Das meinst du nicht im Ernst, oder? Du meinst, er hat eine Wirtschaftskrise geschickt, um dich vor deinen Problemen zu retten? […]« »Warum nicht? Warum sollte sie nicht gekommen sein, um mich zu retten, warum denn nicht?« »Weil du nicht so wichtig bist!« »Offenbar bin ich es. Sonst wäre nicht meinetwegen –« […] »Jeden Tag steht er in diesem karierten Hemd vor mir und sagt, dass Gott eine Finanzkrise geschickt hat, um ihn zu retten.« (F, 367–369)

Der Leser wird mit einer neuen Figurenbeschreibung und neuen Figureninformationen konfrontiert: Eric ist ein »›Fanatiker‹« (F, 367), er geht »jeden Tag zur Beichte« (F, 372), »er tue nichts« (F, 374), »Er lese in der Bhagavad Gita. Er meditiere. Er gehe zur Beichte. Er verbringe Zeit mit seiner Tochter. […] er habe kein Telefon mehr« (F, 374), »sein Schicksal liege […] in der Hand Gottes« (F, 375). Auch in der indirekten Figurenbeschreibung wird seine Veränderung im Text markiert: Seine Tochter, so erfährt der Leser, hätte »ihn noch nie so gut gelaunt erlebt« (F, 328). In der eigenen Beschreibung nennt er sich »einen frommen Menschen« (F, 377). Die Eric-Figur birgt Grauen und Komik, Hochstapelei und Frömmigkeit, panische Lebensangst und affirmative Lebensbejahung in sich. Trotz seiner scheinbaren Veränderung zugunsten der Frömmigkeit weiß Eric während eines Gesprächs mit einem früheren Kollegen noch immer einen fähigen Investmentmanager in sich: Eric hatte keine Zweifel, dass er bei remling.Consult schnell aufsteigen würde. Er verfügte über Erfahrung, er kannte alle Tricks, er hatte eine der großen Vermögensberatungsfirmen des Landes aufgebaut. (F, 375)

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Es handelt sich bei der Eric-Figur um die Konstruktion einer grotesken Figur. Die direkte Figureninformation erzeugt beim Leser sowohl eine moralische Abwertung der Figur als auch Mitleid. Auf einer ähnlichen Basis wurde vom Autor die Martin-Figur entworfen. Die Figur wird dynamisch aufgebaut, ihre Figurenbeschreibung verändert sich durch die Hinzufügung von detaillierteren Informationen allmählich. Martin wird zu Anfang des Romans beinahe von einem Auto auf der Straße erfasst. Der Erzähler berichtet von Martins Empfindungen: »Martin war es, als hätte sein Dasein sich gespalten. Er saß hier [bei seinem Vater im Auto], aber zugleich lag er auf dem Asphalt, reglos und verdreht.« (F, 9) Daraufhin entwickelt sich ein Gespräch über die Existenz Gottes, über den Schutz, den Gott über die Menschen ausbreitet, über den Glauben. Die Leserführung läuft schon auf der ersten Seite auf ein spirituelles Dasein der Martin-Figur hinaus. Einer der Zwillinge führt den besonderen Schutz Gottes, der über Martin ausgebreitet werden solle, ein: »›Hin könnte er sein‹ […] ›Wenn Gott noch etwas mit ihm vorhat. Was auch immer. Dann kann ihm nichts passieren.‹« (F, 9) Die Lesererwartung wird schon im nächsten Kapitel bestätigt: Martin wird Priester. Allerdings könnte der Leser etwas überrascht sein, wenn er erfährt, dass Martin seinen Beruf wählt, ohne den Glauben an Gott zu haben. Ich aber fühlte mich wohl in halbdunklen Räumen, ich hörte gern Musik von Monteverdi, und mir gefiel Weihrauchduft. […] Und die Sache mit Gott würde ich auch noch hinbekommen. Das dachte ich. So schwer konnte es doch nicht sein. (F, 75f.)

Martin übt sein Amt ohne Ehrgeiz, ohne Interesse und Hingabe aus. Seiner Figur verleiht der Verfasser allerdings auch eine Beschreibung, nach der Martin als ein nach Glauben suchender und trachtender Mensch dargestellt wird. Damit wird beim Leser ein Gefühl von Mitleid erweckt. Martin trachtet nach dem Glauben, lebt lange Jahre in der Hoffnung, dass er glauben können wird. Zu dieser Figureninformation, die Martin selbst liefert, kommt eine andere, die durch Äußerungen anderer Figuren entsteht oder auch durch das Handeln der Figur erzeugt wird: Fettleibigkeit, Esssucht, Spielsucht, Bequemlichkeit und Trägheit. Diese Eigenschaften, die eher Abscheu und Widerwillen im Leser erwecken, fließen sehr langsam in den Text ein, bis zu einem Höhepunkt – der grundsätzlichen Kritik an der Institution der katholischen Kirche und ihren Amtsinhabern. Die erste Szene, die eine unverhohlene Kritik an Martin enthält, ist die Szene der Beichtabnahme. Martin ist nicht imstande, seine Ess- und Spielsucht für die Zeit der Beichtabnahme zu unterdrücken. Ich nehme den Würfel, und gerade als ich überlege, ob ich klassisch vorgehen oder lieber mit einem Viererblock anfangen soll, knarrt wieder das Holz […]. Ich lege den Würfel weg. […] »Essen Sie da etwa, Herr Pfarrer?« »Nein!« […] Der erste Bissen war herrlich. […] »Sie essen!« […] »Ich esse nicht.« »Im Beichtstuhl!« (F, 98f.)

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Hier findet die Charakterisierung des Priesters über seine Handlungen und die Äußerungen anderer Romanfiguren statt. Die Charakterisierung unterscheidet sich gravierend von der Selbstwahrnehmung Martins. Dem Leser wird allmählich ein Bild von einem wenig in seinem Beruf engagierten Priester und von einem in seinen Bedürfnissen verfangenen Menschen offenbart. Die negative Figurenbeschreibung erreicht ihren Höhepunkt in der Begegnung mit einem minderjährigen Straftäter. Der Modellleser errät, dass es sich bei dem Jungen um Iwans Mörder handelt. Das Erkennungszeichen, das in allen drei Kapiteln über den 8. August 2008 vom Autor eingeführt wurde, ist die Aufschrift auf dem TShirt eines der Jungen: »Bubbletea is not a drink I like« (F, 128). Martin hört der Beschreibung einer kriminellen Tat nur halb interessiert zu, denkt ständig an die gleißende Hitze, an seinen schweren Körper oder an die Cola aus dem Automaten (vgl. F, 128–132). Er erfährt nur Fetzen von dem, was der junge Mann ihm erzählt, ermahnt ihn, die Polizei zu benachrichtigen, und erteilt ihm den Segen. Da Martin gerade von einem Mord gehört hat, überlegt er, was jetzt seine nächsten Schritte sein sollen. Er entschließt sich, auf die Formel des Beichtgeheimnisses zurückzugreifen, die ihm Schweigepflicht auferlegt. Andererseits, denke ich, nehmen wir eben an, es ist eine Beichte. Ich kann das entscheiden, ich mache es zu einer. In diesem Fall darf ich gar nicht zur Polizei. Das Kirchenrecht verbietet es, und das Gesetz des Staates schützt mich. Die Angelegenheit wäre sofort erledigt. (F, 131) Ron fällt mir wieder ein, das ist wichtiger, darüber sollte ich sprechen. Aber etwas hält mich ab, […] mir ist, als wäre es besser, die Sache zu vergessen. (F, 135)

Damit kreiert Kehlmann eine nicht nur im moralischen Sinne ausgesprochen negative Figureninformation über Martin, sondern auch eine grundlegende Kritik an den Handlungen der Kirche und ihrer rechtlichen Privilegierung, die auf die Gewissenskonflikte des Geistlichen und die Glaubwürdigkeit der katholischen Religionsgemeinschaft Rücksicht nimmt und den Geistlichen von der Anzeigepflicht entbindet. Kehlmann deutet in seinem Roman an, wie auf diese Weise Straftaten von der Kirche verdeckt und die Täter moralisch geschützt werden. Dann stellt sich Martin die Frage, ob Ron – der jugendliche Täter – eine Absolution erhalten sollte: »Und die Absolution? Warum denn nicht! Es gibt keinen Gott, der dem Jungen verzeihen muss, nur weil ich das Kreuz geschlagen habe. Es sind Worte. Er ändert nichts.« (F, 131) An dieser Stelle arbeitet Kehlmann vermutlich intertextuell und bedient sich der berühmten Stelle aus Hamlet von William Shakespeare: »Worte, Worte, Worte« (II. Akt, 2. Szene), die auf die Vergeblichkeit der Worte rekurriert. Das Wort »Vergebung der Sünden«, »Absolution« hat für Martin keine tatenschaffende Kraft mehr. Seine Einstellung widerspricht der Bibelauslegung, wonach das Wort die Kraft besitzt, den angetroffenen Zustand zu verändern, Gottes Wort besitzt die Kraft der Schöpfung

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und der Wirklichkeitsveränderung: »Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.« (Gen 1, 3) Damit gelangt der Leser zu der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung des Gesprochenen, also danach, ob das Gesagte das menschliche Schicksal beeinflussen kann. Auch wenn Kehlmann zu Anfang des Textes Beweise dazu vorbringt, dass Worten eine schöpferische Kraft zugeschrieben werden kann (so etwa den Worten Lindemanns), so wird der Leser immer mehr mit der Ironie dieser Annahme konfrontiert. Der Unwille des Modelllesers der Martin-Figur gegenüber wird durch das Wissen über die Untat des Jugendlichen, die an Iwan verübt wurde, verstärkt. Martin will mit der für ihn unbequemen Information nichts zu tun haben, er will nicht eingreifen, er versteckt sich hinter der Formel des Beichtgeheimnisses. An dieser Stelle wird er durch seine Handlungen und Gedanken charakterisiert. Durch diese unmittelbare Charakterisierung erlaubt der Autor dem Leser, eigenständig eine Haltung der Martin-Figur gegenüber zu entwickeln, er greift entstehenden Urteilen nicht vor, liefert keine direkte Figureninformation. An einer Stelle im Text, wo Eric Martin vorhält, den Priesterberuf nur aus dem Grund der Bequemlichkeit gewählt zu haben – »›Du willst einfach nicht arbeiten!‹« (F, 83) –, erfährt der Leser, dass die Berufswahl keine durch eine Berufung zum Priesteramt eingeleitete Entscheidung war. Auf den Vorwurf des Bruders entgegnet Martin zwar keinen Satz, jedoch werden dem Leser seine Gedanken übermittelt: »Wieso stimmte immer alles, was er sagte, und wieso stimmte es auf so falsche Art?« (F, 83) Die Martin-Figur wird anfänglich von Kehlmann in Richtung einer positiven, beinahe existenziellen Figur hin entwickelt. Sein größter Wunsch, so deutet es der Modellleser, ist es, glauben zu können: Jetzt, sagte ich. Jetzt wäre der Moment. Sprich zu mir, wie du zu Mose gesprochen hast an dem brennenden Busch, zu Saul auf der Straße nach Gethsemane, zu Daniel vor dem König von Babylon […]. Die Welt ist kaum einen Tag älter seither, […] und wie sie vor dir gestanden haben, so stehe jetzt ich vor dir und bitte um ein Wort. Nichts geschah. (F, 105)

Aus Martins Perspektive erfährt der Leser, dass er um den Glauben ringt: »Ich bemühe mich doch« (F, 105), berichtet er. »Nur Gott spürte ich nicht. Ich wartete, betete, wartete und betete. Aber ich spürte ihn nicht.« (F, 104) Marin erhofft das Aufkommen des Glaubens von außen, beispielsweise durch das Taufsakrament, durch eine direkte Gotteserfahrung, durch das Vernehmen von Gottes Worten, durch gezieltes Beten, Meditieren, den Besuch der Messe. Die Religion wird aber nicht zum existenziellen Kerngedanken seines Daseins, stattdessen beschäftigt er sich leidenschaftlich und unaufhörlich mit dem Lösen des Rubik-Würfels in »der nationalen« Rangliste (F, 369). Er trägt den Würfel immer mit sich, an jedem Ort, ob im Beichtstuhl, in der Sakristei, beim Bru-

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derbesuch: Stets bewegt er die Steine des Würfels. Der Würfel könnte vom Leser als ein Pendant zum Rosenkranz oder zur Bibel gedeutet werden, da er ihre Funktion im Text übernommen hat. Ein weiteres Attribut der Figurenbeschreibung ist die Vorliebe für üppiges Essen und süße Getränke, deren Mangel psychische und physische Störungen bei Martin verursacht. Während der für den für tot erklärten Bruder Iwan gehaltenen Messe, deren Verlauf vom Erzähler berichtet wird, kann sich Martin nicht auf die Person seines Bruders konzentrieren. Er führt die Messe mit geübter Routine: »Er war kein Anfänger, und die Sätze flossen, ohne dass er nachdenken musste« (F, 379). Martin denkt dabei an vieles andere, an den Ministranten (der sich in diesem Moment nur für den Leser als der jugendliche Straftäter, der für Iwans Tod die Verantwortung trägt, entpuppt), daran, dass er dann doch für diese Aufgabe des Ministranten nicht geeignet sei, dann stellt er »sich vor, wie draußen die Flocken fielen« (F, 379), und führt sich den Wetterbericht für die nächsten Tage vor Augen, bis er schließlich bemerkt, »dass er wieder Hunger bekam.« (F, 379) Um den grotesken Charakter der Darstellung der Martin-Figur zu verdeutlichen, führt der Autor ein Gespräch zwischen Martin und seinem Priesterkollegen Pater Tauler, dem stellvertretenden Chefredakteur von Radio Vatikan, ein. Pater Tauler spricht in hochtheologischen Erörterungen über Gott und den Glauben: »›Gott ist ein sich selbst realisierender Begriff, eine causa sui, weil sie denkbar ist. Ich kann ihn denken, und weil er denkbar ist, muss es ihn geben, alles andere wäre ein Widerspruch […]‹« (F, 135). Der Modellleser erwartet eine Fortentwicklung dieser Disputation, und Pater Tauler stellt auch Martin die Frage nach seinem Glauben: »›Und was glaubst du?‹ […] Ich bleibe stehen, stütze mich aufs Geländer und warte darauf, dass mein Herzschlag sich beruhigt. ›Ich glaube, dass wir bald essen sollten.‹« (F, 136) Im Laufe der Lektüre wird der Leser immer mehr mit dem Ausmaß von Martins Handeln konfrontiert – dem Vertuschen von Straftaten, dem Abscheu Menschen gegenüber, die sich stark zu ihrem Glauben bekennen, der Abhängigkeit vom übermäßigen Essen und der Spielsucht. Dieser Kunstgriff Kehlmanns intendiert das Entstehen einer grotesken Figur. Dazu greift der Autor erneut auf die Technik der dramatischen Ironie zurück, die sich erst im syntagmatischen Fortgang der Handlung einstellt. Das innere Kommunikationssystem – das den Figuren zugeschriebene – ist ein anderes als das äußere Kommunikationssystem, das der Leser wahrnimmt. Der Leser verknüpft die einzelnen Äußerungen der Ich-Erzähler und die Ausführungen des Erzählers zu einer zusammenhängenden Geschichte, die eine andere ist als die von den einzelnen Stimmen erzählte oder gedachte.

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Religion, Parapsychologie, Esoterik versus Freiheit Daniel Kehlmann ordnet die drei kulturellen Kodes: Religion, Esoterik und Parapsychologie, die zu den oft diskutierten Problemfeldern der heutigen Gesellschaft gehören, der Reihe der Paradigmen zu, die nach neuen Auslegungen und Deutungen verlangen. Die Freiheit, die freie Welt, in der Kehlmanns Figuren zu leben scheinen, wird unaufhörlich mit der Angst vor dem Scheitern abgegolten, ist in Anlegung an Zygmunt Bauman14 festzuhalten. Auch Brodsky greift diesen Gedanken auf, wenn er behauptet: »[…] wenn ein freier Mensch scheitert, macht er niemanden dafür verantwortlich, außer sich selber.«15 Kehlmanns Figuren suchen nach Erklärungen für ihre Lebenswege. Die Ursachen für ihr Scheitern im Priesterberuf, in der Finanzbranche, als Künstler, als Vater etc. suchen sie in der Außenwelt; für die Erklärung bemühen sie Begriffe wie Fatum, Schicksal, Fügung, Zufall, Zauberei. Keine der Figuren sucht nach dem Auslöser ihres Scheiterns in sich selbst, was nach Brodsky oder Bauman von einem freien Menschen zu erwarten wäre. Indem Kehlmann auf die Technik der dramatischen Ironie zurückgreift, gelingt es ihm, beim Leser eine Distanz den Figuren gegenüber zu erzeugen und damit die Lesereinstellung zu steuern. Die Figuren Martin und Eric, vielleicht sogar auch Arthur, werden als groteske Figuren entworfen, die beim Leser Abneigung und Mitleid zugleich erzeugen. Die Figuren belegen die von Bauman abgeleitete These, dass weder der Glaube noch die Parapsychologie dem Menschen der flüchtigen Moderne Maßnahmen zur freiheitlichen, angstfreien, selbstbestimmten Lebensführung bereitstellt. Emmanuel Levinas fordert von einem Menschen, der dem heutigen »Kulturmodell« entsprechen soll, »Verantwortung«: »[…] Verantwortung ist meine Angelegenheit. Das Ich hat immer ein Mehr an Verantwortlichkeit als alle anderen.«16 Kehlmanns Figuren sind in der Angst vor dem Scheitern als Priester, Maler, Manager, Vater, Ehemann oder Schriftsteller verfangen. Die Angst vor dem Scheitern festigt sie in ihren Funktionen, die sie sich selbst ausformuliert haben, und bremst sie in der Übernahme der Verantwortlichkeit sich selbst gegenüber. Kehlmanns Figuren suchen im Glauben, in esoterischen Praktiken oder in parapsychologischen Überlegungen nach Auswegen aus der Eigenverantwortlichkeit. Das Scheitern der Brüder in ihrer Eigenverantwortlichkeit wird in F in Form des Todes von Iwan thematisiert. Weder übernatürliche Empfindungen noch religiöse Praktiken können den Tod Iwans verhindern. Ihr Ver14 Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne. Aus dem Engl. v. Reinhard Kreissl. Frankfurt a. M. 2003, 24. 15 Joseph Brodsky : Der Zustand, den wir Exil nennen. In: Ein Traum von Europa. Literaturmagazin, Bd. 22, Reinbek 1988, 170. 16 Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Dorothea Schmidt Wien 1996, 76.

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fangensein in sich selbst verschließt den Figuren die Wahrnehmung der Außenwelt und hindert sie, die Verantwortlichkeit für sich selbst zu übernehmen. Anknüpfend an die eingangs zitierten Zeilen aus Dückers’ Text lässt sich konstatieren, dass Daniel Kehlmann seinen Roman F als Plädoyer für »die Autonomie des Subjekts«, für die »Würde des Selber-Denkens und -Fühlens« und für »eine emanzipatorische Fortschrittsgeschichte«17 geschrieben hat.

17 Dückers: Die falsche Rückkehr zur Religion (Anm. 1).

Sprechweisen

Wolfgang Braungart

Religion, Subjektivität, Autorschaft. Am Beispiel von Heines Tannhäuser (1836) und Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931)1

I.

Sakralität des Menschen und Subjektivität der Kunst im 18. Jahrhundert

Subjektivität, verstanden als Selbstverständnis und Weise der Selbst-Realisierung eines Subjekts in seiner Individualität, wird im 18. Jahrhundert mehr und mehr als Bedingung menschlicher Existenz und menschlichen Denkens und Weltzugangs wahrgenommen und als Grundlage von Literatur anerkannt. Dabei geht die Literatur, wie nicht selten, der Philosophie voraus. Das kann sie, weil sie ein eigener, nicht-begrifflicher, nicht auf argumentative Stringenz verpflichteter Diskurs ist und mehr ›Spielraum‹ hat.2 Besonders in der Lyrik, die bald schon als die literarische Gattung der Subjektivität gilt,3 erprobt sich etwas bereits ästhetisch, was philosophisch dann intensiv reflektiert und begrifflich gefasst wird, besonders wirkungsmächtig von Hegel. Diese ›Anerkennung‹ von Subjektivität im Jahrhundert der Aufklärung meint also (analog zur sozialen Anerkennung) nicht nur, dass Subjektivität jetzt allmählich eben hingenommen und ihr sogar eine gewisse Geltung zugebilligt wird, sondern dass von ihr aus Literatur, Kunst, schließlich kulturelle (auch religiöse!) und soziale Kommunikation überhaupt gestaltet werden können und 1 Tim Lörke, Berlin, danke ich für kritische Anmerkungen und die beharrliche Ermunterung, diesen Text überhaupt zu schreiben; Charis Goer, Jan Andres und besonders Lore Knapp, alle Bielefeld, danke ich für scharfsinnige Kritik; den Germanistik-Studenten und Doktoranden der Universität Kyushu, Fukuoka, Japan, danke ich für ihre Neugierde in einem Seminar über literarische Subjektivität; Christina Caroline Peters, Bielefeld, danke ich für bewährte Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung. 2 Vgl. zu diesem grundlegenden Modell für Kunst Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a. M. 2000. 3 Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983. Auf dieses Buch, viel zu wenig für die jüngere Diskussion genutzt, wohl weil es mit der postrukturalistischen Subjektkritik kollidierte, sei hier nachdrücklich hingewiesen; die Verbindungen zu religiöser Subjektivität werden bei Gnüg aber noch nicht erwogen.

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Wolfgang Braungart

dürfen.4 ›Gestaltung‹ meint dabei sowohl das Ästhetische in einem weiteren Sinne (alles, was wir tun, stellt sich auch ›gestaltend‹ dar ; es muss sich ›irgendwie‹ zeigen) und in einem engeren Sinne, als auch das von einem Subjekt zu verantwortende, handelnd gestaltende Zugehen und Einwirken auf die Welt, in der es ist. – Diese Anerkennung lässt sich auf das beziehen, was Hans Joas als die Sakralität der Person beschrieben hat.5 Ohne die jüdisch-christliche Anthropologie ist dieses Konzept zwar nicht zu denken. Es braucht aber, um sich in komplexen Kommunikationsprozessen zu entwickeln und zu etablieren, die spezifischen geschichtlich-kulturellen Konstellationen des Jahrhunderts der Aufklärung. Der neu sich etablierende Diskurs ›Kunst‹, so möchte ich hinzufügen, leistet dazu einen eigenen, grundlegenden Beitrag, weil er, wie der moralische (Kant), ›Zwecklosigkeit‹, also ›Unverfügbarkeit‹, und ›Autonomie‹, also Freiheit und Selbstbestimmung, in seinem Zentrum hat. Im historischen Prozess des 18. Jahrhunderts entsteht das eine systematische Argument von der ›Heiligkeit‹, von dieser letzten ›Zwecklosigkeit‹ und absoluten Unverfügbarkeit des Menschen, das universelle Geltung beansprucht, ja beanspruchen muss, wenn es sich nicht selbst widersprechen will, und das andere von der ›Heiligkeit‹, von der ›Zwecklosigkeit‹, Freiheit und Unverfügbarkeit der Kunst. Diese Anerkennung von Subjektivität, wie sie sich in Literatur und Kunst realisiert, möchte ich insofern als Ausdruck und symbolische, in der ästhetischen Gestaltung vollzogene Realisierung der Sakralität der Person selbst verstehen.6 Am deutlichsten wird dies vielleicht in der Ästhetik von Karl Philipp Moritz, literarisch durchgespielt aber schon bei Lessing (in den Dramen Minna von Barnhelm und Nathan der Weise).7 4 Ich gebrauche hier ein wenig unscharf den Begriff der ›Anerkennung‹, der in den letzten Jahren durch Charles Taylor und Axel Honneth stark in die sozialwissenschaftliche und sozialethische Diskussion gekommen ist. Ich wäre aber sehr damit einverstanden, wenn Honneths Semantik von ›Anerkennung‹ auch auf meinen Begriffsgebrauch gewissermaßen abfärbte. Begriff und Konzept der Anerkennung haben wissenschaftstheoretisch einen großen Vorteil, insofern sie nahelegen, eine aufgeklärte, subjekt-, kommunikations- und vernunftorientierte Semantik (und entsprechende Theorien) mit der postkolonial und alteritätstheoretisch orientierten Diskussion in eine Beziehung zu bringen und so manche Gräben zwischen den Theorien vielleicht etwas weniger tief erscheinen zu lassen. (Einen herzlichen Dank an meine Tochter Clara für manche anerkennungstheoretische Debatte!) – Einen anregenden, anerkennungstheoretisch fundierten Versuch hat Walter Erhart vor einigen Jahren publiziert: Drama der Anerkennung. Neue gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Goethes »Iphigenie auf Tauris«. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 51 (2007), 140–165. 5 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2011. 6 ›Realisierung‹ meint, in vorsichtiger Anlehnung an Dorothee Sölle, Wirklich-werden-Lassen, Verwirklichung des Religiösen in der säkularen Sprache. 7 Ausführlich hierzu Wolfgang Braungart: »Es war ein Mensch«. Humanisierung des Heiligen, Humanisierung der Kunst. Lessing und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Hermann

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Dies scheint mir in der seit einiger Zeit wieder heftig umstrittenen Frage, wie das Verhältnis von Kunst und Religion im 18. Jahrhundert diskutiert werden kann,8 eine mindestens ebenso wichtige und sinnvolle, ja notwendige Perspektive wie eine rein funktionalistische, die danach fragt, ob Kunst ab etwa 1770 zu einem funktionalen Äquivalent für Religion wird und diese Rolle zumindest bis in die 30er Jahre des neuen Jahrhunderts beibehält – bis zu dem von Heinrich Heine und vielen anderen vermerkten ›Ende der Kunstperiode‹ in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, und wenn man an den bildungsbürgerlichen Umgang mit Kunst denkt, vielleicht sogar ein ganzes Stück darüber hinaus.9

Als bloß ›bildungsbürgerlich‹ sollte man die moderne Sakralisierung der Kunst aber nicht charakterisieren, wenigstens nicht so pauschal. Zum einen könnte man nämlich ein wenig polemisch sagen: Das Bildungsbürgertum beginnt ja schon wieder auszusterben, bevor es sich überhaupt richtig etabliert hat: in der Gründerzeit.10 Zum andern waren, zum Beispiel, der französische, ja, der europäische Symbolismus, auch der deutsche Symbolismus und Ästhetizismus um 1900, mit ihrer Absolutsetzung der Kunst wohl kaum ein bloß oder primär ›bildungsbürgerliches‹ Phänomen. Obwohl die Trägerschicht bürgerlich war, war der Impetus dezidiert antibürgerlich. So offensichtlich beim Dandy und Bohemien: von Baudelaire bis Wilde. Wenn im Medium der Kunst also symbolisch das Subjekt in seiner Subjektivität anerkannt wird, sofern man sich auf diesen hohen Anspruch einlässt und in Kunst nicht bloß, zum Beispiel, eine Verschönerung oder Steigerung des Lebens sieht (was sie sicher ebenso ist und natürlich auch sein darf), bedeutet das auch: Subjektivität zeigt sich; sie wird ästhetisch erfahrbar. Darin muss man Deuser, Markus Kleinert u. Magnus Schlette (Hg.): Metamorphosen des Heiligen. Vergemeinschaftung durch Sakralisierung der Kunst. Tübingen 2015 (im Druck). 8 Zuletzt dazu: Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs u. Christian Soboth (Hg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin/ New York 2011. 9 Karl Eibl: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung. In: Friedrich, Haefs u. Soboth (Hg.): Literatur und Theologie (Anm. 8), 1–13, hier 1. 10 Natürlich hängt alles davon ab, wie man den Begriff des ›Bildungsbürgertums‹ bestimmen will und ob man ihn überhaupt so stark von seiner religiösen Aufladung der Kunst her definieren muss oder eher von einem emphatischen Konzept von (Selbst-)Bildung, die sich freilich ganz wesentlich über Kunst vollziehen soll. Das Kompensationsmodell, ›Bildung und Kultur‹ (Georg Bollenbeck) treten in die freiwerdende Stelle ein, die der Bedeutungsverlust von Religion hinterlasse, halte ich für schwierig, zumal das Kompensationsmodell grundsätzlich schwierig ist: Gibt es einen anthropologisch festen Bedarf an Religion, der ›irgendwie‹ gedeckt werden muss? Und was wäre dann Religion? – Zur Diskussion vgl. Tim Lörke: Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne. Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler. Würzburg 2010, Kap. I, 15–63, bes. 15ff.

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einen hochbedeutsamen Vorgang sehen, weil sich so, seit dem 18. Jahrhundert, am Beginn der sich immer weiter in ihren Sinn-Angeboten pluralisierenden Moderne, die Option eröffnet, einen normativen Bezug wiederzugewinnen (mit der Sakralität der Person und mit der Kunst) und ständig zu erfahren in all den Unsicherheiten und Anstrengungen, die uns die fortwährende, notwendige kommunikative Selbstbegründung zumutet. Anerkannt wird damit eben genau das, was uns zugleich herausfordert. Kurz: Das Pathos, das Kunst bis heute begleitet, erklärt sich auch aus dem Pathos für das Subjekt in seiner Subjektivität. Nicht zuletzt dies macht verständlich, dass die ›Naturalisierung‹ des Menschen, wie sie sich ebenfalls schon im 18. Jahrhundert vorbereitet und dann philosophisch vor allem bei Schopenhauer, biologisch bei Darwin radikalisiert wird, als fortwährende Herausforderung, Kränkung, ja, bis in die Literatur der Gegenwart hinein (etwa: Durs Grünbein, Schädelbasislektion, 1991), als radikale Desillusionierung verstanden werden musste.11 Die große Bedeutung dessen, was sich in Kunst und Philosophie des 18. Jahrhunderts vollzieht, wird dadurch ex negativo nur umso deutlicher.

II.

Subjektivität als Bedingung literarischer Autorschaft

Damit will ich nun überhaupt nicht sagen, dass vormoderne Literatur und Kunst ästhetische Subjektivität nicht gekannt haben. Mensch-Sein heißt immer, mehr oder weniger, zu sich selbst in ein Verhältnis treten. Kein Hund tut dies und kein Pferd (jedenfalls soweit ich weiß). In jeder unserer kulturellen ›Artikulationen‹, nicht nur in der Kunst, ›artikuliert‹ sich auch, mehr oder weniger intensiv, unser Selbstverhältnis.12 Alle Kunst, ›modern‹ oder nicht, ist notwendig subjektive Artikulation und subjektiver Ausdruck der Darstellungsinteressen und -vermögen eines Individuums. Zugegeben: mehr oder weniger stark. Drastisch und etwas banalisierend gesagt: Wer sehen kann, der kann natürlich Rubens, Vel‚zquez und Rembrandt leicht unterscheiden. Er unterscheidet dann Individu-

11 Besonders wichtige und konsequent das systematische Problem reflektierende Forschungsbeiträge zur modernen Entdeckung des ›homo natura‹ hat Wolfgang Riedel vorgelegt, angefangen mit seinem Buch gleichen Titels (»Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996) bis hin zu seinem jüngsten, überaus aspektreichen Band: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert. Würzburg 2014. 12 Ich nehme hier einen Begriff auf, den Matthias Jung wieder in die philosophische Diskussion eingebracht hat, dessen bedeutende Vorgeschichte jedoch bei Humboldt beginnt: Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation. Berlin/New York 2009.

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alstile, nicht Epochenstile. Barockmaler sind alle drei. Doch was besagt das schon?13 Ein anderes Beispiel, näher an meinem Problem: Die griechische Tragödie ist einerseits Spiel vor der versammelten Polis und für die Polis im kultischen Zusammenhang der Dionysien.14 Andererseits konstituiert sich aber im ›Diskurs der Tragödie‹, in den tragischen Konflikten, in der Darstellung und Erfahrung großen Leids zugleich eine Vorstellung des Subjekts.15 Am Ende der sophokleischen Antigone ahnt Kreon, was er da angerichtet hat. Er steht so völlig alleine da, symbolisch ausgeschlossen aus der Polis, zum Subjekt geworden durch sein eigenes Tun, vielleicht sogar beginnend, sich selbst zu begreifen. Wie Oedipus am Ende von Oedipus Rex, der nun selbst weiß, dass er keinen Platz mehr in der Polis hat und sich nicht mehr aus seiner Zugehörigkeit zu ihr definieren kann. Freilich ist sein Schuldgefühl primär auf den Orakelspruch und auf die Polis bezogen, nicht auf seine freie innere Moralität. Aber man sieht hier schon: Subjektbewusstsein und Schuldbewusstsein gehören zusammen, auch wenn das Verständnis von Schuld sich historisch verändert. Man könnte darum sagen: Auch Schuld ist eine historisch-kulturelle Konstruktion. Aber das tut gar nichts zur Sache: Als ›meine Schuld‹ ist sie dennoch für mich Realität, ganz gleich, woher die kulturellen Normen und Werte, die ich internalisiert habe, kommen.16 Sie kann meine Selbstreflexion in Gang setzen und vorantreiben. Das sieht man bekanntlich am sogenannten schlechten Gewissen besonders schön. Der Künstler Martin Kippenberger (1953–1997) schreibt witzig und ironisch, aber sehr zutreffend auf einem Plakat von 1987: »Markus Lüpertz zu künstlerisch schlechtem Gewissen: Ein Künstler darf niemals etwas Nützliches tun, Spülen und Schrebergarten, er darf tagelang Scheiße oder nichts machen, denn das nährt das künstlerische schlechte Gewissen. Mit schlechtem Gewissen arbeitet man am besten. // (Stimmt natürlich nicht un-

13 Wolfgang Braungart: Das Kunstwerk als Individuum, der Autor als Subjekt. Versuch zur literarischen Moderne. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart u. Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Probleme – Praktiken. Berlin 2014, 265–306. 14 Vgl. etwa Christian Meier : Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988. 15 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991. Vgl. auch Alexander Arweiler u. Melanie Möller (Hg.): Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond. Berlin/New York 2008 (s. dort auch meinen eigenen Beitrag). 16 Das ist im Prinzip das Argument, das man in der Entscheidungs- und Willensfreiheitsdebatte, die von der Neurowissenschaft angezettelt wurde, vorbringen muss: Ich bin mir in meinem Selbst-Bewusstsein, in meinem Selbst-Bezug und in meiner subjektiv wahrgenommenen Entscheidungsfreiheit selbst gültige Realität, an der ich nicht vorbei kann und die ich auch nicht hintergehen kann, ganz gleich, was ›mein Gehirn‹ schon ›für mich‹ entschieden haben soll. Ich bin für mich in meinem Selbstverhältnis genauso wenig ›mein Gehirn‹, wie ich ›meine Leber‹ oder ›mein Knie‹ bin.

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bedingt.)«17 Schuld ist also nicht ›das Böse‹, das neuerdings wieder Aufmerksamkeit findet,18 sondern ein reflexives Selbstverständnis, das künstlerisch produktiv werden kann.19 Nirgends finde ich dies literarisch großartiger reflektiert und produktiv gemacht als in Kafkas Roman Der Prozeß. K. soll eine Eingabe verfassen, in der er sein ganzes Leben überblicken und verantworten soll. Daran scheitert er ; und dieser Versuch und dieses Scheitern treiben das Erzählen voran.20 Ein drittes Beispiel aus der Spätzeit des Mittelalters: Johannes’ von Tepl eindringliches und auch uns heute noch berührendes Streitgespräch Der Ackermann (um 1401) gestaltet nicht nur einen rhetorisch scharfsinnig inszenierten Streit zwischen dem Ackermann und dem Tod, sondern ebenso auf eine so ergreifende Weise Verzweiflung und Trauer über den Tod Margarethas, der geliebten Frau des Ackermanns, dass beim Leser der Eindruck von Wahrheit und Aufrichtigkeit gar nicht ausbleiben kann. Selbst wenn man nichts über den Autor Johannes von Tepl weiß und über mögliche biographische Verbindungen und selbst wenn man sieht, wie stark der Text von Topoi durchzogen ist und in vielen intertextuellen Bezügen steht, kann man sich des Eindrucks einer starken Subjektivität, die sich hier artikuliert, kaum erwehren: Des Ackermannes Widerrede. Cappittulum quinntum. Ia, herre, ich was jr frydel, sie meyn amey. Jr hapt sie hin, meyn durchlustig augenweyde; sie ist dahin, mein frydschilt für vngemach; enweg ist mein warsagende winschelrewte. Hin ist hin! Do ste ich armer ackerman allein. Verswunden ist meyn liechter Sterne an dem hymmel, zu reste ist gegangen meyn heyles son, auff get sie nymmer mer. Nicht mer geet auff [3va] mein flutender morgensterne, gelegen ist sein schein, keyn leytvertreib han ich mer, die vinster nacht ist allenthalben vor meynen augen. Jch wen nicht, das sey etwas, das mir rechte frewde ymmermer müge widerbringen, wann meyner frewden achtber baner ist mir leyder vntergangen. Zytter, waffen von herczen grunde sey geschryen vber das jar, vber den verworffen tag vnd vber die leidigen stund, darjnn meyn steter, herter dyamant ist zurbrochen, darjnn meyn rechter, fürender leytstab vnbarmherczigclich mir auß den henden wart geruckt, 17 Zit. n. der Hängung einer Sammlung der Plakate Kippenbergers im Museum Folkwang, Essen. 18 Vgl. Terry Eagleton: Das Böse. Berlin 2011. 19 Zur neueren Diskussion von Schuld: Stefan Beyerle, Michael Roth u. Jochen Schmidt (Hg.): Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen. Leipzig 2009. 20 Martin Walser hat in den letzten Jahren mehrfach in diese Richtung gehend argumentiert.

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darjnn ist zu meynes heyles vernewenden jungprunnen mir der weg verhauwen. Ach an ende, wee on vnterlass vnd jnneriges versinckens gefelle sey euch, Tod, zu erbe eigen gegeben! Lastermeylig, schandgirig, wirdenloß vnd grysgramig sterbet vnde jn der helle erstincket! Got berawbe euch ewrer macht vnde laß euch zu puluer zurstieben! An zile [3vb] hapt ein tewfelichs wesen!

DER ACKERMANN. Das 5. Kapitel Ja, Herr, ich war ihr Liebster, sie meine Aim¦e. Ihr habt sie hingerafft, meine süße Augenweide; sie ist fort, mein Schutzschild gegen Ungemach; weg ist meine nie irrende Wünschelrute. Hin ist hin! Da stehe ich armer Ackermann allein. Verschwunden ist mein heller Stern am Himmel, zur Ruhe gegangen ist meines Heils Sonne, auf geht sie niemals mehr. Nicht mehr auf geht mein strahlender Morgenstern, versunken ist sein Glanz; keinen Leidvertreib habe ich mehr, die finstere Nacht ist allenthalben vor meinen Augen. Ich glaube nicht, es gäbe etwas, das mir jemals wieder wahre Freude bringen könnte, denn meiner Freuden stolzes Bannerzeichen ist, ach, mir hingesunken. Zeter und Mordio sei geschrien aus Herzensgrund über das Jahr, über den verwünschten Tag und über die leidige Stunde, da mein fester, harter Diamant zerbrochen ist, da mein wahrer, richtungweisender Leitstab erbarmungslos mir aus den Händen gerissen wurde, da der Weg zu dem mein Heil erneuernden Jungbrunnen mir versperrt wurde. Ach ohne Ende, Weh ohne Unterlaß und Fall in unaufhörlichen Untergang sei Euch, Tod, zu Euerm eigensten Erbe gemacht! Schmachbefleckt, schandsüchtig, ehrlos und mißmutig sterbt, und in der Hölle verfault! Gott beraube Euch Eurer Macht und lasse Euch zu Staub zerfallen! Ohne Ende habt ein teuflisches Dasein!21

Im Blick auf Literatur und Kunst möchte ich, noch über das schon Gesagte hinaus, festhalten: Subjektivität ist hier auch ein ästhetischer, durch die Sprache hervorgerufener Effekt, der sich in der Lektüre einstellt, eine ›Funktion‹ des Textes. Das spätmittelalterliche Deutsch des Johannes von Tepl macht das fast noch nachvollziehbarer als die neuhochdeutsche Übertragung. Wie in der alttestamentlichen Hiobs-Geschichte durchläuft der Ackermann, indem er seine Verzweiflung 21 Johannes von Tepl: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Christian Kiening. Stuttgart 2000, 12f. Auf das brillante, in den historischen Einordnungen umsichtige Nachwort Kienings sei ausdrücklich hingewiesen.

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mit großer rhetorischer Wucht streitend ausagiert, einen seelischen Reinigungsprozess, um am Ende in sein Schicksal einwilligen und es annehmen zu können. Er hat sich, so darf man vielleicht sagen, im Prozess des Textes von einer negativ aufgefassten Subjektivität losgearbeitet. Das ist hier das Entscheidende. Der subjektive Schmerz ist dadurch zwar nicht gewichen; er kann aber angenommen werden in einer Subjektivität, die auch die Demut kennt: Mich rewet Margaretha, meyn außerweltes weyp. Gonne jr, genadenreicher herre, jn deiner almechtigen vnde ewigen gotheyt spygel sich ewigclychen ersehen, beschawen vnde erfrewen, darjnn sich alle engelische kore erlewchten. Alles, das vnter des ewigen fannentrager fannen gehoret, es sey wellicherley creatuer es sey, hilffe mir auss herczen grunde seligclichen mit jnnigkeyt [I8rb] sprechen: Amen. Mich schmerzt Margaretha, meine auserwählte Frau. Gönne ihr, gnadenreicher Herr, sich in Deiner allmächtigen und ewigen Gottheit Spiegel ewig zu beschauen, zu erkennen und zu erfreuen, wo alle Engelschöre ihr Licht gewinnen. Alles, was unter des ewigen Fahnenträgers Fahne gehört, es sei, welche Kreatur es sei, helfe mir aus Herzensgrund selig und andächtig zu sprechen: Amen.22

Amen, ja, so sei es! Das letzte Wort ist die große rituelle Bekräftigungs- und Zustimmungsformel der jüdisch-christlichen, später auch der muslimischen Welt. Wie im 18. Jahrhundert Subjektivität in Literatur selbst als deren Bedingung anerkannt wird – was man in dieser Weise für ein Barockgedicht kaum sagen kann23 – und wie mit ihr ein neues Modell von Autorschaft, lässt sich schon früh bei Johann Christian Günther beobachten, dessen poetische Verwandtschaft mit dem jungen Goethe deshalb auch immer wieder hervorgehoben wurde.24 Mit der Anerkennung von Subjektivität hat sich ihre Problematik freilich nicht erledigt. Ganz im Gegenteil. Das sieht man schon beim jungen Goethe, dessen Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, sein poetisch subjektivstes Werk, vom Autor selbst als Warnung vor einer überspannten Subjektivität ge22 Johannes von Tepl: Der Ackermann (Anm. 21), 80f. 23 Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität (Anm. 3), 3. 24 Rüdiger Zymner : Literarische Individualität. Vorstudien am Beispiel Johann Christian Günthers. In: Jens Stüben (Hg.): Johann Christian Günther (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München 1997, 249–287; Hans-Georg Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. 10 Bde. Tübingen 1987–2006, Bd. 4.2: Barock–Humanismus, Liebeslyrik. Tübingen 2006, 300–334.

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meint war, während das literarische Publikum den Roman überwiegend durchaus affirmativ aufgenommen hat. Die Legende von den angeblich zahlreichen Selbsttötungen, die Werthers Tod ausgelöst habe, macht deutlich, welche destruktive Kraft der Subjektivität in dieser poetischen Gestalt, wie sie sich hier zeigte, zugetraut wurde.25 Auch Hölderlins Briefroman Hyperion kann man als Roman-Experiment deuten, in dem die Risiken einer tendenziell solipsistischen Persönlichkeit in ihrem radikalen Subjektivismus durchgespielt werden.26 Hyperions Selbst ist ein ›erschöpftes Selbst‹, wie es in der Moderne immer droht, ein ›erschöpftes Selbst‹, das sich mit sich selbst und seiner Subjektivität überfordert und so auch die anderen, die zu ihr in eine Beziehung treten.27 Unter poetischer bzw. ästhetischer Subjektivität möchte ich hier also einen ästhetischen Modus verstehen, in dem sich das artikuliert, d. h. Gestalt gewinnt, was ein Subjekt in seiner spezifischen Individualität ästhetisch erfahrbar zu machen verspricht. Insofern ermöglicht poetische bzw. ästhetische Subjektivität eine ästhetische Erfahrung, die auf ein Verhältnis eines Subjekts zu sich selbst in seiner von anderen Subjekten sich unterscheidenden Individualität und damit auf ein spezifisches Selbstverständnis und Selbstverhältnis schließen lässt. Philosophisch gesehen kann sich Subjektivität aus der Perspektive des Subjekts entweder als Selbstgefühl darstellen. Manfred Frank hat gezeigt, wie wichtig dieses Konzept des Selbstgefühls für Novalis ist.28 Schon Herder und Karl Philipp Moritz sprechen vom Selbstgefühl in einer Weise, die auf Novalis hinführt.29 Oder Subjektivität stellt sich als Selbstbewusstsein dar, also als ein reflexives Bewusstsein, in dem das Subjekt sich selbst zum Gegenstand seines Denkens wird und sich – so schließlich besonders Hegel – frei zu sich selbst verhält.30 Nicht diese philosophische Problematik, die in der zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich den philosophischen Diskurs bestimmt, ist es, die mich hier primär beschäftigen soll, obwohl sie zweifellos mit der literarisch-ästhetischen verbunden ist. Das wird im idealistischen und frühromantischen Denken offensichtlich.31 25 Klaus R. Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Wiesbaden 31980. 26 Vgl. Wolfgang Braungart: Hyperions Melancholie. In: Val¦rie Lawitschka (Hg.): Hölderlin. Christentum und Antike. Turmvorträge 1989/90/91. Tübingen 1991 [1992], 111–140. 27 Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2004. 28 Vgl. Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002. 29 Einige Belege dazu in Braungart: »Es war ein Mensch« (Anm. 7); vgl. auch Lothar van Laak: Selbstgefühl und literarische Imagination. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck). In: Günter Butzer u. Hans Vilmar Geppert (Hg.): Theorien der Literatur V. Tübingen 2011, 217–233. 30 Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität (Anm. 3), Kap. I. 31 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a. M. 31995.

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Sondern die ästhetische Problematik selbst geht mich hier an und ihr Zusammenhang mit der religiösen: also eine Verfasstheit, ein Gestaltet-Sein des Kunstwerks in der Weise, dass es die ästhetische Erfahrung von Subjektivität ermöglicht.32 Noch einmal: In den Blick genommen ist ein ästhetischer Modus. Subjektivität ist, ästhetisch gesehen, der erfahrbare Ausdrucksmodus, der auf das ›zugrunde liegende‹ und einen inneren Zusammenhang des Werkes konstituierende ›Subjectum‹ zu schließen auffordert – gleichgültig, ob man das philosophisch noch gelten lassen oder längst für tot erklären mag. Darum ist das Problem ästhetischer Subjektivität bis heute virulent. (Diese Diskussion spielt sich auf einer anderen Ebene ab; sie kann sich dabei der Frage nicht entziehen: Welche Instanz ist es denn, die diesen Tod verkündet? Von wo aus spricht sie und mit welcher Legitimation?) Ich würde nicht bestreiten, dass ich mich damit ästhetisch auch in einem Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Rationalismus sehe, der mit Descartes beginnt. Subjektivität wird mit dem 18. Jahrhundert aber auch zu einer Erwartung des Lesers an den Text. Mit dieser Erwartung muss der Text (bzw. der Autor) sich auseinandersetzen, mit ihr muss er rechnen. Tut er das nicht, verfehlt er nun mehr und mehr den ›Erwartungshorizont‹ des Publikums. Dahinter steckt auch ein systematisches Problem, das wenigstens angedeutet sein soll: Warum redet man, wenn man ein Gedicht paraphrasiert, von dem man weiß, dass es ein Mann geschrieben hat, über das lyrische Subjekt in einer maskulinen Form; wenn man weiß, dass es eine Frau geschrieben hat, aber in einer femininen Form?33 Nicht nur, weil literarische Texte als in besonderer Weise intentionale aufgefasst und auch so erfahren werden, dass wir sie uns ohne ein intendierendes Subjekt nicht vorstellen können. Sondern auch, weil die ästhetische Erfahrung von Subjektivität einzuladen scheint, auf ein empirisches Subjekt rückzuschließen. In diesem Sinne generiert der Text selbst in der Tat ständig einen textinternen Autor. Es war Michel Foucault, der 1969 den Begriff der ›Autorfunktion‹ geprägt hat, mit dem er einen Effekt der Diskurse bezeichnen will. Ich möchte den Begriff dagegen ein wenig modifizieren34 und ihn ganz einfach in Analogie zur mathematischen Funktion verstehen.35 So wie in einer mathematischen Funktion durch eine Gleichung einem bestimmten Y-Wert jeweils ein definierter X-Wert zugeordnet wird, so wird, vom Text selbst provoziert, in der Rezeption des 32 Vgl. Jan Urbich: Literarische Ästhetik. Köln/Weimar/Wien 2011, Kap. 9: Die subjektiven Zugänge zur Literatur, 169–186. 33 Und wenn man es nicht entscheiden kann, doch wieder in der maskulinen Form … 34 Mehr wäre es nicht, sofern man Texte auch als Diskurselemente begreift. 35 Michel Foucault: Qu’est-ce qu’ un auteur? In: Bulletin de la soci¦t¦ franÅaise de philosophie. Ed. Armand Collin, 22 f¦vrier 1969, 75–104. In deutscher Übersetzung in Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. FranÅois Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange. Übers. v. Michael Bischoff u. a. Frankfurt a. M. 2003, 234–270.

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literarischen Kunstwerks einem literarischen Text auf eine durch seine ästhetische ›Machart‹36 definierte Weise ein Autor zugeordnet. Autorrollen und Autorkonzepte, die in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung wieder heftiger diskutiert werden,37 können also als Funktionen der Texte selbst verstanden werden. Sobald nun mit der anbrechenden Moderne Subjektivität zur poetischen Bedingung wird,38 lassen sich die verschiedenen Autorschaftsmodelle und -konzepte, die sich in der Moderne finden, auch als Antworten auf eben diese Durchsetzung der Subjektivität und die Subjektivitätserwartung der Leser begreifen. Die Rollen des Dichter-Priesters, die des Dichters als kulturkritischer Mahner und Warner, als Prophet39 kann man insofern als poetische Reaktionen, als Domestizierungen, womöglich als Abwehr des poetischen Prinzips ›Subjektivität‹ verstehen.40 Bei Stefan George zum Beispiel ist das evident. In diesem Zusammenhang bekommt nun der seit einiger Zeit ebenfalls inflationär benutzte Begriff der ›Inszenierung‹ seinen guten Sinn: Jeder literarische Text setzt eine Autorrolle in Szene. Prophetische Autorschaft ist in der Moderne mit dem seit Rousseau für Literatur so wichtigen Denkmodus ›Kulturkritik‹ vereinbar,41 priesterliche Autorschaft mit der Sakralisierung der Kunst selbst und mit moderner Kunstreligion.42

36 Den Begriff nach Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen 1999. 37 Vgl. Fotis Jannidis (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/ Weimar 2002. 38 Also aus meiner Sicht: im 18. Jahrhundert. – Zur Moderne-Diskussion vgl. Sabina Becker u. Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin/New York 2007. 39 Vgl. zuletzt Christel Meier u. Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin 2014. – Man müsste einmal diskutieren, inwieweit sich Modelle literarischer Autorschaft auf künstlerische Autorschaft ausdehnen lassen. Die ›Nabis‹ zum Beispiel führen das Prophetische sogar schon im Namen; ästhetisch wirkten sie auf verschiedenen Wegen in die religiöse Malerei hinein. Vgl. die großartige Studie von Harald Siebenmorgen, die seinerzeit fast vollständiges Neuland erschlossen hat: Die Anfänge der ›Beuroner Kunstschule‹. Peter Lenz und Jakob Wüger 1850–1875. Ein Beitrag zur Genese der Formabstraktion in der Moderne. Sigmaringen 1983. 40 Vgl. schon Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität (Anm. 3), 179. 41 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis Günther Anders. München 2007. 42 Dazu grundlegend, jedoch mit unterschiedlichen Positionen: Ernst Müller : Ästhetische Religiösität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2003; Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006.

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III.

Wolfgang Braungart

Subjektivität als Bedingung von Religion

Angemerkt habe ich bereits, dass Subjektivität mit dem 18. Jahrhundert nicht nur eine literarische Herausforderung darstellt, sondern ebenso eine philosophische, die seit Descartes rationalistisch (Fluchtpunkt im Subjekt: Selbstbewusstsein) oder aber sensualistisch und insofern ›aisthetisch‹ (Fluchtpunkt im Subjekt letztlich: Selbstgefühl) angegangen wird.43 Bekanntlich bleiben auch Theologie und Religion von dieser Wende zum Subjekt in seiner Subjektivität nicht unberührt. Hans-Georg Kemper hat in seiner großen Geschichte der Lyrik der frühen Neuzeit stark auf diese poetische Selbstermächtigung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit Theologie und institutionalisierter Religion abgestellt.44 Der europäische Pietismus ist nicht nur verstehbar als Selbstkorrektur einer sich zu stark institutionalisierenden und dogmatisch immer weiter fixierenden protestantischen Religiosität, sondern ebenso als Verinnerlichung von Frömmigkeit, die sich als subjektive Praxis und subjektive religiöse Erfahrung vollzieht. Welche kulturelle Tiefenwirkung, religions- und mentalitätsgeschichtlich, aber auch literarisch, dies hat: darüber kann man diskutieren. Überhaupt bestreiten kann man sie aber nicht. Der Pietismus ist ohne Zweifel eine wichtige Quelle auch literarischer Innerlichkeit und Subjektivität.45 Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufbrechende, von England und Frankreich ausgehende Streit um die Offenbarung und um die Natur Gottes, der in der zweiten Phase der Aufklärung so heftig ausgefochten wird, lässt sich, ein wenig verkürzend, so zusammenfassen: Wie kann ich das, was die Religion lehrt, mit meiner Vernunft nachvollziehen und in Übereinstimmung bringen? Schleiermachers berühmter Satz aus der zweiten Rede über die Religion, Religion sei »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«46, muss auch so verstanden werden: Ich muss »Sinn« für das Unendliche haben, Ich muss es verstehen. Und Ich muss auch »Geschmack«, also ein Gefühl, eine Empfindungsfähigkeit, eine seelische Kraft und ein Beurteilungsvermögen für das Unendliche haben. Schleiermachers Subjektivierung von Religion spitzt ein Problem romantisch zu, das sich jedoch im gesamten 18. Jahrhundert bereits 43 Ich lehne mich hier Panajotis Kondylis’ Position an, der den europäischen Rationalismus der frühen Neuzeit integrativ, Rationalismus und Sensualismus einschließend, versteht: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. 44 Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit (Anm. 24); die theoretische Grundlage dazu stellt seine zweibändige Studie Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozess (Tübingen 1981) dar. 45 Erinnern muss man an die Studien Gerhard Kaisers, bes.: Klopstock. Religion und Dichtung, Kronberg/Ts. 21975 (EA 1963). 46 Friedrich D. E. Schleiermacher : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1769–1799. Hg. v. Günter Meckenstock. Berlin/New York, 185–326, hier 212.

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entwickelt. Schon die Physikotheologie und die ihr verpflichtete Literatur verlangen die ästhetische Aufmerksamkeit des Subjekts, das in der Lage sein muss, die Fülle und Ordnung der Schöpfung wahrzunehmen, um dann die erforderlichen Schlüsse auf den gütigen und allmächtigen Schöpfergott zu ziehen, der all dies so schön eingerichtet haben muss.47 Nun also gilt in der Religion, auf jedem Kirchentag spürbar, wie in der Literatur: Mit der Subjektivität ist zu rechnen; sie wird mit den Religionsdebatten des 18. Jahrhunderts und mit Schleiermacher Bedingung von Religion, an der auch die institutionelle Vermittlung nicht mehr einfach vorbeigehen kann. Mit der kulturellen und sozialen Anerkennung des Subjekts in seiner Subjektivität wird Religion ebenfalls zu einem subjektiven religiösen Bedürfnis. Schleiermachers Theologie stellt sich genau darauf ein. Die institutionellen Auseinandersetzungen der Moderne sind, bis hinein in die akademische Theologie, davon geprägt. Und sie erreichen inzwischen auch den Katholizismus und verändern ihn, spätestens mit und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Um diese neuen Herausforderungen für die Theologie und die institutionellen Vermittlungsprozesse von Religion geht es hier jedoch nicht. Sie hinterlassen ihre literarischen Reflexe sogar noch in der Literatur der Gegenwart, z. B. in Martin Walsers literarischer Wiederentdeckung der Theologie Karl Barths in seinem Roman Das dreizehnte Kapitel.48 Mir kommt es in diesem Zusammenhang nur auf diese ganz und gar nicht zufällige Analogie zwischen Literatur und Religion in der Moderne an bzw. auf die zwischen literarisch-ästhetischer Erfahrung und religiöser Erfahrung: Beide gründen sie im Subjekt und in der Erwartung subjektiver Artikulation und der Ermöglichung subjektiver Erfahrung. Was religiöse Erfahrung sein soll, das ist nicht leicht zu sagen und wird darum viel diskutiert.49 Als ästhetische Erfahrung wird sie fassbarer: als performative Erfahrung der Kulte, Riten, Gebräuche; als textuelle, als architektonische, als musikalische Erfahrung. Religionen sind immer auch ästhetische Systeme. Das ist das eine. Das andere aber ist die Affinität zum Religiösen, die sich aus den ästhetischen Grunderfahrungen des Schönen und Erhabenen selbst ergibt (so im 18. Jahrhundert; sie sind seither zwar um das Nicht-mehr-Schöne ständig 47 Vgl. Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit (Anm. 24), Bd. 5.2: Frühaufklärung. Tübingen 1991. 48 Martin Walser. Das dreizehnte Kapitel. Roman. Reinbek b. Hamburg 2012; außerdem JanHeiner Tück (Hg.): Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung – theologische Erwiderungen. Freiburg/Basel/Wien 2013. 49 Bezugsautor immer : William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens. Leipzig 1914. Knapp zusammenfassend: Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft. Bielefeld 2011, 46ff.

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erweitert, aber dennoch nicht obsolet geworden). So werden Literatur und Religion zu einander höchst verwandten, womöglich miteinander konkurrierenden, womöglich aber auch sich ständig aufeinander produktiv beziehenden ›Medien‹ von Subjektivität. Auch für die Rollen, die Religion den religiösen Menschen in der Moderne anbietet, gilt: Sie lassen sich als Antworten auf diese neue, mit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr anerkannte Rolle des Subjekts in der Religion und die damit verbundenen Herausforderungen für institutionell verfasste Religion verstehen. Diese Vorüberlegungen möchte ich nun ganz knapp und mich konzentrierend nur auf diesen Aspekt an zwei Beispielen anschaulicher machen: an einem Gedicht Heinrich Heines aus seinen Neuen Gedichten, der erzählenden ›Legende‹ Der Tannhäuser, und an Irmgard Keuns etwa 100 Jahre später erschienenem Roman Gilgi – eine von uns – zwei ganz weit voneinander entfernte Texte; und doch aufeinander beziehbar im Hinblick auf ›Religion, Subjektivität, Autorschaft‹.

IV.

Heines Tannhäuser

Heine selbst gibt dem erzählenden Langgedicht einen Untertitel: Eine Legende. Das ist natürlich, romantischer Ironie entsprechend, ironisch und damit zugleich reflexiv gemeint: Die Geschichte von diesem Minnesänger des 13. Jahrhunderts, von einem Dichter also, einem Künstler, der etwas von der Liebe zu verstehen behauptet, soll eine Heiligengeschichte sein. Denn das war die Legende ursprünglich: eine Erzählung aus dem Leben eines Heiligen, die erbauliche Zwecke erfüllen konnte.50 Ein seltsamer Heiliger ist er aber, dieser Tannhäuser. Heine datiert die Entstehung seiner Heiligengeschichte in die eigene Gegenwart: in das Jahr 1836. Damit ist von vornherein das Spannungsdreieck gezogen: die Dichtkunst und das christliche Mittelalter (Tannhäuser, Legende) – die körperliche Liebe und die Schönheit der Frauen (Venus, Antike) – die eigene Gegenwart. Die Legende umfasst drei Teile, von Heine selbst so gegliedert: Im ersten wird erzählt, wie sich der Dichter/Sänger Tannhäuser von Venus, seiner »schöne[n] Frau«, die sein ganzes »holdes Leben« sei, zu lösen versucht und um »Urlaub«, also um Befreiung vom Minnedienst, bittet. Es geht ihm bei ihr zu schön, zu behaglich, zu anakreontisch zu: »Von süßem Wein und Küssen / Ist meine Seele worden krank«. »Postamouröser Aschermittwoch, der auf den Fasching des 50 Hans-Peter Ecker : Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung. Stuttgart u. a. 1993.

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erotischen Genusses unausweichlich folgt«:51 ja, das gewiss auch, aber doch mit einer poetologischen Wendung. Das poetische Konzept von ›Wein, Weib, Gesang‹, das aus der Antike kommende, gesellig-erotische Konzept der Dichtkunst, wiederaufgelegt in der aufgeklärt-geselligen Anakreontik des 18. Jahrhunderts und, mit Einschränkungen, im Biedermeier, etwa bei Mörike,52 dieses Konzept genügt Heines Sänger nicht mehr : »Ich schmachte nach Bitternissen«, also nach einer tieferen anthropologischen Begründung der Dichtkunst. Warum sollte man auch dichten, wenn es einem einfach nur wohl ist ums Herz?53 Erst wenn das Gegenüber zu groß wird und das Gefühl übermächtig, kommt die Sprache des Preisens und Rühmens doch auch in Betracht: so in Heines Gedicht, wenn sich der Tannhäuser vor Papst Urban in Rom seiner unfasslich schönen Frau Venus erinnert. Von den »Bitternissen« ist dann im weiteren Gang des Gedichtes die Rede: also in Rom zunächst, wo der Tannhäuser bei Papst Urban IV. um Absolution von seinen Liebessünden bittet. Davon handelt der zweite Teil der Legende. Dann zieht der Sänger nach Deutschland: Teil III erzählt die Rückkehr zu Frau Venus und bringt den Reisebericht, den er ihr von diesen deutschen »Bitternissen« der Gegenwart des vormärzlichen 19. Jahrhunderts erstattet. Mit diesem Zeitsprung in die deutschen Zustände seiner Zeit löst sich Heine ganz von der Volksballade, die er aus Arnims/Brentanos Wunderhorn-Sammlung kannte.54 Von der frühneuzeitlichen Volksballade bleibt eine poetische Ausdrucks-Option übrig. Die erste Strophe setzt aber ein wie ein frühneuzeitliches Zeitungslied, gesungen von einem Lied- und Straßensänger : Ihr guten Christen laßt euch nicht Von Satans List umgarnen! Ich sing’ euch das Tannhäuserlied, Um eure Seelen zu warnen.55 51 Renate Stauf: Heinrich Heine. Gedichte und Prosa. Berlin 2010, 41. 52 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980, hat auf diese innerliterarischen Verbindungen hingewiesen. 53 Heine an August Lewald, 1. Januar 1838: »Sonderbar, die glückliche Liebe schreibt gar keine Verse, kaum erlaubt sie einem in Prosa zu schreiben.« Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd. 21: Briefe 1831–1841. Berlin/Paris 1970, 246. (Dank für diesen schönen Hinweis an Tim Lörke!) 54 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe. In Verbindung mit dem HeinrichHeine-Institut hg. von Manfred Windfuhr. Bd. 2: Neue Gedichte. Bearbeitet von Elisabeth Genton. Hamburg 1983, Komm. 505; vgl. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart 1987, Bd. 1, 78–82 und Komm. 444f. 55 Zitiert wird nach: Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe (Anm. 54), 53–60, hier 53. Zitate im Folgenden ohne weitere Nachweise.

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Die frühneuzeitlichen Lied- und Zeitungssänger verbanden in ihrem öffentlichen Vortrag auf den Straßen und Marktplätzen ihre teilweise spektakulären Geschichten mit moralisierender Belehrung. Diese Lieder waren für den mündlichen Vortrag gedacht; sie mussten darum leicht verständlich und zugänglich sein. Sie folgten einer Poetik der Mündlichkeit, also vermeintlicher Authentizität, die schon Herder und Goethe bei ihrer Sammelaktion in den 1770er-Jahren so angezogen hatte. Die Texte der frühneuzeitlichen Lied- und Zeitungssänger wurden in Liedflugschriften weiter verbreitet; sie gehören zur frühneuzeitlichen populären Publizistik. Das ist also die erste Autorrolle, die Heine inszeniert: der Sänger/Erzähler als moralisierender Lied- und Zeitungssänger in höherem Auftrag (»Ihr guten Christen …«). Nach dem Sänger-Subjekt in seiner Subjektivität kann hier, zu Beginn, deshalb keiner fragen. Die poetische Sprache richtet sich danach, dass der Sänger einen Auftrag hat. Er ist nur der Bote der moralischen Nachricht. Diese Rolle lässt das Gedicht darum rasch wieder fallen; sie konstituiert für Heine keine durchhaltbare Autorfunktion mehr. In der Geschichte der Volksballade vom Tannhäuser, die seit dem 15. Jahrhundert belegt ist und noch »um 1950 aufgezeichnet« wurde,56 ist das durchaus anders; in ihr hält sich der moralisierende, lehrhafte Ton bis ins 20. Jahrhundert hinein durch. Wie Heine nützen später die literarischen Kunstformen von ›Moritat und Protestballade‹ diese ästhetischen Effekte (etwa: Brecht, Biermann, Degenhardt).57 Die zugängliche, populäre, mündliche Diktion, die Kunst des Einfachen und Zugänglichen aber, sie behält auch Heine weiter bei. Im weiteren Verlauf der Legende wechseln direkte Rede der Protagonisten – Tannhäuser, Frau Venus, der Papst – einander ab; der lyrische Erzähler liefert die erforderlichen narrativen Zwischenstücke. Im zweiten Teil der Legende wird, der alten Volksballade entsprechend, Tannhäusers vergeblicher Beicht- und Konversionsversuch in Rom erzählt: Von der sinnenfreudigen, frivolen Antike sollte ihn der Weg also in den institutionellen Katholizismus führen. Das geht nicht gut.58 Der Sänger kehrt zu Frau Venus in den Venusberg zurück und erzählt, wie es ihm auf dem Rückweg über Norditalien, die Alpen, Schwaben und Deutschland überhaupt ergangen ist.59 56 Otto Holzapfel: Das große deutsche Volksballadenbuch. Mit einem Nachwort und Erläuterungen sowie acht Farbtafeln und zahlreichen Abbildungen. Düsseldorf/Zürich 2000, 513; ebd., 343–345, zwei Varianten der Ballade, aufgezeichnet im 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts. 57 Karl Riha: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Kabarett-Lyrik und engagiertes Lied in Deutschland. Königstein/Ts. 21979. 58 Mit intuitivem Gespür für diese Spannung notiert Goethe: »Großes christlich-katholisches Motiv.« – Des Knaben Wunderhorn (Anm. 54), Bd. 1, Komm. 444. 59 Eine gründliche, konsequent auf die Frage, wie Heine mit dieser Legende seine eigene dichterische Position zu bestimmen versucht, ausgerichtete Interpretation im Kontext der

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Das antikisierende Konzept des Dichters trägt nicht mehr. Erst recht nicht aber trägt das des christlichen ›Moraltrompeters‹ (so Nietzsche bekanntlich über Schiller). Was treibt den Tannhäuser nun gerade nach Rom? Es ist, so darf man wohl vermuten, die innere Stimme, es sind die »Bitternisse« des Gewissens, es ist die Internalisierung der religiösen Moral (Luther war bekanntlich Augustinermönch): O, heiliger Vater, Pabst Urban, Ich laß dich nicht von der Stelle, Du hörest zuvor meine Beichte an, Du rettest mich von der Hölle! […] O, heiliger Vater, Pabst Urban, Du kannst ja binden und lösen! Erlöse mich von der Höllenqual Und von der Macht des Bösen.

»[B]inden und lösen« könne der Papst, glaubt der Tannhäuser. Heine übersetzt hier die alte alchemistische Formel ›solve et coagula‹ (›löse und verbinde‹). (Denkt man freilich an Mt 16, 19, relativiert sich dieser Interpretationsvorschlag.) Merkwürdig, dass er die alchemistische Formel umdreht. Das geschieht wohl kaum nur dem Reim zuliebe. Als würde er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Papst für den Tannhäuser auch eine bindende Kraft entfalten und dann erst ›lösen‹ könne. ›Gebunden‹ ist der Tannhäuser jedoch nur an sich selbst und seine Frau Venus. Der Papst, dem Heines Sänger gewissermaßen magisch-alchemistische Kräfte zutraut, tritt dem Sänger zunächst nämlich ganz als Repräsentant der Sancta Ecclesia entgegen; er stellt damit die rituell-katholische, ästhetisch eindrucksvolle Antwort dar auf die Not der Dichter-Subjektivität. Von dieser Bindekraft muss sich der Sänger jedoch selbst lösen, wenn er in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart ankommen will. Der Papst kann es natürlich nicht: Zu Rom, zu Rom in der heiligen Stadt, Da singt es und klingelt und läutet; Da zieht einher die Prozession, Der Pabst in der Mitte schreitet.

Geschichte des Tannhäuser-Stoffes gibt Karin Tebben: Tannhäuser. Biographie einer Legende. Göttingen 2010, 56–70. Auf diese ausgezeichnete Interpretation sei nachdrücklich verwiesen. Dort auch weitere Forschungsliteratur.

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Das ist der fromme Pabst Urban, Er trägt die dreyfache Krone, Er trägt ein rothes Purpurgewand, Die Schleppe tragen Barone.

Ich forciere meine Deutung ein wenig: Die (moderne) Subjektivität wird auch aus dieser Internalisierung des Religiösen im religiösen Gefühl und im subjektiven Gewissen geboren, das das moralische Gefühl einschließt. Die antike Venus-Welt trifft auf die mittelalterlich-katholische. Beider Geltung wird jedoch in der Subjektivität des persönlichen Gewissens entschieden. Sie kann auch, vorgezeichnet schon bei Augustinus, nur dort entschieden werden, im »inneren Gerichtshof« (Kant), der Instanz innerer moralischer Reflexivität, die sich auf das moralische Subjekt selbst richtet und ein Selbstverhältnis fordert. Bedenkt man, dass für die Legende eine Dichter-Figur zentral ist, so könnte man auch sagen: Antike bzw. Klassizismus treffen auf das Mittelalter bzw. die katholisierende, von der ästhetischen Pracht, der ästhetischen Ordnungserfahrung im Ritual angezogene Romantik. Ohne das in irgendeiner Weise auszubuchstabieren, spielt Heine raffiniert auf einen ästhetik- und religionsgeschichtlichen Grundkonflikt in der Moderne an und nimmt dabei eine hegelianische Perspektive ein: die nämlich vom Ende der Kunstperiode. Mit den Großepochen und Hoch-Zeiten der Kunst, als sie noch ungebrochene Geltung hatte, weil sie in die Polis, in den gemeinschaftlichen Kult, in Religion und Kirche eingebunden war, ist es vorbei. Angezogen von der vormodernen Ritualästhetik des Katholizismus fühlen sich, über die Romantik hinaus, in der Moderne noch viele Intellektuelle und Künstler – so die französische Moderne des 19. Jahrhunderts, der Renouveau Catholique nach 1900, Stefan George, in der Gegenwartsliteratur schließlich Botho Strauß, Peter Handke und Martin Mosebach.60 Das Religiöse ist in der deutschen Literatur nach 1945 überhaupt wieder ein großes Thema.61 Aber Heines Langgedicht macht unmissverständlich klar : Gegenüber der Kraft der Sexualität und der erotisch-ästhetischen Erfahrung weiblicher Schönheit versagt sogar das katholische, ästhetisch selbst so eindrucksvolle Ritual. Statt zu beichten und so das Ritual der Konversion zu vollziehen, kann Tannhäuser sich nicht zurückhalten und preist in einem fort, in einer kaum endenden Redesequenz nur die Schönheit seiner Frau Venus, eine wahre Medusa erotischer Schönheit (»Ihr edles Gesicht umringeln wild / Die blühend 60 Vgl. Thomas Pittrof (Hg.): Handbuch des literarischen Katholizismus im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Berlin/Boston (im Druck). 61 Eine der letzten Publikationen: Natalia Bakshi, Dirk Kemper u. Iris Bäcker (Hg.): Religiöse Thematiken in den deutschsprachigen Literaturen der Nachkriegszeit (1945–1955). München 2013; zu den »katholischen Perspektiven« s. ebd. den Beitrag von Georg Langenhorst, 11–32.

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schwarzen Locken«). Er schildert dem Papst die Macht der Liebe und die Freuden der Sinnlichkeit, nicht ohne eine weitere mariologische und christologische Anspielung einzustreuen (schon vor seinem Aufbruch versucht Frau Venus, ihn mit ihrem »lilienweißen Leib« zum Bleiben zu verführen): Frau Venus ist eine schöne Frau, Liebreizend und anmutreiche; Wie Sonnenschein und Blumenduft Ist ihre Stimme, die weiche. Wie der Schmetterling flattert um eine Blum, Am zarten Kelch zu nippen, So flattert meine Seele stets Um ihre Rosenlippen. Ihr edles Gesicht umringeln wild Die blühend schwarzen Locken; Schaun dich die großen Augen an, Wird dir der Atem stocken. Schaun dich die großen Augen an, So bist du wie angekettet; Ich habe nur mit großer Noth Mich aus dem Berg gerettet. Ich hab mich gerettet aus dem Berg, Doch stets verfolgen die Blicke Der schönen Frau mich überall, Sie winken: komm’ zurücke! Ein armes Gespenst bin ich am Tag, Des Nachts mein Leben erwachet, Dann träum ich von meiner schönen Frau, Sie sitzt bey mir und lachet. Sie lacht so gesund, so glücklich, so toll, Und mit so weißen Zähnen! Wenn ich an dieses Lachen denk, So weine ich plötzliche Thränen. Ich liebe sie mit Allgewalt, Nichts kann die Liebe hemmen! Das ist wie ein wilder Wasserfall, Du kannst seine Fluthen nicht dämmen; Er springt von Klippe zu Klippe herab, Mit lautem Tosen und Schäumen, Und bräch er tausendmal den Hals, Er wird im Laufe nicht säumen.

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Wenn ich den ganzen Himmel besäß, Frau Venus schenkt ich ihn gerne; Ich gäb ihr die Sonne, ich gäb ihr den Mond, Ich gäbe ihr sämtliche Sterne. Ich liebe sie mit Allgewalt, Mit Flammen, die mich verzehren, Ist das der Hölle Feuer schon, Die Gluten, die ewig währen?62

Beiläufig lässt Heine auch den literarischen Diskurs um 1800 hineinspielen. Der Vers »Er springt von Klippe zu Klippe herab« erinnert natürlich an Hyperions Schicksalslied von Hölderlin (1799). Nichts anderes ist diese antike Venus-Liebe eigentlich als eine moderne, schicksalhafte ›romantische Liebe‹, die nichts aufhalten kann. Sie ist es, die mit ihrer »Allgewalt« auch den Dichter vollkommen bindet.63 Da kann der Papst eigentlich gar nicht anders, als dem DichterSänger die Absolution zu verweigern. Denn gegen diese Liebe: nur du und ich und sonst nichts und niemand, kommt er nicht an. Kurz nur zur Rückkehr des Tannhäusers in den Venusberg: Mit dieser Schilderung setzt, wie gesagt, der dritte Teil der Legende ein. Frau Venus zeigt sich als gute Hausfrau. Wichtiger aber : Diese antike Liebesgöttin ist die bessere, die eigentliche, sehr praktisch denkende Christin. Sie hat sich nämlich das Gebot der Nächstenliebe ganz zu eigen gemacht. In Venus wird das Christliche zugleich ein erotisches Ereignis, das Erotische steht mit diesem Christlichen im Bunde. Venus ist eine andere, wirklich liebende Maria Magdalena. Diese Erotisierung des Christlichen kennt schon die Romantik (Novalis, Brentano), aber auch Mystik und Pietismus gestalten sie.64 Mit deutlichen Anspielungen auf das Neue Testament heißt es: Frau Venus erwachte aus dem Schlaf, Ist schnell aus dem Bette gesprungen; Sie hat mit ihrem weißen Arm Den geliebten Mann umschlungen. Aus ihrer Nase rann das Blut, Den Augen die Tränen entflossen; Sie hat mit Tränen und Blut das Gesicht Des geliebten Mannes begossen.

62 Hervorhebungen: W. B. 63 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. 64 Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit (Anm. 24), Bd. 6.1: Empfindsamkeit. Tübingen 1997.

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Der Ritter legte sich ins Bett, Er hat kein Wort gesprochen. Frau Venus in die Küche ging, Um ihm eine Suppe zu kochen. Sie gab ihm Suppe, sie gab ihm Brot, Sie wusch seine wunden Füße, Sie kämmte ihm das struppige Haar, Und lachte dabei so süße.65

Die ›struppigen Haare‹ gefallen mir besonders gut. Zu schwer darf der Ton keinesfalls werden. Diese fortwährende, das Humoristische sogar streifende Ironie hebt das ganze Gedicht in einen reflexiven Abstand. Venus gibt auch die Antwort der caritativen Liebe auf die neue Dichter-Rolle, die sich Tannhäuser zugeschrieben hatte, als er sich aus dem Venusberg davonmachte, um »Bitternisse« zu suchen. Er wollte sich in seiner Dichter-Rolle nämlich als neuer Messias verstehen: Frau Venus, meine schöne Frau, Von süßem Wein und Küssen Ist meine Seele geworden krank; Ich schmachte nach Bitternissen. Wir haben zuviel gescherzt und gelacht, Ich sehne mich nach Tränen, Und statt mit Rosen möcht ich mein Haupt Mit spitzigen Dornen krönen.

Die Messias-Rolle für den Dichter zelebriert die moderne Literatur immer wieder.66 Alle diese Sphären – die antike und die christlich-katholische, ritualgestützte, repräsentative wie ebenso die christlich-protestantische, am Subjekt in seiner ›gewissenhaften‹ Subjektivität orientierte; analog auf dem Gebiet des Ästhetischen: die klassizistische Sphäre wie die romantische – lässt der Dichter hinter sich,67 wenn er sich, wie er Frau Venus im Rückblick schildert, von Rom aus nach Deutschland aufmacht und damit in die geschichtliche Gegenwart der Entstehung des Gedichtes selbst aufbricht. Er wird nun ganz zum Zeitgenossen, der aufmerksam zu sein hat: nicht mehr auf die alten Spannungen und Konflikte – Antike und Christentum, Klassizismus und Romantik –, sondern der in seiner Gegenwart ankommen muss. Sie wird seine Aufgabe bleiben; sie genau und kritisch wahrzunehmen, zu kommentieren, ist ein unabschließbares Projekt, das 65 Hervorhebungen: W. B. 66 Vgl. Friedhelm Marx: »Ich aber sage Ihnen …«. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M. 2002. 67 Zusammenfassend zu Heines »zwiespältige[m] Verhältnis zur Romantik«: Stauf: Heine (Anm. 51), 136–140, hier 136.

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immer neu aufzugreifen ist, wie es in ironischer Lakonie in der Schlussstrophe heißt: Zu Hamburg sah ich Altona, Ist auch eine schöne Gegend; Ein andermal erzähl’ ich dir Was mir alldort begegent.

»Ist auch eine schöne Gegend«: Solche Ironie, die Poetik der Mündlichkeit ein letztes Mal ausstellend, vielleicht sogar ein Tieck-Zitat,68 relativiert noch die moderne Dichter-Rolle des kritischen Zeitgenossen. Keine Autorfunktion bleibt damit übrig, die sich zur allein seligmachenden aufschwingen dürfte. Alle Schreibweisen, die ironische, die kritische, die emphatische, die kommentierende, die realistisch-beschreibende, die volkstümliche, alle muss der moderne Dichter beherrschen; aller Register muss er sich bedienen in der poetischen Freiheit seiner Subjektivität und den geschichtlichen Umständen angemessen.69 Die Konfliktfelder, die der poetische Reisebericht Tannhäusers durch Deutschland antippt, sind entsprechend selbst differenziert. Religion ist eines davon (die Juden in Frankfurt, das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Hamburg); die Politik ein anderes (»Und als ich auf dem Sankt-Gotthard stand, / Da hört ich Deutschland schnarchen; / Es schlief da unten in sanfter Huth / Von sechs und dreyzig Monarchen.«); Literaturkritik ein drittes (Tieck in Dresden); die Weimarer Klassik ein weiteres (»Goethe sei tot, / Und Eckermann sei noch am Leben!«); die desolate, alle Aufklärung vergessende Wissenschaft kommt schließlich noch hinzu (in Göttingen, der ehemaligen Hochburg der europäischen Aufklärung, herrscht nun »stockfinstre Nacht«). All das registriert und interessiert die weltfremde, apolitische Schwäbische »Dichterschul’ / Gar liebe Geschöpfchen und Tröpfchen« auf ihrem »Kackstühlchen« gar nicht. In ihrer geschichtslosen Verblendung und Kindlichkeit hat sie sich gegen jede Zeitgenossenschaft immunisiert, »Fallhütchen auf den Köpfchen«. Sie bringt nur das hervor, was gemeinhin im ›Kacktöpfchen‹ landet. – Die Forschung hat alle diese Bezüge des Gedichtes im Detail herausgearbeitet.70 Meine Skizze sollte zeigen: Religion kann für Literatur viel mehr sein als ein kulturelles Reservoir von Stoffen, Motiven, Formen; viel mehr als nur etwas, das man kritisiert oder wovon man sich abstößt. Heines Legende verschränkt den geschichtlichen Prozess der Religion mit der Reflexion der Aufgaben von Ästhetik im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen, um schließlich bei den Aufgaben, die sich in der geschichtlichen Gegenwart stellen, anzukommen. Sie 68 Was ja sehr gut passen würde; vgl. den Kommentar der kritischen Ausgabe (Anm. 54), 508. 69 Zu diesem Modell vgl. Braungart: Das Kunstwerk als Individuum (Anm. 13). 70 Vgl. den Kommentar der kritischen Ausgabe (Anm. 54) und Tebben: Tannhäuser (Anm. 59).

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werden freilich nie mehr aufhören, weil sie kein festes Bezugssystem mehr haben: »Ein andermal erzähl’ ich dir«. – »Nächstens mehr«, so schließt Hölderlins Hyperion-Roman. »Ist fortzusetzen«, schreibt Goethe wenige Jahre vor Heines Legende vom Tannhäuser unter sein Gedicht Bei Betrachtung von Schillers Schädel (»Im ernsten Beinhaus«, 1829).71 Was so viel heißen mag wie: Es bleibt auch gar nichts anderes, als das Gedicht fortzusetzen. Zeitgenossenschaft ist nicht revidierbar. Und anders ist auch dem Tod kein Sinn abzugewinnen, wenn sich das autonome Subjekt einmal auf den eigenen Weg gemacht hat.

V.

Aus Gilgi wird Gisela. Subjektwerdung aus Schuldbewusstsein. Irmgard Keuns Roman Gilgi – eine von uns (1931)

Die Bibel, sagt Northrop Frye, sei »the great code« der westlichen Literatur. Damit meint er vor allem die poetischen Verfahren, welche die Bibel selbst zur Literatur machen. Mit ihr werden sie vorbildlich.72 Ähnliche Äußerungen zur Bedeutung der Bibel gibt es immer wieder. An Brechts berühmtes Bonmot wäre dabei noch nicht einmal zuerst zu denken.73 Das ist aber zunächst eine literarische Angelegenheit, keine religiöse. Religiös muss man, um die literarische Bedeutung der Bibel zu würdigen, überhaupt nicht sein. Man kann für Religion ähnlich formulieren: Religion hinterlässt in Literatur und Kunst Spuren und zeigt sich selbst da noch, wo man meint, sich auf völlig säkularem Gebiet zu befinden. Diskutieren ließe sich zwar, ob sich auch Literatur und Kunst als eine Form ›unsichtbarer Religion‹ in der Moderne beschreiben lassen.74 Ich neige aus den oben angedeuteten, historisch-systematischen Gründen sehr zu dieser Position.75 Sofern man den modernen Kunstbegriff vom 18. Jahrhundert aus entwickelt, wie ich es umrissen habe, kann man auch über seine Verflechtung mit der jüdisch-christlichen Tradition kaum hinweggehen; Literatur und Kunst 71 Goethes Gedicht, das auch eine kleine alchemistische Anspielung enthält, spricht gar nicht von Schiller ; der Schiller-Bezug ist von Eckermann angeregt. Heine dürfte das Gedicht gekannt haben; es wurde schon 1829 gedruckt. Aber das tut in meinem Zusammenhang nichts zur Sache. – Vgl. Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 2002. 72 Northrop Frye: The Great Code. Toronto 1982 (deutsch: Der grosse Code. Die Bibel und Literatur. Anif/Salzburg 2007). Das Buch ist eine großartige, zugängliche Untersuchung der Bibel als Literatur. 73 Vgl. Christoph Gellner : Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2004; vgl. auch Eberhard Rohse: Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den literarischen Versuchen des Gymnasiasten. Göttingen 1983. 74 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch. Frankfurt a. M. 1991. 75 Braungart: »Es war ein Mensch« (Anm. 7).

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beziehen sich bis heute explizit auf sie. Die Autonomie der Kunst, die mit der ›Sakralisierung der Person‹ zusammenhängt, gilt selbst für die schärfsten künstlerischen Kritiker des bürgerlichen Kulturbetriebs und der ›Institution Kunst‹ (Peter Bürger). Das Recht auf Subjektivität wird selbst von denen in Anspruch genommen, die für die Idee des (vermeintlich bürgerlichen) Subjekts nur Verachtung übrig haben.76 Seit einem guten Jahrzehnt zieht die Literatur der Neuen Sachlichkeit wieder wissenschaftliches und auch didaktisches Interesse auf sich.77 Man wird nun nicht gerade behaupten, dass sich die neusachliche Literatur (und Kunst) besonders für das Religiöse interessierte. Das gilt auch für Irmgard Keun, zentrale Autorin der Neuen Sachlichkeit. Keun ist inzwischen, ziemlich überraschend, sogar zur ›Abiturautorin‹ aufgestiegen. Ihr erster Roman Gilgi – eine von uns war gleich ein großer Erfolg und doch heftig umstritten. Die Rezensionen hörten die eigenartige neue Stimme, die sich hier, wenngleich nicht immer so ganz ihrer selbst sicher, äußerte. Ihrem kommunistischen Freund Pit gegenüber, der sich als ziemlich brutaler Darwinist entpuppt,78 kann Gilgi, die 21 Jahre junge Angestellte, der gerade gekündigt wurde, zum Beispiel so sprechen: »›Warum ein uneheliches Kind [Gilgi ist schwanger] was Unmoralisches sein soll, versteh’ ich einfach nicht. Und Pit – ein Gutes: meine Selbstsicherheit in diesem Punkt ist derart unerschütterlich, daß sie sich auf andere überträgt.‹« (258)79 Das ist, auf der Figurenebene, ein ganz anderes Sprachregister, als das der Subjektivität, das die erlebte Rede und der innere Monolog, zwei für den Roman wichtige Erzählformen, eigentlich erwarten ließen. Hölzern ist das, förmlich, angelernt. Genauso steif und angestrengt und ganz fern von sich selbst spricht sie zu Pit über Gott: »Urewiges Erbleid, daß keiner sich selbst Absolution erteilen kann – und Gott kann’s auch nicht. Gott – dieses Stückchen überanstrengtes Vorstellungsvermögen, Gott – 76 Anders ist es mit der Kunst im Totalitarismus, die vor allem systemkonform sein will. Aber was hat sie ästhetisch noch zu sagen? 77 Am Anfang steht die große Monographie Sabina Beckers: Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Köln 2001; vgl. auch Joachim G. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt 2010. Neutraler ist das historische Epochenkonzept ›Weimarer Republik‹, das die Neue Sachlichkeit integriert; vgl. Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009. 78 Ein Dialog zwischen Gilgi und Pit: »›Es gibt Menschen, die zu schwach sind fürs Leben und die man darum ruhig krepieren lassen sollte …‹ / ›Schwäche und Stärke machen noch längst nicht den Wert des Menschen aus, Pit.‹ / ›Aber ihre Lebensfähigkeit.‹ / ›Aber nicht ihre Lebensberechtigung.‹ / ›Die muß sich jeder selbst erwerben.‹ / ›Die erwirbt man selbst nur, indem man anderen dazu verhilft.‹« – Irmgard Keun: Gilgi – eine von uns. Roman. Berlin 5 2011 (zuerst Berlin 1931), 221; Zitate werden künftig nur im Text mit Seitenangabe nachgewiesen. 79 Einführendes zum Roman und zur Forschungslage bei Streim: Literatur der Weimarer Republik (Anm. 77), 132–139.

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diese blasse Verlegenheitslüge – Gott sagt man – und Mensch meint man. Wahr ist die Sehnsucht nach Mensch – Mensch ist mehr als Gott – Mensch ist Vieh und Gott. Sehnsucht nach Gott – verdammte Bequemlichkeit, die nichts kostet. Blutleere Schwärmerei.« (218f.)

Sicher, man kann, man muss wohl sagen: Bedeutende Literatur ist das bestimmt nicht. Das sieht man auf den ersten Blick. Aus der Figurenperspektive: Da hat eine noch ziemlich junge Frau sich etwas angelesen. Der tradierte theologische und religiöse bzw. religionskritische Diskurs ist nicht Gilgis eigener ; dennoch braucht sie ihn. Ihren eigenen, einen menschlichen und selbstreflexiven, müsste sie sich selbst erarbeiten. An dieser ästhetischen Aufgabe scheitert mit Gilgi am Schluss auch der Roman. Gilgi findet zwar in ihr Leben hinein, aber nicht zu einer eigenen Sprache. Der Roman lässt sich als Bildungsroman lesen; er selbst legt es nahe: Aus dem niedlich-naiven »Mädchen Gilgi« mit ihren »schlanken Beinen und kinderschmalen Hüften, zu winzigen Modekäppchen, die auf dem äußersten Ende des Kopfes geheimnisvollen Halt finden,« wird schließlich Gisela, die mit ihrem Geburtsnamen das Individuum in sich annimmt, wie die Erzählerstimme ankündigt: »Gilgi nennt sie sich, Gisela heißt sie. […] Wenn sie fünfundzwanzig ist, wird sie sich Gisela nennen.« (5) Gegenüber ihrem egozentrischen Liebhaber Martin kann sie jedoch ganz schnell aus der Rolle der Kindfrau schlüpfen: Alles Weiche aus Gilgis Gesicht verschwindet, ihre Stimme klingt hart und hell: »Meine Sachen bring’ ich allein in Ordnung, und wenn ich Dummheiten mache – dann auf meine eigenen Kosten. – Und eins sag’ ich dir, Martin –« beinahe heftig schüttelt sie seine Hände ab – »ich dulde es nicht, daß man sich für mich verantwortlich fühlt, es ist die schlimmste Beleidigung, die man mir antun kann, ich …« (116)

Warum sollte es so schlimm sein, »daß man sich für mich verantwortlich fühlt«? Das wird sie später anders sehen. Als sie ungewollt schwanger wird, will sie, dass »man die Angelegenheit rechtzeitig beseitigt« (175): »›Hören Sie, Herr Doktor, es ist doch das Unmoralischste und Absurdeste, eine Frau ein Kind zur Welt bringen zu lassen, das sie nicht ernähren kann. Es ist darüber hinaus überhaupt das Unmoralischste und Absurdeste, eine Frau ein Kind kriegen zu lassen, wenn sie es nicht haben will …‹« (176). Die Reihenfolge der Argumente ist bemerkenswert. Durch diese Egozentrik muss Gilgi hindurch. Ganz klassisch helfen ihr bei ihrem eigenen ›Bildungsroman‹ die Bücher (117f.); aber sie sind nicht mehr entscheidend. Am Ende will sie sich doch für ihr Kind »verantwortlich« fühlen.80 Am Ende verlässt sie auch Martin, ihre ganzen sozialen Bezüge, ihre Heimatstadt

80 »›sehr sinnvoll das alles, Pit – ohne das Kind, ohne das ganz starke Muß wär’s schwerer gewesen.‹« (257)

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Köln und bricht nach Berlin auf, in die moderne Stadt der 1920er-Jahre. Dort will sie sie selbst sein. Von West nach Ost. Ihr eigenes Versagen, das sie begreift, hat diese ›Konversion‹ veranlasst: Gilgi trifft nach Jahren ihren Jugendfreund Hans, der mit seiner Familie in große Not geraten ist, überraschend wieder. Sein Unglück packt sie so, dass sie seine Frau im Dachstubenelend besucht. Hans verspricht sie die »zwölfhundert Mark« (215), die er braucht, um einen gefälschten Wechsel einzulösen. An dieser Aufgabe scheitert sie. Sie treibt zwar das Geld auf, kommt aber zu spät, weil sie sich von Martin nicht lösen konnte und mit ihm die Nacht verbringt. Die Familie hat sich in ihrer Verzweiflung bereits umgebracht. Die Einzelheiten kann ich für meinen Zusammenhang übergehen. Wichtig ist hier nur, wie sich der Roman, wie ungeschickt und unbeholfen im Sprachlichen auch immer, auf diese Subjekt-Werdung Gilgis einlässt. Wenn sie sich, trotz des relativen Wohlstands, in dem sie mit Martin, diesem Bohemien, lebt – »Oh, du hast es aber sehr fein, Gilgi« (187) –, dann doch der Not des andern öffnen kann, öffnet sie sich auch ihrer Selbstreflexion: »Da sind zwei Schichten in mir – und die obere, die diktiert – alltägliche Worte, alltägliche Handlung – kleines Mädchen, kleines Maschinenmädchen, kleines Uhrwerkmädchen – drunter die untere Schicht – immer ein Wollen, immer ein Suchen, immer Sehnsucht und Dunkel und Nichtwissen – kein Wissen um Wohin – kein Wissen um woher. Ein Denken ohne Worte, ein Wissen hinter den Worten – ein Wachsein im Schlaf – hinter Lachen ein Weinen – die undurchschnittene Nabelschnur – Band an die dunkle Welt.« (212f.)

Hier zieht Gilgi, auf dem Weg zu Gisela, die Schopenhauer-Option als ›Sinn‹Angebot in Betracht: die transsubjektive Anthropologie des dunklen Lebensstroms, die, wie Wolfgang Riedel gezeigt hat, für den Lebensbegriff um 1900 von so entscheidender Bedeutung ist.81 Aber dann humanisiert sie diese finstere, sinnleere Anthropologie und nimmt, sozusagen, das Licht der Aufklärung in sie hinein. Gilgi denkt Lessing weiter :82 »Was – bin – ich – denn – nur? Alles Böse und alles Gute – das ist ein Mensch – und Himmel und Hölle – das ist ein Mensch – das Traurigste und das Lächerlichste – ein Mensch. Das Verschlossenste und Bereiteste – ein Mensch. Und Krieg und Frieden – das ist ein Mensch – und Mordbegier und Mariawunsch, zu gebären – ein Mensch.« (213; Hervorhebungen: W. B.)

Noch einmal: Große Literatur ist das gewiss nicht. Noch hört man das O-Mensch-Pathos des Expressionismus durch, vielleicht sogar Dostojewski, der in Deutschland sehr einflussreich war,83 weil bei ihm die ethisch-religiöse Re81 Riedel: »Homo Natura« (Anm. 11). 82 Vgl. Braungart: »Es war ein Mensch« (Anm. 7). 83 Karla Hielscher : Dostojewski in Deutschland. Frankfurt a. M./Leipzig 1999.

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flexion menschlicher Schuld eine große Rolle spielt. Bei Keun entsteht ein Subjekt in seiner Subjektivität als ein bewusstes Selbstverhältnis aus dem Geist einer Selbstreflexion, die aus Schuld- und Verantwortungsbewusstsein geboren wird. Ihr Versagen gegenüber Hans, das sie nicht loslässt, entfremdet das kleine »Mädchen Gilgi« sich selbst gegenüber : Lange sieht Gilgi in das fremde Spiegelgesicht. Preßt die Lippen zu einem schmalen, harten Strich zusammen. Von vorne anfangen, Gilgi! Vier Menschen sind tot. Die Schuld, die ich daran habe … sehen, wie ich damit fertig werde. Die Schuld, die ich nicht habe – die lehne ich ab, die rede ich mir nicht ein, die will ich nicht tragen. (250; Hervorhebung: W. B.)

Aus der naiven Gilgi wird nun die selbst-bewusste Gisela. Sie steigt in den Zug nach Berlin;84 sie wird nun endgültig zur ›Autorin‹ ihrer selbst. Nur so, indem sie sich auf sich selbst einlässt und ihre Schuld annimmt, kann sie sich selbst »die Absolution« erteilen. Keinen andern, einen Repräsentanten der Institution etwa, hat sie dafür ; sie braucht ihn nicht. Hätte sie ihn, wäre sie aber auch nicht da, wo sie am Schluss des Romans ankommt, indem sie aufbricht. Schuldbewusstsein und ›Konversion‹: Religion wirkt auch da noch nach, wo sie verabschiedet scheint – in Selbstverständnis, Selbstverhältnis und Selbstverantwortung des säkularen Subjekts.

84 Der Zug: das Symbol der technischen Moderne (etwa: Hauptmann: Bahnwärter Thiel, 1888)! Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1977.

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›Leben‹ als säkulare Ersatzreligion? Monistischer Weltdeutungsanspruch und perspektivisches Sprechen in Hugo von Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten

In seiner religionskritischen Schrift Der Antichrist schreibt Friedrich Nietzsche: »Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.«1 Sätze wie diese lassen bis heute die Jahrhundertwende um 1900 als ein nachreligiöses Zeitalter erscheinen, das den spekulativen ›Höhenflügen‹ der platonisch-christlichen Tradition ein empirisches ›Wissen‹ von der Natur, der Evolution und der menschlichen Physiologie und Psychologie entgegensetzt. Tatsächlich werden die Welt und der Mensch um 1900 meist nicht mehr dualistisch begriffen – im Sinne einer Trennung zwischen ›Natur‹ und ›Gott‹ bzw. zwischen ›Leib‹ und ›Seele‹ –, sondern explizit monistisch2 konzeptualisiert: als »transzendenzlose[ ] Faktizität des Daseins, sprich 1 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980. Bd. 6, 180. 2 Der Begriff des Monismus ist – wie in der Philosophie üblich – hier rein deskriptiv gemeint und beschreibt alle um 1900 existierenden Diskurse, die die Welt und den Menschen nicht mehr als Antagonismus von Transzendenz und Immanenz bzw. Geist und Sinnlichkeit beschreiben, sondern davon ausgehen, dass die »Wirklichkeit einheitlich [sei] und von einerlei Grundbeschaffenheit«. Die Differenzen innerhalb der monistischen Ansätze treten erst dann auf, »wenn es darum geht, das Wesen der Grundbeschaffenheit zu bestimmen. Dabei reicht die Bandbreite des monistischen Spektrums vom Materialismus, der nur Körper als Bausteine der Welt zulässt, bis zum Pantheismus, der in Gott die alleinige Substanz sieht.« Andreas Preußner : Monismus. In: Wolf D. Rehfuss (Hg.): Handwörterbuch der Philosophie. Göttingen 2003, 472. Auch der Monismus Ernst Haeckels, der aus Versatzstücken der Evolutionstheorie und der idealistischen Naturphilosophie eine Art Panpsychismus formt, lässt sich in einen solchen deskriptiven Monismusbegriff integrieren, weil eben auch hier unter Verzicht auf jegliche Transzendenzvorstellung die eine psychophysische Grunddynamik veranschlagt wird, die in der Natur und im Menschen walte. Gegenüber dem in vielen literaturgeschichtlichen Arbeiten zur Jahrhundertwende verwendeten objektsprachlichen Monismusbegriff Haeckels hat der hier verwendete deskriptive Monismusbegriff jedoch den Vorteil, dass sich mit ihm die entscheidenden Gemeinsamkeiten der sich um 1900 im Umlauf befindenden Weltbilder und Anthropologien (nämlich z. B. der Evolutionsbiologie, der schopenhauerischnietzscheanischen Triebmetaphysik, der Psychoanalyse oder der Lebensphilosophie) benennen lassen. Zur produktiven literaturgeschichtlichen Funktion des deskriptiven Monis-

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der Natur«, die auch die »Natur des Menschen« ist.3 Wie besonders die Forschung der beiden letzten Jahrzehnte gezeigt hat, wird das monistische Weltund Menschenbild nicht nur in den philosophischen und anthropologischen Schriften Schopenhauers, Nietzsches oder Freuds verbreitet, sondern auch und insbesondere in der Literatur der Jahrhundertwende.4 Autoren wie Hauptmann, Hofmannsthal, Schnitzler oder Wedekind inszenieren in ihren Texten trotz ihrer zum Teil konträren poetologischen Ausrichtungen das Bild eines ganz von seinem Körper, seiner Sinnlichkeit und seiner ›Natur‹ her verstandenen Menschen und polemisieren damit sowohl gegen den Transzendenzglauben des Christentums als auch gegen den Vernunft- und Rationalitätsglauben der Aufklärung. Wenn es im Folgenden nun um die ästhetische Reflexion des monistischen Weltdeutungsanspruches in Hofmannsthals Die Briefe des Zurückgekehrten (1907) gehen soll, so weicht meine Untersuchung von anderen Arbeiten zu diesem Thema allerdings in zweierlei Hinsicht ab: Zum einen soll das monistische Welt- und Menschenbild der Jahrhundertwende selbst wesentlich stärker auf seine impliziten Normen und metaphysischen Setzungen hin befragt werden, als dies bisher geschehen ist. Trotz der antimetaphysischen Stoßrichtung des Monismus werden die Natur und der menschliche Körper in Texten der Jahrhundertwende nämlich mit universellen Norm- und Ganzheitsvorstellungen ausgestattet, die weit über die Grenzen punktueller empirischer Beobachtungen hinausgehen. Wie ich zeigen werde, fungiert besonders der Begriff des ›Lebens‹ um 1900 als eine ersatzreligiöse Sinnstiftungsvokabel, mit der man die empirisch gegebenen Naturphänomene auf ein organisches ›Ganzes‹ hin überschreitet und somit die normative Funktion der ›alten‹ dualistischen Kategorien ›Gott‹, ›Geist‹ oder ›Ratio‹ ersetzt. Anders als etwa Wolfgang Riedel verstehe ich den emphatischen Lebensbegriff der Jahrhundertwende somit nicht als einen bloßen Versuch, dem »Apriori des

musbegriffs gerade auch für den Vergleich der Weltbilder um 1800 und um 1900 vgl. Matthias Löwe: ›Romantik‹ bei Thomas Mann: Leitbegriff, Rezeptionsobjekt, Strukturphänomen. Manuskript, 27ff. Erscheint in: Jens Ewen, Tim Lörke u. Regine Zeller (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik. Würzburg 2015 (Da der Sammelband noch nicht erschienen ist, zitiere ich auch im Folgenden aus dem Manuskript, das mir der Verfasser dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat). Zum Ursprung der monistischen Welt- und Menschenbilder in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. Vgl. hier besonders das letzte Kapitel über den »monistischen Ansatz der deutschen Spätaufklärung«, 576–649. 3 Wolfgang Riedel: Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900. Würzburg 2011, 15. 4 Vgl. u. a.: Riedel: Homo Natura (Anm. 3). Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, 217–332. Stefan Pegatzky : Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann. Würzburg 2002.

›Leben‹ als säkulare Ersatzreligion?

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Menschseins«5 auf die Spur zu kommen, sondern deute ihn problemgeschichtlich6 als eine ›Antwort‹, mit der Intellektuelle um 1900 auf die Legitimationsprobleme reagieren, die jene von ihnen selbst betriebene ›Abschaffung‹ der Transzendenz und Naturalisierung des Welt- und Menschenbildes mit sich bringt.7 Entscheidend ist dabei jedoch – so meine These –, dass man das ›Leben‹ um 1900 nicht offen als eine Kategorie des Glaubens kennzeichnet, sondern es als Gegenstand eines gesteigerten körperlich-sinnlichen Erfahrungswissens präsentiert. Gerade vor dem Hintergrund einer ausdifferenzierten und pluralisierten Moderne firmiert das ›Leben‹ somit als ein vermeintlich sinnlich verfügbares ›Eigentliches‹, ›Ganzes‹ und ›Ursprüngliches‹, wodurch es nicht zuletzt zum Ausgangspunkt einer normativen Kultur- und Zivilisationskritik wird. Auf der Basis dieser problemorientierten Rekonstruktion des Körper- und »Lebenspathos«8 der Jahrhundertwende werde ich zum anderen überlegen, wie dieses in Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten ästhetisch artikuliert und reflektiert wird. Meine Hypothese lautet, dass Hofmannsthals Text die Seman5 Riedel: Homo Natura (Anm. 3), 36. 6 Zur aktuellen ›Neuauflage‹ des literaturgeschichtlichen Paradigmas der Problemgeschichte vgl. die Forschungsdiskussion in der Scientia Poetica 13 (2009) und insbesondere den Beitrag von Dirk Werle, in dem dieser konstatiert, dass die Wissens- und Ideengeschichte »ergänzt und erweitert werden« sollte, indem man historische Diskurse »als Antworten auf Fragen oder auch als Lösungen von Problemen konzipiert«. Dirk Werle: Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie. In: Scientia Poetica 13 (2009), 255–303, hier 258. 7 Unter der Chiffre eines emphatischen Lebensbegriffes wiederholt sich um 1900 somit ein Vorgang, der schon in der Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts stattgefunden hat. Wie Panajotis Kondylis gezeigt hat, ist die Sakralisierung natürlich-organischer Vorgänge die zentrale Strategie, mit der besonders die Philosophie der deutschen Spätaufklärung auf die Nihilismus- und Relativismusgefahr reagiert, die aus der eigens betriebenen »Rehabilitation der Sinnlichkeit« (Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (Anm. 2), 19) hervorgeht: »Jene Natur, die zunächst die Immanenz im Kampfe gegen die Transzendenz Gottes vertrat, wurde bald etwas mehr als die empirische Welt, sie bekam nämlich den Status einer höheren Instanz, die die einfache Summe der wahrnehmbaren Erscheinungen transzendiert und auf höchst objektive Weise erklärt, was Gut und Böse ist; gemäß der Natur leben bedeutet nunmehr ebensoviel wie die ebenfalls allgemeingültigen, im wahren Sein verankerten Gebote Gottes zu befolgen.« (Ebd., 48.) Besonders für die literaturwissenschaftliche Moderneforschung wäre es äußerst gewinnbringend, die von Kondylis für das 18. Jahrhundert etablierten problemgeschichtlichen Analysemuster auch auf die Anthropologien und Weltbilder des frühen 20. Jahrhunderts anzuwenden. In diesem Aufsatz möchte ich einen Schritt in diese Richtung gehen und schließe mich darin dem Ansatz Matthias Löwes an, der in dem bereits zitierten Aufsatz zur ›Romantik bei Thomas Mann‹ konstatiert, »dass sich die Anthropologie um 1900 in dieselben ›logischen Sackgassen‹ manövriert wie schon die monistische deutsche Spätaufklärung« und dass sich mit »den Analyseinstrumenten aus Kondylis’ Aufklärungsbuch […] diese Antinomien freilegen« lassen. Löwe: ›Romantik‹ bei Thomas Mann (Anm. 2), 33. 8 Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 In: ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1967, 1–48, hier 17.

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tiken des ›Körpers‹ und des ›Lebens‹ in ihrer normativen Funktion zunächst übernimmt und sie zudem gegen bestimmte zeitgenössische Modernisierungserfahrungen in Anschlag bringt.9 Trotz dieser Beobachtung möchte ich aber gleichzeitig herausstellen, dass der Text durch bestimmte poetische Strategien seinen eigenen lebensemphatischen Impetus unterwandert. Besonders im Rahmen einer perspektivischen Ästhetik – so meine These – wird der lebensphilosophische Weltdeutungsanspruch als lediglich subjektive Glaubensentscheidung markiert, die zudem starke lebenspraktische Probleme erzeugt. Mittels eines formsensiblen close reading werde ich zeigen, dass Hofmannsthal in seinen Briefen des Zurückgekehrten neben den emphatischen Verheißungen des Lebenspathos auch dessen schwierige Konsequenzen ästhetisch inszeniert und somit das lebensphilosophische Problemlösungsangebot wiederum in ein offenes Problem überführt.10

1.

»Der Leib ist eine grosse Vernunft« – Zur Präsenz uneingestandener Glaubenssätze im Körper- und Lebensdenken der Jahrhundertwende

Auf den ersten Blick scheint der Leib-Monismus der Jahrhundertwende einer empirisch-materialistischen Grundauffassung zu entsprechen, nach der die Natur und der Mensch ›reine Physis‹ sind und auch die Identität des Menschen, seine Gedanken und Ideen als bloße Erscheinungsformen materieller Zusammenhänge verstanden werden können. »›Leib bin ich und Seele‹ – so redet das Kind«, lässt Nietzsche etwa seinen Zarathustra sagen. »Aber der Erwachte, der 9 In ihrer erst kürzlich erschienenen Dissertation über Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Moderne liest auch Katharina Meiser die Briefe des Zurückgekehrten als kulturkritische Reflexion der Moderne. Katharina Meiser : Fliehendes Begreifen. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Moderne. Heidelberg 2014, 59–77. Ihre Arbeit gehört zu den wenigen Untersuchungen, bei denen eine metasprachliche Distanz zu dem Text hergestellt und damit eine Übernahme von dessen kulturkritischen Ressentiments vermieden wird. Da sie konzeptionell aber mit einem relativ abstrakten – makroepochalen – Begriff von Kulturkritik arbeitet, benennt ihre Untersuchung leider kaum, welche konkreten für die Zeit um 1900 typischen Norminstanzen – nämlich die ›Sinnlichkeit‹, den ›Körper‹ und das ›Leben‹ – der Text gegen zeitgenössische Ausdifferenzierungs- und Pluralisierungsprozesse in Stellung bringt. Aufgrund dieser fehlenden problemgeschichtlichen Reflexionsebene entgehen Meiser folglich auch die ästhetischen Strategien, mit denen Hofmannsthals Text die Aporien und Widersprüche jener anthropologischen und lebensphilosophischen Denkfiguren freilegt, die er selber zunächst affirmiert. 10 Zur Funktion ästhetischer Vermittlungsformen als Mittel literarischer Problemreflexion vgl. vor allem den Diskussionsbeitrag von Matthias Löwe: Implizität. Über ein praktisches Problem von Literaturgeschichte als Problemgeschichte (anhand von drei Beispielen). In: Scientia Poetica 13 (2009), 304–317.

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Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein etwas am Leibe.«11 Die Kategorien der ›Seele‹, des ›Geistes‹ oder der ›Ratio‹, die in den dualistischen Anthropologien des Christentums und der Aufklärung dem Körper gegenüberstehen, werden zu Illusionen erklärt, mit denen der Mensch sich bestimmte Normen konstruiert, um der an sich chaotischen Wirklichkeit ein festes Wertefundament entgegenzusetzen. Ist Nietzsches Verständnis vom Menschen jedoch tatsächlich ein rein empirisch-deskriptives, das völlig ohne jene ›Ideen‹, ›Normen‹ oder ›Fiktionen‹ auskommt, die er am Christentum so kritisiert?12 Gleich im Anschluss an die zitierte Passage aus dem Zarathustra schreibt er überraschenderweise: »Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, eine Heerde und ein Hirt.«13 Wenn es Nietzsche doch darum geht, die Anthropologie als eine rein deskriptive Physiologie zu betreiben, wozu braucht er dann noch die – doch eigentlich überempirisch-normative – Kategorie der »Vernunft«? Warum beschreibt er den Leib nicht als ein normfreies Konglomerat chaotischer biophysischer Vorgänge, sondern spricht von einer »Vielheit mit Einem Sinne« und aktiviert zur Veranschaulichung dieses Zusammenspiels von ›Vielheit‹ und ›Einheit‹ das zutiefst christliche Bild einer »Heerde« mit ihrem »Hirt[en]«? Offenbar schreckt der monistische Anthropologe Nietzsche trotz seiner ›Feier des Leibes‹ davor zurück, auf alle einheitsstiftenden Sinninstanzen, die in den ›alten‹ dualistischen Welt- und Menschenbildern noch gegeben waren, zu verzichten. Er entlehnt daher dem Dualismus bestimmte Kategorien – wie etwa die Vernunft –, definiert sie allerdings nicht als autonomes Gegenüber, sondern als immanenten Bestandteil des Körpers selbst: Der Leib ist seinerseits schon ›vernünftig‹ – so die Denkfigur –, bedarf also keiner ›Vernunft‹ außerhalb seiner selbst. Der solchermaßen zur »Vernunft« und zum »Hirten« aufgewertete Körper kann nun als kulturkritisches Argument gegen eine modernisierte Gesellschaft in Anschlag gebracht werden, der es nach Nietzsche an ebensolchen Sinninstanzen fehlt: »Wer will noch regieren?«, lässt er den Zarathustra etwa im ersten Abschnitt

11 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. KSA (Anm. 1), Bd. 4, 39. 12 Vgl. hierzu auch folgende Passage aus dem Antichristen: »Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre U r s a c h e n (›Gott‹, ›Seele‹, ›Ich‹, ›Geist‹, ›der freie Wille‹ – oder auch ›der unfreie‹); lauter imaginäre W i r k u n g e n (›Sünde‹, ›Erlösung‹, ›Gnade‹, ›Strafe‹, ›Vergebung der Sünde‹). Ein Verkehr zwischen imaginären W e s e n (›Gott‹, ›Geister‹, ›Seelen‹); […] jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im H a s s gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen …« Nietzsche: Der Antichrist (Anm. 1), 181f. (Hervorhebungen im Original). 13 Nietzsche: Also sprach Zarathustra (Anm. 11), 39.

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seiner Schrift sagen: »Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde!«14 Mit seiner Argumentationsstrategie liefert Nietzsche ein repräsentatives Beispiel für den Monismus der Jahrhundertwende: Um eine Philosophie des Leibes und der Sinnlichkeit betreiben zu können, ohne dabei aber einem gänzlich norm- und wertentleerten Materialismus zu frönen, weiht man um 1900 den Körper zu einem Mysterium und einem Wunder, an das man glauben kann: »Ich glaube an das Fleisch und die Begierden«, formuliert etwa der um 1900 in Deutschland und in Österreich überaus stark rezipierte amerikanische Autor Walt Whitman: »Gesicht, Gehör, Gefühl sind Wunder, und jeder Teil und Fetzen von mir ist ein Wunder.«15 Die Aufwertung des Körpers zu einer Sinn- und Glaubensinstanz korrespondiert um 1900 mit der Nobilitierung der Natur überhaupt. Wie schon erwähnt, erfolgt die Ausstattung biophysischer Vorgänge mit einem normativen Potenzial vor allem im Rahmen der um 1900 aufkommenden Lebensphilosophie. Diese erhält ihren maßgeblichen Antrieb durch die zeitgenössische Evolutionsbiologie und deren Deutung der Natur als ein autopoietischer – sich selbst reproduzierender und erhaltender – Entwicklungsorganismus.16 Entscheidend dabei ist aber, dass die ›Lebensphilosophie‹ trotz ihrer Orientierung an einem empirischen Naturbegriff und trotz ihrer Abwehr dualistisch-teleologischer Weltbilder kein ›mechanistischer Biologismus‹ sein will. »Die Philosophie des Lebens«, so formuliert es Henri Bergson etwa, »erhebt den Anspruch, Finalismus und Mechanismus gleichermaßen hinter sich zu lassen.«17 In Anschluss an Schopenhauers Willensontologie und deren enthusiastische Umdeutung durch Friedrich Nietzsche zielt der Begriff des ›Lebens‹ um 1900 daher nicht auf singuläre biologische Vorgänge ab, sondern auf eine nicht empirisch messbare, organische ›Totalität‹, die im Sinne eines dynamischen ›Lebensschwungs‹18 die einzelnen ›Phänomene‹ in ein allumfassendes ›Ganzes‹ integriert: »Zu reinster Ausprägung gelangt das Leben als Zentralbegriff der Weltanschauung da«, so schreibt Georg Simmel, »wo es zur metaphysischen Urtatsache, zum Wesen alles Seins überhaupt […] wird, so daß jede gegebene 14 Nietzsche: Also sprach Zarathustra (Anm. 11), 20. 15 »I believe in the flesh, and the appetites; / Seeing, hearing, feeling, are miracles, and each part and tag of me is a miracle.« In: Walt Whitman: Leaves of Grass. New York/London 1973, 53 (Erstausgabe: New York 1855). Die Leaves of Grass wurden seit 1889 ins Deutsche übersetzt. Eine um die Jahrhundertwende besonders verbreitete Übersetzung stammt von Johannes Schlaf (1907). Zur Whitman-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur um 1900 vgl. auch Riedel: Homo Natura (Anm. 3), 104–120. 16 Vgl. hierzu auch Riedel: Homo Natura (Anm. 3), 121–155. 17 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1907, 56. 18 Besonders in der ›Lebensphilosophie‹ Henri Bergsons hat der Begriff des ›Lebensschwungs‹ oder der ›Lebensschwungkraft‹ (›elan vital‹) eine zentrale Bedeutung. Vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung (Anm. 17), 93–103.

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Erscheinung ein Pulsschlag oder eine Darstellungsweise oder ein Entwicklungsstadium des absoluten Lebens ist.«19 Sowohl die ›Lebensphilosophie‹ als auch Nietzsches oben skizzierte ›Leibphilosophie‹ verstricken sich mit dieser Aufwertung des Physischen allerdings in einen Widerspruch: Der bloß ›spekulative‹ Glaube an ›Gott‹, die ›Vernunft‹ oder den ›Geist‹ soll ›überwunden‹ werden, doch zugleich wird der Leib zu einem »Hirten« erklärt und die empirisch erkennbaren Naturphänomene werden in ein kosmisches All-Ganzes integriert, womit wiederum apriorische, also erfahrungsunabhängige ›Ideen‹ ins Spiel kommen, deren Gültigkeit man ja gerade durch die Kritik am Dualismus abgestritten hat. Der ›Kunstgriff‹, durch den sich die körper- und lebensemphatischen Weltbilder um 1900 aus diesem Dilemma herauslösen wollen, liegt in der Dichotomie zwischen analytisch-beobachtender und körperlich-emotionaler ›Erfahrung‹: Die ›Totalität des Lebens‹ lässt sich zwar nicht anhand einzelner empirischer Phänomene ›nachweisen‹, sie kann jedoch intuitiv gefühlt werden, weil der Mensch kraft seiner leiblichphysischen Verfasstheit selbst einen Teil des alles ergreifenden ›Lebensprozesses‹ darstellt. Impliziert wird damit eine neue Erkenntnisweise, bei der die traditionelle Trennung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt zugunsten einer Identität von Ich und Welt aufgehoben wird. In seiner Monographie Seele und Welt bringt der Basler Philosoph Karl JoÚl die Vorstellung einer solchen intuitiv empfundenen ›All-Verbundenheit‹ zum Ausdruck: Wir fühlen in uns den grenzenlosen Strom des Lebens, unsere Gemeinschaft mit Nahem und Fernem, wir fühlen uns eins mit allem Sein, wir tragen in uns das ewige Leben, wir haben in unserem Gefühl das Unendliche gegenüber allem Einzelnen und Vergänglichen, das uns in den Sinnen vorüberzieht.20

An Formulierungen wie diesen wird deutlich, dass die Lebensphilosophie um 1900 zwar einen Religionsersatz darstellt, den bloßen Glaubensstatus ihres Gegenstandes – nämlich des ›Lebens‹ – allerdings nicht als solchen markiert. Im Unterschied zu den traditionellen Religionen erhebt die Lebensphilosophie den Anspruch, keinen Glauben, sondern ein alternatives gefühlsmäßiges ›Wissen‹ von der Welt zu formulieren, das mit den biologischen Wissensbeständen der Zeit korrespondiert. Offen bleibt damit allerdings die Frage, inwiefern eine lediglich gefühlsmäßig erfahrene ›Totalität des Lebens‹ intersubjektiv vermittelt und geltend gemacht werden kann. Um sich tatsächlich mitteilen zu können, müsste das intuitive Erleben verbalisiert und damit zunächst rational-begrifflich reflektiert werden. Die Übersetzung der emotionalen Erfahrung in das begriffliche System der Sprache stellt durch die Opposition von ›Empfindung‹ und 19 Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag. In: ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt u. Gregor Fritzi. Bd. 16. Frankfurt a. M. 1999, 198. 20 Karl JoÚl: Seele und Welt. Versuch einer organischen Auffassung. Jena 1912, 386.

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›Reflexion‹ aber gerade ein Problem dar. Entsprechend bezeichnet etwa Henri Bergson ›Intuition‹ und ›Begriffsbildung‹ als »Verhaltensweisen« mit einem »entgegengesetzten Sinn: dieselbe Anstrengung, vermöge deren Begriff mit Begriff verknüpft wird, läßt die Intuition, die sich in diesen Begriffen aufspeichern sollte, erlöschen.«21 Trotz dieser Widersprüche und Probleme ist das monistische Körper- und Lebenspathos für die Literatur der Jahrhundertwende zunächst attraktiv. Unter dem Eindruck bestimmter modernetypischer Dissoziationserfahrungen inszenieren viele literarische Texte der Jahrhundertwende den Körper als letztes verbliebenes Medium einer nicht-rationalen Erkenntnisweise, bei der eine ›Absolutheit des Lebens‹ unmittelbar erfahren werden kann. Anders als in der oben zitierten Formulierung Karl JoÚls, bei der durch den Plural »Wir fühlen« die jeweilige Subjektivität körperlich-emotionalen Erlebens und die Schwierigkeit der intersubjektiven Vermittlung kaschiert wird, gelingt es bestimmten Texten um 1900 jedoch, den Widerspruch zwischen subjektiv-emotionalem Erleben und gleichzeitigem Allgemeinheitsanspruch zu literarisieren. Hugo von Hofmannsthal verwendet für die Artikulation dieses Konflikts sogar eine eigene Textsorte – die vor allem in den Jahren 1900–1914 entstandene Sammlung Erfundene Gespräche und Briefe. In Texten wie dem bekannten Brief des Lord Chandos (1902), dem Gespräch über Gedichte (1904) oder dem Dialog Furcht (1907) wird die Erfahrung einer »überschwellenden Flut höheren Lebens«22 an die fiktive Situation des Sprechens und Schreibens gebunden und damit vor allem die Spannung zwischen intuitiver Evidenzerfahrung und reflexiver Begriffsbildung ästhetisch inszeniert. Neben diesem Vorführen eines Vermittlungsproblems unterwandern die Texte jedoch in den meisten Fällen auch die in ihnen vorkommenden monistischen Topoi, indem sie durch bestimmte Distanzierungsstrategien eine Spannung zwischen dem ›Text als Ganzem‹ und der jeweiligen Sprecherinstanz aufbauen, an die die Schilderung epiphanischer Totalitätserfahrungen gebunden wird. In der folgenden Untersuchung der 1907 entstandenen Briefe des Zurückgekehrten sollen nun die durch den Text aufgegriffenen körper- und lebensemphatischen Diskurse und die damit verbundenen kulturkritischen Implikationen freigelegt werden, um anschließend zu überlegen, inwiefern diese Weltdeutungsansprüche durch die Art der ästhetischen Vermittlung relativiert und als Gegenstände eines bloß subjektiven Glaubens markiert werden.

21 Bergson: Schöpferische Entwicklung (Anm. 17), 242f. 22 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. Erfundene Gespräche und Briefe. Sämtliche Werke (SW). Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Rudolf Hirsch u. a. Bd. 31. Hg. v. Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991, 50.

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2.

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Die Briefe des Zurückgekehrten: ›Leben‹ als innerweltliche Sinninstanz und kulturkritische Norm

Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten23 bieten zunächst ein für die Literatur um 1900 typisches Handlungsmuster, bei dem bestimmte gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Entwicklungen in der westlichen Zivilisation als ›Zerfall‹ interpretiert werden, schließlich aber im Rahmen einer ›epiphanischen‹, ›plötzlichen‹ Evidenzerfahrung24 die Reintegration des Subjekts in eine Totalität des ›Lebens‹ erfolgt. In insgesamt fünf Briefen bringt ein achtzehn Jahre durch die Welt gereister und gerade nach Deutschland zurückgekehrter Kaufmann sein Unbehagen an der zeitgenössischen deutsch-europäischen Kultur zum Ausdruck. Habe er in seiner Kindheit sowie während seiner Aufenthalte in Nord- und Südamerika, in Asien und insbesondere auf den Südseeinseln die Welt und das eigene Ich als eine zusammenhängende Einheit erfahren, so empfinde er nun »ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart, eine zerstreute Benommenheit, eine innere Unordnung, die nahe an Unzufriedenheit ist« (BdZ, 151). Bei den gegenwärtigen Deutschen, so schreibt der Zurückgekehrte, sei nichts, was sie thun und treiben aus einem Guß: ihre linke Hand weiß wahrhaftig nicht, was ihre rechte thut, ihre Kopfgedanken passen nicht zu ihren Gemüthsgedanken, ihre Amtsgedanken nicht zu ihren Wissenschaftsgedanken, ihre Fassaden nicht zu ihren Hintertreppen, ihre Geschäfte nicht zu ihrem Temperament, ihre Öffentlichkeit nicht zu ihrem Privatleben. (BdZ, 158)

In kaum übersehbarer Anspielung auf Hölderlins Hyperion25 nimmt der Zurückgekehrte die eigene Kultur als ein »durcheinander hingemischt[es]« (BdZ, 158) Gemenge anonymer Beziehungen war, als eine »Unruhe von Möglichkeiten« (BdZ, 159), bei der alles »Gemeinschaftsbildende« und »Ursprüngliche« 23 Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. In: SW 31 (Anm. 22), 151–174 (im Folgenden im Text mit der Sigle »BdZ« zitiert). 24 Vgl. hierzu: Theodore Ziolkowski: James Joyce’s Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), 594–616. Karl-Heinz Bohrer : Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Helmut Pfotenhauer : Hofmannsthal, die hypnagogen Bilder, die Visionen. Schnittstellen der Evidenzkonzepte um 1900. In: ders., Wolfgang Riedel u. Sabine Schneider (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005, 1–18. 25 Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. Bd. 1. München/Wien 1992. In der sogenannten Scheltrede über die Deutschen schreibt Hyperion bekanntlich: »ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?« (754f.)

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(BdZ, 161) fehle und auch der Einzelne aufgrund der unterschiedlichsten Rollenerwartungen nicht mehr wisse, »auf was hin [er] […] leben« (BdZ, 157) solle. Dass Hofmannsthals fiktiver Briefverfasser seine kritische Norm dabei aus einem monistisch-lebensemphatischen Welt- und Menschenbild bezieht, zeigt er etwa, wenn er die Handlungen seiner Landsleute als etwas »Unfrommes« bezeichnet: Etwas Unfrommes ist in dem ganzen Thun und Treiben – ich weiß kein anderes Wort. Bin ich vielleicht selber ein frommer Mensch? Nein. Aber es giebt auch eine Frömmigkeit des Lebens, und die steckt in einem harten, kargen, geizigen Bauern, und in einem ruchlosen Desperado von Pferdedieb noch kann sie stecken, und im letzten Matrosen steckt sie, und noch mit der letzten Ruchlosigkeit ist sie verträglich, und der Glaube an die Gin-Flasche kann noch eine Art von Glaube sein. (BdZ, 160f.)

Der christlichen, an einem transzendenten Gott orientierten Frömmigkeit wird hier zunächst eine Absage erteilt: Er sei kein »frommer«, also im christlichen Sinne gläubiger Mensch, so bekennt der Zurückgekehrte. Wenn er aber dann von einer »Frömmigkeit des Lebens« schreibt, so bietet er damit ein geradezu lehrbuchartiges Beispiel jenes Argumentationsmusters, das für den Monismus um 1900 so charakteristisch ist. Zwar will Hofmannsthals Briefverfasser nicht mehr an Gott glauben, gleichzeitig aber auch keinem Werterelativismus das Wort reden. Um trotz der eigenen Säkularisierungsbekundung dennoch eine verbindliche Norm in der Hand zu haben, die sich gegen das wilhelminische Deutschland in Anschlag bringen lässt, sakralisiert er daher das ›Leben‹ selbst zu einer höchsten Legitimität, an der sich das menschliche Handeln messen lässt. Dass der Lebensbegriff des Zurückgekehrten dabei eng mit den Semantiken des ›Eigentlichen‹, ›Natürlichen‹ und ›Authentischen‹ in Zusammenhang steht, wird deutlich, wenn er selbst einem »kargen, geizigen Bauern« oder einem »ruchlosen Desperado von Pferdedieb« eine »Frömmigkeit des Lebens« zubilligt, diese den »gebildeten Deutschen« jedoch abspricht. ›Frömmigkeit des Lebens‹ meint also ein Verhalten, das sich an keinem abstrakten Bildungs- oder Moralbegriff orientiert, sondern den unmittelbaren Bedürfnissen der eigenen ›Natur‹ entspricht, in der bestimmte Richtlinien ›moralischen‹ Handelns bereits angelegt sind. Ein solcher normativer Glaube an eine natürliche ›Wesenheit‹, die der Mensch ebenso wie andere Lebewesen besitzt, spricht auch aus den folgenden Ausführungen des Zurückgekehrten über die Kommunikationsweise seiner Landsleute: Und mit ihren Reden [den Reden der Deutschen] gehts mir wie mit ihren Gesichtern. Auch da ist etwas so Precäres, so etwas Unsicheres. Auch da ist mir immer, als könnten sie auch etwas anderes sagen, und als wäre es gleichgiltig, ob sie dies oder jenes gesagt hätten. Mir ist, als dächten sie immer an mehreres zugleich. Aber der eine große, nie ausgesprochene Hintergedanke, der allem, was aus eines Menschen Mund kommt, sein Mark giebt und seinen Klang, und eine Rede zur menschlichen Rede macht, so wie die Drossel ihren Laut hat und der Panther den seinen und in seinem Laut die ganze, in

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Worten nicht zu fassende Wesenheit seines Daseins – muß ich zurück nach Uruguay oder hinunter nach den Inseln der Südsee, um wieder von menschlichen Lippen diesen menschlichen Laut zu hören, der in ein schlichtes Abschiedswort, in eine Floskel der Gastlichkeit, in eine Frage, in ein hartes, abweisendes Wort manchmal das Ganze der menschlichen Natur zu legen vermag und mir sagt, daß ich nicht allein bin auf der weiten Erde? (BdZ, 159f.)

Das Problem, das Hofmannsthals Briefverfasser bei seiner Rückkehr nach Deutschland hat, nämlich in den verbalen und nonverbalen Kommunikationsakten seiner Landsleute nicht mehr deren ›Innerstes‹ ausgedrückt zu wissen, führt er auf deren ›Entfremdung‹ von der »menschlichen Natur« zurück. Ganz im Sinne Nietzsches stellt er den Menschen ›unter die Thiere‹ zurück, indem er dessen Kommunikationsmöglichkeiten mit denen einer »Drossel« oder eines »Panthers« vergleicht. Erwartet wird damit, dass der Mensch durch seine stimmlichen Kommunikationsakte – ebenso wie die »Drossel« und der »Panther« – eine artspezifische ›Wesenheit‹ zum Ausdruck bringt. Interessanterweise sind diese anthropologischen Vorstellungen des Zurückgekehrten hier an den um 1900 so weit verbreiteten ›Exotismus‹ und ›Südseetopos‹ gekoppelt: Während die Redeweise der von den Entwicklungen der modernen Zivilisation ergriffenen Landsleute als ›beliebig‹ und ›zufällig‹ erscheint, vermögen die in »Uruguay« oder auf »den Inseln der Südsee« lebenden Ureinwohner anscheinend noch in eine minimale verbale Äußerung »das Ganze der menschlichen Natur« zu legen. Der Natur wird somit die Funktion zuteil, Garant eines Ganzen und Ursprünglichen zu sein und somit als Bezugsinstanz für die kulturkritischen Affekte zu fungieren, die der Zurückgekehrte gegen das industrialisierte Deutschland der Jahrhundertwende hegt. Die gegenwärtigen Landsleute – so der Tenor seiner Briefe – werden ihrer natürlichen ›Bestimmung‹ nicht gerecht, weil sie nicht mehr aus instinktiven Regungen heraus handeln, sondern gesellschaftliche Rollenerwartungen erfüllen, durch die ihre ›Ursprünglichkeit‹ verloren geht: »Sie haben […] bürgerliche Verhältnisse und adelige Verhältnisse und Universitätskreise und Finanzkreise: aber was in dem allen fehlt, ist […] das Ursprüngliche […], das was im Herzen sitzt.« (BdZ, 161) Beziehen sich die ›Verfallsdiagnosen‹ des Briefverfassers in den ersten drei Briefen lediglich auf die Vorgänge in der äußeren Umwelt, so richtet sich das allgemeine Dissoziationserleben in den folgenden Briefen auch auf das eigene Selbst: »Krank werden fühlte ich mich von innen heraus«, so schreibt der Zurückgekehrte im vierten Brief, »aber es war nicht mein Körper, ich kenne meinen Körper zu gut. Es war die Krise eines inneren Übelbefindens« (BdZ, 165). Im Gegensatz zu dem früheren körperlich dominierten Ich- und Weltgefühl des Briefverfassers sind die nun erlebten Krisensymptome offenbar wesentlich abstrakterer Natur. Tatsächlich ließen sich die irritierenden Erfahrungen, von denen der Zurückgekehrte im vierten Brief berichtet, als der allmähliche Verlust

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einer physischen Unmittelbarkeit im Erleben der Außen- und Innenwelt beschreiben. An die Stelle eines somatisch dominierten Präsenzgefühls tritt eine Wahrnehmung, bei der die einzelnen Gegenstände nicht mehr in ihrer konkreten Physis erfahren werden, sondern als abstrakt-zeichenhafte Phänomene, die allenfalls auf eine dahinter vermutete Wirklichkeit verweisen: Zuweilen kam es des Morgens, in diesen deutschen Hotelzimmern, daß mir ein Krug und das Waschbecken – oder eine Ecke des Zimmers mit dem Tisch und dem Kleiderständer so nicht-wirklich vorkamen, trotz ihrer unbeschreiblichen Gewöhnlichkeit so ganz und gar nicht wirklich, gewissermaßen gespenstisch, und zugleich provisorisch, wartend, sozusagen vorläufig die Stelle des wirklichen Kruges, des wirklichen mit Wasser gefüllten Waschbeckens einnehmend. […] In den andern Ländern drüben, selbst in meinen elendsten Zeiten, war der Krug oder der Eimer mit dem mehr oder minder frischen Wasser des Morgens etwas Selbstverständliches und zugleich Lebendiges: ein Freund. Hier war er, kann man sagen: ein Gespenst. Es ging von seinem Anblick ein leichter unangenehmer Schwindel aus, aber kein körperlicher. (BdZ, 166)

Der Wirklichkeitsverlust, der hier beschrieben wird, korrespondiert mit einer Bewertung der modernen Alltagswelt als etwas ›Gespenstisches‹ und eben nicht mehr ›Lebendiges‹. Die einzelnen Gegenstände, die dem Zurückgekehrten bei seinem Aufenthalt in Deutschland begegnen, sind für ihn nicht mehr in jenen allumfassenden Organismus des ›Lebens‹ integriert und daher nur noch sinnentleerte Hüllen ohne eine tiefere Bedeutung. Eine solche ›Entlebendigung‹ der Außenwelt erfährt der Zurückgekehrte auch bei einigen Zugreisen durch Deutschland. Über die aus dem Zugfenster gesehene Außenwelt schreibt er : so nichtig lag es da – so gespensterhaft nichtig – mein Lieber, ich habe dritthalb Monate meines Lebens in einem Käfig verbracht, der keine andere Aussicht hatte als auf einen leeren Pferch mit mannshoch aufgespeichertem halbgetrockneten Büffelmist, zwischen dem eine kranke Büffelkuh sich herumschleppte, bis sie endlich nicht mehr herumgehen konnte und zwischen Leben und Sterben dalag: aber dennoch, in dem Pferch, in dem gelbgrauen Haufen von Mist und dem gelbgrauen sterbenden Vieh, wenn ich da hinaussah, und wenn ich daran zurückdenke – es wohnte doch immer noch das Leben dort, das gleiche, das in meiner Brust auch wohnt –, und in der Welt, in die ich da momentweise aus dem Eisenbahnfenster hineinschauen kann, da wohnt etwas – mich hat nie vor dem Tod gegraut, aber vor dem, was da wohnt, vor solchem Nichtleben grautûs mich. (BdZ, 167)

Während sich selbst in dem tierischen Todeskampf einer »Büffelkuh« noch jenes »Leben« zeigt, »das in meiner Brust auch wohnt«, kann die von Bahngleisen und »Fabrik[en]« gesäumte, moderne ›Industrielandschaft‹ nur mehr als »Nichtleben« wahrgenommen werden, als ›Künstliches‹, das sich nicht mehr als äußere Entsprechung der eigenen Innenwelt erfahren lässt. Durch den Verlust einer ›lebendigen‹ Umwelt, durch die der Zurückgekehrte bisher einen Teil seiner selbst erfahren zu können meinte, verliert er zunehmend auch das Verhältnis

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zum eigenen Ich. Dieses empfindet er allenfalls noch als ein dissoziiertes Konglomerat psychischer Vorgänge, die anstelle eines vitalen Ich-Gefühls aber lediglich einen diffusen inneren ›Schwindel‹ erzeugen: Durch tausend wirre gleichzeitige Gefühle und Halbgefühle schleifte sich mein Bewußtsein ekelnd und schwindelnd hin: ich glaube, ich habe in diesen Augenblicken alles noch einmal denken müssen, was ich seit meinem ersten Schritt in Europa gedacht, und dazu alles, was ich hinabgedrängt hatte. (BdZ, 167)

In dieser bis zu völligen Selbstauflösung gesteigerten Ich-Krise betritt Hofmannsthals Briefverfasser eine Galerie »in eine[r] stille[n] Seitenstraße« (BdZ, 168), wo er, wie sich später herausstellt, die Bilder des um 1900 noch weitgehend unbekannten Malers Vincent van Gogh zu sehen bekommt. In einem emphatischen Rezeptionsakt gelingt es ihm, den Zustand eines kolossalen Ich- und Weltverlusts zu überwinden und sowohl die »Seele dessen, der das gemacht hatte«, fühlen zu können, als auch wieder »Herr über mein Leben […], Herr über meine Kräfte« (BdZ, 170) zu sein.

3.

Sinnliche Überwältigung: Koloristische Malerei und optisches Erleben als Rehabilitation der ›Lebenstotalität‹

Dass es ausgerechnet die bildende Kunst und dazu noch die Arbeiten Vincent van Goghs sind, die Hofmannsthals Briefverfasser aus seiner existenziellen Krisensituation herausreißen, ist wohl kein Zufall. Wie besonders die medientheoretischen Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt haben, gewinnt die bildende Kunst um 1900 gegenüber dem bisherigen Leitmedium der Literatur massiv an Bedeutung.26 Dieser Wandel in der Medienhierarchie hängt meines Erachtens aufs Engste mit den monistischen Welt- und Menschenbildern der Jahrhundertwende zusammen. Das um 1900 weit verbreitete Unbehagen an einer »überreifen Begriffskultur«27 und die damit verbundene Hinwendung zur konkret-unmittelbaren Sphäre des Körpers korrespondiert mit der Suche nach einem künstlerischen Medium, das vor allem körperlich-sinnlich erfahrbar ist. Die bildende Kunst und insbesondere die farbintensive28 Malerei C¦zannes oder 26 Zum Verhältnis von Literatur und bildender Kunst um 1900 vgl. vor allem: Sabine Schneider : Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006. Zur Rolle der bildenden Kunst bei Hofmannsthal vgl. Ursula Renner : Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg i. Br. 2000. 27 Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag (Variante N 39). SW (Anm. 22). Bd. 33: Reden und Aufsätze 2. Hg. v. Konrad Heumann u. Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 2009, 517. 28 Zur kulturkritischen Funktion des Mediums ›Farbe‹ in den Diskursen um 1900 und insbesondere auch in Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten vgl. Antje Büssgen: Dissozia-

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van Goghs entspricht diesem Verlangen, während die Autoren um 1900 ihrem eigenen Medium – der Sprache – eine solche Intensität des unmittelbaren Ausdrucks bekanntermaßen nicht mehr zutrauen. Anstatt beim Lesen eines Romans erfährt Hofmannsthals Protagonist daher in einem ekstatischen Seherlebnis vor den Bildern van Goghs die Rehabilitation jener allumfassenden Einheit eines Welt- und Selbstgefühls, das er seit seiner Rückkehr nach Deutschland so schmerzlich vermisst hatte. Bei der in der Mitte des vierten Briefes ansetzenden Schilderung seiner Rezeptionserfahrung fallen – von der bisherigen Forschung kaum beachtet – die äußerst starken lebensphilosophischen Implikationen auf. Die farbintensive Gestaltung der Gegenstände in den Bildern van Goghs wird etwa mit den folgenden Worten beschrieben: Da ist ein unglaubliches, stärkstes Blau, das kommt immer wieder, ein Grün wie von geschmolzenen Smaragden, ein Gelb bis zum Orange. Aber was sind Farben, wofern nicht das innerste Leben der Gegenstände in ihnen hervorbricht! Und dieses innerste Leben war da, Baum und Stein und Mauer und Hohlweg gaben ihr Innerstes von sich, gleichsam entgegen warfen sie es mir, aber nicht die Wollust und Harmonie ihres schönen stummen Lebens, wie sie mir vorzeiten manchmal aus alten Bildern wie eine zauberische Atmosphäre entgegenfloß; nein, nur die Wucht ihres Daseins, das wütende, von Unglaublichkeit umstarrte Wunder ihres Daseins fiel meine Seele an. (BdZ, 169)

Hatte der Zurückgekehrte bei seinem bisherigen Aufenthalt in Deutschland die verstörende Erfahrung gemacht, dass die Dinge sich ihm nur als ›leblose‹ gespenstische ›Hüllen‹ zeigten, so erlebt er nun »das innerste Leben der Gegenstände«, das in den »Farben […] hervorbricht«. Nicht mehr in der direkten Begegnung mit der alltäglichen Außenwelt, sondern nur noch in deren künstlerischer Darstellung durch die bildende Kunst kann ›Leben‹ offenbar erfahren werden.29 In der kontrastreichen grellen Farbgebung van Goghs drückt sich zudem kein bloß harmonisiertes Bild, sondern eine dionysische »Wucht« des Lebens aus, von der sich der Zurückgekehrte direkt und intensiv ergriffen fühlt. Während die industriegesellschaftlichen Ausdifferenzierungs- und Funktionalisierungstendenzen zu einer ›Entlebendigung‹ der Dinge führen, leistet der tionserfahrung und Totalitätssehnsucht. ›Farbe‹ als Vokabel im »Diskurs des Eigentlichen« der klassischen Moderne. Zu Hugo von Hofmannsthals »Briefen des Zurückgekehrten« und Gottfried Benns »Der Garten von Arles«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), 520–555. 29 Eine solche lebensphilosophische Rezeption von van Goghs Bildern stellt um 1900 anscheinend keine Seltenheit dar. Auch Georg Simmel etwa schreibt über den holländischen Maler, dass man bei ihm »mehr wohl als bei allen anderen Malern empfindet […], daß hier ein leidenschaftlich und weit über die Grenzen der Malerei hinausschwingendes Leben […] den Kanal für sein Ausströmen gefunden hat […]. Es scheint mir vor allem dies glühende, in seiner Unmittelbarkeit fühlbare Leben zu sein […], was […] weite Kreise an van Gogh fesselt.« Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur (Anm. 19), 194f.

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moderne Maler – so der kulturpolitische Impetus der Briefe – eine schöpferische ›Neugeburt‹ der Welt und stellt damit einen Gegenpol zur ›entfremdeten‹ Existenz in der Moderne dar. Auch auf der Seite der Rezeption erfolgt eine solche Rehabilitierung des ›Lebens‹ offenbar, wofür nicht zuletzt die zahlreichen Geburtsmetaphern sprechen, mit denen Hofmannsthals Briefverfasser seine Seherfahrungen beschreibt: Wie kann ich es Dir nahebringen, daß hier jedes Wesen – e i n W e s e n jeder Baum, jeder Streif gelben oder grünlichen Feldes, jeder Zaun, jeder in den Steinhügel gerissene Hohlweg, ein Wesen der zinnerne Krug, die irdene Schüssel, der Tisch, der plumpe Sessel – sich mir wie neugeboren aus dem furchtbaren Chaos des Nichtlebens, aus dem Abgrund der Wesenlosigkeit entgegenhob, daß ich fühlte, nein, daß ich wußte, wie jedes dieser Dinge, dieser Geschöpfe aus einem fürchterlichen Zweifel an der Welt heraus geboren war und nun mit seinem Dasein einen gräßlichen Schlund, gähnendes Nichts, für immer verdeckte! (BdZ, 169f. Hervorhebung im Original)

Der sinnlich-physisch und eben nicht begrifflich-intellektuell dominierte Erkenntnischarakter, den der Zurückgekehrte der Rezeption von bildender Kunst zuschreibt, zeigt sich darin, dass hier ein Wissen aus dem Gefühl heraus entwickelt wird (»daß ich fühlte, nein, daß ich wußte«). In der Bewältigung und ›Überwindung‹ des »furchtbaren Chaos des Nichtlebens«, die der Briefverfasser während der Rezeption erfährt, glaubt er eine intuitive Gewissheit darüber zu erlangen, dass auch der Produzent dieser Bilder – also van Gogh – mit seiner Kunst auf einen »fürchterlichen Zweifel an der Welt« im Sinne einer schöpferischen ›Antwort‹ reagiert hat. Imaginiert wird also ein Kommunikationsakt zwischen Produzent und Rezipient: Die bildende Kunst stellt gleichsam eine spiegelbildliche Achse dar, auf der die Krisenbewältigungen des Produzenten wie auch des Rezipienten zusammenlaufen. Die Erneuerung von ›Leben‹ in der Begegnung mit dem Medium ›Farbe‹ bildet auch das Thema des fünften Briefes. Bezeichnenderweise koppelt Hofmannsthals Briefverfasser sein monistisches Welt- und Menschenbild dabei nun an die fernöstliche Religion. Die spirituelle Inkarnation des indischen Mystikers Rama Krishna wird hier als ein innerlich erneuerndes ›Farbenerlebnis‹ gedeutet: Es war nichts als dies: Er ging über Land, zwischen Feldern hin, ein Knabe von sechzehn Jahren, und hob den Blick gegen den Himmel und sah einen Zug weißer Reiher in großer Höhe quer über den Himmel gehen: und nichts als dies, nichts als das Weiß der lebendigen Flügelschlagenden unter dem blauen Himmel, nichts als diese zwei Farben gegeneinander, dies ewig Unnennbare, drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was verbunden war, und verband, was gelöst war, daß er zusammenfiel wie tot, und als er wieder aufstand, war er nicht mehr derselbe, der hingestürzt war. Es war ein englischer Geistlicher von der gewöhnlicheren Sorte, der mir davon erzählte. »Ein heftiger optischer Eindruck ohne allen höheren Inhalt«, sagte er mir. »Sie sehen, es handelt sich um ein anomales Nervensystem.« Ohne allen höheren

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Inhalt! Wäre ich einer eurer gebildeten Menschen, wären mir eure Wissenschaften, die nichts sein können als wunderbare, alles sagende Sprachen, nicht eine verschlossene Welt, wäre ich nicht ein geistiger Krüppel, besäße ich eine Sprache, in die innerliche wortlose Gewißheiten hinüberzufließen vermöchten! Aber so! (BdZ, 172)

Lediglich durch den Anblick der Farben Weiß und Blau und durch »nichts als dies«, wie der Zurückgekehrte wiederholt betont, erfährt Rama Krishna nach dieser Version seine Inkarnation. Es ist auch hier wieder keinesfalls von einer transzendenten ›zweiten‹ Wirklichkeit die Rede, die sich im Sinne einer Epiphanie offenbart, sondern lediglich von einem starken Farbenkontrast, der auf den »indischen Heiligen« erneuernd gewirkt haben soll. Dennoch protestiert Hofmannsthals Briefverfasser vehement gegen die Deutung des ›englischen Geistlichen‹, nach der das Erleben Rama Krishnas bloß ein »heftiger optischer Eindruck ohne allen höheren Inhalt« gewesen sei. Das monistische Weltbild des Zurückgekehrten drückt sich also abermals aus, indem die Immanenz der empirischen Welt selbst schon mit ›höheren Inhalten‹ gefüllt sein soll und es für das Erleben einer höchsten Evidenz allenfalls einer gesteigerten sinnlichen Empfänglichkeit, keinesfalls aber eines transzendenten Gottes bedarf. Neben der Erzählung von der Farben-Epiphanie des Rama Krishna berichtet der Zurückgekehrte noch von einem eigenen Erlebnis, das er »im Hafen von Buenos Aires« beim Anblick eines herannahenden Schiffes gehabt habe. Über den Farbeindruck, der sich aus dem Zusammenspiel des »kleinen mißfarbigen Schiff[es]« und der »wandelnde[n] Welle, die sich mit ihm herwälzte« (BdZ, 173) ergeben habe, schreibt er : Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum, in der ein Abgrund war und ein Dahinstürzen, ein Tod und ein Leben, ein Grausen und eine Wollust – warum wühlte sich hier vor meinen schauenden Augen, vor meiner entzückten Brust mein ganzes Leben mir entgegen […] und warum war […] dies heilige Genießen meiner selbst und zugleich der Welt, die sich mir auftat, […] an mein Schauen geknüpft? Warum, wenn nicht die Farben eine Sprache sind, in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergibt, eine Sprache, erhabener als die Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert. Mir ist Musik neben diesem wie das matte Leben des Mondes neben dem furchtbaren Leben der Sonne. (BdZ, 173)

Mit den Vokabeln »Leben«, »Grausen« und »Wollust« wird hier eine sinnliche Überwältigung des Subjekts gepriesen, die durchaus erotische – ›wollüstige‹ – Züge zu haben scheint. Das Ich erkennt nicht in der bewussten Reflexion, sondern in einer körperlichen Erfahrung die eigene Existenz und Identität (»mein ganzes Leben«) und eine Gesamtheit der ›Welt‹ überhaupt. Der Grund für dieses Evidenzerleben wird in der Ausdruckskraft des optischen Mediums gesucht: Die visuelle Präsenz der Farben macht »das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure« unmittelbar erlebbar und ist somit ein stärkerer Ausdruck des »furchtbaren

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Leben[s]« als die lediglich akustisch wahrnehmbare Musik. Die Aufwertung der Sinnlichkeit als Träger eines ›höheren Inhalts‹ geht also mit einer Aufwertung des optischen Wahrnehmungsinhalts als der unmittelbarste Form sinnlicher Erfahrung einher. Nicht in einer reflexiven ›Verinnerlichung‹, sondern direkt vor den »schauenden Augen« meint der Zurückgekehrte eine Totalität von Ich und Welt erleben zu können.

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»schien! schien! Ich wußte doch, daß es so war!« – Das monistische Evidenzerleben und seine ästhetische Problematisierung

Zunächst lesen sich Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten also durchaus als eine Programmschrift der körper- und lebensemphatischen Weltanschauung. Neben den entsprechenden Topoi, die der Text aufgreift und wirkungsvoll ästhetisch inszeniert, fallen jedoch auch einige formalästhetische Aspekte auf, von denen abschließend nun die Rede sein soll. Die auffälligste Formentscheidung, die Hofmannsthal bei den Briefen des Zurückgekehrten getroffen hat, betrifft die Sprech- bzw. Schreibsituation. Anstatt die monistischen Inhalte einem nullfokalisierten – ›allwissenden‹ – Erzähler in den Mund zu legen, lässt Hofmannsthal diese von einem fiktiven Briefverfasser aussprechen. Auffällig ist dabei, dass der fiktive Briefverfasser im Gegensatz zum Lord Chandos kaum Ähnlichkeiten mit dem empirischen Autor Hofmannsthal hat. Anders als der krisengeschüttelte Lord wendet sich der (anonym bleibende) Zurückgekehrte weder als ein (ehemals erfolgreicher) Dichter noch als ein Intellektueller an seinen Adressaten.30 Er habe, so erinnert er den Freund, im »Leben nicht viel Zeit [gehabt] […], abstracte oder theoretische Lebensweisheit anzusammeln«. »Von Theoretischem […]«, so bekundet 30 Über den ebenfalls anonym bleibenden Adressaten enthalten die Briefe relativ wenige Informationen. Immerhin erfährt man jedoch, dass er sich in England aufhält, wodurch das Kommunikationsmedium des Briefes erforderlich wird: »Hättest Du noch deinen überseeischen Posten und nicht London, wo ich nicht sein möchte – kann sein ich käme zu dir mein Lieber. Denn ich habe wenig Menschen auf der Welt, ›wenig‹ ist eine Beschönigung, ich habe niemanden.« (BdZ, 172) Aus einem Gefühl der Vereinzelung und Einsamkeit heraus wendet sich der Protagonist also an eine als letzten oder einzigen Freund vermutete Vertrauensperson. Der Freund wird dabei als ein Mensch mit einer relativ nüchternen Weltsicht charakterisiert: »Wüsste ich nicht, daß du ein Mensch bist, dem eigentlich nichts groß, nichts klein vorkommt und vor allem nichts ganz absurd, ich käme nicht weiter.« (BdZ, 166) Hofmannsthals Briefverfasser sieht in dem Adressaten also vor allem einen verständnisvollen Leser, der aufgrund seiner ›unaufgeregten‹ Art zwar tolerant, wohl aber eher weniger enthusiastisch zustimmend auf die berichteten Krisen- und späteren Einheitserlebnisse reagieren wird.

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er, »habe ich fast nichts in mir, so gut wie nichts« (BdZ, 152). Hinzu kommt die mehrfach erwähnte Herkunft des Zurückgekehrten, der, wie er schreibt, seine Kindheit »in Oberösterreich auf dem Lande« (BdZ, 154) verbracht habe. Die kulturkritischen Ansichten, mit denen die Briefe des Zurückgekehrten so reich bestückt sind, werden also bezeichnenderweise einem Sprecher mit einer besonders ländlichen und bildungsfernen Sozialisation in den Mund gelegt. Dass dies durchaus als ein Relativierungssignal gelesen werden kann, wird durch Hofmannsthals fiktiven Briefverfasser sogar selbst bestätigt, wenn er schreibt: Freilich – vielleicht irre ich – das sage ich mir immer –, vielleicht ist es mit diesen Dingen wie mit einem Vexierschloß: vielleicht muß man, um dieser vielgespaltenen Welt gerecht zu sein, eine innere Vorbereitung besitzen, eine Bildung. Und Bildung, im europäischen, im heutigen Sinne, habe ich nicht. (BdZ, 161)

Einschübe wie diese sind es, durch die sich Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten von zeitgenössischen kulturkritischen Programmschriften abheben, weil sie die Kulturkritik an die Perspektive eines mit einer bestimmten Biographie versehenen Charakters binden und damit offenlassen, ob ein Defizit der äußeren Welt oder aber ein Mangel an »innere[r] Vorbereitung« für ein bestimmtes krisenhaftes Erleben der Gegenwart ursächlich ist. Indem das Leiden an der »vielgespaltenen Welt« zudem die Motivation für die im weiteren Verlauf der Briefe geäußerten lebensemphatischen Implikationen bildet, werden diese in ihrer Funktion als Abwehr der dissoziativen, ausdifferenzierten Moderne transparent gemacht. Hofmannsthals Text präsentiert das monistische Welt- und Menschenbild damit nicht als ein wertfreies ›Wissen‹, sondern vielmehr als eine normative ›Entscheidung‹, die auf eine bestimmte kulturelle Problemlage reagiert. Dass die Hingabe an die eigene Sinnlichkeit als vermeintlich letztes Medium ›unmittelbarer‹ und ›authentischer‹ Erfahrung Hofmannsthals Briefverfasser jedoch keinesfalls in ein unhintergehbares, ›sicheres‹ Verhältnis zur Welt bringen, artikulieren die Briefe des Zurückgekehrten etwa im fünften Brief. Über die intensiven Farbeindrücke, die der Zurückgekehrte im Hafen von Buenos Aires erlebt hat, schreibt er : »warum schien mir (schien! schien! Ich wußte doch, daß es so war!) die Farbe dieser Dinge nicht nur die ganze Welt, sondern auch mein ganzes Leben zu enthalten?« (BdZ, 173) Trotz seiner Überzeugung, in der sinnlichen Begegnung mit den »Farben dieser Dinge« eine Ich und Welt umfassende ›Lebenstotalität‹ zu erfahren, muss sich Hofmannsthals Briefverfasser doch eingestehen, dass die optische Evidenzerfahrung subjektiv gebunden ist und damit eben auch eine Sinnestäuschung sein könnte. Obwohl es ihm also eigentlich um eine emphatische Seinserfahrung geht, spricht er gegenüber dem Adressaten seiner Briefe widerwillig von einem ›Schein‹: »schien! schien! Ich wußte doch, daß es so war!« Der Konflikt zwischen subjektiv-sinnlicher Evidenzerfahrung und intersub-

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jektiver Vermittlung findet sich auch schon im vierten Brief. Bei dem Versuch, dem Empfänger seiner Briefe das emphatische Seherleben vor den Bildern van Goghs mitzuteilen, bekennt der Zurückgekehrte: Mein Lieber, um dessentwillen, was ich da sagen will, und niemals sagen werde, habe ich Dir diesen ganzen Brief geschrieben! Wie aber könnte ich etwas so Unfaßliches in Worte bringen, etwas so Plötzliches, so Starkes, so Unzerlegbares! Ich könnte mir Photographien von den Bildern verschaffen und sie Dir schicken, aber was könnten sie Dir geben – was könnten Dir die Bilder selbst von dem Eindruck geben, den sie auf mich machten und der vermutlich etwas völlig Persönliches ist, ein Geheimnis zwischen meinem Schicksal, den Bildern und mir. (BdZ, 169)

Der Wunsch nach sprachlicher Vermittlung korrespondiert hier mit der gleichzeitigen Einsicht in die Unvermittelbarkeit sinnlicher Erfahrungen. Das Erleben einer monistischen ›Ganzheit‹ vor den Bildern van Goghs besteht gerade in seiner simultanen Sinnesfülle, in zeitlich zusammengedrängter ›Plötzlichkeit‹ und ganzheitlicher ›Unzerlegbarkeit‹, weshalb es in das sukzessive, begrifflich differenzierende Medium der Sprache nicht übersetzt werden kann. Bei dieser schon aus dem Chandos-Brief bekannten Sprachkritik bleiben die Briefe des Zurückgekehrten jedoch nicht stehen. Auch eine photographische Reproduktion von van Goghs Arbeiten und sogar die Bilder selbst können nach der Auffassung des Zurückgekehrten das erlebte Gefühl nicht transportieren. Die Erfahrung einer Rehabilitierung von ›Leben‹, die der Zurückgekehrte vor den Bildern van Goghs gemacht zu haben glaubte, ist also derart subjektiv gebunden, dass sie durch keine zweite Person nachvollzogen werden kann. Ob der leiblich-sinnliche Zugang zu einer umfassenden ›Lebenstotalität‹ also bloß eine ›fixe Idee‹ des Zurückgekehrten ist oder im Bereich möglicher Erfahrungen liegt, bleibt offen. Die Körper- und Lebensemphase wird durch den Text also als eine lediglich subjektive Glaubensentscheidung markiert, von der nicht klar ist, ob sie überhaupt auf höhere objektive Evidenzen zurückgreifen kann als andere Glaubensentscheidungen. Die ästhetische Qualität von Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten kommt jedoch gerade dadurch zustande, dass auch die Subjektivität nicht als eine befriedigende Norm oder Lösung präsentiert wird. Vielmehr inszenieren die Briefe ein offenbar auch noch in der Moderne vorhandenes metaphysisches Bedürfnis und ein Verlangen nach der Intersubjektivierung persönlicher Evidenzerfahrungen. Dieses Verlangen – so artikuliert es der Text – kann gleichwohl nie ganz befriedigt werden und schlägt sich somit in uneinlösbaren – durch den Text performativ ausgestellten –Verbalisierungswünschen nieder : Und nun konnte ich, von Bild zu Bild, ein Etwas fühlen, konnte das Untereinander, das Miteinander der Gebilde fühlen, wie ihr innerstes Leben in der Farbe vorbrach und wie die Farben eine um der andern willen lebten und wie eine, geheimnisvollmächtig, die

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andern alle trug, und konnte in dem allem ein Herz spüren, die Seele dessen, der das gemacht hatte, der mit dieser Vision sich selbst antwortete auf den Starrkrampf der fürchterlichsten Zweifel, konnte fühlen, konnte wissen, konnte durchblicken, konnte genießen, Abgründe und Gipfel, Außen und Innen, eins und alles im zehntausendsten Teil der Zeit als ich da die Worte hinschreibe […]. (BdZ, 170)

Der immer knapper werdende syntaktische Rhythmus, der sich schließlich auf atemlos aneinandergereihte, anaphorische Parataxen zusammendrängt (»konnte fühlen, konnte wissen, konnte durchblicken, konnte genießen«), signalisiert die Not des Schreibenden, der sich der ›Plötzlichkeit‹ seines Erlebens sprachlich annähern will, um am Ende doch zu bekennen, dass er seine Erfahrungen »im zehntausendsten Teil der Zeit« gemacht habe, »als ich da die Worte hinschreibe«. Neben der emphatischen Feier des Körpers, der Sinne und der ›Farben‹ reflektiert Hofmannsthals Text so auch die Kehrseite eines leib-monistischen Menschenbildes: Die Abwendung von der ›Ratio‹ und der programmatische Rückzug auf die sinnlich-emotionale Sphäre des Körpers lassen eben nur noch gefühlsmäßige subjektive Erfahrungen zu, in denen der Einzelne mit sich allein ist und über deren Inhalte er sich nicht mit anderen austauschen kann. Der ekstatische ›Körperrausch‹ schlägt so beim Versuch einer Versprachlichung des Erlebens immer wieder in Ernüchterung um: Farbe. Farbe. Mir ist das Wort jetzt armselig. Ich fürchte, ich habe mich Dir nicht erklärt, wie ich möchte. Und ich möchte nichts in mir stärken, was mich von den Menschen absonderte. Aber wahrhaftig, ich bin in keinem Augenblick mehr ein Mensch, als wenn ich mich mit hundertfacher Stärke leben fühle […]. (BdZ, 174)

Der Anspruch, durch ›Lebenssteigerung‹ zum ›eigentlichen Menschsein‹ durchzudringen, führt paradoxerweise in die Gefahr einer ›Absonderung‹ »von den Menschen«. Nicht ›All-Ein-Sein‹, sondern ›Allein-Sein‹ ist offenbar das Ergebnis jener Leibemphase, über die der Zurückgekehrte zu schreiben versucht. Der empirische Autor Hugo von Hofmannsthal hatte selbst eine wohl kaum bestreitbare Nähe zu einem normativ aufgeladenen Leibverständnis und einer lebensphilosophischen Weltanschauung. Bei öffentlichen kulturpolitischen Auftritten, die sich besonders in der Zeit nach der Jahrhundertwende häufen, verwendet er den Begriff des ›Lebens‹ mehrfach als eine kulturkritische Leitvokabel, die er gegen die gesellschaftlichen Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts in Anschlag bringt. In der 1906 gehaltenen Rede über den Dichter und diese Zeit etwa heißt es: »Diese Zeit ist bis zur Krankheit voll unrealisierter Möglichkeiten und zugleich ist sie starrend voll von Dingen, die nur um ihres Lebensgehaltes willen zu bestehen scheinen und die doch nicht

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Leben in sich tragen.«31 Obwohl also zu vermuten ist, dass Hofmannsthal in seiner generellen kulturpolitischen Haltung an die normative Schlagkraft des Lebensbegriffs geglaubt hat, trifft er in seinen fiktionalen Texten – wie etwa den Briefen des Zurückgekehrten – bestimmte Formentscheidungen, die doch ein wesentlich stärkeres Problembewusstsein gegenüber den eigenen Normen artikulieren, als es die essayistischen und programmatischen Schriften tun. Das körper- und lebensemphatische Verständnis von Mensch und Welt legt er hier immer wieder fiktiven Sprechern in den Mund, die mit eigenen Problemen und Konflikten beladen sind und die sich durch ihr Festhalten an der reinen Subjektivität leiblich-sinnlicher Erfahrung vielfach in einen Zustand kolossaler Vereinsamung hineinleben. Inwiefern sich Hofmannsthal über die relativierende Funktion solcher fiktiven Sprechsituationen immer bewusst gewesen ist, kann aufgrund der eingeschränkten hermeneutischen Wissenskompetenz nicht letztgültig entschieden werden. Mit Blick auf die äußerst gehäufte Präsenz relativierender Formaspekte gerade im mittleren Werk des Autors liegt es jedoch nahe, dass Hofmannsthal im semantisch vieldeutigeren Raum der literarischen Fiktion offenbar ein höheres Maß an Selbstdistanz zulassen konnte als bei seinen öffentlichen Auftritten. Gerade diese subtilen Distanzierungs- und Relativierungssignale sind es, die man bei einer wissens- bzw. ideengeschichtlichen und insbesondere bei einer modernisierungstheoretischen Lektüre von Hofmannsthals Werk im Auge haben sollte. Das Bild des lebensphilosophisch inspirierten Kulturkritikers, zu dessen Entstehung Hofmannsthal durch sein kulturpolitisches Engagement wohl einiges beigetragen hat, erfährt beim genauen Lesen seiner literarisch-fiktionalen Texte wenn schon nicht eine völlige Revision, so doch zumindest eine erhebliche Einschränkung.

31 Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit (Anm. 27), 129.

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Schwindsüchtige Erlöser, psychotische Pfaffen und der »Fall Barbin«. Oskar Panizzas ästhetischer Vandalismus im Deutschen Kaiserreich

»Panizza ist ein Terrorist; wer kein Deutscher werden will, sollte ihn lesen.«1 Mit diesen polemischen Worten charakterisiert Heiner Müller den Skandalautor der Wilhelminischen Epoche: Oskar Panizza und betont damit die Relevanz und die bis heute anhaltende Brisanz seiner Texte. Denn in einer »Gesellschaft ohne Hoffnung, deren Stabilität schon in ihren Gründerjahren gerade auf der Hoffnungslosigkeit beruht« – so Müller weiter –, rüttelt der als Arzt und Psychiater tätige Schriftsteller literarisch an den Grundfesten des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, an seiner institutionalisierten Gewalt und seinen paternalistischnational und religiös verbrämten Macht- und Ausgrenzungspraktiken. Panizza wird daraufhin selbst zur Zielscheibe des von ihm kritisierten Systems, als ein »Nestbeschmutzer, Gotteslästerer und Staatsfeind«2 diffamiert, verfolgt und schließlich inhaftiert. 1895 muss Panizza eine einjährige Gefängnisstrafe verbüßen. Grund hierfür ist sein 1894 veröffentlichtes Hauptwerk Das Liebeskonzil, eine satirische »Himmelstragödie«, in der katholische Glaubensvorstellungen im Kontext des Sittenverfalls unter dem Borgia-Papst Alexander VI. beispiellos verunglimpft werden. Panizza führt die Entstehung der »Lustseuche«3 auf eine gemeinsame Übereinkunft zwischen den Himmelsbewohnern und dem Teufel zurück. Im Anschluss an die in einem ›himmlischen‹ Konzil vereinbarten Bestrafungsmaßnahmen wird die Syphilis in Erscheinung einer jungen Frau auf die Erde gesendet, um vor allem die sündigen Kleriker zu strafen. Nach dem Koitus mit der fleischgewordenen Krankheit siechen die Frevler dahin, bis sie »fromm, frömmer, am frömmsten« wieder zurück zum Glauben finden und sterben.4 Der durch Das Liebeskonzil ausgelöste Literaturskandal führt zu einem juristischen

1 Heiner Müller: Panizza oder die Einheit Deutschlands. In: ders.: Rotwelsch. Berlin 1982, 128–130, hier 130. 2 Müller: Panizza oder die Einheit Deutschlands (Anm. 1), 129f. 3 Oskar Panizza: Das Liebeskonzil. Berlin 2013, 6. 4 Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 48.

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Prozess gegen seinen Autor, der inquisitorische Züge annimmt5 und den das Neue Münchener Tagblatt am 29. April 1895 entsprechend kommentiert: »Der bekannte Schriftsteller Panizza hat sich am 30. April vor dem hiesigen Schwurgericht wegen nicht weniger als 93 Verbrechen wider die Religion zu verantworten. Dr. Panizza konnte bis jetzt keinen Rechtsanwalt finden, der die Verteidigung übernehmen will.« Obwohl Otto Julius Bierbaum seinen Kollegen in weiser Vorausschau vor dem Ausgang des Prozesses warnt – »Sie müssen ausser Landes gehen, denn jetzt werden Sie eingesperrt«6 –, eröffnet der uneinsichtige Autor seine Verteidigung vor dem Münchener Landgericht mit den provokatorischen Worten Friedrich Nietzsches: »Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht!«7 Trotz der historisch fundierten und wohlüberlegten Rechtfertigung, die der Beschuldigte vorbringt, sowie des positiv ausgefallenen Sachverständigengutachtens wird Oskar Panizza der Blasphemie für schuldig befunden und arretiert. Die Medienresonanz auf den Prozess ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz enorm. Auch viele bekannte SchriftstellerInnen wie Theodor Fontane, Thomas Mann, Michael Georg Conrad, Irma von Troll-Borosty‚ni und Hermann Bahr melden sich in einschlägigen Zeitschriften und persönlichen Briefen zu Wort.8 Während Fontanes Bemerkungen gegenüber Maximilian Harden die gemäßigt-liberale, um Verständnis werbende Position repräsentieren – »Lesen Sie’s und wenn Sie können, schreiben Sie darüber ; es ist sehr schwer (polizeischwierig) aber sehr lohnend. […] Entweder müßte ihm ein Scheiterhaufen oder ein Denkmal errichtet werden. Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglaube auch seine Helden und Märtyrer hat«9 –, überbieten sich die konser5 So wetterte einer der Geschworenen während des Prozesses gar : »Wenn der Hund in Niederbayern verhandelt würde, der käm’ nicht lebendig vom Platz«. Zitiert nach: Kritische Stimmen über »Das Liebeskonzil«. Zürich: Verlags–Magazin (J. Schabelitz) 1895, 6. 6 Otto Julius Bierbaum in einem Brief an den Verfasser vom 17. November 1894. Zitiert nach: Kritische Stimmen über »Das Liebeskonzil« (Anm. 5), 2. 7 Zitiert nach: Oskar Panizza: Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil« vor dem königlichen Landgerichte München I. 30. April 1895. In: Knut Boeser u. Hubert Bäuerle (Hg.): Der Fall Oskar Panizza. Ein deutscher Dichter im Gefängnis. Eine Dokumentation. Berlin 1989, 51–67, hier 52. 8 Thomas Mann greift die Ereignisse in seiner im Zwanzigsten Jahrhundert veröffentlichten Polemik gegen die »voll und ganz Modernen des Landes« auf, ohne jedoch Das Liebeskonzil selbst zu kennen. Mann befürwortete 1895 die Verfolgung blasphemischer Literatur durch die Justiz. Über den Prozess gegen Panizza äußert er : »Kann man dann nicht auch vom künstlerischen Standpunkt aus mit der Verurtheilung einverstanden sein? Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bißchen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banausen?«. Thomas Mann: Das Liebeskonzil. In: Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), Hbd. 2, 522. Vgl. auch: Michael Bauer : Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt. München/Wien 1984, 18–23. 9 Brief von Theodor Fontane an Maximilian Harden vom 22. 07. 1895. In: Merkur 10 (1956), H. 11, 1094f.

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vativen Organe geradezu in ihrer Hetze: Panizzas »Gemälde« sei »nur mit Kot […] gemalt. Wenn solche Bücher konfisziert und verbrannt werden, ist es nicht schade darum«, urteilt die Würzburger Neue Bayerische Landeszeitung am 17. Januar 1895. Die Kölnische Volkszeitung lästert wenige Monate später : »Wenn die deutsche Litteratur auf solche Wege sich verirrt, ist es Zeit, dass ein Psychiater sie untersucht« (11. Mai 1895), und die Augsburger Post-Zeitung pathologisiert nicht nur den Autor, sondern zugleich auch seine Leser : Panizza gehört in eine Beobachtungsanstalt […]; man merkt noch zu sehr seinen früheren Beruf: er war Irrenarzt […]; er ist selbst infiziert […]. Der Mann liebt es über alles, sich einen recht vertrakten Standpunkt zu wählen, von dem aus die ganze Welt in monströser Verkürzung erscheint. […] Solche Schriftsteller finden nur Verleger, Leser – und Bewunderer in einer Epoche des Niederganges. […] Panizza ist mit seinem dämonischen Gotteshass und seinem wollüstigen Graben im Schmutz ein furchtbares Menetekel (7. Juni 1895).

Die auffällig hohe Strafe, für die »Dr. Panizza fast einen Menschen mit tödlichem Ausgange [hätte] verletzten können« (Fränkischer Kurier, 5. Mai 1895), verwundert somit kaum noch, auch wenn sich vereinzelt Stimmen dagegen erheben: »In hundert Jahren, wer weiss! wird vielleicht das ›Liebeskonzil‹ ganz unbeanstandet über die Bühne gehen, und mit lächelnder Miene wird man sich dann erzählen, dass der Autor […] im Gefängnis für seine Frevelthat gebüsst habe« (Berner Tagwacht, 1895, Nr. 40). Dass Panizzas Werk heute nur vereinzelt und marginal rezipiert wird, verwundert, wenn man die skandalträchtige Rezeptionsgeschichte – man denke allein an die Funktionalisierung seiner Erzählung Der operirte Jud’ und seiner Studie Der teutsche Michel und der römische Papst im Nationalsozialismus10 – sowie die Brisanz und Aktualität seiner grotesken Entwürfe betrachtet. Kaum eine Literaturgeschichte kennt seinen Namen, selbst umfangreiche Studien und Autorenlexika zur Literatur des 19. Jahrhunderts ignorieren ihn. Die wissenschaftliche Aufarbeitung seiner Schriften geht nur sehr zögerlich voran; dies liegt unter anderem daran, dass Urheberrechte für Neuauflagen jahrzehntelang nicht freigegeben wurden.11 Sogar die Zensur reicht bis in die Gegenwart. Der Verleger Jes Petersen, der 1962 ein Faksimile der Erstausgabe des Liebeskonzils neu herausgab, wurde daraufhin kriminalpolizeilich überprüft; die gedruckten Exemplare wurden zumindest zeitweise wegen Verbreitung pornographischen Inhaltes zensiert.12 Auch die von Werner Schroeter 1981 verfilmte Variante des 10 Oskar Panizza: Der operirte Jud’. In: Münchener Beobachter, 8. Januar 1927; ders: Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner. Berlin 1940. 11 Vgl. Bauer : Oskar Panizza (Anm. 8), darin: »Der Streit um das (literarische) Erbe des Entmündigten«, 28–37. 12 Vgl. u. a. das von Otmar Engel geführte Interview mit Petersen. Verleger Jes Petersen. In:

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Liebeskonzils wurde 1985 durch die Tiroler Landesregierung verboten. Der juristische Prozess ging bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bis heute darf der Film in Tirol nicht öffentlich gezeigt werden.13 Das Liebeskonzil ist ein Unikum, und das Ausmaß der schriftstellerischen Freizügigkeit wird jedem Leser bereits in den ersten Szenen mehr als deutlich: Gleich zu Beginn treten drei Engel in »gamaschenähnlichen Kniehosen« auf, die den wackelnden, »aus dem Leim« gegangenen Gottesthron im Thronsaal entstauben und hierbei die Herkunft der jüngsten himmlischen Putzkraft erörtern.14 Es handelt sich um ein kürzlich getötetes vierzehnjähriges Mädchen, das von der eigenen Mutter für 500 Mark an einen Schulrektor verhökert worden ist, der das zarte Wesen daraufhin beim Vergewaltigungsakt zu Tode drückte. Während sich die gefiederten Himmelsgenossen noch über die heuchlerisch inszenierten und vom Zuhälterinnengeld der Mutter bezahlten »Seelenmessen« amüsieren, zieht der adipöse, halbblinde, tattrige und inkontinente »Gott Vater« mit seinem Gefolge, bestehend aus geschlechtslosen Engeln, nonnenartigen Schwestern und gelangweilten Pflegekräften, in den Saal ein. Diese hieven den Tattergreis umständlich auf das Podest und in den Stuhl hinein, woraufhin sich der Allmächtige, gleichsam als seine erste Amtshandlung, lautstark erbricht.15 Jesus und Maria werden mit genauso wenig schmeichelhaften Eigenschaften versehen: Während sich Jesus Christus aufgrund seiner »schwindsüchtige[n] Stimme« und körperlichen »Schwäche«16 kaum noch artikulieren kann und als weinerliches Muttersöhnchen erscheint, wirkt Maria affektgeleitet und promisk: Im vierten Aufzug »verschlingt« sie die personifizierte Syphilis »mit ihren Blicken, geht dann in einer plötzlichen Wallung auf sie zu, und küßt sie«.17 Über solche expliziten Provokationen des Textes sowie über das Spektakel um den Strafprozess seines Verfassers wurde freilich – und zwar nicht nur vonseiten der zeitgenössischen Rezipienten, sondern bis heute – seine Doppelbödigkeit, oder besser : Vielschichtigkeit rundweg übersehen.18 Das skandalöse Werk bezieht

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Civis 11 (1963), 24f.; auch in: Andreas Hansen (Hg.): Jes Petersens wundersame Reise. Imperia 2005, 36–44. Vgl. das gerichtliche Urteil: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fall Otto Preminger-Institut gegen Österreich, 20. September 1994, Series A vol. 295-A. Online unter : hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001–57897 (11. 11. 2014). Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 7. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 7–12. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 18f. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 47. Im Hinblick auf die blasphemischen Provokationen des Liebeskonzils vgl.: Anja Schonlau: Warum der Teufel Medizin studiert hat. Antidogmatisches Lachen in Oskar Panizzas Dramensatire Das Liebeskonzil. In: Arnd Beise, Ariane Martin u. Udo Roth (Hg.): LachArten. Zur ästhetischen Repräsentation des Lachens vom späten 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2003, 165–185, und Günther Mahal: Liebe in Zeiten der Syphilis. Nachfragen an Oskar Panizzas Himmels-Tragödie Das Liebeskonzil. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Annä-

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sich nämlich selbst auf lauter Skandale.19 In der zweiten Szene des dritten Aufzugs wird ein Kanon skandalträchtiger historischer oder mythologischer Frauengestalten aufgerufen; dieses Bataillon starker, gebildeter, meuchelnder, blasphemischer und Intrigen spinnender Frauen setzt sich aus Helena von Sparta, der Hetäre Phryne, H¦loise, der Äbtissin von Le Paraclet, Agrippina der Jüngeren und aus Salome zusammen. Panizza schreibt sich auf diese Weise – was nicht zuletzt aus gendertheoretischer Perspektive aufschlussreich erscheint – selbst in die Genealogie historisch bedeutsamer weiblicher Querulanten ein. Die Diagnose vom ihm von der bisherigen Forschung leichtsinnig unterstellten »Frauenhaß«20 greift m. E. also zu kurz.21 Durch das Aufrufen bedeutender historischer Frauenfiguren wird nicht zuletzt die Vormachtstellung patriarchaler Geschichtsschreibung und entsprechender Wissensbestände kritisch hinterfragt, zumal ohnehin in Panizzas Erzählwerk jede Form von institutioneller Machtausübung verurteilt wird. Besonders auch der durch die staatlichen Organe willkürlich festgeschriebene Geschlechterunterschied wird verschiedentlich zum Thema seiner Schriften, wie beispielsweise in der Erzählung Ein criminelles Geschlecht, was für die damaligen Verhältnisse radikal fortschrittlich ist. So spricht gerade ein durch das System verrückt gemachter »Commissar« die ›Wahrheit‹ aus: Der Staat kann keine zweierlei Gesetze für Männer und Weiber machen. Mir ist überhaupt unerfindlich, wie man wegen eines winzigen Anhängsels solche generelle Unterschiede aufstellen kann, und die Menschheit in die Zwangsjacke von Unterrock und Hose einschnüren mag; […] das eine hat ein Anhängsel, das andere hat keins; und da macht man einen generalen Strich durch die Menschheit, und sagt: Ihr heißt Euch so, und müßt Euch so kleiden, und Ihr heißt Euch so, und müßt Euch anders kleiden.?! – Welche Willkür! – Da könnte man ebensogut die Nasen hernehmen; der eine hat ’ne Adlernase, der andre hat ’ne platte Nase. […] Oder die Ohrläppchen hernehmen, und die Menschheit nach den Ohrläppchen eintheilen, und ihr mit Rücksicht darauf Namen und Kleidermoden vorschreiben! – Männer oder Weiber?! – Nach dieser Seite ist mir das sonst recht rationelle Weltganze immer unverständlich geblieben […].22

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herungsversuche. Zur Geschichte und Ästhetik des Erotischen in der Literatur. Bern/ Stuttgart/Wien 2000, 239–277. Besten Dank an meinen Basler Kollegen Simon Morgenthaler für die Interpretationsanregungen sowie an Stefani Kugler für die hilfreichen Diskussionen. Patrice Neau: Antisemitismus und Antikatholizismus bei Oskar Panizza. In: Acta Germanica 24 (1996), 21–33, hier 30. Eine solche Ansicht vertreten: Neau: Antisemitismus und Antikatholizismus bei Oskar Panizza (Anm. 20), 30, Ulrike Kistner : Der wackelnde Thron, Gott, Kaiser und Vaterland bei Oskar Panizza. In: Acta Germanica 17 (1984), 99–114, hier 114, und Bauer : Oskar Panizza (Anm. 8), 165f. Oskar Panizza: Ein criminelles Geschlecht. In: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen. München 1981, 189–202, hier 192f. Interessanterweise verschränken sich in der direkten Rede des Kommissars geschlechtliche und rassenanthropologische Stigmata der

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Die als Femmes fatales diffamierten Frauen befinden sich im Liebeskonzil in der Hölle: Der Teufel ruft sie nacheinander auf und stellt ihnen verschiedene Fragen zu ihren Taten und Beweggründen, um die skrupelloseste unter ihnen zu finden – mit ihr möchte er die Syphilis zeugen. Panizza inszeniert den Auftritt somit als Verhör- und Interviewsituation, in der die intellektuellen Eigenschaften der Frauen genauso hervorgehoben werden wie ihr Verbrechertum. Zu H¦loise, die zu den gebildetsten Frauengestalten des 12. Jahrhunderts zählt, sagt der Teufel sarkastisch: »Kind, du bist ja schon für den Himmel reif! Halte dich parat, wenn die Posaune ertönt, kommst du zuerst dran!«23 und spielt damit auf die durch die Inquisition jahrhundertelang legitimierte heuchlerische Verfolgung gelehrter Frauen an. Perfiderweise nimmt die ebenfalls dargestellte Phryne-Legende Panizzas eigenes juristisches Schicksal vorweg. Auch Phryne wurde wegen Blasphemie und schamlosen Verhaltens im Lyzeum vor Gericht angeklagt.24 Ihre gewissenlosen Taten finden zwar große Anerkennung, doch reichen sie dem Teufel zur Zeugung der Syphilis nicht aus: [D]u hast Tausende von Männern in dein Garn gelockt, sie arm und elend gemacht, ihnen Geld und Gedanken geraubt, – hast Philosophen genarrt, – Richter bestochen, – Staatsgesetze umgestoßen, – Krieg angezettelt, – Reichtümer angehäuft, – hast dich als Göttin geriert, – dich anbeten lassen, – hast dein Vaterland verhöhnt, […] – hast dich nackt vor allem Volk gezeigt, – in Korinth die Tempel und Statuen bauen lassen, – hast fortgehurt, bis deine Haare weiß wurden – und wurdest schließlich in einem Tempel, in den du dich geflüchtet, wie ein unreines Tier erschlagen? […] Weil du schöner und besser warst, als alle andern.25

Ebenso wenig werden die anderen Frauen den Anforderungen gerecht. Nur Salome, deren »Qualitäten […] einzig« sind, übertrumpft alle, da sie für die Enthauptung Johannes’ des Täufers verantwortlich gemacht wird. Als die vom Teufel Erwählte wird sie die Krankheit gebären und unter die Menschen bringen, was auch »oben, bei Hof« mit »gnädigem Wohlwollen« betrachtet wird.26 Die ›teuflische‹ Wahl legitimiert damit im Nachhinein gleichsam die Verbrechen Salomes an einem »gerechten und heiligen Mann« (Mk 6, 20), hat doch der Allmächtige höchstpersönlich den Auftrag für die Produktion der Syphilis gegeben. Eine weitere Spitze gegen die Amoralität der Himmelsbewohner stellt

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Zeit (vgl. die rassistische Diskursivierung des Ohrläppchens um 1900), sodass die Kritik bereits ein intersektionales Problembewusstsein verrät. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 42. Vgl. zur historischen Person: Jörg Ulrich: Heloisa. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Traugott Bautz. Hamm 1975ff., Sp. 670–676. Vgl. hierzu: Craig Cooper: Hyperides and the Trail of Phryne. In: Phoenix 49 (1995), 303–318. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 41. Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 44.

