Bilder des Jüdischen: Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert 9783110276572, 9783110276459

In the spring of 2010, the weekly newspaper Die Zeit featured a headline story titled "Typically Jewish" - and

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Bilder des Jüdischen: Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert
 9783110276572, 9783110276459

Table of contents :
Vorwort: „Jüdische Identität“?
Einleitung
Teil I: Zeichen und Repräsentationen
Porträt und Typus. Repräsentationen ,der‘ Jüdin in der Jüdischen Moderne
Alberich, Repräsentant der finsteren Mächte? Zum Bild des Jüdischen in Fritz Langs Nibelungen-Film
„Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt.“ Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen
Fremdbilder des Jüdischen. Ein Berliner Hype und seine jüdischen Wahrnehmungen
Teil II: Zwischenräume
Da-Zwischen. Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße
„... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären ...“. Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik
„... auf Gedeih und Verderb mit Deutschland verbunden“? Gabriele Tergits literarische Spurensuche nach dem jüdischen Ich
„Sie sehen: ich bin wütend.“ Hannah Arendt und Gershom Scholem streiten über Judentum im Exil
Ein deutsch-jüdischer Emigrant im Erstkontakt mit dem Zionismus. Zur Selbstdarstellung in autobiografischen Texten von Fritz Wolf
Teil III: Spiegelungen und Projektionen
Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘. Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik
„Schlemiel“ – Jüdische Identität in der Satire des Kaiserreichs und der Weimarer Republik
Judentum als traditionelle Kritik. Der Beitrag Max Wieners zum Bild des Jüdischen im Gespräch der Religionen
„Das zwangshaft projizierende Selbst“. Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovic
Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur
Teil IV: Aufbrüche
Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Perspektiven in der Konzeption des Jüdischen in polnisch- und deutschsprachiger Gegenwartsliteratur
Den Hass auf die Geschichte wegerzählen. Funktionen der Marranenthematik in Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle
Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/nichtjüdischen Doppelperspektive von ,Vaterjuden‘
Über die Autorinnen und Autoren
Abbildungsverzeichnis
Personenregister

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Bilder des Jüdischen

Europäisch-jüdische Studien Beiträge

Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß

Band 6

Bilder des Jüdischen Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert Herausgegeben von Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg

ISBN 978-3-11-027645-9 e-ISBN 978-3-11-027657-2 ISSN 2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Christina von Braun Vorwort: ,Jüdische Identität‘?  1 Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg Einleitung  11

Teil I: Zeichen und Repräsentationen Hildegard Frübis Porträt und Typus Repräsentationen ,der‘ Jüdin in der Jüdischen Moderne  33 Silke Hoklas Alberich, Repräsentant der finsteren Mächte? Zum Bild des Jüdischen in Fritz Langs Nibelungen-Film  57 Lea Wohl von Haselberg „Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt.“ Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen  77 Alexander Jungmann Fremdbilder des Jüdischen Ein Berliner Hype und seine jüdischen Wahrnehmungen  93

Teil II: Zwischenräume Alina Bothe Da-Zwischen Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße  119 Anna Michaelis „... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären …“ Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik  137

VI 

 Inhalt

Juliane Sucker „… auf Gedeih und Verderb mit Deutschland verbunden“? Gabriele Tergits literarische Spurensuche nach dem jüdischen Ich  159 Andreas Stuhlmann „Sie sehen: ich bin wütend.“ Hannah Arendt und Gershom Scholem streiten über Judentum im Exil  179 Lena Kreppel Ein deutsch-jüdischer Emigrant im Erstkontakt mit dem Zionismus Zur Selbstdarstellung in autobiografischen Texten von Fritz Wolf  205

Teil III: Spiegelungen und Projektionen Hannah Ahlheim Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘ Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik  221 Regina Schleicher „Schlemiel“ – Jüdische Identität in der Satire des Kaiserreichs und der Weimarer Republik  241 Knut Martin Stünkel Judentum als traditionelle Kritik Der Beitrag Max Wieners zum Bild des Jüdischen im Gespräch der Religionen  263 Susanne Düwell „Das zwangshaft projizierende Selbst“ Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovic  281 Ulrike Schneider Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur  305

Inhalt 

Teil IV: Aufbrüche Paula Wojcik Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Perspektiven in der Konzeption des Jüdischen in polnisch- und deutschsprachiger Gegenwartsliteratur  331 Alexander Rasumny Den Hass auf die Geschichte wegerzählen Funktionen der Marranenthematik in Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle  351 Ruth Zeifert Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/nichtjüdischen Doppelperspektive von ‚Vaterjuden‘  369

Über die Autorinnen und Autoren  385 Abbildungsverzeichnis  389 Personenregister  391

 VII

Christina von Braun

Vorwort: ,Jüdische Identität‘? In seinem Buch Der Sinn der Geschichte (1925) schrieb der Religionsphilosoph und Historiker Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew: Als mich in meinen Jugendtagen die materialistische Deutung der Geschichte anzog und ich sie an den Geschicken der Völker nachweisen wollte, war das größte Hindernis hierfür die Geschichte des jüdischen Volkes. Vom materialistischen Gesichtspunkte aus war jenes Geschick völlig unerklärlich. Denn von einem materialistischen und positiv-geschichtlichen Standpunkte aus hätte dieses Volk schon längst aufhören müssen zu existieren. Sein Bestehen ist eine sonderbare, geheimnisvolle und wunderbare Erscheinung, die zeigt, daß mit dem Geschicke jenes Volkes besondere Absichten verbunden sind. Dieses Geschick läßt sich nicht mit jenen Anpassungsprozessen erklären, mit denen man auf materialistische Weise die Völkergeschichte zu erklären versucht. Das Ausdauern des jüdischen Volkes in der Geschichte, seine Unausrottbarkeit, das Fortbestehen seiner Existenz als eines der ältesten Völker der Welt unter ganz ausnahmsweisen Bedingungen, jene verhängnisvolle Rolle, die dieses Volk in der Geschichte spielt – alles das weist auf besondere, mystische Grundlagen seines historischen Geschicks hin.1

Nach den Gaskammern des ,Dritten Reichs‘ stellt sich die Frage nach dem ,Geheimnis‘ der langen Lebensdauer der jüdischen Gemeinschaft auf noch ganz andere Weise. Man kann die Antwort mit Berdjajew in ,mystischen Grundlagen‘ suchen. Man kann sie aber auch unter historischer Perspektive betrachten – und da fragt es sich, ob es nicht gerade die große Fähigkeit zur Anpassung war, die es den jüdischen Gemeinden immer wieder erlaubte, ihre Identität zu wahren. Identität ist nichts Gegebenes – sie ist ein wandelbares Konstrukt, das, wie Stuart Hall schreibt, durch Repräsentationen hervorgebracht wird: „Statt Identität als eine schon vollendete Tatsache zu begreifen, die erst danach durch neue kulturelle Praktiken repräsentiert wird, sollten wir uns vielleicht Identität als eine ‚Produktion‘ vorstellen, die niemals vollendet ist, sich immer in einem Prozess befindet und immer innerhalb – nicht außerhalb der Repräsentation konstituiert wird.“2 Diese Veränderbarkeit gilt aber nicht nur für die ,jüdische Identität‘, sondern auch für andere Identitäten, auch die, die nicht von der Erfahrung der Diaspora geprägt sind. Auch territorial fest verankerte Nationen (die sich ohnehin histo-

1 Berdjajew, Nikolaj Alexandrowitsch: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie der Menschheitsgeschichte. Aus dem Russischen v. Otto v. Taube. Tübingen 1949. S. 135f. 2 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. u. übers. von Ulrich Mehlen [u. a.]. Hamburg 1994. S. 26.

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risch erst spät gebildet haben) verfügen über wandelbare ,Identitäten‘, die durch Migration, historische Prozesse und kulturellen Wandel geprägt sind. Umso mehr aber hat die Frage von Berdjajew Bestand: Worin besteht dieser Kern, der es Juden in den unterschiedlichsten Regionen und historischen Epochen erlaubt zu sagen: Ich bin jüdisch? Der unveränderbare Text der Torah, auch die Rolle der Zeremonialgesetze, wäre darauf eine Antwort. Aber das würde nicht erklären, warum auch nach der Aufklärung und im Säkularisierungsprozess, als viele Juden aufhörten, die Zeremonialgesetze zu beachten, viele an ihrer ,jüdischen Identität‘ festhielten. Gewiss, das geschah gelegentlich unfreiwillig, aber in vielen Fällen – etwa im Zionismus – auch ganz gewollt. Die Antisemiten versuchten, dieses Beharrungsvermögen der ,jüdischen Identität‘ in Rassenlehren umzudeuten. Doch in Wirklichkeit ging es um die kulturelle Fähigkeit, Identität als etwas Prozesshaftes – und damit Lebendiges – zu begreifen. Der Begriff der Säkularisierung verweist ursprünglich auf einen Mönch oder Geistlichen, der den Priesterstand verlässt, um in den weltlichen Stand überzugehen. Später bezeichnete er die Enteignung von Kircheneigentum in weltliche Hände. Im 19. Jahrhundert nimmt er allmählich eine geschichtsphilosophische Bedeutung an, unter der er heute meistens verwendet wird. Dabei ist aber vollkommen unklar, ob mit Säkularisierung ein Prozess der Entkirchlichung oder die Sakralisierung des Weltlichen gemeint ist. Tatsächlich geht das eine mit dem anderen einher – denn die Aufklärung, die mit der Säkularisierung gerne in einem Atemzug genannt wird, wurde begleitet von einer Sakralisierung des Nationalgedankens, in dessen Folge aus dem Juden als Feind der Kirche der Jude als Außenseiter der Nation wurde. Die Nationen, v. a. die deutsche, die sich auf den napoleonischen Schlachtfelder herausbildete, definierte sich gegen den Franzosen und gegen den ,inneren Feind‘, den Juden. Die Nationaleigenschaften, die den Juden und Franzosen zugewiesen wurden, „boten die Negativfolie für den Entwurf eines Nationalcharakters der Deutschen“, schreibt Stefan Rohrbacher.3 Die Symptome dieses Vorgangs waren vielfältig: Aus der ,Reinheit‘ des Märtyrerblutes wurde in diesem Prozess die Reinheit der arischen Rasse; aus Christus als Opfer eines ,jüdischen Verbrechens‘ wurde das Verbrechen der ,Rassenschande‘ an der deutschen Nation usw. Tatsächlich beruhte ein Gutteil der Anziehungskraft des Nationalsozialismus darauf, dass die Symbolik, deren er sich bediente, uralte, vom Christentum über Jahrhunderte transportierte Heilsbotschaften wachrief, nur verwiesen sie nun auf keine transzendente, sondern auf eine bio-

3 Rohrbacher, Stefan: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt (1815–1848/49). In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Hrsg. v. Peter Alter, Ekkehard Bärsh u. Peter Berghof. München 1999. S. 37.



Vorwort: ,Jüdische Identität‘?  

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logistische Wahrheit: die Wahrheit vom arischen Körper, sozusagen dem ,biologischen Christen‘.4 Diese verweltlichten, biologisierten und sexualisierten Bilder des Ariers wurden prägend für die arischen Fantasien vom Körper der Juden, dessen Physiognomie und Physiologie in jeder Beziehung das Gegenbild zum Arier darstellte: Die Funktion der biologisch und rassistisch geprägten Bilder vom ,Juden‘ bestand darin, dem imaginären Arier eine ,reale‘ Gestalt zu verleihen. Dass die Projektion auf den Juden nichts mit dem Selbstbild von Juden zu tun hatte, versteht sich von selbst. Aber man kann sich durchaus die Frage stellen: Was passierte eigentlich mit dem Selbstbild des Juden im Verlauf des Säkularisierungsprozesses? Um zu begreifen, warum der Prozess hier ein ganz anderer war, muss man verstehen, dass ,Säkularisierung‘ für die jüdische Religion an sich gar keinen Sinn ergibt. „Unter den Vorschriften des mosaischen Gesetzes“, so schrieb Moses Mendelssohn, „lautet kein einziges: du sollst glauben oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die im Weg der Überzeugung zu ihm kommen.“5 Anders als die christliche Religion, in deren Zentrum der Glauben steht und für die mithin der Zweifel die größte Sünde darstellt, kennt die jüdische Religion einerseits den Glauben an einen transzendenten Gott, andererseits aber auch die 613 Zeremonialgesetze, die sich allesamt auf sein irdisches Leben beziehen, egal ob es um Sexualität, Speisen, Waschvorgänge oder auch die Einhaltung des Feiertags geht. Die Religion verlangt zunächst die Unterwerfung unter die Zeremonialgesetze als Zeichen einer Unterwerfung unter Gott. An dessen Existenz mag der Gläubige zwar gelegentlich zweifeln, aber solange er sich an die Gesetze hält, bleibt er Teil der Religionsgemeinschaft, und selbst wenn er sie nicht befolgt, wird er nicht ausgestoßen. Für den Christen hingegen kann der Zweifel zur Exkommunikation führen, und eben deshalb eignet dem Christentum ein tiefer Drang zur Verweltlichung und Biologisierung seiner Heilsbotschaft: Sie sind Glaubenshilfe. Das heißt, für das christliche Denken stellte die Veränderung der Welt, der physisch wahrnehmbaren Wirklichkeit, eine religiöse ,Notwendigkeit‘ dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen dem Transzendenten und dem Sichtbaren überwinden. Die jüdische Religion hingegen, die die bestehende Welt in den Worten

4 Dazu ausführlicher: Von Braun, Christina: Und der Feind ist Fleisch geworden. In: Der ewige Judenhaß. Hrsg. v. dies. u. Ludger Heid. Berlin, Wien 2000. S. 149–213. 5 Zit. n. Wiener, Max: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933). In: Lust an der Erkenntnis. Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Schalom Ben-Chorin u. Verena Lenzen. München 1988. S. 103–132, hier S. 113.

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 Christina von Braun

von Max Brod als „Diesseitswunder“ betrachtete,6 bedurfte nicht einer solchen verändernden Kraft und entwickelte auch keine dem Christentum vergleichbare historische Dynamik. Andererseits bezog die jüdische Gemeinschaft aus der ihr eigenen Struktur aber auch ihre spezifische Widerstandskraft gegen die realitätsverändernde Macht des Christentums. Während sich die Kulturen ohne Schrift der Überlagerung durch das Christentum (oder durch andere Schriftgesellschaften) nicht zu entziehen vermochten, widersetzte sich die Textgemeinschaft des jüdischen Volkes der christlichen Mission. Hierin ist einer der Schlüssel zum Verständnis des langen Überlebens der jüdischen Religions- und Volksgemeinschaft zu suchen. Dennoch ist es unbestreitbar, dass sich viele Juden in einem vom Christentum geprägten Lebensraum befanden und mithin direkt von der realitätsverändernden Macht des christlichen Säkularisierungsprozesses betroffen waren. Beinhaltete für Christen Säkularisierung die Sakralisierung der nationalen Gemeinschaft und die Verweltlichung religiöser Denkstrukturen, so bedeutete für Juden Säkularisierung die Abkehr von religiösen Bräuchen. Für Christen wurde durch die Verwandlung der Kirchengemeinschaft in einen Nationalstaat aus dem kirchlichen Feiertag ganz selbstverständlich der staatlich vorgeschriebene soziale Ruhetag; die Ideale christlichen Ehe- und Familienlebens gingen ins Ehe- und Familienrecht ein – und wenn heute in einigen Bundesländern Lehrerinnen untersagt wird, das Kopftuch zu tragen, so wird dies damit begründet, dass die deutsche Gesellschaft ,christlich geprägt‘ sei.7 Damit ist weder die Kirche noch das Glaubensbekenntnis

6 Brod, Max: Das Diesseitswunder oder Die jüdische Idee und ihre Verwirklichung (1939). In: Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert (wie Anm. 5), S. 204f. 7 1875 wurden in Deutschland zivile Standesämter eingeführt, die von nun an Geburt und Eheschließung beglaubigten. Das verstärkte einen ohnehin schon seit dem 18. Jahrhundert beobachtbaren Trend zur „Entkirchlichung“ – vor allem in den protestantischen Gebieten. Allerdings ist dieser Trend keineswegs mit einem Sterben des religiösen Denkens gleichzusetzen, wie der Historiker Lucian Hölscher gezeigt hat. So hätte Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen deutschen Landeskirchen ein Drittel, manchmal sogar zwei Drittel der protestantischen Bevölkerung auf eine kirchliche Beerdigung verzichtet; diese seien jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder angestiegen, um schon vor dem Ersten Weltkrieg praktisch überall 100% zu erreichen: „Meine These lautet, daß sich die Bedeutung unserer religiösen Diskurses in den letzten zweihundert Jahren so stark verändert haben, daß auch die Rede vom Sterben der Religion nur jeweils innerhalb einer spezifischen Konstellation sinnvoll ist – und zwar als zeitgebundene Erfahrung und Erwartung an die Zukunft und Vergangenheit. Von einem Niedergang oder Aufleben religiöser Systeme, von einer Säkularisierung , einer religiösen Aufklärung oder Entkirchlichung läßt sich m. E. überhaupt nicht im Sinne objektiver geschichtlicher Prozesse sprechen, sondern lediglich im Sinne subjektiver, mehr oder weniger gruppen- und epochenspezifischer Geschichtsentwürfe.“



Vorwort: ,Jüdische Identität‘?  

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gemeint. Vielmehr wird hier eine kulturelle Definition von ,christlich‘ verwendet, mit der auch ein schönes Orgelkonzert von Bach gemeint sein kann oder ein weltliches Ethos, das sich aus christlichen Lehren ableitet. Diese Entwicklung hatte direkte Konsequenzen für Juden, die innerhalb der christlichen Gemeinschaft lebten. Einerseits erhielten Juden die vollen Bürgerrechte; eben dies implizierte andererseits aber auch einen tiefgehenden Wandel ihrer Traditionen. Mit dem Beginn des christlichen Säkularisierungsprozesses entstand für die jüdische Religions- und Volksgemeinschaft eine Situation, die in ihrer Reichweite nur mit dem Beginn der Diaspora zu vergleichen ist. Denn die weltliche oder nationale Definition des christlichen Gemeinschaftskörpers geriet notwendigerweise mit den weltlichen Definitionen der jüdischen Gemeinschaft in Konflikt. „Die Religion schrieb vor, anders zu reden, sich anders zu kleiden, anders zu essen, sich anders zu freuen und zu trauern, anders und anderes zu denken“, so schreibt Max Wiener. Das Prinzip einer eigenen Sprache, eigener Gesetze und eines eigenen Sittenkodex ließ „die Juden ein Volk inmitten eines anderen sein. Und doch war der Quell, aus dem für den jüdischen Geist Sinn und Rechtfertigung des gesamten nationalen Gehalts erfloß, die unmittelbare Gewißheit göttlicher Berufung.“8 Um diese Konflikte zu lösen, trat an die Stelle von Religionspraxis und Lehre ein neues weltliches Verständnis von ,jüdischer Identität‘. Aufschlussreich war schon die Frage nach der Orthodoxie selbst, die bis dahin in der jüdischen Tradition keine Rolle gespielt hatte. „Es sei daran erinnert, daß die sogenannte jüdische Orthodoxie ein Produkt des europäischen neunzehnten Jahrhunderts ist; Moses Mendelssohn, der 1786 in Berlin starb, bezeichnete sich selbst nicht als orthodoxen Juden, obwohl er sich streng an die Tora hielt. Das gleiche gilt für Maimonides oder die rabbinischen Gelehrten, die den Talmud herausgaben.“9 Der Begriff jüdischer ,Orthodoxie‘ ergab überhaupt erst einen Sinn, als eine andere Form, Judentum zu leben, denkbar, wenn nicht gar notwendig geworden war – und das geschah unter dem Druck der christlichen Säkularisierung. Diese Entwicklung brachte unter anderem die ,Wissenschaft des Judentums‘ hervor. „Ihren Anfang nahm die Säkularisierung des jüdischen Wissens in Berlin, wo in den zwanziger und dreißiger-Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine akademische Disziplin

Hölscher, Lucian: Kann Religion sterben? Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der Ringvorlesung „Religion und Moderne“, 5. 12. 2000. S. a. ders.: Atlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland 1850–1940. Berlin 2001. 8 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 106. 9 Mendès-Flohr, Paul: Wissensbilder im modernen jüdischen Denken. In: Wissensbilder. Strategien der Überlieferung. Hrsg. v. Ulrich Raulff u. Gary Smith. Berlin 1999. S. 221–240, hier S. 229.

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mit dem bezeichnenden Namen Wissenschaft des Judentums ins Leben gerufen wurde.“10 Durch die Entwicklung der ,modernen Wissensbilder‘ in den säkularchristlichen Gemeinschaften trat das jüdische Denken aus der „heiligen Tradition“ ins Reich des „kulturellen Erbes“. Das hatte für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft schwerwiegende Folgen: „Während Tradition sich auf eine Konzeption von endgültiger Wahrheit und absolutem Wert gründet, richtet sich Erbe nach selektiven und relativen Kriterien.“11 So kommt es nach der ,Emanzipation‘ und im Kontext der ,Assimilation‘, zum ersten Mal in der Geschichte jüdischen Denkens nicht nur zu unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden, sondern auch zu unvereinbaren Auslegungen der jüdischen Religion und damit auch der jüdischen ,Identität‘ – und zwar gerade unter den Juden, die sich zu ihrer ,jüdischen Identität‘ bekannten. Es bestand Uneinigkeit darüber, ob ,echtes Judentum‘ in der Orthodoxie, in einer reformierten Konzeption der Lehre, im Zionismus oder etwa, wie Hermann Cohen (1842– 1918) es nannte, in einer „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ zu finden sei. Zum ersten Mal dachten engagierte Juden wie Abraham Geiger (1810–1874) über eine Abspaltung, über die Entstehung einer jüdischen ,Konfession‘ nach christlichem Glaubensmuster nach.12 Man diskutierte über eine neue Auslegung der jüdischen Gesetze, die dem säkular-christlichen Staat angemessen sei. In der zweiten Rabbinerversammlung von 1845 wurde eine Bestimmung erlassen, die „jüdischen Beamten den Dienst am Sabbath nicht nur gestattete, sondern ihn geradezu als eine besondere mizwa charakterisierte.“13 Der moderne Staat mit seiner sozialen Gesetzgebung wurde dabei „als eine Art legitimer Vorläufer der gottgewollten messianischen Ordnung auf Erden proklamiert“.14 Anderen Reformern erschienen politischer Fortschritt, Liberalismus sowie die technischen Errungenschaften als Vorboten des messianischen Zeitalters.15 Zugleich begann man, nach dem Sinn der Sakralgesetze zu fragen: Die Hygiene wurde zur Begründung für die Beschneidung und das Verbot von Schweinefleisch angeführt. Indem man aber nach dem Sinn fragte, schuf man auch die Möglichkeit, diesen Sinn als wissenschaftlich ,unsinnig‘ zu widerlegen, und bahnte so den Weg für eine Abschaffung der Zeremonialgesetze. Mit diesen Entwicklungen war, wie Max Wiener schreibt, „aus einer Religion, die ihrem ursprünglichen

10 Mendès-Flohr, Wissensbilder (wie Anm. 9), S. 232. 11 Mendès-Flohr, Wissensbilder (wie Anm. 9), S. 230. 12 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 111. 13 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 116. 14 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 116. 15 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 119.



Vorwort: ,Jüdische Identität‘?  