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Marias Reaktion auf die Krankheit dar. Sie taxiert die neue »Fabrikation« begehrlich und erkundigt sich, ob die Mutter des »keusche[n] Entzücken[s]« oben anzutreffen sei, woraufhin der Teufel süffisant antwortet: »Nein, nein! – Solche Personen habt ihr nicht heroben.«27 Für Panizza verantworten insbesondere die in ihrem Ritus erstarrten institutionalisierten christlichen Kirchen die gesellschaftlichen Missstände. Die Menschen, die die Glaubenssätze internalisiert haben, stehen für ihn »mit einem fuß schon im irrenhaus«28, da Trieb und Sexualmoral nicht vereinbar sind; den Rest besorge die juristische Strafverfolgung. In den Zürcher Diskußionen, die Panizza im Eigenverlag nach seiner Haftstrafe und während seines Exil-Aufenthalts in der Schweiz herausgibt, äußert er 1898 über den »Gotteslästerungsparagrafen«: »Das Gouvernement sucht sich einen Paragrafen heraus, unter dem man den unangenehmen Menschen definitiv losbekommt. Ist zufällig die Totesstrafe nicht eingeführt, dann wendet man juristisch die Sache so, daß wenigstens 15 Jahre Zuchthaus herauskommen. Inzwischen wird er geisteskrank oder die Disziplin bringt ihn um.«29 In dem genannten Artikel – Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung – typisiert Panizza Jesus als »Paranoiker«, der die Massen mit »seine[m] Wahn ansteckte, und so der ›Geisteskrankheit‹ eine fast 2000jährige Dauer von ›Wahrheit‹ verschaft«30 habe. Literarisch verarbeitet ist dieser Zusammenhang in den Erzählungen Pastor Johannes und Der Corsetten-Fritz. Beide Protagonisten leiden unter Wahnvorstellungen. Fritz, der seine ganze Jugend über einen Kleider-, Korsett- und Spitzenfetisch unterdrückt, sublimiert seine fleischlichen Wünsche, indem er »keuchend wie ein Roß«31 für das Theologieexamen büffelt. Das »titelgebende Korsett« lässt sich sowohl »auf die dargestellten Dessous« als auch »auf den Protagonisten« beziehen, wie Claudia Lieb in ihrer Untersuchung erörtert; »es dient als Metapher für das Korsett der bürgerlichen Erziehung«, das alles Sinnliche einschnürt.32 Obwohl Fritz bereits im Kindesalter die bestimmte »Disposition [s]eines Kopfes« auffällt 27 Panizza: Das Liebeskonzil (Anm. 3), 47. 28 Vgl. Bernd Mattheus: Marginalien. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 379–390, hier 388. 29 Oskar Panizza: Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung. In: Zürcher Diskußionen 5 (1898), 1–8, hier 4. In diesem und den folgenden Zitaten wird die Orthographie Panizzas beibehalten und jeweils nicht gesondert hervorgehoben. Vgl. zu den Besonderheiten des phonetischen Schreibsystems: Rolf Düsterberg: Editorische Anmerkungen. III. Zum »fonetischen Schreibsistem«. In: Oskar Panizza: Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung. München 1994, 89–97, hier 93ff. 30 Panizza: Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung (Anm. 29), 7. 31 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 203–222, hier 219. 32 Vgl. Claudia Lieb: »Ein Geschlecht läuft neben uns her, seltsam gebildet, die Blicke dunkel und verzehrend«. Oskar Panizzas Hoffmann-Rezeption und die Münchner Neuromantik. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 19 (2011), 90–112, hier 101.

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und er in der Kirche jedes Mal durch einen »psychische[n] Anfall«33 überrascht wird, unterwirft er sich dem Moralkodex. Dass sich die Triebe eben nicht durch kirchliche Doktrinen kontrollieren lassen, zeigt sich am deutlichsten im Ausgang der Erzählung: Fritz phantasiert bei seiner Antrittspredigt den geheimen Fetisch herbei. Ein »orangegelbe[s]« Korsett schwebt durch die Kirche auf ihn zu und seine alten Schulkameraden tauchen vor seinem geistigen Auge auf, um ihn vor der Gemeinde als »Corsetten-Fritz«34 zu diffamieren. Daraufhin wird er vom Kirchendiener von der Kanzel geführt und in eine »Irren-Anstalt«35 verfrachtet. Dem aus »Seltsamhausen« stammenden Pastor Johannes, den während seiner Predigt ebenfalls Wahnvorstellungen heimsuchen, erscheint gar ein »greuliche[s] Thier«36, als die Kirchenbesucher allesamt einschlafen: Es war, als wenn es sich bei den Schläfern rekrutirte; als wenn es Glied um Glied aus deren geöffneten Mäulern sich ergänzte; als wenn das Thier das Produkt der Seelen der hier Schlafenden sei. Der Kopf war menschlich; ein altes, faltiges Weibergesicht; im übrigen gutmüthig; mit Kaffee-tassen-Lippen. Rings um die gepflegten Löckchen die Umrisse eine Mords-Haube wie aus durchsichtbarem Gahsstoff. […] Der Rumpf zeigte hinten wallroßähnliche, braun ausladende Glieder.37

Das nimmersatte, »Zuckerrüben« vertilgende »fränkische«38 ›Mütterchen‹ versinnbildlicht die Gemütsverfassung der Anwesenden. Es verkörpert auf groteske Weise die träge, dumm-dreiste Gesinnung der Dörfler, die die Kirchenlehren unhinterfragt in sich ›hineinfressen‹. Zusätzlich zu seiner radikalen Kritik an den Kirchen und ihren Dogmen verurteilt Panizza auch die frömmlerische und verklemmte Sexualmoral seiner Zeit; exemplarisch kann hier die Satire Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin genannt werden, die 1893 in der Textsammlung Visionen erschienen ist. Professor Süpfli, ein »Benedictiner-Pater« und »Ordinarius für Pastoral-Medizin«, gibt in einer Vorlesung die absurdesten Spekulationen über den Zusammenhang zwischen menschlicher Nacktheit und Todsünden zum Besten. Da die Rede stark dialektal gefärbt ist, werden sein Beamtenstatus und seine wissenschaftliche Disziplin lächerlich gemacht. Betrachtet man das Potpourri aus badischen und schweizerdeutschen Dialekten noch etwas genauer, so fällt außerdem auf, dass diese Darstellungsweise der moralischen Ausführungen des Mönchs nicht nur eine Spitze gegen die katholische Sexualethik bedeutet. Über das Schweizerdeutsche assoziiert der Leser zugleich die calvinistische Sittenlehre, die be33 34 35 36

Panizza: Der Corsetten-Fritz (Anm. 31), 203. Panizza: Der Corsetten-Fritz (Anm. 31), 221. Panizza: Der Corsetten-Fritz (Anm. 31), 222. Oskar Panizza: Pastor Johannes. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 329–336, hier 333. 37 Panizza: Pastor Johannes (Anm. 36), 334. 38 Panizza: Pastor Johannes (Anm. 36), 335.

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kanntermaßen um die Erbsünde kreist. So ist es kein Zufall, dass Süpfli immer wieder einen Zusammenhang von Nacktheit und Erbsünde herstellt: As die Sach’ heut’ schteht, müsseme uns gedulde, und miteme Dreck abfinde. Aber die aposchtolische Geburtshülfe muß doch conschtatire, daß mit jedem Kinde, das us Mutterlip usschlüpft, e Düfelsfratz uns entgegengrinzt, in wellem der göttliche Funke fascht erloschen isch, e haarlose Beschtie, e Gottrescht, dem zur ewigen Schande der wizengelbe Charakter der Nacktheit zugetheilt worde. […] D’Nackheit isch aber z’schame mit der G’schlechtsverthilung uf zwe Individue die Quelle aller Schande, aller libido, aller volubtasch, und ebbe dadurch die Quelle der immer schröcklicher uf uns chumene Erbsünde.39

Die groteske Darbietung findet ihren Höhepunkt in abschließenden Überlegungen zur Lösung des Problems. Um die Vermehrung der Erbsünde zu stoppen, solle die Nacktheit für immer verhüllt werden. Da man den Menschen die Kleider nicht auf den Leib kleben könne, so müsse man eben bekleidet geboren werden. Süpfli schließt seine Ausführungen mit einem historischen Zeugnis über ein frommes Ehepaar, das im Verona des 17. Jahrhunderts tatsächlich so ein Wunder zustande gebracht haben solle. Indem Panizza auf diese pseudohistorische Quelle rekurriert, gibt er auch die Geschichtswissenschaft der Lächerlichkeit preis; nachdem sechs Priester ohne Unterlass während der Wehen inbrünstig für das ›edle Ziel‹ gebetet hätten, sei es vollbracht gewesen: E Menschle, e Büeble isch usi chomma, inema Frack, in braune, runzliche Hösli, e Schilee het’s ang’het mit schöne, gliche, glanzige Knöpfli, Cylinder Manschette, und sehr zarte Stiefeli, die erscht an der Luft hart worda sind; g’lacht hat’s mit rothi Bäckli […] und isch mit sime feine Schpazierstöckli usi stapft ufem wiße Leintuch.40

In der Erzählung Das Verbrechen in Tavistock-Square nimmt Panizza die Sittsamkeit seiner Zeit ebenfalls aufs Korn. Dort beobachtet der junge Polizist Jonathan in einem Londoner Stadtpark einen vermeintlichen Blumen-Koitus, wofür er später in einer Irrenanstalt landet. Er berichtet die unerhörte »Scheußlichkeit« seinem Vorgesetzten Sir Edward Thomacksin, einem bekennenden »Swedenborgjaner«41, dessen Schüler er ist und dessen Ansichten er verehrt. Überambitioniert und durch die swedenborgjanischen Lehren verwirrt, sexualisiert Jonathan die gesamte Umwelt, wie aus seinem Bericht hervorgeht: Es waren Berührungen, Sir, – rief der Polizist und holte tief Athem, – wie sie vor Gott und der Welt nicht erlaubt sind, es waren Liebkosungen, Entblößungen, Entleerungen, es war ein Gekicher, ein Schleifen, ein Von-sich-Geben, ein Umranken, eine Art Küs39 Oskar Panizza: Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 325–328, hier 327. 40 Panizza: Ein Kapitel aus der Pastoral-Medizin (Anm. 39), 328. 41 Oskar Panizza: Das Verbrechen in Tavistock-Square. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 160–168, hier 161.

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sen« – »Sir, es war niemand da. Die Rosen und Magnolen waren unter sich. Auch waren die Geräusche und Berührungen nicht menschliche« – »Sir, – schrie und schluchzte der junge, fanatische Polizist, – die Rosen und Magnolen im Tavistock Parc trieben SelbstBefleckung, – es war veritable Pflanzen-Onanie!42

Panizzas literarisches Figurenarsenal setzt sich aus grotesken Einzelgängern und Außenseitern, hybriden Mischwesen, ethnischen Minderheiten und menschenähnlichen Tieren zusammen, die in den meisten Fällen dem Blick eines panoptischen Beobachters ausgesetzt werden oder selbst als ein solcher fungieren. In Der Stationsberg beobachtet der Ich-Erzähler beispielsweise heimlich die Karfreitagsprozession einer »unterfränkischen« Gemeinde aus einer kleinen Fensterluke heraus. Entrüstet stellt er fest, dass er »der einzige [wache] Mensch […] und der einzige Beobachter«43 dieser verzerrten und »seltsame[n] Komödie« eines »Miniatur-Theaters«44 sei, in der die betrunkenen, »in Gold und Seide« gekleideten Pfaffen zum Meucheln aufrufen: »Haut den Luthrischen die Köpf ’ ab!«45 Panizzas literarische Entwürfe verraten somit eine Menge darüber, wie hegemoniale Diskurse auf dem Körper exkludierter Minderheiten ausgetragen werden. Seine Erzählungen dekonstruieren sämtliche Instanzen der wilhelminischen Gesellschaft. Kirche, Beamtentum, Wissenschaft sowie die kapitalistische Wirtschaftsordnung erscheinen in den Texten als groteske Inszenierung, in der maschinell gelenkte Marionetten eines Staatsapparates, der sich verselbstständigt hat, ein Lügentheater aufführen. Den performativen Charakter der christlichen Religion, das »ganze Komödiantenwesen« ihrer Akteure und Mythen, stellt Panizza auch in der Erzählung Das Wachsfigurenkabinett aus.46 Auf dem Nürnberger Jahrmarkt wohnt der Protagonist einem mechanischen Puppenspiel über das »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« bei. In der »sehr primitiv gehaltenen Barake«47 fungiert ein sächselnder Budenbesitzer als »artistische[r] Arrangeur«48 oder, wenn man so will, als göttlicher Regisseur der Abendmahls- und Kreuzigungsszenen. Auch wenn die Puppen-Gesellschaft »aufs grellste beleuchtet« wird, trügt das Arrangement mehr, als es scheint. Die technischen Mängel sind nicht zu übersehen: Die Mechanik klemmt oder ist abgenutzt, der wächserne Jesus »schwitz[t] Fett, was nicht zur Heiligkeit bei-

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Panizza: Das Verbrechen in Tavistock-Square (Anm. 41), 167. Oskar Panizza: Der Stationsberg. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 36–50, hier 39. Panizza: Der Stationsberg (Anm. 43), 38 u. 39. Panizza: Der Stationsberg (Anm. 43), 50. Vgl. Oskar Panizza: Das Wachsfigurenkabinett. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 13–35, hier 27. 47 Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 13. 48 Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 18.

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trägt«.49 Die biblischen Protagonisten sind buchstäblich in ihrer überkommenen Symbolik stecken geblieben: »Christus streckt mit brünstiger Geberde die beiden langefalteten Hände über den Fisch aus; doch ist es offenbar, er kann zu keiner Verteilung der Speisen, oder zu einem Brechen der Brode schreiten, denn beide Hände sind vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt«. Das Wort Jesu findet auch kein Gehör mehr, weil »der Sprach-Mechanismus dieser Hauptfigur«50 defekt ist. Nichtsdestotrotz hat das Schauspiel eine »vehemente Wirkung«51 auf das durch die christlichen Dogmen konditionierte Publikum. Ausgelöst durch die Überidentifikation der Zuschauer mit dem Dargebotenen bricht am Ende der Aufführung eine tumultartige »Rauferei« los, bei der sich die Prügelnden als »Christus-Schinder«52 beschimpfen. Panizza gelingt es auf vielfältige Weise, die disziplinierenden Diskurspraktiken der wilhelminischen Gesellschaft zu entlarven. Das deutsche Kaiserreich erscheint in seinen Texten als panoptisch strukturiert: Das Subjekt wird kontrolliert, sein Körper und seine geistige Verfasstheit domestiziert, abweichendes Verhalten streng sanktioniert. Durch narrative Strategien wie beispielsweise die Inszenierung verschiedener Verhör- und Bespitzelungsszenen stellt Panizza nicht nur die perfiden staatlichen Kontrollorgane aus (jeweils repräsentiert durch Ärzte, Beamte und Kirchenmänner), sondern macht den Leser auch zum Mittäter – denn dieser wird durch die Lektüre selbst zum Voyeur der Bestrafungspraktiken. Die Ich-Erzähler, die sich in seinen literarischen Texten meist auf Wanderschaft befinden, stranden oft in namenlosen Dörfern, die namenlos bleiben, da sie als prototypische deutsche Räume fungieren. Diese Orte, ihre Einwohner und die (christlich) okkulten Figuren malen ein Sittengemälde der deutschen Charakterverfasstheit. Die narrativen Strategien Panizzas können mit Michel Foucaults Prinzip des universellen Panoptismus in Verbindung gebracht werden. Foucault beschreibt in seiner Studie Überwachen und Strafen den modernen Staat als Disziplinarmaschinerie, die sich selbstregulierend herstellt, die Körper der Subjekte absorbiert, organisiert und nutzbar macht. Urbild eines solch formierenden Räderwerks ist Jeremy Benthams 1791 entworfenes »Panopticon«, eine Skizze zum Bau von Gefängnissen. Im Untertitel der gleichnamigen Studie offenbart sich bereits der universelle Charakter des ›Verwahrungsdekrets‹: »[…] die Idee eines neuen Konstruktionsprinzips […], anwendbar auf jedwede Einrichtung in der Personen jeder Art unterzubringen oder zu kontrollieren sind; was im Besonderen gilt für Besserungsanstalten, Gefängnisse, Armenhäuser […], Fabriken […], Hospitäler […], Irrenhäuser 49 50 51 52

Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 15. Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 15. Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 16. Panizza: Das Wachsfigurenkabinett (Anm. 46), 34.

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und Schulen«.53 Die nach diesem Prinzip gebauten Anlagen ermöglichen einem Wärter die Beobachtung aller sich in den Zellen rund um den Überwachungsturm befindenden Sträflinge. Der Blick vom Zentrum aus ist absolut und allumfassend, der Gesehene selbst hingegen blind. Nach Foucault ist jede moderne Gesellschaft panoptisch strukturiert: Das panoptische Schema ist ein Verstärker für jeden beliebigen Machtapparat […]. Wann immer man es mit einer Vielfalt von Individuen zu tun hat, denen […] ein Verhalten aufzuzwingen ist, kann [es] Verwendung finden. Es handelt sich um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum […], der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen […]. Das panoptische Schema ist dazu bestimmt, sich im Gesellschaftskörper auszubreiten.54

Auch in Panizzas Werken erscheint der deutsche Staat im Foucault’schen Sinne als Überwachungsanstalt. Eine monströse Figur, die das groteske Hybrid-Gebilde der wilhelminischen Gesellschaft allegorisiert, findet sich in der Erzählung Die Kirche von Zinsblech. Hier schlägt ein verirrter Wanderer vor dem Altar in der menschenleeren Ortskirche des fiktiven Ortes Zinsblech sein Nachtlager auf. Der Reisende wird zu nächtlicher Stunde von den zum Leben erwachten Apostel-, Märtyrer- und Heiligenstatuen geweckt, die ein pervertiertes Abendmahl abhalten, wobei die Hostien den tatsächlichen Innereien einer weißen Christus-Figur entnommen werden und die fäkalen Ausscheidungen der besagten monströsen Gestalt als Messwein dienen. Panizza beschreibt das jiddelnd-preußische55 Zwitterwesen wie folgt: Dort stand ein analoger Mensch, – mehr ein mythologischer Zwitter als ein Mensch, – in einem schwarzen, protestantischen Predigertalar, vorn am Hals die viereckigen, weißen Tablettes oder Bäffchen, hinter denen ein schwarz behaarter Hals zum Vorschein kam; hinten am Gesäß theilte sich das Predigerkleid, und ein schwarzer, affenartiger Wickelschwanz rollte sich dort heraus […]. Unten guckten zwei hufartige Füße heraus, und oben, am Predigerhals saß ein Kopf, dessen wilder Haarwuchs verbunden mit einem gelben Kolorit, eingefurchten, denkfaltigen Zügen, und einer stumpfigen Nase einem deutschen Professoren-Gesicht an Häßlichkeit wenig nachgab. Eine goldene Brille complettirte diese aus Aerger, Bitterkeit und Ekel zusammengesetzte Physiognomie.56 53 Jeremy Bentham: Das Panoptikum oder Das Kontrollhaus. Hg. von Christian Welzbacher. Berlin 2013. 54 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, 264f., 266f. u. 278f. 55 Vgl. zum Jiddeln der Figur : Oskar Panizza: Die Kirche von Zinsblech. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 173–180, hier 179: »dazwischen rief eine mokante, kropfige Stimme […] mit einem eigenthümlichen, jüdelnden Jargon: ›Ja, ja! – Nähmet hin und ässet! – Ja, ja! – Nähmet hin und trinket!‹«. 56 Panizza: Die Kirche von Zinsblech (Anm. 55), 177.

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In diesem transkulturellen Mischwesen allegorisiert sich die wilhelminische Gesellschaft: Die ›Dreifaltigkeit‹ aus preußischem Beamtentum, christlicher Bigotterie und animalisch-raffendem Judentum57 bedroht das im totalitären Staat verwirrte und verirrte Subjekt. Die letalen Stellen am Körper des Kaiserreichs sind die gesellschaftsdisziplinierenden Größen: Staat, Religion und jüdisch konnotierter Kapitalismus. Der dargereichte ›fäkale‹ Messwein versinnbildlicht hierbei, dass der dem System unterworfene deutsche Bürger jeden Mist zu schlucken hat. Passenderweise wird der Reisende am Ende der Erzählung der mutwilligen Sachbeschädigung der Kirche bezichtigt und vom Landgericht Pinzgau zwecks Inhaftierung zur Fahndung ausgeschrieben. Ein weiteres und letztes Beispiel für die sich performativ herstellenden Ausgrenzungspraktiken des Nationalstaats verhandelt Panizza in seiner Erzählung Ein scandalöser Fall, die 1893 ebenfalls in der Textsammlung Visionen erschienen ist. Ihr liegt die historisch nachgewiesene Fallgeschichte des Hermaphroditen Ad¦lade Herculine Barbin zugrunde.58 Panizza verwendet in der literarischen Bearbeitung Barbins Rufnamen Alexina und den fiktiven 57 Zur problematischen Darstellung jüdischer Figuren bei Panizza vgl. Ariane Totzke: Der ›transnationale‹ Körper als Kampfplatz. Oskar Panizzas antisemitisches Panoptikum in »Der operirte Jud’«. Online unter : www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17983 (20. 12. 2014). Neau: Antisemitismus und Antikatholizismus bei Oskar Panizza (Anm. 20) sowie Anika Reichwald: »Frei von aller Jüdischkeit« – Der Versuch einer Sprachaneignung in Oskar Panizzas Der operirte Jud’ (1893). In: Andreas Kilcher u. Urs Lindner (Hg.): Zwischen Aneignung und Subversion. Sprache und Politik der Assimilation (ersch. 2015). Helmut Merkls Überlegungen zum Operirten Jud’ sind hingegen äußerst fragwürdig. Merkl ignoriert die antisemitische Stoßrichtung der Erzählung vollständig und reduziert die aus ›jüdischem Selbsthass‹ motivierte und gescheiterte Umwandlung des Protagonisten in einen deutschen ›Idealbürger‹ auf den »Ausweg aus der Gefangenschaft eines verunstalteten Körpers«, der sich letztlich ins »Tierische« verkehrt. Zusätzlich werden problematische Begriffe wie »Jude« und »Neger« unmarkiert verwendet. Vgl. Helmut Merkl: Von der Mission des Mitleids im Puppenland. Eine Studie zur Erzählkunst Oskar Panizzas. In: Michigan Germanic Studies 22 (1996), 22–40, hier 29f. u. 24. 58 Vgl. hierzu und im Folgenden: Herculine Barbin: Meine Erinnerungen. In: Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a. M. 1998, 19–126; zu den medizinhistorischen Quellen vgl. Dr. Chesnet: Question d’identit¦; vice de conformation des organes g¦nitaux externes; hypospadias; erreur sur le sexe. In: Annales d’hygiÀne publique et de m¦decine l¦gale 14 (1860), 206ff. [dt. Übersetzung von Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl: Die Frage der Identität; Mißbildung der äußeren Geschlechtsorgane; Hypospadie; Irrtum im Geschlecht. In: Foucault: Über Hermaphrodismus, 177–181]; Êtienne Goujon: Êtude d’un cas d’hermaphrodisme bisexuel imparfait chez l’homme. In: Journal de l’anatomie et de la physiologie de l’homme 6 (1869), 609–639 [dt. Übersetzung von Schäffner u. Vogl: Untersuchung eines Falles von unvollständigem bisexuellen Hermaphrodismus beim Manne. In: Foucault: Über Hermaphrodismus, 183–201]; Ambrose Tardieu: Question m¦dico–l¦gale de l’identit¦ dans ses rapports avec les vices de conformation des organes sexuels contenant les souvenirs et impressions d’un individu dont le sexe avait ¦t¦ m¦connu. Paris 1874; Franz Ludwig von Neugebauer: Hermaphrodismus beim Menschen. Leipzig 1908, »Beobachtung 1061«, 542f.

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Beinamen Besnard. Alexina, der 1838 in Saint-Jean-d’Ang¦ly geboren wird und als Lehrerin in einem Mädcheninternat arbeitet, geht eine Liebesaffäre mit seiner Kollegin Sarah ein. Geplagt von zunehmenden körperlichen Schmerzen offenbart er sich dem Bischof von La Rochelle in einer Beichte; es folgen eine gerichtsmedizinische Untersuchung sowie die ›juristische Geschlechtsumwandlung‹ in Abel Barbin. Der Fall wird nicht nur im Heimatort publik, ganz Paris ist darüber im Bilde. Alexina schreibt in seinen Lebenserinnerungen: Die kleine Stadt S… hallte von diesem sonderbaren Ereignis wider, das […] wie geschaffen war, Kritik und Verleumdung hervorzurufen. Wie immer dichtete man beträchtlich dazu. […] Bestimmte Pariser Zeitungen druckten [die Neuigkeit] sofort ab. Die vornehme Gesellschaft der Stadt war darüber in Aufregung. Ich war allgemeiner Gesprächsgegenstand in den Badeanstalten am Meer.59

Der öffentliche Zugriff auf den Körper Alexinas, die Vereinnahmung durch Medizin und juristische Dispositive, führen im Februar 1868 zu seinem Suizid. Foucault fasst die Schriftzeugnisse um den »Fall Barbin« 1978 in seiner Textsammlung Herculine Barbin, dite Alexina B. Les vies parallÀles zusammen, Panizzas Erzählung eingeschlossen. Judith Butler rekurriert, wie auch Thomas Laqueur, ebenfalls auf die Fallgeschichte.60 Deswegen ist es umso erstaunlicher, dass die literaturwissenschaftliche Forschung Ein scandalöser Fall bisher völlig vernachlässigt hat.61 Panizza konstruiert das literarische Geschehen anhand der ihm bekannten Anamnese von Ad¦lade Herculine Barbin.62 Schauplatz ist ein Mädchenkloster in der Normandie, das von »Monsieur l’Abb¦ de Rochechouard«63 geführt wird. Das Haus Rochechouart ist neben der Königsfamilie das älteste Adelsgeschlecht Frankreichs.64 Mit dem Namen des Abts assoziiert man die Mätresse Ludwigs XIV., die berühmte Marquise de Montespan, deren Geburtsname de Rochechouart de Mortemart ist. Montespan spielt in der sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am französischen Hof ereignenden Giftaffäre eine prominente Rolle. Sie soll satanischen Zirkeln angehört, durch okkulte Praktiken sowie schwarze Messen ihre Nebenbuhlerin Louise de La ValliÀre verdrängt und den König über Jahre vergiftet haben.65 Auch die »all59 Barbin: Meine Erinnerungen (Anm. 58), 103f. 60 Vgl. Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, 46ff., 142f., und Thomas Laqueur : Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. München 1996, 158 u. Anm. 41. 61 Kurze Erwähnung findet die Erzählung lediglich bei: Bauer : Oskar Panizza (Anm. 8), 101–105, und Merkl: Von der Mission des Mitleids im Puppenland (Anm. 57), 26–28. 62 Die Genus-Formen, die im Folgenden bei Nennung Alexinas verwendet werden, entsprechen jeweils denjenigen, die Panizza gebraucht hat. 63 Oskar Panizza: Ein scandalöser Fall. In: Panizza: Der Korsettenfritz (Anm. 22), 230–264, hier 231. 64 Vgl. Louis Victor L¦on de Rochechouart: Histoire de la Maison de Rochechouart. Paris 1859. 65 Vgl. Frances Mossiker : The Affair of the Poisons: Louis XIV, Madame de Montespan, and one

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gemein nur la Maitresse«66 (frz. für ›Lehrerin‹; im Deutschen Bedeutungsverschiebung zu ›Mätresse‹) gerufene literarische Alexina wird mit satanischen Riten in Verbindung gebracht und aufgrund ihrer körperlichen Andersartigkeit (sie hat »Haare an den Beinen wie der Teufel«67) sowie der sexuellen Beziehung mit ihrer Kollegin Henriette als »Incubus«68 diffamiert und gefürchtet. Eine Ergänzung findet diese interpersonelle Verbindung zwischen der Giftmischerin und dem Hermaphroditen durch Panizzas entworfenes Dekor aus abergläubischen Ängsten und Denunziantentum. Denn Alexina wird nicht etwa von den Erziehungspersonen oder der Anstaltsleitung angeklagt; es sind vielmehr ihre Mitschülerinnen, die als faschistoide Masse auftreten und sie der Unzucht bezichtigen. Ihre ›schändlichen‹ Taten werden hierbei auf das Genauste panoptisch erfasst und an den Abt verpetzt. Der Bericht führt durch die ständigen Wiederholungen der visuellen Überwachung durch die Zimmergenossinnen – das Verb ›sehen‹ begegnet in diesem kurzen Abschnitt gleich viermal! – die Zwangsstruktur institutionalisierter Erziehung vor : Man habe Henriette […] mit Alexina, ihrer intimen Freundin, heute Morgen beim Aufstehen, im Schlafsaal der älteren Mädchen, Hände und Körper verschlungen, in einem Bett […] schlafend gefunden; Henriette’s Bett […] sei leer gewesen; eines der älteren Mädchen, welches zufällig und wegen eines bestimmten Bedürfnisses etwas vor der Zeit aufgestanden, habe die Beiden liegen sehen; […] nun habe sie andere Mädchen geweckt; die seien herbeigekommen, hätten mit Staunen dasselbe gesehen; durch das Geräusch und Kichern seien andere aufgewacht; schließlich sei der halbe Schlafsaal um die beiden Schläfer versammelt gewesen; nun habe man ihnen die Bettdecke weggezogen; habe Gräßliches gesehen; Alexina und Henriette seien erwacht und kreischend auseinander gefahren. […] Ein einzelnes, schon zu den älteren gehöriges Mädchen deponirt: sie habe Mademoiselle Alexina gesehen, wie sie Henriette unter die Röcke gelangt habe. […] sie glaube überhaupt nicht, daß Alexina ein Mädchen sei, sie sei viel zu gescheidt, und wisse fast Alles; sie sei auch gar nicht sanft […], sondern wild und hart; sie glaube, Alexina sei ein böser Geist in Mädchengestalt, der eines Tages unter Gestank und Gepolter plötzlich verschwinden werde.69

Nach Foucault ist auch die Schule ein »pausenlos funktionierende[r] Prüfungsapparat«, ein »geschlossene[r], parzellierte[r], lückenlos überwachte[r] Raum«, in dem »die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden« und »innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze

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of History’s great Unsolved Mysteries. New York 1969; FranÅois Gayot de Pitaval: Unerhörte Kriminalfälle. Eine Sammlung berühmter und merkwürdiger Kriminalfälle. Nach der 1792–1794 von Friedrich Schiller hrsg. Auswahl und Übersetzung. Paderborn 2005. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 257. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 245. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 257. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 239f. u. 245f.

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eingespannt sind«.70 Anomalien werden beseitigt, wenn sie die vorgegebene Ordnung gefährden – ein historisches Muster kollektiver Verfolgung, wie auch Ren¦ Girard in seiner Studie Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks71 aufzeigt. Dass der denunzierende Mädchenschwarm stellvertretend für den Voyeurismus der Mehrheitsgesellschaft steht, verdeutlichen die entpersonalisierten Geräusche, die der Abt wahrnimmt, wenn sich die Gruppe seinem Büro nähert. Durch die geschlossene Tür des Amtszimmers dringt ein »[S]ummen«, »[B]rodeln« und »Klirren«, ein »Wetzen von Röcken und Schürzen«, ein »Drücken, Gilfen, Kichern und Pst!Rufen«72 als amorphes ›Begleit-Gegurgel‹ aus dem Off. Die Ausspäh- und Bespitzelungslust der Klosterschülerinnen wird auch noch in einer anderen Szene greifbar, in der Madame la Sup¦rieure, »das weibliche Oberhaupt des Instituts«, und »Monsieur l’Abb¦«73 die Vorkommnisse um Henriette und Alexina diskutieren. Der Abt fragt, »[o]b es gewöhnlich sei, daß Mädchen sich gegenseitig unter die Röcke langten?« und Madame la Sup¦rieure antwortet: Langen, gewiß nicht, aber schauen! […] Die Mädchen seien neugierig, was ihre Kameradinnen trügen, ob sie nachlässig in der Wäsche seien; sie liebten es, sich gegenseitig auszurichten; entdecke die C¦cile z. B. bei der Claire ein defectes Unterkleid, einen nicht gestopften Strumpf, so erzähle sie bei ihren Freundinnen, C¦cile trage zerrissene Unterröcke, durchlöcherte Strümpfe. Erfährt dies wieder Claire, so erzählt sie ihrerseits herum, C¦cile schaue Allen unter die Röcke.74

Der Kulminationspunkt der perfiden Ausforschung durch die exkludierende Dominanzgesellschaft ist mit der Untersuchung Alexinas durch den Arzt »Adolphe Duval«75 erreicht. Panizza demonstriert hier auf geschickte Weise, wie Barbin zum Vehikel vereinnahmender medizinischer Dispositive wird. Die Organisation ärztlicher Praxis ist nach Foucault – ebenso so wie jede andere Beobachtungsstrategie – eine Disziplinierungsmaßnahme: Durch den Blick des Arztes, der in diagnostizierender und reglementierender Form Zugriff auf die Subjekte nimmt, werden die Körper der Patienten zu vermessbaren und transparenten Größen.76 Der historische Alexina kommentiert den gewaltsamen ärztlichen Zugriff auf seinen Körper in den Lebenserinnerungen folgendermaßen: 70 Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 54), 240 u. 253. 71 Vgl. Ren¦ Girard: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt a. M. 1992. 72 Vgl. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 238f. u. 244. 73 Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 231. 74 Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 250. 75 Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 263. 76 Vgl. zum Spital als »Prüfungsapparat«: Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 54), 238–250.

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[E]inige Ärzte [machen] ein wenig Lärm um meine sterbliche Hülle […]; sie werden all ihre erlahmten Triebfedern zerlegen, neue Erkenntnisse daraus ziehen und all die geheimnisvollen, auf einem einzigen Wesen angehäuften Leiden analysieren. Ihr Fürsten der Wissenschaft, gewitzte Chemiker, von deren Namen die Welt widerhallt, analysiert doch, wenn ihr könnt, alle Schmerzen, die dieses Herz verbrannt, es bis in seine letzten Fasern zerfleischt haben. […] dann werdet ihr das Geheimnis gefunden haben, das der Grabstein unerbittlich hütet!77

In Bezug auf die Figur Duval lässt sich zudem ein intertextueller Verweiszusammenhang rekonstruieren: Dr. Jacques Duval, ein in der Stadt Rouen im frühen 17. Jahrhundert praktizierender Arzt, verhinderte die Hinrichtung des Hermaphroditen Marie/Marin le Marcis, der wegen Sodomie mit einer Dienerin angeklagt wurde. Der gerichtliche Prozess ereignete sich in der Zeit vom 7. Januar bis zum 7. Juni 1601. Duval selbst fasst die Ereignisse in seiner Schrift Des hermaphrodits, accouchements des femmes, et traitement qui est requis pour les relever en sant¦ et bien ¦lever leurs enfants78 zusammen. Genau auf diese Fallgeschichte verweisen ebenfalls Foucault und Laqueur,79 denn Duval fordert interessanterweise bereits einen wissenschaftlichen Diskurs über die Sexualität und die anatomische Anordnung der Geschlechtsorgane ein. Seine Abhandlung ist ein früher medizinischer Text, der den menschlichen Körper im Hinblick auf die »sexuelle Organisation« nicht mehr verallgemeinernd, sondern in seinen »klinischen Details«80 untersucht und erörtert. Offenbar bildet sich hier schon eine »Theorie der ärztlichen Rede über die Sexualität«81 heraus, wie Foucault erörtert. In Panizzas Erzählung begegnet der gleichnamige Arzt nun in ähnlicher Funktion; allerdings verkehrt sich die penible ›Verwissenschaftlichung‹ der Geschlechtsorgane ins Monströse. Duvals medizinisches Gutachten über den »körperlichen Befund«82 Alexinas zeichnet peinlich genau jeden Zentimeter Haut äußerlich und innerlich nach; im nüchternen Dokumentarstil werden die Befunde narrativ in Szene gesetzt. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie Panizza die Untersuchung selbst schildert: Der Leser erhält nicht direkt Zugang zu der Szene, sondern nur vermittelt über die Reflektorfigur Madame la Sup¦rieure, die vor der »halb oder dreiviertel«83 geschlossenen Tür des Untersuchungszimmers sitzt, die Vorgänge belauscht und allenfalls Wortfetzen und unangenehme Ge77 Barbin: Meine Erinnerungen (Anm. 58), 115f. 78 Rouen 1612. Neuaufgelegt als: ders.: Trait¦ des hermaphrodits, parties g¦nitales, accouchements des femmes. Paris 1880. 79 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am CollÀge de France (1974–1975). Frankfurt a. M. 2003, Vorlesung vom 22. Januar 1975, 95ff. und Laqueur: Auf den Leib geschrieben (Anm. 60), 158ff. 80 Vgl. Foucault: Die Anormalen (Anm. 79), 97. 81 Foucault: Die Anormalen (Anm. 79), 97. 82 Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 263. 83 Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 259.

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räusche vernimmt. Dadurch erhält die gewaltsame Behandlung des Arztes gerade etwas ungeheuerlich Beklemmendes, wie die folgende Passage zeigt: Das Licht wird gerückt, so daß die Helle jetzt ganz aus der Türspalte verschwindet; eine Aufforderung; dann ziehen und schleifen von ausgezogenen Gewändern; Pause, neue Aufforderung; […] wiederholte Aufforderung in festerem Ton! ein Seufzen; dann wieder Ausziehen und Rutschgeräusche; […] dann noch ein Rutschgeräusch; und jetzt ein weiches, schilfriges Gleiten; wie Epidermis auf Epidermis; und begleitet von zustimmenden Ah, c’est cela; c’est cela, oui des Arztes. Längere Pause. Dann wieder ein Commando; man hört die knerzenden Bewegungen eines Bettgestells und das knistrige Hingleiten auf eine Matratze; ein ruhiges Commando; ein stärkeres Commando; dringende, unwillige Aufforderung; seufzendes Wimmern von der andern Seite; Ah, vous me faites mal, Monsieur [Ach, sie tun mir weh], rief auf einmal Alexina laut wie explosiv ; dumpfe Entgegnung des Arztes, dessen unterbrochenes Athmen auf schwieriges, intensives Arbeiten hinwies.84

Auffällig ist hier überdies der wiederholte Gebrauch der Wörter »Aufforderung« (viermal) sowie »Commando« (dreimal), wodurch die Zwangslage Alexinas zusätzlich betont wird. Und auch diese Szene enttarnt wiederum den Voyeurismus einer Protagonistin sowie ebenso den des Lesers, der die Vorkommnisse durch ihre Ohren mithört: Madame la Sup¦rieures zunächst fadenscheinig verdeckter Bespitzelungsdrang bricht sich während des Vorgangs mehr und mehr Bahn; denn während sie anfangs noch so tut, als würde sie nicht zuhören wollen (sie ist bemüht, sich und die Geräusche durch »laute[s] Buchumblättern« »zu betäuben«)85, starrt sie schließlich »die Thürspalte« an und lauscht hemmungslos, gar »athemlos«.86 Panizza vermag auf diese Weise ein bedrückendes Ameublement aus Schändung, Missbrauch und Perversion zu installieren, was nicht zuletzt als radikale Kritik am wilhelminischen Staatssystem zu deuten ist.87 Dass auch der Name »Duval« bereits etymologische Assoziationen weckt – man denke an den Sprachwandel des lateinischen Wortes ›diabolus‹ (ahd. ›tiuval‹/ 84 85 86 87

Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 259f. Vgl. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 259. Panizza: Ein scandalöser Fall (Anm. 63), 260. Merkls Auslegung der Untersuchungsszene ist m. E. äußerst problematisch, da sie die narrativen Strategien des Textes unbeleuchtet lässt. Vgl. Merkl: Von der Mission des Mitleids im Puppenland (Anm. 57), 27: »Die Erzählung kulminiert in einer ärztlichen Untersuchung […]. Nach zahllosen lasziven Anspielungen, die die Geschichte stellenweise pornographischer Prosa immerhin annähern, zieht Panizza bei der Beschreibung des medizinischen Untersuchungsvorgangs das ganze Register schlüpfrig-geiler Andeutung. […] Mit kaum zu überbietender Perfidie leitet Panizza die Phantasie des Lesers in die Irre. Die wissenschaftliche Prüfung von Alexinas Körperzustand mündet, wie zur Verhöhnung der Lesererwartung […], in einen medizinischen Bericht«. Dieser Einschätzung muss ich widersprechen; der Text provoziert sicher keine ›Aufgeilung‹ des Lesers. Die von Panizza so radikal hervorgebrachte Kritik an dem Missbrauch staatlicher Medizin wird hier rundweg übersehen.

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›diuval‹, md. ›d˜vel‹)88 –, zeigt zusätzlich, wer in Ein scandalöser Fall der ›wahre‹ Teufel, die eigentliche Monstrosität ist. Panizza klagt in seinen literarischen Texten die disziplinierenden Instanzen des Kaiserreichs umfassend an: Geschlechtlich und ethnisch bedingte Diskreditierungen werden ebenso angefochten wie religiös motivierte und medizinisch-juristische Reglementierungen, sodass man Panizza sogar als Vordenker einer intersektionalen Diskriminierungskritik bezeichnen könnte – sicherlich unter gewissen Vorbehalten, da seine Darstellungen jüdischer Figuren trotz allem nicht unproblematisch sind, wie an anderer Stelle bereits erläutert wurde.89 Die Modernität seines Werks erkennt schon Kurt Tucholsky, wenn er den Autor in seinem 1920 in der Freiheit erschienen Essay Oskar Panizza als »de[n] geistvollste[n] und revolutionärste[n] Prophet[en] seines Landes« bezeichnet. Am bemerkenswertesten erscheint mir aber, dass Panizza auch mit seiner Psichopatia criminalis bereits 1898 zentrale Diagnosen der Antipsychiatriebewegung der 1970er-Jahre vorwegnimmt: und zwar den Missbrauch gerichtlicher Praktiken ebenso wie die absurde Geschichte der Kategorie ›Geisteskranker‹, wie der Untertitel der Studie schon verrät: Hilfsbuch für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. zur Diagnose der politischen Gehirnerkrankung.90 Im »Land der Gedankennichtverlautbarung«91 werden die »kranken Keime« – so Panizza – »in Badewannen« eliminiert, um »die grosse Masse« der intakten »monarchische[n] Hirne vor dem Zersezungsprozess zu bewahren«.92 Es wäre noch genau zu prüfen, inwieweit Foucault in seinen Schriften auf die von Panizza erkannten Zusammenhänge zwischen Gerichtspraktiken und Psychiatrie rekurriert – beispielsweise in Wahnsinn und Gesellschaft, als dessen Vorläufer die Psichopatia criminalis gelten könnte – oder ob er diese Referenzen vielmehr verschweigt. In jedem Fall würde Bernd Mattheus aber recht behalten: »knüpf dich auf, foucault, daß du so spät gekommen bist.«93

88 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. 32 Teilbände. Leipzig 1854–1961, Bd. 21, Sp. 265. 89 Vgl. oben mit Anm. 55. 90 Vgl. hierzu auch: Bauer: Oskar Panizza (Anm. 8), 41. 91 Oskar Panizza: Ein Jahr Gefängnis. Mein Tagebuch aus Amberg. Auszüge (1895). In: Boeser u. Bäuerle (Hg.): Der Fall Oskar Panizza (Anm. 7), 85–97, hier 87. 92 Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis: Hilfsbuch für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. zur Diagnose der politischen Gehirnerkrankung. München 1985, 40. 93 Bernd Mattheus: vorworte. In: Panizza: Psichopatia criminalis (Anm. 92), 8–28, hier 22.

Tim Lörke

Ästhetisches Kerygma. Zur religiösen Dimension der Gedichte Gottfried Benns

I. Am 16. Juni 1956 schreibt Gottfried Benn eine letzte Karte an seinen langjährigen Vertrauten Friedrich Wilhelm Oelze. Seit 1932 stehen die beiden in einem engen brieflichen Austausch, doch zu persönlichen Begegnungen und Besuchen kommt es nur selten. Noch zuletzt siezt man einander. Trotzdem muss den 749 Briefen und Postkarten Benns an Oelze eine besondere Bedeutung zugesprochen werden: Hier äußert sich Benn wie nirgends sonst über die eigene Person und das eigene Werk, hier probiert Benn neue Themen und Töne aus, hier gibt er Auskunft über Lektüreeindrücke und private Schwierigkeiten. In der Zeit des Dritten Reichs sendet Benn immer wieder Gedichte an Oelze, der sie in einem Versteck verwahrt; was andere Dichter in dieser Zeit für die Schublade schreiben, schreibt Benn an Oelze. Oelzes Gegenbriefe sind übrigens nicht ediert; aus Scheu konnte sich Oelze nicht entschließen, einer Veröffentlichung zuzustimmen.1 Für Oelze liegt der Gewinn dieser Freundschaft vor allem darin, sein als allzu bürgerlich empfundenes Leben künstlerisch zu übersteigen; der Verkehr mit dem Genie hebt das eigene Dasein.2 Neben den Versuch der Überwindung bürgerlicher Hemmungen tritt die intensive Anteilnahme an kreativen Vor1 Harald Steinhagen informiert in seinem Nachwort zur Ausgabe darüber und skizziert zudem die Beziehung der beiden zueinander : Harald Steinhagen: Nachwort. In: Gottfried Benn: Briefe an F.W. Oelze. Hg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Bd. 3: 1950–1956. Frankfurt a. M. 1982, 269–290. Porträts der Freundschaft finden sich zudem bei: Fritz J. Raddatz: Gottfried Benn. Leben – niederer Wahn. Berlin/München 2001, bes. 191–208; Ursula Kocher : »Dank für Brief«. Friedrich Wilhelm Oelzes Briefwechsel mit Gottfried Benn. In: Walter Delabar u. dies.: Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk. Bielefeld 2007, 201–210; Gunnar Decker : Gottfried Benn. Genie und Barbar. Berlin 2006, bes. 204–214. Vor dem Hintergrund der Sozial- und Mentalitätsgeschichte des deutschen (Bildungs-)Bürgertums beschreibt die Beziehung Hans Dieter Schäfer : Herr Oelze aus Bremen. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze. Göttingen 2001. 2 Vgl. Schäfer : Herr Oelze aus Bremen (Anm. 1), 17–21.

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gängen, die dann auch eigene Dichtung vorbereiten soll, wie Oelze hofft. Dies allerdings nur mit mäßigem Erfolg, wie etwa ein Brief Benns vom 9. September 1935 belegt: »Die Gedichte sind nicht gut. / Aber man muss werfen, einmal trifft man. Wenn man Verse macht, kommt man auf Verse. Bitte üben Sie!«3 Für Benn wiederum ist Oelze derjenige Mensch, dem er sich am intimsten anvertrauen kann. Selbstzweifel und Berichte von Liebesaffären finden ebenso Eingang in seine Briefe wie poetologische Überlegungen und politische Reflexionen. Gerade den letzten Band der Briefe durchziehen Gedanken an den Tod sowie Versuche, das eigene Leben zu resümieren. Die Forschung sieht denn auch in Oelze die weitaus wichtigste Ansprechperson Benns, weit vor seinen Ehefrauen. Einig ist man sich in der Einschätzung, es handele sich um Liebesbriefe Benns an Oelze.4 Damit bei dieser Einschätzung nur kein Missverständnis aufkommen möge, präzisiert Gunnar Decker : »Das Mysterium, das wir hier vor uns haben, ist nicht das der Liebe, sondern der Freundschaft.«5 Dabei ist es wohl vor allem die Haupteigenschaft, die Benn Oelze zuschreibt, die derlei Lyrismen erst aufkommen lässt. Denn Oelze ist für Benn eine Mischung aus »Muse« und Archivar.6 Hätte Oelze nicht getreu alles aufbewahrt, was Benn ihm anvertraut hat, müsste diese Beziehung in Briefen wohl nicht in solch auffälliger Weise überhöht werden.7 Ursula Kocher weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Oelze als Archivar seine Aufgabe in erster Linie so verstand, den Dichter in ein günstiges Licht zu setzen.8 Entsprechend rätselhaft scheint die letzte Karte des sterbenden Dichters an seinen Freund zu sein, die Oelze wunschgemäß vernichtet haben will, nicht ohne aber zuvor eine zeilengetreue Abschrift angefertigt zu haben. Diese letzte Karte führt noch einmal ins Zentrum von Benns Ästhetik zwischen Nihilismus und Heilserwartung, und es erscheint deswegen wenig wahrscheinlich, dass sie von Oelze in irgendeiner Weise zurechtgestutzt wurde. Dass sie an Oelze geschrieben wurde, ist vor dem Hintergrund ihrer Beziehung und Oelzes besonderer Bedeutung für Benn in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen kann die Karte somit als aufrichtige Mitteilung an den Freund verstanden werden, vor dem sich Benn nicht verbirgt; zum andern muss die Karte 3 4 5 6 7

Benn: Briefe an F.W. Oelze (Anm. 1), Bd. 1: 1932–1945. Frankfurt a. M. 1979, 69. Vgl. Raddatz: Benn (Anm. 1), 192. Decker : Benn (Anm. 1), 206. Decker : Benn (Anm. 1), 209f. Raddatz: Benn (Anm. 1), 197. Zugleich muss aber auch der Einschätzung Reinhard Nickischs widersprochen werden, Benns Briefe an Oelze seien ausschließlich monologisch; hier scheint eher Benns – problematische – Selbstkennzeichnung seiner Gedichte den Blick zu bestimmen als die tatsächliche Auseinandersetzung mit den Briefen. Denn Benn erkundigt sich doch immer wieder nach Oelzes Befinden, nach privaten wie beruflichen Schwierigkeiten und anderem mehr. – Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, 16 u. 61. 8 Kocher : »Dank für Brief« (Anm. 1), 203.

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als Schlussstein von Benns lyrischer Produktion verstanden werden, die er seinem getreuen Archivar und Nachlassverwalter überantwortet. Benns letzte Karte liest sich wie ein letztes Gedicht, das das bestimmende Thema seines lyrischen Werks pointiert zusammenfasst.

II. Die Karte vom 16. Juni 1956 schreibt Benn in Schlangenbad. Er hält sich wegen seiner hartnäckigen Schmerzen in Rücken und Schulter dort zur Kur auf. Berliner Ärzte hatten Benns Beschwerden als Rheumatismus diagnostiziert und ihm zuerst Massagen, dann den Kuraufenthalt verschrieben.9 Die Briefe an Oelze lassen nicht erkennen, dass Benn seinen Ärzten vielleicht keinen Glauben schenkt und er als Arzt längst eine andere Diagnose gestellt hat. Er berichtet vielmehr von der Therapie und den – man ist versucht zu sagen: an ihm verübten – Anwendungen. So schreibt er am 23. Mai 1956: Liege seit 8 Tagen fest im Bett, der Rheumatismus in re[chtem] Rücken u[nd] Schulter ist völlig unerträglich. Man empfahl mir Masseur. Sowas Brutales war mir neu. Der zerreisst einem den Rücken, geht wie ein Trecker über den Rücken, stösst u[nd] hämmert auf Wirbel u[nd] Knochen, sogenannte ›Bindegewebsmassage‹, ich würde es ja aushalten, aber leider nützt es bis jetzt (4 Massagen) nichts. Kann nicht mehr sitzen, kann nicht mehr schreiben.10

In den kommenden Tagen setzt keinerlei Besserung ein. Besuchspläne Oelzes weist Benn am 15. Juni 1956 zurück: »Ich bitte Sie dringend, das nicht zu tun. Ich liege seit der Stunde meines Hierseins fest im Bett u[nd] kann an Unterhaltungen überhaupt nicht denken.«11 Er fährt fort, er sei nach Einschätzung der Badeärzte überhaupt vier Wochen zu früh nach Schlangenbad gekommen, weil sein akuter Rheumaanfall noch im Gange sei und deshalb die Therapie nicht anschlagen könne. Benn hat diesen Brief auch nicht selbst geschrieben, sondern seiner Frau diktiert. Am nächsten Tag dann schreibt er seine letzte Karte an Oelze: Herrn Oelze Jene Stunde.. wird keine Schrecken haben, seien Sie beruhigt, wir werden nicht fallen wir werden steigen –

Ihr B.12

9 Benns letzte Wochen schildert eindrucksvoll Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Stuttgart 2011, 427–443. 10 Benn: Briefe an F.W. Oelze. Bd. 3 (Anm. 1), 265. 11 Benn: Briefe an F.W. Oelze. Bd. 3 (Anm. 1), 266. 12 Benn: Briefe an F.W. Oelze. Bd. 3 (Anm. 1), 267.

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Hier wirft Benn nun ein wesentlich anderes Licht auf seine Lage. Diese wenigen Worte lassen sich kaum anders verstehen, als dass sich Benn von seinem Freund verabschiedet, weil er sterben wird. »Jene Stunde« verweist deutlich auf die Todesstunde, die jedoch nicht als schrecklich oder bedrohlich vorgestellt wird. Die Beruhigung des Freundes wirkt deswegen so überzeugend, weil Benn selbst mit so entschiedener Ruhe und fester Überzeugung schreibt. Zudem scheint Benn hier nicht nur das eigene Sterben zu meinen. Der Gestus einer gnomischen Sentenz macht die Karte zu einer allgemeingültigen Aussage.13 Da er Sterben als Steigen deutet, scheint Benn hier nahezu christliche Vorstellungen von ascensio und Himmelfahrt zu aktualisieren. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Betonung: »wir werden nicht fallen«. Benn tröstet den Freund, indem er nicht allein sein Sterben als hoffnungsvollen Aufstieg in transzendente Bereiche darstellt, sondern dem Tod überhaupt einen besonderen Sinn zuspricht. ›Fallen‹ bündelt in sich einen verschiedenartigen Bedeutungshorizont, der den buchstäblichen Fall, die Hinfälligkeit des Leibes ebenso einschließt wie religiöse Vorstellungen verschiedener Traditionen, die vom Fall der Seelen und dem Hinabsteigen in das Totenreich künden. Dem wird das ›Steigen‹ entgegengesetzt, das ebenfalls ein Bündel an Assoziationen hervorruft: als Aufstieg der Seele zu Gott, als Wiedervereinigung mit dem Weltgeist oder als entelechische Aufstiegsdynamik. Benns letzte Karte hat denn auch einige Verwunderung hervorgerufen, vor allem bei denen, die Benn einzig als Sänger eines glücklichen Nihilismus wahrnehmen, für den Gott nur ein schlechtes Stilprinzip ist.14 Als Beispiel mag Hans Blumenberg dienen: »Erwartungsvoll blickt man auf den Zyniker, wie er sich zu sterben anschickt. Hält er es aus und durch, dem Leben seinen Sinn zu bestreiten, wenn es sich für ihn dennoch rundet?«15 Doch schon Blumenbergs Prämisse ist falsch. Denn sie unterstellt Benn und seinem literarischen Werk, grundsätzlich areligiös und nihilistisch zu sein; eine Haltung, die in der BennForschung allenthalben anzutreffen ist. Blumenberg verkennt, wie stark Benns Texte um das Göttliche kreisen oder mit dem Religiösen ringen, um in einer als sinnlos verstandenen Welt Trostmöglichkeiten zu sondieren und eine Hoffnung auf eine diese Welt übersteigende Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Schon das Wüten der Morgue-Gedichte dementiert ein göttliches Wesen keineswegs, es 13 So auch Carsten Dutt: »Herrn Oelze«. Gottfried Benns Abschiedszeilen an seinen Freund. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), 459–467, hier 461f. 14 Die Texte Gottfried Benns werden zitiert nach der Ausgabe: Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1982ff., Bd. 1: Gedichte, Bd. 2: Prosa und Autobiographie, Bd. 3: Essays und Reden, Bd. 4: Szenen und Schriften. Anspielungen hier: Bd. 3, 435, und Bd. 2, 468f. 15 Hans Blumenberg: Letztes Wort des Zynikers. In: ders.: Lebensthemen. Aus dem Nachlaß. Stuttgart 1998, 170–172, hier 170. Auch Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 462, verweist darauf.

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beklagt jedoch zornig, dass sich das Göttliche auf Erden nicht beweisen lässt.16 An verschiedenen Stellen seines Werks betont Benn die grundsätzliche Existenz Gottes, kritisiert diesen aber, seinen Plan und seine Absichten den Menschen nicht genauer erklärt zu haben, sodass diese im Dunkeln stehen und auf Aufklärung warten.17 Die letzte Karte an Oelze mit ihrer Metaphorik des Steigens verweist genau auf diesen für Benn zentralen Gedanken. Denn Steigen, wie zu zeigen sein wird, führt nach Benn zur umfassenden Erkenntnis der letzten Dinge, die sich zuvor als Ahnung im Gedicht niedergeschlagen hat. Diese Karte ist also nicht allein ein Trostwort eines Sterbenden an den engen Freund, den er zurücklässt, sondern auch eine letzte, aber für Benn typische Einschätzung der metaphysischen Lage. Im Folgenden soll jedoch zunächst eine Deutung der Karte vorgestellt werden, die ihr jegliche tröstende Funktion abspricht. Sodann wird die Karte vor dem Hintergrund von Benns Gedichten gelesen, um zu zeigen, dass hier doch eine konsolatorische Wirkung beabsichtigt ist, die im Einklang mit Benns Werk steht.

III. Carsten Dutt hat 2008 im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft eine Interpretation der Abschiedszeilen an Oelze vorgelegt, die sich auf den Abdruck der wohl tatsächlichen Textgestalt stützt. Im Kommentar der Briefedition findet sich nämlich eine zeilengetreue Abschrift, die Oelze angefertigt hat, ehe er dem Wunsch Benns entsprach und die Karte vernichtete. In einer mündlichen Mitteilung an die Herausgeber der Briefe hat Oelze zudem festgestellt, er habe Teile der Karte nicht übernommen; die uns vorliegenden Zeilen bieten also nicht den vollen Text, der nicht mehr rekonstruierbar sein wird.18 Die Zeilenabschrift liest sich anders, der Fluss der Prosa ist durchbrochen:

16 Dies hat die frühe Benn-Forschung auch durchaus erkannt; als Beispiele mögen dienen: Hans-Dieter Balser : Das Problem des Nihilismus bei Gottfried Benn. Bonn 1965; Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen 21968. Vgl. dazu auch Tim Lörke: Geformte Transzendenz: Gottfried Benns eklektizistische Religiosität. In: Carsten Dutt u. Roman Luckscheiter (Hg.): Figurationen der literarischen Moderne. Heidelberg 2007, 203–223. 17 Vgl. etwa Erwiderung an Alexander Lernet-Holenia: »Ich füge hinzu, niemand ist ohne Gott, das ist menschenunmöglich, nur Narren halten sich für autochthon und selbstbestimmend. Jeder andere weiß, wir sind geschaffen, allerdings alles andere liegt völlig im Dunklen.« Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 485. 18 Benn: Briefe an F.W. Oelze. Bd. 3 (Anm. 1), 366.

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Herrn Oelze Jene Stunde.. wird keine Schrecken haben, seien Sie beruhigt, wir werden nicht fallen wir werden steigen – Ihr B.19

Carsten Dutt kann in der Karte keinerlei Trost erkennen, weil ihre »Form den Ausdruck metaphysischer Zuversicht ausdrucksvoll erschüttert«.20 In einer zeilengenauen Interpretation kommt Dutt zu dem Schluss, dass »in Wahrheit Diskontinuität herrscht, wo Zeilenenden Pausen fordern und die so artikulierten Redeeinheiten Verständniseinheiten aufdrängen, welche die prozessuale Realisierung der in der Herausgeberversion [der Briefe] zu Unrecht absolut gesetzten Satzbedeutungen des Texts spannungsvoll überschichten«.21 In Dutts Lektüre überwiegen »Stockungen«, die Irritationen auslösen. Die erste Zeile dementiere bereits für sich genommen jegliche Hoffnung, als die Todesstunde »sich eben nicht mehr zur ganzen runden wird«, also keineswegs zu einem anderen Dasein führe, sondern ins Nichts.22 Der fließende Übergang zur zweiten Zeile wird für Dutt einzig durch das »Fehlen eines Satzzeichens indiziert, nicht aber unter syntaktisch-semantischen Kriterien«, die gegen das Enjambement sprächen.23 Die zweite Zeile stellt nach Dutt »Schrecken haben« in »betonter Spitzenstellung« heraus, sodass dadurch die Deutung des totalen Endes im Bewusstsein des Lesers gehalten wird.24 Für Dutt sind die »durch die Zeilenform generierten Bedeutungen […] Bedeutungsalternativen, die den Vollzug der Rede reflexionserzeugend unterbrechen«.25 Hier artikuliere sich ein Schrecken unterhalb der optimistischen Satzebene, der in der dritten Zeile keineswegs beruhigt werde. Denn die dritte Zeile: »wir werden nicht fallen wir werden« liest Dutt als »Wir werden nicht fallen. Wir werden. Werden wir fallen?«, um so eine erschütternde »interrogative Kraft« der Zeile auszumachen.26 Das Verb »steigen«, das mit dem ausschwingenden Gedankenstrich die letzte Zeile bildet, enthält für Dutt dann eine »letzte Irritation der syntaktisch-semantischen Ordnung im Übergang zur stummen Schriftgebärde des Gedankenstrichs«.27 Der seiner Meinung nach oberflächliche Trost werde durch eine komplexe Form dementiert, zumindest 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Benn: Briefe an F.W. Oelze. Bd. 3 (Anm. 1), 366. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 463. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 464. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 464. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 464f. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 465. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 465. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 466. Dutt: »Herrn Oelze« (Anm. 13), 466.

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aber skeptisch eingeschätzt, wenn das Gesagte stets unterbrochen und ihm so ein Zweifel an jeglicher Erlösungshoffnung eingeschrieben wird. Dutts subtile Deutung setzt voraus, dass die Abschiedskarte als ein bewusst gemachtes letztes Gedicht Benns verstanden wird. Damit wird jegliche Zufälligkeit zurückgewiesen; die Zeilen könnten ja auch dem Rand der Karte, die wir nicht betrachten können, geschuldet sein oder den Schwierigkeiten des Schreibenden, der Oelze ja zuvor bereits mitgeteilt hatte, angesichts der Schmerzen in der rechten Körperhälfte nicht mehr schreiben zu können. Dieser grundsätzlichen Annahme schließe ich mich an, zumal in den kurzen Zeilen thematische Bezüge zu anderen Gedichten Benns hergestellt werden. Doch gerade die intertextuellen Bezüge, die Benn in seiner Karte herstellt, rücken die Karte in ein anderes Licht. Dutts sensible Interpretation verweist auf die in den Zeilen versteckte Skepsis; allerdings erschöpft sich die Karte eben nicht darin. Sie erweist sich vielmehr als ein genau gesetzter Schlusspunkt einer über zwanzig Jahre andauernden Korrespondenz, die Benn stets zur Selbstreflexion und Erprobung diente und in der er seine weltanschaulichen, auch religiösen Überlegungen formulierte. Zugleich setzt die Karte als Gedicht einen markanten Schlusspunkt unter Benns lyrische Produktion und erweist sich in ihrer Vermischung von Selbstauskunft und Dichtung als Vorgabe eines Interpretationshorizonts, vor dem Benn sein Werk abschließend verstanden wissen wollte. Dass er gerade diese Zeilen an seinen Archivar Oelze sandte und an niemand anderen, betont die Bedeutung für das eigene Werk, die Benn der Karte zuschreibt. In diesen vier Zeilen fasst Benn abschließend seine Überzeugung zusammen, dass der Kunst eine wichtige Funktion zukommt: als Instanz einer Sinnstiftung, die der conditio humana abgerungen wird. Wenn die letzte Karte an Oelze ein Gedicht ist, können andere Gedichte Benns Aufschluss geben.

IV. Peter Szondi hat 1962 eine zu selten berücksichtigte Warnung ausgesprochen, als er in seinem grundlegenden Aufsatz Über philologische Erkenntnis auf den hermeneutischen Fehlschluss hinwies, gleichen Worten, Metaphern und stilistischen Eigenheiten in verschiedenen Texten eines Autors die jeweils gleiche Bedeutung zu unterstellen. Schließlich könne die Parallelstellenmethode die tatsächliche Bedeutung verfehlen, die sich durch einen je unterschiedlichen Wortgebrauch in unterschiedlichen Texten eines Werkes ergebe. Szondi hingegen betont den individuellen Charakter einzelner Texte in einem Œuvre und stellt fest: »Ihre Deutung hat zunächst auf Grund des konkreten Vorgangs [also

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des in Rede stehenden einzelnen Textes; TL] zu erfolgen«.28 Will man Benns Vorstellung der letzten Dinge in seinem lyrischen Werk nachgehen und so das Gesamtwerk in einen Zusammenhang setzen, muss daher erst das einzelne Gedicht begriffen werden, ehe der Überblick sinnvoll gelingen kann.29 Im Folgenden werden verschiedene Gedichte Benns gelesen, um die Aussage der letzten Karte an Oelze genauer zu verstehen und zugleich die bestimmende Frage nach einem religiösen Horizont Benns zu beantworten. Diese Gedichte stützen sich in ihrer Aussage wechselweise, gerade weil das jeweilige einzelne Gedicht in einem thematischen Zusammenhang steht, den die anderen mit ihm teilen. Das zeigt sich bereits an den verschiedenen Texten, in denen ›steigen‹ vorkommt. Dabei fällt auf, dass ›steigen‹ oftmals in Verbindung gebracht wird mit einer Erkenntnis, die sich im Gedicht ahnungsvoll eröffnet. Hinzu kommt eine enge Beziehung zwischen ›steigen‹ und ›schweigen‹, die nicht allein dem Reim geschuldet ist, durch ihn aber charakteristisch gestiftet wird. Diese Gedichte umkreisen die Möglichkeit eines verkündigenden, ja kerygmatischen Sprechens, das seinen Inhalt nicht aus sich selbst heraus gewinnt, sondern auf etwas Außer-Sprachliches verweist; einen Inhalt, auf den das Sprechen nur verweisen, den es aber nicht einholen, nicht diskursiv entfalten oder explizieren kann. Besonders eindrücklich formuliert diesen Zusammenhang das dreiteilige Gedicht Verzweiflung, das Benn 1952 veröffentlichte.30 Hier wird das Sprechen selber thematisch, indem in den ersten beiden Teilen die Unzulänglichkeiten der Alltagskommunikation vorgeführt werden, ehe der dritte Teil das poetische Sprechen als das eigentlich sinntragende und sinnstiftende Sprechen hervorhebt. In der Art der späten Parlando-Gedichte führt der erste Teil »Gesprächsfetzen« vor, die sogleich bewertet werden als unzusammenhängend und letztlich inhaltsleer. Die im Alltag gewechselten Worte beim Drogerieeinkauf, beim Schneider oder in anderen Dialogsituationen erweisen sich als »tote[] Laute[], Hohlechos«, die mal »leicht hingeplappert« werden, mal wie erbrochen wirken. In einem solchen Sprechen geht »alles durcheinander«, es wird keinerlei Zusammenhang hergestellt und vor allem bleibt der Sprecher selber als Person mit Gedanken und Sehnsüchten davon unberührt, wie die Selbstanrede zeigt: »warst du da etwa drin?« Der zweite Teil versieht die Diagnose mit einem kulturkritischen Akzent. Die Kritik an der Alltagssprache wird abgelöst durch die scharfe und verwerfende Betrachtung der intellektuellen Diskurse, die das Leben erklären und in weitere Kontexte einbetten sollen: »Kulturkreise hinten und vorn, / 28 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Schriften. Bd 1. Mit einem Nachwort von Christoph König. Berlin 2011, 263–286, hier 275. 29 Vgl. Szondi: Über philologische Erkenntnis (Anm. 28), 276. 30 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 409–411.

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Morgen-, Mittag- und Abendländer, / Höhlenzeichnungen, dicke Madonnen, / Hermaphroditengeschlinge«. Diese gelehrt eingeübten und popularisierten Deutungsmuster erscheinen nicht allein überflüssig, sondern auch als durchweg verlogen und verschlagen, weil sie den eigentlich wichtigen Fragen selbstgenügsam ausweichen. Die gemeinschaftsstiftende Kraft der Sprache und der Diskurse wird als nicht erfüllter Anspruch decouvriert. Das Alltagsgerede macht sich sogar schuldig, indem es das Ungeheuerliche ebenso verdeckt wie deckt: »Kürten – seinerzeit in Düsseldorf / von 7 bis 9 abends Lustmörder, / im übrigen Kegelbruder und Familienvater – «. Mehr noch: die betäubende Wirkung des alltäglichen Geplauders verhindert ein klares Denken, das nach Antwort auf die den Menschen eigentlich bedrängenden Fragen sucht; im Palaver gelingt kein Gedanke, und die Götter gehen im Durcheinander verloren. Dem entspricht die Form der ungereimten, freien Rhythmen, die durch die Gegenüberstellung mit dem dritten Teil an Aussagekraft gewinnt. Denn das Durcheinander und das Formlose wird im dritten Teil abgelöst durch die strenge, gebundene Form eines dreistrophigen Gedichts zu je vier Versen im Kreuzreim. Das ungeordnete Sprachrauschen wird geordnet und die belanglose Banalität ersetzt durch ein Sprechen, das gerade nach den letzten Dingen fragt und gleichsam Klarheit des Gedankens gewinnt durch seine komponierte Form. Der dritte Teil unterscheidet sich deutlich von den beiden anderen, weil hier eine Sprache gefunden wird, die sich von der zuvor abgewerteten Alltagskommunikation abhebt, ja konfrontativ dagegen gerichtet ist.31 Doch nicht allein Form und lyrische Sprache trennen den dritten Teil gewissermaßen von der Alltagskommunikation, auch inhaltlich zeigt sich eine entscheidende Differenz. Denn hier ergeht die Anweisung zu einem echten Gespräch, das auf den ersten Blick aber nur als Selbstgespräch möglich scheint: »Sprich zu dir selbst, dann sprichst du zu den Dingen / und von den Dingen, die so bitter sind, / ein anderes Gespräch wird nie gelingen«. Und dieses einzig mögliche Gespräch dreht sich eben nicht um den Alltag, sondern es fasst die conditio humana ins Auge und damit: das Sterben. Dieses Gedicht liest sich wie eine ausführlichere Fassung der letzten Karte an Oelze. Was dort als postalischer Austausch zwischen Freunden stattfindet, wird hier beschworen als reflektierendes Selbstgespräch, dessen letzte Strophe lautet:

31 Vgl. dazu Heinz Schlaffer : Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012, 43, der das Befremden an der anderen Sprache der Lyrik herausstreicht: »Dieses Befremden ist nicht grundlos, es entspricht durchaus der bewussten Fremdartigkeit von Lyrik. Sie erstrebt Distanz zu der praktisch brauchbaren Sprache, also auch vom praktischen Dasein. Lyrik lässt sich nicht als zweckmäßiger Beitrag zur Kommunikation der Menschen untereinander verstehen.«

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Du überall, du allem nochmals offen, die letzte Stunde und du steigst und steigst, dann noch ein Lied, und wunderbar getroffen sinkst du hinüber, weißt das Sein und schweigst.

Auch hier wird die letzte Stunde beschworen, und auch hier wird sie mit Steigen verbunden. Dieser Aufstieg führt zu einem Übergang zu einer anderen Daseinsform, die mit einer tiefgreifenden Erkenntnis verknüpft ist. Die letzten Dinge werden nun verstanden, alle Fragen nach den Gründen für die menschliche Existenz und ihre diesseitige Hohlheit werden in einem Jenseits (»sinkst du hinüber«) umfassend beantwortet und zu einem positiven Wissen verfestigt. Allerdings steht das Schweigen am Ende des Gedichts und damit dieses besonderen Erkenntnisprozesses. Angesichts des tiefen und hoffnungsvollen Ernsts, in dem das Gedicht spricht, wäre es zynisch zu vermuten, dass das Schweigen die Konsequenz davon wäre, dass es eben nichts zu wissen – und somit zu sagen gibt. Vielmehr wird ein Wissen evoziert, das sich erst nach dem Aufstieg in eine höhere, ganz andere Sphäre offenbart. Damit ist dieses Wissen aber dem menschlichen Zugriff entzogen und kann keineswegs menschlich kommuniziert werden. Das Schweigen, das mit dem Steigen so eng verknüpft ist, verdeutlicht noch einmal den Sphärenwechsel von der Sprache zum Unaussprechlichen. In Benns Verzweiflung erscheint das Sterben als Wechsel in eine neue Perspektive, die sich inhaltlich ankündigt durch den Übergang von der Alltagssprache zu einem gewichtigen Dialog und formal durch den Wechsel in die gereimte Strenge der Verse. Gewissermaßen stellt sich das Gedicht in ein Echoverhältnis mit Goethes Faust, der ebenfalls mit einer ascensio schließt. Auch dort ist mit dem Steigen eine Erkenntnis verbunden, die das unverstandene Leben transzendiert. Im Prolog im Himmel wirft Mephistopheles dem Herrn vor, sein Geschöpf: den Menschen auf Erden völlig im Unverstandenen und nicht zu Verstehenden zu lassen. Dem entgegnet der Herr, dass er seinen Knecht mit dem Tod »in die Klarheit führen« wird.32 Die letzte Szene Bergschluchten, Wald, Fels inszeniert diesen Weg in die Klarheit und greift auf die Vorstellung der Apokatastasis (Wiederherstellung, Wiederbringung) zurück. Diese wiederum geht zurück auf Apostelgeschichte 3, 21 und wurde von dem griechischen Kirchenvater Origenes als Rückkehr zu Gott, als Wiedervereinigung verstanden.33 Eine solche (Wieder-)Vereinigung mit numinosem Wissen scheint sich dem Aufstieg in Benns Gedicht anzuschließen. Den Eintritt in ein solches kosmisches Ordnungswissen kann das Gedicht 32 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994, Bd. I, V. 309. 33 Vgl. dazu mit Blick auf Goethes Faust den Kommentar von Schöne in: Goethe: Faust (Anm. 32), Bd. II, 788.

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selber so wenig beschreiben wie dieses Wissen. Aber – und dies ist der entscheidende Punkt, auf den das Gedicht hinweist – dieses ferne Wissen kann in der angesprochenen monologischen Situation erspürt werden. Allerdings ist das Selbstgespräch noch zu hinterfragen. Im Moment des Sterbens erklingt nämlich ein Lied, das den Sterbenden »wunderbar« als gesamte Person erfasst und hinübersinken lässt. Die Erkenntnis bereitet sich im Lied vor. Darum scheint der Schluss zulässig, das Selbstgespräch weniger als eine monologische denn eine dialogische Situation zu verstehen: als lesende Auseinandersetzung mit dem Lied oder Gedicht. Die Haltung, in der das Gedicht gelesen wird, ist ernsthaft den letzten Dingen zugewandt; vom Gedicht wird eine Auskunft erhofft. Da das Gedicht wiederum imaginiert, in der Sterbestunde ein Lied zu hören, das die Erkenntnis eröffnet, kann das Gedicht selber bereits als ein Vorgriff auf das zu hörende Lied verstanden werden. Im Gedicht ereignet sich eine Ahnung des Kommenden. Damit ist aber das Selbstgespräch keines, vielmehr wird die Konfrontation mit dem dichterischen Wort beschworen, das sich entscheidend von der Alltagssprache wie den eingeschliffenen Kulturdiskursen abgrenzt. Die sinnstiftende unio mystica mit dem Numinosen wird vorbereitet oder doch zumindest per Analogie vorgestellt in der Lektüre von Gedichten, die gerade das Geheimnis als das zu Beschweigende ausstellen und die Leser mit der Ahnung allein zurücklassen. Das betrifft nicht allein die Leser, auch der Dichter selber ist darin einbezogen. In Doppelleben nennt Benn als Voraussetzung für den poetischen Prozess eine durchlässige Haltung, die notwendig ist für eine nahezu mystische Inspiration. Er kennzeichnet sie als Demut und umschreibt sie als »Erweiterungsmotiv, als Stimmung, als Hohlraum zwecks Schleusenöffnung und Einströmungsnovität«.34 Seine Dichtung begreift Benn damit als Ergebnis einer mystischen Inspiration: »es geht nur etwas durch mich hindurch«.35 Dieses Etwas schlägt sich im Gedicht nieder. Damit begründet Benn zugleich das Schweigen auf eine weitere Weise, die wiederum zum Monologischen zurückführt. Denn dieses Etwas geht nur hindurch, es bleibt nicht als Gewissheit, sondern entzieht sich im Gedicht weiteren Fragen und dem Dialog. Entsprechend ändert das Gedicht nichts an der Unergründbarkeit des fernen, sich nicht völlig offenbarenden Gottes.36 Dem Schweigen Gottes zugeordnet ist Benns Forderung, von Gott in letzter Konsequenz zu schweigen. So wenig sich feste, klare Aussagen über Gott treffen lassen, so wenig überzeugen die Dogmen der tradierten Religionen. Sie erweisen 34 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 469. 35 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 469. 36 Verschiedene Gedichte Benns thematisieren denn auch den deus absconditus, etwa Der Dunkle, Auferlegt oder Melancholie.

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sich als Diskurse, die sinnstiftend sein sollen, aber tatsächlich die Ungeheuerlichkeit des schweigenden Gottes nur kaschieren. Für Benn gilt es, das unverstandene Leben allein auszuhalten, ohne sich auf die Religion zu verlassen. Mehr noch: Religion und literarisch wie theologisch geäußerte Frömmigkeit führen für Benn zur »Stilentspannung«,37 weil sie eine Sprache benutzen, die Wissen vortäuscht.38 Als Dichter versteht sich Benn notwendigerweise als Einzelgänger, der sich jedem Glauben verweigern muss, der ihn der »Grundsubstanz meines Auftrages« entfremdet; worin diese Aufgabe besteht, ist ihm freilich »dunkler als je«.39 Erschließen lässt sich zumindest das, was Benn als seine Aufgabe versteht, durch die besondere inhaltliche Fixierung seiner Gedichte auf die bloße Frage nach den letzten Dingen, die so im Bewusstsein gehalten wird und sich gleichzeitig einer deutenden Antwort entzieht, und die daraus resultierende Hoffnung auf Erkenntnis. Vier weitere Gedichte Benns teilen diese Gedanken mit Verzweiflung und damit auch mit der Karte an Oelze. Entstanden sind sie zwischen 1927 und 1948/ 49. Sie belegen, wie sehr das lyrische Gesamtwerk Benns dem Nachdenken über den deus absconditus gewidmet ist, und sie spannen ihre Reflexionen zwischen ›steigen‹ und ›schweigen‹ aus. Das erste steht unter der Überschrift Mediterran (1927) und beschwört die blaue Farbe der Transzendenz, die sich den wechselnden Zeitläuften der Geschichte widersetzt. Das Blau zeigt sich als numinoses Symbol, das auf etwas anderes verweist, aber nicht erklärt. Die vierte Versgruppe betont ausdrücklich: oder steigen und immer dicht ein Blau, das schweigt, kann schweigen40

Ganze Völker und Religionen sind bereits vor diesem Blau in die Bedeutungslosigkeit abgesunken, sie sind nichts mehr als ruinöse Überreste früherer Sinnstiftungssysteme, die vor der ahnungsvollen Verheißung zugrunde gegangen sind. Das nächste in der thematisch zugehörigen Reihe, Die weißen Segel (1936), verknüpft die mediterrane Metapher mit dem Topos der Schiff- als Lebensfahrt, die letztlich sinnlos bleibt, aber mit der Hoffnung endet: »bald wird 37 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 468. 38 Vgl. die polemisch scharfe Zuspitzung in Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 469: »Ich verachte die Menschen, die mit ihren eigenen Dingen nicht fertig werden und nun eine andere Stelle um Aushilfe angehn, eine Stelle, die sie doch kaum kennen kann, diese Schatten aus Nichts, Hasen, Wermutstropfen, die in ihrem Grunde stehn geblieben sind und für 10 Pfennig schon gut werden und deren größte Hoffnung sein müßte, bald ins Grab zu sinken, um dem Blick des Großen Wesens bald aus dem Auge zu gehn.« 39 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 469. 40 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 195.

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die Erde so weit sein, / zu dir zu steigen als Geist«.41 Was hier wieder als eine gelingende Erkenntnis in der Sterbestunde angesprochen wird, erscheint im nächsten Gedicht in ein skeptisches Licht getaucht. Rosen (1946) überblendet das Verblühen der Blumen mit dem Altern und Sterben des Menschen, das hier jedoch angsterfüllt wahrgenommen wird: Wahn von der Stunden Steigen aller ins Auferstehn, Wahn – vor dem Fallen, dem Schweigen: wenn die Rosen vergehn.42

Die Versicherung Benns an Oelze, Sterben bedeute eben nicht Fallen, sondern Steigen, liest sich in Rosen weniger zuversichtlich. Wenn die Todesstunde hier auch skeptischer betrachtet wird, stellt sich das Gedicht Rosen durch seine Zusammenstellung von Sterben, Steigen und Schweigen doch in den für Benns Gedichte insgesamt charakteristischen thematischen Zusammenhang. Allerdings wird das Schweigen etwas anders beurteilt, und Benns Forderung, es aushalten zu müssen, wird erschwert durch die Angst, das Schweigen eben doch falsch zu deuten. Dem steht dann wiederum die Gewissheit entgegen, mit der Epilog 1949 (1948/49) endet: Die vielen Dinge, die du tief versiegelt durch deine Tage trägst mit dir allein, die du auch in Gesprächen nie entriegelt, in keinen Brief und Blick sie ließest ein, die schweigenden, die guten und die bösen, die so erlittenen, darin du gehst, die kannst du erst in jener Sphäre lösen, in der du stirbst und endend auferstehst.43

Sterben wird in diesen Gedichten Benns mit dem Steigen verbunden. Zwar klingt einmal die Sorge deutlich an, es könne Fallen bedeuten, doch wird sie relativiert durch die anderen Gedichte. Die metaphysische Ausgangslage, die allen Gedichten gemein ist, beklagt die grundsätzliche Sinnlosigkeit der Welt, der die Auskunft über ihre Bedeutung verweigert wird. Es wird also keineswegs an einem Sinn gezweifelt, es wird jedoch betont, dass dieser Sinn sich erst im Tod zeigt. Benns Gedichte beschwören diese Situation immer wieder, stets machen sie Gott den Vorwurf, sich nicht zu zeigen. Doch sind sie deswegen nicht nihilistisch oder areligiös. Im Gegenteil betonen sie eine religiös gefärbte Hoffnung, die sich im Gedicht durch die Form ergibt. Gedichte lassen sich nach Benn als 41 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 264. 42 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 342. 43 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 363.

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Vorgriff auf eine transzendente Sinnstiftung verstehen, die durch ihre Form Transzendenz erahnbar machen.

V. Benns Gedicht Die Form (1945) endet programmatisch: Riefst den Verlorenen, Tschandala’s, Paria’s, – Du, den Ungeborenen ein Wort des Glaubens zu.44

Diese Strophe ist die lyrische Übersetzung der festen poetischen Überzeugung Benns, die er in Doppelleben auf den Punkt bringt: Alles, was sonst das Leben betrifft, ist fragwürdig und unbestimmt; eine Verbindung mit dem Religiösen empfinden wir nicht mehr als tatsächlich, von der Verbindung mit dem sogenannten Nationalen ganz zu schweigen, als tatsächlich empfinden wir nur seine Fügung in ein ausdrucktragendes ästhetisches Werk.45

Wenn es nicht das inhaltlich Gesagte ist, das die Funktion einer innerweltlichen Sinnstiftung in der Kunst erfüllt, muss es der besondere ästhetische Ausdruck des dichterischen Sprechens sein. Geprägt wird der Ausdruck vor allem durch Stil und Form. Beides lädt Benn geradezu religiös auf: »Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz. Form: in ihr ist Ferne, in ihr ist Dauer.«46 In Stil und Form bleibt für Benn das Wissen um eine sinnhafte Einrichtung der Welt erhalten; durch Stil und Form, also das gerundete Kunstwerk beglaubigt die Welt sich selbst. Die evozierte Dauer bannt die Menschheitsgeschichte ins Kunstwerk; seit je versucht der Mensch, durch Kreativität Sinn zu erfahren, und in der Kunst wird der Mensch stets die Welt als geordnet verstehen. Allerdings bleibt im Kunstwerk zugleich die Ferne bestehen. Kunst, wie Benn sie versteht, anerkennt die sinnhafte Ordnung, sie verkündet sie gewissermaßen durch die Form, aber Kunst ist nichts weiter als eine Annäherung an die Geheimnisse, die sie niemals völlig zu lüften vermag. In der vollkommenen Form blitzt das Geordnet-Sein der Welt auf; dem Künstler gelingt im Kunstwerk die Versöhnung mit dem »Ur-Einen«. In der Kunst ist die Welt wieder sinngeladen

44 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 1, 333. 45 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 443. 46 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 468.

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und gerechtfertigt im ästhetischen Phänomen. In Doppelleben dekretiert Benn unmissverständlich: »Gott ist Form.«47 Doch bei der Annäherung bleibt es. »Das Gen werden wir nie erkennen, aber das Phänotypische läßt sich als Bild erarbeiten.«48 In der Kunst verdichten sich die Ahnungen zu einem Beweis der sinnhaft geordneten Welt, deren letzte Zusammenhänge allerdings verborgen bleiben. Anders gesagt: Im gelungenen Kunstwerk spiegelt sich die gelungene Schöpfung als Bild. In Benns Gedicht Verzweiflung wird dieser Gedanke eindrucksvoll illustriert durch die scharfe Entgegensetzung von freiem Parlando und gebundenem, gereimtem Sprechen. Gerade im Reim wird besonders sinnfällig, wie das Gedicht die unübersichtlich-unverbundenen Verhältnisse zu ordnen weiß. Der Reim stiftet, zusammen mit dem fließenden Rhythmus, einen Zusammenhang, der im Gleichklang der Worte Sinn offensichtlich macht. Die Ordnung der Form versteht Benn als Abbild einer eben doch, aber verborgen geordneten Welt. Er verlagert damit ein grundsätzliches Problem der Rede von Gott von der Inhaltsauf die Formseite. Seit Thomas von Aquin reflektiert die Theologie die Möglichkeit, über die Analogie von Gott sprechen zu können, obwohl sich Gott dem benennenden Zugriff des Menschen eigentlich entzieht. Die Gott in dieser Tradition gegebenen Namen sind zwar nur ein Abbild, das jedoch auf das Urbild: Gott verweist.49 Ein Name schreibt Charakteristika zu und zielt auf die Benennung von etwas, das dadurch greifbar wird. Gerade dies lehnt Benn jedoch ab; für ihn zählt die formale Seite der Dichtung, die als Analogie auf die höhere, undefinierbare Ordnung hindeutet. Damit lösen sich zwar nicht die Spannungen zwischen der tatsächlich erfahrbaren Welt und der hoffnungsvollen Ahnung, die sich im Gedicht auftut; der Widerspruch wird aber für Benn aushaltbar gemacht in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text.50 In seiner Rede über Probleme der Lyrik betont Benn denn auch »das Sakrale des Reims«.51 Die religiöse Aufladung von Stil und Form, die Benn in seiner Poetik betreibt, zielt darauf, dass sich das Heilige darin zeigen möge. Wie Mircea Eliade verdeutlicht hat, verkörpert sich das Heilige gerade in dem, was mit einer religiösen 47 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 472. 48 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 2, 472. 49 Vgl. zur Darstellung der theologischen Sprachreflexion Jürgen Werbick: Prolegomena. In: Theodor Schneider (Hg.): Handbuch der Dogmatik. Bd. 1. Düsseldorf 1992, 1–48, bes. 23–30; Alister E. McGrath: Der Weg der christlichen Theologie. Eine Einführung. München 1997, bes. 172–175. 50 So betont Bruno Hillebrand: Benn. Frankfurt a. M. 1986, 267: »Reim setzt ontologisch noch keinen Sinn, bindet nicht, kittet nicht die zertrümmerte Welt im Gedicht zusammen. Vielmehr werden die Spannungen aufgeladen im Reim, die Widersprüche, die das lyrische Ich in sich trägt. Werden energetisch hochgeladen zum Zeilenende hin und drängen dann im nächsten Vers zur Entladung.« 51 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 3, 521.

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Erfahrung assoziiert wird. Die Paradoxie der Hierophanie, die Eliade herausstreicht, besteht darin, dass »ein beliebiger Gegenstand das Heilige offenbart«, dadurch »zu etwas anderem« wird und doch nicht aufhört, »er selbst zu sein«.52 Er vermittelt fortan zwischen zwei verschiedenen Realitäten, die jedoch nicht in eins fallen. Sie bleiben weiterhin voneinander geschieden. In diesem Sinne bedient sich Benn der Form; sie ist in seinen Gedichten gleichsam für die Hierophanie zuständig, sie stiftet die zweite, transzendente Realität, die trotzdem uneinholbar bleibt und erst recht nicht mit Begriffen zu fassen ist. Allerdings bleibt noch die Frage nach dem absoluten Gedicht offen, das Benn in seiner berühmten Rede Probleme der Lyrik definiert und das sich auf den ersten Blick den bisherigen Deutungen widersetzt. Denn Benn bringt das absolute Gedicht auf den Punkt: »das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren«.53 Es ist ausdrücklich ohne Glauben, und es weist deutlich alle – zumindest christliche – Religion von sich, indem es gegen den ersten Korintherbrief 13, 13 opponiert. Gerade diese Formulierung hat die Wahrnehmung Benns als eines atheistischen Dichters befördert, etwa beim eingangs zitierten Blumenberg. Benn jedoch bereitet diese Definition vor durch eine Bestimmung des modernen Dichters und seines Publikums: »die letzten Reste eines Menschen, der noch an das Absolute glaubt und in ihm lebt«.54 Dichter wie Publikum werden nach seiner Diagnose gefährdet durch die Ansprüche der Theologie einerseits, alles über Gott zu wissen und in Dogmen zu verfestigen, und durch einen wissenschaftlich vermeintlich begründeten Atheismus anderseits, der in denen, die an das Absolute glauben, nur depressiv Erkrankte erkennen kann.55 Dichtung gerät so in Konkurrenz zur Theologie wie zu den Wissenschaften. Der Begriff des Absoluten umfasst in philosophisch-theologischer Tradition die ersten und die letzten Gründe der Welt und des Lebens, die verborgenen und geheimen Ursachen. Damit aber kommuniziert das absolute Gedicht, weil es sich gerade der Situation des Unergründlichen stellt und nicht ausweicht in religiöse Dogmatik oder kulturkritische Diskurse. Die Zurückweisung von 1. Korinther 13, 13 betrifft die verfasste Religion, die sich in den Glaubensinhalten einer Kirche niedergeschlagen hat und meint, tatsächlich Auskunft geben zu können. Für Benn bleibt jedoch die unüberschreitbare Differenz bestehen: Von Gott kann man nicht sprechen. Das Gedicht ist monologisch, an niemanden gerichtet, weil es die religiöse Erfahrung oder Suche auf den Sprecher beschränkt. Benns 52 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a.M. 1998, 15. 53 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 3, 529. 54 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 3, 526. 55 Benn: Werke (Anm. 14), Bd. 3, 526.

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Gedichte eignen sich damit auch nicht zu einer vergemeinschaftenden Lektüre, wie sie am Beginn einer religiösen Gemeinschaft steht. Denn da drängt die religiöse Erfahrung zu einer Aussprache, die im Dialog nach Gleichgesinnten sucht und die Erfahrung in eine Sprache kleidet, deren sozialer Charakter das Individuelle überschreitet.56 Benn hingegen fasst seine religiöse Erfahrung eben nicht in Worte, die sich teilen lassen, sondern vertraut auf die Form. Sprechen von Gott, ob in Analogien, ob in Metaphern, ist immer ein uneigentliches Sprechen und im Kern dichterisch, solange es sich dem Unsagbaren stellt. Und hier setzt eben Benns Werk ein. Die prinzipielle Mehrdeutigkeit dichterischer Rede im ästhetischen Zusammenspiel einer avancierten Formsprache, die das Gesagte unterstützen oder dementieren kann, es aber in jedem Fall übersteigt, eröffnet ahnungsvolle Bedeutungshorizonte, die zwar keine festen Aussagen treffen, aber die Spannung zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren sinntragend füllen und aushaltbar machen. Das absolute Gedicht mag ohne Glauben und Hoffnung sein, es setzt jedoch auf die Transzendenz.

VI. Damit erfüllen Benns Gedichte letztlich eine kerygmatische Funktion, die sich aber vom kirchlichen Kerygma streng unterscheidet. Grundsätzlich versteht man unter Kerygma die religiöse Verkündigung.57 Es berichtet über das Heilsgeschehen und fasst somit die wichtigen Glaubensinhalte zusammen, die in der Verkündigung gelehrt werden. Die besondere Sprechsituation des Kerygmas ist dadurch ausgezeichnet, dass das Heilsgeschehen im Moment seiner Verkündigung gegenwärtig ist.58 Dadurch wird zugleich die Verkündigung immens aufgeladen und das Kerygma selbst zum Heilsgeschehen. Das Kerygma stiftet ein Verhältnis zu Gott, der darin erfahren werden kann. Das absolute Gedicht Benns hingegen verweigert sich einer Form der Sinnstiftung, die Predigt und Verkündigung zugrunde liegt. Es macht keine Aussagen über das Heilsgeschehen, weil sich ein menschlich zu fassendes Verhältnis zu Gott für Benn nicht ergibt. Gott kann nur beschworen werden; aber nicht durch Begriffe und Urteile, sondern einzig in der ästhetisch anrührenden Form des 56 Dazu Charles Taylor : Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2002, 13 u. 29. 57 Ich orientiere mich bei meiner Darstellung an den Artikeln von Gottfried Hornig u. HansWerner Bartsch: Kerygma. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Karlfried Gründer. Bd. 4. Basel 1976, 815–817, und Albert Biesinger u. Joachim Hänle: Kerygma. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998, 934–937. 58 Vgl. Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments. Stuttgart 2002.

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Tim Lörke

Gedichts. Dem Gedicht gelingt eine innerweltliche Erlösung, die jedoch auf den Moment der Lektüre beschränkt bleibt, wie Benn in Ein Wort (1941) festhält: Ein Wort Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffern steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort –, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –, und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und ich.59

Entsprechend lassen sich die Zeilen an Oelze gegen die pessimistische Deutung Carsten Dutts auch verstehen. Liest man die Zeilen mit Enjambements, also nicht als einzelne Zeilen, sondern mit Blick auf das Gesamte des Textes, das durch das Zusammenwirken der einzelnen Zeilen entsteht, gewinnt man den Eindruck eines Strömens, das auf der Ebene der Form dem Gedanken des Aufstiegs, der ascensio entspricht. Die von Dutt betonten Stockungen und Reflexionseinschübe werden durch die Form letztlich überwunden und miteinander vermittelt. Gerade der ausschwingende Gedankenstrich am Ende, der in das Schweigen überleitet, betont die zu erwartende Offenbarung. Die Überzeugung Benns, dass die Form das Ungereimte des Inhalts bindet und so die offenen Fragen aushaltbar macht, rückt auch die letzte Karte an Oelze in einen umfassenden Sinnzusammenhang, der durchaus tröstlich wirkt. Dabei wird freilich nicht dem Leben ein Sinn zugesprochen; die eingangs zitierte Frage Blumenbergs, ob Benn im Angesicht des eigenen Todes etwa doch seinen Nihilismus preisgibt, kann man verneinen. Das Leben ist sinnlos, weil dem Menschen der Sinn erst in der letzten Stunde genannt wird. Doch Benns Nihilismus bleibt auf das Irdische beschränkt; die Hoffnung auf Transzendenz unterstützt das Gedicht. Der Richtungsstreit um letzte Dinge, den auch Benns mitunter verzweifelte und zutiefst skeptische Gedichte austragen, wird in der Karte an Oelze beendet. Sie ist ein letztes Gedicht, das zweifelsfrei von Benn stammt. Christian Schärfs spöttischer Einschätzung, in diesen Zeilen fielen erstmals Benns und Oelze Stimmen zusammen, weil Oelze sie entsprechend präpariert habe, kann kaum zugestimmt werden.60 Ganz im Gegenteil lässt Benn hier dem Freund einen doppelten Trost zuteilwerden. Sterben heißt steigen. Und er traut Oelze zu, 59 Benn: Werke (Anm. 14), 1, 304. 60 Christian Schärf: Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2006, 409.

Ästhetisches Kerygma. Zur religiösen Dimension der Gedichte Gottfried Benns

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diesen Trost vor dem Hintergrund seines lyrischen Werks richtig zu verstehen. Wenn Benn seine Karte als letztes Gedicht verstanden wissen wollte, gibt sein letztes Gedicht die Richtung vor.

Lukas Pallitsch

Dichtung an der Schwelle: Zwischen dem Irrealis der Gegenwart und der Erinnerung an die Zukunft

Israels Propheten sind keine Wahrsager, sondern Menschen, die kompromisslos die Wahrheit verkünden. In ihrer Eigenart einer ethischen Form der Prophetie vermitteln sie kein technisches Wissen der Zukunft wie Losorakel (vgl. Ex 28, 20), sondern drohen und sprechen eine mahnende Botschaft aus, sofern das mosaische Gesetz missachtet wird.1 Ernst Bloch, der marxistische Philosoph, unterscheidet in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung zwischen dem Seher der Griechen und dem Propheten Israels. Im Abschnitt »Unabwendbares und wendbares Schicksal oder Kassandra und Jesajas« nimmt Bloch jene fundamentale Differenzierung von biblischem und griechischem Schicksalsverständnis vor, die zugleich eine Aussage über die Lesart von Prophetie trifft: Der Untergang Trojas war der Kassandra, die mit den Göttern die Gabe des Schicksalswissens teilte, als vollendete Tatsache bekannt. Es war bereits ausgemacht, bevor Paris geboren war, bevor Helena von ihm geraubt war, bevor der Krieg nur begonnen hatte; keine Buße der Trojaner, der ohnehin völlig Schuldlosen, konnte den Untergang abwenden. Das ist Moira, ein Wesen, das jeder Handlung blind und so dicht und riesenschwer aufsitzt, daß sie zerbricht.2

Die griechischen Seher sind nicht Werkzeuge Gottes, sind nicht Sprecher im Namen von Gott, sie vermögen das Geschick nicht zu wenden. Alles scheint bereits ausgemacht zu sein. Bloch stellt der griechischen Moira die biblischen Propheten gegenüber, wobei die fundamentale Differenz in der Verhältnisrelation zutage tritt: Der Gegensatz zeigt zugleich, wie sehr der offene Raum, den der Messianismus darstellt, den geglaubten Gott auch in Ansehung des von ihm Verhängten ändert. Denn nun ist das Verhängte oder Schicksal in nichts mehr tyrannisch zum Menschen, wie bei der Moira und auch beim Astralmythos. Sondern das Schicksal kann durchaus ge1 Vgl. dazu Herbert Marks: Der Geist Samuels. Die biblische Kritik an prognostischer Prophetie. In: Daniel Weidner u. Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. München 2013, 99–122, hier 104f. 2 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1959, 1513.

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Lukas Pallitsch

wendet werden: vor allem Jesajas lehrt es als von der menschlichen Moral und ihrem Entschluß abhängig. Das ist der aktive Gegensatz zum griechischen Seher, zu der lediglich passiv-verzweifelten Vision Kassandras vor allem: Schicksal auf der Waage, und das endgültig entscheidende Gewicht ist der Mensch selbst.3

In Bezug auf sein Publikum sieht sich der Prophet mit einer paradoxen Aufgabe konfrontiert, die man zugleich als prophetische Ironie bezeichnen kann: Sofern das prophetische Wort Wirkung bei der Gemeinde zeigt, impliziert dies, dass die Gewarnten ihre Haltung ändern und das drohende Potenzial der Zukunft nicht eintritt; sofern er jedoch recht hat, war die Mahnung umsonst.4 Dass das Schicksal der Menschen durch den verkündigenden Anstoß der Propheten nicht immer wendbar ist, zeigen die biblischen Texte, exempli causae Jesaja und Jeremia. Dabei wird zugleich die Leitdifferenz zur griechischen Moira evident, da jenes »unerbittliche Schicksal, das bei den Griechen die Regel war, in der Bibel Ausnahme [ist]; gerade der erste Schritt, nämlich der zur moralischen Umkehr, dreht das Verhängnis um.«5 Die Frage nach der Unterwanderung von Schicksal und Verhängnis, die gewiss nicht immer gelingen konnte, soll im Folgenden auf ihre epistemologischen Möglichkeiten befragt werden. Die Aufgabe biblischer Prophetie zeigt in den Texten eine doppelte Struktur : Dem Propheten obliegt, aufmerksam und mit einer größtmöglichen Innerlichkeit (Kawana) auf die Stimme des Herrn zu hören. Vice versa wird in den biblischen Texten dieses von Bloch skizzierte Drehen des Verhängnisses am Ort des Hörens oder eben NichtHörens auf das Entscheidungswort (Umkehr) des Propheten entschieden. Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt (1) die epistemischen Prämissen biblischer Prophetie in nuce herausgearbeitet werden, um lyrische Texte auf diese Strukturen befragen zu können. Im Anschluss kann in der Lyrik von Nelly Sachs (2) die Aktualität der Frage präzisiert werden, ob die Menschheit hören würde, »wenn die Propheten einbrächen«. Erich Frieds Gedicht Ein Prophet bietet Anlass, (3) die zeitlichen Strukturen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Prophetie zu lesen. Schließlich sollen (4) die Differenzen und Gemeinsamkeiten beider Dichtungen Aufschluss über die Epistemologie der Prophetie in der Lyrik und den historischen Index6 von Prophetie in der Lyrik des 20. Jahrhunderts geben. 3 Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Anm. 2), 1514. 4 Vgl. Daniel Weidner u. Stefan Willer : Fürsprechen und Vorwissen. Zum Zusammenhang von Prophetie und Prognostik. In: dies. (Hg.): Prophetie und Prognostik (Anm. 1), 9–22, hier 10. 5 Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Anm. 2), 1514. 6 Der historische Index ist ein instrumenteller Begriff, um die spezifische Historizität von Ereignissen zu erfassen. Gegen die Erarbeitung historischer Kontinuitäten verweist der »historische Index« auf die geschichtliche Dimension aktueller Probleme bzw. Konstellationen. Walter Benjamin schreibt im Passagen-Werk in seinen Überlegungen zum dialektischen Bild: »Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit

Dichtung an der Schwelle

1.

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Kawana und Zekher – Gegenwart zwischen Erinnerung und Künftigem

Prophetie ist als Terminus technicus vielschichtig und wurde im Sprachgebrauch auf verschiedene Phänomene wie Predigt, Wahrsagerei, Erkenntnis oder soziales Engagement angewendet oder damit identifiziert. Mit der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. haben jüdische Gelehrte bewusst auf Substantive wie mantis oder manteuomai, die eine auf Wahrsagerei und Ekstase hin offene Semantik aufweisen, verzichtet und stattdessen den Begriff prophetes verwendet. Mit dieser Begriffswahl wird zugleich post festum ein Misstrauen gegenüber unkontrollierbaren, teils ekstatischen Praktiken transparent und demgegenüber der verkündigende Aspekt biblischer Prophetie perspektiviert.7 Als Kompositum konstituiert sich »Prophetie« dem ursprünglich griechischen Wortsinn nach aus »pro« (vor/für) und »pheme/phetes/phem†« (sagen, äußern). Die Präposition »Pro-« ist unter Bezugnahme auf biblische Prophetie meines Erachtens weniger in einer zeitlichen, sondern in einer konstitutiven Relation zu verorten, im Sinne von »für-sprechen«, oder »im-Namen-von-jemandem-sprechen«, wobei sich das Geäußerte im biblischen Kontext stets auf Gott bezieht: der Prophet als der Fürsprecher von JHWH.8 Dennoch bleibt verschlüsselt, woher und woraus Prophetie ihr Erkenntnispotenzial zieht und worauf sie zielt. Meines Erachtens fundiert das epistemologische Vermögen biblischer Prophetie auf der Dialektik einer hohen Aufmerksamkeit für das Gegenwärtige und einer präzisen Kenntnis von Vergangenheit und religiöser Weisung (Tora). In der biblischen Gedächtniskultur treten die Imperative von Zachar und Schamar prominent hervor. Zachor, die imperativische Form (»Erinnere dich!«), mahnt zu gedenken und bezieht daraus gleichermaßen den Ruf für die Gegenwart.9 Erinnerung ist ein Schlüsselbegriff der hebräischen Bibel, denn es erweckt den Eindruck, als sei »das Erinnern ohne Zögern einfach angeordnet. Die Aufforderung, sich zu erinnern, ergeht bedingungslos, und selbst, wenn eine ausdrückliche Aufforderung nicht erfolgt, spielt das Erinnern stets eine Schlüsselrolle. […] Israel wird ermahnt zu gedenken, und zugleich wird dem

angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen.« (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. V. Frankfurt a. M. 1999, 577.) 7 Vgl. dazu Joseph Blenkinsopp: Geschichte der Prophetie in Israel. Von den Anfängen bis zum hellenistischen Zeitalter. Stuttgart 1998, 33–37. 8 Vgl. Weidner u. Willer: Fürsprechen und Vorwissen (Anm. 4), 10f. 9 Vgl. Shmuel Triango: »La voix, la voix de Jacob«. Z¦kher, filiation, historicit¦ d’Israel. In: Colloque des intellectuels juifs. M¦moire et histoire. Paris 1986, 213f.

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Lukas Pallitsch

Volk eingeschärft, nicht zu vergessen.«10 Neben der Aufforderung zur Erinnerung begegnet schamar (hören, beachten, hüten) vielfach imperativisch in der Heiligen Schrift, in markanter Gestalt zu Beginn des jüdischen Credos im Schema Jisrael: Höre Israel (Dtn 6, 4). Hören bzw. Beachten ist zum einen ein alltäglicher Terminus, der »Alltagsgeschäfte, z. B. das Hüten von Schafen und Ziegen« bezeichnet. Zweitens ist schamar ein religiös affizierter Begriff, weil das »›Halten‹ der Gebote Gottes, des Bundes, des gerechten Weges, des Rechts und vor allem: des Sabbats«11 einen kategorischen Imperativ prononciert. Während zekher auf die Vergangenheit rekurriert, verweist schamar den Menschen stark auf eine gegenwärtige Situation. Neben dem »Hören« (schamar) rekurriert die Kawana (Innerlichkeit/Aufmerksamkeit) auf eine Form, die den Menschen auf die Präsenz des Gegenwärtigen verweist. Kawana ist ferner mehr als bloße »Aufmerksamkeit, mehr als Achtgeben auf das, was wir sagen. Wenn Kawana nur eine Frage der Konzentration wäre, könnte sie leicht durch bloße Hinwendung der Gedanken erreicht werden«.12 Kawana als eine innere Form der Beteiligung fördert kein objektives Wissen oder spekulatives Denken, sondern eine schöpferische Kraft höchster Präsenz zutage.13 Insoweit fokussiert die Kawana jene Gegenwart, in der wir als Menschen agieren. Eine inhaltliche Korrelation zwischen jener Erinnerung, wie sie das jüdische zekher modelliert, und dem Eingedenken der Kritischen Theorie, insbesondere bei Walter Benjamin, lässt sich ebenso nachvollziehen wie der kontextuelle Horizont von Kawana und Aufmerksamkeit, fruchtbarer Skepsis und Geistesgegenwart.14 Bei Walter Benjamin wird eine Analogie zur Gebetsform der Kawana transparent: »Es gibt Zustände der Versunkenheit, gerade die Tiefe, welche dennoch den Menschen nicht geistesabwendend, sondern geistesgegenwärtig machen. […] Die einzige Art von Geistesgegenwart, welche Bestand hat und nicht untergraben zu werden vermag, ist die der heiligen Versunkenheit, etwa der des Gebetes.«15 Benjamin verbindet Gebet und Geistesgegenwart als Zustand im Aufsatz Über das Grauen I, im Kunstwerk-Aufsatz sowie expressis verbis in den Thesen zum Begriff der 10 Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor : Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, 17, zeigt, dass das Verb zachar (erinnern) »in all seinen Formen in der Bibel nicht weniger als 169 Mal vor[kommt]«. 11 Jan Assmann: Die Aufmerksamkeit Gottes. Die religiöse Dimension der Aufmerksamkeit in Israel und Ägypten. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII. München 2001, 69–90, hier 72. 12 Abraham Heschel: Der Mensch fragt nach Gott. Untersuchungen zum Gebet und zur Symbolik. Neukirchen 1999, 59. 13 Heschel: Der Mensch fragt nach Gott (Anm. 12), 7–9. 14 Vgl. dazu Vivian Liska: Walter Benjamins Dialektik der Aufmerksamkeit. In: Assmann u. Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten (Anm. 11), 141–150; ebenso: Carolin Duttlinger : Studium, Aufmerksamkeit, Gebet. Walter Benjamin und die Kontemplation. In: Daniel Weidner (Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin 2010, 95–119. 15 Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 6), Bd. VI. Frankfurt a. M. 1996, 75.

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Geschichte.16 Geistesgegenwart als »ein das Gebet begleitender Bewusstseinszustand […], als wirksame Prophylaxe gegen die der profanen Vertiefung so gefährliche Unterbrechung«17 und Kawana als geistesgegenwärtige Aufmerksamkeit weisen nicht nur gleichlaufende Züge auf, sondern implizieren eine analoge Haltung des Menschen, nämlich eine vertiefende Aufmerksamkeit, die hellwach unterbricht, was sonst narkotisch weiterläuft. Beide Manifestationen zielen keineswegs auf einen mystisch weltnegierenden Solipsismus, sondern auf einen Zustand erhöhter bzw. purer Präsenz. Die Differenz wird in der Funktion des Gebets manifest, da die Prämissen der Kawana im Gebet wurzeln,18 wohingegen die Geistesgegenwart im Sinne Benjamins als analoges Modell einer profanen Praxis der Zerstreuung des Großstadtlebens entgegenzuwirken versucht. Geistesgegenwart kann als Signatur biblischer Prophetie gelten; es ist eine doppelte Optik von gegenwärtiger Präsenz und erinnernder Rückwendung notwendig, um das Phänomen der Prophetie zu konturieren. Die Reziprozität von Vergangenheit (Erinnerung) und Gegenwart (Hören), von vergangenen Spuren in der Gegenwart und aufmerksamer Wiedererkennbarkeit vergangener Ereignisse weist auf jenen Punkt, der den Konnex beider biblischer Imperative gewährleistet. Der reflexive Kontrapunkt des prophetischen Wissens ist die Erinnerung (zekher) an die ethische Dynamik des mosaischen Gesetzes, wodurch der Prophet als Für-Sprecher agiert, der für Gott bzw. die mosaische Weisung spricht. Der Prophet, der die Krise der Gegenwart erlebt, blickt in der Rückwendung auf die Vergangenheit, um daraus jene Konstellationen zu erfassen, die in der Folge ihres Nachlebens zur Lesbarkeit kommen. Diese Dialektik von Erinnerung und Geistesgegenwart generiert keine Assimilation der Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern fokussiert »im Gegenteil auf die Veränderung der Gegenwart, d. h. auf eine Dissimilation«.19 Der Prophet nimmt die Spannungsmomente zwischen Tradition (Referenzpunkt der Erinnerung) und Gegenwart wahr und spielt sie gegeneinander aus. Exempli causa rufen Jesaja oder Amos eine dissimilierende Erinnerung wach, weil diese Erinnerungsform weniger das Selbstbild eines Kollektivs grundiert, als vielmehr aus einer diskontinuierlichen Bruch-Erfahrung ihren Ausgang nimmt. Erinnerung, die in einem dissimilierenden Verhältnis zur Gegenwart steht und folglich 16 Zur Verbindung von Gebet und Geistesgegenwart in Über das Grauen I vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften VI (Anm. 14), 76f. Zum Kunstwerk-Aufsatz vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 6), Bd. I. Frankfurt a. M. 1990, 502ff., und zu den Thesen in Der Begriff der Geschichte, hier als das »Rettende«, vgl. ebd., 1244. 17 Duttlinger : Studium, Aufmerksamkeit, Gebet (Anm. 14), 111. 18 Vgl. Heschel: Der Mensch fragt nach Gott (Anm. 12), 30–64. 19 Stefano Marchesoni: Walter Benjamins Konzept des Eingedenkens. Über Genese, Stellung und Bedeutung eines ungebräuchlichen Begriffs in Benjamins Schriften. Berlin 2013, 289.

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kontrapräsentisch und gefährlich ist, relativiert eine oft unerwünschte Gegenwart,20 weil das Defiziente bzw. das »Diskontinuum«21 – d. h. das Fehlende und Verlorene – und damit der Bruch zwischen Gegenwart und Vergangenheit akzentuiert wird. Das hebräische Gedächtnis ist paradox, denn zekher begründet die Vision der Zukunft und nicht die Nostalgie der Vergangenheit. Zekher ist Ruf nach Vergangenheit und nicht Rückzug auf diese. Die biblischen Propheten agieren im Vollzug der Kawana oder Geistesgegenwart, die als kontemplative Grundhaltung bzw. Gebetsform keinen weltabgewandten privatistischen Solipsismus zeitigt, sondern eine Aufmerksamkeit zutage fördert, die Banalitäten negiert. Inwiefern die Propheten in einem Zustand »fruchtbarer Skepsis«22 ihre Geistesgegenwart auf die intermittierenden Erinnerungspunkte fixieren, soll in folgenden Textkonstellationen in der Spannung widersprüchlicher Momente transparent gemacht werden. Die Frage nach der prophetischen Figuration in den Dichtungen wird vorerst dort fündig, wo Propheten expressis verbis auftreten.

2.

Prophetie in Satzbrüchen

Die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs hat ihre Dichtung gegen eine Amnesie von Auschwitz gerichtet.23 In ihrer Lyrik zeigt sich ein Ausweis vielschichtiger Bezüge zu biblischen und mystischen Topoi, die meist verfremdet und transformiert werden und demnach den Gedichten einen eigenwilligen Charakter verleihen. Ein solcher kommt den Texten gleichermaßen durch deren syntaktische Brüchigkeit zu, wobei sich konkrete semantische Bestimmungen von Lexemen aufgrund deren Polyvalenz im lyrischen Gesamtwerk nicht auf eine kohärente oder singuläre Bestimmung fixieren lassen. Ihre Lyrik entzieht sich einer Vermittlung eindeutiger Gehalte und bringt demgegenüber eine ästhetische Ambiguität hervor, die intertextuelle Zitate bzw. Allusionen verarbeitet. Anhand zentraler Gedichtstellen soll das prophetische Element im lyrischen Œuvre von Nelly Sachs angedeutet werden. In ihrem zweiten Gedichtband Sternverdunkelung aus dem Jahr 1949 widmet Nelly Sachs im Zyklus Die Muschel saust mehrere Gedichte biblischen Gestalten. In dieser Sammlung findet sich das 20 Vgl. Gerd Theißen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. In: Jan Assmann u. Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 170–196. 21 Benjamin: Gesammelte Schriften I (Anm. 16), 1236. 22 Benjamin: Gesammelte Schriften I (Anm. 16), 225. 23 Vgl. Lukas Pallitsch: Konturen der Hiobsgestalt in der Lyrik von Nelly Sachs. Wien 2011, 145–172.

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Gedicht Wenn die Propheten einbrächen24, das im Titel durch den Konditional hinterfragt, wie sich die »Menschheit« verhalten würde, wenn die Propheten einbrächen. Fünfmal setzt das Gedicht mit der Eingangszeile »Wenn die Propheten einbrächen« repetitiv ein und endet in Satzbrüchen, die mittels typografischer Gedankenstriche des Verstummens affiziert werden, oder macht vor scheinbar übergroßen Fragen halt. In der Mitte des Gedichts wird das prophetische Geschick exemplarisch entfaltet: Wenn die Propheten einbrächen durch die Türen der Nacht mit ihren Worten Wunden reißend in die Felder der Gewohnheit, ein weit Entlegenes hereinholend für den Tagelöhner der längst nicht mehr wartet am Abend – Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht und ein Ohr wie eine Heimat suchten – Ohr der Menschheit du nesselverwachsenes, würdest du hören?25

Die Frage, wie sich die Menschheit gegenüber den Propheten verhalten würde, wenn sie unvermittelt in der Jetztzeit einbrächen, wird in der Ambivalenz von Klage und Frage entfaltet. Diese Dialektik von Frage und Mahnung zielt bewusst auf jenes »Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit«26, in dem die Propheten (-bücher) jenen historischen Index verarbeiten, der zu diesem bestimmten historischen Augenblick eine neue Lesbarkeit generieren kann. Auf diese Jetztzeit wird das Gedicht angelegt. Dass die Propheten hier weniger im temporalen Sinn als Voraussager bzw. Vorauskünder,27 sondern vielmehr als Fürsprecher agieren, affirmiert die Dialektik von Verkündigung und Hören. In den letzten drei Strophen wird das Spannungsmoment von Verstocktheit und Hören in extenso entfaltet:

24 Nelly Sachs: Wenn die Propheten einbrächen. In: dies.: Fahrt ins Staublose. Gedichte. Frankfurt a. M. 1988, 92–94. 25 Sachs: Wenn die Propheten einbrächen (Anm. 24), 92f. 26 Benjamin: Gesammelte Schriften V (Anm. 6), 578. 27 So Sigrid Mühlbacher : »Wir werden Zeugen sein«. Zum Motiv des Prophetischen. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts Bd. 1: Formen und Motive. Mainz 22000, 385–402, hier 399.

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Ohr der Menschheit du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes, würdet du hören? Wenn die Propheten mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten: Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis Wer will den Sterntod erfinden? Wenn die Propheten aufständen in der Nacht der Menschheit wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen, Nacht der Menschheit würdest du ein Herz zu vergeben haben?

Jenes Verständnis von Prophetie, das Nelly Sachs in diesem Gedicht expliziert, effiziert keine intrinsische Nähe zur Prognostik, sondern zu einer ethischen Frage. Wie die Propheten des Ersten Testaments wusste Jesus, dass der Prophet nirgends so wenig Ansehen hat wie in der eigenen Heimat (vgl. Mk 6, 4). Mit diesem Geschick scheinen die Propheten in diesem Gedicht zu hadern, deren Worte »in die Felder der Gewohnheit Wunden reißen«. Propheten sagen nicht wahr, sondern die Wahrheit.28 Sie verfügen nicht über die Wahrheit, sondern artikulieren diese »im Namen von« als Für-Sprecher. In dieser Vermittlerrolle determiniert das »Hören« (hebräisch: schamar (s. o.), von Luther mit »Gehorchen« übersetzt) das Narrativ der prophetischen Texte. Zahlreiche Boten- und Wortereignisformeln (vgl. »Und das Wort JHWHs erging an mich, so […]«, Jer 2, 1) zeugen davon, dass die Propheten als Fürsprecher auf das Wort JHWHs angewiesen sind. Zugleich liegt es an ihnen, das Hören (bzw. Gehorchen) imperativisch zu proklamieren. Eine hypertextuelle Nähe zu dieser konditionellen Anfrage des Gedichts zeigt das 2. Kapitel des biblischen Jeremia-Buches, das hier in marginalen Auszügen als Synopse den lyrischen Zeilen zur Seite gestellt wird: Zu wem soll ich reden und wer wird mich hören, wenn ich mahne? (Jer 6, 10)29

Ohr der Menschheit du mit den kleinen Lauschen beschäftigtes, würdet du hören?

28 Vgl. Michael Kessler : Transzendenz und Transzendieren im Werk der Nelly Sachs. In: ders. u. Jürgen Wertheimer (Hg.): Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen 1994, 225–268, hier 253. 29 Zitiert nach der Einheitsübersetzung.

Dichtung an der Schwelle

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Das Wort des Herrn erging an mich: Auf! Ruf Jerusalem laut ins Ohr : So spricht der Herr» (Jer 2, 1–2) Wie lange noch muss ich die Kriegsfahne sehen, Trompetenschall hören? Ach, töricht ist mein Volk; mich kennen sie nicht. Sie sind unverständige Kinder, ja, sie sind ohne Einsicht. Sie wissen, wie man Böses tut, aber Gutes zu tun verstehen sie nicht. (Jer 4, 21f.)

Wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:

Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis

Wer will den Sterntod erfinden?

Der Ruf in die Ohren, als Organe des Hörens (»ruf ins Ohr« (Jer) und »Gehörgang aufbrächen« (Nelly Sachs)), ist in dieser Bildkombination an divergente Adressaten gerichtet. Während Jeremia seine Botschaft an Jerusalem, die Hauptstadt Judas richtet, ist der Adressat im Gedicht das »Ohr der Menschheit«. Trotz einer kongruenten Motivierung, dem Text eine Kriegsperspektive einzuverleiben, legt die unterschiedliche Formgebung eine Differenz nahe: Das 4. Kapitel des Jeremia-Buches präsentiert wie in einem Film in einer Art szenischen Abfolge mehrere Perspektiven des Krieges und kennzeichnet damit vielfältig den nahenden Untergang. Demgegenüber konfrontiert Nelly Sachs im Konditional (»Wenn«) zunächst metonymisch das »Ohr«, dann die »Nacht der Menschheit« mit einer im Irrealis der Gegenwart konzipierten Frage. Zunächst weckt die Szenerie eine frappierende Ähnlichkeit mit dem warnenden Gestus des Propheten Jeremia, der mahnt und zugleich das Nicht-Hören trotz intakter Wahrnehmungsorgane beklagt. In dieser Spannung von Hören und NichtHören, von Gehorsam und Verstocktheit oszillieren die Verkündigung und das Geschick der Propheten in summa (vgl. exemplarisch die Konfessionen in Jer 11, 18ff.; Jes 6, 10). Die kanonischen Prophetentexte der Bibel zeigen eine komplexe Bewegung, indem sie lineare Narrative und strikte Oppositionen unterlaufen. In der Verkündigung ist ihnen die Ahnung der Jetztzeit gemein. Den Propheten geht es primär nicht darum, die Zukunft zu deuten: »Das Erste, was sie alle kennzeichnet, ist die dichte Ahnung, was jetzt an der Zeit ist und was jetzt vor dem Herrn gilt oder vom Herrn jetzt verneint und ausgereutert wird.«30 Mit diesem Jetzt konfrontieren die Propheten gemeinhin das Volk und prononcieren einen Handlungsdualismus (entweder – oder). Nicht zufällig bedient Nelly Sachs 30 Wolfgang Klaghofer-Treitler: Auf Wanderschaft. Betrachtungen zum biblischen Glauben. Kirchstetten 2005, 169.

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Lukas Pallitsch

zweimal explizit die Frage nach dem Hören, jener prophetischen Signatur der Jetztzeit, die zu einer unvermittelten Entscheidung wachruft. Der Hör-Gestus bleibt konstitutiv, doch in den Gedichten wurde der imperativische Stachel durch einen Fragegestus substituiert. Das Gedicht markiert diesen Entzug auf mehrfache Weise: Statt des Imperativs werden dem »Ohr der Menschheit« als Adressaten Fragen gestellt, wobei die Ausgangssituation variiert wird. »Wenn die Propheten einbrächen« wird unter Beibehaltung des Konditionalgefüges zur Frage konkretisiert: wenn sie »aufbrächen deinen Gehörgang«. Am Ende wird das Konditionalgefüge zu »Wenn die Propheten aufständen« gewandelt. Im Irrealis der Gegenwart erfolgt ein unvermittelter Übergang zu einer persönlichen Ansprache (»würdest du hören?«; »Ohr der Menschheit / du«); zudem ist eine Bewegung zu einer höheren Konkretheit zu konstatieren, da die Menschheit in der Apodosis gegenläufig mit abstrakteren Fragen konfrontiert wird. Einen poetischen Ausweis biblischer Prophetie markiert der Entscheidungsdualismus (»Würdest du hören?«), mit dem die Menschheit mit einer für Nelly Sachs typisch semantisch polyvalenten Satzkonstruktion konfrontiert wird: »Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis / Wer will den Sterntod erfinden?« Das Abstraktum »Geheimnis« ist ein produktives Wort im lyrischen Kontext und verweist »fast ausnahmslos auf jenen im Urgrund verborgenen Ort mystischer Tradition«.31 Einen Krieg gegen ein mystisch-religiös konnotiertes Geheimnis zu beginnen, führt die Frage nahezu ad absurdum. »Stern« gilt als zentraler Begriff im lyrischen Œuvre der Dichterin und repräsentiert die kosmische Dimension, der Begriff wird im hiesigen Kontext zu einer kontaminierten Metapher anthropomorphisiert.32 Dadurch wird kontrastierend zum vermessbaren Planeten der Erde auf einen Ursprungsort des Lichtes und der Transzendenz verwiesen, zugleich wird durch die Kontamination ein fernes und befremdendes Element in eine Nähe gerückt. Die latent mystische Terminologie, die Nelly Sachs aus der jüdischen Mystik (Zohar und Kabbala) schöpft, wird durch den Neologismus »Sterntod« potenziert und damit die Unverfügbarkeit dieser Frage prononciert. Ob in diesem Gedicht die Propheten als »Symbolfiguren für Gottes Zuwendung zur Welt«33 »werbend-aufrufend«34 31 Paul Kersten: Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs. Mit einer Wort-Konkordanz und einer Nelly Sachs-Bibliographie. Hamburg 1970, 153. 32 Dies ist kein untypisches Verfahren bei Nelly Sachs (vgl. dazu in ihrer Lyrik exemplarisch die Komposita »Sternbild«, »Sterntod« und »Sternenfinger«). 33 Josef Oesch: Prophetie aus vorexilischer und exilischer Zeit. In: Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur (Anm. 27), Bd. 2: Personen und Figuren, 177–204, hier 202. – Demgegenüber sieht Gisela Bezzel-Dischner : Poetik des modernen Gedichts. Zur Lyrik von Nelly Sachs. Berlin 1970, 53, »hinter der Stimme des Propheten […] die Stimme der Dichterin selbst«. Beide Extrempositionen strapazieren meines Erachtens dieses Gedicht zu stark. Weder die Dichterin selbst noch eine Symbolfiguration ist in diesen Zeilen zu verorten. Das Gedicht selbst scheint diese Positionen durch die ambige Bewegung zu unterlaufen.

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auftreten, darf bezweifelt werden. Vielmehr konfrontieren die Propheten die Menschheit in einer sukzessiv konkretisierenden Form leidenschaftlich mit dem Wort. Im Rahmen der prophetischen Bücher des biblischen Korpus verweist das Wort meist auf den Offenbarungscharakter, das von den Propheten in der Rolle als Für-Sprecher von JHWH verkündet wird: »Betrachtet man Gottes Selbstmitteilung als ›Wort‹ auf einer ersten, von Gott ausgehenden Ebene, dann kann man dessen Aufnahme durch andere Schriftsteller (in der Tora, oder in Propheten wie Jesaja, Ezechiel) als Wort begreifen, gleichsam auf einem weiteren, neuen Niveau, das menschliches Verarbeiten einbezieht.«35 Indem die Propheten mit »ihren Worten Wunden reißen«, schützen sie Worte und Sprache nicht bloß davor, dass diese (Worte) zu einem ideologischen Propagandagefüge depraviert werden, sondern generieren gegen die »Felder der Gewohnheit« eine Erinnerungslandschaft.36 Eine Radikalität des prophetischen Wortes, das starke Wunden aufreißt, ist in den Kapiteln 2–6 des Jeremia-Buches zu erkennen. Die Propheten inventarisieren nicht die Vergangenheit, sondern brechen sie mit verzerrten Kausallogiken auf. Der Impetus des Gedichts liegt im Konditionalgefüge und evoziert, dass der Kairûs der Lesbarkeit noch aussteht, aber stets aufs Neue zu einer Erkennbarkeit kommen kann. An dieses Moment der Erkennbarkeit mahnt dieses Gedicht. Im Gedichtband Und niemand weiß weiter aus dem Jahr 1957 betitelt Nelly Sachs einen Zyklus Flügel der Prophetie37, der acht Gedichte inkludiert. Das Gedicht Immer noch Mitternacht auf diesem Stern reiht in der zweiten Strophe den Propheten Elia in die Linie der großen Verzweifler ein: IMMER NOCH MITTERNACHT auf diesem Stern und die Heerscharen des Schlafes. Nur einige von den großen Verzweiflern haben so geliebt, daß der Nacht Granit aufsprang vor ihres Blitzes weißschneidendem Geweih. So Elia; wie ein Wald mit ausgerissenen Wurzeln erhob er sich unter dem Wacholder, schleifte, Aderlaß eines Volkes, blutige Sehnsuchtsstücke hinter sich her […]38

Die »Verzweifler« werden als Ausdrucksträger einer paradigmatischen Liebe skizziert, denn die Metapher »der Nacht Granit« ist eine Affirmation der Tiefe 34 Mühlbacher : »Wir werden Zeugen sein« (Anm. 27), 388. 35 Georg Fischer : Jeremia 1–25. Übersetzt und ausgelegt von Georg Fischer. Freiburg i. Br. 2005, 74. 36 Vgl. Bezzel-Dischner : Poetik des modernen Gedichts (Anm. 33), 52. 37 Nelly Sachs: Und Niemand weiß weiter. In: dies.: Fahrt ins Staublose (Anm. 24), 198–207. 38 Nelly Sachs: Immer noch Mitternacht auf diesem Stern. In: dies.: Fahrt ins Staublose (Anm. 24), 204.

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der Nacht und affiziert zugleich als Strukturmerkmal eine Form der Zeitlichkeit. Trotz unterschiedlicher Kontextualisierungen bleibt das »Bildelement ›Stein‹ an die Bedeutungsfunktion gebunden, als Aufbewahrungsort von Zeit und Erinnerung zu gelten«.39 Insofern wird in diesem Gedicht nicht nur der Tiefe der Nacht, sondern ebenso der Erinnerung an diese dunklen Phasen Ausdruck verliehen. Finsternis, die als Abstraktum und unbelebte Materie gilt, repräsentiert im Kontext der Lyrik von Nelly Sachs eine Nähe zum Tod, zugleich ein Motiv der Erinnerung, von Zeit und Nacht.40 Zudem metaphorisiert die Nacht zeichenhaft die Abschiednahme, denn in der Nacht beginnt für die Überlebenden die ungewisse Flucht.41 Entscheidend scheint der Hinweis auf den zeitlichen Index des Gedichts: »Immer noch Mitternacht«. Dadurch wird eine konträre Zeitangabe verhandelt, denn die Mitternacht wird als Umschlagpunkt des Tages durch die adverbiale Angabe »immer noch« in eine zeitliche Starre versetzt. Dies ist zugleich der Zeitpunkt einer Schwelle, der Umschlagpunkt der Mitternacht. Schwellen haben im Kontext der Lyrik von Sachs eine metaphorische Funktion des Umschlagens von Zuständen. Die Dialektik von äußerster Dunkelheit und einem ambivalenten Zeitgefüge konturiert eine Zerrissenheit des Propheten Elia, der so sehr liebte, »daß der Nacht Granit aufsprang«. Elia wird in diesem Gedichtgefüge als geistesgegenwärtiger Prophet skizziert, der nicht nur um die Erinnerung weiß, sondern diese am Kairûs ihrer Erkennbarkeit aufspringen lässt. Ein kongruentes Bildelement in diesem Zyklus aus dem Gedicht Nicht nur Land ist Israel! expliziert diese Dialektik von zachar und schamar nochmals: In diesem Gedicht wird in der Mitte der ersten Strophe der »Flügel der Prophetie / an der Schulter aus Wüstensand«42 verortet. Kawana wird vorzugsweise in der leeren Einsamkeit gebildet; dort vernimmt der Mensch wie einst Moses die Stimme des Herrn am Sinai. Indem Friedrich Dürrenmatt das Shema Jisrael als eine »Erfahrung der Wüste«43 bezeichnet, wird dem Wort der kritischen Unterscheidung eine treffende Signatur des Ortes verliehen. Ein für den hiesigen

39 Kersten: Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs (Anm. 31), 77. 40 Vgl. Peter Sager: Nelly Sachs. Untersuchungen zu Stil und Motivik ihrer Lyrik. Bonn 1970, 117 u. 119. 41 Die ungewisse Flucht mussten viele jüdische Menschen in den 1930er-Jahren antreten. So auch Nelly Sachs, die buchstäblich in den letzten Stunden die Flucht 1939 aus Berlin ins schwedische Exil antrat. Flucht bedeutet stets Abschied, Exil, selten jedoch Heimat. Auf die metaphorische Verbindung von Farbqualität (»schwarz«) und Abstraktum (»Abschied«) verweist Peter Sager, da der Nacht die Farbqualität »schwarz« zugeeignet wird und damit viele der für das Wortfeld »Abschied« konstitutiven Elemente affiziert werden. Sager : Nelly Sachs (Anm. 40), 245–248; vgl. auch Bezzel-Dischner : Poetik des modernen Gedichts (Anm. 33), 36f. 42 Nelly Sachs: Nicht nur Land ist Israel! In: dies.: Fahrt ins Staublose (Anm. 24), 199. 43 Friedrich Dürrenmatt: Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. Zürich 1998, 127.

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Kontext letzter Referenzpunkt zum Thema der Erkennbarkeit findet sich in dem Gedicht David erwählt: Aber im Flammentopf der Erde mit Pflanze und Getier die Lenden hinauf standen die Propheten sahen aber schon durch Gestein hin zu Gott.44

Der Blick durch das Gestein markiert in diesem Gedicht eine zeitliche Bewegung in doppelter Weise. Dem wörtlichen Verständnis zufolge ist der artikulierte Blick »durch Gestein« tief und durchdringend. Durch die zeitliche Signatur der Metaphorik45 wird in dieser Strophe eine Struktur manifest, die prätendiert, diesen Blick auf Gott mit einem Gestus der Erinnerung zu lesen. Insoweit korreliert hiermit das eingangs skizzierte Konzept der Kawana bzw. Geistesgegenwart, das bei den Propheten nicht ohne den zachor-Imperativ zu denken ist. Zugleich affiziert die Konsistenz des Gesteins, als Verwahrungsort von Erinnerung und Gedächtnis, ein Spannungsmoment, das zwischen »schon« und »noch (nicht)«, zwischen einst und jetzt oszilliert. Der Kenntnis, dass sich eine Vision der Gegenwart durch den Imperativ zur Erinnerung (Zachor) formiert, wird im Gedicht durch diesen ambigen Blick in die tiefe Vergangenheit Ausdruck verliehen: »Zekher ist Ruf nach Gegenwart und nicht Rückzug auf die Vergangenheit.«46 Poetische Interpolationen, wie sie hier in der Funktion des Zwischen-Raums anzutreffen sind, gerieren sich als stilistisches Prinzip, um ebendiese Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart auszudrücken.

3.

Erich Fried: Ein Prophet in Erinnerung an die Zukunft

Nicht nur der Name von Frieds Mutter (Nelly Fried) weist eine Spur zu Nelly Sachs. Seine jüdische Herkunft und seine Flucht ins Exil legen eine biografische Klammer um das Geschick beider Dichter. Im Gegensatz zu Nelly Sachs kehrte 44 Nelly Sachs: David erwählt. In: dies.: Fahrt ins Staublose (Anm. 24), 274. 45 Wie im Gedicht Immer noch Mitternacht auf diesem Stern der »Granit« als Index der Erinnerung verwendet wird, so auch hier. Die Bildelemente Stein oder Granit werden in Sachs’ Lyrik an eine Bedeutung gebunden, die als »Aufbewahrungsort von Zeit und Erinnerung« gelten kann, so Kersten: Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs (Anm. 31), 77. Damit wird eben nur im wörtlichen Sinn dem tiefen Blick durch die Härte des Gesteins, sondern ebenso oder möglicherweise stärker der prophetischen Erinnerung »durch Gestein« Ausdruck verliehen. 46 Triango: »La voix, la voix de Jacob« (Anm. 9), 213.

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Erich Fried nach dem Krieg nach Österreich zurück und veröffentlichte vorzugsweise Lyrikbände. Strukturell ähnlich zu Nelly Sachs hat Erich Fried drei der Titelgebung zufolge programmatische Gedichte zur Prophetie verfasst,47 in anderen Gedichten werden ebenso die Spuren der prophetischen Tradition aufgenommen und grosso modo entwickelt.48 In kaum einem lyrischen Vers verdichten sich die epistemischen Voraussetzungen prophetischer Erkenntnis expliziter als in Frieds Gedicht Ein Prophet aus dem 1964 publizierten Band Warngedichte: Dieser Narr erinnert sich an die Zukunft Mit seinem Auge das verfinstert ist vor der Nacht Mit seinem Ohr das nicht mehr hört vor dem Schweigen Mit seinem Hirn das verbrennt vor dem Feuer Mit seinem Schrei.49

Die Poetik der Warngedichte von Fried konstruiert einen historischen Ablauf als tödlichen Kreislauf. Die Gedichte sind nicht als Warnungen eines festgesetzten Weltbildes konzipiert, sondern »machen aufmerksam auf das Funktionieren eingespielter Verhaltensmuster, auf die Verschleierung einzelner Sinneseindrücke und Erfahrungen, auf die Verdrängung von Manipulationstechniken. Unbewältigte Konflikte werden bewußtgemacht, Rationalisierungen, die von traumatischen Situationen ablenken und sie verzerrt darstellen, werden zerstört.«50 Als eine prototypische Mahn- oder Warngestalt kann der Prophet gel47 Vgl. die Gedichte Ein Prophet und Der Prophet (in: Erich Fried: Gesammelte Werke. Hg. v. Volker Kauoreit u. Klaus Wagenbach. Bd. 1. Berlin 1993, 275f.); zwei weitere Gedichte sind mit Der Prophet (in: ebd., 105, sowie Bd. 3, 392f.) betitelt. 48 In dem Gedicht Gebranntes (in: Fried: Gesammelte Werke 1 (Anm. 47), 78f.) sowie in den Gedichten Diadochendiktatur (in: ebd., Bd. 2, 201) und 500 Jahre nach Luther – Das Washingtoner Bekenntnis (in: ebd., Bd. 3, 459), aber auch in anderen Gedichten lassen sich Spuren zur biblischen Prophetie finden. Vgl. Tanja Gojny : Biblische Spuren in der Lyrik Erich Frieds. Mainz 2004, 385. 49 Erich Fried: Ein Prophet. In: ders.: Warngedichte. Frankfurt a. M. 1985, 34. 50 Johann Holzner: Gegennachrichten. Zu den Gedichten von Erich Fried (1966–1974). In: Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Formen der Lyrik in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Wien 1981, 41–55, hier 46.

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ten. »Narr« ist kein Terminus technicus biblischer Prophetenbücher als Stilisierung dieser Personengruppe; vielmehr werden die Wahrsager und Zauberer solche geheißen (vgl. Jes 44, 25; Jer 50, 36). Als Ausdruck der Verfemung lässt sich mit diesem Begriff das Geschick einzelner Propheten beschreiben: Jeremia wird verlacht, zudem ausgestoßen und in eine Zisterne geworfen. Er wird zu einem Narren, weil er als Unheilsprophet dem Volk den Untergang von Tempel, Stadt und Land kündet. Als solcher »erinnert sich« Jeremia paradigmatisch »an die Zukunft«. Ohne Abmilderung und Scheu lenkt er den Blick auf das Fehlverhalten des Volkes, um dergestalt eine Option zu richtigem Tun und Erkennen zu ermöglichen.51 Fruchtbare Skepsis und vertiefende Aufmerksamkeit lassen den Propheten die Jetztsituation neu lesen und die Verhärtung böser Herzen (Jer 3, 17) anklagen. Indem Jeremia als ein Prophet wie Moses agiert,52 wendet er sich in einer gegenwärtig krisenhaften Situation der Vergangenheit zu, um daraus eine kritische Maßgabe für eine Beurteilung derselben zu schöpfen. Durch defizient erlebte Situationen (Kawana), beispielsweise den Bruch des Sabbat oder die nicht erfolgte Sklavenfreilassung, mahnt der Prophet in der Erinnerung an die Vergangenheit (zekher) an das Exodusgeschehen, um eine Umkehr zu ermöglichen. Die Vergangenheit zu vergessen, wird beim Propheten Ezechiel zum Anklagepunkt par excellence: 42

Wenn ich meinen Zorn an dir gestillt habe, wird meine Eifersucht aufhören, gegen dich zu wüten. Ich werde Ruhe haben und mich nicht mehr ärgern. 43Weil du die Tage deiner Jugend vergessen und mich durch dein Treiben gereizt hast, darum lasse ich dein Verhalten auf dich selbst zurückfallen – Spruch Gottes, des Herrn. Hast du nicht neben all deinen Gräueln auch noch andere Schandtaten verübt? (Ez 16, 42f.)

Als Warner vor krisenbehafteten Gegenwartserfahrungen und Mahner zum Frieden sowie einer heilvollen künftigen Konstellation steht der Prophet in diesem Gedicht an der Schwelle der Zeiten: Dieser Narr erinnert sich an die Zukunft

Als eine Gestalt, die zur Veränderung mahnt, ermöglicht der Prophet (»Narr«) diese Übergangskonstellation, indem er an dieser zeitlichen Schwelle agiert.53 51 Vgl. Fischer : Jeremia 1–25 (Anm. 35), 115f. 52 Walter Brueggemann: The theology of the book of Jeremiah. Cambridge 2007, 74f. – Nicht nur Walter Brueggemann bezeichnet Jeremia als einen »prophet like Moses« (ebd., 74). Die Argumentation hierfür ist eine doppelte, denn das Jeremia-Buch nimmt vielfältig Bezüge zur Tora, insbesondere zum Buch Deuteronomium auf. Vgl. Fischer: Jeremia 1–25 (Anm. 35), 68–71. Zudem wird im prophetischen Text ein Erinnerungsnarrativ an das Gesetzesbuch bei der Begründung zur Umkehr manifest. 53 Es geht in dieser Konstellation meines Erachtens nicht so sehr um eine scharfe Grenzziehung

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Das Jetzt der Erkennbarkeit wird sowohl dem Erkannten (zachar) als auch dem Moment der Erkenntnis (Kawana) zugedacht. »Dabei wird das Damals als das erkannt, was nur gerade jetzt so erkannt werden kann, und dieses Jetzt konstituiert sich als der Moment, in dem jenes Damals zu erkennen ist.«54 Dieses reziproke Verhältnis von Erkanntem und dem Moment der Wiedererkennbarkeit wird in der Passagen-Schrift als Schwelle von Traum und Erwachen formuliert, als die »Kunst, die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht«.55 Prophetie und Wirklichkeit sind als eine Schwelle zu verstehen. Im Gedicht befindet sich der Prophet an dieser temporalen Schwelle, die keine klare Grenzziehung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft erlaubt. Präsens (er erinnert sich), Vergangenheit (Erinnerung) und Futurum (Zukunft) werden poetisch zusammengesetzt, sodass der Prophet eine Gestalt figuriert, die das Künftige entlang der Gedächtniserfahrungen in der aufmerksam wahrgenommenen Gegenwart verkündet. Die Konvergenz der Zeiten wird mit den Sinnen wahrgenommen: »mit seinem Auge«, »seinem Ohr«, »seinem Hirn« und zuletzt »mit seinem Schrei«. Nacht, Schweigen und Feuer werden zum Schmelztiegel der prophetischen Erkenntnis, sodass dem Propheten nur mehr »sein Schrei« bleibt.

4.

Die Herausforderung für heute: Zeitkern der Wahrheit

Franz Rosenzweig führte seine Suche nach Erzählung, Sprechen und Zeit zum Judentum: »Das Jüdische ist meine Methode, nicht mein Gegenstand.«56 Daraus entwickelte er eine Methode des Erzählens, die Zeit und Wirklichkeit nochmals in ein neues Verhältnis setzt: »Wer erzählt, will nicht sagen, wie es ›eigentlich‹ gewesen ist, sondern wie es wirklich zugegangen ist. […] Der Erzähler will nie zeigen, daß es eigentlich ganz anders war – es ist geradezu Kennzeichen des schlechten, begriffsvergessenen oder sensationslüsternen Historikers, darauf auszugehen«.57 Nicht Ist-Sätze bildet der Erzähler, sein Interesse liegt vielmehr »auf dem Verbum, dem Zeitwort. Die Zeit nämlich wird ihm ganz wirklich. Nicht

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der Zeiten als vielmehr um einen Übergang, eine Schwelle im Sinne Walter Benjamins: Gesammelte Schriften V (Anm. 6), 618: »Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort ›schwellen‹.« Heiner Weidmann: Erwachen/Traum. In: Michael Opitz u. Erdmut Wizisla: Benjamins Begriffe 1. Frankfurt a. M. 2000, 341–362, hier 343. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften V (Anm. 6), 491. Franz Rosenzweig: Briefe. Berlin 1935, 407. Franz Rosenzweig: Das neue Denken. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Annemarie u. Reinhold Mayer. Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. Dordrecht 1984, 148.

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in ihr geschieht, was geschieht, sondern sie, sie selber geschieht«.58 Betrachtet man die Gedichte von Nelly Sachs und Erich Fried unter diesem Gesichtspunkt, so werden wir als Leser vor eine befremdende Konstellation gestellt: Nelly Sachs formuliert die Verba im Irrealis der Gegenwart oder im Konjunktiv und Erich Fried wählt das jüdische Schlüsselverb der Erinnerung (zekher). Sofern im Verbum Zeit wirklich wird, deuten die beiden Dichter einerseits auf ein Vergangenes, das ins Künftige weist (Fried), andererseits auf eine konjunktivische Konstellation, die aus einem vergangenen Impuls unvermittelt anspricht und zur gegenwärtigen Entscheidungsfrage drängt (Sachs). Bei dieser Transposition biblischer Narrative in Lyrik trifft zu, dass die Bibel eine Erzählung in dem Sinn ist, dass sie »immer wieder erzählt werden muß. Es [= Epos der Bibel] ist nicht eine Geschichte der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit wird Gegenwart des Vergangenen im Munde des Erzählers, der sie verwirklicht.«59 Da sich der Prophet an die Zukunft erinnert,60 impliziert diese Konstellation, dass Vergangenheit zu Gegenwart geworden ist. Sofern sich Spannungsmomente zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Tradition und gegenwärtiger Ideologisierung, möglicherweise zwischen Sprache und deren ideologischer Depravation eröffnen, relativieren Propheten eine unerwünschte Gegenwart und rufen eine kontrapräsentische Erinnerung wach,61 indem sie in Erinnerung den Bruch zu gegenwärtigen Missständen markieren.62 Sofern zweitens die Frage artikuliert wird, »Wenn die Propheten einbrächen«63, wird damit nicht nur das Nachleben der Propheten heute akzentuiert, sondern zugleich zum Versuch herausgefordert, einen »Wahrheitsnachweis inmitten des wirklichen Lebens, im ›Alltag des Lebens‹ zu erbringen.«64 Beide Texte figurieren eine eigentümliche Form der Zeitlichkeit, da die Propheten geistesgegenwärtig die Jetztsituation im Rückblick auf die Vergangenheit erfassen.65 Zugleich impliziert diese Rück58 Rosenzweig: Das neue Denken (Anm. 57), 148. 59 Eveline Goodman-Thau: Aufstand der Wasser. Jüdische Hermeneutik zwischen Tradition und Moderne. Berlin 2002, 39. 60 Vgl. Fried: Ein Prophet (Anm. 49), 34. 61 Vgl. Theißen: Tradition und Entscheidung (Anm. 20), 170ff. 62 Missstände variieren von Zeit zu Zeit, dennoch scheint es Grundkonstanten zu geben, die an Aktualität nicht einbüßen. Sofern beispielsweise der Prophet Amos schroff den Stil der Politik anklagt, weil Gerechtigkeit gebeugt wird und eine schiefe Diplomatie durch Doppelzüngigkeit betrieben wird (Am 1, 1ff.), Gottesdienst hingegen zu einer Persiflage pervertiert, so trifft man hierauf eine Praxis, wie sie auch heute vielfach ausgeübt wird. Wenn ferner der Prophet Jeremia den menschlichen Sklavenmissbrauch oder die Herrschaftsideologien anprangert, so hat dies nicht nur zu Zeiten von Nelly Sachs und Erich Fried, sondern ebenso im 21. Jahrhundert wenig an Aktualität verloren. 63 Sachs: Wenn die Propheten einbrächen (Anm. 24). 64 Goodman-Thau: Aufstand der Wasser (Anm. 59), 42. 65 Bei Nelly Sachs wird dieser Rückblick in der Stein-Metaphorik evident (s. o. die Interpretation zu der Metapher »der Nacht Granit« im Gedicht Immer noch Mitternacht sowie zum

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wendung keinen selbstgefälligen Rückzug, denn jüdische Erinnerung (zekher) zielt auf die Reaktualisierung von vergangenen Begebenheiten in einer gegenwärtigen Situation.66 In sensu stricto werden in den Gedichten ebenso wenig inhaltliche Prognosen über die Zukunft gemacht wie in den biblischen Texten; vielmehr fordern die prophetischen Narrative dazu auf, der Signatur der Zeit mit einer »fruchtbaren Skepsis«67 zu begegnen. Der Prophet steht an einer Schwelle, die sich temporal zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin zur Zukunft erstreckt. Zugleich wird diese Schwelle in den lyrischen Gedichten zwischen Kawana und zekher manifest. Nelly Sachs stellt totum pro parte das Ohr der Menschheit und ebenso den Einzelnen unvermittelt vor die Entscheidung: »Würdest du hören?« Der Einzelne wird stark in die Verantwortung gedrängt zu hören, also den »gerechten Weg«68 zu gehen. Diese Konstellation evoziert Erich Fried durch den Kontext der Warngedichte. Nicht nur die Propheten, die der mosaischen Weisung eingedenken, sondern jeder Mensch steht in der Verantwortung, die Brüche der Gegenwart, sofern sie zutage treten, im Lichte der Vergangenheit (zekher) und geistesgegenwärtig (Kawana) wahrzunehmen. Obschon der Kairûs der Erkennbarkeit noch aussteht, muss ein tiefer Blick durch die Dialektik von Einst und Jetzt die »Felder der Gewohnheit«69 aufbrechen.

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Blick »durch Gestein« in David erwählt), bei Erich Fried im Verbum »erinnern«. Von eminenter Bedeutung zur Einordnung der erinnerten Situation ist der Rückblick auf eine Weisung, wie sie den Propheten in der Gestalt der Tora vorlag. Vgl. St¦phane MosÀs: Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins. In: Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993, 385–405, hier 392. Ebenso bei: Yerushalmi: Zachor (Anm. 10). Benjamin: Gesammelte Schriften I (Anm. 16), 225. Assmann: Die Aufmerksamkeit Gottes (Anm. 11), 72. Sachs: Wenn die Propheten einbrächen (Anm. 24), 92.

Paweł Piszczatowski

Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan aus dem Band Die Niemandsrose Wir leben hier von Brocken. J. G. Hamann

I.

Singbarer Rest: Theopoetologie der Brocken

Religiöse Motive und theologische Inkrustationen bestimmen weitgehend die formale und inhaltliche Struktur von Paul Celans Gedichten. Sein Interesse an dieser Thematik weist dabei eine innere Dynamik auf: von einer kritischen Auseinandersetzung mit christlichen Bildern von Passion und Auferstehung in frühen Gedichten (etwa in Spät und tief oder Tenebrae) über die Anti-Theodizee eines Gottes, »der […] alles dies wollte, der […] alles dies wußte« (Es war Erde in ihnen) bis hin zu den Theologumena der apophatischen Theologie (Psalm, Mandorla, Schlussgedichte aus dem Band Lichtzwang) und der jüdischen Kabbala (Radix, matrix, Einem, der vor der Tür stand, zahlreiche Gedichte aus dem Band Fadensonnen). Da die Spannbreite der Motive so groß ist, kann nicht von einer Theologie Celans gesprochen werden. Er bleibt nicht einer theologischen Tradition verhaftet, sondern begibt sich in seinen Gedichten eher auf die Suche nach Spuren alter Gottesbilder und religiöser Rituale, mit denen er einen poetischen Gedächtnisraum umsäumt, in welchem die Präsenz des Anderen und somit auch das Sprechen des Gedichtes »in eines Anderen Sache«1 möglich werden. An der Schwelle der 50er- und 60er-Jahre, in der Zeit also, in der sowohl die Gedichte entstehen, die 1963 im Band Die Niemandsrose publiziert wurden, als auch der Prosatext Gespräch im Gebirg und die poetologische Meridian-Rede, wird in Celans Herangehensweise an die religiösen Motive eine deutliche Wende erkennbar. Mit einer früher nicht anzutreffenden Intensität kreisen seine Gedichte aus dieser Zeit um die Bilder aus judaistischer Tradition, verflochten mit den apophatischen »Epiphanien« von Psalm und Mandorla. 1 Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien. Tübinger Celan-Ausgabe. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull. Frankfurt a. M. 1999, 8.

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Diese judaistische Wende in Celans Texten aus dieser Zeit muss im Zusammenhang mit seiner poetologischen Reflexion betrachtet werden. Am Ende seiner Meridian-Rede, die der Dichter anlässlich der Verleihung des GeorgBüchner-Preises am 22. Oktober 1960 in Darmstadt hielt, rekapituliert Celan seine Überlegungen zum Wesen der Dichtung nach Auschwitz, indem er vom Gedicht sagt, es sei »eine Art Heimkehr«.2 Seine Dichtung sei eine Suche nach den Orten der Kindheit, nach »dem Ort meiner eigenen Herkunft«, eine Suche mit dem »Finger auf der Landkarte«.3 Das Utopische dieses Anliegens ist ihm dabei bewusst: »Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht«.4 Die Orte, wo Millionen europäischer Juden lebten, gibt es nicht mehr. Geblieben sind nur deren Namen auf einer »Kinder-Landkarte«, die lediglich UnOrte von Abwesenheit und Ortlosigkeit bezeichnen. Zu lokalisieren sind sie nur in einem imaginären Netz der poetischen Meridiane, Linien, die jeden Punkt der Erdoberfläche durchqueren, gleichsam aber nirgends da sind als nur auf deren kartographischer Abbildung. Diese atopische Struktur von kreisförmigen, dauernd zu sich selbst zurückkommenden Meridianen, als »etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes«, ist die eigentliche Struktur des Gedichtes selbst: eines Blattes, auf dem der Weg der »Heimkehr« markiert wird. Man kann wohl voraussetzen, dass die »Heimkehr« – in diesem poetologischen Sinne – auch die Notwendigkeit bedeutet, sich mit der jüdischen Welt zu konfrontieren, mit einer Welt, die es nicht mehr gibt und die höchstens in Form von Erinnerungsbrocken, zerstückelten Resten alter Liturgien und Offenbarungsinhalte noch erhalten bleibt. Heimkehr bedeutet in diesem Sinne auch Umkehr, keine Be-kehrung im Sinne einer Teschuwa freilich, sondern ein SichUmkehren, ein Richten des Blicks nach hinten, ein Zurück-Schauen als Voraussetzung eines Zeugeseins, wie es der namenlosen Frau des biblischen Lot zuteilwurde, welche – als die Einzige der Geretteten – die Vernichtung von Sodom gesehen hat. Ihr Zeugnis ist aber stumm, da sie in Stein gewandelt und der Sprache beraubt wird – auch dies als Folge der Um-kehr. Bleibt man bei dieser biblischen Analogie als einem berechtigten Modell für die Situation eines Dichters wie Celan, der als Überlebender Zeugnis von der Schoah ablegen will, so erweist sich seine Lage als hoffnungslos. Das Gesehene verschlägt ihm den Atem und die Sprache. Die Umkehr führt zu Sprachlosigkeit. Und doch sieht Celan gerade in diesem Moment des Verstummens eine Möglichkeit der Atemwende. In der Meridian-Rede sagt er : »Zweimal, bei Luciles ›Es lebe der König‹, und als 2 Celan: Der Meridian (Anm. 1), 11. 3 Celan: Der Meridian (Anm. 1), 12. 4 Celan: Der Meridian (Anm. 1), 12.

Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan

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sich unter Lenz der Himmel als Abgrund auftat, schien die Atemwende da zu sein«.5 Huldigt die Büchner’sche Lucile mit ihrem Ausruf »der fu¨ r die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden«,6 so tut Lenz mit seinem Unbehagen über die Unmöglichkeit, auf dem Kopf zu gehen, noch einen Schritt weiter : »Sein ›Es lebe der König‹ ist kein Wort mehr, es ist ein furchtbares Verstummen, es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort. Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten«.7 Sobald die Atemwende da ist, nach einem abgründigen Moment der Atem- und Sprachlosigkeit, wird Dichtung wieder möglich. Mehr noch: Dichtung ist um der Atemwende willen da, auch wenn dies gleichsam bedeutet, dass sie, sobald sie von der Gegenwart des Menschlichen Zeugnis ablegen will, sich der »Majestät des Absurden« und dem »Himmel als Abgrund unter sich«8 verschreiben muss, dass sie demnach auf Sprache in Form der »Gegenworte« angewiesen ist, eine Sprache, die letztendlich zu einem Todesperformativ werden muss. Das Lucile’sche »Es lebe der König!«, ihr »Gegenwort« und »ein Akt der Freiheit«, ist zugleich ein Akt ihrer Verzweiflung nach der Hinrichtung Camilles und besitzt einen rein performativen Charakter als Auslieferung an den Tod. Nicht um die Bedeutung der Worte handelt es sich doch, sondern um das Todesurteil, welches sie herbeiholen sollen. Dichtung ist also möglich, aber nur als absurde Selbstaufhebung, da nur das Absurde von der Gegenwart des Menschlichen zeugt in einer Welt, in der am 20. Jänner nicht Lenz, mit seinen absurden Gedanken im Kopf, durchs Gebirg ging, sondern – in einer abgelegenen Villa am Wannsee – das Schicksal von Millionen Juden beschlossen wurde. Verzweiflungsruf oder abgründiges Schweigen scheinen die einzigen dichterischen Ausdrucksmittel zu sein. Und doch beharrt Celan in der Meridian-Rede darauf, dass Luciles »Akt der Freiheit« – poetologisch gesehen – noch mehr bedeutet als nur eine negative Freiheit der Selbstaufhebung: »geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei«.9 Da also, wo die Kunst an ihre absoluten Grenzen stößt, wo die Sprache versagt, weil es einem den Atem verschlagen hat, wo man letztendlich geradezu erstickt, ist noch die letzte Umkehr möglich, ein Zu-sich-Kommen, »eine Art Heimkehr«, ein Atem-Holen. Der Dichter kommt zu sich, schaut nach hinten und sieht, dass er Lots Frau überholt hat. Sie ist versteinert und er lebt noch und kann sprechen. Aber das bedeutet auch, dass er nicht ein Zeuge in diesem Sinne ist, in dem es nur diejenigen sein konnten, die in das Medusengesicht des Todes selbst geschaut haben. Niemand kann davon Zeugnis ablegen, wie es war, in der Gaskammer zu ersticken. Auch der Dichter kann da kein Zeuge sein, eher ein 5 6 7 8 9

Celan: Der Meridian (Anm. 1), 11. Celan: Der Meridian (Anm. 1), 3. Celan: Der Meridian (Anm. 1), 7. Celan: Der Meridian (Anm. 1), 7. Celan: Der Meridian (Anm. 1), 11.

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Stein, von denen es in Celans Gedichten unzählige gibt; ein Stein, der – wie Lots in eine Salzsäule verwandelte Frau – es »gesehen« hat, der seit uralten Zeiten, als Grabstein, Menhir oder weißer Kieselstein, für Totengedenken steht. Celans Gedicht Aschenglorie aus dem Band Lichtzwang endet mit dem Satz: »Niemand / zeugt für den / Zeugen«.10 Celan macht es sich zur Aufgabe, »dieser Niemand« zu sein. Seine Gedichte sind eine Steinsammlung, die etwa einem Friedhof ähnelt mit zerbrochenen Mazewas anstelle von Worten als Stolpersteinen zur Markierung der poetischen Brüche und Leerstellen, an denen derer gedacht wird, die ihr Grab nur »in den Lüften« haben. Celans poetische Steinsprache ist somit also eine Sprache der zerschlagenen jüdischen Grabsteine, eine erratische Sprache von Relikten einer Welt, die »von der Gegenwart des Menschlichen« noch erfüllt war. Auch das bedeutet seine Um- und Heimkehr : zurück zum Jüdischen. Ein Dichter als Zeuge für anwesende Zeugen der Schoah muss sich zu ihnen bekennen können, auch wenn er einem Gott, »der das alles wollte«, keinen Glauben bekennen will. Das Zeugesein fordert von Celan eine Identifizierung als Jude und jüdischer Dichter, der sein »Es lebe der König!« ausrufen muss, wie Lucile nicht darauf ausgerichtet, dessen Macht zu huldigen. Dieser religiös vermittelte Identitätsanspruch hat einen durchaus oppressiven Charakter, weil er eine doppelte Ausgrenzung aufrechterhält: als Überlebender aus der Gemeinschaft der mit ihm zum Tode bestimmten und als assimilierter Jude und deutsch schreibender Dichter, der mit der jüdischen Tradition, die sich seit je über die Religion zu definieren pflegte, zu wenig zu tun hatte, als dass er Zeugnis von deren Untergang ablegen könnte. Celans Hinwendung zu strikt theologischen Denkfiguren resultiert zum Teil auch aus diesem Identitätsdefizit. Im Prosatext Gespräch im Gebirg spricht einer der Protagonisten: Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern, die wie ich waren, die andern, die anders waren als ich und genauso, die Geschwisterkinder ; […] und sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer, und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können […].11

Auf der anderen Seite lässt er in seinen Notizen zu Meridian keinen Zweifel daran, unter welchen Voraussetzungen Opfergedenken möglich ist: Wer nur der Mandeläugig-Schönen die Träne nachzuweinen bereit ist, der tötet sie […], die Mandeläugig-Schöne, nur zum andern Mal. – Erst wenn du mit deinem allereigensten Schmerz zu den krummnasigen, bucklichten und mauschelnden und

10 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2005, 198. 11 Paul Celan: Gespräch im Gebirg. Mit einem Kommentar von Theo Buck. Aachen 2002, 11f.

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kielkröpfigen Toten von Treblinka, Auschwitz und anderswo gehst, dann begegnest du auch dem Aug und seinem Eidos: der Mandel.12

In Gedichten aus dem Band Die Niemandsrose begegnet man diesen Toten immer wieder : im golemartigen Einem, der vor der Tür stand in Gestalt eines »Kielkropfs«, eines »halb- / schürigen«, eines »im kotigen Stiefel des Kriegsknechts / geborenen Bruders« mit dem nach der Beschneidung »blutigen Gottes- / gemächt«13, oder in Benedicta, wo ein jiddisches Jom-Kippur-Lied aus dem Ghetto in Wilna erklingt.14 An vielen Stellen trifft man auch auf das Auge und die Mandel als dessen Eidos. »Aug in Aug« stehen gegenüber einer Mandorla des Nichts, der apophatischen Epiphanie eines abgeschiedenen Gottes Meister Eckharts und der jüdischen Kabbalisten, diese Vision in Blau bedeutet im berühmten Gedicht Mandorla auch dies: den Mandelgeruch der Blausäure spüren aus den Gaskammern von Treblinka und Auschwitz. Man gewinnt den Eindruck, dass die religiöse Vermittlung Celan den einzig möglichen Zugangsweg bietet zu den »andern, die anders waren als ich und genauso«. Das Gespräch im Gebirg setzt sich fort: […] ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten, ich liebte die Kerze, die da brannte, links im Winkel, ich liebte sie, weil sie herunterbrannte, nicht weil sie herunterbrannte, denn sie, das war ja seine Kerze, die Kerze, die er, der Vater unsrer Mu¨ tter, angezu¨ ndet hatte, weil an jenem Abend ein Tag begann, ein bestimmter, ein Tag, der der siebte war, der siebte, auf den der erste folgen sollte, der siebte und nicht der letzte, ich liebte, Geschwisterkind, nicht sie, ich liebte ihr Herunterbrennen […].15

Dieses vieldeutige Bild der herunterbrennenden Sabbat-Kerze impliziert mindestens zwei Linien von theopoetologischen Referenzen: einerseits die Ablehnung jeder Form von Theodizee, andererseits aber zugleich das Bewusstsein dessen, dass – obgleich es nicht mehr möglich ist, die jüdische Identität auf den reellen Grund eines Vorsehungsglaubens zu stützen – einzig und allein Rudimente alter theologischer Konstrukte imstande sind, eine elementare Kontinuität der Tradition aufrechtzuerhalten und eine gemeinschaftliche Identität zu bestimmen. Deswegen wendet sich das singuläre Ich in einem Gespräch, welches schon längst zu seinem Monolog geworden ist, nicht der Kerze selbst zu, sondern ihrem Herunterbrennen. Es bedeutet nicht nur ein baldiges Auslöschen und gänzliches Verbrennen, sondern auch ein noch nicht holûkauston, noch nicht vollständig Niedergebrannt-Sein. Diese »Krume Lichts« (Der Reisekamerad) ist die einzige Präsenz des Nicht-Verbrannten, etwas, was auf den Trümmern der 12 Celan: Der Meridian (Anm. 1), 128. 13 Celan: Die Gedichte (Anm. 10), 141. 14 Vgl. John Felstiner : Paul Celan: Eine Biographie. Dt. v. Holger Fliessbach. Frankfurt a. M. 2000, 232. 15 Celan: Gespräch im Gebirg (Anm. 11), 12.

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jüdischen Welt immer noch glüht und Licht ausstrahlt. Nicht die Kerze also, sondern ihr Noch-nicht-ausgebrannt-Sein wird hier zu einer Figur gemeinschaftlicher Mediation. Im Folgenden werde ich versuchen, theopoetologische Mediationsfiguren in Celans Gedichten aus dem Band Die Niemandsrose zu identifizieren. Da das Spektrum von Motiven und Texten so breit ist, dass es unmöglich wäre, es in seiner ganzen Reichweite darzustellen, werde ich mich auf zwei Gedichte konzentrieren, in denen die Frage nach der jüdischen Identität sich besonders deutlich mit poetologischen Prämissen einer Dichtung als Begegnung im Gegenwort überschneidet.

II.

Jenes schwarz in den Himmel stehende Geschlecht: Kabbala und Sexualität

Eine der raffiniertesten Manifestationen von Celans Theopoetologie ist sein Gedicht Radix, Matrix. RADIX, MATRIX Wie man zum Stein spricht, wie du, mir vom Abgrund her, von einer Heimat her Verschwisterte, Zugeschleuderte, du, du mir vorzeiten, du mir im Nichts einer Nacht, du in der Aber-Nacht Begegnete, du Aber-Du –: Damals, da ich nicht da war, damals, da du den Acker abschrittest, allein: Wer, wer wars, jenes Geschlecht, jenes gemordete, jenes schwarz in den Himmel stehende: Rute und Hode –? (Wurzel. Wurzel Abrahams. Wurzel Jesse. Niemandes Wurzel – o unser.)

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Ja, wie man zum Stein spricht, wie du mit meinen Händen dorthin und ins Nichts greifst, so ist, was hier ist: auch dieser Fruchtboden klafft, dieses Hinab ist die eine der wildblu¨ henden Kronen.16

Der lateinische Titel des Gedichts impliziert unterschiedliche Bedeutungen. Zuerst: Wurzel und Erde, die humusreiche Schwarzerde aus dem benachbarten Gedicht17, Tschernosem, in dem auch der Name von Celans Geburtsort Czernowitz, »eine Heimat«, mitklingt. Phallus (radix virilis) und Gebärmutter wären dann andere Referenzen, mathematische Matrizes und Radizes eine weitere. Alle diese Bedeutungsebenen lassen sich unter die Symbolik des kabbalistischen Lebensbaums subsumieren, der nicht nur ein kosmischer Baum ist, der von oben nach unten wächst, da seine Wurzel im Himmel steckt, sondern auch – in Gestalt des Ur-Menschen Adam Kadmon – einen Riesenkörper darstellt, welcher die göttliche Matrix der Schöpfung ist, wie sie auch in den Buchstaben der Tora und deren zahlensymbolischer Gematrie zu finden ist. Radix als Phallus wird zum Zeichen der Fruchtbarkeit Abrahams: »Siehe gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? und sprach zu ihm: Also soll dein Same werden« (Gen 15, 5). Zum Zeichen der Beschneidung als Siegel des Bundes mit Gott: »Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir : Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden. Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch« (Gen 17, 10–11). Radix – ein verbrannter Phallus, jenes »schwarz in den Himmel stehende« Geschlecht, nach dessen Identität das Gedicht fragt: »Wer, / wer wars, jenes / Geschlecht, jenes gemordete«? Die Frage bezieht sich auf die Vergangenheit und obgleich der geschichtliche Kontext der Judenvernichtung sofort erkennbar wird, betrifft sie nicht nur diese jüngste Vergangenheit, sondern auch ein unbestimmtes »Damals«:

16 Celan: Die Gedichte (Anm. 10), 140. 17 Vgl. Celan: Die Gedichte (Anm. 10), 141.

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Damals, da ich nicht da war, damals, da du den Acker abschrittest, allein:

Die mit »du« angesprochene Person, welche in der ersten Strophe als eine dem Ich vom Abgrund her, von einer Heimat her Verschwisterte, Zugeschleuderte, du, du mir vorzeiten, du mir im Nichts einer Nacht, du in der Aber-Nacht Begegnete,

wird in die zeitliche Perspektive eines »vorzeiten« eingeschrieben, in den abgründigen Raum des »Nichts einer Nacht«, die eine »Aber-Nacht« war, wie sie – ein »Aber-Du«. Sie ist auf der anderen Seite dem Ich vertraut wie eine Heimat, wie eine Schwester (eine Figur, die auch in anderen Gedichten Celans aus dieser Zeit anzutreffen ist, etwa in Die Schleuse und Chymisch). Sie ist dazu auch diejenige, welche »den Acker abschreitet«. Die bereits im Titelwort »Matrix« angelegte agrarische Symbolik des Gedichtes öffnet sich hin auf kabbalistische Bilder von Garten- und Ackerbau. Das Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala, Sefer ha-Sohar (Das Buch des Glanzes), benutzt sie vor allem in Verbindung mit der neunten Sefira des Lebensbaums, der Sefira Jessod, welche für den Gerechten (Zaddik) steht und dem Phallus im menschlichen Körper entspricht. In der stark sexuell geprägten Symbolik der jüdischen Mystik bildet sie einen Kanal, dessen Passierbarkeit für den Erhalt des gesamten kosmischen Etz Chaim verantwortlich ist, da sie das Herunterfließen der Lebenssäfte in die zehnte Sefira Malchuth ermöglicht, das Königreich der geschaffenen Welt, der göttlichen Präsenz unter den Menschen, die das weibliche Prinzip der Gottheit repräsentiert.18 In der himmlischen Hochzeit des Gerechten mit der Schechina wird der heilige Influxus aus den oberen Sefirot in Form von Samen in den Schoß der Schechina geleitet, was die Zirkulation der Lebenskraft im gesamten Baumorganismus aufrechterhält. Dieser sexuelle Vorgang wird oft in der Bildlichkeit von Garten und Acker wiedergegeben mit dem Zaddik als Licht säendem Gärtner. In Gershom Scholems Essay über den Gerechten lesen wir : Von der »Lichtsaat« des Gerechten spricht […] der Sohar in einer Erklärung von Psalm 97: 11: »Licht ist ausgesät für den Gerechten.« Hier ist der Gerechte ein Gärtner im mystischen Paradies: »Dieses Licht hat Gott in den Garten seiner Wonnen ausgesät und 18 Vgl. Geshom Scholem: Schechina, das passiv-weibliche Moment in der Gottheit. In: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt a. M. 1977, 135–191.

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hat dort durch jenen Gerechten, der der Gärtner des Gartens ist, Furchen gezogen, und jenes Licht genommen und es als Samen der Wahrheit ausgesät. Und indem er im Garten Furchen zog, zeugte er und ließ wachsen und trug Früchte, und von ihnen ernährt sich die Welt […]. Und darum werden alle Welten aus der Speisung jenes Gärtners unterhalten, welcher Gerechter heißt, der nie rastet und nie aufhört außer in der Zeit, da Israel im Exil ist. Denn seit dieser Zeit ist der Strom [der Emanationen] versiegt. Wie also kann er Frucht hervorbringen? Es heißt aber von diesem Samen, daß er immer ausgesät wird, und selbst wenn, seitdem jeder Strom seinen Fluß in den Garten unterbrochen hat, der Gärtner nicht mehr dort eingetreten ist, so trägt jenes Licht, das dort ausgesät ist, doch noch immer seine Früchte […]. Aber sie sind nicht wie die Früchte zur Zeit, als der Gärtner dort schaltete […].19

Die weibliche Schwestergestalt, welche in der zweiten Strophe allein den Acker abschreitet, trägt die Züge einer mystischen Schechina im Exil, der verwaisten Aufseherin eines verwilderten Gartens, zu dem kein Gerechter mehr schaut, der aber immer noch wilde Früchte trägt, zu denen sich auch das Gedicht selbst in der letzten Strophe zählen wird. Denn der göttliche Gerechte wird in der Kabbala oft auch mit der Tätigkeit von irdischen Gerechten in Verbindung gebracht, von deren Zeugungskraft das Bestehen der Welt abhängig gemacht wird. Scholem zitiert aus dem Buch Sefer ha-Bahir : Eine Säule geht von der Erde bis zum Himmel, und »Gerechter« ist ihr Name, nach den [irdischen] Gerechten. Und sind Gerechte auf Erden, so wird sie stark, wenn aber nicht, so erschlafft sie, und sie trägt die ganze Welt, denn es heißt: Der Gerechte ist der Grund der Welt. Ist sie aber schlaff, so kann die Welt nicht bestehen. Darum […]: Ist auch nur ein einziger Gerechter auf Erden, so erhält er die Welt.20

Ist nur ein einziger Gerechter auf Erden … In Celans Gedicht, auf seiner schwarzen Matrix-Erde, scheint keiner zu sein, da es heißt: »als du / den Acker abschrittst, allein«. Diese »Heimat«, das Czernowitzer Tschernosem, ist ein fruchtbarer Boden, welcher keine Früchte mehr trägt, denn die Spuren der aus ihm ausgegangenen Aussaat ragen jetzt, nicht ganz niedergebrannt, schwarz gen Himmel. Der Garten der Schechina, die von den Kabbalisten gerne »die Erde Gottes«21 genannt wurde, verwandelt sich in einen »Gottesacker«, wie man hin und wieder einen Friedhof bezeichnet. Kabbalistische Symbole stehen kopf, aber – ging es die ganze Zeit nicht eben darum? Um ein sichtbares Zeichen der Potenz? Eine Erektion und deren Umkehrung als Kastration? War jenes verkohlte Geschlechtsteil, jenes gemordete Geschlecht, einst, »vorzeiten«, auch ein Zeichen des Bundes und Stelle der Beschneidung, eine Säule, die die Welt trägt? War es Phallus und Hode? Ging es die 19 Gershom Scholem: Zaddik, der Gerechte. In: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit (Anm. 18), 168f. 20 Scholem: Zaddik (Anm. 19), 90. 21 Scholem: Zaddik (Anm. 19), 93.

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ganze Zeit nicht auch darum, auf dem Kopf zu stehen? Der Baum des Lebens ist ein arbor inversa, mit den Wurzeln im Himmel und der Krone unten. Das Gedicht identifiziert sich selbst als »dieses Hinab«. Um die Welt aufrechtzuerhalten, muss man – wie Lenz – auf dem Kopf gehen wollen, denn wer auf dem Kopf geht, der hat den Abgrund unter sich und trägt die ganze Erde auf dem Scheitel. Das Gedicht in seiner vertikalen Nachfolge der Verse, »dieses Hinab«, zwängt sich – wie eine Wurzel oder ein Phallus – durch die vaginale Verengung der Klammern in der vierten Strophe. Radix, Wurzel, radix virilis, Wurzel Abrahams, Wurzel Jesse. Die Zeit der paradiesischen Harmonie, da der Gärtner »Furchen zog, zeugte […] und ließ wachsen«, begegnet ihrer messianischen Entsprechung im Buch Jesaja 11, 1–9: Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. […] Und es wird geschehen zu der Zeit, daß die Wurzel Isai, die da steht zum Panier den Völkern, nach der werden die Heiden fragen; und seine Ruhe wird Ehre sein. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der Gurt seiner Hüften. Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken. Man wird niemand Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt.

›Und wenn das nicht mehr unsere Wurzel ist, nicht unsere Herkunft und ein nicht uns gegebenes messianisches Versprechen?‹, scheint das lyrische Ich zu fragen. Wenn die Rute aus dem Stamm Isais zu einem Baum heranwuchs, der eine ganz andere messianische Genealogie versinnbildlicht?22 Wenn unsere Wurzel zu niemandem führt? All diese Fragen bilden die horizontale Struktur der vierten Strophe. Sie durchschneidet das Gedicht in seinem vertikalen Hinab. An dieser Überschneidungsstelle kommt es zu einem tatsächlichen Schnitt an der Wurzel: Das zirkelförmige Zeichen »o« stünde dann für den Schnitt der Zirkumzision. Die Beschneidung wird am Pronomen »unsere« vollzogen, das im letzten Vers der vierten Strophe der grammatischen Endung beraubt wird, womit »unser-e« 22 Die Wurzel Jesse ist ein beliebtes Motiv der christlichen Kunst und stellt die Abstammung Jesu dar. Sie hat meistens die Form eines Baumes, der phallisch aus der liegenden Gestalt Jesse emporsteigt. Auf den Zweigen werden Könige aus dem Geschlecht Davids abgebildet, ganz oben befindet sich ein Bild von Maria mit dem Jesuskind. Das Motiv ist im deutschen Sprachraum auch durch das Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen bekannt.

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Wurzel ihr Geschlecht verliert. Eine Beschneidung also, die nicht mehr zum Zeichen des Bundes wird, sondern allein zum Zeichen einer Kastration des Geschlechts. Wenn sich die Beschneidung aber an einem Wort vollzieht, so geschieht damit auch noch etwas mehr. Vielleicht ein neuer Bund des Dichters mit seinem Wort, seine Einwilligung zu dem Gedicht. »Dieser Fruchtboden klafft«, die versteinerte Matrix zerspringt, öffnet sich wie der Fruchtboden einer Blume, nimmt das Wort auf. Ein Wort jenseits aller messianischen Utopie, das aber imstande ist, wie eine der verwilderten Rosen im Garten des Gerechten zu erblühen. Und das bedeutet, dass es ein Wort ist, welches für sich den Anspruch erhebt, das Wort der Gerechtigkeit zu sein, das die Welt erhält. Das Wort, welches nicht nur eine Zeugungskraft hat, sondern auch die Kraft der Zeugenschaft. Der Anspruch ist hoch, gar zu hoch für ein Wort, für eine Stimme. Man braucht immer mindestens zwei Zeugen, eine römische Rechtsregel besagt: Testis unus, testis nullus – Ein Zeuge ist kein Zeuge. Der zweite Zeuge fehlt, wie die mit dem Gedankenstrich weggeschnittene Hode an der emporragenden Rute. Hode heißt im Lateinischen testis, wie der Zeuge. Wenngleich man mit einer Hode durchaus zeugungsfähig ist, bedarf ein Zeugnis immer eines Anderen, von dem es im Meridian heißt: »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.«23

III.