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Sinne nach und zufolge einer Geschichte von fast 2  000 Jahren in eminenter Bedeutung Sache der Gemeinschaft gewesen war, [...] – ob man es zugibt oder nicht – wesentlich Anliegen des Einzelnen geworden“.16 Damit entstand faktisch eine Neudefinition ,jüdischer Identität‘, die nun sowohl Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft als auch Zugehörigkeit zu einer weltlichen oder kulturellen Gemeinschaft bedeuten konnte. Die Entstehung des Zionismus war nur die logische Folge dieser Entwicklung. Parallel zur Entstehung eines ,nationalen Judentums‘ fand auch eine stärkere Hinwendung zu den geistigen Traditionen des Judentums statt: zu den Traditionen, die sich mit dem Begriff einer ,Kultur des Zweifels‘ umschreiben lassen. „Unter allen Wandlungen, welche die religiös-kulturelle Verfassung des Judentums seit etwa hundert Jahren erfahren hat“, so schrieb Hermann Cohen, „ist keine so frappant wie die Verminderung oder gar das Verschwinden der jüdischen Gelehrsamkeit unter den modernen Juden.“17 Ist diese Behauptung wirklich haltbar? Fand nicht eher eine Verlagerung ,jüdischen Denkens‘ und jüdischer ,Gelehrsamkeit‘ auf eine nicht-religiöse Ebene statt? Der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi hat diese Entwicklung am Beispiel von Sigmund Freud dargestellt. „Den klassischen jüdischen Texten entfremdet“, so schreibt er, „spricht der psychologische Jude gern von unveräußerlichen jüdischen Zügen. Befragt man ihn weiter, so nennt er als typische jüdische Eigenschaften unter anderem Intellektualität und geistige Unabhängigkeit, höchste ethische und moralische Normen, Sinn für soziale Gerechtigkeit und Unbeirrbarkeit angesichts der Verfolgung.“18 Die Entstehung neuer Denk- und Deutungsmuster, wie sie mit Sigmund Freud, Georg Simmel oder Franz Kafka das geistige Klima der-Jahrhundertwende in Wien, Berlin oder Prag prägten, ist auch im Kontext einer geistigen Tradition zu sehen, für die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft Ausbildung der Kritikund Denkfähigkeit bedeutete.19 Nicht zu Unrecht verglich Ignaz Maybaum die geistigen Auseinandersetzungen, die Akiba im zweiten Jahrhundert mit dem griechischen Logos führte, mit der Herausforderung, die das säkulare Christentum für die Juden im Zuge der Emanzipation darstellte: Eine Systematik wurde an den gesamten überlieferten Stoff herangebracht, und die verschiedenen Disziplinen – Geschichtsschreibung, Exegese, Philologie, Religionsphilosophie

16 Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 5), S. 122. 17 Zit. n. Mendès-Flohr, Wissensbilder (wie Anm. 9), S. 234. 18 Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuß. Berlin 1992. S. 28. 19 Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin 2000.

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 Christina von Braun – verselbständigten sich. Diese Dinge sind uns so selbstverständlich geworden, daß viele schon die hier geleistete Pionierarbeit des deutschen Judentums vergessen. Dabei handelt es sich nicht bloß um Methodik. Es handelt sich darum, dem Juden Treue zum Judentum in einer neuen Zeit und Umwelt möglich zu machen. […] Im deutschen Judentum setzte […] ein geistiges Ringen ein, die Auseinandersetzung mit dem europäischen Geist der Neuzeit.20

Die geistigen Auseinandersetzungen um die wahre Form des ,Jüdisch-Seins‘, die durch die Konfrontation mit dem christlichen Säkularisierungsprozess ausgelöst worden waren, schlugen sich in vielen Innovationen des 19. und 20. Jahrhunderts nieder. Eine von ihnen ist die Psychoanalyse, deren ,jüdische Wurzeln‘ schon oft thematisiert worden sind. Sie schlugen sich auch in der Entstehung der Sexualwissenschaft nieder, deren Pioniere fast ausnahmslos jüdische Wissenschaftler waren. Beide Gebiete, die die kulturelle und soziale Konstruktion der Psyche und des Körpers betonten, boten Juden die Möglichkeit, sich die antisemitischen Stereotypen des ,jüdischen Körpers‘ vom Leibe zu halten. Aus dieser ,Dekonstruktion‘ sollten Schriftsteller wie Philipp Roth oder Filmemacher wie Woody Allen einen Funken schlagen: den des ,kulturellen Juden‘. Oder um es mit einer Beobachtung von David Biale zu umschreiben, der sich fragt, warum moderne Autoren wie Philipp Roth und Woody Allen die Sexualität zu einem ihrer zentralen Topoi machen: „Die sexuellen Unsicherheit der Charaktere, die Allen spielt, sind in ihrer Quintessenz jüdisch“, schreibt Biale. „Im Gegensatz zur theologischen Vorschrift von Sex ohne Schuldgefühl […], schlägt Allen vor, dass Juden das Schuldgefühl ohne Sex perfektioniert haben.“21 Nirgendwo zeigt sich die Entwicklung dieser neuen, ,kulturell‘ geprägten jüdischen ,Identität‘ deutlicher als an den ,Jüdischen Studien‘ oder Jewish Studies selbst. Diese umfassen heute ein breites Gebiet, das von Theologie, Religionswissenschaft über die Rechtswissenschaft, Literatur- und Kunstgeschichte bis zur Ökonomie und Geschichtswissenschaft reicht. Die Entwicklung dieses breiten Forschungsgebiets, das in den USA und Israel seinen Anfang nahm und allmählich auch in Deutschland seinen universitären Niederschlag findet, folgte der Entwicklung einer neuen Definition von ,jüdischer Identität‘, die nun nicht nur Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft bedeutet. Dabei hat die Vielfalt dieser kulturellen jüdischen ‚Identität‘ nicht nur zur neuen Entfaltung von wissenschaftlichen Fragen und kulturellen Ausdrucksformen geführt, sondern auch einen Reichtum an Möglichkeiten geschaffen, ,jüdisch‘ zu sein und zu leben. Eben dieser kultu-

20 Maybaum, Ignaz: Haggada und Halacha. In: Jüdische Theologie (wie Anm. 5), S. 66. 21 Biale, David: Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America. New York 1992. S. 206.



Vorwort: ,Jüdische Identität‘?  

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rellen ,jüdischen Identität‘ verdankt die deutsche Kultur eine der fruchtbarsten und innovativsten Epochen ihrer Geschichte. Mit dem Nationalsozialismus hat Deutschland versucht, dieses Erbe auszulöschen. Aber heute wird erkennbar, dass das Prozesshafte, dem die ,jüdische Identität‘ ihre Kontinuität verdankt, zu einem wichtigen Bestandteil aller modernen ,postchristlichen‘ Identitäten geworden ist – auch der deutschen.

Literatur Berdjajew, Nikolai Alexandrowitsch: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie der Menscheitsgeschichte. Aus dem Russischen v. Otto v. Taube. Tübingen 1949. Biale, David: Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America. New York 1992. Braun, Christina von: Und der Feind ist Fleisch geworden. In: Der ewige Judenhaß. Hrsg. v. dies. u Ludger Heid. Berlin, Wien 2000. S. 149–213. Brod, Max: Das Diesseitswunder oder Die jüdische Idee und ihre Verwirklichung (1939). In: Lust an der Erkenntnis. Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Schalom Ben-Chorin u. Verena Lenzen. München 1988. Deuber-Mankowsky, Astrid: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin 2000. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. u. übers. von Ulrich Mehlen u. a. Hamburg 1994. Hölscher, Lucian: Kann Religion sterben? Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der Ringvorlesung „Religion und Moderne“, 5. 12. 2000. S. a. ders., Atlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland 1850–1940. Berlin 2001. Maybaum, Ignaz: Haggada und Halacha. In: Lust an der Erkenntnis. Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Schalom Ben-Chorin u. Verena Lenzen. München 1988. Mendès-Flohr, Paul: Wissensbilder im modernen jüdischen Denken. In: Wissensbilder. Strategien der Überlieferung. Hrsg. v. Ulrich Raulff u. Gary Smith. Berlin 1999. S. 221–240. Rohrbacher, Stefan: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt (1815–1848/49). In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Hrsg. v. Peter Alter, Ekkehard Bärsh u. Peter Berghof. München 1999. Wiener, Max: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933). In: Lust an der Erkenntnis. Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Schalom Ben-Chorin u. Verena Lenzen. München 1988. S. 103–132. Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuß. Berlin 1992.

Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg

Einleitung

Doch was man ist, und was/ Man sein muss in der Welt, das passt ja wohl/ Nicht immer. Nathan der Weise, Lessing

typisch! Klischees von Juden und Anderen – so der Titel einer im März 2008 eröffneten Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin, die in den Folgejahren in Chicago, Wien und München gastierte. Typisch jüdisch titelte zwei Jahre später, im Frühjahr 2010, das Magazin der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT und versah diese Überschrift mit einem Fragezeichen. Typisch jüdisch? Vom klugen Spiel mit Vorurteilen lautete ein 2011 mit der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Lena Gorelik geführtes Interview des Westdeutschen Rundfunk. Die Frage, was ,typisch jüdisch‘ ist, ist ebenso aktuell wie problematisch. Problematisch, weil Zuschreibungen von außen schnell in Diskriminierung und Ausgrenzung münden; aktuell, weil das Bild von Juden in Deutschland immer noch dominiert ist von dem der Opfer der Shoah und von einer Exotik des Fremden. So beobachtet Almuth Hammer mit Blick auf die deutsch-jüdische Literatur respektive deren Geschichtsschreibung, dass sie unter einem doppelten Verdikt stünde: Zum einen sei sie konfrontiert mit der Diskrepanz von Selbstbestimmung und Fremdzuschreibung, zum anderen geradezu determiniert durch die Implikationen der Shoah.1 Umso mehr lässt sich das für die gesellschaftliche Debatte der unmittelbaren Nachkriegszeit konstatieren, die doch maßgeblich von den Ereignissen der Shoah sowie dem Schulddiskurs und der Diskrepanz zwischen offiziellem Philosemitismus und latentem Antisemitismus geprägt war.2 Heute, über 65 Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, hat sich die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdzuschreibungen des Jüdischen zu einem auch populärwissenschaftlich ertragreichen Feld entwickelt. Dabei treten deutlich die Antipoden des Wunsches nach einem wiedererstarkenden jüdischen Leben in Deutschland3

1 Hammer, Almuth: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else Lasker-Schüler und Joseph Roth. Göttingen 2004 (zugl. Diss. Univ. Gießen, 2003). S. 7. 2 Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Gerlingen 1991. 3 Siehe Gruber, Ruth Ellen: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe. Berkeley and Los Angeles Press, 2002; Bodemann, Y. Michal: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische

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und Normalitätsbestrebungen im deutsch-jüdischen/jüdisch-deutschen Verhältnis4 einerseits und ein zunehmend salonfähiger Antisemitismus5 andererseits hervor. Dabei lässt sich die Auseinandersetzung mit dem Judentum freilich nicht erst seit 1945 beobachten. Vor dem Hintergrund der Emanzipationsbestrebungen, Säkularisierung6 und Akkulturation, die angesichts der Einbindung von Menschen jüdischer Herkunft in die christliche Mehrheitsgesellschafts und -kultur eine Erschütterung jüdischen Selbstverständnisses zur Folge hatte, stellt sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Frage nach Selbst- und Fremdbildern des Jüdischen.7 Im Zuge der zunehmend kulturellen wie habituellen Anpassung der Juden an die christliche Mehrheitsgesellschaft sowie des erstarkenden Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland wurde die ursprünglich religiöse Dichoto-

Existenz in Deutschland. München 2002; Gilman, Sander L./Remmler, Karen (Hrsg.): Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature Since 1989. New York 1994. 4 Der Begriff „deutsch-jüdisch“ ist in vielerlei Hinsicht problematisch, stellt sich doch die Frage, was er überhaupt bezeichnet und was unter „deutsch-jüdisch“ zu verstehen ist. Insbesondere in Deutschland wird kontrovers darüber debattiert, wie Juden in Deutschland entsprechend ihrer differierenden Selbstverständnisse bezeichnet werden sollten. Wenn der Begriff hier Verwendung findet, dann lediglich aus pragmatischen Gründen. (Vgl. dazu Ochse, Katharina: „What could be more fruitful, more healing, more purifying?“. Representations of Jews in the German Media after 1989. Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature Since 1989. In: Gilman u. Remmler (Hrsg.), Reemerging (wie Anm. 3), S. 113–129, hier S. 114–115.) „The impossibility of grasping the relation between two groups liguistically in a way that would be accepted by everybody is, in the deepest sense, an expression of the ongoing difficulty in understanding the relation.“ (Ochse, S. 115) Die Frage was „deutschjüdisch“ in Zusammenhang mit Kultur und Identität eigentlich bedeutet, wurde beispielsweise im Oktober 2011 auf der internationalen Konferenz „Kultur und Identität. Deutsch-Jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland“ in Berlin diskutiert (http://www.mmz-potsdam.de/index. php?ID_seite=558%22) (17. 10. 2012). Siehe zu den Normalitätsbestrebungen im deutschjüdischen/jüdisch-deutschen Verhältnis: Korn, Salomon: Wie deutsch soll’s denn sein? Normalität im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden setzt voraus, Unterschiede anzuerkennen. In: DIE ZEIT, 5. 6. 2003. Probst, Maximilian: Die verfehlte Normalität. In: DIE ZEIT, 24. 5. 2007, S. 50. Vgl. auch die Episode des Fernsehkrimis „Tatort: Ein ganz normaler Fall“, der in der jüdischen Gemeinde München spielt (Erstausstrahlung: 27. 11. 2011). 5 Heni, Clemens: Sekundärer Antisemitismus. Ein kaum erforschter Teil des Post-HolocaustAntisemitismus. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 47. Jg. (2008), Nr. 187. S. 132–142. 6 Siehe dazu auch das Vorwort „Jüdische Identität?“ von Christina von Braun im vorliegenden Band. 7 Weiterführend siehe Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780–1871 (Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1). Stuttgart 1976; Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich (Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 2). Stuttgart 1979.

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mie zwischen Juden und Nichtjuden schließlich in rassische Konzepte überführt. Durch kulturgeschichtlich vorgeformte antijüdische Mythen,8 spezifische physiognomische Merkmale – das geläufigste Stereotyp ist hier sicherlich jenes der ,jüdischen‘ Nase9 –, sowie das antijüdische Feindbild von der kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit der Juden unterschieden, stehen sich ,der Jude‘ und ,der Deutsche‘ gegenüber. Und so lässt sich nicht nur in zahlreichen autobiografischen Zeugnissen dieser Zeit nachlesen, was Martin Gubser in seiner Studie zum literarischen Antisemitismus als „manichäisches Muster“10 beschrieben hat. Mit Blick auf einen der zentralen antisemitischen Vorwürfe, die angeblich zur Mehrheit in einem Verhältnis der Unverträglichkeit stehende Andersartigkeit der jüdischen Minorität, beschreibt Gubser das manichäische Muster als eine im Antisemitismus geprägte Anschauung. Sartre zufolge, auf den sich Gubser hier bezieht, ist „der Antisemitismus ursprünglich ein Manichäismus. Er erklärt den Lauf der Welt durch den Kampf des Prinzips des Guten gegen das Prinzip des Bösen. Zwischen diesen beiden Prinzipien ist kein Ausgleich denkbar. Das eine muß siegen, das andere vernichtet werden.“11 Die Wahrnehmung als ,der Andere‘, ,der Fremde‘ oder auch ,der Dritte‘ im Sinne eines Genitivus objectivus bestimmt seit der Antike das Bild vom Juden und ist nicht selten geprägt von Stereotypen, die hier als Projektionen und Imaginationen verstanden werden, die die historische Realität oftmals verzerrt wiedergeben. Dabei macht bereits die weitgehend synonyme Verwendung der Begrifflichkeiten in der Diskussion um Fremd- und Eigenbilder, Stereo- und Imagotypen, Vorurteile und Feindbilder, Ein- und Ausschlüsse und ihrer Derivate deutlich, wie schwer fassbar das Feld von (jüdischen) Selbst- und Fremdzuschreibungen ist. Auch die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes verwenden die Termini

8 Vgl. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. 9 Siehe z. B. Gilman, Sander L.: Die verräterische Nase. Über die Konstruktion von „Fremdkörpern“. In: Fremdkörper – fremde Körper. Hrsg. v. Annemarie Hürlimann. OstfildernRuit 1999. S. 31–47; Erb, Rainer: Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase. In: Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hrsg. v. Heinrich Pleticha. Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 7. Würzburg 1985. S. 107–126. 10 Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998. S. 86–93. 11 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage (Betrachtungen zur Judenfrage, 1948). Reinbek 2010. S. 28. Gubser zieht den Begriff des „Manichäismus“ jenem des „Dualismus“ vor, weil ihm Ersterer die „Abwertung, die jüdische Figuren in Werken mit manichäischantisemtischer Grundstruktur erfahren, besser zum Ausdruck zu bringen“ scheinen. (Gubser, Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 10), S. 156.)

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in unterschiedlicher Weise und nähern sich dem Thema ,Bilder des Jüdischen‘ aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. In der Antisemitismus-, Alteritäts- und Stereotypenforschung12 und der komparatistischen Imagologie, die sich bekanntlich in verschiedenen Disziplinen ansiedeln, werden Eigen-, aber v. a. Fremdzuschreibungen durch unterschiedliche Terminologien und theoretische Konzepte zu fassen versucht. Dabei erscheint es vor dem Hintergrund der für gewöhnlich mit „Globalisierung“ beschriebenen Entwicklungen, die ethnisch-kulturelle Differenzen zusehends verblassen lassen, geboten, Begriffe wie ,Identität‘ und ,Differenz‘ bzw. ,das Eigene‘ und ,das Fremde‘ neu zu verhandeln, wie Andreas Ackermann im Handbuch der Kulturwissenschaften notiert.13 Die kaum mehr überschaubare Diskussion um die Angemessenheit und Plausibilität der Begriffe und diversen theoretischen Konzepte soll hier jedoch nicht geführt, sondern vielmehr ein kursorischer Blick auf die einschlägige Forschung zum Thema geworfen werden. Schlagworte wie ,der Andere‘, ,der Fremde‘, ,das Abjekte‘ oder die ,Figur des Dritten‘ beschreiben eindrucksvoll das Spannungsfeld von Identität und Alterität, das der Soziologe Georg Simmel bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts in seinem Kapitel Exkurs über den Fremden (1908) zu fassen versucht hat.14 Simmel beschreibt den Fremden, der im Gegensatz zum Wandernden, der komme und gehe, komme und bleibe. Damit ist der Fremde zwischen Nähe und Ferne positioniert und doch ein Mitglied der Gruppe, er ist „[m]it all seiner Unorganischen Angefügtheit“15 doch organisches Mitglied der Gruppe. Die Fremden würden, so Simmel, „nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden“.16 Dieser ,bestimmte Typus‘ wird zumeist mit spezifischen Stereotypen in Verbindung gebracht, die keineswegs so wertneutral sind, wie sie sie Walter Lippmann, der den Be­griff in seiner wegweisenden Studie Public Opinion 1922 geprägt hatte, zunächst verstanden hat. Lippmann argumentierte, dass der Mensch die komplexer werdende Wirklichkeit aus „denköko-

12 Siehe zur historischen Stereotypenforschung: Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung. In: Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Hrsg. v. Hans Henning Hahn. Frankfurt/M. 2002. S. 17–56. 13 Ackermann, Andreas: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen. Stuttgart, Weimar 2004. S. 139–154, hier S. 139. 14 Simmel, Georg: Der Exkurs über den Fremden. In: Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Hrsg. v. Almut Loycke. Frankfurt/M. 1992. S. 9–16, hier S. 15. 15 Simmel, Der Exkurs (wie Anm. 14), S. 15. 16 Simmel, Der Exkurs (wie Anm. 14), S. 15.

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nomischen“ Gründen heraus durch die Bildung von Stereotypen strukturiere.17 Insofern dienten Stereotype – hier im psychologischen Sinne verstanden – der Bewältigung der unübersicht­lichen Wirklichkeit. Jeder Versuch, ein Stereotyp zu revidieren, führt Lippmann aus, würde zunächst verweigert, da dieser Vorgang einen Angriff auf die Wirklichkeitsauffassung darstelle. „The stereotypes are, therefore, highly charged with the feelings that are attached to them. They are the fortress of our tradition, and behind its defenses we can continue to feel ourselves safe in the position we occupy.“18 Wirft man einen Blick auf die Historische Stereotypenforschung, wie sie Hans Hennig Hahn geprägt hat, wird die Relevanz von Stereotypen für mentale Einstellungen, die kollektive Identitätsbildung, für politisches Handeln sowie zwischenmenschliche respektive interkulturelle Kontakte deutlich: „Stereotypen sind keine Spiegelungen der Welt, die auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden müssen, sondern sie stellen selbst aufgrund ihrer Existenz in den Köpfen der Menschen und in zwischenmenschlichen Beziehungen eine gesellschaftliche Realität dar und ‚verdienen‘ es, als solche untersucht zu werden.“19 Dabei ist das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Heterostereotyp und Autostereotyp „sowohl im Prozeß der Stereotypenbildung (Genese und Wandel) als auch beim Gebrauch der Stereotypen von erheblicher Bedeutung“.20 Klaus Holz betont im Zuge seiner Studien zum Antisemitismus die Sonderrolle des Juden im Feld der Auto- und Heterostereotype: So stünde der Jude als ,der Dritte‘ zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Er sei einer Unterteilung von ,wir‘ und ,sie‘ nicht zuzuteilen, weil er sich der nationalstaatlichen Zuordnung entziehe. Diese binäre Unterscheidung zwischen ,uns‘ und den ,Fremden‘ konstruiere Identität und vermittele, dass alles klar zuordenbar sei. Dieses vermeintliche Wissen um Identität wird von der Figur des Dritten verunsichert oder zerstört. „Im Dritten wird die Möglichkeit personifiziert, dass die nationale Ordnung der Welt, mithin die eigene Identität nicht gewiss ist.“21 Holz hebt hervor, dass in der dualistischen Unterscheidung dem Dritten keine Identität

17 Lippmann, Walter: Public Opinion. New York 1922. Dt: Die öffentliche Meinung. München 1964, S. 3. 18 Lippmann, Public Opinion (wie Anm. 17), S. 96. 19 Hahn, Hans Henning: Einleitung. In: Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Hrsg. v. Hans Henning Hahn. Oldenburg 1995. S. 5–13, hier S. 13. 20 Hahn, Einleitung (wie Anm. 19), S. 9. 21 Holz, Klaus: Die Paradoxie der Normalisierung. Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hrsg. v. KlausMichael Bogdal, Klaus Holz u. Matthias N. Lorenz. Stuttgart/Weimar 2007. S. 37–57, hier S. 46.