Geh zu den Toten aus Treblinka, Auschwitz und anderswo: ein jiddischer Segen

Kabbalistische Sexualsymbole kehren – in verdeckter Form – im Gedicht Benedicta wieder, in dem die Stimme der Anderen, der »krummnasigen, bucklichten und mauschelnden und kielkröpfigen« Juden aus dem Gedränge des Wilnaer Ghettos, in ihrem authentischen Klang, auf Jiddisch, erklingt. BENEDICTA Zu ken men arojfgejn in himel arajn Un fregn baj got zu’s darf asoj sajn? (Jiddisches Lied) Getrunken hast du, was von den Vätern mir kam und von jenseits der Väter : – –, Pneuma. 23 Celan: Der Meridian (Anm. 1), 9.

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Gesegnet seist du, von weit her, von jenseits meiner erloschenen Finger. Gesegnet: Du, die ihn grüßte, den Teneberleuchter. Du, die du’s hörtest, da ich die Augen schloß, wie die Stimme nicht weitersang nach: ’s mus asoj sajn. Du, die du’s sprachst in den augenlosen, den Auen: dasselbe, das andere Wort: Gebenedeiet. Getrunken. Gesegnet. Gebentscht.24

Ein strukturelles Gerüst dieses Gedichtes bilden die perfektiven Partizipformen. Die Hervorhebung der Präfixe »ge-« betont ihren passiven und vollzogenen Charakter. Diese Struktur steht in einem direkten Verhältnis zu dem theologischen Kontext des Gedichtes. »Benedicta« ist ein Segenswort, das nach dem Lukasevangelium der Erzengel Gabriel bei der Verkündigung an Maria richtet und das in jedem Ave Maria wiederholt wird. Das Gedicht bleibt dem bereits im Titel angekündigten Kontext treu. Die erste Strophe bringt einen Verweis auf die Empfängnis vom Heiligen Geist (Gr. to hagion pneuma), die nächste beginnt mit einem beinahe wörtlichen Zitat der Begrüßungsworte des Erzengels an Maria, die dritte, mit einem Verweis auf das Gedicht Tenebrae, knüpft an das Fiat der Verkündigungsszene und die Prophezeiung Simeons (Lk 2, 33–35) an, in der Maria vorausgesagt wurde, dass sie um des Sohnes willen viel Leid tragen werde. Christliche Theologie der Menschwerdung des Wortes und der Erlösung durch den leidenden Messias sowie katholische Marienfrömmigkeit bilden ein Referenzsystem weiter Teile des Gedichtes. Aber bereits das griechische »Pneuma« muss nicht unbedingt im Sinne der christlichen Pneumatologie gelesen werden. Mit demselben Wort übersetzt die Septuaginta das hebräische Wort ruach (etwa in Gen 1, 2 und Gen 2, 7), es verbindet also das »geistige« 24 Celan: Die Gedichte (Anm. 10), 145.

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Moment mit der Materialität von Atem, Wind und Luft, die lebensspendende Kraft des göttlichen Atems mit Atem als Materie des Sprechens. In der Endfassung des Gedichtes gehen dem Wort »Pneuma« zwei Gedankenstriche voran. In Vorstufen endet die erste Strophe mit dem Doppelvers: Pneuma –: Sperma.25

Bei allem Respekt vor dem endgültigen Wortlaut des Textes kann man, dank dem Einblick in seine Genese, zumindest überlegen, welche Funktion dieser »Auslöschung«, dieser Lücke als Markierung der Abwesenheit des Samens zukommt. Auch wenn letztendlich das Trinken des Geistes weniger drastisch wirkt als das Trinken von Sperma, ist das – dessen ungeachtet – ein sehr ungewöhnliches Bild. In der Verkündigungsszene heißt es: »Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten« (Lk 1, 35). Celan kehrt die Sache um: Die passive Frauenfigur der Verkündigungsszene wird bei ihm zu einem handelnden Subjekt. Sie hat getrunken, und was sie getrunken hat, kam »von den Vätern / und von jenseits der Väter«, ist also etwas in der männlichen Linie, zu der auch das lyrische Ich zählt, Tradiertes.26 Somit ist das Ich des Gedichts nicht nur Teil einer Tradition, der jüdischen wohl, sondern auch Träger einer pneumatischen und – – Energie, die ursprünglicher ist als alle Generationen, göttlich und schöpferisch. Der göttliche ruach schwebte über dem Irrsal und Wirrsal von Himmel und Erde lange bevor sie Gestalt bekamen und der Mensch durch ihn ein lebendiges Wesen wurde. Vieles hätte sich hier vollziehen können, wenn nicht alles bereits vollzogen wäre. Getrunken ist, was zu trinken war : Atem und Wind – Pneuma. Genug, um Luft zu holen im Augenblick der Atemwende. Zu wenig, um zu leben. Das Getrunkene und der Segen in der zweiten Strophe kommen »von jenseits«, was klanglich und semantisch an das Jenseits erinnert. Aus dem »Jenseits der Väter« kommt die Luft als Materie ihrer Gräber und die zerstreute Asche, eine Saat, die nicht aufgeht. Den befruchtenden Samen gibt es nicht in einer verbrannten und erloschenen Welt, und deswegen kann es ihn auch im Gedicht nicht geben. Die einzige Mitgift aus dem Totenreich ist das Leichengift, welches wie die »schwarze Milch« getrunken wird. Der Übergang von der ersten zur zweiten Strophe macht die Position des lyrischen Ich als Teil der toten Generationsreihe des jüdischen Volkes immer deutlicher. Sein Segen kommt »von weit her, von / jenseits meiner / erloschenen Finger«, in der vierten Strophe schließt es die Augen in dem gleichen Augenblick, in dem auch die singende Stimme plötzlich verstummt. Die Gemeinschaft 25 Vgl. Paul Celan: Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Hg. v. Heino Schmull. Tübinger Celan-Ausgabe. Frankfurt a. M. 1996, 74f. 26 Vgl. Jürgen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg 2003, 203f.

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des Todes verbindet das Ich mit dem Anderen des Gedichtes. Das Andere ist zuerst das Du, an welches sich das lyrische Subjekt in den beiden ersten Strophen direkt wendet. In der dritten Strophe verwandelt es sich in ein Du, das sich gegenüber dieser dialogischen Situation verselbstständigt, als »Du, die ihn grüßte, / den Teneberleuchter«. Dieser Übergang zur dritten Person öffnet einen Raum für ein Anderes, das mit dem Du nicht identisch ist und dessen Stimme im abgebrochenen Gesang in der vierten Strophe erklingt. Während das Du sich spaltet, wächst der Segen im Übergang von der zweiten zur dritten Strophe zusammen. Er erscheint ganz, gleichzeitig aber – durch den Doppelpunkt, der die Insistenz des »seist« auslöscht – getrennt von der Person, für die er bestimmt war. Das Kolon bricht die Relation von Ich und Du ab. Die Dichotomie von Zeugung und Tod wird verwischt, die Fleischwerdung des Wortes wird zu einer Inkarnation der Todesfinsternis. An der Stelle der erloschenen Finger brennt der Teneberleuchter, der am Ende der Liturgie auch ausgelöscht wird, damit absolute Dunkelheit herrscht.27 Sie wird in dem Gedicht nicht mehr überwunden, die Augen bleiben geschlossen oder es gibt sie gar nicht. In der vierten Strophe erlischt auch die Stimme, die »nicht wietersang nach: / ’s mus asoj sajn«. Im Moment des plötzlichen Eintretens von Dunkelheit und Stille vollzieht sich im Gedicht jedoch eine radikale Wende. Der erste Vers der vierten Strophe, der längste in dem durchaus vertikalen Text, ist eine Achse der Inversion. Mindestens zwei wesentliche Momente sind dabei festzuhalten: Das großgeschriebene Du, fern und abgetrennt vom Ich, findet auf langwierigen Wegen der Syntax zurück zu einem »du«, zu dem wieder hätte gesprochen werden können, wenn es nicht an die Vergangenheit angehaftet bliebe und nur in Erinnerung an gemeinsames Sterben auflebte. Wichtiger ist daher vielleicht, dass in dieser Wende etwas von der Sensualität der Kommunikation erhalten bleibt, das Gehör nämlich. Als die Augen sich schlossen und die Stimme mitten im Wort verstummte, gab es jemanden, ein »du«, das es hörte. Auf dieses gehörte Zeugnis einer verstummten Stimme stützt sich das Sprechen des Gedichts in seiner zweiten Hälfte. Die Stimme hört zu singen auf nach dem Vers ’s mus asoj sajn aus dem bereits als Motto zitierten jiddischen Lied. Zum ersten Mal in seinem Werk spricht

27 Tenebrae (lat. Dunkelheit) ist der traditionelle Name der Karmette, einer Matutin des katholischen Stundengebets, die an den drei Kartagen vor Ostern abgehalten wird. Die Liturgie findet bei einem brennenden Teneberleuchter statt, wobei die Kerzen stufenweise während der Zelebration ausgelöscht werden, bis am Ende die Kirche in Finsternis versinkt. Celan knüpft hier an sein berühmtes Gedicht Tenebrae aus dem Band Sprachgitter an. Zur Auslegung dieses Gedichtes im Zusammenhang mit Scholems Theologie der Klage siehe: Adam Lipszyc: Words and Corpses: Celan’s »Tenebrae« between Gadamer and Scholem. In: Jewish Studies Quarterly 21 (2014), No. 1, 55–66.

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Celan Jiddisch, eine durchaus wichtige Tatsache, wenn man seine bereits von mir erwähnten Notizen zum Meridian beachtet. Bei dem von Celan angeführten Lied handelt es sich nach Barbara Wiedemann »um einen sehr populären Text, der mit verschiedenen Melodien überliefert ist; er geht auf eine Selicha, ein Sühne- und Bußgebet des Jom Kippur zurück, das Ende des 16. Jahrhunderts von Salomo Ephraim ben Aaron, Rabbiner aus Prag, verfaßt wurde«.28 Da Celan ursprünglich den ganzen Text als Motto anführen wollte, sei er hier auch ganz zitiert: Tsu ken men aroyfgeyn in himl arayn Un fregn bay got, tzu s’darf azoy zayn? Es darf azoy zayn, Es muz azoy zayn, S’ken oyf der velt dokh gor andersh nit zayn!29

Der Text ist nicht nur wegen seiner sprachlichen »fremden Nähe« und als Festhalten der Alltagssprache von Millionen aschkenasischer Juden in Europa vor der Schoah bedeutsam, sondern auch durch seine – auch für deutschsprachige Leser verständliche – semantische Tonart.30 Es handelt sich um die bedingungslose Unterordnung unter die göttliche Urteile am Tag des Gerichts, zu Jom Kippur, wenn niemand in das Buch des Lebens eingeschrieben wird, da alle dem Tod ausgeliefert sind.31 Dem Tod, der mitten im Lied eintritt. Die jede Theodizee suspendierende Ironie macht dabei noch ein anderes sichtbar : die Materialität des im Gehör aufbewahrten Klangs der jüdischen Sprache. Dieser Klang der ermordeten Sprache wird am Ende des Gedichtes zum Träger eines lebendigen Segens, der im Hebräischen barach explizit auch »mehr Leben« bedeutet.32 28 Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose« (Anm. 26), 203. Wie bereits erwähnt, behauptet John Felstiner, dass der von Celan benutzte jiddische Text im Wilnaer Ghetto entstand. Dies wäre eine Erklärung für den radikal sarkastischen Ton des Textes, welcher mit den vom Glauben an Gottes Barmherzigkeit erfüllten Gebeten zu Jom Kippur deutlich kontrastiert. 29 Yehuda leb Cahan: Yidishe Volkslieder mit Melodies. Ed. by Maks Weinreich, New York 1957, Nr. 498. Zit. n. Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose« (Anm. 26), 207. 30 Womit ein deutscher Muttersprachler Probleme haben kann, ist die Bedeutung von »darf«, die im Jiddischen eher dem deutschen »soll« entspricht (für den Hinweis danke ich Ewa Geller). 31 Gemäß den jüdischen religiösen Vorstellungen schreibt Gott am Tag des Jom Kippur, des wichtigsten jüdischen Hochfestes, die Namen der Juden entweder in das Buch des Lebens ein (diese werden bis zum nächsten Gerichtstag leben) oder in das Buch des Todes (diese sterben vor dem nächsten Jom Kippur). 32 Vgl. The Book of J. Translated from the Hebrew by David Rosenberg, interpreted by Harold Bloom. New York 1990, 211. Harold Bloom: Freud and Beyond. In: ders.: Ruin the Sacred Truths. Poetry and Belief from the Bible to the Present. Cambridge, MA, 1987, 160. Siehe auch: Agata Bielik-Robson: »Na pustyni«. Kryptoteologie pûz´niej nowoczesnos´ci. Krakûw

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Ungewiss ist allerdings die Identität des augenlosen »du«, in dessen Ohr dieser Klang erhalten blieb. Barbara Wiedemann verweist auf die Schechina, die sich im Exil die Augen ausgeweint hat.33 Die Schechina hat nicht das strafende Antlitz des strengen Gottesgerichts, ist eher mit einer ihre Kinder beschützenden Mutter zu vergleichen, mit »Rachel, die um ihre Kinder weint«, sie ist nicht nur »Königin, Tochter und Braut Gottes, sondern auch […] Mutter eines jeden Einzelnen in Israel«.34 Es fällt schwer, sich die im kirchlichen Hochdeutsch sprechende Schechina anders vorzustellen als einen Nachklang der Stimme von Celans Mutter, die er in Form von schwarzen Schneeflocken wahrgenommen hat. In seinem frühen Gedicht Schwarze Flocken aus dem ersten Band Der Sand aus den Urnen, legt er das Wort »benedeiet« seiner Mutter in den Mund: Denk, daß es wintert auch hier, zum tausendstenmal nun im Land, wo der breiteste Strom fließt: Jaakobs himmlisches Blut, benedeiet von Äxten …35

Benedeiet: ein Wort, in dem der ungewöhnlich lateinische Klang vom Jiddischen der Mithäftlinge im Lager erhalten ist. Die Schechina als göttliche Anwesenheit ist in dem Gedicht genauso nicht anwesend wie die Gemeinde Israels, die sie repräsentiert. Die Schriften der Kabbala sagen, dass sie die Augen ausgeweint hat, bei Celan dagegen ist nicht sie »augenlos«, sondern »die Auen«, ein finsteres Tal, in dem »dasselbe, das andere / Wort: / Gebenedeiet«, vom mütterlichen »du« gesprochen, erklingt. In dieser Todeslandschaft, in den »augen-losen Auen«, wo es nicht nur keine Menschenaugen gibt, sondern nicht einmal Augen als Knospenansätze,36 trotz der eine üppige Vegetation versprechenden Flusslandschaft »im Land, wo der breiteste Strom fließt«. In »den augen- / losen, den Auen« begegnet das Gedicht dem Auge am Ort seiner Abwesenheit, in der Alliteration »Augen – Auen«, einer Zusammenfügung der Vokale zum Zwecke der Beschreibung einer Landschaft ohne Leben, eines Fruchtbodens, der keine Samen empfängt und keine Früchte trägt. Das einzig Mögliche ist – poetologisch gesehen – nur ein Klangspiel von »pneumatischen« Vokalen, deren phonetische Substanz sich fast ausschließlich im bloßen Atem erschöpft.

33 34 35 36

2008, 328–338, 342 u. passim; Adam Lipszyc: Mie˛dzyludzie. Koncepcja podmiotowos´ci w pismach Harolda Blooma. Krakûw 2005, 122f. u. passim. Vgl. Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose« (Anm. 26), 206. Zu der Gestalt der Schechina mit ausgeweinten Augen siehe Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 2013, 251. Beide Zitate aus: Scholem: Die jüdische Mystik (Anm. 33), 251. Celan: Die Gedichte (Anm. 10), 19. Vgl. Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose« (Anm. 26), 206.

Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan

351

Alles, und doch zu wenig. Das Gedicht erhebt höhere Ansprüche als nur die Aufbewahrung dieses pneumatischen Nachklangs der lebendigen Sprache und setzt sich zum Ziel, deren konsonante Materialität wieder herzustellen. Ein Weg dazu führt entlang der Wanderung des Segens durch die drei Sprachen, die das Gedicht dokumentiert. Im Titel geht Celan vom lateinischen »Benedicta« aus. Es ist ein Wort, welches auch das Diktum als Sprechen in sich trägt und der »Engführung« der Konsonanten im Wort »Dichtung« sehr nahe kommt. Das Wort kehrt in der vorletzten Strophe in der eingedeutschten Form »gebenedeiet« wieder, in der alle Konsonanten durch Vokale abgegrenzt sind. Das Pneumatische dieser vokalen Substanz der Sprache entspricht der durch lange Diphthonge dominierten Konstruktion der Landschaft. Bereits im Motto aber tendiert das Gedicht zu einer jiddischen Diktion, in der die Vokale in der Aussprache reduziert werden. Nicht abwegig ist auch anzumerken, dass diese Reduktionsarbeit ebenfalls auf die Tradition der hebräischen Buchstabenschrift anspielt.37 Diese Verdichtung der Konsonanten findet Celan in dem – wie das deutsche »gebenedeiet« – aus dem Lateinischen stammenden jiddischen Wort »gebentscht«, in dessen Auslaut auch »tsch« wie Czernowitz mitklingt. Es ist möglich dank der in der mittleren Strophe (und früher schon im Motto) eingeführten Präsenz des Jiddischen und der dadurch vollzogenen Atemwende. Sie hat auch noch mehr zustande gebracht, indem sie die Verbformen aus den Grenzen des participium perfecti passivi befreite und ihnen den Weg zu den finiten Formen des Indikativs Präsens bahnte. Das Gedicht überlistet damit die Sprache so, dass sie im letzten Vers performativ wird: das Gedicht bentscht, spricht den Segen aus als – im Sinne des hebräischen barach – Gabe des Lebens. Nicht an Tote, denn der Strom des Samens ist ausgetrocknet und das organische Leben will sich nicht erneuern, sondern an die Sprache selbst, die so viel lebendigen Klangs in sich trägt, dass sie auch Zeugnis ablegen kann von denen, die ganz sprachlos sind.

IV.

Koda

Der begrenzte Umfang des Textes bietet nicht genug Raum, um Celans Theopoetologie der Brocken in ihrer ganzen Breite darzustellen. Es fand sich Platz nur für zwei Texte, die für dieses poetologische Verfahren exemplarisch sind. Zwei 37 Die Materialität der Konsonanten spielt in Celans Poetologie eine wesentliche Rolle, die u. a. in solchen Gedichten wie Schliere, Und mit dem Buch aus Tarussa und Frankfurt, September zur Sprache kommt.

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unter vielen.38 Sie zeigen aber mindestens ansatzweise Celans Bestreben, die poetische Sprache durch theologische Inkrustationen so tragfähig zu machen, dass sie das abwesende Zeugnis der abwesenden Zeugen der Schoah in ein Ereignis der dichterischen Präsenz als pqosypopoi_a verwandeln kann.

38 Ein viel breiteres Spektrum dieses Verfahrens schildere ich in meinem Buch Znacze//nie wiersza. Apofazy Paula Celana. Warszawa 2014.

Brigitte Schwens-Harrant

Literatur als Litanei Du hast den Petersil erlöst. Du hast den Klettenbusch erlöst. Du hast das Salzfass erlöst. Du hast die Bettpfanne erlöst. Du hast das Stiegenhaus erlöst. Du hast die Wege im Park erlöst. Du hast jeden einzelnen Kieselstein erlöst, der von dir auf die Wege im Park gestreut worden ist. Du hast die Pechnelken erlöst. Du hast die Hortensienhecken erlöst, du hast die Bänke im Park erlöst, auf denen wir täglich sitzen dürfen, sodass sie nicht mehr hinterhältig weghüpfen, wenn wir uns gerade niedersetzen. Du hast die Tollkirschenhaine im Unterholz des Waldes erlöst. Du hast den Seidelbast erlöst, der sich vor uns versteckt, damit wir sein Gift nicht finden, um es zu kosten. Du hast die Schneerosen erlöst. Erlöse die Brombeeren von ihrem Fluch, der sie dazu zwingt, immer wieder zu Stacheldrahtzäunen heranzuwachsen.1

Josef Winklers Prosa Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel setzt ein mit dem Kapitel »Die Geschichte vom Widerhall der Katholischen Litaneien im mit Brombeermuster austapezierten Tabernakel, von den vergoldeten Schutzengeln und vom zerstückelten Hochaltar«2 – und verweist damit schon zu Beginn in diesem Titel auf den Prä(ge)text »katholische Litaneien« und seinen literarischen Widerhall, der wiederum selbst Geschichte wird, mit Blick auf Winklers Werk müsste man im Plural sprechen: Geschichten. 1 Gert Jonke: Die versunkene Kathedrale. In: ders.: Alle Stücke. Hg. und mit einem Nachwort von Joachim Lux. Salzburg/Wien 2008, 613–659, hier 632f. 2 Josef Winkler : Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel. Berlin 2011, 9.

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Es gab in diesem im Winter tiefverschneiten, kreuzförmig gebauten Kärntner Dorf Kamering, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin und das im Jahre 1887 an einem windigen Spätsommertag nach der eingebrachten Heuernte von auf einer Tennbrücke zündelnden Kindern zur Gänze eingeäschert und danach wieder kreuzförmig aufgebaut worden war, keine Romane zu lesen, keine Kinderbücher, keine Bibel, nur Gebetsbücher mit Litaneien.3

Dieser Anfangssatz ist bezeichnend, nicht nur für Josef Winklers Schreiben, sondern für eine bestimmte Schriftstellergeneration. Denn »ein katholisches österreichisches Kind« hat »bis in die fünfziger Jahre tatsächlich als erste Fremdsprache das Liturgische gelernt«4, wie Konstanze Fliedl in ihrem Beitrag Sterbensgeschichten gegen die Lebensmüdigkeit über Josef Winklers Werke anmerkt. In Winklers Texte sind Gebete und Litaneien auf besonders auffällige Weise nicht nur eingeflossen, sie haben sich formbildend ausgewirkt, sichtbar in Wiederholungen ebenso wie in der Syntax mit vielen Einschüben, deren Wirkung besonders deutlich wird, wenn man den Autor bei Lesungen erlebt. Wiederholt werden nicht nur Worte, Sätze und Motive innerhalb eines einzelnen Werkes, sondern im Gesamtwerk. Der zitierte Anfangssatz ist daher auch insofern bezeichnend, dass Winkler darin wieder Bilder aufgreift, die Leser seiner Werke bereits aus anderen Texten kennen: das kreuzförmig gebaute Kärntner Dorf Kamering ebenso wie dessen Einäscherung durch Kinder, auch der Hinweis auf die Lesesozialisation findet sich wieder und wieder in seinen Werken. Wiederholung ist ein Wieder-Holen von Bildern und Geschichten. Wenn man etwa die 800 Seiten von Das wilde Kärnten mit dem darauffolgenden Buch Der Leibeigene vergleicht, dann kehrt der Sohn dort zum Vater zurück, nachdem er ihn jahrelang nicht gesehen hat und es werden dann einige Motive aus der Kindheit nicht eigentlich wiederholt, wohl aber wieder geholt. Und das fühlen wir ja alle im Leben fortwährend. Wir können nicht z. B. die ersten fünfzehn Jahre einfach abhaken und sagen, das war einmal. Ja, das war einmal, aber es ist immer da, weil es einmal war.5

Winkler hat seine Art des Schreibens und Komponierens verglichen mit dem Bauen von Türmen. Er staple Sätze und Bilder so lange übereinander, »bis der Turm zusammenbrechen muß, denn irgendwann bricht jeder Turm zusammen. Und dann fange ich die einzelnen Motive oder Bilder wieder auf, nehme sie und stapele sie irgendwo anders nebenher wieder auf«.6 3 Winkler : Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär (Anm. 2), 9. 4 Konstanze Fliedl: Sterbensgeschichten gegen die Lebensmüdigkeit. Zu Josef Winklers Romanen. In: Wespennest 120 (2000), 82–89, hier 88. 5 So Winkler in: Matthias Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit. Ein Gespräch mit Josef Winkler. Online unter : www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6730 (03. 11. 2014); zuerst erschienen in: Deutsche Bücher. Forum für Literatur 33 (2003), H. 4, 257–276. 6 Winkler in: Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit (Anm. 5).

Literatur als Litanei

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Der Bezug zu Litaneien fällt in Winklers Texten bereits auf den ersten Blick auf, da sich Gebete und Anrufungen wörtlich in seine Texte weben, oft allerdings semantisch verschoben: »War nicht ich es, der die Mutter bat, in einer Nacht, wenn der Vater in Klagenfurt bei seinem Bruder schlief, neben ihr liegen zu dürfen? Ich schlief mehr in der Mitte, näher, meine Mutter, zu mir, näher zu mir.«7 Das Thema »Literatur als Litanei« reicht allerdings weiter als der motivische oder formale Blick auf Litaneien in der Literatur : Denn die Literatur selbst wird zur Litanei, übernimmt strukturelle Ähnlichkeiten wie Musikalität, Rhythmik und Wiederholung, kommt aber auch in ihrer performativen Bedeutung und sinnlichen Wirkung der liturgischen Litanei durchaus nahe. Diese Aspekte möchte ich in meinem Beitrag anreißen und dafür Texte von unterschiedlichen zeitgenössischen Autoren aufgreifen. Der Litaneibegriff, der in Bezug auf die Literatur (Drama, Lyrik und Prosa) im Folgenden verwendet wird, ist freilich – vor allem in der Funktion – nicht ident mit jenem religiös motivierten Flehruf, der in der Liturgie als Wechselrede von Vorleser und Gemeinde passiert. Es geht mir hier auch nicht um die Unterscheidung von religiös und profan, um die Profanisierung religiöser Themen, über die es in diesem Zusammenhang auch viel zu sagen gäbe,8 sondern vor allem um strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Litanei und Literatur, und zwar im Sinn jener knappen Definition, die Milan Kundera in seinem Essay Die Kunst des Romans vorlegt: »LITANEI. Wiederholung: Prinzip der musikalischen Komposition. Litanei: zu Musik gewordene Rede.«9 Neben formalen Kennzeichen wie Wiederholung, Rhythmik, Musikalität spielen dann aber doch auch Aspekte wie Anrufung und Wechselrede eine Rolle.

1.

Die Lust am Wörterrauschen

Von den Litaneien der katholischen Kirche, in denen das Sprechen in Singen übergeht, ist Peter Handke, wie er erzählt, »immer noch berührt«.10 Er hörte sie von Kindheit an, und zwar nicht auf Deutsch, sondern auf Slowenisch. Das Slowenische, die Sprache seiner Vorfahren, begegnete ihm in den Litaneien, »wie 7 Josef Winkler : Muttersprache. Frankfurt a. M. 1982, 128. 8 Vgl. Brigitte Schwens-Harrant: Verschiebungen. Profanierung und Sakralisierung im Werk Josef Winklers. In: Alexandra Millner u. Christine Ivanovic (Hg.): Die Entsetzungen des Josef Winkler. Wien 2014, 204–216. 9 Milan Kundera: Die Kunst des Romans. Essay. A. d. Franz. v. Uli Aumüller. München 1987, 167. 10 Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jozˇe Horvat. Klagenfurt 1993, 98. Vgl. im Folgenden die Studie von Fabjan Hafner : Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien 2008. Ihr verdanke ich auch wichtige Literaturhinweise.

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ich es ja in der Wiederholung erzählt habe, in den Litaneien, in der Art der Religiosität, und auch des Daseins, und des Tonfalls und des Schauens«11, und das blieb für Handkes weiteres Schreiben und Suchen nicht folgenlos: »Das war mir nah. Bis ins Innerste bin ich davon immer noch berührt, und da gehör ich hin.«12 Slowenische Litaneien, slowenische Maiandachten, slowenischer Rosenkranz haben ihn beeinflusst.13 Die slowenische Sprache »[…] war die Welt vom Bäumerauschen […] bei den Griechen hat man aus dem Rauschen der Bäume die Orakelsprüche herausgehört. Und wahrscheinlich kann man das so sagen, daß die slowenische Sprache, die ich damals, als 6-Jähriger schon nicht mehr so recht verstanden habe, für mich wie dieses Bäumerauschen war : eine orakelhafte Sprache, die mich aber gerade durch das Orakelhafte im Innersten berührt hat, also im Intimsten berührt hat«.14

Was Peter Handke hier als spezielle, persönliche Erfahrung mit der slowenischen Sprache beschreibt, trifft aber auch auf die (Kindheits-)Erfahrungen anderer mit Liturgie zu: Litaneien wurden etwa lateinisch gehört und daher nicht verstanden, aber auch die deutschsprachigen Versionen sind nicht unbedingt auf unmittelbares Verständnis gerichtet. Das wiederum liegt an der spezifischen musikalischen Form, an der Art und Weise der Wiederholungen und Variationen. Diese bewirken eine »Welt vom Bäumerauschen«, das Rauschen der Wörter. Die Sprache der (womöglich sogar fremdsprachigen) Litaneien ist entkoppelt von semantischer Zuordnung, vom Versuch, ihnen Bedeutung zuzuschreiben, entkoppelt vom Verstehen. Sie zeichnet sich durch Musikalität und Rhythmik aus, sie fließt dahin wie ein Fluss: Sprache ist Geräusch, Rauschen, Ton, Musik. Hier setzen sprachbewusste Schriftsteller und Schriftstellerinnen an, diese Spur des litaneiartigen Flusses und Rauschens lässt sich denn auch in ihren Werken finden, sei es bei Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Peter Handke, Gert Jonke – um nur einige jener bekannten österreichischen Autoren zu nennen, deren Werke dementsprechend als musikalisch bezeichnet werden. Bei Jonke ist der Bezug zur Musik selbst in den Titeln seiner Werke unübersehbar : Der ferne Klang, Schule der Geläufigkeit, Chorphantasie … Die österreichische Literatur nimmt in besonderer Weise Das Gebet in die Sprache, wie Wendelin Schmidt-Dengler seinen Beitrag nannte, in dem er einging auf den »prägenden Einfluss, den die katholische Liturgie auf die Litera-

11 Handke: Noch einmal vom Neunten Land (Anm. 10), 98. 12 Handke: Noch einmal vom Neunten Land (Anm. 10), 98. 13 Nach Erich Pruncˇ : Herbstdisteln. Slowenische Literatur in Kärnten. Drehbuch zum gleichnamigen Fernsehfilm. Typoskript ca. 1982, 4. 14 Pruncˇ : Herbstdisteln (Anm. 13), 5f.

Literatur als Litanei

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tursprache«15 ausgeübt hat. Schmidt-Dengler wies darauf hin, dass »die Begegnung mit der Sprache der Liturgie die erste Begegnung mit einer Sprache« gewesen ist, »die aus der Alltagspragmatik« herausfiel und »in der es keinen sofort ersichtlichen Zweck gab. Diese Sprache ist fremd und vertraut in einem«, ein »Grund zugleich für ironische Distanzierung wie auch für Anverwandlung«.16 Dieses Erleben der Sprache außerhalb ihrer alltagspragmatischen Kommunikationsfunktion, losgelöst von Bedeutung, reizt, den Blick auf die Sprache als Material zu werfen. Oder, um es mit Michael Stavaricˇ zu sagen, der seine eigene Prosa als Litanei bezeichnet: »Die Litanei ist eine lexikalische Auseinandersetzung, die aber noch nicht zu Ende geschrieben ist: Die Textsorte der Litanei eignet sich dazu, jedes Mal etwas zu ergänzen, ich habe es selber gemacht, und es funktioniert immer wieder neu.«17 Die lexikalische Auseinandersetzung ist deutlich erkennbar etwa in einem Gedicht des Südtiroler Lyrikers Sepp Mall, dessen Litanei (Aufzählung III) sich dem Alphabet entlanghandelt, bis zur Möglichkeit der Verklärung oder dem Zeitpunkt, »Wo die Wanderung zu Ende ist / das Ziel erreicht / Die Tür : Zugeschlagn«18 : Ein Büschel Zeitlosen / mit dem Geruch aufgebrochener Erde / der langsam verwelkt (vergeht) In unserm Haus / treppauf treppab Verkrüppelte Zeichen / aufgereiht im Verschwindn Fast wie Buchstaben: verordnet über die Stufen und Teppiche hin (sieh her) : Als kleines Brevier / Abc des Endlichen Angefangen mit A: Almrausch Anstand Akelei Aasgeier Abszess Akkord Amarelle Ambra Azur Die Asseln unter dem gewendeten Stein 15 Wendelin Schmidt-Dengler : Das Gebet in die Sprache nehmen. Zum Säkularisationssyndrom in der österreichischen Literatur der siebziger Jahre. In: Christiane Pankow (Hg.): Österreich. Beiträge über Sprache und Literatur. Umea 1992, 45–62, hier 46. 16 Schmidt-Dengler : Das Gebet in die Sprache nehmen (Anm. 15), 46f. 17 Michael Stavaricˇ in: Oya Erdogan: Der Wahnwitz dieser Welt, Deutschlandfunk, 14. 12. 2010. Online unter : www.deutschlandfunk.de/der-wahnwitz-dieser-welt.700.de.html?dram:arti cle_id=84864 (03. 11. 2014). 18 Sepp Mall: Schläft ein Lied. Gedichte. Innsbruck/Wien 2014, 60.

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flüchten das Licht Und Astern im Herbst Azaleen im Sommer Wie alles entschwindet / verwelkt (so schnell) Affekte und Affären Akten Akademien Allianzen Allüren und Almanache Altbauten Amaryllen Antons und Anitas19

Aufzählungen, Variationen, Lust am Laut und Spiel mit der Sprache sind Kennzeichen einer solchen Literatur, wie sie auch Gert Jonke vorführt, etwa in seinem Drama Die versunkene Kathedrale. Von der als solche noch klar erkennbaren klassischen Erlösungslitanei, die zu Beginn dieses Beitrags zitiert wird – bei der freilich die Worte durch in liturgischen Litaneien unübliche ersetzt werden, wie etwa »Petersil« und »Salzfass«, wodurch für Irritationen und semantische Verschiebungen gesorgt wird –, bis hin zum litaneiartigen verbalen Ehestreit, einer speziellen Form der Anrufung, reichen die zahlreichen Möglichkeiten litaneiartiger Sprache: ER Du Furte! Du Gurte! Karfunkel! Furunkel! Hildegund! Hintergrund! Rosamunde! Rotunde! Schrecksekunde! Saline! Sonatine! Wettersturz! Splitternackter Kassensturz! Du Zufallsfund! Du Lebensbund! Klamotte! Karotte! Marotte! Kokotte! Lieselotte! Du Irreführung! Unterführung und Verschnürung! Galeristin! Konformistin! Gitarristin! Publizistin! Du Bedingung! Du Erringung! Du Verschlingung! Du Vollbringung! Du Verhetzung! Du Verletzung! Du Zersetzung! Burleske! Groteske! Arabeske! Glimmer! Geflimmer! Gewimmer! Frauenzimmer! SIE Absud, Disput, Sterz, Terz, Schmerz, Homunkulus mit Pferdefuß! Glosse, Flosse mit Sommersprosse! Gitter, Knitter und Transmitter! Kompott, Komplott! Und außerdem: Kommode, Episode! Du seniles Transparent, du vergessenes Sakrament, du hinterhältiges Kompliment, du freundlicher Konkurrent, du sekkanter Disponent, du charakterloser Kontrahent und verlorenes Testament. Zusätzlich: Gerber, Sperber, Spielverderber! Du Überrest und Härtetest! Kassette, Diskette, Epaulette, Etikette und stotternde Kastagnette! Raute, Traute, Flaute. Draisine, Apfelsine, Terzine und Guillotine!20

Die Lust an einem spielerischen Umgang mit dem Material Sprache ist unübersehbar. Ebenso wenig die Bedeutung von Laut und Klang, Reim und 19 Mall: Schläft ein Lied (Anm. 18), 45f. 20 Jonke: Die versunkene Kathedrale (Anm. 1), 629f.

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Rhythmus. »Wir dürfen uns nicht vorschreiben lassen, unsere Welt und unsere Sprache und uns selbst absichtlich zur Verkümmerung zu bringen, indem wir mit dem Experimentieren und der Arbeit an der Sprache aufhören«,21 sagte Gert Jonke in seiner Dankesrede für den Erich-Fried-Preis. Und der Lyriker Ferdinand Schmatz hat auf die Frage: »Wie würden Sie die Liaison, die Literatur und Religion in Ihrem Schreiben eingehen, kurz charakterisieren?«22, die aufschlussreiche Antwort gegeben: »verlockung annäherung durchdringung irritation suche frage verwandlung erbauung zorn demut lust schon wieder verlockung.«23 Texte, die dieser Verlockung nachgehen, die sich ironisch distanzieren und die liturgische Sprache poetisch anverwandeln, sorgen für Verunsicherung, auch Ärger. Ernst Jandls und Thomas Bernhards Gedichte wurden von katholischen Verlagen zensuriert; aber auch heute werden Autoren wie Franzobel vorschnell als blasphemisch und respektlos bezeichnet.24 Eine andere Möglichkeit, mit der Verstörung umzugehen, ist jene der Vereinnahmung, etwa indem man versucht, mit den vermeintlichen Absichten und persönlichen Glaubensgeschichten der Autoren den Texten das Verstörende zu nehmen. Auch dies geschah und geschieht mit den Gedichten eines Thomas Bernhard25 und eines Ernst Jandl26. Buchtitel wie Wenn die Poeten beten verraten die Verwechslung, die passieren kann. Litaneiartige Literatur erfordert eine besondere Aufmerksamkeit für die lautlichen, syntaktischen und verstechnischen Strategien.27 Gekennzeichnet durch Wiederholungen und wörtlich aus der Liturgie übernommene Formeln – wie etwa »so wird meine seele gesund« im Gedicht das schöne bild –, zeigen die Gedichte Ernst Jandls, wovon sie sprechen: Was mit dem Wort geschieht. Die fortschreitende räude etwa bringt den Verfallsprozess von Sprache in Sprache. 21 Zit. n. Joachim Lux: »Mein Reich ist in der Luft«. Zu Gert Jonke und seinen Theaterstücken. In: Jonke: Alle Stücke (Anm. 1), 711–748, hier 737. 22 Albrecht Grözinger, Andreas Mauz u. Adrian Portmann (Hg.): Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison. Würzburg 2009, 181. 23 Grözinger, Mauz u. Portmann (Hg.): Religion und Gegenwartsliteratur (Anm. 22), 181. 24 Vgl. im Folgenden Brigitte Schwens-Harrant: Was mit dem Wort geschieht. Österreichische Literatur der Gegenwart. In: Aleksandra Chylewska-Tölle (Hg.): »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe.« Die christliche Botschaft in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Nordhausen 2011, 237–255. 25 Vgl. Cornelius Hell: Zensierte Kampfgebete. Neues Licht auf Thomas Bernhards Verhältnis zur Religion. In: Orientierung 68 (2004), H. 4, 43–48. 26 Das Gespräch mit Ernst Jandl diente schon oft als Ideenlieferant für die theologische Eingemeindung von Jandls Lyrik: »Ich klebe an Gott«. Ernst Jandl im Gespräch mit Cornelius Hell. Diskurs, Dezember 2006. Online unter : www.literatur-religion.net/diskurs/d5hell.pdf (20. 11. 2014). Zuerst erschienen in: SALZ. Zeitschrift für Literatur 91 (1998), 18–25. 27 Vgl. Wendeln Schmidt-Dengler : Heilung durch Aussparung. In: Volker Kaukoreit u. Kristina Pfoser (Hg.): Gedichte von Ernst Jandl. Stuttgart 2002, 131–141, hier 132.

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»him hanfang war das wort hund das wort war bei / gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch / geworden hund hat hunter huns gewohnt …«28 Wie Francis Bacon in seinen Bildern zerfetzte Körper zeigt, macht Ernst Jandl in seinen Gedichten eine beschädigte Sprache sichtbar bzw. in seinen Lesungen auch hörbar.29 Jandl demontiert nicht Gott, sondern er interessiert sich für das Wort Gott. »Gott ist ein von mir häufig gedachtes und verwendetes Wort, wenn auch nur wie ›Herrgott, verdammt nochmal‹, so wie das Wort scheissen, ›geh scheissen‹, wie ein Fluch, und so auch das Wort ›Gott‹ wie eine spontane Bitte oder ein Ausdruck des ›Oh Gott‹.«30 Die Sprache liegt als Material vor und wird genauer angesehen. »Nicht das Jenseits oder Gott ist das Thema, sondern die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Jenseitigem und von Gott«31, versucht Bernhard Fetz die »religiösen« Gedichte Jandls zu beschreiben und zitiert dabei Jandl selbst: »Das Arbeiten an Form ist gleichzeitig eine Erfahrung. Form ist Erfahrung.«32 Literatur, die derart an der Form arbeitet, thematisiert die Möglichkeiten der Sprache, die Möglichkeiten der Wahrnehmung – und das Sprachspiel ist dann doch mehr als bloß ein Sprachspiel. Das zeigen auch die »Stacheldrahtzäune« in Jonkes Litanei.

2.

Das Versprechen der Sprache

Die Anverwandlung, gar sprachliche Zersetzung der liturgischen Sprache und der Glaube an die Kraft der Sprache, der auch Litaneien kennzeichnet, müssen sich nicht ausschließen. Ich möchte das anhand der Texte Josef Winklers erläutern. Die enorme, ja existenzielle Bedeutung von Sprache wird bei ihm explizit lesbar, vor allem aber in der Art und Weise seines Schreibens deutlich.33 Winklers Umgang mit Sprache aus dem liturgischen Bereich sieht zunächst aus wie ein Paradox: Denn einerseits scheint sich der Autor schreibend von der Kirche entfernen zu wollen, das lassen auch seine Aussagen in Interviews erkennen, in denen er auf Distanz zur Kirche geht: »Wenn einen einmal das Katholische getroffen hat, wenn einem der Kirchturm vorne ins Herz gegangen 28 Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Gedichte. Stücke. Prosa. 3 Bände. Hg. v. Klaus Siblewski. Bd. 1. Darmstadt/Neuwied 1985, 473. 29 Vgl. dazu Bernhard Fetz: Der Dichter und der liebe Gott. Ernst Jandls Choral im Kontext seiner religiösen Gedichte. In: Kaukoreit u. Pfoser (Hg.): Gedichte von Ernst Jandl (Anm. 27), 117–130. 30 Zit. n. Bernhard Fetz: Ernst Jandl. Gedichte. In: Bernhard Fetz u. Klaus Kastberger (Hg.): Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten. Wien 1998, 82–94, hier 94. 31 Fetz: Der Dichter und der liebe Gott (Anm. 29), 130. 32 Zit. n. Fetz: Ernst Jandl (Anm. 30), 92. 33 Vgl. im Folgenden Schwens-Harrant: Verschiebungen (Anm. 8).

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ist und hinten wieder hinaus, dann wird man das nie wieder los.«34 Andererseits gebraucht Winkler den kirchlichen Sprach- und Formenschatz, betreibt er die Anverwandlung vor allem von Gebetssprache und Litaneien wie kaum ein anderer Autor der Gegenwart.35 Das lässt sich auf der Mikroebene nachweisen, in der Syntax etwa und einer Vielzahl von einzelnen Bildern, den vielen Wiederholungen, eindringlich wie Beschwörungen, dem Klang der liturgischen Sprache, die seine Literatur ausmacht. Doch Winklers Werk lässt sich auch als Ganzes als Litanei lesen, als eine Litanei, die an kein Ende kommt, mit keinem Werk an ein Ende kommt. Das hat mit der Bedeutung der Sprache, des Schreibens zu tun. Oft wurde bereits darauf hingewiesen, dass Winkler Gebete und Gebote provokant umschreibt. Winkler hat seinen Texten unter anderem auch Texte von Jean Genet eingeschrieben oder in der Erzählung Wenn es soweit ist neben den Gebeten auch Charles Baudelaires Satansanrufungen. Literatur wird zum lauten Schrei des Protestes. Du sollst stehlen, wenn du kein Geld, aber Hunger hast. Du sollst den Namen Gottes verunehren, wenn du acht Jahre lang seine hölzernen Füße geküßt hast. Du sollst Vater und Mutter verunehren, wenn sie dir nicht jeden Abend und jeden Morgen statt des Abend- und Morgengebets zeigen, daß du ein Mensch bist wie sie. Du sollst Unzucht treiben, wenn dir ein Junge lieber als ein Mädchen ist, du sollst den Jungen lieben wie dich selbst. Du sollst töten, wenigstens ein Tier töten, wenn dich dein Vater schlägt.36

In Winklers Karnevalisierung und Verkehrung fallen Heiligenbilder brennend zu Boden,37 erhebt sich die Erzählerfigur zum Nachfolger Christi, »Frösche tragen eine Tiara, Karpfen und Hechte die Dornenkrone Christi«38 und der Pfarrer Frauenunterwäsche. Einerseits geschieht hier bewusste Verstörung und Provokation, andererseits wird in der Art und Weise, wie Winkler die Sprache verwendet, nämlich litaneiartig, als Bilderflut, deutlich, dass es in dieser Literatur um die Kraft der Sprache geht, jenseits einer Benennung von Wirklichkeit, es geht um die Sprache selbst. Einerseits wird bewusst gestört und irritiert, andererseits wird die Sprache in Szene gesetzt. Beides findet sich in folgendem litaneiartig wiederholenden Satz: 34 Vgl. dazu auch: Paul Jandl: »Ich bin ein ewiger Ministrant«. Ein Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger Josef Winkler. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 256 vom 01. 01. 2008, 28. 35 Zu Winklers Kampf gegen das Katholische bei gleichzeitiger Angewiesenheit darauf vgl. auch den Beitrag von Robert Walter-Jochum: »… das dunkle und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse« – Religion, Sexualität und Identität bei Jean-Jacques Rousseau und Josef Winkler, in diesem Band, 367–389. 36 Winkler : Muttersprache (Anm. 7), 148. 37 Josef Winkler : Der Leibeigene. Frankfurt a. M. 1987, 7. 38 Dirck Linck: Halbweib und Maskenbildner. Subjektivität und schwule Erfahrung im Werk Josef Winklers. Berlin 1993, 180.

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Obwohl der Pfarrer gesagt hat, daß man über diese oder jene Dinge nicht reden soll, rede auch ich über diese Dinge nicht, solange ich nicht darüber reden will, aber jetzt will ich genau über Dinge reden, über die man nicht reden soll, denn ich will nur über Dinge reden, über die man nicht reden soll, sonst über nichts mehr.39

Winklers Metaphorik – »Eine Kreuzotter, auf deren gespaltener Zunge eine Hostie lag, kroch unter den pendelnden Beinen der beiden erhängten Knaben hinweg.«40 – zeigt, dass es hier nicht um Realität geht, dass Sprache keine Abbildung ist, dass es keine Übereinstimmung von Realität und Sprache gibt: »Winklers Metaphorik gibt zu imaginieren. In den tranceartigen Abläufen verschmelzen das Figurative und die Figuren, die Wörter drängeln sich vor, die Vielfalt möglicher Bedeutungen wird zu einer Wolke aus Sinn und bezeugt am Ende nur die Abwesenheit von Sinn.«41 Auch deswegen laufen Interpretationen, die ausschließlich das Autobiographische in Winklers Werken in den Blick nehmen, ins Leere. Es geht nicht um die Übereinstimmung des Erzählten mit real Erlebtem, sondern es geht um das Ersetzen des Erlebten (auch der erlittenen Sprachlosigkeit) durch Sprache. Die Sprache bezeichnet dabei nicht etwas Bestimmtes, also etwa Frösche mit Tiara, sondern konstituiert Wirklichkeit erst: als Sprache. Dabei wird ein auffälliges Grundvertrauen in die Wirkmächtigkeit von Sprache sichtbar. Die »Lebensnotwendigkeit« von Sprache wird explizit an vielen Stellen in Winklers Werk beschrieben, in kräftigen Bildern: Nur wenn ich schreibe, lebe ich und sitze auf einem Riesenbagger, der sich ins Gestein schlägt, um eine Metapher zu finden. Ich schreibe knieend, falte in sätzeleeren Zeiten meine Hände und bete um Metaphern. Den Kriegsgott kenne ich, den Gott der schwangeren Katzen ebenfalls, aber jetzt bin ich auf der Suche nach dem Gott des Bleistifts. Du bist der Metaphernhund! sagen die Bluthunde. Ich werde solange Metaphern suchen, bis ich selber eine Metapher bin.42

Sprache wird in Winklers Werken nicht nur heilig genannt (»Die Sprache ist heilig. Ich glaube an sie. Im Namen meines Vaters, der sie mir weggenommen hat, und im Namen meiner Mutter, die schweigsam wie eine Stumme war.«43), sie wird auch entsprechend eingesetzt, und zwar für »Heiligsprechung«. »Die Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf zwingt mich dazu, die beiden Selbstmörder in einer sprachlichen Zelebration heilig zu sprechen«,44 lautet einer der besonders häufig zitierten Sätze aus dem Roman Der Ackermann aus 39 40 41 42 43 44

Winkler : Muttersprache (Anm. 7), 259. Winkler : Der Leibeigene (Anm. 37), 11. Linck: Halbweib und Maskenbildner (Anm. 38), 273. Winkler : Der Leibeigene (Anm. 37), 214. Josef Winkler : Der Ackermann aus Kärnten. Frankfurt a. M. 1980, 136. Winkler : Der Ackermann aus Kärnten (Anm. 43), 44.

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Kärnten. Es wurde schon oft genug festgestellt, dass sich die beiden jugendlichen Selbstmörder wie ein roter Faden durch Winklers Werke ziehen, aber mit diesem Motiv verbunden ist eben auch die Vorstellung von Heiligsprechung durch sprachliche Zelebration. Der religiöse, kultische Akt der Zelebration wird auf das Schreiben übertragen: Zweck dieses Schreibens sei es, heiligzusprechen. Die beiden Selbstmörder werden, indem sie heiliggesprochen werden, ins Recht gesetzt (denn Heiligsprechung ist ein performativer, ein juridischer Akt) – aber auch viele andere Ausgesonderte werden in Winklers Werken ins Recht – und das heißt hier immer : ins Wort – gesetzt, etwa in Friedhof der bitteren Orangen und in Wenn es soweit ist. Sie werden ins Recht gesetzt aufgrund »sprachlicher Zelebration«, durch einen kultischen Akt also, durch das Schreiben selbst. Es ist auffällig, wie oft in Winklers Werken die Ausgesonderten gerade durch Schweigen – durch die Abwesenheit von Sprache – ausgesondert sind. Schweigen tötet, durch Sprache geschieht Auferweckung. Schreiben und Leben sind eins. Dabei geht es aber nicht um Realpräsenz. Die Toten sind ja nicht »wirklich« lebendig. Aber sie leben im Text. Sie leben, solange gesprochen/geschrieben wird. Die Performativität der Sprache wird beim Wort genommen. Deshalb ist der Prozess nie abgeschlossen, deshalb wird Sprache rituell eingesetzt, werden die Bilder in den unterschiedlichen Werken in Wiederholungen variiert. »Im selben Moment also, in dem das Wort ausgesprochen wird, ist es Materie und gilt. Zu vergleichen nur noch mit einem Bekenntnis der Liebe während des Liebesvollzugs«,45 schreibt Kurt Drawert über den Anfang des Johannesevangeliums. »Im Anfang war das Wort« sei ein Anfang, wie er besser nicht sein könne, weil »Aufruf und Gegenwart des Aufgerufenen« im Sprechakt zusammenfallen. Auch Schreiben erscheint als ein in besonderem Sinn performativer Akt, der im Sprechen selbst eine Tatsache schafft, die bewirkt, was sie bezeichnet, die Bedeutung realisiert, im Sinne von: Das, was ich sage, wird wahr gewesen sein. »Die antikatholischen Texte von Josef Winkler sind (nach wie vor und wider seinen Willen) katholische Literatur, faszinierend, schrecklich, pomphaft und suggestiv wie der Katholizismus selbst«,46 stellt Franz Haas in seinem Beitrag Ketzergebete oder : Josef Winklers poetologische Herbergsuche fest. Damit hat er vielleicht auch dieses Vertrauen an die Kraft der Sprache im Sinn, die Winklers Texte praktizieren. Oft wird – gerade in Bezug auf Winklers drei erste Romane, die »KärntenTrilogie« – auf die therapeutische Kraft des Schreibens hingewiesen. Den Satz, 45 Kurt Drawert: Schreiben. Vom Leben der Texte. München 2012, 10. 46 Franz Haas: Ketzergebete oder : Josef Winklers poetologische Herbergsuche. In: Günther A. Höfler u. Gerhard Melzer (Hg.): Josef Winkler. Graz 1998, 39–54, hier 52.

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»Alles, was ich beschreibe, wird neu«47, kann man auch in diesen Zusammenhang stellen, man kann ihn lesen als Aussage über die Möglichkeit zu heilen, indem etwas Sprache wird. Man kann auch das Motiv des Künstlers als alter deus erkennen. Aber der Satz zitiert und transformiert nicht zufällig einen Bibelvers aus der Offenbarung des Johannes: »Seht, ich mache alles neu.« (Offb 21, 5). Und dort heißt es im Anschluss: »Schreib es auf, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr. Sie sind in Erfüllung gegangen.«

3.

Das Verschwinden im Lied geh ein in die Nacht geh ein in den Schlaf drüben ist noch ein Nachtlicht geh ein in die Nacht geh ein in den Schlaf drüben ist noch ein fröhliches Nachtlicht geh ein in die Nacht geh ein in den Schlaf drüben ist noch ein Nachtlicht und sie sind fröhlich zu Abend geh ein in die Nacht geh ein in den Schlaf und sei fröhlich zu Abend sei fröhlich48

Nicht immer sind Friederike Mayröckers Texte – aufgrund der Wiederholungen und Rhythmen – so deutlich als Litaneien erkennbar wie ihre Litanei wenn man traurig ist, die die formale Kennzeichnung zudem auch schon im Titel trägt. Und doch sind selbst ihre narrativeren Texte von diesem litaneiartigen Ton getragen, unter anderem durch Satzschleifen, die an kein Ende kommen wollen (»ich finde ja nie ein Ende«49) und die im Fluss auch von der Interpunktion nicht aufgehalten werden: Also immer für sich einen neuen Anfang machen, Tatzen auf der Maschine, so hineinspringen in den Text wie ins Badewasser wie in den See im letzten Sommer und dann mit Schrecken festgestellt dasz man das Schwimmen verlernt hat dasz man untergeht : Zipfel Büschel und Haar hatte Maria mich wieder herausgezogen gerettet und ich ganz verzagt, nicht wahr, und die alte Ärztin gefragt, kann man das Schwimmen verlernen aber ich weisz nicht was sie mir geantwortet hat, also immer für 47 Winkler : Der Ackermann aus Kärnten (Anm. 43), 101. 48 Friederike Mayröcker : Litanei wenn man traurig ist. In: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939–2003. Hg. v. Marcel Beyer. Frankfurt a. M. 2004, 37. 49 Friederike Mayröcker : Und ich schüttelte einen Liebling. Frankfurt a. M. 2005, 238.

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sich einen neuen Anfang machen und nochmals fragen kann man das Schwimmen verlernen und meine alte Ärztin sagt, nein man verlernt es nicht so wie man das Radfahren Reiten nicht verlernt aber wenn man mehrere Sprachen beherrscht hat kann man sie verlernen, nur die zu allererst erlernte Sprache verlernt man nicht also man verlernt alle Sprachen auszer der Muttersprache, sie verschwindet zu allerletzt, nicht wahr, aber man kann zB Beten verlernen – man vergiszt einfach den Wortlaut der Gebete auch wenn man versucht sie sich oftmals vorzusagen, irgendwo bleibt man stecken und musz von vorne anfangen, und ich sage zu EJ, nur nichts Gefälliges in der Literatur, und ich sage zu ihm, wenn man jeden Tag ein Gedicht macht bleibt man immer in der gleichen Temperatur und dann ist es ganz verständlich dasz es zu Wort Wiederholungen kommt, fühlte mich dann hochgehoben von meiner halluzinierten Sprache und war begierig wie es weitergehen solle also im Waldbrausen Waldgebraus, es drängte ja alles zur Landschaft nämlich zum Waldströmen.50

Wie man ihre Texte lesen kann, darauf gibt Mayröcker in ihrer Prosa Und ich schüttelte einen Liebling selbst den Hinweis: Was den Leser betrifft, ist ihm nicht zuzumuten dasz er MITARBEITET beim Lesen, nicht wahr, das ist Unsinn, sage ich zu EJ, das einzige was er tun sollte, ist, sich einen angenehmen Platz zum Lesen zu finden und sich der Lektüre hinzugeben also die Lektüre über sich ergehen zu lassen, sich überschwemmen zu lassen von ihren Reizen Bezauberungen und Verführungen : er braucht sich also nicht anzustrengen – das ist wohl eine falsche Vorstellung, nicht wahr.51

Gegen die Anstrengung des Verstehens wird hier die Passivität des Sich-überschwemmen-Lassens gesetzt, und der Sprache werden Bezauberungen und Verführungen zugestanden. Mayröcker lädt in ihren Gedichten wie in ihrer Prosa Leserinnen und Leser ein, sich auf ihre Sprache einzulassen, wie sie es als Schreibende selbst tut: »Ich lasse mich führen von meiner Sprache ich lasse mich tragen von meiner Sprache als sei ich ausgestattet mit Fittichen aber ich sehe es nicht und es musz von alleine kommen.«52 Das trifft sich mit dem, was Michael Stavaricˇ über die Bedeutung des Rhythmus in seinen Werken sagt: Ich habe es verglichen mit einer Zugfahrt, dieses dada dada, da wird man mitgenommen, irgendwann ist man so in diesem Rhythmus drinnen, man schläft fast beim Lesen, ist aber noch wach, und bekommt trotzdem noch was mit. Es ist aber auch gar nicht wichtig, dass man alles draußen in der Landschaft mitbekommt, weil die Landschaft, die an einem vorbeisaust, die Berge, Sträucher, Täler, Seen, das ist so ein husch, man hat es gesehen und doch nicht gesehen, man hat es empfunden und doch nicht empfunden.53 50 51 52 53

Mayröcker : Und ich schüttelte einen Liebling (Anm. 49), 227f. Mayröcker : Und ich schüttelte einen Liebling (Anm. 49), 153. Mayröcker : Und ich schüttelte einen Liebling (Anm. 49), 62. Michael Stavaricˇ in Erdogan: Der Wahnwitz dieser Welt (Anm. 17).

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Diese Beschreibung bezeichnet die Wirkung litaneiartiger Literatur. Und von Michael Stavaricˇ’ eigener Prosa, etwa seinem Roman Böse Spiele, mit dem er das alte Lied vom Mit- bzw. Gegeneinander der Geschlechter singt: Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass man irgendwann vielleicht genug hat vom Krieg, alles belächelt, dass es vielleicht im ersten Moment schwer fällt, dass sich aber Männer und Frauen erneut arrangieren, weil allen daran gelegen sein muss, zu überleben. Dass sie Strategien entwickeln, um einander beizukommen, wo es doch in den Augen vieler Menschen nichts Verwerflicheres gibt, als die Welt den Tieren zu überlassen. Dass es viele Himmel geben kann über einem kleinen Land. Dass im ersten die Vögel ziehen und sich im zweiten die Wolken sammeln, dass sie im dritten die Häute kalken und im vierten Efeu streuen, dass sich im fünften die Wölfe rotten und im sechsten die Rüden sammeln, dass sie irgendwann lospreschen und alle überlaufen. Es gibt viele Himmel über einem kleinen Land, sagte sie. Dass sie sich niemals ans Sterben wagte.54

Der Fluss der Sprache wird gestaltet durch den Rhythmus, durch Wiederholungen mit ihren Veränderungen und Verschiebungen. Eine solche Sprache macht etwas mit ihren Hörern und Lesern. Die sinnliche Wirkung der Texte wird beim lauten Lesen oft hörbarer und erkennbarer, der Trance vergleichbar, einem halb wachen, halb schlafenden Zustand. Das Sich-von-der-Sprache-überschwemmen-Lassen betrifft beide, den Schreibenden ebenso wie den Lesenden, Hörenden. Beim Schreiben und Lesen litaneiartiger Literatur verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen, auch jene zwischen Subjekt und Objekt: In Gert Jonkes Drama Seltsame Sache sagt der Sänger/Dichter/Komponist am Ende: Es sind dies weniger die Lieder, die ich singe, sondern eher kommt es mir vor, als würde ich von ihnen gesungen, denn es sind auch Sachen, die weder ich noch sonst wer kennen kann, Sachen, die vielleicht noch gar nicht geschrieben sind oder nie je komponiert werden würden. Von denen werde ich gewissermaßen gesungen.55

Die religiöse, geradezu mystische Metaphorik, in der dann über das Schreiben geschrieben wird, gründet in dieser Erfahrung, dass der Sänger gesungen wird, dass die Schreibende geschrieben wird, dass es spricht: […] und es war das Schreiben, man kann es auch das Gottessen nennen denn man fühlt sich von einer fremden Gewalt übermannt, und man tritt in eine fremde Welt ein, welche aber voll Gloriolen, und das geschieht nicht jederzeit wenn man es sich wünscht sondern es ist von speziellen Voraussetzungen abhängig, und man benötigt dazu ein innen glühendes Wesen, so ist es, ein fremdes Geschehen sprengt die alltägliche Brust, und es ist eine Kopulation mit dem Geist, und es ist ein Exzesz und es ist ein Geheimnis […].56 54 Michael Stavaricˇ : Böse Spiele. München 2009, 148. 55 Gert Jonke: Seltsame Sache. In: ders.: Alle Stücke (Anm. 1), 585–612, hier 609. 56 Mayröcker : Und ich schüttelte einen Liebling (Anm. 49), 110.

Robert Walter-Jochum

Vom Bekenntnis zum Plädoyer: Religion, Sexualität und Identität bei Jean-Jacques Rousseau und Josef Winkler

»Intus, et in cute«1 – »Im Inneren und unter der Haut« – ist das von Persius entlehnte Motto, das Jean-Jacques Rousseau über seine Bekenntnisse stellt, womit er ein Vorzeichen setzt, das die Gattung der Autobiographie und ihre Theoriebildung bis auf den heutigen Tag geprägt hat: Die Vorstellung von der Authentizität autobiographischer Darstellung nimmt hier ihren Ausgang, die von verschiedensten Theoretikern der Gattung als eines von deren zentralen Definitionsprinzipien angesehen worden ist.2 Überhistorisch und unabhängig vom Kontext gebraucht erscheint dieser Begriff jedoch als äußerst problematisch, weil er eine ethisch grundierte referenzielle Beziehung zwischen Leben und Text voraussetzt, die so in den wenigsten Fällen eingehalten wird und deren Überprüfung letztlich unmöglich ist: Der Begriff der Authentizität als Kernbestand der Autobiographietheorie führt diese in eine epistemologische Sackgasse.3 Für Rousseaus Text sind der normative Anspruch und die praktische Geste der Authentizität, wie sie für den Beichtvorgang charakteristisch sind, von Bedeutung – nicht etwa die Behauptung einer tatsächlich authentischen Wiedergabe seiner Seelenvorgänge aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Dass sein Text, wie es in der Forschung ausgedrückt worden ist, zur »Bekenntnis1 Jean-Jacques Rousseau. Die Bekenntnisse. Übers. v. Alfred Semerau. München 2012, 9. 2 Im Einzelnen kann das hier nicht ausgeführt werden. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die wirkmächtige Autobiographiedefinition von Philippe Lejeune, die implizit das Moment der Authentizität anspricht, wenn auf das »persönliche Leben« der schreibenden Instanz verwiesen wird: »Definition: Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.« Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994, 14 (Hervorhebung im Original). 3 Die erkenntnistheoretischen Probleme eines Festhaltens am Paradigma der Referenz in Bezug auf Texte, die auf historische Zusammenhänge verweisen, hat nicht zuletzt der Geschichtstheoretiker Hayden White thematisiert. Vgl. allgemein hierzu Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung von Reinhart Koselleck. Aus dem Amerikanischen von Brigitte BrinkmannSiepmann und Thomas Siepmann. Stuttgart 1986.

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kloake«4 wird, in der körperliche Gebrechen wie auch vor allem sexuelle Momente in einer Klarheit angesprochen werden, wie dies zuvor so nicht üblich war, schockierte seine Mitmenschen, war jedoch textintern durch den Verweis auf die notwendige Aufrichtigkeit der Beichte, die hier abgelegt werden sollte, zu rechtfertigen: Nur als »authentischer« Text, der die sakramental geforderte, tief empfundene und letztlich von Gott gewährte Reue (contritio) bekennend nach außen trägt, erfüllt das Bekenntnis im Sinne der angestrebten Vergebung seine Funktion. Im Folgenden soll zunächst deutlich gemacht werden, inwiefern die Einbindung in diesen sakramentalen Kontext den Rückgriff auf das Moment der Authentizität als spezifische Textstrategie erscheinen lässt, die sich aus dem dort gegebenen Zusammenhang erschließt und demzufolge in anderen Kontexten verzichtbar ist bzw. mit alternativen Bedeutungen aufgeladen werden kann. Die Beichte und ihr textproduktiver Charakter werden dabei als der autobiographischen Gattung analoge Redesituation deutlich, in deren Rahmen (anders als für die Autobiographie allgemein) die Annahme der Authentizität eine sachlich notwendige rhetorische Strategie ist, weil ohne Authentizität die Beichte ihr Ziel nicht erreichen kann: Nur als ›ehrliche‹, ›authentische‹ Aussage des Beichtenden kann dessen Bekenntnis die erstrebte Absolution erlangen (1.). Das explizite Reden über Sexuelles erfüllt in diesem Kontext eine besondere Funktion, indem es nicht nur text-, sondern auch identitätsproduktiv wird und ebenfalls durch die Aufrichtigkeit der Beichte gerechtfertigt ist (2.). Die dergestalt sexuell explizite Aufrichtigkeit, die bei Rousseau noch sakramental funktionalisiert ist, übernimmt – in produktivem Anschließen an dieses Gattungsvorbild – Josef Winkler in seinen frühen Romanen, die indes von der Entleerung des Dogmas in der dörflichen Enge einer repressiven praktischen Anwendung christlicher Verhaltenslehren künden, gegen die sich der Ich-Erzähler mit einem Plädoyer für die von der Dorfgemeinschaft Ausgeschlossenen stellt (3.). Wie im Falle Rousseaus hat Winkler immer wieder Anstoß erregt mit der in seinen Texten dominanten Deutlichkeit der sexuellen Schilderungen, die zudem vielfach als autobiographisch (womit dann meist auch »authentisch« gemeint ist) gelesen wurden. Was bei Rousseau jedoch noch als aufrichtiges Bekenntnis positiv bewertet werden kann, ist in Winklers Texten als Provokation und Skandal funktionalisiert, die auf Enttarnung des Zwiespalts zwischen der Botschaft Jesu und deren Verkehrung in der dörflichen Sittenstrenge zielen – »Authentizität« im klassischen Sinne spielt jedoch für die Rhetorik von Verteidigung und Anklage, die in Winklers Text heraussticht, keine Rolle mehr (4.).

4 Ulrich Breuer : Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk. Frankfurt a. M. u. a. 2000, 189.

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1.

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Vom Exhibitionismus der Beichte – Rousseaus Bekenntnisse Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: »Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! Ich habe das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt. […] Ich habe mich so gezeigt, wie ich war. […] Ich habe mein Inneres entblößt, so wie du selbst es gesehen hast. Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; […] Jeder von ihnen enthülle seinerseits sein Herz mit der gleichen Aufrichtigkeit zu den Füßen deines Throns, und dann möge auch nur einer dir sagen, wenn er es wagt: Ich war besser als dieser Mensch da!«5

Die zitierte Eingangspassage von Rousseaus Bekenntnissen birgt eine intrikate Perspektive auf die biblische Vorstellung vom Jüngsten Gericht:6 Vor dem Thron des obersten Richters wird nicht allein das »Buch des Lebens« aufgeschlagen, auf dass die Toten »gerichtet« werden können, »ein jeglicher nach seinen Werken« (Offb 20, 12f.), sondern der vor dem Richterstuhl Stehende führt in dieser Vision selbst ein alternatives Buch ins Feld: seine Bekenntnisse, die offensichtlich dazu dienen können, Gott Vater von seiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu überzeugen7 und den Gerichteten damit ins »neue Jerusalem« einziehen zu lassen (vgl. Offb 21). An die Stelle des »Buchs des Lebens«, das ja gerade dadurch besticht, dass es keinen einzelnen Autor hat und damit die Objektivität des göttlichen Urteils verbürgt, tritt so eine vom Individuum autorisierte Schrift, deren Aufrichtigkeit über die Möglichkeit entscheidet, auf ihrer Grundlage zu erlösen oder zu verdammen.8 Rousseaus Schrift ist so zu verstehen als Beichte im Kontext des Bußsakraments,9 demzufolge demjenigen seine Sünden vergeben 5 Rousseau: Die Bekenntnisse (Anm. 1), 9. 6 Die vielfältigen Gestalten des »Gerichts Gottes« in der Bibel können hier nicht vollständig im gegebenen Zusammenhang reflektiert werden. Die Darstellung Rousseaus ist offensichtlich an die Offenbarung des Johannes angelehnt, die am ehesten eine derartige Gerichtsszene nahelegt und vergleichbare Attribute aufweist, wie sie Rousseau verwendet. Zum Gericht Gottes im Allgemeinen vgl. Klaus Seybold u. a.: Gericht Gottes. In: Horst Robert Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12. Berlin/New York 1984, 459–497. 7 Diese Vorstellung ist auch deshalb irritierend, weil sie die paulinische Idee von einem allwissenden »Gott, der unser Herz prüft« (1. Thess 2, 4) und mithin Einblick in dasselbe hat, zugunsten eines Gottes, der hier nur die Schrift prüfen kann, negiert – zu Recht hat man darin ein Aufschwingen des neuzeitlichen (schreibenden) Subjekts zu zuvor ungeahnter Kraft erkannt. 8 Der paulinischen Vorstellung von der ›Feuerprobe‹, nach der unabhängig von den Werken, die einer getan hat, die Person gerettet wird – »Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird selig werden, so doch durchs Feuer« (1. Kor 3, 14f.) –, wird hier markanterweise eine Auffassung entgegengesetzt, die die Rettung der Person im bzw. durch das Werk zu sichern sucht, wie es der Text der Offenbarung ja in anderem Sinne nahelegt. 9 Rousseau, 1712 als Sohn des protestantischen Uhrmachers Isaac Rousseau und der bei ihrem Onkel, einem Pastor, aufgewachsenen Suzanne Bernard in Genf geboren, konvertierte bereits

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werden (absolutio), der diese nach Erforschung seines Gewissens in Reue (contritio cordis) und mit dem guten Vorsatz zur Besserung bekennt (confessio oris) und – vor allem nach katholischer Lehre – möglichst Wiedergutmachung (satisfactio operis) leistet.10 Anders als im Neuen Testament vorgesehen, erscheint jedoch in dem Setting, das Rousseau vom Jüngsten Gericht zeichnet, die göttliche Absolution weniger als Gnade des Herrn, aus der sie der Überlieferung des Wortes Christi zufolge herrührt,11 sondern vielmehr als quasi-juristischer Anspruch, den derjenige geltend machen kann, der in Vollständigkeit, Ausführlichkeit und ganzer Aufrichtigkeit bekannt hat.12 Durch diese Einleitung 1728 zum Katholizismus. 1754, nachdem er sich mit dem Pariser Establishment überworfen hatte, kehrte er nach Genf sowie auch zum (calvinistisch-reformierten) Protestantismus zurück. Vgl. hierzu die biographische Darstellung in Michel SoÚtard: Jean-Jacques Rousseau: Leben und Werk. München 2012, 9, 20f., 48–53, 119–121. In der bisher größten Ausführlichkeit hat sich der Religiosität Rousseaus gewidmet: Pierre-Maurice Masson: La religion de Jean-Jacques Rousseau. Paris 1916 (Nachdruck Genf 1970). – Es fällt angesichts dieses Lebenslaufes schwer, Rousseau fest einer Konfession zuzuordnen; die Auseinandersetzung mit der Beichte als zentraler Form der Verständigung mit einem potenziell strafenden Gott, wie sie die Bekenntnisse vollziehen, verweist eher auf den Katholizismus (auch wenn der Verfasser zur Zeit ihres Entstehens 1765–70 bereits wieder Protestant war): Anders als die lutherisch-reformierte Kirche in Deutschland, die die Beichte Luthers Bekenntnisschriften folgend weiterhin als sakramentale Form aufrechterhielt, lehnten die calvinistischbzw. zwinglianisch-reformierten Kirchen in der Schweiz die Beichte als nichtbiblische Praxis vollständig ab, ein wesentlicher Punkt in ihrer Auseinandersetzung mit katholischer Kirche und lutherischer Reformation. Vgl. zu den protestantischen Positionen zur Beichte kurz: Rupert Maria Scheule: Einleitung. In: ders. (Hg.): Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert. Wien u. a. 2001, 11–41, hier 22–24. Vgl. auch Ernst Bezzel: Beichte, III. Reformationszeit. In: Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie (Anm. 6), Bd. 5. Berlin/New York 1980, 421–425. Wie Rousseau die konfessionellen Strukturen in den Bekenntnissen gezielt unterläuft, zeigt Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 192–198. 10 Vgl. Bezzel: Beichte, III. (Anm. 9), 422, sowie Isnard W. Frank: Beichte, II. Mittelalter. In: Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie (Anm. 6), Bd. 5, 414–421, hier 417. Vgl. zu den Ursprüngen der Kodifizierung dieser Anforderungen im 4. bis 6. Jahrhundert die ausführliche Darstellung bei Henning von Soden: Confessio zwischen Beichte und Geständnis. Eine dogmengeschichtliche Betrachtung über die Entwicklung des Schuldbekenntnisses vom römischen Recht bis zum IV. Lateranum. Diss. Bonn 2010, 103–142. Zur Bandbreite ritualisierter Formen des Bekenntnisses vgl. Breuer : Bekenntnisse (Anm. 4), 81–154. 11 Vgl. Egon Brandenburger : Gericht Gottes, III. Neues Testament. In: Balz u. a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie (Anm. 6), Bd. 12, 469–483, hier 469f. – Da Rousseau die (vor allem im Alten, aber auch im Neuen Testament) mindestens ebenso stark profilierte Vorstellung vom Zorn Gottes, der sich im göttlichen Gericht äußert, hier ganz offenbar nicht im Blick hat, wird auf diese Linie hier nicht weiter eingegangen. 12 Das Tridentinum (1545–1563) stärkt in der katholischen Kirche die Tradition der Analogisierung von Gerichtsverfahren und Beichte, indem es an alt- und neutestamentliche Gerichtsvorstellungen anknüpft, ohne jedoch die hier von Rousseau imaginierte Verteidigungssituation im Blick zu haben. Vgl. Scheule: Einleitung (Anm. 9), 28f.; Bezzel: Beichte, III. (Anm. 9), 425. Die Beichte selbst entwickelte sich historisch aus der juristischen confessio, dem eine Verurteilung hervorrufenden Geständnis, dessen Geschichte Soden bis ins 6.

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wird die umfassende Beichte, die Rousseau ablegt, funktionalisiert: Sie muss aufrichtig sein und darf nichts aussparen, soll sie ihr Ziel, vor Gott zur Exkulpation des Gerichteten wirksam zu werden, erfüllen; Franz von Sales prägte für diese Form 1609 den Terminus der »Generalbeichte«, in der der Gläubige »alles Sündhafte aus [s]einem Leben zusammen[trägt]« und es »verabscheu[t] und verwirf[t] […] durch die aufrichtigste Reue, deren [s]ein Herz fähig ist«. Hierdurch ist die Beichte in der Lage, die »vollständige Erneuerung des Herzens und die Hingabe der ganzen Seele an Gott« vorzubereiten.13 Wie in der RousseauForschung festgestellt worden ist, eröffnet sich jedoch durch die hier geforderte Vollständigkeit und Freimütigkeit die Gelegenheit, unzensiert und explizit von der Sünde zu sprechen, ja geradezu in ihrer Darstellung zu schwelgen. Die innere Aufrichtigkeit gibt Anlass zur ausführlichen Befassung mit der äußerlichen Sünde, nicht zuletzt mit einer als deviant erlebten und eingeordneten Sexualität (Rousseau spricht von einem »go˜t bizarre«14). So stellt James O’Rourke fest: »Rousseau pretends to feel shame and embarrassment only in order to legitimate his exhibitionism; he pretends that this is a difficult story to tell when clearly it gives him great pleasure to tell it.«15 Bezüglich der literarischen Traditionen, in denen Rousseaus Bekenntnisse zu verorten sind, weist O’Rourke dabei nachvollziehbarerweise auf zwei verschiedene Linien hin, die es zu beachten gelte: einerseits eine Linie, für die etwa die Confessiones des Augustinus stehen und die einem im engeren Sinne sakramental-kirchlichen Kontext entspringt,16 und

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Jh. v. Chr. der römischen Königszeit zurückverfolgt – sie steht also bereits vor der Glaubensin einer juristischen Tradition und erlangt erst im theologischen Kontext eine Form der »Überhöhung im Recht der Beichte, die die confessio allein zum Mittel der Erlösung von den Sünden machte«, und somit die für Rousseaus Argumentation nicht zu überschätzende »Fokussierung auf die innere Haltung des Sünders«. Vgl. Soden: Confessio zwischen Beichte und Geständnis (Anm. 10), 20 u. 159f. Vgl. Franz von Sales: Anleitung zum frommen Leben. Philothea. In: Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales. Bd. 1. Eichstätt/Wien 1959, 42f. – Luther bestritt, dass eine derartige umfassende Beichte angesichts der beschränkten Kapazitäten menschlicher Einsicht möglich sei – ein weiterer Grund, die Rousseau’schen Bekenntnisse in die katholische Tradition einzuordnen. Vgl. hierzu Bezzel: Beichte, III. (Anm. 9), 422. Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions, tome I. Oeuvres ComplÀtes. Ed. V. D. MussetPathay. Memoires et Correspondances. Paris 1824, 21. Vgl. ebd., 19. – Auf das Irritationspotenzial, ja die »Zumutung«, die die Bekenntnisse für zeitgenössische Leser mit ihren Schilderungen der in ihnen bisweilen »unästhetisch und amoralisch gezeichneten Humannatur« bargen, verweist – etwa anhand der apologetischen Reaktionen Wielands, Moritz’ oder Lichtenbergs und der kritischen Stellungnahmen Herders – schon Helmut Pfotenhauer : Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, hier: 32f. James O’Rourke: Sex, Lies, and Autobiography. The Ethics of Confession. Charlottesville/ London 2006, 32. – Breuer spricht diesbezüglich von »der lustvollen Selbstentblößung des Schreibers«. Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 189. Wenngleich sie, wie Breuer zeigt, zahlreiche kirchliche Bekenntnisformen aufnimmt, die erst nach Augustinus entstanden. Vgl. Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 217.

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andererseits eine zeitgenössisch-trivialliterarische Tradition: das im 18. Jahrhundert sehr erfolgreiche libertin-pornographische Genre der erotischen Bekenntnisliteratur, die ebendiese Grundlage wählt, um sich in noch viel umfänglicherem Maße an den aus männlicher Sicht präsentierten sexuellen Ausschweifungen ihrer Protagonisten zu delektieren.17 Rousseaus Schilderungen von erotischen Abenteuern – angefangen von der masochistisch grundierten sexuellen Erweckung durch die Prügel seiner Lehrerin Madame Lambercier – stehen so, wenn auch O’Rourke deren Relevanz für das eindeutige Rezeptionsinteresse eines männlichen, von der Lektüre der libertinen Bekenntnisliteratur herkommenden Publikums betont, stets unter dem Vorzeichen einer Funktionalisierung in der persönlichen Beicht- und Absolutionsökonomie ihres Verfassers. Sie basieren auf einem spezifisch katholischen Weltbild, das die unvermeidliche Sündhaftigkeit des Lebens insofern funktionalisiert, als diese auf dem Weg der Beichte für eine gottgefällige innere Wende zum Guten die Bedingung darstellt – hierfür typisch formuliert Franz von Sales: »So ist die Sünde eine Schande, wenn wir sie begehen; in Beichte und Buße umgewandelt aber ist sie ehrenvoll und heilsam.«18 Obwohl Rousseau, wie neben O’Rourke nicht zuletzt Jacques Derrida gezeigt hat,19 diese Funktionalisierung durchaus an ihre Grenze zu treiben bemüht ist,20 bleibt sie in den Bekenntnissen intakt, ja nicht weniger als deren proklamierter Schreibanlass und deren Rechtfertigung.21 17 O’Rourke verweist hier auf anonym erschienene Titel wie die Confessions d’un fat, par M. le Ch¦valier de la B***, Confessions d’une jeune fille, Confessions d’une religieuse oder die Confessions du Comte de *** von Charles Pinot Duclos. Größeren Raum widmet er den Verbindungen der Bekenntnisse zum Klassiker des Genres, Jean-Baptiste de Boyer d’ Argens’ Th¦rÀse Philosophe, und Nicolas Restif de La Bretonnes Monsieur Nicolas. Vgl. O’Rourke: Sex, Lies, and Autobiography (Anm. 15), 18–26. 18 Franz von Sales: Anleitung zum frommen Leben (Anm. 13), 60. 19 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M. 61996, 257–272. Für die mehr oder weniger direkten Hinweise auf die Masturbation, die Rousseaus Text durchziehen, gilt Derrida zufolge das Gesetz der Supplementarität, mithin der Entstehung von Sprache überhaupt: Die »Unmöglichkeit, die Sache zu zeigen […] ist das Element der Kultur selbst, der nicht deklarierte Ursprung der Leidenschaft, der Gesellschaft, der Sprachen. […] Eine so gefährliche Supplementarität kann man nur indirekt, am Beispiel einiger ihrer abgeleiteten Wirkungen zeigen. Man kann sie weder vorzeigen noch sie selbst benennen, kann sie nur mit einer stillen Bewegung des Fingers anzeigen.« (Ebd., 455f.) 20 Wenn Breuer die Beichte als den »Digestif« bezeichnet, der zur Erleichterung des Schreibers nötig sei, wird der grenzüberschreitende Charakter, den Rousseau ihr durch seine expliziten Schilderungen verleiht, deutlich: »Das schmutzige Labyrinth der Bekenntnisse […] nimmt bei näherem Hinsehen Form und Gestalt einer psychischen Kloake an.« Breuer : Bekenntnisse (Anm. 4), 189. 21 »Statt seine Unschuld nachzuweisen, betreibt er Exhibition«, stellt Pfotenhauer zu Recht fest – was eben im Kontext der Beichte alles andere als überraschend, sondern vielmehr der geforderte Aussagemodus ist, in dem sich der Bekennende zu äußern hat, wenn er das Ziel der Exkulpation erreichen möchte. Insofern greift die Interpretation der Eingangspassage,

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Hinsichtlich der Frage der Identitätskonstruktion, die in Rousseaus als autobiographisch, ja sachnotwendig authentisch konnotiertem Text22 vollzogen wird, ist deutlich, dass es gerade die Einbindung der (nicht nur sexuellen) Devianz in das Buß- und Vergebungsgeschehen ist, die hier identitätsprägenden Charakter hat: Die sexuelle Ausschweifung und Abweichung wird von einem Gott, der dem aufrichtig Beichtenden verzeiht und ihn ins »neue Jerusalem« führt, akzeptiert; und diese Akzeptanz des aufrichtigen Bekenntnisses ist dessen Entstehungsbedingung, die den Bekennenden freimütig alles offenlegen lässt,23 ohne Rücksicht auf die damit unter Umständen einhergehende (und im Vorwort zum ersten Teil der Bekenntnisse von Rousseau vorhergesagte) gesellschaftliche Ächtung, Spott und »Entstellung« durch »unversöhnliche Feinde«24 (die im normalen Beichtvorgang durch die von der Schweigepflicht des Beichtvaters garantierte Diskretion ausgeschlossen werden kann, auf die Rousseau in einer Geste der Überbietung um der ausgestellten Aufrichtigkeit willen verzichtet).25 Der direkte Kontakt zwischen bekennendem Sünder und vergebendem Gott in der Beichte bzw. im dieser analog gestalteten Jüngsten Gericht ermöglicht so eine Offenheit, die über die begrenzten moralischen Maßstäbe des Irdisch-Sozialen erhaben ist und diese folglich selbstbewusst ignorieren kann. Grundlage der

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Rousseaus Beichte »erklär[e] diejenigen für unzuständig, denen gebeichtet wird«, aus meiner Sicht zu kurz. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie (Anm. 14), 35 u. 39. Bereits die von Franz von Sales geforderte »Generalbeichte über dein ganzes Leben« macht die grundlegende Verwandtschaft von Autobiographie und Beichte deutlich: »[M]erke dir im einzelnen, was du an Fehlern seit deiner Kindheit bis zur Stunde begangen hast. Kannst du dich auf dein Gedächtnis nicht verlassen, dann notiere, was du gefunden hast. […] Darüber hinaus führt uns die Generalbeichte zur Selbsterkenntnis, erweckt in uns eine heilsame Scham über das vergangene Leben […].« Franz von Sales: Anleitung zum frommen Leben (Anm. 13), 42f. Vgl. dazu auch Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 101f., 133–139. – Die historische Entwicklung der epistemologischen und subjekttheoretischen Grundlagen autobiographischen Schreibens untersucht, mit einem Schwerpunkt auf Rousseau, Jochen Fritz: Ruinen des Selbst. Autobiographisches Schreiben bei Augustinus, Rousseau und Proust. München 2007, zur hier reflektierten Problematik vgl. z. B. ebd., 234f. Fritz macht gerade in dem autobiographischen Selbstbezug auf die eigenen Sünden und dessen textproduktivem Charakter einen Zug an den Bekenntnissen aus, der diese auf die moderne Literatur verweisen lässt. Dort wird die Tatsache betont, dass es gerade das Ausfallen einer fest regulierten Instanz wie der Beichte und deren Verlagerung in die autobiographische Selbstbefragung ist, die das spezifisch Moderne an Rousseaus Darstellung ausmacht. Vgl. Fritz: Ruinen des Selbst (Anm. 22), 214f. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 7. Breuer formuliert auch auf den vorliegenden Fall bezogen treffend: Das Bekenntnis (wie es das Alte Testament vorsieht) »wendet sich […] stets zugleich an zwei Adressaten: an einen sakralen und einen profanen, an Gott und die Menschen.« Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 92. Die Beglaubigung des Bekenntnisses erfolgt hierbei nicht zuletzt durch Rückgriff auf ein »›Pathos des getreuen Ausdrucks‹«, wie Breuer mit Jean Starobinski unterstreicht – eine rhetorische Strategie, die die im Kontext der Sündenbeichte geforderte Authentizität funktionalisiert (ebd., 134).

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Äußerung in der Form von Bekenntnissen ist somit die Aufgehobenheit des Bekennenden mit all seiner Mangelhaftigkeit in der Heilsgewissheit, dass ein vergebender Gott den Aufrichtigen ins Paradies einziehen lässt.

2.

»… das dunkle und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse« – Religion, Sexualität und Identität bei Rousseau

Rousseaus Schilderung seines sexuellen Erwachens ist, wie sich zeigt, vollständig eingebettet in ein vom Glauben geprägtes Umfeld. Ausgelöst wird es durch Mademoiselle Lambercier, die dreißigjährige Schwester des Predigers, in dessen Obhut sich der Achtjährige befindet, nachdem sein Vater aufgrund eines missglückten Duells aus der Stadt fliehen muss.26 Der junge Rousseau teilt diese Zeit seines Lebens mit seinem Vetter Bernard, für den er bald »zärtlichere Gefühle« hegt, als er sie »je für [s]einen Bruder verspürt« hat: »Uns zu trennen hieß auf gewisse Weise soviel wie uns vernichten.«27 Betont wird, dass die Zeit beim Prediger Lambercier in Bossey dem Helden »so zuträglich« gewesen sei, dass »sie bei längerer Dauer [s]einen Charakter vollkommen bestimmt hätte«28 – es handelt sich also um eine die Identität des Protagonisten prägende Episode, die indes nur etwa zwei Jahre andauert. Neben der Offenheit für die – durchaus auch homoerotisch grundierte29 – Freundschaft zu Bernard entwickelt der Rousseau der Bekenntnisse hier eine masochistisch geprägte frühe Sexualität, die durch die »körperliche Züchtigung«30 durch Mademoiselle Lambercier, die bei der »Katechismuslehre«31 zugegen ist, ausgelöst wird.32 Der Knabe stellt fest, dass er

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Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 16. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 17. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 18. Vgl. die oben zitierten »zärtlichen Gefühle«, darüber hinaus aber auch die jugendliche Solidarität im Kontext einer als ungerecht empfundenen Bestrafung, der ebenfalls charakterprägende Wirkung zugesprochen wird, da sie neben der Nähe zum mit ihm Unterdrückten auch einen spezifischen Gerechtigkeitssinn in ihm verankert und die Kindheit (abermals) zu Ende geführt habe: »Das Bett miteinander teilend, umarmten wir uns unter krampfhaften Wutausbrüchen, wir waren am Ersticken, und wenn unsere jungen Herzen, ein wenig erleichtert, ihrem Zorn Luft machen konnten, richteten wir uns auf und begannen alle beide hundertmal mit unsrer ganzen Kraft zu schreien: ›Carnifex! Carnifex! Carnifex!‹ […] Damit hatte die Heiterkeit der Kindheit ihr Ende.« Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 23f. 30 Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 18. 31 Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 18. 32 Darüber hinaus lässt sich die Passage als Eintreten des autobiographischen Ich in die Welt der konventionalisierten Zeichen deuten und erhält somit eine hohe semiotisch-epistemologische Relevanz im Kontext der Schreibregeln des Autobiographischen. Vgl. hierzu Fritz:

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»dem Schmerz, der Schande selbst, eine Sinnlichkeit beigemischt« findet, »die mir mehr Lust als Furcht gemacht hatte, sie abermals durch die gleiche Hand zu erfahren«, und in der sich »zweifellos ein früher geschlechtlicher Instinkt bekundete«.33 Fräulein Lambercier weiß die Zeichen offenbar zu deuten, und so erhält die masochistische Episode einen Charakter, der sie zum Initiationsritual und zum (frühen) Ende der Kindheit werden lässt, was den identitätsprägenden Status des Erlebnisses unterstreicht: Wir hatten bis dahin in ihrem Zimmer geschlafen und im Winter manchmal sogar in ihrem Bett. Zwei Tage darauf mußten wir in einem der andern Zimmer schlafen, und ich hatte nun die Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte, von ihr als großer Knabe behandelt zu werden. Wer würde glauben, daß diese Züchtigung eines Kindes, mit acht Jahren von der Hand einer Dreißigjährigen empfangen, über meine Neigungen, meine Begierden, meine Leidenschaften, über mich selbst für den Rest meines Lebens entschieden hat, und das genau in einer Weise, welche der entgegengesetzt war, die natürlich daraus folgen mußte? Zur selben Zeit, als meine Sinne entzündet wurden, ließen sich meine Begierden so sehr irreführen, daß sie, beschränkt auf das, was ich empfunden hatte, nie den Trieb fühlten, etwas anderes zu suchen. Trotz eines fast seit meiner Geburt sinnlich erhitzten Blutes hielt ich mich von aller Befleckung bis zu dem Alter rein, in dem auch die kältesten und am langsamsten reifenden Naturen sich entwickeln.34

Rousseau schildert, wie sich die Zeit des »großen Knaben« bis zu der benannten »Befleckung« weiter gestaltet. In der Phantasie des Heranwachsenden dienen die »schönen Mädchen«, denen er begegnet, »einzig und allein [dazu], […] sie nach meiner Weise tätig zu sehen und aus ihnen ebenso viele Fräulein Lambercier zu machen« – eine Entwicklung, die das bekennende Alters-Ich in Übereinstimmung mit den selbstkritischen Gesetzen der Beichte umgehend als »wunderliche, bleibende und bis zur Verderbtheit, ja Narretei gehende Neigung« qualifiziert.35 Glauben wir dem Text der Bekenntnisse – und folgen also nicht Derrida, der hinter diesen Schilderungen in erster Linie die Aussparung der jugendlichen Masturbation erkennt36 –, sind es ebendiese innerlich bleibenden »törichten Einbildungen« und »erotischen Tollheiten«, die das »sehr feurige[ ], sehr wollüstige[ ], sehr früh entwickelte[ ] Temperament das Alter der Mannbarkeit« erreichen lassen, ohne dass es zum äußerlich werdenden sexuellen Akt käme.37 Gebeichtet werden in dieser für eine assoziativ-erotische Lektüre offenen, an-

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Ruinen des Selbst (Anm. 22), 217–233. Im selben Sinne auch Derrida: Grammatologie (Anm. 19), 455f. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 19. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 19. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 20. Vgl. Derrida: Grammatologie (Anm. 19), 259f. Vgl. a. Fritz: Ruinen des Selbst (Anm. 22), 215. Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 20f.

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spielungsreichen Form mithin zunächst Gedanken an eine sozial nicht adäquat erscheinende, als sexuell grundiert erkannte Leidenschaft, die jedoch nicht zum Vollzug kommen – eine Rückbindung an die funktionalisierte Situation der aufrichtigen Beichte, die sich dem, was sich nur in der Phantasie abspielt, mindestens ebenso ausführlich widmet wie dem Handeln in der Außenwelt. Es ist die Schilderung der inneren Identität des Protagonisten, die sich hier in der Beichte kundtut, und zwar in einer Weise, die auf jede Schönfärbung des Anrüchigen oder Aussparung des nicht Beweisbaren verzichten kann, ja sich vielmehr das (vermeintliche) ›Klartext-Sprechen‹ als besonderes Qualitätsmerkmal in der Ökonomie der Buße anzusetzen berechtigt sieht: Ich habe den ersten und peinlichsten Schritt in das dunkle und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse getan. Nicht das Verbrecherische ist es, dessen Eingeständnis am meisten Überwindung kostet, sondern das Lächerliche und Beschämende. Von jetzt an bin ich meiner sicher.38

Zwei Tendenzen prägen die Bekenntnisse hinsichtlich ihrer Verbindung von Religion und Sexualität mit der Entwicklung der jugendlichen Identität: einerseits die Offenheit und Explizitheit, mit der auch von der für die von Zeitgenossen als deviant erlebten sexuellen Entwicklung gesprochen wird, was die Bekenntnisse für ihr zeitgenössisches Publikum mit einem erotischen Assoziations- und Anschlusspotenzial versah bzw. auf sie skandalös wirken musste.39 Und andererseits die Tatsache, dass diese Schilderungen mitsamt der ihnen zugrunde liegenden ›sündhaften‹ Taten und Gedanken sich aufgehoben wähnen in einer katholischen Ökonomie von Sünde und Absolution, die den aufrichtig Bekennenden in seiner Sünd- und Mangelhaftigkeit anzunehmen bereit ist (auch wenn diese Ökonomie im Kontext der Bekenntnisse sicherlich eher Mittel zum Zweck ist, als noch in ihrer vollen sakramentalen Bedeutung ernst genommen zu werden40). Für die Entfaltung der Identität bildet sie – zumindest aus Sicht des mit ihr versöhnt scheinenden ›bekennenden‹ Autobiographen – eine hervorragende Grundlage, weil sie – anders als die hart mit Devianz ins Gericht gehende Gesellschaft – für alles offen ist, was der reuige Glaubende bekennt. In Rousseaus Verhandlung von Identität, Sexualität und Religion ist es die Religion in Gestalt des verzeihenden Gottes, die letztlich einzig die freie Entfaltung des 38 Vgl. Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 21. 39 Angesichts der zweiten Tendenz greift aus meiner Sicht Breuers Bewertung, dass es bei Rousseau zu einer vollständigen Profanierung der Beichte komme, die allein »in den Dienst der erleichternden Selbststimulierung gestellt« werde, zu kurz: Ohne die übergreifende Ökonomie der Beichte läuft die von Breuer betonte »literarische Funktionalisierung«, die die Beichte natürlich über ihren Ursprungszweck hinausführt, ins Leere. Vgl. Breuer: Bekenntnisse (Anm. 4), 190f. Vgl. ähnlich auch Pfotenhauer : Literarische Anthropologie (Anm. 14), 39. 40 Auf Letzteres weist zu Recht Fritz: Ruinen des Selbst (Anm. 22), 205ff., hin.

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Einzelnen inklusive der von ihm begangenen Sünden zu akzeptieren bereit ist. Die Beichtsituation als Zwiesprache mit dem richtenden, gütigen Gott garantiert als einzige die vollständige Annahme des Sünders, die ihm im irdischen Kontext nicht zukommen kann.

3.

Mit dem Gekreuzigten gegen die Kirche – Josef Winklers Frühwerk

Nicht weniger als die Bekenntnisse Rousseaus sind die ihm hierin gewissermaßen nachfolgenden frühen Romane Josef Winklers – hier sollen stellvertretend für diesen Zug weiter Teile seines Werks die beiden ersten Texte Menschenkind und Der Ackermann aus Kärnten41 stehen – von der Frage der Einbindung von Identitätsentwicklung und sexueller Prägung in religiöse Zusammenhänge dominiert. Und ähnlich wie bei Rousseau spielt auch an der Wurzel des Romans Menschenkind eine juristische Fiktion eine prägende Rolle. Bevor er in seine assoziative, sprachgewaltige, liturgisch-litaneihafte,42 aber hinsichtlich einer Handlungslinie schwer auf den Begriff zu bringende Suada einmündet, wird der Text eröffnet mit der sachlich einsetzenden, zunächst beinahe berichtsähnlichen Schilderung des Selbstmordes zweier homosexueller Jugendlicher : Am 29. September 1976 stiegen in meinem Heimatort Kamering bei Paternion, Kärnten, der 17-jährige Mechanikerlehrling Jakob Pichler und sein gleichaltriger Freund, der Maurerlehrling Robert Ladinig, mit einem drei Meter langen Kalbstrick über eine Holzleiter des Pfarrhofstadels zu einem Trambaum hinauf. Sie schlangen das Seil um ihn und verknoteten die beiden Seilenden hinter ihren linken Ohren. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller im Kreis sich drehend wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenen Augen zum Stehen. (M, 7) 41 Beide Texte, zunächst 1979 und 1980 erschienen, wurden vom Verlag mit dem Roman Muttersprache (1982) als Trilogie unter dem Sammeltitel Das wilde Kärnten (Frankfurt a. M. 1995) herausgegeben. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Siglen »M« und »A« und der Seitenzahl in Klammern zitiert. 42 Vgl. zur sich über das Liturgische realisierenden strukturellen Relevanz des Religiösen für Winklers Texte die treffenden Anmerkungen bei Brigitte Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen. Josef Winklers Sprachbilder. In: Albrecht Grözinger, Andreas Mauz u. Adrian Portmann (Hg.): Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison. Würzburg 2009, 69–82, hier 76, 78f. Vgl. zur Form der Litanei auch Brigitte Schwens-Harrant: Literatur als Litanei, im vorliegenden Band, 353–366. Zur strukturellen Prägung der Romane Winklers durch den Katholizismus vgl. a. Dana Pfeiferov‚: Auf der Suche nach den österreichischen Todesarten. Der Tod in der Prosa von Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Elfriede Jelinek, Peter Handke und Christoph Ransmayr. In: Nicola Mitterer u. Werner Wintersteiner (Hg.): »Wir sind die Seinen lachenden Munds.« Der Tod – ein unsterblicher literarischer Topos. Innsbruck 2010, 121–140, hier 132.

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Der Selbstmord findet markanterweise in einem »Pfarrhofstadel« statt und wird von einem homodiegetischen Erzähler in »meinem Heimatort« lokalisiert.43 Der »Kalbstrick« als Suizidinstrument ist dabei ein zentrales Symbol der Textwelt, auf das im Verlauf der Analyse noch zurückzukommen sein wird. Diesem Vorsatz mit dem Bericht über den Doppelsuizid – der zutreffend als »Epizentrum«44 und »Initialzündung«45 von Winklers Frühwerk bezeichnet worden ist – folgen zwei Zitate, die den Text intertextuell verankern, der dann seinen Lauf nimmt in seiner über weite Strecken beibehaltenen Form eines assoziativen und auf den ersten Blick inhaltlich überbordenden, formal jedoch durch den Wechsel kursiv46 und recte gedruckter Passagen geregelten Textflusses, der innere und äußere Welt einer Jugend im katholisch dominierten47 Kärntner Dorf ins Bild setzt. Gegen Ende dieser ersten Passage kommt ein (nun heterodiegetischer) »Erzähler […] ins Bild«, der sich wie der Erzähler und Held in Rousseaus Bekenntnissen im Verhältnis zu Religion und Gericht situiert: »zeigt auf das Bild des Gekreuzigten

43 Aus meiner Sicht ist die Frage, welche verifizierbaren referenziellen Bezüge es vonseiten der Romane auf Winklers eigenes Leben gibt, unerheblich. Die Verortung des Erzählers im Hinblick auf die erzählte Welt, wie sie in derartigen Formulierungen deutlich wird, entfaltet ihre Relevanz im Text. Insofern scheint mir eine biographische Grundierung, wie sie etwa Schwens-Harrant zusätzlich zu ihrem ansonsten eher textorientierten Vorgehen vornimmt, verzichtbar. Auch die nicht verifizierbare Zurückführung eines stilistischen Wandels im Gesamtwerk auf einen mit der Zeit abnehmenden »Druck« des autobiographischen Materials – wie sie Winkler selbst in Interviewäußerungen nahelegt – halte ich nicht für zielführend. Vgl. Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen (Anm. 42), 71–74, und Winkler in Matthias Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit. Ein Gespräch mit Josef Winkler [2004]. Online unter : www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6730 (20. 11. 2014). – Die Irrelevanz der Frage, ob Winklers Darstellung »lebens-›authent‹ ist oder nicht«, betont auch Friedbert Aspetsberger : »Provokationsluxus«. Literarische Homosexualität bei Josef Winkler. In: ders.: Einritzungen auf der Pyramide des Mykerinos. Zum Geschlecht [in] der Literatur. Wien 1997, 195–222, hier 204. 44 Clemens Özelt: Freitod und Alterität. Zur Poetologie der Selbstmordvermeidung bei Josef Winkler. In: Arno Herberth, Thomas Niederkrotenthaler u. Benedikt Till (Hg.): Suizidalität in den Medien. Interdisziplinäre Betrachtungen. Wien/Berlin 2008, 167–182, hier 172. Özelt widmet sich dem »Ringen mit dem Selbstmord« (ebd., 176) in Winklers Texten und vor dem philosophischen Hintergrund der Todesdeutungen Heideggers, Derridas und Camus’, ohne jedoch die Umstände der katholischen Glaubens- und Lebenswelt einzubeziehen, die hier im Mittelpunkt der Deutung stehen. 45 Stefan Krammer : Sterbepassagen. Die Winkler’schen Winkelzüge des Todes. In: Mitterer u. Wintersteiner (Hg.): »Wir sind die Seinen lachenden Munds« (Anm. 42), 109–120, hier 114, vgl. ebd., 112. 46 Die Kursivierungen des Originaltextes werden im Folgenden in den Zitaten beibehalten. 47 Angesichts der in weiten Teilen geschilderten Glaubens- und Lebenspraxis im Dorf, die von Beichte, katholischer Messe, entsprechenden Geburts- und Todesriten und Prozessionen geprägt ist, kann von einer katholischen Dominanz gesprochen werden, der alle Dorfbewohner unterliegen – auch die in geringerer Zahl vertretenen Protestanten, darunter einer der Selbstmörder, der auf dem evangelischen Friedhof des Nachbarorts begraben wird (vgl. A, 444).

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und läßt seine Füße mit einem Kalbstrick spielen, der – noch blutig – zur Inspiration seines Plädoyers dienen soll« (M, 11f.). Mit der hier aufgegriffenen Figur des Plädoyers, in dem der Erzähler also dessen Funktion zufolge Partei ergreift für die ihrerseits der Gerichtssituation in der Rolle der Angeklagten ausgelieferten Selbstmörder, erfolgt eine juristische Verortung auf der anderen Seite des Spektrums, als es bei Rousseau der Fall ist. Wenn der Text als Plädoyer ausgewiesen wird – also als der »muendliche vortrag, oder die rede, welche ein advocat oder sachwalter vor gerichte haelt, seines clienten sache zu vertheidigen«48 –, dient er dazu, das Handeln der Jugendlichen zu erklären und zu rechtfertigen, umfasst aber anders als Bekenntnis oder Beichte keineswegs Momente der Reue bzw. Schuldeinsicht. Im Gegenteil kann das Plädoyer juristisch gerade dazu dienen, die Umstände zu erläutern, die zu einer aus Sicht der Angeklagten günstigeren Beurteilung des Falls führen können. Anders als das von einer Geste der Unterwerfung unter das Gericht bzw. den Richter und dessen Normen geprägte Bekenntnis ist das Plädoyer ein Sprechakt, der die Stärkung der eigenen Position gegenüber der urteilenden Instanz bzw. der anklagenden Partei zum Ziel hat. Die doppelt als Sünder wahrgenommenen Jugendlichen – sowohl ihre Homosexualität49 als auch der Akt des Suizids50 48 So formuliert, Zedlers Universallexikon (Bd. 28, 1741, Sp. 614) zitierend, das Deutsche Rechtswörterbuch: Wörterbuch der älteren deutschen Rechtsprache. Hg. v. d. KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften. Weimar 1914/1932ff. Bd. X. Bearb. v. Heino Speer. Weimar 2001, Sp. 1075. 49 Das Lehrschreiben der Glaubenskongregation Persona humana von 1975 bezieht sich explizit auf die »Lehre, nach der der Gebrauch der Geschlechtskraft nur in der rechtsgültigen Ehe seinen wahren Sinn und seine sittliche Rechtmäßigkeit«, die sogenannte »Finalität« erhält (Abs. 5). Sämtliche sexuelle Handlungen, die nicht dem Zweck der Zeugung neuen Lebens dienen, werden demnach als Sünde verworfen. Dies führt auch zur strikten Ablehnung der Homosexualität (Abs. 8): »Nach der objektiven sittlichen Ordnung sind die homosexuellen Beziehungen Handlungen, die ihrer wesentlichen und unerläßlichen Regelung beraubt sind. Sie werden in der Heiligen Schrift als schwere Verirrungen verurteilt« (Online unter : www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_ 19751229_persona-humana_ge.html [20. 11. 2014]). Da die Homosexualität die Funktion der Fortpflanzung nicht erfüllt, ist sie, wie der Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2357) von 1997 ebenso deutlich formuliert, »in keinem Fall zu billigen« (Online unter : http://www. vatican.va/archive/DEU0035/_P8B.HTM [20. 11. 2014]). 50 Bis zum Zweiten Vatikanum (1962–1965) schloss die katholische Kirche Selbstmörder, die in ihren Augen gegen das Fünfte Gebot – »Du sollst nicht morden« – verstießen, von der kirchlichen Bestattung aus. Noch in der vom Konzil ausgegangenen Pastoralen Konstitution Gaudium et Spes heißt mit Bezug auf »Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und […] Selbstmord«: »all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.« (Online unter : www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/ documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html [20. 11. 2014].) Im Anschluss an das Konzil wurde die Praxis der Begräbnisverweigerung jedoch mit dem (vielleicht durchaus als fragwürdig zu bezeichnenden) Argument beendet, dass der Selbstmord stets

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ziehen aus Sicht der katholischen Mehrheitsgemeinschaft ihre Verstoßung aus dieser nach sich51 – finden so im »Erzähler« ihren Anwalt, der nach dem Tode für sie spricht und darüber hinaus dazu bereit ist, ihre Taten als Vermächtnis aufzunehmen, um die Gemeinschaft mit ihrem eigenen Versagen zu konfrontieren, das diesen Jugendlichen letztlich den Suizid als einzigen gangbaren Weg aus der Welt sie ausschließender Normen nahegelegt hat. Ein spezifisch religiöses Moment dieser Konfrontation ist ebenfalls in der zitierten Stelle angesprochen: Wenn der Erzähler hier für die jugendlichen Ausgestoßenen Partei ergreift, dann tut er dies unter Verweis auf das »Bild des Gekreuzigten«, der also, so scheint dies zu suggerieren, gewissermaßen der erste Zeuge der Verteidigung ist – im Kontext einer Verurteilung der vermeintlichen Sünder durch eine Gemeinschaft, die sich eben gerade auf ein christliches (katholisch-dogmatisches) Erbe bezieht, ist dies eine Allianz, die skandalöses Potenzial hat, erscheint doch der Gekreuzigte, selbst Opfer einer entsprechenden Verurteilung Gläubiger geworden, hier als direkter Vorläufer der jugendlichen Selbstmörder.52 Die Beschäftigung mit dem Glauben hat hier eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits ist es das Beispiel des Gekreuzigten, das für den im Dorf verankerten Erzähler Bestand hat (der – ob homo- oder heterodiegetisch agierend53 – doch immer derselbe zu sein scheint), und es besteht damit offensichtlich im Hintergrund des Textes ein persönlicher Glaubensbezug der Aufgehobenheit, der in dieser Hinsicht an den Rousseaus erinnert: Der direkte Zugang des Einzelnen zu seinem Herrn bleibt stets zu erahnen. Im Vordergrund aus einer psychischen Krankheit resultiere, weshalb Selbstmörder seitdem wieder Zugang zu einem katholischen Begräbnis haben. Im 1983 neu gefassten Codex Iuris Canonici entfiel die in der vorangegangenen Fassung seit 1917 noch bestehende Regelung (Canon 2350, § 2. Online unter : www.codex-iuris-canonici.de/index_cic17_lat.htm [20. 11. 2014]), dass Selbstmördern das kirchliche Begräbnis zu verweigern sei (»Qui in seipsos manus intulerint, si quidem mors secuta sit, sepultura ecclesiastica priventur«). Der Katechismus der Katholischen Kirche von 1997 spiegelt die aktuelle Position wider, wenn es unter Nr. 2282 diesbezüglich heißt: »Schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qual oder Folterung können die Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern.« (Online unter : www.vatican.va/archive/DEU0035/_P86.HTM [20. 11. 2014].) 51 Im Roman heißt es: »Die Doppelzüngigkeit mehrerer Dorfbauern wollte den beiden Toten ein christliches Begräbnis verweigern.« (M, 93f.) 52 Insofern eignet dem Bezug auf den Gekreuzigten immerhin der Gedanke der christlichen Solidarität mit den Ausgegrenzten, womit der These zu widersprechen wäre, dass bei Winkler sämtliche »katholische Erlösungsvorstellungen […] zu Leerformeln werden«, wie Özelt schreibt. Özelt: Freitod und Alterität (Anm. 44), 178f. 53 Der Wechsel zwischen homo- und heterodiegetischer Anrede derselben Instanz wäre im Sinne G¦rard Genettes als narrative Metalepse zu klassifizieren (vgl. Genette: Die Erzählung. A. d. Frz. v. Andreas Knop. München 21998, 167–169). In der Reihe der zahlreichen, geradezu selbst systematischen Verstöße gegen verbreitete Muster des Erzählens, die sich vor allem in Menschenkind findet, handelt es sich hierbei jedoch um einen eher zu vernachlässigenden Verstoß, weshalb hierauf im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher eingegangen werden soll.

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des Textes steht jedoch eine andere Relevanz des Glaubens: Er wird mit den Gesetzen, die sich auf ihn beziehen, und den aus ihm hervorgehenden Ritualen zu einer in allererster Linie sozialen Macht, einem »Existentiellen«,54 das das Leben jedes Einzelnen im katholischen Dorfkontext prägt und dominiert,55 indem es ihn nach diesen von Menschen auf Grundlage ihres Glaubens geschaffenen geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln bewertet, einordnet und letztlich richtet – eine Praxis, für die der gekreuzigte Jesus als historisches bzw. intertextuelles Beispiel dient. Diese Form sozial wirksamer Glaubenstradition ist es, die die sich in ihrer Homosexualität56 als Ausgestoßene wahrnehmenden Jugendlichen in den Selbstmord treibt – und dementsprechend ist es auch diese soziale Realität des Glaubens, gegen die sich die Strategie des vorliegenden Plädoyers richtet, indem es die Felder, in denen der Glaube als soziale Regulationsinstanz und damit Norm der Identitätsbildung auf die in diesem Umfeld Aufwachsenden wirkt, benennt, hinterfragt und durch verschiedene Techniken der Konfrontation, des ›Skandal-Machens‹ und des »wütende[n] Protest[s]«57 beständig herausfordert. Das Plädoyer ist, anders als das Bekenntnis, zudem Rede eines Dritten, der für diejenigen eintritt, deren Rede nicht mehr gehört wird bzw. werden kann: Indem hier ein diesseitiges Plädoyer gehalten wird, wird deutlich, dass die Ebene des direkten Gottesbezuges, wie sie etwa Rousseau in den Mittelpunkt stellt, in der bei Winkler im Zentrum stehenden sozialen Anordnung des Geschehens in den Hintergrund tritt: Der formale Wechsel vom Bekenntnis zum Plädoyer ist somit auch ein Wechsel von der direkten Interaktion mit Gott an der Schwelle zum Jenseits (die in Rousseaus Strukturierung des Textes der sozialen Auseinandersetzung vorgezogen wird) hin zu einer rein diesseitigen Auseinandersetzung 54 An anderer Stelle hält Winkler fest, sein religiöses Interesse gelte dem »Existentiellen, mit dem unzählige Menschen von der katholischen Kirche wahnsinnig genervt und zerstört worden sind, mit dem Glauben, den Gebeten der Angst, die die Kirche, das Gotteshaus, der Pfarrer verbreitet haben.« Winkler in Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit (Anm. 43). 55 Treffend stellt Aspetsberger fest, dass die beiden jugendlichen Selbstmörder eben nicht in erster Linie »individuelle ›Fälle‹, sondern typische Opfer der Vater-Welt sind«. Aspetsberger : »Provokationsluxus« (Anm. 43), 209 (Hervorhebung im Original). 56 Die subjektphilosophischen Implikationen eines Erzählens der »Produktion homosexueller Erfahrung als Produktion von Nicht-Identität« reflektiert die Arbeit von Dirck Linck: Halbweib und Maskenbildner. Subjektivität und schwule Erfahrung im Werk Josef Winklers. Berlin 1993, hier 38. Lincks Ansatz, die Subjektivitätskonstruktion als Textstrategie zu verfolgen, erscheint an sich unbedingt lohnend – in diesem Sinn versteht sich auch der vorliegende Aufsatz –, Linck selbst gelingt jedoch keine Trennung seiner Vorgehensweise von einem referenziellen Autobiographiebegriff, sodass es immer wieder zu methodisch problematischen Kurzschlüssen zwischen den Erzählinstanzen und ihrem vermeintlich homosexuellen Autor Winkler kommt. 57 Diesen begreift Dana Pfeiferov‚ als zentrales Agens der »meisten Romane Winklers«: Pfeiferov‚: Auf der Suche nach den österreichischen Todesarten (Anm. 42), 122.

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mit der zerstörerischen Kraft einer Glaubensrealität, die den Einzelnen zu vernichten imstande ist, an dessen Seite sich der für ihn plädierende Erzähler (unter Verweis auf das Beispiel Christi) stellt. Hinsichtlich der expliziten Darstellungen der Sexualität hat dieser Wandel gravierende Auswirkungen: Anders als im Falle Rousseaus ist das Reden von den vermeintlichen Sünden damit nicht in eine als gesichert angenommene Ökonomie aus Sünde, Beichte und Absolution eingebunden, auf die der Einzelne vertrauen kann, sondern es führt vor, dass sich jenseits dieser verbrieften Vorstellung von der Gnade Gottes die ›Ungnade‹ der sich auf ihn beziehenden Menschen als die eigentliche Gewalt erweist, gegen die es anzutreten gilt. Insofern kann etwa die sexuell explizite Schilderung nicht mehr im Sinne eines aufrichtigen, nichts auslassenden Bekenntnisses positiv funktionalisiert werden, wie es die Beichtregularien versprechen, sondern sie wird zur sozialen Provokation, indem sie das reaktionäre Regelwerk, auf das sich die katholische Dorfgemeinschaft verständigt hat, herausfordert und durchbricht – kommt es zum Kurzschluss zwischen Sexualität und Religion, erscheint dies als die leichteste Möglichkeit, die Intoleranz des praktizierten Katholizismus auszustellen, der hier nur zu strafende Blasphemie erkennen kann, was es dem derart als Provokateur gebrandmarkten Einzelnen von vornherein unmöglich macht, auf Vergebung im Sinn der Beichte abzuzielen; das bezeichnende Auseinanderfallen von Dogma und Praxis ist Anlass und Hintergrund des sich an der Praxis entzündenden Protests: Das ›Skandal-Machen‹, das der Text in seinen Mittelpunkt stellt,58 verweist so auf die Tatsache, dass die eigentliche biblische Botschaft der Vergebung, auf die der aufrichtig Bekennende vertrauen kann, durch die soziale Glaubenspraxis, die nicht auf Vergebung, sondern auf Unterdrückung zielt, ausgehöhlt worden ist. Das Vertrauen auf die Gnade des Herrn nützt im Diesseits nichts, wenn diejenigen, die sich als Ausführende seiner Regeln wahrnehmen, vor die jenseitige Vergebung die diesseitige Schande und Verdammung stellen.59 Während Rousseau diese soziale Ebene der Beschämung des Aufrichtigen durch seine Mitmenschen gewissermaßen ins Vorwort abschiebt, indem er diejenigen, die angesichts der Aufrichtigkeit eines Bekenntnisses die Schwäche des Bekennenden ausnutzen, so schlicht wie knapp dazu 58 Winkler selbst behauptet, dass dieses Skandalpotenzial für ihn als Schreibmotivation keine Rolle spielt: »Es war nicht so, daß ich mir gesagt habe, ich werde jetzt einen Skandal machen, ich werde skandalös schreiben. Das überhaupt nicht.« (in Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit [Anm. 43]) – Ohne diese Motivation des Autors hier einbeziehen zu wollen, erscheint jedoch das ›Skandal-Machen‹ als relevante Textstrategie im Rahmen des hier nachvollzogenen Plädoyers für die Selbstmörder und gegen die katholisch dominierte Mehrheitsgesellschaft. 59 Winklers Texte, so merkt Schwens-Harrant mithin zu Recht an, »mahnen nicht vor Höllenstrafen im Jenseits, sondern erinnern – nicht minder grausam genau wie kirchliche Höllendarstellungen – an die Hölle im Diesseits«. Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen (Anm. 42), 79.

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auffordert, dies zu unterlassen, und ihnen in der Folge mit seinem Beispiel dienen will, stellt Winkler das Ankämpfen gegen diese soziale Ächtung, die sich vor die direkte Gottesbeziehung des Einzelnen drängt, ins Zentrum seiner Darstellung.

4.

»Habe Lust, Blasphemien zu schreiben, wie der Gott meiner Kindheit sie braucht.« – Sexualität, Religion und Skandal: Winkler als Ideologiekritiker

Winkler findet eindrückliche Bilder, die die Prägung des Heranwachsenden durch das katholisch dominierte Dorfleben veranschaulichen. Ein besonders markantes Beispiel hierfür bildet die Grundanlage seines zweiten Romans, Der Ackermann aus Kärnten. Sie folgt der »Anatomie unseres Dorfes«, die sich »mit einem Kruzifix vergleichen« lässt: Von der Dorfstraße, zu deren linker und rechter Hand Häuser stehen, strecken sich im oberen Teil zwei Arme, auf die die Bauernhäuser wie die Knorpel eines Rosenkranzes aufgefädelt sind. […] Den Kopf dieses Kruzifix bilden Pfarrhof und Heustadel, in dem sich die beiden siebzehnjährigen Lehrlinge umbrachten. Zu Füßen dieses Dorfkruzifix stehen Friedhof und Kirche. In der Mitte, wo sich senkrechter und lotrechter Balken treffen, ist das Herz des Kruzifix, der Knotenpunkt meines Romans, mein elterliches Bauernhaus. (A, 200)

Die Struktur des Kreuzes prägt das Dorf auch darüber hinaus, denn: »Überall dort, wo die Wundmale des Gekreuzigten eingraviert sind, starb jemand eines ungewöhnlichen Todes.« (A, 201) Der Roman ist im Folgenden so gestaltet, dass er die einzelnen Häuser des Dorfes abschreitet und dabei jeweils die Geschichten der Bewohner bzw. ihrer Toten erzählt, wobei erneut die Selbstmörder und die Einbindung in religiöse Kontexte dominieren.60 Die praktischen Rituale des 60 Auch wenn Der Ackermann aus Kärnten insgesamt auf diese Weise eine deutlich stärkere inhaltliche Gliederung erkennen lässt als Menschenkind, ist die inhaltliche Füllung dieser Berichte zu den einzelnen Häusern disparater, als es diese äußere Anlage vermuten lässt. In die Erzählungen über die Familien und ihre Toten mischen sich so Passagen, die sich diesen nicht zuordnen lassen bzw. auf die größeren thematischen Zusammenhänge eingehen, die auch schon Menschenkind dominiert haben. – Evident ist bereits durch den Titel der Bezug auf den Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl, dessen inhaltliche Linie – der Ackermann rechtet im Zwiegespräch mit dem Tod persönlich darum, dass dieser ihm seine geliebte Frau genommen hat, und endet mit einem Lobpreis Gottes, der ihn mit seinem Christentum schließlich versöhnt zeigt – von Winkler als Feier der (homosexuellen) Liebesgemeinschaft der beiden Selbstmörder überschrieben wird. Auf den Bezug zu Johannes von Tepl hat früh schon hingewiesen: Ulrich Greiner : Sprachgewordene Not. Josef Winkler zweiter Roman »Der Ackermann aus Kärnten«. In: Die Zeit 50/1980. Online unter : www.zeit. de/1980/50/sprachgewordene-not (22. 01. 2015).

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ländlichen Glaubens nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein, wobei ihre fragmentarische, bisweilen in der Montage aufgelöste Darstellung nicht zuletzt die tiefe Verankerung im Persönlichkeitskern des heranwachsenden Dorfbewohners zu signalisieren scheint. Die Überblendung von kirchlichem Ritual, dessen symbolischer Aufladung und einem explizit gemachten sexuellen Subtext unterstreicht in Winklers frühen Romanen einerseits die Dominanz der Strukturen des praktischen Glaubens, andererseits aber auch ihre Auflösbarkeit in die ihnen zugrunde liegenden sinnlichen Momente. Die Symbolstruktur des Rituals wird dabei im Kurzschluss zwischen symbolischer und sexueller Ebene im Kind verankert: Mit seinem Glied durchstößt das in einen Ministrantenmantel, rot mit vergoldeten Schnallen, gehüllte Kind die seidenweiche Jungfernschaft einer Hostie. Das Blut Christi graviert riefe, dicke religiöse Metaphern in seinen Schoß. Das Blut eines Hingerichteten zirkuliert in seinen Adern. Wild wütet das Kind in den modrigen Kleidern der Statue. Sein Kopf hält Totenwache am hölzernen Geschlecht Christi. (M, 88)

Ministrantendienst, Totenwache und Kommunion werden hier über die sprachliche Verbindung der metaphorischen »Jungfernschaft« der Hostie bzw. der Relevanz des ›Leibes‹ und ›Blutes‹ Christi in Kommunion und wörtlich genommener Transsubstantiationslehre an einen körperlichen Bereich gebunden, der dann in der (homo-)sexuellen Annäherung an das »Geschlecht Christi« gipfelt. Als markante, naheliegende Strategie der Herausforderung der katholischen Dorfsitte erweist sich in diesem Beispiel die Verbindung der religiösen Praxis einer die homosexuellen Jugendlichen in den Selbstmord treibenden Kirche mit der ihren Ritualen offensichtlich innewohnenden Homoerotik, die – sonst verschwiegener Subtext – von Winklers Erzähler schamlos offengelegt wird, indem er zentrale Metaphern der Glaubenslehre mit ihrem leiblich-sinnlichen Kern engführt. Der blasphemische Charakter der Schilderung ist dabei ein zentrales Ziel, weil der Schreibende im Ankämpfen gegen die dominanten Ritualstrukturen sowohl Zugang zu einer privaten Religiosität wie auch zur eigenen Identität erlangen kann. Diese doppelte Stoßrichtung ist angesprochen, wenn es heißt: »Habe Lust, Blasphemien zu schreiben, wie der Gott meiner Kindheit sie braucht.« (M, 108)61 An einem zentralen Symbol der Romane lässt sich dieses geradezu ideologiekritische Vorgehen, das die verurteilte ›Sünde‹ in der von der normensetzenden Kirche autorisierten Instanz selbst erkennbar werden lässt, erneut beobachten: gemeint ist das vielgestaltige Bild des »Kalbstricks«, das diverse Konnotationen mit sich führt. Der Kalbstrick ist zunächst das Selbstmord61 Zur schillernden Bedeutung des Begriffs »Gott meiner Kindheit«, womit auch die Figur des Vaters angesprochen ist, vgl. die folgenden Erörterungen.

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werkzeug Jakobs und Roberts, er ist es also, der den in beiden Romanen allgegenwärtigen Tod von der Anfangspassage in Menschenkind an symbolisiert (vgl. M, 7). Daneben erscheint er aber auch als Werkzeug der Geburt, denn durch den an ihre Beine gebundenen Strick werden die jungen Kälber auf die Welt geholt, wobei der Bauer und Hausvater als Geburtshelfer fungiert. Schließlich verwendet dieser, drittens, den Kalbstrick zur Züchtigung seiner Kinder, mithin dazu, die durch ihn repräsentierten Normen des Dorfes in seiner Familie durchzusetzen. Die Verwendung des Kalbstricks als Selbstmordinstrument rekurriert also auf einen Bedeutungskreislauf von Geburt, Strafe und Tod – so ist es zu verstehen, wenn der Erzähler feststellt: »Der Kalbstrick nahm die ihm gemäße Gestalt an, als er einem Doppelselbstmord diente.« (M, 93) – im Selbstmord mit dem Kalbstrick realisiert sich dessen Potenzial als Bedeutungsträger der sozial-kirchlichen Gewalt. In der Schilderung des Vaters, nachdem er den Sohn geschlagen hat, erfolgt nun jedoch eine erneute Bedeutungserweiterung des Symbols: »Am offenen Ende der Ader wartet der Vater, der Kalbstrick pendelt wieder an der Bauernhosennaht […]. Der Strick pendelt, schwingt hin und her wie die kastanienbraunen Hoden des laufenden Kindes.« (M, 101)62 Und auch umgekehrt verwendet der Erzähler das Bild, indem sich die Gewalt in der Imagination des Erzählers gegen die Dorfgemeinschaft richtet: »Der Kalbstrick bäumte sich auf, steif wie ein blutgefülltes Geschlecht schlug er auf die Nacken der Spötter und Selbstmörderbeschimpfer.« (M, 94) Der Kalbstrick erhält so eine sexuelle Konnotation, die den Akt der sozial legitimierten körperlichen Züchtigung mit dem Sexualakt verbindet. Wie bei Rousseau wird die körperliche Züchtigung des Kindes mit dessen sexuellem Erwachen verbunden – wenn in Rousseaus Darstellung ein »früher geschlechtlicher Instinkt«63 mit der strafenden Mademoiselle Lambercier assoziiert ist, liegt bei Winkler die Deutung nahe, das Schlagen des Sohnes durch den Vater als homosexuellen Akt zu lesen. Die Verbindung von Gewalt und Sexualität wird als den (heterosexuellen) Jugendlichen prägende Erfahrung gekennzeichnet, in dessen eigener sexueller Aktivität der Kalbstrick erneut wiederkehrt: Wie früher unter den Züchtigungen seines Vaters, wälzt sich der Körper heute in der Lust. Mit den bösen Augen der Kindheit seines Vaters betrachtet er den stöhnenden Körper unter seinem Körper. Sein Glied peitscht immer schneller ihren Schoß. Zu Tausenden schüttet er die Kalbstricke seiner Samenfäden in ihren Rhombus; ausein-

62 Diese Verbindung von Gewalt, Sexualität und kirchlich sanktionierter Autorität ist auch im Bild des am Gürtel des Priesters baumelnden Kruzifixes enthalten: »Der Priester, dornengekrönter Häuptling des Dorfes, schreitet mit peitschenartig an seinen Hüften pendelndem Kruzifix die Reihen ab.« (M, 91f.) 63 Rousseau: Bekenntnisse (Anm. 1), 19.

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anderstiebende Pferde. […] Die Zuckungen, die er unter dem aufpeitschenden Kalbstrick lernte, setzt er im Rhythmus des Discosounds fort. (M, 106f.)

Die Verbindung von Geburt und Tod mit einem religiös abgesicherten Patriarchat, das sich in der Gewalt durch den Vater äußert – der die Allianz von Machtausübung und religiösem Regelwerk als »Gott meiner Kindheit«64 (M, 22, 108 u. ö.) am stärksten verkörpert –, das In-eins-Denken von Vaterliebe, Vatergewalt und Sexualität im Symbol des Kalbstricks macht diesen zum Drehund Angelpunkt der die Romane dominierenden Thematik der Kopplung von Religion, Macht, Identität und Sexualität. Die religiös sanktionierte väterliche Gewalt wird als zentrale lebensprägende Kraft – symbolisiert durch Einbindung von Geburt und Tod – ausgewiesen, wobei der Roman sein strukturell zentrales Provokationspotenzial realisiert, wenn die Züchtigung mit dem Strick sexuell überformt und als Lustgewinn dargestellt wird, indem sie motivisch mit dem erigierten Glied verbunden wird. Dies grundiert die väterliche Prügelstrafe nicht zuletzt als homosexuellen Akt und verbindet so die Homosexualität genau mit derjenigen Instanz, die im Sinne eines dieselbe verdammenden Glaubens am schärfsten gegen sie eintritt.65 Die prägende Kraft des ländlichen Katholizismus in der Dorfgemeinschaft und die Rebellion gegen diese führen zu einer Identitätsstruktur des Erzählers, die auf beide Seiten dieses Konflikts angewiesen ist. Markanterweise wird die Erkenntnis, dass dies so ist, ausgerechnet dem Vater in den Mund gelegt, der formuliert: »Du hattest immer jemanden, mit dem du im Kampf standest, das erhielt dich am Leben.« (A, 389)66 Der Erzähler ist von einer Art ›DoublebindStruktur‹ der Verdammung der Religion bei gleichzeitigem Nicht-von-der-Religion-Loskommen geprägt, die »Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf« (A, 234) ist es, die die immer wieder dieselben Topoi aufrufende Gestalt des Textes provoziert. Litanei und christliche Rituale sind hierbei Formen, die sich der Text aus dem Fundus der katholischen Liturgie aneignet und so verwendet, dass sie in ihrer zyklischen Wiederkehr gleichzeitig aber auch die Verhaftung des Schreibenden bei einem nicht zu bewältigenden Problemkomplex markieren: »Wunden haben mich zur Sprache gebracht: die beiden toten Lehrlinge haben sie in mir erzwungen.« (A, 216) Die soziale Welt des Glaubens 64 Vgl. auch Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen (Anm. 42), 76–78. 65 Das Potenzial einer Gefährdung der im (genealogischen wie sexuellen) »Geschlecht« liegenden Macht des Patriarchen und seiner »phallokratischen Bauernwelt« durch die Homosexualität (allerdings nur die des Sohnes, nicht die des von ihr wie gezeigt symbolisch ebenfalls affizierten Vaters) beobachtet anhand von Winklers Texten auch Aspetsberger : »Provokationsluxus« (Anm. 43), 198–200. 66 Aspetsberger stellt fest: Der Vater »wird auf das Feld der Literatur geschleppt und dort ausgestellt, zur Schau gestellt (nicht beiseite geräumt wie in der Form des Vatermords bei Bronnen)«. Aspetsberger : »Provokationsluxus« (Anm. 43), 205.

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hat so eine identitäts- wie textbildende Funktion: Das Erzähler-Ich wird, als Anwalt der Ausgestoßenen, selbst zum Ausgegrenzten in diesem Setting, ist aber nie in der Lage, sich hiervon unabhängig zu definieren, sondern seine Identität basiert auf diesem Abgrenzungspunkt, der nie vollständig verlassen, hingegen in immer wieder umkreisenden oder attackierenden Bewegungen in seiner Relevanz bestätigt wird.67 Der Angriff auf die prägenden Gewalten des Dorflebens ist letztlich weder in der Lage noch ist es sein reales Ziel, diese zu zerstören, sondern diesem Angriff selbst eignet ein identitätsbildendes Potenzial, das sich nicht realisieren ließe, ließe der Erzähler diese Anfänge einfach völlig hinter sich.68 In Menschenkind wird als Schreibsituation ein immer wieder durchscheinender Aufenthalt des Erzählers in Venedig sowie am Ende der Schreibort Klagenfurt eingeführt (vgl. M, 193) und auch in Der Ackermann aus Kärnten wird deutlich, dass sich der Erzähler eigentlich in der Kärntner Landeshauptstadt bewegt (vgl. A, 399, 428). Dennoch sucht er, anstatt der Kindheit den Rücken zu kehren, diese in rituell verdichteter Form in seinem Schreiben immer wieder auf, womit die Wirksamkeit der heimisch-dörflichen Deutungsmuster in ihrer Relevanz bestätigt wird. Die in Winklers frühen Texten vorgeführte Identitätsbildung als Widerspruch gegen die bestehende Mehrheit basiert darauf, dass diese Mehrheit in Kraft bleibt – der Erzähler kann es sich um der Identitätsbildung willen nicht leisten, sie zu ignorieren, sich von ihr abzuwenden, ihr den Rücken zu kehren. Seine Rolle findet der Erzähler in der Tätigkeit, »stets die Offenheit der Wunde, die der Doppelselbstmord der Jugendlichen aufgerissen hat, zu betonen« – es erwächst aus dieser »erfolgreich scheiternden Trauerarbeit« nicht nur »Engagement« für die Selbstmörder, wie Özelt resümiert,69 sondern sie führt auch zur Bildung einer eigenständigen Identität im Aufbegehren gegen die gläubige Gemeinschaft, der der Selbstmord diese Wunde zugefügt hat, indem diese hierfür verantwortlich gemacht und angeklagt wird. Wenn es auch nicht zu einer Aufgehobenheit in der Religion kommt, wie es bei Rousseau der Fall ist, ist die Identität hier in ihren Wurzeln und frühen Prägungen, aber auch in ihrer aktuellen Ausformung als Widerstand gegen diese wesentlich von der sozialen Glaubensrealität determiniert. Wie die Sünde in der Ökonomie der Beichte geadelt wird und ihre Schilderung als Bedingung der Absolution erscheint, so 67 Pfeiferov‚s Hinweis darauf, dass »der Erzähler als Kind fasziniert war« vom »Zeremoniell« der katholischen Kirche, greift mithin zu kurz – diese Faszination allein im Präteritum aufzunehmen, missachtet deren konstitutiven Charakter für die Textgegenwart. Vgl. Pfeiferov‚: Auf der Suche nach den österreichischen Todesarten (Anm. 42), 132. 68 Diese Funktionalisierung der Kritik zur Identitätsbildung unterschlägt etwa Aspetsberger, wenn er Winkler eine Thomas Bernhard vergleichbare »totale Kritik« unterstellt: »Bauernhof, Universität, Bundesland, zunehmend auch der Staat Österreich, immer schon die internationale Kirche usw. werden nach dem Prinzip des Patriarchats erkannt und verdammt.« Aspetsberger : »Provokationsluxus« (Anm. 43), 196. 69 Özelt: Freitod und Alterität (Anm. 44), 180f.

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wird das katholische Dorfleben als Angriffspunkt der Kritik bei Winkler insofern erhöht, als es die (eben ganz diesseitige) Identitätsbildung des Erzählersubjekts ermöglicht: Dem reaktionären Dorf-Katholizismus wird so eine ähnlich dialektische Nobilitierung zuteil wie der Sünde im Rahmen des Beichtvorgangs. Winkler zeigt, dass unter diesen Bedingungen mit ›Säkularisierung‹ oder ›Macht- und Einflussverlust der Religion und des Glaubens‹ für den Einzelnen überhaupt nichts zu gewinnen wäre, weil diese ein Vakuum hinterlassen würden. Seine Erzählerfigur bedarf des Glaubens, um Kontur zu gewinnen; durch ihre Abgrenzung von der sozialen Glaubensrealität, die identitätsproduktiv aufgeladen wird, zementiert sie deren (vielleicht real über Säkularisierungstendenzen erodierende) Macht.70

5.

Fazit: Zwei Wege von der Religion zur Literatur

Rousseaus Bekenntnisse und Winklers frühe Romane repräsentieren, wie gezeigt, zwei Wege, auf denen der Religion eine text- bzw. literaturproduktive Wirkung zuteilwird: Im Bekenntnis legt der Gläubige Zeugnis ab von seinen Taten, was die Nähe der sakramentalen Textform zur Autobiographie (und zur Literatur überhaupt) verbürgt. Im Plädoyer, der Verteidigungsrede für die aus Erzählersicht zu Unrecht verstoßenen Selbstmörder, ergibt sich die Möglichkeit, die gläubige Gemeinschaft einerseits unter Verweis auf die mit Christus verbundenen Grundlinien ihrer eigenen Tradition, andererseits aber auch im skandalisierenden Anprangern der sozialen Glaubenspraxis mit ihren Verfehlungen zu konfrontieren. Charakteristisch ist für beide Fälle die Engführung sexuell freizügiger Schilderungen mit der Glaubensperspektive, der jeweils ein unterschiedliches Skandalpotenzial eignet: Wenn Rousseau in programmatischer Offenheit die Praktiken seiner devianten Sexualität und Autoerotik ausbreitet, tut er dies jedoch unter den Vorzeichen der Aufgehobenheit des Beichtenden bei seinem Gott – die sehr wohl einkalkulierte negative Sanktionierung seiner Offenheit und ihrer Inhalte durch das soziale Umfeld verblasst hier angesichts der proklamierten Gewissheit, die göttliche Gnade durch Aufrichtigkeit erlangen und damit gleichzeitig ein Beispiel setzen zu können, das die Mitmenschen in ihrem Pharisäertum verklagt. Winklers wortgewaltige Schilderungen homo- und he70 Das scheint mir über die etwa bei Schwens-Harrant diagnostizierte »starke Faszination und starke Abneigung« hinauszugehen, die Winklers Werk präge: Beide Ebenen sind, wie gezeigt, ohne einander nicht zu haben, die ›Doublebind-Struktur‹ der Angewiesenheit auf das Abgelehnte in der Identitätskonstruktion steht diesem nicht vermeintlich uninvolviert mit wechselnden Gefühlen gegenüber, sondern die Identität der Erzählerfigur bindet sich massiv an beide Seiten. Vgl. Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen (Anm. 42), 71.

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terosexueller Praktiken verfolgen zunächst das Ziel, das Dorfumfeld, das sich von einer strengen katholischen Sittsamkeit und Prüderie geprägt zeigt, herauszufordern: Die explizite Benennung des lust- wie schmerzvollen Sexuellen gehört zu den Tatbeständen, die in die moralische Welt der christlichen Dorfbevölkerung nicht zu integrieren sind und von denen sonst zu schweigen ist. Indem der Text vor allem hinsichtlich der Homosexualität kein Blatt vor den Mund nimmt, erreicht er darüber hinaus ein doppeltes Ziel: Einerseits solidarisiert sich der Erzähler auf diese Weise mit den aus sexuellen Gründen zu Außenseitern gestempelten jugendlichen Selbstmördern und findet so zu einer eigenen (Außenseiter-)Identität, andererseits gelingt es ihm durch den Kurzschluss zwischen christlich legitimierten Vaterinstanzen – Christus am Kreuz, Pfarrer als Beichtvater,71 strafender Vater – und (homo-)sexueller Praxis, ideologiekritisch die bekämpfte Homosexualität im Kern der normierenden kirchlich-weltlichen Instanzen anzusiedeln und hierdurch ein Provokationspotenzial zu realisieren. Die Auseinandersetzung verlagert sich dabei auf die soziale Ebene und den Kampf um die Deutungshoheit über den christlichen Normenkatalog, wo die christliche (Nächsten-)Liebe gegen die verdammende Gewalt der sozialen Instanzen Kirche, Dorfgemeinschaft und Familie ausgespielt wird. Der textproduktive Charakter des Spannungsfeldes Sexualität/Religion, der in diesen beiden Fällen deutlich wird, ist dabei zugleich eng verbunden mit der Herstellung von Identität im hierdurch angeregten Schreibprozess. Die jugendliche Identitätsbildung wird nicht nur Gegenstand des Textes, dieser erscheint vielmehr gleichzeitig als Prozess und Ergebnis dieses Vorgangs: Rousseau erschreibt sich seine Identität in der Beichte, Winklers Erzählinstanz in der Anklage gegen die christliche Normenwelt, die dabei als unverzichtbare Folie der Identitätsbildung im Ankämpfen gegen dieselbe erscheint.

71 Vgl. M, 89f.: »In den Händen des betenden Kindes verkrochen sich die gefallenen Tränen, ins Dickicht der aneinandergeklammerten Finger : Ich habe gelogen, ich habe gestohlen, ich habe Vater und Mutter nicht geehrt, ich habe Tiere getötet und gequält, ich habe den Namen Gottes verunehrt …Und was noch? Was noch? Die Augen des Kindes waren eisig geworden und starrten dem Priester ins Gesicht. Er lähmte die Augen, den Körper und die Seele des Kindes im Namen Gottes. […] der Priester riß den violetten Vorhang zur Seite, stürzte aus dem Käfig, faßte das kniende Kind am Oberkörper und hob es auf seinen Schoß. Schaum quoll aus dem halb geöffneten Mund des Kindes. […] Der Priester nutzte die Bewußtlosigkeit des Kindes aus, rief die Heiligen an und begann ein dramatisches Selbstgespräch, untermalt mit lateinischen Gebetsformeln. […] Der Körper des Kindes war ermüdet und hing wie ein gekreuzigter Jüngling am Priester, der sich seiner Schuld wie eine in den Himmel hochfahrende Seele enthob, indem er betete und streichelte, streichelte und betete […]«.

Alina Timofte

Das Gebet eines Hyperchristen? Zur Dekonstruktion einer religiösen Gattung in Frost von Thomas Bernhard1 [Wir] denken, verschweigen aber : wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zersetzt, denn Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Begriffe.2

Gleich ob Siddur (hebräisch L97=E, »Ordnung«) im Judentum, Vaterunser im Christentum oder Al-Fa¯tiha (arabisch , »die Eröffnung«) im Islam – die ˙ Zentralgebete der drei semitischen Buchreligionen weisen trotz aller Unterscheidungsmerkmale eine funktionale Gemeinsamkeit auf: Sie regulieren die religiöse und kulturelle Integration in Glaubensgemeinschaften und haben somit einen sinn- und identitätssichernden Charakter. Damit das religiöse Weltbild seine erklärende und normative Kraft entfalten kann, wird das Gebet im jeweiligen Kult immer wieder rituell-performativ nachvollzogen.3 Innerhalb des Systems Religion müssen alle kanonisierten Gebetstexte als normativ gültige Muster behandelt werden und sind dementsprechend in ihrem Wortlaut und in ihrem Umfang fixiert. In Anlehnung an Jan Assmanns theoretische Überlegungen zu Kanon und Kommentar4 lässt sich aus dem oben angedeuteten Sachverhalt der Normativität eine erste allgemeine Beobachtung zur Funktionsweise von kanonischen Gebeten und Gebetsstrukturen ableiten: nämlich dass über ihre Repetition und Reproduktion ›heilige‹ Regeln der Reinheit und Nichtfortschreibbarkeit wachen. 1 In diesem Beitrag werden Teile meines Dissertationsprojektes im Fachbereich Literaturwissenschaft/Germanistik vorgestellt, das ich im Rahmen des Forschungsfeldes »Kulturdynamiken der Religion« am Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz bearbeite. 2 Thomas Bernhard: Nie und mit nichts fertig werden. Rede anläßlich der Büchner-Preisverleihung. In: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1970, 83–84, hier 83. 3 Zur weltbildbezogenen und selbstreferentiellen Funktion religiöser Rituale Klaus Bayer: Religiöse Sprache. Thesen zur Einführung. Berlin 2009, besonders 24–34. 4 Vgl. Jan Assmann: Text und Kommentar. Einführung. In: ders. u. Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar. München 1995, 9–34. Zur Theorie der Kanonisierung kultureller Grundtexte s. ebd., 10ff. Zur identitäts- und gemeinschaftsbildenden Funktion des Gebets siehe Albert Gerhards, Andrea Doeker u. Peter Ebenbauer (Hg.): Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum. Paderborn u. a. 2003.

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Alina Timofte

Auch ein zweiter für die Stabilität des kanonischen Prekativs5 maßgeblicher Faktor ist schnell zu ermitteln. Wie alle normativen systemgebundenen Konstruktionen unterliegt auch der Umgang mit Texten des religiösen Kanons einer strikten Untersagung jeglicher Depragmatisierung und Dekontextualisierung, mit der Konsequenz, dass konträres Handeln als blasphemisch, sakrilegisch oder profanierend verurteilt wird. Doch in der Literatur der europäischen Moderne lässt sich trotz der Tabuisierung jeglicher »Akkomodation des Textes in Form redaktioneller Eingriffe«6 in die ›Ordnung‹ des Gebets eine gewisse Dynamik der Ablösung, Adaption und Zerlegung genuin christlicher Textgattungen konstatieren. Der Raum der auf den verschiedensten Genre-Ebenen auftretenden Gebetstexte reicht von konfessionell gebundener Literatur im Zeichen des Fortlebens religiöser Traditionen bis hin zu ›freien Formen‹ eines religiösen Sprechens, die sich zu Religion entweder affirmativ verhalten oder aber sich in einer negativ-kritischen Auseinandersetzung mit derselben niederschlagen. Die aus der letzteren spezifischen Referenz resultierenden Semantiken sind oftmals anti-christlich, atheistisch, macht- und kirchenkritisch. Eben den doppelten Sachverhalt des Bezugs auf christliche Figuren bei gleichzeitiger Ablehnung jeder Form des institutionalisierten Glaubens versuche der von Georges Bataille in Anlehnung an Friedrich Nietzsche geprägte Begriff des »Hyperchristentums« analytisch zu beschreiben – eine These, für die sich der Germanist Clemens Pornschlegel in seinen Studien zur hyperchristlichen Struktur der Moderne starkmacht: ›Hyperchristentum‹ beschreibt also zunächst einmal den doppelten Sachverhalt des fortwährenden Bezugs auf christliche Bilder, Texte, Vorstellungen und Denkfiguren bei gleichzeitiger Ablehnung oder Überwindung jeder Form von ›religiösem‹ Glauben und der entsprechenden moralischen Lebenspraxis. Indiziert ist mit dem Wort der freie, areligiöse, anti-institutionelle Gebrauch christlicher Schriften und theologischer Denkund Vorstellungsfiguren, der unmittelbar einhergeht mit der strikten Zurückweisung von kirchlicher Praxis, Sakramenten, Dogmen oder Moralschriften.7

Somit bringe der präfixierte Terminus (griechisch »hyper« = »oberhalb von, über etwas hinaus«) »die religiöse Signatur der westlichen Moderne«8 am tref5 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive meint der hier neu eingeführte Begriff des Prekativs (spätlateinisch »preca¯tı¯vus«, zu lateinisch »preca¯rı¯« = »bitten«, »beten«) im weitesten Sinne alle kulturellen Manifestationen, die als ›Bitte‹ (von X an Y gerichteter Wunsch) identifiziert werden können. Darunter einzuordnen sind neben religiösen Anbetungstexten auch die Formulare der Bürokratie sowie die Höflichkeitsformeln in der sozialen Kommunikation. 6 Assmann: Text und Kommentar (Anm. 4), 11. 7 Clemens Pornschlegel: Hyperchristen: Brecht, Malraux, Mallarm¦, Brinkmann, Deleuze. Studien zur Präsenz religiöser Motive in der Moderne. Wien/Berlin 2011, 11. 8 Pornschlegel: Hyperchristen (Anm. 7), 173.

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fendsten zum Ausdruck, denn »das Christentum bleibt für alle Autoren – wie ironisch, polemisch, blasphemisch, parodistisch auch immer die christlichen Begriffe, Vorstellungen oder Textgattungen gehandhabt werden – ein zentraler Bezugspunkt.«9 Der vorliegende Beitrag rekurriert arbeitshypothetisch auf den Bataille’schen Begriff des Hyperchristentums und auf Pornschlegels Ausführungen in der Absicht, dieselben sowohl für die theoretische Rahmung als auch für die Argumentation fruchtbar zu machen. Die Präsenz der religiösen Textgattung Gebet in außerreligiösen oder theologiefreien Kontexten der literarischen Moderne erscheint im Hinblick auf Verfahren der De- und Rekontextualisierung als besonders untersuchenswert.10 In historischer Hinsicht geht diese referentielle Besonderheit einerseits mit dem Bedeutungswandel des Gebets im Horizont der neuzeitlichen Religions- und Christentumskritik (Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche)11 einher, andererseits steht das religiöse Prekativ angesichts der Weltkriegserfahrungen und der Shoah unter dem Vorzeichen der Krise und Unartikulierbarkeit.12 Als »poetogene Struktur«13 ist das Gebet nicht nur als ein privilegiertes Medium der Austauschprozesse zwischen Religions- und Literatursystem lesbar14, sondern bietet sich als ein wichtiges zeitkritisches Reflexionsmedium der (post-)säkularen Moderne an. Das breite Spektrum literarischer Prozeduren im Zeichen einer de- und rekontextualisierenden Referenz ließe sich – unter Vorbehalt – mit der politischen Gebetsumschreibung des radikalen Aufklärers Voltaire, PriÀre — Dieu (1763),

9 Pornschlegel: Hyperchristen (Anm. 7), 10. 10 Indem die Präsenz einer religiösen Gattung in der literarischen Postmoderne exemplarisch in den Blick genommen wird, reagiert der vorliegende Beitrag auf ein in der Forschung bereits formuliertes Desiderat einer Kulturgeschichte des Gebets (vgl. Andreas Kraß: Gebet. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin/New York 1997, 662–664, hier 662). 11 Weiterführend dazu Friedrich Heiler : Das Gebet: eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. München 31921, Hans Jürgen Luibl: Des Fremden Sprachgestalt. Beobachtungen zum Bedeutungswandel des Gebetes in der Geschichte der Neuzeit. Tübingen 1993, und Jürg Wüst-Lückl: Theologie des Gebetes. Forschungsbericht und systematisch-theologischer Ausblick. Fribourg 2007. 12 Weiterführend dazu Thomas Dienberg: Ihre Tränen sind wie Gebete. Das Gebet nach Auschwitz in Theologie und Literatur. Würzburg 1997. 13 Vgl. Stefan Keppler : Gebet als poetogene Struktur : systematische Aspekte, die Wissenskonfiguration um 1900 und Rilkes »Stundenbuch«. In: Rüdiger Zymner u. Manfred Engel (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004, 338–355. 14 Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. Andr¦ Kieserling. Frankfurt a. M. 2002, und ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997; Heinz Schlaffer : Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012.

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öffnen und über zahlreiche Zwischenstationen weiterverfolgen.15 Um nur einige zu nennen: Eine unumgängliche, ja notwendige Zwischenstation wäre Friedrich Nietzsche, der kurz vor dem Anbruch des 20. Jahrhunderts rief: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?«16 Wenn Nietzsche die hohe Adresse der Anbetung (aus)löscht, stellt sich die Frage, welches diskursive Schicksal das Gebet im Denken dessen hat, der dachte, er stünde am Anfang eines Zeitalters des Atheismus. Es mag nicht überraschen: Es ist die Geste der antichristologischen Ablehnung, die sich an verschiedenen philosophischen Werkstationen (z. B. Der Antichrist, Also sprach Zarathustra etc.), aber auch an seiner Lyrik verfolgen lässt. Hinzu käme eine referentielle Formation, die ich »atheistisches Gebet« nennen möchte. Hugo Friedrich hat bereits gezeigt, dass die moderne Lyrik sich unter anderem paradoxer Strukturen bedient.17 Die Paradoxie des betenden Atheisten ließe sich an zahlreichen französischen Symbolisten (Charles Baudelaire, Jean-Arthur Rimbaud, Paul Verlaine etc.) oder an der Lyrik des spanischen Philosophen Miguel de Unamuno wie im Gedicht La oraciûn del ateo in Rosario de sonetos l†ricos (1911) exemplifizieren. In den Phantastischen Gebeten des Dadaisten Richard Huelsenbeck begegnet man ferner einer Art von Referenz, die mit »primitiven« (im Sinne von »ursprünglichen«) und vor-christlichen Bildern und Motiven arbeitet, während sich ›moneytheistische‹ Gebete wie 700 Intellektuelle beten einen Öltank an von Bertolt Brecht vor dem Hintergrund von Walter Benjamins These vom »Kapitalismus als Religion« untersuchen ließen. Zu schließen wäre die Reihe der Textanalysen womöglich mit dem ebenfalls politischen Gebet der russischen Frauenband Pussy Riot, dem musikalischen Punk-Gebet (2012). Der Beitrag intendiert nicht das vermessene Unterfangen einer systematischen Kartierung dieses wenn auch zeitlich diffusen, in der europäischen Literatur jedoch weiten und prominent vertretenen Referenzfeldes »Gebet und literarische Moderne«, sondern richtet sich auf die ›textnahe‹ Arbeit an einer der hier anzutreffenden Manifestationen: Im Werk Thomas Bernhards lassen sich die Rückgriffe auf und die Eingriffe in die ›Ordnung des Gebets‹ vielerorts nachweisen. Sowohl in seinen lyrischen als auch in seinen narrativen Texten schöpft Bernhard aus dem christlich-katholischen Fundus kanonischer An15 Die negative Referenz auf das religiöse Phänomen des Gebets ist keineswegs ausschließlich ein Phänomen der säkularen (Post-)Moderne. Die zahlreichen Gebete und Gebetsparodien in der Antike boten immerhin Stoff für mehrere Forschungsarbeiten, vgl. Hermann Kleinknecht: Die Gebetsparodie in der Antike. Stuttgart 1937, und Wilhelm Horn: Gebet und Gebetsparodie in den Komödien des Aristophanes. Diss. Nürnberg 1970. 16 Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. V/2, Berlin/New York 1973, hier 159. 17 Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik: von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Hamburg 1967.

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betungsrhetorik. Dies geschieht jedoch nicht, um einen frommen Glaubensvollzug im Medium der Literatur zum Ausdruck zu bringen; vielmehr werden die Bezüge auf das Gebet in einer spezifischen und komplexen Weise gehandhabt.18 Im Mittelpunkt der Analyse steht die Gebetsumschreibung aus Bernhards Debütroman Frost (1963). Ihr literarischer Urheber ist Meister Strauch, ein Geistesmensch, der in der Eiseskälte eines Salzburger Gebirgsdorfs und inmitten von schwachsinnigen und verbrecherischen Landbewohnern lebt – eine der finstersten und zugleich hellsichtigsten Figuren der deutschsprachigen Literatur überhaupt. Die von einem Famulanten im Zuge eines Beobachtungsauftrags aufgezeichneten maß- und schonungslosen Monologe des Malers nehmen den größten Teil des handlungsarmen Romans ein. Seine Wortkaskaden richten sich konsequenterweise und in sich steigernden Wiederholungen gegen Kirche und Katholizismus ebenso wie gegen Religion im Allgemeinen. Mitten im Roman (im 18 Die textimmanenten und diskursiven Bezüge auf das Gebet(-hafte), so häufig und komplex sie in den Texten Thomas Bernhards erscheinen, sind von der bisherigen Forschung nur peripher berücksichtigt worden, und zwar dann, wenn Forschungsfragen nach Lektüremodellen im signaturhaften, liturgischen Gebrauch (Juliane Vogel: Die Gebetbücher der Philosophen: Lektüren in den Romanen Thomas Bernhards. In: Modern Austrian Literature 21 [1988], 173–186), nach dem Gottesbegriff, dem Glaubensvollzug bzw. dem Verlust transzendentalen Glaubens (Adolf Holl: Thomas Bernhard und die Religion. In: Pia Janke u. Ilija Dürrhammer (Hg.): Der »Heimatdichter« Thomas Bernhard. Wien 1999, 209–215; Cornelius Hell: »Geheiligt werde kein Name«. Religionsverlust und Gottesvernichtung im Werk Thomas Bernhards. In: Peter Tschungall (Hg.): Perspektiven einer Begegnung am Beginn eines neuen Milleniums. Religion, Literatur, Künste. Salzburg 2001, 376–386, und ders.: Zensierte Kampfgebete. Neues Licht auf Thomas Bernhards Verhältnis zur Religion. In: Orientierung 68 (2004), 43–49; Heinrich Schmidinger : »Gott« im Werk Thomas Bernhards. In: Manfred Mittermayer u. Martin Huber (Hg.): Thomas Bernhard Jahrbuch. Bd. 2. Wien u. a. 2003, 35–66; Jan Süselbeck: Das Gelächter der Atheisten: Zeitkritik bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard. Frankfurt a. M. 2006; Gregor Thuswaldner : De Deo abscondito. Religiöse Konflikte bei Thomas Bernhard. In: Olaf Berwald u. ders.(Hg.): Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln 2007, 159–176), nach Negation(sprozessen) (Manfred Mixner : Vom Leben zum Tode. Die Einleitung des Negations-Prozesses im Frühwerk von Thomas Bernhard. In: Manfred Jurgensen (Hg.): Bernhard Annäherungen. Bern/München 1981, 65–97; Philipp Schönthaler : Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W. G. Sebald und Imre Kert¦sz. Bielefeld 2011) oder Fragen nach werkkonstitutiven Strukturen wie Litanei, Wiederholung, Auslöschung oder nach Sprachrhetorik vordergründig waren (Oliver Jahraus: Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt a. M. u. a. 1991; Wendelin Schmidt-Dengler : Das Gebet in die Sprache nehmen: zum Säkularisationssyndrom in der österreichischen Literatur der siebziger Jahre. In: Christiane Pankow (Hg.): Österreich – Beiträge über Sprache und Literatur. Ume” 1992, 45–62; Christoph Kappes: Schreibgebärden. Zur Poetik und Sprache bei Thomas Bernhard, Peter Handke und Botho Strauss. Würzburg 2006, oder Joachim Knappe u. Olaf Kramer (Hg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg 2011).

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Kapitel »Siebzehnter Tag«) führt der Kunstmaler Strauch dem erzählenden Medizinstudenten seine »Komödientragödie« vor : »›Sehen Sie‹, sagte er, ›dieser Baum tritt auf und sagt, was zu sagen ich ihm aufgetragen habe, irgendwann aufgetragen habe, einen Vers, einen unverständlichen, die Welt auf den Kopf stellenden Vers, einen sogenannten Antigottesvers, verstehen Sie!‹«19 Die Passage antizipiert jene Gebetskontrafaktur, die im zweiten Abschnitt des Kapitels »Neunzehnter Tag« völlig unvermittelt formuliert wird und die in der bisherigen Forschung Charakterisierungen fand wie »eine blasphemische Travestie«20, »eine ganz auf Provokation abgestellte Fassung des Vaterunsers«21 oder ein »blasphemischer Rückverweis«22 auf die christliche Bezugsebene etc. Es handelt sich hier um ein ›pervertiertes‹, ins Gegenteil verkehrtes Gebet, dessen Erschließung in einem ersten Anlauf anhand der Unterschiede zu dem orthodoxen Gebetstext des biblischen Kanons erfolgen kann.23 Beide Texte seien hier gegenübergestellt: (Prätext) Vater unser im Himmel geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

(Folgetext) Vater unser, der du bist in der Hölle, geheiligt werde kein Name. Zukomme uns kein Reich. Kein Wille geschehe. Wie in der Hölle, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot verwehre uns. Und vergib uns keine Schuld. Wie auch wir vergeben keinen Schuldigern.

19 Thomas Bernhard: Frost. Werke. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 1. Hg. v. dens. Frankfurt a. M. 2003, 200. 20 Paola Bozzi: »Das Wort des Todes«. Thomas Bernhard und Charles P¦guy. In: Joachim Hoell u. Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999, 151–158, hier 156. 21 Erich Jooß: Aspekte der Beziehungslosigkeit. Zum Werk von Thomas Bernhard, München 1976. 22 Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Frankfurt a. M. 2006, 78. 23 Beim kanonischen Vaterunser handelt es sich um das einzige Gebet der christlichen Gemeinde, das im Neuen Testament (in zwei leicht verschiedenen Versionen in Mt 6, 9–15 und Lk 11, 2–4) von Jesus Christus gegeben und darüber hinaus mit einer Gebetsaufforderung (»Darum sollt ihr so beten […]«, Mt 6, 9a) versehen wird. Nicht zuletzt werden die eingangs dieses Beitrags thetisch formulierten redaktionellen Tabus in einem Interview des Kirchenhistorikers Christoph Markschies vom 12. 06. 2010 bestätigt, der in Deutschlandradio Kultur – Religionen die kleinen Änderungen am Vaterunser-Text in den neueren Bibelübersetzungen in einem halb jovialen Ton kommentierte: »Also erst mal würd ich davor warnen, das Vaterunser umzuschreiben, denn mindestens gibt es gute Gründe anzunehmen, dass uns Jesus von Nazareth dieses Gebet lehrt.« Uwe Birnstein: Der Gott, der in Versuchung führt. Muss das Vaterunser geändert werden? Online unter : www. deutschlandradiokultur.de/der-gott-der-in-versuchung-fuehrt.1278.de.html?dram:artic le_id=192552 (08. 09. 2014).

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Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.

397 Führe uns in Versuchung Und erlöse uns von keinem Übel. Amen. So geht es ja auch.24

d

Aus der Gegenüberstellung wird deutlich, dass die redaktionellen Eingriffe auf unterschiedlichen Niveaus stattfinden – als grammatische und logische Verneinung – und dass sie somit gegen die eingangs beobachtete normative Fixierung des Gebets im Wortlaut und im Umfang gerichtet sind. Vordergründig ist eine (fast) durchgängige Prozedur zu beobachten: Was der theologische Kanon affirmativ formuliert, wird bei Bernhard negativ umformuliert, oder anders betrachtet: eine primäre Bedeutung wird negiert, um eine gegenläufige aufzubauen. Darauf wird unten zurückzukommen sein, vorab sei jedoch festgehalten, dass diese Prozedur einer formallogischen Umwertung wie »p wird zu p« (und vice versa)25 entspricht. Dafür schlage ich hier den Begriff Umpolung vor. Das literarische Vaterunser (Folgetext) baut punktuell auf dem kanonischen Vaterunser (Prätext) auf; der Folgetext ist in seiner intertextuellen Organisation Aneignung, Absorption und Transformation des Textes, aus dem er hervorgeht. Die für Thomas Bernhard so charakteristische formal-ästhetische Qualität der Wiederholung kann man in der metatextuellen Struktur des ›neuen‹ Gebets rasch erkennen. Welche interpretatorischen Konsequenzen zieht ein solcher auf den ersten Blick einfacher Kunstgriff der Negativierung mit sich? Eine komparative Perspektivierung religionskanonischer vs. literarischer Konventionen sowie das Heranziehen der Intertextualität als Analyseinstrument können dabei helfen, Referenzen aufzuspüren und somit das Problembewusstsein für die Bedeutung der Bernhard’schen Autorintention zu schärfen. In Analogie zu einem in Raum und Zeit definierten Objekt beinhaltet der erste Vers beider Texte eine Ortszuweisung: Im kanonischen Vaterunser deutet der Zusatz der Anrede auf den Himmel, der in der pragmatischen Theologie als regnum Dei gilt.26 Bei Bernhard findet eine Umpolung auf der Vertikalen statt, denn die poetische Sicht operiert hier mit Antipoden. Der Zusatz der Anrede ist nicht »im Himmel«, sondern »in der Hölle«, also am entgegengesetzten Punkt religiöser Erfahrung, am »Ort der äußersten Gottesferne«.27 24 Bernhard: Frost (Anm. 19), 221. 25 Vgl. Thomas Zoglauer: Einführung in die formale Logik für Philosophen. Göttingen 2008. 26 Zur pragmatischen Theologie des Vaterunser im Allgemeinen: Richard Mössinger. Zur Lehre des christlichen Gebets. Göttingen 1986, Georg Nicolaus: Die pragmatische Theologie des Vaterunsers und ihre Rekonstruktion durch Martin Luther. Leipzig 2005, oder Jürgen Werbick: Vater unser. Theologische Meditationen zur Einführung ins Christsein. Freiburg i. Br. u. a. 2011. 27 Schmidinger : »Gott« im Werk Thomas Bernhards (Anm. 18), 37. Das hier eröffnete Anti-

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Die negative Formel »Geheiligt werde kein Name« zeigt – allein genommen – eine gewisse Nähe zu Schweigeordnungen der negativen Theologie (Namenstabu).28 Nichtdestotrotz lässt sich die Trias »Geheiligt werde kein Name« – »Zukomme uns kein Reich« – »Kein Wille geschehe« über die mitschwingende Verweigerung der religiösen Heilsgeschichte hinaus vielmehr als Anspielung auf Elemente nationalsozialistischer Sprachpraxis interpretieren, etwa die Struktur des Hitlergrußes (Interjektion Heil gefolgt vom Namen), die Bezeichnung für den nationalsozialistischen deutschen Staat (Drittes Reich) sowie die ubiquitäre »Wille-des-Führers«-Rhetorik der nationalsozialistischen Gesetzgebung,29 zumal Strauch in seinen Tiraden oftmals auf die »Kriegszeit« und die Auswirkungen des Krieges verweist.30 Das Umschreiben von optativen Formeln in deprekative Forderungen wird auch in den nächsten Zeilen fortgesetzt, wobei die Mehrdeutigkeit von »Schuld« und »Schuldigern« bzw. die Ununterscheidbarkeit von debitum und peccatum im Deutschen die Interpretation erschwert. Das negative Sprachspiel Strauchs ist nicht auf Vergebung und Erlass (einer Schuld oder einer Strafe) ausgerichtet, sondern im Gegenteil auf die Nicht-Tilgung, quasi als Memento an die begangenen Verfehlungen und Missetaten im Allgemeinen und an die Verbrechen des Nationalsozialismus im Besonderen. Auch die letzten Bitten werden nach dem Verfahren der Umpolung umgeschrieben und steigern die Negationsperspektive als Verweigerung jeglicher Absolution. Trotzdem trifft die umschreibende Prozedur nicht gänzlich auf den poden-Verhältnis erinnert an Bernhards frühe Lyrik: »Warum muss ich die Hölle sehen? Gibt es keinen anderen Weg / zu Gott? / Eine Stimme: Es gibt keinen anderen Weg! Und dieser Weg / Führt über den Tag der Gesichter, / er führt durch die Hölle.« (Thomas Bernhard: Der Tag der Gesichter. Gesammelte Gedichte. Frankfurt a. M. 1993, 11.) 28 Seit seinen systematischen Anfängen in der Spätantike hat das Denken der negativen Theologie die Grenze des Wissens als Nichterkennbarkeit der göttlichen Transzendenz bestimmt und diesen äußersten Horizont der Erkenntnis als eine (sprachliche) Grenze der Kommunizierbarkeit und Artikulierbarkeit verstanden: Das Absolute ist dementsprechend unnennbar, unsagbar, unbestimmbar. Philosophen und Theologen haben diese Grenze der Sprache in einer Sprache der Grenze zu reflektieren versucht, jedes Reden von ›Gott‹ muss negativ und apophatisch (gr. »nicht aussprechbar«) bleiben. Dazu Dirk Westerkamp: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie. München 2006. 29 Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring proklamierte in einer Rede vor hohen Staatsanwälten im Sommer 1934: »Das Recht und der Wille des Führers sind eins!« (Völkischer Beobachter, 14. 07. 1934). In: Walther Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Frankfurt a. M. 2004, 77. Im NS-Staat wurden die Willensbekundungen des Führers als juristisch bindend betrachtet. Vgl. Hubert Schorn: Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik. Frankfurt a. M. 1963. 30 Im Hinblick auf die verallgemeinernde Umschreibung ohne konkrete Benennung von Verbreche(r)n des Nationalsozialismus in den Monologen des Malers Strauch vgl. Josef Mautner : Nichts Endgültiges. Literatur und Religion in der späten Moderne. Würzburg 2008, 110f.

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neuen Text zu. Vielmehr partizipieren Anfang und Ende des Anti-Gebets durch die Beibehaltung des Adressaten »Vater unser« und der abschließenden Formel »Amen« am kanonischen Gebetstext. Das ›neue‹ Gebet wird außerdem doppelt sanktioniert: zunächst durch das orthopraktische »Amen« mit der Funktion einer Wahrheit beanspruchenden Schlussformel31 und anschließend durch ein parenthetisches »So geht es ja auch«, das zugleich relativiert und pluralisiert. In diesem letzteren Zusammenhang drängen sich mehrere Fragen auf: Wenn der religiöse Bezugspunkt ›haften‹ bleibt und als ›Spur‹ wiedererkennbar ist, wie ist die Beibehaltung des Adressaten »Vater unser« trotz des im Übrigen umpolenden Eingriffs auf der Ebene der im Imperativ formulierten Bitten zu interpretieren? Lässt die Erweiterung der liturgischen Formel um eine profane Sanktion das gegenläufige Gebet eher als Fortgang unter verändertem Vorzeichen oder als Indiz einer atheistischen Zäsur auftreten? Welche Rolle spielt der Wahrheitsbegriff und wie ist Strauchs adversative Referenz auf den Wahrheitsgehalt des Gebets zu verstehen vor dem Hintergrund der Aussagen Thomas Bernhards zum Thema ›Wahrheit‹ im Allgemeinen? Wenn auch eine erschöpfende Behandlung des Fragenkomplexes in diesem Rahmen nicht möglich ist, soll im Folgenden etwas näher darauf eingegangen werden. Begonnen sei mit der Frage nach der beibehaltenen Adresse »Vater unser«. In seinem Vortrag Wie nicht sprechen. Verneinungen (1987) hinterfragt Jacques Derrida die Zitierbarkeit des Gebets und reflektiert über die Apostrophe als Bestimmung des Adressaten im Gebet. Derridas Gedanken lassen sich in diesem Zusammenhang als Kontextualisierungsangebot an Thomas Bernhard herantragen. An den vielfältigen Erfahrungen und Bestimmungen dessen, was man als ›Gebet‹ bezeichnet, hebt Derrida das Moment der Adresse als Bezug zu einer Präsenz im Anderswo und als Geste der Anerkennung hervor: Es müsste in jedem Gebet eine Adresse an den anderen als den anderen geben und ich möchte sagen, auf die Gefahr hin zu schockieren, Gott zum Beispiel. Als Akt, sich an den anderen als den anderen zu adressieren, muss er gewiss beten (prier), das heißt bitten (demander), anflehen, ersuchen. Worum, das zählt wenig, und das reine Gebet bittet den anderen um nichts anderes als es anzuhören, es anzunehmen, für es gegenwärtig zu sein […].32

Ferner befragt Derrida den Themenkomplex Gebet, indem er ihn explizit – ähnlich wie Thomas Bernhard – mit den Philosophemen ›Negation‹ und ›Wahrheit‹ in Zusammenhang bringt und sich an folgende Stelle aus Aristoteles’ Peri hermeneia heranarbeitet: 31 Vgl. Ulrich Heckel: Der Segen im Neuen Testament. Begriffe, Formeln, Gesten; mit einem praktisch theologischen Ausblick. Tübingen 2002, hier besonders Kapitel 3.3.7 Das Amen, 308–312. 32 Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1989, 76.

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Jedes Wortgefüge hat zwar eine Bedeutung […], ein Behauptungssatz ist aber nicht jedes, sondern nur eines, dem es zukommt, wahr oder falsch zu sein. Nicht allen kommt dies zu. So ist zum Beispiel eine Bitte zwar ein Wortgefüge, aber weder wahr noch falsch.33

Trotz aller Knappheit wird uns hier eine Definition überliefert, die das Fehlen jeglichen Bezugs auf die Wahrheitswerte »wahr« oder »falsch« zum Hauptmerkmal des Gebets avanciert. Diese logische Figur des Dritten (»weder wahr noch falsch«) macht Derrida zufolge deutlich, dass die Wahrheit des Gebets »eine Überwahrheit einer Überwesentlichkeit ist, denn es nennt und ruft, was ›ist‹ und so wie es ›ist‹ jenseits des Seins.«34 Noch wichtiger erscheint mir im Kontext des literarischen Anti-Gebets Derridas Unterscheidung zwischen Gebet (eukh¦) und Lobpreisung (hymnein) nach dem Kriterium des propositionalen Gehalts (als Aussage über): Selbst wenn sie keine prädikative Affirmation geläufigen Typus ist, so wahrt die Lobpreisung die Struktur einer Prädikation, einer sprachlichen Handlung, die etwas von einem Gegenstand sagt bzw. durch die einem Gegenstand Eigenschaften zu- oder abgesprochen werden. Das Gebet hingegen apostrophiert, adressiert sich also an einen anderen und in dieser reinen Bewegung bleibt es – so Derrida – absolut ante-prädikativ.35 Was die Apostrophe und die Prädikation bei Bernhard anbelangt, so ist Strauchs Gebet ein literarisches Sprachspiel mit dem propositionalen Gehalt des Glaubens. Nicht bloß Destruktion affirmativer Theologeme im Modus atheistischer Anti-Prädikation ist hier am Werk, sondern Repetition religiöser Ritualsprache. Selbst wenn ein solches Verfahren im Paradox endet, scheint es logisch zwingende Gründe zu geben, lieber beide Seiten des Paradoxes zusammenzuhalten, als sie auseinanderfallen zu lassen und sich auf Gedeih und Verderb auf eine der beiden Seiten festzulegen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der relativierenden und pluralisierenden Formulierung »So geht es ja auch«, die das kanonische Gebet in seiner Gültigkeit einschränkt und in einem übergeordneten 33 Aristoteles: Peri hermeneias. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 1, Teil 2. Übers. u. erl. v. Hermann Weidemann. Darmstadt 1994, hier 6. Zu beachten ist, dass die griechischen Vokabel e}w^ und das dazugehörige Verb ]}west\_ nicht nur »Bitte« bzw. »bitten« sondern auch »Gebet« und »beten« im förmlich-rituellen Sinne bedeuten. Ohne auf die philologischen Kontroversen näher einzugehen, sei hier angemerkt, dass Aristoteles einen Dialog Peq_ e}w^r (Über das Gebet) geschrieben hat, wie aus den Schriftenverzeichnissen des Diogenes Laertios hervorgeht. Das einzige erhaltene Fragment verrät jedoch nichts über Aufbau und Inhalt des Dialogs: »Dass Aristoteles etwas im Blick hat, was über das Denken und über das Sein hinausgeht, sagt er deutlich gegen Ende des Buches Über das Gebet: ›Gott ist entweder Denken oder noch etwas jenseits des Denkens‹.« (Simplikios: In Aristotelis de caelo commentaria, II 12, 282 b 10. In: Commentaria in Aristotelem Graeca Bd. 7. Hg. v. Johan L. Heiberg. Berlin 1894, 485; hier zitiert nach Aristoteles: Fragmente zu Philosophie, Rhetorik, Poetik, Dichtung. Hg. v. Hellmut Flashar. Darmstadt 2006, 50). 34 Derrida: Wie nicht sprechen (Anm. 32), 76. 35 Derrida: Wie nicht sprechen (Anm. 32), 75f.

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Zusammenhang betrachtet. Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass die Abtönungspartikel ja36 (wie das ähnlich gebrauchte aber) den Indikator für eine adversative Rede darstellt, die für Bernhards Sprachgebrauch insgesamt kennzeichnend ist und die jenem sprachlich fundierten Wahrheitsbegriff entspricht, den Bernhard beispielhaft in einem Interview aus dem Jahre 1975 zum Ausdruck bringt: Aber es muss immer Leute geben, die immer ein Aber sagen. Es gibt immer nur Leute, die alle Sachen bestimmen. Aber es bleibt alles ohne Aber. Die Wahrheit ist im Grunde nur, dass man Aber dranhängt und den Satz vollendet. […] Aber eine Schönheit ohne das Aber ist ein reiner Unsinn, eine Verfälschung.37

Ohne auf die Syntax und die Semantik des Ja und des Aber genauer einzugehen, sei hier angemerkt, dass die adversative Referenz auf das christliche Zentralgebet im Zeichen einer philosophischen Grammatik realisiert wird, die Satz und Gegensatz kontrastiert und zugleich koordiniert. Vor diesem Hintergrund lässt die Erweiterung der liturgischen Formel um eine umgangssprachliche Sanktion das gegenläufige Gebet nicht als (atheistische) Zäsur, sondern als Kontinuität und Schließung des Problems auftreten. Auch weitere Textstellen im Roman bieten Anlass zu ähnlichen mikrologischen Beobachtungen, die m. E. interessante Tiefendimensionen der adversativen Referenz zugänglich machen. Zum Beispiel: Die Frage an den Famulanten »›Glauben Sie an Christus?‹«38 erwartet keine Antwort; stattdessen formuliert der Maler scharf zugespitzte und wuchtige Sentenzen: »Alles Gesagte ist Unsinn. Die Religionen täuschen darüber weg, daß alles Unsinn ist, wissen Sie. Das Christentum ist Unsinn. Ja. Als Christentum. Die Gebetswelt, das sind Zustände, die alles falsch wiedergeben. Die alles zu nichts machen. Gerade die Gebetswelten! Das ist wahr.« Aber der Mensch lebe gern falsch und unter falschen Eindrücken, »die seinen Kopf auf den Boden herunterdrücken.«39

An anderer Stelle erhebt der Maler drohend die Faust gegen die Monstranz,40 um dann zu den folgenden, nicht minder radikalen Urteilen zu gelangen: »Sehen Sie mein Theater? Sehen Sie das Theater der Furchtsamkeit? Das Theater der Unselbständigkeit Gottes? Welchen Gottes?« Er drehte sich um und sagte: »Gott ist eine

36 Weiterführend siehe Elke Hentschel: Funktion und Geschichte deutscher Partikeln: ja, doch, halt und eben. Tübingen 1986, und Harald Weydt: Abtönungspartikel. Bad Homburg v. d. H. 1969. 37 Thomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hg. v. Wolfram Bayer u. a. Berlin 2011, 101. 38 Bernhard: Frost (Anm. 19), 117. 39 Bernhard: Frost (Anm. 19), 175. 40 Bernhard: Frost (Anm. 19), 134.

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einzige große Verlegenheit! Eine ungeheure Verlegenheit der Gestirne. Aber«, sagte er, legte den Zeigefinger an den Mund: »Wir wollen darüber schweigen.«41

Sätze wie »›Das Christentum ist Unsinn. Ja. Als Christentum‹« oder »›die Kirche hat ja, wie sie auch ist, gar keine Existenzberechtigung. Wenigstens nicht als Kirche‹«42 sind trotz ihrer vordergründigen Einfachheit nicht ganz unproblematisch. Die Deutungsschwierigkeit rührt daher, dass der Bezugsreferent und der als-Adjunkt identisch sind. Eine Kreisbewegung, bei der die Spezifikation auf den Referenzpunkt zurückverweist. Womöglich verringert sich die Deutungsschwierigkeit, wenn man die als-Phrasen auf der werkinternen Ebene im Zusammenhang mit dem »Antigottesvers«, mit der direkten Frage »›Glauben Sie an Christus?‹« und mit den Reflexionen des Famulanten über »das Außerfleischliche« auf der Eröffnungsseite des Romans liest: Eine Famulatur muß auch mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten rechnen. Mein Auftrag, den Maler Strauch zu beobachten, zwingt mich, mich mit solchen außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. Es bis zu einem gewissen erstaunlichen Grad von Möglichkeiten aufzudecken. Wie man eine Verschwörung aufdeckt. Und es kann sein, daß das Außerfleischliche, ich meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, von der ich ja nicht weiß, ob es sie gibt, von der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte Vermutung jahrtausendealte Wahrheit ist; es kann durchaus sein, daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne die Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem andern.43

Vergegenwärtigt man sich zudem – auf der werkexternen Ebene – die in der ökumenischen Dogmatik so zentrale Theorie der Inkarnation bzw. der Fleischwerdung oder Menschwerdung Christi44 – die Thomas Bernhard vermutlich spätestens aus der Zeit im katholischen Internat kannte –, dann lassen sich die Sentenzen des Malers Strauch in neuem Licht interpretieren: Man darf sich fragen, ob Strauchs Vaterunser auf eine subtile Art und Weise der Versuch einer Annäherung an religiöse Inhalte durch die Stilisierung derselben ist oder gar das diskrete Unternehmen, eine neue Theologie zu errichten? Diese Fragen sind m. E. negativ zu beantworten. Der Maler Strauch ist ein Dekonstrukteur, dessen kritisches Hinterfragen alles überprüft, zersetzt und, wie gezeigt wurde, eventuell neu zusammensetzt. Seine Triebkraft ist die der hyperchristlichen Revolte gegen jede religiös legitimierte Knechtschaft, denn trotz der im Roman spürbaren Überwindungs- und Ablösungsbewegungen ver41 42 43 44

Bernhard: Frost (Anm. 19), 201 (Hervorhebung im Original). Bernhard: Frost (Anm. 19), 222 (Hervorhebung im Original). Bernhard: Frost (Anm. 19), 7. Edmund Schlink: Schriften zu Ökumene und Bekenntnis. Bd. 2: Ökumenische Dogmatik. Göttingen 2003, besonders 276–288.