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zugeordnet werden könne, weshalb das Spezifische der jüdischen Identität darin liege, nicht-identisch, d. h. „die Negation von Identität“ zu sein.22 Wie beweglich insbesondere der antijüdische Diskurs für Ein-, v.  a. aber Ausschlüsse ist und infolgedessen historisch wandelbar, macht Klaus-Michael Bogdal deutlich. Er spricht sich dafür aus, den „jeweiligen diskursiven Raum“ zu rekonstruieren, in den sie eingebettet sind und führt aus, dass literarische Präsentationen von Juden jeweils unterschiedliche Positionen innerhalb einer paradigmatischen Struktur einnähmen. Sie seien Teil eines kulturellen Prätextes oder Archivs. „Funktion und Aussage gleicher Stereotypen zum Beispiel verändern sich unter anderen literarischen Konstellationen.“23 Die Überlagerungen von Selbst und Anderen lassen sich auch über das an Jacques Lacan geschulte Modell Homi K. Bhabhas beschreiben. Bhabha zufolge basiert die ambivalente Identifikation der rassistischen Welt auf der Idee vom Menschen als seinem entfremdeten Bild; „nicht Selbst und Anderer, sondern die Andersheit des Selbst, die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.“24 Das Ich wird also gewissermaßen zwischen ,Ich‘ und ,Anderem‘ aufgespalten. Es kann sich nicht mehr als geschlossene Repräsentation wahrnehmen, sondern gleicht einem Vexierbild. Wolfgang Asholt merkt an, dass es eine „Frage der Graduierung des Verhältnisses von Eigenem und Anderem [sei], die darüber entscheidet, ob es zu Dialogen, Transgressionen oder zu Hybridisierungen im Verhältnis des Eigenen und des Fremden kommt.“25 In der Orientalismusforschung hat jüngst Andrea Polaschegg einen Ansatz in die Debatte um das Spannungsfeld von Identität und Alterität eingebracht, der zwischen den Kategorien ,Eigen/Anders‘ und ,Vertraut/Fremd‘ unterscheidet. Polaschegg führt aus, dass sich die Kategorien ,Eigen/Anders‘ in einem Prozess der Grenzziehung herausbildeten, der infolge von Differenz eine Identitätskonstitution zur Folge habe. Hingegen handele es sich bei den Kategorien ,Vertraut/ Fremd‘ um einen Akt des Verstehens, der sich durch Distanz herstellen oder aufheben lasse. „Die Differenz des Anderen bleibt von der Annäherung an das

22 Holz, Die Paradoxie (wie Anm. 21), S. 46. Siehe auch: Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. 23 Bogdal, Klaus-Michael: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung. In: Bogdal/Holz/Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 21), S. 1–12. 24 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Tübingen 2000. S. 65. 25 Asholt, Wolfgang: Einleitung: Die Blicke der Anderen. In: Die Blicke der Anderen. Paris – Berlin – Moskau. Hrsg. v. Wolfgang Asholt u. Claude Leroy. Bielefeld 2006. S. 11–23, hier S. 16.

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Fremde unberührt, weil Anderes und Fremdes Effekte zweier völlig unterschiedlicher Prozesse sind.“26 Soweit ein kursorischer Blick auf das weite Forschungsfeld zu Stereotypen, (jüdischen) Fremd- und Eigenbildern. Der vorliegende Sammelband Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20.  und 21.  Jahrhundert beschäftigt sich nicht nur mit konkreten innen- und außengeleiteten Ausformungen dessen, was Jüdischsein eigentlich ausmacht und wie dieses ,Jüdische‘ in Literatur, Film und autobiografischen Zeugnissen beschreib- und analysierbar gemacht wird. Er beschäftigt sich auch und v. a. damit, in welchem Wechselverhältnis jüdische Selbstbilder und Zuschreibungen von außen stehen. Jüdinnen und Juden sind seit der Antike immer wieder mit diesen unterschiedlich gearteten Zuschreibungen von außen konfrontiert worden. Und so stellt sich nicht nur die Frage, wie sie mit zumeist exkludierenden Markierungen als ,Jude‘ im Sinne eines generalisierenden Kollektivsingulars umgehen, sondern auch, welchen Einfluss Fremdzuschreibungen auf ihr Selbstverständnis als Juden und Jüdinnen haben. Wie sehr Konzepte zur Neubestimmung des Judentums auf antisemitische Fremdzuschreibungen reagieren, ja vielfach überhaupt erst durch diese ausgelöst werden, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die um 1900 geführte Debatte um die Bestimmung des Judentums angesichts zunehmender Säkularisierungsbestrebungen infolge von Konfessionalisierung und Liberalisierung des Religiösen wirft. Auch Almuth Hammer betont hinsichtlich der Problematik der ,jüdischen Identität‘, dass es sich dabei um eine von außen an die Betroffenen herangetragene Frage handele.27 Neben unzähligen Heterostereotypen über Juden und das Judentum, die spätestens seit der NS-Propaganda ,die‘ Juden als ein fremdartiges, zu bekämpfendes Kollektiv beschrieben haben, prägen Eigenbilder seit jeher die Debatte. Seit der Säkularisierung im 19. Jahrhundert, die mit Assimilation und Akkulturation verbunden war, wird entlang verschiedener Linien innerjüdisch darüber diskutiert, was jüdische Identität bedeutet und unterschiedliche Konzeptionen des Jüdischen gegeneinander abgegrenzt, wie Christina von Braun eindrücklich in ihrem Vorwort herausarbeitet. Solche Trennlinien wären beispielsweise Zionismus versus Diaspora, aber auch Religiosität versus Atheismus. Berücksichtigt werden muss an dieser Stelle aber auch, dass es sich bei der klaren Trennung von Juden und Nichtjuden um ein Konstrukt handelt, das von jüdischer Seite

26 Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. S. 41f. 27 Hammer, Erwählung (wie Anm. 1), S. 34.

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durch die halachischen Religionsgesetze zustande kommt. Wie jede Kategorisierung funktioniert sie nur aufgrund der Bereitschaft zur Abstraktion. So hat sich nicht nur im Zuge des nationalsozialistischen Antisemitismus eine regelrechte „Identifizierungswut“28 entwickelt. Auch nach 1945 wurden und werden Menschen immer wieder als Juden markiert, die sich selbst nicht als solche verstehen und verstanden.

1. Hintergrund des vorliegenden Sammelbandes Der Sammelband geht aus der Arbeitsgruppe Juden.Bilder des Ismar Elbogen Netzwerks für jüdische Kulturgeschichte e.V. hervor, die sich 2010 mit dem Ziel des wissenschaftlichen Austauschs und der Diskussion aktueller Forschungsprojekte gründete. Die Mitglieder des Elbogen-Netzwerks widmen sich in kleineren wissenschaftlichen Arbeitsgruppen der Erforschung jüdischer Kultur in ihren jeweiligen zeithistorischen und ortsspezifischen Ausprägungen. Darüber hinaus wird durch Projekte im Bereich der Kultur- und Bildungsarbeit versucht, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Die Mitglieder der AG Juden.Bilder sind Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die sich in ihren Forschungsprojekten und in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Facetten von Selbst- und Fremdzuschreibungen, deren Aushandlungsprozessen in Literatur und Film sowie diskursiv in Teilöffentlichkeiten wie Wissenschaft und Politik beschäftigen. Aus dieser produktiven Arbeitssituation heraus entstand das Konzept für den Sammelband Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, der um die interdisziplinär zusammengesetzten Beiträge etablierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie weiterer Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler angereichert wurde. Insofern handelt es sich bei dem vorliegenden Band zumindest in Teilen um ein Projekt, das darauf abzielt, an einen Trend anzuknüpfen, der sich in den letzten Jahren zu einem (populär)wissenschaftlichen, öffentlichkeitswirksamen und durchaus nicht unproblematischen Diskurs entwickelt hat. Der Sammelband stellt die vielfältigen Forschungsschwerpunkte unterschiedlicher Disziplinen rund um die Jüdischen Studien vor und spiegelt, da er 16

28 Günter, Manuela: Identität und Identifizierung. Einige Überlegungen zur Konstruktion des „Juden“ nach dem Holocaust. In: Jews in German Literature since 1945. German-Jewish Literature? Hrsg. v. Pól O’Dochartaigh. Amsterdam 2000. S. 435–446, hier S. 435.

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methodisch wie thematisch verschiedenartige Zugänge zu ,Bildern des Jüdischen‘ versammelt, unterschiedliche Annäherungen an dieses komplexe und ertragreiche Forschungsfeld wider. Das zeigt sich nicht zuletzt an den für die Untersuchungen herangezogenen Quellen, die von belletristischer, publizistischer, autobiografischer und theologischer Literatur über Karikaturen, Interviews und Filme bis hin zu populärkulturellen Phänomenen wie Konzerten, Theatern und Restaurants reichen. Mit dieser Auswahl wurden gezielt Schwerpunkte gesetzt, die durch ein breites Spektrum an unterschiedlichen Zeiten, Medien, Diskursen und Perspektiven einerseits und einen weiten methodischen und thematischen Bogen andererseits die Anschlussfähigkeit der einzelnen Beiträge untereinander gewährleisten. Die Gliederung des Sammelbandes in die vier Teilabschnitte Zeichen und Repräsentationen, Zwischenräume, Spiegelungen und Projektionen und Aufbrüche macht damit nur eine mögliche Lesart deutlich. Der gemeinsame Fokus aller Beiträge liegt auf dem deutschsprachigen Raum des 20. und 21. Jahrhunderts und bildet eine überwiegend ,deutsch-jüdische‘ Perspektive ab. Dabei reichen einige Beiträge über den deutschen (Sprach-)Raum hinaus und stellen beispielsweise Vergleiche zwischen der Darstellung jüdischer Figuren in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur an (Paula Wojcik) oder befassen sich mit der identitären Auseinandersetzung deutscher Einwanderer in Palästina/Israel der Jahre 1940 bis 1960 (Lena Kreppel). Auch über Zwischenräume, innerjüdische Abgrenzungen und Diskurse, wie sie insbesondere in der Weimarer Zeit zwischen deutschen und aus Osteuropa zugewanderten Juden geführt wurden, wird über die Grenzen des deutschsprachigen Raums hinaus verwiesen (Alina Bothe, Anna Michaelis). Dank gebührt an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, Dr. Lena Kreppel, die an der Konzeption des Bandes mitgewirkt hat, Dr. AnnaDorothea Ludewig, die dem Projekt beratend zur Seite gestanden hat, und der Ursula-Lachnit-Fixon-Stiftung, die das Projekt finanziell unterstützt hat. Besonderer Dank gilt Prof. Christina von Braun, die mit ihrem Vorwort die Grundlage dessen beschreibt, womit sich die Beiträge dieses Sammelbandes in nuce beschäftigen: der Frage nach einer genuin jüdischen Identität.

2. Vorstellung der Einzelbeiträge Der erste Teil des vorliegenden Sammelbandes umfasst unterschiedliche Facetten und Zugänge zu Zeichen und Repräsentationen des Jüdischen. Die Entstehung von (Stereo-)Typen und Bildern des Jüdischen zwischen Konkretisierung und Abstraktion zeigt Hildegard Frübis in ihrem kunst- und bildgeschichtlichen

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Beitrag Porträt und Typus. Repräsentationen ,der‘ Jüdin in der Jüdischen Moderne auf. Anhand von Bildern von Nathaniel Sichel, Lesser Urys, Alfred Dehodencq, Eugéne Delacroix und Gustav Richter arbeitet Frübis exemplarisch heraus, dass sich an der Darstellungsweise jüdischer Frauen beobachten lässt, wie diese zum Typus einer Kultur und Religion wurden, in der das Judentum nicht zuletzt in Kombination mit dem Exotismus des 19.  Jahrhunderts auftritt. Dabei ist es bezeichnend, dass diese Beobachtung sowohl für einen jüdischen wie nichtjüdischen Kontext zutrifft. In der Reihung unterschiedlicher Darstellungen zeigen sich Konstruktion und Funktion des Typus ,der‘ Jüdin im Medium der Bildtafeln. Dieser Bildtypus, der unter anderem Profil, Farbton der Haut, Kleidung und Schmuck betont und den Frübis als „ethnologisches Typenportrait“ bezeichnet, wird zu einem „erotischen“ Sujet, das Exotik und Erotik miteinander kombiniert. Dabei lässt sich der Mechanismus der Identifikation im Bild besonders anschaulich an dem Typus der ,Schönen Jüdin‘29 nachvollziehen, der auch in der Literatur – das zeigen die Beiträge von Ulrike Schneider und Juliane Sucker – ein beliebtes Sujet war. Wie wenig grenzscharf Innen- und Außenperspektive mitunter sein können, zeigt Silke Hoklas in ihrem Beitrag Alberich, Repräsentant der finsteren Mächte? Zum Bild des Jüdischen in Fritz Langs „Nibelungen“-Film auf. Hoklas befragt die Figur des Alberich auf ihre möglicherweise antisemitisch-stereotype Gestaltung, die bezüglich der zeitgenössischen antisemitischen Bilder des Jüdischen anschlussfähig ist. Dabei macht Hoklas deutlich, dass Langs Darstellung des Zwergenkönigs als klischeehaft eingesetztes Motiv des jüdischen Händlers, des Hüters des mythischen Nibelungenschatzes, die bereits von der zeitgenössischen Rezeption erkannt wurde, die Trennung von Fremd- und Selbstbildern des Jüdischen problematisch macht. Dies gilt besonders, wenn man sich der höchst fraglichen Identifizierung von Menschen als ,jüdisch‘ entgegen ihrer jeweiligen Selbstbeschreibung enthalten will. Bei der Analyse – das sei hier noch hinzugefügt – erweist sich ein Blick auf Langs Verhältnis zum Judentum als aufschlussreich: Lang, dessen einst jüdische Mutter vor seiner Geburt zum Katholizismus konvertiert war, betonte wiederholt seine katholische Erziehung und zeigte kein auffallendes Interesse für seinen jüdischen Familienhintergrund. In ihrem Beitrag „Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt“. Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen untersucht Lea Wohl von Haselberg, wie jüdische Filmfiguren mittels jüdischem Humor und Witz im deutschen Film und Fernsehen nach 1945 als ,jüdisch‘

29 Vgl. Krobb, Florian:Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Tübingen 1993.

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charakterisiert werden. Jüdischer Humor ist eines der herausragenden Merkmale von Jüdischkeit, das bezeichnenderweise sowohl häufig zentraler Bestandteil jüdischer Selbstbeschreibungen ist als auch nichtjüdischer Fremdzuschreibungen. Dabei betrachtet Wohl von Haselberg jüdischen Humor nicht als Phänomen, sondern als Idee oder Konzept und stellt heraus, dass Humor als ,Superzeichen von Jewishness‘ dazu dient, die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Figuren zu markieren und gleichzeitig deren Beziehung zu beschreiben: Über die soziale Funktion des Humors und die Frage, wer mit wem lacht oder nicht, werden In- und Exklusion gekennzeichnet, wird die Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Figuren nonverbal bestimmt. Auch wenn Alexander Jungmann ein gänzlich anderes Phänomen als Wohl von Haselberg zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, geht es doch auch in seinem soziologischen Beitrag Fremdbilder des Jüdischen – ein Berliner Hype und seine jüdischen Wahrnehmungen darum, mit welchen Selbstbildern und -konzepten Fremdbilder des Jüdischen verknüpft sind. Jungmann beleuchtet Versatzstücke jüdischer Kultur, die sich in den letzten Jahren jenseits der hiesigen „GedenkEpidemie“30 gegenüber den Opfern der Shoah herausgebildet haben. So werden insbesondere stadträumliche touristische Attraktionen, die sich um Schlagworte wie das „Scheunenviertel“ und um Requisiten jüdischen Lebens in Berlin (z. B. Lokale, Bars, Musik) ranken, aufgegriffen. Damit erweitert Jungmanns Studie den Sammelband um die Erforschung gegenwärtigen jüdischen Lebens in Deutschland und erschließt neue Aspekte im Kontext des aktuellen deutsch-jüdisch/ deutsch-nichtjüdischen Verhältnisses. Anhand von publizistischen (Online-) Beiträgen einerseits und narrativen Leitfadeninterviews andererseits arbeitet Jungmann heraus, inwieweit die populäre mehrheitsgesellschaftliche, aber auch jüdische Verwendung von Narrativen wie ,Renaissance‘ und ,Revitalisierung‘ jüdischen Lebens in Berlin zur Aneignung ,des Jüdischen‘ beitragen. Der zweite Teil des Sammelbandes befasst sich mit unterschiedlichen Formen des Zwischenraums, womit sowohl ostjüdisches Leben im Berlin der 1920er-Jahre und daraus resultierende innerjüdische Auseinandersetzungen als auch verschiedenartige Exilerfahrungen gemeint sein können. Dass die Zuwanderung osteuropäischer Juden in das stärker industrialisierte Deutsche Reich insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg die deutschen Juden zur Auseinandersetzung mit ihren deutsch-jüdischen Wurzeln sowie zionistischen Konzeptionen zwang, machen die Beiträge von Anna Michaelis und Alina Bothe deutlich. Michaelis analysiert in ihrem Beitrag „… daß die Ostjuden Sünder und die deut-

30 Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996. S. 21.

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schen Juden die reinen Engel wären …” – Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik auf der Quellengrundlage von vier deutsch-jüdischen Zeitungen aus den Weimarer-Jahren Entwicklungen im Verhältnis der deutschen Juden zu den zumeist aus Galizien und Russland stammenden jüdischen Einwanderern, die hier nur aus Gründen der Lesbarkeit unter dem Sammelbegriff ,Ostjuden‘ zusammengefasst werden. Bothe untersucht in ihrem Artikel Da-Zwischen. Zur jüdischen Identität in Fischel Schneersohns Grenadierstraße mithilfe von Homi K. Bhabhas The Location of Culture31 hybride jüdische Identitäten in Schneersohns in diesem Jahr erstmalig auf Deutsch erschienenen jiddischen Roman32 und versucht, diese in den Zwischenräumen Berlins der-Jahre 1900 bis 1920 zu verorten. Wie sehr sich die deutschen Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik als Deutsche fühlten und sich im Zuge der Emanzipationsbestrebungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, Säkularisierung und Akkulturation vom Judentum entfremdet hatten, stellt Juliane Sucker heraus. In ihrem Beitrag „… auf Gedeih und Verderb mit Deutschland verbunden“? – Gabriele Tergits literarische Spurensuche nach dem jüdischen Ich arbeitet Sucker die poetologisch erfahrbar gemachten Erschütterungen jüdischen Selbstverständnisses heraus. Sie fragt danach, welche Möglichkeiten zur identitären Neubestimmung die 1933 in die Tschechoslowakei, späterhin nach Palästina und England emigrierte deutschjüdische Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit literarisch durchspielt. So wird deutlich, dass die im wilhelminischen Deutschland und den ,Goldenen Zwanzigern‘ zumeist hoch assimilierten deutschen Juden vor allem durch die grassierende Judenfeindschaft mehrheitlich überhaupt erst zur „Auseinandersetzung mit Existenz und Tradition, mit Judesein und Judentum“33 gezwungen wurden. In ihrer literaturwissenschaftlichen Analyse demonstriert Sucker, dass die poetologisch reflektierten historisch und ideologisch gebundenen antisemitischen Heterostereotype den allgemeingesellschaftlichen Bewusstseinsstand sowie gängige kollektive Denkmuster der erwähnten Epoche, kurz „das Bild vom Juden“,34 widerspiegeln. Vor der Folie der Differenzerfahrung nimmt Tergit in

31 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. Reprinted. London 2007. 32 Schneersohn, Fischl: Grenadierstraße. Jüdisches Leben in Deutschland, aus dem Jiddischen übersetzt von Alina Bothe. Hrsg. u. eingel. von Anne-Christin Saß, m. einem Nachwort v. Mikhail Krutikov. Göttingen 2012. 33 Shedletzky, Itta: Existenz und Tradition. Zur Bestimmung des ‚Jüdischen‘ in der deutschsprachigen Literatur. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Itta Shedletzky u. Hans Otto Horch. Tübingen 1993. S. 3–14, hier S. 4. 34 Vgl. Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München 2001.

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ihren autobiografisch gefärbten Erzähltexten das breite Spektrum der vielschichtigen durch inner- und außerjüdische Diskurse geprägten Judenbilder zwischen Zugehörigkeit, Liminalität und Ablösung in den Blick. Dabei wird nicht nur die Verunsicherung jüdischen Selbstverständnisses explizit, sondern auch, wie heterogen und mitunter rivalisierend jüdische Eigenbilder sein konnten. Ein solches Panorama vielfältiger jüdischer Identitäten wie zu Zeiten der Weimarer Republik ist nach der Shoah im Deutschland der 1960er-Jahre nicht mehr zu finden und ohne jüdisches Leben in Israel oder dem Exil kaum denkbar. Vor dem Hintergrund der Exilierung fokussiert Andreas Stuhlmann in seinem Beitrag „Sie sehen: ich bin wütend.“ Hannah Arendt und Gershom Scholem streiten über Judentum im Exil auf unterschiedliche jüdische Selbstkonzepte außerhalb Deutschlands. Anhand des rund 25 Jahre fortwährenden herzlichen wiewohl spannungsvollen Briefwechsels zwischen Hannah Arendt und dem befreundeten Gershom Scholem arbeitet Stuhlmann unterschiedliche innerjüdische Positionen über die Frage heraus, was Jüdischsein bedeutet. Während Scholem, der sich 1923 für den politischen Zionismus und zur Auswanderung nach Palästina entschieden hatte, in Jerusalem resigniert den Zerfall der jüdischen Welt konstatierte, bemühte sich Arendt, die sich im Sinne Bernard Lazares als „Paria“ verstand, der Zersplitterung jüdischer Selbstbilder aktiv entgegen zu arbeiten. Für beide, Arendt wie Scholem, kreist das Denken und Schreiben – und das gilt auch für beider Korrespondenz – um den Traditionsbruch der Shoah und die „Rettung des Erzählens als notwendigen Erfahrungsaustauschs“, den Stuhlmann als „Nukleus politischen Handelns“ ausweist. Im Zionismus wird die Bedeutung von Geschichte für die Generierung und Diskussion kollektiver Selbstbestimmungen und -verortungen deutlich, der an das jüdische Leben in Palästina vor 2000 Jahren angelehnt ein Narrativ entwickelt, das die zionistische Bewegung begründet und ihren Anspruch auf das Territorium legitimiert. Lena Kreppels Beitrag Ein deutsch-jüdischer Emigrant im Erstkontakt mit dem Zionismus. Zur Selbstdarstellung in autobiografischen Texten von Fritz Wolf zeigt anhand von Selbstzeugnissen des 1936 nach Palästina emigrierten Juristen Fritz Wolf exemplarisch die Problematik der identitären Verortung deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina/Israel auf. Kreppel stellt heraus, wie sich die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohenen ,Jeckes‘, wie die deutschen Juden genannt wurden, in Palästina vor der Kontrastfolie des ,Sabre‘ als Sinnbild des ,neuen Juden‘35 mit ihrem von der Diaspora geprägten

35 Vgl. dazu Interview mit Tom Segev in: Joggerst, Karin: Getrennte Welten – getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelischpalästinensischen Konflikt. Im Anhang: Interviews mit Benny Morris, Ilan Pappé, Tom Segev,

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deutsch-jüdischen Selbstbild auseinandersetzten. In dem unter britischer Mandatsmacht stehenden Einwanderungsland prallte ihr Selbstverständnis mit dem Bild des ‚neuen Juden‘ zusammen, das als Gegenentwurf zum schwachen, wehrlosen und verfolgten Juden der Diaspora konzipiert war. Kreppel analysiert Wolfs Selbstdarstellung in der Auseinandersetzung mit der ,hebräischen Kultur‘ als Kernelement der israelischen Kollektividentität: Dem ,verkopften‘ Diasporajuden wurde das zionistische Konzept des ,Muskeljuden‘ gegenübergestellt. In ihrem Beitrag zeigt Kreppel, dass sich die deutsch-jüdischen Einwanderer mit diesen sehr heterogenen bis widersprüchlichen Selbstbildern des Jüdischen im Exil bzw. der neuen Heimat auseinandersetzen und eine neue identitäre Positionierung respektive Abgrenzung finden mussten. Der dritte Teil des Bandes versammelt Beiträge, die sich im weiten Sinne mit Spiegelungen und Projektionen befassen. Wie widersprüchlich antisemitische Zuschreibungen von außen sein können, zeigt Hannah Ahlheims Beitrag Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘. Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik. Anhand zeitgenössischer Schriften und Zeitungsartikel jüdischer Organisationen wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder der Jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge untersucht Ahlheim traditionelle Stereotype wie jenes vom spezifisch ,jüdischen Geist‘, in der Wirtschaft (,Wucherer‘, ,Schacherer‘) in der Weimarer Republik. Dabei arbeitet Ahlheim heraus, dass das viel diskutierte und umstrittene Selbstbild deutscher Juden kaum vom antisemitischen konnotierten Fremdbild zu trennen war, da sowohl der Gehalt als auch ein sinnvoller Umgang mit den antisemitischen Anschuldigungen innerjüdisch diskutiert wurde. Der Beitrag verdeutlicht, dass der Versuch, antisemitisch konnotierten Zuschreibungen geschickt zu begegnen, indem man sie sachlich zu widerlegen suchte, zu einem durchaus ambivalent geführten und hoch problematischen Dialog zwischen antisemitischem Stereotyp und jüdischem Selbstverständnis führte. Dass Selbst- und Fremdbilder miteinander im Dialog stehen und sich wechselseitig bedingen, macht auch Regina Schleichers Beitrag „Schlemiel“ – Jüdische Identität in der Satire des Kaiserreichs und der Weimarer Republik deutlich. Schleicher untersucht die kurze Geschichte der jüdischen Satirezeitschrift Der Schlemiel – Illustriertes jüdisches Blatt für Humor und Satire (1903–1907) und interpretiert diese in einem Dreieck zwischen der jüdischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus, dem Kampf von Jüdinnen und Juden um gesellschaftliche Anerkennung und einer kontinuierlichen jüdischen Identitätskrise und -suche. Dabei geben insbesondere die Karikaturen im Schlemiel, der sich vorrangig an ein

Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann. Münster [u. a.] 2002. S. 124–130, hier S. 126.)

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jüdisches Publikum richtete, Aufschluss über innerjüdische Identitätskonflikte und Abgrenzungsbestrebungen, wie sie sich zwischen den zumeist hoch assimilierten deutschen Juden, der zionistischen Bewegung und den aus Osteuropa in das industrialisierte Deutsche Reich emigrierten Juden beobachten ließen. Insofern spiegelt das Satire-Magazin, das im Umfeld vielfältiger zionistischer Aktivitäten des frühen 20. Jahrhunderts zu verorten ist, die Auseinandersetzung der zionistischen Bewegung in Deutschland in ihrer Anfangszeit, ihre Perspektive auf Antisemitismus, Assimilation und Abwehrstrategien wider. Deutlich wird, dass der zunehmend rassisch konnotierte Antisemitismus in den Weimarer Jahren zu einer Position zwang. Und dies galt natürlich in besonderem Maße für ein publizistisches Organ wie den Schlemiel, dessen Herausstellungsmerkmal es doch gerade war, sich gegen jüdische Assimilationsbestrebungen in Position zu bringen und die rassische Judenfeindschaft der Nationalsozialisten in seiner Bedrohlichkeit zu entlarven. Dem gezielten und kollegialen Dialog von Fremd- und Selbstzuschreibungen widmet sich Knut Martin Stünkel, wenn er sich in seinem Beitrag Judentum als traditionelle Kritik. Der Beitrag Max Wieners zum Bild des Jüdischen im Gespräch der Religionen der Frage zuwendet, inwiefern das Zusammenspiel von Selbstund Fremdzuschreibungen paradigmatisch für den Prozess jüdischer Identitätsbildung beschrieben werden kann. Dabei fokussiert Stünkel auf Max Wieners Beitrag zum 1929 von Paul Tillich herausgegebenen Sammelband Protestanismus als Kritik und Gestaltung, in dem Wiener sich mit der Rolle der Kritik im Judentum beschäftigt und damit in einen Dialog zwischen den Kulturen und Religionen einsteigt. Stünkels Beitrag erweitert den Sammelband somit um den Blick auf eine philosophisch-theologische Perspektive und Auseinandersetzung, die besonders deshalb die Vielgestaltigkeit jüdischen Lebens und Denkens in der Weimarer Republik betont, da sie andere Beiträge des Sammelbandes, die ebenfalls in der Weimarer Zeit verortet sind, kontrastiert. Die Kontextabhängigkeit des eigenen Selbstverständnisses, wie sie auch den Protagonisten des Romans Andernorts von Doron Rabinovici prägt, ist Thema von Susanne Düwells Beitrag, der zwei Romane Rabinovicis untersucht. Düwell zeigt auf, wie stark intergenerationelle Mechanismen jüdische Selbstbilder prägen. Ihre Analyse „Das zwanghaft projizierende Selbst“. Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovici, demonstriert, wie sehr die zweite Generation von den Verfolgungserfahrungen der Eltern und deren Umgang mit ihren Erlebnissen geprägt ist. Aufgrund der transgenerationellen Weitergabe des Traumas können die Kinder der Shoah-Überlebenden kein eigenständiges und unabhängiges (jüdisches) Selbstbild entwickeln, sondern agieren stattdessen oftmals das aus, was die Eltern nicht auszusprechen vermögen. So wird das Schweigen in den Überlebendenfamilien zum Medium des Traumas, das die Aufgabe der Verar-

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beitung der Erfahrungen an die Kinder überträgt. Für die Protagonisten in Rabinovicis Romanen wird diese Situation noch durch das Leben im Land der Täter verschärft, das historisch dadurch geprägt ist, Menschen jüdischer Herkunft als ,jüdisch‘ zu markieren. Die so generierten exkludierenden Fremdbilder oszillieren häufig zwischen Antisemitismus, also dem, was Theodor W. Adorno „das Gerücht über die Juden“36 nannte, und Philosemitismus. Juden werden somit in jedem Fall zum Anderen und müssen sich in diesen Gesellschaften mit den Projektionen und Identifizierungen auseinandersetzen. Nicht umsonst reflektiert Rabinovicis Roman Andernorts, wie Düwell zeigt, den Umstand, dass das Selbstverständnis und die politischen Positionen sowie sein öffentliches Agieren nicht unabhängig von der Gesellschaft zu denken ist, in der er sich gerade bewegt. Seine Identität ist eine der Differenz und Opposition, seine Positionen in Israel und Österreich stehen sich scheinbar widersprüchlich gegenüber. In ihrem Beitrag Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur untersucht Ulrike Schneider literarische Texte der frühen Nachkriegszeit, die die schwierige Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit suchen. Am Beispiel von Erzähltexten von Cläre M. Jung, Lotte Paepcke, Albrecht Goes und Soma Morgenstern arbeitet Schneider in einer vergleichenden Textanalyse unterschiedliche Darstellungsweisen und Deutungsmuster von Jüdischkeit heraus. Sie benennt Stilisierungen und zeigt auch die Kontexte der Veröffentlichung und Rezeption der Texte auf. Es wird deutlich, wie sehr das Erzählen über die NS-Vergangenheit und damit die Darstellung des Jüdischen geprägt ist von Legitimationsversuchen deutscher Handlungsweisen während der NS-Zeit. Auch zeigt sich, dass die Diskrepanz zwischen vielfach philosemitischem öffentlichen Agieren einerseits und oftmals antisemitisch gefärbter privater Haltung andererseits ein bedeutender Aspekt der deutschen Nachkriegsrealität waren. Schneider stellt heraus, dass die diskutierten Texte auf die Problematiken innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft verweisen, da sie die schwierige Auseinandersetzung mit Verfolgung und Vertreibung sowie die Funktionalisierung jüdischer Figuren anschaulich hervortreten lassen. Dass neben jüdischen Protagonisten auch christliche Retterfiguren eine herausragende Rolle spielen, verweist indes darauf, dass die literarischen Texte auf ein Versöhnungskonzept angelegt sind, das der „Entlastung von Individualschuld“ (Schneider) dient. Der vierte Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit Aufbrüchen in Bildern und Konzepten des Jüdischen. Um Selbstbeschreibungen literarischer Figuren

36 Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1997. S. 125.

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jenseits einer vermeintlich eindeutigen Dichotomie jüdisch/nichtjüdisch geht es in Paula Wojciks Beitrag Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Neue Konzeptionen des Jüdischen in polnisch- und deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, der sich literarische Auseinandersetzungen mit Bildern des Jüdischen im Zeichen einer „entmythologisierten Normalität“37 zum Thema macht. In ihre Analyse polnischer und deutscher Erzähltexte bezieht Wojcik sowohl jüdische als auch nichtjüdische Autoren ein und macht anhand einer vergleichenden Textanalyse deutlich, dass eine klare Trennung zwischen Selbst- und Fremdbildern ebenso wenig funktioniert wie die dichotome Gegenüberstellung von jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Aufzeigen lässt sich das am Beispiel von Dariusz Muszer, der als polnischer Autor in Deutschland lebt, auf Polnisch und Deutsch publiziert und der in seinem Roman Die Freiheit riecht nach Vanille38 die Identitätsproblematik weit auffächert, indem er seinem Protagonisten eine doppelte Identität zuschreibt. Auf der Suche nach Möglichkeiten eines adäquaten literarischen Umgangs mit Bildern des Jüdischen stellt Wojcik heraus, wie literarische Strategien es beispielsweise durch Brüche oder Doppelungen von Perspektiven vermögen, Konzepte oder Wahrnehmungen des Jüdischen als historisch, gesellschaftlich und ideologisch gebundene Projektionen zu enttarnen. So entstehen von Stereotypen des Jüdischen abweichende und sich jenseits einer Täter-OpferDichotomie positionierende Wahrnehmungsweisen jüdischer Figuren. In seinem erzähltheoretisch angelegten Beitrag Den Hass auf die Geschichte wegerzählen. Funktionen der Marranenthematik in Robert Menasses „Die Vertreibung aus der Hölle“ beschäftigt sich Alexander Rasumny mit der Verwendung historischer Narrative für die literarische Auseinandersetzung mit aktuellen Identitätsfragen. Am Beispiel von Robert Menasses metahistoriografischem Roman Die Vertreibung aus der Hölle zeigt Rasumny kollektive (Selbst-)Bilder des Jüdischen auf und macht deutlich, dass die literarisch reflektierte Identitätsnarrative als Spezifik der Marranengeschichte weitgehend auf antisemitische Zuschreibungen zurückzuführen ist. Unter Rekurs auf metahistiografische und fiktionale Reflexionen zeigt Rasumny, dass die sich an antisemitischen Fremdzuschreibungen orientierende Identitätsnarrative, die Menasse nicht nur poetologisch, sondern auch ästhetisch verhandelt, innerhalb der jüdischen Erinnerung lediglich perpetuiert wird. So ergibt die Analyse von Menasses Die Vertreibung aus der Hölle zweierlei: dass die Shoah als traumatisches Ereignis in das Selbst-

37 Eke, Norbert Otto: Im „deutschen Zauberwald“. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. In: Bogdal/Holz/Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 21), S. 243–261, hier S. 253. 38 Muszer, Dariusz: Die Freiheit riecht nach Vanille. München 1999.

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verständnis heutiger Juden, auch jener der zweiten oder dritten Generation, eingeschrieben ist und dass Geschichts- und damit Identitätsverweigerung als einzig adäquate „Lehre aus der Geschichte“ (Menasse) erscheinen. Von einer anderen Seite nähert sich Ruth Zeifert in ihrem Beitrag der Dichotomie jüdisch/nichtjüdisch. Zeifert fragt, wer überhaupt jüdisch ist und wer nicht. Im jüdischen Gesetz, der Halacha, ist festgelegt, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Einen Austritt aus der jüdischen Religion gibt es nicht, lediglich die Konversion zu einer anderen Glaubensgemeinschaft. Zeifert befasst sich in ihrem Beitrag Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/ nichtjüdischen Doppelperspektive von ,Vaterjuden‘ mit dem Selbstverständnis von Menschen mit jüdischem Hintergrund, die nach halachischem Verständnis nicht als Juden gelten, da sie einen jüdischen Vater, nicht aber eine jüdische Mutter haben. Anhand ihrer Ausführungen macht Zeifert deutlich, dass diese patrilinearen Juden oder ,Vaterjuden‘ eine Position zwischen den Stühlen innehaben. Von Nicht-Juden werden sie häufig als zur jüdischen Gemeinschaft zugehörig, von Juden wiederum als nicht zugehörig empfunden. Folglich beschreiben sich Vaterjuden, das bildet Zeiferts Beitrag ab, häufig als innerlich tief gespalten: Je nach Kontext stellen sie entweder ihre jüdische Herkunft heraus oder ihre Nichtzugehörigkeit. Ihre identitäre Verortung hängt vom Kontext ab und ihre Vorstellungen dessen, was Jüdischsein ausmacht, können zugleich als Selbst- und Fremdbilder verstanden werden.

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 Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg

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Teil I: Zeichen und Repräsentationen

Hildegard Frübis

Porträt und Typus Repräsentationen ,der‘ Jüdin in der Jüdischen Moderne In der Ausgabe von 1927 des Jüdischen Lexikons erscheinen zwei Bildtafeln, auf denen eine Serie von kleinformatigen Bildern bzw. Bildausschnitten vorgestellt wird (Abb. 1 und 2). Platziert sind sie zwischen die Seiten des Artikels Frau im Judentum und dienen diesem zur Illustration. Jede der Darstellungen zeigt ein Frauenbildnis, das im Bildtitel als Jüdin bestimmt wird. Dies geschieht mittels Betitelungen wie „eine Jüdin“, die zugleich eine Anonymisierung und damit Stereotypisierung einleiten, oder durch einen als jüdisch zu identifizierenden Vornamen. In der ersten Reihe der zweiten Tafel sind zwei als Rebekka und Judit bezeichnete Bildnisse zu sehen. Es sind Ausschnitte aus den gleichnamigen Gemälden des jüdischen Malers Nathaniel Sichel (1843–1907). Wie das Allgemeine Lexikon der bildenden Künstler in seiner Auflage von 1938 vermerkt, sei Sichel „besonders bekannt geworden durch seine idealisierten orientalischen Mädchen- und Frauengestalten“. Sein Gemälde der Judit (Abb.  3) soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden, um die in den Bildtafeln vorgenommenen Veränderungen sichtbar werden zu lassen. Das Bild wurde 1907 in Ost und West, der bedeutendsten Zeitschrift der jüdischen Kulturrenaissance, reproduziert (Abb.  4). Der Erscheinungsort des Bildes gibt zugleich einen ersten Hinweis auf den jüdischen Rezeptionskontext der Darstellungen von Nathaniel Sichel. Dargestellt ist die biblische Heldin Judit. Sie richtet ihren Blick aus dunkel verschatteten Augen, umrahmt von schwarzen Haaren, aus dem Bild heraus in eine unbestimmte Ferne. In reiche Stoffe und Schmuck gehüllt, hält die schöne und fromme Witwe, wie sie im Buch Judit geschildert wird, quer vor ihrem Schoß das reich verzierte Schwert, mit dem sie Holofernes töten wird. Hinter Judit erscheint aus dem Dunkel eine zweite Frauenfigur, ihre Dienerin, die, wie im biblischen Epos berichtet wird, ihre Herrin und Heldin begleitet. Nur der Oberkörper der Dienerin wird in der Beleuchtung des Bildes hervorgehoben, so dass ihre malerische Präsentation die dunkle Schönheit der Judit noch unterstreicht. Das Bild steht im Rang eines Historiengemäldes, das die Geschichte von der Rettung des Volkes Israel durch die Tat einer weiblichen Heldin erzählt, die sich und ihre Schönheit zum Werkzeug ihres Volkes macht. Auf den Bildtafeln erscheinen nun diese ganzfigurigen Historiengemälde Sichels – das der Judit wie das der Rebekka – nur als Ausschnitte. In einem Verfahren des ,cut and paste‘ wurde aus dem Gesamtrahmen der Gemälde lediglich

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 Hildegard Frübis

Abb. 1: Bildtafel Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II.



Abb. 2: Bildtafel Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II.

Porträt und Typus 

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Abb. 3: Nathaniel Sichel, Judit, Öl auf Leinwand, o. D.



Porträt und Typus 

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Abb. 4: Zeitschrift „Ost und West“ 1907, Reproduktion von Nathaniel Sichel, Judit, o. D.

das Gesicht der biblischen Protagonistinnen Judit und Rebekka herausgeschnitten, so dass sich ihr Anblick ganz auf die Gesichtszüge konzentriert. Format und Form des gewählten Bildausschnittes – Frontalansicht und Brustbild/Büstenporträt – erinnern an das relativ junge Medium der Passfotografie. Vor einem dunklen Bildhintergrund, der die Helligkeit des Teints unterstreicht, erscheinen

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die Frauengestalten, deren Gesichtszüge dominiert werden von den tief zurückliegenden dunklen Augenpartien und ihrer Rahmung durch die schwarzen Augenbrauen. Die Bilder repräsentieren die charakteristischen Merkmale der Figur der ,Schönen Jüdin‘, wie sie in Erzählliteratur und den Bildern des 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind.1 Nathaniel Sichel entwirft an der Wende zum 20. Jahrhundert diese Figur in mehreren seiner Gemälde. Neben den schon erwähnten Darstellungen der Judit und Rebekka tritt dieser Typus nochmals im Gemälde der Salome auf (Abb. 5). Auf den Bildtafeln des Jüdischen Lexikons wird die Reihe fortgesetzt mit nicht näher zu identifizierenden Aufnahmen junger, als jüdisch bezeichneter Frauen im Dreiviertel- oder Ganzfigurporträt aus verschiedenen Gegenden Nordafrikas sowie Fotografien Jüdischer Greisinnen aus Polen (vgl. Abb.  1 und 2). In dieser Reihung ganz unterschiedlicher Darstellungen zeigt sich die Funktion bzw. die Konstruktion des Typus ,der‘ Jüdin im Medium der Bildtafeln. Er legt sich wie eine Folie mit den Erkennungsmerkmalen von dunklen Augenpartien und dunklem Haar über die verschiedenen Darstellungstypen wie auch über die verschiedenen historischen Frauengestalten. Die unterschiedlichen Bildmedien wie das biblische Historienbild, die Porträtmalerei und die Fotografie, aus denen die Bilder als Bildausschnitte entnommen sind, werden in der Neuzusammenstellung der Bildtafeln unsichtbar gemacht. In der Neuanordnung der Bildtafeln des Jüdischen Lexikons werden die Ausschnitte zu Einzelbildnissen, die in eine serielle Abfolge von Ähnlichkeit und Wiederholung gebracht werden. Ohne Differenzierung ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Bildgattungen, ohne Beachtung ihrer medialen Funktion und besonders durch die Kombination mit dem Lexikonartikel Frau im Judentum entsteht die Gleichsetzung der Bilder mit ,realen‘ Jüdinnen. Das Neue, das sich aus der Zusammenstellung der Einzelbilder in diese Serie ergibt, und was zusätzlich noch durch die Einsetzung der Bildtafeln in den Artikel des Lexikons unterstrichen wird, ist die bildliche Produktion des Typus der ,Schönen Jüdin‘. In dieser Form der Reduzierung und Gleichsetzung erzeugt die Serie der Bildnisse ein Referenzsystem, das die spezifische Zeit wie den spezifischen Ort des einzelnen Bildnisses verlässt und so den Typus ,der Jüdin‘ konstituiert.

1 Vgl. hierzu die ausführliche und informative Studie von Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Tübingen 1993, die sich mit der Genese des Begriffs, seinen Zuschreibungen im Sinne eines „generalisierenden Kollektivsingulars“ sowie seiner Referenz auf die historische Situation auseinandersetzt. Frübis, Hildegard: Die Schöne Jüdin – Bilder vom Eigenen und vom Fremden. In: Projektionen: Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Hrsg. v. Annegret Friedrich [u. a.]. Marburg 1997. S. 112–125.



Porträt und Typus 

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Abb. 5: Nathaniel Sichel, Salome, Öl auf Leinwand, o. D. (Prometheus: Rostock, Kulturhistorisches Museum).

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Bezieht man die erste Tafel mit ein, so mündet die Abfolge der Bildnisse in die Konstruktion einer idealen (Bild-)Genealogie des Typus ,der‘ Jüdin, die über Rembrandts Ölgemälde der so genannten ,Judenbraut‘ zeitlich bis zum „Mumienbild einer Jüdin“ zurückreicht.2 Deutlich wird hier, wie die Wahrnehmung ,der‘ Jüdin im Sinne eines rassischen Stereotyps durch die Macht des Bildes hergestellt wird. Wie schon die Organisation des Lexikonartikels die historischen Ausführungen zur Stellung der Frau im Judentum mit den Bildtafeln gleichsetzt, werden die durch den Text imaginierten Bilder zu einer ununterscheidbaren Einheit mit den unmittelbar visuell vorgestellten der Abbildungstafeln. Das Signet einer jüdischen, weiblichen Schönheit, wie es in der Zusammenstellung der Bildtafeln entwickelt wird, ist zugleich zum Träger genealogischer Erkennungszeichen mit innerjüdischen Komponenten geworden: Nach den biblischen Schriften kommt den Frauenfiguren, wie z. B. Sara und Rebekka oder Judit und Debora, die Funktion von Stammmüttern bzw. Anführerinnen des Volkes Israel zu. So erläutert der Artikel zum Thema der „Frau im Judentum“ aus dem Jüdischen Lexikon von 1927 im Kontext der Bilder von Judit und Rebekka und der Serie anonymer Frauenporträts, die Rolle der Frau als die von Müttern zukünftiger Söhne oder als Kämpferinnen und Anführerinnen des Volkes, die für die Sicherung jüdischer Geschichte und Tradition stehen.3 Schon in der Genesis ergeht die göttliche Verheißung an Sara mit den Worten: „Deine Frau Sarai sollst du nicht mehr Sarai nennen, sondern Sara (Herrin) soll sie heißen. Ich will sie segnen und dir auch von ihr einen Sohn geben. Ich segne sie, so dass Völker aus ihr hervorgehen […]. (Gen 17,15f.).4 Im Umkreis der kulturzionistischen Bewegung der jüdischen Renaissance werden weitere Darstellungen sichtbar, die unter Rückgriff auf die biblischen Erzählungen die Selbstrepräsentation des Judentums in der Gestalt biblischer Heldinnen vorführen. Ein solches Beispiel ist die Ölskizze Rebekka am Brunnen

2 Die Bezeichnung „Mumienbild einer Jüdin“ stammt aus dem jüdischen Lexikon, ohne dass dort weitere Angaben gemacht werden, was die Identifizierung als Jüdin anbetrifft. Bei einem Mumienporträt handelt es sich um die moderne Bezeichnung für auf Holztafeln gemalte Porträts, die sich in Ägypten auf Mumien angebracht fanden. Sie datieren in die römische Zeit etwa des 1. Jh. v. u. Z. Die Mumienporträts zeigen meist eine Person in Form eines Brust- oder Kopfbildnisses in Frontalansicht; der Hintergrund des Bildes ist stets einfarbig gehalten. 3 Vgl. Joseph, Max: „Frau im Judentum“. In: Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II. S. 770ff.; Fuchs, Hugo: „Erzmütter“. In: Jüdisches Lexikon, Bd. II. S. 498ff., Herweg, Rachel Monika: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt 1994. S. 11ff. 4 Bibelzitate, soweit nicht anders vermerkt, nach der katholischen Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Stuttgart 1980. Lizenzausg. Frankfurt/Main 1985.