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schwindet das religiöse Referenzsystem nicht. ›Dekonstruieren‹ heißt allerdings nicht ›destruieren‹, und für Bernhards Geistesmenschen heißt es umso weniger, den christlichen Gott durch die Vernunft des Atheisten zu substituieren. Ganz im Gegenteil: Strauchs mitunter irritierendes Zersetzungsmanöver unterscheidet sich von einer bloßen Kritik dadurch, dass es auf selbstdekonstruktive Momente abzielt, die das Christentum selbst als Religion und Institution in sich birgt und mitschleppt. Nochmals: »›Die Gebetswelt, das sind Zustände, die alles falsch wiedergeben. Die alles zu nichts machen. Gerade die Gebetswelten!‹«45 Bedeutet die ›falsche Wiedergabe‹ etwa, die Transzendenz ins »Fleischliche« herunterzuziehen, also ins Messbare, Vergleichbare, Wägbare? Wenngleich eine interpretatorische Festlegung unmöglich scheint – geschuldet durch eine in Strauchs Monologen vorzufindende ›deutliche Undeutlichkeit‹ als kontrolliertes Offenlassen der Sachverhalte –, darf hier festgehalten werden: Weit überwiegend ist die rhetorische Geste der Außerkraftsetzung religiöser und dogmatischen Mächte und im Umkehrschluss der Entlarvung anti-religiöser und a-theistischer Züge im »Christentum [Christi]«46 als (Kirchen-)Religion. Texte können in unterschiedlicher Weise auf die jeweiligen Prätexte reagieren. Die Literaturtheoretikerin Renate Lachmann unterscheidet drei Modelle intertextuellen Schreibens: Partizipation schließt im Wiederholen und Erinnern der vergangenen Texte ein Konzept ihrer Nachahmung ein. ›Tropik‹ […] im Sinne des Tropus-Begriffs Harold Blooms als Wegwenden des Vorläufertextes, als Kampf, tragischer Kampf gegen die sich in den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte, als Versuch der Überbietung, Abwehr und Löschung der Spuren des Vorläufertextes; Transformation dagegen als eine über Distanz, Souveranität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt und durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt […]47

Man kann Bernhards ›hyperchristliches Gebet‹ als Beispiel für einen Text lesen, der in einem zugleich partizipativen, tropischen und transformativen Referenzmodus seine Bedeutung aufbaut, auch wenn es schwierig zu sagen ist, was Strauchs ›Gebet‹ bedeutet: Ein Wiederschreiben der Apostrophe, ein Widerschreiben der Negativierung und Relativierung und ein Umschreiben religiöser Energien – dies alles zeugt von der widerständigen Kreativität des literarischen Hyperchristen. 45 Thomas Bernhard: Frost (Anm. 19), 175. 46 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 6. München 1980, 197. 47 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, 39. An einer anderen Stelle (ebd., 38) bringt Lachmann die drei Modelle auf die anschauliche Formel: Partizipation als »Weiterschreiben und Wiederschreiben«, Tropik als »Widerschreiben« und Transformation als »Umschreiben«.

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Das Heilige und das Phantastische. Religionswissenschaftlicher Exotismus in der indienbezogenen Literatur Mircea Eliades

Bei der Rede über die Zusammenhänge zwischen Religion und Literatur erfolgt üblicherweise eine Konzentration vor allem auf literarische Formen in religiösen Texten oder auf religiöse Ausdrucksformen in literarischen Texten. Beide Themenbereiche stehen nicht ohne Grund im Fokus der Forschung, denn die mit ihnen bezeichneten Phänomene stellen das bei Weitem umfangreichste Korpus des Problembereichs »Religion und Literatur« dar. Der vorliegende Beitrag will jedoch den Blick auf eine weitere hier einzuordnende Art von Texten richten, die Einblicke geben in mit dem 19. und 20. Jahrhundert virulent werdende Zusammenhänge zwischen literarischem Schreiben und wissenschaftlicher Betrachtung von Religion. Auch Religionswissenschaft, so die im Gefolge von Writing Culture-Debatte und postkolonialen Studien gewonnene Einsicht, produziert nicht einfach quasi-objektives, »unschuldiges« Wissen, sondern ist sowohl verstrickt in unterschiedlichste kulturspezifische Machtdiskurse als auch selbst religionsproduktiv, sie nimmt Einfluss auf Diskurse in und über Religion(en). Solche Dynamiken hängen nicht zuletzt mit der Narrativität wissenschaftlichen Schreibens zusammen und lassen sich daher besonders wirksam erforschen in Verbindung mit literarischen Texten und literaturwissenschaftlichen Methoden.1 Eine solche Perspektive auf Religion und Literatur findet ein besonders fruchtbares Untersuchungsobjekt in den Texten Mircea Eliades. Mircea Eliade kommt unter den Religionswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts eine besondere Position zu. Er kann als einer der produktivsten Denker seiner Zeit gelten, dessen methodischer Ansatz und dessen Thesen wohl ebenso viel Lob wie Kritik unter WissenschaftlerInnen zahlreicher Disziplinen ausgelöst, aber auch eine große Popularität und Bekanntheit in weiten gesellschaftlichen Kreisen erreicht haben. Die bis heute äußerst wirkmächtige Auffassung Eliades von Religionsgeschichte als Geschichte von Hierophanien, also Ein1 Diese These liegt auch meinem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel »Religion erzählen. Eine metatheoretische Interpretation von Mircea Eliades religionswissenschaftlichem und literarischem Doppelwerk« zugrunde.

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brüchen des Sakralen ins Profane, und seine These und Ziel, die qua Einfühlung deutende Erschließung der religiösen Erfahrungen der Menschheit sei der Weg zu notwendigen neuen Deutungen der Wirklichkeit des modernen säkularisierten Menschen, macht eine erneute Betrachtung der in seinem Werk wirksamen Diskurse besonders aussichtsreich. Ein weiteres besonderes Merkmal von Eliades Schaffen stellt die Tatsache dar, dass er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Literat war. Neben bedeutenden religionswissenschaftlichen Monographien wie Das Heilige und das Profane oder Schamanismus und archaische Ekstasetechnik war er Autor zahlreicher publizistischer Texte und Autobiographien sowie Romane und Kurzgeschichten. Hierbei sind die inhaltlichen wie auch stilistischen und methodischen Querverbindungen innerhalb von Eliades Doppelwerk besonders aufschlussreich für seinen Erfolg unter Anhängern und Kritikern, vor allem aber für das Verständnis für Eliades Denken insgesamt. Eliade selbst hat mehrmals bemerkt, dass es zwischen literarischer Imagination und wissenschaftlicher Forschung einen epistemologischen Zusammenhang gebe: This means, however, that literature is, or can be, in its own way, an instrument of knowledge. Just as a new axiom reveals a previously unknown structure of the real (that is, it founds a new world), so also any creation of the literary imagination reveals a new universe on meanings and values. Obviously, these new meanings and values endorse one or more of the infinite possibilities open to one for being in the world, that is for existing. And literature constitutes an instrument of knowledge because the literary imagination reveals unknown dimensions or aspects of the human condition.2

Eine nähere Betrachtung der Korrespondenzen zwischen Eliades religionswissenschaftlichen Thesen zum Verhältnis zwischen dem Heiligen und dem Profanen und seinen literarischen Texten besonders der Phantastik soll im Folgenden skizziert werden, um die erkenntnisfördernden Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von dessen bis heute ungemein diskursprägender Sicht auf Religion beispielhaft auszuloten. Die Befragung auf einen möglichen Exotismus in diesem und anderen Texten Eliades hin kann nur exemplarisch für einen von vielen relevanten Diskursen in dessen Werk stehen. Es bietet sich hierfür in besonderer Weise an, Eliades indienbezogene Texte als Korpus auszuwählen, da indische Kulturen und Religionen für sein Leben und Werk eine zentrale Rolle spielten und seine Thesen hierzu sich gerade auch in den phantastischen Texten stark niedergeschlagen haben.

2 Mircea Eliade: Literary Imagination and Religious Structure. In: David Carrasco u. Jane Marie Swanberg (Hg.): »Waiting for the Dawn«. Mircea Eliade in Perspective. London 1985, 17–24, hier 20.

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Eliade und Indien: Problemaufriss Mircea Eliade wurde 1907 in Bukarest geboren und studierte dort ab 1925 Philosophie.3 1928 ging er nach Indien, um bei dem in indischen Universitäten und in Cambridge ausgebildeten Philosophen Surendranath Dasgupta (1885–1952) an der Universität von Kalkutta Sanskrit und indische Philosophie zu studieren. Er verbrachte daran anschließend einige Zeit in einem Ashram bei Rishikesh, wo er unter der Anleitung von Swami Shivananda Yoga praktizierte. Während seiner Zeit in Indien schrieb er Reiseberichte und journalistische wie auch wissenschaftliche Abhandlungen für rumänische Zeitschriften sowie zwei Romane (Isabelle und die Wasser des Teufels, fertiggestellt 1929, und Der besessene Bibliothekar), vor allem aber arbeitete er an seiner Dissertation über Yoga. 1931 kehrte Eliade nach Rumänien zurück, beendete seine in Indien begonnene Dissertation, die er 1936 auf Französisch publizierte,4 veröffentlichte zahlreiche publizistische und literarische Texte und wurde zur Hauptfigur der Intellektuellen seiner Generation in Rumänien. 1933 veröffentlichte er seinen autobiographischen Roman Das Mädchen Maitreyi über seine geheime Liebesbeziehung mit der Tochter seines indischen Lehrers Dasgupta. Dieser Roman, wie auch der »indirekte Roman« S¸antier und der philosophische Band Soliloquii, alle Anfang der 30er-Jahre in Rumänien veröffentlicht, bestehen zu unterschiedlich großen Teilen aus Eliades persönlichen Tagebucheinträgen aus seiner Indienperiode. Es wird hier besonders deutlich, wie intensiv sich Eliade schon direkt nach seinem Indienaufenthalt in allen Gattungen mit diesem für ihn fortan zentralen Thema der Auseinandersetzung mit indischen religiösen Traditionen beschäftigte und wie sehr er aus seinen persönlichen Erlebnissen und Reflexionen in diesem Zusammenhang schöpfte. Der Indienaufenthalt erlangte eine für Leben und Schaffen Eliades zweifelsohne herausragende Bedeutung. Er sprach diesem selbst eine wichtige Funktion in seiner Biographie und seinem Denken zu und widmete sich dem Thema in seinen Schriften immer wieder. Oftmals deutete Eliade seinen Indienaufenthalt rückblickend gar als persönliche Initiationsreise. In einem Interview mit Claude-Henri Rocquet 1977 resümierte Eliade die »drei Lektionen Indiens«5, die 3 Zu den biographischen Daten und Zusammenhängen siehe v. a. Mac Linscot Ricketts: Mircea Eliade. The Romanian Roots, 1907–1945. New York 1988, sowie Florin Turcanu: Mircea Eliade. Der Philosoph des Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte: eine Biographie. Schnellroda 2006. 4 Mircea Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit. Frankfurt a. M./Leipzig 2004 (Originalausgabe: Yoga. Essai sur les origines de la mystique indienne. Paris/Bukarest 1936. Die auch ins Englische und Deutsche übersetzte Fassung unter dem Titel Le Yoga. Immortalit¦ et libert¦. Paris 1954 ist stark überarbeitet.). 5 Vgl. Mircea Eliade: Die Prüfung des Labyrinths. Gespräche mit Claude-Henri Rocquet. Frankfurt a. M. 1987, 64–72.

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für sein weiteres Werk prägend wurden. Die erste dieser Lektionen war seine Entdeckung des Yoga und Tantra mit ihren psychophysiologischen Techniken, die er als Methoden zur Beherrschung und Verwandlung der Welt interpretierte und die grundlegend für seine Theorie der Dialektik von Heiligem und Profanem wurden. Die zweite Lektion war die der zentralen Bedeutung des Symbols, die auch seine Sicht auf die christlich-orthodoxe Ikonenverehrung, die er aus seiner rumänischen Heimat kannte, grundsätzlich veränderte. Die dritte Lektion nennt Eliade selbst die »Entdeckung des neolithischen Menschen«6. Sie kann als Beginn seines Interesses an (auch südosteuropäischer) Folklore und bäuerlicher Kultur und Religiosität gelten, das den Grundstein für Eliades spätere Theorie einer ›archaischen Ontologie‹ bildet. Auffällig ist, wie stark Eliades frühe Überlegungen zum Phänomen Religion sowie zur Frage der Möglichkeiten, wie Religion und Religionen verstanden werden können, mit der Auseinandersetzung mit Indien verknüpft sind. Die dabei entstehenden Thesen wurden für sein eigenes wissenschaftliches Werk und infolgedessen für die (in besonderem Ausmaß nordamerikanische) Religionswissenschaft und für weite Teile einer populären Auffassung von Religion außerordentlich prägend. Die literarische Verarbeitung und Umsetzung dieser Auseinandersetzung mit dem Erforschen von Religion als einer Form von Fremdverstehen in der Abarbeitung mit Indien kann nun weiteren Aufschluss geben über die konkrete Form der Wissensproduktion, die hier wirksam wurde. Gleichzeitig bietet sich hiermit ein Paradefall für die Betrachtung von Problembereichen, die in der europäischen Wissensproduktion über außereuropäische Kulturen und Religionen gerade im 19. und 20. Jahrhundert außerordentlich wirkmächtig waren und bis heute nachwirken. Dies sind vor allem Diskurse und Praktiken, die mit den Begriffen Kolonialismus, Orientalismus, Exotismus und Postkolonialismus umrissen werden können. An Eliades Literatur und Religionswissenschaft kann exemplarisch untersucht werden, wie diese Diskurse und Praktiken an der Entstehung bedeutender und populärer Redeweisen über Religion mitgewirkt haben.

Nächte in Serampore: Lektüre Eliades Novelle Nächte in Serampore ist ein besonders eindrückliches Beispiel für die Verflechtungen zwischen autobiographischen Erlebnissen, erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Überlegungen und literarischer Imagination. 1940 veröffentlicht, also zehn Jahre nach Eliades Indienaufenthalt, steht die Novelle doch in engem Zusammenhang mit diesem, da sie in Indien, 6 Eliade: Die Prüfung des Labyrinths (Anm. 5), 66.

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genauer in Serampore bei Kalkutta (heute Kolkata), spielt und eine literarische Verarbeitung seines Interesses an und seiner Erfahrungen mit Yoga und Tantra ist. Im Folgenden soll eine Lesart des Textes entwickelt werden, die erstens dessen Zugehörigkeit zur Phantastik aufzeigt und darin die Verflechtungen mit Eliades Religionswissenschaft sichtbar macht und die zweitens die spezifische Verhandlung der Themenkomplexe Eigen- und Fremdverstehen fokussiert. Die Handlung der Erzählung lässt sich grob folgendermaßen zusammenfassen: Die drei Hauptfiguren, alle Orientalisten, sind der Russe Bogdanof, der holländische Bibliothekar Van Manen und der Erzähler, ein osteuropäischer Student. Sie haben sich in Kalkutta kennengelernt und sind Freunde geworden und verbringen nun einige Wochenenden außerhalb der Stadt in Serampore in einem Bungalow eines Freundes Van Manens. Nach einer mysteriösen Begegnung mit dem indischen Universitätsprofessor Suren Bose, der keinerlei Verbindung mit diesem Ort hat und selbst auch verneint, dort gewesen zu sein, machen die drei Freunde eines Nachts während der Heimreise nach Kalkutta eine weitere unerklärliche Erfahrung. Die Umgebung kommt ihnen plötzlich unbekannt vor und zudem hören sie den Hilferuf einer Frau aus dem Wald. Sie entschließen sich, aus dem Auto auszusteigen und die Frau zu suchen. Währenddessen verschwindet das Auto samt Chauffeur und sie geraten immer tiefer in den Wald, wo sie auf das Haus eines Mannes namens Nilamvara Dasa stoßen, der ein veraltetes Bengalisch spricht und berichtet, dass eine Frau namens Lila entführt worden sei. Sie verlassen das Haus und wollen zu Fuß zum Bungalow zurückkehren, werden unterwegs jedoch von einer starken Müdigkeit überfallen und erwachen am nächsten Morgen ganz in der Nähe ihrer Unterkunft. Die Bediensteten versichern, der Wagen hätte die ganze Nacht das Gelände nicht verlassen, und das Haus, in dem sie in der Nacht gewesen sind, ist nicht mehr aufzufinden. Gemeinsam mit Budge, dem Besitzer des Bungalows, versuchen sie, die geheimnisvolle Begebenheit aufzuklären. Hierbei erfahren sie, dass Nilamvara Dasa tatsächlich in dieser Gegend gewohnt habe und seine Gattin entführt und ermordet worden sei, jedoch sei dies bereits vor 150 Jahren geschehen. Alle Beteiligten entschließen sich, nie wieder nach Serampore zurückzukehren und auch mit niemandem über den Vorfall zu sprechen, vor allem nicht mit Suren Bose, dessen Tantra-Ritualen sie diese Begebenheit als »Blendwerk«7 zuschreiben. Der Erzähler verlässt Kalkutta und geht in ein Kloster im Himalaya, wo ihm der tantrakundige Swami Shivananda die rätselhafte Begebenheit mit dem illusionären Charakter der linearen Zeit auf der Grundlage der Lehre der m–y– erklärt:

7 Mircea Eliade: Nächte in Serampore. Frankfurt a. M. 1985, 69.

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»Ihre Schlußfolgerung ist falsch, weil Sie den Geschehnissen, ob es sich nun um vergangene, gegenwärtige oder zukünftige handelt, eine gewisse Wirklichkeit zugestehen. Dabei ist nichts, was in unserer Welt geschieht, wirklich, mein Freund. Alles, was in diesem Kosmos vor sich geht, ist illusorisch. Lilas Tod und die Trauer ihres Gatten, auch die Begegnung zwischen Ihnen, der Sie lebendig sind, und den Schatten der Toten, all dies ist nur Illusion. Und in einer Welt des Scheinbaren, in der kein Ding und kein Geschehen von Bestand ist – in dieser Welt des Scheinbaren kann jeder sich zum Herrn über gewisse Kräfte machen, die ihr okkult nennt, und kann tun, was er will. Natürlich kann auch er nicht etwas Wirkliches schaffen, sondern nur ein Spiel des Scheinbaren.«8

Die Erzählung endet damit, dass der Swami dem Erzähler durch eine erneute Erfahrung in der Dimension Nilamvara Dasas seine Erklärung demonstriert, die dieser nicht vollends rational nachvollziehen konnte. Die in Eliades religionswissenschaftlicher Theoriebildung zentrale Kategorie des Heiligen, das sich im Profanen manifestiere und konstitutiv für das Generieren von Sinn und Bedeutung sei, weist auffällige Parallelen in Wirkungsweise und Funktion zum Element des Phantastischen in vielen seiner literarischen Texte auf. Dies wird auch in der Novelle Nächte in Serampore besonders gut sichtbar im Lichte von Roger Caillois’ Bestimmung des Phantastischen.9 Callois definiert das Phantastische als »Riß in dem universellen Zusammenhang«10, wodurch diesem seine Grundlage in einem dialektischen Verhältnis von Norm und Abnormem gegeben wird.11 In deutlicher Analogie zu Eliades Bestimmung des Verhältnisses von Heiligem und Profanem und in dessen Versuch, das Sakrale in einer entsakralisierten Welt immer wieder aufzudecken, verweist auch Caillois auf den subversiven Charakter des Phantastischen, das nur in einem Umfeld entstehen könne, das seine Welt als sicher, begrenzt und rational erklärbar versteht.12 Das Phantastische, wie es Caillois versteht, bildet keine abgeschlossene Welt, die eigenen, von der »Realität«13 abweichenden Regeln folgt, sondern eine Wirklichkeit, die mit der vertrauten kollidiert und sie so in Unordnung bringt.14

8 Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 80f. 9 Vgl. Roger Caillois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Rein A. Zondergeld (Hg.): Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1974, 44–83. 10 Caillois: Das Bild des Phantastischen (Anm. 9), 46. 11 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Phantastische Literatur. Ein denkwürdiger Problemfall. In: Neohelicon 2 (1995), 53–116, hier 71. 12 Vgl. Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 74. 13 Der Terminus »Realität«, der oft als Gegenbegriff zum Phantastischen vorgebracht wird, birgt einige epistemologische Schwierigkeiten, da er die Frage danach aufwirft, was denn Realität eigentlich sei. Monika Schmitz-Emans diskutiert dieses Problem ausführlich in: Phantastische Literatur (Anm. 11), 62–69. 14 Vgl. Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 71.

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Das Phantastische setzt die Festigkeit der realen Welt voraus, aber nur, um sie besser angreifen zu können. Wenn dieser Augenblick gekommen ist, erscheint entgegen jeder Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, auf der normalsten Wand, wie einst beim Herrscher von Babylon die Flammenschrift. Dann geraten die anerkanntesten Gewißheiten ins Wanken, und das Grauen nistet sich ein. Zum Wesen der Phantastik gehört die Erscheinung: was nicht eintreten kann und trotzdem eintritt, zu einer ganz bestimmten Zeit, an einem ganz bestimmten Ort, im Herzen einer bis ins kleinste Detail festgelegten Welt, aus der man das Geheimnisvolle für immer verbannt hatte.15

Eliade selbst bemerkt, dass er seine phantastischen Geschichten nach einem solchen Prinzip eines Einbrechens einer anderen Dimension der Wirklichkeit in das Alltägliche konzipiert: Wie immer in meinen phantastischen Geschichten begann alles in einer alltäglichen, banalen Welt. Eine Figur, eine Geste, und nach und nach verwandelt sich dieses Universum. […] In meinen Novellen versuche ich immer, das Phantastische im Alltäglichen zu verbergen.16

Wie Eliades Heiliges, das sich nur im Profanen offenbaren kann und nur in Abgrenzung von diesem erkannt wird, benötigt auch das Phantastische nach Caillois das Normale, die Ordnung, um als Unordnung und Störung wahrgenommen zu werden, die fruchtbar für neue Bedeutungskonstitutionen werden kann, wie Eliade sie im Sinne einer ›archaischen Ontologie‹ fordert. Neben dem Einbruch unerklärlicher, von den Figuren als magisch empfundener Geschehnisse in den alltäglichen Lauf der Dinge trägt noch ein weiteres gestalterisches Element zu einem solchen Effekt bei. Wie in vielen seiner anderen phantastischen Geschichten spielt Eliade in diesem Text mit dem Vermischen von Fakten und Fiktion, besonders in Bezug auf autobiographische Elemente, die er in die Texte einbaut und so eine zusätzliche Verwirrung auf der Rezeptionsebene stiftet. In Nächte in Serampore beispielsweise tauchen mit Van Manen, Bogdanof und Swami Shivananda Figuren auf, die Personen entsprechen, die Eliade tatsächlich in Indien kennengelernt hat.17 Im Gespräch mit Rocquet erläutert er wiederum, wie er die Verwirrung zwischen Fakten und Fiktionen bewirkt und die Nachprüfbarkeit der geschilderten phantastischen Gegebenheiten verhindert, um ihre Wirklichkeit möglichst offen zu halten: Aber gleichzeitig habe ich unrichtige Dinge hinzugefügt, gerade um die realen Gegebenheiten zu verschleiern. Zum Beispiel ist von einem Wald in Serampore die Rede; doch in Serampore gibt es keinen Wald. Wenn also jemand die Geschichte der Novelle in concreto verifizieren wollte, würde er sehen, daß der Autor keine Reportage ge15 Caillois: Das Bild des Phantastischen (Anm. 9), 50. 16 Eliade: Die Prüfung des Labyrinths (Anm. 5), 195 u. 201. 17 Vgl. Ricketts: The Romanian Roots (Anm. 3), Bd. 1, 356ff.

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schrieben hat, da die Landschaft erfunden ist. Er könnte also zu dem Schluß kommen, daß auch alles übrige imaginär, erfunden ist, was nicht stimmt.18

Tzvetan Todorov macht in seiner Bestimmung des Phantastischen ein weiteres Kernelement desselben in der Unschlüssigkeit der Figur bzw. des Lesers/der Leserin aus und bestimmt somit das Phantastische in der Literatur über einen Reflexionsprozess während der Lektüre.19 Diese Unschlüssigkeit angesichts eines zunächst unerklärlichen Ereignisses beruht nach Todorov auf einem Glauben an die Wirksamkeit bestimmter (naturwissenschaftlicher) Gesetze, nach denen die Welt funktioniere, die dann aber durch das Ereignis infrage gestellt werden, da es in einer Diskrepanz zu diesen steht, und schließlich kommt es zu einem Reflexionsprozess, der Regel und Ausnahme wieder vereinbar machen soll.20 Dieser letzte Schritt kann in zwei verschiedene Richtungen getan werden: Entweder durch eine Einordnung des verstörenden Einzelfalls in die zuvor vorausgesetzten Gesetzmäßigkeiten, beispielsweise durch eine Erklärung als Täuschung oder Traum, oder durch eine Ergänzung der Weltsicht durch neue Regeln und Gesetze.21 Das Phantastische nun – so Todorov – setze auf diesen Effekt einer versuchten »Repatriierung« des Unbegreiflichen ins Begreifliche, aber es setze genau dort an, wo sie nicht überzeugend gelinge, wo die beruhigende Verlagerung der ›Störung‹ in die wahrnehmende Instanz selbst nicht eindeutig möglich sei.22 Die Komponente des Reflexionsprozesses als Teil der Lektüre phantastischer Literatur entspricht dem, was Eliade als das Potenzial dieses Genres erkennt: die Freude am Sinn.23 Ein solcher Reflexionsprozess als Reaktion auf den Einbruch des Abweichenden ist auch in Eliades Nächte in Serampore nachzuvollziehen. Zunächst versuchen der Erzähler, Bogdanof und Van Manen während der Geschehnisse, die immer wieder eine beunruhigende Diskrepanz zur alltäglichen, regelhaften Normalität aufweisen, diese rational zu erklären. Es kommt hierbei wiederholt zu dem von Todorov beschriebenen Abgleich der Ausnahmesituation mit dem Regelhaften, wenn zum Beispiel das Verschwinden des Autos der Illoyalität des Chauffeurs zugeschrieben wird: 18 Eliade: Die Prüfung des Labyrinths (Anm. 5), 57. Hervorhebung im Original. 19 Vgl. Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 76 bzw. 81. Freilich ist es nicht unproblematisch, das Phantastische über einen beim Leser ausgelösten Effekt zu definieren: »Und wie soll im letzteren Fall ein Text garantieren können, daß der Leser Unschlüssigkeit empfindet, daß ihm die geschilderten Ereignisse zweideutig erscheinen? Ist das Zweideutigerscheinen-Lassen von Ereignissen eine verifizierbare Qualität einer bestimmten Gattung von Texten?« (Ebd., 77.) 20 Vgl. Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 79. 21 Vgl. Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 79. 22 Schmitz-Emans: Phantastische Literatur (Anm. 11), 78. 23 Vgl. Eliade: Die Prüfung des Labyrinths (Anm. 5), 201f.

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»Vielleicht ist er nach uns ausgestiegen, weil ihm die Zeit zu lang wurde, und sucht uns jetzt!« sagte ich, als er immer noch nicht antwortete. »Aber wo ist denn das Auto?« fragte Bogdanof, dem vor Schreck die Spucke wegzubleiben schien. »Er wird uns doch hoffentlich nicht einfach mitten im Dschungel im Stich lassen!« »Er konnte gar nicht abfahren«, beruhigte ihn Van Manen. »Wir hätten den Motor ja hören müssen, wir waren doch immer ganz in der Nähe. Wahrscheinlich ist er im Auto eingeschlafen … ja, das wird es sein …« Wir schlugen nun die Richtung ein, in der wir das Auto zu finden hofften. […] »Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß er fort ist!« flüsterte Bogdanof. »Man müßte ihn niederknallen …«24

Diese Versuche rationaler Erklärungen können jedoch auch in Form von Erklärungen des Unbegreiflichen als Sinnestäuschungen oder Ähnlichem auftreten. So ist beispielsweise die Reaktion Bogdanofs während der vergeblichen Suche nach der Frau, deren Hilferuf sie aus dem Wald gehört hatten, diese: »Wir wollen umkehren«, sagte Bogdanof und legte die Hand an die Stirn. »Ich fange an zu glauben, daß wir alle drei einer Halluzination unterlegen sind.«25 Und auch der Protagonist muss ihm trotz Zweifeln an dieser Theorie zustimmen: »Aber ich fühlte, er habe recht, und wir kehrten zur Chaussee zurück.«26 Das Schwanken zwischen beiden Möglichkeiten der Erklärung des Unerklärlichen bleibt bis zu jenem Zeitpunkt bestehen, an dem sich der Erzähler Swami Shivananda anvertraut. Der Erzähler, der deutlich der Variante einer Erweiterung seines Verständnisses von Wirklichkeit zuneigt, benötigt die Perspektive der ihm fremden religiösen Tradition, um das Erlebte tatsächlich in eine neue, korrigierte Weltsicht zu integrieren, die wiederum konsistent sein kann. Dieser Aspekt des Phantastischen, wie ihn Todorov analysiert, verweist auf eine kulturelle Funktion von Literatur, wie sie Hubert Zapf in seiner theoretischen Konzeption von Literatur als kultureller Ökologie beschreibt.27 In dieser Hinsicht fungiert Nächte in Serampore durch ein »Aufeinanderbeziehen des Ausgegrenzten und des kulturellen Realitätssystems als reintegrativer Interdiskurs«.28 Hier wird in einem konflikthaften Prozess das kulturell Marginalisierte von den Peripherien des gesellschaftlichen Diskurses mit seinem dominanten Zentrum konfrontiert, um oftmals regenerierend zu wirken und neue Kreativität zu ermöglichen.29 Die keineswegs harmonische, da als verstörend und beängstigend empfundene Konfrontation der Wirklichkeitsverständnisse in Eliades Novelle Nächte in Serampore, wie sie anhand von Tzvetan Todorovs Annäherung Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 36. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 35. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 35. Vgl. Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. 28 Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie (Anm. 27), 66. Hervorhebung im Original. 29 Vgl. Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie (Anm. 27), 65f. 24 25 26 27

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an das Phantastische nachvollzogen wurde, kann erst im Dialog des Erzählers mit dem Swami in eine neue Balance gebracht werden, auch wenn die damit einhergehende erneute Erfahrung des Durchbrechens der Zeitdimensionen wiederum mit Angst verbunden ist. In der Ergänzung mit Eliades in seinen wissenschaftlichen Texten vertretener These von einer neuen Freiheit und Kreativität durch eine Rückkehr des homo historicus zu einem der archaischen Ontologie eigenen Weltbild und Zeitverständnis erscheint der von Zapf ökologisch genannte Effekt des reintegrativen Interdiskurses noch einmal deutlicher. Eliades extrem wirkmächtige, seit Längerem jedoch fast einhellig aus religionswissenschaftlichen Kreisen stark kritisierte und abgelehnte Konzeption der eigenen Disziplin muss gleichzeitig als wesentlicher Faktor verstanden werden für die große Popularität seiner Werke. Seine Vision für die Religionswissenschaft besteht darin, dass sie erstens als eine Art ›Arche Noah‹ die religiösen Erfahrungen der Menschheitsgeschichte archivieren und zweitens durch seinen eigenen Ansatz einer ›kreativen Hermeneutik‹ die religiöse Kreativität des modernen, areligiösen Menschen anregen30 und als eine Art Mäeutik einer neuen Spiritualität dienen solle.31 Gleichzeitig solle sie eine Art Orientierungsfunktion übernehmen,32 ohne jedoch »konkrete Vorschläge zur religiösen Orientierung«33 zu machen. Im Vergleich zu und in Orientierung an literaturwissenschaftlichen Methoden betont Eliade die Ergänzung einer historischen Erforschung des Gegenstandes durch die Konzentration auf den ›Sinn‹ desselben,34 wobei er »in erster Linie die Kreativität des menschlichen Geistes zu erfassen sucht, die bei der Konzentration auf den historischen Kontext übersehen oder zumindest unterschätzt werden kann«.35 Es geht ihm also weniger darum, historische Erklärungen zu geben, als vielmehr um das Finden von 30 Paul Bari¦: Mircea Eliade: das Heilige im Profanen. Oder : wie real ist die Realität? Annweiler am Trifels 2002, 55. 31 Vgl. Mircea Eliade: Ewige Bilder und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik. Frankfurt a. M./Leipzig 1998 (Originalausgabe: Images et symboles. Essais sur le symbolisme magico-religieux. Paris 1952), 39: »Ebenso richtig wäre es, von einer neuen Mäeutik zu sprechen; so wie Sokrates […] der Geistesfrucht des Gedankenlebens, ohne es zu wissen, Geburtshilfe leistete, so könnte auch der Religionshistoriker die zur Entbindung eines neuen, authentischeren und vollkommeneren Menschen nötige Geburtshilfe leisten; denn über das Studium religiöser Überlieferungen fände der moderne Mensch nicht nur ein archaisches Verhalten wieder, er gewänne auch Bewußtsein von der geistigen Fülle, die ein solches Verhalten einschließt.« 32 Vgl. Ulrich Berner: Mircea Eliade (1907–1986). In: Axel Michaels (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. München 1997, 342–353, hier 349f. 33 Berner : Mircea Eliade (Anm. 32), 350. 34 Vgl. Mircea Eliade: A New Humanism. In: ders.: The Quest. History and Meaning in Religion. Chicago/London 1969, 1–11, hier 4f. 35 Berner : Mircea Eliade (Anm. 32), 349.

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transhistorischen Bedeutungen.36 Aus der Interpretation von Symbolen, Riten und Mythen ›primitiver‹ Gemeinschaften rekonstruiert Eliade eine archaische Metaphysik und Kosmologie, in deren Zentrum er die Kategorien Teilhabe (am Heiligen) und Wiederholung (des mythisch Ursprünglichen) ausmacht.37 Der Begriff ›Archaik‹ steht in Eliades Werk jedoch nicht nur für eine (nicht konkret abgegrenzte) Episode der Menschheitsgeschichte, sondern stellt zudem ein »ontologisches Gegenüber zur ›Moderne‹« dar.38 Der archaische Mensch mit seinem zyklischen Geschichtsverständnis und seiner festen Ausrichtung an mythischen Urbildern (Archetypen)39 stellt hierbei vor allem einen Idealtypus dar, der als homo religiosus dem modernen Menschen und seiner Linearität, dem homo historicus, gegenübergestellt wird.40 Hierbei wird die Archaik als positives, beispielhaftes Gegenmodell zur Moderne entworfen und der Übergang von der einen zur anderen Seinsweise als ›Fall in die Geschichte‹ interpretiert. Der moderne Mensch befindet sich in einem defizitären Status der Orientierungslosigkeit durch den Verlust des Rückbezugs auf ein sinnstiftendes Vorbild in einer mythischen Urzeit (in illo tempore).41 Den Sinnverlust des modernen Menschen, den Eliade beschreibt, macht er als Resultat seines Geschichtsverständnisses aus: Der homo historicus sieht sich selbst als Subjekt und Agens der linearen Geschichte.42 Der homo religiosus hingegen erkennt sich als Teil einer Welt, die durch den Einbruch des Heiligen immer wieder transzendiert wird, und orientiert sich an der Ordnung einer zyklisch verlaufenden Geschichte.43 Die durch die neue, moderne Seinsweise des Menschen verursachte Orientie36 Vgl. Douglas Allen: Eliade and History. In: The Journal of Religion 4 (1988), 545–565, hier 554. 37 Vgl. Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt a.M. 2007 (Originalausgabe: Mythe de l’¦ternel retour. Arch¦types et r¦p¦tition. Paris 1949), 19ff. 38 Vgl. Kurt Rudolph: Eliade und die ›Religionsgeschichte‹. In: Hans Peter Duerr (Hg.): Die Mitte der Welt. Aufsätze zur Mircea Eliade. Frankfurt a. M. 1984, 49–78, hier 66. 39 Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Kosmos und Geschichte erläutert Eliade seine Verwendung des Begriffs ›Archetypus‹. Er grenzt diese von der tiefenpsychologischen C. G. Jungs ab und stellt sich in die Tradition von Eugenio d’Ors und Augustinus. Vgl. Eliade: Kosmos und Geschichte (Anm. 37), 16. Er erläutert: »Im Verlauf des Buches habe ich die Begriffe ›Beispielhafte Vorbilder‹, ›Paradigmata‹ und ›Archetypen‹ verwandt, um eine bestimmte Tatsache zu betonen, nämlich daß der Mensch der traditionsgebundenen und archaischen Gesellschaften glaubte, die Vorbilder für seine Institutionen und die Normen für die zahlreichen Kategorien seines Verhaltens seien zu Beginn der Zeiten ›offenbart‹ worden, und daß sie infolgedessen für ihn einen übermenschlichen und ›transzendenten‹ Ursprung hatten.« (Ebd., 15.) Demnach ist Eliades Begriff des Archetypus ebenso von dem Max Webers abzugrenzen, bei dem es sich um eine heuristische Kategorie der Geschichtswissenschaften handelt. 40 Vgl. Rudolph: Eliade und die ›Religionsgeschichte‹ (Anm. 38), 66. 41 Vgl. Rudolph: Eliade und die ›Religionsgeschichte‹ (Anm. 38), 66. 42 Vgl. Berner : Mircea Eliade (Anm. 32), 346. 43 Vgl. Berner : Mircea Eliade (Anm. 32), 346.

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rungslosigkeit in den als kontingent erfahrenen, leidvollen geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen beschreibt Eliade als ›Schrecken der Geschichte‹ und sieht es als Aufgabe der Religionswissenschaft, mithilfe seiner kreativen Hermeneutik den Reichtum des homo religiosus für den modernen Menschen entdeckbar zu machen.44 Wie Guilford Dudley nachweist, ist dieses Konzept des homo religiosus und des Zugangs zum Heiligen im Profanen und Eliades Präferenz für eine solche archaische Ontologie auf seine intensive Beschäftigung mit dem indischen Yoga zurückzuführen und konzeptionell hiervon abhängig: Throughout this study I have alluded to the special role Eliade gives to Oriental religions, particularly yoga, in illustrating the archaic ontology. In nearly all of his books, illustrations drawn from Indian thought are used to drive home the philosophical distinctions implicit in archaic myth and ritual.45

Die von Hubert Zapf hervorgehobene kulturelle Funktion von Literatur, wie sie hier auch für Eliades Novelle nachvollzogen wurde, begreift dieser als ›ökologisch‹ in einem aus dem engen biologisch-naturwissenschaftlichen Kontext herausgelösten Sinn.46 Es werden vielmehr ökologische Prinzipien auf Kultur und Gesellschaft übertragen und die Funktion von Literatur beispielsweise als regenerativ, Vielfalt fördernd und das Schwächere gegenüber dem Mächtigen bevorzugend betont.47 Die Intention einer solchen Funktion kann sowohl den literarischen als auch den religionswissenschaftlichen Texten Eliades zugeschrieben werden: But more is involved than a widening of the horizon, a quantitative, static increase in our »knowledge of man,« it is the meeting with the »others« – with human beings belonging to various types of archaic and exotic societies – that is culturally stimulating and fertile. It is the personal experience of this unique hermeneutics that is creative […].48

Die Vermittlung zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹, die Eliade als Aufgabe der Religionswissenschaft proklamiert und die in ähnlicher Weise seinen literarischen Texten mit Indienbezug zukommt, ist in Zapfs Sinne eine ›ökologische‹.

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Vgl. Berner : Mircea Eliade (Anm. 32), 347. Guilford Dudley : Religion on Trial. Mircea Eliade & his Critics. Philadelphia 1977, 105. Vgl. Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie (Anm. 27), 21. Vgl. Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie (Anm. 27), 25f. Eliade: A New Humanism (Anm. 34), 2 bzw. 3.

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Religionswissenschaftlicher Exotismus? In der persönlichen wie in der wissenschaftlichen und literarischen Auseinandersetzung mit indischen Kulturen und Religionen entsteht und spiegelt sich, wie anhand der Novelle exemplarisch gezeigt werden konnte, Eliades spezifische Art der Wissensproduktion über das religiöse Andere und daraus gewissermaßen abgeleitet über Religion überhaupt. Sie kann verstanden werden als Bestreben, aus einer europäisch-christlichen, als säkularisiert empfundenen Perspektive heraus das kulturell und religiös Fremde mit dem Eigenen zu konfrontieren und aus einem Dialog und einem Sich-Einlassen heraus Impulse für die eigene Kultur zu geben. Aus einer solchen Lesart von Eliades Literatur und Religionswissenschaft, in der das kulturell Fremde, als mystisch oder gar magisch wahrgenommene Element der mit europäischen Augen betrachteten indischen Traditionen, als prototypisch für die dem säkularisierten ›westlichen‹ Menschen verloren gegangene Dimension der Wirklichkeit erscheint, legt sich nun ein Verdacht nahe. Hat Eliade neben den produktiven, erkenntnisfördernden Aspekten literarischen Schreibens auch den besonders für eine Kulturwissenschaft, wie die Religionswissenschaft es heute ist, berechtigterweise in starken Verruf geratenen Exotismus der europäischen Avantgarden übernommen? Mithilfe einer narratologisch ausgerichteten Textanalyse und den Thesen einer aktuellen, postkolonial informierten literaturwissenschaftlichen Exotismusforschung können Hinweise darüber gewonnen werden, inwiefern Methodik und Ergebnisse von Fremdverstehen gerade auch in Bezug auf Religion als Phänomene ihrer Zeit verstanden werden können und was genau an ihnen problematisch ist, was aber auch innovativ und produktiv bleibt.49 Michael Mayer bestimmt in seiner Studie »Tropen gibt es nicht.« Dekonstruktionen des Exotismus den literarischen Exotismus als »Texte zu Beginn des 20. Jahrhunderts […], die nicht nur andere, außereuropäische Kulturen darstellen und thematisieren, sondern immer auch ihre eigene Perspektive auf diese und – allgemeiner noch – die Darstellungsmöglichkeit außereuropäischer Kulturen in europäischen Texten selbst hinterfragen«.50 Aus einer eurozentrischen Perspektive heraus werden in diesen Texten die Diskurse der Fremdheit, des Primitivismus und Sozialdarwinismus aufgerufen, jedoch, im Gegensatz zur Kolonialliteratur, nicht als einfache Reproduktion derselben, sondern immer schon in einem problematisierenden Abstand zu denselben hinterfragt. Somit lassen sich die Texte zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus verorten. 49 Im Rahmen meiner Dissertation wird der Aspekt des Fremdverstehens vor allem in einer kritischen Betrachtung der Religionsphänomenologie und ihrem problematischen Erbe aus der philosophischen Phänomenologie heraus betrachtet werden. Dieser Aspekt soll an dieser Stelle jedoch keine explizite Rolle spielen. 50 Michael Mayer: »Tropen gibt es nicht.« Dekonstruktionen des Exotismus. Bielefeld 2010, 12.

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In Eliades Novelle Nächte in Serampore, wie auch in seinen anderen indienbezogenen Texten, lässt sich eine in diesem Sinne exotistische Sprechweise am deutlichsten an den Textstellen nachvollziehen, in denen die drei europäischen Hauptfiguren mögliche Erklärungen für die phantastische Begebenheit debattieren. Eine nähere Betrachtung der zentralen Figuren in Eliades Novelle sowie des Settings zeigen, dass das gesellschaftliche Bezugssystem, das hier gewählt wurde, das einer orientalistischen Indienbegeisterung ist, wie sie typisch für Europa auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist, wo die Geschichte situiert ist. Auch Wolfgang Geiger charakterisiert Nächte in Serampore in diesem Sinne als »eine Parabel der Suche des europäischen Wissenschaftlers nach dem Verständnis des fremden Denkens«.51 Die drei Hauptfiguren der Erzählung sind idealtypische Vertreter unterschiedlicher Beziehungen europäischer Wissenschaftler zu Indien in dieser Zeit.52 Bogdanof ist orthodoxer Christ53 und bezieht eine mystische Dimension der Wirklichkeit in sein Weltbild mit ein, verbindet dieses jedoch mit moralischen Kategorien und beurteilt den Vorfall in Serampore wie auch Tantra allgemein als dämonisch.54 Van Manen lebt seit vielen Jahrzehnten in Indien, von dem er fasziniert ist, er hat einen heimlichen Hang zum Okkulten,55 wobei angedeutet wird, dass sein Alkoholismus damit zusammenhängt, dass er die zwei Welten nicht zu integrieren in der Lage ist.56 Der Erzähler als zentrale Figur des Textes nimmt jene Art von Vermittlungsposition zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ ein, die Eliade sowohl für Rumänien als auch später für die Religionswissenschaft proklamiert. Das kulturelle Bezugssystem des europäischen Orientalismus wird hier vor allem anhand von Bogdanof und Van Manen als ein nicht tragfähiges und zuweilen sogar gefährliches gekennzeichnet. Bogdanof repräsentiert hierbei den Aspekt einer feindlichen Abwehrhaltung gegen das kulturell Andere Indiens. Er zieht sich stark auf seine christlich-orthodoxe Tradition zurück und mit ihr auf moralische Kategorien, in die die indische Kultur und Religiosität eingeordnet wird. Immer wieder wird diese Position Bogdanofs als eine gekennzeichnet, die 51 Wolfgang Geiger : Kulturdialog und Ästhetik. Roger Garaudy, Victor Segalen, Mircea Eliade. Frankfurt a. M. 1986, 343. 52 Vgl. Geiger : Kulturdialog und Ästhetik (Anm. 51), 343. 53 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 7. 54 Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 20. 55 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 7f. 56 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 71. Suren Boses Anspielung auf den Vorfall in Serampore wird dort vom Erzähler folgendermaßen wiedergegeben und kommentiert: »›Unser alter Freund trinkt zuviel, und das kann bei dem Klima Bengalens nicht guttun‹, sagte er und mußte sich doch im klaren sein über den hinterlistigen Charakter seiner Worte, da er den Grund für Van Manens Neigung zu vermehrtem Alkoholgenuß nur allzugut kannte.« (Ebd.) Auch Wolfgang Geiger legt diese Interpretation des Alkoholismus Van Manens nahe, vgl. Geiger : Kulturdialog und Ästhetik (Anm. 51), 343.

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der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht wird und ungerechtfertigter Weise die angesichts des rätselhaften und verstörenden Erlebnisses offenbar nötigen Erweiterungen des europäischen Weltbildes durch einen Dialog auf Augenhöhe mit Vertretern einer ›indischen Weisheit‹ ablehnt. Van Manen hingegen ist ehrlich interessiert und durchaus fasziniert von der ihm fremden Weltsicht, ist aber nicht in der Lage, diese auf eine gesunde Art und Weise zu integrieren. Er forscht für sich allein und sucht nicht den Austausch mit denen, die ihm Auskunft aus einer Innenperspektive geben könnten.57 Er hält seinen Hang zum Okkulten geheim, da er fürchtet, dies könne seinem wissenschaftlichen Ruf schaden, und verfällt aufgrund seiner Gespaltenheit dem Alkoholismus. Beide Figuren, Bogdanof und Van Manen, illustrieren die lebensfeindlichen und destruktiven Seiten des europäischen Rationalismus und seiner Grenzen im Kontakt mit indischer Kultur und Religiosität. Dies bestätigt auch ihr letztlicher Umgang mit dem rätselhaften Ereignis: Bogdanof lag längere Zeit mit Fieber zu Bett, Van Manen wurde mürrisch und einzelgängerisch, und auch Budge verzichtete darauf, seine Weekends in seinem Bungalow zu verbringen. Einige Monate später erfuhr ich übrigens, er habe das Gebäude für einen Pappenstiel verkauft.58

Bogdanof und Van Manen sowie auch der überhaupt nicht ernsthaft an indischer Kultur interessierte, typische Kolonialbeamte Budge59 finden keinen produktiven Weg, mit dem Erlebten umzugehen. Auf diese Figuren hat es vielmehr einen zerstörerischen Einfluss und sie koppeln es von ihrem gewohnten Leben so weit wie möglich ab, um wieder zu ihrer als sicher empfundenen Weltsicht zurückzukehren, während der Protagonist der Novelle den Dialog mit dem Swami sucht, um das Erlebte zu integrieren und seine Sicht zu weiten. Auch die Strategie des Fremdverstehens, die hier am Protagonisten veranschaulicht wird, ist mithin eine europäische, eine, die aus offensichtlich europäischer Perspektive das indische religiöse Andere konstruiert. Es ist jedoch, ganz im Sinne der oben vorgestellten Bestimmung von Exotismus als einem Phänomen der Selbsthinterfragung und -dekonstruktion, eine, die sich selbst als relativ präsentiert. Es handelt sich in Nächte in Serampore um einen autodiegetischen Erzähler, die Erzählinstanz ist gleichzeitig der Protagonist, der im vorliegenden Fall retrospektiv die Geschehnisse wiedergibt. Es liegt, in der Terminologie G¦rard Genettes, eine feste interne Fokalisierung vor, das heißt, die Wahrnehmungs- und Wissensmöglichkeiten der Erzählinstanz sind während des gesamten Textes an die der Figur gebunden. Im Gegensatz zu einer Nullfokalisierung, bei der die Wahrnehmungs- und Wissensmöglichkeiten der 57 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 8. 58 Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 71. 59 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 13 bzw. 17f. u. 56ff.

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Erzählinstanz in keinerlei erkennbarer Weise beschränkt sind, ist in dieser für Eliade typischen epistemologischen Profilierung des Erzählers als Wahrnehmungsinstanz eine eindeutige Beschränkung erkennbar, da die erzählten Geschichten als Narrationen aus einer bestimmten, persönlichen und realistischerweise vorgeprägten und eingeschränkten Perspektive präsentiert werden. Die Perspektive, aus der die gesamte Geschichte erzählt wird, ist kompakt figural, wie die Perspektivierung mit Rückgriff auf Wolf Schmids narratologisches Modell konkretisiert werden kann,60 und somit in jeder Hinsicht am Horizont der Hauptfigur orientiert. Der Protagonist bietet eine eigene, relativ ausführliche Hypothese zu den Ursachen und Wirkmechanismen hinter dem phantastischen Erlebnis, das im Mittelpunkt der Novelle steht (vor allem im letzten Kapitel im Gespräch mit dem Swami dargestellt). Diese Perspektive des Protagonisten ist zwar aufgrund der kompakten figuralen Perspektive der Erzählinstanz durchaus privilegiert, jedoch wird diese immer wieder mit anderen, konkurrierenden Perspektiven konfrontiert. Ein besonderes Gewicht haben hierbei die Figurenreden Bogdanofs und Van Manens sowie im letzten Kapitel diejenige Swami Shivanandas. Auffällig ist hierbei der große Wert, der auf die möglichst authentische Wiedergabe der Figurenreden gelegt wird, wenn beispielsweise Aussagen auf Bengalisch auch in dieser Sprache wiedergegeben und lediglich nachträglich vom Erzähler kommentierend übersetzt werden: Unvermittelt ertönte ein paar Dutzend Schritte vor uns der gleiche Schrei und ging in einen herzzerreißenden Hilferuf über. »Ma’lum! Gelum! Banchao! Rokkhe koro!« (›Ich sterbe! Ich kann nicht mehr! Hilfe! Helft mir!‹) Ich verstand genügend Bengalisch, um den Sinn der Worte zu begreifen.61

Zwar werden alle Erklärungsansätze der Figuren, die als Narrationen des unerklärlichen Ereignisses und seiner Ursachen betrachtet werden können, von der Erzählinstanz kommentiert und nur in Ausschnitten wiedergegeben, es erfolgt hier demnach keine ganz unmittelbare oder mimetische Wiedergabe der Figurenreden. Andererseits werden diese zu einem großen Teil in direkter Figurenrede präsentiert, das heißt, in Genettes Terminologie, sie werden vor allem im dramatischen Modus und damit mit wenig Distanz wiedergegeben. Besonders stark wird im letzten Kapitel der Novelle bei dem Bericht des Gesprächs zwischen Protagonist und Swami Shivananda mit einem dramatischen Modus gearbeitet. Hier gibt es kaum noch Erzählerkommentare und die Redebeiträge beider Figuren werden in teilweise seitenlangen direkten Figurenreden dargestellt. Durch die auch zeitlich figurale, also an den Horizont der Hauptfigur 60 Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 2008. 61 Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 34.

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gebundene Perspektive des Erzählers werden diese Narrationen retrospektiv, aber nicht aus einem weiteren Horizont als dem der Figur erzählt und somit nicht für den Leser wertend kommentiert oder relativiert. Während der Lektüre kann somit der gesamte Prozess einer Lösungsfindung mit verfolgt werden. Der Protagonist von Eliades Nächte in Serampore kann als ein positioniertes Subjekt beschrieben werden, nicht nur insofern konsequent aus seiner begrenzten Perspektive erzählt wird, sondern auch indem seine spezifische Tradition, Denkweise und kulturelle Verortung deutlich gemacht wird. Der Leser/ die Leserin erfährt, dass es sich um einen osteuropäischen orthodoxen Christen handelt,62 einen jungen Studenten,63 wahrscheinlich der Indologie (er übersetzt religiöse Texte aus dem Sanskrit64 und beschäftigt sich mit verschiedenen hinduistischen und buddhistischen Praktiken65). Bereits vor der zentralen Begebenheit im Wald bei Serampore befindet sich der Protagonist sowohl im Dialog mit Texten der infrage stehenden Tradition als auch mit Positionen anderer Forscher. Auch seine konkreten Ansichten über Tantra werden referiert und teilweise mit denen anderer Orientalisten, die im Rahmen der Geschichte auftreten, verglichen.66 Zudem wird seine Wahrnehmung des rätselhaften Ereignisses, das als religiöses Phänomen gelesen werden kann, und auch seine nachträgliche Deutung desselben ausführlich berichtet. Das finale Gespräch zwischen dem Protagonisten und Swami Shivananda, der als Experte der Tradition, innerhalb deren das untersuchte religiöse Phänomen steht, aus deren Innenperspektive eine eigene Deutung der Zusammenhänge gibt, kann als ein kritischer Dialog zwischen Forscher und Erforschtem gelesen werden. Auch der befragte Experte wird in seiner spezifischen Positionalität dargestellt, wenn über seinen Lebenslauf und die Art seiner Beschäftigung mit der religiösen Tradition, hier Tantra, berichtet wird.67 Eine emische Perspektive wird präsentiert, jedoch wird sie lediglich als Expertenposition zu Rate gezogen, um eine neue etische Perspektive zu entwickeln. Das religiöse Phänomen in Form der phantastischen Begebenheit wird von einer Vermittlerposition aus

62 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 7: »Aber wir gehörten beide der orthodoxen Kirche an, und das war ein festes Band.« 63 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 7: »[…] und ich nur ein sehr junges Studentlein.« 64 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 8: »[…] und ich versuchte, ›Subhashita Samgraha‹ zu entziffern, einen Text, der wegen seiner ungeheuren Schwierigkeiten bekannt ist.« 65 Vgl. z. B. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 19: »Ich muß hier einflechten, daß ich mit großem Eifer Tantra studiert hatte, wie es in den klassischen Texten dargestellt ist, bisher aber noch nie Menschen begegnet war, die jene alten Vorschriften in die Praxis übertrugen. Besonders da die Einweihung in die Mysterien des Tantra eine Reihe von geheimen Riten voraussetzt, die niemand einem zu enthüllen wagt.« 66 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 19ff. 67 Vgl. Eliade: Nächte in Serampore (Anm. 7), 72f.

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dialogisch erforscht mit dem Ziel, eine Deutungsperspektive für Menschen vom Typus des homo historicus zu eröffnen.

Fazit Eliades diskursprägende Thesen über Religion konnten in einem exemplarischen Zusammenlesen mit einem seiner literarischen Texte auf ihre Konzeption von Fremdverstehen hin betrachtet werden. Zeitspezifische Phänomene des europäischen Umgangs mit außereuropäischen Kulturen spiegeln sich hier auf eigentümliche Weise: Die Widerspiegelung und literarische Umsetzung von Eliades wissenschaftlicher Interpretation der Religionsgeschichte als Geschichte von Hierophanien wurde lesbar als eine spezifische Deutung für den modernen ›westlichen‹ Menschen, die über diesen im Grunde mehr aussagt als über die erforschten Phänomene selbst. Den Dialog zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹, den Eliade gegen einen ›westlichen‹ Kulturprovinzialismus fordert, setzt er auch in seinen literarischen Texten um, wobei die Erzählperspektiven darauf verweisen, von wo aus und für wen erzählt und gedeutet wird: Eliade als Vermittler zwischen den Kulturen deutet exemplarische Situationen als Hierophanien aus der Sicht von Figuren, die den homo historicus verkörpern, und durch eine Konfrontation mit Perspektiven des homo religiosus. Eine eurozentrische Perspektive wurde im beispielhaft betrachteten Text als das Eigene konstruiert, eine indische Perspektive als das Andere, eine Annäherung an den Horizont des Fremden wurde als fruchtbar, notwendig, letztlich aber nicht vollständig erreichbar gekennzeichnet. Exotistische Stereotypen und Diskurse wurden aufgerufen und untergraben, aber nicht völlig überwunden. Eine spezifische Form des Exotismus, die sich zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus verorten lässt, konnte hier sichtbar gemacht werden. Dass Diskurse des literarischen Schreibens, hier der des Exotismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit all seinen Widersprüchen und Inkongruenzen, eng mit europäischer religionswissenschaftlicher Wissensproduktion über Religion(en) in Verbindung stehen, konnte exemplarisch aufgezeigt werden. Weitere relevante Texte und Diskurse sowie die Funktionsweisen des Fortschreibens eines solchen Erbes wären freilich gesondert und ausführlicher zu untersuchen.

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Postkoloniales Sprechen von Religion und Religiosität – Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler

In der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Diskussion um Migration, Religion und Interkulturalität fällt das Augenmerk auf einen gegenwärtigen Autor – Ilija Trojanow –, der sich explizit mit all diesen Themen auseinandersetzt. In seinen Romanen und Essays behandelt er Fragen der kulturellen Identität, den Umgang mit verschiedenen Kulturen und Religionen wie auch ihre Bereicherung für die deutsche Literatur- und Kulturlandschaft.1 Besondere Aufmerksamkeit und weltweite Rezeption erlangte sein 2006 publizierter und mehrfach ausgezeichneter Roman Der Weltensammler, der die Fremderfahrung unterschiedlicher Kulturen und vor allem Religionen in den Blick nimmt. Dieser postkoloniale Roman ist in der Literaturforschung breit untersucht worden, allerding bislang kaum im Hinblick auf die Religionsthematik. Ausgehend von Homi Bhabhas Hybriditätskonzept aus den postkolonialen Studien2 setzt der Beitrag an dieser Lücke an und untersucht in einem ersten Schritt überblickshaft 1 Exemplarisch seien hier einige Veröffentlichungen genannt: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (1996; Debütroman); In Afrika. Mythos und Alltag Ostafrikas (1993); An den inneren Ufern Indiens (2003); Gebrauchsanweisung für Indien (2006); Zu den heiligen Quellen des Islams. Als Pilger nach Mekka und Medina (2004) u. a. 2 Postkoloniale Studien thematisieren »Phänomene[n] von Kolonialismus, Entkolonisierung und daraus resultierender Erlangung nationaler Souveränität«. Heinz Antor : Postkoloniale Studien. Entwicklungen, Positionen, Perspektiven. In: Sprachkunst: Beiträge zur Literaturwissenschaft 23/1 (2002), 115–130, hier 116. Mit dem Begriff »Postkoloniale Studien [wird] sowohl ein theoretischer Ansatz, ein Forschungsfeld, wie auch ein Theoriediskurs in den Literatur- und Kulturwissenschaften oder ein Lektüremodell« bezeichnet. Gabriele Dürbeck: Postkoloniale Studien in der Germanistik – Periodisierung und Perspektiven. In: Literaturkritik 6 (2008). Online unter : www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id= 11956& ausgabe=200806 (09. 07. 2014). Eine ausführliche Bibliographie auf Deutsch bei Mar†a do Mar Castro Varela u. Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005, sowie Julia Reuter u. Alexandra Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012. Kritisch die Subaltern Studies Group um Ranajit Guha sowie Monika Albrecht: Doppelter Standard und postkoloniale Regelpoetik. Eine kritische Revision Postkolonialer Studien. In: Herbert Uerlings u. Iulia-Karin Patrut (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld 2012, 67–113, als Kritik an »doppelten Standards« der westeuropäischen postkolonialen Forschung.

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das Erzählverhalten im Weltensammler,3 um anschließend das Sprechen von Religion und Religiosität zu fokussieren; schlussendlich wird hier die Frage des hybriden Erzählens allgemein aufgegriffen. Im Zuge einer verstärkten Rezeption postkolonialer Untersuchungen, der Erscheinung einer »wiederkehrenden Religion« sowie der Problematisierung des Religionsbegriffs4 plädieren neuere religionswissenschaftliche Untersuchungen für eine Orientierung an den Erkenntnissen und Methoden der Cultural Studies.5 Der von der Römischen Schule entwickelte Zugang geht dabei von einer konsequenten Einbindung der Religion in den kulturellen Kontext aus. Mit Dario Sabattucci wird dabei von der »Auflösung des religiösen Gegenstandes«6 gesprochen: »Für die Religionswissenschaft ist Religion eine ausschließlich kulturelle (d. h. von Menschen) gemachte Erscheinung. Sie unterscheidet sich damit systematisch nicht von anderen kulturellen Produkten, wie Technologie, Literatur, Musik usw.«7 Den Begriff »Religion« benutze ich daher für alle kultischen, auf einer Form des Glaubens beruhenden, organisierten und hierarchisch gegliederten kulturell-gesellschaftlichen Praxisformen, die ihre Handlungen auf transzendente(s) Wesen oder Prinzip/Prinzipien richten. Demgegenüber verstehe ich Religiosität als eine innere, individuelle Erfahrung, die sich auf die Religion als System bezieht und damit ebenfalls in das kulturelle Feld gehört. Die Frage nach Religion ist in den postkolonialen Studien unterrepräsentiert;8 in der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Forschung zeichnet sich das Interesse an Religion vor allem durch eine Relektüre kanonischer Texte vor dem Hintergrund religiöser Fragen aus. Zahlreiche Studien zu Lessings Nathan, Goethes West-östlichem Diwan, Heinrich Heines jüdischen Wurzeln, Hesses Siddharta etc. ließen sich hier anführen. Im Bereich der Gegenwartsliteratur 3 Ich orientiere mich hierbei an den Arbeiten von G¦rard Genette. 4 Hierzu William E. Arnal: Definition. In: Willi Braun u. Russell T. McCutcheon (Hg.): Guide to the Studies of Religion. London 2000, 21–34; Talal Asad: Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore/London 1993. 5 Martin Treml u. Daniel Weidner: Zur Aktualität der Religionen. Einleitung. In: dies. (Hg.): Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung. München 2007, 7–24, hier 11. 6 Burkhard Gladigow: Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft. In: Hubert Cancik u. a. (Hg.): Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe (HrwG). Bd.1. Stuttgart u. a. 1998, 26–40, hier 32. 7 Günter Kehrer: Religion. In: HrwG (Anm. 6), Bd. 4, 418–425, hier 425. 8 Andreas Nehring: Postkoloniale Religionswissenschaft. Geschichte – Diskurse – Alteritäten. In: Reuter u. Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial-Studies (Anm. 2), 327–341, hier 335. Im Gegensatz zur westlichen Forschung hat sich die Subaltern Studies Group bereits mit Religion als kolonialer Widerstandspraxis auseinandergesetzt. Vgl. ebd., 336f. Neuere postkoloniale Arbeiten verbinden den Religionsaspekt mit einem genderorientierten Schwerpunkt. Vgl. Nikita Dhawan: The Empire Prays Back: Religion, Secularity and Queer Critique. In: Boundary 2 40 (2013), H. 1, 191–222.

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wird vermehrt über Kultur und Fremdheit geforscht, allerdings lassen neuere Arbeiten mit dem Schwerpunkt Religion auf einen Themenwandel schließen.9 Diesen kann man für die aktuelle, noch eher allgemeine Auseinandersetzung mit der postkolonialen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht postulieren, was an der verspäteten Rezeption hierzulande liegen mag.10

Hybridität Das, was wir heute als größten Feind unserer westlichen Welt empfinden, ist aber durch Vermischung, die wir Hybridisierung nennen, zustande gekommen. Die Hybridisierung von kolonialen Vorbildern der westlichen Welt mit der Reaktion in der kolonisierten Welt.11

Es ist nicht verwunderlich, Ilija Trojanows Texte, besonders den Weltensammler, unter dem Aspekt der Hybridität zu untersuchen, wird diese doch in seinem Denken und Schreiben vom Autor selbst expliziert. Problematisch an den mit dem Hybriditätsbegriff operierenden Ansätzen ist allerdings die Verwendung des Begriffs selbst. In einigen Fällen ist unklar, wie die jeweiligen Autoren ›hybrid‹ verstehen.12 Der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha hat bereits in mehreren Arbeiten eine Kritik an dieser Rezeption des Hybriditätsbegriffs allgemein und besonders in Deutschland formuliert. Hybridität sei weder ein Schmelztiegel noch ein Obstsalat,13 zwar rückten in der Rezeption offener Kulturaustausch und die dynamischen Prozesse der globalisierten Gesellschaft in den Vordergrund, außen vor blieben dabei jedoch Fragen der Marginalisierung und der politischen Machtverhältnisse. Ferner werde Hybridität häufig missinter9 Albrecht Grözinger u. a. (Hg.): Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison. Würzburg 2009; Toni Tholen u. a. (Hg.): Literatur und Religion. Hildesheim 2012; James Hodkinson u. Jeff Morrison (Hg.): Encounters with Islam in German Literature and Culture. Rochester (NY) 2009. 10 In den Publikationen zur postkolonialen Literatur in Deutschland wird Religion nicht thematisiert. Vgl. Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der anglo-amerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld 2005; Paul Michael Lützeler : Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld 2005, sowie Anna Babka u. Axel Dunker (Hg.): Postkoloniale Lektüren. Perspektivierung deutschsprachiger Literatur. Bielefeld 2013. 11 Ilija Trojanow im Interview: Ilija Trojanow, Eva Schobel: Allah und Ol¦. In: Spectrum, 15. 09. 2007. Vgl. auch Ilija Trojanow im Interview: Ilija Trojanow, Andreas Schäfer : Man sollte sich beim Reisen nackt machen. In: Der Tagespiegel, 17. 01. 2007. 12 Bspw. bei Thomas Wägenbaur : Wittgensteins implizite Ethik als poetisches Prinzip von Narration und Ethik. Ilija Trojanow »Der Weltensammler«. In: Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik. München 2009, 265–280, hier 268; vgl. auch Janna Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« – Ein postkolonialer Roman? Hamburg 2012. 13 Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin 2004, 143.

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pretiert als Vermischung von essentialistisch verstandenen Kulturen, also eher als Multikulturalismus14 bzw. »Multi-Kulti-Spektakel«15. Hybridität – dieser ursprünglich pejorativ16 verwendete Begriff erfuhr in der postkolonialen Theorie von Homi Bhabha eine Umwertung und wurde von diesem in mehreren unabhängig erschienenen Aufsätzen entwickelt, die in Deutschland unter dem Titel Die Verortung der Kultur17 erschienen sind.18 Ha subsumiert Bhabhas Gebrauch des Begriffs auf zwei Ebenen: Hybridität 1. als Bestandteil einer postkolonialen Kulturtheorie, die den Kulturkontakt thematisiert, und 2. als Praxis der kulturellen Subversion.19 Kulturtheoretisch geht Hybridität von einem Konzept der kulturellen Differenz aus, welches das »Problem der Ambivalenz kultureller Autorität«20 in den Vordergrund rückt und sowohl die binäre Aufteilung als auch die Vorstellung homogener Kultursysteme obsolet macht. Bei Bhabha durchläuft jede kulturelle Äußerung einen Dritten Raum (third space), der sich in einem Dazwischen (inbetween) befindet. Kulturelle Identitäten werden hier durch Verortung, Suchbewegung und Auslotung an der Grenze von Kultur verhandelt (liminal negotiation) und neu positioniert – traditionelle Differenzachsen von Klasse, Ethnie, Nation, Tradition oder Geschlecht damit durchkreuzt. Hybridität ist für Bhabha »not something simply to be celebrated, in a magical multiculturalist re-invention of tired national traditions, but is a difficult, agonistic process of negotiation«.21 Dabei gibt es keine hierarchische Struktur, der Aushandlungsprozess ist wertfrei: kulturelle Hybridität erscheint als ein »Platz für Differenz ohne übernommene Hierarchie«.22 Bhabha stellt fest: »the process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation.«23 14 Vgl. Ha: Ethnizität und Migration reloaded (Anm. 13), 92–94. 15 Rolf Eickelpasch u. Claudia Rademacher : Identität. Bielefeld 2004, 104. 16 Vgl. ausführlich hierzu Kien Nghi Ha: Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde«. Bielefeld 2010, 130f. 17 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. 18 Der Versuch einer Systematisierung findet sich bei Karen Struve: Zur Aktualität von Homi Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013. 19 Vgl. Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität: Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005, 86. 20 Bhabha: Die Verortung der Kultur (Anm. 17), 52. 21 David P. Huddart: Homi K. Bhabha. London 2006, 113. 22 Bhabha: Die Verortung der Kultur (Anm. 17), 5. Bhabhas Konzept und dessen Rezeption sind mehrfach kritisiert worden. Vgl. Ania Loomba: Colonialism/ Postcolonialsm. New York 1998; Bart Moore-Gilbert, Postcolonial Theory : Contexts, Practices, Politics. London 1997, und aktuell Struve: Zur Aktualität von Homi Bhabha (Anm. 18). 23 Jonathan Rutherford: The Third Space: Interview with Homi Bhabha. In: ders.: Identity : Community, Culture, Difference. London 1990, 207–221, hier 211. Noch deutlicher heißt es dort: » But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments

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Bhabha formuliert sein Hybriditätskonzept allerdings auch politisch, es geht ihm um Formen des Widerstands gegen essentialisierende, homogenisierende und diskriminatorische Praxisformen – und hier liegt der Hybridisierung das subversive Potenzial zugrunde, das Widerstand auslösen kann.24 Vor dem kolonialen Hintergrund, aus dem die Entwicklung des Hybriditätskonzepts erwachsen ist, fordert die Ausübung kolonialer Macht eine Differenzierung, die Abgrenzung zum Beherrschten, einen identitätsstiftenden Effekt. Die koloniale Bevölkerung wird über diskriminatorische25 Praxisformen als UntertanenGruppe definiert. Hybridität ist die Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholung der diskriminatorischen Identitätseffekte. Sie offenbart die notwendige Deformation und De-plazierung sämtlicher Orte von Diskriminierung und Beherrschung.26

Durch Hybridisierungsprozesse findet das abgelehnte, das andere Wissen in die kolonialen Diskurse Einlass. Denn die Übersetzung und Reartikulierung der Ideen werfe Fragen der Kolonisierten auf und verfremde durch Erklärung von einer anderen – nicht-europäischen – Position aus somit das Fundament des Herrschaftssystems.27 Hybridisierung politisch als »Entstellung, ein Prozeß der

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from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to merge.« Bhabha hat sich für sein Hybriditätskonzept an das Werk des russischen Sprach- und Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin angelehnt, der Hybridisierung in linguistischer Perspektive erarbeitet. Michail Bachtin: Das Wort im Roman. In: Rainer Grübel (Hg.): Michail M. Bachtin. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. 1979, 154–300. Bachtin unterscheidet zwischen organischer (alltagssprachlicher) und bewusster (narratologischer) Hybridität. Während Sprache für Bachtin schon immer eine gewachsene, vermischte, also organisch hybride ist (244), ist beabsichtigte bzw. bewusste Hybridisierung dagegen das künstlerische Bild der Sprache. Bei der bewussten Hybridisierung nach Bachtin vermischen sich dabei nicht nur »sprachliche Formen und Stile, vielmehr stoßen hier die in diesen Formen angelegten Standpunkte gegenüber der Welt aufeinander« (245). Diese Formen sind »bewußt zusammengetroffen […] und [kämpfen] auf dem Territorium der Äußerung miteinander« (245). Gerade diesen antagonistischen Aspekt hat Bhabha in sein Konzept aufgenommen und die bewusste bzw. beabsichtigte Hybridität zu einem Moment kolonialen Widerstands ausgebaut. Vgl. Robert J. Young: Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race. London/New York 1995. Zu Bhabhas Verständnis von diskriminatorischen Formen von Praxis siehe Homi K. Bhabha: Die Frage des Anderen: Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus. In: ders.: Die Verortung der Kultur (Anm. 17), 97–124. Struve: Zur Aktualität von Homi Bhabha (Anm. 18), 117. Interessanterweise zeigt Bhabha dieses Widerstandspotenzial paradigmatisch an der Rezeption der Bibel im Kontext der indischen Mission auf. Diese behalte zwar ihre Präsenz als »das Buch«, sei aber nun eine partielle Präsenz, »ein (strategisches) Mittel in einem spezifischen kolonialen Projekt, eine Begleiterscheinung der Autorität.« Bhabha: Verortung der Kultur (Anm. 17), 169.

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De-platzierung, Verzerrung, Verrückung, Wiederholung«28 offenbart die diskriminatorische Praxis der kolonialen Macht als den Einsatz kulturell-identifikatorischer Aspekte zur Konstruktion des Inferioren. Nicht jeder Hybridisierungsprozess erzeugt Widerstand, aber jeder hat das Potenzial dazu. In Bewusstsein der Kritik an der Rezeption des Hybriditätskonzepts beziehe ich mich in diesem Beitrag auf Bhabhas Verständnis der Hybridität sowohl in kulturtheoretischer als auch in subversiver Hinsicht. Überträgt man Bhabhas Konzept des Hybriden auf das Erzählen, dann geht es hierbei nicht um eine einheitliche, ein- bzw. zweistimmige Erzählung, die eine Identifikation anbietet sowie linear und chronologisch verläuft. Christine Galster hat in ihrer Dissertation den Versuch unternommen, hybrides Erzählen im britischen Roman der Gegenwart zu kategorisieren.29 Hybrides Erzählen setzt für sie an bekannten Kategorien an und bricht diese auf, Genre- und Gattungsgrenzen werden überschritten und damit als konstruierte offengelegt, auch die Überschreitung des Mediums ist ein Zeichen des hybriden Erzählens. Dabei sind Romane für sie hybrid, wenn sie narrative Grenzüberschreitung aufweisen.30 Diese müssen sowohl quantitativ als auch qualitativ den Roman wesentlich prägen. Neben der Überschreitung dieser Demarkationslinien geht es beim hybriden Erzählen auch um den Bruch mit der Orientierung an der Erzählinstanz. Nicht ein Erzähler bzw. eine Erzählerin berichtet, sondern es sind viele unterschiedliche. Diese multiperspektivische Erzählweise ist grundsätzlich nichts typisch Hybrides, sondern findet sich besonders verstärkt seit der Moderne und zeugt von der Erkenntnis, dass es eine objektive Wahrheit gerade nicht gibt, dass die Wahrnehmung betrachterabhängig ist. Hybrides Erzählen greift diese Negation der objektiven Wahrheit auf und erweitert sie um den Aspekt der Aushandlung, des Prozessualen. Hybrides Erzählen zeigt die ›Wahrheitsfindung‹ als einen Prozess, der sich durch das Erzählen vieler in einer beständigen Suchbewegung befindet, die verortet wird und sich selbst verortet. Dabei kann es keine hierarchisch höhere oder wahrere Stimme innerhalb der 28 Bhabha: Verortung der Kultur (Anm. 17), 154. 29 Christin Galster : Hybrides Erzählen und hybride Identität im britischen Roman der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2002. In der unvollständigen Erklärung des Glossars, einer Ahnung des Inhalts durch den Inhalt und der fehlenden Auslegung des Romans auf vollkommenes Verstehen sieht Marina Ölke die »Inszenierung des Textes als auch sprachlich hybrid«. Marina Ölke: Interkulturalität und Exotismus: Ilija Trojanows Erfolgsroman »Der Weltensammler«. In: Petra Meurer u. a. (Hg.): Interkulturelles Lernen. Bielefeld 2009, 35–48, hier 44. 30 Dabei differenziert sie zwischen fünf Formen der Grenzüberschreitung: intergenerische, subgenerische, supergenerische, extraliterarische und intermediale Grenzüberschreitung (Galster : Hybrides Erzählen (Anm. 29), 88). Methodisch problematisch ist bei Galster der Versuch, die neue Kategorie des hybriden Romans einzuführen, ohne eine differenzierte Diskussion zum Hybriditätsbegriff und dem postmodernen Roman zu führen. Zusätzlich geht sie auf Salman Rushdie nicht ein, dem hybrides Schreiben nachgesagt wird.

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vielen geben. Hybrides Erzählen inszeniert die hybride Identität, allerdings nicht als die positive und gefeierte ›Multi-Kulti-Identität‹ bzw. Polyphonie, sondern immer subversiv, widerständig. Die Narration zeigt nicht eine Geschichte, sondern viele, sich widersprechende. Dabei liegt es beim Leser, sich zurechtzufinden und auszuhandeln – sich zu positionieren. Hybrides Erzählen als postkoloniales Erzählen zeigt aber auch die Konflikte, die Grenzüberschreitungen und Vermischungen, die den autoritären Diskurs unterlaufen und umkehren – damit aber auch das Handlungspotenzial.

Der Weltensammler Der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Roman Der Weltensammler31 kann in einen postkolonialen Kontext eingebunden werden. Der Autor nimmt eine literarische Bearbeitung von Sir Richard Francis Burton, einem englischen Entdecker, Forscher, Sprachkünstler, Übersetzer und Spion des 19. Jahrhunderts, vor. Der Roman hat keinen biografischen Anspruch, Trojanow selbst sagt dazu, dass er das Geheimnis Burtons nicht lüften wolle (W 7). Der Weltensammler besteht aus einer Rahmen- und einer Binnenhandlung, wobei die Letztere drei Stationen aus dem Leben des Protagonisten – BritischIndien, Arabien (Hadj) und Ostafrika (Nilquellenexpedition) – beschreibt. Burton wird als eine Person vorgestellt, die die Fremde nicht nur kennenlernen und verstehen, sondern vor allem auch ein Teil dieser sein möchte. So lernt er während seiner Stationierung und Tätigkeit als Spion in Baroda und dem Sindh die Sprachen Sanskrit, Arabisch, Persisch und auch Dialekte der Region; er engagiert Lehrer, die ihn in die Tradition und die Lehren der jeweiligen Gebiete und Religionen einweisen. Dabei fühlt er sich zum Islam besonders hingezogen, er lässt sich beschneiden und nimmt – im zweiten Romanabschnitt –an der Hadj teil. Der Umgang mit den verschiedenen Kulturen und Religionen ist allerdings nicht unproblematisch, da er Angehöriger einer Kolonialmacht ist. In Indien gehört er zum herrschenden Personal; seine Hadj in Arabien, die er als Muslim verkleidet vornimmt, sowie die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen werden aus der anderen Perspektive auf eventuelle Spionagetätigkeiten, die einem möglichen kolonialen Zugriff vorausgehen, geprüft. Während der dritten beschriebenen Reise ist er als Forscher unterwegs, der die Quellen des Nils entdecken und die ›Leerstellen der europäischen Karten füllen‹ möchte. Es wird also deutlich: Der koloniale Kontext ist dem Geschehen stets immanent. Erzählt wird im Weltensammler aus unterschiedlichen Perspektiven und von 31 Ilija Trojanow: Der Weltensammler. München/Wien 2007. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden in Klammern und mit der Sigle »W« im Fließtext nachgewiesen.

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unterschiedlichen Erzählern bzw. Figuren. Dem heterodiegetischen Erzähler der extradiegetischen Ebene, der in den drei intradiegetischen Romanstationen nicht immer derselbe zu sein scheint, stehen in jedem der drei Abschnitte einheimische Stimmen gegenüber, die wiederum ergänzt werden durch vom Erzähler vermittelte bzw. kommentierte Textzeugnisse bzw. Dialogsequenzen Burtons. Aus postkolonialer Perspektive ist es besonders interessant, dass die erzählerischen Pendants zu den Kolonisierten bzw. Marginalisierten zählen und sich hier selbst repräsentieren. Unter Repräsentation unterscheidet Gayatri C. Spivak im Anschluss an Karl Marx zum einen das Sprechen von etwas/jemandem (Darstellung) und zum anderen das Sprechen für etwas/jemanden (Vertretung). Die Kolonisierten und Marginalisierten werden durch die Herrschenden dabei mithilfe von Dichotomien, die immer das aufzeigen, was sie (die Kolonisatoren) selbst nicht sind, dargestellt/vertreten. Solche binären Zuweisungen gründen auf etablierten Stereotypen, die eine wichtige Strategie kolonialer Diskurse darstellen.32 Und gerade mit dieser kolonialen Strategie der Repräsentation des ›Anderen‹ wird hier gebrochen.33 Denn allen Äußerungen der kolonisierenden Engländer werden einheimische Stimmen gegenübergestellt. Der Bruch des autoritären, kolonialen Diskurses über die Kolonisierten verläuft dabei nicht nur durch die Stimmenvielfalt derer, die sonst nicht zu Wort kommen, sondern er geht viel tiefer : Denn charakteristisch für diesen Roman ist das Reden über Burton. Erzählinstanz, Einheimische, Kolonisierte und wenige Zeugnisse der historischen Person Burtons versuchen ein Bild von diesem Mann zu zeichnen bzw. modifizieren dies immer wieder. Rakowski verweist darauf, dass dieses Vorgehen gerade dazu dient, den Blick des Lesers auf das Vermittelte und die Konstruktion der Identität Burtons zu lenken.34 Der Protagonist, ein Angehöriger der Kolonisatoren, wird somit im Roman repräsentiert – er spricht nicht für sich selbst und ist daher auch nicht fassbar, man kann ihn nicht psychologisieren. Zusätzlich kann für jede fokalisierte und auch als intradiegetische Erzählinstanz fungierende Figur eine Unzuverlässigkeit festgestellt werden. Der Bericht von Naukaram, Burtons einheimischem Diener in Indien, dessen Erzählung das Pendant zu der des extradiegetischen Erzählers bildet, ist eine beschönigende Version: »Naukaram belog ihn regelmäßig, […] es war nicht sein wirkliches Leben, das er […] ausbreitete« (W 137). Im Arabien-Kapitel ist das Setting ein 32 Vgl. Castro Varela u. Dhawan: Postkoloniale Theorie (Anm. 2), 73, 88. 33 Inwiefern Trojanow die Kolonisierten mit seinem Roman repräsentiert, hat Domedey diskutiert. Jana Domedey : Intertextuelles Afrikanissimo: Postkoloniale Erzählverfahren im Ostafrika-Kapitel von Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (2006). In: Acta Germanica 37 (2009), 45–65. 34 Janna Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« – Ein postkolonialer Roman? Hamburg 2012, 49.

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Verhör, bei dem auch Folter eine Rolle spielt, weshalb den dort angegebenen Aussagen nicht zu trauen ist. Im dritten Teil, Ostafrika, ist der Reiseführer und ehemalige Sklave Sidi Mubarak Bombay das einheimische Pendant, aber auch seine Erzählung ist nicht vertrauenswürdig, denn die »Geschichte hat jedes Mal eine etwas andere Gestalt« (W 384). In allen Fällen wird vor einem unterschiedlichen Publikum mit einer je anderen Intention berichtet.35 Die Erzählweise wechselt fließend zwischen Erzählung von Ereignissen und Erzählung von Worten. Auch gibt es immer wieder einen Wechsel von narrativisierter, transponierter und berichteter Rede. Dabei wird die unmittelbare Rede bzw. das szenische Erzählen verwendet, sie setzt unmittelbar ein, der Sprecher wird nicht immer über Namen, der Sprechakt nicht über deklarative Verben eingeleitet bzw. gekennzeichnet. Bei der transponierten Rede kann man ebenfalls häufig die Erzählerrede nicht von der Figurenrede unterscheiden.36 Der extradiegetische Erzähler fokussiert bei seinen Betrachtungen immer wieder andere Figuren (General, Arzt, Priester, den Guru Upanitsche etc.), bleibt aber nie konstant einer Perspektive verhaftet. Ferner scheint der extradiegetische Erzähler der Rahmenhandlung gleichzeitig auch der (intradiegetische) Erzähler zu sein, der Burton über die drei Romanstationen folgt und immer wieder auch andere Figuren fokussiert. Der Erzähler könnte europäisch sein (über das Geschlecht kann spekuliert werden) und wäre Burton von England aus nach Indien und darüber hinaus gefolgt. Im Kapitel Mit großen Ohren hingegen wird von einem Händler, Mirza Abdullah, berichtet, und zwar aus einer muslimischen bzw. einheimischen Perspektive (»Er [Mirza Abdullah] flucht über die Ungläubigen«, W 191; »So ist er, dieser Mirza Abdullah, mit dem wir unsere Abende verbringen«, W 193, Hervorhebung: LP). Dieser Erzähler taucht nicht mehr auf, es ist nicht klar, wer hier gesprochen hat.37 Die Differenz und Unterschiedlichkeit wird unterstützt durch die verschiedenen Erzähltechniken (verschachteltes Erzählen, lineares Erzählen, szenisches Erzählen, orales Erzählen),38 die im Roman Anwendung finden und von Domeday als »formale ›Kontaminierung‹ der grand 35 Für Bay stellen die fokalisierten Figuren »kulturelle[ ] Grenzgänger[ ]« dar. Hansjörg Bay : Going native? Mimikry und Maskerade in kolonialen Entdeckungsreisen der Gegenwartsliteratur (Stangl, Trojanow). In: Christof Hamann u. Alexander Honold (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Berlin 2009, 117–142, hier 135. 36 »Als wäre er nicht um die halbe Welt gesegelt, so gründlich heimelte es um ihn herum« (W 44); »Gassengicht. Jeder Schritt eine Berührung. Burton musste immer wieder zur Seite springen« (W 25). »Ist es das, was ihn immer wieder in die Fremde zieht – die vorübergehende Blindheit? In England, sanft, grün und manierlich, lag alles aufgeschlagen da. Wie kann ein Land so geheimnisvoll sein?« (W 245) 37 Vgl. auch W 161ff. Hans Jörg Bay hat in seinem Aufsatz genau auf das problematische Verhältnis »von Faktizität und Fiktionalität« hingewiesen. Bay : Going native? (Anm. 35), 136. 38 Vgl. Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 108f.

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narratives der europäischen Dominanzkultur«39 und damit als subversiv bezeichnet werden. Dabei kann keine Erzählinstanz als autoritär oder ›wahr‹ angesehen werden, denn die Aussagen der einen Erzählinstanz werden durch die anderen ständig relativiert, verändert, infrage gestellt oder widerlegt: Burton wird so immer wieder neu positioniert. Dabei findet hier aber keine Vermischung von einzelnen Aspekten, die eine neue Identität Burtons ergeben, statt; es sind auch nicht viele verschiedene Identitäten. Die narratologischen Verwirrungen, ungenauen Aussagen, Widersprüche, die in den unterschiedlichen Erzählweisen auftauchen, bringen den Leser dazu, die Aussagen immer wieder zu hinterfragen. Auf narratologischer Ebene wird hier das Aushandeln, das Ausloten, das zeitweilige Positionieren und Positioniert-Werden vorgeführt – die hybride kulturelle Identität. Neben diesem Aspekt der Hybridität, der sich auf die individuelle Ebene, die Identität, bezieht, muss das Erzählverhalten auch subversives Potenzial transportieren. Im Weltensammler finden sich Aspekte, die man unter den Kategorien historischer Roman, postkolonialer Roman und Reiseroman fassen könnte. Er ist allerdings kein ›typischer‹ Vertreter dieser Subgattungen, vielmehr wird hier mit diesen Zuordnungen gebrochen. Für den Weltensammler hat Rakowski herausgearbeitet, dass dieser das Genre des europäischen Reiseromans nicht nur überschreitet, sondern mit diesem auch bricht.40 Durch die differenzierte Gestaltung der ›Inder‹ wird mit der Konvention der europäischen Reiseliteratur gebrochen, umgekehrt wird auch die Darstellung der Engländer, die als holzschnittartige Stereotype auftauchen.41 Damit liegt hier ein Hybridisierungsprozess nach Bhabha vor, bei dem die autoritäre Stimme der kolonialen IndienReiseliteratur hinterfragt und bloßgestellt wird. Weitere Grenzüberschreitungen finden sich im gesamten Roman verteilt; so sind immer wieder originale Textpassagen der historischen Person Richard Burton in den Erzählverlauf integriert,42 es werden auch außerliterarische Textformen in Form von Briefen eingebaut.43 All diese Grenzüberschreitungen mit ihren jeweiligen Brüchen und das multiperspektivische Erzählen laufen dabei auf ein zentrales subversives Moment zu: die Repräsentation Burtons. Er wird von allen positioniert und fest39 Domedey : Intertextuelles Afrikanissimo (Anm. 33), 55. 40 Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 49. Für den historischen Aspekt vgl. ebd., 115. 41 Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 54. 42 Vgl. hierzu Bay : Going native? (Anm. 35), 135; Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 67, 71. 43 Eine weitere Grenzüberschreitung in Form der Übersetzung durchzieht den Roman hinsichtlich der teilweise ungeklärten Verwendung von Fremdwörtern bzw. Aussprüchen in der jeweiligen Sprache. Vgl. Ölke: Interkulturalität und Exotismus (Anm. 29), 44.

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gelegt. Dass diese Festlegung nicht funktioniert, liegt an den vielen unterschiedlichen Stimmen; dass er repräsentiert wird, kehrt den autoritären Diskurs um. Hybrides Erzählen führt also einerseits im Gegenüberstellen von unterschiedlichen Positionen Hybridität im kulturtheoretischen Sinn vor; andererseits wird das Widerstandpotenzial durch den Bruch mit der Repräsentation des ›Anderen‹ deutlich. In dem Aufeinandertreffen differenter Aussagen und der Umkehrung von Herrschaftspositionen wird ein poetischer Zwischenraum, ein third space, eröffnet, der es dem Leser erlaubt, feste kulturelle Positionen und Oppositionen (Nation, Rasse, Klasse, Religion, Ritual) anhand der Person Burtons aufzubrechen und neue auszuhandeln. Der Roman funktioniert hier als der von Bhabha beschriebene third space, das inbetween, in dem Hybridität stattfindet – der Roman wird hybridisiert.

Religion und Religiosität im Weltensammler Gilt dies nun auch für die Darstellung der Religion bzw. Religiosität? Der Roman beginnt in medias res mit der Problematik der Religionszugehörigkeit – und dies bereits mit den ersten beiden Sätzen: »Er starb früh am Morgen, noch bevor man einen schwarzen von einem weißen Faden hätte unterscheiden können. Die Gebete des Priesters verebbten.« (W 13) Der Einstieg ist sowohl inhaltlich als auch sprachlich unmittelbar, denn der Priester, der explizit genannt wird, rekurriert auf das Christentum; mit dem ersten Satz jedoch wird eine sprachlich explizite Verbindung zum Islam gezogen, da er auf die muslimische Definition der Dämmerung aus dem Koran referiert (Sure 2:187). Der Roman ist somit von Beginn an in eine Religionsthematik eingebunden, er beginnt und endet auch damit. Zudem ist der gesamte Roman mit seinen drei Stationen anhand von religiösen Symbolen konzipiert, die den Symboliken der jeweiligen im Kapitel beschriebenen Tradition angehören.44

44 »Das […] Indien-Kapitel mit 64 Szenen spiegelt eine heilige Zahl. Vier ist die Grundzahl für die Himmelsrichtungen und die Ecken des Quadrats, die Basis des Mandala, das meist aus einem Quadrat mit vier gleichen Teilen besteht. 64 Stellungen […] beschreibt das ›Kamasutra‹, unterteilt in zwei Zyklen. Vier ist die Basis für das hinduistische Zeitverständnis […]. 12 Verhöre bestimmen das zweite, das arabische Kapitel, wie 12 Monate das Jahr, chronologisch und linear wie im islamischen Zeitverständnis. Fragmentarisch, an Ereignisse geknüpft, ist das Afrika-Kapitel erzählt, dem dortigen Verständnis von Zeit entsprechend.« Eintrag »Trojanow, Ilija«. In: KLG. Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv. Online unter : www.munzinger.de/document/00000022967 (29. 09. 2013).

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Religiosität Der Weltensammler beschreibt drei religiöse Erfahrungen des Protagonisten: das Shiva-Fest in Baroda, die Derwisch-Erfahrung im Sindh und die Hadj. In Baroda macht ihn sein Lehrer Upanitsche mit der Advaitavada-Lehre45 vertraut. Der Name des Brahmanen leitet sich von den Upanischaden her, diese stehen im Kontext der indischen Mystik und gelten als Geheimlehren, weist doch das Wort u-pa-ni-schad (»›sich nahe bei etwas oder jemandem niedersetzen‹ bzw. ›sich verehrungsvoll [einem Lehrer] nahen‹«46) bereits auf diesen Aspekt hin.47 Michels verweist darauf, dass die Grundlehre der Upanischaden in der Identifikation der Individualseele (a¯tman) mit dem Absolutum (brahman) liege. Explizit würde sich diese Atman-Brahman-Identifikation in den Sprüchen tat tvam asi (das bist du) respektive aham brahma¯smi (ich bin Brahman) äußern.48 Es ist genau diese Lehre von der »Nicht-Zweiheit«, des »Ohne-Zweites«, die auch Upanitsche Burton vermittelt (W 184–186). Nach einer intensiven Erfahrung bleibt die Adavaita-Lehre allerdings für Burton an den indischen Kontext der Aufgehobenheit in der Masse gebunden. So formuliert er, dass die Menschen es gewohnt seien, einer von vielen zu sein (W 186). Damit verknüpft er diese Heilsvorstellung der spirituellen Suche nach dem von Tod und Alter befreiten Selbst mit dem rituellen Kontext und dem kulturellen Hintergrund der ›Hindu‹49-Inder und schließt sie so für sich als Europäer aus – er bewertet diese Tradition aus seiner kolonisatorischen Perspektive. Die erste Begegnung Burtons mit dem Islam ist spiritueller, mystischer Natur, trifft er doch auf seinen Reisen einen Derwisch (W 122f.), der ihn in seinen Bann zieht. Diese Wahrnehmung ist auditiv. So vernimmt er ein Lied, »das ihn bewegte, ein Lied, das an dem Putz einer verborgenen Kammer seines Wesens kratzte« (W 123). Die hier geschilderten Erfahrungen sind Beschreibungen eines sufistischen, mystischen Erlebnisses, das auf eine radikale Form der Liebe zu Gott rekurriert.50 Auch hier geht es um die Auflösung in einer größeren Ordnung, was Burton für sich ablehnt: »Eigentlich ist es gar nicht seine Art, freiwillig Teil einer größeren Ordnung zu sein.« (W 302) Dies gilt bei Burton in jeglicher Hinsicht. Er ist Einzelgänger, Grenzgänger, Exzentriker. 45 Axel Michaels: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. Broschierte Ausgabe. München 2006, 296. 46 Michaels: Der Hinduismus (Anm. 45), 286. 47 Vgl. Michaels: Der Hinduismus (Anm. 45), 286. 48 Michaels: Der Hinduismus (Anm. 45), 287. 49 Zur Problematik der Konstruktion des Hinduismus als nationaler Religion der Inder vgl. Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and »The Mystic East«. London 1999. 50 Vgl. Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart. München 2008, 232.

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Die ausführlich beschriebene religiöse Erfahrung der Hadj nimmt allerdings einen anderen Stellenwert ein. Anfangs ist diese Reise nicht religiös, sondern eher wissenschaftlich (ein Auftrag der Royal Geographical Society, W 234f.) motiviert, davon wird der Leser vom extradiegetischen Erzähler unterrichtet, der sich eben über diese Verkleidung, seine Gefangenheit darin (W 237) und Burtons Umgang damit (Arzt, Patienten, Haremsbesuch etc.) amüsiert. Die Brüche, die auf eine Verkleidung und weniger auf die Vorstellung einer Verwandlung aus dem letzten Romanteil hinweisen, sind dabei deutlich artikuliert: Burton ist sich seiner Gefangenschaft in der Rolle bewusst, er muss sich an die Sprache und die typischen Handlungen gewöhnen (W 248), er fällt durch ein Trinkgelage (W 262) sowie seine Selbstzweifel bezüglich dieser Reise (W 288) auf. Burton ist die Tatsache, dass er die Person, für die er sich ausgibt, nur imitiert, vollkommen klar. Dass er dabei immer mehr in die Hadj, seine Reisegesellschaft und die mitreißende religiöse Stimmung involviert wird, zeigt sich an der immer weiter fortschreitenden internen Fokalisierung51 des Erzählers, der mit jedem Näherkommen an die einzelnen Meilensteine der Hadj immer stärker mit der Figur Burton verwoben scheint. Der Ursprung der transponierten Rede wird immer unklarer, Erzähler und Burton verschmelzen auf eine Weise, die im Roman einmalig ist und sich hier explizit auf die Darstellung der religiösen Erfahrung bzw. des inneren Konflikts der Figur bezieht. Dieser rührt aus dem Konflikt des Protagonisten zwischen seiner Pilgererfahrung und dem Rückbezug auf seine Verortung im europäischen Kulturkreis.52 Am Ende der Reise, als er die Kaaba erreicht, weichen das anfängliche Hochgefühl und die Zugehörigkeit einer rationalen Analyse des religiösen Inhalts und der Feststellung, dass »die oberflächliche Form [die Kaaba] nötig [ist] für jene, denen es an Phantasie mangelt. Die sich das Allgegenwärtige nur in Stein gefaßt, in Stoff gestickt, auf Leinwand geworfen werden vorstellen können.« (W 318ff.) Beide Erfahrungen sind dabei ambivalenter Natur, Burton fühlt sich einerseits hingezogen, hat den Wunsch nach Zugehörigkeit, nach Einheit, andererseits ruft er sich selbst wieder zur Ordnung: Den religiösen Bezug der gläubigen Muslime bezüglich der Kaaba analysiert er auf eine rationale Weise und deklassiert die Pilger als phantasielos, weil sie sich Gott nur in Stoff gekleidet vorstellen kön51 Vgl. Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 68. 52 »Und auch er blickt zur Ruhmreichen [Medina] hinab, und auch seine Schreie erklingen zwischen den Felsen, und obwohl er nicht weint, wie manch anderer Pilger, umarmt er Saad heftig […]. Lange Minuten bleibt er auf dem Kamm stehen, einer im Einen, aufgehoben in der festlichen Brüderschaft, begründet durch den Anblick von Medina, und wenn ihn jetzt jemand nach seiner Zugehörigkeit fragen würde, er würde inbrünstig das erste Glaubensbekenntnis deklamieren. Ohne eine Einschränkung, wie sie ihm Minuten durch den Kopf schießt: Warte, du bist nicht einer von ihnen. Wieso jubelst du? Natürlich bin ich einer von ihnen. Du musst beobachten. Ich will Anteil nehmen.« (W 299f.)

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nen.53 Sein Bezug zum Religiösen ist dabei genauso angelegt wie der zu seinen Fremderfahrungen: Er möchte die Wahl haben, alles auszuprobieren und das Beste auswählen zu können, und wenn möglich das Ausgewählte an seine Vorstellungen anpassen. Dies ähnelt allerdings der von Ha kritisierten ›ObstsalatMetapher‹, bei der man sich an allem bedienen kann und eine ›Bastel-Identität‹54 entwickelt. So sagt der Kadi am Ende der Beratung des einberufenen Gremiums zur Klärung von Burtons Glauben und Tätigkeiten: Ich denke, dieser Mann steht außerhalb des Glaubens. Nicht nur unseres Glaubens. Das erlaubt ihm hinzugehen, wohin sein Wille ihn treibt. Ohne Gewissensbisse. Er kann sich an dem Glauben anderer bedienen, er kann annehmen und verwerfen, auflesen und weglegen, wie es ihm beliebt, als wäre er auf einem Marktplatz. (W 290f.)

Dieser Marktplatz bezieht sich bei Burton allerdings nur auf die ›großen‹ Religionen; die religiösen Formen, die ihm in Ostafrika begegnen, werden deklassiert, sie würden die europäische Klassifikation Religion nicht einmal verdienen (W 416). Burtons religiöse Erfahrung entspricht demnach vielmehr der postmodernen ›Multikulti-Identität‹ – die sich nur aus einem bestimmten, als gut empfundenen Kanon speist –, sie ist also nicht hybrid, das Erzählen darüber hingegen schon. Das Sprechen über Burtons Religiosität, über seinen Glauben, ist gekoppelt an das Sprechen über seine Identität. Dieses ist, wie bereits festgestellt wurde, hybrid. Interessanterweise scheint der Erzähler immer dann mit Burton zu verschmelzen, wenn dieser eine religiöse Erfahrung durchlebt, sei es an einzelnen Stellen während der Erzählung der Hadj, sei es bei der des Shiva-Festes, sei es bei der seines Treffens mit dem Derwisch. Dieser Perspektive stehen allerdings in allen Fällen die Stimmen der Einheimischen gegenüber, die die gewonnenen Informationen immer wieder brechen. So heißt es seitens Naukarams über Burton, dass »die eigenen Bräuche […] für ihn nur Aberglaube, Hokuspokus [seien]. […] Die fremden Traditionen hingegen seien faszinierend, weil er sie noch nicht durchschaut habe.« (W 63) Allerdings passen die religiösen Erlebnisse Burtons nicht zu dem rationalen Zugang, den Naukaram beschreibt. Auch die Wahrnehmungen Burtons von seinen Reisebegleitern während der Hadj zeichnen ein unterschiedliches Bild seiner Glaubenszugehörigkeit und werden immer wieder als Zeugenaussagen, Berichte und Briefe in die Erzählung eingespeist. Nicht zu vergessen ist der Hintergrund, vor dem diese gegeben werden: Einige Aussagen sind durch Folter erzwungen, andere wurden eingeholt, ohne die Befragten darauf hinzuweisen, dass Burton sich verkleidet hatte – man hat diese Personen also nach ihrer Meinung über den Mann gefragt, als der er sich 53 Vgl. auch Rakowskis Vergleich zwischen historischem Pilgerbericht Burtons und Trojanows Bearbeitung. Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 71. 54 Zu Bastelidentität vgl. Eickelpasch u. Rademacher : Identität (Anm. 15).

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ausgegeben hat. Die einen sehen in ihm einen »guten Moslem« (W 261), die anderen glauben nicht einmal, dass Burton ein Engländer ist: »Ich wußte natürlich, daß er ein Abgefallener war. Nein, nicht wie Sie sagen, das kann ich nicht glauben. […] Er war ein Shia.« (W 271). Weiterhin ist das erzählerische Pendant der Einheimischen gekennzeichnet durch Grenzüberschreitungen. So wechselt die Darstellung zwischen szenischem Erzählen und Briefen bzw. Berichten ab. Es werden original historische Texte von Sir Richard Francis Burton aufgenommen, wie der Auszug aus dem ursprünglichen Pilgerbericht – der Ankunft in Medina –,55 der von Trojanow als Ausgangspunkt genommen wird, um den inneren Konflikt abzubilden. Dabei verschiebt sich »beim Autor Richard F. Burton die retrospektiv als selbstverständlich dargestellte Lösung dieses Kampfes [zum] Sieg des aufgeklärten europäischen Reisenden«, während für den Erzähler im Weltensammler »die abklingende Euphorie als Ernüchterung [erscheint]; so, als bedauere er geradezu den ›sezierenden‹ Blick von Abdhullas [Burtons Alter Ego] Augen.«56 Das Erzählen von Burton durch Zusammensetzen und Umschreiben als Hybridisierungsprozess erhält auch hier ein subversives Potenzial, denn der historische Burton nutzte das Schreiben, um sich von seinem Alter Ego zu distanzieren, sich auf seine europäische Herkunft zu besinnen;57 hier hingegen wird der Konflikt einer Zugehörigkeitsfindung inszeniert. Die Identifizierung mit den anderen Muslimen, beim historischen Burton abwertend, wird hier verschoben zu einer positiven, von der man sich mit Bedauern trennt. Anhand der verschiedenen Perspektiven auf Burton kann der Leser auch hier, wie für die kulturelle Identität, keine einheitliche Zuordnung treffen. Im Leseprozess muss Burtons Positionierung aufs Neue austariert und verhandelt werden, er muss zwischen europäischem, herrschendem Kontext, Abenteuerlust, Sehnsucht und gleichzeitiger Ablehnung von religiöser Zugehörigkeit verortet werden, wobei diese Verortung situativ ist. In diesem Prozess zeigt sich für den Leser aber auch, dass immer über den Protagonisten gesprochen wird. Dieses Erkennen versetzt damit der Repräsentationsstruktur einen Riss, sie wird als solche enttarnt. Wenn der Weltensammler nun von Burtons Religiosität hybrid erzählt, kann das Sprechen über die religiösen Erfahrungen anderer Figuren nicht hybrid sein. Exemplarisch wird das an der Figur Sidi Mubarak Bombay58 deutlich. Er selbst lässt durch seine Erzählung darauf schließen, dass seine kulturelle Identität, und damit auch seine religiöse, als hybrid bezeichnet werden kann:59 »Die Wahrheit, Vgl. Fußnote 52. Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 71. Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 71. Zur hybriden Natur der eigenen Namenswahl siehe Wägenbaur : Wittgensteins implizite Ethik (Anm. 12), 277. 59 Wägenbaur sieht in Burton und in Sidi Bombay zwei unterschiedliche hybride Identitäten:

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über Nacht verflogen, muss jeden Morgen neu gesucht werden.« (W 356) Um seine Ablehnung von Vereinheitlichungen sowie »sein Selbst-Bewusstsein und [seine] Emanzipation von den europäischen, arabischen und indischen Fremdzuschreibungen«60 zu verdeutlichen, kritisiert Sidi Bombay gerade die Religionen, deren Inkohärenz er aufzeigt und die er für sich selbst ausschließt.61 Damit ist Sidi Bombays Verhältnis zum Glauben weniger über kanonisierte und institutionalisierte Religion(en) bestimmt, sondern über eine Religiosität, die durch immer wiederkehrende Such- und Verortungsbewegungen gekennzeichnet ist.62 Über sein religiöses Selbstverständnis erklärt sich auch das Paradoxe, das Ambivalente der Hybridität. Durch seine eigentliche Entwurzelung in Form der Versklavung ist er zu einer stetigen Identitätssuche gezwungen, er ist ruhelos, muss er doch immer wieder seine Identität neu aushandeln. Hier spiegelt sich Bhabhas Konzept vom kolonialen Subjekt wider, das durch die diskriminatorische Praxis seiner eigenen Identität beraubt wurde und als hybrides koloniales Subjekt, bewusst oder unbewusst, sich neu positionieren muss, was sich allerdings nicht in der narratologischen Struktur spiegelt, da nur Sidi Bombay von sich erzählt.63

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Burton, der sich Hybridität aneignet, Sidi Bombay, der dazu gezwungen wird. Vgl. Wägenbaur : Wittgensteins implizite Ethik (Anm. 12), 278ff. Diese Argumentation erscheint für mich problematisch, da ich Hybridität nicht als eine Eigenschaft begreife, sondern als einen Prozess. Domedey : Intertextuelles Afrikanissimo (Anm. 33), 54. Am Islam problematisiert Sidi Bombay, dass die Sklavenhändler andernorts Brüder im Islam genannt würden (W 459). Die Religion derer, die sich als Herren sehen – also das Christentum –, könne die Einheimischen nicht überzeugen. Am Hinduismus kritisiert er die fehlenden Gesetze gegen die Sklaverei (W 363). Vgl. zur Sklaverei als Trauma für Sidi Bombay Wägenbaur : Wittgensteins implizite Ethik (Anm. 12), 278. Sidis Religiosität in ihrer synkretistischen Form erfordert schlussendlich keine gesonderte Form der Anbetung, sondern der Glaube zeigt sich in der Tat (W 444). Die narratologische »Fundgrube«, das Ostafrika-Kapitel, weist hingegen zahlreiche Elemente des postkolonialen Schreibens auf, die Domedey in ihrem Artikel »Intertextuelles Afrikanissimo« herausgearbeitet hat. So würde hier das europäische Erzählverhalten »kontaminiert«, es gäbe Passagen des »rewriting«, des »signifying«, der intertextuellen Vermischung. Vgl. Domedey : Intertextuelles Afrikanissimo (Anm. 33). Zu den Schreibformen vgl. auch das Standardwerk von Bill Ashcroft u. a.: The Empire Writes Back. London 2002. Domedays Analyse zeigt, dass im Weltensammler, als eine weitere Grenzüberschreitung, auch Romane postkolonialer Autoren bewusst verarbeitet sind.

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Religion »Ohne Hindernisse«, Kapitel 42 (W 164–168), stellt die zentrale Stelle des Romans in Bezug auf das ›Christentum‹ und die Darstellung der christlichen Mission im Kolonialismus dar.64 Bei einem Diner in der Offiziersmesse entflammt ein Disput über die Frage der richtigen Missionierung bzw. ihrer Notwendigkeit zwischen Richard Burton, Leutnant Ambrose Awdry und Pastor Walter Posthumus. Betrachtet man die drei unterschiedlichen Positionen, so kann man festhalten, dass Burton die Missionierung für sowohl aussichtslos als auch falsch erachtet, Awdry diese durch Alternativen zum momentan ausbleibenden Erfolg führen möchte und der Pastor weiterhin an der bewährten Methode der Predigt festhält. Während sich Burtons Gesprächspartner sehr für das Thema engagieren, nimmt Burton die Diskussion der beiden nicht ernst, er verlacht die bisherigen Erfolge, rekurriert auf eine einheimische Übersetzung der Bibel und schlägt einen geplanten Synkretismus vor : das Christentum den hinduistischen kulturellen Umständen anzupassen.65 Problematisiert und ausgehöhlt wird hier nicht die Vermischung von Religionen, sondern die Reinheitsmaxime66 der Kolonisatoren. Da sie ihre Kultur und damit auch Religion für die beste erachten – und diese Kulturhegemonie als Legitimation für ihre Herrschaft einsetzen –, können sie eine Gegenakkulturation in Form des Synkretismus nicht erlauben. Dieses Gespräch zeigt deutlich, dass es hier nicht um das ›Seelenheil‹ der zu Bekehrenden geht. Im Mittelpunkt steht zwar die christliche Mission, diese ist allerdings eng an die »zivilisatorische Mission«67 der Kolonisatoren gebunden – ihre Herrschaftslegitimation. Das Kapitel führt vor, wie die Religion der herrschenden Gruppe, hier das Christentum, mit ihren Lehren und Texten in den Dienst der kolonialen Herrschsaft gestellt wird (Leutnant) und sich stellen lässt (Pastor), wie sie als Teil der diskursiven kolonialen Praxis fungiert. 64 Ferner unterstützten »[i]m Allgemeinen […] die Missionare aller Konfessionen und Nationalitäten die koloniale Annexion, bejahten prinzipiell das koloniale System und teilten die kulturelle Arroganz ihrer weltlichen Landsleute […]. Es gab aber auch immer wieder Vertreter einer missionarischen ›Linken‹, die sich gegen Exzesse kolonialisierter Herrscherwillkür wandten […].« Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 62009, 102. Vgl. auch Michael Sievernich: Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart. Darmstadt 2009; 91f. Grundsätzlich gilt, so Osterhammel: Es gab ebenso wenig ›die Mission‹ wie ›den kolonialen Diskurs‹, sondern man muss zwischen Herkunft, Konfession und Verband der Missionare unterscheiden. 65 Synkretismus wird mit Ulrich Berner verstanden als das Integrieren fremder bzw. das Suspendieren eigener Elemente in der Begegnung der Religionen. Ulrich Berner : Synkretismus – Begegnung der Religionen. In: Joachim G. Piepke (Hg.): Kultur und Religion in der Begegnung mit dem Fremden. Nettetal 2007, 31–49, hier 49. 66 Vgl. hierzu das Kapitel »Sohn zweier Mütter«, das dies veranschaulicht (W 178–182). 67 Osterhammel: Kolonialismus (Anm. 64), 115.

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Aufgedeckt und gebrochen wird dies durch den von Bhabha beschriebenen Hybridisierungsprozess. Dabei artikuliert Der Weltensammler den Synkretismus als eine politische Gefahr für die kolonialen Diskurse. Burton rekurriert auf das Masala-Evangelium, was bei den Anwesenden auf Empörung stößt.68 Hier geht es um die Vermischung durch das Umschreiben bestimmter Passagen der Bibel. Diese soll nicht einfach nur übersetzt, sondern in den einheimischen Kontext übertragen und angepasst werden. Die Mission und die Bibel als koloniale Instrumente hat auch Homi Bhabha explizit thematisiert.69 Dabei konstatiert er, dass Mission und Bibel als Ausdruck kolonialer Autorität und Praxis angesehen werden können, die durch den Hybridisierungsprozess in Form der Übersetzung, Umschreibung, Hinterfragung unterlaufen werden. Im Weltensammler wird die Bedeutung der Bibel als koloniales Instrument wie auch als Widerstandspotenzial ebenfalls thematisiert. Allerdings wird hier (W 165–169) nicht der eigentliche Hybridisierungsprozess beschrieben, sondern Burton greift in seinem ironischen Vorschlag genau diese Übersetzungsthematik auf und zeigt das Widerstandspotenzial nicht nur an der Bibel, sondern auch bezüglich sozialer Hindernisse auf. Hybridisierungsprozesse als Widerstandspotenzial werden hier auch formal durch eine extraliterarische Grenzüberschreitung unterstützt. Burtons eben zitierte Feststellung ist eine Aussage des historischen Richard Burton.70 Auch der Bezug auf das Masala-Evangelium ist historisch. Der Weltensammler thematisiert in dieser Passage das Christentum als ein Politikum, als eine der Grundlagen der kolonialen Diskurse – und als ein Politikum birgt die Religion und ihre praktische Umsetzung eine politische Reaktion in sich. Der extradiegetische Erzähler, der in der Erzählung Burtons Perspektive eingenommen hat, bezieht in diesem Kapitel eindeutig Stellung. Zwischen den szenischen Erzählpassagen, in denen er sich ganz zurücknimmt und die Positionen der drei Gesprächspartner für sich wirken lässt, kommentiert der Erzähler das Gespräch – und zwar als »[l]eidlich interessant, dieses Gespräch« (W 166) –, um danach in die interne Fokalisierung auf Burton zu wechseln, dessen Gedanken beim Malheur eines anderen Abends verweilen anstatt bei diesem Gespräch. Das Sprechen über Religion, institutionalisiert, kanonisiert und ideologisiert, ist dabei kein hybrides, sondern ein stereotypisches. Es zeigt klare Positionen auf, die von schemenhaften Kolonisatoren-Typen besetzt sind. 68 »ich habe gehört, die portugiesischen Missionare hätten sich verkleidet. Angeblich sind sie als verwahrloste Einsiedler durch die Gegend gezogen. Sie sollen sogar ein Mischmasch aus Evangelium und einheimischen Legenden gepredigt haben. // Das Masala-Evangelium.« (W 166) 69 Vgl. Homi K. Bhabha: Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817. In: ders.: Die Verortung der Kultur (Anm. 17), 151–180. 70 Rakowski: Ilija Trojanows »Der Weltensammler« (Anm. 34), 71.

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Die Gesprächspartner sind sich einig, was sie unter Religion und ihren Inhalten verstehen. Es gibt kein Ausloten verschiedener Positionen, hier öffnet sich kein Raum, um ›Religion‹ aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, der prozessuale Charakter des Aushandelns ist nicht sichtbar. Das subversive Potenzial bezieht sich hier nicht auf die Religion, sondern auf ihre Instrumentalisierung – im Falle des Christentums – im kolonialen Diskurs. In Baroda stehen bei der Darstellung nicht die vielfältigen Aspekte ›hinduistischer‹ Lehren und Riten im Vordergrund. Vielmehr wird hier Burtons Annäherung an das neue und fremde Land beschrieben. Dabei stehen das Sprachenlernen und das going native im Zentrum.71 Der Guru/Lehrer Upanitsche vermittelt Burton den kulturellen Hintergrund dieser Gegend, indem er ihm sowohl die Sprache, das Essen, die Kleidung, den Umgang und auch die religiöse Tradition erklärt und zeigt, was schließlich in der Advaitavada-Lehre gipfelt, womit er »seinem Shishia [Schüler] das Wichtigste beibrachte, was er einem Fremden beibringen konnte« (W 184). Neben dem ›Hinduismus‹ wird im Britisch-Indien-Abschnitt bereits der ›Islam‹ eingeführt; er wird im Arabien-Teil durchgehend beibehalten und auch in Ostafrika ist er relevant. Der ›Islam‹ hat im Weltensammler einen quantitativ höheren Stellenwert als die anderen Religionen. Da er in allen Abschnitten thematisiert wird, äußern sich auch alle fokalisierten Figuren dazu und betrachten diese Religion aus unterschiedlichen, von ihrer jeweiligen (Macht-) Position und ihrem kulturellen Kontext abhängigen Perspektiven. Auf die Frage, wie der Roman den ›Islam‹ darstellt, kann man nicht eindeutig antworten – analog zu der Frage nach Burtons Identität. So sind alle Aussagen Naukarams, der seine indische Identität über Religion bestimmt, sowohl über die Muslime als auch über den ›Islam‹ negativ. Die Muslime seien »wild und brutal« (W 81), mit ihnen sei kein Gespräch möglich (W 82) und ihre Sprache sei »harsch und zungenverkrümmend« (W 105). Ferner stellt er sowohl die Inhalte ihres Glaubens als auch deren Praxis abwertend dar.72 Hier wird eine antagonistische Vorstellung von sich (Reinheit) und den anderen (Schmutz) aufgebaut, die dazu dient, klare Grenzen zu ziehen und diese symbolisch (Reinheitsmetapher) aufzuladen. Naukaram grenzt die Muslime damit in seiner Vorstellung von Indien ab, da sie keine Hindus sind. Die Reinheitsmetapher bezeichnet Ortfried Schäffter73 in seiner soziologischen Bestimmung von Fremderfahrungen als eine typische Symbolik der »Ordnung als perfekte Vollkommenheit«.74 Naukarams 71 Hierzu Bay : Going native? (Anm. 35). 72 Vgl. auch W 105, 187. 73 Vgl. Ortfried Schäffter : Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit der Fremde. In: ders. (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen 1991, 11–44, hier 16–19. 74 Diese Struktur lässt das Eigene als die perfekte Ordnung erscheinen, das Andere dagegen als

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Aussagen sind daher immer vor dem Hintergrund dieser Abgrenzung zu rezipieren. Für den Lahiya hingegen ist Religion weder ein Aus- noch ein Einschlusskriterium, sie spielt vielmehr keine Rolle. So relativiert er alle negativen Aufzählungen Naukarams über die Muslime mit der Aussage, dass es sich mit der eigenen Religion nicht anders verhalte (Aberglaube, Übertreibung, Geräuschpegel der Gebete; W 63, 187, 198). Für ihn sind Religion bzw. religiöse Praktiken ausnahmslos Konstruktionen. Die eigenen Rituale bezeichnet er immer wieder als Aberglauben und Mittel, damit die Gläubigen um ihr Geld betrogen werden können. Der Lahiya zweifelt nicht die Existenz von etwas Höherem, sei es Gott, sei es die Vorstellung von Brahman, an; er hinterfragt jedoch religiöse Rituale und Weissagungen.75 Ferner postuliert er ganz pragmatisch, dass Ortswechsel auch Glaubenswechsel nach sich ziehen (W 107). Seiner Ansicht nach sind die Muslime und die Hindus ein Volk, welches von den Briten unterdrückt wird. Er streitet die kulturellen Unterschiede zwar nicht ab, relativiert sie aber so weit, dass sie zu Gemeinsamkeiten werden. Somit sind seine Aussagen über die jeweiligen Personen bzw. Gruppen programmatisch: Der Lahiya äußert sich an keiner Stelle negativ über die Muslime und auch nicht über das Christentum und an keiner Stelle positiv über die Engländer. Die Position des Lahiya verweist im Weltensammler darauf, dass es antikolonialistische Bewegungen in Indien gab, die die Bildung einer eigenen Nation zum Ziel hatten.76 Seine Aussagen über Muslime und Islam müssen dementsprechend vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Abgrenzung gegenüber den Kolonisatoren gelesen werden – Naukaram und der Lahiya als Hindus widersprechen sich also größtenteils in ihrer Darstellung des ›Islam‹. Die Kommission im Arabien-Kapitel besteht aus drei Mitgliedern: dem Gouverneur – er stellt die Vertretung des Sultanats des Osmanischen Reiches im Hijaz dar –, dem Sharif von Mekka, der die weltliche Repräsentation in der heiligen Stadt abbildet, während die dritte Person, der Kadi, ein Proteg¦ des Alim (hoher Schriftgelehrter) in Mekka ist und aufgrund seiner Verbindungen wie das Gegenbild, eine Negation des Eigenen. Es gibt eine fest definierte Grenze, die die Eigenheit vom Fremden unterscheidet und dieses als unvereinbar, wesensfremd erscheinen lässt. Ein Fremderleben wird somit als Bedrohung, als Gefährdung der eigenen Integrität erfahren. Das Fremde dient dabei als Kontrast und verstärkt so die Identität der Eigenheit. Häufige Metaphern hierbei sind »Reinheit«, »innere Stärke«, »Gesundheit« und »Unvermischtheit« für das Innen und »Krankheit«, »Gift«, »Schmutz« und »Unreinheit« für das Außen. Vgl. Schäffter : Modi des Fremderlebens (Anm. 73), 16–19. 75 »Im Tempel würden sie mal wieder die Götter um Hilfe anflehen« (W 27); »Wir verfassen hier kein Lehrbuch der Zauberei.« (W 40); »Hat er [Burton] solange gebraucht, um unseren Aberglauben zu durchschauen?« (W 63) 76 Vgl. Hermann Kulke u. Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute. München 1998, 347f.

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auch seiner Kenntnisse zu dem hohen geistlichen Amt eines Kadi aufgestiegen ist. Für die drei Untersuchenden bietet sich ein vielschichtiges Kaleidoskop von Aussagen, Geständnissen und Berichten an, welches sie zu durchdringen versuchen. Indem sie danach trachten, Burton den Schiiten zuzuordnen, und diese generell als Lügner stereotypisieren (W 271), erkennt der Leser, dass innerhalb des als ›wahr‹ und ›rein‹ (analog zum Christentum) artikulierten muslimischen Glaubens Zugehörigkeitsprobleme auftauchen.77 Auch sind dem Leser bereits, in einer positiven Darstellung, die Derwische aus dem Britisch-Indien-Abschnitt bekannt; hier werden sie von Angehörigen des ›Islam‹ stereotypisch als Trinker abgebildet (W 271). Nicht zu vergessen ist auch, dass die drei Personen unterschiedliche Interessen vertreten; sie versuchen sich gegen die jeweiligen anderen durchzusetzen, sind sich in der Art der Befragung und in der Bewertung der Zeugenaussagen nicht einig. Im Laufe des Verhörs erweisen sich alle Verdächtigungen als ebenso denkbar wie fragwürdig, einmal gefasste Schlüsse müssen beim nächsten Treffen über den Haufen geworfen werden, und am Ende sind die drei Männer weniger schlau als zu Beginn, ganz im Gegensatz zum Leser, der durch einen Treibsand von Intrige, Propaganda, Unterstellung und Verdächtigung geführt wird, bei dem sich die sakrale mit der profanen Sphäre so sehr vermischt, daß sie manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind.78

Im Ostafrika-Kapitel hingegen wird über den Einheimischen Sidi Bombay ein weiteres differenziertes Bild des ›Islam‹ vermittelt: Muslime als Sklavenhändler und Glaubensbrüder. Der Leser befindet sich hinsichtlich der Frage, was der ›Islam‹ ist und was er nicht ist, in einer Suchbewegung. Bei jeder neuen Beschreibung muss er mit sich aushandeln, was er davon annimmt, wie er es bewerten will. Er ist sich der Heterogenität der Aussagen und ihres problematischen und von Machtpositionen bestimmten Kontexts bewusst und muss sich ständig neu zu ihnen positionieren. In diesem Prozess der Auslotung wird auch subversives Potenzial transportiert. Die literarischen Grenzüberschreitungen durch Briefe und Berichte, durch Einschübe und Umschreibungen von historischem Material, sie alle können als subversive Strategien gegen einen möglichen autoritären Diskurs gelesen werden. Hybrides Erzählen wird am Beispiel des ›Islam‹ vorgeführt, mit der holistischen Vorstellung dessen gebrochen. Dabei relativieren sich die positiven und negativen Bewertungen gegenseitig, am Ende bleibt keine qualitative Hierarchie. Dass Burtons Islamerlebnisse im 77 Das Schiitentum ist als eine Gegenrichtung zum »imperialen Islam der muslimischen Herrschaftsdynastien und zum strengen Formalismus der ›orthodoxen‹ islamischen Geistlichkeit« entstanden. Aslan: Kein Gott außer Gott (Anm. 50), 223. 78 So die Homepage Ilija Trojanow. Online unter : www.ilija-trojanow.de/roman.cfm (27. 06. 2014).

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Roman quantitativ überwiegen, mag an der Nähe der historischen Person zum Islam liegen, die angeblich konvertiert ist – ebenso wie es der Autor selbst angeblich getan hat –, aber auch am persönlichen Interesse des Autors, der die Hadj eigenständig unternommen hat – und zwar als Recherche zum Roman.79

Fazit Zusammenfassend können für die narratologische Darstellung von Religion und Religiosität im Weltensammler folgende Ergebnisse festgehalten werden: – Der Roman inszeniert in Form eines hybriden Erzählens kulturelle – und damit auch religiöse – hybride Identität anhand der Figur des Richard Burton. Hierzu werden verschiedene narratologische Verfahren eingesetzt, die dazu führen, dass der Leser den Protagonisten und seinen individuellen Bezug zur Religion nicht eindeutig bestimmen kann und jede Position immer wieder verhandelt werden muss. Gleichzeitig wird durch das ausschließliche Sprechen über Burton und sein Verhältnis zu den Religionen das Repräsentieren als koloniale Praxis bloßgestellt und umgekehrt – Burton wird zum stimmlosen, zum repräsentierten Objekt. Dieses subversive Potenzial der Hybridität im postkolonialen Kontext wird im Roman inszeniert und durchgespielt. – Hybrid ist allerdings nur das Sprechen über Burton: Ihm selbst kann weder eine hybride Identität noch Religiosität bescheinigt werden. Vielmehr zeichnet die repräsentative Darstellung ihn als eine Person, die zwar aus der starren Enge des Engländerdaseins ausbrechen will, aber ihre Vorurteile und ihre Verortung als Kolonisator nicht überwinden kann. Dies wird besonders an der diskriminierenden und deklassierenden Einstellung gegenüber den religiösen Praktiken der ostafrikanischen Völker deutlich. – Von Religion wird am Beispiel des ›Islam‹ hybrid erzählt. Auch hier sind es mehrere Stimmen, die sich, abhängig vom Kontext, der hierarchischen Position und der eigenen Agenda, zu diesem äußern. Durch grenzüberschreitende narratologische Einschübe und Konstellationen wird das Aufkommen eines autoritären Diskurses verhindert, durch die Fokussierung auf eine nicht-christliche Religion, multiperspektivisch berichtet, werden auch hier traditionelle Darstellungsmuster gebrochen. 79 Ilija Trojanow hat zum Weltensammler den Begleitband »Nomade auf vier Kontinenten« sowie »Zu den heiligen Quellen des Islam« geschrieben. Julian Preece hat die Verbindung zwischen den drei Texten ausgearbeitet und konstatiert, dass Trojanow zu dem Zeitpunkt, als er die Hadj unternahm, am Weltensammler geschrieben hat. Vgl. Julian Preece: Faking the Hadj? Richard Burton slips between the lines in Ilija Trojanow’s »Der Weltensammler«. In: ders. u. a. (Hg.): Religion and Identity in Germany today. Doubters, Believers, Seekers in Literature and Film. Oxford 2010, 211–226, hier 220.

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Es wird also von religiöser Identität und Religion am Beispiel des ›Islam‹ hybrid erzählt. Auffällig dabei ist, dass die hybride narratologische Darstellung nicht mit einer inhaltlichen Hybridität korreliert. Im Gegensatz zum Erzählen wird der ›Islam‹ als Religion zwar heterogen und mit verschiedenen Strömungen, aber nicht hybrid bzw. synkretistisch dargestellt, auch nicht das ›Christentum‹ bzw. der ›Hinduismus‹, genauso wenig die hybride Identität des Sidi Bombay. Der Inhalt unterscheitet sich also eklatant von der Art seiner Vermittlung – und genau damit erfüllt der Roman in seiner Gesamtheit die hybride Konzeption: Er bricht formal mit den auf der inhaltlichen Ebene homogenisierenden, einheitlichen und diskriminierenden Darstellungen der Kolonisierten im europäischen Reiseroman, indem er diese direkt zu Wort kommen lässt und gleichzeitig vorführt wie instabil, dynamisch, hierarchiefrei und situativ Identitätsprozesse ablaufen können. Im hybriden narratologischen Blick auf Religion und Religiosität gibt der Weltensammler einen Hinweis, wie die Grenzen der eurozentristischen Perspektive, in der der europäische Protagonist verhaftet ist, aufgebrochen werden können. An Sidi Bombay zeigt er aber auch – und deswegen ist diese Figur so wichtig –, dass dieser Weg nicht einfach gewählt werden kann, sondern eine Erfahrung ist, die mit Unsicherheit, Leid und Verlust einhergeht sowie mit einer Aushandlung, die immer wieder vorgenommen werden muss. Inwieweit das allerdings als programmatische Handlungsanweisung, neokoloniale Strukturen, konfliktgeladene religiöse Begegnungen und Differenzen zwischen verschiedenen kulturellen, homogen wirkenden Positionen zu überwinden, geltend gemacht werden kann, ist fraglich. An genau dieser Stelle kommen Homi Bhabhas Kritiker zu Wort, die fragen, ob Hybridität damit nur für ehemals Kolonisierte, Migranten erreichbar ist. Darauf aber muss der Weltensammler keine Antwort geben.

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Literatur als Theodizee? Providenz und Kontingenz erzählter Welten am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Sand Die Götter schicken den Sterblichen die Leiden, damit sie sie erzählen; aber die Sterblichen erzählen sie, damit sie nie an ihr Ende kommen und damit sich ihre Vollendung in der Ferne der Worte verflüchtigt, da, wo sie endlich aufhören, sie, die nicht schweigen wollen.1

In seinen Schriften zur Literatur beschreibt Michel Foucault das Leiden als das Ur-Movens des epischen Erzählens: Erst die Erfahrungen des Krieges, der Trennung von der Heimat und der Irrfahrten auf dem Meer machen Odysseus zum Erzähler. Die mythologische Denkfigur liefert damit eine Antwort auf das Theodizee-Problem, auf die Frage also, weshalb Gott (oder die Götter) das Leiden der Menschen zulässt: Die Menschen müssen leiden, damit sie etwas zu erzählen haben, damit es überhaupt Geschichten gibt und folglich Entwicklung, Wissens- und Erfahrungstransfer. Zugleich beinhaltet das Mythologem eine anthropologische Erklärung für das Entstehen von Narrationen: Odysseus erzählt seine Geschichte, um seinen Erfahrungen einen Sinn zu verleihen und den Tod erzählend hinauszuschieben. Dem entspricht die These der Erzähltheorie, nach der Menschen seit jeher »durch Geschichten-Erzählen ihre Lebenswirklichkeit in einen für sie begreifbaren Gesamtzusammenhang einzubetten versuchen, weil sie es nicht ertrügen, bloßen Zufällen oder Gesetzmäßigkeiten ohne tieferen Bezug auf ihr Dasein ausgeliefert zu sein«.2 Erzählen, so Albrecht Koschorke, bedeutet Kohärenzerzeugung und Kontingenzbewältigung; es »trägt Sinn in die Welt, versieht ihren Lauf mit Absichten und Zielen«.3 Es scheint also, als seien die Frage nach dem Sinn des Leidens und die nach seiner Erzähl- und Darstellbarkeit miteinander verwandt. Diesem Konnex zwischen Theodizee und Erzählen möchte ich im Folgenden mit Blick auf literarische Texte nachgehen: Worin besteht zunächst das philosophisch-theologische Problem? Inwiefern ist es auch ein literarisches und welche Lösungsop1 Michel Foucault: Das unendliche Sprechen. In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M. 1988, 90–103, hier 91. 2 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. München 2012, 11. 3 Koschorke: Wahrheit und Erfindung (Anm. 2), 11.

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tionen bietet die Literatur gegebenenfalls an? Sind Texte der Moderne denn überhaupt noch an Theodizee-Lösungen interessiert – oder zeichnen sie sich nicht vielmehr durch die Abwesenheit von Sinn und die Fragilität von Bedeutungszusammenhängen aus? Diese Fragen sollen schließlich exemplarisch an einem Gegenwartstext untersucht werden, der im genannten Sinne, also als radikal nihilistische Geschichte einer »transzendentalen Obdachlosigkeit«4, einer »Wüste der Sinnlosigkeit«5, rezipiert wurde: Wolfgang Herrndorfs Roman Sand (2011).

1.

Die beste aller möglichen Welten? Die Theodizee als philosophisch-theologisches Problem

Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des menschlichen Leidens gehört seit der Antike zu den zentralen Themen- und Problemfeldern von Philosophie und Theologie. Obwohl der Begriff Theodizee (von griech. heºr und d¸jg) erst im 18. Jahrhundert von G. W. Leibniz ›erfunden‹ wird, formuliert die Problemstellung bereits Epikur : Entweder will Gott die Übel aufheben und kann nicht oder er kann und will nicht oder will nicht und kann nicht oder er will und kann.6

Die Unmöglichkeit, die Existenz Gottes mit der physischer und moralischer Übel zusammenzudenken, resultiert aus den drei Eigenschaften, die ihm in monotheistischen Religionen zugeschrieben werden, wobei neben der bei Epikur implizierten Allmächtigkeit und Güte Gottes als drittes Attribut seine Allwissenheit ergänzt werden müsste. Logisch möglich wären also a) ein ahnungsloser Gott, der die Übel in der Welt zwar abschaffen könnte und wollte, jedoch nichts von ihnen weiß, b) ein schwacher Gott, der die Übel kennt und sie aufheben will, jedoch nicht dazu in der Lage ist, oder schließlich c) ein böser Gott, der von den Übeln weiß und sie aufheben könnte, das jedoch nicht will. Ein Gottesbild, das Weisheit, Macht und Güte vereint, scheint sich hingegen angesichts des physischen Leidens, das Menschen in Gestalt von Krankheiten oder der Bedrohung durch Naturgewalten begegnet, sowie ihrer moralischen Fehler (die wiederum physische Leiden nach sich ziehen können) nicht aufrechter4 Dirk Knipphals: Wehe dem, der in der Wüste liegt. In: Die Tageszeitung vom 15. 11. 2011. 5 Andrea Hanna Hünniger : Die Wüste ist ein sinnloser Ort. In: Die Zeit 47/2011 vom 22. 11. 2011. 6 Die Aussage wird Epikur von Laktanz zugeschrieben. Laktanz: Vom Zorne Gottes. Darmstadt 1972, 47 (13.20).

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halten zu lassen. Den prominentesten Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen, stellen Leibniz’ Essais de th¦odic¦e (1710) dar : Die Verteidigung Gottes wird hier an die Verteidigung der Welt als der »besten aller möglichen Welten«7 gekoppelt. Zugespitzt formuliert bedeutet das: Die dem Menschen widerfahrenden Übel – wobei Leibniz das malum metaphysicum (die grundsätzliche Unvollkommenheit des Menschen), das malum morale (das moralisch Böse) und das malum physicum (das natürliche Übel) unterscheidet – sind nicht wirklich ›übel‹, sondern erfüllen im Gesamtzusammenhang der Welt eine Funktion. So ermöglicht nach Leibniz die moralische Fehlbarkeit des Menschen erst seine Freiheit oder ziehen physische Übel (wie Krankheiten) oftmals etwas Gutes (die Wertschätzung der Gesundheit) nach sich.8 Vermeintliche Defizite der Schöpfung sind also keine wirklichen Defizite, sondern erscheinen lediglich aus einer begrenzten und trügerischen Perspektive als solche. Richtet man den Blick auf das große Gesamtbild, zu dem auch die Hoffnung auf letzte Heilung im Jenseits gehört, so erweisen sich die Übel im Vergleich mit den Gütern als ein »BeinahNichts«.9 Die Welt, die Leibniz beschreibt, ist von einem weisen, gütigen und mächtigen Schöpfer als eine »prästabilierte[ ] Harmonie«10 eingerichtet, in der jedes malum seinen Platz hat und seine Funktion erfüllt – ließe man nur ein kleines Übel weg, so wäre sie nicht besser, sondern ärmer, weniger vielfältig und damit schlechter. »Whatever is, is right«,11 heißt das dann in Alexander Popes Optimismus-Formel – eine Position, die schon im 18. Jahrhundert nicht unwidersprochen bleibt: Angesichts des katastrophalen Erdbebens in Lissabon im Jahr 1755, bei dem mehr als 60.000 Menschen ums Leben kommen, erheben unter anderem Voltaire und Kant Einspruch gegen die Leibniz’sche Position.12 7 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Hamburg 1968, 101 (I, 8): »[G]äbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine geschaffen.« 8 Vgl. Leibniz: Die Theodizee (Anm. 7), 102ff. (I, 10–17) sowie zur Frage der Willensfreiheit 209f. (II, 147). 9 Leibniz: Die Theodizee (Anm. 7), 110 (I, 19). 10 Leibniz: Die Theodizee (Anm. 7), 107 (I, 18). 11 Alexander Pope: An Essay on Man. In four epistles. Providence 1796, 27 (ep I, 292). 12 Vgl. Voltaire: PoÚme sur le d¦sastre de Lisbonne ou examene de cet axiome: Tout est bien. Französisches Original mit deutscher Übersetzung bei Uwe Steiner: Voltaire und der Optimismus. Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires PoÀme sur le d¦sastre de Lisbonne. In: Daphnis 21 (1992), 305–407, hier 376–407; Immanuel Kant: Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westliche Länder von Europa gegen Ende des vorigen Jahres betroffen hat. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1. Berlin 1902/1910, 418–427; ders.: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755. Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat. Ebd., 430–461. Zur philosophisch-literarischen Debatte im Zuge des Erdbebens von Lissabon vgl. grundlegend Gerhard Lauer u. Thorsten Unger : Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. In: dies. (Hg.): Das Erd-

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Das Beben von Lissabon wird zur Metapher für die Erschütterung des metaphysischen Optimismus.

2.

Providenz vs. Kontingenz: Die Theodizee als literarisches Problem

Spätestens mit G. E. Lessings Dramentheorie ist das Theodizee-Problem auch Gegenstand poetologischer Verhandlungen: Im 79. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) fordert Lessing – in Anlehnung an die Leibniz’sche Theodizee – auch von literarischen Texten die Etablierung bestmöglicher, gerechter Welten. Unbedingt zu vermeiden sei das »liaqºm« (das Verbrecherische, Verruchte, Grauenhafte), das in der Darstellung unverdienten Leidens bestehe, da es beim Publikum den Eindruck der Ungerechtigkeit und eine falsche Art des »Jammers« hervorrufe: Aber ist er [der Jammer] das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte? Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist. – Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem anderen sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen […].13

Ganz in Übereinstimmung mit Leibniz begreift Lessing die Welt als von einer gütigen, weisen und mächtigen Instanz sinnvoll geordnete – obwohl sich der letzte Zusammenhang der Dinge der menschlichen Einsicht nicht immer erschließen mag. Die mimetische Abbildung, die das Drama unternimmt, bezieht sich somit nicht auf die Wirklichkeit, wie sie den Menschen erscheint (nämlich kontingent und bisweilen ungerecht), sondern auf die Welt, wie sie ›eigentlich‹, das heißt von einer göttlichen Vogelperspektive aus besehen, ist: gerecht, zusammenhängend und sinnvoll. Der Dichter erscheint als ein ›alter deus‹, dessen Schöpfungen – die erzählten oder dargestellten Welten – sich durch ein beben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008, 13–43, sowie Harald Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses. In: ders.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. München 1986, 74–90. 13 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke. Hg. v. Kurt Wölfel. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1967, 120–533, hier 437.

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Höchstmaß an Kohärenz und Gerechtigkeit auszeichnen sollten. Dem Drama kommt demnach eine didaktische Funktion zu, soll es den Menschen doch lehren, dass sich nicht nur in der Fiktion, sondern auch in der Realität letztlich alles »zum Besten auflöse«. Geschichten von unverdientem, sinnlosem Leid will Lessing daher am liebsten aus der Literatur verbannt sehen: »Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!«14 Dass sich die Literatur nicht an dieses Verdikt gehalten hat, ist offenkundig: Im Gegenteil gehört es geradezu zur Signatur moderner Texte, sämtliche Vorstellungen von Ganzheit und Sinnhaftigkeit infrage zu stellen. Das Paradebeispiel einer solchen Dekonstruktion liefert Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili (1807), das sich auch als Absage an zeitgenössische Theodizee-Versuche lesen lässt: Während das illegitime Liebespaar Jeronimo und Josephe das Erdbeben als göttliche Fügung deutet, die ihnen das Leben rettet und ihre Wiedervereinigung ermöglicht, so begreifen es die Bewohner St. Jagos im Gegensatz als göttliche Strafe für den Sittenverfall in der Stadt, allen voran für die frevelhafte Verbindung von Jeronimo und Josephe und ihr uneheliches, im Klostergarten gezeugtes Kind. Der Text selbst stimmt jedoch keiner der beiden einander diametral entgegenstehenden Providenz-Deutungen zu und setzt an die Stelle der göttlichen Vorsehung den Zufall: »Der Zufall«, so Werner Hamacher, »wird bei Kleist zur dominierenden Ereignisform eines undurchschaubar gewordenen Weltlaufs.«15 Das Erdbeben als prototypisches malum physicum im Leibniz’schen Sinne entzieht sich beiden privat-teleologischen Interpretationen: Es ist weder ein Zeichen der Liebe Gottes noch seines Zorns, sondern verweigert sich als ein kontingentes, im wörtlichen Sinne unverständliches Ereignis jedem transzendenten Sinn.16 Vielmehr wird der Versuch der Deutung selbst bestraft: Jeronimo und Josephe kehren in die Stadt zurück, um die Messe zu besuchen und Gott für ihre Rettung zu danken – und werden vor dem Dom von St. Jago von der blutrünstigen Meute ermordet. Die Interpretation des Uninterpretierbaren, so könnte eine Interpretation des Textes lauten, tötet. Die Frage nach dem Sinn des Leidens, nach der weisen und gütigen Einrichtung der Welt scheint sich spätestens nach 1945 erledigt zu haben: Leibniz’ Antwort – die Übel seien im Vergleich mit den Gütern der Welt ein »BeinaheNichts« – muss angesichts des Holocausts nur mehr zynisch anmuten. Im 20. Jahrhundert wird, schreibt Martin Hainz, »die Theodizee zu einer der zentralen Diskurs-Bruchstellen«.17 Diese Diagnose gilt auch für die Literatur, die die 14 Lessing: Hamburgische Dramaturgie (Anm. 13), 437. 15 Werner Hamacher : Das Beben der Darstellung. In: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalyen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. München 1985, 149–173, hier 153. 16 Vgl. Hamacher : Das Beben der Darstellung (Anm. 15), 152. 17 Martin A. Hainz: Die Verschärfung des Theodizee-Problems im Denken und in der Literatur

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Instabilität von Bedeutungszusammenhängen und die Inkommensurabilität menschlichen Leidens verstärkt zu ihrem Gegenstand macht.18 So lesen sich beispielsweise Friedrich Dürrenmatts Aussagen über das Theater geradezu als Anti-Programmatik zu Lessings Dramentheorie: Statt auf der Bühne bestmögliche Welten zu etablieren, in denen sich alles zum Guten und Sinnvollen rundet, fordert er vom zeitgenössischen Drama, stets die »schlimmst-mögliche Wendung«19 zu nehmen. So heißt es in den 21 Punkten zu den Physikern: 1. Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus. 2. Geht man von einer Geschichte aus, muß sie zu Ende gedacht werden. 3. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung genommen hat. 4. Die schlimmst-mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. 5. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.20

Auch hier liefert das Drama einen ›Schattenriss‹ der Wirklichkeit, allerdings genau im gegenteiligen Sinne: Indem sich in ihm alles auf unvorhersehbare Weise zum Schlimmsten wendet, verweist es auf eine kontingente Welt, nicht auf eine harmonisch eingerichtete Schöpfung. An die Stelle der göttlichen Vorsehung tritt, wie schon bei Kleist, der Zufall als unvorhersehbares Ereignis, das in die Katastrophe mündet. Doch um welche Größe handelt es sich eigentlich, die nun die Geschichten bestimmt? Der Begriff ›Zufall‹ markiert, sowohl in der philosophischen Verwendung wie auch im Alltagsverständnis, in zweifacher Hinsicht eine ›Erklärungslücke‹:21 Zum einen bezeichnet er ein Ereignis, das sich in keinen kausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einordnen lässt – entweder aus subjektiver Perspektive (im Sinne eines Ereignisses, das zwar an sich erklärbar ist, dessen Ursachen ich jedoch nicht kenne) oder/und aus objektiver Perspektive (im Sinne »ontologischer Ursachenlosigkeit«22 : für das Würfelergebnis gibt es an sich keinen Grund). Zum anderen kann es sich bei einem Zufall auch um ein Ereignis handeln, das nicht teleologisch erklärt, also in keinen Sinnzusammenhang eingegliedert werden kann, und das wiederum entweder aus subjektiver Sicht

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des 20. Jahrhunderts. In: Olaf Berwald u. Gregor Thuswaldner (Hg.): Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln u. a. 2007, 145–158, hier 146f. Vgl. Hainz: Die Verschärfung des Theodizee-Problems (Anm. 17), 148ff. Zum Konzept der »schlimmst-möglichen Wendung« vgl. auch Friedrich Dürrenmatt: Sätze über das Theater. In: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. v. Franz Josef Görtz. Bd. 7. Zürich 1988, 118–153, hier 150f. Friedrich Dürrenmatt: Theater-Schriften und Reden. Zürich 1966, 193. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 12. Darmstadt 2004, Sp. 1408–1424 (Lemma »Zufall«). Historisches Wörterbuch der Philosophie (Anm. 21), Sp. 1422.

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(im Sinne eines Ereignisses, das ich nicht geplant habe, das meinen Intentionen zuwiderläuft) oder/und aus objektiver Sicht (im Sinne eines Ereignisses, für das es an sich, d. h. auch aus einer transzendenten, ›göttlichen‹ Perspektive keinen Sinn gibt). In dieser Ausrichtung fungiert der Zufall als Gegenbegriff zu Schicksal, Providenz oder Vorsehung – auch eine kausal determinierte Welt kann kontingent und völlig sinnlos sein.23 Begreift man den Zufall als Erklärungslücke, so ergibt sich für den Schriftsteller ein Problem, soll er ihn doch als dramatisches Mittel, wie es bei Dürrenmatt heißt, »möglichst wirksam einsetzen«: Doch ist ein wirksam eingesetzter, inszenierter Zufall überhaupt noch ein Zufall? Erfüllt nicht jedes Ereignis innerhalb eines fiktiven Geschehens eine Funktion, von der zumindest der Autor weiß? Dürrenmatt zufolge entkommt der Schriftsteller als Schöpfer erzählter Welten seiner ›Gottesfunktion‹ nicht: »Man tut, als ob der Autor nicht mehr der allwissende liebe Gott wäre, der alles von einer Geschichte weiß, aber in Wahrheit ist man eben doch der liebe Gott geblieben.«24 Diese Paradoxie beschreibt auch Max Frisch in seinem Briefwechsel mit Walter Höllerer als Hauptproblem seines Schreibens: Ich stelle lediglich fest, daß ich als Stückeschreiber eine bestimmte Dramaturgie, die ich gelernt habe, nicht mehr brauchen kann. Ich nannte sie kurz: Dramaturgie der Fügung, Dramaturgie der Peripetie. […] Was ich jedenfalls meine, ist eine Dramaturgie, die immer den Eindruck zu erwecken versucht, daß eine Fabel nur so und nicht anders habe verlaufen können, das heißt, sie läßt als glaubwürdig nur zu, was im Sinn der Kausalität zwingend ist; sie will und kann den Zufall nicht plausibel machen. Das ist aber, was mich gerade beschäftigt, die Frage nach der Beliebigkeit jeder Geschichte. […] Wir wissen, daß Dinge geschehen, nur wenn sie möglich sind; daß aber tausend Dinge, die ebenso möglich sind, nicht geschehen, und alles könnte immer auch ganz anders verlaufen. Das wissen wir, aber es zeigt sich nicht, solange auf der Bühne (wie in der Realität) nur ein einziger Verlauf stattfindet. Wo bleiben die ebenso möglichen Varianten? Jeder Verlauf auf der Bühne, der eben dadurch, daß er stattfindet, alle anderen Verläufe ausschließt, mündet in die Unterstellung eines Sinns, der ihm nicht zukommt; es entsteht der Eindruck von Zwangsläufigkeit, von Schicksal, von Fügung. Das Gespielte hat immer einen Hang zum Sinn, den das Gelebte nicht hat.25

Frisch schildert hier eine Spannung, die für die Literatur der Moderne grundsätzlich charakteristisch ist: Zum einen gilt es, den Eindruck von Zwangsläufigkeit und Schicksalshaftigkeit zu vermeiden und das Geschehen als zufälliges – 23 Zur Begriffsgeschichte und den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs vgl. grundlegend Fabian Geier: Die Irrelevanz des Wirklichen. Oder : Der Zufall als Individuationsproblem. Freiburg 2007, 27–81. Geier spricht sich für eine synonyme Verwendung der Begriffe Zufall und Kontingenz aus vgl. ebd., 28ff. sowie 41ff. 24 Dürrenmatt: Sätze über das Theater (Anm. 19), 148. 25 Max Frisch: Dramaturgisches. Ein Briefwechsel mit Walter Höllerer. Hg. v. Literarischen Colloquium Berlin. Berlin 1976, 8f.

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d. h. sowohl als grund- als auch als sinnloses – zu inszenieren. Zum anderen steht dem die künstlerische Darstellung selbst entgegen, hat sie doch immer etwas Providenzielles an sich, immer einen ›Hang zum Sinn‹. Die Fiktionalisierung der Dinge führt, so Hans Robert Jauß, »ihre Verklärung unwillkürlich mit sich«.26 Mehr noch als für das Drama gilt das vielleicht für narrative Texte, besteht eine Erzählung nach Karl Eibls Minimaldefinition doch gerade in der »Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge«.27 Erzählen bedeutet, Bezüge herzustellen, Gründe anzugeben und Sinn zu stiften: Wie also das absolut sinnlose Leiden darstellen, ohne ihm allein durch die Darstellung Gründe, Zusammenhänge und Sinn zu verleihen? Wie vom Zufall erzählen, wenn das Erzählen doch per definitionem gerade der Kompensation des Kontingenten dient? Es scheint also, als seien die Literatur im Allgemeinen und das Erzählen im Besonderen allein aufgrund ihrer Strukturmerkmale latent mit der Theodizee verwandt. Zugleich wehren sich insbesondere literarische Texte der Moderne geradezu gegen diese Sinnstiftungsfunktion, erzählen also gegen ihre eigenen Bedingungen an. Welche ›Providenzvermeidungsstrategien‹ sie dabei entwickeln können, soll im Folgenden exemplarisch an Wolfgang Herrndorfs Sand untersucht werden, einem Gegenwartsroman, der die Spannung zwischen Gott und dem Zufall, zwischen Providenz und Kontingenz ostentativ in den Fokus des Erzählens rückt.

3.

Die schlechteste aller möglichen Welten: Wolfgang Herrndorfs Sand

»Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche.«28 Das 25. Kapitel von Herrndorfs Roman trägt als Motto einen Vers aus dem Buch Hiob. Der intertextuelle Verweis lässt den Protagonisten von Sand – einen namen- und identitätslosen, verwundeten und verzweifelten Mann – als literarischen Nachfolger jener alttestamentlichen Gestalt erscheinen, deren Name untrennbar mit der Frage nach der Herkunft und dem Sinn menschlichen Leidens verbunden ist. Ebenso wie Hiob forscht auch Herrndorfs (Anti-)Held nach der Ursache des Unglücks, das ihn getroffen hat. Er betritt die Bühne erst auf Seite 91, also nach gut einem Fünftel des Textes, wo er mit einer schweren Kopfwunde und ohne Erinnerung, weder an das Geschehene noch an seine 26 Hans Robert Jauß: Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären. In: Dieter Henrich u. Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München 1983, 443–461, hier 460 (Hervorhebung im Original). 27 Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004, 255. 28 Wolfgang Herrndorf: Sand. Berlin 2011, 141.

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Identität, auf dem Dachboden einer Scheune in der Sahara erwacht: Schemenhaft weiß er noch, dass er von drei Männern in Dschellabahs verfolgt wurde, die von einer »Mine« sprachen – oder doch von einer »Schiene« oder einer »Christine«? Das bis dahin Erzählte scheint mit dieser Szene zunächst in keinem erkennbaren Zusammenhang zu stehen: Im ersten Teil des Romans verfolgt der Leser die Bemühungen zweier mäßig begabter Polizeikommissare aus Targat (einer fiktiven nordafrikanischen Stadt), Polidorio und Canisades, den Mord an vier europäischen Bewohnern einer Kommune in der Oase Tindirma in der Nähe von Targat aufzuklären. Der Täter ist eigentlich schnell ermittelt, es handelt sich um den 21-jährigen Amadou Amadou, der bei seinem Überfall auf die Kommune nicht mehr erbeutet hat als einen Koffer mit DDR-Geld und einen Obstkorb. Allein Polidorio ist von der Schuld des Verdächtigen nicht völlig überzeugt und fährt durch die Wüste nach Tindirma, um die Zeugen noch einmal zu befragen – mit dem ernüchternden Ergebnis, dass es an der Täterschaft Amadous keinen Zweifel gibt. Ein zweiter Handlungsstrang stellt Helen Gliese vor, die der augenscheinlich auktoriale Erzähler mit der ihm eigenen Süffisanz vorstellt: »Helen Gliese […] konnte man mit zwei Worten beschreiben: schön und dumm.«29 Doch gleich darauf räumt er ein, dass eigentlich das Gegenteil davon wahr ist: Helen, deren unbestimmbare Miene weniger schön als immer ein wenig ›verrutscht‹ (und damit uninterpretierbar) erscheint, ist eine eigentümlich kalte Person mit messerscharfem Verstand, die sich auf dem Weg nach Targat befindet. Was die Amerikanerin in Afrika zu suchen und was sie mit dem Geschehen um Polidorio, Canisades und dem Verbrechen in Tindirma zu tun hat, wird nicht aufgeklärt. Ein dritter, zunächst ebenfalls unverbundener Erzählstrang kreist um einen Europäer namens Lundgren, dessen geheimer Auftrag es ist, Pläne für eine Ultrazentrifuge zur Uranspaltung an arabische Käufer zu übergeben, die »mit dem Atom rummachen«30 wollen. Unter dem Decknamen Herrlichkoffer wartet er in einem Caf¦ in Tindirma auf seinen Kontaktmann. Nach zwei Tagen – Lundgren hat inzwischen einen Sonnenstich, leidet unter Verwirrung und Wortfindungsstörungen – scheint dieser denn auch aufzutauchen: Ein Mann in einem karierten Hemd setzt sich zu ihm an den Tisch, schreibt auf Lundgrens Anweisung hin seinen Namen auf einen Block, woraufhin dieser den Auftrag als ausgeführt betrachtet. Wie Lundgren tot in einer Kloake landet und inwiefern seine Geschichte mit der von Polidorio, Canisades und Helen verknüpft ist, wird wiederum nicht erklärt. In den folgenden vier Büchern von Sand steht die Geschichte des namenlosen Protagonisten im Zentrum, dem nach der Marke des Anzugs, den er trägt, der 29 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 19. 30 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 62.

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provisorische Name »Carl« gegeben wird. Dieser Carl trifft an einer Tankstelle auf Helen, die sich des verletzten und verwirrten Mannes annimmt und ihn fortan bei seiner Identitätssuche unterstützt. Zentrales Dingsymbol dieser Suche ist jene »Mine«, von der seine Verfolger in der Wüste offenbar sprachen und von der einige zwielichtige Personen anzunehmen scheinen, dass sie sich in Carls Besitz befindet: Carl wird von arabischen Kriminellen entführt und bedroht und schließlich von CIA-Agenten gefoltert – zu denen auch Helen gehört, die ihm, wie Carl zu spät erkennt, keineswegs aus Menschenliebe und Hilfsbereitschaft nicht von der Seite gewichen ist. All das geschieht ihm wegen eines Objekts, von dem er sich lange nicht sicher ist, um was es sich überhaupt handelt: eine Landmine, eine Goldmine, eine griechische Münze, eine Bleistiftmine, ein Werk der Autorin Isodora Mine? Carls Ungewissheit bezüglich seiner Identität korrespondiert also mit der Mehrdeutigkeit des sprachlichen Signifikanten, von dem nicht klar ist, worauf er verweist. Und sie spiegelt sich zugleich in der Unsicherheit des Lesers, dessen Kenntnisstand dem des Protagonisten zunächst entspricht, ist er doch ebenfalls mit einer undurchschaubaren Wüstenwelt konfrontiert, in der jedes Ereignis weder einen Grund noch einen Sinn zu haben scheint: Carls Suche nach seiner ›Geschichte‹ korrespondiert mit der detektivischen Suche des Lesers nach einem zusammenhängenden ›Plot‹ – wobei auch er von den vielen verschiedenen »Minen«, die ihm allerorts begegnen, in die Irre geführt wird. Die Lösung des Rätsels gibt der Text erst ganz am Ende und selbst hier nur auf implizite Weise: Während Carl, in einer alten Bergmine (!) von seinen Peinigern zurückgelassen, mit dem Tod kämpft, erinnert er sich zweier Momente, die in Form wortwörtlicher Wiederholungen früherer Textstellen wiedergegeben werden – der Beschreibung eines Sandsturms, den der Polizist Polidorio auf seiner Fahrt nach Tindirma erlebte, und der des Gesprächs zwischen Lundgren und seinem Kontaktmann im Caf¦:31 »Carl« ist also der Polizist Polidorio, den Lundgren fälschlicherweise für seinen Kontaktmann hielt. Diese Lösung wird dem Leser jedoch nicht als explizite Aussage präsentiert (Carl wird an keiner Stelle Polidorio genannt), sondern eröffnet sich performativ über die sprachliche Wiederholung von bereits Erzähltem: Der Schleier über der Identität des Protagonisten hebt sich für den Leser also nur dann, wenn auch er sich zu erinnern vermag. Im Unterschied zu den Figuren, die bis zuletzt den Gesamtzusammenhang 31 Vgl. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 454: »Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet. Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf und öffnete die Tür.« mit 76: »Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube erkennen. […] Er wickelte sich ein Stück Tuch um den Kopf.« Ebenfalls im gleichen Wortlaut wird das Gespräch zwischen Lundgren und Polidorio wiedergegeben, zuerst aus der Perspektive Lundgrens (79), später aus der Polidorios/Carls (454): »›Was ist los?‹ ›Was?‹ ›Wie Sie heißen!‹ ›Wie?‹«

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nicht gänzlich kennen können, ordnen sich aus seiner Perspektive von diesem Punkt aus alle disparaten Erzählstränge zu einer stringenten Kette von Ursachen und Wirkungen.32 Dabei erscheint Sand wie eine Umsetzung von Dürrenmatts Dramentheorie in narrativer Form, wird das Geschehen doch allein von Zufällen, Missverständnissen und Fehleinschätzungen vorangetrieben, die jeweils die schlimmstmöglichen Konsequenzen nach sich ziehen. Das gilt bereits für Polidorios Arbeit als Kommissar in Targat, wohin er erst einige Monate zuvor aus Frankreich versetzt wurde: »Wie so vieles in seinem Leben«, kommentiert der Erzähler, »war es Zufall.«33 Dass Polidorio noch einmal nach Tindirma fährt, verdankt sich einer folgenreichen Fehleinschätzung: Seine eigentlich gute Intention, die Unschuld des Angeklagten in Betracht zu ziehen, führt den Kommissar ins Verderben. Im Anschluss an die Zeugenbefragung trinkt er einen Tee in einem Caf¦, wo er – wiederum ein Zufall – von dem mental beeinträchtigten Lundgren für seinen Kontaktmann gehalten wird und einen Kugelschreiber erhält, von dessen Innenleben (der »Mine«, in der sich Mikrofilme mit den Bauplänen für die Ultrazentrifuge befinden) er nichts ahnt. Er wird von Männern in weißen Dschellabahs, Schergen des eigentlichen Käufers der Pläne, verfolgt, flieht in eine Scheune in der Wüste, in der zwei Männer illegal Schnaps brennen und den Eindringling niederschlagen. Dass er dem Tod entkommt, verdankt er einer Verwechslung, halten seine Verfolger doch einen der Schnapsbrenner für den Gesuchten. Wieder bei Bewusstsein, trifft Polidorio auf der Suche nach Hilfe durch Zufall an einer Tankstelle auf Helen, jene CIA-Agentin, die nach Targat beordert wurde, um die Übergabe der Mikrofilme zu vereiteln. In der Folge summieren sich die Zufälle zu einer geradezu unglaublichen Unwahrscheinlichkeit: Polidorio findet zufällig (noch immer ohne Erinnerung) seinen in Tindirma abgestellten Wagen wieder und entdeckt in ihm den Kugelschreiber mit der wertvollen Mine – die er in der Wüste noch einmal verliert und wieder findet, um sie sich schließlich endgültig von ein paar Schulkindern stehlen zu lassen. Das Verhältnis zu Helen, das der Beginn einer Liebe sein könnte, ist wiederum von einem Verkennen geprägt, das geradezu Kleist’sche Ausmaße annimmt: Während Polidorio viel zu spät begreift, dass Helen eine Agentin ist, die sich weit mehr für die verlorene Mine als für ihn selbst interessiert, glaubt Helen nicht an die Unschuld Polidorios und zögert nicht, ihn schließlich eigenhändig zu foltern. Ihre Überzeugung, dass er lügt, begründet sie dabei absolut logisch:

32 Vgl. hierzu grundlegend die äußerst aufschlussreiche Untersuchung von Michael Maar : »Er hat’s mir gestanden«. Überlegungen zu Wolfgang Herrndorfs »Sand«. In: Merkur 66 (2012), H. 4, 333–340. 33 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 17.

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Es besteht eine vielleicht einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. Dass du nicht weißt, wer du bist. Dass du zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort warst, und das gleich mehrfach. […] Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. Sondern Quatsch.34

Die Figuren sind also mit Vorfällen konfrontiert, vor denen ihr Verständnis und ihre Logik versagen. Selbst Helen, der mit Abstand klügsten Person innerhalb des Figurenensembles, gelingt es bis zuletzt nicht, das Geschehene richtig zu deuten.35 Den subjektiven Figurenperspektiven gegenüber, aus denen die Ereignisse als sowohl unbegreifliche als auch unvorhersehbare Zufälle erscheinen müssen, hat der Leser einen Wissensvorsprung: Er sieht schließlich ihren Zusammenhang, mag dieser auch noch so unwahrscheinlich sein, und er kennt alle Gründe, mögen es auch keine guten Gründe sein. Das gesteht der Erzähler denn auch mit einem ironischen Verweis auf die Fiktionalität des Erzählten ein, wenn er sagt, man solle den Zufall »in Romanen nicht überstrapazieren«.36 In dieser ostentativen, übertreibenden Zurschaustellung des Zufalls als Handlungsmotor besteht eine der ›Providenzvermeidungsstrategien‹, derer sich Sand bedient: Es ist nicht ein einzelner Zufall, der die Ereignisse ins Rollen bringt, sondern eine unglaubliche Masse an Zufällen, deren ›Bauplan‹ der Erzähler dem Leser jedoch – sozusagen hinter dem Rücken der Figuren – offenbart. Legt man die oben skizzierte Begriffsschablone an den Roman an, so zeigt sich bezüglich der ersten Bedeutung des Zufalls als Akausalität eine Dichotomie, die der zwischen histoire und discours entspricht: Die Ereignisse, die subjektiv (auf Handlungsebene) als Zufälle erscheinen, sind objektiv (auf Erzählebene) keine. Um Zufälle im Sinne »ontologischer Ursachenlosigkeit« handelt es sich bei ihnen also nicht, was im Rahmen einer fiktionalen Narration, wie oben erläutert, auch kaum möglich wäre: Existierte im Text diese latente Kohärenz von Ursachen und Wirkungen nicht, dann gäbe es auch keine Erzählung, keinen Plot und damit auch (im engeren Sinne) keinen Roman. Jedoch wird der Zusammenhang aller Einzelereignisse – hierin besteht eine zweite Strategie des Erzählers, sich der Kohärenzstiftung zu entziehen – eben nicht explizit benannt, sondern lediglich durch Querverbindungen und Wiederholungen suggeriert – ihn schließlich herzustellen, ist die Aufgabe des detektivischen Lesers. Richtet man den Blick auf die zweite Lesart des Begriffs »Zufall« als Kontingenz, Sinn- und Ziellosigkeit, so fällt auf, dass Polidorio selbst, obwohl als Hiob-Figur ins Szene gesetzt, dessen Warum-Fragen nicht stellt, geschweige 34 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 428. 35 Vgl. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 446: »Der Auftrag war abgeschlossen, man hatte nichts Entscheidendes herausgefunden, aber mit einer Wahrscheinlichkeit sichergestellt, dass eine Übergabe der Pläne nicht erfolgt war.« 36 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 362.

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denn Gott wegen seines unverdienten Leidens anklagt. Ihn interessiert lediglich die Genese seines Unglücks, die Frage nach dessen ›Sinn‹ beschäftigt ihn nicht einmal angesichts des Todes. Polidorios Denken zeichnet sich, ebenso wie das von Helen, durch gänzliche Metaphysikfreiheit aus, wovon schon ihr erstes Gespräch an der Tankstelle zeugt: »Was ist los?«, fragte Helen den Verletzten. »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen nicht, was los ist?« »Ich muss weg hier. Bitte.« »Glauben Sie an Schicksal oder so was?« »Nein.« »Das ist ja schon mal was.«37

Die Theodizee-Frage wird im Text also gerade nicht von jener Leidensfigur gestellt, die eigentlich dazu prädestiniert wäre, sondern, in einer beinahe zynischen Verlagerung, von einem ihrer Folterer, einem Syrer, der während der Entführung Polidorios in einen theologischen Disput mit seinen amerikanischen Kollegen gerät und sich in Rage redet: »›Warum lässt Gott das Böse zu? Warum segeln die Wolken am Himmel? Warum ist Amerika nicht Fußballweltmeister – warum, warum, warum?‹«38 Das Theodizee-Problem, nach Michael Maar das »Herzthema«39 von Sand, wird mit einer irritierenden Beiläufigkeit und von einer der unpassendsten Figuren formuliert. Einmal aufgeworfen, gerät es vor allem zum Problem des Lesers, der im Erzählten nicht nur nach den Ursachen, sondern auch nach der Bedeutung und dem Sinn des Leidens sucht.40 Die zentrale Theodizee-Bruchstelle von Sand besteht im verstörend abrupten Tod des Protagonisten: Über hundert Seiten hinweg wird minutiös geschildert, wie Polidorio im Innern einer alten Goldmine (die er zuvor einmal mit Helen auf der Suche nach der richtigen »Mine« besichtigt hat) gefoltert wird und, von seinen Peinigern in einem unterirdischen Tümpel gefesselt zurückgelassen, mit dem Ertrinken kämpft. Seine Gedanken kreisen dabei immer wieder um den alten Bergarbeiter Hakim III., der Helen und ihm einige Tage zuvor seine Mine zeigte und der ihn jetzt vielleicht – so der letzte Hoff37 38 39 40

Herrndorf: Sand (Anm. 28), 133f. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 377. Maar : Er hat’s mir gestanden (Anm. 32), 340. Die Leibniz’sche Unterscheidung zwischen malum physicum und malum morale wird in Sand eingezogen: Zwar wird Polidorio Opfer des (moralischen) Bösen, zu dem seine Mitmenschen fähig sind, die eigentliche Bösartigkeit der in Sand erzählten Welt besteht jedoch in ihrer Kleist’schen »Gebrechlichkeit«: Er wird zum Opfer aufgrund von Zufällen, Missverständnissen und Fehleinschätzungen (eben nicht aufgrund der freien Entscheidung eines Mitmenschen zum Bösen). So argumentiert z. B. Helen in der Folterszene gerade mit dem Guten: Das Wohlergehen der Menschheit erlaube es, einen Einzelnen zu foltern, um den Bau der Atombombe zu verhindern. Vgl. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 428.

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nungsschimmer Polidorios – retten könnte.41 Doch der potenzielle Retter wird stattdessen zu seinem Mörder und das, wie könnte es anders sein, wiederum aufgrund eines Zufalls und eines Missverständnisses: Nachdem Polidorio sich im letzten Moment von seinen Fesseln befreit und, mehr tot als lebendig, den Weg ans Tageslicht gefunden hat, trifft er auf Hakim, der sich just in diesem Moment aus seiner eigenen Gefangenschaft befreien konnte: Er sah schrecklich aus. Seine Füße waren mit einem Hanfseil zusammengebunden. Exkremente an seinen Schenkeln festgetrocknet. Um die Handgelenke trug er dicke Fesseln, die Verbindung zwischen ihnen war durchgescheuert. Ungelenk hopste er in den Morgen hinaus, die Unterhose schlackerte auf die Knöchel hinab. Unterm Arm die Winchester. Er starrte Carl an. Er schrie. »Wir kennen uns«, rief Carl und hob beschwichtigend die blutigen Hände. »Allerdings«, sagte Hakim und lud das Gewehr durch. »Scheißamerikaner!« »Ich gehör nicht zu den anderen! Ich bin keiner von denen!« »Natürlich nicht – und ich bin der König von Afrika.« »Ich hab dir nichts getan!« »Du hast mir nichts getan! Nein, nur deine Frau, der stinkende Haufen Kameldung!« brüllte der Alte, legte an und schoss Carl eine Kugel zwischen die Augen.42

Mit diesem plötzlichen Tod des Protagonisten, dessen Martyrium und unwahrscheinliche Befreiung zuvor in aller Ausführlichkeit geschildert wurden, bricht der Erzähler eine der Grundregeln des Erzählens, die Koschorke wie folgt beschreibt: Wer einmal in die relative Nähe der Erzählposition gelangt ist, muss durch Fehlverhalten oder andere Formen des Besetzungsentzugs für den Erzähltod vorbereitet werden. Und erst recht wäre es ein gravierender Verstoß gegen die Erzählökonomie, ließe man eine Lichtgestalt einen unvorbereiteten, gleichgültigen Tod sterben.43

Eine der Sinnstiftungsfunktionen des Erzählens besteht also darin, Sympathieund Empathieträger nicht zufällig umkommen zu lassen, sondern ihr Sterben vorzubereiten und zu kontextualisieren. Die Gleichgültigkeit und Bedeutungslosigkeit, mit der Polidorio aus der Geschichte ausscheidet, stellt einen Bruch mit dieser Form narrativer Providenzerzeugung dar : Wie so vieles im Leben Polidorios ist auch sein Tod reiner Zufall, der dem Erzähler zudem nicht mehr als einen Satz wert ist. Spätestens an diesem Punkt ist der Leser davon überzeugt, dass es sich bei der in Sand erzählten Welt um einen absolut sinnlosen Kosmos handelt. Bezeichnenderweise formulieren diese Einsicht beide Hauptfiguren schon relativ früh im Roman: So überkommt Polidorio, als er auf der Fahrt nach Tindirma in einen 41 Vgl. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 440 u. 395. 42 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 462f. 43 Koschorke: Wahrheit und Erfindung (Anm. 2), 92.

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Sandsturm gerät, ein Gefühl der Nichtigkeit allen Seins, das sich angesichts der nachfolgenden Ereignisse als geradezu prophetisch erweisen wird: »Der Gedanke drängte sich auf, dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch vier Menschenleben oder das Leben der ganzen Menschheit.«44 Die Wüste fungiert als Bild für die Indifferenz der Natur, die über die Menschheitsgeschichte gleichgültig hinweggeht: Im Sand bleiben keine Spuren. Auch Helen, der weit mehr als Polidorio die Sympathie des Erzählers gilt, entwirft im Gespräch mit ihrer alten Freundin Michelle, einem Mitglied der Kommune in Tindirma, ein Weltbild, das dem des Erzählers zu entsprechen scheint. Anlass des philosophischen Disputs, in dem die Esoterikerin Michelle eine trivialisierte Form Leibniz’scher Weltharmonie vertritt, ist der Anblick eines von Ameisen attackierten Madennestes im Garten der Kommune: »Ja, so ist das!«, rief sie [Michelle] überschwänglich. »Traurig, oder? Die weißen Dinger kriechen hier überall rum. Manchmal hab ich die Ameisen weggemacht mit dem Finger, um zu helfen, aber – es hilft ja nichts. Das ist die Natur. Es ist so, wie es ist. Und es ist gut so. Die Maden und all die anderen Tiere und wir Menschen auch, wir sind letztlich nur Teil eines größeren Ganzen, eines gemeinsamen Projekts.« »Ich vermute, wenn man sie befragen könnte, würden deine Thesen im Lager der Ameisen mehr Zustimmung erhalten als bei den Maden.« »Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, die sehen nur einen Teil. Doch solang du das nicht hast, dieses Yin und Yang … es gehört alles zusammen, Leben und Sterben, ob dir das bewusst ist oder nicht. Und ich stell mich da nicht drüber. Alles ist eins. Alles ist sinnvoll.« »Auschwitz«, sagte Helen.45

Das Szenario liefert ein bezeichnendes Miniaturbild des in Sand gezeichneten Kosmos: Auch hier scheinen Menschen nichts weiter als Maden zu sein, deren Tun keiner transzendenten Ordnung gehorcht und deren Leiden keinen Sinn hat. Während Michelle die Vorstellung eines harmonischen Weltganzen zu verteidigen sucht, pocht Helen auf das Misslingen aller Theodizee-Versuche angesichts des Holocausts. Diese Sinnlosigkeit kennzeichnet nicht nur die Welt in Sand, sondern affiziert auch das Erzählen selbst, das in der Gleichgültigkeit und Beiläufigkeit, mit der es den Tod des Protagonisten kaum mehr als erwähnt, gegen seine eigenen erzählökonomischen Regeln verstößt. Hinsichtlich der zweiten, der teleologischen Bedeutung von Zufall scheint es also keine Differenz zwischen subjektiver Figurenperspektive und objektiver Erzähler- und Leserperspektive zu geben: Die zufälligen Ereignisse sind weder von den Figuren intendiert oder geplant, noch wird ihnen von der Erzählinstanz aus transzen44 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 76. 45 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 129.

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denter Perspektive ein Ziel oder Sinn verliehen. Helens Einschätzung scheint für Sand generell und umfassend zu gelten: »wie sinnlos das alles.«46 Doch der Text unterläuft auch diese Deutung, suggeriert er doch fortwährend, das Erzählte habe vielleicht doch einen verborgenen Sinn: So fallen die Begriffe »Schicksal« und »Vorsehung« mindestens ebenso häufig wie der des Zufalls.47 Der Erzähler verdeutlicht fortwährend, dass er aus einer olympischen Metaposition das Geschehen überblickt, Verlauf und Ende der Geschichte kennt. Er kann zwischen verschiedenen Orten ebenso wechseln wie sich frei in der Zeit bewegen – weshalb sich sein Erzählen auch über weite Strecken nicht an die chronologische Ordnung hält. Seine Perspektive ist der seiner ›madenhaften‹, orientierungslosen Figuren, deren Treiben er mal zynisch, mal zärtlich-spöttisch beobachtet, weit überlegen. Wenn das Erzählen also, wie oben gezeigt, per se eine tendenziell providenzielle Angelegenheit ist, so macht dieser Erzähler aus seiner ›Gottesrolle‹ keinen Hehl, sondern stellt sie im Gegenteil ostentativ aus, wenn er zum Beispiel das Wissensgefälle zu seinen Figuren betont: »Sie [Helen] stieg in ihr Auto, atmete durch und fuhr, so schnell sie konnte, durch die Wüste zurück in Richtung ihres Schicksals, von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch annahm, dass es die Hotelbar sein würde.«48 Über die in Sand erzählte Welt herrscht, so wird deutlich, eine mächtige und wissende Instanz, die – vielleicht – den letzten Sinn des Geschehens kennt. Dass es einen solchen Sinn überhaupt gibt, lassen die zahleichen religiösen Symbole und Anspielungen vermuten: So setzt der Roman mit dem Bild eines Mannes ein, der mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen »wie gekreuzigt« nach seinen »Kindern« ruft.49 Das christologische Motiv weckt eine Heilserwartung, die sich letztlich nicht erfüllt: Jean Bekurtz, der Schullehrer des Armenviertels, um den es sich bei dem ›Gekreuzigten‹ handelt, spielt im weiteren Handlungsverlauf kaum mehr eine Rolle. Die Theodizee-Frage ist auf Figurenebene für die Sympathieträger Polidorio und Helen nicht von Bedeutung; dass auch der Erzähler sie für geradezu lächerlich erachtet, zeigt die Tatsache, dass sie von einem syrischen Folterer formuliert und von Michelle, der offensichtlich dümmsten Figur in Sand, versuchsweise beantwortet wird.50 Auf Erzählebene halten die Kapitelmottos mit 46 47 48 49

Herrndorf: Sand (Anm. 28), 448. Vgl. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 131, 288, 316, 362, 419, 433, 452, 471. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 131. Herrndorf: Sand (Anm. 28), 7. Zu den biblischen Motiven vgl. Maar : Er hat’s mir gestanden (Anm. 32), 340. 50 Vgl. dazu Herrndorfs Blogeintrag zu Sand vom 15. 02. 2011: »Endlich das Kapitel abgeschlossen, in dem Michelle dem Amnestiker die Tarotkarten legt und sein Ende vorhersagt. Ich weiß nicht, ob das außer mir noch jemand komisch findet. Aber wenn mich irgendwas im Leben wirklich aufregt, dann das gegen jedes Denken, jeden Gedanken und jede Aufklärung immune Gefasel von Sternzeichen, Rudolf Steiner und extravagante Ahnungen fremder, unbegreiflich tröstlicher Welten. Freundschaften sind mir deswegen zerbrochen. Ich kann

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Zitaten aus dem Buch Mose, dem Buch Hiob, dem Thomasevangelium und dem Koran (die freilich neben solchen aus Krieg der Sterne oder von Dagobert Duck stehen) die Frage nach einem göttlichen Heilsplan hingegen offen oder formulieren sie, wie in diesem Protagoras-Zitat, sogar explizit als Aporie: »Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich, und auch die Frage ist verworren und das menschliche Leben kurz.«51 Die verworrene Frage nach Gott, von dem man nicht wissen kann, ob es ihn gibt und was seine Pläne sind, zielt in Sand auf den Erzähler : Weshalb ersinnt er, als offenkundig allmächtige und allwissende Instanz, diesen brutalen, gleichgültigen Kosmos? Am Ende des Romans lässt der Erzähler den Schleier fallen und gibt eine gänzlich ernüchternde Antwort auf die Frage nach dem Sinn: Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen. Ein kurzes Landschaftspanorama vielleicht noch, ein Kameraschwenk über den gezackten Schattenriss des Kangeeri-Gebirges vor abendlicher Dämmerung, in rosa und lila getauchte Täler, Schluchten voller purpurner Schatten, ein paar Fledermäuse, ein malerisches Maultier. Ry Cooder spielt Gitarre. Von links wandert ein Windrad ins Bild. Man könnte allerdings auch, wenn man ganz furchtlos ist und sich in der richtigen Stimmung befindet, noch einmal einen Blick zurück auf eine nicht ganz unwesentliche Figur dieser Geschichte werfen, auf einen Mann, dessen verworrenes Schicksal uns eine Weile lang in Atem gehalten hat, einen Mann, der weder willentlich noch zufällig unter die Räder des Schicksals geriet, sondern einzig und allein durch eine falsche logische Schlussfolgerung: durch den Glauben an die Unschuld eines Schuldigen. Auf einen Mann mit Gedächtnisverlust. Wollen wir das? Ein kurzer Blick zum Kameraassistenten, flüchtiges Schulterzucken beiderseits, und schon zoomt die Kamera die Öffnung eines Bergwerkstollens heran […]. Hätten wir ein Nachtsichtgerät zur Verfügung, könnten wir nun grün flirrende Schattenbilder eines schlammigen Tümpels mit menschlicher Gestalt erkennen. Um den Tümpel herumfahrend zeigte das schwankende Bild uns den verkrampften Oberkörper von allen Seiten, zeigte den seit vielen Stunden schon verzweifelt mit dem Durst und dem Schlaf und dem Tod ringenden Mann. Dann ein rascher Schnitt auf das von aller Hoffnung verlassene Gesicht. Mit der bekannten Mischung aus Voyeurismus und Empathie könnten wir das Leiden dieses Menschen vorführen, könnten ihm zusehen bis zu seinem endgültigen Tod oder seiner sich aus den bisher bekannten Umständen nicht schlüssig ergebenden Rettung.52

Bevor er vom Tod seines Protagonisten berichtet, stellt der Erzähler zunächst die Fiktionalität seiner Geschichte heraus. Ebenso wie das abrupte und sinnlose

dem schon lange nur noch begegnen durch Affirmation, Affirmation als Rache. Alles, was Michelle vorhersieht, trifft genau ein. Die Zukunft ist düster. Der Held stirbt. Die Dummheit siegt.« Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin 2013, 191. 51 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 344. 52 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 451f.