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(Abb. 6) des deutsch-jüdischen Malers Lesser Ury von 1905.5 Die Figur der Rebekka steht am Rande eines Brunnens; ihre linke Hand liegt auf einem Krug, den sie dort abgestellt hat. Die Schilderung geht zurück auf eine Episode im 24. Kapitel des 1. Buches Mose. Abraham sendet dort seinen Diener aus, um für seinen Sohn, Isaak, eine Frau in der Heimat unter seiner Verwandtschaft zu finden. Die richtige Frau sei dann gefunden, wenn sie nicht nur ihm, sondern auch den Kamelen zu trinken anbieten würde. Ury verzichtet ganz auf die Darstellung der narrativen Elemente der Szene und konzentriert sich auf die weibliche Heldin. Ihre Wahl zur Frau Jakobs macht sie zu einer „Mutter in Israel“6, welche mit ihren Söhnen, Jakob und Esau, für den Fortbestand des Geschlechts sorgt. Die mythische Szenerie weiblicher Abstammung und ihre Stellung für die Genealogie des jüdischen Volkes erhält in dieser modernen, übergroßen Fassung der Gestalt ihre Fortsetzung. Ury gestaltete mit seinen biblischen Monumentalgemälden, wie Rebekka, Jeremias oder Moses zerschmettert die Gesetzestafeln, eine moderne Form des hebräischen Mythos. Seine biblischen Charaktere stellt er als physisch kräftige Gestalten dar, so dass Rebekka in ihrer robusten Präsenz einer biblischen Brunhilde ähnelt. Die Heldengestalten der Bibel werden ihm zu visionären Vorbildern für ein neues ,tatkräftiges‘ Judentum. Damit knüpft Ury wahrscheinlich an die Formulierungen Max Nordaus an, der im Begriff des „Muskeljuden“ dem negativ besetzten Bild des schwächlichen Juden einen „neuen, körperlich starken Juden“

5 Zu Lesser Ury und seinen Verbindungen zur „Jüdischen Renaissance“ vgl. Bertz, Inka: Lesser Ury. Die Wiedergeburt des hebräischen Mythos. In: „Eine neue Kunst für ein altes Volk“. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924, Ausstellungsmagazin Berlin-Museum, Abteilung Jüdisches Museum. Berlin 1991. S. 23–28; Lesser Ury. Bilder der Bibel. Der Malerradierer, Ausstellungskatalog Käthe-Kollwitz-Museum/Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Hrsg. v. Chana C. Schütz. Berlin 2002. 6 Die biblische Metapher steht für den „kraftvoll-beschützenden Aspekt der Mutterrolle“ (Herweg 1994, S. 15). Abgeleitet aus dem Motiv der für ihre Nachkommenschaft sorgenden Mutter gewinnt die Frau hier eine Vorbildfunktion, die das jüdische Volk vor einer Katastrophe bewahrt. Wie Herweg schreibt, ist die Metapher vor allem im Debora-Lied begründet, dem ältesten Heldenepos Israels. „Sein Hintergrund ist die Zeit der Unterdrückung durch König Jabin (Jos 11,1ff.). Seine Streitmacht verfügte über 900 eiserne Kampfwagen (Ri 4,7) gegenüber den primitiven Handwaffen der Israeliten, so dass ein Befreiungskampf aussichtslos schien: „Es stockten die Wanderzüge, die Straßengänger gingen krumme Wanderpfade, das Bauerntum stockte in Israel. Es stockte, bis du aufstandst, Debora, aufstandst, eine Mutter in Israel! “ (Ri 5,6f.). Herweg 1994, S. 15; siehe auch Heuer, Renate: Mutter in Israel – Muse der Romantik. Brendel Mendelssohn Veit – Dorothea von Schlegel. In: Jahrbuch des Archivs Bibliographia Judaica Bd. 2/3: Jüdinnen zwischen Tradition und Emanzipation. Hrsg. v. Norbert Altenhofer. Frankfurt/M. 1990. S. 29.

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Abb. 6: Lesser Ury, Rebekka, Ölskizze, 1905 (Lesser Ury. Bilder der Bibel. Der Malerradierer, Ausstellungskatalog Käthe-Kollwitz-Museum/Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum. Hrsg. v. Chana C. Schutz. Berlin 2002).



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entgegenstellt.7 Die in das Bildthema eingegangenen biblischen ,Urszenen‘ beziehen sich wieder auf die Bedeutung der Mutterschaft als Begründungsinstanz jüdischer Abstammung und als Gewähr für den Fortbestand der Nation, die in ihrer Tradierung bis heute zu verfolgen ist und die letztlich in der Personifikation des Judentums im Bild der ,Schönen Jüdin‘ präsent bleibt. In den als Porträts eingesetzten Bildern jüdischer Frauen wird insbesondere ihr biblischer Vorname Teil ihrer genealogischen Bestimmung. Er verweist auf die verbindende Linie einer weiblichen Ahnenreihe. Angedeutet wurde dies schon in den beiden Darstellungen Rebekka und Judit auf den Bildtafeln des Jüdischen Lexikons (vgl. Abb. 1 und 2). Fortgesetzt wird diese Form der Verschmelzung von Porträt und Vorname, welcher der historischen Person zum Schicksal wird, in der anonym gebliebenen Reproduktion einer als Rachel betitelten Darstellung aus der Zeitschrift Ost und West von 1906 (Abb. 7). Wie schon am Beispiel von Nathaniel Sichel angeschnitten, lässt sich als eines der signifikanten Elemente des Bildmotivs der ,Schönen Jüdin‘ die Betonung einer differenten, orientalisch anmutenden Schönheit beobachten. Auffallend an Sichels Darstellungsweise ist einerseits die Monumentalisierung der jüdischen Heldinnen, die Ähnlichkeiten zu Lesser Urys erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Gemälden aufweisen, und andererseits die Verschmelzung von zwei ,Images‘ – das der ,Jüdin‘ und das der ,Orientalin‘.8 Zu den ,Accessoires‘ der Orientalisierung gehören das Haar und Kopf verhüllende Tuch bei der Rebekka oder – in der erotisierten Variation – das lang und offen getragene dunkle Haar, Schmuckelemente wie Ohrringe und die bloß gelegten Schultern und Arme bei Judit und Salome. In dieser Verbindung wird das „Jüdische“ der Figuren nun nicht nur als religiöse, sondern auch als geografisch-kulturelle Kennzeichnung eingeführt.

7 Max Nordau prägte den Begriff des „Muskeljuden“; auf dem 5. Zionistenkongress 1901 in Basel tritt er in einem Vortrag damit an die Öffentlichkeit: „Wir müssen trachten, wieder ein Muskeljudentum zu schaffen.“ Zit. nach Bilski, Emily D.: Jüdische Identität und Großstadt. Symbolismus im Werk von Lesser Ury. In: Schütz (Hrsg.): Lesser Ury (wie Anm. 5), S. 30. (Vgl. hierzu den Beitrag von Lena Kreppel, Ein deutsch-jüdischer Emigrant im Erstkontakt mit dem Zionismus. Zur Selbstdarstellung in autobiografischen Texten von Fritz Wolf, in diesem Band.) 8 Dies ist auch in einer Reihe weiterer Gemälde zu verfolgen, in denen Sichel sich dem Motiv der „Orientalin“ ausgiebig widmet („Almée“, Petersburg, Öl auf Leinwand, o. J.; Orientalische Schönheit, Öl auf Leinwand, o. J., o. O.).

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Abb. 7: Anonym, Rachel, aus: Zeitschrift „Ost und West“, 1906.



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Insbesondere in der Malerei des Orientalismus im 19. Jahrhundert ist diese Überlagerung von ,Jüdin‘ und ,Orientalin‘ zu beobachten. Ein Beispiel dieser Kombination zeigt sich in dem Gemälde mit dem Titel Jüdische Braut aus Marokko von Alfred Dehodencq (Abb. 8). Der Maler gehörte zu einer ganzen Reihe von französischen Künstlern, die – ausgelöst durch die Ägyptenexpedition Napoleons – mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu Reisen in den Orient aufbrachen. 1853 startete Dehodencq über Cádiz nach Marokko zu einer Studienreise, welche ihn erst nach zehn Jahren wieder nach Frankreich zurückkehren ließ. Als Ergebnis entstanden Bildsujets, wie das der Jüdischen Braut aus Marokko. Zu sehen ist die Darstellung einer reich geschmückten Braut. Sie wird dem Betrachter in frontaler Ansicht und regungslos verharrend dargeboten. Unmittelbar hinter ihr im Türrahmen steht eine farbige Dienerin, von der sich die hellhäutige Braut in ihrer bunten und prachtvollen Ausstattung abhebt. Die opulente Ausschmückung von Schmuck und Kleidung dient der Darstellung eines religiös, kulturell und geografisch sich fremd gebenden Ereignisses. Der Gestus der schwarzen Dienerin, die das Produkt ihrer Arbeit, die schöne Braut, dem Zuschauer darbietet, lassen die Darstellung der Frau zum Signifikanten des Begriffs der Schönheit werden. Durch die Betonung der folkloristischen Elemente wird die Vergegenwärtigung eines sich differenzierenden Schönheitstypus mit seinen Assoziationen von Erotik und Exotik erreicht, der nicht nur das Andere ihrer Religion, sondern auch das Andere ihrer geografischen und kulturellen Herkunft zum Gegenstand der Darstellung macht. Ähnliches, vielleicht nicht ganz so dominant, lässt sich in zwei Darstellungen von Delacroix beobachten. Es handelt sich zum einem um ein Aquarell mit dem Titel Verheiratete Jüdin von 1832 und zum anderen um die Radierung Algerische Jüdin von 1833. Die beiden Bilder gehen auf Delacroix’ Orientreise zu Beginn des 19.  Jahrhunderts zurück, die Teil der französischen kolonialen Ambitionen in Nordafrika war. Er reiste Anfang 1832 als Mitglied der französischen Gesandtschaft unter dem Diplomaten Charles de Mornay nach Nordafrika. Die Mission sollte den Sultan von Marokko zur Billigung der französischen Besetzung Algeriens bewegen.9 Auf dieser mehrmonatigen Reise entstanden zahlreiche Text- und Bildnotizen. Während der Aufenthalte in Tanger, Meknès und Algier fertigte Delacroix Hunderte von Skizzen und Zeichnungen an, in denen er sich den Orient in Gestalt von architektonischen und besonders auch figürlichen Motive erschloss: Mauren,

9 Delacroix nahm an der Mission in offizieller Funktion teil. Ein Künstler sollte eine Bilddokumentation – v. a. des Vertragsabschlusses mit dem Sultan von Marokko, Mulay Abd erRahaman, – erstellen (Rautmann, Peter: Eugène Delacroix. München 1997. S. 138).

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Abb. 8: Alfred Dehodencq, „Jüdische Braut aus Marokko“, Öl/Leinwand, o. D. (Prometheus: Musée des Beaux Arts Poitiers).

Schwarze, Juden.10 Genau beobachtete er die unterschiedlichen Bekleidungen, skizzierte sie und hielt in seinen Notizen zu den Bildern die unterschiedliche

10 Nach Rautmann entstanden sieben Skizzenbücher und ein Album mit 18 Aquarellen, das für



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Kleidung in Fachbezeichnungen wie „Burnus“, „Kaftan“, „Haik“ oder „Djellaba“ fest.11 Als Mitglied der französischen Diplomatie sowie durch seine Kontakte zu den Konsulaten vor Ort, hatte er eine privilegierte Stellung, was ihm den Besuch der orientalischen Paläste ermöglichte. So konnte Delacroix in Tanger an einer jüdischen Hochzeit teilnehmen. Den Zugang zur orientalisch-jüdischen Welt in Tanger hatte ihm der jüdische Dolmetscher Abraham Ben-Chimol verschafft.12 Im Februar 1832 nahm er, durch dessen Vermittlung, an den Feierlichkeiten einer jüdischen Hochzeit teil, in deren Verlauf eine Reihe von Studien entstanden.13 Zu diesen gehören die beiden Aquarelle Jüdin in Tanger, im Festtagskostüm (Abb. 9) und Verheiratete Jüdin in Tanger (Abb. 10), die beide auf das Jahr 1832 datiert sind. Delacroix zeichnete die jungen sitzenden Frauen in Frontalansicht und aquarellierte die Zeichnungen in schnellen, skizzenhaft angedeuteten Farben. Besonders hervorgehoben wird dabei die Farbigkeit der Festtagskleidung: die verschiedenen Stoffmusterungen, die Bordüren der Gewänder, der Schmuck, die Kopfbekleidung der Mitra. Im Aquarell der Jüdin in Tanger, im Festtagskostüm (vgl. Abb. 9) wird auch der zu solchen festlichen Anlässen übliche Brauch der Bemalung des Gesichts mit Henna und Zinnober dargestellt. Hinter der optischen Opulenz, die ganz auf die Darstellung der Gewänder, von Kopf- und Halsschmuck konzentriert ist, tritt die Wiedergabe der Gesichtszüge der Frauen zurück. Wie in vielen der von Delacroix auf dieser Reise angefertigten Studien wirken die Frauengesichter fast puppenhaft ohne einen individuellen Ausdruck. In den skizzenhaften Aquarellen entsteht eine Art kleine ,Völkerkunde‘ oder wie Peter Rautmann es in seiner großen Studie zu Delacroix ausdrückt: „Delacroix praktiziert eine Art Völkerkunde. Sein Blick richtet sich auf Typisches, das aus dem Ambiente gelöst wird, um später in einen neuen Zusammenhang gebracht zu werden.“14 Mittels der Reise wird der Orient zwar zum Gegenstand der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung, doch es werden auch neue Identifikationen entworfen: Wie im Falle von Delacroix ist es die jüdische Welt von Tanger, die ihm Möglichkeiten der unmittelbaren Begegnung – bis in die meist verschlossen gehaltenen Zonen der Frauengemächer hinein – verschafft. Doch in der Darstellungsweise lässt sich beobachten, wie die jüdischen Frauen zum Typus einer Kultur und Religion werden, in der das Judentum nicht zuletzt in Kombination mit dem Exotismus

den Comte de Mornay bestimmt war (Rautmann, Eugène Delacroix [wie Anm. 9], S. 143). 11 Rautmann, Eugène Delacroix (wie Anm. 9), S. 143. 12 Vgl. Rautmann, Eugène Delacroix (wie Anm. 9), S. 136ff. 13 Jahre später verdichtete Delacroix diese in Aquarell-Studien festgehaltenen Erlebnisse zu dem Gemälde „Jüdische Hochzeit in Marokko“, das er 1841 im Salon ausstellte. Vgl. Eugène Delacroix. Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2003. Heidelberg 2003. S. 213. 14 Rautmann, Eugène Delacroix (wie Anm. 9), S. 147.

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Abb. 9: Eugène Delacroix, „Jüdin in Tanger, im Festtagskostüm“, Aquarell, 1832 (Eugène Delacroix, Ausstellungskatalog Staatl. Kunsthalle Karlsruhe 2003, S. 213).



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Abb. 10: Eugène Delacroix, „Verheiratete Jüdin in Tanger“, Aquarell, 1832 (Rautmann München 1997, S. 163).

des 19. Jahrhunderts auftritt. Dies lässt sich noch frappierender im Werk des Berliner Künstlers Gustav Richter, der von seinen Zeitgenossen auch als „Malerfürst“ bezeichnet wurde, beobachten.15

15 Feilitzsch, Isabelle von/Richter, Gustav: Die Kunst der Inszenierung. In: Juden, Bürger,

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Im Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte er zu den wirtschaftlich erfolgreichen und bekannten Malern der Stadt, der sowohl mit dem Adel wie mit der bürgerlichen Oberschicht in engem Kontakt stand. Mit seinem luxuriösen Lebensstil, seiner Geselligkeit und dem Atelier in der Leipziger Straße konkurrierte er mit dem – bis dahin den Maßstab setzenden – Orientmaler Wilhelm Gentz (1822–1875). Besonderen Ruhm erreichte er in der Sparte der Orientmalerei u. a. durch einen Staatsauftrag von Maximilian II. von Bayern. Für dessen Historische Galerie im Maximilianeum sollte er ein Historienbild mit dem Thema „Bau der ägyptischen Pyramiden“ anfertigen.16 Für diesen Auftrag unternahm er 1861 eine Reise nach Ägypten, wo zahlreiche Skizzen entstanden, die er als Grundstock für Bilder mit orientalischen Motiven verwendete. 1866 heiratete Gustav Richter Cornelie Meyerbeer, die jüngste Tochter Giacomo Meyerbeers aus der berühmten jüdischen Familie der Beers.17 Sie wird in den folgenden Jahren das gesellschaftliche Leben der Familie aktiv gestalten und zu einer der führenden Salondamen Berlins aufsteigen. In mehreren Porträts und Familienbildern wählte Richter seine Frau zum Modell und machte sie zu seinem Repräsentationsobjekt. Neben Bildnissen, die sie im Mutterglück18 zeigen, wird sie zugleich zu seinem ,orientalisierten‘ Modell. Das Ölgemälde Cornelie Richter im orientalischen Kostüm von 1875 (Abb. 11) zeigt sie eingehüllt in ein reich geschmücktes und exotisch anmutendes Gewand, das der damaligen Mode entsprechend den Orient verkörperte. Kopf und Haar werden verhüllt von einem orientalisierten Kopfschmuck aus Perlenschnüren gezeigt und sind bekrönt von einer kleinen Feder. Die Figur wird aufrecht stehend in einem nicht näher definierten, dunkel gehaltenen Innenraum gezeigt. Aus diesem scheint sie hervorzutreten, in dem sie mit der Geste ihrer rechten Hand einen Vorhang beiseite schiebt. In dieser gestalterischen Anordnung lässt der Maler seine Figur aus dem dunklen Hintergrund des Bildes hervortreten und betont Gesicht und Gewand, auf die das Licht fällt. In keinem der zahlreichen Porträts Richters von Damen der Gesellschaft tritt diese ,orientalisierende‘ Einkleidung nochmals auf. Nur in den Bildnissen seiner Frau wählt er diesen Modus der Orientalisierung. Das legt die Vermutung nahe, dass er in diesen Bildnissen eine Identifizierung seiner Frau vornimmt, welche ihre jüdische Herkunft mit dem

Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer – Meyerbeer – Richter. Hrsg. v. Sven Kuhrau u. Kurt Winkler. Berlin 2004. S. 141–155. 16 Feilitzsch/Richter, Die Kunst (wie Anm. 15), S. 150. 17 Zur Familie Beer – Meyerbeer – Richter vgl. Kuhrau/Winkler (Hrsg.), Juden (wie Anm. 15), S. 141–155. 18 So der Titel eines gleichnamigen Porträts in Öl von 1873. Vgl. Feilitzsch/Richter, Die Kunst (wie Anm. 15), S. 145, Abb. 2.



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Abb. 11: Gustav Richter, „Cornelie Richter im orientalischen Kostüm“, Ölgemälde, 1875 (Feilitzsch 2004, S. 152).

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Abb. 12: Gustav Richter, „Orientalin“, Ölstudie, 1863 (Feilitzsch 2004, S. 150).



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Orient verbindet. Es entsteht eine Verbindung von ,Jüdisch‘ und ,Orientalisch‘ wie sie auch in den Gemälden von Dehodencq und Delacroix zu beobachten ist. Innerhalb Richters Oeuvre tritt der ,Orient‘ in einem anderen Bildgenre nochmals auf. Es sind die Studien, die er auf seiner Ägyptenreise anfertigte. In diesen Arbeiten sind eine Reihe von Bildnissen zu beobachten, in denen die dargestellten Personen zu orientalischen Typen stilisiert werden. Eine solche Studie in Öl ist das Bild Orientalin aus der Zeit um 1863. Richter stellt die junge Frau in einem Brustbildnis dar. Oberkörper, Brust und Schulter sind dem Betrachter zugewandt. Dagegen dreht er ihr Gesicht ins Profil – ein Modus wie er auch in den Darstellungen auf altägyptischen Reliefs zu beobachten ist. Mittels der präzisen Zeichnung wird das Profil der Frau – die Kontur der dunklen Augenbrauen, die Linie von Nase und Mund – genau und deutlich vor dem hellen Bildhintergrund entworfen. Jeder Pinselstrich ist fein ausgeführt und gibt die Schattierungen der Hautfärbung wieder. Dagegen ist der Oberkörper in einer eher skizzenhaft wirkenden Zeichnung festgehalten; Tracht und Schmuck sind an manchen Stellen genau ausgeführt, an anderen dagegen nur angedeutet. Besonders hervorstechend an dem Bildnis ist die Erotisierung: Der Oberkörper wird von einer Bluse aus durchsichtigem Stoff mit tiefem Brustausschnitt bekleidet, so dass die Brüste und Brustwarzen sichtbar gemacht sind. Wie schon der Titel des Bildnisses – Orientalin – erkennen lässt, ist hier nicht die individuelle Gestalt einer orientalischen Frau zu sehen, sondern der ,Typus‘ der im Bild erzeugten ,Orientalin‘. Hergestellt wird dieser Bildtypus – man könnte ihn auch als ethnologisches Typenporträt bezeichnen – durch die Betonung all der Merkmale, die dem ,ethnologischen‘ Blick folgen: das Profil, der Farbton der Haut, Kleidung und Schmuck.19 Nicht zuletzt wird dieser Typus zu einem ,erotischen‘ Sujet, das Exotik und Erotik miteinander kombiniert, wie es in der Gattung der Orientmalerei gehäuft zu beobachten ist. Die Verbindung von orientalischem Kostüm und dem Entwurf einer ,fremdländischen‘ Schönheit im Typus der ,Orientalin‘ führt noch einmal zum Bildnis von Cornelie Richter zurück. Ihre Orientalisierung in dem Kostümbildnis von 1875 bedeutet gerade auch für ihr individuell gehaltenes Porträt, dass sie zu einem Typus geworden ist. Sie wird vor der Folie einer anderen, fremden Herkunft wahrgenommen und mit dem Bild des Orients verknüpft, was zugleich ihre Erotisierung bedeutet. In dem seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelten ,Image‘ der

19 Er lässt sich in der zeitgleich entstehenden Fotografie „ethnologischer“ Typen weiter verfolgen.

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Orientalin in Gestalt der „Odaliske“ oder der „Harmesfrau“ lebt der europäische Traum von der erotisch verfügbaren Frau des Orients.20 Wie in den Bildern von Alfred Dehodencq, Eugéne Delacroix und Gustav Richter zu beobachten ist, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Bildnissen jüdischer Frauen eine Identifikation von Jüdin und Orientalin hergestellt. Dies geschieht sowohl im jüdischen wie im nicht-jüdischen Kontext. Aufbauen kann der Mechanismus der Identifikation im Bild auf dem spätestens seit der Emanzipationszeit in der Literatur eingeführten Typus der ,Schönen Jüdin‘.21 Die religiöse wie kulturelle Vielfalt der jüdischen Lebensverhältnisse wird dabei reduziert auf den Konflikt zwischen „eigen“ und „fremd“. Die literarische wie die bildliche Figur der ,Schönen Jüdin‘ repräsentiert die Konflikte des Emanzipationszeitalters und die Fragen der Assimilierung. Zu beobachten ist, wie die Fremdheit der Figur der ,Jüdin‘ dabei zunehmend von ihrer religiösen Andersheit abgeleitet und in die kulturelle Andersheit des Orients überführt wird. In dieser Überschneidung von Religion und Kultur hebt sie sich von allen anderen Figuren des Jüdischen ab: Indem ihre Andersheit mit der des Orients verbunden wird, wird sie zum Faktum des Exotischen.

Literatur Bertz, Inka: Lesser Ury. Die Wiedergeburt des hebräischen Mythos. In: „Eine neue Kunst für ein altes Volk“. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924, Ausstellungsmagazin BerlinMuseum, Abteilung Jüdisches Museum. Berlin 1991. S. 23–28. Bilski, Emily D.: Jüdische Identität und Großstadt. Symbolismus im Werk von Lesser Ury. In: Lesser Ury. Bilder der Bibel. Der Malerradierer, Ausstellungskatalog Käthe-KollwitzMuseum/Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Hrsg. v. Chana C. Schütz. Berlin 2002. S. 25–41. Eugène Delacroix. Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2003. Heidelberg 2003. Feilitzsch, Isabelle von/Richter, Gustav: Die Kunst der Inszenierung. In: Juden, Bürger, Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer – Meyerbeer – Richter. Hrsg. v. Sven Kuhrau u. Kurt Winkler. Berlin 2004. S. 141–155. Frübis, Hildegard: Die „Schöne Jüdin“ – Bilder vom Eigenen und vom Fremden. In: Projektionen: Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Hrsg. v. Annegret Friedrich [u. a.] Marburg 1997. S. 112–125. Fuchs, Hugo: „Erzmütter“. In: Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II. S. 498ff.

20 Zu den bekanntesten und frühesten Versionen zählen Ingres’ zahlreiche Odaliskendarstellungen, die sich durch sein ganzes Werk ziehen, sowie sein „Türkisches Bad“ von 1863. 21 Vgl. Krobb, Die schöne Jüdin (wie Anm. 1).



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Herweg, Rachel Monika: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1994. Heuer, Renate: Mutter in Israel – Muse der Romantik. Brendel Mendelssohn Veit – Dorothea von Schlegel. In: Jahrbuch des Archivs Bibliographia Judaica Bd. 2/3: Jüdinnen zwischen Tradition und Emanzipation. Hrsg. v. Norbert Altenhofer. Frankfurt/M. 1990. Joseph, Max: „Frau im Judentum“. In: Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II. S. 770ff. Krobb, Florian: „Die schöne Jüdin“. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Tübingen 1993. Kuhrau, Sven/Winkler, Kurt (Hrsg.): Juden, Bürger, Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer – Meyerbeer – Richter, Berlin 2004. S. 141–155. Lesser Ury. Bilder der Bibel. Der Malerradierer, Ausstellungskatalog Käthe-Kollwitz-Museum/ Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Hrsg. v. Chana C. Schütz. Berlin 2002. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. G. B. Mendelssohn. Hildesheim 1976 (1845/1863). Rautmann, Peter: Eugène Delacroix, München 1997.

Silke Hoklas

Alberich, Repräsentant der finsteren Mächte? Zum Bild des Jüdischen in Fritz Langs Nibelungen-Film „Es geht so ziemlich ohne grobe Geschmacksverirrungen ab, aber nicht ganz“, urteilte Frank Warschauer 1924 über Fritz Langs ersten Nibelungen-Film1 Siegfried.2 Denn, so erläuterte der heute zu Unrecht weitgehend vergessene Autor, Publizist und Theoretiker der Populärkultur, „der böse Zwerg Alberich, Repräsentant der finsteren Mächte, ist unverkennbar jüdisch angestrichen, natürlich nicht jüdisch-schön, sondern jüdisch-scheußlich.“3 Die unter dem Pseudonym Frank Aschau in dem Kulturmagazin Die Weltbühne veröffentlichte Kritik ist in mehreren Punkten bemerkenswert: Sie besticht zum einen durch ihre außergewöhnliche literarische Qualität und zum anderen dadurch, dass sie als einzige zeitgenössische Kritik auf die Darstellung der Figur Alberichs im Film als ,jüdisch‘ eingeht. Denn, laut Lotte Eisner, hatte erst Siegfried Kracauer aus der Retrospektive kritisiert, dass Langs Darstellung des König Alberich antisemitische oder – im Anschluss an die neuere Antisemitismusforschung – antijüdische Züge trage und bewusst zur Verbreitung dieses „jüdisch-scheußlichen“ Bildes beitrage.4 Doch wie stark ist dies intendiert? Lang, der Deutschland 1931 aufgrund seiner jüdischen Abstammung verließ, hat sich in Interviews immer wieder vehement gegen Kracauers retrospektive Einschätzung gewehrt. Er habe sich stattdessen – so wird es in Eisners Biografie betont, die Lang selbst umfassend redigierte, – für die Darstellung der Figur Alberichs an den expressionistischen Masken des russisch-hebräischen Habimah-Theaters orientiert, das während der Vorbereitungen für seinen Film in Berlin gastierte.5

1 In den Jahren 1922 bis 1923 drehte Fritz Lang nach dem Drehbuch seiner damaligen Frau und Partnerin Thea von Harbou eine ambitionierte, zweiteilige Verfilmung des Nibelungenstoffs mit den Titeln Siegfried und Kriemhilds Rache, die bei der Premiere 1924 wie heute v. a. durch ihre monumentalen stilisierten Kulissen und bahnbrechenden visuellen Effekte besticht. 2 Aschau, Frank [= Frank Warschauer]: Nibelungen-Film. In: Die Weltbühne. Der Schaubühne XX. Jahr. Wochenschrift für Politik – Kunst – Wirtschaft 1 (1924). S. 276. 3 Aschau, Nibelungen-Film (wie Anm. 2). 4 Leider gibt Eisner in ihrer Lang-Biografie, die sich vielfach auf unpublizierte Texte und Gespräche bezieht, hierfür keine Quellenangabe an, denn die Aussage ist in dieser direkten Form bei Kracauer nicht zu finden. 5 Eisner, Lotte H.: Fritz Lang. New York, London 1976. S. 79. Dort heißt es: „Siegfried Kracauer

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Hier lohnt also ein Blick auf die Einflüsse des Films wie auf sein Zielpublikum. Denn obwohl Die Nibelungen vorrangig als Export- und Prestigeobjekt deutschen Filmschaffens den ausländischen Markt erobern sollten, schuf Lang auch ein für nationalistische Umdeutung und nationalsozialistischen Missbrauch nicht immunes Werk. Auch wenn die beiden Filme – wie auch das ihnen zu Grunde liegende mittelhochdeutsche Epos – keineswegs Heldendenkmal oder glorifizierendes Lob auf die ,deutsche‘ Nibelungentreue sein wollten, sondern düsteres Untergangsszenario, so steht die heutige Rezeption doch stets unter dem Schatten der darauffolgenden zwei Jahrzehnte. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daher daraus, dass die Darstellung des Zwergenkönigs als klischeehaft eingesetztes Motiv des jüdischen Händlers, Hüters des mythischen Nibelungenschatzes, durchaus schon von der zeitgenössischen Rezeption erkannt und bemängelt wird? Welche ,typisch jüdischen‘ Stereotype werden hier bedient, woher kommen sie und wie werden sie rezipiert?

Stereotype, Bilder und Diskurse Analog zur zeitgenössischen Filmtheorie hat Lang häufig die Notwendigkeit des Rückgriffs auf Symbole im Stummfilm betont. Ähnlich verhält es sich mit der vereinfachenden Funktion von Stereotypen. Denn das Entscheidende im Medium des Stummfilms war, so hielt der ungarisch-jüdische Filmkritiker und -theoretiker Béla Balázs 1924 fest, „daß alle Dinge, ohne Ausnahme, notwendigerweise symbolisch sind“. [Herv. i. Orig.]6 Die notwendige Reduktion von Komplexität führt im Modus filmischen Erzählens sowohl zu einer gewissen narrativen Idiomatik als auch zu einer visuellen Stereotypisierung. Auf der Ebene der agierenden Figuren kommt es zu einer unvermeidbaren Unterscheidung von komplexeren Charakteren und stereotypen Figuren. Doch Theoretiker wie Balázs plädierten zu Beginn der sich herausbildenden Filmtheorie, die anfangs vorrangig noch eine Schauspielertheorie war, sogar ganz grundsätzlich für die Verwendung von Typen statt

alleged that Lang’s Alberich has markedly Jewish features, and he reads into this a deliberate gesture of anti-semitism. In reality, Lang and his make-up artist Otto Genath were simply influenced by the grotesque character make-up used by the Russo-Jewish Habimah ensemble that was currently visiting Berlin. Alberich was played by Georg John, an actor Lang regularly used; and the mask had to be a total disguise since he also appeared as Mime and one of the principal Huns.“ 6 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt/M. 2001 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1536). S. 70.



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Individuen im Film. Gefordert waren explizit Typenschauspieler, deren körperliche Eigenschaften auch auf soziale Merkmale schließen lassen sollten. Der Kulturhistoriker Curd Moreck erklärte dies in seiner 1926 erschienenen Sittengeschichte des Kinos folgendermaßen: „Das Aussehen ist es, das in den Augen des Zuschauers sein [d. h. das des Schauspielers, S. H.] Wesen bestimmt, und so gilt es für den Film, Typen zu zeigen, die keiner Worte bedürfen, um sich und ihr Tun zu erklären, sondern alle Symbole an sich tragen, aus denen der Zuschauer das für das Verstehen des Charakters Erforderliche entnehmen kann.“7 Ganz ähnlich hieß es zwei Jahre zuvor bei Balázs, bei dem hier die gesellschaftsübergreifende Verbreitung rassistischer Theorien auch abseits des nationalsozialistischen Diskurses deutlich wird: Da der Filmschauspieler alles, Rassecharakter sowie individuellen, mit seinem Äußeren darzustellen hat, muß sein Spiel dadurch entlastet werden, daß man einen Schauspieler wählt, der den Rassecharakter nicht erst zu spielen braucht, sondern ihn von vornherein besitzt und sich ganz unbefangen auf das persönliche Detail konzentrieren kann. Dieser wird nicht übertreiben müssen und nicht auf eine Reihe stereotyper Gebärden achten […]. Die nötigen Gebärden sind ihm eben angewachsen.8

In den Nibelungen wurde demgemäß der jüdische Theaterschauspieler Georg John (1879–1941) für den „unverkennbar jüdisch angestrichenen“ Alberich besetzt. John arbeitete von 1917 bis 1933 sehr erfolgreich für den Film und trat auffallend oft auch in den Filmen Langs auf, wo er hauptsächlich skurrile Figuren spielte.9 Tatsächlich wurde die Rolle des Alberich also mit einem jüdischen Darsteller besetzt, der jedoch keineswegs auf jüdische Rollen festgelegt war oder diese auffallend häufig spielte. Und bei der Dominanz jüdischer Filmschaffender und Schauspieler im Weimarer Kino ist hier auch vor einer Überinterpretation zu warnen.10 Es bleibt fraglich, inwiefern der unter der Maske (wie beim HabimahTheater11) kaum erkennbare Darsteller für diese Rolle wirklich wegen eines dis-

7 Moreck, Curd: Sittengeschichte des Kino. Dresden 1926. S. 117. 8 Balázs, Mensch (wie Anm. 6), S. 70. 9 Neben seinen insgesamt gleich drei Rollen in den beiden Nibelungen-Filmen brillierte er in „Hilde Warren und der Tod“ als Personifikation des Todes und taucht danach immer wieder in unterschiedlichen Nebenrollen in „Harakiri“, den Zweiteilern „Die Spinnen“, „Dr. Mabuse“ und „Das Indische Grabmal“ sowie in „Der müde Tod“, „Metropolis“, „Spione“, „M“ und schließlich „Das Testament des Dr. Mabuse“ auf. 10 Vgl. u. a. Rogowski, Christian: The Many Faces of Weimar Cinema. Rediscovering Germany’s Filmic Legacy. Rochester/New York 2010. S. 6. 11 Das russisch-jüdische Habimah-Theater, das in den 1920er-Jahren sehr erfolgreich durch Europa und die USA tourte, kennzeichnete neben der Aufführung seiner Stücke in hebräischer

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tinktiven angeborenen, physiognomisch und gestisch-mimischen ,Rassecharakters‘ besetzt wurde. Zumal es keine einheitliche jüdische Identität im Weimarer Kino gab, die derartig auf eine angeblich physiognomisch erkennbare ,Rasse‘ hätte aufsatteln können.12 Gerade auch, da der Darsteller hier nicht in die Rolle einer realen oder auch nur realistischen, sondern einer fiktiven literarischen bzw. mythologischen Figur schlüpft, scheint Lang weniger auf angeborene ,Charakterzüge‘ zu setzen, als vielmehr auf bestehende Bilder, die zum Teil durchaus eher mit Hilfe der von Balázs bemängelten „stereotypen Gebärden“ evoziert werden. Denn wie der Filmwissenschaftler Jörg Schweinitz verdeutlicht hat, ist es wichtig, stets zwischen der sozialpsychologischen Konstruktion von Stereotypen bestimmter realer Gruppen und deren Repräsentation im Film und dem, was er ein konventionalisiertes „narratives Figurenstereotyp“ nennt, zu unterscheiden, welches „bewusst imaginäre Figurenkonstrukte“ hervorbringt, die „im Rahmen imaginärer Welten der Narration Gültigkeit für sich beanspruchen.“ [Herv. i. Orig.]13 Immensen Einfluss haben daher intertextuelle Verweise, die eine Folie für die Besetzung und Interpretation liefern. Insofern ist Langs Alberich auch nicht primär als jüdisches oder antijüdisches Stereotyp zu verstehen, sondern v. a. als intertextueller Verweis auf bestehende Bilder des „Jüdischen“.14 Denn wie Balázs zu den Nibelungen notierte: Wir müssen auf dem Gesicht der Darsteller auf den ersten Blick alles sehen, was wir von ihm schon wissen, sonst erkennen wir ihn nicht. Von dem Darstellungsvermögen des Films wird hier also mehr gefordert, als von der Darstellungskraft der Originaldichtung. Der Siegfried

Sprache sein expressionistischer Stil mit stilisierten Kostümen, überbetonter Gestik, grotesken Masken und Mimiken sowie einer auffälligen Licht- und Schattenregie. Neben seiner rhythmisch-melodischen Sprachverwendung wird in den deutschsprachigen Besprechungen besonders die aufwändige und puppengleiche Maske hervorgehoben, die die Darsteller für viele Rezepienten wie Marionetten wirken ließ und „die stärkste Expression des Typischen jeder Figur“ herausbrachte, so Richard Götz in seiner Kritik zu „Der Dybuk“. In: Der Tag, 30. 5. 1926. S. 12. 12 Vgl. dazu allgemein Rogowski, Faces (wie Anm. 10) oder speziell zum Genre der (Jüdischen) Komödie im Weimarer Kino den von Jan Distelmeyer herausgegebenen Sammelband: Distelmeyer, Jan (Hrsg.): Spaß beiseite. Jüdischer Humor, „Arisierung“ und verdrängendes Lachen. München 2006. 13 Vgl. Schweinitz, Jörg: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses. Berlin 2006. Besonders S. 43–53, hier S. 51 und S. 50. Schweinitz gesteht jedoch ein, dass sich diese regelmäßig überschneiden und ineinandergreifen. 14 Dennoch liegt diese Stereotypisierung natürlich der Konstruktion der Figur entweder zugrunde oder sie wird zumindest als möglicher Subtext bei der Rezeption nicht bewusst vermieden.



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des Films muß schon in der ersten Szene so erscheinen, wie er uns erst nach der Lektüre des ganzen Epos erschien. Weil wir ihn kennen, wollen wir ihn erkennen.15

Dies wiederum gilt nicht nur für den Protagonisten des ersten Teils, sondern mehr noch für die im Film stark reduzierten Nebenfiguren wie Alberich. Dabei sind zwei Aspekte entscheidend: Visuelle, speziell auch physiognomische, und narrative Stereotype. Beruft sich nun also Lang darauf, seine Darstellung Alberichs sei angelehnt an die grotesken Masken des Habimah-Theaters, so hat er damit offenbar einen intertextuellen visuellen Verweis gewählt, der in der Rezeption entweder nicht weiter gewürdigt oder nicht erkannt wird. Letzteres erscheint allerdings bei der Popularität des jüdischen Theaters in den 1920er-Jahren unwahrscheinlich. Beides unterstützt zunächst aber durchaus seinen Versuch, sich dezidiert vom vorherrschenden Bild Alberichs, zumindest visuell, wenn schon nicht narrativ abzusetzen, das, wie ich im Folgenden zeigen möchte, der Tradition Richard Wagners entspringt. Doch in keinem Fall scheint sein Versuch effektiv genug, die Konnotationen, welche die Figur bereits durch diese Traditionslinie trägt, zu überlagern.

Alberich, die ,Judenkarikatur‘ Lang stand in den 1920er-Jahren zum einen in guter Gesellschaft, was aktualisierende Bearbeitungen des Nibelungen-Stoffs angeht, und zum anderen in der festen Tradition der Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts.16 „Es ist jetzt die Zeit der Nibelungenrenaissance“, resümierte Alfred Döblin 1924 in seiner Kritik einer aktuellen Berliner Inszenierung von Friedrich Hebbels psychologisierendem Nibelungen-Drama.17 Doch trotz „Hebbels riesenhaftem Griff“ und gegen die übermächtigen „brausenden Klangmeere Wagnerischer Musik“ versuchte Lang im neuen Medium eigene Wege zu gehen und lieferte eine eigenständige Inter-

15 Balázs, Béla: Nibelungen I und II. In: Ders.: Schriften zum Film. Hrsg. v. Helmut H. Diederichs u. Wolfgang Gersch. 2 Bde. Bd. 1: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922–1926. Bd. 2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926–1931. München [u. a.] 1982–1984. Bd. 1. S. 318–322, hier S. 319. 16 Zur zeitgenössischen Rezeption des Nibelungenstoffs in der Zwischenkriegszeit vgl. v. a. Gentry, Francis G.: Die Rezeption des Nibelungenliedes in der Weimarer Republik. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hrsg. v. James F. Poag u. Gerhild Scholz-Williams. Königstein/Ts. 1983. S. 142–156. 17 Zit. nach Töteberg, Michael: Fritz Lang. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 5. Aufl. Reinbek 2005 (Rowohlts Monographien 50339). S. 42.

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pretation des Stoffs, die sich, wie sich zeigen wird, jedoch nicht in allen Aspekten vollständig von ihren Vorläufern zu lösen vermochte.18 Besonders bei der Figur des Alberich ist dies aus heutiger Perspektive problematisch. „Der Gold raffende, unsichtbar-anonyme, ausbeutende Alberich“, so hatte Theodor W. Adorno 1971 kritisiert, generell „all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen.“19 Adornos These war in der Forschung stark eingeschlagen, aber sehr unterschiedlich aufgenommen worden. Und die Diskussion zum Antisemitismus in Wagners Werken ist sich bis heute ähnlich uneinig20 wie die ideologiekritische Einschätzung von Langs Nibelungen. Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser hat darauf hingewiesen, dass es letztlich in den Wagnerischen Werken selbst „keine einzige dramatis persona, die offen als ‚jüdisch‘ bestimmt wäre“, gibt.21 Daher würden antijüdische Tendenzen bei Wagner grundsätzlich nur aus der Wirkungsgeschichte oder aus dem weiteren Kontext der Werke analysiert werden können, wie etwa Wagners 1850 zunächst unter einem Pseudonym erstveröffentlichter judenfeindlicher Aufsatz Das Judentum in der Musik.22 Doch allein daraus, daß Wagner als Antisemit die Juden in Wort und Schrift negativ bewertete, folgt nicht, negativ gezeichnete Charaktere in seinen Werken wie Mime [oder Alberich] seien notwendig als Judenkarikaturen aufzufassen. Das Böse, Schlechte, Niederträchtig-Dumme ist hier vielmehr universal konzipiert und realisiert. Im Sinne der Subsumption eines Besonderen unter ein Allgemeines ist es daher zwar durchaus möglich, Alberichs und Mimes Charakterzeichnungen als „jüdisch“ in metaphorischem Sinn, als musikalische Chiffrierung antisemitischer Klischees zu verstehen,

doch zwingend, so schlussfolgert Danuser, sei diese Lesart nicht.23 Letztlich bleibt somit die Frage, ob in diesem Fall ein Stereotyp in der gesellschaftlichen

18 Brachvogel, Heinz Udo: Die Nibelungen, 1. Teil. In: Lichtbild-Bühne 16, 14. 2. 1924. S. 1. 19 Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner. In: Ders.: Die musikalischen Monographien. Hrsg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1971 (Gesammelte Schriften 13). S. 7–148, hier S. 21. 20 Zu Wagners Alberich vgl. darunter v. a. Weiner, Marc A.: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Aus dem Amerikanischen von Henning Thies. Berlin 2000. 21 Danuser, Hermann: Universalität oder Partikularität? Zur Frage antisemitischer Charakterzeichnung in Wagners Werk. In: Richard Wagner und die Juden. Hrsg. v. Dieter Borchmeyer [u. a.]. Stuttgart/Weimar 2000. S. 79–102, hier S. 79. 22 Fischer, Jens Malte: Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Kommentierter Wiederabdruck der Originalausgabe. Frankfurt/M. [u. a.] 2000 (Insel-Taschenbuch Kulturgeschichte 2617). 23 Danuser, Universalität (wie Anm. 21).



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Wahrnehmung bereits derart verfestigt ist, dass es auch ohne Benennung oder weiteren Hinweis von den Zeitgenossen erkannt wird. Adornos These war nicht ohne Vorläufer: Die kurze Abhandlung Der Jude in der Musik des deutsch-jüdischen Musikwissenschaftlers Alfred Einstein stellt bereits im Jahr 1927 einen der ersten Versuche dar, die Repräsentation des ,Jüdischen‘ in der Musik zu hinterfragen. Lange vor Adorno schreibt Einstein hierin exemplarisch von der „furchtbaren Dämonik des Alberich“ und beschreibt wiederkehrende Modi der musikalischen Präsentation des ,Jüdischen‘.24 Dazu zählen bis heute nicht nur die lange Zeit vorherrschenden orientalisierend-melismatischen Elemente, sondern auch im 19. Jahrhundert bereits fest etablierte Kennzeichen, wie ein ,meckernder‘ Rhythmus in der Sing- und Sprechweise oder die hohe Lage des Instruments, wie bei Mime in Wagners Rheingold und Siegfried.25

Vom Schatzhüter zum König der Nibelungen Wie verhält sich nun Lang zum übermächtigen Erbe Wagners? Statt musikalische Motive aus dem Ring-Zyklus zu verwenden, ließ Lang eine komplett neue, unabhängige Originalmusik von Gottfried Huppertz komponieren, die auf nur knapp einem Dutzend Leitmotiven beruht, die insgesamt sehr wenig mit dem Übervater der Mittelalteroper gemein haben und z. B. Alberich gar kein eigenes musikalisches Motiv zuweisen. Überhaupt taucht Alberich im Nibelungen-Film lediglich in einer Episode auf. Doch es war gerade diese Alberichepisode um den Hortgewinn, die Kracauer als „[b]esonders eindringlich“ galt.26 Siegfrieds Besitznahme des Nibelungenhorts wird in Langs Nibelungen-Film nicht wie im mittelhochdeutschen Epos von Hagen von Tronje, sondern von dem Spielmann Volker von Alzey erzählt, oder besser gesagt visualisiert. Während im Nibelungenlied die Ereignisse um den Hortgewinn berichtet werden, als Siegfried gerade am Burgundenhof ankommt und Hagen so als kultureller Vermittler den

24 Einstein, Alfred: Der Jude in der Musik. In: Der Morgen 6 (1927). S. 590–602, hier S. 599. Online abrufbar über das Compact Memory Wissenschaftsportal für Jüdische Studien unter: http://www.compactmemory.de/index_p.aspx?tzpid=15&ID_0=15&ID_1=318&ID_2=6519& ID_3=37487 (28. 9. 2011). Wieder in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V. 10 (2005). S. 11–27. 25 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter/ Fischer, Jens Malte: Vorwort. In: Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Hrsg. v. dens. Tübingen 2008. S. 1–20. 26 Kracauer, Siegfried: Von Caligari bis Hitler. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Films. Hamburg 1958 (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie. Kulturgeschichte). S. 59.