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Sterben der Hauptfigur bedeutet auch dieser Bruch des »Fiktionsvertrags«53 zwischen Erzähler und Leser einen Verstoß gegen die Konventionen des literarischen Erzählens: Indem sich der Erzähler als professioneller Regisseur zu erkennen gibt, von dessen Schulterzucken das weitere Erzählen abhängt, und indem er deutlich macht, dass es sich bei Sand um ein Buch oder einen Film, in jedem Fall um eine erfundene Geschichte handelt, schafft er die größtmögliche Distanz zum Geschehen. Diese selbstreferenzielle Passage problematisiert zum einen die Funktionsweisen von Literatur und Film, die, indem sie Leid darstellen, es geradezu automatisch zu einem ästhetischen Erlebnis, einem konsumierbaren Genuss machen. Diesem Problem versucht der Text zu entgehen, indem er es benennt, die möglichen Reaktionen, die das Leiden der Figur beim Leser evoziert, vorwegnimmt und auf diese Weise eine empathische, identifikatorische Lektüre unmöglich macht. Zum anderen beinhaltet diese narrative Selbstreflexion eine, wenngleich kaum zufriedenstellende, Antwort auf das Theodizee-Problem: Polidorio muss leiden, damit es die in Sand erzählte Geschichte überhaupt geben kann. Er kommt, wie es heißt, »weder willentlich noch zufällig unter die Räder des Schicksals«, sondern allein, damit wir als Leser ihm dabei zusehen können. Der Leser wird also, die wiederholte Verwendung der Pronomina »wir« und »uns« verdeutlicht das, zum Komplizen des gleichmütigen Regisseurs, der zwar ein mächtiger und wissender Spielleiter seines ›Theatrum Mundi‹ ist, jedoch gewiss kein gütiger. So wenig befriedigend diese Beantwortung der Theodizee-Frage auch sein mag, es ist doch eine: Unter den eingangs skizzierten Möglichkeiten, die Unvereinbarkeit der göttlichen Attribute aufzulösen, entscheidet sich Sand für c): Der Schöpfer dieser erzählten Welt ist zwar keine böse, aber zumindest eine indifferente transzendente Instanz, die von den Übeln weiß und sie aufheben könnte, das jedoch nicht will – eben weil es dann nichts zu erzählen gäbe. Damit ergibt sich, legt man die Begriffsschablone nochmals an, hinsichtlich der teleologischen Komponente des Zufalls nun ein neues Bild: Während das Geschehen für die Figuren keinem Plan zu folgen scheint, liefert der Erzähler mit seinen selbstreferenziellen, poetologischen Überlegungen durchaus eine Deutung: Der Sinn des Leidens liegt, wie von Foucault beschrieben, im Erzähltwerden, es ist der Motor der Narration. Doch auch dieses Residuum an Providenz geht nicht auf, denn der Erzähler ist, entgegen seiner Selbstinszenierung, keineswegs eine allwissende und allmächtige Instanz: An zwei Stellen wird deutlich, dass er selbst Teil der erzählten Welt ist, ein »Ich«, das mit der von ihm erzählten Geschichte auf undeutliche Weise verbunden ist. Im Sommer 1972, also zur Zeit der Romanhandlung, war 53 Der Begriff stammt von Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Hanser 1994, 103ff. Vgl. hierzu auch Mat†as Mart†nez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart 2011, 63f. (Eintrag: »Fiktionskompetenz«).

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der Erzähler (damals ein Kind) im selben Hotel untergebracht, in dem auch Helen wohnt: Meine Eltern hatten ein Zwei-Zimmer-Apartment im neunten Stock gemietet, und wenn sie mich, wie so oft, hinausschickten, um hinter verschlossenen Türen geheimnisvolle Dinge zu treiben, erkundete ich allein das weitläufige Hotelgelände. […] Die Frage, ob ich am letzten Augusttag des Jahres 1972 auch dort oben gestanden und die amerikanische Touristin und den einarmigen Taxifahrer bemerkt habe oder ob hier eine Fotografie meine Erinnerung überlagert, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten. Sicher ist allerdings: Nachdem Helen Gliese den Schlüssel für ihren Bungalow an der Hotelrezeption abgeholt hatte, verließ sie das Gebäude sofort wieder in Begleitung eines jungen Pagen, der ihren kleinen Kalbslederkoffer trug. […] Helens Bungalow lag auf halbem Weg zum Meer. Er hatte zwei Zimmer und eine Küche, eine Terrasse mit Meerblick und ein Mosaik aus gelben und blauen Arabesken über der Tür, in das mit roten Steinchen die Nummer 581d eingelassen war. Eine Fotografie dieser Tür, wie sie damals in vielen Zeitschriften zu finden war, hängt über meinem Schreibtisch.54

Die wenigen Informationen, die in dieser Passage über den Erzähler gegeben werden, verunklaren dessen Position gänzlich: Deutlich wird, dass es sich bei ihm nicht, wie sein sonstiger Gestus vermuten lässt, um eine heterodiegetische, auktoriale Instanz handelt, die von einer olympischen Perspektive aus auf das Geschehen blickt und die Vergangenheit und Zukunft ihrer Figuren kennt. Vielmehr ist auch er eine menschliche Gestalt auf Figurenebene, genauer gesagt ein Schriftsteller (so lässt der Verweis auf den Schreibtisch vermuten), der rückblickend die Geschichte von Sand aufschreibt. Damit wird auch der Status des Erzählten fragwürdig, gesteht der Erzähler doch einerseits ein, sich seiner Kindheitserinnerungen nicht sicher zu sein (»kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten«), betont jedoch andererseits die Faktizität seiner Geschichte (»sicher ist allerdings«) und verweist zudem auf ominöse Fotografien, die ihren Realitätsbezug zusätzlich zu untermauern scheinen. Die kurze Passage evoziert also einen Zweifel, der alle schon erfolgten und alle noch folgenden Aussagen des Erzählers affiziert: Wie viel von seiner Geschichte ›stimmt‹, was sind ungenaue Erinnerungen, was hat dieser Schreiber vielleicht gar erfunden? Diese Unsicherheit wird in der zweiten Passage, in der sich der Erzähler als homodiegetische Instanz zu erkennen gibt, noch einmal verstärkt: »In einem Brief«, heißt es am Ende des Romans, »schrieb Heather Gliese mir, ihre Mutter habe ein glückliches und erfülltes Leben geführt und sei rüstig, bei guter Gesundheit und wenige Tage vor ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag sanft entschlafen.«55 Wie von Maar bemerkt, taucht diese Heather Gliese, Helens 54 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 47ff., Hervorhebung: M. G. 55 Herrndorf: Sand (Anm. 28), 451.

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Tochter, noch einmal auf, und zwar in der Danksagung, wo ihr Name zwischen denen realer Personen wie Herrndorfs Eltern oder seiner Kollegin Kathrin Passig steht.56 Indem er die fiktive Figur aus der Romanhandlung noch einmal im faktualen Paratext nennt, verstärkt der Text das metafiktionale Spiel um Fakten und Fiktion: Sollte Heather Gliese ebenso real sein wie Kathrin Passig oder Sascha Lobo, dann würde das auch für Helen Gliese gelten, mithin also für die ganze unwahrscheinliche und unglaubliche Geschichte in Sand – von der zudem nicht klar ist, mit welchem Recht und welchem Wissen der Erzähler sie zu erzählen vermag. Die beiden Passagen, in denen der Erzähler als homodiegetischer Ich-Erzähler erscheint, liefern keine Informationen, die für den Fortgang oder das Verständnis der Handlung bedeutsam wären. Sie dienen allein dazu, den Erzähler als unzuverlässige Instanz kenntlich zu machen und seine nur scheinbar ›gottesähnliche‹ Position zu destabilisieren. Der Rest an Providenz, den das Bild vom Erzähler als einem Regisseur vermittelt, der mit kaltem und professionellen Blick das ›Theatrum Mundi‹ von Sand regiert und das Leiden seiner Figur für den Leser aufzeichnet, löst sich damit schließlich auch auf.

4.

Literatur als Anti-Theodizee: Die Kunst der Sinnvermeidung

Zusammenfassend lässt sich also zunächst festhalten, dass die Spannung zwischen Kontingenz und Providenz der zwischen histoire- und discours-Ebene entspricht: Während die Figuren auf der Handlungsebene das Geschehen nicht begreifen können und es sowohl in kausaler als auch in teleologischer Hinsicht als zufällig empfinden, scheint die auktoriale Instanz zunächst auf der Erzählebene die Zufälle einordnen zu können – und das sowohl im Sinne von UrsacheWirkungs-Zusammenhängen als auch im Sinne von Teleologie, Schicksalhaftigkeit und Sinn. Diese Inkongruenz von Figuren- und Erzählerperspektiven ist nun nichts Herrndorf-Spezifisches, vielmehr liegt in ihr eine der zentralen Kompetenzen von Literatur, die (im Unterschied beispielsweise zu philosophisch-argumentativen Texten) die ihr inhärente Ambivalenz von Erzähltem und Erzählen, von Inhalt und Performance, nutzen kann, um Positionen oder Perspektiven einander gegenüberzustellen. In Sand wird nun jedoch auch der vermeintlichen Kohärenz- und Sinnstiftung auf Erzählebene der Boden entzogen: In mehrfachen Volten subvertiert der Text die Theodizee-Funktion des Erzählens, wobei er vorgängige ›Providenzvermeidungsstrategien‹ (wie sie im Rahmen dieses Beitrags mit den Namen Kleist, Dürrenmatt und Frisch verbunden wurden) fortschreibt und radikalisiert: Erstens gibt der Erzähler die Aufgabe, die Masse an schlimmstmöglichen 56 Vgl. Maar : Er hat’s mir gestanden (Anm. 32), 338.

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Wendungen und Zufällen (im Dürrenmatt’schen Sinne) als nicht-zufällige Ursache-Wirkungs-Folgen zu enttarnen, an den Leser ab. Er selbst stellt – entgegen seiner ›Providenzfunktion‹ – keine expliziten Zusammenhänge her, sondern setzt nur Hinweise und Anspielungen, die der Leser dann zu einem vollständigen Bild zusammensetzen muss, das freilich unvollständig oder gar falsch sein kann. Den Zufall im Sinne von Akausalität oder Ursachenlosigkeit aufzulösen, ist somit eine Interpretationsaufgabe, die misslingen kann – und es faktisch auch tut: So äußerte sich Herrndorf während der Arbeit an Sand in seinem Blog besorgt darüber, dass drei von fünf Lesern »den Amnestiker bisher nicht identifizieren«57, also dem Verweissystem des Textes nicht folgen konnten, was später auch auf einige RezensentInnen zutrifft. Sand radikalisiert somit vorgängige Zufallsnarrative, liegt doch im Unverständnis den Ereignissen gegenüber und in der Unfähigkeit, ihre Genese zu rekonstruieren, nicht nur ein Problem der Figuren, sondern auch eine Gefahr für den Leser. Zweitens wird die eigentliche Theodizee-Frage nach dem Sinn des menschlichen Leidens, also nach dem Zufall in teleologischer Hinsicht, radikal nihilistisch beantwortet. Einerseits sind es auf Handlungsebene nur verblendete Figuren (wie Michelle) oder grausame (wie der Folterer), die diese Frage stellen, weshalb sich der Leser, den die Frage nach dem Sinn von Polidorios Leiden und Sterben umtreibt und der zugleich durch die Vielzahl an religiösen Zitaten, Bildern oder Mottos immer wieder an diese Frage erinnert wird, in eine Reihe äußerst fragwürdiger Personen gestellt sieht. Andererseits bietet der Erzähler zwar eine Lösung des Theodizee-Problems an, wenn er sich als Regisseur einer schicksalshaften Geschichte inszeniert: Das Leiden, so scheint es, hat seinen Sinn im Erzähltwerden. Aber auch dieser zynischen Antwort wird wiederum der Boden entzogen, erweist sich der Erzähler doch als eine Kleist’sche Instanz, mithin als der eigentliche Unsicherheitsfaktor, dessen ›Wahrheiten‹ ebenso labil und unzuverlässig sind wie die seiner Figuren. Das Spezifikum der Anti-Theodizee, wie sie Sand unternimmt, besteht also in der Radikalisierung subversiver Erzähltechniken, die die Frage nach dem Sinn offen halten, selbstreferenziell problematisieren und sich doch jeder Antwort entziehen.

57 Herrndorf: Arbeit und Struktur (Anm. 50), 257.

St¦phane Boutin

Die Eschatologie des Ereignisses. Zum messianischen Universalismus von Lost und Badiou

Es gibt keine strikte, unverrückbare Trennlinie zwischen religiösem und säkularem Denken. Aber es gibt fortwährende Grenzstreitigkeiten, an denen man sich orientieren kann: Es gibt Expansionsbewegungen und Aneignungsversuche, Kompromisse und Verträge, es gibt den grenzüberschreitenden Handel mit Argumenten und die nicht deklarierte Zirkulation des Ideenschmuggels. Deshalb stellen sich die hier verhandelten Fragen jeder Gegenwart wieder von Neuem: Wie steht es heute um diese Grenze? Wo wird sie gerade verwischt, wo neu gezogen? Und nicht zuletzt: Was für Geschichten erzählt man sich aus dieser Grenzzone? Eine paradigmatische Erzählung des beginnenden 21. Jahrhunderts, die sich auf geradezu obsessive Weise mit Fragen der Spiritualität beschäftigt, ist die populäre TV-Serie Lost.1 Als Produkt des unterhaltungsindustriellen Netzwerkfernsehens formal ein säkularer Text, wird die Serie inhaltlich jedoch so stark von religiösen Motiven geprägt, dass sie exakt in jener Grenzzone zwischen den beiden Bereichen spielt. Im Folgenden wird daher das für Lost zentrale Motiv der Erlösung als eine Scharnierstelle zwischen säkularem und religiösem Denken analysiert, wo die Logiken des Dies- und Jenseitigen ineinandergreifen und um die Deutungshoheit über das narrative Geschehen ringen. Wie sich zeigen wird, kann zur Klärung dieser Dynamik zudem die Ereignistheorie des atheistischen Philosophen Alain Badiou beigezogen werden.2 Zunächst jedoch sind in einem ersten Schritt einige der aporetischen Grundstrukturen herauszuarbeiten, denen sich die Beschäftigung mit Lost stellen muss.

1 Lost. Creators: J. J. Abrams, Jeffrey Lieber u. Damon Lindelof. USA: ABC 2004–2010 (im Folgenden direkt im Text zitiert nach Staffel und Episode, z. B. 1.1 für Staffel 1, Episode 1). 2 Vgl. Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus. Übers. v. Heinz Jatho. Zürich/Berlin 2009, 9.

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1.

Stéphane Boutin

Erzählspiel ohne Lösung? Die Aporien von Lost

Wovon handelt Lost? Es gehört zu den Schwierigkeiten dieser Serie, dass sie selbst bei den einfachsten Fragen eine beträchtliche Vorsicht der Beantwortung fordert. Damon Lindelof, einer der Erfinder und Hauptautoren von Lost sowie als Showrunner zusammen mit Carlton Cuse verantwortlich für die ausführende Produktion, hat die Serie auf einer Pressekonferenz im Januar 2007, zur Hälfte der sechsjährigen Laufzeit, wie folgt zusammengefasst: This show is about people who are metaphorically lost in their lives who get on an airplane and crash on an island and become physically lost on the planet Earth, and once they are able to metaphorically find themselves in their lives again they will be able to physically find themselves in the world again.3

So viel kann man daher als Konsens voraussetzen: Der Absturz von Flug Oceanic 815 verschlägt eine scheinbar heterogene Gruppe von Menschen – die jedoch dadurch verbunden sind, dass sie alle sprichwörtlich verlorene Seelen sind – auf eine einsame Insel irgendwo im Pazifik. Die grundlegende Problematik, welche die Handlung von der ersten bis zur letzten Minute bestimmt, ist deshalb die Frage nach der Rettung dieser Menschen. Lindelofs Handlungs-Abstract verrät zudem bereits drei wesentliche Merkmale der Serie. Erstens vernäht Lost die Rettung aus der sogenannten metaphorischen Verlorenheit seiner Figuren direkt mit der Rettung aus ihrer physischen Verlorenheit. Die Charaktere werden also entweder ganz oder gar nicht gerettet: Tritt die Rettung ein, betrifft sie nicht nur einen Aspekt (metaphorisch oder physisch), sondern durchläuft das gesamte Dasein der Figuren (metaphorisch und physisch). Die Frage der Rettung übersteigt in Lost daher stets das Konkrete und wird stattdessen als Problem einer umfassenden Erlösung dieser gestrandeten Existenzen behandelt. Zweitens wird damit explizit, dass Erlösung im Lost-Kosmos ganz selbstverständlich als eine von Beginn an im Rahmen des narrativ Möglichen zirkulierende Option vorausgesetzt wird. Die Hoffnung auf Erlösung ist zwar in die Ungewissheit ihrer Erfüllung eingebettet, aber eben damit als zentraler Fluchtpunkt in die Perspektive des Narrativs integriert. Sie ist für Lost gewissermaßen immer schon im Spiel – im Gegensatz etwa zum gänzlich erlösungsfrei konstruierten Serien-Kosmos von The Wire.4 Drittens schließlich postuliert Lost einen klaren Vorrang dessen, was hier als metaphorisch bezeichnet wurde: Erlösung ist ein Ereignis, das sich nur in den innersten Schaltkreisen der menschlichen Seele vollziehen oder verfehlen kann. Physische 3 Zitiert nach Maureen Ryan: »Lost« producers talk about setting an end date and much more. Online unter : http://featuresblogs.chicagotribune.com/entertainment_tv/2007/01/lost_pro ducers_.html (31. 07. 2014). 4 The Wire. Creator : David Simon. USA: HBO 2002–2008.

Die Eschatologie des Ereignisses

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Rettung allein ist zwar möglich und wird in der vierten Staffel auch durchgespielt, als einige Überlebende – die sogenannten Oceanic Six – den Weg zurück in die Zivilisation finden. Der Ausgang dieses Zwischenspiels wird als Vorblende jedoch bereits in der letzten Episode der dritten Staffel vorweggenommen: Weil sie innerlich noch nicht bereit dazu sind, müssen die Oceanic Six auch ihre äußere Rettung sogleich wieder stornieren. Weil sie auf der metaphorischen Ebene immer noch verloren sind, müssen sie auch physisch erneut verloren gehen und noch einmal auf die Insel zurückkehren. Diese Polarität von metaphorischer Innerlichkeit und physikalischer Äußerlichkeit wird in der Lost-Rezeption auch mit dem Begriffspaar character vs. mythology adressiert. Während die Showrunner die Serie stets als characterdriven bezeichnet haben,5 hat die Forschung hingegen darauf hingewiesen, dass die meisten Lost-Figuren zwar stetig mit sich hadern, dass sie aber in diesem Hadern nur wenig Entwicklung zeigen. Darin, so vermutet etwa Erika JohnsonLewis, könnte ein Grund für das primär auf die Mythologie der Insel fokussierte Interesse der Fans liegen: »when the audience never learns much about Jack beyond his obsessive need to fix things, they may begin to read the continual development of the island narrative as more important over and against the general lack of long term character development.«6 Damit sind die zwei zentralen Orientierungen in der narrativen Dynamik der Serie skizziert, die beiden Grundprobleme, deren Gewichtung über die Zugehörigkeit zur Character- oder Mythology-Schule der Lost-Exegese entscheidet: Wer sind diese Menschen? Und: Was ist das für eine Insel? Wie sich zeigen wird, führen jedoch beide Orientierungen in die Aporie. Weder der Character- noch der Mythology-Ansatz können das Rätsel Lost lösen. Wer also sind diese Menschen?7 Auffallend ist die multikulturelle Zusammensetzung der Gestrandeten. Menschen verschiedener Nationen, Angehörige diverser Ethnien, Abgesandte aller Kontinente der Erde sind hier wie in einem globalen Querschnitt versammelt: die Passagiere eines Langstreckenflugs als heterogenes, wenn auch nicht repräsentatives Abbild der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Man findet hier tätowierte Chirurgen (Jack Shephard), wundersam geheilte Paraplegiker (John Locke), irakische Folterknechte (Sayid Jarrah), flüchtige Kriminelle (Kate Austen), übergewichtige Lottogewinner 5 So sagte Cuse auf der bereits erwähnten Pressekonferenz: »We always view the show as a character show with a mythology frosting over the top«, zit. n. Ryan: »Lost« producers talk about setting an end date (Anm. 3). 6 Erika Johnson-Lewis: »We Have to Go Back«: Temporal and Spatial Narrative Strategies. In: Randy Laist (Hg.): Looking for Lost. Critical Essays on the Enigmatic Series. Jefferson/London 2011, 11–24, hier 14. 7 Für einen Überblick über die Hauptfiguren vgl. Dietmar Dath: Lost. Zürich/Berlin 2012, 13–37.

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(Hugo ›Hurley‹ Reyes), Redneck-Trickbetrüger (James ›Sawyer‹ Ford), alleinerziehende Afroamerikaner (Michael Dawson), hochschwangere Australierinnen (Claire Littleton), heroinsüchtige Rockstars (Charlie Pace), asthmatische ItGirls (Shannon Rutherford), nigerianische Drogenhändler/Priester (Mr. Eko) und koreanische Paare mit Eheproblemen (Jin und Sun Kwon). Hinzu kommen entführte Fertilitätsforscherinnen (Juliet Burke), unsterblich verliebte schottische Ex-Mönche (Desmond Hume) und manipulative Massenmörder (Ben Linus). Auch wenn die zentralen Erzählstränge dann doch meist anhand von weißen, englischsprachigen, heterosexuellen Männern entwickelt werden,8 suggeriert die Diversität des Ensembles dennoch eine parabelhafte Universalität dieser kollektiven Robinsonade. Was die Kollektivität überhaupt erst herstellt, ist darum nicht so sehr die Bedrohung durch das Fremde, durch die sogenannten Others, mit denen sich die Gestrandeten bald herumschlagen müssen.9 Das gemeinsamkeitsstiftende Merkmal dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft von Überlebenden ist vielmehr genau die Universalität der Verlorenheit: Wenn Menschen von überall auf der Welt auf dieselbe Weise verloren gehen können, dann gehört lostness offenbar zur conditio humana – ähnlich wie gemäß Heidegger das Dasein immer schon im »Charakter des Verlorenseins« ans Seiende verfallen ist.10 »Last week most of us were strangers«, deklamiert Jack in einer ikonischen Ansprache an die sich formende Gemeinschaft: »But we’re all here now. And God knows how long we’re going to be here. But if we can’t live together, we’re going to die alone.« (1.5) Die Implikationen dieser Rede werden im Lauf der Zeit immer stärker als das eigentliche Mantra der Serie hervortreten: Wenn wir uns nicht gegenseitig finden können, werden wir an unserer je eigenen Verlorenheit zugrunde gehen. Man hat Lost deshalb als paradigmatischen »post-9/11-text« gelesen, als Erzählung über das Trauma des Westens in Zeiten der Globalisierung, als moderne Odyssee einer entwurzelten Mobilität: »the unhomely has become a constant state of being and ›going home‹ is not as simple as it used to be«, wie Aris Mousoutzanis schreibt.11 Doch auch wenn Lost diese nostalgischen Klangfarben 8 Vgl. dazu David Magill: The Lost Boys and Masculinity Found. In: Laist (Hg.): Looking for Lost (Anm. 6), 137–153. 9 Diese These vertritt Peter S. Fosl: Friends and Enemies in the State of Nature: The Absence of Hobbes and the Presence of Schmitt. In: Sharon Kaye (Hg.): The Ultimate Lost and Philosophy. Think Together, Die Alone. Hoboken 2011, 164–186. Dagegen argumentiert Karen Gaffney, dass Lost das Konzept von Otherness gerade dekonstruiere, vgl. dies.: Ideology and Otherness in Lost: »Stuck in a Bloody Snow Globe«. In: ebd., 187–206. 10 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 2001 [1927], 175ff. 11 Aris Mousoutzanis: »Enslaved by Time and Space«: Determinism, Traumatic Temporality, and Global Interconnectedness. In: Laist (Hg.): Looking for Lost (Anm. 6), 43–58, hier 52, 55. Vgl. dazu auch Jesse Kavadlo: We Have to Go Back: Lost After 9/11. In: ebd., 230–242.

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durchaus anklingen lässt, ist das zentrale Thema der Serie auf anderen, abstrakteren Akkorden aufgebaut. Denn die Traumata der Gestrandeten betreffen nicht so sehr den Flugzeugabsturz, den sie gerade erlebt haben. Wie das Publikum in unzähligen Rückblenden in die Vergangenheit der Figuren erfährt, reichen die Wurzeln ihrer Verlorenheit sehr viel tiefer. Die Rückblenden erzählen im Wesentlichen immer wieder dieselben zwei Motive: einerseits ein fortwährendes Ringen der Figuren mit einer im Allgemeinen familiär triangulierten Situation der Schuld oder der Verlassenheit.12 Und andererseits eine Reihe von Kreuzungspunkten, an denen die Verlorenen sich bereits präinsular scheinbar zufällig begegnen oder Verbindungen zwischen ihnen aufleuchten. Damit erzielt Lost zwei Effekte: Erstens werden alle Figuren nach den immer selben Parametern als verloren und dementsprechend erlösungsbedürftig gezeichnet. Dieses Muster wird dermaßen stereotyp durchexerziert, dass Lindelof im Audiokommentar zu einer Szene, als Sawyer wieder einmal mit nacktem Oberkörper auftritt, sogar selbstironisch über eine mögliche Rückblende aus der Sicht des verlorenen Hemds scherzen kann: »the manufacturing mill where it’s made, and then how the shirt ended up in Sydney and got on Oceanic 815, and what the shirt is trying to redeem itself for.« (4.14) Andererseits ergibt sich durch die allzu zufälligen Begegnungen der unabweisbare Eindruck, dass hinter diesem Flugzeugabsturz und der daraus entstehenden Gemeinschaft der Verlorenen mehr steckt als eine bloße Verkettung von unglücklichen Umständen. »Diese Leute«, resümiert Dietmar Dath, »müssen durch etwas hindurch, das sich in den Nöten der Immanenz, im Stress des Diesseitigen nicht erschöpft«.13 Die Frage ist nur : durch was genau? In einem Interview vom Mai 2010, kurz vor der Ausstrahlung der letzten Lost-Folge, antwortet Lindelof auf die Frage nach den wichtigsten Themen der Serie mit den beiden Begriffen der Erlösung und der Gemeinschaft: If there’s one word that we keep coming back to, it’s redemption. […] But in order to redeem yourself, you can only do it through a community. [… T]hese people were all lone wolves who were complete strangers on an aircraft […]. Then let’s bring them together and through their experiences together allow themselves to be redeemed.14

Die Hauptthese der Character-Schule lautet dementsprechend, dass das Engagement in der Gruppe oder das Opfer für die Gemeinschaft die betreffende Figur 12 Vgl. Holly Hassel u. Nancy L. Chick: »It Always Ends the Same«: Paternal Failures. In: Laist (Hg.): Looking for Lost (Anm. 6), 154–170, hier 154: »Whether absent, abusive, or doomed, the show’s fathers force the main characters to grapple with their own father’s failures or their own failures as fathers«. 13 Dath: Lost (Anm. 7), 18. 14 Zitiert nach Lorne Manly : The Men Who Made ABC’s »Lost« Last. Online unter : www. nytimes.com/2010/05/16/arts/television/16weblost.html (31. 07. 2014).

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erlöse. »In the end«, meint etwa Sarah Clarke Stuart, »everyone who cooperated and sacrificed themselves for the group was redeemed.«15 Ebenso behauptet Brett Chandler Patterson: »Once characters have faced their past failures, […] they may find redemption, but this opportunity for a new start, for a second chance, arrives primarily in their becoming a part of the community of survivors.«16 Doch damit macht man es sich zu einfach. Manche Figuren bleiben unerlöst, obwohl sie der Gemeinschaft gute Dienste leisten oder sogar ihr Leben für sie aufgeben. Michael etwa opfert sich, als letzter im Bauch des Frachters zurückbleibend, um die Explosion der Bombe so lange wie möglich hinauszuzögern und den anderen so die Gelegenheit zur Flucht zu geben (4.14). Trotzdem ist er offenbar nicht erlösungswürdig und muss als Geist mit anderen Nichterlösbaren weiter auf der Insel ausharren, wie er Hurley erklärt: »We’re the ones who can’t move on.« (6.12) Desgleichen entwickelt sogar Ex-Bösewicht Ben gegen Ende der Serie eine bemerkenswerte Teamfähigkeit im Dienst des Guten (6.7, 6.16, 6.18, ebenso im Epilog The New Man in Charge). Trotzdem scheint ihm noch etwas Wesentliches zu fehlen: »I have some things I still need to work out.« (6.18) Erlösung ist also eine komplizierte Prozedur, sie folgt nicht automatisch aus jenen simplen Regeln, welche der Character-Ansatz postuliert. Der Grund dafür wurde bereits genannt: Die Immanenz ist nie genug. Das Schicksal dieser Figuren erschöpft sich nicht im Diesseitigen. Wie Cuse im erwähnten Interview zu Protokoll gibt, erzählt Lost vor allem eine spirituelle Reise – »a spiritual journey«.17 Daraus folgt, dass die Geschichte letztlich nicht allein aus der situationsimmanenten Dynamik menschlicher Beziehungen und Charakterentwicklungen verstanden werden kann. Um Lost aufzuschlüsseln, wird man also auf die spirituelle Ebene der Mythologie zurückgreifen müssen. Vom Character-Ansatz zur Mythology-Schule der Inselkunde hinüberwechselnd, begegnet einem als Erstes die Frage, wie diese Figuren überhaupt auf der Insel gelandet sind. Dazu bietet Lost zwei Erklärungen an: Einerseits zeigt die Episode 2.24, wie Desmond exakt am Tag des Absturzes von Oceanic 815 in der Swan Station einen elektromagnetischen Unfall auslöst, der das Flugzeug vom Himmel geholt haben könnte. Was es mit den vorgängigen schicksalshaften Begegnungen auf sich hat, wird damit jedoch nicht geklärt. Andererseits ist aus den Episoden 5.16/17, 6.9 und 6.15 bekannt, dass der erst gegen Serienende enthüllte Beschützer der Insel, Jacob, und sein Bruder, der namenlose Man in Black, in eine womöglich seit Jahrtausenden laufende Wette 15 Sarah Clarke Stuart: Literary Lost. Viewing Television Through the Lens of Literature. New York 2011, 143. 16 Brett Chandler Patterson: The New Narnia: Myth and Redemption on the Island of Second Chances. In: Kaye (Hg.): The Ultimate Lost and Philosophy (Anm. 9), 253–279, hier 276. 17 Zitiert nach Manly : The Men Who Made ABC’s »Lost« Last (Anm. 14).

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über die fundamentale Güte oder Boshaftigkeit des Menschengeschlechts verstrickt sind.18 Dazu holt Jacob immer wieder neue Menschen auf die Insel, um endlich ihre Güte zu beweisen, während sein Bruder – bisher offenbar stets mit Erfolg – versucht, sie zu korrumpieren. Wie Jacob dabei genau vorgeht, bleibt jedoch unklar. Ist er eine allmächtige Gottheit, welche die Menschen nur einmal kurz zu berühren braucht, um ihren Pfad auf Jahrzehnte hinaus zu bestimmen, wie in den Rückblenden der Episoden 5.16/17 suggeriert wird? Oder ist er einfach nur ein geschickter Manipulator, wie die Äußerungen des Man in Black gegenüber Sawyer vermuten lassen? At some point in your life, James, probably when you were young, when you were miserable and vulnerable, he came to you. He manipulated you, pulled your strings like you were a puppet. And, as a result, choices that you thought you made were never really choices at all. He was pushing you, James. Pushing you – to the island. (6.4)

Die Serie ist sich in diesem Punkt uneins. Einerseits wird Jacob deutlich als ein Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten gekennzeichnet, etwa wenn er seinem Gehilfen Richard Alpert ewiges Leben verleiht (6.9). Andererseits präsentiert Lost zum Hintergrund der Figur Jacob kaum Mythologie, sondern im Gegenteil vor allem Character-Erklärungen. In der dafür zentralen Episode 6.15 wird die Vorgeschichte von Jacob und seinem Bruder als ein weiteres Drama in jener Logik manipulativer oder abwesender Elternschaft erzählt, welche bereits die meisten Rückblenden in die Vergangenheit der Gestrandeten strukturierte. Diese Genealogie markiert Jacob als Menschen, nicht als Gott. Sie zeigt ihn als verlorenen und verletzten Erdensohn, adoptiert und aufgezogen von jener namenlosen Frau, die seine Mutter ermordet hat, um in ihm über einen Nachfolger für ihre Position als Inselbeschützerin zu verfügen. Ebenso wird der Man in Black von derselben falschen Mother am Verlassen der Insel gehindert, zum Mord an ihr verführt und daraufhin durch Jacobs Rache versehentlich zu einem rauchförmigen Symbol des Bösen potenziert. Die Episode erzählt damit zwar die Herkunft der übernatürlichen Kräfte des Man in Black, diejenigen Jacobs bleiben jedoch bloße Behauptung. So unterstreicht auch Lindelof im Audiokommentar zu dieser Folge noch einmal, dass die Serie sich in der Tat mehr für »manipulative parents« als für das Übernatürliche interessiere: »Lost is really a study in bad parenting.« (6.15) Dass dieselbe Episode 6.15 dann trotzdem noch eine Höhle mit einem esoterisch leuchtenden Licht des Lebens aufbietet, um die Mythologie der Serie nicht ganz in der Luft hängen zu lassen, wirkt deshalb eher sekundär. Die in der 18 Einer der wichtigsten Referenztexte von Lost ist die Bibel, hier etwa die Wette zwischen Gott und Satan im Buch Hiob. Vgl. dazu Stuart: Literary Lost (Anm. 15), insbesondere 17f. und 54–88.

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letzten Staffel eingeführten sogenannten Seitwärtsblenden (flash sideways) dienen nicht zuletzt dem Zweck, den auf der Insel tobenden Endkampf zwischen Gut und Böse – den Kampf um die Bewahrung oder die Zerstörung jenes Lichts – beträchtlich zu relativieren. Die Handlung und das Format der jenseits der Insel spielenden Seitwärtsblenden perspektivieren diese mythischen Abenteuer zuletzt als mehr oder weniger nebensächlich. Die wirkliche Erlösung, so zeigen die Seitwärtsblenden, findet nicht dort statt, im Kampf mit Fäusten, Messern und Gewehren, sondern hier : in einem Geschehen, das vor allem in den Augen und den Gesichtern der Menschen spielt.19 Das Problem ist bloß, dass die Seitwärtsblenden – noch während sie das Inselgeschehen als peripher ausweisen – gleichzeitig doch darauf bestehen, dass die finale Erlösung nicht ohne eine Affirmation eben jener Inselereignisse einsetzen kann. Jack stellt sich hierbei am schwierigsten an und weist die Affirmation bis zu den allerletzten Minuten der Serie beharrlich zurück. Darüber hinaus verdeutlichen die Seitwärtsblenden erneut, dass Erlösung nichts mit der Arbeit der Immanenz zu tun hat: Es reicht nicht aus, dass Jack in der Seitwärtswelt mit seinem Sohn David nicht dieselben Fehler macht wie sein Vater mit ihm (6.5) – daraus folgt noch keine Erlösung. Es braucht offensichtlich mehr, als was auf der Ebene von Charakterentwicklung und Beziehungspflege möglich ist, um vollends errettet zu werden. Es braucht eben doch eine Ergänzung, ein Supplement der Mythologie. So geht das bei Lost bis in die mikroskopischsten Erklärungsverzweigungen: character verweist auf mythology, die Mythologie verweist zurück auf die Figuren. Antworten werden prinzipiell aufgeschoben und an die nächste Zuständigkeitsstelle weiterverwiesen. Jede dieser Lektürevarianten endet früher oder später aporetisch: »Welcome to the wonderful world of not knowing what the hell’s going on«, wie Kate sagt (3.15). Oder in den Worten Daths: »die Würfel fallen immer, bleiben aber nie länger liegen, als bis wir die neuen Zahlen abgelesen haben«.20 Das Puzzle von Lost scheint somit unvollständig zu sein. Oder lassen sich die fehlenden Teile ergänzen? Grundsätzlich hat man hier drei Möglichkeiten zur Auswahl. Erstens besteht in Lost immer die Option, dass die fehlenden Teile im Sinn eines leap of faith21 schlicht übersprungen werden müssen: Man soll vielleicht einfach glauben und darauf vertrauen, dass die Serie schon weiß, was sie tut. So wie in der Gemeinschaft der Verlorenen immer wieder die Vertrauensfrage gestellt wird – »You just have to trust me« oder »I wish you believed me«, sagen die Figuren dann jeweils (vgl. etwa 6.14) –, kann man das Ende auch als Vertrau19 Vgl. dazu Dath: Lost (Anm. 7), 46. 20 Dath: Lost (Anm. 7), 30. 21 Nicht zufällig wird in Episode 6.2 unter dem Tempel eine französische Ausgabe von Kierkegaards Furcht und Zittern gefunden. Verwendet wird der Ausdruck leap of faith zum Beispiel in den Folgen 2.3, 5.6 und 6.13.

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ensfrage der Serie als Ganzes verstehen: This is the end, you just have to trust us. Das Motiv des Glaubenssprungs beschäftigt zudem bereits die ganze zweite Staffel. Darin treffen die Gestrandeten in der Swan Station auf Desmond, welcher die letzten drei Jahre damit verbracht hat, alle 108 Minuten manuell eine bestimmte Zahlenfolge in seinen Computer einzugeben, um damit – wie ihm gesagt wurde – das Ende der Welt immer wieder aufzuschieben. Es gehört zu den Spezialitäten von Lost, solche technisierten Analogien des Glaubens von allen Seiten her zu erforschen. Handelt es sich um einen Wink des Schicksals, wie Desmond zu glauben scheint? Ein verhaltenspsychologisches Experiment, wie Jack und nach der Entdeckung der Pearl Station auch Locke vermutet? Einen Test des Glaubens, wie Eko spekuliert? Die Auflösung verharrt in der für Lost üblichen Unentschiedenheit: Als Locke am Ende der zweiten Staffel die Eingabe verhindert, tritt tatsächlich eine Katastrophe ein, die jedoch durch Desmonds Fail-Safe-Schlüssel auf ein lokales Maß begrenzt werden kann. Zweitens kann der Narration von einer Metaebene aus Stabilität verliehen werden. Man hat zum Beispiel immer wieder bemerkt, wie sehr die Architektur von Lost an die aus Videogames bekannten Schemata der Rätsel- und Rollenspiele erinnert: Die verschiedenen Figuren offerieren dem Publikum gewisse Rollen, in denen man die Serie durchspielen, aber auch sterben kann. Als Belohnung für die Erfüllung bestimmter Aufgaben werden neue Spielorte freigeschaltet sowie Waffen, Nahrung oder sonstige Rettungspunkte gesammelt. Außerdem gibt es einen Schwierigkeitsfortschritt nach Levels, auf denen die Aufgaben, Gegner und Spielorte jeweils neu definiert werden.22 Daran knüpft Dath an, wenn er Lost als Erzählspiel23 betrachtet, in dem »Spiel und Widerspiel […] nichts anderes sind als die Formen der gebundenen und der freien Phantastik selbst«: Immanente Ausweglosigkeit spielt gegen transzendenten Ausweg. Das letzte Level – der Ausweg aus dem Spiel – bestünde dann darin, diesbezüglich auf endgültige Antworten verzichten zu können: »Was diese Geschichte nicht zum Wenigsten will, ist, den Leuten bestimmte Antwortbegehren auszutreiben; sie verlangt, dass Rätsel nicht geknackt, sondern für bessere aufgegeben werden müssen«.24 22 Vgl. dazu die anonyme Website: Lost is a Game. Online unter : lostisagame.com (31. 07. 2014), ebenso Steven E. Jones: The Game of Lost. In: ders.: The Meaning of Video Games. Gaming and Textual Strategies. New York 2008, 19–46, und Jennifer Buckendorff: Fans play TV series »Lost« like an interactive video game. Online unter : http://seattletimes.com/html/ entertainment/2002730079_lostgame10.html (31. 07. 2014). Lost ist außerdem paradigmatisch für die neuen Weisen der interaktiven fan participation, vgl. Sandra Ziegenhagen: Zuschauer-Engagement. Die neue Währung der Fernsehindustrie am Beispiel der Serie »Lost«. Konstanz 2009. 23 Zum Begriff des Erzählspiels vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2013, 12. 24 Dath: Lost (Anm. ), 62, 49.

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Eine dritte Option schließlich besteht darin, ein externes Erklärungsmuster hinzuzuziehen, ohne die Auslegung deshalb gleich auf eine Metaebene zu verlegen. Im Folgenden wird dieser Weg eingeschlagen, indem Lost anhand von Badious Ereignistheorie aufgeschlüsselt wird.

2.

Jenseits der Immanenz: Badiou und die Gnade des Ereignisses

Die gemeinsame Grundthese von Lost und Badiou besteht in der Behauptung, dass es so etwas wie eine universale Singularität geben soll.25 Die Form, in der eine solche Entität auftrete, nennt Badiou ein Ereignis. Wie er in seinem Hauptwerk Das Sein und das Ereignis schreibt, versucht er damit aufzuzeigen, »wie das Sein ergänzt werden kann«. Man hat es hier also grundsätzlich mit einem Denken zu tun, dem das Sein nicht genügt: Diese Philosophie sucht nach etwas, das mehr ist als das Sein, anders als das Sein, weil Sein für Badiou immer nur »das geregelte Spiel der Vielheit« umfasst und sich bloß in der Ordnung der jeweiligen Situation, als ein »in-Situation-zu-sein« präsentiert.26 Badious Denken operiert stets in dieser Doppelung: Es praktiziert eine Abwertung des Seins als ereignislosem Zustand einer starren Strukturiertheit durch die Regeln der Normalität – und evoziert gleichzeitig die Hoffnung auf einen Einbruch des absolut Anderen, auf eine Öffnung der Situation hin zu einer kommenden Wahrheit. Der Dualismus Badious verfügt daher eine fundamentale Spaltung der Entitäten: auf der einen Seite das Sein (Determination, Struktur, Normalität) und auf der anderen Seite das Ereignis (Gnade, Unterbrechung, Wahrheit).27 Auch wenn Badiou keinen prophetischen oder teleologischen Messianismus vertritt, zeigt seine Ereignistheorie dennoch eine gewisse messianische Qualität: Sie verspricht die Möglichkeit einer weltverwandelnden Errettung aus der erlebnisarmen Repetition des Gewöhnlichen. Es gibt, so lässt der Begriff des Ereignisses hoffen, etwas jenseits der schalen Ordnung des Alltags, in der stets nur das geschieht, was die Berechenbarkeit des Endlichen nicht überschreitet. Das 25 Badiou: Paulus (Anm. 2), 21: »Welches sind die Bedingungen einer universalen Singularität?« Für wertvolle Hinweise zu Badiou und die kritische Diskussion der folgenden BadiouInterpretation danke ich Karin Schraner. 26 Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis. Übers. v. Gernot Kamecke. Berlin 2005, 31, 45, 52. 27 Zu Badious Dualismus vgl. etwa Slavoj Zˇizˇek: From Purification to Subtraction: Badiou and the Real. In: Peter Hallward (Hg.): Think Again. Alain Badiou and the Future of Philosophy. London/New York 2007, 165–181, hier 174ff., ebenso Simon Critchley : Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands. Übers. v. Andrea Stumpf u. Gabriele Werbeck. Zürich/Berlin 2008, 56ff., sowie Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010, 177.

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Pathos des Ereignisses setzt sich von all dem ab und zieht den Zauberkreis der besonderen Seltenheit um sich: Es gibt Außerordentliches und Wundersames, es gibt Unendliches in der Welt. Im zweiten Band seines Hauptwerks wird Badiou das Ereignis deshalb durch ein »Maximalwerden der Existenzintensität« kennzeichnen.28 Dass Badiou nun aber zu jenen vier Prozeduren, in denen ein solches Plus an Existenzintensität realisiert werden kann, neben den eher klassischen Kandidaten der Kunst, der Wissenschaft und der Politik auch die romantische Liebe zählt, lässt, wie Slavoj Zˇizˇek bemerkt hat, diese etwas aus der Rolle fallende vierte Prozedur als formales Raster der übrigen drei erscheinen.29 Am Beispiel der Liebe kann man folglich besonders gut beobachten, wie sich das Außerordentliche vollzieht: wie sich »aufgrund des bloßen Zufalls einer Begegnung« ein absoluter Schnitt ereignet, der »vom Punkt des Liebes-Ereignisses« aus das Besondere festhält und »die Folgewirkungen der Liebe vom gewöhnlichen Lauf der Dinge unterscheidet«. Und wie sich in dieser Befreiung von der Totalität des Gewöhnlichen jene neue Gesamtheit des Erlebens konstituiert, welche »jenseits der bloßen Begebenheit die Welt der Liebe ausmacht«.30 Was bisher unter dem Begriff Ereignis zusammengefasst wurde, erweist sich bei genauerem Hinsehen daher als wechselseitiges Zusammenwirken dreier Komponenten. In Bezug auf ein Liebesereignis unterscheidet Badiou erstens das »Wunder der Begegnung«, zweitens »das mühsame Werden einer Punkt für Punkt konstruierten Wahrheit« und drittens »das Glück als immanente Belohnung der Mühe«.31 Trotzdem sind diese drei Komponenten derart aufeinander bezogen, dass sie nicht isoliert betrachtet werden können. Das eigentliche Ereignis besteht in der »Überraschung« einer Begegnung, welche »nach den Gesetzen der Welt weder vorhersehbar noch berechenbar war«. Gerade deshalb ist das Ereignis aber auch äußerst flüchtig. Wird es nicht als Ereignis benannt und als Ausgangspunkt einer Wahrheitskonstruktion festgehalten, dreht sich die Welt einfach weiter und alles wird genauso sein, als ob es nie stattgefunden hätte. Darum kann man in einem gewissen Sinn sagen, dass sich das Ereignis (erste Komponente) tatsächlich erst dann ereignet hat, wenn man die Entscheidung fällt, den »Zufall der Begegnung« nicht einfach vergehen zu lassen, sondern ihn »in der Form eines Anfangs zu fixieren« (zweite Komponente). Die Liebeserklärung ist ein solcher Eingriff, der festhält: »Ich werde aus dem, was ein Zufall war, etwas anderes machen. Ich werde daraus eine Dauer, eine Hartnäckigkeit, eine Verpflichtung, eine Treue machen.« Das Subjekt 28 Alain Badiou: Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2. Übers. v. Heinz Jatho. Zürich/ Berlin 2010, 609. 29 Zˇizˇek: From Purification to Subtraction (Anm. 27), 170. 30 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 263. 31 Alain Badiou: Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong. Übers. v. Richard Steurer. Wien 2011, 67.

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allerdings, das diese Entscheidung fällt, ist für Badiou nicht bereits gegeben, sondern konstituiert sich überhaupt erst in einer solchen Entscheidung, in der Treue zu einem Ereignis (dritte Komponente): »Denn sie und ich, wir sind Teil dieses einzigen Subjekts, dieses Liebessubjekts, das die Entfaltung der Welt durch das Prisma unseres Unterschieds sieht, sodass die Welt sich ereignet und geboren wird«.32 Badious Theorie zeichnet sich nun gerade dadurch aus, dass sie ihren Messianismus auf die gesamte Dreifaltigkeit des Ereignisses verteilt. Sie lässt die Erlösung zwischen den drei Komponenten zirkulieren, ohne eine davon direkt eschatologisch zu besetzen. Denn für sich allein genommen ist keine Komponente unmittelbar mit einem Heilsversprechen verknüpft: Das Ereignis ist zwar als unberechenbares Vorkommnis durchaus außerordentlich, an sich kann es aber nichts und niemanden erlösen, sondern verpufft einfach in der Kontingenz. Die Treue generiert im Anschluss an das Ereignis zwar eine Wahrheit, an sich ist sie allerdings nicht durch Erlösung, sondern eher durch Arbeit, Mühe und Verpflichtung bestimmt. Das Subjekt schließlich bildet zwar den durch das Ereignis veränderten Modus des Welterlebens, an sich ist es jedoch nie präsent, es aktualisiert sich vielmehr immer nur performativ, im Vollzug der Treue. Und doch wird im Zusammenspiel dieser drei Komponenten eine Erwartungshaltung aufgebaut, die man nur als messianisch bezeichnen kann. Die Funktionsweise dieses Zusammenspiels ist nicht ganz einfach zu verstehen. Sie hat jedoch direkt mit jener These einer universalen Singularität zu tun, welche auch die narrative Konstruktion von Lost bestimmt. Badiou lässt keinen Zweifel daran, dass er mit der Spaltung von Sein und Ereignis »die Existenz von zwei inkommensurablen Formen des In-Seins« postuliert. Trotzdem hält er daran fest, dass dieser Schnitt nur eine »Spaltung der Immanenz« darstelle: Sein und Ereignis wären gemäß Badiou als gleichermaßen immanent zu denken.33 In Das Sein und das Ereignis ist diese Schwierigkeit von Anfang an präsent: Wenn das Sein nur als strukturierte Vielheit präsentiert wird, so wird diese Struktur dennoch nicht einfach als gegeben, sondern als Resultat einer »Zählung-als-Eins« aufgefasst. »Damit das Eins jedoch resultiert«, so das zentrale Argument, »muss es ›etwas‹ in der Vielheit geben, das nicht absolut mit dem Resultat zusammenfällt«. Natürlich beeilt sich Badiou festzuhalten, dass tatsächlich »alles gezählt wird«, dass es keine »Lücke« im Sein gibt und dass man daher garantiert »keiner vereinzelten Insel begegnet«, welche in der Zählung

32 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 32ff., 42f., 29. 33 Alain Badiou: Afterword: Some Replies to a Demanding Friend. In: Hallward (Hg.): Think Again (Anm. 27), 232–237, hier 235: »scission of immanence (the existence of two incommensurable forms of being-in)« (Übersetzung im Text: S. B.).

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irgendwie »›vergessen‹« worden wäre. Trotzdem hinterlasse die Zählung einen »phantomhaften Rest«.34 Doch wenn in der Tat alles gezählt wird, welcher geheimnisvolle Rest soll dann noch übrig bleiben? Wenn wirklich die gesamte Immanenz in die Zählung einfließt, kann das Resultat nur insofern von seinem Ausgangspunkt abweichen, als an irgendeinem Punkt eben doch eine wilde Transzendenz hineinfunkt und die Rechnung durcheinanderbringt. Badiou löst das Problem, indem er über der Ebene der Struktur (also der Situation) noch eine der Metastruktur (die sogenannte Verfassung der Situation) einzieht und damit die Rechnung verdoppelt – was natürlich die Möglichkeit eines Rechenfehlers entsprechend vergrößert. Wo die Rechnung auf beiden Ebenen übereinstimmt, herrscht die Normalität. Wo die Metastruktur etwas erfasst, das die Struktur nicht zählt, hat man es mit einem Auswuchs zu tun. Und wo die Struktur etwas präsentiert, das von der Metastruktur nicht repräsentiert wird, liegt gemäß Badiou etwas Besonderes vor. Eine solche Singularität gehört zwar zur Situation, wird von ihr aber »nicht eingeschlossen«. Sie wird zwar gezählt, setzt sich jedoch aus Elementen zusammen, »die von der Zählung nicht erfasst werden«. Man ahnt bereits, dass nur an solchen Stellen, wo das Sein sich verrechnet, ein Ereignis einschlagen kann. Badiou nennt daher einen Ort, der »absolut besonders« ist, eine »Ereignisstätte«. Solche Stätten befinden sich »am Rand der Leere« – dort, wo das Außerordentliche beginnt.35 Lässt sich mit diesem Vokabular nicht auch das Setting von Lost beschreiben? Die Realität der Insel wird von der Serie immer wieder affirmiert: Sie ist keine Lücke im Sein, kein jenseitiges Fegefeuer und nicht auf die Verzerrungseffekte einer verwirrten Psyche reduzierbar.36 Sie zählt zum Sein und trotzdem existiert sie offiziell nicht, sie wird auf keiner Seekarte verzeichnet, die Metastruktur weiß nichts von ihr. Zugleich wimmelt es auf ihr von Elementen, welche innerhalb der situativen Ordnung nicht gezählt werden können: Eisbären in den Tropen? Eine bösartige Rauchsäule? Das intensive Flirren einer nicht abweisbaren Schicksalhaftigkeit? Die Insel wird damit als ein Ort des Besonderen gekennzeichnet, sie ist eine absolute Singularität, situiert am Rand der Leere eines unendlichen Ozeans, wo man verloren gehen, aber auch gefunden werden kann: Die Insel bildet eine Ereignisstätte. Lost zielt jedoch immer schon über diese Singularität hinaus, in Richtung auf das größere Ganze eines Vorgangs, dessen Geheimnis sich nie auf das Partikulare einer einzelnen Figur reduzieren lässt. Wie Dath bemerkt: »Wir sollen glauben, dass diese Leute einander wichtig sind, […] wobei das konkrete Ein34 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 69ff. 35 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 119, 540. 36 Vgl. dazu Dath: Lost (Anm. 7), 85.

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zelschicksal sich in einem Zusammenhang auflösen darf, der keiner und keinem Einzelnen ganz gehört, von niemandem allein erzähl- oder erklärbar ist.«37 Sowohl Lost als auch Badiou nehmen hier eine messianische Operation der Ergänzung vor: Beide markieren das Singuläre einer nicht in der gesetzten Ordnung aufgehenden Stätte als Einsatzpunkt einer jede Partikularität überschreitenden, universalen Ereignishaftigkeit. Doch wie kommt diese Universalität ins Spiel? Was genau ereignet sich in einem Ereignis? Letztlich muss Badiou zugeben, dass seine Theorie dem »Wunder« des Ereignisses tatsächlich eine Art »metaphysischen Status« verleiht.38 In einer bemerkenswerten Wendung gesteht Badiou seine Bereitschaft, die Immanenz jederzeit für etwas Höheres aufzugeben: Wenn man aber dafür, dass eine politische Revolution, eine Liebesbegegnung, eine Erfindung der Wissenschaft oder eine Schöpfung der Kunst als verschiedene Unendlichkeiten denkbar werden, die Immanenz (was ich nicht glaube, aber das steht auf einem anderen Blatt) […] letztlich opfern muss, so werde ich es tun.39

Was für Badiou offensichtlich mehr zählt als die Immanenz, ist die Unendlichkeit. So schreibt er auch in Bezug auf die Liebe, sie sei »eine Erklärung der Ewigkeit«, ein »Hinabsteigen der Ewigkeit in die Zeit«. Erst in diesem vertikalen Bezug wird für Badiou die Intensität der Liebe erklärbar : »Deshalb ist sie ein so intensives Gefühl.«40 Was das Ereignis verspricht, ist daher nichts Geringeres als eine »Aufhebung der Zeit«,41 welche dem einer Wahrheit dienenden Subjekt »im Bruch mit der unerbittlichen Gewöhnlichkeit der Zeit« und »jenseits der Überlebensnotwendigkeit des Menschentiers« erlaube, »unsterblich zu werden«.42 Die ereignishafte Intensität wird von Badiou also nicht durch eine horizontale Leistung der Immanenz erklärt, sondern durch den vertikalen Transzendenzoperator der Unendlichkeit. Wie er selbst zugibt, übernimmt Badiou hier die christliche Idee, »dass es in der scheinbaren Kontingenz der Liebe ein Element gibt, das nicht auf diese Kontingenz reduzierbar ist«. Einmal mehr behauptet er zwar, dass er – im Gegensatz zum Christentum – dieses »universelle Element […] als immanent« verstehe.43 Trotzdem setzt er genau an dieser Stelle den entscheidenden Schnitt zwischen der kontingenten Ordnung der Immanenz und jener anderen Ordnung der Gnade, in welcher das Ereignis sich vollzieht: 37 Dath: Lost (Anm. 7), 15. 38 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 32f. 39 Alain Badiou: Deleuze. »Das Geschrei des Seins«. Übers. v. Gernot Kamecke. Zürich/Berlin 2003, 129f. 40 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 45. 41 Badiou: Deleuze (Anm. 39), 93. 42 Badiou: Paulus (Anm. 2), 84. 43 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 56.

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»Daraus, dass eine Ereignisstätte existiert, folgt in keiner Weise das Auftreten des Ereignisses. Dieses Auftreten setzt zwar die Immanenz voraus, gehört aber nichtsdestoweniger der Ordnung der Gnade an.« Diese »ereignishafte Gnade« ist durch ihre »Grundlosigkeit« gekennzeichnet. Sie vollzieht sich in einem »Regime des Ohne Ursache« und geschieht »absolut grundlos«.44 Die Gnade des Ereignisses erscheint zwar in der kontingenten Singularität einer Stätte, gehört in ihrer absoluten Grundlosigkeit jedoch einer anderen Logik als jener des säkularen Denkens an, welche jedes Geschehen in einem immanenten Netz kontingenter Ursachen verortet. Man wird deshalb weder Badious Rede von einem »Materialismus der Gnade« noch seiner Bestimmung des Ereignisses als »illegale[r] Kontingenz« folgen können.45 Das Ereignis ist tatsächlich nicht von dieser Welt, es operiert von einem nicht positiv bestimmbaren Ort jenseits der Immanenz aus und kennzeichnet Badious Theorie damit als eine weitere Variante jener negativen Theologie, die seit Heidegger das ontologische Denken bestimmt.46

3.

Jenseits der Verlorenheit: Lost, der Universalismus und die messianische Konstante

Lost praktiziert dasselbe Verwirrspiel: Die Serie signalisiert immer wieder den guten Willen zu immanenten Erklärungen und kontingenten Herleitungen, etwa wenn sie die Präsenz von Eisbären in den Tropen durch die Experimente der Dharma Initiative plausibilisiert, den Physiker Daniel Faraday als wissenschaftliche Anlaufstelle für die Mysterien der Insel aufbietet oder den metaphysischen Konflikt zwischen Jacob und dem Man in Black auf die nur allzu menschliche Dynamik einer manipulativen Mutter zurückführt. Trotzdem endet das Ganze schließlich doppelt religiös: einerseits was die Insel betrifft in der heiligen Höhle mit der Bewahrung des universalen Lebenslichts und andererseits was die Figuren betrifft in der Kirche über der Lamp Post Station mit der konfessionsunabhängigen Auferstehung in die gleißende Helle der Erlösung. Der Dualismus von Lost zeigt sich zudem besonders stark in der formalen 44 Badiou: Paulus (Anm. 2), 89, 98. Statt von Gnade spricht Badiou manchmal auch vom »Mysterium des Überschusses« und postuliert die Existenz geheimnisvoller »unbenennbarer bzw. ununterscheidbarer Teile«, sodass am Ende gerade »dasjenige, das sich nicht unterscheiden lässt, in Wirklichkeit die allgemeine Wahrheit einer Situation ist, die Wahrheit ihres eigentlichen Seins«. Ders.: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 319, 543, 369. 45 Badiou: Paulus (Anm. 2), 118, 102. 46 Vgl. dazu Marchart: Die politische Differenz (Anm. 27), zu Badiou insbesondere 152–177, ebenso Daniel Strassberg: Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze. Zürich 2014, 339.

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Spaltung der letzten Staffel. Während eine Erzählebene die Rettung der insularen Singularität behandelt, transzendieren die Seitwärtsblenden das Inselnarrativ auf seine universale Bedeutung hin. Die Parallelführung dieser beiden Ebenen während der gesamten sechsten Staffel verknüpft formal die singulären Geschehnisse auf der Insel mit der Universalität der Gnade, welche den Protagonisten in der Seitwärtswelt widerfährt. In den letzten Minuten der finalen Folge schließlich wird enthüllt, dass diese universale Ebene nicht in einer parallelen Sideways-Realität spielt, sondern in Wahrheit Vorblenden in das Leben nach dem Tod erzählt, wo die Figuren erneut verloren umherirren, ohne Erinnerung an alles, was auf der Insel geschah. Während die Vorblenden der dritten und vierten Staffel jedoch die unvollständige Erlösung der bloß physischen Rettung zeigten, komplettieren die JenseitsVorblenden der sechsten Staffel nun die Erlösung der Charaktere, indem diese auch noch aus ihrer metaphorischen Verlorenheit errettet werden. Das messianische Ereignis vollzieht sich also auch hier als Operation der Unendlichkeit, es lässt die Ewigkeit in die Zeit hinabsteigen und seine Subjekte unsterblich werden. Dies allerdings kann nur im Futur II erzählt werden. So wie für Badiou die Sprache eines Subjekts, insofern sie sich auf den Vektor einer erst noch als gültig zu ermittelnden Wahrheit bezieht, nur im Futur II stehen kann,47 erzählt auch Lost ein durch die Zukunft zu verifizierendes Ereignis der Gegenwart. So ermitteln die Vorblenden der dritten und vierten Staffel das Scheitern einer rein physischen Rettung: Das bloße Entkommen von der Insel wird kein Ereignis der Erlösung gewesen sein. Die Vorblenden der sechsten Staffel hingegen bestätigen nun die Gültigkeit der Gnade: Erst im Erkennen der Wahrheit wird sich die Erlösung ereignet haben. Doch wie zeigt sich die Wahrheit in Lost? Sie erscheint wie in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als unfreiwillige Erinnerung, die von einem singulären Triggerpunkt ausgelöst wird.48 Im Futur II der Jenseits-Vorblenden ist Desmond der Erste, der die Wahrheit erkennt. Sie begegnet ihm in Form eines farbgesättigten, symphonisch untermalten Intensivbilderstroms – allerdings nicht vom Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine hervorgerufen, sondern durch die Bestrahlung eines Magnetresonanztomographen. Dem Magnetfeld der Kernspinresonanz ausgesetzt wie einst den Strahlungsemissionen der Swan 47 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 551. Vgl. dazu auch 444–458. 48 Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. v. Eva Rechel-Mertens u. Luzius Keller. Frankfurt a. M. 2004, v. a. Bd. 1: Unterwegs zu Swann, 66–71, u. Bd. 7: Die wiedergefundene Zeit, 257–333. Im Unterschied zu Lost und Badiou verzichtet Proust allerdings auf einen theologischen Überbau und lässt seine Wahrheiten stattdessen in den immanenten Intensitätskoordinaten einer singulär-kontingenten Erlebnisperspektive kreisen. Dadurch kann er jenen Autoritarismus der Transzendenz vermeiden, dem – wie sich zeigen wird – letztlich sowohl Lost als auch Badiou verfallen.

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Station, hat Desmond plötzlich eine Vision: Er sieht eine hastig notierte Botschaft mit dem Namen »PENNY« (6.11) – ein Erinnerungsfetzen aus der Looking Glass Station, wo Charlie einmal eine kurze Funkverbindung zu Desmonds großer Liebe Penny hatte herstellen können (3.23). Der Soundtrack von Michael Giacchino tupft die ersten sachten Klaviertöne aus Desmonds Leitmotiv über die Szene, dann lässt er die Streicher anschwellen, während eine schnell geschnittene Sequenz mit Bildern aus dem gemeinsamen Leben von Desmond und Penny vorbeirauscht: die erste Begegnung vor dem Kloster, aus dem Desmond eben hinausgeworfen wurde, Küsse, die Geburt ihres Kindes und die Wiedervereinigung, nachdem Desmond von der Insel entkommen ist, schließlich Pennys Stimme: »Desmond?« (6.11) Was ihm hier widerfährt, wird im Lauf der sechsten Staffel mit verschiedenen Triggerpunkten und individuell bebilderten Ereignissequenzen einer ganzen Reihe von Figuren zuteil: Hurley (6.12), Ben (6.16), Sun und Jin, Shannon und Sayid, Kate, Claire und Charlie, Locke, Juliet und Sawyer und ganz zuletzt auch Jack (6.17/18). Aber um zu verstehen, was sich in diesen Sequenzen genau zeigt, muss man mindestens zwei Staffeln zurückspulen. Einem Vorschlag Daths folgend, kann man die Folge The Constant (4.5) als »Hebelpunkt« für die Lost-Exegese insgesamt betrachten, als eine Art »Gipfel der Selbsterleuchtung des Werks«.49 In der Tat erzählt diese um Desmond kreisende Episode bereits exemplarisch, wie Lost seine Figuren in der sechsten Staffel schließlich aus ihrer Verlorenheit zu erlösen gedenkt. Dazu muss die lostness jedoch noch einmal radikalisiert und ebenfalls ins Exemplarische überhöht werden: Zum Frachter hinausfliegend gerät der Hubschrauber mit Desmond an Bord in ein Unwetter und überquert den elektromagnetischen Ereignishorizont der Insel daher nicht exakt an der vorgesehenen, von Faraday als sicher berechneten Übergangsstelle – wodurch Desmonds Bewusstsein im Raum-ZeitGefüge verloren geht und unkontrolliert zwischen 1996 und 2004 herumspringt. Auf dem Frachter liegt bereits ein aus der Nase blutender Funker in der Krankenstation, dem offenbar dasselbe passiert ist und dessen Gehirn bald schon aus Überforderung kollabiert. Damit stellt die Erzählung klar, dass sie Verlorenheit an sich – lostness in Reinform – als tödlich begreift: Das Verfallen an die horizontale Willkür der Partikularzeit ist ein Verhängnis von potenziell fatalem Ausmaß. Was also ist zu tun? Gibt es eine Rettung aus der absoluten Verlorenheit? Der Faraday des Jahres 2004 schickt Desmond nach Oxford, wo die 1996er-Version von Faraday forscht und das lostness-Phänomen sogleich an seiner Laborratte Eloise testet. Das Tier stirbt und Faraday begreift: »I think Eloise’s brain shortcircuited. The jumps between the present and the future, she eventually … she 49 Dath: Lost (Anm. 7), 68, 65.

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couldn’t tell which was which. She had no anchor.« Desmond blickt ihn verständnislos an: »What do you mean – anchor?« Und jetzt, vor seiner mit Gleichungen vollgekritzelten, das ganze Bild ausfüllenden Wandtafel in Richtung eines unsichtbaren Zusammenhangs gestikulierend, setzt Faraday zur großen Erklärung an: Something familiar in both times. All this, see this? This is all variables. It’s random, it’s chaotic. Every equation needs stability, something known. It’s called a constant. Desmond, you have no constant. When you go to the future nothing there is familiar. So if you want to stop this, then you need to find something there, something that you really, really care about that also exists back here in 1996.

Desmond, der große Romantiker im Ensemble der Verlorenen, hat nur einen Gedanken: »This constant, can it be a person?« (4.5) Zurück im Jahr 2004 versucht Desmond vom Frachter aus eine telefonische Verbindung nach London herzustellen, um jene Penny anzurufen, die er acht Jahre zuvor verlassen hatte, weil er sich selbst erst beweisen musste, dass er ihrer Liebe würdig sei. So verschlug es ihn zur Armee und danach auf eine Segeltour rund um die Welt, von dort auf die Insel zum 108-Minuten-Computer in der Swan Station und nun auf diesen Frachter, an ein rotes Telefon, das ihn entweder retten oder vernichten wird. Auf der Tonspur erklingen wieder die Klavierakkorde von Desmonds Thema, während aus seiner Nase bereits Blut rinnt. Ein Klicken in der Leitung und jetzt heben die Streicher an, als Penny sich meldet und ihn mit jenem erlösenden »Desmond?« anspricht, das dieser zwei Staffeln später im Tomographen noch einmal hören wird. Die Szene spielt passenderweise an Heiligabend, dem Geburtsfest des Messias, und als das Bild zu Penny wechselt, erscheint sie deshalb vor dem religiösen Glanz eines erleuchteten Weihnachtsbaums. Das Leitmotiv schraubt sich in die Höhe und entfaltet seine volle melodische Pracht, während die Tränen fließen und das Ferngespräch sich durch die Störgeräusche hindurch zum verschlungen Finale immer schnellerer Wechsel zwischen den beiden Gesichtern und Stimmen intensiviert: »›I don’t know where I am but …‹ – ›I’ll find you, Des …‹ – ›… I promise …‹ – ›… no matter what …‹ – ›… I’ll come back to you …‹ – ›… I won’t give up …‹ – ›… I promise …‹ – ›… I promise …‹« Und dann gleichzeitig im Chor, bevor totes Rauschen die Verbindung kappt: »›I love you.‹« Damit ist Desmond vorerst gerettet und die Episode zu Ende, abgesehen von einem Epilog, der die Universalität der gerade präsentierten Heilmethode unterstreicht. Der Faraday des Jahres 2004 sitzt am Strand und blättert in seinem alten Notizbuch, bis er schließlich auf jenen Vorsatz stößt, mit dem er sich später in der fünften Staffel retten wird, als die Insel selbst zwischen den Zeiten zu oszillieren beginnt und das Nasenbluten epidemisch zu werden droht: »IF

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ANYTHING GOES WRONG, DESMOND HUME WILL BE MY CONSTANT.« (4.5) Was Lost als Erlösung erzählt, ist die Konstruktion eines Fixpunkts im zufälligen Chaos der Welt, die Verankerung eines universalen Eichwerts, der in der Variabilität der Zeiten und Orte immer derselbe bleibt: Wer seine Existenz nicht über eine derart universale Konstante stabilisiert, wird sich in der Partikularität des Seins immer wieder verlieren; wer jedoch eine Konstante fixiert, ist gerettet. Badiou vertritt eine ähnliche Theorie der Subjektivierung, wenn er die Konsistenz des Subjekts von der Treue zu einem Ereignis abhängig macht. Deshalb muss der Zufall des Ereignisses umgehend »fixiert« oder sogar »besiegt« werden. Die Treue fixiert das Ereignis so, dass es »rückwirkend überhaupt nicht mehr als kontingent und zufällig erscheint, sondern praktisch als eine Notwendigkeit«. Das Heil wird auch hier in der Stabilität gesucht, man rettet sich aus der Verlorenheit der Kontingenz in die starken Arme des Schicksals. Denn die Treue arbeitet am »Übergang vom Zufall zum Schicksal«, sie versucht, die flüchtige Zufälligkeit im Beton einer »Konstruktion« zu fixieren, »die so fest ist, als wäre sie notwendig gewesen«. Kontingenz stellt hier also immer ein Risiko dar, das überwunden werden muss: Es braucht zwar den Zufall einer Begegnung, aber die allgemeine Flüchtigkeit ist so groß, dass man auf der Stelle Maßnahmen treffen muss, »damit die Begegnung von ihrem Zufall befreit wird«. So verstanden, ist Treue nichts anderes als ein fortwährender Krieg gegen die Kontingenz, eine stetige Aussortierung des Zufalls aus der Schicksalhaftigkeit des Ereignisses. Ihr Ziel liegt in der Konstruktion einer Konstante als dem »in der Geburt einer Welt besiegten Zufall der Begegnung«.50 Je totaler der Sieg, desto stabiler die Konstante. Die Stabilität einer Konstante ist daher abhängig von jenen Punkten, welche das Subjekt zwingen, sich noch einmal zu entscheiden: »Ein Punkt ist ein besonderer Moment, auf den sich ein Ereignis zusammenzieht, wo es in gewisser Weise von neuem gespielt werden muss, so als ob es in einer verschobenen, veränderten Form zurückkäme«.51 Entscheidet sich das Subjekt gegen die Treue, zerfällt die Wahrheit des Ereignisses und damit auch das Subjekt selbst. Es kann nur existieren, »insofern es bestätigt, dass es eine gewisse Zahl von Punkten festhalten kann«.52 Der Messianismus der Konstanz beruht daher auf dem »Imperativ […], nichts zu Bruch gehen zu lassen«.53 Und er veranlasst eine 50 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 42ff. Insofern praktiziert Badiou hier genau das, was er der transzendenten oder metaphysischen Orientierung des Denkens vorwirft: Er »sucht einen Haltepunkt für das Umherirren festzulegen«. Ders.: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 319. 51 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 46. 52 Badiou: Logiken der Welten (Anm. 28), 69. 53 Badiou: Paulus (Anm. 2), 69.

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entsprechende Prüfungsmoral: Es genügt nie, das Ereignis nur einmal zu spielen. Vielmehr wird es immer wieder nötig sein, die Treue eines Subjekts von Neuem zu testen, um die Stabilität der Konstante zu gewährleisten. So lässt sich das Spiel des Ereignisses in Lost an einer Vielzahl von Punkten beobachten. Die erste Komponente, das Ereignis an sich, ist als solches zu flüchtig, um exakt bestimmt zu werden. Aber allgemein kann man sagen, dass es mit dem Zusammenfinden und dem gegenseitigen Sich-wichtig-Werden jener Menschen zu tun hat, welche sich an der Ereignisstätte der Insel begegnen: Das Ereignis lässt diese Figuren füreinander zu Konstanten werden und rettet sie dadurch aus ihrer Verlorenheit. Weil das Ereignis jedoch, wie Badiou sagt, »sich nur jenseits der Situation anzeigen« kann, in der es »aufgetreten ist«,54 kann es nicht bereits auf der Insel sichtbar werden. Man wird deshalb bis zu den JenseitsVorblenden der sechsten Staffel warten müssen, in denen schließlich die Konstruktion jener Welt sichtbar wird, welche mit den Worten Daths »ein anderes Kontinuum […], ein rein soziales« herstellt.55 Im Serienfinale wird dieses rein soziale Kontinuum von Jacks Vater als das enthüllt, was es ist: »This is a place that you all made together, so that you could find one another.« (6.18) Die zweite Komponente besteht in der Treueprozedur, die das Ereignis bewahrheitet. Sie findet an mehreren Punkten statt. Man kann etwa die Rückblenden der ersten Staffeln mit all ihren überzähligen Begegnungen als jene Betonierung der Notwendigkeit verstehen, welche dem Zufall des Zusammenfindens rückwirkend die Stabilität des Schicksals aufprägt. Wenn andererseits die Oceanic Six in den Vorblenden der vierten Staffel ihre Erlebnisse auf der Insel verschweigen und durch Lügen maskieren, so lässt sich dieser Punkt als ein Scheitern der Treueprozedur bestimmen, sodass jenes Phänomen erscheint, das Badiou Verrat nennt: die Leugnung des Ereignisses.56 Demgegenüber können Jacks und Hurleys Übernahme des Inselpatronats am Ende der sechsten Staffel als Punkte der Treue gelten, an denen die Wahrheit des Ereignisses zum Erscheinen gebracht wird. Die dritte Komponente, die Subjektivierung, wird vor allem in den Vorblenden der sechsten Staffel erzählt. An diesem Punkt agieren die Figuren in einer neuen, deutlich weniger verlorenen Subjektivität. Sie tragen gewissermaßen die singulären Spuren des Ereignisses, haben in ihrem Tod jedoch dessen universale Wahrheit verloren und die Insel mit allem, was auf ihr geschehen ist, vergessen. Hier vertritt Lost noch einmal die Badiou’sche These, dass es in der Frage der Subjektivierung weniger um konkrete Moralität, das heißt um be54 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 226. 55 Dath: Lost (Anm. 7), 84. 56 Alain Badiou: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen. Übers. v. Jürgen Brankel. Wien 2003, 103.

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stimmte Verhaltensweisen in kontingent-partikularen Situationen geht, sondern um die Offenbarung einer universalen Wahrheit, deren Gnade sich nur im Bekenntnis einlöst. Diese Wahrheit haben die Figuren nicht festgehalten, deshalb muss das Ereignis noch einmal gespielt, noch einmal neu inkorporiert werden. Um sich als Subjekte zu konstituieren, müssen die Figuren deshalb post mortem noch einmal vom Ereignis gefunden werden – und es festhalten: So wie Desmond in seinem Kernspin-Sarg vom Bilderstrom der Ereignisintensität noch einmal zum Leben erweckt wird und die treu wartende Penelope erneut als einzige Konstante seiner Odyssee fixiert. Mit den Worten Badious: »Diese Destination, die ein Subjekt in einer anderen Logik seiner Erscheinung-in-Wahrheit reaktiviert, nennen wir Auferstehung.«57 Dergestalt reaktiviert, versammeln sich die Geretteten zum großen Finale in der Kirche, wo Jack als Letzter ebenfalls noch erweckt wird. Jetzt versteht man, warum Michael und Ben nicht dabei sein können: Sie werden von Lost nicht als Erlösungssubjekte qualifiziert, weil sie ihren Konstanten nicht treu waren. Michaels Konstante wäre sein Sohn Walt gewesen, aber ihre Beziehung wird von Schuld und Scham zersetzt, nachdem Michael zum Mörder und Verräter wurde, um Walt aus den Fängen der Others zu befreien (2.20, 4.8). Bens Konstante wäre seine Adoptivtochter Alex gewesen, doch am Punkt der Entscheidung verleugnet er sie und setzt ihr Leben aufs Spiel, um sich selbst zu retten (4.9). Jacks Treue hingegen ist universaler als die aller anderen: Während die meisten Figuren bloß eine Begegnung als Konstante festhalten – Desmond etwa fixiert nur Penny –, zeigt Jacks Ereignissequenz eine Vielzahl von Personen und Vorfällen auf der Insel. Obwohl Kate besonders oft darin vorkommt, scheint Jacks Konstante dennoch nicht in einer einzelnen Liebe aufzugehen, sondern sich vielmehr auf die Gemeinschaft der Überlebenden insgesamt zu beziehen, auf das Ereignis ihrer Zeit zusammen. Wie Jacks Vater sagt: »The most important part of your life was the time that you spent with these people.« (6.18) Diese Wahrheit galt es noch einmal zu erkennen, um die Figuren endgültig aus ihrer Verlorenheit zu erlösen und in die Unsterblichkeit auferstehen zu lassen. Jetzt kann Jacks Vater, der auf den nur allzu deutlich sprechenden Namen Christian Shephard hört, die Kirchentüren öffnen und die Protagonisten aus dem Erzählspiel entlassen. Der Endgegner im Lost-Spiel war der Tod, doch man besiegt ihn auf dieselbe Weise, wie man auch der Verlorenheit einer einsamen Insel entkommt – zusammen, sich gegenseitig als Konstante dienend. Das heißt, mit Dath gegen Sartre: »Der Ausweg, das sind die anderen.«58 57 Badiou: Logiken der Welten (Anm. 28), 84. 58 Dath: Lost (Anm. 7), 86. Zu Lost und Sartre vgl. Deborah Davidson u. Wayne Jebian: Lost Children: Pregnancy, Parenthood, and Potential. In: Laist (Hg.): Looking for Lost (Anm. 6), hier 178ff.

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Dieser Ausweg, so die gemeinsame These von Lost und Badiou, sei zugleich singulär und universal. Er ermöglicht einerseits die singuläre Rettung bestimmter Individuen, beinhaltet andererseits aber auch das universale Element einer umfassenden Erlösung der Menschheit vom Egoismus. Badiou versteht die Liebe dementsprechend als »Gegenbeweis« zur egoistischen »Überzeugung, dass jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt«: »Die Liebe ist aber wie jedes Wahrheitsverfahren wesentlich uneigennützig«. Daher hat sie »eine universelle Tragweite« und stellt eine »persönliche Erfahrung der möglichen Universalität« dar.59 Ebenso überhöht Lost die Rettung seiner Figuren zu einem mythischen Duell zwischen Egoismus und Uneigennützigkeit. In einem oft zitierten Dialog am Ende der fünften Staffel vertritt der Man in Black die Ansicht, dass Menschen grundsätzlich in der Matrix eines destruktiven Egoismus agieren: »They come. They fight. They destroy. They corrupt. It always ends the same.« Jacob hingegen beruft sich auf einen messianischen Universalismus, der sich im Gegenbeweis einer fundamentalen Uneigennützigkeit der Menschen vollenden werde: »It only ends once. Anything that happens before that is just progress.« (5.16) Doch inwiefern kann ein Ereignis sowohl an der Logik des Singulären wie auch an derjenigen des Universalen teilhaben? Die Logik des Singulären hält fest: Wenn Oceanic 815 durch einen von Desmond verursachten elektromagnetischen Unfall über der Insel abgestürzt ist, dann ist auch die aufgrund dieses Absturzes entstehende Gemeinschaft der Verlorenen ein kontingent-partikulares Geschehen, welches seine lokale Bedeutung für die konkrete Situation und die davon betroffenen Menschen nicht übersteigt. Die Logik des Universalen wiederum behauptet: Wenn diese Leute als Teil von Jacobs Wette gegen den Man in Black auf die Insel gekommen sind, dann ist ihr Zusammenfinden ein Ereignis von globaler Bedeutung, insofern sich darin die Menschheit insgesamt als eine grundsätzlich vom Egoismus erlösbare Spezies erweist. Statt sich nun für eine dieser beiden Varianten zu entscheiden, bestätigt die Serie beide in ihrer jeweiligen Logik und verschweißt diese zwei Ebenen zu dem, was Badiou eine universale Singularität nennt: Das Ereignis, von dem Lost erzählt, erscheint zwar innerhalb der singulären Konstellation eines Unfalls, allerdings nicht als kontingente Folge solcher Partikulareffekte, sondern im Gegenteil als absolut grundlose Gnade, als unvermitteltes Aufblitzen einer universalen Qualität. Wie diese beiden Logiken jedoch ineinander passen sollen – wie und warum genau die Rettung einiger weniger Menschen die Erlösung der gesamten Menschheit beinhalten soll –, bleibt ungeklärt. An diesem Punkt stellt die Serie ihr scheinbar endloses Rätseln ein, um stattdessen zu einem Sprung des Glaubens anzusetzen. Analog kann es auch in Badious Theorie keinen »Imperativ des Ereignisses« geben ohne den Sprung in jene grundlose Evidenz der Ergriffenheit, welche sich 59 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 24, 61.

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ohne weitere Fragen zur Treue verpflichtet fühlt.60 Das Ereignis unterliegt keinerlei Deliberation, sondern wird nur in der unmittelbaren Verpflichtung greifbar, es liegt erst dann vor, wenn »etwas geschehen ist, das mich verpflichtet«.61 Über den Begriff der Gnade hat Badiou das Ereignis zudem gegen jede Nachfrage immunisiert, insofern es seine universale Legitimation gerade aus der Grundlosigkeit bezieht: »Nur was absolut grundlos ist, kann an alle gerichtet sein.«62 Man kann einer Grundlosigkeit jedoch schlecht auf den Grund gehen. Was immer sich deshalb über Grundlosigkeit zu legitimieren versucht, verunmöglicht damit a priori jede Debatte über diese Legitimität und fordert stattdessen blinden Gehorsam, unkritische Treue, einen Sprung in die Unmündigkeit des Glaubens. Man sollte sich deshalb weder von Badious Emphase der Entscheidung noch von dem in Lost endlos verhandelten Thema des freien Willens täuschen lassen. Die Entscheidung ist hier immer bereits kuratiert und der freie Wille längst so weit manipuliert, dass man nur noch dem Ruf der Notwendigkeit folgen kann. Denn gemäß Badiou generiert bereits die bloße Existenz eines Ereignisses die Notwendigkeit der Treue: »so gilt nichtsdestotrotz, dass […] bestimmte Theorie-Ereignisse existieren und dass folglich auch die darauf beruhende Notwendigkeit existiert, diesen treu zu sein.«63 Hier zeigt sich die Logik des Heiligen, welche ein Phänomen allein schon aufgrund seiner relativen Seltenheit sogleich jeglicher Verhandlung mit dem Profanen entzieht, um ihm stattdessen ein absolutes Privileg zu gewähren: »Zu sagen, alles sei Gnade, bedeutet […], dass keine Gnade uns jemals erteilt werden kann. Und das ist falsch. Das Sein kommt aus der Unterbrechung zu uns, aus der Ergänzung, und dass es selten ist und zerrinnt, gebietet uns, ihm lange Zeit treu zu bleiben.«64 Man hat es hier deshalb weniger mit einer Analyse als mit einer Apologie manipulativer Autorität zu tun. Im Fall von Lost zeigt sich das etwa in jenem Gespräch am Lagerfeuer, als Jacob zum letzten Mal auftritt, um einen der verbleibenden Kandidaten zu seinem Nachfolger zu küren. Die Zeit für Erklärungen wird von Jacob sogleich limitiert: »I’ll tell you everything you need to know about protecting this island, because by the time that fire burns out, one of you is gonna have to start doing it.« Sawyer misstraut der manipulativen Rede und geht in die Offensive: »What made you think you can mess with my life? I was doin’ just fine till you dragged my ass to this damn rock.« Nun ist bemerkenswert, wie Jacob auf die Frage Sawyers überhaupt nicht eingeht, sondern bloß dem zweiten Satz widerspricht: »No, you weren’t. None of you were. I didn’t pluck any of you 60 Badiou: Paulus (Anm. 2), 48. 61 Badiou: Lob der Liebe (Anm. 31), 42. 62 Badiou: Paulus (Anm. 2), 98. In einem ähnlichen Mystizismus operiert der Begriff des Ununterscheidbaren, vgl. oben, Anm. 44. 63 Badiou: Das Sein und das Ereignis (Anm. 26), 273. 64 Badiou: Deleuze (Anm. 39), 134.

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out of a happy existence. You were all flawed.« Dazu erhebt er sich und doziert aufrecht stehend vor den sitzenden Kandidaten, während die Tonspur das zuckersüße There’s No Place Like Home-Thema einspielt: »I chose you because you were like me. You were all alone. You were all looking for something that you couldn’t find out there. I chose you because you needed this place as much as it needed you.« (6.16) Mit der Musikwahl stellt sich die Inszenierung klar hinter Jacobs paternalistisches Argument: Verlorene Seelen dürfen jederzeit entführt und diversen Todesgefahren ausgesetzt werden, weil sie dabei ja vielleicht eine Konstante gewinnen. Auf diese Weise werden partikulare Interessenkonflikte von Lost stets in den Synergieeffekten einer universalen Win-win-Situation aufgelöst: Der messianische Universalismus negiert die Konfliktualität des Partikularen zu einer oberflächlichen Differenzillusion, um in den Tiefen des eigentlichen Seins hingegen jene Gnade der ereignishaften Versöhnung zirkulieren zu lassen, welche die Welt zu einer für alle Beteiligten gleichermaßen vorteilhaften Konstellation kompatibilisiert. Sawyers Einwand ist damit vom Tisch und die Kandidaten haben Jacobs Entscheidungsgewalt über sie akzeptiert. Die Frage ist nur noch: »So … how you gonna pick?« (6.16) Jetzt, da die Kandidaten ihm die Autorität der Entscheidung übertragen haben, enthüllt Jacob seinen Trumpf: »I’m not going to pick […]. I want you to have the one thing that I was never given. A choice.« Eine Wahl ist nicht etwas, was man immer schon hat, sondern etwas, was einem allenfalls in einem Akt der Gnade gewährt wird – nachdem man bereits darauf verzichtet hat. Kate fragt nach: »And if none of us chooses it?« Darauf Jacob blitzschnell: »Then this ends very badly.« Die Entscheidung ist immer schon auf eine Weise gerahmt, die nur eine Möglichkeit offenlässt. Denn wo immer eine Welt zu retten ist, springt Jack ein, das weiß Jacob ebenso gut wie das Publikum: »I’ll do it. This is why I’m here. This is what I’m supposed to do.« Jacob stellt die Fangfrage: »Is that a question, Jack?« Doch die opferwillige Christusfigur verneint. Jack hat mittlerweile gelernt, dass das Schicksal keine Fragen beantwortet, sondern nur die Übernahme des Unvermeidlichen gestattet. Jacob nickt befriedigt: »Good.« (6.16) Wer Fragen stellt, disqualifiziert sich als untreu. Nur die bedingungslos Gehorsamen können in die Dienerschaft des Uneigennützigen eintreten. Sowohl Lost wie auch Badiou entwerfen letztlich ein Subjekt reiner Servilität. Indem das Subjekt nur durch seine Treue zu einem Konstanzpunkt aus der Verlorenheit gerettet werden kann, konstituiert es sich ausschließlich in einem Dispositiv der Verpflichtung und kann sich nie anders denn als ein unmündig dienendes verstehen: Es existiert nur als Treue. Diese Treue verspricht ihrem Subjekt ein Leben jenseits der Verlorenheit, eine von jeglicher Ambivalenz erlöste Existenz. Denn das Heilssubjekt »findet die lebendige Einheit von Denken und Handeln wieder«, wie Badiou schreibt: »Man kann übereinkommen, ›Heil‹

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Folgendes zu nennen […]: dass das Denken vom Tun und von der Macht nicht getrennt zu sein braucht. […] Das ist es, was ich meinerseits eine Wahrheitsprozedur nenne.« Den »Schatz« des Ereignisses inkorporierend, weiß sich das Subjekt zudem »von einer unendlichen Macht durchdrungen«: Es agiert im Dienst einer absoluten, für alle gleichermaßen geltenden Wahrheit und ist daher gerechtfertigt, was immer es auch tut – der Win-win-Universalismus garantiert schließlich, »dass jeder Sieg in Wirklichkeit ein Sieg aller ist«. Doch in diesem Versprechen der belohnten Treue steckt auch die Drohung der Vernichtung, sollte die Treue jemals ins Wanken geraten: »Denn wenn das Gefäß zerbricht und der Schatz, den es enthält, in Rauch aufgeht, dann zerbricht auch er, das Subjekt, der Herold, der anonyme Träger.«65

Konklusion: Das Erlösungsportal und der Autoritarismus der Transzendenz Die Heilstopographie des Universalismus ist simpel: Im Partikularen geht man verloren – im Universalen wird man gerettet. Erlösung winkt stets nur dort, wo die konkrete Realität des Materiellen auf eine allgemeine Idealität hin transzendiert wird. Was den von Lost und Badiou formulierten messianischen Universalismus auszeichnet, ist jedoch gerade die Vehemenz, mit der diese simplen Heilskoordinaten hier verrätselt werden. Die enorme Motivierungsarbeit, mit welcher die Transzendenz des Universalen in die Probleme des Partikularen und die Stätten des Singulären eingebettet wird, kann nur als Indiz dafür gelten, dass an dieser Stelle versucht wird, zwei sich gegenseitig abstoßende Kräfte miteinander zu verbinden. Was da so felsenfest in der Logik des Materialismus verankert werden soll, ist etwas, das die Materialität flieht und von ihr zurückgestoßen wird: die Logik des Religiösen. Man hat es hier also mit einer jener Expansionsbewegungen zu tun, welche die Grenzlinie zwischen säkularem und religiösem Denken verwischen, um sich bestimmte, vormals der anderen Seite zugehörige Konzepte anzueignen. Denn Lost und Badiou integrieren eine quasireligiöse Eschatologie des Ereignisses in ihren formal säkularen Diskurs. Sie spalten die Immanenz des Kontingenten mit einem ereignishaften Schnitt, um in dieser Unterbrechung das ganz Andere einer unvermittelten Absolutheit aufblitzen zu lassen: jene aus dem Jenseits der 65 Badiou: Paulus (Anm. 2), 109, 105, 69, 119. Analog funktioniert Heideggers Theorie einer im Gehorsam gegenüber dem Gewissensruf unmittelbar handelnden Entschlossenheit, vgl. ders.: Sein und Zeit (Anm. 10), v. a. 267–301. Vgl. dazu auch St¦phane Boutin: Les h¦ros de l’authenticit¦. Histoires du salut chez Karl May et Heidegger. In: Strenae. Recherches sur les livres et objets culturel de l’enfance 9 (2015). Online unter : http://strenae.revues.org/1456 (01. 07. 2015).

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Kausalität eingreifende Gnade, welche die Konfliktualität des Partikularen in einer universalen Kompatibilität versöhnt. Als Portal zwischen dem Säkularen und dem Religiösen agiert dabei die These von der Existenz universaler Singularitäten: Dieses Postulat öffnet an besonderen Stätten der Immanenz eine Art Wurmloch in die Transzendenz – ein zwischen Ontologie und Science Fiction schillerndes Bermuda-Dreieck, in dem man die Aufklärung verschwinden und das Grundlose erscheinen lassen kann. Über diese Brücke wird die Universalität in das Singuläre eingeschleust und die Unendlichkeit im Materialismus installiert, um das Ereignis zu heiligen, seine Wahrheit dem profanen Streit der Meinungen zu entrücken und seine Treuesubjekte zu erlösen. Allerdings kann der messianische Universalismus dieses Erlösungsportal offenbar nur so konfigurieren, dass es zugleich auch jenen dogmatischen Autoritarismus der Transzendenz hindurchschlüpfen lässt, welcher die servile Subjektivität der Unmündigkeit restauriert und die Kontingenz des Partikularen erneut zu einem erlösungsbedürftigen Jammertal bloßer Verlorenheit abwertet. Absolut ist hier deshalb sowohl die Verheißung als auch der Preis der Unterwerfung, den sie verlangt. Doch der Messianismus war von jeher ein Diskurs der Sirenen, deren Verlockung jede Vorsicht in den Wind schlägt.

Swen Schulte Eickholt

Sehnsucht nach der Immanenz. James Camerons Avatar – Aufbruch nach Pandora als Utopie des göttlichen Menschen

Einleitung Avatar1 ist ein Film der Superlative. Die revolutionäre 3D-Technik und all die großen Zahlen: die immensen Kosten, die grandiosen Einspielergebnisse, die enorme Länge, die große Crew und die unzähligen Kameras, welche ein Geschehen filmen, das zu größten Teilen in der Realität nie stattgefunden hat. Es ist ein nahezu groteskes Bild, wie Cameron mit seiner Spezialkamera alleine durch eine leere Studiohalle läuft und eine Handlung filmt, die vor ihm gar nicht abläuft, die digital generiert wird aus den Aufnahmen Hunderter Raumkameras in Kombination mit der virtuell erschaffenen Welt.2 Die Technik ist es, die einen großen Teil der Rezensionen dominiert, die das Erlebnis des Films grundiert – die alte Geschichte von Kino und Jahrmarktbude. Revolutionäre Technik, neueste Spezialeffekte, Blockbuster und Massenkino gehen seit jeher Hand in Hand – das wäre nichts Neues. Neu ist die Art und Weise, in der Technik in die Handlung hineingenommen wird, in der die Differenz Technik und Natur – und zwar revolutionäre high tech und ursprünglichste Wildnis – in die Handlungsebene verlagert und thematisiert werden. Diese Technik ist es nicht zuletzt, die dem Zuschauer ein Erlebnis der Immanenz ermöglicht. Der Film setzt ein mit einem rauschenden Flug über einen gewaltigen, nebelverhangenen Regenwald, grundiert von einem sehnsüchtigen Frauengesang, ein wortloser Klageruf, von dumpfen Trommeln vorangetrieben. Im voice-over die raue Stimme Sullys, der erklärt, dass er im Veteranenkrankenhaus lag, »with 1 Avatar, DVD (Extended Collector’s Edition), Regie: James Cameron. Twentieth Century-Fox Film Corporation, Dune Entertainment, Ingenious Film Partners, 2009. Alle Zitate folgen in ihrer Schreibweise (insbesondere der Na’vi Wörter) der Schreibweise der Untertitel dieser DVD. 2 Wo nicht anders vermerkt, stammen die Informationen zu dem Film und zu Aussagen und Vorstellungen Camerons aus der Dokumentation Capturing Avatar, die der Collector’s Edition (Anm. 1) beigegeben ist.

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a big hole blown through the middle of my life«, und träumte, zu fliegen. Kurz bevor die Kamera in den Regenwald stürzt, erklärt Sully, dass man immer aufwachen müsse, und ein harter Schnitt auf eine schwarze Leinwand verhindert das Eintauchen in die Wildnis. Das Schwarz wird zu kaltem Blau und ein blinzelndes menschliches Auge erscheint. Jake, eben aus sechsjährigem cryo-sleep erwacht, wird aus einem sargähnlichen cryo-pod gezogen und der Zuschauer findet sich in der hypertechnisierten Umgebung einer Raumstation, die in sterilem Weiß ausgeleuchtet ist.3 Die lebensfeindliche Struktur der menschlichen Technikwelt wird in einer Pendelbewegung zwischen der Gegenwart auf der Raumstation und einer zeitlichen Rückblende zur Einäscherung von Jakes Zwillingsbruder intensiviert. In dem engen, weiß gefliesten Krematorium stehen hinter Jake – durch die Froschperspektive groß und bedrohlich – dunkle Männer in dunklen Anzügen, deren dumpf hallende Stimmen Jake das Angebot machen, den Job seines Bruders zu übernehmen: Avatar-Operator auf Pandora, ein »neues Leben«. Der Ex-Marine mit dem Loch in seinem Leben, das sogleich an die »Lücke« denken lässt (»Ach diese Lükke!«4), die existenzielle Lücke der conditio humana, ist der Paradeprotagonist mit beschädigtem Leben als Ausdruck einer beschädigten Stufe der Zivilisation. Daneben die ungezähmte Wildnis, der sehnsuchtsvolle Ruf (nach Vereinigung?) und das lebendige Grün neben dem tödlichen Weiß. Wurde kritisiert, dass Jakes Initiation in das Volk der Na’vi und die von ihm angeführte Befreiung desselben vom Joch der technisierten, skrupellosen Menschen stark und einfallslos die Folie des »weißen Messias« bedient,5 so wird eine Dimension übersehen, die über die in anderen Filmen dargestellte Sehnsucht nach dem naiven, naturverbundenen, von klaren Riten strukturierten Leben hinausgeht (bzw. diese in Avatar steigert). Diese Dimension ist eine religiöse: die Sehnsucht nach Immanenz. Nachdem in einem ersten Schritt mit Rekurs auf Bataille die Sehnsucht nach Immanenz als anthropologische Konstante postuliert wird, wird aufgezeigt, wie Avatar diese Sehnsucht erfüllt. Ein Blick auf das Dionysische als vergleichbares Konzept natürlicher Kraft am Beispiel von Euripides Bakchen zeigt auf, inwie3 Vertraut mit Camerons Welt muss man sogleich an das lebensfeindliche Hyperweiß des Upper-Class-Decks der Titanic denken. Vgl. Bärbel Tischleder : body trouble. Entkörperlichung, Whiteness und das amerikanische Gegenwartskino. Frankfurt a. M. 2001, 205–238. 4 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Bibliothek der Erstausgaben. Hg. v. Joseph Kiermeier-Debre. München 1997, 104. 5 Vgl. Ellen Grabiner : I See You. The Shifting Paradigms of James Cameron’s Avatar. Jefferson, NC/London 2012, 101–106. Grabiner weist allerdings nach, dass dieses von David Brooks erdachte Etikett Avatar ebenso verfehlt wie die anderen Filme, die Brooks in diese Reihe einsortiert (Etwa Der mit dem Wolf tanzt und Der letzte Samurai).

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fern Cameron hier eine utopische Idylle entwirft, die weder der Vielgestaltigkeit der Natur gerecht wird noch das Einssein der Na’vi mit ihrer Umwelt unproblematisch darstellen kann. Gerade an den Aporien, in die der Film gerät und die er verschleiert, zeigt sich das Problematische der Immanenz, die als Dauerzustand für ein selbstbestimmtes Wesen nicht möglich ist. Abschließend wird deutlich werden, dass ganz im Gegensatz zu der auf den ersten Blick pantheistischen Ausrichtung der Na’vi und ihrem scheinbaren Zustand der Immanenz hier die biblische Vorstellung des von Gott über die Natur gesetzten Menschen das Verhältnis von Mensch (Na’vi)6 und Natur strukturiert und somit durch die Hintertür – im Gang um das Paradies – vielmehr die Vergöttlichung des Menschen als die Verschmelzung mit der Natur zelebriert wird; eine Form von Hybris, die nicht weit entfernt ist von der »göttlichen« Technik der bad guys.

Immanenz Das Göttliche ist transzendent; das Weltliche immanent. Entgegen der üblichen Dichotomisierung der Begriffe erscheint eine Verknüpfung geboten. Transzendenz lässt sich besser fassen als Prozess, als transzendieren – eine Tätigkeit, die Religiosität erst hervorbringt (das Heilige wird gemacht).7 Das Heilige, das wäre dann eine große Transzendenz im Sinne Luckmanns, etwas, das nur als Verweis auf eine außeralltägliche Größe zu fassen ist, welche das menschliche Wahrnehmungsvermögen übersteigt (anders als Träume oder Gedanken, die ebenfalls transzendieren).8 Eine Religion als institutionalisierte Form religiöser Vorstellungen lässt sich unter dieser Perspektive begreifen als zufällige Ausprägung einer kulturellen Entwicklung. Für die Stabilität eines religiösen Systems ist allerdings die interne Validität ausschlaggebend, das religiöse Weltbild, welches die Religion vermittelt, muss mit der erfahrenen Welt als kongruent erlebt werden.9 Da der Raum der Transzendenz allerdings nur über die dem Menschen 6 Die Na’vi sind klar humanoid gezeichnet und als Identifikationsfiguren konzipiert. Im Artikel wird, wenn auf allgemeine Tendenzen angespielt wird, das Wort »Mensch« daher gleichermaßen für die Na’vi wie für die eigentlichen »Menschen« verwendet (die guten Menschen des Films sowie die adressierten Menschen im Publikum). Die Na’vi erscheinen in vielerlei Hinsicht als die besseren Menschen. 7 Vgl. Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2009, 55–80, und Swen Schulte Eickholt: Religiosität und Literatur in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Orhan Pamuks Das Neue Leben. Eine Studie der interkulturellen Germanistik. Würzburg 2014. 8 Vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch. Frankfurt a. M. 1991, 166f. 9 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Frankfurt a. M. 1987, 50–92.

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zugängliche Ebene der Immanenz (im Sinne von: weltlich) postuliert werden kann, hat die Religion ein Bezugsproblem, das sie nach Luhmann über Kontingenzformeln löst, welche die Validität des Systems absolut beglaubigen (etwa Gott).10 Ohne auf die komplexen und vielseitigen Funktionen eingehen zu können, die eine Religion erfüllen kann, lässt sich das Ziel von Religionen (individual- und menschheitsgeschichtlich) pauschal als Zustand der Immanenz kennzeichnen. Am Ende eines Weges der Reinigung folgt das Nirwana, am Ende der Zeit das Paradies. Bei aller Gegensätzlichkeit der Bildlichkeit der unterschiedlichen Religionen ähneln sich diese und andere »Endvisionen« in der zuletzt erreichten, völligen Bedürfnislosigkeit, oder umgekehrt formuliert: der Erfüllung aller Bedürfnisse (während es der Struktur des Bedürfnisses entspricht, bei ständiger Erfüllung kein Bedürfnis mehr zu sein). Dies bezeichnet einen Zustand des fraglosen In-der-Welt-Seins. Zu sein »wie das Wasser im Wasser«11, wie Bataille es formuliert. Was Bataille damit bezeichnet, ist ein Zustand im Ursprung (vor dem »Sündenfall« der Kultur, wie er die deutschen Dichter des 18. Jahrhunderts beschäftigt). Intimität ist für Bataille das Synonym zu Immanenz, ein Zustand der ursprünglichen Verbundenheit mit der Welt: Der Mensch ist das Wesen, das verloren, ja verworfen hat, was es dunkel ist, unterschiedslose Intimität. Das Bewußtsein hätte nicht mit der Zeit zu einem klaren werden können, wenn es sich nicht von störenden Inhalten abgewandt hätte, aber das klare Bewußtsein ist nun selber auf der Suche nach dem, was es verlorengehen ließ, und was es, je mehr es sich ihm nähert, erneut verlorengehen lassen muß.12

Das klare Bewusstsein lässt sich auch verstehen als Selbstbewusstsein, als reflektierendes Bewusstsein, als abstrahierendes Bewusstsein. Das klare Bewusstsein kann transzendieren, das dunkle nicht. Das dunkle Bewusstsein partizipiert an der Immanenz, das klare nicht. Das dunkle Bewusstsein ist reine Gegenwart wie der Zustand des Kleinkindes, des Menschen am Anfang seines Lebens – analog zum Menschen am Anfang der Menschheitsgeschichte (oder ist der Mensch erst Mensch, wo er reflektiert, transzendiert?). Geblieben, das postuliert Bataille, ist die Sehnsucht nach diesem Zustand der Immanenz (was auch eine Sehnsucht nach der eigenen Kindheit wäre – dem Kindlichen, das nicht fragt, sondern erlebt). Um diesen Zustand zu erreichen, das mag man als Paradoxie begreifen, benötigt die Religion die Transzendenz – die Transzendenz führt in die (permanente) Immanenz –; das Paradoxe am Paradies ist, dass hier, in einem Zustand 10 Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Posthum hg. v. Andr¦ Kieserling. Frankfurt a. M. 2000, 147–154. 11 Georges Bataille: Theorie der Religion. München 1977, 24. 12 Bataille: Theorie der Religion (Anm. 11), 49f.

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der Immanenz, erhalten bleiben soll, was eben diesen Zustand verhindert: das klare Bewusstsein. Diese Aporie findet sich auch bei Cameron. Momentweise, das kann und soll gar nicht bestritten werden, ist der Zustand der Immanenz erreichbar, auch außerhalb jeglichen religiösen Vollzuges. Gerade die Phänomenologie suchte danach und Comte-Sponville hat diesen Zustand jüngst (ohne ihn als solchen zu erkennen) als »Glauben« des Atheisten bezeichnet.13 Bei einem Spaziergang durch den Wald lässt sich etwa das fraglose In-der-Welt-Sein erleben, die Auflösung des reflektierenden Selbst in die umgebende Natur (beliebig ließe sich ein Tag am See, ein Nachmittag am Meer oder eine Wanderung durchs Gebirge einsetzen). Comte-Sponville gibt dem Ganzen einen nicht in der Sache liegenden pantheistischen Gehalt – was freilich eine uneingestanden religiöse Sehnsucht erfüllt. Wenn hier behauptet wird, die Sehnsucht nach diesem Zustand der Immanenz sei eine anthropologische Konstante, so lässt sich diese These nicht ausführlich verifizieren und ist auch mehr als Arbeitshypothese denn als fundamentale Einsicht in die religiöse Bedürftigkeit des Menschen zu verstehen. Es ist damit auch keineswegs gemeint, dass diese Sehnsucht nach mehr als Momenten der Immanenz fragt; anderes ist ein Wunsch nach Regression (ohne damit Paradiesvorstellungen diskreditieren zu wollen). Zurück zu Pandora, der künstlichsten Natur, diesem Ergebnis von Kreativität und Idee und somit Produkt des klaren Bewusstseins; eine reine Retortennatur, ein wahrer Nicht-Ort, für den der Name der Pandora, dieses ambivalenten Wunderwesens göttlicher Technik, gut gewählt ist.14

»Eywa heard you«: Immanenz in Camerons Avatar Pandora wird nicht als Ort eingeführt, mit dem ein Mensch eine auf Immanenz abzielende, harmonisch-symbiotische Lebensweise erstreben würde. Das Fremde des fernen Mondes wird schon in Jakes voice-over deutlich, bevor Pandora erreicht ist; man hat von dem Planeten gehört, ohne zu glauben, je dorthin zu kommen – wie ein Mythos, eine ferne Geschichte (sechs Jahre cryosleep deuten die immense Entfernung zur Erde an). Der nicht vollzogene Sturz in den grünen Dschungel aus Jakes Traum wird nun durch den Spaceshuttle vollzogen, der die Neuankömmlinge nach Pandora bringt – ein Sturz durch bedrohlich düstere Gewitterwolken. Das bildliche Loch in Jakes Leben korre13 Vgl. Andr¦ Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Zürich 2008, 183–187. 14 Vgl. Almut-Barbara Renger: Seitenblick: Von Cyberspace und Töpferscheibe. In: dies. u. Immanuel Musäus (Hg.): Mythos Pandora. Leipzig 2002, 16–19.

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spondiert mit dem realen Loch, welches die gigantischen Fördermaschinen der räuberkapitalistischen RDA in den Urwald Pandoras reißen, wie im Anflug auf die Basis sichtbar wird. Der hochgerüstete Stützpunkt, die windgepeitschten Bäume, der hohe, mehrfach gereihte Stacheldraht, das Verlassen des Shuttles, das an einen Sturmangriff im Kriegsgebiet gemahnt – alles scheint bedrohlich. Der Rollstuhlfahrer Sully wird von den gehässig wirkenden Söldnern vor Ort als »meals on wheels« bezeichnet und die langen Pfeile der Eingeborenen, welche in den riesigen Reifen der Kipplader stecken, verstärken den Eindruck von Gefahr, den der Sicherheitsbeauftrage, Colonel Quaritch, süffisant verstärkt: Alles auf Pandora wolle die Menschen töten und alle werde er auch nicht schützen können – die Hölle wäre Urlaub gegen Pandora. Cameron hat diese Anfangspassage gut gewählt, um langsam in die dadurch unerwartete Schönheit Pandoras einzuführen. Das erste Irritationsmoment ist bereits die Inszenierung der Avatare. In ihrem Tank schwimmen sie wie Babys in hellblauem Wasser – mit dem hellblauen Gel in den linking pods, durch welche die Operator mit den Avataren verbunden werden, fast die einzige Farbe in der tristen Menschenwelt. Die Verbindung zum Avatar initiiert Jakes neues Leben. Eindrucksvoll wird seine Begeisterung für die »neuen« Beine in Szene gesetzt – gegen die Anweisungen der Mediziner, welche die Kontrolle des Avatars und dessen Biofunktionen überprüfen sollen, taumelt Jake in eine unerwartet grüne Trainingswelt und beginnt sogleich einen Sprint (wie überhaupt die Geschwindigkeit das Reich der Na’vi ist und die Menschen und ihre Maschinen in starren Einstellungen gefangen bleiben). Bald folgt die erste echte Erkundung Pandoras, in der Jake (in seinem Avatar) sogleich im Dschungel verloren geht. Quaritchs Ankündigung scheint sich zu bewahrheiten. Verfolgt von einem sechsbeinigen Riesenpanther kann Jake nur knapp entkommen, um bei Dämmerung von einem Rudel entfernt wolfsähnlicher Kreaturen attackiert zu werden, gegen die er sich mit einer Fackel verteidigt. Neytiri, die Na’vi-Prinzessin, rettet ihn – nachdem sie kurz zuvor von einem Zeichen des heiligen Baumes vom tödlichen Schuss auf Jake abgehalten wurde. Hier und in der nachfolgenden Einführung in das Leben der Omaticaya, wie Neytiris Stamm heißt, wird Jake mit einer völlig gegensätzlichen Sicht auf die Wildnis Pandoras konfrontiert. Das erste, was Neytiri nach dem Kampf gegen die »Wölfe« tut, ist, die Fackel zu löschen, dieses klassische Zeichen von Aufklärung und Zivilisation, dann spricht sie Gebete über jedes erlegte Tier. Hat Grabiner aufgezeigt, dass Avatar sich als Kritik an einer spezifischen Form des Sehens betrachten lässt,15 so ist es 15 Vgl. Grabiner : I see you. (Anm. 5), 7–58. Grabiner bezieht sich hier besonders auf MerleauPonty und Heidegger, um eine als ganzheitlich zu bezeichnende Art des Sehens für die Na’vi zu postulieren, die ihre Umwelt in der Summe ihrer Erscheinungen wahrnehmen und nicht utilitaristisch aus einer eingeengten Perspektive. So ist gerade der Na’vi-Gruß »I see you« als

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schlüssig, dass das Erlöschen der Fackel – des »nützlichen« Instruments, um spezifisch mehr zu sehen, aufzuklären – das Aufleuchten Pandoras zur Folge hat, das in den lumineszierenden Pflanzen visuell eindrucksvoll in Szene gesetzt ist. Sogleich wird auch die binäre Freund/Feind-Logik des Ex-Marine Sully irritiert (deutlich bei der Ankunft im Dschungel, als Jake in bester Soldatenmanier seine MG in alle Richtungen schwenkt, um potenzielle Feinde zu identifizieren und zu eliminieren, was die leitende Forscherin Grace zu der nicht unzutreffenden Einschätzung Jakes als »idiot with a gun« veranlasst). Als Jake Neytiri für ihre kämpferisch beeindruckende Rettung danken möchte, schlägt sie ihn mit ihrem Bogen und herrscht ihn an: »You don’t thank for this. This is sad. Very sad only.« Als er darauf insistiert, angegriffen worden zu sein, weist sie darauf hin, dass er durch sein unbeholfenes Verhalten (»like a baby«) den Angriff und den Tod der Kreaturen ausgelöst habe. Ein weiteres Zeichen durch die Samen des tree of souls führt zu dem Entschluss der Schamanin – Neytiris Mutter –, Jake solle in die Gebräuche der Omaticaya eingeführt werden. Diese lernt Jake (und mit ihm die Zuschauer) Schritt für Schritt kennen und erlebt eine gänzlich andere Welt, als sie der triste Anflug auf die Basis und die Einführung durch Quaritch erahnen ließen. Jakes mit der Initiation in die Stammesgemeinschaft abgeschlossene Lehrzeit vermittelt dem Zuschauer ein Gefühl der Immanenz – oder genauer : Das Gefühl, die Na’vi partizipierten an der Immanenz (wobei gerade das intensive 3D-Erlebnis im Kino auch bei den kritischen Rezensenten Eindruck hinterlassen hat). Blickt man genauer auf die Struktur dieser zentralen Episode, wird deutlich, wie subtil Cameron arbeitet, um diesen Eindruck von Immanenz zu erzeugen. Dies geschieht entscheidend auf fünf Ebenen. 1. Kontrast zur Menschenwelt: Dieser Punkt wurde oben bereits verdeutlicht und wird nach Jakes Abenteuer im nächtlichen Dschungel insbesondere farblich intensiviert, da der Regenwald bei Tag in frischestem Grün erscheint (als lebendiger Kontrast zum »magischen« Leuchten der Nacht); ganz im Gegensatz zu Quaritchs Schilderung erscheint Pandora in der Szene, in der Jake die pferdeähnlichen Tiere reiten soll, nahezu als locus amoenus (im Hintergrund rauscht ein Wasserfall, die Szene spielt auf einer Lichtung, Blumenkelche öffnen sich im Vordergrund und vogelgroße Insekten summen gemütlich durchs Bild). Dagegen steht das triste Grau der Basis. Dieser Kontrast wird aufrechterhalten, indem immer wieder Bilder des erschöpften Jake zwischengeschaltet werden, wie er sich als gebrechlicher Mensch notdürftig pflegt und ernährt (während er in seinem Avatar stets energetisch, frisch und insbesondere mobil wirkt). Der Kontrast wird aber besonders im Bezug zu den schwebenden Bergen Pandoras Ausdruck dieses vielschichtigen Sehens zu verstehen, das die Erscheinung des Anderen in all seiner Andersheit respektiert und betont.

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deutlich. Die Menschen nähern sich diesen mit dem Scorpion-Hubschrauber. Der Anblick der fliegenden Berge ist zwar phantastisch und die Wissenschaftler bewundern die Schönheit dieser Natur, die Quaritch sicherlich verschlossen bleibt. Aber eine Distanz bleibt unübersehbar, besonders durch den aggressiv wirkenden schwarzen Kampfhubschrauber, dessen Rotoren beim Landen die Flora niederdrücken (was freilich für Hubschrauber normal ist, aber ein gutes Bild für das herrschende Verhältnis zur Natur abgibt, das der Hubschrauber symbolisiert – auch das Shuttle hatte beim Landeanflug die Bäume unter sich zu Boden gedrückt). Gänzlich anders die zweite Erkundung der fliegenden Berge durch die Omaticaya, die zu den Ikranen gehen: Sie erklettern die fliegenden Berge über Lianen, bewegen sich kraftvoll und sicher – und immer schnell – über dieses schwierige Terrain und durchlaufen feuchte Höhlen in den fliegenden Bergen (partizipieren also auch am Innenraum, an der »Grotte«).16 Ihren furiosen Abschluss erhält die Szene, wenn Jake auf seinem gezähmten Ikran mit Neytiri den Luftraum der fliegenden Berge erobert, durch Wasserfälle schießt, an steilen Felswänden hinabtaucht und übermütig Loopings dreht. Die Menschen sind vor, die Na’vi in der Landschaft. 2. Partizipation an Jakes Gesinnungswandel: »There’s no such thing as an exMarine«, erklärt Sully bei seiner Ankunft auf Pandora – und freudig nimmt er sowohl den Auftrag an, das Seiten-MG des Hubschraubers zu übernehmen, der die Forscher in den Wald fliegt, als auch den moralisch fragwürdigen Auftrag Quaritchs, als eine Art Doppelagent tätig zu werden und somit mit den Wissenschaftlern, aber für ihn zu arbeiten und die richtigen (weil militärisch nützlichen) Informationen zu beschaffen. Kommt er diesem Auftrag zunächst auch nach, wird schnell deutlich – und auch für Quaritch bald offensichtlich –, dass Jakes Einstellung sich grundlegend gewandelt hat. Dieser Gesinnungswandel findet seine Höhepunkte in den Feststellungen, dass das wahre Leben das Leben als Avatar ist (Identitätsdiffusion, Erschöpfung und Verwirrung grundieren ausschließlich die grauen Szenen der Menschenwelt, der Na’vi-Jake tritt stets äußerst selbstbewusst auf), und in der Bankrotterklärung an die menschliche Zivilisation, wenn er feststellt, dass die Menschen nichts haben, um die Omaticaya zu bewegen, den Home Tree zu verlassen: »For what? Lite beer? And blue jeans? There’s nothing that we have that they want.« Diese Aussage erhält erst durch seinen Gesinnungswandel Plausibilität, den er selbst als Erzähler kommentiert (und damit in der Rezeption steuert). Wenn er von der deep connection spricht, welche die Omaticaya mit dem Wald haben, bekommen wir 16 Ins Bild gebracht besonders durch die seit dem Herrn der Ringe etablierte Szene harmonischer Wanderung: Winzig kleine Figuren, die in langer Reihe den Kamm eines Hügels (oder hier eine gewaltige Liane vor dem Hintergrund des großen Planeten, dessen Mond Pandora ist) entlangwandern.

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gleich die passenden Bilder geliefert, um an diese Verbindung zu glauben. Sukzessive wandelt sich vor den Augen der Zuschauer Pandora von einer tödlichen Wildnis zu einem magischen Regenwald. Mit Jake sollen wir uns in den Wald, seine Tiere und Farben und natürlich in Neytiri verlieben. 3. Intensive Bilder: Diese Bilder zeigen die Art und Weise, wie die Na’vi in ihre Welt eingebunden sind. Wenn Neytiri vor Jakes staunenden Blicken mit genießerisch geschlossenen Augen in anmutigen Bewegungen das eingerollte Blatt einer Pflanze neigt, um das völlig klare Wasser zu trinken, welches sich dort gesammelt hat, spürt der Zuschauer nicht nur die Frische des Wassers, sondern auch die Tiefe Einheit, in welcher die Omaticaya mit dem Regenwald leben (neben den notorischen sexuellen Konnotationen, denn natürlich läuft Wasser an ihrem Mund vorbei den Körper hinab). Eine weitere starke Szene ist es, wenn Neytiri aus höchster Höhe frei in die Luft springt, um elegant von einem riesigen Blatt zum anderen zu gleiten – während Jake, noch am Anfang seiner Lehrzeit, unbeholfen und unter Getöse von Blatt zu Blatt fällt und hart auf dem Boden aufschlägt. Später, als Jake schon weiter ist, tauchen sie beide kraftvoll und elegant durch die fluoreszierenden Wasser Pandoras. Die Na’vi, lernen wir visuell, leben in und mit der Welt, die sie nährt, trägt und erhält. Der Flug mit den Ikranen, die Annäherung an die »Pferde« und die Besteigung der fliegenden Berge enthalten eine Vielzahl von Szenen mit ähnlichem Symbolgehalt. 4. Shahaylu – The bond: Shahaylu ist eine phantastische Steigerung der Verbindung mit dem Wald, die dadurch von einer ideellen und traditionellen Einheit zu einer tatsächlichen gesteigert wird, zu einer Verschmelzung. Die Nervenenden im Zopf der Na’vi, die sich wie die Blütenstengel einer Blume (eine andere Assoziation sind Glasfaserkabel) öffnen und aus sich heraus leuchten, als Jake bereits am ersten Tag als Avatar verblüfft mit ihnen spielt, dienen zur tatsächlichen Verknüpfung mit der Welt Pandora (wie auch, wie Grace mehrfach erklärt, die Bäume miteinander in Verbindung stehen und kommunizieren können). Die Na’vi können sich so mit ihren »Pferden« verbinden, die über gleiche Nervenenden verfügen, und insbesondere mit den Ikranen, die in ihrem Leben nur einen Reiter akzeptieren. Noch entscheidender ist allerdings die direkte Verknüpfung zu Eywa über die heiligen Bäume.17 Als Jake seine Nervenenden an deren lianenartige Blätter hält, die in hellem Weiß leuchten (der Farbe der Transzendenz), hört er – und wir mit ihm – als fernen Gesang und fröhliches Gemurmel die Stimmen der verschiedenen Na’vi, die nun in Eywa sind, eingegangen in die Gottheit. Mit Shahaylu ist das, was man als indianische Verbindung zur Natur bezeichnen könnte (Jake, der ein Gebet über das getötete Tier spricht und ihm für sein Fleisch dankt – als starker Kontrast zu der gegenwär17 Wenn Grace Selfridge erklärt, dass die Na’vi über die heiligen Bäume Daten hoch- und runterladen können, wird die Analogie zum Internet virulent.

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tigen Fleischindustrie, welche die Tiere völlig verdinglicht und ihnen ihren Status als fühlendes Lebewesen nimmt), deutlich intensiviert und gesteigert. Die Verbindung mit den Tieren wird als Vereinigung von Reiter und Reittier vorgeführt, als Verschmelzung der Gefühle (Neytiri leitet Jake nach der Verbindung mit dem Pferd an, es zu fühlen). 5. Die Liebe: Grundiert wird Jakes Lehrzeit durch die zunehmend erotische Spannung zwischen ihm und Neytiri, die schon in der ersten Begegnung durch Neytiris aggressive Ablehnung und Jakes bewundernde Neugierde hindurchschimmert. Hier wird die alte Vorstellung des Menschen als geteilte Kugel aufgenommen. Auch für diese Lücke haben die Na’vi eine Lösung, denn Shahaylu ist auch zwischen ihnen möglich. Wenn Jake und Neytiri sich unter dem Leuchten der heiligen Bäume in die Arme fallen, ist der Höhepunkt in dieser sonst so menschlich anmutenden Liebeszene18 nicht der Geschlechtsverkehr, sondern die Verknüpfung der Nervenenden, die beide mit sichtlicher Intensität trifft: Ein Schauder durchläuft ihre Körper und sie stöhnen leise. Selbst in der Liebe sind die Na’vi die besseren Menschen, werden sie fast eins, teilen Seele und Empfindung und verbinden sich mehr als nur symbolisch. Ist der Flug mit dem Ikran der Höhepunkt der Initiation, so ist die Verbindung mit dem heiligen Baum und dann mit Neytiri der absolute Abschluss von Jakes Einführung in die Immanenz. Wenn jede Erzählung festlegt, was in ihr zu gelten hat und was nicht,19 wenn sie so ihren eigenen Kosmos aufbaut und seine Regeln etabliert, so wird deutlich, dass in Avatar ein fiktionaler Kosmos erzeugt wird, in dem die reale Partizipation der Na’vi an der Immanenz glaubhaft erscheint. Eywa, die Gottheit dieser Welt,20 ist so auch eine immanente Göttin, ein Name für die Verbindung alles Lebenden auf Pandora, der doch scheinbar eine Art übermenschlicher Intelligenz zukommt. Dass Eywa als reale Größe erfahrbar ist, wie die strenge Wissenschaftlerin Grace enthusiastisch vermerkt, als die Na’vi versuchen, ihren Geist an den Körper ihres Avatars zu binden, schließt sie aus dem Raum der Transzendenz aus, der hinter jeglichem menschlichen Verständnis liegt. Daran 18 Cameron war es überhaupt sehr wichtig, die Na’vi deutlich als Aliens zu gestalten, die aber so menschlich bleiben, dass sie großes Identifikationspotenzial behalten, sodass Menschen sich sogar wünschen könnten, lieber ein Na’vi zu sein. 19 Vgl. Umberto Eco: Die Bücher und das Paradies. Über Literatur. München 2006, 14. 20 Die weibliche Konnotation des Namens und der Gottheit (als Erdmutter) selbst erinnert nicht zuletzt an die unterschiedlichen – zumeist ins gigantisch-groteske überformten – Muttergestalten aus Camerons Filmen (man denke etwa an den »Körper« der Titanic, die ebenso als Urmutter imaginiert wird wie die Alien-Königin), die vielfältige Facetten des Archetyps der Urmutter aufweisen, wie Jung sie dargestellt hat. Vgl. C. G. Jung: Archetypen. München 2001, 80–83; Kai U. Jürgens: »One female that runs the whole show«. Emanzipation und Mutterschaft im Werk von James Cameron. In: Eckhard Pabst (Hg.): Mythen – Mütter – Maschinen. Das Universum des James Cameron. Kiel 2005, 244–288 [Avatar konnte noch nicht berücksichtigt werden]. Vgl. zur archaischen Urmutter, auf die Jürgens nicht eingeht: Tischleder : body trouble (Anm. 3).

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schließt sich zwangsläufig die Frage an, ob eine immanente Göttin überhaupt noch als solche zu bezeichnen ist oder ob dies nicht der grundsätzlichsten Eigenschaft des Göttlichen widerspricht. Im Gegensatz zu irdischen Religionen wäre Eywa so keine Kontingenzformel, sondern eine immanent erfahrbare Entität, was ihr allerdings auch das Geheimnis nimmt, das allem Göttlichen innewohnt. Dass Eywa Jakes Gebete erhört, erscheint in diesem fiktionalen Kosmos durchaus möglich. Auffällig ist, dass er sein Gebet durch die Nervenverknüpfung an den tree of souls sendet, mit der Aufforderung, Graces Gedächtnis (die in Eywa gestorben ist) nach dem Wissen über die Zerstörung, welche die Menschen der Natur auf der Erde zufügen, zu durchsuchen. (Die Menschen haben ein Wissen, welches die Gottheit nicht hat – eine Vorstellung, die im Monotheismus bereits Ketzerei wäre.) Bevor die Aporien, die hier bereits angedeutet sind, vertieft behandelt werden, ist ein Blick auf eine andere Form der Gestaltung von Immanenz angebracht. Euripides’ Bakchen bieten sich an, weil hier neben ähnlichen Verschmelzungsidealen die irrationale Dimension des dionysischen Urgrundes des Seins betont wird, welche in Avatar, wie zu zeigen ist, ausgeblendet wird, was der Utopie in einer paradoxen Wendung durch die Plausibilität (des Glaubens an die Immanenz) die Plausibilität (der irrationalen Bestandteile derselben) nimmt – eine Partizipation an der Immanenz wäre nur als Erfahrung möglich, nicht als rationales Begreifen. Durch Jakes Lehrzeit verstehen wir aber das Wesen der Immanenz auf Pandora und können Eywas Handeln rational nachvollziehen.

Das Dionysische in den Bakchen Wenn Euripides als Vergleichsgröße herangezogen wird, ist damit freilich schon darauf verwiesen, dass Geschichten der Immanenz eine sehr lange Tradition haben und Camerons Film sich somit nicht nur aus modernen Filmen und Erzählungen speist.21 In den Bakchen22 ist der Bezug zur Immanenz indes signifikant anders gestaltet. Der Naturbezug der Na’vi entspricht in etwa dem der aus Theben ausgezogenen Bacchantinnen: So wie Pandora die Na’vi trägt und erhält leben auch die Bakchen im Gebirge in ungestörter Harmonie mit der Welt, sind ins Gras gebettet, stillen junge Rehe und Wölfe (die Distanz selbst zur feindlichen Tierwelt scheint hier ebenso überwunden wie im Endkampf um Pandora, in dessen Verlauf selbst der tödliche Toruk und die gefürchtete Pan21 Einen Überblick insbesondere über die Filme, die Avatar inspiriert haben, bietet: Grabiner: I See You (Anm. 5), 80–112. 22 Vgl. zum Handlungsverlauf: Euripides: Bakchen. Neu übertragen von Kurt Steinmann. Frankfurt a. M./Leipzig 1999.

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therkreatur aufseiten der Na’vi kämpfen – s. u.) und auf ihren Wunsch sprudeln Wein und Milch aus den Felsen – man denke an Neytiri, die frisches Wasser aus dem Blätterkelch trinkt. Doch Dionysos ist – anders als Eywa – ein Gott, der Widersprüche vereint, ein Gott, der sich einem rationalen Verständnis entzieht. Die Unterscheidung zwischen Gott, Mensch und Tier, zwischen Leben und Tod oder Gestalt und Ungestalt sind bei Dionysos nicht fest etabliert.23 So kann die friedfertige Stimmung der Bakchen in einem Moment ins Rauschhaft-Aggressive kippen. Wie eine Naturkatastrophe rauschen sie ins Tal, als sie von Hirten gestört werden, zerreißen mit bloßen Händen eine Rinderherde. Die entfesselte Natur Pandoras im Kampf gegen die Menschen agiert deutlich anders, nämlich rational der binären Feind/Freund-Logik folgend. Ähnlich wie Selfridge und Quaritch aus Avatar ist der Thebaner König Pentheus auf einen Standpunkt fixiert, der ihn rein rational nach Möglichkeiten suchen lässt, seine Macht zu erhalten und zu sichern. Die Ausschweifungen des Dionysoskultus erscheinen ihm einseitig als unzüchtige Orgien und Wahn, als personifizierte Irrationalität, die es zu vertreiben gilt – wie auch die Na’vi für Selfridge nur »blue monkeys« sind, deren heilige Orte ihm beliebig und lächerlich erscheinen. (So beantwortet er Claires Ausführungen zu dem neuronalen Netzwerk der Flora und Fauna auf Pandora mit der Frage, was die Wissenschaftler im Wald eigentlich rauchen würden, und tut die unüberlegte Planierung der heiligen Bäume mit der Bemerkung ab, man könne keinen Stock in den Himmel werfen, ohne eine heilige Stätte zu treffen.) Ist der Zustand der Immanenz in gewisser Weise ähnlich gezeichnet (wenn auch bei den Bakchen dieser Zustand von vorneherein als zeitlich begrenzt gedacht wird, als rauschhafte Unterbrechung des Alltags), so unterscheidet sich das Eingreifen der Gottheit deutlich. Eywa erwählt Jake erst durch Zeichen, die bereits auf eine höhere Form von Plan und Intelligenz schließen lassen (die Markierung durch die Samen) und mobilisiert schließlich das Bestiarium Pandoras, um Quaritch und seine Armada abzuwehren. Die Gottheit – die laut Neytiri neutral bleibt und nur die Balance des Lebens sichert – schlägt sich auf die Seite der good guys und kämpft, vielleicht durch die Erinnerungen Graces motiviert, für die Aufrechterhaltung des Ökosystems Pandoras. Dass »böse« Söldner dabei von riesigen Pflanzenfressern zermalmt oder von Ikranen zerfetzt werden, gehorcht der poetischen Gerechtigkeit und ist für den Zuschauer unproblematisch, wenn nicht gar befriedigend. Gänzlich anders die unverhältnismäßige Grausamkeit des Dionysos, dessen Handeln nicht auf gleiche Weise rational nachvollziehbar ist wie das Eywas: Die Zerfleischung des Pentheus durch die eigene Mutter, 23 Vgl. Bernhard Greiner : Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges. Grundlagen und Interpretationen. Stuttgart 2012, 92, und das Vorwort von Kurt Steinmann in: Euripides: Bakchen (Anm. 22), 9–22, hier 12–15.

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während beide vom Gott mit Wahn geschlagen werden, also nicht mehr recht erkennen können, was sie tun, ist ein Gipfelpunkt der Grausamkeit – insbesondere durch Pentheus’ anrührende Geste, die Wange der Mutter zu streicheln, damit sie ihren Sohn erkenne, den sie für einen jungen Löwen hält. Im Gegensatz zu dem nachvollziehbaren Verhalten der Naturgottheit Eywa ist das Verhalten des Dionysos verstörend und irritierend. Der irdischen Natur kommt das Dionysische so sicherlich näher, die freilich auch über kein neuronales Netzwerk verfügt; dieselbe Natur, die uns nährt und harmonisch umfängt, können wir bei Euripides lernen, kann plötzlich in unverständliche Grausamkeit umschlagen und alles ungefragt vernichten – Dionysos, Gott des Todes und der Fruchtbarkeit. Gemahnt Euripides gegen die einseitige Logos-Codierung des griechischen Geistes24 an den kultischen Ursprung der so rational scheinenden Tragödie, so ist Camerons Film zwar eine kritische Befragung des menschlichen Verhältnisses zur Technik,25 aber viel eher eine Hommage an die Special Effects, die seit der ersten gefilmten Einfahrt eines Zuges, die ihre Runden über die Jahrmärkte machte, eine Grundlage des Kinos sind.26 Außerdem ist zu bedenken, dass Dionysos – gerade durch und in seiner Grausamkeit – einen den Menschen nicht zugänglichen Bereich radikaler Alterität repräsentiert; die Momente der Immanenz sind rauschhafte Momente der Anvertrauung an den Gott, in denen das eigene Selbst keine Rolle mehr spielt – gänzlich anders, und das führt zu einem Menschenbild, welches die Grundvorstellung der Immanenz untergräbt, der Status der Na’vi auf Pandora: Denn wenn Neytiri enthusiastisch »Eywa heard you!« ruft, um das Eingreifen der Naturgottheit in den allzumenschlichen Krieg zu kommentieren, so ist es evident, dass sie ihrerseits Eywa nicht hören konnte.

Adam im Paradies und die Na’vi als Stellvertreter Gottes auf Erden Die große Endschlacht scheint verloren, die Na’vi sind gefallen oder zurückgeschlagen, Jakes Gefährten ausgeschaltet und Quaritch scheint kurz davor, den tree of souls wegzubomben und so die Grundlage der Kultur der Na’vi zu vernichten. Neytiri (die hier offenbar gänzlich konfliktfrei menschliche Technik 24 Vgl. Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Paderborn 2007, 127. 25 Vgl. Grabiner : I See You (Anm. 5), 42–58. 26 Steht Camerons Kino sicherlich in einer Traditionslinie, die zum von Gunning so bezeichneten »Kino der Attraktionen« führt, so unterscheidet sich gerade Avatar durch den großen Aufwand, der eine perfekte Illusion erzeugen soll, von dem frühen Kino der Attraktionen, welchem die Illusionserzeugung zweitrangig war. Vgl. Tom Gunning: Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. In: Meteor 1996, H. 4, 25–34.

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verwendet – ein Funksprechgerät im Halsband!27) teilt Jake mit, dass die Lage am Boden aussichtslos ist; kurz zuvor hat sie ihren Ikran, mit dem sie ja auf einmalige Weise verbunden war, im Kampf verloren – Jake befiehlt ihr, sich nicht zum Kampf zu stellen, doch sie scheint ein Maß an Verzweiflung erreicht zu haben, angesichts dessen ihr der Tod im Kampf bedeutungslos erscheint. Gerade als sie mit Pfeil und Bogen die schwer bewaffneten Söldner angreifen möchte, spürt sie eine Erschütterung des Bodens: die Kreaturen Pandoras greifen in den Kampf ein. Offenbar hat Eywa Jakes Gebete erhört oder ist zu dem Schluss gekommen, dass die Vertreibung der Menschen in ihrem Interesse ist, da die Balance des Lebens durch die Eindringlinge massiv gefährdet erscheint. Die Tiere, die sich nun ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben in den Kampf werfen, scheinen also von Eywa gelenkt oder zumindest zu dieser außergewöhnlichen Handlung aufgefordert zu werden – alles andere ist außerhalb ihres Verhaltensrepertoires. Wenn aber die Lebewesen Pandoras insgesamt diesen Aufruf zum gemeinsamen Angriff erhalten (was insbesondere bedeutet, dass Tiere Seite an Seite kämpfen, die sich sonst Feind sind oder wenigstens aus dem Weg gehen), warum hören die Na’vi diesen Ruf nicht? Neytiri zeigt sich über Eywas eingreifen und das Erscheinen der Kreaturen völlig verwundert. Offenbar haben die Na’vi als kulturschaffende Wesen einen anderen Status als die übrigen Lebewesen. Blicken wir von dieser Überlegung nochmals auf Shahaylu, so stellt sich die Frage, wofür die Tiere auf Pandora überhaupt Nervenenden hinter ihrem Kopf haben, an welchen die Na’vi sich »einklinken« können. Die Intensivierung der Partnerbeziehung, wie sie bei den Na’vi dadurch möglich erscheint, ist keine logische Option – welche Gedanken, Gefühle und Erinnerungen sollten die Tiere teilen? (Ohne einem vereinfachenden Anthropozentrismus das Wort zu reden, erscheint dies doch als eine höchst menschliche Form der Liebe – und dass nur die Na’vi humanoid konzipiert sind, dürfte außer Zweifel stehen.) Pandora ist freilich ein fiktiver Kosmos und so sind diese Möglichkeiten der Verbindung wohl von den Na’vi her gedacht, um ihrer deep connection einen beeindruckenden Ausdruck zu verleihen. Doch welches Denkmuster steckt dahinter? Wenn Jake einen neuen bond vollzieht, wird stets eine Großaufnahme der Augen der Kreatur gezeigt, mit der Jake sich verbindet. Die Pupillen weiten sich extrem, um dann – das Tier wird gleichzeitig ruhiger – auf Normalgröße zurückzuschrumpfen. In diesem Moment der Ruhe schließt Jake die Augen, er fühlt das Tier durch Shahaylu. Aus all dem lässt sich schließen, dass die Na’vi den anderen Kreaturen übergeordnet sind (was sich schon darin äußert, dass sie die Reiter 27 Dies wäre ein weiteres Argument für Grabiners Beobachtung, dass Camerons Avatar keineswegs technikfeindlich ist, sondern vielmehr eine Art und Weise des rein utilitaristischen Gebrauchs von Technik kritisiert wird. Vgl. Grabiner : I See You (Anm. 5), 3.

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sind, die durch die Verbindung befehlen können, wohin es geht, sodass – im Gegensatz zu irdischen Pferden – den Tieren offenbar kaum eine andere Wahl bleibt, als dem Willen des Reiters zu gehorchen). Was als so harmonisch dargestellt und kommentiert wird, hat seine problematischen, wenn nicht repressiven Seiten. Wird man durch die Frage, wer Pandora so eingerichtet hat (wenn man nicht plump »Cameron« antworten möchte), wieder auf Eywa verwiesen, so ist dies doch eine klare Analogie zum biblischen Gott, der den Menschen zum Herrn über Pflanzen und Tiere einsetzt (in Jakes Gebet am tree of souls wird Eywa von einer pantheistischen Größe zu einem personalen Gegenüber). Nur : Die Stimme des Herrn vernehmen die Menschen, den Ruf Eywas hören alle Lebewesen Pandoras – nur die Na’vi nicht. Der Mensch als reflektierendes Wesen ist in der Lage, sich Fragen über das Woher und Wohin und über das Warum seines Lebens zu stellen. Der derart reflektierende (und dadurch kulturschaffende) Mensch des klaren Bewusstseins kann Subjekt eines göttlichen Heilsplanes werden oder den Zustand des Nirwana erreichen; das Tier, das dunkle Bewusstsein, nicht. Das Tier lebt und stirbt und es hat auf kein Ziel hin gelebt, es ist wie Wasser im Wasser, sein Leben ist zu keinem Moment unsicher, kontingent – das dunkle Bewusstsein schützt vor Anfechtungen existenzieller Art. Dieses Reflexionsniveau, das die Geschichte des Paradieses erst initiiert hat, stößt den Menschen aus dem Reich der Immanenz. Auf Pandora nun soll beides realisiert werden. Auf der einen Seite wird, wie oben gezeigt, eindringlich suggeriert, dass die Na’vi in einem Zustand der Immanenz leben, eins mit dem »Strom des Lebens«. Auf der anderen Seite wird die so verführerische, sehr christliche Vorstellung, Subjekt der Heilsgeschichte zu sein, nicht aufgegeben.28 Pandora wandelt sich im Verlauf des Filmes sehr schnell von einem Ort, gegen den die Hölle ein Urlaubsziel darstellt, zu einem Garten Eden. Gleich bei seinen ersten, schnell sicherer werdenden Schritten im Avatar bekommt Jake von Grace eine Frucht zugeworfen, die auffällig einem Granatapfel ähnelt – jenem in der Literatur so beliebten Superzeichen, das auf Maria und Jesus ebenso anspielt wie auf Persephones Verfallenheit an die Unterwelt, mithin den Tod. Beide Symbolbereiche klingen auch in Camerons Film durchaus an. Jake, der – was ja auch viel kritisiert wurde – klar als Messiasgestalt gezeichnet wird (und als Toruk Macto sogar von den Na’vi als solche wahrgenommen wird29), erscheint bald als der Unterwelt, als die Pandora eingeführt 28 Grabiner weist darauf hin, dass Jake in der ihn einführenden Szene des Director’s Cut, nachdem er aus einer Kneipe geschmissen wurde, mit ausgebreiteten Armen und überkreuzten Beinen so auf dem Boden liegt, wie Christus am Kreuz hängt – was gleichsam schon auf seine messianischen Qualitäten weist. Vgl. Grabiner : I See You (Anm. 5), 90. 29 Gegen die umfassende Art und Weise, zu sehen, die ganzheitliches Verstehen mit einbezieht, welche Grabiner Jake im Verlauf seiner Lehrzeit zugutehält (vgl. Grabiner : I See You [Anm. 5], 17–19), spricht hier die eindeutige Instrumentalisierung eines Mythos. Jake glaubt

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wird, verfallen – was tatsächlich seinen Tod als Mensch mit sich bringt, der am Ende als neue Geburt vollzogen wird. Der Biss in den Apfel, der Adam aus dem Paradies vertrieben hat, initiiert Jakes Wiederkehr in dasselbe.30 Am Ende heißt es von den besiegten Menschen: »only a few were chosen to stay« – aus einer der feindlichsten Gegenden des Universums ist ein Ort geworden, zu dem nur die Auserwählten Zugang haben. Entsprechend entmutigt und verzweifelt, mit hängenden Schultern, trotten die Vertriebenen zu dem Shuttle, das sie fortfliegen wird – ganz ähnlich den Darstellungen von Adam und Eva, die das Paradies verlassen müssen. Anstelle der Cherubim stehen Jake, die Na’vi und andere Operator aus dem Avatar-Programm31 bereit, um den Vertriebenen mit MG und Bogen die Rückkehr ins Paradies zu verwehren. Die völlige Kolonisierung der Wildnis Pandoras und ihrer christlich anmutenden Unterwerfung wird bildmächtig in der Zähmung der gefährlichsten Bestien vor Augen geführt: der Bezwingung des Toruk durch Jake und der Ritt Neytiris auf dem pandoranischen Panther. Der Panther, der bei Jakes erster Erkundung des Dschungels der Ausdruck von Pandoras unbezwingbarer Wildnis und tödlicher Fauna war, kämpft hier nicht etwa – Eywas Ruf folgend – gleichberechtigt an der Seite der Na’vi, sondern in einer sehr menschlichen Geste verbeugt er sich vor Neytiri, unterwirft sich ihr und stellt sich als Reittier zur Verfügung, ganz wie der Toruk gänzlich Jakes Willen gehorchen muss. Der Toruk wird als Tier an der Spitze der Nahrungskette eingeführt, als unbestreitbarer Herr der Lüfte. Seine Unterwerfung verändert diese Hierarchie und setzt die Na’vi an die Spitze. Diese beiden Bestien ließen sich durchaus als Ausdruck der dionysischen Dimension des Seins lesen – der unberechenbaren Grausamkeit der Natur, der Gegenwärtigkeit des Todes, welche die Fülle des Seins und die Fruchtbarkeit des Daseins begleitet und komplementär ergänzt. Die Zähmung dieser Wildnis in den Bakchen hätte die nicht vorstellbare Niederlage des Dionicht wirklich an die mythischen Erzählungen von Toruk Macto, der wie ein Messias erscheinen wird, um das Volk zu befreien (wenn er freilich auch genau das tun wird), sondern sieht seine Handlung als insane move, eine Art Glückspiel mit hohem Risiko und hohem Gewinnanteil. Er schreibt sich in das kollektive Gedächtnis ein, indem er einen Titel für sich reklamiert, an dessen religiösen Gehalt er kaum glaubt. Mit den Worten »probably just talking to a tree right now« leitet er sein Gebet an Eywa am tree of souls ein, was selbst am Ende seines Weges die großen Vorbehalte artikuliert, die er gegen den Glauben der Na’vi hat, welche er bald als Führer in den Krieg leiten wird, um nach dem Tod Tsu’teys wohl neuer Häuptling zu werden. 30 Man kann hier Kleists zweites Essen vom Baum der Erkenntnis wieder entdecken. Und tatsächlich, was Cameron kaum bewusst gewesen sein durfte, vollzieht dies ja in gewisser Weise ein Gliedermann, als welchen man den Avatar bezeichnen könnte, der von einem anderen Bewusstsein gelenkt wird. 31 Eine weitere logische Inkonsequenz ist, dass diese anderen Operator im Film eine völlig untergeordnete Rolle spielen, obwohl sie durch ihre Erfahrung eine wichtige Position einnehmen müssten.

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nysos bedeutet – der Gott unterliegt dem Menschen. In Avatar ist das nicht nötig, da Eywa sich selbst dem Willen der Menschen unterwirft. So wie Gott im Paradies im Grunde genommen überflüssig ist, lässt sich Eywas Bedeutung nach ihrem Auftritt als dea ex machina, der Vertreibung der Menschen, nur als reduziert denken – ihr Eingreifen würde zwangsweise zum Mythos der Selbstermächtigung der Na’vi. Da das ewige Leben auf Pandora (noch) nicht vorgesehen ist, bliebe somit die Funktion, in Eywa einzugehen, um ein Leben des Geistes nach dem Tod zu garantieren. Pandoras gezähmte Wildnis erscheint so als eine allzu perfekte Utopie: ein Zustand der Harmonie im Umgang mit der Natur, gleichzeitig Unterwerfung der Natur unter den eigenen Willen; Gottähnlichkeit des Menschen als Hüter der Natur und ewiges Leben des Geistes (dass der Wald ausreichend mit Nahrung versorgt, darf als sicher gelten). Ein Zustand der Immanenz – des fraglosen In-der-Welt-Seins – kann das freilich nicht mehr sein. Das Tier frisst ein Tier als seinesgleichen32 – das ist für Bataille die Basis der Immanenz; der Mensch transzendiert das Tier, das er tötet, und ist somit von der Immanenz geschieden. Als Herr der Tiere hat der Mensch nicht seinesgleichen, für ihn ist das Tier nicht mehr nur Tier, sondern immer auch etwas anderes. (Im Grunde genommen ist das Gebet, das Jake über dem erlegten Tier spricht, bei all seiner bereits betonten Wichtigkeit im Kontrast zur gegenwärtigen Verdinglichung des Tieres, bezeichnender Ausdruck dieser Distanz zur Immanenz.) Die biblische Ermächtigung des Menschen über das Tier- und Pflanzenreich – wie sie hier auch auf Pandora vollzogen wird – kann eine Einstellung zur Natur legitimieren, die diese dem Willen und den Zielen des Menschen unterwirft und somit in letzter Instanz ein ausbeuterisches Verhältnis herbeiführen kann, wie es die RDA in Avatar verkörpert. (Freilich lässt sich auch ein nachhaltiger Umgang mit der Natur biblisch legitimieren.) Was der Film zum Ende hin verlässt, ist auf jeden Fall ein Bereich, in dem der Mensch in die Prozesse der Natur als gleichwertig eingeordnet erscheint – am Ende ist er der Wildnis übergeordnet. Der Garten Eden ist für den Menschen da (sowie die Nervenenden der Tiere für die Na’vi), nicht der Mensch Teil des Gartens.

Fazit Natürlich war es nicht Camerons Ziel, plausibel einen Zustand der Immanenz vorzuführen oder überhaupt ein sinnerfülltes Glaubenssystem (wenn er und seine Crew auch sicherlich einige Energie darauf verwandt haben, den Glauben und die Rituale der Na’vi auszugestalten). Die obigen Ausführungen sind nicht zu verstehen als Kritik an der inneren Konsistenz von Camerons Film – der als 32 Vgl. Bataille: Theorie der Religion (Anm. 9), 19f.

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solcher tief in eine einmalige visuelle Welt eintauchen lässt und eine dichte und komplexe Geschichte erzählt, die auf dem höchsten und auch visuell anspruchsvollsten Niveau, das Hollywood liefert, funktioniert. Auch inhaltlich gibt der Film wichtige Anregungen und hinterfragt auf populäre Art eingefahrene Denkmuster (utilitaristischer Blick) und Einstellungen (ausbeuterisches Verhältnis zur Natur) – wenn nicht auf innovativ neue Weise, so doch mit begrüßenswerter Direktheit. (Wenn Quaritch äußert: »We’re gonna fight terror with terror!«, so könnte die Anspielung auf die Bush-Administration nicht deutlicher sein – ebenso wird man sich nicht schwertun, Parallelen zur Kolonisierung Amerikas und der gegenwärtigen Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes zu finden.33) Unabhängig also von der Qualität des Films als Film ist es interessant, nach der Konsistenz der transportierten Denkbilder zu fragen. Gerade bei einem Film mit so überwältigendem Erfolg darf davon ausgegangen werden, dass er ein allgemeines Bedürfnis befriedigt, das sicherlich nicht nur in der neuartigen Technik zu suchen ist – auch wenn diese sicherlich keinen zu unterschätzenden Einflussfaktor bei einem Kinobesuch darstellt. In der eindringlichen Schilderung des Zustandes der Immanenz, den die Na’vi erreicht haben, lässt sich die Ursache für die Popularität von Avatar sehen, da die Sehnsucht nach Immanenz sich durch alle Weltreligionen zieht und selbst die meisten sich als atheistisch verstehenden Menschen vereint. Die Entfremdung von der Natur, die sich gegenwärtig weiter vertieft, kann durchaus als Teil der conditio humana verstanden werden, insofern Reflexion ein Transzendieren ist, das von der Immanenz entfernt. Mit Blick auf Euripides Bakchen lässt sich vermuten, dass der Zustand der Immanenz nur vorübergehend möglich ist als Auslieferung an Dionysos, den Gott der Gegensätze. Das umfasst allerdings den Zustand des Rausches und die Möglichkeit, in kreatürliche Verhaltensweisen zu verfallen und im Sinne des Gottes – der für den Menschen schließlich unverständliches Geheimnis bleibt – zu handeln, was im Extrem zur Zerfleischung des eigenen Sohnes durch die Mutter führt (Dionysos ist dabei freilich zu verstehen als Allegorie der tiefen Unergründlichkeit des Lebens und seiner Ambivalenzen). Diese Hingabe ans Göttliche, die Verleugnung der eigenen reflexiven Identität, spielt sicherlich in unterschiedlichen Religionen eine Rolle – für die Masse der modernen Menschen ist sie gleichwohl keine Option. Entsprechend unterläuft Avatar eine derartig konsequente Ausformung der Immanenz und installiert mithilfe von Jakes Messianismus ein biblisches Weltbild, das den Menschen zum selbstbestimmten Herrn über die Schöpfung erklärt – und in 33 Von dieser Seite wäre eher zu kritisieren, dass Cameron hier weder neue Einsichten liefert (die rücksichtslose Zerstörung des Regenwaldes ist längst bekannt) noch Handlungsoptionen aufzeigt (der bewaffnete Kampf der Eingeborenen der Amazonas-Wälder ist weder eine erfolgversprechende noch eine wirklich sinnvolle Alternative).

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letzter Instanz, was dann äußerst unbiblisch ist, selbst die Gottheit dem Willen des Menschen unter- oder wenigstens nebenordnet. Eine religiöse Lesart von Avatar wurde bisher kaum versucht (der Glaube der Na’vi scheint schließlich »primitiv«-pantheistisch und somit weit entfernt von der religiösen Bedürftigkeit des modernen Menschen), es ließ sich aber zeigen, dass der Film gleich zwei religiöse Sehnsüchte bedient: die Sehnsucht nach Immanenz und die nach Geborgenheit im göttlichen Heilsplan, als dessen handelndes Subjekt man sich begreifen kann. Diese Wünsche sind gleichermaßen verständlich, aber unvereinbar. Hierin lässt sich ein Beispiel modernen Religionshandelns sehen, für das glaubhaft postuliert wurde, dass hier verschiedene Inhalte unabhängig von ihrer theoretischen Vereinbarkeit verknüpft werden.34 Aus einer solchen Religiosität wird indes keine Religion mehr (nichts lag Cameron mit Avatar wohl ferner). Von hier lässt sich die Frage stellen, ob nicht ein großer Teil gegenwärtiger Kulturproduktion – bewusst und unbewusst – solch religiöse Bedürfnisse für den Moment befriedigt, indem sie den Zuschauer in einem »Event« fiktional mit der Welt versöhnt, während die Kirchen auf diese Bedürfnislage keine adäquaten Antworten mehr finden. An Camerons Avatar ließ sich die Inkonsistenz eines derart vermittelten Glaubenssystems nachweisen, das in seiner Event-Struktur sowohl die Sehnsucht nach gegenwärtiger – immanenter – Erfüllung wie die nach Erfahrung der eigenen Besonderheit als Protagonist der (Heils-)Geschichte bedient.

34 Vgl. Christoph Bochinger : Multiple religiöse Identitäten im Westen zwischen Traditionsbezug und Individualisierung. In: Reinhold Bernhard; Perry Schmidt-Leukel (Hg.): Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. Zürich 2008, 137–161.

Medien

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Gladius Dei. Bild und Religion in Erzähltexten um 1900

Am 21. August 1911 wurde Leonardos Gemälde der Mona Lisa aus dem Louvre gestohlen. Erst Ende 1913 tauchte es in Italien wieder auf; der Dieb, ein im Museum beschäftigter italienischer Handwerker, hatte mit seiner Tat offenbar zur Repatriierung des nationalen Kulturerbes beitragen wollen. Damals war Georg Heyms Novelle Der Dieb schon längst gedruckt;1 der zwischenzeitlich tödlich verunglückte Autor hatte sie im August und September 1911 unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Presseberichte über den spektakulären Kunstdiebstahl niedergeschrieben. Der erste und größere Teil der Novelle ist denn auch auf den Abend der Tat ausgerichtet, allerdings erweitert um eine umfangreiche Analepse, die uns mit der Vorgeschichte, nämlich der seelischen Entwicklung des namenlosen Diebs, vertraut macht. Der zweite Teil spielt ungefähr drei Jahre später und schildert die schließliche Verstümmelung und Verbrennung des Gemäldes – also Ereignisvarianten, die sich glücklicherweise nicht bewahrheitet haben; dennoch hat er Anlass gegeben, dem Verfasser, der ja schon wegen seiner apokalyptischen Kriegsgedichte bei manchen Vertretern der Germanistik im Ruf prophetischer Gaben steht,2 wiederum eine erstaunliche Hellsicht zu attestieren. Denn dieser zweite Teil spielt in Florenz – eben jener Stadt, in der Vincenzo Peruggia das Bild 1913 einem Kunsthändler anbieten sollte, der erst den Direktor der Uffizien und schließlich die Polizei hinzuzog. Die vermeintliche Prophetie stellt in Wahrheit eine historische, vielleicht sogar eine literarische Reminiszenz dar. Zunächst ist festzustellen, dass Georg Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 7. Juni 2013 anlässlich eines Kolloquiums des Kreises junger Thomas-Mann-Forscher am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin gehalten wurde. 1 Georg Heym: Der Dieb. Ein Novellenbuch. Leipzig 1913, 109–145. Im Folgenden zitiert nach: Georg Heym: Werke. Mit einer Auswahl von Entwürfen aus dem Nachlass, von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen hg. v. Gunter Martens. Stuttgart 2006, 258–290. 2 Vgl. Günter Dammann, Karl-Ludwig Schneider u. Joachim Schöberl: Georg Heyms Gedicht Der Krieg. Handschriften und Dokumente. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte und zur Rezeption. Heidelberg 1978, 40 u. 83–86.

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Peter Sprengel

Heym aus der Erzählung des Kunstdiebstahls eine Fallstudie religiösen Wahns macht, ein Seitenstück also zu seiner schon im Frühjahr 1911 fertiggestellten Novelle Der Irre. Ähnlich wie dort wird mit großer Konsequenz aus einem krankhaft veränderten männlichen Bewusstsein heraus erzählt, dessen aggressive Energien sich nicht zuletzt gegen Frauen richten. Wird der aus einer Heilanstalt entlassene »Irre« der gleichnamigen Erzählung hauptsächlich vom Verlangen getrieben, sich an seiner Frau für die Einweisung in die Psychiatrie zu rächen, so ist es in der Titelnovelle des posthum erschienenen Prosabandes vor allem die Identifikation Mona Lisas mit einer satanischen Weiblichkeit, die den Dieb zu seiner Tat motiviert. Der längst aus allen sozialen Beziehungen herausgefallene »alte Mann«3 glaubt sich von Gott beauftragt, das unvollendete Werk Jesu Christi zu vollenden, nämlich die Erlösung der Welt von der babylonischen Hure. So zitiert Heyms Text großflächig aus der Offenbarung des Johannes, retuschiert der biblischen Zahlensymbolik zuliebe sogar das Datum des Diebstahls4 und gewinnt sein eigentümliches stilistisches wie weltanschauliches Profil aus einer Überblendung von Lutherbibel und Weiningers misogyner Geschlechtertypologie, wie beispielhaft der folgende Absatz zeigt, der bei Heym dicht auf das umfangreichste Zitat aus der Apokalypse folgt: Er sah vor sich den Hals des teuflischen Tieres in schrecklicher Traurigkeit, und über seinen Hörnern hängend das Gesicht des Weibes, über ihrer Stirn das Siegel des Todes, und um ihren Mund ein furchtbares und herzzerreißendes Lächeln wie den Widerschein des höllischen Abgrundes.5

Bekanntlich war es gerade das ominöse Lächeln der Gioconda oder Mona Lisa, das dem Bild Leonardos um 1900 so exzeptionelle Aufmerksamkeit sicherte: als Inkarnation des Epochen-Phantasmas der »femme fatale«.6 Und ebenso, nämlich als »Symbol«, wird es auch in Heyms Erzählung als Zielscheibe ausgewählt: Ein Symbol gab es; da versammelten sich die Weiber immer, oder sie gingen auch nur an ihm vorüber und sogen aus ihm eine neue Kraft, wie die Schlangen, die manchmal in ihre geheimnisvollen, unterirdischen Städte zurückkehren, um sich neue Gifte zu holen. 3 4 5 6

Heym: Werke (Anm. 1), 289. Vgl. Heym: Werke (Anm. 1), 274f. (17. August) u. 269 (7 Häupter und 10 Hörner, 17. Kapitel). Heym: Werke (Anm. 1), 269. Vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 1963, 174–179; Eduard Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de SiÀcle. In: Roger Bauer u. a. (Hg.): Fin de SiÀcle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1977, 143–169; Ursula Renner : Mona Lisa – Das »Rätsel Weib« als »Frauenphantom des Mannes« im Fin de SiÀcle. In: Irmgard Roebling (Hg.): Lulu, Lilith, Mona Lisa … Frauenbilder der Jahrhundertwende. Pfaffenweiler 1989, 139–156. – Vorbehalte gegenüber Praz formuliert Ulrike Stamm: »Ein Kritiker aus dem Willen der Natur«. Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter Paters. Würzburg 1997, 30–36.

Gladius Dei. Bild und Religion in Erzähltexten um 1900

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Und dieses Symbol hing da, die Straße hinunter, zwei Straßen weiter, in seinem Tempel, und alles andere, was da noch aufgehängt war, war nur da, um das Zeichen zu verstecken und den Männern das Geheimnis zu verbergen. Ja, ja, darum lachten die Frauen auch immer so, wenn sie ihre Regenschirme in der Garderobe abgaben. Gott hatte es ihm selber gesagt.7

Das ist natürlich die Sprache des Wahnsinns, aber neben den absurden Phantasien von der Funktion des Bildes als Giftlager für das weibliche Schlangenwesen ist dabei auch Richtiges gesehen: das Museum als Kunst-»Tempel« des 19. Jahrhunderts und die Funktion des Leonardo-Gemäldes als Kultbild und Touristenattraktion, an der, wie es zwei Seiten später heißt, »täglich die Horden der Engländer und Amerikaner wie eine Herde Schweine vorübergetrieben wurden«.8 Es ist nun allerdings typisch für Heyms mimetisch die Optik des Protagonisten nachvollziehende Darstellung, dass in dieser von einem Kunstdiebstahl handelnden Novelle selten genug vom Bild selbst die Rede ist.9 Das Denken des Diebs und die ihm folgende Sprache der Erzählung richten sich – mit einer Logik, die gerade für die Rezeption dieses Gemäldes typisch ist10 – direkt auf die abgebildete Vertreterin des weiblichen Geschlechts als die vermeintlich eigentliche Feindin, die es zu bekämpfen, zu bekehren oder zu bestrafen gilt. Denn mit dem erfolgreichen Diebstahl und dem Wechsel des Schauplatzes von Paris nach Florenz ändern sich abrupt die Vorzeichen: Der Dieb erkennt seine Liebe zur vorgeblich sündigen Frau und nähert sich ihr, nach dem Intermezzo einer mehrjährigen Flucht vor dem Objekt seiner Begierde, mit der Hoffnung auf ein Zeichen des Nachgebens, das natürlich ausbleibt. In diesem (von vornherein zum Scheitern verurteilten, hochgradig wahnhaften) Versuch einer Kommunikation mit der gemalten Renaissance-Schönheit gewinnen deren Augen entscheidende Bedeutung. Sie sind es, gegen die der Dieb im Louvre recht eigentlich in die Schlacht zieht; sie sind es auch, von denen er später vergebens eine »Träne der Reue«11 erwartet und gegen die er zuerst das Messer der Zerstörung erhebt – danach kommt der Mund an die Reihe, dessen Lächeln sich in seiner Wahrnehmung längst zum Lachen der Verachtung gesteigert hat. Das frühe Beispiel 7 Heym: Werke (Anm. 1), 270. 8 Heym: Werke (Anm. 1), 272. 9 Dennoch ist die Erzählung in der Tradition der romantischen Kunstreflexion zu sehen; vgl. Melanie Klier : Kunstsehen – Literarische Konstruktion und Reflexion von Gemälden in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern mit Blick auf die Prosa Georg Heyms. Frankfurt a. M. u. a. 2002. 10 Vgl. Katharina Serles: »Mona Lisa (du Luder)«. Bild(de)konstruktionen der Rezeption. In: Konstanze Fliedl u. a. (Hg.): Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern. Berlin 2013, 194–229, hier 203–214. 11 Heym: Werke (Anm. 1), 283.

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des »Giocondoklasmus«12 verdeutlicht die Aporien eines Bildersturms, der das Kunstwerk – jedenfalls in seiner vergegenwärtigenden Potenz – noch im Akt der Zerstörung bestätigt.13 Mit dem solchermaßen verstümmelten Liebesobjekt kann der Dieb dann eine punktuelle kompensatorische Vereinigung eingehen – er hält sich die aus dem Rahmen gerissene Leinwand wie eine primitive Maske vor das Gesicht, noch als die Feuerwehr kommt, um den Brand zu löschen, den seine Unachtsamkeit in der wütenden Auseinandersetzung mit dem Bild ausgelöst hat. Inzwischen sind ihm, jedenfalls momentweise, das »Wesen der Dinge«14 und die Sinnlosigkeit seiner Tat bewusst geworden, und er nutzt das verheerende Feuer als Chance zur Erneuerung oder Perpetuierung seines Wahns – unter Preisgabe des Gemäldes (oder dessen, was von ihm noch übrig ist), seines eigenen Lebens und des Lebens von drei Feuerwehrleuten, deren qualvoller Tod den brutalen Schlusseffekt der hier deutlich den Bewusstseinshorizont des Protagonisten übersteigenden Erzählung abgibt. Man kennt die vitalistische Metaphorik des Feuers aus verschiedenen Gedichten Heyms.15 In der Novelle Der Dieb hat der Brand noch eine weitergehende Bedeutung, so zufällig und oberflächlich er auf der äußeren Handlungsebene auch verankert ist. Wir kommen damit nämlich auf die scheinbar so prophetische Platzierung des Schlusses in Florenz zurück. Man kann die Verbrennung eines Gemäldes und die Stadt Florenz nicht zusammendenken, ohne die Erinnerung an einen Dritten mitzubezwecken: den Dominikanermönch Girolamo Savonarola nämlich, der hier 1497 den »bruciamento delle vanit—«, die »Verbrennung der Eitelkeiten« veranstaltete – unter Einschluss verschiedener Gemälde und als Generalprotest gegen den exuberierenden Ästhetizismus der florentinischen Renaissance.16 Offenbar verband sich in Heyms kreativer Phantasie die Nachricht vom Diebstahl des berühmten Renaissance-Gemäldes sogleich mit dem Gedanken an jenes ikonoklastische Aufbegehren im Herzen der Renaissance selbst.17 Inwie12 Vgl. Serles: Bild(de)konstruktionen (Anm. 10), 196 u. 214–223. 13 Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen. Berlin 2010, 210: »Der Bildersturm bekräftigt, was er ablehnt: Er hält die Bilder für leblos, aber indem er diese vernichtet, als wären sie lebendige Verbrecher, Hochverräter oder Ketzer, vermittelt er ihnen das zunächst abgesprochene Leben.« 14 Heym: Werke (Anm. 1), 288. 15 Vgl. u. a. die Gedichte Der Krieg und Der Gott der Stadt. 16 Vgl. Horst Bredekamp: Renaissancekultur als »Hölle«: Savonarolas Verbrennungen der Eitelkeiten. In: Martin Warnke (Hg.): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. München 1973, 41–64. 17 Vgl. auch Torsten Hoffmann: »Nehmt Spitzhacken und Hammer!« Funktionen und intermediale Implikationen von Bildzerstörungen bei Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Wilhelm Busch, Georg Heym und Botho Strauß. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), 289–328.

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weit er dazu auch von Savonarola-Dichtungen seiner Zeit angeregt wurde, ist unseres Wissens nie ernsthaft gefragt worden. Die Frage soll auch an dieser Stelle nicht im Detail weiterverfolgt werden; immerhin lohnt es sich zu bedenken, dass Heym hier bei einem Autor gut hätte fündig werden können, mit dem man ihn sonst selten verbindet: Thomas Mann nämlich. Der Hinweis zielt weniger auf dessen dramatisches Lieblings- und Schmerzenskind Fiorenza als auf die »psycholog[ische] Vorstudie«,18 die 1901 gleichsam als Nebenprodukt dazu entsteht und ein Savonarola-Zitat, allerdings in entstellter Form, im Titel trägt.19 Denn Gladius Dei müsste eigentlich Gladius Domini heißen, wenn nicht schon Thomas Manns wichtigste Quelle den Originaltext entsprechend verändert hätte. In Pasquale Villaris Geschichte Girolamo Savonarola’s und seiner Zeit von 1868 konnte Thomas Mann lesen (und er sollte daraus sowohl den Titel als auch den Schluss seiner Erzählung gewinnen): Zur Zeit der Adventspredigten dieses Jahres [1492] hatte er einen Traum, der in der That einer Vision sehr ähnlich sah und den Savonarola keinen Augenblick anstand für eine göttliche Offenbarung zu halten. Es war ihm, als sähe er mitten im Himmel eine Hand mit einem Schwert, auf dem geschrieben stand: Gladius Dei super terram cito et velociter [bald und schnell wird das Schwert des Herrn auf die Erde herabfahren]. […] Plötzlich wendet sich das Schwert gegen die Erde, die Luft verfinstert sich, es regnet Schwerter, Pfeile und Feuer, furchtbare Donnerschläge ertönen, und die ganze Erde verwüsten Krieg, Hungersnoth und Pest.20

Es sind dieselben lateinischen Worte, die Hieronymus vor sich hin flüstert, als er nach dem Hinauswurf aus Blüthenzweigs »Schönheitsgeschäft« die gelblichen Gewitterwolken über der Theatinerstraße betrachtet. In seiner Phantasie vollzieht sich der »bruciamento delle vanit—« auf dem Odeonsplatz: Er sah auf der Mosaikfläche vor der großen Loggia die Eitelkeiten der Welt, die Maskenkostüme der Künstlerfeste, die Zierate, Vasen, Schmuckstücke und Stilgegenstände, die nackten Statuen und Frauenbüsten, die malerischen Wiedergeburten des Heidentums, die Porträts der berühmten Schönheiten von Meisterhand, die üppig ausgestatteten Liebesverse und Propagandaschriften der Kunst pyramidenartig aufgetürmt und unter dem Jubelgeschrei des durch seine furchtbaren Worte geknechteten Volkes in prasselnde Flammen aufgehen …21

18 Aus Notizbuch I, 182 zit. Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Heinrich Detering u. a. Frankfurt a. M. 2001 ff. [im Folgenden: GKFA], Bd. 2.2, 108. 19 Zur Savonarola-Rezeption Thomas Manns vgl. Ernest M. Wolf: Savonarola in München – eine Analyse von Thomas Manns Gladius Dei. In: Euphorion 64 (1970), 85–96; Peter Philipp Riedl: Epochenbilder – Künstlertypologien. Frankfurt a. M. 2005, 381–405. 20 Pasquale Villari: Geschichte Girolamo Savonarola’s und seiner Zeit. Übers. v. Moritz Berduschek. Leipzig 1868, 113. Vgl. GKFA Bd. 2.2, 113f. 21 GKFA Bd. 2.1, 241f.

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Es entspricht nun ganz der Ironie als Grundprinzip des Thomas Mann’schen Erzählens, dass sich diese Allmachtsphantasie im Kopfe eines selbsternannten Propheten abspielt, der sich gerade mühsam vom Pflaster der Straße erhebt, auf das ihn der Fleischberg Krauthuber auf Weisung Blüthenzweigs unsanft befördert hat – ein doch recht dürftiges Ergebnis der ›Bußpredigt‹ im Laden, die Hieronymus, der mit seinem historischen Vorbild Savonarola sowohl den Vornamen und die Mönchskutte als auch die detailliert beschriebene Physiognomie teilt, mit wahrhaft christushafter Gebärde abgeschlossen hat: »›Verbrennen Sie alles, was Ihr Laden birgt, Herr Blüthenzweig, denn es ist ein Unrat in Gottes Augen! Verbrennen, verbrennen, verbrennen Sie es! […] Ich aber sage Ihnen …‹«22 Dieser Prediger wirkt wie eine Parodie der florentinischen und biblischen Prätexte.23 Ähnlich wie Heym konzentriert Thomas Mann das novellistische Geschehen auf den Kampf des modernen Savonarola mit der Kunst. Ähnlich wie jener isoliert er den Protagonisten zum Einzelgänger und Außenseiter mit (hier erst teilweise24) pathologischen Zügen. Er wird gleichsam auf einen vollständig verlorenen Posten gestellt. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich allerdings daraus, dass die antagonistische Außenwelt, die bei Heym auch infolge der internen Fokalisierung der Erzählung höchst blass bleibt, dank Manns auktorialer Erzählweise luzide hervortritt: »München leuchtete.« Die Formel, die inzwischen schon in die Tourismuswerbung der bayerischen Metropole eingedrungen ist,25 bezeichnet in Gladius Dei jedoch einen durchaus fragwürdigen Zustand – nämlich jene ästhetizistische Erregbarkeit, in der alles, was auch nur von Fern auf Kunst oder äußerliche Schönheit Bezug hat, einen singulären Stellenwert einnimmt. Der protestantisch-hanseatisch sozialisierte Autor hat hier einiges von dem thematisiert oder jedenfalls angedeutet, was ihm am »unliterarischen« Charakter der katholischen Residenz- und Kunststadt zeitlebens fremd war und blieb.26 Es war ungefähr dasselbe, was sich mit dem zeitgenössischen Schlagwort »Isar-Athen« verband, das Thomas Mann sich als »Isar-Florenz« übersetzte; die diskrete Affinität zwischen München und Florenz gehört zu den entscheidenden Prämissen von Gladius Dei und wurde im Erstdruck zusätzlich durch die Widmung verstärkt.27 Gleichzeitig bezeichnet die Novelle damit höchst präzis allgemeinere Ten22 GKFA Bd. 2.1, 240. 23 Vgl. Joachim Wich: Thomas Manns Gladius Dei als Parodie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 22 (1972), 389–400. 24 Vgl. GKFA Bd. 2.1, 241: »und seine Augen, von Glut umzogen, schweiften irr und ekstatisch über den schönen Platz.« 25 GKFA Bd. 2.2, 114f. 26 Vgl. GKFA Bd. 2.2, 106f. 27 »To M. in remembrance of our days in Florence« (GKFA Bd. 2.1, 222; vgl. Bd. 2.2, 114).

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denzen, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts epochale Repräsentativität beanspruchen durften. Der Jugendstil mit seinem Anspruch auf ästhetische Umgestaltung weiter Lebensbereiche stand damals auf seinem Höhepunkt – und bereitete auch Wiener Kollegen wie Karl Kraus oder Adolf Loos erhebliches Kopfzerbrechen. Eine Art visual oder pictorial turn schien die Literatur zu ergreifen,28 wie man nicht zuletzt an der stark vom Ästhetizismus geprägten Göttinnen-Trilogie Heinrich Manns ablesen kann. Wenn das aber richtig ist, kann an der diesbezüglichen Skepsis des jüngeren Bruders kein Zweifel bestehen. Thomas Mann analysiert die Fragilität jener asketischen Ideale, für die in seiner Erzählung Hieronymus einsteht, gnadenlos mithilfe des von Nietzsche übernommenen psychologischen Instrumentariums und nutzt zugleich doch die Maske des »irr[en] und ekstatisch[en]«29 Mönchs zur Artikulation fundamentaler Vorbehalte gegenüber der Signatur seiner Epoche. Worüber regt sich Hieronymus eigentlich so auf ? Vor einem der Schaufenster von Blüthenzweigs Kunsthandlung drängen sich die Passanten, um einen Blick auf ein Bild zu erhaschen, das auf der jüngsten Kunstausstellung Furore gemacht hat: Es war eine Madonna, eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit. Die Gestalt der heiligen Gebärerin war von berückender Weiblichkeit, entblößt und schön. Ihre großen, schwülen Augen waren dunkel umrändert, und ihre delikat und seltsam lächelnden Lippen standen halb geöffnet. Ihre schmalen, ein wenig nervös und krampfhaft gruppierten Finger umfassten die Hüfte des Kindes, eines nackten Knaben von distinguierter und fast primitiver Schlankheit, der mit ihrer Brust spielte und dabei seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer gerichtet hielt.30

Bezeichnenderweise ist es bis heute nicht gelungen – und es wird wohl auch nie gelingen –, ein eindeutiges Vorbild dieser ›Blüthenzweig-Madonna‹ zu benennen.31 Thomas Mann kontaminiert ikonographische Traditionen, die uns aus der Renaissance-Malerei geläufig sind, mit Tendenzen der modernen Malerei (schwül, nervös) sowie mit Reminiszenzen an aktuelle Erwerbungen der Neuen Pinakothek. Er muss sich dabei umso weniger um kunsthistorisch korrekte Angaben bemühen, als der Blick seines Protagonisten ja ein völlig ungeschulter 28 Vgl. u. a. Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991; Walter Schmitz: Erzählte Bilder. Zum Verschwinden des Auratischen in der Literatur der Moderne um 1900. In: Gerd Labroisse u. Dick van Stekelenburg (Hg.): Das Sprachbild als intertextuelle Interaktion. Amsterdam 1999, 189–232. 29 S. o. Anm. 24. 30 GKFA Bd. 2.1, 228. 31 Vgl. Eva-Monika Turck: Das Vorbild der »Madonna mit Kind« in der Novelle Gladius Dei von Thomas Mann. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 53 (2003), 241–247. Den dort genannten Modellen (Franz von Stuck: Die Sünde; Murillo: Madonna con bambino) stellt die Kommentierte Ausgabe mit der Abbildung von Gabriel Max’ Madonnenbild ein weiteres an die Seite (GKFA Bd. 2.2, 120).

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ist; wie der Dieb in Heyms Novelle lässt sich Hieronymus ganz direkt von der Erotik des Bildgegenstands affizieren, in dieser sexualistischen Adaption zusätzlich bestärkt durch den frivolen Dialog zweier »humanistisch gebildete[r]« junger Männer über das »bedenkliche[ ] Weib«, das Modell und sein Verhältnis zum Maler etc.32 Diese narrative Konstellation wirkt wie ein Schulbeispiel für einen Diskurs, der zur Entstehungszeit 1901 seinen Höhepunkt erreichte: nämlich die jahrelangen Auseinandersetzungen um die sogenannte Lex Heinze, eine letztlich vom Reichstag abgelehnte Verschärfung der Gesetze gegen Unzucht und Zuhälterei, die u. a. auch pornographisch rezipierbare Schaufensterauslagen betraf.33 Dass Thomas Mann von diesen Diskussionen bei der Abfassung der Novelle zumindest tangiert war,34 zeigt sich in einem meist unterschätzten Detail.35 Das Madonnenbild, das zum Auslöser von Hieronymus’ Erregung und Empörung wird, ist ja kein Original, sondern eine für den gewerblichen Vertrieb erzeugte Reproduktion, zum stattlichen Preis übrigens von 70 Reichsmark: »Die große, rötlichbraune Photographie stand, mit äußerstem Geschmack in Altgold gerahmt, auf einer Staffelei inmitten des Fensterraumes.«36 Stärker noch als beim Originalbild selbst, bei dem Gesichtspunkte wie die Freiheit des künstlerischen Schaffens Geltung beanspruchen, stellt sich bei seiner gewerblichen Vervielfältigung die Frage nach der Einhaltung ethischer Normen. Wenn Blüthenzweig etwa die Bronzestatuette eines »nackten kleinen Mädchens« mit dem Prädikat »[h]öchst anziehend und verlockend« anpreist und erfolgreich – übrigens an einen »[d]urabel gekleidet[en]« Engländer – verkauft,37 wird die Grenze zur Pornographie, vielleicht sogar zur Päderastie, gestreift. Dass Blüthenzweig, die Verkörperung des Kunsthandels in dieser Erzählung, unübersehbar als jüdisch markiert ist,38 trägt nicht gerade zur Entschärfung dieser Problematik bei. 32 GKFA Bd. 2.1, 229. 33 Vgl. Tilmann Wesolowski: Chancen und Grenzen der intellektuellen politischen Einflussnahme im Kaiserreich, dargestellt am Fall der »lex Heinze«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), 152–167. 34 Vgl. Wolfgang Frühwald: Der christliche Jüngling im Kunstladen. Milieu- und Stilparodie in Thomas Manns Erzählung Gladius Dei. In: Günter Schnitzler (Hg.): Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann. München 1980, 324–342, hier 331f.; Stephan Füssel: Thomas Manns Gladius Dei (1902) und die Zensurdebatte des Kaiserreichs. In: Gerhard Hahn u. Ernst Weber (Hg.): Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Regensburg 1994, 427–436; Stefan Pegatzky : Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann. Würzburg 2002, 372–390. 35 Vgl. aber die Ausführungen zur Photographie in: Schmitz: Erzählte Bilder (Anm. 28), 222f. 36 GKFA Bd. 2.1, 228. 37 GKFA Bd. 2.1, 232f. 38 Vom Namen abgesehen, verdient im Rahmen des Rassendiskurses der Epoche das physiognomische Detail Berücksichtigung: »Seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe« (GKFA Bd. 2.1, 233).

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Vor solchem Hintergrund gewinnt der aussichtslose Protest des Münchner Savonarola eine unerwartet starke Legitimation, zumal sich sein Protest, wenn man genauer hinhört, weniger gegen die Kunst schlechthin als gegen ihre Entwertung zu einem oberflächlichen Schönheitskult richtet: Die Kunst ist kein gewissenloser Trug, der lockend zur Bekräftigung und Bestätigung des Lebens im Fleische reizt! Die Kunst ist die heilige Fackel, die barmherzig hineinleuchte in alle fürchterlichen Tiefen, in alle scham- und gramvollen Abgründe des Daseins; die Kunst ist das göttliche Feuer, das an die Welt gelegt werde, damit sie aufflamme und zergehe samt aller ihrer Schande und Marter in erlösendem Mitleid!39

Hier hören wir zweifellos die Stimme des Autors selbst. Sie ermutigt uns zu der Annahme, dass sich das, was sich hier bei Thomas Mann beobachten lässt, auch bei anderen Autoren seiner Generation (im weitesten Sinn) findet. Nämlich dass Schriftsteller, die als solche persönlich meist in keiner besonderen Weise religiös gebunden oder engagiert sind, durch eine religiöse Thematik zu Reflexionen über die Funktion oder die Grenzen der Kunst motiviert werden und dass dabei vielfach Werke der bildenden Kunst, insbesondere der Sakralkunst, als Auslöser dienen. Hinter der Frage, inwieweit sich ein bestimmtes Werk als heiliges oder Kultbild qualifiziert, stehen letzten Endes so grundsätzliche Fragen wie die nach der Abbildbarkeit Gottes oder des Bilderverbots – Fragen, die sich selbstverständlich hier ebenso wenig beantworten lassen, wie das die behandelten Autoren definitiv getan haben, die aber den anzuführenden Texten eine gewisse Grundsätzlichkeit und ein prinzipielles Interesse verleihen. Bei der Materialrecherche stellte sich übrigens heraus, dass die interessantesten einschlägigen Bezüge gerade nicht da zu finden waren, wo man sie auf der Suche nach Vermittlungen von Religion und Literatur vielleicht zuerst vermutet hätte, also im engeren Umkreis der Kunstreligion um 1900, bei Stefan George oder seinen Schülern. Stattdessen erwiesen sich Autoren als fruchtbar, die mehr oder weniger stark vom Naturalismus und Expressionismus als den beiden dominanten dem Höhepunkt der Kunstreligion zeitlich benachbarten (vorausgehenden bzw. nachfolgenden) Strömungen beeinflusst waren. Beiden Richtungen eignet ja ein gewisses Aufbruchspotenzial, ein Impuls zur Übernahme sozialer Verantwortung, und es mag auch damit zusammenhängen, dass die Figur des Messias oder ihm nahestehender Erlöser in der literarischen Produktion beider Schulen besonderes Gewicht erlangt40 – auch und gerade im Prisma der »Bilder«.41 39 GKFA Bd. 2.1, 238. 40 Vgl. Hans Hinterhäuser : Die Christusgestalt in Roman des Fin de siÀcle. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 198 (1962), 1–21. Wieder u. d. T. Doppelgänger Christi. In: ders.: Fin de SiÀcle. Gestalten und Mythen. München 1977, 13–43; Helmut Scheuer : Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900. In: Bauer u. a. (Hg.): Fin de SiÀcle

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Es sind drei Gesichtspunkte, nach denen sich unsere Beobachtungen ordnen: 1. Medienkonkurrenz – 2. Konfessionelle Differenzen – 3. Gender-Aspekte.

1.

Medienkonkurrenz

Torsten Hoffmann liest den inneren Kampf von Heyms Gemäldedieb als eine sehr spezifische, sexuell aufgeladene Variante des Paragone, des Wettstreits um den Vorrang der Künste: Mit dem Textmedium Bibel im Kopf wendet sich der männliche Täter im Auftrag eines Vatergottes gegen die Präsenz von Weiblichkeit im Bild.42 Nachdem er sich in den Besitz des Letzteren gebracht hat, ergreift allerdings umgekehrt die der Frau zugeschriebene Sexualität von ihm Besitz und er wirft auf dem Höhepunkt seiner Verliebtheit die Bibel mit großer Geste aus dem Fenster. Wie wir wissen, bleibt es jedoch nicht bei diesem Sieg des Bildes – die Erzählung endet mit dessen Untergang. Ergänzend sei hier unter dem Stichwort »Medienkonkurrenz« auf zwei Texte hingewiesen, die in auffälliger Weise die Beliebigkeit oder Hinfälligkeit visueller Abbildungen der Heilsgeschichte thematisieren und damit indirekt eine Überlegenheit der Literatur im Hinblick auf die Herstellung religiöser Bezüge statuieren. Das erste Beispiel entstammt der Hochkonjunktur des »konsequenten Naturalismus«. Es handelt sich um Die papierne Passion, einen experimentellen Text auf der Grenze zwischen Prosa und Dramatik, den Arno Holz und Johannes Schlaf 1890 als Gemeinschaftswerk in der Zeitschrift Freie Bühne publizierten.43 Er lässt sich als Milieustudie beschreiben in ostentativer Überschneidung mit Motivkreis und Figurenarsenal der gleichfalls von Holz und Schlaf verfassten, praktisch zeitgleich44 vom Theaterverein Freie Bühne uraufgeführten Familie Selicke. Vordergründig wird uns in dialogischer Form, wobei der Erzählerkommentar die Gestalt von Regieanweisungen annimmt, ein Abendbrot mit Kartoffelpuffern in der Küche einer Berliner Wohnung vorgeführt: Die Witwe

41 42 43 44

(Anm. 6), 378–402; Uwe Kächler : Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus. Mit einem bibliographischen Anhang: Primärtexte, zeitgenössische Rezensionen, Sekundärliteratur. Frankfurt a. M. 1993; Elisabeth Hurth: Der neue Heiland. Aspekte der Jesusroman-Literatur um 1900. In: Wirkendes Wort 43 (1993), 575–592. Anregungen verdanke ich den Diskussionen in meinem Hauptseminar »Messianisches Erzählen um 1900« (Freie Universität Berlin, Wintersemester 2012/13), insbesondere Herrn Mirko Lux. Hoffmann: Funktionen (Anm. 17), 309–317; vgl. insbes. 312: »Dem Bündnis von ›Teuflin‹, Frau und Bild setzt der Text eine Allianz von Gott, Mann und Sprache entgegen.« Arno Holz u. Johannes Schlaf: Die papierne Passion (Olle Kopelke). In: Freie Bühne 1, H. 9 vom 02. 04. 1890, 274–288. Wieder in: dies.: Neue Gleise. Berlin 1892, 7–35. Im Folgenden zitiert nach: Gerhard Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus. Stuttgart 1973, 97–122. Die Erzählung erschien am 02. 04. 1890, die mehrfach verschobene Uraufführung fand am 07. 04. 1890 statt.

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Abendroth hat außer ihrer frühreifen und von sittlicher Verderbnis bedrohten Tochter zwei Untermieter sowie den alten Hausfreund Kopelke zu verköstigen. In einer teichoskopischen Erweiterung wird darüber hinaus – und zwar erheblich deutlicher als im Drama – die proletarische Sphäre einbezogen. Man hört den Maschinenrhythmus der Fabrik auf dem Hinterhof und die Schreie und das Stimmengewirr im Zusammenhang mit der brutalen Misshandlung einer Arbeiterfrau durch ihren alkoholabhängigen Mann und dem dadurch ausgelösten Eingreifen der Polizei. Zweifellos ist der hier angedeutete Beinahe-Totschlag als zentrales Exempel der im Titel angekündigten »Passion« zu verstehen. Damit wir es auf keinen Fall übersehen, wird das sich auf dem Hinterhof abspielende Leidensgeschehen durch einen Passions-Diskurs in der vordergründigen Küchenunterhaltung gerahmt. Der aus Familie Selicke bekannte (und schon im Untertitel hervorgehobene) »olle Kopelke« führt hier ein Kunststück vor, das ihm in seiner lange zurückliegenden Studentenzeit fast eine Tracht Prügel seitens der Kommilitonen von der theologischen Fakultät eingebracht hat. Er kann nämlich das »Leiden Christi« aus Papier schneiden, was er auf Bitten der halbwüchsigen Wally auch sofort zu demonstrieren bereit ist, unter Verwendung eines schon verstaubten Lokalanzeigers und begleitet von zahlreichen Erklärungen des Künstlers: Mitten in den freigewordenen Raum der Tischplatte legt er einen großen Papierschnitzel, der wie ein Kreuz aussieht. Jetzt hustet er und räuspert sich ein paarmal pathetisch: »Sehn Se, meine Herrschaften! Det is det Kreiz unsers Herrn Jesus Jristus! Det Kreiz, an den er jahangen hat, un an den se ihn den Essigschwamm reichten.« »Hoho! Mutter! Det soll der Herr Jristus sind! Seh mal! Is jo janich mal’n Herr Jristus dran!« Wally kichert. »Det hier …« Olle Kopelke hat zwei andere Schnitzel aufgeknipst und mit den Spitzen unter dem Kreuze gegeneinandergelegt. »Det hier is Joljatha, jenannt de Schädelstätte! Se wissen doch!« Mutter Abendroth’n sieht ihm über die Schultern zu. Sie hat sich einen Puffer zusammengerollt und kaut behaglich. »Un dies hier …«45

An dieser Stelle wird die Vorführung durch die Ereignisse auf dem Hinterhof unterbrochen; nach der Abführung des Missetäters führt Kopelke sie jedoch umgehend fort, bei nachlassendem Interesse Wallys allerdings. Der ikonoklastische Generalangriff, zu dem sie aus Langeweile ausholt, wird mit erstaunlicher

45 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 117f.

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Gelassenheit aufgenommen. Man beachte den Schluss der wesentlich umfangreicheren Passage: »[…] … Seh’n Se, da hab’n Se de janze Passion aus Papier geschnitzt! Is’n janz hibschet Kunststickchen un paßt allens janz jenau!« Wally ist wieder zum Tisch gekommen und hat sich Olle Kopelke auf die Schulter gelehnt. Sie pustet jetzt mitten in die Schnitzel hinein. Sie fliegen über den ganzen Tisch auseinander. Ein paar wirbeln weiß in der halbdunklen Küche umher. Nur das Kreuz ist schief mitten auf dem Tische liegengeblieben. »Kind! Du bist doch aber ooch zu unjezogen! Haste wieder det janze Leiden Jristi auseinanderjepust’t!« Wally lacht. Olle Kopelke kneift sich aus dem Kreuze einen Fidibus. Er zündet ihn über der Lampe an und setzt damit seine Zigarre wieder in Brand. – Herr Haase dreht stumpfsinnig die beiden Jünger von Emmaus zwischen den Fingern umher.46

Das Heft der Freien Bühne mit dem Erstdruck der Papiernen Passion erschien in der Karwoche; am Ostermontag folgte die Uraufführung der Familie Selicke, deren Handlung sich bekanntlich vom Heiligen Abend zum ersten Weihnachtstag erstreckt und die als akustisch-symbolischen Hintergrund sogar die Glocken des Weihnachtsgottesdienstes mit einbezieht. Auch im Hinblick auf Papa Hamlet, ein früheres Gemeinschaftswerk von Holz und Schlaf, darf man wohl die Vermutung äußern, dass gerade der konsequente Naturalismus das Bedürfnis verspürt, die minutiöse Hinwendung zu einer kontingenten Alltagswirklichkeit durch den Bezug auf religiöse oder literarische Zeichensysteme zu kompensieren, die sich zwar angesichts der Realitäten des modernen Lebens mehr oder weniger als überholt erweisen, aber doch einen bildhaften Verweisungszusammenhang konstituieren, den die ausschließliche Mimesis der äußeren Realität allein nicht herstellen könnte.47 Die hier angedeutete Nähe der Papiernen Passion zur Kunsttheorie von Arno Holz bestätigt sich, wenn man bedenkt, dass dieser auch in seiner Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze ein primitives Beispiel bildkünstlerischer Gestaltung bemüht: nämlich jene Kreidezeichnung eines »Suldaten«, der nur aufgrund einer entsprechenden Erklärung des kindlichen Künstlers als solcher erkennbar ist.48 Gleiches trifft ja im Grunde auch für Kopelkes Papierschnitzel zu; das ständig wiederholte »Sehn Se« des Schnitzelschneiders signalisiert in Wahrheit den Abstand zwischen seinem mit ungeeignetem Material und primitivster Technik hergestellten »Bild« vom intendierten Gegenstand. Indem hier viele Worte bemüht werden müssen, um die Defizite der visuellen Darstellung 46 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 121f. 47 Vgl. Peter Sprengel: Hamlet in Papa Hamlet. Zur Funktion des Zitats im Naturalismus. In: Literatur für Leser 7 (1984), 25–43. 48 Vgl. Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. Berlin 1891 [1890], 108.

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auszugleichen, deutet sich zugleich so etwas wie eine Überlegenheit des literarischen Mediums an. Das mit den Mitteln des avanciertesten Naturalismus hergestellte literarische Alltagsbild ist die wahre »papierne Passion«, dem darin nacherzählten Papierausschneidekunststück kategorial überlegen. Im Lichte desselben Paragone lässt sich auch Oskar Panizzas Wachsfigurenkabinett betrachten. Der Text ist im gleichen Jahr 1890 erschienen wie Die papierne Passion und folgt in Gerhard Schulz’ Sammlung Prosa des Naturalismus direkt auf sie.49 Dennoch steht er schon deshalb in anderen Zusammenhängen, weil die religiöse Thematik für den Außenseiter der Münchner Moderne und angehenden Verfasser des Liebeskonzils,50 der eine einjährige Haftstrafe wegen Blasphemie absitzen sollte, einen ganz anderen Stellenwert besaß als für den letztlich areligiösen Empiriker aus Berlin (wenn man hier Arno Holz in den Vordergrund stellen darf). Auch in der Erzählung Die Wallfahrt nach Andechs unterwarf Panizza, der eine protestantisch-pietistische Erziehung genossen hatte, das Erscheinungsbild des Katholizismus einer gnadenlosen satirischen Kritik.51 Nirgends aber wohl tritt das Missverhältnis zwischen der christlichen Botschaft und den äußeren Formen ihrer Vermittlung so scharf hervor wie in seiner Beschreibung einer Aufführung der Passionsgeschichte mit Wachsfiguren (und menschlichen Komparsen) auf dem Nürnberger Jahrmarkt. Das Wachsfigurenkabinett sprengt insofern etwas den Rahmen unserer Betrachtungen, als darin auch ausgesprochen theatrale Gesichtspunkte thematisiert werden wie die Anordnung der Figuren, das Bühnenbild, einige wenige sprachliche Elemente und der rudimentäre Aufbau einer dramatischen Handlung, bestehend aus den drei Stationen: Abendmahl, Kreuztragung, Golgatha, schließlich auch die Umstände des Einlasses, der Pausen, die Zusammensetzung und die in eine wütende Revolte mündenden Reaktionen des Publikums. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Panizza den technischen Finessen der Wachsfiguren, die verschiedene Bewegungen in steter Wiederholung reproduzieren und z. T. sogar einzelne Laute sprechen können – so z. B. die ChristusFigur ein »Nja«, über dessen mechanische Realisierung sich der Erzähler fast eine Seite lang verbreitet.52 Andererseits ist schon aufgrund der wesentlichen Statik der Wachsfiguren klar, dass sie zunächst wie Bilder wirken. Ausdrücklich hebt denn auch die Beschreibung des I. Aktes die Vorbildrolle von Leonardos 49 Oskar Panizza: Das Wachsfigurenkabinett. In: ders.: Dämmrungsstücke. Leipzig [1890], 3–48. Im Folgenden zitiert nach: Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 97–122. 50 Oskar Panizza: Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen. Zürich 1895 [1894]. 51 Oskar Panizza: Die Wallfahrt nach Andechs. Ein oberbairisches Sittenbild. In: Der Zuschauer. Monatsschrift für Kunst, Litteratur und Kritik 2, Nr. 23 vom 01. 12. 1894, 496–505, u. Nr. 24 vom 15. 12. 1894, 543–555. 52 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 125f.

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Abendmahlsbild hervor. Beim II. Akt beschränkt sich das dramatische Geschehen darauf, dass der kreuztragende Christus quer über die Bühne gezogen wird, sodass wiederum die gleichbleibend-bildlichen Qualitäten den Eindruck bestimmen: Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes, bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen BühnenEinschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war der Kopf in einer ganzen Viertelsdrehung nach links zum Publikum hinaus gedreht und außerdem noch so weit zur Schulter hinauf gehoben, daß die Augen fast waagerecht zu liegen kamen; und schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer andern milden Gelegenheit gefrornen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus; eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte.53

Der Illusionismus der Aufführung schlägt allerdings ins Gegenteil um, wenn im Golgatha-Akt eine Zuschauerin gegen die »Christus-Schinder« auf der Bühne revoltiert.54 Es kommt zu einer »förmlichen Rauferei«, aus der wohl noch ernstere Konsequenzen hervorgegangen wären, wenn nicht die Kassiererin, die eben noch auf der Bühne Maria Magdalena verkörpert hatte, plötzlich das Tageslicht hereingelassen hätte. Fluchtartig verlässt daraufhin das Publikum den Raum, während »von hinten […] die Christus-Leiche starr und wächsern hervorglänzte«.55 Auch hier behält die Literatur das letzte Wort, während die visuelle Präsentation in einem Fiasko untergeht.

2.

Konfessionelle Differenzen

Wachsfigurenkabinette mit Passionsprogramm scheinen damals eine mittelfränkische Spezialität gewesen zu sein. Denn auch in Jakob Wassermanns frühem Roman Die Juden von Zirndorf (1897) kommt eine solche Schaubude vor – zwar nicht auf dem Nürnberger Markt, aber doch in unmittelbarer Nachbarschaft, nämlich im Rahmen eines Kirchweihfestes auf der Königstraße von Fürth. »Hier kann man sehen die Passion Christi, unseres Heilands, in siebzehn 53 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 137. 54 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 147. 55 Schulz (Hg.): Prosa des Naturalismus (Anm. 43), 149.

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Stationen, – großartig, meine Damen und Herren, großartig!« Diesen Worten des Ausrufers kann Wassermanns Protagonist nicht widerstehen: Wie von einer Faust gestoßen, bestieg Agathon das Podium, zahlte zwanzig Pfennige, das einzige Geldstück, das er besaß, und verschwand hastig hinter dem braunen Vorhang. Tiefaufatmend stand er in der dumpfen Luft des Innenraumes. […] Gegen eine scharlachrote Wand hoben sich die Gruppen der Leidensstationen ab. Das gleichmäßige und beruhigende Licht milderte das Starre der Wachsgebilde. Es war etwas Erhabenes und Heiliges über den Gestalten, ferne Zeiten stiegen langsam herauf, und es war, als ob die Schicksalsgöttin selbst träumend die Augen aufschlüge. Das ist also der Heiland, dachte Agathon befremdet, als er vor dem Bild der Kreuzabnahme stand. Er preßte die Hände zusammen und dachte nach. Freunde und Eltern kamen wie eine Reihe vorbereiteter Wandelfiguren an ihm vorbei und die toten Gebilde vor ihm wurden mitlebendig. Er lächelte traurig und begriff, daß er um etwas betrogen worden war, ohne daß er es hatte hindern können.56

Das Lebendigwerden der Wachsfiguren vor Agathons geistigem Auge steht in engem Zusammenhang mit seiner Emanzipation vom Glauben des Elternhauses, seiner Entwicklung, um mit Wassermann selbst zu sprechen, »als Deutscher und Jude«.57 Schon beim vorherigen Gang durch das Judenviertel war ihm »die Judenreligion« als »etwas Totes« erschienen, »etwas nicht mehr zu Erweckendes, Steinernes, Gespensterhaftes«; der anschließende Besuch in der Clauß-Synagoge bestätigt den Eindruck: »Nachdenklich blickte Agathon in die verbissenen, steinernen Gesichter, die voll waren von einer jahrhundertalten Grausamkeit, voll Haß, Erbitterung und zelotischem Glaubenseifer.«58 Demgegenüber erhält noch das tödliche Leiden Jesu Christi, und selbst in der Wiedergabe durch Wachsfiguren, einen vitalistisch-zukunftsverheißenden Aspekt! Vor dem Hintergrund des Bilderverbots des Alten Testaments bedeutet der Akt einer vermenschlichenden Darstellung ebenso wie die Menschwerdung Gottes eine Annäherung an das Leben. Schon acht Jahre zuvor schildert Max Kretzers Roman Die Bergpredigt (1889) die Annäherung eines jüdischen Menschen an das Christentum als Überwältigung durch eine Bildvision. Josepha, die im Laufe des Romans getauft wird, ist die uneheliche Tochter eines protestantischen Pfarrers und einer jüdischen Mutter. Sie ist ohne Kenntnis ihres leiblichen Vaters aufgewachsen und erleidet 56 Jakob Wassermann: Die Juden von Zirndorf. Roman. Mit Nachw. v. Gunnar Och. München 1996, 87. 57 Vgl. Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. Hg. v. Rudolf Wolff. Berlin 1987, sowie zur deutsch-jüdischen Standortbestimmung des Autors: Hans Otto Horch: »Verbrannt wird auf alle Fälle …« Juden und Judentum im Werk Jakob Wassermanns. In: Gunter E. Grimm u. Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Königstein/Ts. 1985, 124–146. 58 Wassermann: Die Juden von Zirndorf (Anm. 56), 86 u. 88.

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an einem kalten Regenabend auf einer Berliner Straße – gegenüber (das ist nicht unwichtig) einer altersgeschwärzten Kirchenfassade – einen Schwächeanfall, bei dem ihr der neue Pfarrer zu Hilfe kommt. »Eine tolle Phantasie kam über sie«, die uns der Erzähler folgendermaßen erklärt: Ihre verstorbene Mutter hatte einen Produktenkeller besessen. In diesem Raume hatte sich ein einziges Bild befunden, das den Heiland darstellte, wie er segnend die Hände ausstreckte. Es war bunt und grell gemalt, aber unauslöschlich war es in Josephas Gedächtniß geprägt, und oft hatte sie als Kind davor gestanden und die beiden Worte »Jesus Christus« buchstabirt. »Er wird kommen und den Armen helfen,« hatte ihre Mutter oft gesagt. Und diese Erinnerung wurde plötzlich in Josepha wach. Sie bekam eine Vision. In ihren geschlossenen Augen spiegelte sich ein verklärtes, überirdisches Bild wieder [sic]. Der nasse, schmutzige Erdboden wurde zu einer Wolkenschicht voll warmer, röthlicher Farben; der armselige Schimmer der Laterne zu einer Flut hellleuchtender Strahlen, hinter welcher ein Meer des Lichts sich ausbreitete. Nur die schwarze Riesenmauer der Kirche war dieselbe geblieben, von der sich Alles blendend abhob. Und inmitten dieses Lichtglanzes erblickte die frierende Josepha den Mann vor sich thronend auf den Wolken, in lang herabfallender, blauer Gewandung. Ein Heiligenschein umgab sein Haupt, wie segnend streckte er die Hände aus und sprach die Worte: »Ich bin nicht gekommen, die Seelen zu verderben, sondern sie zu erretten.« Josephas blasses Gesicht sank hinten über, der Körper verlor seinen Halt, ein Schauer ging durch ihre Glieder, und leise stammelten ihre Lippen das Wort: »Christus.« Dem Ohr des Mannes klang es wie ein Seufzer nach Erlösung.59

Der »Mann«, der sich hier fast indiskret in Josephas persönlichste Phantasien zu drängen scheint, ist der Protagonist des Romans – in der Tat gekommen, um den Armen zu helfen, aber gerade deshalb letztlich nicht geeignet, um in der von konservativen Orthodoxen wie dem Hofprediger Adolf Stoecker60 beherrschten Landeskirche zu reüssieren. Die erotische Konstellation, die sich in der Koinzidenz von Josephas spirituellen Retterphantasien und seiner praktischen Hilfeleistung andeutet, findet übrigens in der Folgehandlung keinerlei Bestätigung. Man kennt die Erotisierung der Beziehung zum Retter und Heiland aus den Fieberphantasien des sterbenden Hannele in Gerhart Hauptmanns vier Jahre später entstandenem Drama (Hanneles Himmelfahrt, 1893). Dort trägt der Fremde, mit dem sie im Jenseits die himmlische Hochzeit feiert, bekanntlich die Züge des Dorfschullehrers, der die Ertrinkende aus dem Teich gerettet hat. Das außerhalb unseres eigentlichen Themenkreises liegende Beispiel aus dem dramatischen Genre verdient insofern Erwähnung, als gegen Hauptmanns Schauspiel ähnliche Vorwürfe der Sentimentalisierung, ja des Kitsches erhoben wur-

59 Max Kretzer : Die Bergpredigt. Roman aus der Gegenwart. 4. Aufl. Leipzig o. J., 7f. 60 Unzweifelhaftes Vorbild der Figur des »Hofpredigers« in Kretzers Roman.

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den,61 wie sie sich angesichts der zitierten Passage aus Kretzers Bergpredigt aufdrängen. Hierzu ist zweierlei zu bemerken. Auf der einen Seite versuchen sowohl der Romancier als auch der Dramatiker entsprechend der mimetischen Zielsetzung des Naturalismus, Träume oder Visionen nachzugestalten, wie sie in dieser Form ein ungebildetes Mädchen aus dem sogenannten Volke haben könnte. Nicht zufällig ist es daher eine billige Reproduktion eines Heilandsbildes, an der sich Josephas Phantasie orientiert, die sich insgesamt kaum über die Qualität solcher populären Bildmedien erhebt. Andererseits sind Hauptmann wie Kretzer offenkundig durch einen Maler beeinflusst, der die traditionelle Ikonographie von Christusdarstellungen mit einem gewissen zeitgenössischen Realismus verband: Fritz von Uhde nämlich, der schon 1887 eine Bergpredigt gemalt hatte und den biblischen Heiland vorzugsweise mit Kindern (und zwar Kindern der Gegenwart) umgab.62 Kretzers späterer Roman Das Gesicht Christi (1896) beginnt mit dem Satz: »Die Kinder erkannten ihn zuerst.«63 Es sind die Kinder des arbeitslosen Arbeiters Andorf, die angesichts der Erscheinung des Erlösers spontan »Herr Jesus!« ausrufen – während die vom atheistischen Zeitgeist verhetzten Erwachsenen ihn auch dann nicht richtig erkennen (sondern hämisch verspotten), als er sich »in dunkelm Gewande, allen sichtbar und erkennbar«64, in die kleine Prozession hinter dem Sarg von Andorfs jüngstem Kind eingliedert. Wie ein frivoles Gegenstück zu Kretzers die Konversion vorwegnehmender Bildvision einer Jüdin wirkt eine im Vorfeld der eigentlichen Handlung angesiedelte Episode in Bierbaums ironischem Entwicklungs- und Gesellschaftsroman Prinz Kuckuck (1907): nämlich der »Antrittsbesuch« der so schönen wie lebenslustigen selbstbewussten Jüdin Sara »bei der berühmtesten Dresdnerin […], deren erlauchte italienische Herkunft zweifellos ist: bei der Sixtinischen Madonna«: Die schöne Jüdin […] ließ sich mit einem knisternden Aufbauschen ihres dunkelgrün seidenen Reifrockes in einem Fauteuil dem Bilde gegenüber nieder, erhob ihren schönen, mit vollgerundeten, schwermütig schwankenden Schmachtlocken frisierten Kopf zu dem Gemälde und führte das Lorgnon an die dunklen und durch unterlegtes 61 Vgl. Walther Killy : Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 81978, 156–158. 62 Hauptmann wünschte sich Uhde als Illustrator der Buchausgabe von Hanneles Himmelfahrt und beschäftigte sich zur Entstehungszeit mit Uhde-Bildern; vgl. Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie. München 2012, 240f., sowie zum kunsthistorischen Kontext J. A. Schmoll gen. Eisenwerth: Zur Christus-Darstellung um 1900. In: Bauer u. a. (Hg.): Fin de SiÀcle (Anm. 6), 403–420, u. Abbildungsteil G 1–G 39 63 Max Kretzer : Das Gesicht Christi. Roman aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts. Leipzig 8 1920, 1. 64 Kretzer : Das Gesicht Christi (Anm. 63), 162.

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Beinschwarz noch mehr gehobenen Augen. Ein wunderlicher Gegensatz, wie von Gavarni mit verruchter Raffiniertheit erfunden, diese beiden Frauenbilder einander vis-—-vis: Das lebendige, als ob es ein zwar amüsantes, aber freches Gespenst des Lebens wäre, und das aus der Kunst geborene, das fast als mehr wie Leben strahlte: als Lebensleuchten selber aus tiefster innigster Einfalt.65

Die Namensnennung des Karikaturisten Paul Gavarni deutet es an: Bierbaum zeichnet hier selbst eine allegorische Karikatur auf das Verhältnis von Kunst und Leben, eine Parodie zugleich auf die von Tizian her bekannte Konfrontation irdischer und himmlischer Liebe. Nur dass jetzt eben alle Transzendenz abgeschnitten wird: Saras Gedanken beschäftigen sich mit der Frage: »Wer hat mehr Ursache, stolz zu sein, als wir Jüdinnen? – Die schönste Römerin war dem größten Künstler Italiens gerade gut genug, eine Jüdin darzustellen … Tat er das wirklich aus – Religion?«66 In Zeiten fortschreitender Säkularisierung verlieren religiöse Bildinhalte ihre Bedeutung, drohen religiöse Empfindungen oder Wahrnehmungen überhaupt – das deutet sich schon bei Kretzer an – sich auf Kindheitserinnerungen zu beschränken oder zu solchen zu gerinnen. Dabei reichen Bildeindrücke naturgemäß weiter zurück als Leseerfahrungen: auch ein Grund dafür, dass in Paul Adlers Nämlich (1915) – dem jüngsten und im Hinblick auf seine modernistische Ästhetik wohl avanciertesten aller hier vorzustellenden Texte – Kindheitserinnerung und Bildgedächtnis untrennbar ineinander übergehen. Auch in diese Erzählung hat sich eine konfessionelle Differenz eingeschrieben. Dabei geht es jedoch nicht um den Gegensatz zwischen Judentum und Christentum, sondern um die Binnendifferenzierung zwischen protestantischer Bildarmut und katholischer Bildfreudigkeit. Der Ich-Erzähler Paul Sauler67 – die Namenskombination allein verweist schon auf einen Zwiespalt und die Tendenz zur Bekehrung – ist der Sohn eines deutschen Handlungsreisenden und einer Italienerin aus Parma und trägt seinen Vornamen nach dem Bruder der Mutter, einem klerikalen Abgeordneten. Dieser ist denn auch ursächlich in die Bereitstellung des Bildes verwickelt, das den mittlerweile 31-jährigen Sauler noch in seinen Wahnvorstellungen verfolgt. Über die Vorgeschichte erfahren wir zunächst: In der Kirche von San Salvatore (das ist zum heiligen Erlöser) in Parma befindet sich ein Gemälde von einem berühmten berüchtigten Maler, darauf Christus abgebildet ist, wie er den Teufel aus einem Besessenen austreibt. Von dieser Tafel hat meine Mutter 65 Otto Julius Bierbaum: Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. München/Wien 1980, 18. 66 Bierbaum: Prinz Kuckuck (Anm. 65), 19. 67 Zur Rekonstruktion des Namens vgl. Kristo Sˇagor : Totalität und Sprachspiel. Motivstrukturen in der Prosa Paul Adlers. Magisterarbeit Freie Universität Berlin 2012, 20–24.

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eine Nachbildung an der Wand hängen, als einzige Erinnerung an ihre Vaterstadt, vermutlich, daß sie der klerikale Onkel einmal in der Heimat bestellt hat.68

»Wäre der doch an seiner Kirchenwand in Parma geblieben!«, heißt es einige Seiten später. Es ist offenbar das Bildnis Jesu als Teufelsaustreiber, das den IchErzähler »von seinem beblümten Tapetengrund« bedroht69 und das sich übrigens ebenso hartnäckig allen Versuchen einer kunsthistorischen Identifikation widersetzt wie das Madonnenbild aus Gladius Dei.70 Vor der nächsten Referenz auf das Gemälde bzw. seine Kopie (denn auch hier haben wir es mit einer Reproduktion zu tun) ist eine Aufzeichnung über den Besuch in einer Kirche geschaltet, aus der deutlich genug die Distanz hervorgeht, in der Sauler zu den Ritualen des Christentums steht – er hat offenbar lange keinen Gottesdienst mehr besucht und vermag kaum noch zwischen einer katholischen und einer protestantischen Kirche zu unterscheiden:71 Ich war gestern als erwachsener Mensch, und ungenötigt, in einer Kirche; ich glaub, in einer protestantischen. Es zog mich an. Man geht auch in ein Zugstück. Der Mann oben über den Zuhörern las einiges, vermutlich aus den Evangelien. Dann erklärte er das Wort: Selig sind die Armen im Geiste. […] Man sang dann noch einige Lieder, doch die Orgel war schlecht.72

Auf das letzte Urteil ist wohl noch am meisten zu geben, denn Sauler ist Musiker. Er hat sich somit für eine Kunstform entschieden, der im protestantischen Kultus historisch größte Bedeutung zukam, und fürchtet die aus der katholischen Kirche importierte Visualität, wie aus der nachfolgenden Aufzeichnung hervorgeht: Angst, ich habe schreckliche Angst vor dir! Angst! Angst! Mann in dem Bilde! Willst du mich nicht loslassen mit deinem Blicke? Und weißt, daß man so über Schwächere Gewalt erhält! Ich bin keiner von deinen Besessenen […] Was hast du für einen Saugeist dort neben dir stehen? A. N. R.? – Da malt einer in Farben ein Bild, und einer nimmt es auf, und sie halten es für bloßes Spiel. Angst, mein Gott! Buchstaben und Bilder!73

Buchstaben und Bilder – sie sind hier wohl nicht im Sinne einer Alternative zu verstehen, wie in den obigen Ausführungen zur Medienkonkurrenz, sondern als etwas gemeinsam Beängstigendes. Dabei stellt die Buchstabenfolge ANR offenbar ein Element jenes um die zentrale Formel »Ahorn« geknüpften Laut- und Paul Adler : Nämlich. Dresden-Hellerau 1915, 10. Adler : Nämlich (Anm. 68), 19. Vgl. Sˇagor: Totalität (Anm. 67), 57. Vgl. auch das kirchenkritische Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Vor der Kirche und der gleichmacherischen Aufzählung »Katholiken, Lutheraner und Juden«: Adler : Nämlich (Anm. 68), 34. 72 Adler : Nämlich (Anm. 68), 21. 73 Adler : Nämlich (Anm. 68), 21f.

68 69 70 71

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Wortteppichs dar, der den geisteskranken Sauler wie eine Zwangsvorstellung verfolgt.74 Ob sie im Sinne einer Signatur mit dem Bild zu verbinden ist oder als Teil einer Bildinschrift (wie das ähnlich lautende »INRI« auf Kreuzigungsdarstellungen), bleibt dabei offen. Das Verhältnis Saulers zum Bild ist jedenfalls ein magisches, nicht unähnlich dem des Heym’schen Mona-Lisa-Diebs, der sich gleichfalls direkt durch den Bildinhalt bedroht sieht. Ist es dort die sexuelle Anfälligkeit, die der religiöse Fanatiker zunächst nicht anerkennen will, so ist es im Falle Saulers der Tatbestand der seelischen Erkrankung – er identifiziert sich offensichtlich mit dem »Saugeist« der Besessenheit im Kirchenbild und sieht sich doch gleichzeitig zunehmend als »Jesuskind«.75

3.

Gender-Aspekte

Wir nähern uns dem Schluss unseres Epochenüberblicks, wenn wir nach den Gender-Zuordnungen fragen, die sich mit der Erzählung von sakralen Bildern in der Literatur um 1900 verbinden. Dabei sei zunächst an einige Sätze von Walter Schmitz erinnert, der in einer thematisch verwandten Studie von 1999, die übrigens nachdrücklich auf Gladius Dei Bezug nimmt, das Verhältnis der Vertreter der literarischen Moderne zum Bild oder seiner kulturgeschichtlichen Konstruktion folgendermaßen umreißt: Das ›Bild‹ interpretieren sie als Vor-Zeichen einer möglichen Rückkehr zur sakralen Lebensordnung, zum Kult; die ›Aura‹ einmaliger und unvermittelter Präsenz des Schöpferischen setzt, so wünschen sie sich, darin einen Maßstab für das kleinlich komplexe und entfremdete Alltagsleben; »das Schönheit gewordene heilige Leben« erscheint im ›Bild‹.76

Dieses im Bild erscheinende »Schönheit gewordene heilige Leben« – ein Zitat übrigens, das Schmitz aus Bierbaums Prinz Kuckuck entnimmt – wird von den Autoren der Jahrhundertwende durchweg weiblich verstanden und dem künstlerischen Subjekt, das ebenso einheitlich und selbstverständlich als männlich aufgefasst wird, wie eine verführerische Geliebte oder Magna Mater gegenübergestellt. In Heyms Der Dieb und Thomas Manns Gladius Dei tritt diese Konstellation so deutlich hervor, dass jede nähere Explikation nur auf eine Wiederholung von schon Gesagtem hinauslaufen würde. Stattdessen sollen hier in aller gebotenen Kürze zwei wenig bekannte Texte vorgestellt werden, die in markanter Weise von derselben Polarität zwischen männlichem Gottsucher und weiblichem Bildidol beherrscht sind. Der histo74 Vgl. Sˇagor: Totalität (Anm. 67), 43–51. 75 Adler : Nämlich (Anm. 68), 95. 76 Schmitz: Erzählte Bilder (Anm. 28), 191.

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risch ältere ist Hans Lands Roman Der neue Gott (1891). Der dem Friedrichshagener Kreis nahestehende Autor77 schildert darin die Problematik eines Intellektuellen und Aristokraten, der sich dem Kampf der vom Sozialistengesetz kriminalisierten Arbeiterbewegung anschließt oder anschließen will, allerdings in entscheidenden Situationen nicht die Kraft oder das Augenmaß für eine nachhaltige Unterstützung aufbringt, ja in einem bestimmten Moment sogar zum Verräter am »neuen Gott« des Sozialismus, also zum Judas wird. Erst ganz am Ende der Romanhandlung bietet sich ihm eine Chance zur Wiedergutmachung; unter Aufopferung seines Lebens rettet er geheime Dokumente der Partei vor dem Zugriff der Polizei und erlangt somit wenigstens eine symbolische TeilIdentität mit der Messias-Rolle, die hier unterschwellig immer mit der Mission der Vorkämpfer des Sozialismus verbunden wird.78 Die bewussten Dokumente sind selbstverständlich schriftliche Unterlagen; von Anfang an wird in Lands Werk die politische Arbeit als männerbündisches Unternehmen dargestellt, das wesentlich literarisch strukturiert, also mit der Abfassung und dem Druck von Aufrufen, Wahlplakaten etc. verbunden ist.79 Lands Protagonist heißt Graf von der Haiden, geschrieben mit »ai«, was aber eine religiöse Deutung seines Namens – als Nicht-Gläubiger – keineswegs ausschließt. Die gebrochene Loyalität, die er gegenüber der männlich-schriftlichen Religion des »neuen Gottes« empfindet, zeigt sich jedenfalls schon darin, dass er ein Bild verehrt, ja anbetet, und zwar das Bild einer schönen Frau – seiner eigenen, im Kindbett nach seiner Geburt gestorbenen Mutter. Unter Tränen erklärt er einem Freund, der das goldgerahmte Bild aus dem Winkel des Dachstübchens hervorleuchten sieht: »Sie war mein Einziges … […] Mein Einziges. Nichts habe ich so geliebt. – Dies Bild, – ich habe – habe davor beten können, und nun – […].«80 Den Grund für den Gefühlsumschwung bildet ein Brief, der dem Grafen zum 25. Geburtstag zugestellt wird – ein Brief seiner Mutter, in dem sie ihm auf ihrem Sterbebett die Mitteilung von einer unehelichen Liebesaffäre macht und den Auftrag erteilt, nach Möglichkeit für das daraus hervorgegangene Kind – es ist inzwischen zu einer Prostituierten geworden – zu sorgen. In gewisser Weise wird seine Mutter für ihn durch dieses Geständnis selbst zur Prostituierten, und von der Haiden zeigt sich der damit 77 Vgl. Herbert Scherer : Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Die »Friedrichshagener« und ihr Einfluß auf die sozialdemokratische Kulturpolitik. Stuttgart 1974, 152–165. 78 Vgl. die Bibelzitate »Hebe Dich hinweg! Was habe ich mit Dir zu schaffen« (Joh 2, 4; Mt 16, 22) im Munde des Arbeiterführers Herning: Hans Land: Der neue Gott. Roman aus der Zeit des Sozialistengesetzes. Berlin 31919, 148. 79 Vgl. die Ausdrücke »Schriftsteller« und »Autor« in Bezug auf den Verfasser eines ParteiAufrufs in: Land: Der neue Gott (Anm. 78), 57–63. 80 Land: Der neue Gott (Anm. 78), 140.

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verbundenen Problematik in keiner Weise gewachsen. Nach langem Krankenhausaufenthalt zurückgekehrt, empfindet er die Frau auf dem Bild, dessen Rahmen inzwischen die alte Zimmerwirtin versetzt hat, als Richterin seines gescheiterten Lebens. Lands Roman macht aus dieser Szene vor dem Bild ein sentimentales Stimmungsbild ganz eigener Machart: – Jetzt da sein ganzes verlorenes Leben vor ihn trat, im Angesicht des Bildes, dem er stets all’ seine Schmerzen zugetragen, neigte er das Haupt und weinte bittere Tränen. – – – In dem kahlen, grautrüben Raume, d’rin die Armut hauste, vor dem Bilde des Glanzes, der Pracht und Schönheit der weinende, gebeugte Bettler, die Greisin in Lumpen mitleidig lauschend am Herde, darüber – durch das Fenster – der schüchterne goldne Sonnenblick aus beflortem Märzhimmel; – das Schicksal dichtete. –81

Ganz offensichtlich ist hier die sakrale Funktion des Bildes einer Krise unterworfen, die immerhin eine schüchterne Erneuerung ermöglicht. Wesentlich triumphaler endet das zweite angekündigte Textbeispiel zur Gender-Thematik: Richard Dehmels aus einem fünfzehn Jahre älteren freirhythmischen Gedicht82 hergestellte Kurzerzählung Das Gesicht (1908) mit dem Untertitel Eine halbe Stunde Seelenleben.83 Ihr gebührt schon deshalb ein Ehrenplatz am Ende dieser mit ikonoklastischen Gemäldeverbrennungsphantasien eröffneten Übersicht, weil zu der Vorgeschichte jener »halbe[n] Stunde Seelenleben« ein verheerender Zimmerbrand gehört, bei dem die männliche Hauptperson, ein Maler, den gesamten Bestand eigener Bilder verliert – außer einem einzigen, das die Geliebte todesmutig aus den Flammen rettet, wobei sie jedoch selbst fast ein Opfer der Flammen wird und schwerste Brandverletzungen erleidet. Der aus der Perspektive des Mannes, jedoch in der dritten Person und unter massivem Einsatz erlebter Rede gestaltete Text84 zeigt die hoffnungslose Situation des Malers gegenüber dem geretteten Bild und der Geliebten einige Zeit später : Das Bild hängt als »ungelöste Aufgabe«85 an der Wand; es war zwar das Beste aller seiner Bilder, ist aber letztlich unvollendet. Denn es zeigt die Geliebte in ihrer (früheren) Schönheit, jedoch ohne letzte Klarheit in der Erfassung ihres 81 Land: Der neue Gott (Anm. 78), 245f. 82 Erstdruck in: Sphinx 7 (1892/93), Bd. 15, Heft 84 vom Februar 1893, 361–366. Zur Interpretation vgl. Peter Sprengel: Seelenwanderung oder Seelenwandlung? Wilbrandt, Dehmel, die Sphinx und die Entgrenzung des Ich um 1890. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), 355–379, hier 376–378. 83 Richard Dehmel: Lebensblätter. Neue, völlig veränderte Ausgabe. Gesammelte Werke, Bd. VII. Berlin 1908, 87–96. 84 Vgl. Melanie Horn: Überschreibungen des Realismus. Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin/Boston 2013, 356–384, hier 366–371. 85 Dehmel: Lebensblätter (Anm. 83), 87.

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seelischen Ausdrucks. Eine Weiterarbeit am Bild scheint dem Maler aber schon deshalb unmöglich, weil die Physiognomie und die körperliche Gestalt, die das Bild als fast schon peinigende Erinnerung zeigt, nicht mehr vorhanden sind. Tatsächlich hat der Maler die Geliebte seit ihrer heroischen Tat (bei der sie auch ihn aus den Flammen trug) nicht mehr anzusehen gewagt; die Retterin ihrerseits hat sich offenbar bewusst aus Rücksicht auf seine ästhetischen Bedürfnisse bislang seinen Blicken entzogen. Im Grunde ist sie für ihn schon »gestorben«, wie die folgenden Reflexionen deutlich machen, mit denen sich Dehmels Text erstmals massiv der religiösen Sphäre öffnet: Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben, nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria Magdalena war’s immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint, seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin.86

Mit dem Stichwort »liebreich« ist schon die Lösung angedeutet. Aus Liebe zum Maler will jetzt nämlich die Frau ihren Abschied nehmen. In diesem Moment vermag der bisherige Ästhet nicht nur die innere Größe der in ihrer Hingabe für ihn zu äußerer Hässlichkeit entstellten Frau zu erkennen. Indem er endlich das ganze Ausmaß ihrer Liebe – oder, mit Dehmel zu sprechen, ihre Seele – realisiert, wird ihm auch jenes undefinierbare Etwas fassbar, das bislang zur Vollendung des Porträts fehlte. In einem einzigen Augenblick stellt sich also sowohl die Liebe des Paars auf höherer Ebene wieder her als auch das Künstlertum des Mannes – und zwar im Zeichen der Religion. Die letzten Sätze der Erzählung gehören nämlich dem Bild, das jetzt auf Basis der Heilsgeschichte eine neue Aura gewinnt: Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber, nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: »Weißt du, wie ich dich malen werde? – Sturm und Nacht – Fackelbrand – nur Auge und Bewegung –: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!« »Vom Kreuz wegtragend« – sprach ihre Seele.87

Die Frau als Retterin der Kunst und des männlichen Künstler-Heilands ist das Sujet einer neuen Sakralmalerei.

86 Dehmel: Lebensblätter (Anm. 83), 92. 87 Dehmel: Lebensblätter (Anm. 83), 96.

Paul Onasch

»Wenn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden.« Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons

Am 1. Februar 1969 wendet sich Uwe Johnson mit einem Anliegen an den früheren Cheflektor des Suhrkamp-Verlages, Walter Boehlich. Mitten in der Arbeit an den Jahrestagen. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl fühlt er bei Boehlich vor: »Sind Sie ein guter Kenner der Bibel? Oder kennen Sie einen gerissenen Funktionär der evangelischen Kirche? ich komme bei einer bestimmten Sache mit der Konkordanz nicht weit genug.«1 Obwohl sich nicht mehr ermitteln lässt, für welches theologische Problem Uwe Johnson Hilfe suchte,2 zeigt dieses Beispiel, dass und wie einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts sich das ›Buch der Bücher‹ produktiv zu eigen machte. Johnson las nicht nur viel in der Bibel, wie er im Juli 1969 in einem Interview bekundete,3 sondern konsultierte Konkordanzen, theologische Schriften – und theologisch kundige Bekanntschaften. Dass dies keineswegs Johnsons eigener Aussage widerspricht, nach dem Zweiten

1 Brief von Uwe Johnson an Walter Boehlich vom 01. 02. 1969. In: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung). UJA/H/100381, Bl. 9; Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Im Folgenden mit der Sigle »UJA Rostock, Signatur, Blattzahl« zitiert. – Ich danke der Johannes und Annitta Fries Stiftung, der Peter Suhrkamp Stiftung sowie der Autorenstiftung Frankfurt am Main für die Erlaubnis, aus der Korrespondenz Uwe Johnsons mit Walter Boehlich zitieren zu dürfen. 2 In seiner Antwort bekundet Walter Boehlich, sich »ein wenig« in der Bibel auszukennen, und bittet Johnson, ihm das Problem zu schildern, um »nachdenken und nachschauen« zu können. Im überlieferten Briefwechsel bleibt eine Antwort Johnsons allerdings aus. Stattdessen bricht jener gut ein Jahr später den Kontakt zu Boehlich mit den Worten ab: »ich möchte nun doch nicht versäumen, mich von ihnen zu verabschieden. […] Und wünsche Ihnen eine gute Reise.« Brief von Walter Boehlich an Uwe Johnson vom 03. 02. 1969. In: UJA Rostock, UJA/H/ 100382, Bl. 10f., hier 11; Brief von Uwe Johnson an Walter Boehlich vom 08. 07. 1970. In: UJA Rostock, UJA/H/100384, Bl. 12. 3 Wilhelm J. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson (Am 10. 7. 1969 in West-Berlin). In: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte …« Uwe Johnson im Gespräch. Frankfurt a. M. 1988, 234–247, hier 243.

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Weltkrieg »das Interesse an der Religion« verloren und »keine religiösen Bindungen«4 zu haben, davon zeugen seine literarischen Werke. Angesichts einer Vielzahl biblischer Verweise im Prosawerk Uwe Johnsons mag es überraschen, dass lediglich seine Parabel Jonas zum Beispiel vereinzelt Eingang in die Vielzahl von Anthologien zum Thema ›Religion und Literatur‹ gefunden hat.5 Insbesondere deshalb, weil Siegfried Unseld bereits 1961 befand – Johnson hatte zu diesem Zeitpunkt nur die Mutmassungen über Jakob veröffentlicht –, Johnson sei »in der S. Fischer-Anthologie mit der Jehova-Geschichte nicht allzu typisch vertreten«.6 Dieses Urteil lässt sich bis heute aufrechterhalten. Johnsons Jona-Perikope nimmt nicht nur hinsichtlich der Bibelrezeption eine Sonderstellung in seinem Werk ein. Auf den folgenden Seiten wird sie angesichts der thematischen Eingrenzung auf kirchengeschichtliche Diskurse unberücksichtigt bleiben. Stattdessen sollen Johnsons Romane, konkret der erst posthum veröffentlichte ›Erstling‹ Ingrid Babendererde, das 1961 erschienene Dritte Buch über Achim sowie das beinahe 2.000 Seiten umfassende Hauptwerk Jahrestage, genauer betrachtet werden. Als Karl-Josef Kuschel auf der zweiten Tagung zum Begegnungsfeld von ›Theologie und Literatur‹ im Oktober 2004 eine Bilanz zog, konstatierte er, dass man auch das Werk Uwe Johnsons »unter theologisch-ethischem Aspekt neu zu lesen haben«7 werde. Auf welch verschiedene Art und Weise die ethische Dimension Johnson’scher Bibelrezeption in seine Romane integriert ist, wird auf den folgenden Seiten gezeigt werden. Beispielhaft hierfür werden kirchengeschichtliche Themenkomplexe dienen: beginnend mit dem Konflikt um die Junge Gemeinde, gefolgt von der differenzierten Sicht auf die ambivalente Rolle der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik sowie im Nationalsozialismus und zu guter Letzt die Auseinandersetzung mit der ›Selbstmordfrage‹ in der evangelischen Kirche.

4 Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson (Anm. 3), 240. 5 Vgl. Erika Schuster: Tobias – Daniel – Jona. Nachexilische Gestalten. In: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 2: Personen und Figuren. Mainz 1999, 281–302, hier 290–292; Edith Glatz: Wer suchet, der findet die Bibel in der Literatur. Würzburg 2013, 102f.; Simone Frieling (Hg.): Der rebellische Prophet. Jona in der modernen Literatur. Göttingen 1999, 92–95. – Zu lang wäre die Liste der Anthologien, in die Uwe Johnsons Werke keinen Eingang gefunden haben. 6 Brief von Siegfried Unseld an Uwe Johnson vom 02. 01. 1961. In: Uwe Johnson/Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Eberhard Fahlke u. Raimund Fellinger. Frankfurt a. M. 1999, 114. Vgl. a. Uwe Johnson: Jonas zum Beispiel. In: Klaus Wagenbach (Hg.): Das Atelier. Bd. 1: Zeitgenössische deutsche Prosa. Frankfurt a. M. 1962, 132f. 7 Karl-Josef Kuschel: Literatur und Theologie als gegenseitige Herausforderung. Bilanz, Ertrag, Entwicklung 1984–2004. In: Erich Garhammer u. Georg Langenhorst (Hg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur. Würzburg 2005, 19–42, hier 24.

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I. In Uwe Johnsons posthum erschienenen ersten Roman Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 sind es die drei Freunde Ingrid, Jürgen und Klaus, die einen Tag vor Ingrids wegweisender Rede zur Jungen Gemeinde vor der Schulversammlung8 in einen Streit geraten. Die drei Abiturienten sind sich uneinig in ihrer Einschätzung des politischen Konflikts, dem sich die Mitglieder der Jungen Gemeinde ausgesetzt sehen. Unmittelbar vor ihrer Reifeprüfung – in mehrfacher Hinsicht – stehend, gelangen sie und die weiteren acht Schülerinnen und Schüler der Klasse 12 A durch Elisabeth Rehfelde und Peter Beetz in direkten Kontakt mit den staatlichen Repressalien gegen die christliche Jugendorganisation in der DDR, die im Jahr 1953 ihren Höhepunkt fanden. Elisabeth und Peter gehen nicht nur wie Ingrid, Jürgen und Klaus auf die Gustav Adolf-Oberschule in Wendisch Burg, sondern sind darüber hinaus Mitglieder der Jungen Gemeinde. Als Elisabeth von Dieter Seevken vor die Wahl gestellt wird, Junge Gemeinde oder Freie Deutsche Jugend, erreicht die politische Auseinandersetzung die persönliche Ebene der drei Protagonisten.9 Elisabeth entscheidet sich für ihren Glauben und »schmeisst« (IB, 34) ihm das Mitgliedsbuch der FDJ vor die Füße, infolgedessen ihr der Verweis von der Oberschule droht. Obwohl Ingrid, Jürgen und Klaus alle drei »nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert« (IB, 106) sind, empören sie sich über die Kampagne gegen ihre Mitschülerin. Klaus bringt seine Solidarität im Englischunterricht auf unmissverständliche Weise zum Ausdruck, indem er bekennt: »Meine Meinung über Elisabeth ist eine vorzügliche.« (IB, 78) Dass es in der Folge scheinbar nicht um Elisabeth Rehfelde, sondern um Elisabeth I. von England und ihre Einstellung zum Theater geht, gewährt einen Eindruck in Klaus’ eigentümliche politische Kritiknahme, versteckt in literarischen und historischen Anspielungen. Die Agitation gegen die Junge Gemeinde wird beinahe spöttisch zum »Theater«, zur »Schau-Stellung« (IB, 79) erklärt und mit dem Theater- und Literaturkampf der 8 Vgl. Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1985, 174. Im Folgenden mit der Sigle »IB« im Text zitiert. – Matthias Aumüller hat im 18. Johnson-Jahrbuch vorgeführt, wie Ingrids Rede zur Jungen Gemeinde durch eine »auffällige Massierung von Pfingstmotiven« (109) gekennzeichnet ist. Er verweist dabei neben der Datierung des Romangeschehens in die Woche nach Pfingsten und Parallelen der Schüler der Klasse 12 A zu den Jüngern Jesu auf die Orchestrierung von Ingrids Rede durch das Glockengeläut des Doms und das Rasseln eines Weckers (vgl. IB, 172), Ähnlichkeiten dieser Rede zur Zungenrede der Apostel und das für den Roman prägende Leitmotiv des Windes; vgl. Matthias Aumüller: Als der Heilige Geist über Uwe Johnson kam. Zur Funktion biblischer Motive im Bedeutungsaufbau von Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. In: Johnson-Jahrbuch 18 (2011), 97–114. 9 Diese poetologische Eigenart Johnsons hat Norbert Mecklenburg mit dem Terminus des ›dokumentarischen Erzählens‹ umschrieben. Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa. Frankfurt a. M. 1997, 255–263.

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Puritaner im England des 17. Jahrhunderts verglichen, in dessen Folge zur Zeit der Republik von 1642 bis 1660 alle öffentlichen Bühnen Englands geschlossen wurden.10 Während seines Studiums an der Karl-Marx-Universität Leipzig beschäftigte sich Johnson mit eben jenem Theater- und Literaturkampf und seinen religiösen Grundlagen, hielt ein Referat zu Thomas Otways Venice Preserved und der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts.11 Teile dieses Referats verarbeitet er an dieser Stelle in seinem Erstling und zieht dabei Parallelen zwischen den Puritanern im 17. Jahrhundert und dem real existierenden Sozialismus in der DDR. Ineinander verschachtelt werden die historischen Ebenen durch das Bindeglied der ›bürgerlichen Klasse‹: »Diese Puritaner. Sie genehmigten sie [= die Schau-Stellung] nicht, denn sie waren die bürgerliche Klasse […]. Sie waren bürgerlich und hielten sich an die Bibel, die verbietet nämlich das Theater […]. Als aber nun (das war später) die proletarische Klasse in das Rathaus kam, wusste sie lange Zeit nicht was sie machen sollte mit der bürgerlichen.« (Ebd.; Hervorhebung: P. O.) Wie die Puritaner gegen die schönen Künste Vorwände vorbrachten – das »Theater sei feuergefährlich, und solche Menschen-Ansammlung begünstige die Pestilenz …«12 –, statt ihre religiösen »›Hintergedanken‹« zu offenbaren, wird Elisabeth Rehfelde, und mit ihr die Junge Gemeinde, rund 300 Jahre später in den »Klassenkampf« gezogen und ihr unterstellt, sie führe »eine Bombe in der Bibel« (ebd.) mit sich. Eine Bewertung der aktuellen Situation verlagert Klaus auf Elisabeth I. und schließt mit einer rhetorisch anmutenden Frage: »Aber Elisabeth meinte nur was sie gesagt hatte, und darum kann man nicht umhin vorzüglich zu denken über die Königin Elisabeth von England, oder kann man?« (IB, 80) Jürgens Erwiderung auf die Rede seines Freundes folgt auf dem Fuße. Den Vergleich zwischen ihrer Klassenkameradin und der Königin von England empfindet er als »unpassend« (ebd.) und verweist in der ersten Person Plural, was seine positive Haltung zum Sozialismus widerspiegelt, darauf, »dass in der organisatorischen Form der Jungen Gemeinde Ansätze sind für die Feindseligkeit des kapitalistischen Auslandes« (IB, 81). Während Klaus es »albern« findet, »dass sie sich stritten vor der 12 A und in einer fremden Sprache« (IB, 80), 10 Vgl. hierzu u. a. Margot Heinemann: Puritanism and Theatre. Thomas Middleton and Opposition Drama under the Early Stuarts. Cambridge u. a. 1980, 18–47. 11 Vgl. Uwe Johnson: Thomas Otway : »Venice Preserved« & Literatur im Englischen XVII. [Jahrhundert]. In: ders.: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte. Mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann. Frankfurt a. M. 1992, 31–61, hier 38–41. 12 In Johnsons Referat heißt es: »Der Magistrat wehrte sich. Er sprach von Feuergefahr Verkehrsstörungen Pestverbreitung – er sprach nicht von seinen puritanischen Hintergedanken«. Johnson: Thomas Otway (Anm. 11), 41.

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setzt die Auseinandersetzung bei Jürgen ein Nachdenken über seine Ablehnung der Jungen Gemeinde in Gang. So gelangt er in der kurze Zeit später stattfindenden Geschichtsstunde mit Direktor Robert ›Pius‹13 Siebmann, der die Junge Gemeinde als »gefährliche Erscheinung« (IB, 89) bezeichnet, zu dem Schluss: Irgend wo hatte Pius recht: dachte Jürgen: Aber das war nicht in seinem Reden. Sicherlich hatten die von der Jungen Gemeinde sich etwas gedacht bei der Schrift in ihrem Schaukasten Liebet eure Feinde, unter Umständen hatten die damit wirklich den Klassenkampf behindern wollen. Warum nahm Pius das ernst? Unter ihnen hatte wahrlich niemand Anlass das kapitalistische Ausland zu lieben […]. Mochten die doch verhandeln an ihren Mittwochabenden über den Bund Christi mit der Welt; die Welt würde Peter Beetz das Studium bezahlen und am Ende mochte der ohnehin gemerkt haben worauf erstens zu achten war. Ach ja: Pius hatte irgend wo recht. Aber das war nicht in seinem Reden. (IB, 91)

Die Gedankenrede Jürgens verdeutlicht seinen inneren Zwiespalt. Zwar kann er sich nicht mit religiösen Vorstellungen identifizieren, empfindet jedoch das repressive Vorgehen gegen Mitglieder der Jungen Gemeinde als unverhältnismäßig. Sein Nachdenken über den Hintergrund der zentralen Formel der Bergpredigt aus Mt 5, 44 zeugt darüber hinaus von einem Unverständnis theologischer als auch ethischer Dimension christlichen Glaubens. Vermutlich lässt sich dieses mangelnde religiöse Verständnis auf Jürgens Sozialisation im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR zurückführen.14 Nach der anschließenden Deutschstunde bei Frau Behrens, alias ›Das Blonde Gift‹, nehmen sich die drei Freunde am Nachmittag vor, »›endlich mal Geschichte wiederholen zu wollen‹« (IB, 103). Jürgen lässt aber auch außerhalb der Schule der Konflikt um die Junge Gemeinde nicht los. Nachdem die drei beinahe zwei Stunden sowjetische Geschichte wiederholt haben, kommen sie »zufällig […] auf die Gegenstände aus Pius’ heutigem Unterricht« (IB, 106) zu sprechen. Dass es sich hierbei weniger um ein Gespräch und noch weniger um einen Zufall handelt, verdeutlicht die Reaktion von Ingrid und Klaus, die darin übereinstimmen, »dies zu besprechen sei nicht von Nöten, und legten ihre Sachen zusammen« (ebd.). Vielmehr ist es Jürgen, der Redebedarf über den Verlauf der 13 Durch einen erzählerischen Kniff liefert der Erzähler den Grund für den Spitznamen ›Pius‹: »Niemand wusste warum Pius Pius hiess. Päpste haben so geheissen, und in der Tat stand Pius der Schule vor und ihrer Parteiorganisation mit solcher Autorität, aber es mochte nicht deswegen sein. ›Pius‹ ist lateinisch und bedeutet ›Der Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der Sozialistischen Einheitspartei« (IB, 86f.). 14 Zusammen mit Klaus besuchte Jürgen »im vorletzten Sommer des Krieges« eine »faschistische« Grundschule (IB, 154) und ist nach dem Krieg in das sozialistische Schulsystem integriert, in dem die Schule als Instrument ideologischer Indoktrination fungiert. Darüber hinaus war Jürgens Vater ein bekennender Nationalsozialist, der im ›Kampf‹ gegen den Sozialismus ums Leben kam (vgl. IB, 71).

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Englischstunde am Vormittag und den Konflikt um die Junge Gemeinde verspürt: »Wir haben uns ausgeschwiegen letztens, und ich möchte dies mal sagen. Wir wissen dann wie wir stehen und sparen uns das conversational English. / Sie seien alle drei nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert, und keiner werde sie für bedeutend halten. Was ihn (Jürgen) angehe: so halte er sie für albern. Sie habe nichts weiter zu sagen. Es sei nicht weiter schade um sie.« (Ebd.) Während Ingrid und Klaus die Brandrede Jürgens gegen die Junge Gemeinde zu Beginn »achtsam« sowie »spöttisch und aus wachsamer Entfernung« verfolgen, stimmt Klaus Jürgen in der Folge nur noch »höflich« zu, Ingrid hingegen »sah ihn gar nicht an« (ebd.). Von den Reaktionen seiner Zuhörer unbeeindruckt setzt Jürgen sein Rede fort: Er meine nun wirklich: die beiden letzten Kriege wären weniger ausführlich geworden, wenn sie nicht soviel Segen dazu gehabt hätten. Und wenn die Kirche zwei Jahre nach dem Faschismus nach Stuttgart ziehe und dort bekenne: sie sei also schuldig: so brauche sie sich nicht zu wundern, wenn man ihr das glaube. Er (Jürgen) glaube ihr das. / Nun meine aber die Junge Gemeinde: sie habe doch noch etwas zu sagen. Und das hat sie vielleicht auch – in Stuttgart, aber nicht mehr bei uns. Also sei sie Stuttgarter Umständen wohl günstiger gesinnt als landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, und vielleicht tun die auch mal was gegen LPGs. (Ebd.)

Im zweiten Teil erweitert Jürgen seinen Blick auf die Junge Gemeinde um die kritische Betrachtung der Rolle der Kirche(n) während zweier Weltkriege und rekurriert dabei auf die Stuttgarter Erklärung. Ein überraschender Fauxpas unterläuft Jürgen (und mit ihm auch Johnson?) jedoch bei der Datierung dieses Schuldbekenntnisses. Nicht »zwei Jahre nach dem Faschismus«, sondern am 18. und 19. Oktober 1945 wird die Stuttgarter Erklärung als Resultat einer Sitzung des Rates der EKD mit Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen veröffentlicht. In ihr heißt es, dass wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer grossen Gemeinschaft wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit grossem Schmerz sagen wir : Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.15

Die Schlussfolgerung, die Jürgen aus diesem Schuldbekenntnis zieht, wirft ihren Schatten auf die Bewältigung deutscher Schuld in der DDR. Dass die Junge Gemeinde aufgrund dieses Schuldeingeständnisses der Kirchen in Deutschland 15 Gerhard Besier u. Gerhard Sauter : Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Göttingen 1985, 62.

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vielleicht noch »in Stuttgart, aber nicht mehr bei uns« etwas zu sagen habe, zeugt von einem antifaschistischen Selbstverständnis der DDR, das fern der Realität ist. Exemplarisch zeigt sich dies an Jürgens eigener Familiengeschichte mit einem Vater, der eben jene Verbrechen mit zu verantworten hat.16 Klaus weist Jürgen auf diesen Widerspruch hin, indem er die Staatsdoktrin einer politischen Einheit in der DDR hinterfragt: »Aber wozu habe die Republik eigentlich ihre Polizei für Staatssicherheit?« (IB, 106f.) Die programmatische Antwort liegt auf der Hand und wird von Jürgen dargeboten: zum Schutz vor Gefahren von außen, und eine solche Bedrohung bilde gegenwärtig die Jungen Gemeinde mit ihren Verbindungen ins kapitalistische Westdeutschland. Zudem verweist Jürgen auf die »Freie Deutsche Jugend und ihre Versammlungen«, auf denen »man reden müsse mit der Jungen Gemeinde« (IB, 107). Auch wenn diese Perspektive Klaus zu einem versöhnlichen Nicken bewegt, warnt er doch abschließend erneut davor, Gefahren zu schüren und scheinbare Bedrohungen, die sich bei genauerem Blick auflösen, für politische Zwecke zu instrumentalisieren. So sei Peter Beetz »nicht die kapitalistische Klasse sondern jemand mit einem Irrtum« (ebd.). Wenn auch diese Worte von Klaus Einigkeit hervorrufen, so wirkt diese doch mehr wie ein vorübergehender Schulterschluss dreier Freunde, die ihre Uneinigkeit in der anschließenden symbolträchtigen Bootsfahrt nicht verbergen können.17 Die staatliche Kampagne gegen die Junge Gemeinde bildet den »Dreh- und Angelpunkt der Geschichte«.18 Sie prägt nicht nur den Schulalltag der Klasse 12 A, sondern unterzieht die Freundschaft dreier Abiturienten einer Bewährungsprobe, ja einer Reifeprüfung. Erweitert wird der kirchengeschichtliche Diskurs um die Junge Gemeinde durch intertextuelle Verweise auf die Heilige Schrift, die Stuttgarter Erklärung von 1945 und den theologischen fundierten 16 Ein ähnliches Bild der Aufarbeitung deutscher Schuld in der DDR zeichnet Johnson im Dritten Buch über Achim. Durch den mehrfachen Verweis auf die biblische Redewendung von den ›Menschen guten Willens‹ aus Lk 2, 14 entlarvt Johnson die in der DDR vorherrschende Ansicht, dass eine Aufarbeitung der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus unnötig sei, weil die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands bereits in der Vergangenheit antifaschistische Menschen guten Willens gewesen seien. Vgl. hierzu Paul Onasch: »Sätz[e] einer unwirksamen Religion über Recht und Sitte unter den Menschen«. Zum Umgang mit dem biblischen Kanon in Das dritte Buch über Achim. In: JohnsonJahrbuch 21 (2014), 63–83. 17 Vgl. IB, 109: »Jetzt lagen sie schief und sie fuhren im Kreis: da siehst du mal was alles vorfallen kann, wenn drei in einem Boot für sich allein sind und uneinig zusammen.« – Heide Meincke gelangt in ihrer Analyse zum Freundschaftskonzept in Ingrid Babendererde gar zu dem Schluss, dass es sich hierbei um die »schwerwiegendst[e] Uneinigkeit« zwischen den drei Freunden handelt. Heide Meincke: »Unter solchen Umständen habe man sich aufeinander verlassen können«. Zum Freundschaftskonzept in Ingrid Babendererde und seiner Anwendung im Deutschunterricht. In: Johnson-Jahrbuch 20 (2012), 224–236, hier 228. 18 Aumüller: Als der Heilige Geist über Uwe Johnson kam (Anm. 8), 101.

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Themenkomplex um den Literatur- und Theaterkampf der Puritaner im England des 17. Jahrhunderts. Jene Bezugnahmen sind damit nahtlos in den Roman integriert, worin auch Matthias Aumüller ein Bemühen Johnsons um »kompositorische Geschlossenheit und Verdichtung«19 erkennt. Während sowohl der Konflikt um die Junge Gemeinde als auch der puritanische Literatur- und Theaterkampf in die folgenden Werke Johnsons keinen Eingang gefunden haben, ist die ambivalente Rolle der (protestantischen) Kirche im Dritten Reich elementarer Bestandteil der Geschichte in Johnsons Hauptwerk Jahrestage.

II. Im Unterschied zur kurzen Sequenz in Ingrid Babendererde ist der Verweis auf die Stuttgarter Erklärung in den Jahrestagen in einen umfangreichen kirchengeschichtlichen Kontext zur politischen Verantwortung der evangelischen Kirche in Deutschland von der Weimarer Republik bis hin zum Kirchenkampf im Dritten Reich eingebettet. Dargestellt wird die Rolle der evangelischen Kirche exemplarisch anhand dreier Pastorenfiguren. Dem Leser dieses Opus magnum wird damit ein Stück Kirchengeschichte dargeboten, das die »typischen Richtungen der evangelischen Kirche der damaligen Zeit« kaum exakter hätte konstruieren können und »in zeitgeschichtlicher deutscher Erzählkunst nicht seinesgleichen hat«.20 Da wäre ein »statistisch typischer«21 deutschnationaler Pastor Wilhelm Methling, der in der erzählten Zeit der Jahrestage von 1927 bis 1932 Pastor in Jerichow ist.22 Jener Pastor Methling begeht in der Kirche Feste, »die sein Vor19 Aumüller: Als der Heilige Geist über Uwe Johnson kam (Anm. 8), 99. 20 Norbert Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? Zu einer Figur in Uwe Johnsons »Jahrestage«. In: Jan Badewien u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Mutmaßungen über Uwe Johnson. Heimat als geistige Landschaft. Karlsruhe 2005, 127–147, hier 127. 21 Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist (Anm. 20), 127. – Rainer Paasch-Beeck zufolge war Johnson damit gar der Wissenschaft »einen großen Schritt voraus, denn nicht nur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sondern auch in den Kirchen ist die Frage nach der Schuld und der eigenen Verstrickung in den Holocaust erst viel später so rücksichtslos gestellt worden wie in den Jahrestagen.« Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes. Uwe Johnsons literarische Auseinandersetzung mit der mecklenburgischen Kirche. Johnson-Jahrbuch 17 (2010), 83–115, hier 115. 22 Im Tageskapitel des 7. März 1968 spricht Marie die Verbindung zwischen dem biblischen Jericho aus Jos 6 und dem mecklenburgischen Jerichow an, wobei Gesine eine Abgrenzung der verschiedenen Jerichos/Jerichows vornimmt. Vgl. Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bde. 1–4. Frankfurt a. M. 1970–1983, 832f. Im Folgenden mit der Sigle »JT« im Text zitiert. – Johnson selbst hat auf die Nachfrage seines Lektors Walter Boehlich, »ob es ein Motiv dafür gebe, daß er Jerichow an die Ostsee verlegt habe«, geant-

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gänger zu Hause begangen hatte: Tag der Reichsgründung, Kaisers Geburtstag, Schlacht bei Tannenberg« (JT, 236). Im Tageskapitel des 29. Oktober 1967 erfährt der Leser, dass Methling nach seiner Verabschiedung als Pastor und seinem Umzug nach Gneez noch immer in Jerichow ist, um mit der Unterstützung des Lehrers Stoffregen auch weiterhin »sein Blatt rund um den Turm der Petrikirche« (JT, 239) zu redigieren. Während jedoch Otto Stoffregen »kleine Aufsätze über Ortsgeschichte in der Umgebung von Jerichow« verfasst, schreibt Wilhelm Methling »über Bäume, Bäume im Volkslied, in der Sage, notfalls an der Chaussee, und kam von jedem auf die Stammbäume, auf Staemmlers Gesetzentwurf zur Rassenscheidung, auf Eheverbot und Vorfahrenforschung (siehe den Stammbaum Jesu im Buch Lukas)« (ebd.). Rainer Paasch-Beeck ist die Erkenntnis zu verdanken, dass Johnson als Vorlage für diese Ausführungen Methlings mehrere Aufsätze des Pastors Karl Timm nutzte, die zwischen 1931 und 1933 im Gemeindeblatt für die Kirchengemeinde Klütz veröffentlicht wurden. In dessen 23. Ausgabe aus dem Jahr 1933 befasst sich Timm »auf zum Teil sehr fragwürdige und ausgesprochen gewundene Art« mit den Stammbäumen Jesu in den Evangelien nach Matthäus und Lukas und schlussfolgert, dass im »›Stammbaum Christi […] auch Angehörige anderer Stämme‹« vorkommen, beispielsweise die Kanaaniterin Rahab, aber auch die Moabiterin Ruth; »›und beide werden hoch gewertet‹«.23 Die Referenz auf den Stammbaum Jesu im dritten Kapitel des Lukasevangeliums, formal durch die Einklammerung als Erzählerkommentar gekennzeichnet, kann als Parodie des Erzählers auf die rassentheoretischen Ausführungen Methlings verstanden werden. Mithilfe des Bibelverweises auf Lk 3, 23–38 wird Jesus in die Traditionslinie des Tanach bzw. des Alten Testaments integriert, um in ihm den ›wahren Christus‹ zu proklamieren. Damit geht jedoch der Schluss einher, dass sich das Christentum aus einer jüdischen Sekte heraus entwickelte und sich demzufolge christliche zwangsläufig mit jüdischen Stammbäumen überschneiden müssen. Das wiederum führt dazu, dass antijudaistische Raswortet: »Jerichow habe ich mir aus der Bibel genommen, wenn ich nicht irre. Ich weiss nicht, was die Gründer der sächsischen Orte dieses Namens oder des märkischen sich gedacht haben mögen; es ist ja aber kaum zu übersehen, dass eine Stadt, die lange Zeit mächtig ist, eines Tages einer bloss symbolischen Kraftanstrengung nicht standhält: Und die Mauern werden fallen hin. Statt der Trompeten könnte man auch Lautsprecherwagen nehmen. Oder gesticktes Tuch an einer Stange. (Als Trompeten maskierte Ultra-Schall-Erreger.) Und da ich fand, dass der Laut dieses Namens angenehm blaugrau (etwa als Luft und Fischgeruch) auf der Zunge liegt, habe ich mir Jerichow aufgebaut an der Ostsee; es ist besser, da gibt es auch eins. Ich sehe, ich kann es nicht erklären; es ist aber wohl eine Antwort.« Eberhard Fahlke: Heimat als geistige Landschaft: Uwe Johnson und Mecklenburg. In: Raimund Fellinger (Hg.): Über Uwe Johnson. Frankfurt a. M. 1992, 311–333, hier 324. 23 Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz. In zwangloser Reihenfolge hg. v. Pastor Timm. Nr. 23 (1933), zit. nach Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes (Anm. 21), 96; Hervorhebung im Original fett.

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sentheorien aufgrund ihrer fehlenden rationalen und auch wissenschaftlichen Fundierung der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Dass darüber hinaus Angehörige anderer Stämme innerhalb des Stammbaumes Jesu durch einen Kirchenvertreter wie Pastor Methling instrumentalisiert werden, um die Rassentheorien Martin Staemmlers und anderer Rassenhygieniker zu stützen, erzeugt ein »treffendes Bild christlicher Mitschuld«24 an den Folgen des Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bedeutend weiter geht der ›Deutsche Christ‹ Wallschläger, der bezeichnenderweise keinen Vornamen trägt25 und das Pastorenamt der Kleinstadt Jerichow in der erzählten Zeit der Jahrestage von 1939 bis 1945 innehat. Ein Mann mit »Halbglatze, Hakennase, Breitmund« ist Wallschläger, der »Verkünder der Freude, gerade mit Adolf Hitler zusammen und gleichzeitig ein Christ zu sein« (JT, 806). Schon diese Beschreibung eines Nazipastors mit Hakennase lässt die Parodie erahnen, die sich unmittelbar anschließt. Im Tageskapitel des 1. März 1968 unternimmt Wallschläger den Versuch, die Jerichower Gemeinde »vor der sittlichen Verrohung« zu bewahren, die mit seinem Vorgänger Einzug gehalten habe: Er machte es theologisch. Was nun der christliche Glaube überhaupt sei. Na? Aus dem Judentum stamme er nicht. Jesus habe ein jüdisches Verstehen des Alten Testaments unmöglich gemacht, und wer ihn als jüdischen Vergifter unseres Volkes bezeichne, solle sich nur umsehen! Luther und Bismarck und Hindenburg seien Deutsche gewesen, und was für welche, und Christen. Nun lasset uns beten. Er machte es geschichtlich. Er erzählte etwas von einem Überfall in der Heide bei Mölln im Jahre 1638, und sogar Heimatforscher Stoffregen schüttelte den Kopf. Schon vor dreihundert Jahren seien die Juden Hehler und Auftraggeber für marodierende Soldaten gewesen! Und nun schlagen wir auf das Buch der Richter. Er hatte begriffen, daß seine Gemeinde zu großem Teil von Landwirtschaft lebte, und er machte es heimatverbunden. Die Juden seien schuld an der Hungersnot im Kriege in Schleswig-Holstein. Und eine Gruppe jüdischer Professoren erreichte 1914 das Abschlachten von Millionen Schweinen! weil es angeblich an Getreide und Kartoffeln gefehlt habe. Nicht noch einmal werden sie einen Sieg der deutschen Waffen verhindern können! rief er aus und bat seine Gemeinde, mit ihm Gott zu danken für die Erlösung von diesem Fluchvolk (Gott habe schon gewußt, warum er Jesus nicht in Deutschland auf die Welt geschickt habe). (JT, 806f.; Hervorhebung: P. O.)

Mit aller Macht versucht Wallschläger, sein antisemitisches Gedankengut an die Gemeinde zu bringen – theologisch, geschichtlich und heimatverbunden. Doch 24 Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? (Anm. 20), 128. 25 Folgt man Tamara Krappmanns detaillierten Ausführungen in ihrer Dissertationsschrift Die Namen in Uwe Johnsons »Jahrestagen«, so spricht bereits die (Vor-)Namenlosigkeit Pastor Wallschlägers für dessen Distanz zu seiner Gemeinde. Vgl. Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestage. Göttingen 2012, 250–267, insb. 252 u. 263.

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bei den Jerichowern stößt er auf taube Ohren, für sie ist er nur ein »hergelaufene[r] Jubelpastor«, sodass die Zahl der Kirchenaustritte Jahr für Jahr steigt: »Es lohnte sich nicht für solche Art von Abendmahl, bei dem der Wein nicht das Blut alter Art war, sondern das der nationalsozialistischen Märtyrer bedeuten sollte.« (JT, 807) Zu einer vollends »satirische[n] Karikatur«26 oder gar »Karikatur einer bereits bestehenden Karikatur‹«27 wird Wallschläger, weil er »feurig Heil Hitler [rief], wenn er in ein Zimmer trat, in dem Leute um ein Bett herumstanden, in dem einer gestorben war«. (Ebd.) Wirft man einen genaueren Blick auf die Predigten Wallschlägers, fällt neben typisch antisemitischen Motiven – Juden als Wucherer bzw. Hehler, Brunnenvergifter und Verräter – insbesondere der Verweis auf das Buch der Richter aus dem Alten Testament ins Auge; der einzig konkrete Bibelbezug. Folgt man der Aufforderung Wallschlägers an seine Gemeinde und öffnet das Buch der Richter, stellt man schnell fest, dass die biblische Anspielung nicht allein auf die landwirtschaftlich geprägten Einwohner Jerichows bezogen sein kann. Das Richterbuch, das trotz seines geschichtsschreibenden Charakters nicht als historische Quelle gelesen werden kann, ist geprägt durch den erzählerischen Zyklus von »Abfall, Strafe und Rettung«:28 Zu Beginn steht jeweils der Abfall der Israeliten von JHWH, verbunden mit dem (Götzen-)Dienst an anderen Göttern. Infolgedessen gibt JHWH sein auserwähltes Volk in die »Gewalt von Räubern«,29 um sie aus ihrer großen Not durch den Einsatz eines Richters zu erretten. Mit dem anschließenden Tod dieses Richters beginnt der Zyklus jedoch von vorn und mit ihm eine Zeit, in der »ein jeglicher tat, was ihn recht deuchte«.30 Gerade hierin scheint die Intention zu liegen, mit der Wallschläger seine Gemeinde das Buch der Richter aufschlagen lässt: Die Geschichte Israels soll als ein ständiger Abfall von Gott deklariert werden, der erst mit dem von Gott gesandten Jesus in einer »Erlösung von diesem Fluchvolk« (ebd.) endet. Auf beeindruckende Weise zeigt Johnson anhand der Pastorenfiguren Wallschläger und Methling, wie im nationalsozialistischen Deutschland, doch auch schon in den Jahren zuvor, Theologen ihr Amt missbrauchten, um antisemitisches Gedankengut mittels theologischer Positionen zu legitimieren.31 Anders verhält es sich hingegen bei der Figur des Wilhelm Brüshaver, der in der erzählten Zeit der Jahrestage von 1932 bis 1938, also zwischen Methling und 26 Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? (Anm. 20), 127. 27 Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes (Anm. 21), 99. 28 Georg Hentschel: Das Buch der Richter. In: Erich Zenger u. a. (Hg.): Einleitung in das Alte Testament. Stuttgart 72008, 213–221, hier 217. 29 Hentschel: Das Buch der Richter (Anm. 28), 217. 30 Ri 21, 25. Hier und in der Folge werden die Bibelstellen zitiert nach der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1912; vgl. hierzu die Ausführungen in Anm. 45. 31 Vgl. Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes (Anm. 21), 106.

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Wallschläger, Pastor der Jerichower Gemeinde ist. Für Rainer Paasch-Beeck ist Brüshaver die »eindrucksvollste Figur eines Pastors in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«,32 für Wolfgang Wittkowski gar ein »wahrer, ethisch makelloser Held und Christ«.33 Dass letzteres Urteil zu kurz greift, offenbart das Tageskapitel des 15. November 1967. Jener Wilhelm Brüshaver ist es nämlich, der Heinrich Cresspahl »abermals mit einem seiner Blicke bedacht [hatte], als habe er vor lauter Hinhören und Hinsehen sich verhört und versehen, bis Cresspahl in einer wiederholenden Art zu Protokoll gab: Herr Semig ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen« (JT, 299). Was hier zum Vorschein kommt, ist ein »etwas verklemmt[er], aber dennoch unangenehm sichtbar[er]«34 Antisemitismus Brüshavers. Allerdings durchlebt diese Pastorenfigur im Laufe der nationalsozialistischen Diktatur einen radikalen Wandel, den es sich in seinen Grundzügen nachzuzeichnen lohnt.

III. Als Pastor einer evangelischen Gemeinde im mecklenburgischen Jerichow ist Wilhelm Brüshaver bereits ein Jahr nach der Machtergreifung Adolf Hitlers unmittelbar von den »Streitigkeiten der evangelischen Kirche mit dem Österreicher« (JT, 425) betroffen. Die kirchenpolitischen Einzelheiten dieses Konflikts erfährt der Leser durch Gespräche zwischen Lisbeth Cresspahl und der Pastorenfrau Aggie Brüshaver. Bereits im April 1933 kam es zu einer »›Diktatur‹« in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, weil der Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin, Walter Granzow, »einen Staatskommissar einsetzte, der den Oberkirchenrat in Schwerin unter polizeiliche Bedeckung« nahm, und der Landesbischof Heinrich Rendtorff als Mitglied des Pfarrernotbundes des Amtes enthoben und durch den ›Deutschen Christen‹ Walther Schultz ersetzt wurde. Jener Schultz war »so thüringisch erzogen, daß er statt mit Wasser mit Erde taufen wollte, weil er wie die Nazis eine Wolke aus Blut und Boden im Kopf hatte« (JT, 426). Wilhelm Brüshaver reagiert auf diese Entwicklung, indem er die Erklärung des Pfarrernotbundes vom 7./14. Januar 1934 vor der Jerichower Gemeinde verliest.35 32 Rainer Paasch-Beeck: »Trinken Pastoren Cola?« Pastoren in der deutschen Literatur nach 1945 [Literaturbericht]. In: Pastoraltheologie 4 (2013), 168–197, hier 174; vgl. auch PaaschBeeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes (Anm. 21), 112. 33 Wolfgang Wittkowski: Zeugnis geben: Religiöses Helden- und Pseudo-Heldentum in Uwe Johnsons »Jahrestage« (Bd. 2). In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 4 (1996), 125–142, hier 140. 34 Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? (Anm. 20), 136. 35 Kompositorisch wird durch die Integration der Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes

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Die Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes, der sich seit September 1933 als Reaktion auf die Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof formiert hatte,36 richtete sich gegen die Verordnung betreffend die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche37 eben jenes Reichsbischofs vom 4. Januar 1934 – besser bekannt unter dem Namen ›Maulkorberlass‹ für alle Pfarrer des Deutschen Reiches. Mit Nachdruck protestiert der Pfarrernotbund darin gegen »den neuen Gewaltstreich«38 der ›Deutschen Christen‹ und endet unter Berufung auf das Augsburger Bekenntnis von 1530 mit einem Zitat aus dem fünften Kapitel der Apostelgeschichte, das in den Jahrestagen im Konjunktiv der indirekten Rede wörtlich wiedergegeben wird: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen« (ebd.).39 Obwohl Wilhelm Brüshaver wenige Wochen später vor die Superintendentur in Gneez geladen und »›schwer verwarnt‹« (ebd.) wird, erfolgt im Roman eine doppelte Relativierung seiner Courage. Einerseits handelt es sich um eine Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes, als deren Mitglied Brüshaver ausgewiesen wird, sodass seine Courage von einem Kollektiv gestützt wird. Andererseits ist die vorgebrachte Kritik rein innerkirchlich motiviert und richtet sich gegen den ›Maulkorberlass‹. Darüber hinaus unterlässt Johnson es nicht, den Leser der Jahrestage auf

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der Fokus über die Mecklenburgische Landeskirche hinaus auf den gesamtdeutschen Kirchenkampf gerichtet, zugleich aber durch das Verlesen vor der Jerichower Gemeinde exemplarisch auf die mecklenburgische Ebene zurückgekoppelt. Vgl. Klaus Scholder : Die Kirche und das Dritte Reich. Bd. 2. Berlin 1985, 37. Vgl. Ludwig Müller : Verordnung betreffend die Wiederherstellung geordneter Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche. In: Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1933–1944. Gütersloh 1948, 36f. – Gemäß dieser Verordnung durfte der Gottesdienst »ausschließlich der Verkündigung des lauteren Evangeliums« gelten und die »Freigabe sowie Benutzung der Gotteshäuser und sonstige[r] kirchliche[r] Räume zu kirchenpolitischen Kundgebungen jeder Art« wurden untersagt (ebd., 36). Pfarrernotbund: Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes vom 7. und 14. Jan. 1934. In: Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch 1933–1944 (Anm. 37), 37. Die Rekurrenz auf die clausula Petri in Apg 5, 29 geht im Romanverlauf weit über den skizzierten kirchengeschichtlichen Diskurs hinaus und ist in den Komplex der evangelischen Auseinandersetzung um das rechte Verhalten gegenüber der (staatlichen) Obrigkeit eingebettet. So folgert Lisbeth angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft und in Anlehnung an Röm 13, 1–7, dass »jenes Unrecht […] von der Obrigkeit, also rechtens« (JT, 356) sei. Im Tageskapitel des 10. Juli 1968 wird diese Referenz erneut aufgegriffen, wenn Gesine im Gespräch mit Marie die Sorge ihres Vaters, »er könne gegen die Vorschriften verstoßen haben«, ablehnend, beinahe spöttisch mit den Worten kommentiert: »als sei die Obrigkeit im Recht, bloß weil sie ins Recht gesetzt war« (JT, 1525). Mithilfe der Gegenüberstellung zweier einschlägiger Bibelreferenzen wird so eine ethische Diskussion in den Roman integriert, aus der heraus es sich als unvereinbar erweist, einem Staat Gehorsam zu leisten, der gegen den christlichen Humanismus verstößt. Demgemäß wird mit Apg 5, 29 eine alternative Textgrundlage der Heiligen Schrift zum seit Luther vorherrschenden Obrigkeitsgehorsam in der protestantischen Ethik ins Feld geführt und positiv konnotiert, ohne hieraus jedoch konkrete Handlungskonsequenzen von den Figuren einzufordern.

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einen Punkt hinzuweisen, in dem sich der Pfarrernotbund und später auch die Bekennende Kirche »eher unschlüssig«40 waren – den der ›Judenfrage‹. Zwar weist Wilhelm Brüshaver seine Gemeinde »nach dem Judenboykott auf die christliche Pflicht zur Nächstenliebe« hin, doch sei dies »ja der Beruf von dem Mann, dazu war er da und dafür bezog er sein Geld« (JT, 425). Dass es diesem Pflichtbewusstsein an der letzten Überzeugung fehlt, wird im unmittelbar folgenden Satz deutlich: »Arthur Semig hatte es nicht geholfen, und Brüshaver ging selbst nicht zu Tannebaum und kaufte ihm was ab.« (Ebd.) Durch dieses ambivalente Verhalten wird Wilhelm Brüshaver als prototypischer Vertreter eines Geistlichen im Pfarrernotbund zu Beginn des Nationalsozialismus dargestellt. Deutlich wird so, dass neben dem innerkirchlichen Widerstand gegen die ›Deutschen Christen‹ und der Gleichschaltung der Evangelischen Landeskirchen auch eine Mitschuld an der Shoah zur Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland gehört.41 Die Bekennende Kirche, die auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung am 31. März 1934 aus dem Pfarrernotbund hervorging, war keine in sich homogene Gruppe von Pastoren. Dies wird im Tageskapitel des 26. Januar 1968, in dem eine zweite Kanzelabkündigung in den Roman integriert ist, explizit vorgeführt. Erzählt wird darin aus dem Leben Martin Niemöllers, mit dem sich Wilhelm Brüshaver einig ist, »daß es von der Schrift her nicht angehe, die Taufe durch den Stammbaum auszuwechseln. Jesus sei nun einmal in dem Juden Jesus von Nazareth geworden« (JT, 645). Allerdings ist Brüshaver der Auffassung, dass Niemöller sich »zur Arierfrage in der Kirche [hätte] anders verhalten können« (ebd.). Angesichts der bisherigen Verlautbarungen Brüshavers zur ›Judenfrage‹ mag diese Kritik an Niemöller den Leser der Jahrestage überraschen. Allerdings folgt die Begründung auf dem Fuße: »Daß die Juden ihm unsympathisch und fremd vorkämen, das war seine Sache, nicht die der Kirche. Arthur Semig war für Brüshaver ein Glied seiner Gemeinde gewesen, nicht ein Jude.« (Ebd.) Dieses Pflichtbewusstsein in seinem Amt als Jerichower Pastor ist in erster Linie frei von politischen Wertungen, zeugt damit aber trotz seines guten Willens im politisch geführten Kirchenkampf jener Zeit von einer gewissen Naivität. Den Anlass für die intensive Auseinandersetzung mit Martin Niemöller bildet ein Unrechtsurteil gegen einen der führenden Vertreter der Bekennenden Kirche. Am 1. Juli 1937 wurde Niemöller verhaftet und im März 1938 zu »7 Monaten

40 Bernd Moeller : Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 92008, 377. 41 Norbert Mecklenburg spricht sogar davon, dass es bei der ›Judenfrage‹ »zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche und auch katholischer Kirche mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede« gab und auch beim ›Ariernachweis‹ eine »Komplizenschaft« bestand. Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? (Anm. 20), 130f.

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Festungshaft und 2.000,– RM Geldstrafe verurteilt«.42 Gleichzeitig stellte das Gericht aber fest, »daß die 7 Monate Festungshaft und 500,– RM von der Geldstrafe«43 durch die Untersuchungshaft bereits verbüßt waren. Allerdings wird Niemöller »am 2. März weder in Freiheit gesetzt noch auf eine Festung, sondern verschleppt in das Konzentrationslager Sachsenhausen« (ebd.). Daraufhin verfasste die ›Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche‹, wie sich die führenden Vertreter der Bekennenden Kirche bezeichneten, für den 13. März 1938 eine Kanzelabkündigung, die Wilhelm Brüshaver vor seiner Gemeinde verliest: »Diese Maßnahme ist mit dem Urteil des Gerichts nicht vereinbar. Es steht geschrieben: Recht muß doch Recht bleiben; und: Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.« (JT, 645f.) Dieses Zitat aus der Kanzelabkündigung enthält seinerseits zwei Zitate, was durch die einleitende Formel, »[e]s steht geschrieben«, deutlich wird. Der zur Redewendung gewordene Ausspruch »Recht muss doch Recht bleiben« ist die Kernaussage von Psalm 94,44 dem Hilferuf gegen die Unterdrücker des Volkes Gottes.45 Die Wendung »Gerechtigkeit erhöht ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben«, entstammt hingegen dem 14. Kapitel der Sprüche Salomos.46 Dieser Vers aus Spr 14, 34 ist Teil eines Rahmens um die Verse 28 bis 35 im 14. Sprüche-Kapitel, die Arndt Meinhold mit Hinweise zur rechten Herrschaft eines

42 Martin Albertz u. a.: Kanzelabkündigung. 13. März 1938. In: Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch (Anm. 37), 235f., hier 235. 43 Albertz u. a.: Kanzelabkündigung. 13. März 1938 (Anm. 42), 235. 44 Vgl. Ps 94, 15. – Wie schon der Verweis auf Apg 5, 29 ist auch diese Bibelreferenz Teil eines umfänglichen Diskursfeldes über die Gerichtsbarkeit und Rechtssysteme. Auf die biblische Redewendung ›Recht muss doch Recht bleiben‹ wird so im Verlauf des Tageskapitels vom 12. August 1968 erneut rekurriert. Innerhalb einer »vorläufigen Liste zur Justiz in Mecklenburg« (JT, 1790) heißt es: »Über dem Eingang zum Saal des Sowjetischen Militärtribunals zu Schwerin waren die Worte angebracht: ›Recht muß doch Recht bleiben‹.« (JT, 1795) Durch diesen zweifachen Verweis auf Ps 94, 15 im Kontext zweier totalitärer Regime wird die gesellschaftsübergreifende Autorität des biblischen Wertekanons herausgestellt, allerdings ebenfalls verdeutlicht, wie aufgrund dieser Autorität die Gefahr droht, dass biblische Worte von politischen Systemen instrumentalisiert werden. 45 Unter diesem Titel steht Ps 94 in der revidierten Fassung der Lutherbibel von 1912. In der Zürcher Bibel nach der revidierten Fassung von 1931 trägt dieser Psalm den Titel Gott der Rächer. Diese Differenz wirft die Frage auf, welche Bibelausgabe(n) Johnson verwandte. Während die intertextuellen Bezüge in der Parabel Jonas zum Beispiel eindeutig auf die Zürcher Bibel zurückgehen, Christel Rosenberg hatte 1974 erstmals darauf hingewiesen, lässt sich für die Jahrestage anhand der darin vorkommenden wörtlichen Bibelzitate feststellen, dass Johnson in seinem Hauptwerk sowohl die Luther- als auch die Zürcher Bibel gebrauchte – dabei mehrheitlich jedoch die Lutherbibel von 1912. Vgl. Christel Rosenberg: Noch einmal: Uwe Johnson »Jonas zum Beispiel«. In: Der Deutschunterricht 26 (1974), H. 4, 123–128, hier 123; später abgedruckt in Rainer Gerlach u. Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson. Frankfurt a. M. 1984, 205–211. 46 Vgl. Spr 14, 34.

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Königs überschreibt.47 In Vers 34 wird eine »außenpolitische Sicht«48 eingenommen, in der ein Volk gemäß seiner Verhaltensethik als gerecht oder sündhaft klassifiziert wird. Eingebettet in den Gesamtkontext der Verse 28 bis 35 verweist der Begriff des ›Volkes‹ in erster Linie auf die herrschende Klasse, denn »[d]aß Gerechtigkeit geschieht, hängt von der Leitung ab«.49 Bei Psalm 94 handelt es sich um das Klagelied eines einzelnen Gläubigen, der sich in seiner Verzweiflung über Unrecht und Gewalt im Volk Israel an JHWH wendet und an dessen Einschreiten appelliert: »Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!«50 Diese Klage mündet allerdings in der Gewissheit »auf eine grundsätzliche Wiederherstellung des Rechtszustandes, der universal für alle Menschen gilt, die nach Art der Armen ›redlichen Herzens‹ sind«.51 Somit folgen nach dem »Notschrei des Bedrängten« die Gewissheit der göttlichen Errettung – »auch wenn alle sichtbaren Gegebenheiten noch dagegen sprechen«52 mögen – und ein »auf den einzelnen ausgerichtetes Bekenntnis«53 auf ein befreiendes Urteil hin. Die Kanzelabkündigung zielt in der Hoffnung auf ein solch befreiendes Urteil für Martin Niemöller darauf, mithilfe der biblischen Autorität den Gemeindemitgliedern das Unrecht der Naziherrschaft vor Augen zu führen und den Widerstand gegen die Willkürherrschaft zu vergrößern – und sei es nur in Form stillschweigender Missbilligung. Dass Wilhelm Brüshaver dabei mit Martin Niemöller einen der führenden Vertreter der Bekennenden Kirche ausgesprochen differenziert beurteilt, zeugt von einer zunehmenden Emanzipation des Jerichower Pastors von institutionellen Zwängen hin zu einem christlich fundierten Humanismus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs findet Martin Niemöller erneut Erwähnung, wenn die Religiosität von Gesines Schulfreundin Anita Gantlik thematisiert wird. Nicht nur wundert sich Gesine, dass Anita trotz ihrer Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern »dennoch unterm Strich einen Gott herausbekam, der anwesend ist im Molekül, im Atom und in den Sperlingen, die er vermittels Kernwaffen vom Dache schießt«. (JT, 1612)54 Auch werden drei Vgl. Arndt Meinhold: Die Sprüche. Teil 1: Sprüche Kapitel 1–15. Zürich 1991, 242. Meinhold: Die Sprüche (Anm. 47), 245. Hans H. Fuhs: Sprichwörter. Würzburg 2001, 103. Ps 94, 2. Frank-Lothar Hossfeld: Psalm 94. Gott, der Anwalt der Gerechten. In: ders. u. Erich Zenger (Hg.): Die Psalmen II. Psalm 51–100. Würzburg 2002, 508–512, hier 508. 52 Hans-Joachim Kraus: Psalmen. 2. Teilbd. Psalmen 60–150, Neukirchen-Vluyn 51978, 826. 53 Klaus Seyboldt: Die Psalmen. Tübingen 1996, 374. 54 Vgl. Mt 10, 29. – Was an dieser Stelle durchklingt, äußerte Johnson bereits am 19. November 1969 in seiner Rede zum Bußtag. In dieser kritisiert er die Einstellung der EKD gegenüber Atomwaffen und zitiert mit Hermann Kunst den Bischof für die Militärseelsorge in der westdeutschen Bundeswehr : »1959 hieß es noch nur, in theologischer Sprache, es sei eine

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Theologen genannt: Landespastor Henrich Schwartze, Bischof Otto Dibelius und Martin Niemöller. Über Letzteren erfährt der Leser, dass Brüshaver es nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal versuchen wollte mit »seinem Martin Niemöller, im Rat der E.K.i.D., Unterzeichner der Schulderklärung von Stuttgart und Verfasser der Meinung, sämtliche Besatzungsmächte sollten abziehen aus Restdeutschland und es durch die Vereinten Nationen am Frieden halten« (ebd.) Die bereits dargestellte Teilbiographie Niemöllers im Nationalsozialismus wird so um dessen Rolle in der EKD nach 1945 ergänzt. Differenziert nachgezeichnet wird somit anhand eines der führenden deutschen Kirchenvertreter das Verhalten der evangelischen Kirche im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Gleichwohl wird die Stuttgarter Schulderklärung mit einer zentralen Figur der Bekennenden Kirche in Beziehung gesetzt, die dem Leser in ihrer ambivalenten Rolle bereits bekannt ist. Verstärkt wird die Kritik an der Stuttgarter Schulderklärung durch Wilhelm Brüshaver, der »nicht allgemein Buße predigte für die deutschen Verbrechen im Krieg« (JT, 1357). Die Kritik wird damit im Vergleich zum Erstling Ingrid Babendererde verstärkt, indem sie von einem Theologen, einem Kollegen Martin Niemöllers, vorgebracht wird. Noch deutlicher wird Wilhelm Brüshavers überaus kritische Reflexion der eigenen Rolle als Pfarrer im nationalsozialistischen Deutschland im Anschluss an die Ereignisse des 9. November 1938. Im mecklenburgischen Jerichow kommt es in der Reichspogromnacht nicht nur zur Verwüstung von Oskar Tannebaums Tuchgeschäft. Um vor den Schaulustigen für Ruhe zu sorgen, feuert Bürgermeister Friedrich Jansen zwei Schüsse ab, von denen vermutlich einer die achtjährige Tochter Tannebaums, Marie, tödlich verwundet (vgl. JT, 724, 740). Nur wenige Stunden darauf nimmt sich Lisbeth Cresspahl das Leben, indem sie sich in der Futterkammer des Cresspahl’schen Hauses mit Stricken an den Knöcheln und Handgelenken fesselt und die Kammer in Brand setzt (vgl. JT, 741–744).55 Seine eigene (Mit-)Verantwortung an diesen Ereignissen führt Pastor Brüshaver zu dem selbstkritischen ›heute noch mögliche christliche Handlungsweise‹, ›durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern‹«, und mit besonderem Nachdruck versehen, »durch das Dasein von Atomwaffen (8. Heidelberger These).« Uwe Johnson: Rede zum Bußtag. 19. November 1967. In: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt a. M. 1975, 44–51, hier 48. 55 Dass der Zusammenhang zwischen Lisbeths Suizid und der Reichspogromnacht nur mittelbarer Natur ist, wurde von Tanja Winkler und Ulrich Krellner überzeugend dargelegt. Gerade der Verhaltenswandel Lisbeths einige Tage vor ihrem Tod (vgl. JT, 704f.) verdeutlicht, dass der Suizid »in der Konzeption der Figur bereits angelegt« ist, sodass die Ereignisse des 9. November 1938 lediglich einen »letzten äußeren Anlass« bilden. Tanja Winkler : »Ungeschickt, wie ein Kind. Als hätte sie es nicht gelernt«. Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl. In: Johnson-Jahrbuch 20 (2013), 237–250, hier 248; Ulrich Krellner : »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept in Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg 2003, 241.

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Schluss: »Duldung. Gewinnsucht. Verrat. Der Egoismus auch eines Pfarrers, der gesehen habe nur auf die Verfolgung der eigenen Kirche, der geschwiegen habe entgegen seinem Auftrag, unter dessen Auge ein Gemeindemitglied sich einen eigenen, unentwendbaren, gnadenlosen Tod habe suchen können.« (JT, 761) Eingebettet sind diese Worte in Brüshavers Predigt zum »22. Sonntag nach Trinitatis« (JT, 759), den 13. November 1938. Den biblischen Bezug bildet das 18. Kapitel des Matthäusevangeliums, in dem das »Zusammenleben in der Gemeinde«56 und die »Bedingung für den Eintritt in das Königreich des Himmels« (JT, 760) thematisiert werden. Zu Beginn seiner Strafpredigt zitiert Brüshaver den dritten Vers in einer Form an, die an den Wortlaut der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 angelehnt scheint: »wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder« (ebd.).57 In dieser gleichnishaften Antwort Jesu auf die Frage, wer der Größte im Himmelreich sei, ersetzt Johnson die Verbform ›umkehren‹ durch ›wandeln‹, obwohl der Ausdruck ›umkehren‹ bereits gewichtig ist, da er den Jüngern eine »grundsätzliche ›Wende‹«58 auferlegt. Nichtsdestoweniger verstärkt die Modifikation den Ausdruck, da von den Gemeindemitgliedern nicht nur eine Umkehr, sondern eine grundlegende Veränderung gefordert wird. Dieser Aufforderung zum Wandel schließt sich der Vergleich zum Verhalten ›der Kinder‹ an, der eine zentrale Frage zum Verständnis der Bibelreferenz aufwirft: Welche Verhaltensweisen prädestinieren ›die Kinder‹ als Vorbild für die Jünger Jesu in der Heiligen Schrift bzw. in der Aktualisierung durch Brüshaver für die Jerichower Gemeindemitglieder? Nicht die Un-Schuld von Kindern ist es, die sie zum Vorbild macht, sondern die Haltung, die Kinder ihren Eltern oder Erwachsenen gegenüber einnehmen. Übertragen auf die Gottesbeziehung geht damit die Forderungen einher, »zurückzukehren in die Unmündigkeit und Abhängigkeit«59 Gottes. Der Jerichower Pastor fordert seine Gemeindemitglieder somit auf, sich auf die christlichen Glaubensinhalte zu besinnen. Im weiteren Verlauf spricht Brüshaver von der Warnung vor Verführung zum Abfall.60 Vom Erzähler paraphrasiert werden sowohl Vers 6, wobei die Wendung »der das Kind zum Stolpern bringt« (ebd.) an den Wortlaut der Lutherbibel angelehnt scheint,61 als auch der von Brüshaver ausgelassene Vers 7, wo die 56 Peter Fiedler : Das Matthäusevangelium. Stuttgart 272006, 302. 57 In der Zürcher Bibel heißt es: »3[…] Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Reich der Himmel kommen.« 58 Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Teilbd. 2: Mt 8–17. Zürich/Braunschweig 1990, 12. 59 Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Zürich 1993, 201. 60 Vgl. Mt 18, 6–11. – In der Zürcher Bibel trägt dieser Abschnitt den Titel Verführung zur Sünde. 61 So heißt es in der Lutherbibel: »6Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.« In der Zürcher Bibel lautet die Übersetzung hingegen: »6Wer

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»Notwendigkeit solcher Übel in der Welt« angesprochen und dem Elend angedroht wird, »der es bewirkt« (ebd.). In Brüshavers Predigt folgt stattdessen das Gleichnis vom verlorenen Schaf in Form einer rhetorischen Frage: »Wenn eins sich verläuft, läßt man nicht die neunundneunzig zurück, um dies eine zu suchen?« (Ebd.)62 Diesem impliziten Bezug auf das verloren gegangene Gemeindemitglied Lisbeth Cresspahl folgt zum Abschluss eine spielerische Umkehrung der Zahlenangaben im Gleichnis vom Schalksknecht: »Und sieben mal siebzig Male sollst du vergeben.« (Ebd.)63 Diese Antwort auf die Petrusfrage, wie oft man jemandem vergeben müsse, der an einem sündigt, schließt aufgrund der Symbolik der Zahl Sieben eine »Einschränkung der Vergebungspflicht«64 aus. Jesus steigert in dieser »programmatisch, nicht pragmatisch« wirkenden Antwort die Vollkommenheit noch einmal, indem er von Petrus als dem Sprecher des Jüngerkreises »vollkommen-vollkommenste, grenzenlos-unendliche, unzählbarwiederholte Vergebung«65 erwartet. Wilhelm Brüshaver lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Predigt explizit für Lisbeth Cresspahl hält, denn »es ging die Bürger von Jerichow gar nichts an«, wie sie gestorben ist, weil es »eine Sache zwischen Lisbeth und Gott« (JT, 769) sei. Darüber hinaus stellt er in seiner Strafpredigt klar, dass es sie sehr wohl etwas angehe, »daß Lisbeth Cresspahl gestorben war«, denn immerhin haben sie »mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte«. (JT, 760f.) Mit den folgenden Worten, die später die »Grundlage des Urteils gegen Brüshaver« bilden werden, spricht er das Schicksal von Voss an, »der in Rande zu Tode gepeitscht worden war, er vergaß weder die Verstümmelung Methfessels im Konzentrationslager, noch den Tod des eigenen Sohns im Krieg gegen die spanische Regierung, bis er in der Mitternacht vor dem Tannebaum’schen Laden angelangt war«. (JT, 761) Wohl keine bessere Umschreibung ließe sich für die Predigt finden, als sie in den Jahrestagen angeboten wird. Nach der Verhaftung Brüshavers wählt der Erzähler die »kongeniale Bezeichnung«66 von »Daniels Bußgebet« (JT, 805) und verweist damit auf Dan 9, 1–19.67 In seiner Besinnung

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aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zur Sünde verführt, für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.« Vgl. Mt 18, 12–14. Vgl. Mt 18, 22: »22Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir : Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.« Im Gegensatz dazu heißt es in der Zürcher Bibel: »22[…] Ich sage dir : Nicht bis zu siebenmal, sondern bis 77mal.« Fiedler : Das Matthäusevangelium (Anm. 56), 307. Luz: Das Evangelium nach Matthäus (Anm. 58), 62. Rainer Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? Bibelrezeption in Uwe Johnsons Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 4 (1997), 72–114, hier 86. Die Bezeichnung bezieht sich hingegen nicht, wie Wittkowski annimmt, auf einen »Psalm […] von David«. Wittkowski: Zeugnis geben (Anm. 33), 135. Vielmehr wird die DanielPerikope mit »seinen düsteren Prophezeiungen und Schreckensvisionen« zur adäquaten Folie, »um auf das erreichte Ausmaß, aber auch die noch bevorstehenden furchtbaren

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auf einen christlich fundierten Humanismus beginnt Wilhelm Brüshaver, »das Vermächtnis der Toten zu erfüllen oder genauer : ihren Tod zu einem Vermächtnis zu erheben«,68 und bekennt gleichzeitig sein persönliches Versäumnis in seinem Amt als Jerichower Pastor.

IV. Dass sich Wilhelm Brüshavers Strafpredigt vom 13. November 1938 auf den Suizid Lisbeth Cresspahls bezieht, verweist wiederum auf einen theologischen Diskurs, der in Johnsons Œuvre mehr als einmal Gegenstand der Handlung ist: die Problematik des Umgangs der (evangelischen) Kirche mit dem Suizid. Nicht erst in den Jahrestagen bringt Johnson diesen Themenkomplex zur Sprache. Bereits in seinem zweiten veröffentlichten Roman Das dritte Buch über Achim wird ein Bauer im Zuge der Zwangskollektivierung in der DDR dazu getrieben, sich das Leben zu nehmen. Im Vorfeld hatte eine »Brigade von Chemiearbeitern aus der Stadt« bereits zehn von elf Wirtschaften des Dorfes dazu genötigt, »endlich den Vertrag«69 anzunehmen und damit der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beizutreten. Dem elften Bauern70 jedoch waren »die Klassenbrüder aus der Stadt tagelang nicht von der Seite gegangen«, ihm drückten sie die »frisch gepflügten Furchen« wieder zu, bis er sich mit ihnen zur Bürgermeisterei begab und »bat beitreten zu dürfen« (DBA, 193). Die Bereitschaft zur Kooperation hält jedoch nur kurz; genau genommen bis zur Prüfung des soeben unterzeichneten Vertrags. Darin soll er »das Wort Freiwilligkeit in versicherter Form entdeckt, hieraufhin das Dokument zerrissen und den Raum verlassen haben« (DBA, 194). Der »unverzügliche[n] Festnahme des Saboteurs« (ebd.) folgt die nächtliche Flucht nach einem Sprung vom Lkw, der ihn in die Stadt bringen sollte. Ihr jähes Ende findet sie im Suizid des Bauern: »Die Posten standen lange und immer noch, als die Frau ihren Mann schon am Strick gefunden und abgeschnitten hatte.« (Ebd.) Der unmittelbar folgende Satz vermittelt einen Eindruck davon, wie intensiv sich Johnson mit der theologischen Beurteilung des Suizids beschäftigt haben muss. Jener Bauer habe sich »kaum je ratlos gezeigt« (ebd.) und er wurde auch Verbrechen Deutschlands« zu verweisen, aber »genau wie Daniel auf die Endlichkeit auch einer solchen Schreckensherrschaft wie die der Nazis« aufmerksam zu machen. PaaschBeeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 86f. 68 Wittkowski: Zeugnis geben (Anm. 33), 139. 69 Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim. Frankfurt a. M. 1961, 193. Im Folgenden mit der Sigle »DBA« im Text zitiert. 70 Beschreiben wird er als ein »langsamer Alter von sechzig Jahren, der den Hof nicht von der Regierung hatte sondern von seinen Eltern« (DBA, 194).

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»nicht beschrieben als ein Eigensinniger« (DBA, 193), vielmehr »als einer, der Freude hatte an der Arbeit«, der »mitten im Dorf lebte vertraut und vertraulich und nicht einmal achtenswerter als der Nachbar« (DBA, 194). Georges Monois erörtert in seiner Geschichte des Selbstmords, dass seit dem Mittelalter zwischen direktem/egoistischem und indirektem/altruistischem Suizid differenziert wird: »Der Bauer und der Handwerker erhängen sich, um dem Elend und dem Leiden zu entrinnen; der Ritter und der Geistliche lassen sich töten, um der Demütigung zu entgehen und den Ungläubigen um seinen Triumph zu bringen […]. Das Ziel ist das gleiche, auch wenn Mittel und Motive differieren.«71 Obwohl die im Dritten Buch über Achim beschriebene Form des Suizids dem Stereotyp eines egoistischen Selbstmordes entspricht, wird der Bauer mit nicht-egoistischen Eigenschaften versehen. Ebenso ist seine Tat keine Folge einer psychischen Erkrankung, sondern Ausdruck seiner Ausweglosigkeit angesichts erdrückender staatlicher Repressalien im Verlauf der Zwangskollektivierung in den Jahren 1959/60. Dass Johnson damit ein zeitgeschichtliches Phänomen in seinen Roman integriert, davon vermittelt Udo Grashoffs beeindruckende Studie »In einem Anfall von Depression …« Selbsttötungen in der DDR einen Eindruck.72 Demnach kann trotz einer erst spät einsetzenden genauen Erfassung der Suizide davon ausgegangen werden, dass sich mehr als 400 Bauern als Folge der Zwangskollektivierung das Leben nahmen.73 In einen kirchengeschichtlichen Zusammenhang stellt Johnson den Suizid des Bauern, indem er dessen kirchliche Bestattung thematisiert: »Der Pfarrer betrug sich mit wortkarger Würde, verstand nicht die Frage: Wenn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden. Es habe aber ein regelmäßiges Begräbnis stattgefunden, und wo er liegt ist nicht die Selbstmörderecke. […] Andere Geistliche haben sich anders verhalten« (ebd.).74 Der Er71 Georges Minois: Geschichte des Selbstmords. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Düsseldorf/Zürich 1996, 25f. 72 Udo Grashoff: »In einem Anfall von Depression …« Selbsttötungen in der DDR. Berlin 2006, 210–217. – Auch die im Dritten Buch über Achim beschriebene Vorgehensweise der »Brigade von Chemiearbeitern« ähnelt dem bei Grashoff beschriebenen Vorgang der Zwangskollektivierung: »Während die SED-Führung offiziell durchgängig verlautbarte, der Eintritt in die LPG solle stets freiwillig erfolgen, sah die Praxis vor Ort oft anders aus. Werbekolonnen belagerten regelrecht die Gehöfte und versuchten, die Bauern, nicht nur mit Argumenten, zu überzeugen.« (Ebd., 211) 73 Der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ) zählte in der Zeit »von 1958 bis 1960 insgesamt 484 Selbsttötungen von Bauern in der DDR«, und obwohl die Bereitschaft sehr groß war, »jede suizidale Handlung mit der Zwangskollektivierung in Zusammenhang zu bringen«, kommt Udo Grashoff ausgehend von den Zahlen der Suizidenten in den drei Nordbezirken (Rostock, Schwerin und Neubrandenburg) in einer Hochrechnung auf eine vergleichbare Zahl. Grashoff: »In einem Anfall von Depression …« (Anm. 72), 214–216. 74 Als Ausgangspunkt könnte Johnson an dieser Stelle ein anderer Fall gedient haben. Im Oktober 1957 wurde den Eltern der verstorbenen 19-jährigen Edeltraut Andersson im

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zähler wirft an dieser Stelle nicht nur ein merkwürdiges Licht auf einen Pastor, der sich der ›Selbstmordfrage‹ in seiner Kirche und ihrer Tradition nicht bewusst zu sein scheint, sondern integriert darüber hinaus einen Diskurs in den Roman, der den »kritischste[n] Fall«75 kirchlicher Bestattungspraxis umfasst und zugleich auf ein zentrales theologisches sowie kirchenrechtliches Problem verweist: Ist einem Suizidenten ein christliches Begräbnis zu gewähren? Und, wenn ja, in welcher Form? Obwohl der Umgang mit Suizidenten in der kirchlichen Praxis seit dem 18. Jahrhundert einem steten Wandel unterlag,76 waren das Begräbnisrecht und die kirchliche Praxis bis ins 20. Jahrhundert hinein von der »Verweigerung der kirchlichen Bestattung und der gottesdienstlichen Kommemoration geprägt«.77 Noch die Ordnung des kirchlichen Lebens von 1955 sah vor, dass ein kirchliches Begräbnis versagt werden muss, »wenn der verstorbene zwar Glied der evangelischen Kirche war, aber das Bekenntnis zu Jesus Christus offensichtlich verworfen oder öffentlich geschmäht hat, oder wenn er trotz ernster persönlicher Mahnung und Warnung in mutwilligem Ungehorsam gegen die Gebote Gottes verharrt hat«.78 Und etwas weiter heißt es explizit auf den Suizid bezogen: »Wo das kirchliche Begräbnis eines Selbstmörders für zulässig erachtet wird, ist jedes Gepränge zu vermeiden«.79 Im Umkehrschluss war es möglich, einem Suizidenten ein kirchliches Begräbnis zu verweigern. Darüber hinaus müsse sich aber auch die Gemeinde, dessen Mitglied sich das Leben genommen hat, »bußfertig fragen lassen, ob diese Sünde nicht auch ihre Schuld ist, weil sie es an Trost, Rat und Hilfe hat fehlen lassen«.80 Erst in den Leitlinien des kirchlichen Lebens der VELKD von 2003 darf keinem Gemeindemitglied mehr »aufgrund seiner Todesumstände eine kirchliche Bestattung verwehrt werden«.81 Somit war es bis

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mecklenburgischen Pampow durch Propst Otto Maercker ein christliches Begräbnis mit der Begründung verweigert, das Mädchen habe statt der kirchlichen Konfirmation die Jugendweihe empfangen. Auch sie wird »nicht in der Reihe, sondern abseits am Zaun beigesetzt«. Für seine Rede zum Bußtag am 19. November 1969 in der Berliner Kongresshalle verwandte Johnson diesen Fall, um »die Identifizierung der Kirche mit früheren Geschäftsfreunden« eines kapitalistischen Gesellschaftssystems vorzuführen. Johnson: Rede zum Bußtag (Anm. 54), 49f. Pastoralkolleg Ilsenburg (Hg.): Wasser, Ring und Erde. Handreichung für Lehre und Ordnung in Taufe, Trauung und Bestattung. Berlin 1953, 157. Vgl. Thomas K. Kuhn: Suizid. III. Kirchliche Praxis und Stellungnahmen. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 (2004). Bd. 7, 1852f., hier 1852. Frank-Michael Kuhlemann: Suizid. II. Kirchengeschichtlich. In: RGG4, Bd. 7 (Anm. 76), 1851f., hier 1851. Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Berlin 1955, 21. Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens (Anm. 78), 21. Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens (Anm. 78), 21. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (Hg.): Leitlinien des kirchlichen

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weit ins 20. Jahrhundert hinein möglich, einem Gemeindemitglied, und auch jener Bauer wird beschrieben als einer, der »der evangelischen Kirche einige Behauptungen glaubte« (ebd.), aufgrund seines Todesumstandes eine kirchliche Bestattung zu verweigern.82 Ursächlich hierfür ist die theologische Grundauffassung, dass ein Suizid »in jedem Fall Versündigung gegen den Herrn über Leben und Tod ist« und die Kirche nichts tun dürfe, »was das Richteramt dieses Herrn verleugnet«.83 Nichtsdestoweniger verweisen die Ordnung des kirchlichen Lebens und weiterführende Handreichungen bereits in den 1950er-Jahren darauf, dass eine Entscheidung für oder gegen ein christliches Begräbnis aus einem »seelsorgerisch-gemeindliche[n] Gewissen«84 heraus erwachsen müsse. Neben der Möglichkeit der Versagung eines christlichen Begräbnisses für Suizidenten bzw. der Gewährung unter der Auflage, dass die Feier in schlichter Form zu erfolgen hat, wird mit dem Verweis auf die »Selbstmörderecke« (ebd.) eine Bestattungspraxis erwähnt, der zufolge Suizidenten bis ins 20. Jahrhundert hinein »an besonderen Orten (›außer der Reihe‹)«85 bestattet wurden. Obwohl die Begräbnisvorschriften in den Landeskirchen uneinheitlich geregelt sind, gab es zumindest inoffiziell bis in die 1970er-Jahre sogenannte Selbstmörderecken.86 Beispielhaft hierfür ist der wohl aufsehenerregendste Suizidfall in der Geschichte der DDR: Am 18. August 1976 verbrannte sich Oskar Brüsewitz, Pfarrer der sachsen-anhaltinischen Gemeinde Rippicha, vor der Michaeliskirche in Zeitz. Jener Pastor Brüsewitz bestimmte in einem Abschiedsbrief an seine Familie, in der sogenannten Selbstmörderecke des Friedhofs seiner Gemeinde bestattet zu werden, und hatte vor seiner Tat bereits damit begonnen, sein eigenes Grab auszuheben.87 Somit baut Johnson beinahe beiläufig, aber an einer

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Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Handreichung für eine kirchliche Lebensordnung. Gütersloh 2003, 89. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die katholische Kirche bis heute an einer Verurteilung des Suizids festhält und damit eine kirchliche Mitwirkung an der Bestattung ausschließt. Vgl. Kuhn: Suizid (Anm. 76), 1853. Pastoralkolleg Ilsenburg (Hg.): Wasser, Ring und Erde (Anm. 75), 157. Pastoralkolleg Ilsenburg (Hg.): Wasser, Ring und Erde (Anm. 75), 158; vgl. auch Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens (Anm. 78), 21f. Kuhn: Suizid (Anm. 76), 1852. In seiner Rede zum Bußtag verweist Johnson darauf, dass die mecklenburgische Landeskirche bereits 1922 kirchengesetztlich die sogenannten Arme-Sünder-Ecken oder auch Selbstmörderecken aufgehoben habe. Vgl. Johnson: Rede zum Bußtag (Anm. 54), 50. – Als Quelle für diese Rede diente Johnson maßgeblich ein Artikel des Spiegel vom 13. November 1957 über den Fall Andersson/Maercker, in dem es hierzu heißt: »Der Propst entschloß sich zu einem derartigen Schritt, obgleich schon seit 1922 für das Gebiet der mecklenburgischen Landeskirche kirchengesetzlich geregelt ist, daß auf kircheigenen Friedhöfen den aus der Kirche Ausgetretenen keine besonderen Plätze, sogenannte Arme-Sünder-Ecken, angewiesen werden dürfen.« Vgl. Das Grab in der Reihe. In: Der Spiegel, Nr. 46 vom 13. 11. 1957, 23–26, hier 25. Vgl. Helmut Müller-Engbers, Heike Schmoll u. Wolfgang Stock: Das Fanal. Das Opfer des

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zentralen Stelle, einen kirchengeschichtlichen Diskurs in seinen 1961 veröffentlichten Roman ein, in dem die soziale Ächtung von Suizidenten durch die evangelische Kirche im Zusammenhang mit der politischen Situation der Zwangskollektivierung in der DDR als unzeitgemäß und in ihrer disparaten Auslegung als willkürlich kritisiert wird. Dass dem Erzähler gerade ein Pastor als Ausgangspunkt dieser kirchengeschichtlichen Reflexion dient, der einem Suizidenten ein »regelmäßiges Begräbnis« (ebd.) gewährt, ermöglicht die Integration dieses Themenkomplexes in den Roman.

V. Um ein Vielfaches ausgebaut ist die theologische Reichweite des Komplexes um den Suizid in den Jahrestagen. Lisbeth Cresspahl, die bereits zweimal den Versuch unternommen hat, sich das Leben zu nehmen,88 sucht die Legitimation für ihren Wunsch nach Selbsttötung in der Heiligen Schrift – als Folge einer streng religiösen, beinahe biblizistischen Sozialisation.89 Gegenüber der Ehefrau Brüshavers behauptet sie, die Bibel verbiete »an keiner Stelle den Selbstmord« (JT, 643). Während Aggie Brüshaver es kaum glauben kann, kommt auch ihr Pfarrers Brüsewitz und die evangelische Kirche. Frankfurt a. M. u. a. 1993, 80; vgl. auch Gerhard Haase: Die auf Gott vertrauen … In: Die Welt vom 17. 08. 2001. Online unter : www.welt.de/print-welt/article468417/Die-auf-Gott-vertrauen.html (14. 07. 2014). 88 Im Tageskapitel des 25. Dezember 1967 hofft Lisbeth, »mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld« (JT, 511), damit gleichzeitig das noch ungeborene Kind vor eigener Schuld zu bewahren. Obwohl sich Gesines Mutter bereits an dieser Stelle unter Verweis auf Gal 6, 7 bewusst ist, dass Gott »mit sich nicht handeln« lasse, stellt der Suizid für sie und ihre selbst empfundene Schuld – mit ihrem Ehemann Heinrich Cresspahl lebte sie nicht, »wie sie vor der Kirche auf sich genommen hatte, mit der Hand auf der Bibel« – dennoch »[e]ine Art Bezahlung« (JT, 512) dar. Die Option des Suizids bleibt somit bestehen. Und so unternimmt Lisbeth einen zweiten Suizidversuch, indem sie weit auf die Ostsee hinausschwimmt und nur durch die Auffälligkeit ihrer Badekappe von zwei Fischern entdeckt und an Land gebracht wird (vgl. JT, 579f.). 89 Bei der Darstellung von Lisbeths religiöser Sozialisation und ihren daraus resultierenden christlichen Vorstellungen darf die Erzählkonstellation der Jahrestage nicht außer Acht gelassen werden. Lisbeths Geschichte wird vom ›Genossen Schriftsteller‹ erzählt, der sich hierfür des Bewusstseins von Lisbeths Tochter Gesine bedienen muss. Für Gesine, die ebenfalls Teil eines ›doppelten Erzählers‹ ist (vgl. Ulrich Fries: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Erzählstruktur und politische Subjektivität. Göttingen 1990, 63), sind die Erinnerungen an ihre Mutter Lisbeth jedoch traumatischer Natur. Lisbeth ist für sie die Mutter, die sie ertrinken lassen wollte (vgl. JT, 617) und sie hungern ließ (vgl. JT, 692), ja ihr »mit Leiden Gutes tun« (JT, 693) wollte. Aufgrund dessen ist Gesine auch nicht imstande, sich in die Perspektive ihrer Mutter hineinzuversetzen: »– Deine Mutter, Lisbeth: sagt Marie. – Erzähl doch mal von ihrer Seite her. / – Das kann ich nun nicht.« (JT, 206); vgl. hierzu auch Winkler : Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl (Anm. 55), 238.

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Ehemann zu dem vorläufigen Schluss: »Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel.« (JT, 646) Besonders eindringlich zeigt sich in diesem Zusammenhang »das vordergründige Bibelverständnis«90 Lisbeths. Die Erkenntnis, wonach die Bibel nicht ausdrücklich, in Form eines Gesetzes, den Suizid verbietet, verleitet sie »zu dem doch etwas simplen, für sie aber verhängnisvollen Umkehrschluß, daß ihr Selbstmord dann wohl erlaubt ist«.91 Trotz dieses schlichtweg ›einfachen‹ Verständnisses der Heiligen Schrift darf gerade an dieser Stelle nicht unbeachtet bleiben, dass Lisbeths Aussage als eine Art Rückversicherung gelesen werden muss, die wiederum als »versteckter Hilferuf an ihren religiösen Beistand, ihren Seelsorger«92 verstanden werden kann. In dieser für sie so entscheidenden Frage ist sie an einer biblischen Exegese interessiert, weil sie selbst auf die Diskrepanz zwischen biblischer Grundlage und christlicher Dogmatik stößt. Wie naheliegend Lisbeths Herangehensweise ist, zeigt sich darin, dass auch Brüshaver zur Bibel greift und konstatieren muss, dass »Samson den Tempel nicht nur über den vornehmen Philistern eingerissen [hatte], sondern auch über sich« (ebd.).93 Schließlich notiert er »neun Stellen« (ebd.)94 auf einem Zettel. Hingegen vergaß er, »was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott« (ebd.). Erst nachdem sich Lisbeth am Morgen des 10. November 1938 das Leben genommen hat, setzt sich Brüshaver ein zweites Mal mit der ›Selbstmordfrage‹ auseinander, jetzt in Form einer grundlegenden theologischen Reflexion, die über die Heilige Schrift hinausgeht. Rainer Paasch-Beeck hat darauf hingewiesen, dass diese Überlegungen Brüshavers »inhaltlich und sprachlich sehr eng an den Abschnitt Der Selbstmord in Bonhoeffers Ethik angelehnt«95 sind. So gelangt der Jerichower Pastor in beinahe wörtlicher Übereinstimmung mit Dietrich Bonhoeffer zu dem Schluss, dass »die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich« verbietet, aber »an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt« ist, weil der Suizid »die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung« (JT, 757).96 Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 106. Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 106. Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 105. Vgl. Ri 16, 29f. Unmittelbar zuvor werden neben dem Tod Samsons noch weitere biblische Suizide benannt: »Abimelech hatte seinen eigenen Tod besorgt, damit er der Schande entging, von einer Frau getötet worden zu sein [vgl. Ri 9, 53f.]. Ahithophel [vgl. 2 Sam17, 23] und Judas [vgl. Mt 27, 5] hatten sich erhängt. Siehe auch Apostelgeschichte 16, 27; Offenbarung 9, 6. Simri hatte sich verbrannt, und es war als eine Folge seiner Sünden gegen Gott erklärt [vgl. 1 Kön 16, 18f.]« (JT, 646). 95 Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 107. 96 Auch Dietrich Bonhoeffer hält es für »eine merkwürdige Tatsache, daß die Bibel an keiner

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Für die Interpretation des Textes ist es unerheblich, dass Uwe Johnson diese Passage nicht durch seine eigene Rezeption von Dietrich Bonhoeffers Ethik in die Jahrestage eingearbeitet zu haben scheint.97 Für die Werkgenese ist es jedoch umso interessanter, dass er für diese und die folgenden Passagen zum Selbstmord Lisbeths auf die Expertise Bodo-Eberhard Köhlers zurückgreifen konnte. Die überlieferte Korrespondenz Johnsons mit dem studierten Religionswissenschaftler und späteren Redenschreiber von Klaus Schütz,98 die im Uwe Johnson-Archiv erhalten ist, beinhaltet u. a. eine neun Seiten umfassende Abhandlung zum Thema ›Selbstmord‹.99 Teil dieser Ausarbeitungen sind »Theologische Bemerkungen und Überlegungen zum Selbstmord«,100 die zunächst die Ausführungen Bonhoeffers in dessen Ethik paraphrasierend wiedergeben. Den theologischen Ausführungen schließt sich bei Bonhoeffer und Köhler eine Abwägung der ›Selbstmordfrage‹ an, die auch in den Jahrestagen Niederschlag findet. Obwohl für Pastor Brüshaver die »grundsätzliche Verurteilung des Selbstmordes«101 unbestritten bleibt, könne er Lisbeth die Vergebung Gottes »doch nicht absprechen« (ebd.) und verlautbart in seiner Sonntagspredigt des 10. November 1938, dass sie »zum Sterben so frei gewesen [sei] wie zum Leben, und wenn sie auch besser das Sterben ihm [= Gott] überlassen hätte, so habe sie doch ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind« (JT, 760).102 Auch in diesem Punkt weisen die Ausfüh-

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Stelle den Selbstmord ausdrücklich verbietet, sondern daß dieser immer wieder (übrigens nicht ausschließlich) als die Folge schwerster Sünde auftritt, so bei den Verrätern Ahithopel und Judas.« Allerdings ließe dies nicht den Umkehrschluss zu, so Bonhoeffer weiter, »daß die Bibel den Selbstmord billigt, sondern daß sie an die Stelle des Verbotes des Selbstmordes den Gnaden- und Bußruf an den Verzweifelten treten lassen will.« Dietrich Bonhoeffer : Ethik. Hg. v. Ilse Tödt u. a. In: ders.: Werke. Bd. 6. Hg. v. Eberhard Bethge u. a. München 1992, 195f. Ein erstes Indiz hierfür ist, dass die mehr als 8.000 Bände umfassende Arbeits- und Privatbibliothek Uwe Johnsons keinen Band Dietrich Bonhoeffers enthält. Vgl. den Onlinekatalog der Universitätsbibliothek Rostock. Online unter : katalog.ub.uni-rostock.de (14. 07. 2014). Durch die Eingabe von »prv johnson« in das Suchfeld können die Bestände von Uwe Johnsons Privat- und Arbeitsbibliothek eingesehen werden. Klaus Schütz war als Regierender Bürgermeister von Berlin Nachfolger von Heinrich Albertz, der im September 1967 infolge des Todes von Benno Ohnesorg zurücktrat, und übte das Amt bis 1977 aus. Vgl. Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins. 1948–1990. München 2009, 250. Vgl. Bodo-Eberhard Köhler : [ohne Titel]. In: UJA Rostock, UJA/H/250002, Bl. 2–10. – Ich danke Shanti Köhler, der Witwe Bodo-Eberhard Köhlers, der Johannes und Annitta Fries Stiftung sowie der Peter Suhrkamp Stiftung für die Erlaubnis, aus der Korrespondenz Uwe Johnsons mit Bodo-Eberhard Köhler zitieren zu dürfen. Darüber hinaus danke ich vielmals Klaus Heinrich. Köhler (Anm. 99), Bl. 8. Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 107. Tanja Winkler weist darauf hin, dass Brüshaver nicht in dem Maße Einblick in Lisbeths Psyche hat, wie es seine Predigt suggeriert: »Lediglich Lisbeths Anfrage nach einem bi-

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rungen Brüshavers erhebliche Parallelen zu denen Bonhoeffers auf. Jener differenziert zwischen dem Selbstmord als Form der Selbsttötung, bei der »ausschließlich und bewußt in Rücksicht auf die eigenen Person gehandelt wird«, und der Selbsttötung, bei der es »um ein bewußtes Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen geht«.103 Auch wenn Zweifel bleiben, ob Lisbeths Suizid aus theologischer Sicht als Opfer gesehen werden kann, so bedeutet diese Tat aus Lisbeths subjektiver Sicht doch eine »Bezahlung der eigenen Schuld und damit die Rechtfertigung ihres eigenen Lebens«.104 Bestärkt wird dieser Eindruck durch den Bibeltext, den Cresspahl für die Zeremonie am Grab auswählt: »Es war der 39. Psalm mit ausgestrichenen Sätzen« (JT, 754). Johnson folgt auch an dieser Stelle der Empfehlung Bodo-Eberhard Köhlers, der unter Verweis auf jenen Psalm mit dem Titel Bittruf angesichts der menschlichen Vergänglichkeit105 handschriftlich an den Rand notierte: »So könnte die Grabesrede anfangen«.106 Aus Köhlers Aufzeichnungen, in denen die Verse 5–10 sowie Vers 13 aus der Lutherbibel zitiert werden,107 lässt Johnson Pastor Brüshaver zu Beginn den fünften Vers zitieren, »in dem es heißt, daß ›mein Leben ein Ziel hat‹« (JT, 763). Dass dieser als vierter Vers ausgegeben wird,108 ist der Verszählung der englischsprachigen King James Bible geschuldet, »die den Einleitungsvers (›Ein Psalm Davids‹) nicht mitzählt und deshalb als ihren 4. Vers […] den entsprechenden 5. Vers der Lutherbibel zählt«.109 Auch die Verse 5 bis 9 fließen in die Predigt Brüshavers ein, ohne in den Jahrestagen jedoch direkt zitiert zu werden. Hingegen werden paradoxerweise die Verse 10 bis 12 paraphrasiert, obwohl sie in der Predigt ausgespart bleiben: »danach fehlte Lisbeths Versprechen zu schweigen, ihre Bitte um ein Ende der Quälerei und ihr Geständnis, sie sei erschöpft von Gottes Schlägen« (ebd.; Hervorhebung: P. O.). Dass genau diese Verse in Brüshavers Predigt fehlen, erscheint naheliegend, legen sie doch das eigene Schicksal des Psalmisten in die Hände Gottes – auf Lisbeth trifft dies hingegen nicht zu. Ihr Schicksal kann wohl kein Vers besser abbilden als der nun folgende 13. und vorletzte des 39. Psalms: »Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien und schweige nicht über meinen Tränen, denn ich bin dein Pilgrim und dein Bürger wie alle meine Väter. O spare

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blischen Selbsttötungsverbot bietet ihm einen Anhaltspunkt für die Motive ihres Selbstmordes«. Winkler: Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl (Anm. 55), 247. Bonhoeffer: Ethik (Anm. 96), 197. Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 108. In der Zürcher Bibel von 1931 trägt Psalm 39 den Titel Hilferuf eines hart Angefochtenen. Köhler (Anm. 99), Bl. 7. Offensichtlich hat Bodo-Eberhard Köhler auf zwei verschiedene Fassungen der Lutherbibel zurückgegriffen. Während die Verse 5–12 mit der Lutherbibel von 1912 übereinstimmen, ist Vers 13 der Lutherbibel von 1892 entnommen. Vgl. JT, 763: »Er begann mit dem 4. Vers […] Von Vers 4 ging es bis Vers 8«. Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 112.

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me, that I may recover strength, before I go home, and be no more.« (Ebd.) Die Wiederholung von Ps 39, 13 in englischer Sprache erklärt nicht nur die Verszählung zu Beginn der Passage, sondern weist zudem über die Jerichow-Ebene hinaus auch nach New York. Da das Ende des Tageskapitels suggeriert, dass der Erzählverlauf des gesamten Tageskapitels das unterbewusste Erzählen Gesines im Schlaf abbildet,110 wird die Sprache von Gesines gegenwärtiger ›Heimat‹ mit der Erinnerung an ihre Mutter Lisbeth verbunden. Im unterbewussten Erzählen kommt so Gesines Trauma zur Sprache, das aus dem frühen Selbstmord der Mutter resultiert.111 Dass Cresspahl darüber hinaus für die Beerdigung seiner verstorbenen Ehefrau »Votum, Lektion, Gebet, Vaterunser, Einsegnung, Segen« (JT, 755) bestellt, eröffnet erneut den kirchenrechtlichen Komplex der Beerdigung von Suizidenten. Gemäß den Richtlinien der Mecklenburgischen Landeskirche sind es »drei Handlungen mehr« (ebd.), als sie Suizidenten gewährt.112 Insbesondere in den Jahrestagen, doch schon im Dritten Buch über Achim werden dieser kirchenrechtliche und weitere kirchengeschichtliche Diskurse ausgestaltet und zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung Uwe Johnsons mit dem Themenkomplex des Suizids. In all diesen Fällen sind die intertextuellen Verweise theologisch fundiert und nahtlos in die Romanhandlung integriert.

VI. Ob beim Umgang der (evangelischen) Kirche mit dem Suizid, ihrer Rolle in der Weimarer Republik und vor allem im nationalsozialistischen Deutschland, dem Konflikt um die Junge Gemeinde oder der Auseinandersetzung mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis – bei all diesen Themen, die Eingang in Uwe Johnsons Romane gefunden haben, wird nicht nur der kritische Blick eines der bedeutendsten deutschsprachigen Nachkriegsautoren auf die Rolle der (evangeli110 Vgl. JT, 768: »– Gesine wach auf. / – Warum? / – Du sprichst im Schlaf.« 111 Dieter Breuers These, wonach die Sprachwahl »auf das Bemühen der Erzählerin [verweise], einmal ihrer Tochter im New Yorker Milieu sprachlich entgegenzukommen, zum anderen den Vater gleichsam zu zitieren«, erscheint hingegen weniger plausibel, wenn man der Erzählintention folgt und das Kapitel als die Wiedergabe eines Traumes von Gesine liest. Dieter Breuer: Die unerledigte Sache mit Gott. Zum religiösen Diskurs in Uwe Johnsons Romanwerk Jahrestage. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (N. F.) 32 (1991), 295–305, hier 305. Wolfgang Wittkowski ist hingegen der Auffassung, dass Lisbeth die Stelle gewiss so zitiert hätte, und fragt: »Sollen hier vielleicht Lisbeth und Brüshaver – hörbar oder still – zusammen sprechen, schweigen? Fällt eins in den Text des anderen mit? Denn wahrhaftig: Lisbeth hat im Tode Kraft benötigt; der Pfarrer braucht sie jetzt, im Leben.« Diese Interpretation klingt in sich schlüssig, lässt aber ebenfalls die Erzählkonstellation des Traumes unberücksichtigt. Wittkowski: Zeugnis geben (Anm. 33), 136. 112 Vgl. hierzu Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? (Anm. 66), 108–112.

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schen) Kirche deutlich. Vielmehr zeugen sie von der theologischen und kirchengeschichtlichen Expertise eines Mannes, der nicht nur protestantisch erzogen wurde,113 sondern sich Zeit seines Lebens mit theologischen und kirchenpolitischen Fragen auseinandersetzte. Außerhalb seines literarischen Werkes ist Johnsons Rede zum Bußtag, auf die bereits am Rande verwiesen wurde und die Eingang in die Sammlung Berliner Sachen gefunden hat,114 Ausdruck dieser Beschäftigung. Auch die Bußtagsrede hat die Themen ›Sterben und Tod‹, die Verweigerung einer christlichen Bestattung im Fall Maercker/ Andersson sowie das »Versagen der Kirche«115 im Nationalsozialismus, aber auch in der Bonner Republik zum Gegenstand. Neben diesen Parallelen in Leben und Werk Uwe Johnsons differieren die kirchengeschichtlichen Diskurse in dessen Romanen nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern auch in der Art ihrer Darstellung. Während sowohl Ingrid Babendererde als auch Das Dritte Buch über Achim kirchengeschichtliche und implizite biblische Verweise aufweisen, kommt es in den Jahrestagen zu einer deutlichen Komplexitätssteigerung. Auf kirchengeschichtliche Ereignisse und theologische Diskurse wird nicht mehr nur rein paraphrasierend Bezug genommen. Stattdessen werden sie mit biblischen Referenzen, teils explizit markiert, angereichert. Diese konkreten Verweise auf die Heilige Schrift ergänzen die kirchengeschichtlichen Diskurse in den Jahrestagen insbesondere um eine ethische Dimension, die damit gegenüber der impliziteren Kritik in den früheren Romanen an Deutlichkeit gewinnt. So trägt die inhaltliche Ausgestaltung der liturgischen Zeremonie am 13. November 1939 mit Stellen aus Mt 18 dazu bei, ein ethisches Problem zur Sprache zu bringen. Der Verweis auf das Matthäusevangelium dient Brüshaver als Ausgangspunkt seiner Anklage an das nationalsozialistische Regime, aber auch dazu, der Jerichower Gemeinde ihre ›Mitschuld‹ am Tod Lisbeth Cresspahls vor Augen zu führen. Uwe Johnsons Œuvre ist gekennzeichnet von einer ungeheuren Komplexität und Informationsdichte, die auch für die Gestaltung religiöser Diskurse kennzeichnend ist. Doch in allen Werken zeugen die religiösen oder gar biblischen Bezugnahmen von einer dosierten, aber genauestens durchdachten Integration in das jeweilige Romangeschehen, die in ihrer Differenziertheit in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ihresgleichen suchen.

113 Vgl. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson (Anm. 3), 243. 114 Vgl. Anm. 74. 115 Rainer Paasch-Beeck: Eine Rede über Kirche und Tod. Uwe Johnsons Rede zum Bußtag. In: Johnson-Jahrbuch 6 (1999), 163–182, hier 168.

Michael Fisch

»Ich liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung«. Hubert Fichtes Blick auf Islam und Koran in dessen Erzählzyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit

I.

Das Scheitern der Forschung

Am 21. März 2015 wäre Hubert Fichte achtzig Jahre alt geworden – er ist jedoch nur fünfzigjährig am 8. März 1986 in Hamburg gestorben. Sein Werk ist inzwischen weitgehend erfasst und vielfach erforscht.1 Insbesondere sein seit den späten Sechzigerjahren entstehender und posthum veröffentlichter neunzehnbändiger Zyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit bietet immer noch neue Möglichkeiten der Relektüre, Reinszenierung und Kontextualisierung.2 Etwas Erstaunen kann die Erkenntnis hervorrufen, dass sich literaturwissenschaftliche Arbeiten dem Kontext von Religion im Werk von Hubert Fichte bislang kaum geöffnet haben, abgesehen von Analysen zu dessen Beschäftigung mit synkretistischen Religionsformen in Mittel- und Südamerika. Dieser blinde Fleck in Bezug auf die Darstellung und Interpretation der monotheistischen Religionen in dessen Arbeiten könnte sich deshalb deutlich machen, weil einerseits diese Thematik allenfalls an den Rändern dieses offenen und ausufernden Werkes vorkommt und andererseits diese Fragestellung erst in einer speziellen Rezeption bzw. in einer permanenten Relektüre augenfällig wird. Hubert Fichtes Diktum, dass Genauigkeit ein Versteck sei, könnte darum zu dieser Betrachtung initial einladen. Obwohl ich mich selbst seit drei Jahrzehnten mit Leben und Schreiben dieses Autors beschäftige und unlängst meine umfangreiche Hubert-Fichte-Sammlung der Universitäts- und Stadtbibliothek 1 Vgl. bspw. Michael Fisch: Explosion der Forschung. Bibliografie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Bielefeld 2006, und ders.: Verwörterung der Welt. Über die Bedeutung des Reisens für Leben und Werk von Hubert Fichte. Aachen 2000. 2 Vermutlich sind erste Ideen zu dem Projekt einer Geschichte der Empfindlichkeit im Jahr 1967 in Rom entstanden. Damit umfasst die kontinuierliche Arbeit an diesem außergewöhnlichen Erzählzyklus knapp zwei Jahrzehnte bis zum Tod des Autors. Vgl. Wolfgang von Wangenheim: Roman eines Romans: Alte Welt. In: Hartmut Böhme u. Nikolaus Tiling (Hg.): Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert Fichtes. Frankfurt a. M. 1991, 210. Vgl. hierzu Hubert Fichte: Alte Welt. Glossen. Hg. von Wolfgang von Wangenheim. Frankfurt a. M. 1992, 222 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. V).

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Köln geschenkt habe, entdecke ich immer noch innovative Themen in dessen Werk.3 Nach einem möglichen Verhältnis von Leben und Schreiben fragt Hubert Fichte in seinem Buch Alte Welt: »Wie kann man gleichzeitig leben und schreiben? Wie kann man, was man erlebt, beschreiben? Mindert oder mehrt das Schreiben das Leben? Die implizite Antwort ist der Roman selbst«.4 Dieser sowohl beschreibende und analysierende Reisende als auch narrative und explorierende Schriftsteller ist sowohl bekannt durch eine wüste Polemik gegen die Bibelübersetzung von Martin Luther als auch durch sein Eintreten für den seinerzeit kaum wahrgenommenen schlesischen barocken Dichter und Dramatiker Daniel Casper von Lohenstein und dessen religiöse und politische Konstellationen in seinen Trauerspielen.5 Wesentliche Motive der literarischen Produktion dieses Schöpfers sind demnach explikative und konnektive Interpretationen alter Quellen und älterer Texte. In Fichtes Werk kommen Wissenschaft und Poesie, Literaturwissenschaft und Roman zusammen.6 Ich selbst arbeite an einem Erzählzyklus Eine Neue Welt, der dieses Konzept einer nicht geschlossenen Textualisierung von Leben und Werk aufzunehmen versucht. Der 2010 erschienene Roman khamsa rekurriert neben Roland Barthes auf Hubert Fichte. In seiner Dissertation von 2013 kommentiert Mario Fuhse: »Zuletzt erschien eine Reflexion in Michael Fischs Roman ›khamsa‹. Fisch […] signalisiert nicht nur durch die von Fichte übernommene Schreibweise von ›Djemma el Fna‹, sondern auch durch die Aufnahme einer Textreflexion Canettis eine deutliche Nähe zu Fichtes Poetik«.7 Fichtes Radiofeature über eine Reise nach Ägypten setzt mit den Worten an: »Ich liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung« und gelangt als Zitat in eben den Roman khamsa.8 3 Wolfgang Schmitz (Hg.): Jahresbericht 2007 der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Köln 2008, 6 u. 39. Anlässlich der Schenkung ist ein Sammelband zu Hubert Fichte in Vorbereitung, der auch den Katalog der Titel enthalten wird. 4 Wangenheim: Roman eines Romans (Anm. 2), 200. 5 Vgl. Michael Fisch: Der halb geschmeckten Lust mehr reife Früchte. Hubert Fichtes Rezeption des literarischen und musikalischen Barocks, vornehmlich des Werkes von Daniel Casper von Lohenstein. In: Christiane Caemmerer u. Walter Delabar (Hg.): Ach, Neigungen zur Fülle. Zur Rezeption barocker Literatur im Nachkriegsdeutschland. Würzburg 2001, 29–42. Vgl. hierzu auch Fisch: Verwörterung der Welt (Anm. 1), 121f. u. 142f. 6 Hubert Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen. Rede in der Frobenius-Gesellschaft, Frankfurt am Main am 12. Januar 1977. Hg. und mit einem Essay versehen von Michael Fisch. Hamburg 2001. 7 Mario Fuhse: Der Platz des Platzes. Gestalt- und raumtheoretische Kontextualisierungen zu Hubert Fichtes Roman »Der Platz der Gehenkten«. Hamburg 2014, 119. 8 Michael Fisch: Khamsa oder Das Wasser des Lebens. Roman. Klagenfurt 2010, 175 (Eine Neue Welt, Bd. V). Vgl. hierzu ders.: Plural oder Die Vervielfältigung des Ich. Roman. Hamburg 2013 (Eine Neue Welt, Bd. III).

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Hubert Fichte, der sich zwischen den Polen von Literatur und Wissenschaft bewegt, gesteht sich in seinem Roman Forschungsbericht das Scheitern eben jener Forschung ein, denn er glaubt, »dass er sich jetzt selbst vom Beginn aller materialistischen Wissenschaftlichkeit her überprüfen müsste«.9 Zwischen einem »eurozentrischen Kitsch« und dem »Horror der Forschung« verliert der Autor den Zwang, »alles in religionswissenschaftliche oder historische Zusammenhänge einzuordnen«, und scheitert zuletzt daran, »aus dem Filz von Handlungen, Gesten, Vorstellungen, Wörtern, Betonungen, Eindrücken eine ganze Zeremonie zu beschreiben«.10 Dabei arbeitet Hubert Fichte schon länger an dem Konzept einer »Poetischen Anthropologie« mit einem poetischen Zugang zur traditionellen Wissenschaft, denn er selbst kommt vom Wort her und will zur Wissenschaft hin. In seinen als Redetext vorgetragenen Ketzerischen Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (1977) setzt er gleich zu Beginn mit den Worten an: »Unter ›Logos‹ versteht man vor allem ›Das Wort‹. Worte sind Verhaltensweisen. Schon hier gibt es eine Antinomie: Der Typus der Beschreibung und der Typus des Beschriebenen gehen unkritisch ineinander auf. Antinomien können nur poetisch ausgedrückt werden«.11 Er beschreibt demnach in seinem Forschungsbericht die Suche nach »Sinn und Form«, bei der er »Einfälle, die er ethnologisch nicht rechtfertigen konnte«, erhielt. Denn, so der Autor, »es ist einfacher die Wahrheit zu sagen«, doch steht neben »der Ehrlichkeit […] das Verschweigen« und »das Verschweigen vergiftet weniger als der Bericht«.12 Um die Wahrheit schreiben zu können, muss Hubert Fichte auf Reisen gehen, denn er will beschreiben, »was ihm die Wahrheit zu sein scheint«. Darum sind seine Reisen nicht nur Welterfahrung und Welterkenntnis, sondern das Reisen selbst wird ihm zur Methode der Forschung. Seine Reisebeschreibungen sind Mitteilungen über Reiseerfahrungen und Reiseerkenntnisse, zudem sind sie Reiseempfindungen. Resigniert stellt er fest, dass er »schreiben will für eine Welt, in der es keine Schrift mehr geben wird, keine Leser, wahrscheinlich keine Augen mehr«.13 Zuletzt entscheidet sich der im Forschungsbericht an der nach europäischen Maßstäben und dem »blanken Kolonialismus« gescheiterte Forscher für »das misshandelte Selbstporträt« und der Romancier dafür, »das Schicksal der Welt« 9 Hubert Fichte: Forschungsbericht. Roman. Hg. von Gisela Lindemann. Frankfurt a. M. 1989, 32 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. XV). 10 Fichte: Forschungsbericht (Anm 9), 41, 45, 55 u. 58. 11 Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 7. 12 Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 95, 93, 90 u. 98. 13 Michael Fisch: Von der Sprache der Wissenschaften und der Fundierung des Poetischen bei Hubert Fichte. In: Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 63.

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mithilfe von »seinen Masken« als einen Roman beschreiben zu wollen, denn so lautet seine Erkenntnis: »Das ist kein Forschungsbericht«.14 Als ein Kunstmittel gegen die allzu große Wirklichkeit im Roman werden dem Schriftsteller Travestie und Parodie, Maske und Spiel wichtige Hilfsmittel und Möglichkeiten für sein poetisches Verfahren. Wenngleich der Autor Masken nutzt, so sind seine Texte keineswegs Maskierungen, denn er möchte schließlich leben, um eine Form der Darstellung zu finden. Damit meint er, (s)ein Leben als das Erlebte zu verschriftlichen, zu vertextlichen und damit zu verwörtern.15 Die allgemein übliche Trennung von Leben und Schreiben wird auf diese Weise aufgehoben und eine vermeintliche Dichotomie von Inhalt und Form, Sprache und Macht, Raum und Zeit, Identität und Herrschaft, Subjekt und Religion soll auf diese Weise konsequent aufgelöst werden, denn »die Literatur handelt von Wörtern«.16 Aber, so fragt der Autor : »Was geschieht, wenn uns Worte rühren, deren Formelhaftigkeit wir kennen?«17 Den europäischen Geist sieht der Autor in stiller Verantwortung, wenn er feststellt, dass »das sprachliche Abbild unserer Zivilisation nach der ersten Kolonisation und der zweiten, der touristischen«18 nicht mehr zu leugnen ist. Sein Bekenntnis zu einer Verschriftlichung des Lebens und zu einer Verwörterung der Welt löst sich damit eindeutig vom traditionellen Verfahren eines autobiographischen Schreibens. Nicht zuletzt ist dessen Geschichte der Empfindlichkeit sowohl als eine Art Tagebuch des Autors als auch als (s)eine Geschichte des Tourismus lesbar. In den Wissenschaften vom Menschen, in der Anthropologie, Ethologie, Ethnologie und Soziologie, dominiere eine Metasprache, so Hubert Fichte, »mit der Formeln eingeführt werden, jene Sprache der Wissenschaft, die uns an jeder Ecke die Realität und die Wirklichkeit verstellt. […] Was wird damit bezweckt? Die Entmündigung. Die Entmündigung durch eine Sprache der Wissenschaft«.19 Fichte geht einen anderen Weg, nämlich den der poetisch komponierten Sprache. Damit meint er »poetisch freilegen – nicht zupoetisieren«, denn, so fragt er schließlich: »Lernen wir von den Erkenntnissen der Indianer, der Afrikaner, der Araber? Von ihren Ernährungsweisen? Ihrer Architektur? Ihrem Städtebau? Ihrem Gesundheitswesen?«20 Leicht ließe sich hinzufügen: Von ihren Religionen? 14 15 16 17 18 19 20

Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 132, 102, 115, 108 u. 131. Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 421. Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 309. Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 312. Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 337f. Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 10. Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 16 u. 11.

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Für diesen Autor fällt das Ende seines Forschungsberichts »mit dem Ende des Forschungsgebietes« zusammen, wenn er konstatiert, »ein Forschungsbericht ist das nicht«, denn die europäische Perspektive laute, dass der »Unterschied zwischen Wissenschaft und Papier der zwischen Karteikarten und Din-A-4Papier« sei. Darum entscheidet er sich: »Ich schreibe einen Roman«. Für Fichte wird das Erzählen zum Titel und das Leben zur Beschreibung, indem er sein Werk und sein Leben narrativ verbindet. Nun muss er noch herausstellen, was die »misslungene Forschung zu einem Roman machen würde«.21 Hubert Fichte erkennt in der Sprache des wissenschaftlichen Weltbildes »die Verkrüppelungen unserer Welt«, denn »Haikus drücken oft mehr über eine Gesellschaft aus, als drei Folianten umgestülpter Zettelkästen«. Das Poetische soll und muss fundiert werden durch empirisches und logisches Verhalten, denn es gebe durchaus »eine mögliche Erweiterung der Wissenschaft durch poetische Kategorien«.22 Der Roman Forschungsbericht ist darum der »dargestellte Widerstand der Wirklichkeit gegen die Kunst«,23 so Wolfgang von Wangenheim. Den posthum erschienenen Roman Forschungsbericht schrieb sein Autor im März 1981 im marokkanischen Agadir nieder. Die ironische Beschreibung des Scheiterns von Forschung bildet einen von vielen Höhepunkten im Werk von Hubert Fichte. Eine Antwort auf dieses Scheitern kann für diesen außergewöhnlichen Schriftsteller nur lauten: »Reisen! dachte er : Alle umarmen! Die Welt! Ja! Reisen ist das Auslöschen der Welt, dachte er : Überall sein – nirgends.«24

II.

Alte Welt (Kairo)

Ähnlich euphorisch wie im Forschungsbericht äußert sich der Autor fünfzehn Jahre zuvor in seinem Buch Alte Welt: »Alle wollen reisen. Ich wollte auch immer reisen. […] Reisen. Alles ist Reisen«.25 Und auf seinen Reisen stellt er fest: »Die Alte Welt zerfällt. Die neue Welt tritt auf«. Er sieht im vermeintlich Fremden keine Verlockung und sucht die Erkenntnis, dass das Fremde jener unterdrückte Teil ist, der Ängste auslöst, wie stets das Unerklärliche. Andererseits macht das Fremde es zugleich erst möglich, unbelebte Teile des Selbst zu entdecken und zu erfahren. »Ich will nicht forschen. Es gibt nur eine Forschung. Ich selbst. Oder : 21 Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 128, 139, 140, 141 u. 151. 22 Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 11, 17 u. 20. 23 Wangenheim: Roman eines Romans (Anm. 2), 206. 24 Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 12. 25 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 22 u. 23.

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Mich selbst«.26 Darum ist sein Buch Alte Welt »ein Roman über das Schreiben und seine Gattungen«.27 Mit dem ersten Auftrag eines NDR-Reisefeatures über Griechenland im Jahr 1966 entsteht ein Wechsel in Fichtes Arbeitsweise und Schreibprozess und dieser Wandel unterstreicht dessen Aufhebung von Gattungsgrenzen mit dem späten Ziel, eine Sammlung von Reiseberichten als einen Roman zu veröffentlichen. Jener Alten Welt (zunächst Europa und Nordafrika von 1966 bis 1969) wird dieser Autor später eine Neue Welt (Westafrika von 1974 bis 1978 und New York von 1978 bis 1980) gegenüberstellen, insbesondere in den weiteren Glossenbänden Psyche und Die schwarze Stadt. Der Untertitel Glossen verweist »auf die frühmittelalterliche Praxis der Textbearbeitung in Form von Übersetzung und Erläuterungen, die zwischen den Zeilen oder am Rande des lateinischen Bezugstextes geschrieben wurden. Die Glosse ist das Gegenstück zum Zitat«.28 Reisen ist selbstredend auch für Hubert Fichte eine Bewegung in Zeit und Raum, zudem auch eine Bewegung in der Erinnerung (an das Reisen). Dieser Kontext mag erklären, warum sich dessen gemeinsam biographisches Projekt wie literarisches Werk synchron zu seinen Reisen verhält. Reisen ist bereits zum Zeitpunkt der Bewegung dessen Erinnerung. Reisen ist überdies Leidenschaft für die Bewegung als auch Leidenschaft am Schreiben und beides enthält einen Prozesscharakter. »Sich selbst absolut zu setzen und das Leben in sich aufzusaugen, gelingt über das Reisen und das Schreiben«.29 Der Autor schildert in diesem Band beispielsweise eine Rundreise durch Ägypten, die ihn in nur drei Wochen durch die Städte Kairo (31. Oktober bis 3. November), Luxor und Theben (4. bis 8. November), Assuan (8. bis 12. November) und zurück nach Kairo (13. bis 21. November) führt. Er besucht nicht nur die Tempel von Luxor und Karnak, fährt nicht nur ins Tal der Könige nach Theben, besichtigt nicht nur Abu Simbel und das Mausoleum des Aga Khan, sondern – und das mag überraschen – er »verteidigt den Massentourismus«, denn er »liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung«.30 Das Hamburger Reiseunternehmen Thomas Cook hatte einen ausführlichen Reiseplan für Hubert Fichte und seine Begleiterin ausgearbeitet und beide reisen diesem Plan nach und probieren aus, was man unter diesen touristischen Bedingungen 26 Zit. n. Fisch: Von der Sprache der Wissenschaften und der Fundierung des Poetischen bei Hubert Fichte (Anm. 13), 46. 27 Wangenheim: Roman eines Romans (Anm. 2), 203. 28 Wangenheim: Roman eines Romans (Anm. 2), 204. 29 Fisch: Verwörterung der Welt (Anm. 1), 110. 30 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 570. Schon 1964 dachte der Autor nach »über den Tourismus, über die Völkerwanderung, über den Krieg, über die permissive society, über die Sprache, die zu sich selbst kommt«. In: Hubert Fichte: Eine Glückliche Liebe. Roman. Hg. von Gisela Lindemann. Frankfurt a. M. 1988, 15 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. IV).

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erleben und erfahren kann. Es handelt sich hierbei um eine organisierte Rundreise durch Ägypten.31 Neben der Beschreibung von Alltagssituationen konzentriert sich Hubert Fichte auf die Auswirkungen der islamischen Religion in diesem (seinerzeit) sozialistisch regierten Land auf das Leben der Menschen: »Meiner Frau und mir wird das Doppelzimmer aus religiösen Gründen verweigert«, denn »wir haben nicht den gleichen Namen«. Darum müsse er, der nicht muslimische Europäer, kapitulieren vor dem »islamischen Codex«.32 Für Fichte ist der Ort des Schreibens zugleich ein Platz des Erlebens. Im Alltagsleben entdeckt der Reisende »Scharen von Armbandverkäufern, Taxifahrern, vielsprachigen Guides, Geldwechslern, die alle auf die vielen Fremden warten, die nicht kommen«. Fichte entdeckt eine Geldgier, die »noch ihre Begierde überwiegt. Beziehungsweise die Religion hat sie zu solchen Heuchlern erzogen, dass sie die Sünde nur gewerblich zu begehen wagen«.33 Dieser Vorwurf wiegt schwer und richtet sich gegen jene, welche die Wünsche des Europäers nicht ohne Geld erfüllen. Aber warum sollten sie auch?34 Schon vorher konstatiert Fichte eine »übliche arabische Heuchelei«.35 Der Autor scheut also kaum Stereotypen, wenn er ebenso feststellt, dass »die Araber gern gelobt werden« wollen, aber »Kritik schwer ertragen«.36 In Kairo begibt sich Fichte auf die Suche nach den Spuren der drei monotheistischen Religionen und besucht das koptische Viertel der Christen (Mar Girgis), das jüdische Viertel um die Synagoge und nicht zuletzt die Al-AzharStraße in der Nähe des Khan-al-Khalil und der Al-Azhar-Moschee. Auch die älteste Moschee (neben der Moschee des ’Amr ibn al-’ffs) Ibn Tulun besichtigt er.37 Wenngleich Fichte im Vergleich zu seinen bundesdeutschen Schriftstellerkollegen im Jahr 1969 als einer der ersten direkte Eindrücke über den Islam bekommt und diese vertextet, ist eine genauere Verarbeitung dieses Themen31 Wilfried F. Schoeller : Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin. Eine Lebensreise. Frankfurt a. M. 2005, 296–298. 32 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 573. 33 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 575 u. 592. Vgl. auch Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 138. 34 Hubert Fichte thematisiert hier das Verbot der Homosexualität im Koran und entdeckt eine Doppelmoral, nämlich homosexuelle Handlungen gegen Geld vorzunehmen, ganz so, als sei Prostitution nicht verboten. Er spielt Begierde (Trieb) gegen Gier (Geld) aus, bleibt aber einen Beweis dafür schuldig. In seinem Roman Der Platz der Gehenkten zitiert er die Verse 7: 80–84 und 26: 165–173, in denen über die »Abscheulichkeiten« derer gesprochen wird, »die nur mit Männern verkehren«. Der Fromme Ab˜-s-S–’ib (gemeint ist ’Uthm–n ibn ’Aff–n) soll gesagt haben: »Ich fürchte mich mehr vor einem bartlosen Jugendlichen als vor siebzig Jungfrauen«. 35 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 294. 36 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 334. 37 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 576, 577 u. 581.

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potenzials leider nicht abzusehen. Er gesteht sich selbst ein, dass »er über Kairo genauso gut oder schlecht hatte notieren können, wie über Bombay oder Tokio«.38 Entgegen der Orientbegeisterung späterer Ägyptenreisender wie Ingeborg Bachmann (Mai 1964), Max Frisch (April 1982) oder Gerhard Roth (vier Mal zwischen 1999 bis 2010) kann sich der Fünfunddreißigjährige diesem Themenspektrum vorerst nicht öffnen.39 Nicht die Religion(en) interessieren ihn, sondern Herodot als antiker Reisender in dieser Mittelmeerregion und dessen Beschreibungen in den Historien.40 Auch Homers Odyssee41 und die altägyptischen Hieroglyphen faszinieren ihn. Er notiert gar ein selbst komponiertes Hieroglyphenalphabet, das an das Paletten-ABC erinnert.42 Dieses neunzehnbändige Hieroglyphenalphabet43 nimmt bereits die Anzahl der Bände seiner zukünftigen Geschichte der Empfindlichkeit vorweg, also neunzehn. Als Hubert Fichte aus Ägypten nach Deutschland zurückkommt, hat sein Auftraggeber das Gefühl, »dass an seinem Feature etwas fehle«.44

III.

Bilder eine Stadt (Agadir)

Von Januar bis Februar 1968 bereist Hubert Fichte Marokko. Sein Reisepass verzeichnet als Einreisedatum den 6. Januar 1968 (Tanger) und als Ausreisedatum den 28. Februar 1968 (Agadir) – das sind sechs Wochen Aufenthaltsdauer. Bei einer zweiten Reise landet er am 8. Februar 1970 in Agadir und reist am 1. Mai 1970 vermutlich über Paris zurück nach Hamburg – das sind fast zwölf Wochen. Im März 1981 ist der Autor erneut in Agadir und arbeitet an seinem 38 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 601. 39 Vgl. Michael Fisch: Sie sind in die Wüste gegangen. Das Licht erbrach sich über ihnen. Ingeborg Bachmanns Reise nach Ägypten und in den Sudan im Mai 1964 und ihr »Todesarten«-Projekt. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2011, 87–99. Ders.: Geblendet vom Sonnenlicht öffnete (und schloss) er die Augen. Gerhard Roths Reisen nach Ägypten und sein »Orkus«-Zyklus. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2012/ 2013, 45–67. Ders.: So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches. Max Frischs Reise nach Ägypten und seine introspektive Suche nach einer Möglichkeit des Lebens im Angesicht des Todes. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2014/2015 (im Erscheinen). 40 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 608. 41 Hubert Fichte: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann. Frankfurt a. M. 1989, 106 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. VI). 42 Vgl. Fisch: Verwörterung der Welt (Anm. 1), 113, und Fichte: Eine Glückliche Liebe (Anm. 30), 21: »Die Welt und die Welt. […] Das Palettenalphabet. Kann ich die Welt noch einmal buchstabieren«. 43 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 607. 44 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 611 u. 612.

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literaturkritischen Essay über den Roman Washington Square (1881) von Henry James und an seinem Romantext Forschungsbericht.45 Indem Fichte das englische Wort »Square« als deutsches Äquivalent »Platz« liest, eröffnen sich neue Aspekte seiner Kritik an Henry James.46 Eine weitere Reise führt ihn im Januar 1983 wiederholt nach Agadir, wo er an seinem Roman Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs arbeitet. Im April und Mai 1985 stellt er dann ebenfalls in Agadir seinen Roman Der Platz der Gehenkten fertig. Marokko, insbesondere Agadir ist darum für diesen Autor ein produktiver Aufenthaltsort. Zunächst besucht er die Hafenstadt Agadir, was in der Sprache der Berber übersetzt »Festung« oder »Speicherburg« bedeutet. Allerdings kann der bedeutsame Name die Zerstörung der Stadt nicht verhindern. Die Hafenstadt und das Seebad an der Westküste Marokkos wurden am 29. Februar 1960 gegen 23 Uhr 45 durch ein Erdbeben in nur zwölf Sekunden fast vollständig zerstört. Ein wesentlicher Grund für diese Katastrophe bestand in der fragwürdigen Bauweise der Häuser. Fichte thematisiert folgend das Erdbeben und den Wiederaufbau, das Verschwinden einer Stadt durch ihre Zerstörung und die sich hieran anschließende Entwicklung des Tourismus. In Agadir wie später in Marrakesch erkennt der Autor touristische und mediale Einflüsse als grundsätzliche Veränderungen, die als soziale Umwälzungen nicht zuletzt das menschliche Verhalten verändern. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten, da der Tourismus – stärker denn je – seinen Einfluss auf die spezifischen Kulturen ausübt. Allerdings ist Hubert Fichte selbst ja als touristischer Autor und schreibender Tourist unterwegs. In mittelbarer Nähe wird die Stadt neu konzipiert und wieder aufgebaut und gilt seitdem als eines der größten Touristenzentren Marokkos, noch vor den Reisezielen Casablanca und Fes, Tanger und Marrakesch.47 Allerdings erlebt der Reisende jene Städte nur als ein Klischee: »Marrakesch: Das Mittelalter, Die Bibel, Ödipus und Tausend und eine Nacht«.48 Sieben Wochen immerhin verbringt auch Hubert Fichte in Agadir und kehrt später immer wieder hierhin zurück, denn hier kann er produktiv sein und Texte bearbeiten und Typoskripte fertigstellen.49 So erstellt er unter anderem ein Radiofeature mit dem Titel

45 Hubert Fichte: Der objektive und der subjektive Autor. Anmerkungen zu Henry James’ »Washington Square«. In: ders.: Homosexualität und Literatur. Polemiken. Bd. 1. Hg. von Torsten Teichert. Frankfurt a. M. 1987, 431–467 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Paralipomena 1). 46 Vgl. Fuhse: Der Platz des Platzes (Anm. 7), 151–157. 47 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 288 u. 297. 48 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 303. 49 Vgl. Fuhse: Der Platz des Platzes (Anm. 7), 253.

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Agadir. Bilder einer Stadt (Südwestfunk 1968) und einen Fotokurzfilm mit dem Titel 2 x 45 Bilder. Sätze aus Agadir (Westdeutscher Rundfunk 1971).50 In seinem Radiofeature bemerkt Hubert Fichte: »Ich bewundere den Wiederaufbau von Agadir«, allerdings hat »der Wiederaufbau von Hamburg, von Berlin bewiesen, dass wir aus den Katastrophen nichts gelernt haben«, doch »Agadir ist dazu berufen, der Badeplatz des euroafrikanischen Westens zu werden«.51 Eine Erklärung des marokkanischen Königs Mohammed V. zitiert Fichte in Übersetzung als »Der Wiederaufbau von Agadir wird das Werk unseres Willens und unseres Glaubens sein«52 und erkennt, dass die architektonische Planung weniger der marokkanischen Bevölkerung denn dem Tourismus dienen wird. Vielleicht aber stellt der marokkanische Machthaber diesen Kontext zur islamischen Religion deshalb her, weil das Erdbeben von Agadir im Monat Ramadan geschah und (nicht nur) die religiösen Menschen wohl dachten, »das ist das Ende der Welt«.53 In seiner Beschreibung von Agadir und seinen Bewohnern entdeckt Hubert Fichte Riten der islamischen Religion wie beispielsweise das Knien und »sich mit dem Oberkörper in Richtung Mekka« Werfen, dass »die Hygiene mit der Religion eng verbunden« ist, dass »Beschneidung und Waschungen von der Religion vorgeschrieben« werden und ein Reisender in Agadir »Koranschreiber und Koranrezitatoren« treffen kann.54

IV.

Der Platz der Gehenkten (Marrakesch)

Den posthum erschienenen Roman Platz der Gehenkten schrieb sein Autor im Mai 1985 in Agadir nieder. Sein damit letzter in Reinschrift übertragener und als druckreif vollendeter Roman widmet sich der Djemma el-Fna. Seine 1970 nach Marrakesch unternommene Reise wird von Hubert Fichte fünfzehn Jahre später ein zweites Mal – sozusagen auf Papier – erlebt, indem sich erinnerte Erfahrungen mit gegenwärtigen Erkenntnissen verbinden.55 Der Titel dieses Buches lässt mehrere Varianten zu. Fna benennt in der Sprache der Berber den Tod. Demnach wäre es also der Ort des Todes. Da aber 50 Sowohl das Typoskript zum Radiofeature ist in dem Glossenband Alte Welt (314–347) abgedruckt als auch das Typoskript zum Fernsehfilm (348–354). 51 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 344, 346 u. 319. 52 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 318. 53 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 321. Es war nach islamischem Kalender der 9. Ramadan 1379 und nach dem gregorianischen Kalender der 29. Februar 1960 (ein Schaltjahr). 54 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 315, 339 u. 343. 55 Vgl. Fichte: Der Platz der Gehenkten, 217 und die editorische Notiz der Bandherausgeberin Gisela Lindemann, ebd. 219.

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seinerzeit auf diesem Platz Kriminelle und Oppositionelle durch Erhängen hingerichtet wurden, entscheidet sich Hubert Fichte für Der Platz der Gehenkten. An anderer Stelle im Roman heißt es sogar : »Djemma el Fna heißt gar nicht Der Platz der Gehenkten. Djemma heißt die Moschee. Die Versammlung. Also vielleicht der Platz. Fna heißt das Fenster. Das Beendete. Der Tod. Der Platz der Toten. Nicht der Platz der Gehenkten«.56 In Marrakesch wird die Wirklichkeit zum Mythos und die Realität erscheint als ein Produkt der Einbildungskraft. Gemäß des Diktums von Hans Blumenberg, dass »der Grundmythos […] nicht das Vorgegebene, sondern das am Ende sichtbare Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen genügen konnte«,57 ist, sind ebenso für Hubert Fichte dort Mythos und Wirklichkeit miteinander eng verflochten. In der Sprache der Berber bedeutet Marrakesch »Geh schnell«, denn aus Angst vor Überfällen beschleunigten frühere Reisende ihre Schritte. Hubert Fichte erreicht im Februar 1970 Marrakesch mit dem Flugzeug und vom Flughafen Al-Manara fährt er mit dem Taxi an dem bekannten Minarett der Koutoubia vorbei und erreicht den damals sowohl in der Literatur als auch im Tourismus noch wenig bekannten Platz der Gehenkten, die Djemma el-Fna. »Der Negerjunge liegt im Garten der Koutoubia. Zwischen Rittersporn, Lilien, Mohn. Er raucht Kiff. Er winkt mich heran, ich soll mich zu ihm legen«, doch der Autor entscheidet sich anders, denn sein »Platz der Gehenkten ist kein Platz des Kiff. […] Mir zittern die Hände nach Kiff«.58 Später bereut es der Reisende: »Nachts im Garten der Koutoubia versuche ich mich an die Farben des Mohns und der Lilien zu erinnern«.59 Sechzehn Jahre zuvor besuchte Elias Canetti im Frühjahr 1954 diesen Ort und schrieb später das schmale Buch Die Stimmen von Marrakesch, das allerdings erst 1967 veröffentlicht wurde. Hubert Fichte kommentiert diesen Text abwertend: »Da bringt es einer schnell zum Genie, wenn er vom Glück der Esel in Marrakesch dichtet – eine Notiz zur Tierhaltung in marokkanischen Städten transportierte Wahrheit mehr«.60 Und in seinem Marrakesch-Roman Der Platz der Gehenkten porträtiert er Canetti abwertend: »Der untersetzte Ausländer, mit einem Gesicht wie Strindberg, macht sich eine Notiz ins Lederbändchen«.61 Schon in Alte Welt heißt es: »Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Ungenauer, weinerlicher Käse. Empörend das Kapitel: Die Lust des Esels«.62 56 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 108. Vgl. hierzu auch Fichte: Forschungsbericht (Anm. 9), 16. 57 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1984, 192. 58 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 58 u. 82. 59 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 156. 60 Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (Anm. 6), 20. 61 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 94. 62 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 564.

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Die Schlüsselszene um den gequälten Esel wurde vielfach interpretiert, sowohl in Hinsicht auf Canettis Darstellung als auch auf Fichtes Kritik. Bislang unterblieb der Hinweis darauf, dass das Maultier, als das Produkt einer Kreuzung von Eselstute und Pferdehengst, im Islam eine besondere Bedeutung hat. Der arabische Historiker Muhammad ibn Saad (784–845) schreibt, dass Duldul das erste Maultier im Islam war. In der Schlacht von Hunain im Jahr 630 soll der Prophet Muhammad auf Duldul geritten sein. Das Tier, das auf Arabisch baghl heißt, überlebte den Propheten um mehr als dreißig Jahre. Islamische Rechtsregeln lauten, dass es verboten sei, Maultierfleisch zu essen, aber erlaubt sei, auf Maultieren zu reiten. Der normale Umgang mit ihm sei nicht unrein, aber eine Kreuzung zwischen Esel und Pferd selbst durchzuführen, sei verboten. Sollte ein Maultier widerspenstig sein, dann soll es nicht geschlagen, sondern eingesperrt werden. In seinem Gefängnis solle das Maultier den Koran lesen. Für Hubert Fichte bedeutet der Eintritt auf den Platz der Gehenkten ein Eintreten in die arabische Sprache als die Sprache des Islam und das Eintreten in den Text der Gläubigen, den Koran.63 Er lernt die arabische Sprache, um tiefer in eine andere Kultur eintreten zu können, und rückt dabei den Koran als Text in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Fichte verbindet seine persönliche Erfahrung auf diesem Platz mit der seiner erinnerten Beschreibung dieses Ortes. Zwischen Traum und Albtraum, zwischen Realität und Fiktion tastet sich der Autor fortan Sure für Sure an den Ort des Geschehens, an den Platz der Gehenkten heran. Er notiert in seinem Roman: »Die Texte des Koran werden kürzer von Sure zu Sure. Die Texte des Platzes der Gehenkten werden länger. Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen«.64 Die neben der reinen Textualisierung sich aufdrängende erotische Konnotation lässt sich durchaus mit Roland Barthes’ Idee einer »Lust am Text« erklären, der unterstellt, dass ein Textkörper durchaus als von Lüsten bestimmt erotisch erfahren werden kann.65 Gert Mattenklott sieht gar eine Verbindung zwischen der ordo naturalis und der ordo artificialis, indem er schreibt: »Anstelle der kondensierenden, verkürzenden, oft auch abstrahierenden Bewegung der Koran-Komposition, in der die Suren der kunstvollen Darbietungsweise des ordo artificialis folgen, tritt bei Hubert Fichte eine dynamische Schwellform«.66 63 Hubert Fichte nutzt die französische Übersetzung von Denise Masson. Paris: Gallimard 1967, erschienen in der BibliothÀque de la Pleiade. 64 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 13. Vgl. auch ders.: Alte Welt (Anm. 2), 160. 65 Vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1990, 162. Vgl. auch ders.: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt a. M. 1974. 66 Gert Mattenklott: Bibliographien – ordo naturalis oder artificialis? In: Michael Fisch: Personalbibliographie zu Leben und Werk von Hubert Fichte. Berlin 1996, 17.

»Ich liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung«

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In gelegentlich umständlichen und aufwendigen Formulierungen bewegt sich der Autor zwischen Traum und Albtraum, in poetisch dichten Wortblöcken und lautmalerisch schönen Satzformen nähert sich Hubert Fichte den szenischen Darstellungen. Seine Intention ist »Erlebnis, Erkenntnis und Poesie, Dialogik. Logik und Empfindlichkeit im engsten Bezug zueinander zu zeigen«.67 Gleichzeitig evoziert er eine Sure und assoziiert dadurch den Aufbau des Korans. Sure für Sure tastet er sich an den Ort des Geschehens vom Buchstaben »Aliph« zum Begriff »Djemma el Fna«68 heran: »Aufwachen. Zwischen Traum und Traum. Die Stimmen der Sänger im Turm. Gottes Wort«.69 Mehrere Träume des Protagonisten wie des Autors schichten sich ineinander und ergeben ein Gewebe von Beispielen für eine aus dem geistigen Ich wie der religiösen Gemeinschaft hervorkommende Realität. Zwischen Traum und Wirklichkeit auf dem Platz der Heiligen und der Unheiligen wird die Differenz von Beschriebenem und Beschreibendem überwunden. Ein eurozentrisches Konzept von Raum und Zeit überwindet Hubert Fichte, indem er eine imaginierte Wirklichkeit mit einer religiösen Realität konfrontiert. Es gibt keine Wahrheit – allenfalls eine Suche nach ihr – und die sprachliche fixierte Wirklichkeit findet sich nach Hubert Fichtes Idee »zwischen Traum und Traum«.70 Der Autor sieht gleich zu Beginn seines Romantextes »trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum« und »vielleicht ein neuer Traum […] ein neuer Traum vielleicht«. Er fragt sich, ob er »das nur geträumt habe« und »von welchem Traum er träumte« und kommt zu dem Schluss: »Mit diesem Traum sollte der Roman enden«.71 Doch schon zu Beginn des Buches kombiniert der Autor in seiner erinnerten Beschreibung des Platzes seine persönliche Geschichte, denn dieser besondere Ort bedeutet ihm Eintritt in eine neue Kultur, in die Sprache der Berber und des Arabischen und in Koran und Islam. Hubert Fichte holt das Versäumnis von Elias Canetti nach, nämlich den Koran als das bestimmende Medium der islamischen Kultur in den Mittelpunkt der poetischen Darstellung der arabischen Kultur zu rücken. »Natürlich ist der Koran Gottes Wort! Es gibt keinen Menschen, der eine Sure des Koran erfinden könnte«.72 Menschen und Tiere, Subjekte und Objekte verwandeln sich in Buchstaben und in der Lektüre dieser Wörter entsteht das Bild einer Neuen Welt, weil »der profanen Schrift des Romans Hubert Fichte die heilige Schrift des

67 Hans-Jürgen Heinrichs: Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch. Oder wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld 1991, 110. 68 Mattenklott: Bibliographien – ordo naturalis oder artificialis? (Anm. 66), 16. 69 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 12, 45 u. 173. 70 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 173, 206 u. 215. 71 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 9, 10 u. 11. 72 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 116.

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Korans gegenüberstellt«.73 Der Autor beobachtet die selbstverständliche Bedeutung des heiligen Textes beispielsweise, wenn »der Kellner Koranverse singt, während er die Bestellung annimmt« und fordert seine Leser auf: »Hören Sie den Koran in der Sprache der Berber!«74 Die Form dieses Romans orientiert sich nicht nur an dem heiligen Buch gläubiger Muslime, sondern variiert dieses in subjektiver Manier, indem zunächst siebzehnmal eine Zeile (pro Druckseite) folgt, schließlich zweimal zwei Zeilen, danach dreimal drei Zeilen und so weiter und zuletzt siebzehnmal siebzehn Zeilen pro Seite. Auf diese Weise »misst der Leser mit den Augen einen imaginären dreidimensionalen und hermetischen Buchraum bis hin zu Rändern aus, als ginge er über den mehr oder weniger klar umrissenen kartografierten Platz«. In dieser Textwelt erweitert sich sozusagen von Buchseite zu Buchseite dieser besondere Erzähltext, denn »der Leser ist somit auch formal gesehen Akteur in einem […] Drama« der Literatur.75 Die Form der Oberfläche dieses Romantextes scheint sich an den Koran anzulehnen, mindestens hiervon inspiriert zu sein und dennoch gegenüber dem Inhalt unterminiert zu werden. Entgegen Canetti will Fichte keine Wahrheit über den Platz der Gehenkten oder über die Kultur der Araber oder über die Religion der Muslime behaupten, sondern Beobachtungen sinnlich erfassen und das zu Beschreibende auf dieser Textoberfläche als Beschriebenes anbieten. Die Herausgeberin dieses Romans Gisela Lindemann notierte bereits 1985 in einem ausführlichen Essay über dieses Textkunstwerk: Der rein optische Eindruck der Seiten seiner Bücher und Manuskripte ist der von einem Autor als Setzer. Er setzt die Buchstaben, die Wörter, die Sätze, die Seiten fast wie ein Graphiker. Das Gewebe einer Seite ist locker : manche Sätze haben auf halben Zeilen Platz und geben den Rest frei; manche brauchen zwei, drei Zeilen und beanspruchen danach eine Leerzeile. Manche ziehen weitere hinter sich her und beanspruchen dafür einen ganzen Block oder Absatz und anschließend leeren Platz.76

Der frühe Förderer und späte Kritiker Fritz J. Raddatz schrieb in seinem Tagebuch am 9. April 1989 dagegen: »Fichtes Nachlassroman, angeblich sein kunstvollster, der ›Platz der Gehenkten‹, ist das reine Blabla. EIN Satz auf EINER 73 Fisch: Khamsa oder Das Wasser des Lebens (Anm. 8), 117. 74 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 195 u. 203. 75 Mario Fuhse: Memory Mapping. Hubert Fichtes »Platz der Gehenkten«. In: Jan-Frederik Bandel u. Robert Gillett (Hg.): Hubert Fichte. Texte und Kontexte. Hamburg 2007, 219 u. 222. Die bislang nicht gedruckten Vortragstexte von Andrea Erb »Geräuschkreise. Hubert Fichtes Annäherungen an Marokko« (2007) und von Michael Rieger »Hubert Fichte und der Islam« (2001) wurden an dieser Stelle nicht berücksichtigt. 76 Gisela Lindemann: Der Dichter als Setzer. Versuch über Hubert Fichte. In: Die Zeit vom 01. 03. 1985. (Auch als Radiotext vom Norddeutschen Rundfunk aus Anlass des 50. Geburtstages von Hubert Fichte am 21. 03. 1985 gesendet.)