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Ankommenden der Hofgesellschaft und dem Leser/Hörer vorstellt, erfüllt die Episode im Nibelungen-Film eine ganz andere Funktion. Narrativ ist die Szene eingebettet in den Gesang Volkers am Burgundischen Hof. „Der zweite Gesang“, den der in Fraktur gesetzte Zwischentitel historisierend einläutet, erzählt: „Wie Volker vor Kriemhild von Siegfried sang, und wie Siegfried nach Worms kam.“ [Herv. S. H.]27 Und während die Kamera nach und nach die Protagonisten am Hof vorstellt, ist der Zuschauer im Gegenzug Zeuge der Vorstellung Siegfrieds, von dem Volker singt. Sein Gesang ist, wie zuvor die Erzählung von Mimes Schmiedeknecht über Kriemhild, dazu da, das mittelalterliche Motiv der Fernliebe, das heißt der Liebe allein aufgrund des weitreichenden Ruhms einer Frau, ohne diese jemals zuvor selbst gesehen zu haben, im Film zu visualisieren. Die affektive Erzählung über den ruhmreichen Siegfried löst denn auch bei Kriemhild tatsächlich eine ähnliche Reaktion aus wie zuvor bei Siegfried und hat somit ihren Zweck erfüllt: Beide sind daraufhin bei ihrer ersten Begegnung längst in Liebe zueinander entbrannt. Das Bild des Schönen und Starken bzw. Anmutigen, das sie sich voneinander gemacht haben, bevor sie sich jemals gesehen haben, wird ausreichend erfüllt. Für dieses Bild kreiert die Binnenerzählung ein Gegensatzpaar, um den jugendlichen Helden in glänzendem Licht zu präsentieren: So steht dem hochgewachsenen blonden Jüngling zu Pferde ein buckliger, kriechender Zwergenkönig gegenüber, dem einfältig-naiven Siegfried der hinterhältig aus dem Verborgenen angreifende Alberich, der sich überhaupt nur so einen Vorteil im Kampf mit dem körperlich weit überlegenen Helden verschaffen kann. Die Figur des Alberich dient also primär der Inszenierung Siegfrieds innerhalb der Binnenerzählung Volkers, wobei die Kontrastierung plakativer nicht sein könnte: jung gegen alt, schön gegen hässlich, naiv gegen verschlagen, mutig gegen feige, gesund gegen verkrüppelt, stark gegen schwach. Auch inhaltlich orientiert sich der Film in dieser Episode weniger am Epos selbst, wo Alberich nicht Besitzer, sondern lediglich Hüter des Nibelungenschatzes ist, sondern vielmehr an Wagners Rheingold. Anders als im Nibelungenlied sind bei Wagner, der sich stark auf die nordischen Quellen des Epos bezog, die Nibelungen auch keine stolzen Recken, sondern kleinwüchsige, heimtückische Gesellen. Die Darstellung als verschlagene Zwerge könnte bei Lang und seiner Drehbuchautorin Thea von Harbou daher sowohl auf Wagner als auch eventuell

27 00:23:06. Diese und die folgenden Timecodeangaben beziehen sich auf die Edition des spanischen Verleihers divisa Home Video in der Reihe Origenes del Cine auf zwei DVDs (Sp 2003, 143 min und 150 min) mit einer Aufnahme des Münchner Rundfunk-Orchesters unter der Leitung von Berndt Heller.



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auf die nordischen Überlieferungsträger selbst zurückgehen. Für Ersteres spricht, dass Lang bei seinen Inszenierungen des Mittelalters nur sehr selten auf unmittelbar mittelalterliches Material zurückgreift, sondern im Allgemeinen auf ein so genanntes Sekundärmittelalter28, das zumeist den Archiven des 19. Jahrhunderts entspringt. Jedoch ist Langs Nibelungen-Zweiteiler in vielen Aspekten eben gerade als anti-wagnerischer Entwurf zu verstehen, was für Zweiteres spräche.29 Von der ursprünglichen Anlage der Figur bleibt schließlich im Film Folgendes: Der im Kampf schnell besiegte Alberich verspricht Siegfried, „Schenke mir das Leben, Held, und ich will Dich zum reichsten König der Erde machen!“30 und führt ihn durch einen märchenhaften, nebeldurchzogenen Wald, der stark von den Theaterinszenierungen Max Reinhardts inspiriert ist, zum legendären Nibelungenhort. Als Alberich hier erneut versucht, Siegfried aus dem Hinterhalt zu töten, wird er von diesem mit dem Schwert Balmung erschlagen. Der sterbende Nibelung verflucht mit letzter Kraft den Schatz, worauf die Zwerge, die diesen in einer riesigen steinernen Schale stützen, zu Stein erstarren. Auch hierin orientiert sich Lang also wieder an Wagner, bei dem Alberich – wie bereits erwähnt – selbst Nibelung und ursprünglicher Besitzer des Hortes ist. Denn im Nibelungenlied wird Alberich von Siegfried, wie von den ursprünglichen Besitzern, den Nibelungen, auch weiterhin als Hüter des Nibelungenhorts eingesetzt. Der bei Wagner zentrale Ring der Nibelungen, den Alberich aus dem Rheingold geschmiedet hat, taucht im Film jedoch nicht auf.

Erzählte Fremde Für das narrativ funktionalisierte und stark verknappte Bild des ,Jüdischen‘, das der Nibelung Alberich in Langs Film verkörpert, sind aus dieser Episode drei Bilder ausschlaggebend. Zunächst drückt es sich in einem fremden Exotismus aus, wie er typisch ist für die Wiener Operettenkultur, wo der fremde, exotische

28 Den Begriff hat der Historiker Valentin Groebner geprägt. Er bezeichnet ein freies Konglomerat, das zu weiten Teilen dem populärkulturellen Archiv entspringt. Vgl. dazu Groebner, Valentin: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen. München 2008. 29 Vgl. Haymes, Edward R.: Introduction. In: Ders. [u. a.] (Hrsg.): Das Nibelungenlied. Song of the Nibelungs. Yale 2006. S. XVIII. In der Einleitung dieser letzten englischsprachigen Übersetzung des Nibelungenlieds heißt es: „Fritz Lang obviously wished his film to replace Wagner’s Ring as the popular representation of the Nibelung legend for the German public.“ (Haymes, Introduction. S. XIX), selbst wenn viele Schlüsselszenen entweder als Zitation von oder als Reaktion auf Wagnerelemente zu deuten seien. 30 00:27:39.

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Jude um die Jahrhundertwende zum beliebten Evergreen geworden war.31 Auch Langs Film stilisiert Alberich zum Exoten, ähnlich wie im zweiten Teil den Hunnenkönig Etzel, dessen Bruder Blaodel zudem vom selben Darsteller gespielt wird.32 Doch während Etzel einen noch wilden, chaotischen Zustand früher Zivilisation verkörpern soll, steht Alberich in einer teleologischen Reihung noch weit hinter ihm und zeigt einen primitiven Zustand der Naturverbundenheit. Ganz buchstäblich verschwindet er in der ihn umgebenden Natur. In der ersten Szene, in der er im Film auftaucht, fügt er sich wie in einem Suchbild – und auch ohne seine Tarnkappe bereits hervorragend versteckt – in die umgebende Märchenwaldarchitektur ein. Der Baum, in dessen Gabelung sich der Nibelung versteckt, gleicht dabei Alberichs Äußerem in auffälliger Weise. Die überlangen Arme des Zwerges,33 die schmutzigen, krallenartigen Nägel und der bucklige, gedrungene Körperbau spiegeln die Form der ihn umgebenden Äste und Zweige des knorrigen Baums. Selbst die Insignien seiner Herrschaft, eine asymmetrische Dornenkrone, ein staubiger, flattriger Umhang und die netzartige Tarnkappe, wirken wie aus dem gefertigt, was der umgebende Wald ihm liefert und inszenieren Alberich, etymologisch der Herrscher der Naturgeister und Elfen, als vollständig verbunden mit der ihn umgebenden Natur. In starkem Kontrast dazu stehen die Reichtümer und Schätze, die Alberich und seine Zwerge in den unterirdischen Gängen und Höhlen anfertigen und aufbewahren. Im Gegensatz zum Hunnenkönig Etzel, der im zweiten Teil Kriemhilds Rache überreich mit Gold und Schmuckwerk behangen Kriemhild an seinem Hof empfängt, scheint Alberich wenig von repräsentativer Prunksucht zu halten. Er hortet seine Reichtümer, trägt sie aber nicht öffentlich zur Schau. Wo Etzel deshalb aus seiner ärmlichen Umgebung hervorsticht, ja herausfällt (denn sein „Herrscherpalast sieht im Film aus wie ein Schweinestall“)34, passt Alberich sich

31 Vgl. dazu Linhardt, Marion: „Wer kommt heut’ in jedem Theaterstück vor? Ä Jud!“ Bilder des ,Jüdischen‘ in der Wiener Operette des frühen 20. Jahrhunderts. In: Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Hrsg. v. Hans-Peter Bayerdörfer u. Jens Malte Fischer. Tübingen 2008. S. 191–206. 32 Zudem gibt er im ersten Teil auch noch den Schmied Mime. 33 Alberich wird nicht von einem Kleinwüchsigen dargestellt, sondern der Darsteller hockt unter seinem Kostüm auf Knien. 34 c. k. [= Friedrich Schnack]: Kriemhilds Rache. Des Nibelungenfilmes zweiter Teil. In: Vossische Zeitung. Berlinerische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen 204, 30. 4. 1924. Der Schriftsteller und Feuilletonist Schnack kritisiert hier, ähnlich wie Warschauer für den ersten Film, am zweiten Nibelungen-Teil eine analoge „Geschmacksverirrung“: „Nur einmal haut Lang daneben: das ist bei den Hunnen. König Etzels Herrscherpalast sieht im Film aus wie



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an. Mit und ohne Tarnkappe wirkt er versteckt, angepasst, nicht greifbar und wird so zur Personifikation des nicht Habhaften. Alberich ist somit vorrangig ein ästhetisches Konstrukt, das eins ist mit seiner Umgebung. In der häufig besprochenen Ornamentalisierung des Films verschmelzen nicht nur die unzähligen Statisten mit den stilisierten Sets zur Dekoration, sondern wiederholt sogar die Hauptcharaktere. Ganz grundsätzlich kann man daher von einer „Verräumlichung des sozialen Gefüges“ sprechen,35 die zu der strikten Aufteilung in vier streng getrennte Welten führt. In diesen „werden disparate mythologische, physiologisch-mimische und kultur-rassentypologische Elemente je einem spezifischen Requisitarium, Dekor, einer entsprechenden Lichtdramaturgie und Inszenierung der Figuren eingefügt“.36 Alberich gehört darin in die Welt des jungen Siegfried, der sich als Schmiedegeselle Mimes das Schwert, mit dem er den Drachen erschlägt, selbst schafft, – der Dom des Waldes, die im Dämmer liegenden Wiesen, die verkrüppelten Bäume, in denen gespensterhaft-elfisch der Herr der Zwerge, Alberich, haust. Gleichsam die Welt des Unterirdischen, reich an Gold, an Spuk, an Geheimnissen des Steins.37

Doch diese permanenten Amalgamierungen von Mensch und umgebender Welt weisen den betroffenen Charakteren und Figuren dennoch bestimmte Eigenschaften zu. Was für die Burgunder statuarische Strenge, strikte Ritualisierung, Emotionslosigkeit und Überfeinerung sein mögen, ist in Stichworten für Alberich ebenfalls bereits gefallen: Die präsentierte Einheit aus Nibelungenkönig und deutschem Zauberwald im Max-Reinhardt-Stil charakterisiert Alberich und sein Reich als gespenstisch-zauberhaft, ursprünglich, erdverbunden, primitiv, angepasst, versteckt, verschlagen, bedrohlich und geheimnisvoll. Alberich ist bereits im ersten Bild der Episode von Siegfrieds Hortgewinn ein heimlicher Herrscher, der im Versteckten „haust“, aus dem Unsichtbaren heraus angreift und nicht

ein Schweinestall.“ 35 Heller, Heinz-B.: „… Nur dann überzeugend und eindringlich, wenn es sich mit dem Wesen der Zeit deckt …“. Fritz Langs Nibelungen-Film als „Zeitbild“. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Hrsg. v. Joachim Heinzle [u. a.].Wiesbaden 2003. S. 497–509, hier S. 502. 36 Bruns, Karin: Kinomythen 1920–1945. Die Filmentwürfe der Thea von Harbou. Stuttgart, Weimar 1995. Zugl.: Dissertation. Essen 1993. S. 37. 37 Lang, Fritz: Worauf es beim Nibelungen-Film ankam. In: Süddeutsche Filmzeitung. WochenZeitschrift für das gesamte Lichtspielwesen 19, 9. 5. 1924. S. 2. Zeitgleich in: Die Nibelungen. Ein deutsches Heldenlied. Regie: Fritz Lang. Ufa-Decla-Film. 1. Film: Siegfried. 2. Film: Kriemhilds Rache. [Berlin 1924]. S. 12–16, hier S. 13–14. Wieder in: Gehler, Ullrich/Kasten, Fred (Hrsg.): Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis. Berlin 1990. S. 170–174.

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fassbar erscheint. Damit vereint er bereits mehrere Stereotype des ,Jüdischen‘: Es schwingt nicht nur die Idee vom heimlichen Weltenbeherrscher mit, sondern auch eine grundsätzliche Bedrohlichkeit, Schmutzigkeit und Kränklichkeit. Die kränklich-„verkrüppelte“ Schwäche Alberichs verweist ferner sogar auf das Klischee von der Militäruntauglichkeit der Juden aufgrund eines angeblich geringen Brustumfangs sowie ihrer allgemein schwächlichen Konstitution und Unmännlichkeit, welches nicht erst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wieder virulent wird.38 Das Stereotyp vom schwächlichen und unsoldatischen Juden gewann vielmehr schon im Zuge des sich verstärkenden Antisemitismus innerhalb des Militärs während des Ersten Weltkriegs an Brisanz und erlangte mit der so genannten ,Judenstatistik‘ von 1916 einen Höhepunkt.39 Nach dem exotischen Eindruck der ersten Szene mit dem gespenstischen Elfenkönig, die Fremde evoziert und auf die allgegenwärtige bedrohliche Präsenz dieses Fremden im Versteckten hinweist, folgt ein zweites Bild, das stattdessen eine hochgradige Selbstreflexivität aufweist. Alberich führt in dieser Szene Siegfried zum Schatz, wobei er auf eine Felsenwand wie auf eine Leinwand das Bild einer gigantischen Krone projiziert („Es schmieden die Krone die Nibelungen dem Nordlandsbeherrscher, dem Eisriesenkönig“, erklärt der Zwischentitel).40 Als das Bild langsam verblasst und Siegfried danach greifen will, verschwindet es vor seinen Augen und der staunende Siegfried greift ins Leere. Solche für Lang typischen Allegorien auf die Moderne finden sich auch im historischen Sujet wiederholt in seinen Filmen. Die Kopplung mit einer stark selbstreflexiven Komponente jedoch ist interessant. Der trollhafte Alberich wird plötzlich vom Waldgeist zum Inhaber eines kinematografischen Apparats, der Siegfried in ungläubiges Staunen versetzt. Die klare Machtposition des ersten Bildes verschiebt sich dadurch markant. Es ist nicht mehr Siegfried, der alle positiven Fähigkeiten auf

38 Vgl. dazu weiterführend v. a.: Gilman, Sander L.: Der jüdische Körper. Eine Fuß-Note. In: Ders.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Ins Deutsche übertragen von Helmut Rohlfing, Katharina Cerstenberger, Sabine Cölz, Vera Pohland und Catharine Celbin. Reinbek 1992 (Rowohlts Enzyklopädie. Kulturen & Ideen 527). S. 181–204. 39 Die „Judenstatistik“ oder „Judenzählung“ von 1916 war eine statistische Erhebung, die im Ersten Weltkrieg den Anteil jüdischer Frontsoldaten unter den wehrpflichtigen deutschen Juden ermitteln sollte. Sie entstand als Reaktion auf das weitverbreitete Gerücht der antisemitische Propaganda, dass sich unverhältnismäßig viele Juden vor dem Militärdienst an der Front drücken würden. Die Erhebung löste eine heftige Debatte aus, in deren Folge das Ergebnis nie veröffentlicht wurde, was damit allerdings wiederum Raum für neuerliche antisemitische Spekulationen und Gerüchte bot. 40 00:32:03.



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seiner Seite zu haben scheint, sondern plötzlich ist es Alberich, der dem tumbnaiven Jüngling weit überlegen ist und dessen Unfähigkeit, das Gezeigte zu begreifen, hämisch beobachtet. Der US-amerikanische Film- und Theaterwissenschaftler David  J. Levin spricht explizit von Alberichs ,Film‘ und interpretiert die Begegnung zwischen Siegfried und Alberich als „an encounter between modes of cinematic power“.41 Hier schwingt die Vorstellung einer jüdisches Dominanz im Bereich des Kulturellen, speziell des Films, mit. Alberich hat bei Lang die Macht über Illusion und Projektion. Der Apparat dazu ist eine magische Wunderkugel, die er bis zu seinem Tod nicht aus der Hand gibt und mit welcher der Nibelungenkönig zunächst die labyrinthischen Gänge seines unterirdischen Reichs erleuchtet, bis er die überlebensgroße Krone, an der seine Nibelungen schmieden, an die Felsenwand projiziert. Im Gegensatz zu den unterschiedlichen Vorlagen ist Alberichs Macht bei Lang damit nicht mehr nur an den Besitz der Tarnkappe gebunden, sondern ergibt sich aus seiner Kontrolle des kinematografischen Apparats. Daher ist Alberich „not just a Jew on screen, he is a Jew who controls the screen.“42 Diese selbstreflexive Allegorie des Kinos verschiebt den Fokus von reinen Heterostereotypen zu einer Vermischung mit Autostereotypen, denn es sind in den 1920er-Jahren tatsächlich vielfach jüdische Filmschaffende, wie Lang, die die medialen Bilder vom Eigenen und Anderen kreieren und verbreiten. Während die eigene ,jüdische Identität‘ für Lang erst im Exil zum Thema zu werden schien (und auch dort inszenierte er sich bevorzugt als katholisch erzogener Atheist),43 waren sich andere Darsteller, Autoren und Regisseure – wie Ernst Lubitsch – in der Weimarer Zeit durchaus ihrer öffentlichen Wahrnehmung als jüdische Filmschaffende gewahr und arbeiteten teils bewusst damit. Kritische Auseinandersetzungen mit jüdischen Stereotypen in karikierenden und komödiantischen Selbstdarstellungen eröffnen dabei zwar die Option, diese zu hinterfragen oder zu untergraben, laufen aber gleichzeitig Gefahr, diese bei entsprechender Rezeption im Gegenteil sogar noch weiter zu verfestigen.44 Und so kennzeichnen auch Lubitschs Filme aus heutiger Perspektive eine schwierige „Metamorphose jüdischer und antijüdischer Stereotypen“.45 Generell ist diese Unterscheidung aus

41 Levin, David J.: Richard Wagner, Fritz Lang, and the Nibelungen. The Dramaturgy of Disavowal. Princeton 1998. S. 135 und S. 124. 42 Levin, Richard Wagner (wie Anm. 41), S. 126. 43 Vgl. u. a. McGilligan, Patrick: Fritz Lang. The Nature of the Beast. New York 1997. S. 477. 44 Vgl. Distelmeyer, Spaß (wie Anm. 12). 45 Kasten, Jürgen: Der Stolz der deutschen Filmkomödie. Die frühen Filme von Ernst Lubitsch 1914–1918. In: Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm (1916–1918). Hrsg. v. Corinna Müller u. Harro Segeberg. München 1998

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dem historischen Abstand nicht unproblematisch, so betont der Literatur- und Theaterwissenschaftler Peter Sprengel in seiner Studie zum populären jüdischen Theater bis 1933, denn uns sei inzwischen „weitgehend das Sensorium dafür abhanden gekommen, zwischen einem diskriminierenden und einem nichtdiskriminierenden Umgang mit bestimmten Stereotypen des ,Jüdischen‘ um 1900 unterscheiden, ja überhaupt die Soziosemantik dieser Kategorie in ihrem historischen Stellenwert angemessen nachvollziehen zu können.“46 Allerdings ist Langs Umgang mit jüdischen Stereotypen weit weniger stark als Autostereotyp markiert als beispielsweise Lubitschs Darstellungen. Und Alberich verkörpert eben auch nicht nur die Kontrolle über die magischen Kanäle McLuhans, sondern er personifiziert auch ein ganz bestimmtes (und zwar klar negativ konnotiertes) Bild vom Jüdischsein: „His shiftiness, deformity, and scheming all correspond to reigning German stereotypes of the Jewish body and Jewish nature.“47 Weiterhin, so fügt Levin exemplarisch erläuternd hinzu, sei in Alberich ein als typisch jüdisch verstandenes Jammern versinnbildlicht, dass sich in seiner erbärmlich-gekrümmten, bettelnden und fuchtelnden Art ausdrücke.48 Letzteres verweist speziell im Metier des Films und Theaters auch auf das Stereotyp vom übermäßigen Gestikulieren jüdischer Darsteller. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser sah in der Szene darüber hinaus einen „Verweis auf eine moderne Konsumkultur“ und argumentierte: „In diesen eher kommerziellen als mythologischen Zusammenhang gehört dabei das klischeehaft eingesetzte Motiv des Alberich als jüdischer Händler und Kaufhausbesitzer.“49 Das dritte Bild, das wiederum Elemente enthält, auf die Adorno schon kritisch bei Wagners Alberichfigur hingewiesen hatte, kreist um den Hort: Der „Gold raffende, unsichtbar-anonyme, ausbeutende Alberich“ Wagners scheint bei Lang wieder verstärkt durch. Er lässt die versklavten Zwerge in unterirdischen Höhlen schuften und schlägt sie buchstäblich in Ketten, um den Hort zu bewachen. Die aufgegriffenen Stereotype sind in dieser Szene somit wieder durchgängig negativ, die Ambivalenz und Selbstreflexivität des zweiten Bildes fehlt vollkommen. Hier wird stattdessen das traditionell dominante, bis ins Mittelalter zurückgehende, Stereotyp vom reichen Juden bedient, dessen Geld- bzw. Goldgier mit Kapitalismus und Ausbeutung in Verbindung gebracht wurde und schon am Ende des

(Mediengeschichte des Films 2). S. 301–332, hier S. 332. 46 Sprengel, Peter: Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877 bis 1933. Berlin 1997. S. 69. 47 Levin, Richard Wagner (wie Anm. 41), S. 123. 48 Vgl. Levin, Richard Wagner (wie Anm. 41). 49 Elsaesser, Thomas: Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer. In: Erlebnisort Kino. Hrsg. v. Irmbert Schenk. Marburg 2000. S. 34–54, hier S. 38.



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19. Jahrhunderts häufig ebenfalls mit der Idee der jüdischen Weltverschwörung. Außerdem koppelt Lang in der dritten Szene in Alberichs unterirdischer Schatzkammer das Horten des Schatzes mit einem erneuten hinterhältigen Angriff des Zwergenkönigs. Wie in der vorangegangenen Szene lenkt Alberich den aus dem Staunen nicht mehr herauskommenden Siegfried mit dem Anblick des Nibelungengoldes (und v. a. des Schwertes Balmung) ab und versucht erneut seine Sicht zu manipulieren. Durch einen übergeworfenen Mantel raubt er ihm den Überblick, um aus dem Hinterhalt anzugreifen. Doch es gelingt ihm abermals nicht, Siegfried zu überwältigen, der Held erlangt seine Sicht zurück und tötet den Zwerg – die Heimtücke und Geldgier Alberichs scheinen ihm ein gerechtfertigtes Motiv dafür zu geben. Insofern kombiniert das dritte Bild geschickt die zuvor eingeführten Elemente des ersten und zweiten Bildes. War Alberich im ersten Bild der Episode ein heimlicher Weltenbeherrscher, von dem eine grundsätzliche kränklich-bösartige Bedrohlichkeit und Verschlagenheit ausging, so wurde dieses GeheimnisvollGefährliche im zweiten Bild immerhin durch eine starke Selbstreflexivität als geheimnisvoll-magisch relativiert. Aus dem Verweis auf die faszinierende kinematografische Glitzerwelt wird nun allerdings im dritten Bild eine schillernden Warenwelt, deren Hintergründe unmenschliche Ausbeutung und Unterdrückung offenbaren und deren ,Auslagen‘ lediglich als neuerliches hinterhältiges Ablenkungsmanöver dienen sollen, um den so Geblendeten zu übervorteilen.