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Seite – Hochstapelei eines Toten, womit er geradezu ein neues Genre geschaffen hat«.77 Jüngst entgegnete Mario Fuhse hierauf, dass sich »in den gestalteten Textseiten im Verhältnis von weißer, freibleibender Seite und schwarzen Buchstaben, das heißt dunklem Textteil« hier »eine Inversionsfigur zum Koran bildet«.78 Nicht nur in diesem Roman erinnert Hubert Fichtes Textgestaltung an die Verfahrensweisen der konkreten Poesie. Sowohl auf der Ebene der Textgestaltung als auch der Inhaltsbeschreibung findet demnach eine Inversion statt. Allah als Gott der Muslime wird beschreibend, aber nicht emphatisch von Hubert Fichte erwähnt: »Allah anrufen«79 und »Allah!«80 Die Gesetze des Islam werden wie folgt genannt: »An einen einzigen Gott glauben. Beten, Fasten, Almosen geben. Und die Pilgerfahrt nach Mekka«. Und dann ergänzt der Text einen Dialog aus einer ebenfalls möglichen marokkanischen Wirklichkeit: »Ißt du Schweinefleisch? Ja. Trinkst du Alkohol? Ja.«81 Hubert Fichtes Auseinandersetzung mit dem Koran entfaltet sich sowohl in der Gestaltung der Textform als auch in der (fragmentarischen) Übersetzung einzelner Suren. Insbesondere die Verse 80 bis 84 in Sure 7 al-a’r–f (Die Höhen)82, der Vers 1 in Sure 17 al-isr– (Die Nachtreise)83, die Verse 165 bis 173 und 224 in Sure 26 asch-schu’ar–’ (Die Dichter)84 und die Verse 1 bis 13 und 15 in Sure 81 al-takwir (Das Einrollen)85 werden sich wiederholend in diesen Roman eingebettet. Mario Fuhse weist darauf hin, dass diesen vier Suren-Zitaten im Buch Der Platz der Gehenkten sechsundsechzig Zitate aus neunundzwanzig Suren in dem im Jahr 1971 gesendeten Radiofeature Djemma el Fna gegenüberstehen.86 Auch verweist er an anderer Stelle auf die enge Verquickung der Thematik von der Allmacht Allahs, von Homosexualität, den Rechten und Pflichten der Frauen und der Aufgabe des Dichters durch Hubert Fichte und dessen behutsame, unaggressive und unüberhebliche Weise, sich mit dem Koran auseinanderzusetzen

77 78 79 80 81 82 83 84 85

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Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982–2001. Reinbek 2010, 286. Fuhse: Der Platz des Platzes (Anm. 7), 292. Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 53, 90 u. 142, 180. Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 100 u. 111. Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 167. Vgl. Sohbet von Maul–n– Sheikh N–zim Efendi: Strafe und Belohnung im Grab und danach. In: Lichtblick 328 (2005), 1–4. Vgl. Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Berlin 2010, 366, 466 u. 660. Vgl. Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 83), 716–722. Vgl. hierzu bspw. Tarek Mahmoudi u. Michael Fisch: »Das Einrollen der Sonne«. Ein tunesisch-deutscher Kommentar zu Sure 81 »al-takwir« (Das Einrollen). In: Michael Fisch u. Ute Seiderer (Hg.): Hülle und Haut – Verpackung und Umschlag. Techniken des Verkleidens und Umschließens. Berlin 2014, 187–198. Vgl. Fuhse: Der Platz des Platzes (Anm. 7), 100.

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und daran Kritik zu üben.87 Allerdings formuliert er seine sanfte Kritik in höflicher Distanz. Die Sure 17 »Die nächtliche Reise« dient dem Autor dazu, sein Projekt der Entgrenzung des eigenen Ichs zu verdeutlichen und bekannte Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Seele, Frau und Mann, Innen und Außen, Denken und Glauben aufzuheben. Gleich im ersten Vers von Sure 17 sind jene Worte Allahs notiert, die der Prophet Muhammad in jener Nacht empfing, in welcher ihn der Engel Gabriel nach Jerusalem »von der heiligen Moschee zur sehr entfernten Moschee«88 flog. »Gepriesen sei, der seinen Knecht nachts reisen ließ von der heiligen Anbetungsstatt zur fernsten, um sie herum wir Segen spendeten, um ihm von unseren Zeichen einiges zu zeigen! Siehe, er ist der Hörende, der Sehende«.89

Diese nächtliche Reise diente dem Propheten dazu, die Worte Gottes in räumlicher Distanz zur Erde zu empfangen. Diese Perspektive auf den offenbarten Text und die zugleich entfernte Glaubensgemeinde nutzt Hubert Fichte, um jene Dualismen von Eigenem und Fremden, Nahem und Fernem, von Materialem und Idealem, Logos und Mythos, schließlich von Wissen und Religion zu überwinden. Der Vers 26: 224 lautet: »Und die Dichter – die Irrenden folgen ihnen«.90 Der profanen Schrift des Romans stellt Hubert Fichte die heilige Schrift des Korans zur Seite und auch gegenüber : »Der Schriftsteller geht an die Beschreibung des Platzes der Gehenkten unter Bedingungen, die er dem Erlebnis der Djemma el Fna nachinszeniert hat«.91 Erlebnis, Erkenntnis, Erfahrung stehen neben Poesie, Logik, Dialog und gegenüber dem Schlüsselwort von Fichte: Empfindlichkeit, denn so der Autor : »Die Sprache der Logik nützt der Ver-

˘

87 Vgl. Mario Fuhse: »Meine Gläubigkeit hat einen Knacks bekommen«. Hubert Fichtes »Der Platz der Gehenkten« als empfindsamer Beitrag einer Korankritik. In: Julian Preece u. a. (Hg.): Religion and Identity in Germany Today. Doubters, Believers, Seekers in Literature and Film. Bern 2010, 197. 88 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 14. 89 Übersetzung von Angelika Neuwirth. In: dies.: Der Koran als Text der Spätantike (Anm. 83), 366. 90 Vgl. Thomas Bauer : The Relevance of Early Arabic Poetry for Qur’anic Studies. Including Observations on Kull and on Q 22: 27, 26: 225, and 52: 31 In: Angelika Neuwirth u. a. (Hg.): The Qur’–n in Context. Historical and Literary Investigations into the. Qur –nic Milieu. Leiden 2010, 699–732, und vgl. Tilman Seidensticker: Umherirrende, durstige oder verliebte Dichter? Noch einmal zu Sure 26 Vers 225. In: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients 85 (2010), 156–163. 91 Fichte: Der Platz der Gehenkten (Anm. 41), 109.

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ständigung unter Menschen gar nichts«, denn »zur Zärtlichkeit muss man sprechen können«.92

V.

Oedipae africaine (Westafrika)

Zwei Bände der nachgelassenen Geschichte der Empfindlichkeit sind in ihrer Anlage und Präsentation komparatistisch zu betrachten. Der innerhalb der Nummerierung sechzehnte Band Psyche und achtzehnte Band Die Schwarze Stadt stellen sowohl Desiderate als auch Surrogate seiner Reiseunternehmungen dar, die zudem vom Autor ausdrücklich als Glossen bezeichnet werden. Von dem weiteren Glossen-Band Alte Welt war hier bereits die Rede. Psyche spricht über die Reisen nach Westafrika von Februar 1974 bis Februar 1985 und Die schwarze Stadt beschreibt jene touristischen Unternehmungen in New York von September 1978 bis November 1980. Die Bände Die schwarze Stadt (1990) und Psyche (1990) können in ihrer Intention und Konzeption durchaus einander gegenübergestellt werden. Der Einfluss von Fichtes westafrikanischen (Reise-)Erfahrungen auf das nordamerikanische Buch ist unverkennbar. Die gesammelten Texte aus Psyche ergeben ein dialogisches Bild von Senegal bis Burkina Faso und von Togo bis Benin. Dem Autor geht es hierin um allgemeine Fragen der Religion und spezielle Aussagen zum Islam, denn Fichte ist »überzeugt von der Konzentration von Mythen, Riten, Verhalten« und »von den alten Modellformen der Psyche«.93 Nicht nur in seiner Titelentscheidung spielt der Autor auf Erwin Rohdes Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (1890 bis 1894) an. Wenn man so will, beschäftigt sich Hubert Fichte in seinem Buch mit dem Seelenkult und dem Unsterblichkeitsglauben der (West-)Afrikaner. Unter der zitierten Aussage »In Afrika ändert sich alles so schnell«94 subsumieren sich Themen wie Aberglaube und Vodou, Einweihung und Riten.95 Auch zum Christentum, insbesondere zum Katholizismus und zur Bibel, lassen sich Textstellen identifizieren.96 Das Buch der Muslime, der Koran wird in Psyche niemals erwähnt, dafür an einer Stelle die Sure »Das Eisen«.97 Das könnte mit einem spezifisch westafrikanisch-muslimischen Glauben zusammenhängen, der als eine Art mythische Religion zwischen alten Heiligtümern und besonderen 92 Fichte: Alte Welt (Anm. 2), 291 u. 293. 93 Hubert Fichte: Psyche. Glossen. Hg. von Ronald Kay. Frankfurt a. M. 1990, 240 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. XVI). 94 Fichte: Psyche (Anm. 93), 286. 95 Fichte: Psyche (Anm. 93), 296, 307, 308 u. 503. 96 Fichte: Psyche (Anm. 93), 131, 212, 344 u. 353. 97 Fichte: Psyche (Anm. 93), 505.

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Ritualen zu finden wäre, doch wie gesagt, »in Afrika ändert sich alles so schnell«.98 Erwin Rohde wie Hubert Fichte konfrontieren ihre Leser mit religiösen Aussagen und Handlungen, allerdings ohne einen begrifflichen Ausdruck hiervon zu haben. Beispielsweise geraten bei Fichte die Begrifflichkeiten durcheinander, wenn er von »Muselman«99, »Mohammedaner«100 oder »Moslem«101 spricht – übrigens immer in der maskulinen Bezeichnung. Es bleibt demnach bei der reinen Beschreibung von Religion im weiteren Verlauf der umfangreichen Deskription des Islam in Fichtes Psyche. Zunächst liefert der Autor Informationen über das Gebet102, die Pilgerfahrt (nach Mekka)103, die Körperreinigung, die Kleiderordnung und das Zahnholz104, über Essen und Trinken105. Danach folgen Thematisierungen von Beschneidung106 und Homosexualität107, Geschlechtertrennung und Empfängnisverhütung108, Heirat und Vielehe109. Auch die arabische Sprache und das Selbstmordverbot (im Islam) und die Bücher über die Religion und die Scharia werden behandelt.110 Informationen über diese Themen der Beschreibung erhält Hubert Fichte aus Interviews und Gesprächen, die er als Beschreibender den Beschriebenen (Personen wie Themen) durch geschickte Fragestellung entlockt. Neben Aufzeichnungen und Essays, Interviews und Notizen aus den psychiatrischen Kliniken in Senegal und Togo enthält dieser Band zudem eine Art Tagebuch über das vergessene westafrikanische Königreich Dahomey111 (1975) und ein weiteres Tagebuch über die Beziehungen zwischen Senegal und Benin (1985). Damit schließt sich der Kreis, wenn Fichte zur Ursprungsidee von Psyche zurückkehrt und über Sigmund Freud und Jacques Lacan assoziativ referiert wie beispielsweise über den »Mythos von Ödipus«, »Freuds Kastrationsangst« oder fragt: »Ist eine Lehranalyse bei Lacan nicht möglicherweise ein traumatisches Erlebnis?«112

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

Fichte: Psyche (Anm. 93), 286. Fichte: Psyche (Anm. 93), 134, 286 u. 304. Fichte: Psyche (Anm. 93), 196 u. 467. Fichte: Psyche (Anm. 93), 284, 296, 306 u. 347. Fichte: Psyche (Anm. 93), 396, 459, 462, 463 u. 486. Fichte: Psyche (Anm. 93), 104. Fichte: Psyche (Anm. 93), 217, 293, 463, Fichte: Psyche (Anm. 93), 93, 189 u. 284. Fichte: Psyche (Anm. 93), 100, 128, 324, 360, 493 u. 494. Fichte: Psyche (Anm. 93), 284, 292, 297, 353, 448, 453 u. 486. Fichte: Psyche (Anm. 93), 126, 286, 445 u. 485. Fichte: Psyche (Anm. 93), 196, 211 u. 449. Fichte: Psyche (Anm. 93), 92, 453, 284 u. 505. Vgl. Fisch: Verwörterung der Welt (Anm. 1), 159–161. Fichte: Psyche (Anm. 93), 79, 325 u. 496.

»Ich liebe den Tourismus. Er ersetzt die Völkerwanderung«

VI.

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Die schwarze Stadt (New York)

In dem Band Die schwarze Stadt bekennt sich Hubert Fichte zur Kultur der Afroamerikaner und zu deren Verhältnis zu Gesellschaft und Kunst, Sexualität und Religion. Der Schlüssel zu diesem Buch ist die Perspektive auf das schwarze New York in der Zeit von September 1978 bis November 1980. Ergänzend hierzu kann der weitere Band Lil’s Book gelesen werden, ein langes Interview mit Lil Picard aus eben diesem Zeitraum und an eben diesem Ort. Auch in der Schwarzen Stadt sind Interviews mit Fotografen und bildenden Künstlern, Musikern und Tänzern enthalten, in denen wichtige Details für eine Bestandsaufnahme enthalten sind und zugleich ein soziokultureller Raum offengehalten wird. Hubert Fichte will darstellen, wie die Welt für einen Schwarzen113 in der »schwarzen Stadt« New York zu verstehen sein könnte. In New York entsteht 1980 Hubert Fichtes zweiter programmatischer Essay nach seinen ketzerischen Bemerkungen von 1977 mit dem Titel Mein Freund Herodot, in dem er, der Beschreibende, bekennt: »Ich schreibe nun, was mir die Wahrheit zu sein scheint«, denn er »erkenne ihn schon bei Herodot – den Widerspruch zwischen Wissen und Handeln, Liebe und Erkennen, Aufklärung und Magie« und folgert daraus: »Nicht: Wissen ist Macht! – sondern: Reisen ist Wissen«.114 Erneut zeigt sich seine Kritik an der Sprache, an der abgelesen werden könne, »wie Ereignisse gedacht, geplant werden« und Fichtes Wille einer »Verwörterung der Welt« nachlesbar wird, indem er »die ganze Welt als Buch« betrachtet, und wie Herodot erkennt auch Fichte jene »Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«.115

113 Das Wort »Schwarzer« wird hier als ein Geusenwort verwendet, das ursprünglich als Schimpfwort gemeint, von der Emanzipationsbewegung (Black Panther) zu einer stolzen Selbstbezeichnung umgedeutet wurde. 114 Hubert Fichte: Die schwarze Stadt. Glossen. Hg. von Wolfgang von Wangenheim. Frankfurt a. M. 1990, 329 (Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. XVIII). 115 Fichte: Die schwarze Stadt (Anm. 114), 353, 331 u. 339.

Ralph Olsen und Sebastian Kuppel

Das religionskritische Bilderbuch Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel – Anmerkungen zur Rezeption Angesichts der ungeheuren Masse religiöser Kinderbücher war das Ferkelbuch dringend erforderlich – nicht nur weil es zur Herstellung weltanschaulicher Pluralität im Kinderzimmer beiträgt, sondern auch weil wir ein wirksames Gegengift gegen die vielfältigen Formen religiöser Indoktrination benötigen.1

Der folgende Beitrag widmet sich Aspekten der Rezeption des religionskritischen Bilderbuches Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke, das im Jahre 2007 im Alibri-Verlag erschienen ist.2 In diesem Buch, das sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richtet, geht es um ein Ferkel und einen Igel, die – bisher glücklich und zufrieden lebend – plötzlich durch ein Plakat auf ›Gott‹ aufmerksam gemacht werden. Sie machen sich auf den Weg, Gott zu finden, und besuchen eine (katholische) Kirche, eine Moschee und eine Synagoge. Von den jeweiligen Religionsvertretern werden sie jedoch nicht überzeugt, sodass sie am Ende des Buches resümieren, dass sie ihr Leben auch weiterhin ohne Gott führen können. Sowohl der Autor als auch der Illustrator lassen dabei unzweifelhaft erkennen, dass sie Religion in jeglicher Form für eine gefährliche, absurde Angelegenheit erachten – und dass Gläubige vielmehr als indoktriniert und geistig beschränkt bewertet werden müssen. Das Bilderbuch rief eine Welle der Entrüstung hervor: Sogleich nach Erscheinen stellte die Diözese Rottenburg-Stuttgart Strafanzeige, weil das Buch unter anderem den Gottesglauben als unsinnig darstelle und Volksverhetzung betreibe. Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg konnte hingegen keine strafbaren Inhalte feststellen. Auch das Bundesfamilienministerium (unter der damaligen Leitung von Ursula von der Leyen) wurde tätig, indem es bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften die Indizierung des Buches beantragte. Die Prüfstelle lehnte den Antrag jedoch ab. Im Zuge dieser (erfolglosen) Bemühungen entbrannte in den Medien eine heftig geführte Kontroverse über das Ferkel-Buch. Auffällig war hierbei, dass das

1 Michael Schmidt-Salomon in einem Interview mit Martin Bauer: »Wir haben eine solche Kampagne erwartet.« Online unter : hpd.de/node/3741 (25. 07. 2014). 2 Im Folgenden auch als ›Ferkel-Buch‹ betitelt.

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Buch selbst häufig in den Hintergrund geriet und folglich nur als Abhubbasis dafür diente, eine Grundsatzdebatte über die Problematik von Religionskritik im Allgemeinen zu führen oder den Autor in dieser Hinsicht zu diskreditieren. Mit diesem Beitrag möchten wir die Rezeption des umstrittenen Gegenstandes unter einem bestimmten Fokus in den Blick nehmen, indem wir ausgewählte Aspekte der öffentlichen Rezeption vorstellen und diese dann in Beziehung setzen zu den Ergebnissen einer rezeptionsorientierten Fallstudie (Vorlesegespräch mit einem Kind). Beschließen werden wir den Beitrag mit einer kurzen Zusammenschau didaktischer Überlegungen.

Zur Rezeption des Bilderbuches: Rezensionen Der folgende Abschnitt widmet sich der schriftsprachlich basierten Rezeption des Bilderbuches. Es gibt im ›öffentlichen Raum‹ Internet eine Vielzahl an – mehr oder weniger fundierten – Rezensionen, die nur in Ausnahmefällen als ›wissenschaftlich‹ bewertet werden können. Dennoch oder vielmehr gerade deshalb können derartige Zeugnisse stark meinungsbildend sein; sie bilden in ihrer Gesamtheit einen spezifischen Diskurs. Die Rezensionen weichen inhaltlich deutlich voneinander ab: Während es eine Vielzahl sehr kurzer Texte gibt, die sich insbesondere darin ähneln, dass sie dem Ferkel-Buch einzig ablehnend gegenüberstehen, gibt es einige Rezensionen, die das Buch lediglich als Anlass dafür nehmen, den Autor Michael Schmidt-Salomon und seinen vehement vertretenen Atheismus kritisch und in mitunter diffamierender Weise in das Licht der Öffentlichkeit zu stellen. Rezensionen, die dem Ferkel-Buch ausschließlich positiv gegenüberstehen, ließen sich zum Erhebungszeitpunkt nicht auffinden. Im Folgenden legen wir das Hauptaugenmerk ausschließlich auf diejenigen Passagen in Textdokumenten, die den umstrittenen Gegenstand selbst – also das Bilderbuch – wertend in den Blick nehmen bzw. sich auf entsprechende Bewertungen in anderen Quellen beziehen. Indem wir uns dabei exemplarisch auf die Darstellung der Geistlichen beschränken, ziehen wir aus Platzgründen zudem nur solche Quellen in vergleichender Weise heran, die explizit die entsprechenden Illustrationen kritisieren oder würdigen. In methodologischer Hinsicht lehnen wir uns an die Vorgehensweise der (linguistisch orientierten) Diskursanalyse an. Ohne weitere Ausführungen oder Begründungen wird in einer überregionalen Tageszeitung in einem sehr kurzen Überblicksartikel, der das Kinderbuch und den Indizierungsantrag scharf kritisiert, ›festgestellt‹: »Illustrator Helge Nyncke hat Kardinal, Imam und Rabbi klischiert und despektierlich ins Bild

Das religionskritische Bilderbuch Wo bitte geht’s zu Gott?

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gesetzt. So etwas gehört zwar nicht verboten, aber es gehört sich auch nicht.«3 Dem Leser wird kein Beispiel vor Augen geführt und er wird insbesondere durch den Parallelismus der Parataxe eindringlich – mit Hilfe einer Diaphora – an eine scheinbar übergeordnete menschliche Maxime erinnert. Tatsächlich handelt es sich bei den betreffenden Illustrationen um farbenfrohe, ausdrucksstarke Zeichnungen, die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Der Rabbi wird zunächst auf drei Doppelseiten abgebildet (9/10; 11/ 12; 13/14). Die äußere Erscheinung des Geistlichen ist mithilfe bestimmter Merkmale (Hut, Locken, Bart) typisiert. Von Doppelseite zu Doppelseite wird seine Mimik zunehmend aggressiver dargestellt und kulminiert schließlich, weil das Ferkel ihm zum Schluss die Frage stellt, ob seine Vorstellung von Gott möglicherweise eine Einbildung sein könnte. Auch die Begegnung mit dem katholischen Würdenträger wird auf drei Doppelseiten (15/16; 17/18; 19/20) erzählt und bildnerisch dargestellt. Der Bischof, ein überaus korpulenter Mann, trägt ein liturgisches Gewand und ein Brustkreuz. Auch seine Wut über die beiden Tiere, die sorglos von den Hostien naschen, wird auf der letzten Doppelseite deutlich zum Ausdruck gebracht. Zuletzt treffen die beiden Tiere auf einen Mufti, der sie in eine Moschee führt. Der islamische Rechtsgelehrte, der seinen gesonderten Platz auch auf drei Doppelseiten erhält (21/22; 23/24; 25/26), trägt eine typische Kopfbedeckung – einen Turban –, ein weißes Gewand und hat einen langen Bart. Ebenso wie bei den vorherigen Religionsvertretern wird sein Wutausbruch – das Ferkel und der Igel stellen die Prophezeiungen von Mohammed infrage – in überaus erzürnter Weise illustriert. Auf der sich anschließenden Doppelseite (27/28) sind alle drei Amts- bzw. Würdenträger zu sehen: Sie kämpfen gegeneinander unter anderem deshalb, weil sie sich nicht darüber einigen können, wie mit den ungläubigen Protagonisten angemessen umzugehen sei. In einem anderen – auch knappen – Beitrag, der in der Süddeutschen Zeitung erschien und ebenfalls sowohl das Buch als auch den ministeriellen Antrag kritisiert, wird die künstlerische Gestaltung der Geistlichen genauer betrachtet. In Bezug auf den Rabbi heißt es: »Der Rabbi erinnert an Karikaturen aus den dreißiger Jahren: Schläfchenlocken, ein fanatisches Leuchten in den Augen, ein blitzendes Raubtiergebiss und Hände wie Pranken.«4 Der Mufti verwandle sich

3 Hendrik Werner: »Ferkel«-Kinderbuch zeigt dumpfe Intoleranz. Die Welt, 06.03. 2008. Online unter: www.welt.de/debatte/article1767399/Ferkel-Kinderbuch-zeigt-dumpfe-Intoleranz.html (25. 07. 2014). 4 Alex Rühle: Der hässliche Rabbi. Süddeutsche Zeitung, 17. 05. 2010. Online unter : www.sued deutsche.de/kultur/indizierungsverfahren-gegen-kinderbuch-der-haessliche-rabbi-1.289388 (25. 07. 2014). Sehr ähnlich (sowohl strukturell als auch inhaltlich) ist ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 04. 02. 2008. Online unter : www.faz.net/aktuell/feuilleton/

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darüber hinaus in einen »wütenden Sektierer. Die Betenden um ihn herum, die zunächst als graue[5] Masse gezeichnet sind, werden auf dem nächsten Bild, auf dem der Imam […] mit gefletschten Zähnen, wutgezacktem Bart und geballter Faust ewige Verdammnis ankündigt, zum islamistischen Fanatikermob«.6 Zur Darstellung des christlichen Glaubensvertreters wird angefügt: »Der Bischof, ein aufgedunsener bleicher Sack, bei dessen Anblick man an Kinderpornos aus dem Kloster von Sankt Pölten denkt«7 – hier wird in Bezug auf die Darstellung des Rabbis zum einen mit Mitteln des Zoomorphismus den Urhebern des Kinderbuches eine Entmenschlichung ihrer Figuren vorgeworfen.8 Zum anderen werden Verweise auf aktuell problematische gesellschaftliche Aspekte (Fundamentalismus, Kinderpornographie) sowie auf sektenähnliche Glaubensgemeinschaften herangezogen, um die angenommene Gefährlichkeit der karikierenden Illustrationen für den (kindlichen) Leser nachhaltig zu unterstreichen. Brisant ist der Hinweis auf die ›Dreißigerjahre‹, der von der folgenden Autorin sehr viel deutlicher markiert wird: Angelika Leonhardi, Dozentin an der Fachhochschule Moritzburg, veröffentlichte im Jahre 2009 in einer religionspädagogischen Fachzeitschrift einen sehr kritischen, interessanten Beitrag.9 Dort steht, dass der Jude »fatal an Darstellungen im ›Stürmer‹«10 erinnere und man müsse sich »auf angsteinflößende, dümmlich dreinschauende, perspektivisch verzerrte, humor-

5 6 7 8

9 10

buecher/rezensionen/belletristik/erst-suendenabschaffung-dann-paradieseswonnen1516742.html (25. 07. 2014). Bauer fügt noch »freudlos« hinzu. Michael Bauer : Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Online unter : hpd.de/node/3052 (25. 07. 2014). Rühle: Der hässliche Rabbi (Anm. 4). Rühle: Der hässliche Rabbi (Anm. 4). Auf der Website Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen spricht Fincke von »drastischen Bildern« und kennzeichnet den Rabbi ohne nähere Begründung als »eine böse, […] gespenstische Gestalt«, die »zähnefletschend« dargestellt sei. Andreas Fincke: Ferkel auf Abwegen. Ein religionskritisches Kinderbuch soll indiziert werden. Online unter : www.ekd. de/ezw/Publikationen_informationen_ferkel_auf_abwegen_ein_religionskritisches_kinder buch_soll_indiziert_werden.php (25. 07. 2014). Auch Kolesch – im Westfalen-Blatt (05. 03. 2008) – glaubt, ein ›Zähnefletschen‹ zu erkennen, und bewertet die Bilder und den Text insgesamt als ›ärmlich‹. Vgl. Andreas Kolesch: Zum Kinderbuch »Wo bitte geht’s zu Gott?« Online unter : www.presseportal.de/pm/66306/1148877/westfalen-blatt-das-westfalen-blattbielefeld-zum-kinderbuch-wo-bitte-geht-s-zu-gott (25. 07. 2014). Bauer spricht sogar von »zähnefletschender Grimasse«. Bauer : Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 5). Angelika Leonhardi: »Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel«. Anmerkungen und Vorschläge zu einer religionspädagogischen Verwendung des Kinderbuches von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke. In: Praxis Gemeindepädagogik 62 (2009), 55¢57. Leonhardi: Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 9), 56. Möglicherweise stützt die Autorin ihre Bewertung auf folgende ein Jahr zuvor erfolgte Äußerung des Tübinger Religionspädagogen Biesinger : »der jüdische Rabbi, [sic] wird dargestellt wie der Stürmer im Dritten Reich. Die Nazis haben jüdische Rabbis damals ähnlich dargestellt, ich habe dafür Belege« (aus einem Interview im domradio [07. 02. 2008], online unter : www.domradio.de/themen/judentum/ 2008–02–07/theologe-biesinger-haelt-ferkel-kinderbuch-fuer-gefaehrlich [25. 07. 2014]).

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lose ›Religionshüter‹ einstellen, unter deren Einfluss die Masse der einfältig Gläubigen zwangsläufig in den einheitsgrauen Vorder- bzw. Hintergrund tritt«.11 Zeit Online knüpft hier an und tritt dem entgegen: Das Ferkel-Buch sei keine »antisemitische Hetzschrift«12. Obwohl das Buch in seiner Gesamtheit abgelehnt wird, lägen dennoch »ansprechende[ ] Illustrationen«13 vor, die wie folgt bewertet werden: Der Illustrator Nyncke benutzt […] antijudaistische Stereotype: Der Rabbi ist hager, orthodox gewandet, erst bleich, dann zornesrot, mit schlackernden Schläfenlocken. Allzu freundlich schaut er auch nicht. Auf drei der vier Abbildungen hebt er belehrend seinen Zeigefinger, mit bösartigem oder wütendem Gesichtsausdruck. Aber der Bischof kommt nicht besser weg. Er ist fett, rosig, hat wülstige Lippen und wirkt gewiss nicht sympathisch. Er tobt allerdings nur auf zwei von vier Darstellungen. Am meisten ist der Mufti vom Zorn entstellt. Vor lauter Hass auf die Ungläubigen rutscht das linke Auge in die Höhe und springt fast aus dem Kopf. Hinter dem rasenden Mufti lauert der islamistische Mob, die Fäuste geballt.14

Eine Stereotypisierung ist zunächst einmal etwas ›Normales‹ und ist nicht notwendigerweise mit einer kritisierenden Herabsetzung verbunden. Hierzu zählen folgende vom Verfasser selbst verwendete Merkmale: »orthodox gewandet« und »Schläfenlocken«. Bauer wagt in diesem Zusammenhang sogar zu fragen: »Und schließlich haben Rabbis ja wirklich schwarze Locken, Vollbärte und große Nasen, oder?«15 Die anderen Beobachtungen (zum Beispiel »hager« und »zornesrot«) können nach unserem Verständnis nicht mit einem expliziten ›Antijudaismus‹ in Verbindung gebracht werden, da sowohl der Rabbi als auch der Mufti in vergleichbarer Weise dargestellt werden. Folglich läuft die hier vorgenommene ›reißerische‹ Wertung ins Leere.16 Unberührt davon bleibt die 11 Leonhardi: Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 9), 56. 12 Jan Free: Gottlose Tiere. Zeit-Online, 13. 03. 2008. Online unter : www.zeit.de/online/2008/06/ kinderbuch-religion (25. 07. 2014). 13 Free: Gottlose Tiere (Anm. 12). Finke empfindet die Illustrationen als »liebevoll« (Stefanie Finke: »Dawkins for Kids«. Online unter : hpd.de/node/2557 (25. 07. 2014). Selbst der ehemalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, der das Buch ablehnt und es als gefährlich einstuft, spricht dennoch von einer »grafisch sehr attraktiven Aufmachung«. Stellungnahme des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Deutschland zum Kinderbuch »Wo bitte geht’s zu Gott?« Online unter : www.zen tralratdjuden.de/de/article/1536.html (25. 07. 2014). Auch Bauer scheint widerwillig zuzugeben: »An der graphischen Qualität jedenfalls gibt es nichts zu mäkeln. Schon beim ersten Durchblättern fallen die sorgfältigen und für Kinder bis circa sechs Jahren sicher altersgerechten Zeichnungen auf, auch wenn der Text sich gewiss an etwas ältere Kinder wendet«. Bauer : Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 5). 14 Free: Gottlose Tiere (Anm. 12). 15 Bauer : Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 5). 16 Ähnlich argumentiert der Wissenschaftler Kettner : »Die Darstellung des Rabbi […] ist typisch, nicht antisemitisch. Nichts an ihm ist ›typisch jüdisch‹, alles an ihm hingegen ›typisch Rabbi‹«. Fabian Kettner : Die Antiklerikalen treiben mal wieder eine Sau durchs

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Tatsache, dass die Art und Weise der Darstellungen offensichtlich religionskritisch intendiert ist. In dieser Hinsicht treibt es Bierl auf die Spitze, der die Auffassung vertritt, dass »man […] an das Stereotyp der jüdischen Kindermörder erinnert«17 werde. Der Verfasser berührt mit diesem Hinweis die Tatsache, dass dem Judentum seit der Antike die Durchführung von Ritualmorden vorgeworfen wird – eine diesbezügliche phänotypische Verknüpfung ist uns allerdings nicht bekannt. Auf der Internetplattform redok ist ein Hinweis darauf zu finden, dass die in der Süddeutschen zumindest gestreifte Bilderbuchseite mit den gläubigen Muslimen – gemeint ist die Doppelseite 25/26 – ansonsten auffällig selten thematisiert werde: Sowohl die Darstellung des orthodoxen Rabbis mit der Geschichte vom grausamen Gott, der die Vernichtung allen Lebens auf Erden beschließt, als auch die Überzeichnung des christlichen Bischofs als dümmlichen, feisten Pfaffen mitsamt seiner »Plätzchen aus Menschenfleisch« (Hostien) finden in verschiedene Medienberichte Eingang. Die Darstellung der Muslime im »Ferkelbuch« fand hingegen bisher wenig Beachtung. Diese nämlich sind die Einzigen, die als Gruppe – also die anwesenden Gläubigen in ihrer Gesamtheit – äußerst aggressiv dargestellt werden. Während Besucher oder auch Gläubige von Synagoge bzw. Kirche in den Bildsequenzen, in denen Ferkel und Igel aus dem jeweiligen Gebets- bzw. Gotteshaus verwiesen werden, entweder gar nicht oder nur im Hintergrund dargestellt werden, wandeln sich die Moscheebesucher hierbei zum wütenden, fanatischen Mob.18

Unserer Recherche nach kann dem Autor nur zugestimmt werden: Diese Doppelseite findet nur gelegentlich eine (randständige) Erwähnung. Wie oben angemerkt, werden wir darauf jedoch nicht weiter eingehen können. Auf der Website von haGalil, einem deutsch-jüdischen Nachrichtenmagazin, werden die im Ferkel-Buch abgebildeten betenden Christen als »graue, ausgemergelte Gestalten«19 identifiziert, die dadurch in einen Gegensatz zum »fetten

Dorf. Das umstrittene »Ferkel-Buch« von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke und seine Konkurrenz. Online unter : www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id= 11804 (25. 07. 2014). Grundsätzlich missfällt ihm jedoch die Ästhetik des Buches: »Die Illustrationen haben das Aussehen und den Charme der Produkte, die man an der Kasse eines Drogeriemarktes als Geschenk aufgedrängt bekommt, nur weil man ein Paket Windeln und Feuchttücher eingekauft hat« (ebd.). 17 Peter Bierl: Aufstand der Tiere. Der Streit um das »Ferkelbuch«. Über eine Religionskritik mit reaktionärem Vorzeichen. Online unter : jungle-world.com/artikel/2008/24/ (25. 07. 2014). 18 https://web.archive.org/web/20080621013322/http://www.redok.de/content/view/1014/40/ (ohne Autorennennung, 24. 07. 2015). redok war ein bis 2014 bestehendes Projekt, das sich mit Recherchen und Berichten zu Themen vor allem aus den Bereichen Rechtsextremismus, Rassismus, Neonazismus und Antisemitismus befasste. 19 Andrea Livnat: Eine echte Schweinerei: Das Ferkelbuch ist nicht jugendgefährdend. Online unter : www.hagalil.com/newsletter/nl/08-03–10.htm (25. 07. 2014).

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Priester«20 gebracht würden. Auch in diesem Beitrag werden sowohl das Kinderbuch als auch der Indizierungsantrag scharf – auffallend häufig mithilfe von Verunglimpfungen – kritisiert.21 Bezug genommen wird hier auch auf die oben zitierte Äußerung Leonhardis – ihre Bewertung wird jedoch klar zurückgewiesen: »Dass der Rabbi einer Stürmer-Karikatur entstiegen sein sollte, ist […] nicht nachvollziehbar«22. Häufig wird in der öffentlichen Rezeption auch die letzte Doppelseite (33/34) des Bilderbuches herangezogen. Dort ist eine Vielzahl nackter Menschen unterschiedlichen Aussehens und Alters abgebildet. Während diese ganz offensichtlich ungeziert ihre Nacktheit präsentieren, bedecken die auch nackt dargestellten Geistlichen ihre Scham mit einer ihrer Hände. Mit der anderen Hand vollziehen sie jeweils eine der typischen Gesten des aus dem Japanischen stammenden ›Drei-Affen-Motivs‹: Der Rabbi hält sich den Mund zu und sagt damit nichts (Böses), der Bischof hält sich ein (!) Ohr zu und hört damit (zumindest teilweise) nichts (Böses) und der Mufti – seine Augen bedeckend – sieht nichts (Böses). Auf der rechten Seite ist, markiert durch ein Postskriptum, ein Gedicht abgedruckt. Stephan J. Kramer, der ehemalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, bezeichnet diese Seite als »geschmacklos«23. Eckart Spoo, Publizist und Vorstandsmitglied der Stiftung Deutsches Holocaust-Museum, dagegen begrüßt die Illustration, indem er sie geradezu wohlwollend interpretiert: »Am besten gefällt mir das Schlußbild: lauter nackte Menschen, Gleiche unter Gleichen, und anscheinend ist auch den Gottesmännern die Rückkehr ins Paradies gelungen – obwohl sie noch immer ängstlichverkrampft mit beiden Händen ihre Lustglieder verstecken«.24 Der Medienkulturwissenschaftler Packard25 schließlich verdeutlicht, dass der Streit um das Ferkel-Buch absurd sei, da er die Spezifik von literarischen Texten ignoriere: Den einzelnen Streitpunkten wohne damit aufgrund der Besonderheit des Gegenstandes eine prinzipielle Unentscheidbarkeit inne; er veranschaulicht dies beispielhaft: In besonders deutlicher Form ist dies am Gebiß des wütenden Rabbis zu beobachten. Die Darstellungen im Ferkelbuch sind cartoonisiert; sie karikieren menschliche und 20 Livnat: Eine echte Schweinerei (Anm. 19). 21 Livnat resümiert: »es ist mit Abstand das Dämlichste, was ich seit langem gelesen habe« (Anm. 19). 22 Livnat: Eine echte Schweinerei (Anm. 19). 23 Stephan J. Kramer : Stellungnahme des Generalsekretärs (Anm. 13). 24 Eckart Spoo in der Zweiwochenschrift Ossietzky 15 (2008), zit. n. www.alibri-buecher.de/ docs/rezi300.pdf (25. 07. 2014). 25 Vgl. Stephan Packard: Das unsichtbare Raubtier und das unfaßbare Ferkel. Sammelrezension zu einem Kinderbuch, einer Strafanzeige und einem Indizierungsantrag. Online unter : www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/literatur/literatur_pdf/packard_ferkel buch.pdf (25. 07. 2014).

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tierische, anthropomorphisierte Formen. Dies reduziert den mimetischen Gehalt zugunsten anderer ikonischer Inhalte. Cartoonisierte Körper und Gesichter neigen zu physiologisch unwahrscheinlichen und unmöglichen Formen ebenso wie zu signifikanter Variabilität zwischen verschiedenen Darstellungen. Gerade weil sie damit ausdrucksstarke Register gewinnen, können an diesen Bildern manche Informationen über das Aussehen der dargestellten Gegenstände nicht mehr beobachtet werden […]. […] So reißt der Rabbi des Ferkelbuchs den Mund bei seinem Wutanfall weiter auf, als es die menschliche Anatomie erlaubt, und die Zähne ebenso wie der rote Rachen treten in den Vordergrund. Dabei verändern sich zugleich die relative Größe, die Anzahl, und die Ausrichtung der Zähne.26

Packard resümiert, dass in der Ferkel-Buch-Debatte über Dinge bzw. Aspekte – hier die fragliche Verkörperung eines Raubtieres – gestritten werde, die nicht dem Gegenstand selbst angelastet werden könnten.27

Zur Rezeption des Bilderbuches: Fallstudie Im Folgenden werden die Ergebnisse einer nicht-repräsentativen Fallstudie im Sinne der qualitativen Rezeptionsforschung vorgestellt, um auf dieser Folie die Lektüreeindrücke eines kindlichen Betrachters den Bewertungen der Rezensenten gegenüberzustellen. Zur Durchführung der Rezeptionsanalyse konnte ein Junge im Alter von 6;9 Jahren aus dem Raum Ludwigsburg gewonnen werden. Die Vorkenntnisse des Kindes im Bereich Religion sind als gering zu veranschlagen. Ursächlich hierfür ist zum einen der Besuch eines kommunalen Kindergartens, der bewusst auf eine religiöse Erziehung verzichtet. Zum anderen wurden – nach Angabe der Erziehungsberechtigten – auch im Zuge der familiären Sozialisation keine Glaubensinhalte vermittelt; Kirchenbesuche beschränkten sich auf das Weihnachtsfest sowie auf Hochzeiten und die Erstkommunion.28 Methodisch beruht die Erhebung der subjektiven Rezeptionserfahrungen des Kindes auf dem Prinzip des Vorlesegesprächs. In Anlehnung an Wieler29 wurde hierbei der Vorleseprozess nach bestimmten Erzählabschnitten unterbrochen, um gemeinsam mit dem Jungen, anhand zuvor definierter Gesprächsimpulse, die narrativen Inhalte der Bilderbuchlektüre zu reflektieren. Vorlesegespräche bieten nicht nur die Möglichkeit, die literarisch-ästhetischen Eigenschaften 26 Packard: Das unsichtbare Raubtier (Anm. 25), 7f. 27 Vgl. Packard: Das unsichtbare Raubtier (Anm. 25), 9. 28 Vor Studiendurchführung lagen die letzten Kirchenbesuche des Kindes etwa zwei Monate (Hochzeit) sowie knapp ein halbes Jahr (Erstkommunion des älteren Bruders) zurück. 29 Petra Wieler : Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim 1997.

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eines Bilderbuches sowie die darin vermittelten Inhalte gemeinschaftlich mit Kindern zu erschließen.30 Vielmehr werden die Rezipienten gleichermaßen dazu angeregt, ihre mentalen Repräsentationen des Lektüreinhalts zu veräußern.31 Demzufolge stellen Vorlesedialoge einen Versuch dar, die kindlichen Rezeptionsprozesse zu verbalisieren, weshalb sich dieses Erhebungsformat in besonderem Maße für die vorliegende Untersuchung empfiehlt. Das während der Bilderbuchrezeption gewonnene Datenmaterial wurde transkribiert32 und mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse33 ausgewertet. Die Kategorienbildung der qualitativen Inhaltsanalyse erfolgte hierbei induktiv, indem für jeden Auszug des Transkripts, der Aufschluss über die Rezeptionserfahrungen des Kindes gibt, eine Auswertungseinheit definiert wurde. Ähnliche Textbelege konnten dabei unter bereits vorhandene Kategorien subsumiert werden. Während der Überarbeitung des erstellten Kategoriensystems wurde anschließend der Abstraktionsgrad erhöht, um einzelne Kategorien zu einem fest umrissenen Hauptkategoriensystem zusammenzufassen.34 In Tabelle 1 sind das zugrunde liegende Kategoriensystem sowie die Anzahl der zugeordneten Gesprächsausschnitte wiedergegeben. Tab. 1: Hauptkategorien und Häufigkeiten der zugewiesenen Gesprächsabschnitte Hauptkategorien

Häufigkeit der Kategorienzuweisungen

1. Das Betrachten des Bilderbuches bereitet dem Kind Vergnügen.

15

2. Religiöse Sachverhalte bleiben unreflektiert und wecken nicht das Interesse des Kindes.

5

30 Vgl. Petra Wieler : Gespräche mit Grundschulkindern über Kinderbücher und andere Medien. In: Gerhard Härle u. Marcus Steinbrenner (Hg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler 2004, 265¢289, hier 278. 31 Vgl. Wieler : Gespräche mit Grundschulkindern (Anm. 30), 274. 32 Zur Transkription wurde auf ein vereinfachtes Modell des gesprächsanalytischen Transkriptionssystems zurückgegriffen: Vgl. Margret Selting et al.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT). In: Linguistische Berichte 1998, H. 173, 91¢122. Folgende Zeichen finden in den angeführten Transkriptausschnitten Anwendung: (( )) Kommentare/ nonverbale Signale, (…) Auslassung im Transkript, kursiv vorgelesener Text, (.) Mikropause, (-) kurze Pause von ca. 0,25 Sek., (--) mittlere Pause von ca. 0,5 Sek, (2.0) geschätzte Pause bei mehr als ca. 1 Sek. Dauer, MAJUSKEL lauter gesprochen, 8 8 leiser gesprochen, > < schneller gesprochen, = direkter Anschluss, : , ::: Dehnung, ? Tonhöhe steigend, ; Tonhöhe leicht steigend. 33 Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim/Basel 2010. 34 Vgl. Philipp Mayring u. Eva Brunner: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Barbara Friebertshäuser, Antje Langer u. Annedore Prengel (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 2010, 323¢333, hier 330.

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(Fortsetzung) Hauptkategorien 3. Die religiösen Inhalte des Buches sind für das Kind nicht nachvollziehbar. 4. Die Lektüre evoziert Fragen zu Gott und Religion.

Häufigkeit der Kategorienzuweisungen 3 6

5. Das Kind erhält Einsicht in religiöse Sachverhalte. 6. Das Buch steht im Widerspruch zur kindlichen Vorstellung, dass Gott ein wesentlicher Lebensbestandteil ist.

6

7. Das Kind nimmt religionskritische Aspekte wahr. 8. Die Religionskritik bleibt unbeachtet.

16 3

9. Die Rezeption des Buches löst unbehagliche Gefühle aus.

2

3

Die quantitative Auswertung der erhobenen Daten dokumentiert eindeutig die während der Bilderbuchrezeption erlebte Freude des Jungen (Kategorie 1). Aufgrund nahezu identischer Fallzahlen ist zugleich davon auszugehen, dass hierbei ein wesentlicher Anteil religionskritischer Elemente erfasst wurde (Kategorie 7). Wenngleich der vorhergehenden, sechsten Hauptkategorie lediglich drei Gesprächsabschnitte zugeordnet wurden, stellt sie doch einen deutlichen Kontrast zur beschriebenen Wahrnehmung der religionskritischen Inhalte des Buches dar. Diese Diskrepanz der Kategorien 6 und 7 soll im Folgenden – neben der Freude des Jungen sowie den in pädagogischen Kontexten relevanten Kategorien vier und fünf – expliziert werden.35 Dass die Rezeption des Bilderbuches dem Jungen Vergnügen bereitet, ist anhand des vorliegenden Datenmaterials unzweifelhaft zu belegen. Exemplarisch seien hierfür das häufige Lachen des Kindes sowie dessen abschließende Beurteilung als gutes und witziges36 Buch angeführt. Da die gemeinsame Bilderbuchrezeption von Erwachsenem und Kind nicht nur Bestandteil der ästhetisch-literarischen, sondern auch der frühen emotionalen Erfahrungen der Heranwachsenden ist,37 muss der Freude des Kindes ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass dem Jungen eine Vielzahl der religionskritischen Inhalte des Bilderbuches bewusst wird. Der entsprechenden Hauptkategorie 7 wurden dabei all jene Aussagen zugeordnet, die – als Ausdruck einer emotionalen Distanzierung zu Gott zu werten sind,

35 Aufgrund der gebotenen Kürze können die übrigen Hauptkategorien hier nicht weiter vertieft werden. 36 Ausführungen in Kursivdruck entsprechen dem Wortlaut des Kindes. 37 Vgl. Jens Thiele: Das Bilderbuch. In: Günter Lange (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 2012, 217¢230, hier 227.

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– eine ablehnende Haltung gegenüber den dargestellten Glaubenspraktiken erkennen lassen, – einer negativen Auffassung der Glaubensvertreter (insbesondere als wütende Persönlichkeiten) entsprechen, – bezüglich des von Igel und Ferkel veränderten Plakats38 eine positive Einstellung veranschaulichen sowie – der abschließenden Entsagung von Gott zustimmen bzw. diese nicht wie anfänglich zurückweisen. Wenngleich die obige Übersicht auf den hohen Abstraktionsgrad der durchgeführten qualitativen Inhaltsanalyse verweist, können die einzelnen Subkategorien doch ausnahmslos auf die kindliche Erfassung der Religionskritik zurückgeführt werden. Beispielsweise ist die Einsicht des Kindes, dass die Glaubensvertreter der jeweiligen Religionen stets in Zorn ausbrechen, durchaus mit dem Aspekt der Religionskritik zu verbinden. Denn hierbei steht das wiederkehrende Erzählmuster der Wut in deutlichem Kontrast zum Idealbild eines Repräsentanten friedfertiger Glaubensgemeinschaften. Mithin macht der Junge unterschiedslos und unmittelbar nach dem Aufschlagen der entsprechenden Bilderbuchseiten auf den Zorn von Rabbi, Bischof und Mufti aufmerksam. Beispielhaft seien hier die Aussagen guck mal jetzt wird er böse (in Bezug zur Illustration des Rabbis, 13/14), da rastet er schon wieder aus (in Bezug zur Illustration des Bischofs, 19/20) und da wird er auch wütend (in Bezug zur Illustration des Muftis, 25/26) angeführt. Indes bemerkt der Rezipient selbst, dass – erstens – zumindest die Darstellung des Muftis keine Furcht bei ihm selbst auslöse und – zweitens – die Ungehaltenheit des Muftis und der anderen Gläubigen nicht zum Anlass weiterer, ängstigender Handlungen – etwa der Anwendung von Gewalt – werden könnte.39 In Analogie hierzu wird auch der handgreifliche Streit zwischen den Glaubensvertretern (27/28) nicht als bedrohliches Ereignis bewertet. Bei dieser Auseinandersetzung hält der Rabbi dem Bischof eine Schriftrolle auf den Mund, worin das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seinem eingangs erwähnten Indizierungsantrag den Versuch des Rabbis erkennt, den christlichen Gottesdiener zu ersticken.40 Diese Auslegung konnte in der vorliegenden Studie hingegen nicht 38 Wie zu Beginn dieses Beitrags erwähnt, dient ein Plakat mit der Aufschrift: Wer Gott nicht kennt, dem fehlt etwas! als Ausgangspunkt von Igels und Ferkels Suche nach ›Gott‹. Abschließend kehren die beiden Protagonisten die Aussage des Plakats um, indem sie das Wort nicht durchstreichen, sodass nunmehr zu lesen ist: Wer Gott nicht kennt, dem fehlt etwas! 39 Diesbezüglich liegen für die Illustrationen des Rabbis und des Bischofs keine entsprechenden Daten vor. Anderweitige Anzeichen von Furcht vor den abgebildeten Glaubensvertretern konnten während der Bilderbuchrezeption nicht ermittelt werden. 40 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Indizierungsantrag nach

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verifiziert werden. Danach gefragt, was der Rabbi auf dem Bild wohl mache, antwortet das Kind lediglich, dass er dem [Bischof, Anm. d. Verf.] mit der Schriftrolle den Mund zuhalte. Assoziationen, die darüber hinaus mit einem gewaltsamen Vorgehen in Verbindung stehen, liegen nicht vor. Demnach erachtet der kindliche Rezipient den Streit der Glaubensvertreter im Gesamten nicht als bedrohlich, obgleich der Tatsache der handgreiflichen Auseinandersetzung ablehnend gegenübergetreten wird. Bedeutsamer erscheint in diesem Zusammenhang, dass der dargestellte Disput als lustig wahrgenommen wird. Demgegenüber evoziert die Sintfluterzählung des Rabbis (11/12)41 keine positiven Emotionen bei dem Jungen. Denn hierbei kann ausschließlich eine opponierende Haltung gegenüber dem Handeln Gottes ermittelt werden, sodass an dieser Stelle eine emotionale Distanzierung zu Gott in Betracht zu ziehen ist. So reagiert der Rezipient betroffen auf den Bericht des Rabbis und bemerkt daraufhin, dass es gar nicht gut sei, wenn Gott alle Menschen und Tiere ertrinken ließe. In dieser Hinsicht muss jedoch ebenfalls bedacht werden, dass die im öffentlichen Diskurs vielfach kritisierte Illustration des Rabbis von dem Kind weder zurückgewiesen noch als furchterregend bezeichnet wird. Überdies ist den in obiger Aufstellung zuletzt genannten Subkategorien eine besondere Bedeutung beizumessen. Denn hierbei verweisen sowohl die positive Einstellung des Kindes gegenüber der veränderten Plakataussage als auch die Affirmation der abschließenden Bilanz der Protagonisten auf einen durch die Rezeption bedingten Prozess der Distanzierung von Gott. Dieser Entwicklungsverlauf ist – wie unten dokumentiert – mitunter an der erfreuten Reaktion des Jungen auf Igels negierendes Gottesurteil zu veranschaulichen, wobei dessen Zustimmung zu den Schlussworten der Geschichte nicht weniger bedeutend erscheint: Vorlesender : »Die Leute vom Tempelberg sind wirklich verrückt! Ich glaub’ ja dass es den Herrn Gott überhaupt nicht gibt!« Kind: ((erfreut)) RA:::=JUPA::: ((lacht)) Vorlesender : isch des gut (-) wenns gott nich gibt; (2.0) Kind: hm? (3.0) Kind: ((lacht)) Vorlesender : oder? Kind: m:::h=hm (.) weiß nich (…) Vorlesender : »Und die Moral von der Geschicht’:« dem Jugendschutzgesetz (JuSchG). Bonn 2007. Online unter : www.ferkelbuch.de/indizie rungsantrag.pdf (25. 07. 2014). 41 Der Rabbi berichtet, dass sich ›Gott‹ dazu »entschloss, alles Leben auf der Erde zu vernichten«.

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Kind: 8hä;8 Vorlesender : »Wer Gott nicht kennt, der braucht ihn nicht!« Kind: ja:

Der erste Ausschnitt des Transkripts beschreibt nicht nur die Freude des Kindes über Igels Entsagung von Gott, sondern offenbart gleichermaßen eine Unentschlossenheit, wie dieses kategorische Urteil zu bewerten sei. Demgemäß ergibt sich hier eine deutliche Diskrepanz zwischen Beginn und Abschluss des Vorlesegesprächs, da die Abwesenheit Gottes anfänglich noch zurückweisend bewertet wird: Vorlesender : glaubst du auch? (.) dass igel und ferkel was fehlt (.) wenn sie gott nicht kennen= Kind: =ja (.) mh= Vorlesender : =fehlt was Kind: ja (…) Vorlesender : wie findsch du des? dass die gott nicht kennen? Kind: oder doch (--) ne gar nich so

Dass die Rezeption des Bilderbuches das Potenzial zur Vermittlung einer religionskritischen Haltung besitzt, zeigt sich nicht ausschließlich auf Grundlage der Zustimmung zur Negation Gottes, sondern auch im Hinblick auf die veränderte Plakataussage. Diesbezüglich macht das Kind zunächst selbstständig auf den Umstand des veränderten Plakats aufmerksam und spricht sich, im Anschluss an die inhaltliche Klärung der verschiedenen Bedeutungsgehalte, unzweifelhaft für die religionskritische Plakatvariante aus. Analog belegt auch das Abschlussgespräch der Studie, dass dem Kind insbesondere die veränderte Aussage des Transparents in positiver Erinnerung blieb und die Äußerung zudem wortgetreu wiedergegeben werden konnte. Folglich antwortet das Kind auf die Frage, was ihm besonders gut gefallen habe, dass es das mit wer Gott kennt dem fehlt was (lachen) gewesen sei. Mit dem Vergnügen während der Bilderbuchrezeption und der Erfassung religionskritischer Erzählinhalte wurden im Vorangegangenen die quantitativ herausragenden Analyseeinheiten der zugrunde liegenden Fallstudie vorgestellt. Ferner liegen mit den Hauptkategorien 4 (die Lektüre evoziert Fragen zu Gott und Religion) und 5 (das Kind erhält Einsicht in religiöse Sachverhalte) Ergebnisse vor, die unter didaktischer Perspektive ebenfalls nicht ohne Relevanz erscheinen. Unter der Annahme, dass Bilderbücher eine wesentliche Funktion in der frühkindlichen Bildungsarbeit einnehmen,42 ist somit – ungeachtet des re42 Vgl. Ulf Abraham: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Bilderbücher als fächerübergreifende Herausforderung auf der Primarstufe. In: Informationen zur Deutschdidaktik 26 (2002), 76¢89, hier 76f.

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ligionskritischen Charakters des Bilderbuches – von neu gewonnenen Kenntnissen im Bereich der drei dargestellten Religionen auszugehen. Beispielhaft seien hier die gemeinsame Erarbeitung des Terminus ›Rabbi‹, die Einsicht des Jungen in Teilbereiche der christlichen Eucharistiefeier sowie die erstmalige Begegnung mit der muslimischen Gebetspraxis angeführt. Gewiss sind in diesem Zusammenhang die geringen religiösen Vorerfahrungen des an der Studie teilnehmenden Kindes zu berücksichtigen, sodass eine Vielzahl der narrativ vermittelten Glaubensinhalte neuartige Eindrücke hervorruft. In engem Verhältnis hierzu belegt die vorliegende Untersuchung, dass der Rezipient wiederholt Fragen zu den religiösen Aspekten des Bilderbuches formuliert. Dabei illustriert die Frage des Jungen, wer der Gott eigentlich sei, exemplarisch, dass im Zuge der Bilderbuchrezeption durchaus tief greifende Fragen zu Gott und Religion formuliert werden können. Hier dürfte den Ausführungen des erwachsenen Gesprächspartners eine entscheidende Rolle sowohl zur Vermittlung religiöser Kenntnisse als auch zur Reflexion der religionskritischen Inhalte zukommen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass dem Jungen ein erheblicher Anteil der religionskritischen Aspekte des Bilderbuches bewusst wird. Neben der Häufigkeit des Bilderbuchbetrachtens stellt hierbei die Vorlese- und Anschlusskommunikation offensichtlich eine besondere Einflussgröße auf die kindliche Wahrnehmung der zugrunde liegenden Religionskritik dar. Denn es ist davon auszugehen, dass insbesondere in derartigen Gesprächssituationen eine kommunikative Verarbeitung der Lektüreinhalte und somit eine Moderation bzw. eine Erweiterung der subjektiven Rezeptionsprozesse stattfindet.43

Didaktische Überlegungen Letztlich ist die Frage nach der individuellen Wirkung des Bilderbuches nicht objektiv zu beantworten. Dies konnte bereits in den obigen Ausführungen veranschaulicht werden. Während Rühle von einem »islamistischen Fanatikermob«44 spricht, nimmt der Junge in der Fallstudie in derselben Illustration lediglich einen wütenden Geistlichen wahr. Aus didaktischer Perspektive ist daran besonders interessant, dass die nicht selten vorurteilsbehafteten Werturteile von erwachsenen Lesern mithin wenig gemein haben mit denjenigen kindlicher 43 Vgl. Michael Charlton u. Klaus Neumann: Medienrezeption und Identitätsbildung. Kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter. Tübingen 1990; vgl. Petra Wieler et al.: Medienrezeption und Narration. Gespräche und Erzählungen zur Medienrezeption von Grundschulkindern. Freiburg i. Br. 2008, hier 30. 44 Rühle: Der hässliche Rabbi (Anm. 4).

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(oder jugendlicher) Rezipienten. Bauer veranschaulicht dies: »Was sagt die eigentliche Zielgruppe? Ein Praxistest zu Hause ergibt: Sie lacht. Na dann.«45 Die Problematik divergierender Werturteile wird in der Literaturdidaktik allerdings viel zu wenig beachtet. Unseres Erachtens bietet das Bilderbuch dennoch – und möglicherweise auch gerade deshalb – ein besonderes didaktisches Potenzial.46 Schülerinnen und Schüler können auf dieser Grundlage schon sehr früh erfahren, dass literarische Texte (zumeist) ein hohes Ambiguitätspotenzial aufweisen und somit deutungsoffen sind.47 Hinsichtlich des literarischen Lernens48 von Schülerinnen und Schülern tritt folglich die Teilkompetenz Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses in den Vordergrund. Wie gezeigt werden konnte, ist es jedoch unabdingbar, dass die Rezeption des Buches mit geeigneten Formen von Anschlusskommunikationen verbunden wird. Für den modernen Literaturunterricht bietet sich hier der Einsatz des Literarischen Unterrichtsgesprächs nach dem Heidelberger Modell49 an, da diese neuere literaturdidaktische Konzeption in besonderem Maße Schülerinnen und Schüler in ihrer Subjektivität ernst nimmt. Dabei empfehlen wir, diese gesprächsförmige Ausrichtung mit Bausteinen des produktiven Umgangs mit Literatur zu verbinden. Darüber hinaus könnte mit dem Ferkel-Buch ein gesteigertes Fremdverstehen bei den Schülerinnen und Schülern etabliert werden.50 Ein Verständnis – zum Ersten – für Figuren, die nicht an Gott glauben (vertreten durch Igel und Ferkel), zweitens für glaubensvolle Menschen (vertreten durch den Bischof, den Rabbi und den Mufti) und zum Dritten für Anhänger verschiedener Religionen (ebenfalls vertreten durch die Geistlichen). Hier wäre es Aufgabe der Lehrkraft, 45 Bauer : Wo bitte geht’s zu Gott? (Anm. 5). 46 Auch Leonhardi kann keinen Anlass erkennen, »didaktische Auseinandersetzungen zu fürchten«. Leonhardi: Wo bitte geht‹s zu Gott? (Anm. 9), 56. Sie entwickelt für den Religionsunterricht überaus interessante Ansatzpunkte, indem sie in der Frage nach dem Sinn von Religion ein Themengebiet des Religionsunterrichts erkennt. 47 Matthias Wörther : Religionskritik in den Medien. Atheistische Ferkel und das Wehen des Zeitgeistes. Überlegungen zur Religionskritik in den Medien. Online unter : woerther.reliprojekt.de/files/209.pdf (25. 07. 2014) empfiehlt den Einsatz des Bilderbuches im Religionsunterricht ab der 9. Klasse; wir gehen – insbesondere in Anbetracht der Ergebnisse der Fallstudie – davon aus, dass man auf der Grundlage einer sorgfältigen unterrichtlichen Vorbereitung das Buch auch schon in der Grundschule einsetzen kann. 48 Vgl. Kaspar H. Spinner : Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 2006, H. 200, 6¢16. 49 Vgl. für einen profunden Einblick Marcus Steinbrenner u. Maja Wiprächtiger-Geppert: Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: leseforum.ch, Nr. 3 (2010). Online unter : www.leseforum.ch/ steinbrenner_wipraechtiger_10_3.cfm (25. 07. 2014). 50 Das Fremdverstehen – als Teilbereich der Ich-Entwicklung – wird in Abrahams/Kepsers literaturdidaktischem Grundmodell dem Aspekt der individuellen Bedeutsamkeit untergeordnet (vgl. Ulf Abraham u. Matthis Kepser : Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin 2009, hier 14).

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den Lernenden – ungeachtet der individuellen religiösen Verortung des Einzelnen – eine Haltung der Achtung und Toleranz zu vermitteln. Dazu bietet das Bilderbuch vielfältige Anknüpfungspunkte. Beispielsweise könnte anhand des erzürnten Rabbis dargelegt werden, dass dieser in seiner individuellen Glaubensperspektive verharrt. Eine Sensibilität für die Haltung des Igels und des Ferkels und damit verbundene kritisch-rationale Fragen nach Gott stünden hierbei dem Zorn des Geistlichen gegenüber. Umgekehrt könnte mit den Lernenden jedoch auch – dieses Mal am Beispiel des Muftis – erarbeitet werden, dass der Glaube anderer Menschen zu respektieren, das Einfordern kaum belegbarer Sachverhalte zu vermeiden ist: Ohne Ferkels Zweifel am Propheten Mohammed hätte es den Mufti nicht »in seinen Gefühlen verletzt« (25/26). Die Bedeutung des Respekts vor verschiedenen Religionen könnte schließlich auch anhand des Streits der Geistlichen (27/28) thematisch vertieft werden. Insbesondere mit älteren Schülerinnen und Schülern könnte schließlich auch »die Fähigkeit, am feuilletonistischen Diskurs teilzunehmen«,51 eingeübt werden. Hier bietet gerade die weitläufige mediale Debatte über das Ferkel-Buch die Gelegenheit, diesen Diskurs nachzuzeichnen und sich in diesem Rahmen selbst zu positionieren, indem eigene Kommentare, Essays oder Leserbriefe produziert werden. In einem zweiten Schritt könnten sich Lehrpersonen dann um eine Publikation dieser Texte – beispielsweise in einer Lokalzeitung oder im Internet – bemühen, sodass die Lernenden ihren Teil zur intersubjektiven Verständigung über das Ferkel-Buch beitragen könnten.52 Unter Beachtung eines behutsamen, empathischen Umgangs mit dem Bilderbuch, der neuere literaturdidaktische Konzeptionen aufgreift, wird es unseres Erachtens ausgeschlossen sein, dass das Ferkel-Buch eine – wie etwa von der CDU/CSU unterstellte – »bildungsfeindliche Wirkung«53 entfalten könnte. Ebenso wenig scheint es dazu geeignet zu sein, ›Angst‹ bei Kindern hervorzurufen.54 Wir können uns hier nur Riedesser anschließen: Das Buch kann dazu beitragen, dass die Kinder lernen, nicht jede Aussage – stamme sie von einem Religions-Lehrer oder aus einem Buch – für wahr zu halten. Problematisch wäre es, wenn in dem Buch behauptet würde, Atheisten seien die besseren Menschen. Aber das ist nicht der Fall! Die Grundaussage des Buchs ist doch: Wir Menschen sind 51 Abraham u. Kepser : Literaturdidaktik Deutsch (Anm. 50), 73. 52 Die Ansichten von Schülerinnen und Schülern über das Ferkel-Buch stellten gewiss eine Bereicherung für den öffentlichen Diskurs des Buches dar. 53 Hans-Peter Uhl: Religionsfeindlichkeit ist kein Verfassungsgut. Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu Kinderbuch. 06. 03. 2008. Online unter : www. cducsu.de/presse/pressemitteilungen/religionsfeindlichkeit-ist-kein-verfassungsgut (25. 07. 2014). 54 Dies behaupten Biesinger (Interview im domradio [07. 02. 2008], Anm. 10) und Kramer (Stellungnahme des Generalsekretärs [Anm. 13]).

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alle gleich, Gläubige wie Ungläubige – auch wenn ein paar ›Leute in lustigen Gewändern‹ das nicht wahrhaben wollen! Das ist eine sehr schöne, positive Aussage, die auch Kinder gut verstehen können.55

Auch wenn wir in den allermeisten Punkten Riedesser zustimmen, möchten wir jedoch abschließend noch einmal darauf hinweisen, dass die Deutungsangebote des Bilderbuches – so unterschiedlich sie auch sein mögen – vom kindlichen Leser mit großer Wahrscheinlichkeit erst in fruchtbaren Anschlusskommunikationen erschlossen werden können.

Fazit Im ersten Abschnitt unserer rezeptionsanalytischen Ausführungen wurde ein ausgewählter Teilbereich des öffentlichen Diskurses über das Ferkel-Buch nachgezeichnet. Wenngleich dieser einen sehr einseitigen Verlauf einnimmt, so ist es doch eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis, dass literarische Werke überhaupt noch Aufmerksamkeit erregen und Kontroversen anstoßen können. Dabei ist ein breiter Dialog über Literatur im öffentlichem Raum durchaus wünschenswert – zeigt er doch, dass Literatur auch heute noch keine Randerscheinung, sondern vielmehr einen wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Interesses bildet. Hier schließt die Perspektive an, dass infolge des medialen Diskurses sowohl im Privaten als auch in institutionellen Kontexten eine vertiefte Auseinandersetzung mit Literatur evoziert werden kann. Dass die Rezeption des Ferkel-Buches – obgleich der von vielen Rezensenten vermuteten Gefahren – insbesondere Vergnügen beim kindlichen Betrachter auslöst, wurde im zweiten Abschnitt dieses Beitrags expliziert. Somit erfüllt das Ferkel-Buch bereits eine wesentliche Funktion, indem es freudvolle Rezeptionserlebnisse gewährt und damit literarische Erfahrungen in ansprechender Weise ermöglicht. In dieser Hinsicht könnte sich auch der Einsatz des Buches in der Familie als gewinnbringend erweisen. Gleichwohl möchten wir an dieser Stelle nicht unbemerkt lassen, dass der Junge in der Fallstudie eine Vielzahl der religionskritischen Elemente des Bilderbuches erfasst. In diesem Zusammenhang haben wir darauf hingewiesen, dass in der Vorlese- und Anschlusskommunikation eine wesentliche Bedingung für die Wahrnehmung der Religionskritik liegen könnte. Demnach stellt sich die Frage, was mit der gemeinsamen Rezeption des Buches sowohl in der Schule als auch in der Familie erreicht werden kann: Grenzziehung, Unbelehrbarkeit und Festigung bestehender Denkmuster – oder Toleranz, Verständnis und Freude an Literatur? Letzteres empfehlen wir. 55 Zit. n. Finke: Dawkins for Kids (Anm. 13).

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»Lasst Brian frei!« Religion und Postmoderne am Beispiel von Monty Python’s Life of Brian (GB 1979)

Vorbemerkung Es gibt eine Reihe von Filmen, die wegen ihrer Behandlung der Heilsgeschichte, insbesondere der Geschichte des Lebens von Jesus Christus, wie sie im Neuen Testament überliefert worden ist, als blasphemisch kritisiert oder als Bruch religiöser Werte oder Tabus gesehen wurden und gegen die es öffentlich Proteste gab. Für Oliver Jahraus steht sogar fest, dass »kaum ein anderes Thema oder Sujet, wie es mit der Figur und Geschichte von Jesus Christus vorgegeben ist, so gut geeignet ist«, den »Zusammenhang von Tabus und medialer Tabuverletzung oder Tabubestätigung zu illustrieren«.1 Der Grund muss kaum erläutert werden – die Erzählung der Erlösung des Menschen durch das Opfer des Gottessohns ist das Fundament des Christentums, sodass bei einer Abweichung von der Überlieferung für überzeugte Christen der Verdacht naheliegt, dieses Fundament solle erschüttert werden. Das Besondere an fiktionaler Literatur – und dies gilt analog für den fiktionalen Film –, die als qualitativ hochwertig angesehen wird, ist nun, dass sie prinzipiell tabubrechend ist, da sie das Ungewohnte, das Abweichende, das Neue favorisiert.2 »Moderne Literatur ist Skandal«, auf diese Formel hat es Volker Ladenthin zugespitzt und hinzugefügt: Moderne Literatur entsteht erst und nur, wenn ein Text gegen geltende Regeln verstößt. Wenn Kunst und Literatur ästhetisch intendiert sind, d. h. die Darstellung von etwas,

1 Oliver Jahraus: Jesus geht nach und kommt von Hollywood. Jesusfilme zwischen Tabu und Faszination, zwischen Bilderverbot und Visualisierung. In: Michael Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg 2007, 181–200, hier 181. Der Beitrag geht auf Martin Scorseses The Last Temptation of Christ (dt. Die letzte Versuchung Christi, 1988) und Mel Gibsons The Passion of the Christ (dt. Die Passion Christi, 2004) ein, jedoch nicht auf Monty Python’s Life of Brian. 2 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, 327.

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wozu die Begriffe fehlen, dann verstoßen sie von der Anlage her gegen die angebliche Ordnung der Dinge, d. h. gegen die bestehende begriffliche Ordnung der Welt.3

Das Besondere an dem Film, um den es hier gehen soll, ist, dass er den angesprochenen Tabubruch mit Komik verbindet, anders gesagt: Er macht sich über Werte lustig – und stellt sie damit zur Disposition –, die für Menschen christlichen Glaubens einen besonders hohen Stellenwert haben. Warum tut er das und welche kontextuellen Faktoren spielen dabei eine Rolle? Ist damit wirklich ein Angriff auf das Christentum verbunden? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen zunächst Grundlagen der Erzeugung von Komik, insbesondere im Film, und einige Besonderheiten des sozialgeschichtlichen Kontexts, in dem der Film entstanden ist und zunächst rezipiert wurde, erläutert werden.

Merkmale von (Film-)Komödien4 Das weite Feld mit Begriffen wie Komödie, Witz, Humor und Heiterkeit kann an dieser Stelle nicht erläutert, die oft synonym gebrauchten Begriffe können nicht diskutiert werden.5 Wichtig ist festzuhalten, dass es sich bei Monty Python’s Life of Brian um eine Filmkomödie handelt. Nicht nur Dramen, auch Filme oder Fernsehserien können als Komödien gesehen werden, für die, nach Andrea Bartl, allgemein gilt: Die Komödie ist eine dramatische Gattung, deren Konflikte, Figuren, Form und Stil beim Leser bzw. Zuschauer maßgeblich komische Wirkung, Lachen, erzielen. Dem sind verschiedene formale wie inhaltliche Merkmale beigeordnet.6

Und weiter : Die Voraussetzung und Wirkung von Komik sind dabei zumeist ein distanzierter Blick auf die Welt sowie eine latente Oppositionshaltung, die kulturelle Ordnungsmuster unterläuft und aufzubrechen sucht. Trotzdem ist das Verständnis von Komik stets von den herrschenden Normen geprägt und damit an die historische und kulturelle Si-

3 Volker Ladenthin: Literatur als Skandal. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, 19–28, hier 21f. 4 Für einen etwas ausführlicheren Versuch, die Geschichte der Komik in Literatur und Film nachzuzeichnen und dabei auf eine Produktion einzugehen, die auch mit Monty Python zu tun hat, vgl. Stefan Neuhaus: Ich, einfach lächerlich: Die hintersinnige ›glokale‹ Komik von »Fawlty Towers«. In: Sabine Schrader u. Daniel Winkler (Hg.): TV glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate. Marburg 2014, 195–213. 5 Zum Begriff der Heiterkeit vgl. insbesondere Harald Weinrich: Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. München 2001. 6 Andrea Bartl: Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin. Stuttgart 2009, 29.

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tuation gebunden. […] Was der Einzelne für komisch hält, ist von einer Fülle von Faktoren abhängig.7

Komik in Kunst, Literatur und Film kann als affirmativ oder subversiv konzipiert begriffen werden. Die Wirkung, das Lachen, kann entsprechend unterschiedliche Funktionen haben, so kann es von Zwängen befreien, es kann Gemeinsamkeit stiften, es kann aber auch – als Verlachen – ein ›böses Lachen‹ sein, das a-sozial ist, weil es ausgrenzt oder andere als minderwertig brandmarkt. Insbesondere Sigmund Freud hat sich (in der wohl berühmtesten Studie zum Thema, die den Titel trägt: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten) mit den egoistischen Aspekten von Komik auseinandergesetzt. Für ihn zeichnet sich der Witz gerade durch den Verzicht auf die Einhaltung sozialer Normen aus.8 Wichtig ist, dass Freud mit dem »Wortspiel«9 und der »Situationskomik«10 die beiden zentralen Merkmale von narrativen, auf Sprache und/oder Visualisierung beruhenden Werken anführt, von denen literarische Texte und Filme wohl die größte Verbreitung und Wirkung für sich beanspruchen können. In der Komödie der Frühaufklärung wurde das Verlachen für die Erziehung eingesetzt, es sollten eigene Fehler in den Figuren erkannt werden.11 Bereits hier ist erkennbar, dass in Kunst, Literatur und Film gilt, was Henri Bergson 1900 festgestellt hat, sofern das Werk, um das es geht, auch Anerkennung bei den diese Werke beurteilenden gesellschaftlichen Instanzen finden soll: »Das Lachen muß eine soziale Bedeutung haben.«12 Folgt man Helmut Bachmaier, dann ist die höchste Form des Lachens das ›Homerische Gelächter‹: Zeus lacht über die Götter, damit auch über sich selbst – er ist also Subjekt und Objekt des Lachens. Durch dieses absolute Lachen wird der Gott erst eigentlich – ganz im Sinne spekulativer idealistischer Philosophie – zum Gott, indem er eine Paradoxie

7 Bartl: Die deutsche Komödie (Anm. 6), 11. 8 Auf Freuds eigene Differenzierung von Witz, Komik und Humor kann ich hier leider nicht eingehen. Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud u. a. Frankfurt a. M. 1999 (zuerst 1940–1952). Bd. VI, 269. 9 Freud: Der Witz (Anm. 8), 37. 10 Vgl. Freud: Der Witz (Anm. 8), 224. 11 Ein Problem der deutschsprachigen Kulturgeschichte ist die Bevorzugung des Tragischen gegenüber dem Komischen, vgl. Stefan Neuhaus: Das lachende und das weinende Auge – Komik als Kippspiel bei Erich Kästner. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Internationales Kolloquium aus Anlass des Erscheinens der Bibliographie Erich Kästner von Johan Zonneveld. Tagungsband. Marburg 2012, 101–118. 12 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übersetzt v. Roswitha Plancherel-Walter. Hamburg 2011, 17.

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auflöst: nämlich zugleich als Gott unbegrenzt und – im Polytheismus – durch die anderen Götter begrenzt zu sein.13

Dieses Lachen über sich selbst kann auf ganz verschiedene Weise erzeugt werden, außerdem ist es abhängig von einem historischen und kulturellen Kontext, in dem es (ent-)steht. Die zugleich anarchische und soziale Funktion der Komik und des Lachens betont Michail Bachtin am Beispiel des Karnevals und der russischen Literatur. Seine Ausführungen sind auch Kritik am russischen autokratischen System. Das Mittelalter wird aus dieser Perspektive trotz seiner christlich-feudalen Gesellschaftsstruktur zu einer Epoche, in der es noch Freiräume gab: »Die Menschen des Mittelalters hatten an zwei Leben gleichmäßig Anteil: am offiziellen Leben und am Karnevalsleben.«14 Letzteres bietet die Freiräume: »Das Lachen blieb stets eine freie Waffe in der Hand des Volkes.«15 Wichtig ist dabei insbesondere die Verbindung zum »Materiell-Leiblichen«.16 Für Bachtin tritt an die Stelle des Karnevals später die Literatur, die durch ihre »Karnevalisierung«17 die »Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen«,18 außer Kraft setzen und so Freiräume zur Verfügung stellen kann. Der Film kann das ›Materiell-Leibliche‹ visualisieren und dadurch ausstellen, zugleich hat er die Möglichkeiten der gesprochenen Sprache. Andrew Horton sieht in der Filmkomödie daher auch »an intensified version of language and behavior«.19 Mit Komik im Film hat sich ausgiebig Geoff King beschäftigt, seine Erkenntnisse fassen noch einmal die Möglichkeiten zusammen, die Komik hat: Comedy has the potential to be both subversive, questioning the norms from which it departs, and affirmative, reconfirming that which it recognises through the act of departure; or a mixture of the two. Two different conceptions of comedy are often combined: comedy in the sense of laughter, anarchy and disruption of harmony, and comedy in the sense of a movement towards harmony, integration and the happy ending.20 13 Helmut Bachmaier (Hg.): Texte zur Theorie der Komik. Stuttgart 2005, 11. – Vgl. außerdem Ulrich Profitlich (Hg.): Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. In Zusammenarbeit mit Peter-Andr¦ Alt, Karl-Heinz Hartmann und Michael Schulte. Reinbek 1998. Der vielleicht umfangreichste Versuch der Konzeptualisierung des Komischen findet sich in dem Band von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Hg.): Das Komische. München 1976. 14 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Kaempfe. München 1969, 41. 15 Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 14), 39. 16 Vgl. Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 14), 45. 17 Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 14), 47. 18 Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 14), 48. 19 Andrew Horton: Introduction. In: ders. (Hg.): Comedy/Cinema/Theory. Berkeley u. a. 1991, 1–21, hier 9. 20 Geoff King: Film Comedy. London/New York 2002, 8.

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Sowohl Bachtin als auch Horton (und andere) sind also der Auffassung, dass Komik gegen als autoritär empfundene Strukturen der Gesellschaft gerichtet sein kann. Die sichtbar gewordene Kritik an Autoritäten kommt nicht von ungefähr, sie hat viel mit dem Wandel von der modernen zur postmodernen Gesellschaft zu tun.

Merkmale der Postmoderne Auch wenn der Begriff umstritten ist und etwa Ulrich Beck oder Anthony Giddens den der ›reflexiven Moderne‹ bevorzugen,21 soll er hier Verwendung finden, in Anlehnung an den von Jean-FranÅois Lyotard geprägten und wirkungsmächtigen Begriff der ›condition postmoderne‹.22 Lyotard geht davon aus, dass Wissen nichts Gegebenes ist, sondern in einer Gesellschaft aus Gründen der Legitimation von Macht produziert, tradiert und gegebenenfalls modifiziert wird. Sinn wird diesem Wissen durch Erzählungen zugeordnet, die Gültigkeit beanspruchen: »Die Erzählungen bestimmen, was man gesehen hat, Kriterien der Kompetenz und/oder sie illustrieren deren Anwendung. So bestimmen sie, was in der Kultur das Recht hat, gesagt und gemacht zu werden, und da sie selbst einen Teil von ihr ausmachen, werden sie eben dadurch legitimiert.«23 Die zentrale Veränderung im ›postmodernen Wissen‹ ist, hier wird Lyotard ausgesprochen programmatisch, dass das Wissen nun »seine Gültigkeit nicht in sich selbst« findet, »sondern in einem praktischen Subjekt, welches die Humanität ist«.24 Es gebe nun kein »Wissen in seiner Selbstlegitimation« mehr, »[…] sondern die Freiheit in ihrer Selbstbegründung, oder, wenn man dies vorzieht, in ihrer Selbstverwaltung.«25 Ein Hintergrund dieser zeittypischen Programmatik dürften die Erfahrungen beider Weltkriege sein, in denen die radikale Pervertierung des Konzepts ›Wissen als Selbstbegründung‹ zu beobachten war. Generell ist seit den 1960erJahren das Misstrauen und die Kritik gegenüber Autoritäten extrem gewachsen und es ist dieses ›reflexive‹ Moment, das als Sicherung gegenüber dem Rückfall in vormoderne Zeiten dienen soll, das dabei aber durchaus an die Ideale der 21 Vgl. Ulrich Beck, Anthony Giddens u. Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996. 22 So der Titel seines 1979 erschienenen Buches, dessen Übersetzung folgenden Titel trägt: Jean-FranÅois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 5 2005. – Vgl. auch Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 2003 [Erstausgabe 1986]; ders. u. Elisabeth Beck-Gersheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994. 23 Lyotard: Das postmoderne Wissen (Anm. 22), 75. 24 Lyotard: Das postmoderne Wissen (Anm. 22), 106. 25 Lyotard: Das postmoderne Wissen (Anm. 22), 106f.

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Aufklärung anknüpft, wie sie seinerzeit Immanuel Kant programmatisch formuliert hat.26 Es fehlt hier der Raum zu zeigen, wie sich diese Entwicklung genauer darstellt, in der vor allem dann in der Nachkriegszeit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung eine wesentliche Rolle spielt.27 Die kritischen Aspekte der Entwicklung hat in einer neueren, ebenfalls breit rezipierten Studie über die von ihm so genannte ›liquid modernity‹ (ins Deutsche übersetzt als ›flüchtige Moderne‹)28 der Soziologe Zygmunt Bauman wie folgt zusammengefasst: Die Menschen sind ›freigesetzt‹ aus den früheren sozialen und beruflichen Strukturen, die traditionelle Kernfamilie ist als dominante Form des Zusammenlebens ebenso verschwunden wie die lineare Berufslaufbahn mit langjähriger Zugehörigkeit zu einem Unternehmen. An die Stelle eines mehr oder weniger vorgezeichneten Lebenslaufs ist eine scheinbar unendliche Zahl von Wahlmöglichkeiten getreten, wie die Menschen der sogenannten westlichen Welt ihr Leben gestalten können, allerdings haben sie keine Wahl mehr, ob sie diese ›Freiheit‹ überhaupt wollen. Daraus entsteht ein Dilemma: »Es tut sich ein immer größerer Abgrund auf zwischen Individualität als Schicksal und der praktischen und realen Individualität als Form der Selbstbehauptung.«29 Andreas Reckwitz hat es noch etwas zugespitzter so formuliert: »Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]modernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität.«30 Für Reckwitz steht fest, »dass in der postmodernen Kultur ein ästhetischer Subjektcode der Selbstkreation und ein im weitesten Sinne ökonomischer Subjektcode der marktorientierten Wahl und Konsumtion einander überformen«.31 Die skizzierte Entwicklung hat natürlich auch Auswirkungen auf die Religiosität der Menschen. Zwar wurde bereits mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche im 18. Jahrhundert der Grundstein für eine Pluralität der Auseinandersetzung mit Religionen und Glaubensinhalten gelegt, doch ist die bis in die Nachkriegszeit noch übliche Zugehörigkeit zu einer Kirche, mit dem obligatorischen Kirchgang am Sonntag, höchstens noch in sehr 26 Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Erhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Thesen und Definitionen. Bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart 1996, 9–17. 27 Vgl. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 152004. 28 Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne. Aus dem Engl. v. Reinhard Kreissl. Frankfurt a. M. 2003. Bauman geht auch auf die anderen Begriffe ein, vgl. ebd., 12f. 29 Bauman: Flüchtige Moderne (Anm. 28), 46. 30 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, 19. 31 Reckwitz: Das hybride Subjekt (Anm. 30), 26.

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ländlich geprägten Gegenden und bei älteren Menschen die Regel. Auch die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland als einem Land, das die katholische und evangelische Kirche etwa durch die Kirchensteuer und Finanzierung kirchlicher Einrichtungen privilegiert, belegt den beschleunigten Wandel der letzten Jahrzehnte. Auffällig ist, dass der Wandel zu einer mehr oder weniger konstant hohen Zahl von Austritten in der Folge der sogenannten Studentenbewegung von 1968 einsetzt.32 Es dürfte also kein Zufall sein, dass Monty Python’s Life of Brian gerade in den 1970er-Jahren entstanden ist, in einer Zeit, in der auch andere Tabus öffentlichkeitswirksam durch Filme gebrochen wurden, etwa durch die Zurschaustellung von Sexualität in Filmen mit künstlerischem Anspruch.33 Man könnte mit einem Wort Ulrich Becks sagen, dass es erst seit oder nach den 1960er-Jahren möglich geworden ist, mit einem ›religionssoziologischen Blick‹ einer »subjektiven Dimension des Religiösen« nachzugehen;34 ein Blick, der frei ist von vorausgehenden Setzungen religiöser oder ideologischer Art. Religiosität wird in den postmodernen westlichen Gesellschaften von einer öffentlichen zu einer privaten Angelegenheit: »Der eigene Gott ist nicht der allmächtige Gott.«35 Einen für alle oder viele verbindlichen »Code des Religiösen« gibt es nicht mehr : »Der eigene Gott ist teilbar und zusammensetzbar wie das Individuum selbst, Garant der Unabhängigkeit des Individuums und der Unabhängigkeit Gottes.«36 Man könnte auch, etwa mit Wolfgang Welsch, den Begriff der Pluralität ins Spiel bringen: Im Positiven zeichnet sich die Postmoderne dadurch aus, dass sie den Subjekten eine Wahl lässt, ohne jedoch qualitative Präferenzen durch die Hintertür zu etablieren oder die Unterschiede und damit die relevanten Identitätsbausteine zu relativieren (Welsch verwendet hierfür als negativ konnotierten Begriff den des Pluralismus).37 Dass dies so ist, daran haben Filme wie Monty Python’s Life of Brian einen nicht zu unterschätzenden Anteil, und zwar – wie ebenfalls gezeigt werden soll – ohne Abwertung spezifischer Glaubensinhalte, sofern man nicht die Alternativerzählung und die Komisierung religiöser Figuren oder Narrative bereits als Abwertung versteht. Durch die insze32 Vgl. Joachim Eicken u. Ansgar Schmitz-Veltin: Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland. Statistische Anmerkungen zu Umfang und Ursachen des Mitgliederrückgangs in den beiden christlichen Volkskirchen (2010). Online unter : Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gastbeitraege/Entwicklung Kirchenmitglieder.pdf ?__blob=publicationFile (21. 03. 2014), bes. 579 u. 584. 33 Vgl. Stefan Neuhaus: Tabu und Tabubruch im erotischen Film. In: Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film (Anm. 1), 137–150, bes. 142. 34 Vgl. Ulrich Beck: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt a. M. u. Leipzig 2008, 15. 35 Beck: Der eigene Gott (Anm. 34), 22. 36 Beck: Der eigene Gott (Anm. 34), 26. 37 Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 62002, XVII.

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nierte Erfahrung von Kontingenz (es könnte alles auch ganz anders sein oder gewesen sein) wird der Glauben in die Privatheit zurückverwiesen.

Die subversive Komik von Monty Python Die Geschichte der als Monty Python bezeichneten Gruppe britischer Komiker kann hier nicht genauer nachgezeichnet werden, einige Stichworte mögen genügen.38 Die Vorgeschichte beginnt während des Studiums an den besonders traditionsreichen Universitäten Oxford und Cambridge und geht mit der Arbeit für den öffentlich-rechtlichen Sender BBC in ein weiteres Stadium, bis schließlich die BBC ein Programm ausstrahlt, das die heutigen Vorstellungen von audiovisueller Komik nachhaltig prägen wird: Since its BBC premiere on October 5, 1969, Monty Python’s Flying Circus has consistently been regarded as one of the most innovative, surrealistic, and groundbreaking programs in television history. During their four seasons on British television (and well into the troupe’s movie sequels and assorted solo projects), Monty Python became a worldwide icon of surrealistic comedy, not only for taking serious subjects and making them seem silly but also for treating silly subjects with the same consideration that the Oxford- and Cambridge-educated members once took their Latin and Greek lessons.39

Monty Python hat zweifellos, die hochgradige Intertextualität der Werke belegt dies, Wurzeln in der Literatur- und Kulturgeschichte; Darl Larsen hat besonders die Verweise auf und Parallelen zu Werken William Shakespeares herausgearbeitet.40 Deutliche Parallelen zwischen der Dramenpraxis zu Shakespeares Zeit und der Filmpraxis der Python-Truppe wären beispielsweise, dass Männer in Frauenkleidern auftreten und eine begrenzte Zahl von Schauspielern alle Rollen spielt, also ständig in anderer Kostümierung auftritt. Auch wenn man angesichts der reflexiv-kritischen Qualitäten Shakespeares (und anderer Autoren) die Zeitachse der Postmoderne bis zu Shakespeare verlängern könnte, so soll hier doch von einem Postmoderne-Begriff ausgegangen werden, der nicht nur bestimmte Autoren und Werke charakterisiert, sondern eine bestimmte Kultur prägt. Monty Python vollzieht den beschriebenen Wechsel zur Post- oder ›reflexiven‹ Moderne, indem die Filme der Gruppe die Konstruktionsprinzipien von Wissen und Macht durchsichtig machen, und zwar 38 Vgl. auch John Cleese u. a.: The Pythons Autobiography by The Pythons. New York 2003. 39 Brian Cogan u. Jeff Massey : Everything I ever needed to know about * I learned from Monty Python. *History, Art, Poetry, Communism, Philosophy, The Media, Birth, Death, Religion, Literature, Latin, Transvestites, Botany, The French, Class Systems, Mythology, Fish Slapping, And Many More! New York 2014, 4. 40 Vgl. Darl Larsen: Monty Python, Shakespeare and English Renaissance Drama. Foreword by William Proctor Williams. Jefferson, North Carolina/London 2003.

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nicht nur graduell, sondern programmatisch; in den Worten von Cogan und Massey : By challenging the way in which we accept the world as real instead of as a social construction, Python asks us to consider what writers, philosophers, artists, and musicians have been asking for thousands of years: why do we witness things that are patently absurd and silly and, instead of laughing, go on about our daily business as if all is normal?41

Wie genau Python in die Zeit passt, zeigt etwa die sich parallel entwickelnde interdisziplinäre Forschungsrichtung des (radikalen) Konstruktivismus, für die der Wissenschaftsklassiker von Berger/Luckmann mit dem Titel The Social Construction of Reality aus dem Jahr 1966 wegbereitend war.42 Entsprechend gestalten sich die Basisannahmen, von denen die Gruppe ausgeht: »John Cleese has always been very vocal about how incredibly obvious it was that much of the social construction of reality is so evidently a custom that we reinforce by habit. This led to Python choosing consistent targets […].«43 Diese Ziele sind Autorität verkörpernde Institutionen wie Politik, Wirtschaft, Militär und eben Religion: »Python challenged the way in which some humans use religion to consolidate power.«44 Cogan und Massey folgen den Beteuerungen der Gruppe, die Life of Brian nicht als blasphemischen Film verstanden wissen wollte: In Life of Brian, the Pythons are not attacking Jesus Christ or any of his teachings, a point missed by the critics of the time; they are attacking mindless obedience to any kind of system. It would be easy to see the film as an attack on the institution of organized religion, but it is far more than that: it is an attack on all sources of authority.45

Die konkurrierenden judäischen Befreiungsorganisationen beispielsweise seien als Satire auf die zersplitterte politische Linke in Großbritannien konzipiert worden.46 Damit sind auch die kritischen Waffen bezeichnet, die Monty Python benutzt – Humor, Komik und Satire, denn: »the greatest danger for authoritative figures is humor (because they don’t understand it)«.47 Außerdem würden die

41 Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 9f. 42 Vgl. Peter L. Berger u. Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner. Frankfurt a. M. 161999. 43 Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 20. 44 Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 265. – Für eine ähnliche Sichtweise vgl. Larsen: Monty Python, Shakespeare and English Renaissance Drama (Anm. 40), 148. 45 Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 263. 46 Vgl. Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 265. 47 Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 21.

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Inhaber von Macht (Film-)Komödien nicht mögen, weil sie »essentially subversive« seien.48

Brian als postmoderne Gegen- und Komplementärfigur zu Jesus Es ist die subversive Komik des Films, die konsequent alle nur denkbaren Voraussetzungen der Geschichte Jesu unterläuft. Allerdings wird der Kern des christlichen Glaubens nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern im Sinne postmoderner Pluralität eine alternative Jesuserzählung angeboten. Schon der Titel des Films, der den Namen von Brian und nicht den von Jesus nennt, bereitet auf die Akzentverschiebung vor. Der Film spielt dieses Thema durch, indem er an entscheidenden Stellen des Lebenswegs Verwechslungen von Brian und Jesus initiiert, von dem Besuch der Heiligen Drei Könige beim falschen Baby über die Verehrung von Brian als neuem Messias bis hin zur Kreuzigung Brians. Zentral für die Erzeugung von Komik ist, dass heutige Denk- und Verhaltensweisen den Film prägen, obwohl er in der Zeit des Lebens Jesu Christi spielt. Anders als beispielsweise triviale historische Romane, die diese Differenz zwar benötigen, aber während des Lektüreprozesses dem Leser weitestmöglich verschleiern wollen, um eine größere Identifikation und damit auch stärkere emotionale Wirkung zu erzeugen, wird die Differenz in diesem Film ausgestellt. So entstehen vielfältigen Möglichkeiten, aus dem Zusammenprall zweier Welten (die Ufo-Szene wird dies wörtlich nehmen)49 nicht nur die eine oder die andere Zeitebene, sondern beide zugleich zu komisieren oder satirisch zu zeichnen – und damit zu relativieren oder zu kritisieren. So verweisen bereits das Intro mit der zänkischen, auf ihren Vorteil bedachten Mutter Brians, die mit dem hohen Besuch der irregegangenen Heiligen Drei Könige nichts anfangen kann, und nach dem Vorspann (über den auch viel zu schreiben wäre) die Inserts mit »Judea A.D. 33«, gefolgt von »Saturday Afternoon« und »About Tea Time«50 auf die beiden Ebenen unmissverständlich hin. Die Inserts werden begleitet von getragener Musik, im Bild sind zahlreiche Menschen und Kamele in einer Wüstenlandschaft zu sehen, dann ist zunächst aus dem Off eine predigende Stimme zu hören und schließlich in einer Nahaufnahme Jesus zu sehen. Die Kamera zoomt nach hinten, Jesus wird kleiner, das Bild zeigt auch seine Zuhörer und solche am äußeren Rand des Ereignisses der Bergpredigt werden nun die Protagonisten der weiteren Handlung, indem sie 48 Vgl. Cogan u. Massey : Everything I ever needed to know (Anm. 39), 265 (zitiert wird hier David Morgan, ein Chronist der Komikergruppe). 49 Vgl. Monty Python’s Life of Brian. Regie: Terry Jones. Großbritannien 1979, 00:40:34–00:41:45. 50 Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:06:24–00:06:46.

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erst nachfragen, was der nun weit entfernte und schlecht zu verstehende Jesus gesagt hat, und dann über ihr Verhalten in Streit geraten. Ausgelöst wird der Streit durch einen Ruf von Brians Mutter in die Richtung von Jesus, er solle lauter sprechen.51 Sie überzeugt Brian schließlich, mit ihr zu einer Steinigung zu gehen; weil dort aber Frauen nicht erlaubt sind, muss sie sich, wie viele andere ihrer Geschlechtsgenossinnen, einen falschen Bart anheften. Auch geeignete Wurfsteine sind käuflich zu erwerben – die heutige Wirtschaftsordnung wirft ihren langen Schatten voraus.52 Die von Missverständnissen zwischen Offizieren und Zuschauern geprägte Steinigung endet schließlich damit, dass der führende Offizier, nachdem er gerade noch einmal die Regeln erläutert hat, von einem riesigen Stein erschlagen wird und das (verbotenerweise weibliche) Publikum Beifall klatscht. Er hätte eben nicht »Jehova« sagen dürfen – die Todsünde, die das ursprünglich vorgesehene Steinigungsopfer begangen hat.53 Bereits diese halbminütige Szene zeigt deutlich, dass Autoritäten in diesem Film nicht nur nichts gelten, sondern (wie Pontius Pilatus mit seinem Sprachfehler)54 verlacht werden oder sogar (um auf den exemplarischen Tod von E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches zu verweisen) im übertragenen Sinn eines ›humoristischen‹ Todes sterben können.55 Umgekehrt ist es auch möglich, dass Figuren keine Freude an ihrem neu gewonnenen Leben finden, wie die sich anschließende Szene mit einem ›Ex-Leprakranken‹ zeigt, der durch Jesus geheilt wurde und nun kein Auskommen mehr findet: »One minute I’m a leper with a trade, next minute my livelihood’s gone.«56 Nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens werden ironisiert, etwa die klassische Bildung: Brian wird von der Widerstandsgruppe People’s Front of Judea beauftragt, »Romans go home« auf Latein an eine Wand zu malen. Er wird dabei von einem Offizier erwischt, der sich aber lediglich an der falschen Grammatik stößt und Brian zwingt, die korrekte Formulierung 100 Mal zu schreiben – mit dem Ergebnis, dass alle Gebäude des Platzes nun damit bedeckt sind.57 Neben dem Thema Tod, zu dem im nächsten Abschnitt noch etwas gesagt werden soll, 51 52 53 54 55

Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:07:10–00:07:47. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:10:28–00:11:02. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:11:03–00:11:38. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), ab 00:36:26. Humor kommt aus dem Lateinischen und heißt auch »Feuchtigkeit«, früher wurden deshalb die Körpersäfte als »humores« bezeichnet. Klein Zaches in Hoffmanns gleichnamiger Märchenerzählung stirbt, indem er auf der Flucht kopfüber in seinen eigenen Nachttopf stürzt. Der Leibarzt erläutert deshalb, man könnte sagen, »der Minister sei auf diese Weise einen humoristischen Tod gestorben«. E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke – Klein Zaches – Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820. Sämtliche Werke, Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarb. v. Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M. 1985, 641. 56 Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:15:06. 57 Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:23:00–00:25:36.

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spielt auch das Thema Liebe eine wichtige Rolle, von sexuellen Anspielungen über die käufliche Liebe (etwa der Mutter von Brian, die – jedes Klischee durchkreuzend – von einem Mann gespielt wird) bis hin zur romantischen Liebe zwischen Brian und Judith, die damit endet, dass Judith Brian für sein Opfer am Kreuz – für den Tod als nationaler Märtyrer – dankt, statt ihn zu befreien.58 Damit wird, wie bereits zuvor (etwa in der berühmten Szene, als sich die Widerständler fragen, was die Römer denn überhaupt für sie getan haben, und die vielen wichtigen Verbesserungen herunterspielen müssen),59 das moderne Konzept von Nation, das im 19. und 20. Jahrhundert religiöse Züge bekam, der Lächerlichkeit preisgegeben. Ebenso macht der Film jede Auffassung von Religion lächerlich, die blinde Gefolgschaft bedeutet – am deutlichsten wird dies, wenn der auf der Flucht befindliche Brian zur Tarnung als Wanderprediger auftritt und als neuer Messias von seinen sich zahlreich vermehrenden Anhängern verehrt und verfolgt wird.60 Brians Rede am Fenster seiner Wohnung, auf die seine unten versammelten fanatischen Anhänger mit Unverständnis reagieren, ist ein Credo der Postmoderne: »You don’t need to follow me. You don’t need to follow anybody! You’ve got to think for yourselves. You’re all individuals. Your’re all different.« Die Anhänger wiederholen es unpassenderweise im Chor und zeigen damit, dass sie ihn nicht verstanden haben. Nur einer fällt aus der Reihe: »I’m not.«61 Dabei ist er der einzige, der anders ist – wieder ein komischer Kontrast, der die Absurdität der ganzen Situation auf die Spitze treibt, ebenso wie Brians »Don’t let anyone tell you, what to do!«62 zur abschließenden Bemerkung wird, weil seine Mutter ihn in den Raum zurückzieht – und ihm damit zwar nicht sagt, was er tun soll, es aber handgreiflich vorgibt. Brian bleibt bis zum Schluss der nette Junge von nebenan, der niemandem etwas getan hat und eigentlich nur ein einigermaßen normales, glückliches Leben führen wollte – in einem vollkommen verrückten gesellschaftlichen Kontext, der nur zu deutlich auf die Zeit der Rezipienten des Films verweist. Allerdings ist Brian dem, was um ihn herum vorgeht, nie gewachsen, sodass er als Identifikationsfigur nur sehr bedingt taugt. Deshalb kann auch der von Judith an Pontius Pilatus herangetragene Wunsch »Release Brian!« (»Lasst Brian frei!«) keinen Erfolg haben;63 ganz abgesehen davon, dass der später fehlerhaft ausgeführte Beschluss, Brian freizulassen, nur dem sprachfehlerentlarvenden Namen zu verdanken ist. Brian scheitert wegen seiner Naivität, während der 58 59 60 61 62 63

Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:25:04–01:25:26. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:27:28–00:28:20. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 00:54:00–01:06:30. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:04:16–01:04:34. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:04:50–01:04:52. Vgl. Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:17:50.

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vollkommen unfähige, aber immerhin (auch in seinem Egoismus) konsequente Anführer der People’s Front, Reg (eine passende Abkürzung für Reginald wie für Regent), sich weiter trickreich über Wasser halten kann. Judith wäre vermutlich auch nicht die richtige Partnerin für Brian gewesen, das zeigt bereits ihr Name, der als ironische Anspielung auf die Witwe Judit im Alten Testament verstanden werden kann, die den gegnerischen Feldherrn Holofernes durch eine List enthauptete und so Israel rettete.

Religion und Kontingenz Der Film schließt mit einem programmatisch zu verstehenden Lied, das auch wegen seiner eingängigen Melodie später Karriere gemacht hat. Die Gekreuzigten singen Always look on the bright side of life, angeführt von einem Gekreuzigten, der von Eric Idle gespielt wird, einem der Mitglieder von Monty Python und Urheber des Liedes. Folgende Zeilen lassen aufhorchen und eine weitere Spur verfolgen: If life seems jolly rotten, / there’s something you’ve forgotten, / and that’s to laugh and smile and dance and sing, / […] always look on the bright side of life, / always look on the right side of life, / for life is quite absurd, / and death’s the final word, / you must always face the curtain with a bow. / Forget about your sin / give the audience a grin / Enjoy it – it’s your last chance anyhow.64

Der nicht nur diesem Lied, sondern dem ganzen Film zugrunde liegende Gedanke des ›absurden‹ Lebens ist keineswegs neu, er beschäftigt die Philosophie, die Wissenschaften, die Literatur und die Kunst verstärkt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Es überrascht nicht, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche, dessen populäres Diktum, dass Gott tot sei, als Urheber des Gedankens gilt, »die ganze Vorstellung, wir könnten ›die Wahrheit erkennen‹, fallenzulassen«.65 Franz Kafka lässt Gregor Samsa als Ungeziefer erwachen, ohne dass es dafür einen einleuchtenden Grund gäbe, und die Schlusszeile von Bertolt Brechts wichtigstem Gedicht der ironisch auf Martin Luther Bezug nehmenden Gedichtsammlung Hauspostille, »Gegen Verführung«, mit dem die Leser »jede Lektüre in der Hauspostille« beschließen sollen,66 lautet: »Laßt Euch nicht verführen / Zu Fron und Ausgezehr! / Was kann euch Angst noch rühren? / Ihr 64 Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:26:37–1:27:23. 65 Richard Rorty : Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übers. v. Christa Krüger. Frankfurt a. M. 10 2012, 58. 66 Vgl. Bertolt Brechts Hauspostille. Mit Anleitungen, Gesangsnoten und einem Anhang. Frankfurt a. M. 141996, 9.

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sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher.«67 Den Begriff des Absurden, der später von dem der Kontingenz Konkurrenz bekommen wird, verwendet dann beispielsweise der französische Autor Albert Camus, einer der wichtigsten Vertreter des Existentialismus, in seinem berühmten Essay Der Mythos von Sisyphos. In seiner Vorbemerkung stellt er bereits heraus, dass für ihn das Absurde der unhintergehbare »Ausgangspunkt« der menschlichen Existenz ist: »Keine Metaphysik, kein Glaube werden zunächst damit verbunden.«68 Camus plädiert für eine radikale Individualität, die zugleich aber auch, weil das Leben der höchste Wert ist, sozial verantwortungsbewusst zu sein hat. Der Gedanke, nur dem Leben selbst verpflichtet zu sein, hat etwas Befreiendes. »Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.«69 Die besondere postmoderne Qualität, die in dem Lied der Gekreuzigten zum Ausdruck kommt, ist die Selbstreflexivität: Das Leben wird als Vorstellung begriffen und seine Inszenierung, wie dies Brian seinen Anhängern vergeblich klarzumachen versucht hat, an die Rezipienten zurückverwiesen. Zugleich ist der Film an solchen Stellen metafiktional, er erfüllt die Bedingungen für Metafiktion, wie sie Patricia Waugh für die Literatur der Postmoderne festgehalten hat: »Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality.«70 Wie Brechts Hauspostille ihrem Leser macht der Film seinem Zuschauer klar, dass es sich bei der Fiktion nur um eine Fiktion handelt, in der Konsequenz aber auch, dass das Leben ebenso eine Konstruktion ist wie eine Fiktion, und zwar eine individuelle – jede und jeder konstruiert sein eigenes Leben selbst. Im Unterschied zu Brecht oder Shakespeare (oder anderen) steht Monty Python allerdings am Anfang einer kulturellen Entwicklung westlicher Gesellschaften, in denen die Konstruktionsarbeit eines Gottes als ›eigener Gott‹ dem Individuum und nicht einer kollektiven, meist hegemonialen Macht überlassen ist. Die seinerzeitigen Proteste gegen den Film wie heutige Entwicklungen einer Rückkehr des religiösen Fanatismus auch in Westeuropa machen allerdings deutlich, dass es sich keineswegs um eine ungefährdete Errungenschaft handelt – sofern man bereit ist, die Freiheit der eigenen Entscheidung für oder gegen bestimmte religiöse Vorstellungen als Errungenschaft zu begreifen. 67 Brecht: Hauspostille (Anm. 66), 144. 68 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Mit einem kommentierenden Essay v. Liselotte Richter. Deutsch v. Hans Georg Brenner u. Wolfdietrich Rasch. Reinbek 1998, 9. 69 Camus: Der Mythos von Sisyphos (Anm. 68), 127. 70 Patricia Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London/ New York 1984, 2.

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Fazit Das Problem, das die Postmoderne mit der Religion hat, ist von Ulrich Beck in eine Frage gekleidet worden: »Wenn es richtig ist, daß eigenes Leben ein anderes Wort ist für die Kontingenz und Reflexion des eigenen Lebens, welche Form individuell verinnerlichter, praktizierter selbstverständlicher Religiosität und Spiritualität ist dann noch möglich?«71 Darauf gibt nicht nur Monty Python’s Life of Brian keine Antwort, denn es ist nicht die Aufgabe von Kunst, Antworten zu geben, sondern Bestehendes kritisch zu hinterfragen. Postmoderne Kunst und Literatur oder postmoderner Film inszenieren Kontingenzerfahrungen, sie betonen die Notwendigkeit zur Reflexion über das nur scheinbar Gegebene. Nur so können sie heute noch den Ansprüchen genügen, die die »Komplexität der Wirklichkeit«72 an sie stellt. Aus dieser Perspektive kann Religion für die Kunst nur noch subjektiv erfahrbar sein. Der hier behandelte Film betont die Kontingenz des Lebens, er feiert sie geradezu, gipfelnd in dem Schlussbild von Gekreuzigten, die ein Lied singen, das in der Folge eine Karriere gemacht hat, die zum postmodernen Credo des Films nicht besser passen könnte: »›Always Look on the Bright Side of Life‹ is a comedy song written by Eric Idle that was originally featured in the 1979 film Monty Python’s Life of Brian and has gone on to become a common singalong at public events such as football matches as well as funerals.«73 Der Text negiert jede über das singuläre, individuelle Leben hinausgehende Sinnstiftung selbst im Angesicht von Not und Tod. Freilich wird durch die Ironie des Texts und die heitere, eingängige Musik ein Gegengewicht geschaffen, sodass gerade die scheinbar negative Kontingenz des Lebens versöhnlich wirkt; sie wird umcodiert und dabei wird auf die Bedeutung des Codes verwiesen: »Life’s a piece of shit / when you look at it. / Life’s a laugh and death’s a joke, it’s true. / You’ll see it’s all a show, / keep ’em laughing as you go. / Just remember that the last laugh is on you.«74 Gerade die Betonung der »show« an dieser Stelle unterstreicht die eigene Kontingenz des Films, der sich nicht an die Stelle von etwas anderem setzen möchte. Über das, was im eigenen Leben schiefgelaufen ist, zu lachen, dürfte ein Weg sein, sich selbst weniger wichtig zu nehmen. Wenn damit zugleich eine Voraussetzung für ein tolerantes, demokratisches Gemeinwesen benannt ist, dann zeigt dies nur einmal mehr, dass es dem Film nicht darum geht, Religion abzulehnen. Religion ›spielt‹ im Wortsinn eine Rolle, aber sie wird zum Spielmaterial und damit zur Privatangelegenheit, so wie das Leben selbst. 71 Beck: Der eigene Gott (Anm. 34), 29f. 72 Beck: Der eigene Gott (Anm. 34), 31. 73 Online unter: http://en.wikipedia.org/wiki/Always_Look_on_the_Bright_Side_of_Life (21.03. 2014). 74 Monty Python’s Life of Brian (Anm. 49), 01:27:38–01:27:53.

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Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels

Zwar hat auch in der jungen, aber schnell wachsenden und sich stetig weiter ausdifferenzierenden Disziplin Game Studies das Thema Religion mittlerweile seinen Platz gefunden, doch trotz einer insbesondere in den letzten Jahren steigenden Zahl von Publikationen1 fällt auf, dass Religion – z. B. anders als der Gewaltdiskurs2 – bislang ein Nischenthema der Computerspielforschung bildet. Dieses eher zurückhaltende Forschungsinteresse dürfte dabei weniger disziplinären Hemmnissen geschuldet sein, sondern scheint durchaus auch durch den Untersuchungsgegenstand selbst begründet – denn religiöse Motive sind im Computerspiel leider allzu oft nur schmückendes Beiwerk.3 Markus Wiemker und Jan Wysocki4 unterscheiden drei Formen von religiösen Inhalten in Computerspielen: Religiöse Motive können (1) als Setting dienen, sie können (2) Teil der Story bzw. der Spielweltmythologie sein oder auch (3) die ideologische Grundlage eines Spiels bilden und dem Spieler – mehr oder weniger missionarisch – eine bestimmte Weltsicht aufzeigen. Ad 1) In der ersten Variante dienen religiöse Artefakte zur atmosphärischen Anreicherung, z. B. in Form eines Tempels, einer Kirche oder eines Friedhofs als 1 Vgl. u. a. Rachel Wagner : Godwired. Religion, Ritual and Virtual Reality. London/New York 2011; William Sims Bainbridge: eGods. Faith Versus Fantasy in Computer Gaming. Oxford 2013; Simone Heidbrink u. Tobias Knoll (Hg.): Religion in Digital Games. Multiperspective & Interdisciplinary Approaches (Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 [2014]). 2 Vgl. hierzu kritisch Jochen Venus: Du sollst nicht töten spielen. Medienmorphologische Anmerkungen zur Killerspiel-Debatte. In: Lili – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 37 (2007), H. 146, 67–90. 3 Vgl. z. B. Owen Good: Religion in Games: Less a Leap of Faith, More a Suspension of Belief. 2010. Online unter : www.kotaku.com/5509058/religion-in-games-less-a-leap-of-faithmore-a-suspension-of-belief (08. 09. 2014). 4 Markus Wiemker u. Jan Wysocki: »When people pray, a god is born … This god is you!« An Introduction to Religion and God in Digital Games. In: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 (2014), 197–223. Vgl. hierzu auch Simone Heidbrink, Tobias Knoll u. Jan Wysocki: Theorizing Religion in Digital Games. Perspectives and Approaches. In: ebd., 5–50.

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Teil der Spielweltarchitektur. Häufig ist dabei zu beobachten, dass diese religiösen Inhalte in erster Linie als »atmospheric placeholders«5 funktionieren, die ohne eine tiefer gehende Kontextualisierung in die Spielwelt integriert werden. Wiemker und Wysocki verweisen in diesem Zusammenhang auf den von erheblichem Presseecho begleiteten Fall der Manchester Cathedral im First-Person-Shooter Resistance – Fall of Man.6 Resistance zeigt eine dystopische Zukunftsvision und spielt in verschiedenen durch eine Alien-Invasion weitgehendend zerstörten Städten Großbritanniens, u. a. London. Der ›Nachbau‹ der Kathedrale ist dabei Schauplatz von Kampfhandlungen zwischen den menschlichen Widerstandskämpfern und der übermächtigen Alien-Armee. The cathedral had the function of delivering an interesting place of combat and exploration and to show the player something that he or she maybe can recognize as a special architectural object that is tied to the history of Britain. This adaption of the historical building stands for the place or the country the player has to defend in the game and for the way of living that the alien creatures try to destroy.7

Die englische Kirche sah die Integration der Manchester Cathedral jedoch als Sakrileg an und drohte dem Publisher Sony mit juristischen Schritten; der Streit wurde erst einige Monate später nach einer öffentlichen Entschuldigung seitens Sonys beigelegt.8 Dieser als Manchester Cathedral Controversy bekannte Vorfall veranschaulicht zwei problematische Aspekte der Verflechtung von Religion und Computerspiel: Einerseits sind die religiösen Artefakte in Computerspielen in den meisten Fällen lediglich atmosphärisches Beiwerk, andererseits bieten sie jedoch erheblichen Zündstoff für hitzige öffentliche Diskussionen, die dem eigentlichen Gegenstand oftmals kaum angemessen scheinen. Dabei ist der Eklat um die Manchester Cathedral keineswegs ein Einzelfall. Der traditionsreiche Spielehersteller Nintendo etwa war insbesondere in den 1990er-Jahren dafür bekannt, vor der Veröffentlichung seiner Spiele in Europa und Nordamerika jegliche religiösen Symbole aus den Spielwelten zu entfernen.9 Ad 2) Als zweite Form religiöser Inhalte im Computerspiel nennen Wiemker und Wysocki die Integration von religiösen Narrativen. Oft geht diese Variante mit der Verwendung religiöser Symbole bzw. Architekturen in der Spielwelt einher, allerdings findet eine gleichsam stärkere Kontextualisierung statt, indem die religiösen Inhalte – mehr oder weniger – zentraler Bestandteil der Story eines Spiels werden: 5 6 7 8

Wiemker u. Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 217. Resistance – Fall of Man, Sony Computer Entertainment/Insomniac Game, 2006. Wiemker u.Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 206. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Controversy_over_the_use_of_Manchester_Cathedral_in_ Resistance:_Fall_of_Man (08. 09. 2014). 9 Vgl. Mike Fahey : Losing our Religion. 2010. Online unter : kotaku.com/5509744/losing-ourreligion (08. 09. 2014).

Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels

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In Assassin’s Creed10 you are told about the time of the crusades, the power relations in Jerusalem and the different religious groups that are in conflict with each other. […] In Prince of Persia11 the player has to revive an oriental-like desert setting with the power of the god Ormazd and fight against dark and polluting shades that are servants of the god Ahriman, both entities being taken from Zoroastrianism. […] BioShock Infinite12 uses an evangelical prophet-figure as nemesis for the player and shows different depictions of his prophetic religion that is tied to American Exceptionalism. Age of Mythology13 delivers a broad range of religious narratives giving the player the opportunity to use the power of Greek, Egyptian, and Nordic gods and send mythological figures into battle.14

Auch bei dieser Variante scheinen die Spiele-Entwickler und -Publisher einerseits nicht selten die Befürchtung zu hegen, dass die religiösen Inhalte in der Rezeption des Spiels problematisch überhöht werden könnten – so beginnt etwa das Spiel Assassin’s Creed mit der distanzierenden Texteinblendung: »This game was developed by a multicultural team of various faiths and beliefs.«15 Andererseits stellt Religion aber auch hier wiederum ein beliebtes, doch in der Regel stets populärkulturell überformtes bzw. abgeschwächtes – und damit möglichst (kommerziell) massenkompatibles – Motiv dar. Bezeichnend ist etwa die Vielfalt – oder eben auch: Austauschbarkeit – der religiösen Elemente in Age of Mythology. Ad 3) Als eine dritte Variante identifizieren Wiemker und Wysocki schließlich explizit missionarisch angelegte Computerspiele, z. B. das in der US-amerikanischen christlich-fundamentalistischen Szene entwickelte Endzeitstrategiespiel Left Behind – Eternal Forces.16 In dem auf den Romanen von Tim LaHaye and Jerry B. Jenkins17 basierenden Spiel steuert man eine Gruppe von ›aufrechten Christen‹ und Engeln in ihrem Kampf gegen den Antichristen. Spiele wie Left Behind mögen zwar den deutlichsten Bezug zu religiösen Thematiken aufweisen, im Gegensatz zu Titeln wie Resistance oder Assassin’s Creed werden 10 11 12 13 14 15

Assassin’s Creed, Ubisoft Montreal/Ubisoft, 2007. Prince of Persia, Ubisoft Montreal/Ubisoft, 2008. BioShock Infinite, Irrational Games/2K Games, 2013. Age of Mythology, Ensemble Studios/Microsoft Game Studios, 2002. Wiemker u.Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 207. Zu Assassin’s Creed und den religions- und fiktionstheoretischen Implikationen des Spiels und seiner Rezeption vgl. auch den Beitrag von Christian Dölker u. Lorenz Trein: »But try to remember, this is a work of fiction.« Zur Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed, in diesem Band 667–679. 16 Left Behind – Eternal Forces, Inspired Media Entertainment, 2006. 17 Tim F. LaHaye u. Jerry B. Jenkins: Left Behind. A Novel on the Earth’s Last Days. Wheaton 1995. Zur Diskussion dieser Romanreihe im Kontext der Verbindung mit literarischen Darstellungen von religiösem Fundamentalismus vgl. auch den Beitrag von Markus Kraiger : Islamischer Fundamentalismus in der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Analyse von Christoph Peters’ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges, in diesem Band 141–159, hier 142 mit Anm. 4.

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sie aber keineswegs für den Massenmarkt entwickelt, sondern für eine mit dem jeweiligen religiösen Kontext in der Regel bereits vertraute Zielgruppe. Most games of this type have explicit messages tied to specific religions, their followers and their practices and worldviews. On one side certain religious practices are displayed as positive as well as the player’s presumed affiliation with them. We see in these instances that rather than creating a game for unknowing people that have to be informed about doctrines, practices, worldviews etc. these games seem to deliver content for people already somehow in touch with parts of the depicted religion. We can think about those games also as a kind of affirmation for players with a certain religious and cultural background.18

Diese dritte Variante, die nicht selten in den Bereich Propagandasoftware fällt, wird in den folgenden Überlegungen keine Rolle spielen, da der Fokus auf Mainstreamtiteln liegen wird. Mit Blick auf Wiemkers und Wysockis Systematisierung religiöser Inhalte in Computerspielen – als Setting oder als Bestandteil der Narration – kann das einleitend benannte, verhaltene Forschungsinteresse in diesem Bereich nun noch einmal genauer begründet werden: Erstens zeigt sich eine Tendenz, religiöse Motive populärkulturell zu überformen und abzuschwächen. Darin mag sich das Computerspiel nicht grundlegend von Mainstreamromanen, -filmen oder -TV-Serien unterscheiden, doch fehlt dem Computerspielmarkt darüber hinaus schlicht noch die Breite anderer etablierter Mediensysteme, die mehr Nischen für die Verhandlung nicht-massenkompatibler Themen bieten – auch wenn sich dies in den nächsten Jahren mit dem sich abzeichnenden Aufstieg von Indie-Games wahrscheinlich ändern wird.19 Der zweite – und gewichtigere – Grund für das Nischendasein religionswissenschaftlicher Beiträge innerhalb der Game Studies scheint aber in vielen Fällen in der ästhetischen Struktur der Untersuchungsgegenstände zu liegen, denn Computerspiele beginnen erst langsam, sich erzählerisch komplexeren Themen anzunähern.20 Allzu oft war und ist das narrative Szenario eher Staffage, eine austauschbare audiovisuelle Folie, die auf verschiedene Spielmechaniken aufgeklebt werden kann und aus der Perspektive der Spielerschaft nicht selten nur von zweitrangiger Bedeutung ist.21 18 Wiemker u. Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 207f. 19 Vgl. Gundolf S. Freyermuth: Ursprünge der Indie-Praxis. Zur Prähistorie unabhängigen Game Designs. In: Winfred Kaminski u. Martin Lorber (Hg.): Gamebased Learning. Clash of Realities. München 2012, 313–326; Eric Zimmerman: Do Independent Games Exist? – Revisited. In: ebd., 307–312. Ein markantes Beispiel für religiöse Inhalte in Indie-Games ist das Spiel The Binding of Isaac, Edmund McMillen/Headup Games, 2011. 20 Vgl. u. a. Ian Bogost: How to Do Things with Videogames. Minneapolis 2011. 21 Vgl. z. B. Espen J. Aarseth: Genre Trouble. Narrativism and the Art of Simulation. In: Noah Wardrip-Fruin u. Pat Harrigan (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge, MA 2004, 45–55.

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So sind etwa das in der antiken griechischen Mythenwelt angesiedelte God of War22 und Dante’s Inferno23 (das seine literarische Vorlage bereits im Titel trägt) im Kern spielerisch mehr oder weniger identische Actionspiele – auch wenn God of War aufgrund einer ausgefeilteren Spielmechanik und einer gelungeneren Inszenierung bei Spielern und Kritikern ungleich mehr Ansehen genießt. Doch letztlich metzelt sich der Spieler in beiden Titeln unter Einsatz diverser Nah- und Fernwaffen durch Horden monströser Widersacher von einer grafisch mehr oder weniger gut kaschierten Kampfarena zur nächsten. Gefragt ist dabei in der Regel weniger ein Verständnis der religiösen Motivik des Spiels, sondern vielmehr eine gewisse Geschicklichkeit bei der Überwindung der reaktionskritischen Herausforderungen der Spielwelt.

Abb. 1/2: God of War und Dante’s Inferno

Eine solche Argumentation soll nun keineswegs suggerieren, dass die Untersuchung von religiösen Inhalten in Computerspielen (noch) kein lohnendes Forschungsunterfangen wäre – ganz im Gegenteil. Es soll lediglich aufgezeigt werden, dass die Analyse weder auf eine lange Tradition noch ein großes Korpus von Spielen mit dezidiert religiöser Motivik zurückgreifen kann und zudem die ›spielerischen Re-Interpretationen‹ religiöser Thematiken oftmals noch nicht sehr elaboriert ausfallen. Dies hat für den vorliegenden Beitrag insbesondere zwei Einschränkungen zur Folge: Erstens wird der Begriff Religion weitgehend unspezifisch als eine Form von Glauben an einen Gott (oder mehrere Gottheiten) gefasst, die sich durch verschiedenste Arten von Regelsystemen, Ritualen oder Zeremonien ausdrückt.24 Es soll im Folgenden also nicht um die Identifikation spezifischer Quellen religiöser Inhalte gehen, sondern um bereits populärkulturell überformte Artefakte. Ein solcher Ansatz mag auf den ersten Blick oberflächlich 22 God of War, SCE Studios/Sony, 2005. 23 Dante’s Inferno, Visceral Games/Electronic Arts, 2010. 24 Vgl. Richard E. Ferdig: Developing a Framework for Understanding the Relationship between Religion and Videogames. In: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 (2014), 68–85.

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anmuten, erscheint dem Untersuchungsgegenstand aber eben durchaus angemessen. Zweitens wird kein umfassender Blick auf religiöse Motive in Computerspielen angestrebt, sondern eine schlaglichtartige Betrachtung prägnanter Beispiele, da die religiösen Inhalte, wie bereits aufgezeigt wurde, allzu oft nicht über den Status des schmückenden Beiwerks hinausgehen. Dabei gilt die Aufmerksamkeit vor allem jenen Fällen, in denen sich durch das ausgestellte religiöse Szenario auch spielmechanische (Aus-)Wirkungen andeuten. Als Ausgangspunkt soll hierbei ein Spielgenre dienen, das seinen religiösen Bezug bereits im Titel trägt – es geht um sogenannte God Games, in denen der Spieler die Rolle eines Gottes einnimmt, der die Spielwelt gestaltet und die Geschicke eines Volkes lenkt. Während God Games im Bereich der Game Studies bislang vor allem hinsichtlich der Frage nach einer Genreklassifikation untersucht wurden,25 will der vorliegende Beitrag u. a. bildästhetische Aspekte in der Analyse hinzuziehen. Ausgehend von der charakteristischen Übersichtsdarstellung der Spielwelt in God Games soll dabei der Frage nachgegangen werden, welche Variationen das Computerspiel für eine spielerische Inszenierung göttlicher Macht hervorgebracht hat und wie sich diese (interaktiven) Formen von anderen medialen Darstellungsarten religiöser Motive unterscheiden.

Sex und Vulkane: Eine kurze Geschichte der God Games Auf den ersten Blick ähneln God Games bekannten Strategiespielen wie Civilization26 oder SimCity.27 Folgt man einer Definition von Britta Neitzel, unterscheiden sich God Games jedoch von diesen Spielen dahin gehend, dass sie »ihren Namen durch Zuschreibungen über die fiktionale Ebene des Spiels [erhalten]. Im spielerischen Als-ob darf der Spieler Gott sein«28 – während er in Civilization ›nur‹ die Rolle des Anführers eines Volkes und in SimCity die Position des Bürgermeisters innehat.29 25 Vgl. u. a. Ernest Adams: What’s Next for God Games? 2008. Online unter : www.des ignersnotebook.com/Lectures/God_Games/god_games.htm (08. 09. 2014). 26 Civilization, MicroProse, 1991. 27 SimCity, Maxis, 1989. 28 Britta Neitzel: Die Frage nach Gott oder Warum spielen wir eigentlich so gerne Computerspiele. In: Alf Mentzer u. Ulrich Sonnenschein (Hg.): Die Welt der Geschichten. Kunst und Technik des Erzählens. Frankfurt a. M. 2007, 314–319. Vgl. hierzu auch Stephen Totilo: The God I’ve Been. 2010. Online unter : www.kotaku.com/5510748/the-god-ive-been (08. 09. 2014); Wiemker u. Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 208–213. 29 Zwar kann der Spieler in Civilization seinem Volk eine Religion zuweisen, allerdings bietet sich für dieses Spielelement kaum eine ›spirituelle Lesart‹ an, vielmehr ist es recht deutlich als eine Art Ressource bzw. Technologie markiert: »With regards to the actual functioning of religions in Civilization, they basically function as other technologies in the game ›tech-tree‹,

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Hinzu kommt eine weiteres Merkmal von God Games: eine indirekte Kontrolle über das Spielgeschehen. »Der Spieler lenkt nicht mehr die Geschicke eines Einzelnen, es werden vielmehr die Handlungen eines Schöpfers übernommen, indem eine Welt gestaltet wird. […] Der Schöpfer zeigt sich nicht direkt, sondern nur durch sein Werk, nämlich durch die Welt, die er geschaffen hat.«30 Man steuert also nicht direkt eine einzelne Spielfigur – obgleich einige Ausnahmen im Folgenden noch zu diskutieren sind –, sondern beeinflusst seine Untergebenen durch die Ausübung göttlicher Macht, indem man z. B. die Landschaft formt und Naturkatastrophen verhindert oder heraufbeschwört. Oder, in den Worten von Ernest Adams: »God games are mostly about sex and volcanoes – that is, increasing your people’s numbers and decreasing the numbers of your opponent god’s people.«31 Neben einer charakteristischen narrativen Rahmung und einer bestimmten Spielmechanik bzw. einem bestimmten Kontrollschema nennt Neitzel als drittes Charakteristikum der God Games schließlich noch eine spezifische Art der Darstellung: eine »Übersichtsperspektive[, die] mit den Handlungsmöglichkeiten des Spielers korrespondiert«32 – in vielen Fällen eine isometrische Perspektive, die im übernächsten Abschnitt noch detaillierter diskutiert wird. Als das erste kommerziell erfolgreiche God Game gilt das 1989 erschienene Spiel Populous33 des – vielfach als Visionär der Branche gefeierten – Game Designers Peter Molyneux. Populous darf bis heute als eine Art Prototyp des GodGame-Genres gelten. Der Spieler übernimmt die Rolle eines Gottes und muss die Landschaft der Spielwelt formen, damit seine Anhänger auf möglichst großen ebenen Flächen möglichst einwohnerreiche Siedlungen errichten können. Mehren sich die Anhänger, mehrt sich das Mana, die göttliche Energie, die u. a. dazu genutzt werden kann, Naturkatastrophen auszulösen und gegnerische Völker zu vernichten. Auch die weiteren Merkmale von Populous entsprechen der Neitzel’schen Genredefinition: Die Darstellung der Spielwelt erfolgt aus einer isometrischen Übersichtsperspektive und der Spieler kann seine Anhän-

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an apparatus that allows the empire to develop – in a rather evolutionary manner – according to the gamer’s strategic choices. Religions can be ›discovered‹ at some conditions, which is, after the discovery of some other material and immaterial technologies. For example, in Civilization IV [Firaxis Games/2K Games, 2005] the technology ›Theology‹ enables the technology ›Christianity‹, ›Meditation‹ enables ›Buddhism‹, ›Polytheism‹ enables ›Hinduism‹, etc.« Alessandro Testa: Religion(s) in Videogames. Historical and Anthropological Observations. In: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 (2014), 249–278, hier 271. Vgl. hierzu auch Stephen Totilo: God Was a Math Problem. 2010. Online unter : www.kotaku.com/5521052/god-was-a-math-problem (08. 09. 2014). Neitzel: Die Frage nach Gott (Anm. 28), 318. Adams: What’s Next for God Games (Anm. 25). Neitzel: Die Frage nach Gott (Anm. 28), 318. Populous, Bullfrog/Electronic Arts, 1989.

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ger nicht direkt steuern – mit Ausnahme einer speziellen Figurenform, dem Kreuzritter, den der Spieler mithilfe der Funktion »Papal Magnet« erschaffen und aussenden kann, um gegnerische Bauten zu zerstören und deren Bewohner zu eliminieren. Anders formuliert: Der Spieler kann einen Teil seiner göttlichen Macht in einen irdischen Stellvertreter transferieren.34

Abb. 3/4: Populus und Populous II – Trials of the Olympian Gods

Aufgrund des großen Erfolgs von Populous erschien zwei Jahre später die Fortsetzung Populous II – Trials of the Olympian Gods.35 Populous II übertrifft seinen Vorgänger zwar in Komplexität und Spielumfang, funktioniert im Kern aber nach dem exakt gleichen Spielprinzip. Die größte Änderung betrifft das erzählerische Szenario. Während im ersten Teil der Spieler in die Rolle einer undefinierten Gottheit schlüpft, dient im zweiten Teil die griechische Mythologie als narratives Repertoire. Der Spieler ist ein Demigott, ein Sohn von Zeus. Dementsprechend gestaltet sich auch das Ende des Spiels: Nach dem erfolgreichen Bestehen zahlreicher Prüfungen (d. h. dem siegreichen Absolvieren aller Levels des Spiels) wird der Spieler in den Rang eines ›echten‹ Gottes erhoben, woraufhin er schließlich ins Pantheon auf dem Olymp eintreten darf. Ein ähnliches narratives Setting bietet auch Populous: The Beginning,36 das 1998 veröffentlicht wurde. Der Spieler übernimmt die Rolle eines Schamanen, der keine göttliche Abstammung besitzt, aber am Ende des Spiels wiederum zu einer Gottheit aufsteigen kann. Populous: The Beginning entfernt sich dabei von der prototypischen Struktur der God Games, indem es teils eine direkte Kon34 Somit ließe sich der Kreuzritter im Grunde sehr treffend als Avatar bezeichnen. Der Begriff Avatar stammt ursprünglich aus dem Sanskrit und verweist auf die Inkarnation einer Gottheit auf Erden; genauer : »eine Inkarnation des Gottes Vishnu, der zwar ständig in seinem göttlichen Reich bleibt, aber zeitlich begrenzt zugleich auch auf Erden als endliches Wesen erscheinen kann, um dem Bösen zu wehren und Unheil abzuwenden«. Christian Wesseley : Von Star Wars, Ultima und Doom. Frankfurt a. M. 1997. Im Computerspiel wird die Bezeichnung »Avatar« allerdings für sämtliche Formen grafischer Stellvertreter des Spielers innerhalb der Spielwelt verwendet. 35 Populous II – Trials of the Olympian Gods, Bullfrog/Electronic Arts, 1991. 36 Populous: The Beginning, Bullfrog/Electronic Arts, 1998.

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trolle der Anhänger erlaubt und diverse Elemente des Echtzeit-Strategie-Genres integriert. Die Entwicklung von Populous: The Beginning fand ohne die Mitwirkung von Peter Molyneux statt, der sich bereits einem anderen Projekt zugewandt hatte, dass 2001 unter dem Namen Black & White37 erschien. Black & White knüpft deutlicher als Populous: The Beginning an die Tradition der ›klassischen‹ God Games an, ergänzt das Genre aber durch zwei Neuerungen: Erstens kann der Spieler entscheiden, ob er ein guter oder ein böser Gott sein will, indem er sein Volk durch Belohnungen oder Bestrafungen an sich bindet. Zweitens verfügt der Spieler über ein permanent präsentes Stellvertreterwesen in der Spielwelt, das schlicht die »Kreatur« genannt wird. Die Kreatur hat die Gestalt eines riesigen Tieres (je nach Wahl des Spielers z. B. ein Tiger, ein Affe oder eine Kuh) und verändert ihr Aussehen (hell oder dunkel, gesund oder kränklich) je nachdem, ob der Spieler gute oder böse Taten in der Spielwelt vollbringt. Wie der Kreuzritter aus Populous besitzt auch die Kreatur eigene göttliche Kräfte und kann vom Spieler gegen die Kreaturen anderer Völker in den Kampf geschickt werden. Black & White erhielt 2005 einen Nachfolger,38 der, ähnlich wie Populous II, Komplexität und Umfang des Ursprungsspiels erhöhte, ohne das eigentliche Spielprinzip grundlegend zu verändern.

Abb. 5/6: Black & White und Spore – Kreaturen-Editor

37 Black & White, Lionhead Studios/Electronic Arts, 2001. 38 Black & White 2, Lionhead Studios/Electronic Arts, 2005.

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Aus den zahlreichen weiteren God-Games-Variationen39 soll an dieser Stelle abschließend noch der Genre-Hybrid40 Spore41 hervorgehoben werden. Dieses Spiel des The Sims-Erfinders42 Will Wright besteht im Grunde aus fünf Spielen, die unter dem narrativen Mantel von fünf Evolutionsphasen einer Spezies, die der Spieler ›erschafft‹, hintereinandergeschaltet werden. Zusammengehalten wird das Spiel neben der narrativen Rahmung vor allem durch einen umfangreichen Kreaturen-Editor, der als Baukasten für die eigene Spezies sowie deren Gebäude und Fahrzeuge dient. Jede der fünf Phasen ist in Form einer anderen Spielmechanik realisiert, wobei Spore durch dieses Szenario zugleich eine Art Geschichte des Computerspiels schreibt – eine Evolution in Form verschiedener Phasen der Entwicklung von Spielgenres. So erinnert die erste Phase (Zellphase) an Arcade-Klassiker wie Pac-Man,43 die zweite Phase (Kreaturenphase) orientiert sich an Action-Rollenspielen, die dritte Phase (Stammesphase) an EchtzeitStrategiespielen, die vierte und fünfte Phase (Zivilisations- und Weltraumphase) zeigen sich vor allem von Strategie-Klassikern wie Civilization und Sid Meier’s Alpha Centauri44 inspiriert. Spore weicht durch seine direkte Steuerung und die nicht in allen Phasen gegebene Übersichtsperspektive teils deutlich von der ›Blaupause‹ des God-Games-Genres ab. Die Spannweite der evolutionären Entwicklung einer Spezies, die das Spiel präsentiert, sowie der innovative Kreaturen-Editor zeigen jedoch eindrücklich weitere Möglichkeiten einer spielerischen Simulation göttlicher Macht auf. Dementsprechend entgegnete Will Wright auf die Frage, ob er sein Spiel als God Game sehen würde: In some ways. I guess it depends on what your conception of God is. I mean, in Spore, for instance, you do have limitations. And so, if you’re a god, you’re not a terribly powerful, omnipotent god. But yet there is this feeling of creating a world at the end of the day, there is this entire little world that you’ve had a major hand in creating. So I would say on the creative side probably yes, on the omnipotent side definitely not.45

39 Andere wichtige Titel des Genres, die an dieser Stelle nur kurz genannt werden können sind Powermonger (Bullfrog/Electronic Arts, 1990), ActRaiser (Quintet/Enix, 1990), Mega Lo Mania (Sensible Software/Virgin Interactive, 1991), From Dust (Ubisoft Montpellier/Ubisoft, 2011) und aktuell Godus (22Cans, 2014). Vgl. hierzu auch Wiemker u. Wysocki: When people pray, a god is born … (Anm. 4), 208–213. 40 Benjamin Beil: Genre-Konzepte des Computerspiels. In: Games-Coop (Hg.): Theorien des Computerspiels. Zur Einführung. Hamburg 2012, 13–37, hier 31–35. 41 Spore, Maxis/Electronic Arts, 2008. 42 The Sims, Maxis/Electronic Arts, 2000. 43 Pac-Man, Namco/Midway, 1980. 44 Sid Meier’s Alpha Centauri, Firaxis Games/2K Games, 1999. 45 Will Wright zit. n. Steve Morgenstern: The Wright Stuff. 2007. Online unter : www.popsci. com/entertainment-gaming/article/2007-02/wright-stuff (08. 09. 2014). Vgl. hierzu auch Matteo Bittanti: Do Game Designers Dream of Electronic Sheep? Playing God in Videogames and Narrative. 2007. Online unter : www.mbf.blogs.com/files/e2_bittanti.pdf (08. 09. 2014).

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Gott spielen Wrights Anmerkung verweist auf einen interessanten Widerspruch in der narrativen Rahmung von God Games: den Widerspruch zwischen göttlicher Allmacht und spielmechanischen Restriktionen. Während in polytheistischen Settings ein Kampf zwischen verschiedenen Göttern mit je unterschiedlichen Mächten noch narrativ ›plausibel‹ sein mag, ließe sich im Fall von Populous oder Black & White durchaus kritisch fragen, warum man sich als allmächtiger Schöpfer mit dem Management von Mana-Punkten plagen muss und darüber hinaus größtenteils nur Landmassen verschieben und einige wenige, klischeehafte Wunder wirken darf. Doch erscheint an dieser Stelle eine Diskussion über die Notwendigkeit spielmechanischer Regelwerke46 gleichsam über das argumentative Ziel hinauszuschießen. Wichtiger erscheint vielmehr die Frage nach dem Wie, d. h. nach der Art und Weise der spielerischen Inszenierung göttlicher Macht. In diesem Zusammenhang ist die an Populous: The Beginning geäußerte Kritik durch Fachpresse und Spielerschaft interessant, die auf die direkte Kontrolle der Anhänger und insbesondere auf die Verkörperung des Spielers innerhalb der Spielwelt durch die Figur des Schamanen abzielte.47 Zieht man ein weiteres Bespiel für ein ›nicht-prototypisches‹ God Game hinzu, wird die Stoßrichtung dieser Kritik noch anschaulicher : Das 1999 erschienene Spiel Doshin the Giant48 stellt eine recht ungewöhnliche Variante der God Games dar. Der Spieler schlüpft in die Rolle eines gelben Riesen, der über allerlei genretypische Fähigkeiten verfügt – er kann z. B. das Terrain der Spielwelt heben und senken und die Vegetation verändern. Doshin wächst durch die Verehrung der Bewohner der Spielwelt, die ihm im Spielverlauf mehrere Monumente als Zeichen seiner göttlichen Macht errichten. Zwar folgt Doshin the Giant damit im Grunde den ›klassischen‹ Spielmechaniken des God-Game-Genres, doch ergibt sich durch die Verkörperung des Spielers als gelber Riese eine recht drastische Verschiebung in der Wahrnehmung der Spielwelt. Anders formuliert: Doshin the Giant macht deutlich, dass die Unsichtbarkeit des Spielers in seiner Rolle als Gottheit bzw. seine bewusste Nicht-Verkörperung durch einen Avatar innerhalb der Spielwelt als Charakteristikum von God Games von durchaus entscheidender Bedeutung zu sein scheint.

46 Vgl. z. B. Jesper Juul: On Absent Carrot Sticks. The Level of Abstraction in Video Games. In: Marie-Laure Ryan u. Jan-NoÚl Thon (Hg.): Storyworlds across Media. Toward a MediaConscious Narratology. Lincoln 2014, 173–192. 47 Vgl. z. B. www.gamespot.com/reviews/populous-the-beginning-review/1900-2545865/ (08. 09. 2014). 48 Doshin the Giant, Param/Nintendo, 2002.

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Abb. 7: Doshin the Giant

Diese Argumentation soll nun keineswegs suggerieren, dass sich die Spielentwickler eine Form von religiösem Bilderverbot auferlegt hätten. Es ist jedoch nichtsdestotrotz interessant zu beobachten, dass hier religiöse und künstlerische Traditionen – nämlich eine Undarstellbarkeit Gottes – durch das Computerspiel aufgenommen und spielerisch re-interpretiert werden. Diese Parallelen betreffen dabei nicht nur den göttlichen Blick, der im folgenden Abschnitt diskutiert wird, sondern z. B. auch eine göttliche Hand, die sich als Motiv der bildenden Kunst etwa in Andrea Mantegnas berühmter Opferung Isaaks mit schützender Hand Gottes findet – und die als Cursor-Symbol ebenso in Populous und Black & White auftaucht.

Abb. 8/9: Andrea Mantegna: Opferung Isaaks mit schützender Hand Gottes (Detail) und Populous (Detail)

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Göttliche Perspektiven Um noch einmal die Definition Neitzels zur Darstellungsform von God Games in Erinnerung zu rufen: »Der Schöpfer zeigt sich nicht direkt, sondern nur durch sein Werk, nämlich durch die Welt, die er geschaffen hat. […] Die Übersichtsperspektive korrespondiert mit den Handlungsmöglichkeiten des Spielers.«49 Bei dieser Übersichtsperspektive handelt es sich in vielen Fällen um eine isometrische Ansicht, d. h. eine nicht-zentralperspektivische Darstellungsform, die im Folgenden einen kleinen bildwissenschaftlichen Exkurs notwendig macht.50 Die Isometrie ist eine Variante der parallelperspektivischen Projektionsverfahren.51 Alle Typen parallelperspektivischer Darstellungsformen haben gemeinsam, dass die Tiefenlinien der dargestellten Objekte nicht auf einen Fluchtpunkt konvergieren, sondern parallel bleiben. Parallelperspektivische Verfahren sind schon seit langer Zeit bekannt, noch vor der Entwicklung und systematischen Darstellung der Zentralperspektive im 14. und 15. Jahrhundert.52 Es zeigen sich in der ›westlichen Bildtradition‹ mehrere Charakteristika, die sie von den zentralperspektivischen Bildern unterscheiden: Parallelperspektivische Projektionen sind nicht auf das Licht bzw. die Optik und das betrachtende Subjekt bezogen.

49 Neitzel: Die Frage nach Gott (Anm. 28), 318. 50 Ein solcher Ansatz versteht sich als Teil eines bildwissenschaftlichen Zugangs zum Computerspiel, der sich insbesondere in den letzten Jahren in den Game Studies etabliert hat. Vgl. u. a. Stephan Schwingeler : Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Boizenburg 2008; Thomas Hensel: Nature morte im Fadenkreuz. Zur Bildlichkeit des Computerspiels. Trier 2011; Stephan Günzel: Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt a. M. 2012; Benjamin Beil u. a. (Hg.): ComputerjSpieljBilder. Glückstadt 2014. Hierbei wird die spielerische Interaktion in erster Linie als eine »innerbildliche Performativität« – so Constanze Bausch u. Benjamin Jörissen: Das Spiel mit dem Bild. Zur Ikonologie von Action-Computerspielen. In: Christoph Wulf u. Jörg Zirfas (Hg.): Ikonologie des Performativen. München 2005, 345–364, hier 345 – verstanden: »[D]as Bild [wird] zu einem Teil eines operativen Codes […], der die Differenz zwischen Handlung und Repräsentation unterläuft. Im Computerspiel werden Bilder ›erspielt‹; ihre interaktive Herstellung erzeugt ein besonderes Aufführungspotential, in dem die virtuellen Bildgehalte zu sichtbaren Situationen und Sequenzen aktualisiert werden.« Christoph Wulf u. Jörg Zirfas: Bild, Wahrnehmung und Phantasie. Performative Zusammenhänge. In: ebd., 7–32, hier 30. 51 Es können hier verschiedene Darstellungsverfahren unterschieden werden: orthographisch, axonometrisch (binnendifferenziert in isometrisch, dimetrisch, trimetrisch) sowie Schrägansichten (schiefwinklig bzw. oblique). Ein Überblick findet sich z. B. bei M. Saleh Uddin: Axonometric and Oblique Drawing. A 3-D Construction, Rendering and Design Guide. New York 1997, 1–19. 52 In der chinesischen und japanischen Malerei waren parallelperspektivische Projektionen lange das zentrale und bevorzugte Verfahren, bevor im 19. Jahrhundert aus dem Westen auch fluchtpunktperspektivische Darstellungen eingeführt wurden. Vgl. hierzu z. B. Benjamin March: Linear Perspective in Chinese Painting. In: Eastern Art 3 (1931), 113–139.

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Abb. 10: M. Saleh Uddin: Axonometric and Oblique Drawing. A 3-D Construction, Rendering and Design Guide. New York 1997, 9.

Mit Blick auf die (bildliche) Geschichte des Computerspiels ist es zwar bemerkenswert, welch weiten Weg Computerspiele von einem räumlich weitgehend undefinierten Pong53 bis hin zu den aufwendig modellierten dreidimensionalen Welten aktueller Titel in ihrer noch jungen Entwicklungsgeschichte bereits zurückgelegt haben. Noch bemerkenswerter ist jedoch, dass trotz des Siegeszugs der 3D-Grafik seit Anfang der 1990er-Jahre immer noch nahezu alle Darstellungsverfahren in aktuellen Spielen Verwendung finden. So scheint die Entwicklungsgeschichte des Computerspiels einerseits einem »Raumfetischismus«54 zu frönen, andererseits werden die virtuellen Räume aber durch Diskontinuitäten ständig aufgebrochen.55 Verschiedene Darstellungsverfahren verbinden und durchdringen sich innerhalb einer Bildansicht und verschalten dabei ganz unterschiedliche Formen von Stilisierungen und Projektionsarten. Entscheidend hierbei ist, dass diese ›friedliche Ko-Existenz‹ verschiedener Darstellungsverfahren nicht nur auf die verschiedenen (unterschiedlich leistungsfähigen) Hardwareplattformen – von Handheld-Systemen bis hin zu HighEnd-PCs – zurückzuführen ist, sondern in vielen Fällen eine weniger technisch, sondern vielmehr ästhetisch geprägte Entscheidung darstellt. Oder in den 53 Pong, Atari Inc., 1972. 54 Rolf F. Nohr: Raumfetischismus. Topographien des Spiels. In: Klaus Bartels u. Jan-NoÚl Thon (Hg.): Computer/Spiel/Räume. Hamburg 2007, 61–81. 55 Vgl. Benjamin Beil: Spiel mit der Perspektive. Von gedrehten, gequetschten und unmöglichen Räumen im Computerspiel. In: Gundolf Winter u. a. (Hg.): Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen. München 2009, 239–257.

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Worten Steven Pooles: »Videogames are becoming even more creatively iconic.«56 Innerhalb der verschiedenen Darstellungsformen stellt die isometrische Perspektive einen Sonderfall dar, denn sie bildet neben den fluchtpunktperspektivisch dargestellten Ansichten die einzige weitere Form einer dreidimensionalen Projektion. Die Literatur zum Thema Raum und Perspektive im Computerspiel würdigt diese Sonderstellung jedoch kaum und verhandelt die isometrische Ansicht als eine Art von Übergangsphänomen zwischen zwei- und dreidimensionalen Spielraumdarstellungen.57 Dabei waren es isometrische Darstellungen, die zum ersten Mal bestimmte, heute typische Spielmechaniken überhaupt ermöglichten, z. B. ein frei erkundbares dreidimensionales Leveldesign, das die Darstellung von Spiellandschaften und ihren Gebäuden nachhaltig prägte; so realisierte ein Spiel wie Crystal Castles58 1983 zum ersten Mal architektonische Formen im Computerspiel.59 Die Ansicht, Isometrie sei nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu fluchtpunktperspektivisch organisierten Darstellungen, wird meist dadurch begründet, dass es sich bei dieser Darstellungsart nur um eine ›3D-Notlösung‹ aufgrund mangelnder Rechenkapazitäten für ›echte‹ dreidimensionale Spielwelten handele. Dieses Argument trifft in einigen Fällen auch durchaus zu: Viele Spielgenres existieren (fast) nur noch in einer fluchtpunkt- und näherhin zentralperspektivischen 3D-Variante. Allerdings sind isometrische Ansichten keinesfalls verschwunden, sondern fanden und finden stets ihre Nische, insbesondere im Strategie-Genre, wo sie bis heute immer noch eines der gebräuchlichsten Darstellungsverfahren bilden. Die wichtigsten Gründe für die anhaltende Verbreitung der isometrischen Ansicht in bestimmten Genres sind die bessere Übersicht über das Spielgeschehen durch den gleichbleibenden Maßstab und die einfachere Abschätzbarkeit von räumlichen Relationen. Es geht also um Spiele, in denen eine Übersichtsdarstellung wichtiger ist als einzelne (in der Regel figurengebundene) Blickpunkte – »games in which the overall situation is more important than any subjective viewpoint«.60 Zurück zu den God Games: Das Zusammenspiel zwischen einer isometrischen Darstellung und der narrativen Rahmung von God Games soll hier keineswegs überinterpretiert werden, denn auch auf God Games trifft als Strate56 Steven Poole: Trigger Happy. The Inner Life of Videogames. London 2000, 136. 57 Vgl. Benjamin Beil u. Jens Schröter : Die Parallelperspektive im Digitalen Bild. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft 4 (2011), 127–137. 58 Crystal Castles, Atari Inc., 1983. 59 Vgl. Christian Keichel: Eine Frage der Perspektive. In: Retro 12 (2009), 38–44. 60 Henry Lowood: Jon Haddock, Screenshots. Isometric Memories. In: Matteo Bittanti u. Domenico Quaranta (Hg.): Gamescenes. Art in the Age of Videogames. Mailand 2006, 15–31, hier 19.

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giespiele natürlich das Kriterium der besseren räumlichen Orientierung dieser Projektionsform zu. Nichtsdestotrotz zeichnet sich hier eine deutliche Parallele zum berühmten Motiv eines allsehenden Gottes ab.61 Die Perspektive auf die Spielwelt ist nicht mehr figurengebunden, sondern vielmehr ein körperloser »Blick von überall und nirgendwo«.62 Mehr noch zeigt sich in der isometrischen Spielweltdarstellung der God Games eine leicht bizarre, aber prägnante Entsprechung zwischen der Undarstellbarkeit Gottes und einer nicht definierbaren Betrachterposition in parallelperspektivischen Darstellungen. Die Tiefenlinien der isometrischen Spielweltdarstellung konvergieren nicht in einem Betrachterpunkt – oder auch: Sie konvergieren in der Unendlichkeit. Somit kann der Spieler zwar auf die Spielwelt hinabblicken, er kann sich aber nicht in ihr oder zu ihr verorten. Er ist zugleich bildliche Leerstelle und interaktives Zentrum der Bildwelt. Somit erhält die im heutigen Bilderkosmos vor allem durch technische Zeichnungen bekannte isometrische Darstellungsart in God Games eine weitere Bedeutungsfacette – und auch wenn diese bildtheoretisch letztlich recht simpel ausfallen, schließt das Computerspiel hier doch durchaus an künstlerische Traditionen an, die zeigen, dass die raumlogische Verunklärung eine planvoll inszenierte visuelle Strategie ist, die dazu dient, im Rahmen des Systems mimetischer Repräsentation das Überirdische und transhistorisch Wirkliche der Gegenwart Gottes, der schlechterdings weder den raumlogischen Bedingungen des Diesseits noch gar den perspektivischen Darstellungsgesetzen der Malerei unterworfen ist, gleichwohl bildlich zur Anschauung zu bringen.63

Anders formuliert: God Games rekurrieren in dieser Hinsicht auf »die Paradoxie einer Darstellung des Undarstellbaren als Undarstellbares.«64

Epilog: Andere Leerstellen Die in den vorangegangenen Zeilen diskutierten Aspekte einer spielerischen Inszenierung göttlicher Macht zeigen, dass abseits von audiovisuellen und narrativen Platzhaltern eine durchaus eigensinnige mediale Formatierung religiöser Themen im Computerspiel stattfindet – auch wenn diese bislang oft eher 61 Astrid Schmidt-Burkhardt: Sehende Bilder. Die Geschichte des Augenmotivs seit dem 19. Jahrhundert. Berlin 1992, 13. 62 Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip. Wien/ New York 1999, 147. 63 Thomas Hensel: Aperspektive und Anamorphose. Über Temporik und den Raum diesseits des Bildes. In: Winter u. a. (Hg.): Das Raumbild (Anm. 55), 159–176, hier 166. 64 Hensel: Aperspektive und Anamorphose (Anm. 63), 167.

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im Detail zu finden ist. Indem abstrakte Übersichtsperspektiven mit narrativinteraktiven Szenarien verschaltet werden, ergibt sich so ein neuer Blick auf scheinbar vertraute Bildpraktiken. Zum Abschluss soll die Diskussion noch einmal zur in der Einleitung erwähnten God of War-Reihe zurückkehren. Einerseits bestätigten die God of WarSpiele viele der eingangs genannten Punkte zu einer Verbindung von Religion und Computerspiel, in der religiöse Motive (mehr oder weniger) nur als atmosphärisches Beiwerk dienen. Andererseits finden sich aber auch in der scheinbar vollständig populärkulturell überformten Mythenwelt dieser Spielreihe interessante ›Anomalien‹ in der Verbindung religiöser und spielerischer Elemente. In God of War steuert der Spieler Kratos, einen spartanischen Heerführer, der durch den Kriegsgott Ares durch einen Trick dazu gebracht wird, seine Familie zu töten – Kratos schwört Rache. Am Ende des ersten Teils der Reihe besiegt Kratos Ares und nimmt daraufhin dessen Platz als Gott des Krieges ein. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt sich schließlich heraus, dass Kratos ein Demigott ist, ein Sohn von Zeus – doch auf die Spielhandlung, die einer Achterbahnfahrt durch bekannte Schauplätze der griechischen Mythenwelt gleicht (vom Fluss Styx in der Unterwelt durch das Labyrinth von Daidalos bis hin zu den Gipfeln des Olymp) soll an dieser Stelle nicht detaillierter eingegangen werden. Es soll vielmehr ein ungewöhnliches Detail der finalen Sequenz des dritten Teils65 der Reihe im Mittelpunkt stehen: Bei dem abschließenden Kampf zwischen Kratos und Zeus sieht es zunächst so aus, als würde der Göttervater über seinen Sohn triumphieren. Kratos gelingt es nicht, dem Würgegriff Zeus’ zu entkommen, sein Körper erschlafft. Doch Kratos scheinbarer Tod entpuppt sich als der Auslöser einer surrealen, in Kratos’ Psyche angesiedelten Spielsequenz, in der der Protagonist neue Kraft findet und schließlich ›wiederaufersteht‹. Es folgt ein letzter Kampf gegen Zeus, aus dem Kratos siegreich hervorgeht. Interessant erscheint nun wiederum, wie dieses Ereignis visuell inszeniert wird. Die Spielwelt von God of War wird aus einer Third-Person-Perspektive, d. h. aus einer Art Verfolgerkamera-Sicht, präsentiert. Der Spieler kann die Ansicht nicht direkt steuern, der gewählte Spielweltausschnitt verändert sich jedoch durch die Fortbewegung der Avatarfigur und ist in den meisten Fällen spielmechanisch begründet (etwa durch eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Kampfarenen), manchmal geht es aber auch schlicht um die Visualisierung 65 God of War III, SCE Studios/Sony, 2010. Zur Deutung der hier analysierten Szene im Kontext des Göttermordes vgl. den Beitrag von Robert Baumgartner : »Drücken Sie ›Enter‹, um Gott zu töten …«: Das Computerspiel als Medium des Deizids, in diesem Band 681–703, hier 691ff.

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möglichst spektakulärer Spielweltpanoramen. Allen Ansichten ist gemeinsam, dass sie die Avatarfigur Kratos stets aus einer Außenperspektive zeigen. Dies ändert sich jedoch im Finale des dritten Teils: Nach der ›Wiederauferstehung‹ des Protagonisten wechselt das Spiel in eine First-Person-Perspektive, d. h. der Spieler nimmt den Blickpunkt der Avatarfigur ein. Spielmechanisch lässt sich dieser Perspektivwechsel nur unzureichend erklären. Das Spielprinzip – der reaktionskritische Einsatz von Nah- und Fernkampfwaffen – ändert sich auch in dieser Darstellung nicht; allerdings fällt auf, dass der Schwierigkeitsgrad der Sequenz deutlich geringer ausfällt als in den vorangegangenen Spielherausforderungen – der Spieler kann Zeus mühelos überwältigen.

Abb. 11/12/13: God of War III – Third-Person- und First-Person-Perspektive

Diese letzte Sequenz präsentiert sich damit als bestenfalls antiklimaktische spielerische Herausforderung. Vielmehr ist das Ziel ein Ausstellen der neu gewonnenen göttlichen Macht des Protagonisten – der Sieg über Zeus lässt Kratos zum Herrscher der Götterwelt aufsteigen. Die Wahl der First-Person-Perspektive ließe sich zwar auch durch die spektakuläre und viszerale bildliche Inszenierung, die diese Darstellungsform bietet, begründen.66 Doch darüber hinaus zeigt sich auch hier wiederum, dass der Avatar sich gleichsam aus der bildlichen Darstellung der Spielwelt zurückzieht, der Blickträger zur Leerstelle des Bildes wird. Natürlich ist Kratos keineswegs aus der Darstellung verschwunden, so bleiben die waffenschwingenden Hände des Avatars weiterhin sichtbar. Dennoch ändert sich der Charakter der Darstellung deutlich, indem von einer Außen- in eine Art Innenansicht des Protagonisten gewechselt wird. Kratos ist fortan weniger als Körper, aber umso mehr als auf die Spielwelt einwirkende (destruktive) Macht präsent. Dieser Epilog ist nicht der Ort für eine ausführliche Diskussion der vielfältigen bildästhetischen Ausprägungen der First-Person-Perspektive.67 Die kurze Analyse dieser Sequenz sollte lediglich aufzeigen, dass es neben der isometrischen Übersichtsperspektive noch weitere bildästhetische Formen gibt, in 66 Benjamin Beil: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels. Bielefeld 2012, 171–199. 67 Vgl. u. a. Alexander R. Galloway : Origins of the First-Person Shooter. In: ders.: Gaming. Essays on Algorithmic Culture. Minneapolis 2006, 39–69; Benjamin Beil: First Person Perspectives. Point of View und figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel. Münster 2010.

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denen das Computerspiel eine Inszenierung göttlicher (All-)Macht in Verbindung mit einer bildlichen Undarstellbarkeit der Quelle eben dieser Macht spielerisch erprobt. Auch dieses Beispiel mag dabei eher zum Kuriosen tendieren, jedoch kann es, ebenso wie die Perspektivspielereien der God Games, als erster vorsichtiger Schritt einer medialen Ausdifferenzierung des Computerspiels gelesen werden, die über eine schlichte Emulation etablierter medialer Ausdrucksformen hinausgeht.

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Religion in digitalen Spielen – Eine Frage des Genres

Religion in digitalen Spielen Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde in der kulturwissenschaftlichen Forschung, im Feuilleton oder in der öffentlichen Debatte vermehrt ein Wiedererstarken religiöser Themen, Inhalte und Motive sowie deren Niederschlag in gegenwärtigen Medien wie der Literatur verzeichnet, das unter Termini wie »Respiritualisierung«, »Renaissance der Religion« oder Zeitalter der »postsäkularen Gesellschaft« firmiert.1 Ob es sich hierbei um eine ›Wiederkehr des Religiösen‹ an sich oder nur um eine wiederkehrende Fokussierung auf religiöse Belange handelt, die im Zuge des viel beschworenen ›Kampfs der Kulturen‹ und des damit verbundenen Niedergangs des Antagonismus zwischen kapitalistischem Westen und sozialistischem Osten die Religion erneut als ideologische Legitimation anführe, wurde und wird vielfach kontrovers diskutiert.2 Dennoch ist unbestreitbar, dass vor allem das Interesse der Forschung an Religion zugenommen hat, was sich in den Literatur- und Medienwissenschaften an einer intensiven Zuwendung zur Religion in Literatur, Film, Fernsehen, aber auch in digitalen Spielen ausdrückt. Vor allem Letztere sind dabei bisher von der Forschung eher wenig betrachtet worden. Dies mag einerseits daran liegen, dass die Digital Game Studies bisher 1 Vgl. Paul M. Zulehner : Respiritualisierung: Ein Megatrend. In: Anzeiger für die Seelsorge 113 (2004), 20–23; Hans-Joachim Höhn: Renaissance der Religion: Klärendes zu einer umstrittenen These. In: Herder Korrespondenz 60 (2006), H. 12, 605–608, sowie Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt a. M. 2001, hier 12–15. 2 Vgl. dazu Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York u. a. 2011. Dieses Wiederaufleben der Religion nach dem Ableben des West-OstDualismus wird nach dem österreichisch-US-amerikanischen Religionssoziologen Peter L. Berger nötig, da »Modernity tends to undermine the taken-for-granted certainties by which people lived through most of the history.« Peter L. Berger : The Desecularization of the World: A Global Overview. In: ders. (Hg).: The Desecularization of the World: Resurgent Religion and World Politics. Washington, D. C. 1999, 1–18, hier 11.

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eine sehr junge (Teil-)Disziplin sind, die sich erst noch verstetigen muss, und andererseits daran, dass vielfach auch die einzelnen Forschungszweige noch im Wachsen begriffen sind. Zudem wurden – neben den theoretisch-methodischen Debatten – zahlreiche Diskussionen des öffentlichen Diskurses in den wissenschaftlichen hineingetragen wie beispielsweise die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Spielen von digitalen Spielen mit gewalttätigen Inhalten und der Ausübung von Gewalttaten. Ebenso wurde (wahrscheinlich durch 9/11 befeuert) die Darstellung des Islam und seiner Anhänger in digitalen Spielen relevanter. Vit Sˇisler untersuchte zum Beispiel, wie Muslime in westlichen digitalen Spielproduktionen dargestellt werden oder inwiefern der arabisch-israelische Konflikt im Heiligen Land Ausdruck in digitalen Spielen findet.3 Daneben fragte vor allem die theologische und religionswissenschaftliche Forschung nach dem ›wahren‹ religiösen Gehalt digitaler Spiele. So stellt Vander Corliss fest, dass es in digitalen Spielen oft nicht um Religion und deren Glaubensinhalte, sondern um deren Darstellung gehe.4 In diesem Kontext sind Spiele wie Messiah (Interplay Entertainment 2000) scharf kritisiert worden, da sie religiöse Erlösungsgeschichten nur andeuten würden, um eine Legitimation für ausufernde Gewaltexzesse und Vernichtungsorgien zu haben.5 Freilich wird die Darstellung wie Auseinandersetzung mit der Religion in digitalen Spielen nicht bloß als verkürzte Anspielung oder Schwundstufe wahrgenommen, sondern es werden vielfach auch die positiven Auswirkungen digitaler Spiele mit religiösen Bezügen aufgegriffen. Manfred Pirner misst den Einflussmöglichkeiten digitaler Spiele auf die Religiosität von Kindern und Jugendlichen eine erhebliche Bedeutung bei, deren Potenziale von unschätzbarem Wert seien.6 Im Unterschied zu anderen (populärkulturellen) Medien steht bei der wissenschaftlichen Betrachtung digitaler Spiele zum einen der religiöse Inhalt derselben im Vordergrund und zum anderen werden die performativen Dimensionen religiöser Erfahrung betont, die digitale Spiele durch ihre interaktive Struktur besonders fördern. Um die Religionswissenschaften vom Textparadigma zu befreien, schlagen Philippe Bornet und Maya Burger im Vorwort ihres 3 Vgl. Vit Sˇisler : Digital Arabs: Representation in Video Games. In: European Journal of Cultural Studies 11 (2008), H. 2, 203–220, sowie ders.: Palestine in Pixels: The Holy Land, ArabIsraeli Conflict, and Reality Construction in Video Games. In: Middle East Journal of Culture and Communication 2 (2009), H. 2, 275–292. 4 Vgl. Vander I. Corliss: Gaming with God: A Case for the Study of Religions in Video Games. Online unter : http://digitalrepository.trincoll.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1005& con text=theses (26. 08. 2014), 9. 5 Als ein Beispiel für die Auseinandersetzung der theologischen Forschung mit Messiah vgl. Susanne Wolf-Withöft: Spiel. In: Kristian Fechtner u. a. (Hg.): Handbuch der Religion und Populäre Kultur. Stuttgart 2005, 261–268. 6 Vgl. Manfred Pirner : Messias spielen: Der Erlösermythos als Computerspiel. In: Religion heute 48 (2001), 260f.

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Sammelbandes vor, Religion als Spiel und somit als Handlung zu betrachten.7 Damit geht eine intensivere Betrachtung funktionalistischer Religionsbegriffe einher, die sich gegenüber den substantialistischen emanzipieren. Die Betonung der Performanz von Religion und digitalen Spielen führt letztlich in Richtung der Performance Studies und der Ritualforschung — la Victor Turner. So untersuchten unter anderen Alison Gazzard und Alan Peacock oder J. Tuomas Harviainen nicht nur die Darstellung von Ritualen in digitalen Spielen, sondern die Ritualhaftigkeit digitaler Spiele selbst.8 Dabei kann das (gemeinschaftliche) Spielen digitaler Spiele selbst zum Ritual werden. Theo Zijderveld stellt dies am Beispiel des Raids in World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004ff.) heraus.9 Insgesamt erscheint ihm World of Warcraft deutlich die Züge einer Ersatzreligion zu tragen, wobei die Gruppendynamiken entscheidend seien, um eine quasi-religiöse Gemeinschaft virtuell zu konstituieren.10 Sobald das digitale Spiel selbst zur Religion wird, stellt sich (besonders Christen scheinen dieses Bedürfnis zu haben) die Frage nach den Göttern oder dem einen Gott. Bedenkt man, dass sich Götter bzw. der christliche Gott unter anderem durch Allwissenheit, Allmacht wie auch Schöpfertum auszeichnen, dann ist es nicht mehr verwunderlich, wenn Spieler von Massively Multiplayer Online Games (MMO) im Spiel wie auch in den dazugehörigen Chats die Spielentwickler als gottgleiche Wesen betrachten. Anina Veronica Schneider beschreibt das Auftreten der Spielentwickler in der virtuellen Welt ihrer designten MMO via Avatar am Beispiel von Everquest II (Verant Interactive 2004ff.) als Erscheinen der Götter in der Spielwelt, was einerseits durch die exponierte, nahezu göttliche Macht der Spielentwickleravatare und andererseits durch deren Status als Weltenschöpfer zu begründen ist. Ferner unterstreiche das religiöse Setting der Spielwelt von Everquest II diese Lesart.11 Auf die Rolle der Götter als (all-)mächtige Wesen in digitalen Spielen macht

7 Vgl. Philippe Bornet u. Maya Burger : Preface. In: dies. (Hg.): Religions and Play : Games, Rituals and Virtual Worlds. Zürich 2012, 7–11, hier 7. In diesem Kontext wird das Vorwort zu einem Plädoyer für die Verwendung ludologischer Analyseinstrumente in interkulturellen Studien, um der kulturellen Kontamination religiöser Termini und Konzepte zu entgehen. 8 Vgl. Alison Gazzard u. Alan Peacock: Repetition and Ritual Logic in Video Games. In: Games and Culture 6 (2011), H. 6, 499–512; J. Tuomas Harviainen: Ritualistic Games, Boundary Control, and Information Uncertainty. In: Simulation & Gaming 43 (2012), H. 4, 506–527, sowie ders. u. Andreas Lieberoth: Similarity of Social Information Processes in Games and Rituals: Magical Interfaces. In: Simulation & Gaming 43 (2012), H. 4, 528–549. 9 Vgl. Theo Zijderveld: WoW: A New Religion? Online unter : www.theozijderveld.com (26. 08. 2014), 14. 10 Vgl. Zijderveld: WoW: A New Religion? (Anm. 9), 18 u. 22. 11 Vgl. Anina Veronica Schneider: Spielentwickler : Die Götter von Computerspielwelten? In: Daria Pezzoli-Olgiati u. Thomas Schlag (Hg.): Vom Avatar bis zur Zauberei: Religion im Spiel. Zürich 2011, 117–125.

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Bernd Abesser aufmerksam.12 Damit verweist er auf die sogenannten God Mode Games, die besonders Genres wie das Strategiespiel oder die Aufbausimulation prägen. Hierbei nimmt der Spieler zum einen eine auktoriale Perspektive ein, zum anderen verfügt er aber zusätzlich (im Rahmen der Handlungsoptionen, die Spielregeln und Programmcode ihm lassen) über eine suggerierte omnipotente (Inter-)Aktionsgewalt, da er fast alle Aspekte des Spiels bestimmen oder beeinflussen kann. Seit Black & White (Lionhead Studios 2001) sind diese Spiele zunehmend ins Interesse der Forschung gerückt, was gegenwärtig durch interessante Dissertationsprojekte wie das von Oliver Steffen an der Universität Bern mit dem Titel Between ›God Mode‹ and ›God Mood‹. Religion in Computerspielen und die Bedeutung der Religion für Gamers deutlich wird. Abesser vertritt weiterhin die These, dass Religion vermehrt in Strategiespielen und Adventures vorkomme.13 Corliss stimmt ihm hierin zu, ergänzt aber noch digitale Spielgenres wie den (First Person) Shooter.14 Es zeigt sich dementsprechend, dass die Frage nach der Religion in digitalen Spielen primär eine Frage nach dem Genre ist. Manche Genres scheinen häufiger auf Religion und deren Inhalte wie Funktionen zu rekurrieren als andere. Aus diesem Grund möchte der vorliegende Aufsatz eine systematische Typologie der Religionsaffinität digitaler Spiele vorschlagen, die von drei verschiedenen Kategorien – religionsfern, religionsoffen und religionsnah – ausgeht, in die man Spielgenres aufgrund ihrer qualitativen wie quantitativen religiösen Bezugnahmen und Verwendungen einordnen kann. Dabei erhebt die entworfene Typologie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchte sich vielmehr als ein heuristischer Vorschlag verstanden wissen, der anhand von ausgewählten Genres und deren Genrevertretern untermauert wird.15 Daran anschließend werden zwei Tendenzen im 12 Vgl. Bernd Abesser: Wer erlöst die Welt? – Religion und virtuelle Welten in PC-Spielen. Religion ist im Spiel. In: Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Popkultur und Religion: best of … Jena 2009, 79–88, hier 80. 13 Vgl. Abesser : Wer erlöst die Welt? (Anm. 12), 79f. u. 81. 14 Vgl. Corliss: Gaming with God (Anm. 4), 11. 15 Dabei konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf Blockbuster-Produktionen, da sie populärer und somit auch repräsentativer für breitere Gesellschaftsschichten und Kulturkreise sind als Independent-Produktionen, die sich nicht primär am Mainstream orientieren, sondern häufig sehr avantgardistisch sind. Diese sollten, um ihre Themen, Inhalte und besondere Artifizialität zu würdigen, in ihrem Entstehungs- und Rezeptionskontext wie ihrer ökonomischen Ausrichtung betrachtet werden. Hierdurch sind sie auch wesentlich heterogener in ihrem Erscheinungsbild als die Mainstream-Spiele, was eine Analyse erschwert. Dass Studien in diese Richtung lohnend sein können, deuten digitale Spiele wie The Binding of Isaac (Edmund McMillen und Florian Himsl 2011) an. Jenseits des Mainstreams befindet sich aber noch eine weitere Gruppe von digitalen Spielen, die bewusst eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung mit historischen Religionen erfordert; nämlich all jene digitalen Spiele, die nicht selten im Auftrage religiöser Organisationen und Institutionen entstehen. Ulrich Nersinger bemerkt dazu: »Die wenigen unter Mithilfe von Theologen publizierten religiösen Games (es handelt sich fast ausschließlich um Bibelspiele) finden beim jungen Publikum, aber auch bei der älteren

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Bereich der religionsnahen digitalen Spielgenres näher betrachtet. Erstens ist es auffällig, dass Religion in den religionsnahen Genres ein konstitutives Element der Spielwelt ist. Diese Spiele greifen auf religiös-mythische Plots zurück, entwerfen von Magie durchwobene Welten und besiedeln diese mit allerlei mythischen Wesen und Artefakten, sodass eine Spielwelt entsteht, die in ihrer Existenz derart von diesen religiös-mythischen Einflüssen bestimmt wird, dass sie ohne Religion an sich nicht vorstellbar ist, da Religion hier zu einem integralen Bestandteil geworden ist.16 Zweitens zeigt sich, dass die religionsnahen Genres tendenziell Patchwork-Religionen etablieren, anstatt historische Religionen einzubinden. Das Verhältnis zwischen beiden Religionsformen wird erörtert, an Beispielen illustriert und in Verbindung zur ersten Tendenz gesetzt. Der gegebene kursorische Streifzug durch die Forschungsliteratur zur Religion in digitalen Spielen, der verschiedene Strömungen wie den Einfluss der öffentlichen Diskurse auf die Forschungsthemenwahl, die Analyse des religiösKlientel, kaum Zuspruch. Sie packen den Gamer nicht. Sie quälen ihn mit einer unverständlichen Sprache, vergraulen ihn durch einen ständig erhobenen moralischen Zeigefinger – oder sind einfach nur langweilig. Ein weiterer Schwachpunkt dieser Spiele liegt in deren technischer Präsentation. Graphik und Bedienung sind hoffnungslos veraltet und rufen im günstigsten Fall ein bemitleidendes Schmunzeln hervor, eher jedoch herbe Enttäuschung, manchmal sogar pure Verzweiflung.« Ulrich Nersinger: Mit der Computermaus gegen Dämonen und Geheimbünde: Kirche und Religion in Computerspielen. In: Zenit: Die Welt von Rom aus gesehen. 19. Februar 2008. Online unter: www.zenit.org (06. 08. 2014). All jene Spiele fallen, aus den von Nersinger skizzierten Gründen, durch das Analyseraster dieser Studie. 16 In den religionsnahen Genres lassen sich Religion und Mythos kaum voneinander trennen, da beispielsweise das Figurenpersonal sowohl durch historische Religionen als auch Mythen diverser Kulturen geprägt ist. Des Weiteren besteht der Plot aus kodifizierten Geschichten historischer Religionen, wie er auch dem klassischen Modell der Heldenreise folgt, deren zentrale (Reise-)Stationen (oder, mit dem russischen Formalisten Vladimir Propp gesprochen, Funktionen) Joseph Campbell herausstellte und die Christopher Vogler durch seine Adaption in Filmbranche und Populärkultur bekannt machte. Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Berlin 2011, sowie Christopher Vogler : Die Odyssee des Drehbuchschreibers: Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a. M. 2010. Ein Unterschied zwischen Religion und Mythos lässt sich auf substantialistischer Ebene zwar kaum ausmachen, auf funktionalistischer Ebene hingegen ist dies deutlicher, weil bestimmte Funktionen der Religionen wie Schutz, Sicherheit, Ordnung und Orientierung nur dann als solche wahrgenommen werden können, wenn der Mythos von einer Gemeinschaft kultisch inszeniert und religiös interpretiert wird. Ist dies nicht der Fall und schrumpft die Funktion des Mythos auf den Entwurf eines immersiven Settings zusammen, dann liegt keine religiöse Funktion mehr vor. Im Vergleich zur Religion prägt der Mythos aber stärker die intendierten Handlungsstrukturen, da er zwar stets das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern zum Thema hat und die deutliche Überlegenheit der Letzteren herausstellt, aber die Menschen dabei keineswegs wehr- und aktionslos erscheinen lässt, sondern sie durchaus handelnd zeigt, auch wenn ihr Handeln meist vergeblich ist. Darin unterscheiden sich Mythos und Religion, da der Mythos den aktiven Menschen darstellt, wohingegen Religionen den Menschen als ausharrendes Wesen zeigen, das sich in Geduld üben müsse. Vom Mythos wird im Folgenden dann gesprochen, wenn es um mythische Figuren, Welten sowie Erzähl- und Handlungsstrukturen geht.

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theologischen Gehalts digitaler Spiele, die Performanz von Religion in digitalen Spielen und deren Ritualhaftigkeit bis hin zum digitalen Spiel als (Ersatz-)Religion thematisiert, soll dabei sowohl einen groben Eindruck des Forschungsstandes vermitteln, als auch auf die besonderen Erfordernisse bei der Untersuchung von Religion in digitalen Spielen verweisen. Im Gegensatz zu vielen anderen Medien unserer Kultur räumt das digitale Spiel durch seine Ursprünge in der performativ-konfigurativen Kulturtechnik des Spiels der Interaktion und somit auch der Handlung im soziologischen Sinne eine große Bedeutsamkeit ein. Hierdurch werden funktionalistisch-kulturalistische Religionsauffassungen wichtiger als in Literatur und Film, die sich häufig auf inhaltliche, thematische und motivische Belange beschränken, womit eine Hinwendung zu substantialistischen Religionsverständnissen einhergeht.17 Die Forschung zu Religion und digitalen Spielen bedingt dabei aber keinen bloßen Umschwung von substantialisitischen hin zu funktionalistischen Religionsauffassungen. Vielmehr erfordert sie eine intensive Zusammenführung beider Herangehensweisen, um somit auch der medialen Besonderheiten der Thematisierung, Inszenierung und Funktionalisierung von Religion in digitalen Spielen gerecht zu werden.

Die Religionsaffinität digitaler Spielgenres Die Typologie der Religionsaffinität digitaler Spielgenres18 bzw. deren Aufgliederung in religionsfern, -offen und -nah adaptiert die Einteilung der einzelnen 17 Zijderveld plädiert dementsprechend konsequent für die Religionsdefinition Clifford Geertz’, der Religion als Stimmungen und Motivationen erzeugendes Symbolsystem begreift, wodurch eine Anschlussfähigkeit hin zur semiotisch inspirierten Ludologie eines Jesper Juul hergestellt wird. Vgl. Zijderveld: WoW: A New Religion? (Anm. 9), 6, sowie Clifford Geertz: Religion as a Cultural System. In: ders.: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. Nachdruck. New York 2002, 87–125, hier 90. 18 Der Begriff des Genres ist grundsätzlich problembehaftet und hat eine lange und kontroverse Diskursgeschichte in den Kulturwissenschaften. In Bezug auf digitale Spiele wird diese Problemstellung dadurch diffiziler, dass sich digitale Spielgenres nicht primär durch ikonografische, sondern vor allem durch interaktive Elemente auszeichnen, die den Kern der digitalen Spiele wie der Spiele im Allgemeinen ausmachen. Vgl. Mark J. P. Wolf: Genre and the Video Game. In: ders. u. Bernard Perron (Hg.): Video Game Theory Reader. New York, 113–134, hier 114f. So wird das Jump ’n’ Run als solches tituliert, da Springen und Laufen hier die bestimmenden Interaktions- und Gameplaytypen sind. Aber gerade dieses Beispiel zeigt, dass es innerhalb der Genredebatten noch konkurrierende Gattungsbezeichnungen wie Platformer gibt. Letzterer Ausdruck bezieht dabei aber stärker ikonografische Aspekte in die Definition mit ein als ersterer. Prinzipiell stellt sich die Frage, wie man interaktive und ikonografische Elemente separieren darf und kann, wenn es um die Genredefinition geht. Dies führt ebenso zu einer äußerst vitalen Diskussion wie die Abhängigkeit der bestehenden Genrebegriffe (im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs) von der genredefinierenden Macht der Spielentwickler und Publisher.

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Landschaften des Reiches im Spätmittelalter des Gießener Historikers Peter Moraw in königsfern, -offen und -nah.19 Ausschlaggebend für die Zuordnung ist, wie stark diese Regionen mit dem König in Verbindung standen und das Königtum unterstützen bzw. wie oft der König selbst in diesen Gebieten weilte und wie intensiv er sie in seine Politik einbezog. Analog kann man die digitalen Spielgenres danach einteilen, wie oft und wie intensiv sie sich auf Religion beziehen bzw. diese integrieren. Intensität meint dabei aber weniger die Tiefe der theologischen Auseinandersetzung als die schlichte Reichweite der Integration der Religion in die Spielwelt und das Gameplay. Ferner sind diese Bezugnahmen in quantitativer Hinsicht statistisch nicht objektivierbar, sie folgen eher einer Kategorisierung anhand von Beobachtungen, die eine Aussage über Genremerkmale gängiger digitaler Spielgenres zulassen. Die vorgeschlagene Typologie steht in Spannung zu prominenten Vertretern mancher Genres, die der Einteilung widersprechen, aber als Ausnahmen angesehen werden. Zudem führt die stetig zunehmende Genrehybridisierung digitaler Spiele dazu, dass eine treffende Bestimmung immer schwieriger wird.20 Dennoch sprechen heuristische Gründe für diese Typologie, da sie zur Systematisierung und Analyse einiger interessanter Entwicklungen beiträgt. Zu jeder Kategorie werden im Folgenden vier Genres angeführt und mit exemplarischen Spieltiteln belegt, die für die jeweilige Kategorie als kennzeichnend angesehen werden. Religionsfern: Maze Games, Jump ’n’ Runs, Sportspiele, Shooter Religionsoffen: Strategiespiele, Aufbausimulationen, Survival Horror, Adventure Religionsnah: Action-Adventure, Role-Playing Game (RPG), MMORPG, Hack and Slay

Die religionsfernen digitalen Spielgenres zeichnen sich dadurch aus, dass sie Religion gar nicht bzw. kaum aufgreifen. Religiöse Bezugnahmen sind hier die Ausnahme und nicht der Regelfall. Maze Games wie Pac-Man (Namco 1980) oder Snake21 können ebenso auf Religion verzichten wie Jump ’n’ Runs wie die

19 Für eine Auflistung königsnaher, königsferner und königsoffener Landschaften des Reiches im späten Mittelalter vgl. Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490. Frankfurt a. M. u. a. 1989, hier 175. 20 Hinzu kommt, dass Probleme dadurch entstehen können, dass sich manche digitalen Spiele (vor allem bedingt durch die Tendenz zur Hybridisierung) nicht eindeutig einem bestimmten Genre zuordnen lassen, sondern kontrovers zu diskutieren sind. Des Weiteren bestehen zuweilen Uneinigkeiten darüber, wie Genres digitaler Spiele zu hierarchisieren sind. Sind Actionspiele ein eigenes Genre oder sind diese ein Supergenre, das Spiele wie Action-Adventure oder Shooter als Subgenres unter sich vereint? Und was versteht man eigentlich unter ›Action‹? 21 Die ersten bekannten Versionen dieses digitalen Spiels entstanden in den 1970er-Jahren, jedoch ist nicht exakt geklärt, wann, wo und von wem das Spiel zum ersten Mal programmiert wurde. Dies liegt auch daran, dass das Spiel wohl erst ab den 1990er-Jahren (durch die

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Super Mario-Reihe (Nintendo 1981ff.) oder die Crash Bandicoot-Reihe (Naughty Dog et al. 1996ff.). Selbiges gilt für sämtliche digitalen Sportspiele unabhängig davon, ob es Fußballspiele wie die FIFA-Reihe (EA Sports 1993ff.), Rennspiele — la Need for Speed (Electronic Arts et al. 1994ff.) oder digitale Tischtennisadaptionen wie Pong (Atari 1972) sind. Als Grenzfall kann man in dieser Kategorie die zahlreichen Shooter ansehen, die häufiger in einer Spielwelt beheimatet sind, die stark an islamisch geprägte Länder erinnert oder in denen sich der Spieler als eine Art Messias wie in Doom (Id Software et al. 1993) durch Dämonenarmeen schießen muss, um sich selbst und die gesamte (Spiel-)Welt vor einer Vernichtung durch das ›Böse‹ zu bewahren. Religion und religiöse Anspielungen dienen dabei aber allenfalls dazu, eine Kulisse aufzubauen, die nicht mehr als eine bloße Fassade ist. Dies ändert sich in den religionsoffenen Genres, die deutlich intensiver auf Religion rekurrieren als die religionsferne Kategorie, deren Bezüge aber einerseits nicht so massiv sind wie bei den religionsnahen Genres und die andererseits erhebliche Schwankungen zwischen digitalen Spielen aufweisen, die sehr umfangreich auf Religion zurückgreifen, und jenen, die dies gar nicht tun. Aus Strategiespielen wie Der Herr der Ringe: Die Schlacht um Mittelerde (EA Los Angeles 2004) ist Religion nicht wegzudenken, in der Command & ConquerReihe (Westwood Studios/EA Los Angeles 1995ff.) hingegen spielt sie keine Rolle. Aufbausimulationen wie Populous (Bullfrog Productions 1989), die Urmutter aller God Mode Games, beinhalten Religion als integralen Bestandteil, andere, die in Richtung Wirtschaftssimulation tendieren wie SimCity (Maxis 1989ff.), wiederum nicht. Das Survival-Horror-Genre versetzt den Spieler in einen Zustand der Hilflosigkeit, der Ungewissheit, in dem er nach Sicherheit, Schutz und Orientierung sucht, somit also Bedürfnisse hat, die zentrale Funktionen zahlreicher historischer Religionen sind. Nur kann Religion diese Funktion in diesem Genre nicht übernehmen, da dies bedeuten würde, die Figur dem Schutz einer höheren Macht zu unterstellen und die Verantwortung somit dem Spieler zu entziehen, was dem Gameplay dieses Genres wie dem medialen Charakter digitaler Spiele im Allgemeinen diametral entgegensteht. Digitale Spiele zeichnen sich nicht dadurch aus, dass der Spieler auf eine externe Entität und deren Handeln vertraut, sondern dadurch, dass er selbst tätig wird, Herr seines eigenen Schicksals ist. In diesem Sinne kann der Spieler also nicht in die Rolle eines Gläubigen versetzt werden, der seine Religion zwar aktiv ausübt, aber in der Erfüllung des Erwarteten auf den Beistand höherer Mächte hoffen muss, wodurch ihm eine gewisse Passivität vorgeschrieben wird. Der Spieler hingegen ist im (religiösen) Prozess des Spielens aktiv, wodurch er auch zur erfüllenden auf vielen Nokia-Mobiltelefonen vorinstallierte Version) unter diesem Namen bekannt wurde.

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Instanz an sich wird und nicht mehr auf externe Hilfestellungen angewiesen ist. Des Weiteren entfernen sich diese Spiele immer weiter von dem substantialistischen religiösen Kern. Die Angst vor der Dunkelheit und dem Ungewissen ist eine hochgradig menschliche Eigenschaft, der Kampf des ›Guten‹ gegen das ›Böse‹ ein mythisches Motiv, das mit der Säkularisierung der Bedrohung ebenfalls verweltlicht wird. Seit den Anfängen des Survival Horrors spielen Zombies stets eine bedeutende Rolle, jedoch wird ihr Entstehungskontext in der Fiktion immer säkularer. War der Zombie einst das Resultat eines VoodooRituals, so entstehen Zombies in populärkulturellen digitalen Spielen (wie Filmen oder Comics) heute durch Viren oder aus dem Ruder gelaufene Experimente. Die Ursprünge dieses Genres sind demzufolge religiös, gehen allerdings immer mehr in einer Welt des Glaubens an Fortschritt und (Natur-)Wissenschaft verloren. Schwieriger ist der Fall noch beim Adventure. Immer wieder wird der religiöse Gehalt des Adventures betont, was naheliegt, wenn man bedenkt, dass bedeutende Genrevertreter wie der Namensgeber des Genres – Adventure (William Crowther 1976) – in einer durch und durch religiös-mythischen Welt angesiedelt sind und dass es dieselben Wurzeln im Pen-& -Paper-Rollenspiel hat wie die religionsnahen Genres. Allerdings machen einige Aspekte die Einordnung in die Kategorie der religionsnahen digitalen Spielgenres meines Erachtens problematisch. Aus pragmatischer Sicht muss man konstatieren, dass Adventures auf dem heutigen Markt für digitale Spiele kaum noch relevant sind und auch kaum mehr produziert werden, wodurch eine Vergleichbarkeit mit den anderen kommerziell erfolgreichen Genres nicht gegeben ist. Außerdem gibt es zahlreiche bekannte Genrevertreter wie die Monkey Island-Reihe (LucasArts/ Telltale Games 1990ff.) oder Day of the Tentacle (LucasArts 1993), die schlichtweg vollkommen auf Religion verzichten bzw. nahezu ohne sie auskommen. Worin liegt denn aber der Unterschied zu den religionsnahen Genres? Dieser beruht meines Erachtens auf der Action-Komponente der religionsnahen Genres. Im Vergleich zum Adventure-Genre erkundet der Spieler im Action-Adventure oder im RPG nicht nur virtuelle Spielwelten und löst Rätsel, sondern er wird zum Erlöser im religiösen Sinne, zum Auserwählten, zum mythischen Helden. Anders als beim Adventure wird die performative Funktion des Spielers damit erheblich aufgewertet und in die Nähe bekannter Erlösergeschichten gestellt. Betrachtet man die Grenzfälle der anderen beiden Kategorien (den Shooter und das Adventure), dann fällt auf, dass die religionsnahen Genres beide Aspekte in sich vereinen, die diesen beiden Genres eine gewisse Religionsaffinität verleihen. Der Spieler hat im Action-Adventure die Rolle des auserwählten Retters und Erlösers inne (wie im Shooter), muss aber auch nicht auf das religiös-mythische Setting (wie im Adventure) verzichten. Diese Beobachtung kann man noch weiter abstrahieren und in zwei generelle Beobach-

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tungen in Bezug auf die Genretypologie überführen. Erstens scheint die Religionsaffinität von digitalen Spielgenres eine Frage des Gameplays zu sein, wobei jene Genres besonders religionsaffin sind (oder sein können), die den Spieler zum auserwählten Helden stilisieren (Shooter, Action-Adventure, RPG etc.) oder den Spieler in die Rolle eines Gottes selbst versetzen (Göttersimulationen). Zweitens fällt auf, dass – betrachtet man die beschriebene Typologie von den religionsfernen zu den religionsnahen Genres hin aufsteigend – die Narrativität der digitalen Spiele zunimmt, je stärker sie auf Religion (und Mythos) Bezug nehmen.22 In der Kategorie der religionsfernen Genres findet man kaum digitale Spiele, die auf die dargestellten Gameplaytypen zurückgreifen oder sonderlich narrativ geprägt sind. Bei den religionsoffenen Genres findet man Spiele, die den God Mode intensiv verwenden oder sehr narrativ sind wie das Adventure, aber es gibt keine oder kaum Spiele, die beide Kriterien in sich vereinen. Auf die religionsnahen Genres trifft dies hingegen zu. Digitale Spiele wie die The Legend of Zelda-Reihe (Nintendo EAD 1986ff.), die The Elder Scrolls-Reihe (Bethesda Game Studios 1994ff.), World of Warcraft oder die Diablo-Reihe (Blizzard North 1996ff.) kombinieren mit dem Erlösermotiv und dem religiösen Narrativ beide Kriterien und machen sie somit zu konstitutiven Elementen der Spielwelt wie dieser Spiele im Allgemeinen. Das ist die Besonderheit der religionsnahen Spielgenres – Religion ist in ihnen ein derart fundamentales Element, dass sie ohne diese in ihrer gegenwärtigen Form nicht mehr existent wären. Überspitzt gesagt, könnte man festhalten, dass Religion in diesen Spielen die welt- und spielgenerierende Kraft ist. Diesem Gedanken folgend sollen nun zwei Tendenzen näher betrachtet werden, die bereits mehr oder weniger ausführlich umrissen wurden. Das ist zum einen die Religion als konstitutives Element digitaler Spielwelten und zum anderen das Verhältnis zwischen historischer und Patchwork-Religion. Wurde die erste Tendenz bereits mehrfach thematisiert, so ist die zweite bisher kaum erörtert worden, ist aber überaus bedeutend, da die religionsnahen digitalen Spielgenres eindeutig Richtung Patchwork-Religion neigen und historische Religionen an sich eher in den religionsfernen und religionsoffenen Genres zu finden sind.

Religion als konstitutives Element digitaler Spielwelten Man braucht nicht Geschichte oder Theologie studiert zu haben, um die Stories [der religiös angehauchten digitalen Spiele] als haarsträubenden Unfug zu entlarven. Mit echten religiösen Anliegen und historischen Tatsachen haben die Tempelritter der 22 So macht bereits Vander Corliss darauf aufmerksam, dass Religion ein wirkmächtiges Narrativ in digitalen Spielen sein kann. Vgl. Corliss: Gaming with God (Anm. 4), 47.

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Computerspiele herzlich wenig zu tun. Und Dämonenjäger und Phantasieengel sind erst recht nicht in den christlichen Glauben einzuordnen. Aber darum geht es den »religiösen« Computerspielen auch nicht. Die Faszination, die von ihnen ausgeht, ist eine andere: Ich kann mich als Spieler ungefährdet in die Welt des Unerklärlichen begeben, mich uralten Ängsten aussetzen und sie auch bewältigen, Seite an Seite mit übernatürlichen Wesen kämpfen und sogar ein wenig Gott spielen: Möglichkeiten, die ich in der Realität nicht habe.23

Mit diesen Worten fasst Ulrich Nersinger konzise die beiden Entwicklungen zusammen, die für gegenwärtige digitale Spielproduktionen, welche sich mit Religion auseinandersetzen, signifikant sind. Da ist zum einen das nicht vorhandene Interesse an der historischen Genauigkeit und Authentizität sowie theologisch-religiösen Tiefe. Zum anderen ist da die Begeisterung der Spieler für »übernatürliche Wesen«, den Kampf mit diesen, das Gott-Spielen wie auch die religiöse Erfahrung im Sinne einer Konfrontation mit dem Unbekannten, Unverstehbaren und den Urängsten sowie deren Bewältigung. Es geht also eher um eine Rollenübernahme, ein Handeln in diesem Kontext, einen Wettstreit mit dem Computersystem und letztlich mit sich selbst. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass Detailtreue und religiöse Dogmatik allenfalls peripher von Bedeutung sind. Somit ist es lohnenswert, die Frage zu stellen, wozu digitale Spiele Religion brauchen, und nicht, wozu sie diese eben nicht benötigen. Man könnte, dem folgend, behaupten, dass digitale Spiele mithilfe der Religion Settings kreieren.24 Das trifft den Kern der Sache aber nur bedingt, da gerade religionsnahe digitale Spiele mehr als das tun. Sie erschaffen immersivpartizipative Welten, die den Spieler entlang eines mythisch-religiösen Plots durch ein Spiel voller religiöser und mythischer Wesen schicken, ihn aber auch zum Helden der Geschichte, zur ultimativen konfigurativ-aktiven Figur der Geschichte machen. Zur Exemplifizierung soll das RPG The Elder Scrolls IV: Oblivion (Bethesda Softworks 2006/2007) dienen.25 Wegen des begrenzten Rahmens können jedoch nur einige Aspekte ausgewählt und beispielhaft betrachtet werden. Dabei liegt der Fokus im Folgenden auf dem Plot, dem Figurenpersonal, der Spielwelt und der Performanz. Plot: Zu Beginn der Handlung trifft der inhaftierte Avatar des Spielers auf Kaiser Uriel Septim VII., der vor seinen Feinden durch das Gefängnis flieht, aber dennoch getötet wird. Sterbend überreicht der Kaiser dem Avatar das Amulett der Könige und versieht diesen mit dem Auftrag, seinen letzten lebenden Sohn 23 Nersinger : Mit der Computermaus gegen Dämonen (Anm. 15). 24 Vgl. Corliss: Gaming with God (Anm. 4), 48. 25 Aus Platzgründen sowie darauf verweisend, dass Screenshots in den meisten Fällen nur einen illustrativen Charakter haben, verzichte ich bei den folgenden beiden Beispielen in diesem Artikel auf selbige.

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zu finden. Seine anderen Söhne sind zu diesem Zeitpunkt bereits von den Anhängern eines (Daedra-)Geheimkultes, der Mythischen Morgenröte, ermordet worden, sodass nur noch der uneheliche und daher unbekannte Sohn des Kaisers als Thronfolger übrigbleibt. Was nach einem politischen Konflikt klingt, erfährt eine erhebliche religiöse Aufladung dadurch, dass eine Verbindung zwischen der gewöhnlichen Spielwelt, Cyrodiil, und den Ebenen von Oblivion besteht, einer Welt, die von dämonenähnlichen Wesen, den Daedra, bewohnt und von gottgleichen Wesen wie Mehrunes Dagon beherrscht wird. Um Cyrodiil vor einer Invasion der Daedra zu bewahren und die Tore nach Oblivion verschlossen zu halten, muss der Kaiser die Drachenfeuer im Tempel des Einen entzünden, welche nur brennen, solange der Kaiser lebt, und welche erneut nur von seinem Nachfolger entfacht werden können. Ohne einen neuen Kaiser ist Cyrodiil also den Invasoren aus Oblivion schutzlos ausgeliefert. Das Spiel arbeitet dabei mit den für Mythen typischen Konflikten zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹, die dem Plot eine eindeutige Lesart geben, sich aber auch in der Figurengestaltung (positiv konnotierte Wesen wie Menschen gegen negativ bewertete Kreaturen wie Dämonen) und dem Aufbau der Spielwelt (›gutes‹ Cyrodiil versus ›böses‹ Oblivion) niederschlagen. Der Spieler muss nun einer klassischen Heldengeschichte im Sinne Joseph Campbells folgen. Er hat zahlreiche Prüfungen zu bestehen und an die bedrohlichsten Orte zu reisen, wobei ihn aber zahlreiche Figuren unterstützen. Im Unterschied zu Campbell ist es aber nicht der Avatar des Spielers, der die Rolle des Erlösers übernimmt, sondern der uneheliche Kaisersohn Martin (!). Die Figur des Weltenretters ist im Vergleich zu vielen anderen religionsnahen digitalen Spielen aufgespalten und auf zwei Figuren verteilt – den ›schwertschwingenden‹ Helden (Spieleravatar) und den religiösen Befreier (Martin). Der Plot gipfelt in einem apokalyptischen Szenario und einem Endkampf gegen Mehrunes Dagon. Um ihn zu besiegen, muss sich Martin opfern, damit er den Drachengott Akatosh herbeirufen kann, welcher Dagon bezwingt und die Tore nach Oblivion für immer verschließt. In zweifacher Weise stellt das Spiel somit Verbindungen zum Neuen Testament her. Einerseits wird Martin als Jesus Christus inszeniert, an den seine Erscheinung ohnehin schon sehr stark erinnert, indem er sein Leben zur Rettung der Bewohner Cyrodiils hergibt. Andererseits spielt das Spiel auf die Offenbarung des Johannes und den Kampf Michaels gegen den Drachen an, auch wenn es bemerkenswert ist, dass der Drache hier der Retter und nicht der Vernichter allen Seins ist. Dabei bindet sich das Spiel, gemäß der medialen Form digitaler Spiele, wieder an den Spieler als Helden und Gestalter der Geschichte zurück, wenn im Schlussmonolog der verstorbene Martin Septim als Stimme aus dem Off das Schicksal des gesamten Kontinents in die Hand des Spielers legt. Dieser Schlussmonolog offenbart eindeutig den Ausgangspunkt dieser mythisch-religiös strukturierten Welt –

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Tolkiens Der Herr der Ringe.26 Denn während Martin seine abschließenden Worte spricht, fliegt die Kameraperspektive über die Karte Cyrodiils, die an die Darstellung Mittelerdes in den Kinofilmen oder andere autorisierte gedruckte Karten Mittelerdes erinnert. Vor allem die Referenz auf den dritten Teil ist dabei markant. Mit Martins Tod endet das dritte Zeitalter Tamriels27 (des Kontinents der The Elder Scrolls-Reihe) und Martins Verweis auf seine baldige Zusammenkunft mit seinen Ahnen im Jenseits stellt klare Bezüge zu Theodens von Rohan Sterbeszene im letzten Teil der Filmtrilogie her. Der Herr der Ringe ist der Ausgangstext der modernen Fantasy-Literatur und hat sich in Bezug auf die Bildung mythisch-religiöser Welten derart verfestigt, dass er transmedial ohne Weiteres in andere Medien transportiert werden kann. Vor allem seit den Filmen ist die visuelle Dominanz des Tolkien’schen Werkes im Fantasy-Genre augenfällig. Die Präsentationsform wird vornehmlich durch die Spielwelt bzw. die Figuren vermittelt, auf die im Folgenden eingegangen wird. Figurenpersonal: Tolkien synthetisierte in seinen Romanen zahlreiche Mythen und das Christentum miteinander und etablierte damit ein Figurenpersonal, das in Konzeption wie Konstellation häufig sehr fest gefügt ist. Auch in The Elder Scrolls IV: Oblivion findet man unter anderen Elfen (Dunkel- wie Hochelfen), Orks, Trolle oder Magier, die in ihrer Darstellung, ihren Charakteristiken, ihren Verhaltens- und Denkmustern wie auch ihren Beziehungen zu anderen Figurengruppen sehr stereotyp sind. Dem Spieler wird somit die Möglichkeit gegeben, in die mythisch-religiöse Welt einzutauchen, wobei die Figuren eine sehr wichtige Mittlerrolle einnehmen. Sie sind die Akteure, die der Spieler entlang des mythischen Plots durch eine religiös-magisch durchwobene Welt navigiert. Nur durch sie wird die Spielwelt für den Spieler konkret und unmittelbar erfahrbar. Die Figurenkonzeptionen wie -konstellationen können hierdurch einen erheblichen Einfluss auf die performative Dimension des spielerischen Handelns ausüben, da sie dem Spieler bestimmte Handlungen und Haltungen implizit suggerieren, indem sie im Kontext der religiös-mythischen Spielweltlogik allzu naheliegend sind. Der Spieler weiß, wie sich Vertreter bestimmter Rassen verhalten, und wird tendenziell und unterbewusst dazu tendieren, diese Verhaltensweisen zu imitieren. Die genretypische Ausprägung des Spiels als RPG und die damit verbundene freie Wählbarkeit der Rassen bietet dem Spieler konsequenterweise eine umfangreichere Personalisierung seines Bezugs zum Avatar und demzufolge auch zum Spiel. Was der Spieler aber nicht beeinflussen kann, ist die Verbundenheit seines Avatars mit der Gruppe der ›guten‹ Figuren. Der Spieler kann nur Figuren 26 J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. 3 Bde. Stuttgart 2012 [1954/1955]. 27 Im Unterschied zum Herrn der Ringe endet das Zeitalter also nicht mit der Wiederherstellung der Monarchie, sondern mit deren Ende oder einem Interregnum.

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wählen, die in diesen mythisch-religiösen Welten positiv konnotiert sind; negative Geschöpfe wie Trolle oder Daedra sind automatisch die Antagonisten des Spielers. Gewisse Freiheiten werden dem Spieler zwar gelassen, so kann er beispielsweise diverse Verbrechen begehen, aber zum einen sanktioniert das Spiel dies und zum anderen ändern selbst Morde nichts an seiner Gruppenzugehörigkeit. Das Figurenpersonal vollzieht die für Mythen und Religionen oft kennzeichnende Trennung zwischen ›gut‹ und ›böse‹, die der Plot bereits vorgibt, auf figuraler Ebene nach. Ein Phänomen, das sich auch mit Hinblick auf die Spielwelt bestätigen lässt. Spielwelt: Denn auch diese trennt den Raum in ›gut‹ und ›böse‹, was offensichtlich wird in der Trennung zwischen Cyrodiil und Oblivion. Dies wird zudem durch die Farbgebung unterstrichen. Cyrodiil ist ein heller Ort des Lichts, Oblivion hingegen ein Raum der Dunkelheit und Finsternis. Durch diesen Antagonismus spielt The Elder Scrolls IV: Oblivion auf Transzendenzvorstellungen an, greift aber auch charakteristische Farbgebungen der populärkulturellen Mythos- und Religionsadaptionen auf. Signifikant wird die Wertung der Welten als ›gut‹ oder ›böse‹ durch die Bewohner, die ihr zugeordnet werden, sodass es zu einer Doppelung des Gut-Böse-Antagonismus auf figuraler wie diegetischer Ebene kommt. Zudem wird dieser Antagonismus durch das Leveldesign unterstützt. Betritt der Spieler Oblivion, so wird er stetig von starken und furchteinflößenden Gegnern angegriffen, wandert durch eine Welt, die massiv an die Hölle erinnern soll. Die rot-bräunliche Farbgestaltung, die zum Teil schlechten Sichtverhältnisse, Lava, furchterregende Schreie und gemarterte Leichen evozieren im Spieler ein permanentes Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung. Durch spielerische wie darstellerische Mittel wird Oblivion bewusst als negativer Raum geschaffen, der dem Spieler unangenehm werden soll. Der Raum an sich wird somit auch zum spürbaren Bestandteil der Spielerfahrung. In umgekehrter Weise trifft dies freilich auf Cyrodiil zu. Cyrodiil ist ein heller Ort, mit guten Sichtverhältnissen, angenehmer musikalischer Untermalung und schwächeren Gegnern. Selbst stärkere Gegner können größtenteils umgangen werden, da das Open-World-Prinzip viel Platz zum Ausweichen lässt. Die Navigation des Spielers via Avatar durch die Spielwelt obliegt in Cyrodiil der Entscheidungsund Bewegungsfreiheit des Spielers, wohingegen die einzelnen Ebenen von Oblivion die Freiheit des Spielers massiv einschränken, indem sie ihn in eine strikte Dungeon-Struktur zwingen. Der Kampf zwischen beiden Welten wird somit auch auf der Ebene der Spieler- und Navigationsfreiheit im Rahmen des Leveldesigns ausgefochten. Orte der Unsicherheit sind in Cyrodiil sehr punktuell begrenzt und tauchen in Form von Höhlen oder verfallenen Festungen auf, die von Untoten oder Trollen bewohnt werden und diversen Daedra-Kulten dienen, um ihre Rituale zu praktizieren. Wie auf der Makroebene (Cyrodiil vs. Oblivion) wird der Gut-

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Böse-Antagonismus auch auf der Mikroebene (Städte, Dörfer Cyrodiils vs. Höhlen etc.) figural wie räumlich gedoppelt. Allgemein ist zu sagen, dass Cyrodiil die Konventionen mythisch-religiöser Welten im Fantasy-Genre nicht nur durch Antagonismen, sondern auch durch die Existenz bestimmter charakteristischer Orte schafft. Zu nennen sind diesbezüglich Tempel, Ruinen und Festungen. Im Unterschied zu anderen religionsnahen digitalen Spielen neigt The Elder Scrolls IV: Oblivion zwar zur Amalgamierung von Antike und Mittelalter, streut aber weitaus weniger Elemente der Neuzeit in Form von Waffen und sonstigen Artefakten ein als beispielsweise The Legend of Zelda, das auch in einer antik-mittelalterlichen Spielwelt angesiedelt ist, aber dem Spieler Items wie Bomben zur Verfügung stellt, die historische Epochengrenzen ignorieren. Performanz: Die religiös-mythische Geschichte, die antik-mittelalterliche Spielwelt voller mythischer Wesen, die Existenz paralleler Welten sowie der Antagonismus zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ stellen den handelnden Spieler vor besondere Herausforderungen. In einer Spielwelt, in der Magie ein gegebenes Faktum der spielweltinternen Logik ist, in der der Spieler in einem Konflikt zwischen zwei Machtkomplexen gezwungen wird, Stellung zu beziehen, bekommen die performativen Aspekte religionsnaher digitaler Spiele eine neue Bedeutung. Die Performanz ist eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Religionen und populärkulturellen Medien – sie erfordern beide das erfahrende, erlebende, aber auch handelnde Subjekt, das sich in einer intensiven Auseinandersetzung mit höheren Mächten oder Entitäten befindet. Im Vergleich zu den meisten anderen (genuin) narrativen populärkulturellen Medien machen digitale Spiele diese Performanz stärker. Wenn Literatur Religion aufgreift, dann ist häufig Reflexion und Kontemplation gefordert, wohingegen digitale Spiele zur konkreten (Inter-)Aktion auffordern. Das bedeutet aber nicht, dass die ›religiöse Erfahrung‹ digitaler Spiele intensiver oder ›besser‹ sei als diejenige, die die Literatur ermöglicht; sie ist nur anders. Die Literatur thematisiert eher die substantialistischen Aspekte von Religion und bietet eine Tiefenrezeption, die sich digitalen Spielen entzieht, da diese eher funktionalistische Elemente von Religionen fokussieren. Dabei sind weniger die integrierten Rituale von Belang als vielmehr die Rolle des Helden als Erlöser. Die Rituale in The Elder Scrolls IV: Oblivion dienen beispielsweise der Heilung des Avatars und sind mit einem Knopfdruck, mit einer einzigen User-Aktion am Interface ausgeführt, wodurch ihre semantische Entleerung im religiösen Sinne nur noch deutlicher wird. Die eigentliche religiöse Funktion, die hinter diesem Ritual steht, ist die Bitte um Rettung, Schutz und Beistand. Sie wird aber nicht mehr durch göttliche Unterstützung erteilt; sie ist simpler Bestandteil des Programmcodes. Anders sieht dies aus, wenn der Spieler zum mythischen Helden wird. Held ist dabei aber kein (wie gegenwärtig des Häufigeren anzutreffen) Synonym für Protagonist; der Held ist der Heros der antiken Mythen und Sagen, der auser-

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wählte Retter, der allein die Erlösung bringen kann. Der Held fungiert in diesem Kontext als Mittler zwischen Menschen und Göttern, stellt eine Verbindung zwischen dem irdisch Fassbaren und dem entrückten Unnahbaren und Unverstehbaren dar, das sich dem menschlichen Verstand entzieht. Diesen Helden findet man in ähnlicher Form ebenfalls noch in den mittelhochdeutschen Versepen und Artusromanen, in denen er sich dadurch auszeichnet, dass er dazu bestimmt ist, die zahlreichen mythischen Bestien zu zähmen oder zu besiegen. Er verschwindet ab der Frühen Neuzeit, in der Antihelden wie Don Quijote auf den Plan treten, deren Rolle nicht mehr im Bewältigen und Meistern der ritterlichen und heldenhaften Herausforderungen liegt, sondern im Scheitern durch das Festhalten dieser überkommenen Wertvorstellungen und Gesellschaftsmodelle. Don Quijote und sein ritterliches Ideal erscheinen vor dem Hintergrund des massiven sozialen Wandels der Frühen Neuzeit als überkommene Relikte einer vergangenen Epoche fernab jedweder Wirklichkeit. Dies ändert sich mit dem Auftauchen der Superhelden in den US-Amerikanischen Comics ab den 1930er-Jahren, die eine gewisse Aura der Einzigartigkeit umgibt, da es (Wunder-)Taten gibt, die nur sie vollbringen können. Begleitet wird diese Rückkehr des mythischen Helden durch das Aufkommen des modernen Fantasy-Genres im Mainstream, welches besonders durch den Herrn der Ringe befördert wurde. Ob bewusst oder unbewusst nehmen Spieler diese besondere Konzeption des Helden wahr und versuchen, diese Rolle anzunehmen. Damit wird auch die religiöse Funktion des mythischen Helden angenommen, der Retter und Beschützer vor dem ›Bösen‹, den Gefahren des Unbekannten und dem Dunklen ist. Der Spieler nimmt dabei weniger religiöse Funktionen in Anspruch, als dass er selbst zum religiösen Funktionsträger wird – er ist nicht der Schutzsuchende, er ist der Schutzgewährende. Hierin liegt eine Besonderheit, die das gewöhnliche Individuum nur im digitalen Spiel erfahren kann, da ein Rollentausch stattfindet. Aus Gründen der Einfachheit bleiben wir bei der Funktion, die viele Religionen erfüllen und die bereits mehrfach angerissen wurde – Schutz. Der Gläubige historischer Religionen sucht Schutz in seinem Glauben und erhofft sich Protektion und Beistand von den angebeteten Kräften. Er gibt sich somit bewusst einer Passivität hin, die seine Ohnmacht vor großen Herausforderungen wie der Unüberschaubarkeit lebensweltlicher Zusammenhänge und existenzieller Lebenslagen geschuldet ist. Der Spieler hingegen ist betont aktiv, nicht ohnmächtig, sondern machtvoll. Dies liegt einerseits an den großen Gestaltungsspielräumen, die sein Avatar hat, und andererseits ist es den simplen Zusammenhängen geschuldet, die digitale Spielwelten uns bieten. Der Gläubige sucht oft Schutz und Orientierung in einem, nämlich dann, wenn seine Hilflosigkeit Orientierungslosigkeit ist. Dieses Gefühl entsteht, weil es uns unmöglich ist, die komplexen Kontexte unserer (Um-)Welt in ihrer Vollkommenheit zu

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begreifen. Digitale Spiele reduzieren diese Komplexität auf einen Antagonismus, in dem die Rollen klar verteilt sind und es dem Spieler dadurch leicht möglich wird, zum Erlöser und Retter zu werden. Das Wechseln der Rollen ist dabei keine Flucht vor dem Realen ins Virtuelle, wie zuweilen unterstellt wird; es ist das Ausüben von Rollen (wie Nersinger betont), die uns in unserem alltäglichen Leben verwehrt bleiben. Neue Rollen auszuprobieren, kann nicht nur ein Spiel mit Masken28 sein, es kann auch zur Selbstfindung des Individuums durch Alteritätserfahrungen werden, die in dieser Form und in diesem Umfang nur digitale Spiele bereitstellen. Digitale Spiele können in diesem Sinne religiöse Erfahrungen anbieten oder zumindest simulieren. Spielen als religiöse Erfahrung durch Performanz in digitalen Spielen wird erst durch die enge Verbindung zwischen Spiel (als Kulturtechnik allgemein) und Religion möglich. Nicht umsonst ist das Spiel ein interessantes Paradigma für Religionswissenschaft und Ethnologie anstelle der Religion, da beide Phänomene erstens viele Gemeinsamkeiten haben bzw. Religion häufig spielerische Elemente integriert und da das Spiel zweitens emotional wie kulturell weniger verfänglich und kontaminiert ist. Beispielsweise kommen in vielen Religionen Spiele zum Tragen, deren Ausgang auf Zufall und Schicksalhaftigkeit basieren.29 Die Verbindung zwischen Spiel und Religion zu verfolgen, muss an dieser Stelle aus Platzgründen leider unterbleiben, auch wenn ihre Untersuchung überaus lohnenswert ist. Dies betrifft vor allem das Zusammenspiel von Spiel und Religion in MMORPG wie World of Warcraft, die durch religiöse und mythische Anleihen das Spiel an sich erst entstehen lassen, die zusätzlich aber auch ein Spannungsfeld zwischen religiös-mythischen Bezügen einerseits und ›religiöser‹ Gruppenerfahrung in Form des ritualisierten Spielens andererseits erzeugen.

Historische und Patchwork-Religionen Die zweite Tendenz, die ich ausführen möchte, ist die Dominanz der PatchworkReligionen in religionsnahen Genres, in denen historische Religionen von untergeordneter Relevanz sind. Häufiger findet man sie hingegen in den religionsfernen und vor allem in den religionsoffenen Genres. Es stellt sich nun die Frage, warum historische Religionen in religionsoffenen Strategiespielen oder Aufbausimulationen vorkommen, aber kaum noch in den religionsnahen digi28 Roger Caillois bezeichnet das Spiel mit Masken als »mimicry«. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Stuttgart 1960, 19. 29 Diese Spiele nennt Caillois »alea«-Spiele. Vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen (Anm. 28), 19.

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talen Spielen, die doch eine stärkere Verbindung zur Religion erkennen lassen. Der Grund hierfür könnte in der größeren Freiheit liegen, die man als Anhänger einer Patchwork-Religion genießt. Als solche wird eine Religion bezeichnet, welche durch die Kombination aus Elementen mehrerer anderer Religionen individuell erzeugt wird. Da diese Zusammenstellung hochgradig subjektiv geschieht, weisen Patchwork-Religionen in der Regel keine großen Anhängerschaften auf, sondern werden eher von kleinen Gruppen praktiziert, wenn sie nicht gar Privatreligionen sind. Ihnen fehlt somit ein wichtiger Faktor, über den die meisten Religionen verfügen – Institutionalisierung. Historische Religionen tendieren im Laufe ihrer Verfestigung dazu, sich institutionell zu manifestieren, indem sie Hierarchien ausbilden, Amtsträger einsetzen, eine Administration aufbauen, feste Orte des Glaubens abstecken, Werte definieren und Dogmen ausbilden. Solche Entwicklungen geben historischen Religionen zwar eine feste Form, sie binden das Glauben suchende Individuum aber zu ihren Konditionen ein. In Patchwork-Religionen ist dies anders: Hier baut sich der Gläubige seine eigene Religion, indem er all das zu seiner Religion zusammenfügt, was seine religiöse Erfahrung ermöglicht oder verstärkt. Kurz gesagt: Er konstruiert seine eigene Religion zu seinen Bedingungen. In Patchwork-Religionen befreit sich der Gläubige von den kodifizierten Vorschriften, indem er eine Religion ausübt, die keine Pflichten, sondern nur Vergnügen kennt. Durch die Zunahme der Individualisierung unserer Gesellschaft ist eine steigende Orientierung zu personalisierten Religionen für viele Menschen nur konsequent und sinnführend; vor allem vor der Hintergrundfolie der Konsumgesellschaft. Überträgt man dies auf digitale Spiele, so wird eine Differenz zwischen den religionsnahen auf der einen und den religionsoffenen wie religionsfernen digitalen Spielen auf der anderen Seite deutlich, wenn man betrachtet, mit welcher Intention Religion in den betreffenden Kategorien funktionalisiert wird. In religionsoffenen digitalen Spielen dienen Religion und Mythologie schlichtweg als Kulisse, wohingegen religionsnahe digitale Spiele religiöse Erfahrungen anbieten bzw. simulieren wollen. Bernd Abesser betont richtigerweise, dass Strategiespiele, auf die er sich vor allem konzentriert, sehr oft das Christentum oder antike Religionen aufrufen.30 Hierbei wird Religion jedoch nicht als Symbiose aus ihren Inhalten und Funktionen dargestellt. Die inhaltlichen Aspekte wie Motive, Figuren und Themen unterstützen ein Setting, das den Spieler interessieren soll. Für die Verwendung von Mythen in religionsoffenen digitalen Spielen betrachten wir exemplarisch Age of Mythology (Ensemble Studios 2002). Dieses Spiel ist durchwoben von antiken Mythen aus der griechischen, der ägyptischen und der nordischen Kultur. Es gibt ein breites Götterpantheon, Tempel, mythische Fabelwesen und Zauber. Letztlich handelt 30 Abesser : Wer erlöst die Welt? (Anm. 12), 80f.

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es sich dabei aber nicht um mehr als um verkappte religiöse Anspielungen, die dazu dienen sollen, ein religions- und mythenaffines Publikum zum Kauf zu bewegen. Anstelle der Götter kann man Feldherren oder (weltliche) Herrscher setzen, an die Stelle der Tempel Waffenfabriken oder Schmieden, an die Stelle der Fabelwesen Panzer und an die Stelle der Zauber Atombomben. Strategiespiele und Aufbausimulationen wie Command & Conquer oder Age of Empires (Ensemble Studios 1997) belegen dies. Die religiös-mythischen Inhalte treten hier lediglich als Funktionsträger im Spiel auf, deren Position aber prinzipiell auch von zahlreichen profanen Figuren, Gebäuden oder Gegenständen übernommen werden kann. Sicherlich unterscheiden sich historische Religionen und Mythen dadurch, dass Letztere nicht mehr praktiziert werden, wodurch wir sie heutzutage nicht mehr als ›lebendige‹ Religionen betrachten, sondern nur noch als Fundus interessanter Geschichten und Kreaturen. Mythen sind Religionen, die ihre funktionalistische Dimension verloren haben. Aber wie sieht das dann bei gegenwärtig praktizierten historischen Religionen wie dem Christentum aus? Können sich diese nicht der Verwendung in Strategiespielen als Motivgeber entziehen? Die Antwort ist: nein. Christliche Gebäude wie Kirchen und Kathedralen und christliche Würdenträger haben in Simulationen wie der Anno-Reihe (Max Design/Related Designs 1998ff.) eine gewisse Bedeutung, dabei darf man diese aber nicht überbewerten. Denn an und für sich erfüllen beide keine Funktion im religiösen Sinne. Corliss ist der Ansicht, dass Religion in digitale Spiele Eingang findet, weil sie zur Lebenswelt dazugehört.31 Ob diese Einschätzung auf die Gesamtgesellschaft zutrifft, ist Gegenstand der Debatten zwischen Säkularisierungstheoretikern wie ihren Gegnern. Fakt ist aber, dass diese Beurteilung auf digitale Spiele zutrifft, aber nicht, weil Religion zu unserer gegenwärtigen Lebenswelt gehört, sondern weil sie zur Spielwelt gehört. In den letzten Jahrzehnten sind sehr viele digitale Spiele beliebt und erfolgreich gewesen, die in antiken, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Spielwelten angesiedelt waren und im Mittelalter sowie in der Frühen Neuzeit genoss das Christentum in Europa eine zentrale politische und soziokulturelle Stellung, sodass es nicht wegzudenken war. Dementsprechend kann das Entwicklerstudio es auch nicht aussparen, wenn es beabsichtigt, eine ›authentische‹ bzw. historische Faktizität suggerierende Spielwelt zu kreieren. Das Vorhandensein der Religion in den religionsoffenen digitalen Spielgenres sagt also weniger über unser gegenwärtiges Interesse an Religion aus als über unser aktuelles Interesse an historischen Welten (aus denen man die Religion nicht wegdenken kann). Zudem wirken die meisten Implementationen religiöser Elemente in religionsoffene digitale Spiele häufig sehr wenig motiviert und sind mit einem ge31 Corliss: Gaming with God (Anm. 4), 11.

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ringen designerischen Aufwand verbunden. Dies ist in den Patchwork-Religionen in religionsnahen digitalen Spielen anders. Hier gibt es zwar auch unzählige mythologische wie populärkulturelle Vorlagen, die adaptiert werden können, aber dennoch in ihrer Form kombiniert werden müssen, um eine interne Kohärenz aufzuweisen. Nehmen wir als Exempel die Patchwork-Religion aus The Elder Scrolls IV: Oblivion. Die Patchwork-Religion bzw. -Religionen in diesem digitalen Spiel – denn wenn man es genau nimmt, haben wir es bei den Daedra-Kulten ebenso mit Religionen zu tun wie bei der polytheistischen Religion Cyrodiils, die neun Gottheiten beinhaltet – gehören, mit Blick auf die Gottesvorstellung, dem universalistischen Religionstyp an, da zwar eine Mehrzahl an Göttern existiert, viele Gottheiten aber gegenüber ein oder zwei Gottheiten dieser Religion nur eine sehr untergeordnete Bedeutung haben. Für den Spieler hat dies den Vorteil, dass es zum einen zahlreiche Gottheiten gibt und er diese Religion somit als polytheistisch wahrnehmen kann, dass er zum anderen die entworfene Religion jedoch auch monotheistisch interpretieren kann, indem er das Machtgefälle zwischen den Gottheiten wahrnimmt und die Religion im Hinblick auf einen bestimmten Gott betrachtet. In Bezug auf den Daedra-Kult wäre diese Hauptgottheit Mehrunes Dagon, mit Hinblick auf Cyrodiils Religion Akatosh. Bedenkt man, dass beide im finalen Kampf miteinander ringen, dann zeigt sich hier einerseits ein Religionskrieg als Konflikt zwischen zwei Hauptgottheiten und andererseits lässt sich die Auseinandersetzung zwischen dem personifizierten (dämonischen) ›Bösen‹ und dem manifesten (göttlichen) ›Guten‹ verstehen, die (vor allem in den Augen des in christlich bestimmten Kulturen sozialisierten Zielpublikums) als Kampf zwischen Teufel und Gott verstanden werden kann, was ein verstecktes Christentum durchschimmern lässt. Durch diese offene Konzeption der Patchwork-Religion in The Elder Scrolls IV: Oblivion als monotheistisch wie polytheistisch wird dem Spieler viel Freiraum, z. B. für eigene Lesarten, geboten. Konsequent wird das Prinzip der Freiheit des Spielers bei der Interpretation der Patchwork-Religion auch durchgehalten, da die institutionelle Struktur der Religionen zwar angedeutet, aber nicht unmittelbar erkennbar wird. Selbiges gilt für die Rituale, die in ihrer Erscheinung und Verbindung ebenso schemenhaft bleiben wie die fragmentarischen kodifizierten Glaubensschriften der Religionen, die der Spieler im Spielverlauf finden kann. Hierdurch sind Dogmen an sich nicht relevant und es gibt auch keine Dogmatik, die moralische Wertvorstellungen bestimmt. Im Vergleich zu historischen Religionen, die durch ihre faktuale Existenz in die Fiktionalität des Spiels ausgreifen, beschränken sich Patchwork-Religionen in digitalen Spielen auf die jeweilige Spielwelt und müssen sich kaum an spielexternen Phänomenen messen lassen, und wenn doch, dann zeigen sich große Freiheiten, da die Referenzkontexte (historische Religionen, Mythen, Fantasy-Vorlagen etc.) sehr umfangreich sind. Patchwork-Re-

Religion in digitalen Spielen – Eine Frage des Genres

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ligionen bieten sich somit für die religionsnahen digitalen Spiele an, wenn sie Religion erfahrbar machen wollen, da sie sich einem konkreten religiösen Erlebnis entziehen. Stattdessen simulieren sie Aspekte religiöser Erfahrung, indem sie den Spieler in Erlösungsgeschichten mit Patchwork-Religionen voller Leerstellen situieren. Dabei fungieren die Patchwork-Religionen auch als koordinierende Elemente bei der Konstitution eines religionsnahen digitalen Spiels, indem sie die fundamentalen Elemente dieser Spiele wie Plot, Figurenpersonal und Spielwelt mit performativen Angeboten verbinden. Im Sinne einer synkretistischen Patchwork-Religion bietet sich ein mythischer Plot an, der sich in seiner basalen Erzählstruktur in sehr vielen Religionen finden lässt, um den Konflikt zwischen göttlichen und dämonischen Kräften für den Spieler zugänglicher zu machen. Unterstützt wird dies durch ein Figurenpersonal, dessen mythischreligiöse Ursprünge deutlich, dessen Figurenzeichnungen aber offen für spielerische Lesarten sind. Nicht zuletzt plausibilisiert eine ›Mischreligion‹ auch die ›Mischwelten‹, in denen diese Spiele angesiedelt sind, und erlaubt eine Mehrfachcodierung, die eine ›religiöse‹ Spielart suggeriert, aber nicht aufoktroyiert. Die performative Dimension wird dem Spieler nicht bloß eröffnet, sondern auch seiner eigenen konfigurativen Gewalt überlassen. Religionsnahe digitale Spiele mit Patchwork-Religionen haben freilich wenig mit der konkreten Gestalt historischer Religionen zu tun, dennoch verhandeln sie Themen, die zutiefst religiös sind (wie Verlust und Trauer) und die dem Spieler vielleicht eine Auseinandersetzung mit diesen eröffnen, die sich ihm durch historische Religionen zunehmend verschließt. Patchwork-Religionen sind in diesem Zusammenhang dann mehr als immersive Optionen einfacher Substitutsreligionen – sie sind religiöse Erfahrungsangebote.

Fazit und Ausblick Der vorliegende Aufsatz schlägt eine typologische Dreiteilung digitaler Spielgenres anhand ihrer Religionsaffinität vor. Diese bietet sich an, um digitale Spielgenres wie einzelne digitale Spiele kategorisieren zu können. Hierdurch wird eine klarere Zuordnung möglich, wie auch signifikante Eigenschaften von religiösen Bezugnahmen in digitalen Spielen erkennbar werden. Die Religionsaffinität hängt demnach von zwei Faktoren ab – der Offenheit des Gameplays für Religion wie religiöse Interpretationen und dem Vorhandensein einer religiös-mythischen Erzählstruktur. Beide Elemente vereint sind charakteristisch für religionsnahe digitale Spiele und in den anderen beiden Kategorien in der Regel nur getrennt voneinander vorzufinden. Mit Blick auf die besonders interessanten religionsnahen Genres sind zwei Tendenzen derselben ausführlicher

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beleuchtet worden – die Religion als konstitutives Element digitaler Spielwelten und die Dominanz von Patchwork-Religionen in religionsnahen digitalen Spielen. Religionsnahe digitale Spiele werden durch religiöse und mythische Bezugnahmen geschaffen, die ihren Niederschlag im Plot, dem Figurenpersonal, der Gestaltung der Spielwelt und den performativen Handlungsangeboten finden. Leitendes Designprinzip ist hierbei die Konfiguration eines Spiels, das dem Spieler Optionen anbietet, aber nicht aufdrängt. Dies wird umso bedeutender, wenn man bedenkt, dass die meisten religionsnahen digitalen Spiele eine Gemeinsamkeit aufweisen, die hier nicht weiter ausgeführt wurde – es sind zumeist Spiele, die dem Open-World-Prinzip folgen, d. h. die Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit des Spielers ist die höchste Maxime und darf keineswegs eingeschränkt bzw. nicht merklich limitiert werden. Diesen Anforderungen muss auch die Religion in digitalen Spielen gerecht werden, indem sie eine gewisse Unbestimmtheit beibehält. Es ist bemerkenswert, dass Religion in digitalen Spielen aktuell eine derart immense Bedeutung hat, denn, und das sollte nicht vergessen werden, viele der religionsnahen digitalen Spielgenres sind nicht nur ökonomisch erfolgreich, sondern auch designerische Meilensteine der digitalen Spielgeschichte. Umso erstaunlicher ist es, dass man zwar ein allgemeines Interesse an Religion in digitalen Spielen wie auch in anderen (populärkulturellen) Medien konstatieren muss, dass dieser Trend aber weitestgehend an den historischen Religionen und religiösen Institutionen und Bewegungen vorbeigeht. Wenn sie vorkommen, dann als Fundus interessanter Bilder, Figuren, Geschichten und Themen. Sie spielen als substanzielle Quelle eine Rolle, aber nicht mehr in ihren eigentlichen funktionalistischen Dimensionen, und das, obwohl religionsnahe digitale Spiele wie auch eine populärkulturelle Medienkultur maßgeblich auf Erfahrung und Erleben setzen. Warum Religionen stets ein zentrales Element von Kulturen sind, aber nicht immer in ihren traditionellen Formen, sondern auch zunehmend in Form von Sekten und anderen spirituellen Ausprägungen, ist eine bedeutende Frage der Gegenwart. Vielleicht hat das abnehmende Interesse an historischen Religionen mit dem veränderten Rollenverständnis der Menschen zu tun. Der aufgeklärte Mensch, aber spätestens das konsumierende, auf Hedonismus konditionierte Subjekt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert neigt weniger zur kollektiven Unterordnung als zur individuellen Überordnung, die kollektive Interessen unter die eigenen fügt. In diesem Sinne geht der postmoderne Mensch eher nicht als Rat-, Hilfe- und Schutzsuchender in Kirchen oder Moscheen, er geht als mythischer Held in bedrohte digitale Spielwelten, die auf ihre Errettung durch einen Messias warten.

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»But try to remember, this is a work of fiction.« Zur Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed

Einleitung Die Rezeption von Computerspielen in Internetforen lässt Rückschlüsse auf antizipierte Spielende oder Adressaten der Produktion und Vermarktung solcher Spiele zu. Computerspielanalysen operieren gewöhnlich mit Spielerkonstrukten, darin den Perspektiven von »Rezeptionstheorien« nicht unähnlich, die »ausnahmslos mit Leserkonstrukten arbeiten«, also stets einen bestimmten »Lesertyp« voraussetzen.1 Spielerkonstrukte implizieren etwa Annahmen über den »Rezeptionsmodus«, der für Computerspiele kennzeichnend ist: Der Rezipient eines Buches oder Films nimmt die nachzeitige Darstellung ausgewählter Ereignisse eines Handlungsgefüges wahr : Was rezipiert wird, ist bereits geschehen und geordnet. In der virtuellen Welt des Computerspiels nimmt der Spieler aktiv an den eigentlichen Geschehnissen teil.2

Die tatsächliche Rezeption von Spielinhalten und die Diskussion über deren Bedeutung, aber auch Erwartungshaltungen und Selbstverständnisse von Spielenden lassen sich beispielsweise anhand von Internetforen untersuchen, in welchen sich Nutzer austauschen und Aspekte verschiedener Spiele verhandeln.3 1 Ralf Schneider : Making Sense. Ziele, Möglichkeiten und Grenzen einer kognitiven Rezeptionstheorie. In: Gabriela Brahier u. Dirk Johannsen (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Würzburg 2013, 37–53, hier 38 (Hervorhebung im Original) und 45. 2 Hans-Joachim Backe: ›Entertainology‹? Das Computerspiel als Herausforderung für die Erzählforschung. In: Achim Hölter (Hg.): Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Heidelberg 2011, 273–280, hier 275. 3 Vgl. etwa Shanny Luft: Hardcore Christian Gamers: How Religion Shapes Evangelical Play. In: Heidi A. Campbell u. Gregory Price Grieve (Hg.): Playing with Religion in Digital Games. Bloomington 2014, 154–169, insb. 166. Siehe auch Simone Heidbrink, Tobias Knoll u. Jan Wysocki: Theorizing Religion in Digital Games. Perspectives and Approaches. In: Online – Heidelberg Journal for Religions on the Internet 5 (2014), 5–50, hier 17. Online unter : http:// journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/religions/article/view/12156/5992 (16. 06. 2014).

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»Rezeptionseffekte« und »Wirkungspotenziale«4 eines Computerspiels können aber auch im Blick auf ein Spiel selbst analysiert werden, da sie eng damit zusammenhängen, was im Folgenden als Merkmale eines bestimmten Verfahrens der Fiktionalisierung beschrieben wird. Computerspiele strukturieren immer auch eine bestimmte Ordnung der Rezeption bzw. transportieren bestimmte Rezeptions-»Angebote«,5 die sich u. a. anhand des konkreten Rezeptionsgeschehens verfolgen lassen. Dieser Konnex von Rezeptionsstrukturierung und Spielverhandlung wird im vorliegenden Aufsatz exemplarisch anhand des Spiels Assassin’s Creed in den Blick genommen, wobei dessen Verweise auf Religion sowie dessen diesbezügliche Rezeption in Internetforen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Drei Einträge in Internetforen, die sich mit dem Thema Religion im Kontext der Spielreihe Assassin’s Creed befassen, seien hier als erster Einstieg in die Thematik genannt. »I really dont like what i saw in AC 2, sometimes it looks like a game made by angry atheists. […] even with nice graphic and long gameplay i will not touch anymore AC games after how you offended my religion.«6 Dagegen liest sich in einem älteren Blog: »I’d much prefer an Assassin’s Creed with much heavier religious reference.«7 In einer Reaktion auf diesen Eintrag wurde Religion als ein außerordentlich kontroverses Thema identifiziert: »Well, the more religion you include, the greater the chance of controversy. which raises the possibility of the game being cancelled […] but i do like your idea […], I’m actually a christian pastor..i love the game«.8 Auch im Kontext anderer Einträge in Internetforen legen diese unterschiedlichen Einschätzungen den nicht weiter überraschenden Schluss nahe, dass unter Spielenden weitgehend umstritten ist, welche Bedeutung Religion im Spiel Assassin’s Creed zukommt.9 4 Schneider: Making Sense (Anm. 1), 38. 5 Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 22006, 28, Anm. 58 (Hervorhebung im Original). 6 Nutzer »GROMx87« am 28.04. 2013. Online unter: http://forums.ubi.com/showthread.php/ 767436-assassins-creed-2-heresy-and-offense-toward-Christian-religion-Forums (16. 06. 2014). Die Schreibweise folgt bei Zitaten aus Internetforen den jeweils zitierten Originaleinträgen. 7 Nutzer »TJByrum2« am 13. 06. 2010. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread.php/ 224769-Religion-in-Assassin-s-Creed-Forums ?s=0bd982 f2b8a27b732e0532b7d57ad8ce (16. 06. 2014). 8 Nutzer »Altaezio« am 13. 06. 2010. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread.php/ 224769-Religion-in-Assassin-s-Creed-Forums ?s=0bd982 f2b8a27b732e0532b7d57ad8ce (16. 07. 2014). 9 Für weitere Beispiele siehe Vander I. Corliss: Gaming with God: A Case for the Study of Religion in Video Games. Senior Theses, Trinity College, Hartford, CT 2011. Online unter : http ://digitalrepository.trincoll.edu/cgi/viewcontent.cgi ?article=1005& context=theses (25. 06. 2014). Die Kenntnis dieser Arbeit verdankt sich der Lektüre von Heidi A. Campbell u. Gregory Price Grieve: What Playing with Religion Offers Digital Game Studies. In: dies. (Hg.): Playing with Religion in Digital Games. Bloomington 2014, 1–21, der Verweis ebd., 7.

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Methodische Vorüberlegungen Carl Heinze hat in seinem Buch Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel in Anlehnung an Valentin Groebner im Blick auf das Spiel Assassin’s Creed davon gesprochen, dass »[d]ie Religion […] für die Handlung keinerlei Bedeutung« habe. Dem Spiel sei eine »Aussparung des Religiösen« eigen, welcher jedoch keine »Leerstellen« entsprechen, »die man je nach Bekenntnis füllen könnte«. Stattdessen spricht Heinze von »tatsächlichen Auslassungen«, von »einer vollständigen Negation eines religiös geprägten und organisierten Mittelalters«, dessen »(Nicht-)Thematisierung« als »Säkularisierung des Mittelalters« im Medium Computerspiel bezeichnet wird.10 Aus Sicht der Rezeptionsebene betrachtet greifen diese Überlegungen zu kurz, da sie die Dimension der Identifikation von Spielenden mit Spielfiguren und Spielinhalten und die kulturellen Kontexte solcher Interpretationen und Aneignungen11 nicht berücksichtigen. Als weiteres Problem stellt sich die Frage, inwieweit der Begriff der »Handlung« hilfreich ist, wenn Merkmale der Fiktionalisierung von Religion in Computerspielen untersucht werden. In Anlehnung an V†t Sˇisler soll stattdessen vielmehr die Verflechtung dreier Aspekte als konzeptioneller Orientierungspunkt einer Computerspielanalyse und deren methodischer Umsetzung dienen: audiovisuelle Merkmale, narrative Struktur und Gameplay.12 Die Interaktion des Spielens, das im Gameplay nicht aufgeht, umfasst aber auch die Dimension der Wirkung des Spiels auf die Spielenden, welche über die Ebene der Rezeption, dann aber auch über das Spiel selbst zugänglich ist. Um den Zusammenhang von Diskursen über das Spiel und spielinterner Rezeptionsstrukturierung näher beschreiben zu können, lässt sich methodisch ein doppelter Ansatz verfolgen. Einerseits kommt dazu ein sogenannter »›gameimmanent‹ approach« zum Tragen, andererseits ein sogenannter »›actor-

10 Carl Heinze: Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel. Bielefeld 2012, 170f. (Hervorhebung im Original). Vgl. Valentin Groebner : Willkommen in der Zeitmaschine. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 2008/11: Vorwärts ins Mittelalter. Computerspiele und neue Kreuzzüge auf der Spur der alten Ritter, 16–20, hier 19. 11 V†t Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam: New Media and the Communication of Values. In: Johanna Pink (Hg.): Muslim Societies in the Age of Mass Consumption: Politics, Culture and Identity between the Local and the Global. Newcastle 2009, 241–269, hier 261. 12 Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam (Anm. 11), 245: »Unlike film or other audiovisual media, video games are interactive, which implies that any content analysis has to cover three intertwined levels: audiovisual features, narrative structure, and game play, which is the rule system governing a player’s interaction with the game.«

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centered‹ approach«.13 Damit sind zwei Ebenen benannt, welche die Fragehorizonte der folgenden Analysen näher bestimmen. Zum einen wird es darum gehen, wie Religion in Assassin’s Creed fiktionalisiert wird, genauer, wie im Zeichengefüge des Spiels Verweise auf Religion integriert sind und welche selektiven Verfahren dieser Integration zugrunde liegen. Zum anderen wird das Rezeptionsgeschehen, wie es sich etwa in Internetforen niederschlägt, vor dem Hintergrund eines weiten Spielbegriffs in die Untersuchung mit einbezogen. Religion ist dabei zuallererst in diskursiver Hinsicht von Interesse.14 Als Material der folgenden Untersuchung dienen neben dem Spiel selbst Auszüge aus Internetforen, Interviewmaterial, in dem der Game Design Director von Assassin’s Creed zu Wort kommt, sowie vereinzelt sogenannte »Let’s Plays«.15 Letztere sind für die Möglichkeit eines schnellen Einblicks in das untersuchte Material für LeserInnen von Bedeutung, denen das Spiel selbst nicht unmittelbar zugänglich ist, dann aber auch hinsichtlich der Kommentare von Spielenden, die sich in eine Analyse der Rezeptionsebene von Computerspielen mit einbeziehen lassen.

Analysen »I agree […] that AC is very biased against Christian faith compared to other faiths. No denying that (despite what the disclaimer says). But try to remember, this is a work of fiction.«16 In den Foren auf den Internetseiten des Spielentwicklers Ubisoft weisen die Debatten über den thematischen Zusammenhang von Assassin’s Creed und Religion unterschiedliche Rezeptionsaspekte auf. Sie umfassen beispielsweise Einschätzungen zur Repräsentation von Religion im Kontext bestimmter Spielinhalte, die in Bezug auf das eigene, bekenntnishaft vorgetragene religiöse Selbstverständnis zur Diskussion gestellt werden: »I’m an atheist […]. You can say that AC straight out denies lots of statements made by different faiths, but it’s not entirely cancelling them out.«17 Bereits diese Bei13 Heidbrink, Knoll u. Wysocki: Theorizing Religion in Digital Games (Anm. 3), 41. 14 Vgl. Simone Heidbrink u. Tobias Knoll: Let’s Talk Video Games! Introduction to the Special Issue on Religion in Digital Games. In: Online – Heidelberg Journal for Religions on the Internet 5 (2014), 1–4, hier 1. Online unter : http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/ religions/article/view/12155/5990 (16. 06. 2014). 15 »Let’s Plays« sind Aufzeichnungen bzw. Dokumentationen des Spielgeschehens in Form kommentierter Videos von Spielenden, die auf Plattformen wie YouTube platziert werden. 16 Nutzer »silvermercy« am 28. 04. 2013. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread. php/767436-assassins-creed-2-heresy-and-offense-toward-Christian-religion?s=1aeab0d c77ab0ea0bf2385cff5ce36c7 (20. 06. 2014; Hervorhebung im Original). 17 Nutzer »Farlander1991« am 28. 04. 2013. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread. php/767436-assassins-creed-2-heresy-and-offense-toward-Christian-religion/page5 (20. 06. 2014).

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spiele lassen erste Rückschlüsse auf einen bestimmten Aspekt der Fiktionalisierung von Religion zu, die in Assassin’s Creed angelegt ist. Während Verweise auf Religion in Assassin’s Creed unbestreitbar eine zentrale Rolle spielen, unterliegt deren jeweilige Beschaffenheit einer spezifischen Positionierung in der Narration des Spiels, aber auch in dessen audiovisueller Gestaltung. Diese Religionspositionierung erzeugt ein »Wirkungspotenzial« (Schneider), das sich im Diskurs über das Spiel widerspiegelt, der hier von der Rezeptionsebene her gefasst als Teil der Interaktion des Spielens begriffen wird. Wie also organisiert Assassin’s Creed seine Fiktionalisierung von Religion im Blick auf einen Rezipienten, der von Produzentenseite antizipiert wird? Und wie macht das tatsächliche Rezeptionsgeschehen in Internetforen diese Fiktionalisierung sichtbar? Zu Beginn von Assassin’s Creed erscheint auf dem Bildschirm ein Disclaimer, der ein Ergebnis der Konstruktion eines antizipierten Rezipienten ist:18 »Inspiriert von historischen Ereignissen & Charakteren. Dieses fiktive Werk wurde von einem multikulturellen Team Angehöriger verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen erschaffen, entwickelt und produziert.«19 Bezugnahmen darauf finden sich in Internetforen etwa dann, wenn das Spiel gegen kritische Bewertungen verteidigt wird.20 Der Verweis auf die kulturellen und religiösen Hintergründe der Spielproduzenten wird als ein spezifisches Interesse des Spielherstellers Ubisoft eingeordnet, Diskussionen über das Spiel und dessen historische und religiöse Kontexte zu kanalisieren.21 Genese und Struktur der Fiktionalisierung von Religion, die Assassin’s Creed kennzeichnet, sind durch diesen Disclaimer legitimiert und präfiguriert. Das Spiel begründet und reflektiert durch diesen Beginn die Bedingungen der Möglichkeit seiner Spielwelt, indem der eigene Fiktionalisierungsprozess thematisiert wird. Die Rede von einem »fiktiven Werk« ist jedoch nicht nur auf der Rezeptionsebene immer wieder aufgegriffen worden. Auch auf der Ebene seiner Narration sowie seiner visuellen Gestaltung markiert das Spiel wiederholt den eigenen Fiktionalisierungsprozess. In Assassin’s Creed, einem Action/Adventure-Spiel,22 steuern die Spielenden eine Figur namens Altair, die einen Assassinen im Palästina des 12. Jahrhunderts 18 Verweise auf das Spiel und Zitate daraus beziehen sich immer auf Assassins’s Creed. Director’s Cut Edition, Ubisoft Entertainment, 2008. 19 Vgl. dazu Corliss: Gaming with God (Anm. 9), 34, und Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 170, sowie den Beitrag von Benjamin Beil: Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels, im vorliegenden Band 625–643, hier 627 mit Anm. 15. 20 Siehe den Eintrag von Nutzer »pirate1802« am 28. 04. 2013. Online unter : http://forums.ubi. com/showthread.php/767436-assassins-creed-2-heresy-and-offense-toward-Christian-reli gion/page3 (09. 07. 2014). 21 Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam (Anm. 11), 260. 22 Vgl. dazu Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 156.

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verkörpert. Das Spielziel besteht darin, neun gezielte Attentate zu verüben. Altair missachtet zu Beginn des Spiels das Credo der Assassinen, wofür er metaphorisch mit dem Tod bestraft und zum Novizen degradiert wird. Die neun Attentate dienen seiner Rehabilitation und bestehen als Spielszenarien aus einem sich wiederholenden Muster von Informationsbeschaffung, fakultativen Nebenmissionen und abschließendem Attentat. Mit fortschreitendem Erfolg deckt Altair eine Verschwörung auf und sieht sich am Ende seinem Lehrer Al Mualim gegenüberstehen. Altairs Geschichte, die während der Zeit des dritten Kreuzzugs spielt, ist Teil des genetischen Gedächtnisses von Desmond Miles, einem direkten Nachfahren Altairs aus dem 21. Jahrhundert. Der sogenannte Animus, ein futuristischer Transmitter, audiovisualisiert im Spiel die Erinnerungen Desmonds, in denen die Spielenden agieren. Assassin’s Creed konstituiert so seine Spielwelt durch eine vermittelnde Instanz, welche die Genese dieser Spielwelt im biologischen Gedächtnis einer Figur aus der Gegenwart verankert. Der Disclaimer erklärt das Spiel zu einer Fiktion mit historischen Bezügen und der Animus simuliert die Entstehung von dessen Fiktionalität.23 So verweist das Spiel intern auf die Tatsache der »›Darstellung‹« des »›Dargestellte[n]‹«.24 Verschiedene Fiktionsmarker durchziehen den Spielverlauf und verweisen Spielende des 21. Jahrhunderts immer wieder auf die Tatsache einer fiktiven Spielwelt. Dazu gehören: das wiederholte Erwachen Desmonds im Animus, Zwischensequenzen, in denen der Animus Spielenden Informationen über das Spiel vermittelt, oder kurze Einblendungen blau-weißer Molekülstrukturen in der mittelalterlichen Welt Altairs. Dennoch diskutieren Spielende im Forum Religion and assassin’s creed darüber, wie das Spiel das eigene Verständnis von Religion verändert hat,25 loten Einflussmöglichkeiten von Computerspielen auf Diskurse und die subjektive Wahrnehmung von Spielenden aus26 oder thema23 Während einer der ersten Spielmöglichkeiten in der Welt Altairs heißt es: »Desmond, versuchen Sie sich zu entspannen. […] Erkennen Sie, dass nichts was Sie sehen, real ist, nur Bilder aus der Vergangenheit, Ihnen kann nichts passieren.« Vgl. Let’s Play Assassins Creed 1 (German) #001, 1:18–2:21, hier 1:30–1:49. Online unter : www.youtube.com/watch?v= tMuBGQ8e9GA (18. 07. 2014). 24 Dieses »›Verfahren‹« kehrt folglich die Herstellung von »›Authentizität‹« um, wie sie Carl Heinze in seinem Kapitel über »Authentizitätsfiktionen« skizziert hat: »Eine Darstellung gilt als authentisch, wenn ›das Dargestellte durch die Darstellung als nicht Dargestelltes präsentiert‹ wird.« Siehe Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 174–183, hier 179. 25 Nutzer »lothario-da-be« am 08. 09. 2012: »assassin’s creed made me thinking about a lot and i realised that faith (in my eyes!) is one big Illusion. […] Did it changed anything for you?« Online unter : http://forums.ubi.com/showthread.php/713111-Religion-and-assassin-screed-Forums (09. 07. 2014). 26 Nutzer »RatonhnhakeFan« am 08. 09. 2012: »Games are art that can inspire, just as books/ movies have been for decades and centuries«. Oder Nutzer »Assassin_M« am 08. 09. 2012: »Assassins Creed […] has taught me to ask more questions, of my superiors, of my Creed, of My God, It made me try and find connections between Science and Religion, […] I see no

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tisieren die Einflussgrenzen der Spielwelt auf die Welt der Spieler.27 Die Fiktionsmarker führen also keineswegs dazu, dass im Diskurs über das Spiel Bezüge zwischen der Spielwelt und der Welt der Spielenden nicht hergestellt werden. Das Spiel selbst macht diese vielschichtigen und kontroversen Diskussionen durch ein Verfahren erklärbar, das der Markierung von Fiktionalität geradezu entgegenläuft und Aufschluss über das Verhältnis von spielinternen Repräsentationen und spielexternen Diskursen gibt. Mit dem dritten Kreuzzug und den Figuren Saladin und Richard Löwenherz greift Assassin’s Creed einen in der Unterhaltungsindustrie überaus beliebten mittelalterlichen Konflikt auf,28 der mit dem »populären (Geschichts-)Diskurs« der »Verquickung von Templerorden mit Verschwörungstheorie und Geheimbündlerei« verbunden wird.29 Die verwendeten Eigennamen (Löwenherz, Saladin, Assassinen) transportieren dadurch bestimmte narrative und audiovisuelle Konventionen. Das Design der Spielwelt gleicht dem Prinzip literarischer »Beschreibung« oder dem Kulissenbau im Theater, sie ist, in Anlehnung an Roland Barthes gesprochen, von »keine[r] Zweckmäßigkeit des Handelns oder Kommunizierens begründet«.30 Diesbezüglich gibt es in bisherigen Untersuchungen zu Assassin’s Creed einen Konsens,31 der insofern problematisch ist, als er das Gameplay mit dem Spielen selbst gleichsetzt: »Einfluss auf das Spielen selbst«, so Carl Heinze, »haben die Gestaltungen, die im Modus der Kulissenauthentizität auftreten, aber nicht«.32 Dazu passt auch eine weitere Einschätzung: »While the religious content is omnipresent and essential for the design of plot and setting, the game mechanics and missions of the game character could easily be transferred into other milieus.«33 Hemminger, MacCallum-Stewart und Heinze

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wrong in being influenced by a game«. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread. php/713111-Religion-and-assassin-s-creed/page2 (Zugriff: 16. 07. 2014). Nutzer »WolfTemplar94« am 08. 09. 2012: »just because events transpired a certain way in the games, it doesn’t mean that’s how it is in real life. I hate to be the ›It’s just a game‹ guy, but it really is. It’s a work of fiction.« Online unter : http://forums.ubi.com/showthread.php/713 111-Religion-and-assassin-s-creed/page3?s=53dcfaf9ef1b485061aecbe49a63fd79 (16. 07. 2014). Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 158–160. Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 162. Roland Barthes: Der Real(itäts)effekt. Übersetzt aus dem Französischen von Konrad Honsel, durchgesehen von Michaela Ott. Frz. Original in: Litt¦rature et r¦alit¦, Paris 1982, 81–90, »L’effet de r¦el«, ursprünglich veröffentlicht in Communications 11 (1968). Online unter : www.nachdemfilm.de/content/der-realit%C3%A4tseffekt (09. 07. 2014), hier Abschnitt 4. Vgl. Groebner : Willkommen in der Zeitmaschine (Anm. 10), 19; vgl. auch Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 170f. Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 182. Elke Hemminger : Game Cultures as Sub-Creations. Case Studies on Religion & Digital Play. In: Online – Heidelberg Journal for Religions on the Internet 5 (2014), 108–133, hier 115. Online unter : http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/religions/article/view/12161/ 5996 (16. 07. 2014). Vgl. auch Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 173: »Die

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thematisieren Spielwelt und Spielmechanik folglich als unterschiedliche Ebenen des Spiels, verlieren damit aber deren elementare Verbindung im Vorgang des Spielens aus den Augen. Die Detailfülle der Spielwelt in Assassin’s Creed zeigt sich beispielsweise in der minutiösen Nachbildung von historischen Gebäuden wie etwa der Grabeskirche, dem Felsendom oder der Umayyaden-Moschee, dem akribischen und individuellen Design der Städte Jerusalem, Akkon und Damaskus oder der Landschaften außerhalb dieser Städte.34 Mit Roland Barthes lässt sich im Hinblick auf diese vermeintlich »›nutzlosen Details‹« in Übertragung auf das Spieldesign weiter fragen: »Ist alles in der Erzählung signifikant oder, wenn dem nicht so ist und insignifikante Gefilde im narrativen Syntagma verbleiben, worin besteht dann letztlich die Signifikation dieser Insignifikanz (oder die Bedeutung dieser Unbedeutendheit)?«35 Wie bereits angedeutet, gilt auch für das Design der Spielwelt »der Formzwang der beschreibenden Gattung«, »[e]s sind die Gattungsregeln des Diskurses, die hier maß- und gesetzgebend sind«.36 Dem entspricht für das Spielweltdesign eine Grafik, die eine möglichst hohe Detailfülle mit sich bringt.37 Details der Spielwelt wie Tempel, Moscheen und Kirchen allgemein, der Felsendom, die Grabeskirche oder die Umayyaden-Moschee speziell, bezeichnen dann nach Barthes »die Kategorie des ›Realen‹ (und nicht seine kontingenten Inhalte)«.38 Die genannten Zeichen sind so als »bloße Referenten« zu verstehen, die als »›Real(itäts)effekt[e]‹« auf Realität verweisen und »nichts anderes [sagen] als eben dies: ›wir sind das Reale‹«.39 Ähnlich wie in den literarischen Bewegungen des Realismus ist »Realität« ein zentrales Thema im Diskurs um Computerspiele: »Realitätsnah« (»realistic«) und »›authentisch‹« zu sein, ist eine Eigenschaft, die Produzenten anpreisen und Rezipienten loben.40

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Formel, in der MacCallum-Stewart und Parsler die spielerische Herausforderung der Call of Duty-Reihe zusammenfassen, gilt […] im Grunde auch für Assassin’s Creed: ›The central tenet of the Call of Duty-Series is not to produce a historically accurate depiction of the Second World War. Instead, it is to present a visually exciting, fast-paced shooter game in which the player kills many bad guys to get to the next level.‹« Vgl. Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 176. Barthes: Der Real(itäts)effekt (Anm. 30), Abschnitt 4. Barthes: Der Real(itäts)effekt (Anm. 30), Abschnitt 5. Eindrucksvoll sichtbar wird dies bei einem kurzen Vergleich der Trailer von Assassin’s Creed – Online unter : www.youtube.com/watch?v=5UM_fufj8f0& feature=kp (09. 07. 2014) – und der neusten Folge Assassin’s Creed Unity – Online unter : www.youtube.com/watch?v= xzCEdSKMkdU (09. 07. 2014). Barthes: Der Real(itäts)effekt (Anm. 30), Abschnitt 14. Barthes: Der Real(itäts)effekt (Anm. 30), Abschnitt 14. Dies belegt für die Spielproduktion ein Interview mit Maxime B¦land, Game Design Director von Assassin’s Creed, der in dem rund 10-minütigen Gespräch wiederholt »realistic« als Haupteigenschaft bezogen auf ganz unterschiedliche Facetten des Spiels betont. Online unter : www.youtube.com/watch?v=in-eIJHiNaE (09. 07. 2014). Vgl. für die Rezeptionsebene

Zur Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed

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Diese postulathaften Begriffe attestieren einem so Bezeichneten eine spezifische Qualität, der im Diskurs über Assassin’s Creed unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden. Während »realistic« bezogen auf die Spielmechanik vor allem die innovativen, an die Sportart Parkour erinnernden Bewegungsmöglichkeiten oder filmische Momente in den Kampfszenarien meint, in welchen die Spielfigur bestehen muss, bezeichnet »realistic« bezogen auf die Spielwelt die Qualität audio-visueller Referenzen auf Geschichte und damit auch auf Religion. Die »kulturellen Regeln der Darstellung«41 historischer Welten in Computerspielen beinhalten folglich ein Postulat von Wirklichkeitsnachbildung (Mimesis) für die visuelle Gestaltung der Spielwelt,42 aber auch für die Struktur der Narration und die Aktionsmöglichkeiten der Spielenden. Fiktionsmarkierung, »Real(itäts)effekt« (Barthes) und mimetische Postulate sind zentrale Merkmale eines Verfahrens der Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed. Während für das »realitätsnahe« Design der mittelalterlichen Spielwelt Verweise auf Religion in Form von Eigennamen, Gegenständen, Gebäuden und Konfliktstrukturen eine wesentliche Rolle spielen, ist Religion als spielerisches Mittel für das Erreichen des primären Spielziels, etwa in Form von Religionszugehörigkeit der Spielfigur oder bestimmten Aktionen, nicht von Bedeutung. Als Interaktion umfasst das Spielen jedoch immer auch die Wahrnehmung der gespielten Welt und deren Wirkung auf die Welt der Spielenden,43 die sich auf der Rezeptionsebene beispielsweise in Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Assassin’s Creed niederschlagen. Gerade weil Spielende die Spielwelt nicht verändern können, strukturieren die dort positionierten Verweise auf Religion die Diskussion der Spielenden auf eine besondere Weise. Die gegenläufigen Bewegungen von Fiktionsmarkierung, Realitätseffekt und mimetischen Postulaten führen dazu, dass sich Fragen nach den Bedeutungsmöglichkeiten dieser Verweise auf Religion ergeben. Assassin’s Creed entzieht sich auf der Rezeptionsebene aufgrund seines vieldeutigen Zeichengefüges einer eindeutigen Bewertbarkeit der Fiktionalisierung von Religion im Spiel. Kritik von Rezipienten an der spielinternen Thematisierung von Religion wird in Internetforen regelmäßig durch Argumente entkräftet, die auf einer alternativen Auslegung der Zeichen des Spiels beruhen. Dass Religion auf der Ebene des Gameplays als spielerisches Mittel die primären Spielaktionen in Assassin’s etwa Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 181, oder Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam (Anm. 11), 261. 41 Barthes: Der Real(itäts)effekt (Anm. 30), Abschnitt 8. 42 Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 183, spricht vom »mimetischen Potenzial des Computerspiels.« 43 Vgl. Luft: Hardcore Christian Gamers (Anm. 3), 166: »›Games are not played or experienced in a vacuum, but are contingent upon other relations and other gaming experiences, which frame and produce the practice and meaning of gaming.‹«

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Creed modifiziert, wäre mit dem Genre des Action/Adventure-Spiels durchaus vereinbar gewesen. Die Entscheidung, darauf zu verzichten, verlangt nach einer Erklärung, die aus Sicht der Produzenten wohl darauf abzielt, den Umsatz des Spiels zu befördern.44 Diese Exklusion von Religion aus der Spielmechanik und das bedeutungsoffene Zeichengefüge gründen auf einer durch die Spielherstellung antizipierten Reaktion von Spielenden und sollen offensichtlich negative Bewertungen des Spiels durch potenzielle Konsumenten verhindern, deren kulturelle und religiöse Hintergründe damit implizit angesprochen sind. Auch die Verweisstruktur des Zeichengefüges von Assassin’s Creed unterliegt einem bestimmten Verfahren der Fiktionalisierung, das aus einer Dekontextualisierung von Verweisen besteht, über die Religion im Spiel thematisiert wird. Auf der Rezeptionsebene spiegelt sich ein Ergebnis dieses Verfahrens in Diskussionen über die Religion der Spielfigur Altair und die Religion der Assassinen-Bruderschaft wider.45 Während weitgehend Einigkeit über Altairs Elternhaus herrscht, obwohl das Spiel selbst hierzu keine Informationen gibt, bleibt die Frage nach der Religion der Spielfigur offen.46 Antworten hierzu bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. (1.) Ausgehend vom historischen Eigennamen: »Historically, the Assassins were Nizari Ismailis. So Altair must have been one too.« (2.) Ausgehend von Zusatzinformation zum Spiel: »According to earlier information from AC1 pre-release Altair is ›spiritual‹« oder (3.) ausgehend von der spielimmanenten Gestaltung der Figur, wobei die Meinungen abermals divergieren: »altair was an atheist judging from what he said and did«. An anderer Stelle heißt es dazu: »His religion was Al Mualim because whatever that man said he’d do. He’d jump off a building for him«.47 Auch von Produzentenseite gibt es Äußerungen zum Verhältnis von Assassinen-Bruderschaft und Religion: »›They are also not interested in furthering a religious agenda. In

44 Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 240, spricht von einer »Zurückhaltung gegenüber religiösen Themen, um ein Spiel weltweit verkaufen zu können«. Vgl. auch Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam (Anm. 11), 259f. 45 Siehe dazu folgende Foren (Zugriff : jeweils am 15. 07. 2014): http ://forums.ubi.com/ showthread.php/224769-Religion-in-Assassin-s-Creed-Forums, http://forums.ubi.com/ showthread.php/713111-Religion-and-assassin-s-creed-Forums, http://forums.ubi.com/ showthread.php/303366-What-is-Altair-s-religion-Forums. Für weitere Beispiele siehe etwa www.spieletipps.de/ps3/assassins-creed/fragen/id-3165873/ (15. 07. 2014). 46 Siehe etwa Nutzer »r0ketto« am 28. 08. 2010: »I read that he was born to a Christian mother and Muslim father. I couldn’t tell what religion he followed in the game … anyone know?« Online unter : http://forums.ubi.com/showthread.php/303366-What-is-Altair-s-religion-Fo rums (15. 07. 2014). 47 Diese Zitate entstammen alle: http://forums.ubi.com/showthread.php/303366-What-is-Alt air-s-religion-Forums (15. 07. 2014). Ihre Verfasser lauten in der Reihenfolge der Zitate: Nutzer »Stormpen« am 28. 08. 2010, Nutzer »Xanatos2007« am 29. 08. 2010, Nutzer »notafanboy« am 29. 08. 2010 und Nutzer »TG-Raylock« am 29. 08. 2010.

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fact, they are generally opposed to most forms of organized religion.‹«48 Verschiedene Hinweise zu diesen Fragen finden sich auch in bisherigen Untersuchungen zu Assassin’s Creed. So heißt es etwa bei Corliss: »You take control of Altair, a Muslim assassin during the Crusades.«49 Während die »Assassinen« für Heinze »im Spiel eine areligiöse Vereinigung von unbeugsamen Auftragsmördern« sind,50 heißt es bei Sˇisler : »The in-game narrative states that Altair comes from a mixed Christian-Muslim relationship, leaving his personal religious adherence an open question.«51 Auffällig ist, dass sich diese Kontoverse um die Frage nach der Religion von Altair bzw. der Assassinen oft einer auf Geschichte verweisenden Argumentation bedient. Historisches Wissen über die Assassinen wird dabei auf die Assassinen des Spiels übertragen. Assassin’s Creed präsentiert seine Assassinen als einen Geheimbund, der Attentate verübt und einem Credo folgt, Eigenschaften und Kennzeichen, die in der Narration, dem Gameplay und der audiovisuellen Gestaltung des Spiels verankert sind. Verweise auf Religion sind dabei durch eine explizite Dekontextualisierung in das Assassinen-Bild des Spiels integriert. Dieses Ausschlussverfahren kommt nicht nur in der Darstellung anderer historischer Gruppierungen (Templer, Johanniter, Deutscher Orden) im Spiel zum Tragen, sondern ist auch in dessen Narration angelegt. In einem der ersten Spielabschnitte wird die Burg Masyaf, auf welcher die Assassinen des Spiels ihren Sitz haben, von Tempelrittern belagert. Zur Abschreckung der Belagerer stürzen sich Altair und zwei weitere Assassinen auf Befehl ihres Meisters Al Mualim von einem Turm der Burg in den augenscheinlichen Tod: »Meine Männer fürchten den Tod nicht […], sie heißen ihn willkommen und die Erlösung, die er bringt. […] Zeigt diesem tumben Recken wie es ist, keine Furcht zu kennen: Herauf zum Herrn.«52 Indem die todesmutigen Figuren des Spiels nicht hinauf »zum Herrn« steigen, sondern in einem Heuhaufen landen, dekontextualisiert das Spiel den in der Sequenz angelegten Verweis auf Religion, der auf der Ebene der Narration und der des Gameplays in genau dem Augenblick negiert wird, in welchem die Spielenden Altair in die Tiefe steuern. Dass dieser Verweis auf Religion durch seine fiktionalisierende

Sˇisler : Video Games, Video Clips, and Islam (Anm. 11), 260f. Corliss: Gaming with God (Anm. 9), 34. Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 157. V†t Sˇisler : Palestine in Pixels: The Holy Land, Arab-Israeli Conflict, and Reality Construction in Video Games. In: Middle East Journal of Culture and Communication 2 (2009), 275–292, hier 279. 52 Vgl. Let’s Play Assassins Creed 1 (German) #002, 9:40–10:17. Online unter : www.youtube. com/watch?v=ZyvAjGksK1U (16. 07. 2014). Zum sogenannten Todessprung siehe auch Heinze: Mittelalter Computer Spiele (Anm. 10), 160f.

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Dekontextualisierung nicht einfach bedeutungslos wird, zeigt sich wiederum auf der Rezeptionsebene: The assassins order in AC1 do believe in god but as far as I can tell it is neither Christianity, Islam or Jewish. Most reasons have been mentioned before but also there are no churches, mosques or synagogues in Masyaf. The main reason I believe this is during Robert de Sable attack on Masyaf, when you have to perform your first leap on faith in order to set off the trap, Al Mualim speaks of how the assassins ›Welcome death and the rewards it brings‹ and then commands you to ›Go to god‹.53

Schluss Nicht nur die Diskussionen in den angeführten Internetforen zeigen, dass Religion auf eine fiktionalisierende Art und Weise in das Zeichengefüge von Assassin’s Creed integriert ist. Die Einbeziehung von Religion in Narration und Design des Spiels fußt auf Merkmalen eines Verfahrens der Fiktionalisierung, die im hier untersuchten Beispiel eng miteinander zusammenhängen: Fiktionsmarkierung, Realitätseffekt, mimetisches Postulat und Dekontextualisierung. Diese zunächst spielimmanenten Verfahren einer digitalen Fiktionalisierung von Religion weisen insofern über Assassin’s Creed hinaus, als sie »Rezeptionseffekte« und »Wirkungspotenziale« (Schneider) erzeugen. Die in Assassin’s Creed »mitlaufende«54 Rezeptionsstrukturierung kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass das Spiel mögliche Deutungen seiner auf Religion verweisenden Zeichen nicht eindeutig festschreibt. Dieses Offenlassen zeigt nicht nur der sogenannte Todessprung. Das Beispiel eines vergleichsweise peripher angesiedelten Verweises auf Religion, den die Spielenden in einer sogenannten Nebenmission in Damaskus belauschen können, geht so weit, dass selbst die Frage (»Und was soll das bedeuten?«) nach der Bedeutung solcher Verweise zurückgewiesen wird (»Vergesst es. Kümmert Euch um Eure Dinge.«) – ein Offenlassen, das sich auch auf der Rezeptionsebene niederschlägt (»Ich hab kein bisschen verstanden was der damit jetzt sagen wollte.«).55 Hier gibt das Spiel die Deutung seiner Verweise auf Religion zunächst an Altair oder Desmond weiter, die sich dazu nicht äußern (können), weshalb die Deutung dieser Beispiele den Spielenden überlassen bleibt. Für das Erreichen des Spielziels hat dies jedoch keinerlei Bedeutung, da Verweise auf Religion in Assassin’s Creed schlicht ›überspielbar‹ sind. In dieser vermeintlichen »Insignifikanz« liegt »die Bedeu53 Nutzer »Adam151184« am 30. 08. 2010. Online unter : http://forums.ubi.com/showthread. php/303366-What-is-Altair-s-religion/page3 (16. 07. 2010). 54 Andree: Archäologie der Medienwirkung (Anm. 5), 28, Anm. 58. 55 Let’s Play Assassins Creed 1 (German) #020, 0:00–0:48. Online unter : www.youtube.com/ watch?v=vLG9H8FlUwg (16. 07. 2014).

Zur Fiktionalisierung von Religion in Assassin’s Creed

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tung« (Barthes) dieser Verweise auf Religion, wofür nicht nur die Kommentare auf der Rezeptionsebene sprechen, sondern auch ein Hinweis von Maxime B¦land, dem Game Design Director von Assassin’s Creed. In einem Interview nach seinem Lieblingsmoment des Spiels gefragt, antwortete B¦land u. a.: For the best moment, […] I think we have some really good dialogue in the game […], I think people will love […] listening to the dialogues and the conversations, […] they make you reflect on things, that are a bit greater than what we are used to in video games.56

56 Interview mit Maxime B¦land (Anm. 40), 7:57–8:52, hier 8:27ff.

Robert Baumgartner

»Drücken Sie ›Enter‹, um Gott zu töten …« – Das Computerspiel als Medium des Deizids

I.

Einleitung

Das mögliche Feld für literatur- und medienwissenschaftliche Untersuchungen von Religion und Religiosität hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts massiv erweitert. Dies liegt einerseits in technologischen und ökonomischen Entwicklungen begründet, die die Etablierung einer Vielzahl koexistenter Medienformen mit jeweils eigenständigen ›Affordances‹1, also medialen Dispositiven und Potenzialen erlaubten. So verteilt sich vor allem die populärmediale Repräsentation von Religion inzwischen neben der Literatur auch vor allem auf TVSerien, Filme, Comics und Computerspiele – jedes mit seiner spezifischen Medialität und Potenzialen, die individuelle Ausformungen religiöser Zeichenstrukturen erlauben. Gleichzeitig begünstigt der medienübergreifende Trend zur verstärkten Nutzung von phantastischen Genres wie Science Fiction, Fantasy und ihren unzähligen Hybridformen (Steampunk, Post-Apokalypsen, Superhelden uvm.) auch die ungehemmte Verwendung religiöser und mythologischer Konzepte und Zeichen außerhalb im strengen Sinn religiöser Kontexte. Ob in der Auferstehung der Toten2, der materiellen Präsenz von Engeln und Dämonen3 oder von Gott bzw. den Göttern selbst4 – zahlreiche populäre Produktionen greifen mit unterschiedlichsten Absichten auf das religiöse Inventar einer globalisierten Gesellschaft zu, sei es in der eklektizistischen Verarbeitung existierender Mythen und Götterfiguren oder der Präsentation eigenständiger fiktiver Kosmologien, Gottheiten und Pantheons.5 1 Folgend den Arbeiten von Harold A. Innis: The Bias of Communication. Toronto 1964, und Marshal McLuhan: The Medium is the Massage. New York 1967. 2 Supernatural (2005), The Walking Dead (Comic: 2003, TV-Serie: 2010, Videospiele: 2012) u. a. 3 John Constantine – Hellblazer (Comics: 1993–heute, Film: 2005), X–Men (Film: 2000), Dominion (TV-Serie: 2014). 4 Dogma (1999), American Gods (Roman: 2001, TV-Serie: 2013). 5 Jason Anthony nennt diese Spiele »allomythic games«. Vgl. Jason Anthony : Dreidels to

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Robert Baumgartner

Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht ein bislang kaum wissenschaftlich aufgearbeiteter intermedialer Trend, der göttliche Entitäten zunehmend als von Menschen- und Götterhand verwundbar und schließlich sogar ›sterblich‹ verhandelt: Götter, sogar ›Gott‹ selbst werden getötet, der Deizid wird zur gängigen medialen Praxis. Seinen Anfang in der amerikanischen Fantasyliteratur der 1980er6 nehmend, verbreitete er sich zunehmend über weitere populäre Werke der Fantasy- und Jugendliteratur7, Comics8, Filme9 und TV-Serien10, um schließlich auch im Computerspiel zu enormer Popularität zu gelangen. Diese vielfältigen medialen Darstellungsweisen des Religiösen (und der Deizid im Besonderen) sind jedoch – jenseits aller technischen und ökonomischen Neuerungen – nur aufgrund einer grundlegenden Transformation der religiösen Paradigmen und Diskurse der westlichen Kultursphäre möglich. Der seit Anbeginn der Moderne in verschiedensten Formen prognostizierte und spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offen sichtbare Bedeutungsverlust institutionalisierter Religionen und ihrer ethisch-moralischen Richtlinien für politische und soziokulturelle Diskurse11 steht dabei ebenso neben einer spätaufklärerischen bzw. marxistischen Erwartung der letztendlichen Auflösung jeder Religion wie das gleichzeitige Erstarken alternativer religiöser Angebote und individueller, dem Zeitgeist neoliberaler Wirtschaftsethik angepasster Mixand-Match-Spiritualität. Das Ineinandergreifen unterschiedlichster Tendenzen in einem dynamischen und interkulturellen Prozess macht es ebenso schwierig wie lohnend, sich mit ihren medienwissenschaftlich beobachtbaren Konsequenzen auseinanderzusetzen, aber es erscheint zunächst sinnvoll, eine Verbindung zwischen diesen Prozessen und der Häufung göttlicher Präsenzen und besonders des Deizids in Populärmedien zu vermuten. Dieser Beitrag konzentriert sich dabei angesichts des ebenso umfangreichen wie unübersichtlichen Forschungsfeldes bewusst auf ein einzelnes Medium, das

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Dante’s Inferno. Toward a Typology of Religious Games. In: Heidi A. Campbell u. Gregory P. Grieve (Hg.): Playing with Religion in Digital Games. Bloomington, IN 2014, 25–46, 39f. So in den Romanreihen von Fred Thomas Saberhagen (The Book of Swords, 1983–1994) und David Eddings (The Belgariad, 1982–1984, The Elenium, 1989–1991). Die Romanreihen von Philip Pullman (His Dark Materials, 1995–2000), Rick Riordan (Percy Jackson and the Olympians, 2005–2009), Jim Butcher (The Dresden Files, 2000–heute) und Terry Pratchett (Discworld, 1983–heute). Garth Ennis, Steve Dillion: Preacher (1995–2000), die Figur Darkseid in Superman (zuerst in: Forever People Nr. 1, Februar 1971). Princess Mononoke (1997), Dogma (1999), Clash of the Titans (2010). Star Trek: The Next Generation (1987–1994), Xena: Warrior Princess (1995–2001), Buffy the Vampire Slayer (1997–2003), Stargate: SG-1 (1997–2007). Vgl. Karl Gabriel: Gesellschaft im Umbruch – Wandel des Religiösen. In: Hans-Joachim Höhn (Hg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne. Frankfurt a. M. 1996, 31–49, hier 37.

Das Computerspiel als Medium des Deizids

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trotz seiner inhaltlichen Zugänglichkeit und kulturellen Prägnanz12 vor allem im deutschsprachigen Raum bisher kaum auf Repräsentationsmodi des Religiösen untersucht wurde: das Computerspiel. Die mangelhafte Erforschung mag neben der bislang fehlenden institutionellen Verankerung der Disziplin der Game Studies auch daran liegen, dass das junge digitale Unterhaltungsmedium sowohl vonseiten religiöser Autoritäten wie auch radikal säkularer Opposition als Parademedium einer areligiösen und konsumorientierten Unterhaltungsgesellschaft verstanden wurde.13 Angemessene Untersuchungen wurden so erstaunlich lange vermieden, trotz der Tatsache, dass das Computerspiel schon rein quantitativ zu den dominantesten medialen Verhandlungsstrukturen religiöser Ikonographie im frühen 21. Jahrhundert gehört: Die große Menge an eigenständigen oder adaptierten phantastischen Weltentwürfen in den Mustern der westlichen Fantasy und interkulturell prägnanter Mythen in Computerspielen sorgen für einen Überfluss an Repräsentationen des Religiösen in virtuellen Gegenständen, Kulten, Religionen, mythischen Wesen und schließlich Göttern selbst. Die Anzahl von implizit in Spiel-Diegesen integrierten gottähnlichen Entitäten ist quantitativ kaum zu erfassen; selbst die von materiell präsenten göttlichen (und dämonischen) Instanzen bewegt sich nach erster Sichtung der Primärtexte im Fantasy- und Science-Fiction-Genre im unteren Hunderterbereich.14 Doch die Götter des Computerspiels sind nicht nur zahlreich, sondern auch besonders oft existenziell gefährdet: Das Medienwiki TV-Tropes listet allein 37 bekanntere Titel und Serien auf, in denen der Akt des Deizids (hier von der christlichen Begriffstradition losgelöst und allgemeiner für die Vernichtung göttlicher Entitäten verwendet) entweder ein zentrales Thema der Narration darstellt oder sogar im tatsächlichen Gameplay als interaktiver Akt durch den Spieler ausgeführt wird – eine von anderen Medien unerreichte Menge.15 Die entsprechenden Titel verteilen sich über zahlreiche Spielgenres und Settings: God Games wie Populous (1989) oder Black and White (2001) versetzen 12 Computerspiele partizipieren als etablierte Massenmedien, die von einem signifikanten Teil der Bevölkerung konsumiert und anderen Medien reflektiert werden, an zahlreichen Diskursen – der religiöse ist nur einer davon. Vgl. Simone Heidbrink, Tobias Knoll u. Jan Wysocki: Theorizing Religion in Digital Games. Perspectives and Approaches. In: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 (2014), 5–51, hier 16. 13 Vgl. Gregory P. Grieve u. Heidi A. Campbell: Studying Religion in Digital Gaming. A Critical Review of an Emerging Field. In: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet 5 (2014), 51–68, hier 53. 14 Dies wird zusätzlich durch den unklaren Status der jeweiligen »Götter« in den einzelnen Titeln erschwert. In zahlreichen Fällen wird ein göttlicher Status von Wesen beansprucht, welche trotz ihrer »Göttlichkeit« weder Unsterblichkeit, Allmacht noch Allwissenheit für sich beanspruchen können, von anderen Figuren jedoch als göttliche Wesen behandelt werden. 15 Vgl. TV-Tropes: »Kill The God«. Online unter : http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/ Main/KillTheGod?from=Main.Deicide (28. 07. 2014).

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Spieler in die Rolle eines Gottes und inszenieren den Göttermord so als finalen Akt eines henotheistischen Wettstreits um die Weltherrschaft. Zahlreiche Titel legen den Göttermord dagegen in die Hände sterblicher Protagonisten: Neben Action-Titeln wie Bayonetta (2010), Dante’s Inferno (2010) oder der Devil May Cry- (2001–2013) und God of War-Serie (2005–2010) widmet sich im Besonderen das sogenannte Hack & Slay-Subgenre dem Göttermord in all seinen Facetten. Ob in einer fiktiven Version bekannter Mythologien (Titan Quest, 2006) oder autonomeren Fantasywelten (die Diablo-Serie,1998–2013, u. a.) – die Tradition des Genres platziert göttliche Entitäten als Hauptherausforderungen, die am Ende der verschiedenen narrativen sowie spielmechanischen Makrostrukturen (oft als »Akte« oder »Kapitel« bezeichnet) überwunden werden müssen. Eine weitere, besonders interkulturell signifikante Ausformung des Szenarios findet sich in der Tradition japanischer Rollenspiele, sogenannter JRPGs.16 Die dort überwältigend oft aufzufindende narrative Makrostruktur – eine Gruppe junger Erwachsener überwindet immer gefährlichere Bedrohungen ihrer phantastischen (meist in technomagischen Welten lokalisierten) Heimat – kulminiert in zahlreichen Fällen in der finalen Konfrontation mit einer wie auch immer gearteten monotheistischen Schöpfergottheit, welche meist auch mit dem »Tod« dieser Entität und der Befreiung der Welt von ihrem schädlichen Einfluss endet. Der Göttermord wird dank der digitalen Vernetzung sogar zum millionenfach praktizierten sozialen Ereignis: Sowohl in westlichen wie auch asiatischen MMORPGs (Onlinerollenspielen)17 nehmen Spieler in wöchentlich oder täglich organisierten »Raids« an der gemeinsam organisierten und unter großem Aufwand geplanten Tötung diverser Götter verschiedenster Fantasy-Pantheons teil. So wurden und werden z. B. in World of Warcraft, dem kommerziell erfolgreichsten MMO, bislang 17 Götter oder göttliche Entitäten zur Zielscheibe von wöchentlich hunderttausendfach durchgeführten »Raids«.18 Das Computerspiel könnte also sowohl quantitativ (in der Menge der Beispiele) wie auch qualitativ (durch die interaktive Dimension der Handlungen) als das dominante Medium des Göttermordes bezeichnet werden. Der folgende Beitrag möchte dieser Beobachtung nachspüren. Dazu muss er im Vorfeld jedoch das Motiv des Gottesmordes selbst ausleuchten: Er beginnt deshalb mit einem historischen Rückgriff auf mythologische Exempel des Deizids bzw. einer Skizze des in Mythologien und frühen Narrationen wie der Ilias sichtbaren 16 Das JRPG (Japanese Role Playing Game) besitzt eine ebenso lange Entwicklungstradition wie digitale Rollenspiele westlicher Prägung und hat in seiner Entwicklung eine distinktive narrative sowie ludische Identität entwickelt. 17 MMORPG: Massively Multiplayer Online Role Playing Game. 18 Aus der Mediendatenbank TV-Tropes: »So far the players have killed 1 troll blood god, 13 avatars of other troll gods, 2 Old Gods, and the blood elf Phoenix God.« Online unter : http:// tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/PhysicalGod (20. 08. 2014).

Das Computerspiel als Medium des Deizids

685

Machtgefälles zwischen Menschen und unsterblichen Göttern, welches den Deizid in seiner in gegenwärtigen Populärmedien beobachtbaren Form unmöglich machte. Danach begibt er sich auf die Suche nach den medialen Potenzialen, die das Computerspiel besonders attraktiv für die passive wie interaktive Inszenierung des Göttermordes machen. Dies geschieht einerseits in einer theoretischen Annäherung an die spezifische Medialität des Computerspiels, welches unter Rückgriff auf die Thesen von Claus Pias und Jochen Venus als ein Medium der vermittelten Selbsttätigkeit und individuellen Ermächtigung erscheint. Gleichzeitig nutzt der Artikel auch Fallstudien von Deizid-Momenten in den drei Beispielen Xenogears (1999), Dominions 3 (2006) und der God of WarSerie (2005–2011), um die Hauptcharakteristika der konkreten Realisierung dieses Strukturmoments im Computerspiel herauszustellen. Der abschließende Teil des Artikels verbindet die vorherigen Aspekte, um die Funktion des Deizids innerhalb des spezifischen medialen Kontextes des Computerspiels herauszuarbeiten.

II.

Eine kurze Geschichte des Göttermordes

Vor einer Analyse von aktuellen medienspezifischen Repräsentationen des Göttermordes ist es unerlässlich, die archetypischen Grundkonzeptionen zu möglichen Gewalthandlungen unter Göttern bzw. zwischen Sterblichen und Göttern (v. a. im westlichen Kulturraum) aufzuarbeiten. Aufgrund der diffizilen Kategorisierung zahlreicher mythologischer und religiöser Figuren- und Handlungskonstellationen auf der einen Seite (die Übergänge zwischen Mythen, organisierter Religion und Volks- bzw. Aberglauben sind synchron wie diachron extrem schwer zu trennen, selbst »Religion« besitzt bis heute keine allgemeingültige Definition19) und dem medien- und kulturwissenschaftlichen Fokus der Arbeit auf der anderen Seite wird aus dem umfangreichen Korpus kulturell tradierter übernatürlicher Gewalt nur ein stichprobenhafter Einblick gewählt, der sich dezidiert auf mit den untersuchten Spielen verknüpfte Mythologien beschränkt. Aus diesem Grund sind für diese Untersuchung vor allem der griechisch-römische Mythenkreis (God of War) sowie die jüdisch-christliche und japanische Überlieferung (Xenogears) interessant, jedoch werden daneben Beispiele aus anderen Mythologien zur Ergänzung der tendenziellen Beobachtungen (v. a. für Dominions 3) eingeflochten.

19 Vgl. Gregor Ahn: Religion I. Religionsgeschichtlich. In: Gerhard Müller (Hg): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28. Berlin/New York 1997, 513–522, hier 519.

686 II.1.

Robert Baumgartner

Göttermord aus Götterhand

Der Blick auf das Korpus erlaubt zumindest eine Feststellung: Der »typische« Fall des Gottesmordes ist die Ermordung eines Gottes durch einen anderen. In der Tat gründen sich zahlreiche Kosmologien und tradierte religiöse Weltkonzepte auf die Tötung mindestens eines Gottes durch einen anderen. Der vereinzelte Gottesmord hat seinen Platz in der ägyptischen (der Mord an Osiris durch Seth) wie auch in der japanischen (der Tod der Göttin Izanami durch die Geburt des Feuergottes Kagutsuchi und die Ermordung des Säuglings durch ihren Gefährten Izanagi) Mythologie. Der Göttermord (Plural) steht sowohl am Beginn (der Asen-Wanen-Krieg) wie auch Ende (Ragnarök) der in der Edda aufgezeichneten Version skandinavischer Mythologie und formt die Basis der griechischen Mythologie, sei es in der Titanomachie, der Gigantomachie oder der Tötung von Uranos durch Kronos sowie der späteren Tötung von Kronos durch Zeus. Doch die tödlichen Konflikte zwischen polytheistischen Göttern sind nicht willkürliche narrative Strukturen, sondern erfüllen eine wichtige Funktion im religiösen Erklärungsmodell der jeweiligen Kulturen: Mord unter Göttern, selbst die Vernichtung einer ganzen Göttergeneration durch eine andere, erfüllt eine produktive Funktion (wie die Erklärung politischer, klimatischer oder sozialer Veränderungen) in der durch sie charakterisierten und durch ihre Weitergabe kommunizierten Weltordnung: Der Tod von Göttern schwächt nicht die Struktur der Welt, sondern stärkt und regeneriert sie – gerade weil in den meisten Fällen ein Gott nur stirbt, um wiederaufzuerstehen oder von einem Nachfolger mit derselben Funktion ersetzt zu werden.20 Ein Leben ohne Götter erscheint dabei dennoch undenkbar, denn jedes Einzelelement polytheistischer Pantheons ist durch die Verbindung mit Schlüsselelementen des jeweiligen Weltbildes zumindest in essentia unverzichtbarer Teil eines sinnstiftenden Ganzen. Dies wird bei den diversen monotheistischen Gottesbildern der judeochristlichen Tradition noch offensichtlicher : Wenn nur ein einziger, alle sinnstiftenden Elemente in sich vereinender Gott existiert, kann sein »Tod« theoretisch das Ende der gesamten Schöpfung bedeuten. Gleichzeitig macht die Durchdringung des gesamten Universums durch die göttliche Natur einen solchen Gottestod praktisch undenkbar. Dies wird selbst in der offensichtlichen Ausnahme – dem biblisch tradierten (und den Begriff prägenden) »Deizid« im Tod Jesu Christi – klar : Da dieser sowohl durch das Trinitätsprinzip wie auch durch die Integration in einen göttlichen Plan (der Tod wie auch Wiederauferstehung fest mit einschließt) gerahmt wird, wird er auch seiner existenzialistisch 20 Vgl. Pramit Chaudhuri: The War with God: Theomachy in Roman Imperial Poetry. Oxford 2014, IX.

Das Computerspiel als Medium des Deizids

687

traumatisierenden Dimension beraubt. Der »wahre« Tod des monotheistischen Gottes, der in seiner ganzen Sinn-beraubenden Konsequenz von Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft21 skizziert wird, hat damit wenig gemein.

II.2.

Sterbliche Gewalt gegen Götter

Während tödliche Gewalt zwischen Göttern in unterschiedlichster Form zum Standardinventar mythologischer und religiöser Erzählungen gehört, ist die Ermordung von Göttern oder selbst ihre Verwundung durch die Hände Sterblicher in nur wenigen Fällen dargestellt. Abgesehen vom bereits problematisierten Beispiel des »Todes« Jesu Christi durch die Hände römischer Besatzungssoldaten und pharisäischer Handlanger im Neuen Testament kommt es in keiner der bereits angesprochenen mythologischen bzw. religiösen Erzählungen zum erfolgreich durchgeführten Göttermord. Die meisten Beispiele hierfür finden sich besonders in der römischen Dichtung: Sei es in der direkten Kampfherausforderung des Capaneus gegen Jupiter (welche mit der sofortigen Tötung durch einen Blitzschlag beantwortet wird)22 oder indirekten Herausforderungen wie Niobes Hervorhebung ihrer Fruchtbarkeit und Arachnes Handwerksfähigkeiten23 – jeder Widerstand gegen die Götter scheint zum Scheitern verurteilt. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen: Die erste findet sich in der Ilias, wo der herausragende griechische Krieger Diomedes im Zustand göttlich inspirierter Raserei nicht nur Aphrodite verwundet und Apollo attackiert, sondern schließlich (mit Athenas Unterstützung) sogar Ares selbst so schwer verletzt, dass der Kriegsgott sich nur mit Mühe vom Schlachtfeld retten kann. Die zweite bildet der Halbgott Herakles, der in einer Überlieferungstradition sowohl Hera wie auch Hades mit vergifteten Pfeilen schwer verwundet und in Todesgefahr bringt.24 Es bleibt jedoch festzustellen, dass selbst diese wenigen außergewöhnlichen Sterblichen25 nicht in der Lage sind, Götter zu töten – nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass das symbolische Machtgefälle zwischen Menschen, Gott und Göttern auch die im Geist der Vormoderne unabänderliche Unterwerfung des Menschen gegenüber den Kräften der Natur und 21 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. Aphorismus 125: »Der tolle Mensch«. In: ders.: Digitale kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Online unter www.nietzschesource.org/#eKGWB/FW-125 (19. 11. 2014). 22 Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Hg. v. Gerhard Fink. Zürich/München 1989, IX.404. 23 Ovid: Metamorphosen (Anm. 22), VI.1–145. 24 Vgl. Giulia Sissa u. Marcel Detienne: The Daily Life of the Greek Gods. Stanford 2000, 54ff. 25 Bzw. ›Halb‹-Sterblichen: Herakles wird nach seinem qualvollen Tod und seiner Apotheose als vollwertiger Gott in die Gemeinschaft der Götter aufgenommen.

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der Kontingenz des Kosmos ausstellt. Das Konzept göttlicher »Sterblichkeit« sowie die Möglichkeit des Deizids werden erst durch die im Zuge der Aufklärung stattfindende Entkoppelung religiöser Erzählungen und naturwissenschaftlicher Welterklärungsmodelle überhaupt denkbar : Erst die Verlagerung der allgemein akzeptierten Welterklärungen auf naturwissenschaftliche Theorien und Modelle entlastet das »Göttliche« so stark von seiner sinnstiftenden Funktion, dass sein Verschwinden bzw. seine Vernichtung imaginiert werden kann, ohne die Gedankenwelt des Subjekts als solche zu zerstören. Mit Nietzsche: Erst wenn Gott schon tot ist, kann man über sein Ende nachdenken.

III.

Götter und Göttermord im Computerspiel

In der Vorstellungswelt vormoderner Mythen und Religionen lässt sich also durchaus eine starke Tradition des Deizids erkennen – jedoch nur von göttlicher Hand: Ein unüberbrückbares, in den epistemologischen Grundlagen der Texte und Überlieferungen verankertes Machtgefälle zwischen Sterblichen und Unsterblichen macht es den Menschen unmöglich, Götter ohne ihre explizite Zustimmung zu töten, und sei es nur zum Schein. Doch im zeitgenössischen Computerspiel liegen die Dinge anders: Wie bereits erwähnt, gehört der Deizid in fast allen vorstellbaren Varianten zum festen narrativen und performativen Inventar des Mediums: Götter, Halbgötter und Menschen (sowie Mitglieder von Fantasyspezies oder unkategorisierbare Entitäten) vernichten unsterbliche Entitäten – und dies auf unterschiedlichste Weisen: Sei es durch gewaltsame »Tötung« des physischen Avatars26 oder die Zerstörung eines »Phylakteriums«27, welches als materieller Anker für die spirituelle Energie des Gottes dient,28 durch die Verbannung des göttlichen Geistes aus der Welt durch magische Rituale oder schließlich durch die Austrocknung der Glaubensbasis eines Gottes durch Bekehrung oder Tötung seiner Gläubigen.29

26 Morrowind (2003), God of War (2005–2013), Dark Souls (2011) u. a. 27 Der Begriff wird hier von seiner originalen Verwendung für das jüdische Tefillin gelöst und dient als Sammelbegriff für am Körper getragene magische Schutzmittel, Talismane oder halbmobile Reliquien. 28 Sacrifice (2000), Warhammer40k: Dark Crusade (2006). 29 Populous (1989), Black and White (2001), Dungeon Crawl Stone Soup (1995–2003).

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III.1. Gott gegen Gott Alte Traditionslinien des Göttermordes durch Götterhand werden dabei explizit reproduziert, vor allem im Genre des God Game bzw. der Göttersimulation. Dieses Genre verleiht Spielern nicht nur gottähnliche Macht über einen begrenzten Abschnitt einer virtuellen Welt und deren Einwohner (ein Merkmal, das es mit vielen Wirtschaftssimulationen teilt), sondern verankert sowohl seine Ikonographie wie auch seine Interaktionsmöglichkeiten in einer freien Interpretation alttestamentlicher henotheistischer Konflikte zwischen unterschiedlichen Göttern.30 Der Spieler hat dabei nicht nur das vordergründige Ziel, die Zahl seiner eigenen Gläubigen zu erhöhen, sondern auch das längerfristige, jede Konkurrenz durch andere Götter (siehe das erste alttestamentliche Gebot) zu neutralisieren. Dies geschieht gemäß biblischem Vorbild einerseits durch das Beeindrucken andersgläubiger Sterblicher mittels Wundertaten, andererseits – und bevorzugt – durch die Vernichtung feindlicher Tempel sowie die Vertreibung und Ermordung der feindlichen Anhänger. Der wichtigen Glaubensressource beraubt, verliert der besiegte Gott seine Macht und verblasst ins Nichts. Fallstudie: Dominions 3 Der 2006 vom kleinen Entwicklerstudio Illwinter Games entwickelte Titel Dominions 3: The Awakening stellt ein besonders illustratives Beispiel für die Realisierung dieses Konzepts dar. Zum Setting: Eine Fantasywelt ist nach dem Verschwinden des kosmischen Alleinherrschers oder »Pantokrators« in Aufruhr. Mindere Götter und Geister sowie äußerst mächtige Sterbliche und Halbgötter nutzen das Machtvakuum und sammeln ihre Anhänger, um die Weltherrschaft für sich zu beanspruchen. Doch nur ein Gott kann Pantokrator werden – alle anderen Götter müssen mitsamt ihrer Anhänger vernichtet werden. Als ein primärer Multiplayertitel31 nutzt das Spiel die Möglichkeiten dieses henotheistischen Settings, um Spieler in der Rolle von Göttern gegeneinander antreten zu lassen. Sie werden jedoch nicht in die Rollen bekannter, durch kulturelles Wissen in ihren Fähigkeiten festgelegter Götter gezwungen, sondern können sich »ihren« Gott durch die Auswahl aus einem umfänglichen Inventar religiöser und magischer Zeichenstrukturen zusammenstellen. Dies beginnt beim physischen Avatar des Gottes: Zur Auswahl stehen neben geflügelten Engels- und Dämonenfiguren sowie diversen mythologischen Monstern (wie Drachen, Zyklopen oder Oktopoden) auch ikonische Repräsentationsschablonen von Göttern der assyrischen, griechischen, ägyptischen, japanischen, in30 Vgl. Hans Waldenfels: Kontextuelle Fundamentaltheologie. Paderborn 1985, 113. 31 D. h. für das gleichzeitige Spiel mehrerer Spieler gegeneinander über Internet oder LAN gestaltet.

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dischen und mesoamerikanischen Mythenkreise und außerdem eine eklektische Mischung aus Götzenbildern (wie einer immobilen Weltensäule oder einem goldenen Kalb) wie auch göttlich-dämonische Wesen aus dem Inventar der Weird Fiction um H. P. Lovecraft und C. A. Smith. Danach wählen Spieler die magische Spezialisierung ihres Gottes sowie seine elementare Disposition in einem Schema aus Dichotomien (warm – kalt, Chaos – Ordnung, Leben – Tod, Glück – Unglück, Produktivität – Trägheit) aus. Als Letztes wählen sie schließlich die Fantasyzivilisation, die von ihrem Gott angeführt wird. Die Anzahl religiöser und mythischer Assoziationen ist auch hier erschlagend: Von Blutmagie beherrschenden aztekischen Wer-Jaguars (Mitclan) über alttestamentlich (Hinnom) oder skandinavisch (Niefelheim) angehauchte Riesen, eine göttliche Bürokratie chinesischer Prägung (T’ien Ch’i) oder dionysische Waldwesen (Pangaea) erlauben die 28 Zivilisationen Spielern die Realisierung ihrer individuellen Vorstellungen. Im Spielverlauf erkunden und erobern die Einheiten des Spielers sowie sein Avatar (falls mobil) umgebende Provinzen und sichern sie gegen den Zugriff der nahe gelegenen Konkurrenten, während umgehend errichtete Tempel dort die Religion des Spielers verbreiten. Die Glaubensstärke von Anhängern im Herrschaftsgebiet (»Dominion«) des Spielers wird in Kerzen visualisiert und kann abhängig von zahlreichen Einflüssen zu- oder abnehmen. Sollte ein Gott, unabhängig vom Status seines Avatars oder seinen territorialen Besitzungen, keine Glaubenskerzen (also keine Gläubigen) mehr besitzen, verliert er sofort seine Macht und hört auf zu existieren. Spieler rechnen jedoch mit dieser Möglichkeit und versuchen sie mit allen Mitteln zu verhindern – sei es durch die Aufrechterhaltung des Glaubens durch göttliche Wunder und kontinuierlichen Tempelbau, Blutopfer oder die präventive Vernichtung gegnerischer Tempel und Anhänger in Grenzprovinzen. Angesichts des gewaltigen magischen Arsenals der meisten Spieler/Götter entbrennen aus kleinen Grenzscharmützeln jedoch bald massive Kriege, in denen sowohl konventionelle Armeen wie auch magisch beschworene Monster und schließlich magische Massenvernichtungswaffen (lokal durch Schlachtzaubersprüche wie auch global durch magische Rituale, die alle Spieler schädigen) involviert werden. Die typische Dominions-3-Partie erinnert vor allem gegen Ende frappierend an eschatologische Visionen abrahamitischer Religionen: Der Himmel bedeckt sich mit Dunkelheit, die Meere gefrieren, Feuer fällt vom Himmel, vergessene Götter und Dämonen fliehen aus ihren Kerkerdimensionen – alles Kollateralschäden im Kampf der Spieler um den Thron des Pantokrators.

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III.2. Sterbliche Gewalt gegen Götter Das Genre der God Games – und damit der in traditionellen religiösen Narrationen bereits etablierte Göttermord durch göttliche Hand – trägt nur einen geringen Teil zum vorhandenen Material bei. Die überwiegende Mehrzahl der Götter findet ihr Ende durch die Hände sterblicher oder halb sterblicher, halb göttlicher Protagonisten. Dieser Umstand ist angesichts des bereits beschriebenen historischen Tabus des Göttermords durch Sterbliche umso signifikanter, denn er bricht so mit Erzählmustern, die so alt sind wie die Kultur selbst. Es gilt jedoch auch hier nach der Schwere der Tat – also ihren möglichen kosmologischen Konsequenzen – zu unterscheiden zwischen a) dem Mord an einem polytheistischen Gott und b) dem an einem monotheistischen Schöpfergott. III.2. a) Mord im polytheistischen Kosmos Der Tod eines einzelnen Gottes aus polytheistisch organisierten Pantheons ist in der Weiterführung bestehender narrativer Muster weltanschaulich meist weniger problematisch besetzt: Ein einzelner Gott kann ersetzt werden, alternativ kann das übrige Pantheon als Ganzes auch ohne ihn als funktionierende sinnstiftende Einheit bestehen. Zahlreiche Titel beschränken die metaphysischen Konsequenzen des Göttermordes daher durch die Eliminierung eines einzelnen Gottes bei Beibehaltung der kosmischen Ordnung. Titel wie Neverwinter Nights 2, Baldur’s Gate II, Kid Icarus, Dungeon Siege 3 oder der erste Teil der God of WarSerie erlauben dem Spieler die Beseitigung eines einzelnen Gottes (oder gottgleichen Wesens), welcher die kosmische Ordnung durch eigensinnige Aktivitäten bedroht. Oft genug wird der Spieler in seiner Mission sogar von den anderen Mitgliedern des Pantheons unterstützt – der Göttermord wird als gottgefällige Handlung legitimiert und verliert einen Gutteil seines bedrohlichen Potenzials. Fallstudie: God of War Der 2005 erschienene Erstling der gleichnamigen Serie exemplifiziert diese Tendenz, schafft jedoch gleichzeitig auch die Basis für deren Dekonstruktion in den beiden darauffolgenden Teilen. Zunächst zum Spiel selbst: Spieler finden sich in einer diegetischen Welt wieder, die aufgrund ihrer Struktur schnell als mythologische Version des antiken Griechenlands erkennbar wird – mit den dazugehörigen Orten, Kulturen und Göttern, welche alle in ihrer bis heute durch verschiedene Medien überlieferten Ikonographie erkennbar bleiben. Auch die

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narrative Struktur des Spiels orientiert sich stark an den dramatischen Traditionen des antiken Griechenlands, vor allem an der aristotelischen Poetik.32 Der Protagonist, der spartanische Krieger Kratos33, wird als ein ehemaliger Diener des Kriegsgottes Ares präsentiert. Er hat sich von seinem Dienstherrn losgesagt, nachdem dieser ihn mit einem Blutrausch belegte, dem seine Frau und seine Tochter zum Opfer gefallen sind. Der von Reue gepeinigte und auf Rache sinnende Krieger wird von Athena kontaktiert und um Hilfe gebeten: Ares ist außer Kontrolle geraten und führt offen Krieg gegen seine Familienmitglieder – es ist an Kratos, die Büchse der Pandora zu bergen und den unberechenbaren Kriegsgott mit ihrer Hilfe zu fällen. Im Gegenzug verspricht ihm Athena ein Ende seiner Alpträume und die Möglichkeit, seine Untaten wiedergutzumachen. Kratos macht sich auf den Weg zu Pandoras Tempel, welcher sich auf dem Rücken des wandernden Titanen Cronos befindet. Dort kämpft er sich gegen den Widerstand menschlicher und mythologischer Gegner in der Manier eines Hack & Slay-Actiontitels durch den mit Fallen gespickten Tempel und stellt die Büchse sicher – nur um von Ares aus dem Hinterhalt getötet zu werden. Doch damit ist das Spiel nicht vorbei: Mit der Hilfe der anderen Götter kann Kratos aus der Unterwelt fliehen, die Büchse der Pandora wieder in seinen Besitz bringen und den außer Kontrolle geratenen Gott zur Strecke bringen. Ares wird von ihm im Nahkampf getötet und mit einem gigantischen (von den Göttern bereitgestellten) Schwert durchbohrt, sein Körper entlässt Energien in einer vernichtenden, an Nukleardetonationen gemahnenden Explosion. Kratos wird von den Göttern belohnt – wenn auch nicht auf die versprochene Weise: Sie schenken ihm kein Vergessen und keine Vergebung, sondern den verwaisten Thron des Ares. Wer wäre besser als Nachfolger des Kriegsgottes geeignet als dessen Bezwinger? Bis hierhin erscheint God of War als vergleichsweise treue Reinszenierung des polytheistischen Deizids: Der betroffene Gott wird ersetzt, die kosmische Ordnung wiederhergestellt. Selbst der problematische Göttermord durch Menschenhand wird durch die Reproduktion der göttlichen Unterstützungsdynamik aus der Ilias naturalisiert: Kratos’ Tat erscheint nur als logische Erweiterung von Diomedes’ fast tödlichem Angriff auf den Gott des Krieges.

32 Vgl. Robert Cassar : God of War : A Narrative Analysis. In: Eludamos. Journal for Computer Game Culture 7 (2013), H. 1, 81–99, hier 90. 33 Die Figur des Kratos (Jq\tor) ist durchaus in der griechischen Mythologie verankert: Als eine Verkörperung der Macht gehört er als Vollstrecker des göttlichen Willens zum Gefolge von Zeus. Anders als im Spiel, wo Kratos den gefesselten Prometheus befreit, ist es (vgl. Aischylos’ Tragödie Der gefesselte Prometheus) gerade die Aufgabe des mythischen Kratos, den Titanen an den Kaukasus zu fesseln. Vgl. Michael Grant, John Hazel (Hg.): Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Nördlingen 1990, 90.

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Doch wie erwähnt hält sich God of War nur im ersten Teil der Serie an diese auch in vielen anderen Spielen sichtbare Form des »naturalisierten« Göttermordes: Im zweiten und dritten Teil erfährt dieses Konzept seine Dekonstruktion – in einem Kreislauf aus Verrat, Mord und Untergang: Kratos (nun Gott des Krieges) wird von den Göttern, die seine Unberechenbarkeit als a) früherer Sterblicher, b) traumatisierter Krieger und c) Göttermörder fürchten, verraten und seiner göttlichen Macht beraubt. Er plant seine Rache, vor allem an Göttervater Zeus, der – vielleicht wenig überraschend angesichts seiner mythologischen Geschichte – in Kratos den (halbgöttlichen) Sohn erkennt, der ihn dereinst stürzen könnte, wie er selbst es auch mit seinem Vater tat. Kratos’ Rachsucht gegen Zeus bringt jedoch auch die anderen Mitglieder des Pantheons gegen ihn auf – denn mit dem Tod des Göttervaters gerät die gesamte kosmische Ordnung in Gefahr : Athena: »God after God will deny you, Kratos. They will protect Zeus. Zeus must live so that Olympus will prevail.« Kratos: »If all of Olympus will deny me my vengeance, then all on Olympus will die. I have lived in the shadow of the gods for long enough. The time of the gods has come to an end!«34

Ein Gott nach dem anderen stellt sich Kratos in den Weg und wird von ihm – und vom Spieler – auf brutalste Weise getötet. Eine kurze Liste: God of War II: Athena (durchbohrt beim Schutz von Zeus) God of War III: Poseidon (ausgedrückte Augen, Genickbruch) Hades (getötet mit den eigenen Waffen) Helios (per Hand geköpft, Kopf dient als Lampe) Hermes (mehrfache Amputation, Blutverlust, Kratos gewinnt seine Flügelschuhe) Herakles (im Ringen geschlagen, zermalmter Körper) Hephaestus (durchbohrt mit dem eigenen Amboss) Hera (Genickbruch, ihr Körper dient als Gewicht für einen Lastenaufzug) Zeus selbst (massive Schädelfraktur)35

Der Irrsinn von Kratos’ – und dem eigenen – Handeln wird dem Spieler nicht nur in der unnötigen Brutalität der einzelnen Göttermorde demonstriert, sondern auch in den Folgen der Morde für die Welt als Ganzes: Nach einer Sintflut (Poseidon), der Unterbrechung des Kreislaufs von Leben und Tod (Hades), einer 34 God of War II, SCE Santa Monica Studio/Sony Computer Entertainment, 2007. 35 Vgl. The God of War Wiki: »Gods«. Online unter : godofwar.wikia.com/wiki/Gods (20. 08. 2014). Zu den perspektiven- und fiktionalitätstheoretischen Implikationen von Kratos’ Zeus-Mord vgl. den Beitrag von Benjamin Beil: Göttliche Leerstellen – Religiöse Perspektiven des Computerspiels, in diesem Band 625–643, hier 641ff.

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globalen Dunkelheit (Helios), Pestilenz (Hermes), dem Tod aller Pflanzen (Hera) und schließlich der Entfesselung des Himmels selbst in der Form zerstörerischer Blitze (Zeus) ist die Welt und mit ihr die Menschheit dem Tode geweiht. In der letzten Sequenz des Spiels nimmt sich Kratos selbst das Leben, ohne dass der Spieler es verhindern könnte.

III.2. b) Die Tötung des monotheistischen Schöpfergottes Die God of War-Serie nimmt damit ein Moment der existenziellen Bedrohung vorweg, das in der westlichen Imagination nur dem wahrhaften »Tod Gottes« als dem Ende einer sinnstiftenden und schöpferischen Gottheit zugeschrieben wird: Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?36

Und in der Tat scheinen in dieser Hinsicht noch immer kulturelle Strukturen zu existieren, die die virtuelle Verwirklichung dieser Form des Deizids in westlichen Computerspielen weitgehend verhindern. In der Tat findet sich in keinem der 37 auf TV-Tropes gelisteten Spiele ein westliches Beispiel für den erfolgreich durchgeführten Deizid eines monotheistischen Schöpfergottes – dafür in mehr als einem Dutzend japanischer Titel.37 Ob in Titeln wie Bayonetta (2009), Arc Rise Fantasia (2009), Final Fantasy VI (1994) oder ganzen Serien wie Shin Megami Tensei (1992–2009) oder der Xeno-Metaserie von Xenogears (1998), Xenosaga (2002–2006) und Xenoblade (2010): Zentrale Titel der japanischen Rollenspieltradition machen die Tötung eines monotheistischen Schöpfergottes zur Hauptmission ihrer Protagonisten. Dass hier explizit an die bestehende Tradition abrahamitischer Gottesbilder – welche paradoxerweise gerade den Tod Gottes als Unmöglichkeit affirmieren – angeknüpft wird, wird in zahlreichen Fällen schon durch den »Namen Gottes« klar. So kämpfen die Protagonisten der Shin Megami Tensei-Serie (auch im japanischen Original) gegen »YHVH«38, während der Hauptgegner von Xenogears mit dem Eigennamen »Deus« belegt wird. Diese Verbindungen verstärken sich in der intradiegetischen 36 Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. Aphorismus 125 (Anm. 21). 37 Vgl. TV-Tropes: »Kill The God«. Online unter : http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/ Main/KillTheGod?from=Main.Deicide (10. 08. 2014). 38 Der Endboss von Megami Tensei II und Kyu¯yaku Megami Tensei, in zahlreichen anderen Titeln der Serie erwähnt. Vgl. »YHVH«. Megami Tensei Wikia. Online unter : http://mega mitensei.wikia.com/wiki/YHVH (23. 09. 2014).

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Religion um den Schöpfergott, die in zahlreichen Fällen klar auf judeochristliche Vorbilder anspielt: So ist die weltliche Organisation der »einen« Religion sowohl in ihrer Architektur wie auch in der internen Hierarchie, der Sprache und Ikonographie an mittelalterliche religiöse Praktiken vor allem der katholischen Kirche angelehnt.39 Die Gruppe der spielbaren Figuren findet sich so meist in einer pseudomittelalterlichen Welt wieder, in der die Religion der Gottheit eine starke politische und meist auch militärische Machtposition einnimmt. Im Lauf des Spiels stellt sich heraus, dass die Religion der einen Gottheit einen korrumpierenden Einfluss auf die Welt ausübt, der oft sogar in der versuchten Einleitung des Weltuntergangs kulminiert. Die Abenteurergruppe der Spielerfiguren stellt sich diesem Versuch der Vernichtung und Neuschöpfung entgegen und kämpft sich durch die religiöse Hierarchie nach oben, bis sie schließlich der Gottheit selbst gegenübersteht und deren diktatorische Herrschaft über die Welt in einer apokalyptischen Endschlacht bricht. Fallstudie: Xenogears Xenogears exemplifiziert nicht nur den typischen Ablauf dieses Prozesses, sondern erlaubt durch seine Gestaltung auch einen Blick auf die eklektizistischen Einflüsse auf das Genre: Die technomagische Weltstruktur, in der hochmoderne Kampfläufer (»Gears«) neben feudalen Königreichen existieren, konfrontiert den Protagonisten Fei und seine Gruppe aus Außenseitern (Mutanten, Luftpiraten, Assassinen, Forscher) mit einem komplexen Netz aus religiösen und militärischen Machtstrukturen (die Nationen Kislev und Aveh, die Kirche des »Ethos« und die Sekte von Nisan, die mysteriöse Militärorganisation »Gebler«). Nach Dutzenden von Spielstunden, in denen die Protagonisten sich gegen die Intrigen der einzelnen Organisationen zur Wehr setzen mussten, kommen sie der gemeinsamen Wurzel aller Übel auf die Spur : Gott selbst zieht im Hintergrund die Fäden und will der Schöpfung ein Ende setzen. »Deus«, ein biomechanisches Konstrukt von scheinbar grenzenloser Macht, das die Menschheit als Reparaturmechanismus erschuf, nutzt die mächtige antike Zivilisation von Solaris sowie die Religion des »Ethos«, um die Welt nach seinem Willen zu manipulieren. Nach der Niederlage seiner weltlichen Instrumente geht Deus den direkten Weg und sendet seine »Engel« (biomechanische Roboter) aus, um die Lebenden zu ernten und aus ihrem Fleisch seine physische Form zu regenerieren. Eine Erklärung zur narrativen Entwicklung, die die beiden zentralen Protagonisten als ergänzende Teile eines gnostischen Menschenpaars zu 39 Vgl. Rabia Gregory : Citing the Medieval. Using Religion as World-Building Infrastructure in Fantasy MMORPGs. In: Campbell u. Grieve (Hg.): Playing with Religion (Anm. 5), 134–153, hier 137f.

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den Rettern der Menschheit macht, muss hier unterschlagen werden – wichtig ist, dass Deus als Reaktion auf die Bedrohung selbst in »Merkaba«, einer gewaltigen biomechanischen Waffenkonstruktion40, auftritt und einen Großteil der Menschheit auslöscht. Fei und seine Gruppenmitglieder stürmen »Merkaba« und bekämpfen, nachdem sie bereits die menschlichen Anhänger des Demiurgen besiegt haben, seine biomechanischen Engel. Die vier finalen »Vorbosse« besitzen dabei die Namen Metatron, Sandalphon, Maroth und Haroth.41 Ihre Herkunft (aus dem Alten Testament, dem Koran und der persischen Mythologie42) ist dabei ebenso eklektisch wie ihre visuelle Gestaltung, welche überraschenderweise nicht bei viktorianischen Darstellungstraditionen haltmacht, sondern Engel als die grotesken phänomenologischen Grenzerscheinungen darstellt, die sie auch in den Visionen des Ezechiel sind.43 Deus selbst ist aus dieser Auswahl vielleicht am stärksten humanoid: Er erscheint als eine schlanke, langgliedrige Figur in Meditationshaltung. Sein weißer Körper ist überall mit roten Augen bedeckt, seine Arme bestehen aus engelsgleichen Roboterfiguren. Doch trotz seines fremdartigen Aussehens ist Deus den Spielregeln unterworfen: Er wird von den jungen Helden bezwungen und endgültig aus dem Kosmos gebannt. Seine Vernichtung durch die Heldengruppe verdammt die Welt jedoch nicht zum Untergang, sondern erlaubt ihr zum ersten Mal eine unabhängige Entwicklung jenseits externer Einmischung.

III.3. Zwischenfazit Das Computerspiel erlaubt als global rezipiertes Medium einen vielfältigen Umgang mit dem medialen Phänomen des Deizids. Bemerkenswert sind dabei die signifikanten Unterschiede der Realisierungs- und Inszenierungspraxis zwischen primär amerikanisch-zentraleuropäischen auf der einen und japanischen Produktionen auf der anderen Seite. Während westliche Spiele den Deizid primär in fiktive polytheistische Settings verlagern und zudem stark durch Naturalisierungsverfahren in seinen möglichen metaphysischen Konsequenzen 40 Vgl. Gottes Thronwagen in der Vision des Ezechiel, siehe Hes 1, 4. 41 Der teilweise lange Weg von den Originalquellen zum japanischen Videospiel hat die Namen der Engel jedoch etwas verstümmelt: Sandalphon wird im Spiel zu Sundel, Maroth zu Marlute und Haroth zu Harlute. 42 In Sure 2 wird die Geschichte der Engel Haroth und Maroth und ihres Falls erzählt. Der persische Dichter Hafiz baut ihre Geschichte aus. Vgl. Matthew Bunson: Angels A to Z: A Who’s Who of the Heavenly Host. New York 1996, 132. 43 Metatron erscheint als stelzenhafter weißer, schlanker Roboter, Sandalphon als rotierende rote geometrische Figur, Haroth als auf dem Kopf stehender Energietornado. Maroth treibt diese Verfremdungseffekte auf die Spitze: Er erscheint als ein zweidimensionales Emblem in einer sonst dreidimensionalen Welt.

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beschränken, nutzen japanische Titel bewusst die Konfrontation mit allmächtigen monotheistischen Götterfiguren aus der westlichen Kulturtradition als finale Herausforderung des Spiels. Aber auch hier wird nur selten mit dem Ende »Gottes« auch das Ende der (sinnerfüllten) Welt eingeläutet – im Gegenteil, der Gottesmord des JRPG wird als Auflehnung gegen die höchste patriarchale Instanz zum emanzipatorischen Akt erklärt, der notwendigerweise das Erwachsenwerden der Helden sowie der Menschheit als Ganzes ermöglicht.44

IV.

Individuelle Ermächtigung und vermittelte Selbsttätigkeit: Die spezifische Medialität des Computerspiels

Der vorangegangene Teil konnte die konkrete Darstellungspraxis des Deizids im Computerspiel illustrieren, jedoch durch seinen starken Fokus auf die narrativen Komponenten des Spiels nur begrenzte Erklärungen für die Häufung dieses Musters im Medium des Computerspiels liefern. Dies gelingt nur durch einen Blick auf die medialen Potenziale und Dispositive des Mediums selbst. In der Tat konnte die Computerspielforschung in den Jahren seit dem Entstehen der noch jungen Disziplin große Fortschritte bei der Herausarbeitung der spezifischen Medialität des Computerspiels erzielen.45 Die Ergebnisse ihrer Arbeiten erlauben einen Blick auf das Computerspiel als Medium der digitalen Medienkonvergenz, das durch die Vereinheitlichung der semiotischen Grundlage vorher materiell inkompatibler Medien im binären Code interferenzlos semiotische Elemente textueller und audiovisueller Erzählmedien (wie Film, Musik, Theater, Literatur u. a.) in seine Wirkungsstrukturen integrieren kann. Im Bezug auf Religion bedeutet dies, dass Spiele neben religiös assoziier- und interpretierbaren Texten auch Erzählungen, Gesänge, Gegenstände, Gesten und zahlreiche andere medial vermittelte Ebenen religiöser Bedeutungsstrukturen 44 Hier würde sich auch eine psychoanalytische Lesart anbieten. Vor allem Xenogears scheint darauf ausgelegt zu sein, denn auch in der japanischen Originalversion sind Figuren namens ›Lacan‹ und ›Id‹ zentrale Handlungspersonen. 45 Für den aktuellen Forschungsstand der deutschsprachigen Game Studies (eine extrem enge Auswahl): Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Würzburg 2008; Benjamin Beil u. a. (Hg.): Theorien des Computerspiels. Zur Einführung. Hamburg 2012; Stephan Günzel: Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt a. M./New York 2012; Anja Beyer u. Gunther Kreuzberger (Hg.): Digitale Spiele – Herausforderung und Chance. Beiträge der Tagungen LIT 2006 und 2007. Boizenburg 2009; Klaus Bartels u. Jan-Noel Thon (Hg.): Computer/Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies. Hamburg 2007. Aktuelle Publikationen finden sich sowohl auf den Seiten der deutschen Game-Studies-Plattform AG-Games (www.ag-games.de) wie auch auf der Onlinepräsenz von Paidia (www.paidia.de), dem eJournal für deutschsprachige Computerspielforschung.

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darstellen können – und dies simultan. Diese Anreicherung medialer Erfahrung wird wiederum durch die interaktive Dimension des Mediums zusätzlich verstärkt. Dies geschieht im Rahmen einer komplexen semiotischen und psychomotorischen Feedbackschleife zwischen dem Spieler, dem Bildobjekt (also den sichtbaren Objekten und Figuren auf dem Bildschirm), der für Spieler unsichtbaren Codebasis und den Eingabehandlungen auf Keyboard, Maus oder Controller.46 Kurz: Die durch den Code geleiteten Eingaben des Spielers werden im Rahmen der Softwarearchitektur verarbeitet und auf die virtuellen Figuren, Objekte und Welten verrechnet, um diesen durch entsprechende Veränderungen den Anschein einer kohärenten Existenz zu verleihen. Spieler erhalten so den Eindruck des »Handlungserleben[s] in einem Raum virtueller Anwesenheit«47, fühlen also, selbst in medial vermittelter Körperlichkeit auf die virtuelle Umwelt Einfluss nehmen zu können. Diese medial vermittelte Dimension des Performativen im »Sehenhandeln«48 eröffnet Computerspielen so einzigartige Möglichkeiten, auf eine komplexe polysensorische und -semiotische Bedeutungsstruktur wie Religion zu referieren, die sich, wie David Morgan in The Sacred Gaze feststellt, nicht nur in ihrer Bilderwelt erschöpft, sondern sich vor allem in sinnlichen Handlungen ausformt: Religion is about the sensual effects of walking, eating, meditating, making pilgrimage, and performing even the most mundane of ritual acts. Religion is what people do with material things and places, and how these structure and color experience and one’s sense of oneself and others.49

IV.1.

Das Unmögliche wagen: Handeln im Computerspiel

Computerspiele erlauben also nicht nur die polysemiotische Darstellung von aus der Realität bekannten oder auch vollkommen fiktiven Orten, Figuren und Handlungen – sie versetzen Rezipienten auch als ›Spieler‹ in ein Rezeptionsverhältnis, das ihnen die scheinbare Interaktion mit diesen virtuellen Orten und Figuren sowie den Vollzug für sie sonst unmöglich auszuführender Handlungen ermöglicht. Dieses erweiterte Repertoire von praktisch (wegen finanzieller oder ethischer Barrieren) wie auch zum Teil theoretisch (aufgrund des Bruchs mit den bekannten Naturgesetzen) unmöglichen Aktivitäten schließt auch die Mög46 Vgl. Stefan Günzel: Böse Bilder? Sehenhandeln im Computerspiel. In: Werner Faulstich (Hg.): Das Böse heute. Formen und Funktionen. München 2008, 295–305, 301. 47 Jochen Venus: Erlebtes Handeln im Computerspiel. In: Beil u. a. (Hg.): Theorien des Computerspiels (Anm. 45), 104–127, hier 118. 48 Günzel: Böse Bilder? (Anm. 46), 300. 49 David Morgan: The Sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice. Berkeley u. a. 2005, 4.

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lichkeit des Göttermordes durch Menschenhand mit ein. Doch da für den Akt des Deizids (wie auch für viele andere ›unmögliche‹ Handlungen wie z. B. das Durchqueren eines schwarzes Lochs) keine naturwissenschaftlich gesicherten oder aus dem Alltag abrufbaren Handlungsschemata existieren, stehen Computerspiele hier noch deutlicher als sonst vor der Herausforderung, eine »unmögliche«, nur aus anderen Medienformen bekannte Handlung durch das simple performative Inventar auszudrücken, das die Tasten und Steuerkreuze von Tastatur, Controller und Maus bereitstellen. Die in den Einzelbeispielen beobachteten Realisierungen des Handlungsschemas »Deizid« variieren jedoch, wie auch bei anderen Handlungen, je nach Spielgenre, Perspektivierung und visueller Ästhetik und können deshalb nicht für das Phänomen als Ganzes pauschalisiert werden. Da die meisten kommerziellen Computerspiele in Anlehnung an das traditionelle Hollywood-Kino50 jedoch auf einer »realistischen« Ästhetik basieren, d. h. ihre artifizielle Struktur so weit wie möglich51 durch Techniken der Kohärenz- und Kontinuitätskonstruktion verbergen, lässt sich auch erwarten, dass die Handlung des Deizids so »adäquat« wie möglich in Tastatur- oder Mausaktionen umgesetzt wird, um Spielern ein angemessenes Feedback der semantisch stark aufgeladenen Handlung zu vermitteln. Dies erklärt, wie Rezipienten zumindest potenziell medial vermittelt zu Göttermördern werden können – bzw. wie sie durch die Vermittlung eines Avatars in einem audiovisuellen und performativen Zirkel Erfahrungen machen, die von ihnen sowie Beobachtern unter der Bedeutungsstruktur des Gottesmordes eingeordnet werden können.

IV.2.

Herausforderung, Belohnung und Ermächtigung

Doch um die weiterführende Frage zu beantworten, warum der Göttermord eine so attraktive Handlungsoption im Inventar des Computerspiel darstellt, muss eine weitere, zum Teil von narrativen Faktoren entkoppelte Säule des Mediums berücksichtigt werden: die ludische Herausforderung sowie ihre Ausformung als Ermächtigungsspirale in Mainstream-Computerspielen. Die bereits beschriebene Feedback-Schleife im Kern des Mediums lässt sich dabei wiederum als Basis nutzen: Der Input des Spielers wird durch die basale, im Code festgelegte Regelstruktur des Spiels gegliedert und dadurch in seinen möglichen Konsequenzen begrenzt – nur bestimmte verankerte Input-Kombinationen 50 Vgl. David Bordwell, Janet Staiger u. Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. New York 1985, 24ff. 51 Ein Mindestmaß an visuellen und kausalen Brüchen ist im Computerspiel durch seine ludischen Elemente, d. h. z. B. die Pausierung des Spiels, Laden und Speichern angelegt und kann in den meisten Fällen kaum vermieden werden.

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führen über eine basale, von Hans-Joachim Backe als »Substruktur« des Spielgeschehens beschriebene Ebene hinaus52 zu einer Fortsetzung des Spielgeschehens (z. B. nur der als Sprung übersetzte Druck der »Space«-Taste kann die Spielfigur einen Abgrund überwinden lassen).53 In längeren Spielen werden diese zur Aufrechterhaltung der spielerischen Herausforderung nicht nur variiert, sondern auch zunehmend komplexer : Mehr Tasten müssen in kürzerer Zeit und in längeren und z. T. unerwarteten Kombinationen gedrückt werden, um den Spielfluss aufrechtzuerhalten. Auf der semantisch zugänglichen Ebene des Spielverlaufs äußert sich dies in der anspruchsvollen Kombination verschiedener Waffen, Bewegungsabläufe oder Zaubersprüche, um weitere Abgründe, widerstandsfähigere Gegner oder komplexere Rätsel zu überwinden. Diese Überwindung von Herausforderungen durch regelkonformen Input wird vom Spiel auch belohnt; nicht nur in der Aufrechterhaltung des befriedigenden »Flow«-Erlebens des Gameplays selbst, sondern auch in neuen ludischen Handlungs- und Problemlösungsoptionen (in der Form von Geldbelohnungen, nutzbaren Gegenständen und stärkenden Fähigkeiten), die im Lauf des Spiels zu einer zunehmenden Ermächtigung des Avatars gegenüber seiner Umwelt führen. Alte Herausforderungen werden so leichter und routinierter überwunden und führen dem Spieler selbst in anspruchsvollen neuen Situationen den Machtzuwachs seiner Spielfigur(-en) im Vergleich zum Spielbeginn vor. Gleichzeitig wird eine narrative Belohnung angeboten – durch die Fortführung einer Geschichte, die die Überwindung der Herausforderung anerkennt und die Fortschritte des Spielers durch den sozialen oder militärischen Aufstieg des Protagonisten in der Diegese bestätigt. Die Effektivität dieser Formel exemplifiziert sich im Rollenspielgenre: Zahlreiche populäre Titel54 belohnen Spieler bzw. ihre Avatare sowohl ludisch durch »Erfahrungspunkte« (welche durch Stufenaufstiege zu neuen Fähigkeiten und einer kontinuierlichen Machtzunahme des Avatars führen), Geldbelohnungen und (techno-)magische Gegenstände sowie narrativ durch den Bedeutungszuwachs des Avatars bzw. der Heldengruppe innerhalb der sozialen und politischen Ordnung der diegetischen Welt (Trophäen, Prestige, Ränge, Titel, Bewunderung und Vertrauen durch politische Führungskräfte 52 Vgl. Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel (Anm. 45), 357. 53 In dieser Form hat Mathias Mertens recht, wenn er die von narratologischer Seite geäußerten optimistischen Annahmen zur kreativen Ko-Autorschaft von Spielern stark kritisiert und bemerkt, dass Spieler durch die Unterwerfung gegenüber den psychomotorischen Regeln des Spiels auch nur als Auxiliar-Elemente des Spiels funktionieren. Vgl. Mathias Mertens: Computerspiele sind nicht interaktiv. In: Christoph Bieber u. Claus Leggewie (Hg.): Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff. Frankfurt a. M./New York 2004, 272–288, hier insb. 282f. 54 Beispiele wären die populären Rollenspiele von Bioware (Baldur’s Gate, Knights of the Old Republic, Jade Empire, Mass Effect), die Fable-, Final Fantasy- oder Fallout-Serie und viele andere.

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uva.). Diese Logik kontinuierlicher Steigerung kulminiert typischerweise in einem sogenannten Endlevel oder der Konfrontation mit einem Endboss, einer Instanz, die das gesamte im Spielverlauf erworbene psychomotorische Inventar des Spielers abruft und dessen regelkonforme Beherrschung prüft. Es liegt nahe, diese finale Herausforderung auch mit einer ihrer Schwierigkeit angemessenen semantischen Hülle zu umschließen.

IV.3.

Gott und Götter als semantische Schablonen

In dieser durch die Kreuzung von semantischer und ludologischer Ebene konstruierten Ermächtigungserfahrung liegt, so meine These, der Schlüssel zu einem Verständnis der Attraktivität des Deizid-Motivs im Computerspiel. Um dies zu erklären, ist jedoch ein weiterer Blick auf die Funktionsweise des Computerspiels notwendig. Bis zu diesem Punkt sollte klar geworden sein, dass viele Spiele ihre Faszination aus einem vorsichtig ausbalancierten Nebeneinander von steigender Herausforderung und ebenfalls steigender Ermächtigung der Spielfigur (und vermittelt auch des Spielers) beziehen. Mainstream-Computerspiele tendieren in diesem Punkt wiederum dazu, eine kohärente semiotische Codierungsstrategie für die basale Steigerung psychomotorischer Herausforderungen zu schaffen – in der Intensitätssteigerung der audiovisuellen Repräsentationen von Herausforderung. Kurz: »Gegner«, die für eine größere psychomotorische Herausforderung stehen, werden auch audiovisuell als ›gefährlicher‹ gekennzeichnet. Dies geschieht einerseits durch grundlegende phänomenologische Signale wie zunehmende Größe oder Farbcodierung (Gefahrenfarben), andererseits jedoch auch durch die Nutzung von komplexen Schablonen und ikonischen Zeichen aus anderen kulturellen und medialen Kontexten. Dies äußert sich z. B. im häufigen Auftauchen von ikonischen Figuren wie mittelalterlicher anthropomorpher Repräsentationen des Todes, SSSoldaten als Symbolen des militärischen Terrors oder mythischen Monstern wie Drachen als nur mit besonderen Mitteln zu bezwingende Gegner. Selbstverständlich werden mit diesen ikonischen Zeichen und Symbolen auch weitere Hintergrundinformationen aus den mentalen Enzyklopädien der Spieler aufgerufen. Götter bilden dabei keine Ausnahme: Angesichts einer ikonischen Repräsentationstradition, deren Beginn sich bis auf die frühesten materiellen Artefakte des Homo sapiens zurückdatieren lässt, existieren zu Göttern oder gottähnlichen Entitäten zahlreiche z. T. widersprüchliche Vorstellungen. Zwischen animistischen Berg- und Tiergeistern, polytheistischen Pantheons mit ihren stark spezialisierten Einzelgottheiten und unantastbaren monotheistischen Gottheiten bzw. Gottesbildern lassen sich nur wenige Gemeinsamkeiten ausmachen, darunter jedoch eine grundsätzliche: Gott und Götter sind den

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Menschen überlegen, sie besitzen große Macht und sind für das Funktionieren von Kultur, Natur und Kosmos essenziell. Das »Töten« eines Gottes durch Menschenhand sollte also, ungeachtet der Unmöglichkeit einer solchen Handlung in den meisten theologischen Traditionen (siehe nächster Teil), extrem bedeutsam und herausfordernd sein, vielleicht der herausforderndste Akt, den man sich vorstellen kann. Damit bietet der Akt des Deizids eine attraktive Klimax für die Herausforderungslogik des Spiels: Was könnte als stärkerer Indikator der Macht und Fertigkeit des Protagonisten gelten als der Sieg über Gott selbst?

V.

Schluss

Der von den Begrenzungen des Alltags befreite ›Magic Circle‹55, der vom Spieltheoretiker und Anthropologen Johan Huizinga ursprünglich auch besonders als Raum für religiöse Rituale und Transzendenzerfahrungen konzeptualisiert wurde, findet heute seine wirkungsmächtigste Realisierung im ›Proberaum‹ des Computerspiels. Dieses erlaubt Spielern die intensive – sowie gerade durch ihre Herausforderung auch befriedigende – mediale Erfahrung sonst unmöglicher Handlungen, frei von sozialen Tabus und physikalischen Barrieren. Es wäre also möglich, den ständig wiederholten und auf den Sieg des Spielers vorprogrammierten Gottesmord als das triumphale Ausleben der ultimativen Säkularisierungsphantasie zu lesen. Doch so eine grob heruntergebrochene Erklärung wird sowohl durch die untersuchten Spielbeispiele (allen voran God of War) wie auch die herausgearbeitete Medialität des Computerspiels kaum unterstützt. Ich möchte daher einen anderen Erklärungsversuch anbieten: Vor allem Mainstream-Computerspiele realisieren das affektive Potenzial des Mediums durch Strukturen, die Spielern sichere Erfahrungen von Gratifikation und Ermächtigung ermöglichen – welche sie unter den erschwerten ökonomischen Umständen der spätkapitalistischen (neoliberalen) Krisenwirtschaft so kaum noch in der Realität erfahren könnten.56 Unter diesen Umständen ist es möglich, die Häufung des Deizids auch als klassische Kompensationsstruktur zu lesen, die es Spielern ermöglicht, Aggressionen gegen ihre realen Beschränkungen an bereits ›domestizierten‹ oder zumindest nicht mehr Deutungshoheit besitzenden Personifikationen autokratischer Gewalt in Kompensationsphantasien abzubauen. Die Instrumentalisierung von Göttern als semantische Hüllen für ludologische ›Bossmonster‹ erscheint in diesem Licht weniger als aggressiver, atheistisch motivierter Faustschlag, sondern als pragmatischer semiotischer 55 Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1994, 18. 56 Zumindest im selben Zeitabschnitt.

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Akt der post-postmodernen Ära: Trotz einer signifikanten Anzahl von westlichen Bürgern, die sich selbst noch als im konventionellen Sinne ›religiös‹ verstehen, scheinen die Konzepte ›Gott‹ und ›Götter‹ gesamtgesellschaftlich so viel an diskursiver Kraft verloren zu haben, dass ihre – aus einer religiösen Sicht zum Teil höchst problematische57 – Verarbeitung in Computerspielen kaum öffentlich zur Kenntnis genommen wird. Im immer weitläufigeren Netz aus ähnlich sinnentleerten Zeichen scheinen die Götter dennoch heraus: Ihre starke Präsenz im kulturellen Gedächtnis dient noch immer als semiotischer Leuchtturm, an dem Spiele den psychomotorischen Prozessen in ihrem Kern Bedeutung geben können. Andere, früher »göttliche« Eigenschaften wie die Motivation, Prüfung, Bestrafung und Belohnung der Menschen übernimmt das Spiel selbst für diejenigen, die sich ihm als Spieler anvertrauen.

57 Vgl. Kevin Schut: They Kill Mystery : The Mechanistic Bias Of Video Game Representations Of Religion And Spirituality. In: Campbell u. Grieve (Hg.): Playing with Religion (Anm. 5), 255–275, hier 256.

Autorinnen und Autoren

Robert Baumgartner, geb. 1987 in Friedberg. Studium in Neuerer deutscher Literatur an der LMU München und der University of Leeds, 2013 Erwerb des M. A. mit der Arbeit Vom guten Raum: Die Konzeption des Raums in Paul Scheerbarts Planeten-Romanen. München 2015. Seit 2013 Promotionsstudent an der LMU München mit einem Projekt zu raumtheoretischen und semiotischen Herangehensweisen an das Medium Computerspiel. Redakteur und Autor beim akademischen eJournal Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung (www.paidia.de), Lehrkraft für Projekttutorien am Institut für Germanistik der LMU München. Neben den Game Studies beschäftigen ihn auch Fragen nach Transmedialität, Texte und Theorien der Phantastik, Raumtheorie sowie die Literatur und Epoche des Spätrealismus. Benjamin Beil, geb. 1980 in Dortmund. Studium der Medienwissenschaft an der Universität Siegen. 2010 Promotion mit der Arbeit Subjektivierungsstrategien. Point of View und figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel. Seit 2012 Juniorprofessor für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Digitalkulturen an der Universität zu Köln. Zuletzt erschienen: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels. Bielefeld 2012. St¦phane Boutin, geb. 1984 in Kilchberg (CH). Studium der Philosophie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Zürich. M. A. 2012 mit der Arbeit Konstruktiver Konstruktivismus. Die Maschinenphilosophie von Deleuze/Guattari. Seit 2014 Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich, Arbeit an einer Dissertation zur Poetologie des agonalen Denkens von Nietzsche bis The Wire. Zuletzt erschienen: Les h¦ros de l’authenticit¦. Histoires du salut chez Karl May et Heidegger. In: Strenae. Recherches sur les livres et objets culturel de l’enfance 9. Online unter : http:// strenae.revues.org/1456.

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Autorinnen und Autoren

Wolfgang Braungart, geb. 1956 in Schwäbisch Gmünd. Seit 1996 Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld. Weitere Informationen unter www.uni-bielefeld.de/lili/perso nen/braungart/. Hans Richard Brittnacher, geb. 1951 in Trier. Nach Studium in Marburg und Berlin Promotion 1994, Habilitation 2002; Gastprofessuren in Bern, Wien, Durham und Chapel Hill (North Carolina); Stipendiat des Hamburger Instituts für Sozialforschung; lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität des Phantastischen; die Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten; Literatur- und Kulturgeschichte des Goethezeitalters und des Fin de siÀcle. Publikationen in Auswahl: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a. M. 1994; Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siÀcle. Köln/ Weimar 2002; Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Kunst und Literatur. Göttingen 2012. Stefanie Burkhardt, geb. 1986 in Berlin. Studium der Germanistik und Religionswissenschaft in Potsdam, Erlangen und Madurai (Indien) sowie des Masterstudiengangs Ethik der Textkulturen in Erlangen. M. A. 2013 mit einer Arbeit zu Mircea Eliade. Seit 2014 Promotionsstipendiatin am Zentrum für Literaturund Kulturforschung Berlin (ZfL), Arbeit an einer Dissertation zu Narrativität und Wissensproduktion in Eliades religionswissenschaftlichen und literarischen Texten. Christian Dölker, geb. 1982 in Freudenstadt. Studium der Neueren deutschen Literatur, Geschichte und Philosophie an der LMU München. 2011 Staatsexamina für das Lehramt an Gymnasien (Deutsch, Geschichte, Ethik, Sozialkunde). 2011/12 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU. Seit 2013 Lehrbeauftragter und Promotionsstipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst; Arbeit an einer Dissertation in der Neueren deutschen Literatur zu Tieren im deutschen Realismus. Michael Fisch, geb. 1964 in Gerolstein in der Eifel, ist Literatur- und Textwissenschaftler. Er begann nach einer Ausbildung zum Buchhändler 1988 sein Studium der Germanistik und Philosophie und wurde an der Freien Universität Berlin bei Gert Mattenklott 1999 promoviert. Lehraufträge an der FU Berlin und der Universität Hamburg. Seit 2005 entsteht unter seiner editorischen Verantwortung die Ausgabe der »Gesammelten Werke« von Gerhard Rühm, von denen bis jetzt sechs Bände vorliegen. 2010 wurde seine Habilitationsschrift als Buch

Autorinnen und Autoren

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gedruckt. Von Oktober 2008 bis Juni 2011 DAAD-Lektor an der Universit¦ Manouba in Tunis. 2011/12 Lehr- und Forschungsaufenthalt am Institut für Semitistik und Arabistik an der FU Berlin (Lehrstuhl Angelika Neuwirth). Dort entstand sein Verzeichnis deutschsprachiger Koran-Ausgaben »um-al-kit–b«. Seit September 2012 Gastprofessur an der Helwan University Cairo, seit September 2013 an der Cairo University. Hier plant er in einer Kooperation mit (nicht nur) afrikanischen Wissenschaftlern eine Qur’–n-Übersetzung [targamat ma‚ni al-Qur’–n] und einen Qur’–n-Kommentar [tafsir] aus nicht-europäischer Perspektive, deren Realisation und Fertigstellung innerhalb eines Clusters auf zwanzig Jahre angelegt sein soll. Laura Gemsemer, geb. 1986 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Universidad de Cûrdoba (Spanien). M. A. 2013 mit einer Arbeit zum zeitgenössischen Jugendvampirroman. Seit 2013 Doktorandin der Topoi-Forschergruppe C-2 »Space and metaphor in cognition, language, and texts« im Unterprojekt C-2–4 mit einer Dissertation zu G. Boccaccios Poetik der Liebe. Promotionsstudentin der Berlin Graduate School of Ancient Studies und am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Marie Gunreben, geb. 1985 in Würzburg. Studium der Germanistik und Philosophie in Würzburg und Bamberg. M. A. 2011 mit einer Arbeit zu Norbert Gstrein (erschienen in der Reihe Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien). Seit 2012 Kollegiatin des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« der Universität Düsseldorf und Promotionsstipendiatin der Bayerischen Eliteförderung. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Bamberg. Arbeit an einer Dissertation zur Altersweisheit in der Literatur der Moderne. Zuletzt erschienen: Das erzählte Gehirn. Literatur, Wissen, Neurowissenschaft (in: Wirkendes Wort 62/2, 2012). Markus Kraiger, geb. 1983 in Düsseldorf. Studium der Germanistik, Romanistik, Philosophie und Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Universit¦ de GenÀve. Seit 2012 Lehrbeauftragter an der HHU Düsseldorf, Arbeit an einer Dissertation über Fundamentalismus in der Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: Fundamentalistische Denkformen in »Finale« und »Die Attentäterin«. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 45 (2012), H. 1/ 2, 77–88.

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Autorinnen und Autoren

Sebastian Kuppel, geb. 1990 in Singen (Hohentwiel). Abitur am FriedrichWöhler-Gymnasium Singen. Seit 2012 Studium der Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg mit dem Hauptfach Deutsch und dem Erweiterungsfach Deutsch als Zweitsprache. Sonderpädagogische Fachrichtungen: Geistige Entwicklung und Lernen. Tim Lörke, geb. 1975 in Dinslaken. Studium der Germanistik und Anglistik an den Universitäten Heidelberg und Warwick (UK). 2002–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Faust-Archiv Knittlingen. 2006–2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. 2009–2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Ab 2015 PostDoc-Stipendiat an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität Berlin. Publikationen: Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne. Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler. Würzburg 2010; Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Festschrift für Peter Sprengel zum 65. Geburtstag. Würzburg 2014 (Hg. mit Gregor Streim und Robert Walter-Jochum). Mitherausgeber des Faust-Jahrbuchs. Kai Matuszkiewicz, geb. 1986 in Hann. Münden. 2006–2011 Studium der Deutschen Philologie sowie Mittleren und Neueren Geschichte an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Arbeit an einer Promotion zu The Legend of Zelda. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kollegiat am GRK 1787 »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung«. Zuletzt erschienen: Internarrativität – Überlegungen zum Zusammenspiel von Interaktivität und Narrativität in digitalen Spielen. In: DIEGESIS 3 (2014), H. 1, 1–23. Mathias Meert, geb. 1989 in Aalst (Belgien). Studium der Germanistik, Romanistik und Literaturwissenschaft an der Vrije Universiteit Brusssel und der Katholieke Universiteit Leuven. Seit 2012 Assistent für Forschung des Fonds für wissenschaftliche Forschung Flandern (FWO-Vlaanderen) an der Vrije Universiteit Brussel, Arbeit an einer Dissertation über Autorschaft und Intertextualität im Werk von Richard Beer-Hofmann. Forschungsinteressen umfassen Intertextualitätstheorie, Autorschaftsinszenierungen und Literatur der Wiener Moderne. Stefan Neuhaus, geb. 1965 in Wimbern/Westfalen. Studium der Germanistik in Bamberg und Leeds. 1996 Promotion, 2001 Habilitation, 2005 Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg, Professuren an den Universitäten Oldenburg und Innsbruck. Seit 2012 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Uni-

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versität Koblenz-Landau, Standort Koblenz. Publikationen u. a.: Fontane-ABC (1998); Literatur und nationale Einheit in Deutschland (2002); Sexualität im Diskurs der Literatur (2002); Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung (2002); Grundriss der Literaturwissenschaft (2003); Literaturkritik (2004); Märchen (2005); Literaturvermittlung (2009); zuletzt als Hg.: Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft (2012). Gemeinsam mit Oliver Jahraus Hg. der Reihe »Film – Medium – Diskurs« (Königshausen & Neumann), außerdem Hg. der Reihe »Studien zu Literatur und Film der Gegenwart« (Tectum). Yvonne Nilges, geb. 1980. Studium der Deutschen und Englischen Philologie an der Universität Heidelberg. Promotion 2006, Habilitation 2010. 2006/2007 Visiting Fellow an der Harvard University, 2007–2010 Powys Roberts Fellow an der University of Oxford. 2009 Gastprofessorin an der University of Canterbury, Christchurch (Neuseeland). Seit 2010 Privatdozentin an der Universität Heidelberg. Seit 2012 Akademische Rätin a. Z. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Monographien: Richard Wagners Shakespeare (2007); Schiller und das Recht (2012). Veröffentlichungen zur neueren deutschen Literatur-, Geistes- und Kulturgeschichte im internationalen Kontext, zu Wechselwirkungen zwischen den Künsten und interdisziplinären Wissenschaftsdiskursen. Ralph Olsen, geb. 1968 in Lübeck. Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen in Kiel. 2000–2003 Lehrer in Lübeck; zugleich Studienleiter für das Fach Deutsch am IQSH (Kiel). 2004 mit einer Arbeit über Rainer Maria Rilke promoviert. Nach Lehrtätigkeiten in Heidelberg und Karlsruhe seit 2011 Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik (mit den Schwerpunkten Theaterdidaktik und Literarisches Lernen) an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Zuletzt erschienen: Vielfalt des Theaters. Deutschdidaktische Annäherungen. Baltmannsweiler 2015 (Hg. gemeinsam mit Gabriela Paule). Paul Onasch, geb. 1985 in Wolgast. Studium für das Lehramt an Gymnasien mit den Fächern Deutsch, Sozialwissenschaften und Evangelische Religion an der Universität Rostock und der Universität Wien, Abschluss mit dem Ersten Staatsexamen. Seit 2012 Arbeit an einer Dissertation zu biblischen Diskursen im Prosawerk Uwe Johnsons. Wissenschaftliche Hilfskraft an der Arbeitsstelle Uwe Johnson-Werkausgabe an der Universität Rostock, Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Lukas Pallitsch, geb. 1985 in Eisenstadt (Burgenland). Studium der Deutschen Philologie und Theologie an der Universität Wien. M. A. theol. 2010 mit einer

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Autorinnen und Autoren

bibelexegetischen Arbeit zu den Aussendungsworten bei Matthäus. M. A. phil. 2011 mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zu Nelly Sachs. Promotionsstipendiat am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin, Arbeit an einer Dissertation über das Nachleben des Propheten Jeremia. Ludmila Peters, geb. 1985 in Kasachstan. Studium der Germanistik, Geschichte und Slawistik an der Universität Paderborn und der Russian State University for the Humanities in Moskau. Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. M. A. 2011 mit der im vorliegenden Band angesprochenen Thematik zu Ilija Trojanow. Dissertationsprojekt zur Darstellung von Religion und Religiosität sowie Kultur in Romanen der Gegenwartsliteratur. Seit 2013 an der Universität Paderborn tätig und Organisatorin der Tagung Das Radikale – gesellschafts-politische und formal-ästhetische Aspekte in der Gegenwartsliteratur (25.–27. 03. 2015). Paweł Piszczatowski, geb. 1971. Germanistikstudium in Warschau und Berlin (Abschluss 1996). Promotion 2003 über Lessings theologiekritische Schriften. Bevorstehende Habilitation über die Apophatik im Werk Paul Celans. Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Buchveröffentlichungen: Mie˛dzy racjonalizmem a nowym mitem. Lessing i teologia postos´wieceniowa [Zwischen Rationalismus und neuem Mythos. Lessing und die Theologie nach der Aufklärung]. Warschau 2013; Znacze// nie wiersza. Apofazy Paula Celana [Die Be//deutung des Gedichts. Paul Celans Apophasen]. Warschau 2014. Imke Rösing, geb. 1986 in Göttingen. Studium der Neueren deutschen Literatur und Politikwissenschaft an der Universität Konstanz (B. A.) sowie Neueren deutschen Literatur, Kultur, Medien an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (M. A.). 2012 Abschluss mit der Arbeit »Apokalyptik in nationalsozialistischer Literatur«, aus der Teile des im vorliegenden Band abgedruckten Aufsatzes stammen. Seit 2013 tätig im Sachbuchlektorat des Herder Verlages. Markus Schleich, geb. 1985 in Oldenburg. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik und Psychologie an der Universität des Saarlandes, der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen und der Sorbonne, Paris IV. M. A. 2012 mit einer Arbeit über transmediale Phänomene in der Popularmusik. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes, Arbeit an einer Dissertation zu intertextuellen Spannungsfeldern zwischen Literatur und Popularmusik. Zuletzt erschienen: »This Song Isn’t Mine Anymore« – Vom Covern in der Popmusik. Berlin 2014.

Autorinnen und Autoren

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Jens Ole Schneider, geb. 1984 in Bremen. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Universität Leipzig. 2009/10 halbjähriger Lehr- und Forschungsaufenthalt an der University of Kansas City-Missouri (USA). M. A. 2012 mit einer Arbeit zu Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten. Seit 2013 Promotionsstipendiat am Graduiertenkolleg ›Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung‹ (WWU Münster) mit einem Dissertationsprojekt zur ›Inszenierung und Problematisierung monistischer Anthropologien in der Literatur um 1900‹. Zuletzt erschienen: »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. Anthropologischer Wissensanspruch und narrative Wissensproblematisierung in Thomas Manns »Der kleine Herr Friedemann« und »Der Weg zum Friedhof«. In: Scientia Poetica 18 (2014). Swen Schulte Eickholt, geb. 1982 in Essen. Studium der Neueren Deutschen Literatur, Pädagogik und Medienwissenschaften an der Universität Paderborn und der Universität Regensburg. M. A. 2009 mit einer Arbeit zum Bildungsroman. Promotion 2014, gefördert durch das Graduiertenstipendium der Universität Paderborn. Seit 2013 Lehrbeauftragter der Universität Paderborn. Dissertation mit dem Titel Religiosität und Literatur in Novalis’ »Heinrich von Ofterdingen« und Orhan Pamuks »Das neue Leben« erscheint 2015. Zuletzt erschienen: Da sah ich mit Schrecken, daß sich die Welt um mich herum von A bis Z verwandelt hatte. Zur Verbindung von islamischer und romantischer Tradition in Orhan Pamuks »Das Neue Leben«. In: Michael Hofmann u. Klaus von Stosch (Hg.): Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Paderborn 2012, 231–243. Brigitte Schwens-Harrant, geb. 1967 in Wels. Studium der Deutschen Philologie und Theologie in Wien. 1992 Würdigungspreis des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung. Promotion 1995 (Erlebte Welt – erschriebene Welten. Theologie im Gespräch mit österreichischer erzählender Literatur der Gegenwart). 1993–2002 Redakteurin des Fernkurses für Literatur des Literarischen Forums sowie der Zeitschrift Die Zeit im Buch. 2000–2002 Leitung des Literarischen Forums in Wien und Chefredakteurin von SCHRIFT/zeichen, einer Zeitschrift für Literatur, Kunst und Religion. Seit 2002 Ressortleiterin Literatur der Wochenzeitung Die Furche in Wien, seit 2013 Feuilletonchefin. Seit 2007 zudem Lehraufträge am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Herausgeberin der Website www.literatur-religion.net und Mitherausgeberin von www.literaturkritik.at. 2015 Trägerin des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik. Zuletzt erschienen: Ankommen. Gespräche mit Dimitr¦ Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavaric. Wien 2014; Schrift ahoi! Literatur als Seefahrt. Ein Lexikon. Gemeinsam mit Jörg Seip. Wien 2013;

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Autorinnen und Autoren

Der geplünderte Tempel. Ein Dialog. Gemeinsam mit Jörg Seip. Wien 2012; Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck 2008. Peter Sprengel, geb. 1949 in Berlin. Studium der Germanistik und klassischen Philologie in Hamburg und Tübingen. Promotion an der Universität Hamburg 1976 (Soziologische Aspekte der Innerlichkeit bei Jean Paul). 1976–1982 Wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Berlin; Habilitation ebenda 1981 (Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns anhand des handschriftlichen Nachlasses). Heisenberg-Stipendiat. Nach Vertretungen in Stuttgart und München Professuren in Erlangen 1986–1989, Kiel 1989/90 und (als ordentlicher Professor seit 1990) an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Drama und Theater, Literatur um 1900. Zuletzt erschienen: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie. München 2012. Franziska Thiel, geb. 1984 in Berlin. Studium der Germanistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie Ost- und Südosteuropäischen Geschichte an der Universität Leipzig. M. A. 2010 »Der Tod des Autors – Ambiguitäten eines Paradigmas«. 2008–2011 Studentische, später wissenschaftliche Hilfskraft von Prof. Dr. A. Hoffmann-Maxis. Seit 2011 Diplomassistentin in der Germanistischen Literaturwissenschaft an der Universit¦ de Fribourg, Schweiz, Arbeit an der Dissertation »Ende und Anfang – moderne Apokalyptik in der Kunst. Auf den Spuren apokalyptischer Texte seit der Avantgarde bis zum Ende des 2. Weltkrieges«. 2012–2014 berufsbegleitendes Diplomstudium »Hochschuldidaktik und neue Technologien in der Lehre« (Abschluss Diploma of Advanced Studies). Zuletzt erschienen: Die Großstadt als apokalyptischer Raum in der frühexpressionistischen Lyrik und Bildenden Kunst. In: Weltentwürfe des Fantastischen. Erzählen – Schreiben – Spielen. komparatistik online. Hg. v. Laura Muth u. Annette Simonis. Online unter : www.komparatistik-online.de/2013-113; Die Sehnsucht nach dem Ende aller Dinge oder : Die Erlösung im Weltuntergang. Lars von Triers »Melancholia«. In: Peter Weiss Jahrbuch 22 (2013), 83–104. Alina Timofte, geb. 1981 in Vatra-Dornei/Rumänien. Studium der Neueren deutschen Literatur, Latinistik und Soziologie an der Universität Konstanz und der Al. I. Cuza-Universität Jassy. M. A. 2009 mit einer Arbeit über die anthropologische Legitimation der Einsamkeit im 18. Jahrhundert u. a. bei Johann Georg Zimmermann und Jean-Jacques Rousseau. Seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen Europas« der Universität Konstanz, Arbeit an einer Dissertation zur Präsenz genuin religiöser Textgattungen in nichtreligiösen bzw. theologiefreien Kontexten der literari-

Autorinnen und Autoren

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schen (post-)säkularen Moderne. Zuletzt erschienen: Einsamkeit (ver-)schreiben. Umwertungen im anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. In: Recherches Germaniques 44 (2014). Ariane Totzke, geb. 1983 in Wuppertal. Studium der Germanistik und Philosophie an den Universitäten Bochum und Trier. M. A. 2012 mit einer Arbeit zu Männlichkeit und Ökonomie bei Thomas Mann. 2012–2013 Anschubstipendiatin des Doktoratsprogramms Literaturwissenschaft der Universität Basel sowie ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Seit 2013 wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaften der ETH Zürich sowie wissenschaftliche Assistentin in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft der Universität Basel – gefördert durch ein Promotionsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds zum Thema Produktivitätsdiskurse und Männlichkeit im Frühwerk Thomas Manns. Zuletzt erschienen: Der Homunculus Oeconomicus bei der Arbeit. Militärische Untauglichkeit und gedemütigter Männerstolz in Thomas Manns »Der Bajazzo«. In: Andrea Bartl u. Nils Ebert (Hg.): Der andere Blick der Literatur. Perspektiven auf die literarische Wahrnehmung der Wirklichkeit. Würzburg 2014, 13–33. Zusammen mit Dr. Stefani Kugler : Nationalismus und Völkermord in Emine Sevgi Özdamars »Perikizi. Ein Traumspiel«. In: Simela Delianidou u. Elke Sturm-Trigonakis (Hg.): Sprachen und Kulturen in (Inter)Aktion. Teil 1 (Literatur- und Kulturwissenschaft). Frankfurt a. M. u. a. 2013, 107–120. Lorenz Trein, geb. 1984. Studium der Religionswissenschaft, Ethnologie und Neueren und Neuesten Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Magister Artium 2009). Promotion an der Universität Basel (2014) mit einer religionswissenschaftlichen Arbeit über die Entstehung des Kollektivsingulars Islam in Kontexten europäischer Wissenschafts- und Religionsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Die Gegenwart der Religionsgeschichtsschreibung. Zur religionswissenschaftlichen Diskussion um Europäische Religionsgeschichte. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 65/3 (2013), 209–223. Robert Walter-Jochum, geb. 1981 in Ravensburg. Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie und Neueren Geschichte an der Freien Universität Berlin und der Universit¦ Libre Bruxelles. M. A. 2007 mit einer Arbeit zur Intertextualität in Heimito von Doderers Strudlhofstiege. Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin. 2015 Promotion mit der Arbeit Wege zum Ich: Zu einer Autobiografietheorie im Zeichen postmoderner Theoriebildung. Mit Analysen zu

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Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster. Zuletzt erschienen: Günter Grass: Im Krebsgang (Schroedel Interpretationen; 31). Braunschweig 2012; Von den Rändern zur Moderne. Studien zur deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Festschrift für Peter Sprengel zum 65. Geburtstag. Würzburg 2014 (Hg. mit Tim Lörke und Gregor Streim). Frank Weiher, geb. 1979 in Düsseldorf, studierte Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Magisterarbeit schrieb er über Thomas Manns Der Zauberberg. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Thomas Mann-Gesellschaft Düsseldorf und Mitherausgeber der Düsseldorfer Beiträge zur Thomas Mann-Forschung. Arbeit an einer Dissertation über die Bedeutung Richard Wagners im Werk Thomas Manns. Zuletzt erschienen: Die Kastration des Pfählers. Über Dracula und Twilight. In: Christian Baier u. a. (Hg.): Die Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden, Probleme der kulturund literaturwissenschaftlichen Forschung. Bamberg 2014. Monika Wolting, geb. 1972 in Słupsk/Polen. Studium der Germanistik an der Universität Danzig und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, M. A. 1998 mit dem Thema »Spiritualität und Religiosität in Hermann Hesses Texten«, Promotion 2002 an der Universität Warschau mit der Schrift »Der Brunnen in der deutschen Kulturgeschichte«, Habilitation 2010 an der Universität Breslau mit einer Abhandlung zum Thema »Garten als Topos in Texten von U. Gruenter, M. L. Kaschnitz und S. Kirsch«. Seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2010 Professorin am Germanistischen Institut der Universität Breslau. Zuletzt erschienen: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen 2014 (Hg. mit Carsten Gansel und Marcus Joch).