Fazit In den Nibelungen wird das ,Jüdische‘ in der Sphäre des Märchenhaften verhandelt. Und obwohl der Film damit keine realen, sondern dezidiert fiktive Figurenkonstrukte erzeugt, lässt er doch viele Aspekte miteinfließen, die den sich in der Zwischenkriegszeit zunehmend ausbreitenden antisemitischen Stereotypen des Jüdischen entnommen sind. Selbst wenn daher nicht von einer vordergründig intendierten Repräsentation des Jüdischen im Film gesprochen werden kann, sondern lediglich von der Verwendung narrativer Figurenkonventionen, so ist die mitschwingende Rezeption des Ersteren als Subtext dennoch nicht von der Hand zu weisen. Zwar wartet der Film v.  a. mit intertextuellen Verweisen auf, doch diese selbst sind, wie im Falle Wagners gezeigt wurde, vielfach bereits stark vereinnahmt und mit (antisemitischen) Stereotypen belastet. Dadurch, dass Langs Filmepos, gerade auch im Bereich der Nebenfiguren, viel von den fest etablierten Bildern seiner Vorgänger übernimmt, entsteht durch die Rekombination der Versatzstücke insgesamt eine Neubewertung, gleichzeitig bleiben die

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Einzelteile aber im Ganzen erkennbar und behalten bis zu einem gewissen Grad ihre bestehenden Konnotationen. Der Film setzt zwar originell bestehende Bilder neu zusammen, doch er zeigt durch seinen Rückgriff auf Erzähl- und Bildtraditionen des 19. Jahrhunderts immer wieder auch das, was sein Publikum kennt und erwartet. Wie sich in der Rezeption der Zeitgenossen zeigt, ist diese Erwartungshaltung bei einem so bekannten Stoff wie dem um die Nibelungen nicht zu umgehen. Bestimmte Traditionen sind dabei in den Vorstellungen des Publikums so fest verankert, dass das absichtliche Fehlen von beispielsweise Wagnerklängen zum Film vielfach zu Unverständnis führt. Im Ausland kommt es so – ungeachtet von Langs Intention – wiederholt zu Aufführungen mit Auszügen aus der Ring-Tetralogie.50 Im Falle Alberichs fehlen zwar viele wesentliche Elemente der Wagnerinszenierung, aber Lang schafft es auch nicht, eine eigenständige Gegenfigur zu entwickeln, die sich von den grassierenden rassistischen Vorstellungen über den jüdischen Körper absetzt. Dadurch wird er zum Grenzgänger, dem man zwar „visuellen Antisemitismus“ nicht vorwerfen kann,51 wohl aber seine stereotype Judenfigur. Gerade die physiognomischen Vorstellungen vom kranken, schwachen und hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden lassen sich eins zu eins in Langs Alberich wiederfinden. In dem unsoldatischen und deformierten Körper des Nibelungenkönigs wohnt zudem noch ein scharfer, boshafter und hinterhältiger Geist. Der Kritiker Warschauer erkannte in der Anlage Alberichs als bösartigen wagnerischen Zwerg damit zu Recht einen „Repräsentanten der finsteren Mächte“, wenngleich mit Danuser darüber zu streiten bleibt, ob dieser nun als universell scheußlich oder aber als spezifisch „jüdisch-scheußlich“ zu

50 Gerade bei der Vermarktung außerhalb des deutschsprachigen Raums musste Wagner wiederholt als kultureller Mittler agieren. Der Filmtitel „Die Nibelungen“ wurde im Italienischen beispielsweise gleich in L’ Oro del Reno (Rheingold) geändert. Und auch als der erste Nibelungen-Film 1925 in den USA Premiere hatte, wurde er nicht nur als basierend auf Wagners Oper vermarktet, sondern ebenfalls mit Wagnerklängen in die Kinos gebracht. Da das mittelalterliche Nibelungenlied in Amerika wenig bekannt war, schien es wahrscheinlicher mit einer verfilmten Wagneroper das Publikum zu locken. Fritz Lang selbst reagierte mit einer rhetorischen Frage auf den schwierigeren Start in den USA rückblickend. „After all, what do people in Pasadena know about Siegfried fighting with dragons?“, heißt es dazu von ihm in einem Interview Mitte der 1970er (Phillips, Gene D.: Fritz Lang Remembers. In: Focus on Film 20 (1975). S. 43–51. Wieder in: Fritz Lang Interviews. Hrsg. v. Barry Keith Grant. Jackson 2003. S. 180). 51 Vgl. hierzu v. a. zu den Vorläufern Haibl, Michaela: Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellungen von Juden zwischen 1850 und 1900. Berlin 2000 (Dokumente, Texte, Materialien 26) sowie zum Zwischenkriegszeitraum Schäfer, Julia: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933. Frankfurt/M. 2005.



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interpretieren ist. Es hat sich aber zeigen lassen, dass selbst eine eventuell generalisierbare Boshaftigkeit ungemein stark auf bestehende (anti-)jüdische Stereotype aufbaut. Langs Alberich gleicht förmlich einem Katalog der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängigen (häufig antisemitischen) Vorstellungen des Jüdischen: Dabei kommen vorrangig soziale Stereotype zum Tragen, wie das vom reichen Juden oder von der Dominanz der Juden unter Kulturschaffenden; aber auch Elemente einer rassistischen Judenfeindlichkeit vermeidet die Darstellung Alberichs im Nibelungen-Film nicht dezidiert. Bis hin zum humpelnden Gang greift die physiognomische Darstellung des Nibelungenkönigs auf tradierte Muster des Judenfeindlichen zurück. Dadurch wiederum bietet sich genug Spielraum, auch solche, nur unterschwellig im Film erkennbaren, Klischees wie die angebliche Militäruntauglichkeit der Juden auf den Nibelung zu übertragen, der ebensogut auch andersherum als Kriegsinvalide lesbar wäre. Auch ökonomisch begründete Stereotype, mit denen Juden als ausbeuterische Kapitalisten stigmatisiert werden sollten, lassen sich leicht in dem Film erkennen.52 Von hier bis zu der Idee vom unheimlichen und hinterhältigen Juden, der als heimlicher Drahtzieher eine jüdische Weltverschwörung anstrebt, ist es nur ein kleiner Schritt, den die Bilder des Films durchaus nicht verhindern, sondern mit der Kombination der drei zentralen, hier dargestellten Bilder sogar eher ermutigen. Lediglich religiöse Aspekte spielen bei der Darstellung der Alberichfigur im ersten Nibelungen-Film keine Rolle. Dieses historisch älteste Feindbild eines christlich-jüdischen Gegensatzpaares bleibt ausgeklammert. Einer (imaginären) kollektiven jüdischen Identität scheint sich der katholisch erzogene Lang nie nahe gefühlt zu haben. So geht es denn in den Nibelungen letztlich auch nicht vorrangig um Selbst-, sondern um Fremdzuschreibungen. Dies betrifft gleichermaßen die Ebene der Bilder des ,Germanischen‘ und des ,Jüdischen‘. In beiden Fällen sind es wissenschaftliche und populäre Archive des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, auf die Lang zurückgreift. Der von 1922 bis 1924 entstandene Nibelungen-Film gibt so Aufschluss über das schwierige Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden und der Unterscheidung zwischen jüdischen und antijüdischen Stereotypen in den (Selbst-)Bildern jüdischer Filmschaffender in der Zwischenkriegszeit. Dieses gestaltet sich im Falle Langs über

52 Dass diese Stereotypisierungen des Jüdischen zu dieser Zeit gesellschaftlich virulent waren, zeigt Hannah Ahlheims Aufsatz „Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘. Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik“ in diesem Band, der sich mit dem Bild des „Wirtschaftsjuden“ in der Weimarer Republik beschäftigt. Auch sie beschäftigt sich dabei mit der Verschmelzung von (antisemitischen) Fremdzuschreibungen und Selbstbildern.

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weite Strecken als Teil einer fest verankerten Tradition (der Fremddarstellung), ist aber, wie sich zeigen ließ, gleichsam bemüht sich von dieser zu lösen, auch wenn dies nicht immer gelingt. Als erstaunlich komplex und selbstreflexiv erwiesen sich dabei gerade Kracauers angeblich zu bloßen Accessoires reduzierte ,Statisten‘ – die Nebenfiguren des Nibelungen-Films. Langs Alberichfigur, so reduziert ihre Präsenz in der filmischen Erzählung ist, stellt ein hochgradig aufgeladenes Konglomerat bestehender Imaginationen des Jüdischen dar, das für sehr unterschiedliche Interpretationen Raum lässt. Denn obwohl die Figur durchaus extrem stereotyp angelegt ist – man könnte sagen, das gesamte Spektrum an existierenden Stereotypen aufspannt , kann man doch nicht davon sprechen, dass es sich um ausschließlich antijüdische Stereotype handelt, wie die differenzierte Darstellung gezeigt hat. Von einer bedrohlichen Präsenz im Schatten, über die Allegorie des zauberhaften jüdischen Filmemachers, aus deren Kombination sich schließlich der ausbeuterische Händler ergab, kreiert der Film so ein facettenreiches Spektrum, das es dem Zuschauer überlässt, darin fremde und eigene, jüdische wie anti-jüdische Klischees und Vorstellungen wiederzuentdecken.

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 Silke Hoklas

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Lea Wohl von Haselberg

„Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt.“1 Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen Ein Schauspieler betritt ein Studio, in dem bereits der Regisseur sitzt, und beschwert sich über das Casting-Verfahren, bei dem es kein Drehbuch gebe, sondern stattdessen zuvor verteilte Witze erzählt werden sollen. Das Vorsprechen beginnt, verschiedene Schauspieler sind zu sehen, die vor einer grauen Wand stehen und Witze erzählen, von denen jeweils nur die Anfänge zu hören sind und nicht die Pointen. Kurz vor dem Ende der Sequenz betritt ein alter Schauspieler den Raum und sagt, dass er keinen Witz erzählen, sondern stattdessen ein Gedicht des „Juden Heinrich Heine aus Düsseldorf“ vortragen wolle. Er beginnt, die erste Strophe von Ein Jüngling liebt ein Mädchen vorzutragen. Bei der beschriebenen Handlung handelt es sich um eine Sequenz aus Thomas Braschs Film Der Passagier. Welcome to Germany von 1987/1988. Für die Besetzung der Rollen jüdischer KZ-Häftlinge müssen die Schauspieler nicht den letztendlichen Filmtext vorsprechen, sondern – vermutlich möglichst authentisch – jüdische Witze erzählen. Der Schauspieler, der das Gedicht von Heine vorträgt, versteht diese Motivation und entscheidet sich für einen anderen ,typisch jüdischen‘ Text für sein Vorsprechen. Jüdischer Humor und Witz zählen zu den wichtigsten Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen. Kaum ein Film, der jüdische Kultur und jüdisches Leben thematisiert, verzichtet darauf, kaum eine jüdische Filmfigur taucht auf, die nicht im Laufe der Handlung einen Witz erzählt oder sich durch verbalen Humor auszeichnet. Jüdischer Humor wird als zentrales Merkmal jüdischer Kultur wahrgenommen und damit wird der ,typisch jüdische Humor‘ zum Symbol und Kennzeichen von Jewishness, vielleicht sogar zu deren zentralstem und bekanntestem Charakteristikum.2 Die vielfältige Verwendung jüdischer Witze

1 Aus „Max Minsky und Ich“, DE (2006/2007), Regie: Anna Justice. 2 „Those who for millennia were characterized as ‚The People of the Book‘ may now be characterized without excessive exaggeration as ,The People of the Joke‘.“ Oring, Elliot: The People of the Joke. On the Conceptualiztion of a Jewish Humor. In: Western Folklore 42.4 (1983). S. 261–271, hier S. 261.

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im deutschsprachigen Film greift auf die Idee des jüdischen Humors zurück und verstärkt (damit) zugleich ihre Bekanntheit. Im Folgenden sollen die Inszenierung von jüdischem Humor im deutschen Film und Fernsehen und vor allem seine Funktionen näher erörtert werden. Dabei geht es nicht um Filme jüdischer Filmemacher, die im Sinne jüdischen Humors humoristisch sind,3 sondern um die explizite Repräsentation jüdischen Humors über jüdische Witze und verbale Thematisierung von Filmfiguren. Die Begrenzung auf den deutschsprachigen Film erfolgt nicht, weil beispielsweise der USamerikanische Film den jüdischen Humor als Charakteristikum von Judentum und jüdischen Figuren weniger betont, sondern vielmehr, weil die filmische Darstellung und Verwendung jüdischen Humors im Kontext der deutschen Gesellschaft, Geschichte und des aktuellen (öffentlichen) deutschen Verhältnisses zum Judentum gedeutet werden soll. Dieser Kontext unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht maßgeblich von anderen, wie beispielsweise dem französischen, dem israelischen oder auch dem US-amerikanischen, auch wenn es natürlich intertextuelle Referenzen und Bezüge gibt.4 Rolle und Funktion von Witzen soll im Folgenden in zwei verschiedene Richtungen nachgegangen werden: Erstens verstanden als Marker von Jewishness und damit auch als aufschlussreich bezüglich des vorherrschenden Bildes dessen, was Judentum und jüdische Identität ausmacht, und zweitens in seiner sozialen Funktion. Bei letzterer geht es sowohl um die Möglichkeit, mithilfe des jüdischen Witzes die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Filmfiguren zu beschreiben, als auch um seine Funktion bezüglich der (angenommenen) Beziehung zwischen jüdischer Filmfigur und dem (mehrheitlich nichtjüdischen deutschen) Publikum. Besonders anhand des letzten Aspekts lässt sich nachweisen, welche Aufschlüsse über das aktuelle deutsche Verhältnis zu jüdischen Themen durch Filme möglich werden, in denen Judentum und jüdische Figuren eine Rolle spielen. Was bedeutet aber nun jüdischer Humor? Als Phänomen kann man ihn definieren als „humor created by Jews, reflecting special aspects of Jewish life“.5

3 Filme jüdischer Filmemacher, die sich durch Komik und Humor auszeichnen, werden i. d. R. dem Phänomen des jüdischen Humors zugerechnet. So im deutschen Sprachraum beispielsweise die zeitgenössischen Filme Dani Levys oder auch Ernst Lubitschs Komödien. Ob dabei automatisch von jüdischem Humor gesprochen werden kann, wäre zu diskutieren. 4 So wird Woody Allen mit seinen Filmen zur nahezu globalen Referenz was jüdischen Humor und jüdisches Filmschaffen betrifft. Der Protagonist in Dani Levys Film „Das Leben ist zu lang“ (2010) scheint deutlich an Allens neurotische Filmfiguren angelehnt und auch die deutsche Filmkritik diskutierte den Film 2010 nach seinem Start in Bezug auf Allens Filme. 5 Ziv, Avner: Introduction. In: Humor – International Journal of Humor Research 4.2 (1991). S. 145–148, hier S. 145.



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Eine solche breite Definition wie diese von Avner Ziv setzt jüdischen Humor nicht mit jüdischen Witzen gleich, sondern umfasst generell verbalen Humor, Witze, Anekdoten, aber auch den ,professionellen‘ Humor von Comedians, Schriftstellern oder Filmemachern.6 Dagegen definiert Elliott Oring jüdischen Humor nicht als Phänomen, sondern als Konzept oder Idee: „Jewish humor is simply that humor which has been conceptualized as uniquely, distinctly or characteristically reflective of, evocative of, or conditioned by the Jewish people and their circumstances.“7 Eine solche Perspektive konzentriert sich nicht so sehr auf die Frage, ob es einen spezifisch jüdischen Humor gibt und wie er genau aussieht. Mit dem Fokus auf der Konzeptualisierung von jüdischem Humor fragt Oring danach, wer dieses Konzept geprägt hat, wann und wo es entstanden ist, auf welches Material es angewendet wird und was seine Charakteristika sind.8 Dabei stellt er fest, dass es sich um eine vergleichsweise junge Idee handelt, die erst im 19. Jahrhundert auftauchte und die – interessanterweise – gleichermaßen von Juden wie Nichtjuden gestützt und perpetuiert wird. Am Ende des 19. Jahrhunderts sei Humor als Zeichen einer zivilisierten Menschheit empfunden worden, weshalb Juden aus dem Willen zur Partizipation heraus und als Zeichen ihrer Teilhabe daran den Beweis antraten, humorvoll zu sein. Dabei betonten sie die Bedeutung des Humors seit den Anfängen des Judentums, d. h. das Konzept des jüdischen Humors wurde retrospektiv auf älteres Material projiziert. Laut Oring wurde das Konzept von jüdischem Humor außerdem immer vor dem Hintergrund jüdischer Erfahrung und Geschichte konstruiert und verstanden. Hier wird deutlich, warum die Beziehung zwischen Juden und ihrem Humor so spezifisch und eng verstanden wird: Sie ist untrennbar mit einem Bild jüdischer Geschichte und Identität verbunden, das Oring folgendermaßen beschreibt: „The conception of a Jewish humor derives from a conceptualization of Jewish history as a history of suffering, rejection, and despair.“9 Dass die Juden trotz dieser Geschichte lachten, beweise ihre besondere Beziehung zum Humor und mache gleichzeitig das Leiden zum Hintergrund ihres Humors, was nur drei Erklärungsmöglichkeiten zulasse: Der jüdische Humor sei transzendent, defensiv oder pathologisch. Humor sei transzendent, „[…] when it reflects the unwillingness of the individual to surrender to the impossible conditions of existence and attempts to achieve a measure of liberation from the social,

6 Ziv, Introduction (wie Anm. 5), S. 145. 7 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 262. 8 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 263. 9 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 266.

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political, economic, and even cosmic forces that remain beyond one’s control.“10 Die vorherrschende Vorstellung vom defensiven Charakter des jüdischen Humors sieht Dan Ben-Amos in seinem Artikel The „Myth“ of Jewish Humor11 ebenso wie Oring12 auf Sigmund Freuds Arbeit zu Witz und Humor zurückgehen. In dieser beschreibt Freud zwar nicht explizit jüdischen Humor, verwendet als Referenzmaterial aber jüdische Witze. Er argumentiert, dass mit dem Humor das Ich sich dem Leiden auf Grund der realen Verhältnisse verweigere und diese stattdessen zum Lustgewinn ummünze.13 „Er [der Humor, L. W. v. H.] will sagen: Sieh’ her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Ein Kinderspiel, gerade gut, einen Scherz darüber zu machen!“14 Es sei hier das Über-Ich, das im Humor tröstend zum eingeschüchterten Ich spräche.15 Damit betont Freud den defensiven Charakter des Humors. Das taucht beispielsweise auch wieder bei Salcia Landmann auf, die sicherlich die zahlreichsten Bücher im deutschsprachigen Raum zum jüdischen Witz publiziert hat. Bereits 1960 veröffentlichte sie Der Jüdische Witz. Soziologie und Sammlung16 und später weitere Ausgaben verschiedener Sammlungen jüdischer Witze, die in hohen Auflagen erschienen. So heißt es bei Landmann, der jüdische Witz sei die Waffe, mit der die Leiden des Exils aushaltbar gemacht werden sollten. In ihrer Argumentation ist der jüdische Humor untrennbar mit der leidvollen Erfahrung von Exil, Verfolgung und Ausgrenzung verbunden. Sie argumentiert weiter: Wie sehr der Judenwitz aber mit der totalen Wehrlosigkeit steht und fällt, kann man am nunmehr wehrhaften Staat Israel erkennen: Die gebürtigen Israelis sind ziemlich witzlos. Sie brauchen den Witz nicht mehr zum Überleben, und also haben sie ihn eingebüßt – bis auf die bedeutungslose gegenseitige Verspottung zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen.17

Sie beschreibt jüdischen Humor also als einen defensiven Humor, der u. a. aus der Verfolgungsgeschichte der Diaspora entstanden sei.

10 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 268. 11 Ben-Amos, Dan: The „Myth“ of Jewish Humor. In: Western Folklore 32.2 (1973). S. 112–131. 12 Bei Oring heißt es: „Freud’s observations provided a ready-made framework for a conceptualization of Jewish humor as a set of defensive, even retaliatory, measures undertaken in the context of an oppressive environment.“ The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 269. 13 Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. 9. Aufl. Frankfurt/M. 2009. S. 254f. 14 Freud, Der Humor (wie Anm. 13), S. 258. 15 Freud, Der Humor (wie Anm. 13), S. 258. 16 Landmann, Salcia: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung. Olten 1961. 17 Landmann, Salcia: Als sie noch lachten. Das war der jüdische Witz. München 1997. S. 21.



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In fast allen Zusammenhängen wird Selbstkritik und Selbstironie als ein charakteristisches, vielleicht als das zentrale Merkmal jüdischen Humors beschrieben. Bei Ben-Amos heißt es dazu: „The primary cause for ‚self-mockery‘ in Jewish humor was sought in two conditions: the allegedly unique nature of the Jewish psyche itself, and the social environment in which the Jewish people lived.“18 Die Erklärung des jüdischen Humors als pathologisch ist mit seiner Charakterisierung als selbstkritisch oder selbstironisch sowie mit dem (hoch problematischen) Konzept des jüdischen Selbsthasses verknüpft.19 Christie Davis argumentiert, dass Juden, ähnlich den Mitgliedern anderer Minoritäten, auch Witze über die eigene Gruppe machten. Damit sei dieser Aspekt jüdischen Humors Teil des größeren Phänomens der Asymmetrie zwischen dem Humor von (kulturell dominanten) Majoritäten und dem von (subordinierten) Minoritäten. Angehörige von Minoritäten erzählten, im Gegensatz zu den Mitgliedern der Majorität, sowohl Witze über die Majorität, also ,die Anderen‘, als auch über die eigene Gruppe. Das funktioniere allerdings so, dass die Witze sie niemals persönlich inkludierten: The members of a minority can laugh at their own group in many different ways including those favored by the majority because of the high degree of social (and in the case of subnations or peripheral nations geographical) differentiation of all minorities who are the butts of majority jokes (see Ben-Amos 1973) and through the ability of each individual member of a minority group to manipulate and slide between his or her majority reference groups in such way that the joke never applies to him or her personally.20

18 Ben-Amos, The „Myth“ of Jewish Humor (wie Anm. 22), S. 115. 19 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 269f. Weiterführend zum Konzept des jüdischen Selbsthasses: Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt/M. 1993. Zweierlei sollte diesbezüglich unabhängig voneinander betrachtet werden: Zum einen, ob etwas wie jüdischer Selbsthass existiert und was er gegebenenfalls bedeutet; zum anderen, mit welchen Intentionen diese Argumentation und Zuschreibung vorgebracht wird und welche Auswirkungen sie haben. Wie Antony Lerman in seinem Artikel „Jewish Self-Hatred: Myth or Reality?“ in Jewish Quaterly notiert, wird damit beispielsweise die Kritik an israelischer Politik von israelisch/jüdischer Seite durch eine Pathologisierung der Kritiker disqualifiziert. (Lerman, Antony: Jewish SelfHatred: Myth or Reality? Jewish Quarterly 210 (2008). http://www.jewishquarterly.org/ issuearchive/article2366.html?articleid=432 ([20. 2. 2012]). Bei Gilman heißt es dazu: „Die Bezeichnung ‚jüdischer Selbsthaß‘ […] hat ihre Berechtigung, sofern sie eine bestimmte Art der Selbstverleugnung meint, die es unter Juden zu allen Zeiten gegeben hat. Als Etikettierung hat sie jedoch eine ganz bestimmte Geschichte und ideologische Grundlage.“ Gilman, Jüdischer Selbsthaß (wie Anm. 17), S.11. 20 Davies, Christie: Exploring the Thesis of the Self-Deprecating Jewish Sense of Humor. In: Humor – International Journal of Humor Research 4.2 (1991). S. 189–209, hier S. 192.

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In Anschluss daran lässt sich argumentieren, dass – nicht nur in solchen vermeintlich ,selbstkritischen‘ Witzen – die eigene, minoritäre Gruppe um einiges differenzierter wahrgenommen wird, als durch die Majorität. D.  h. es werden innerhalb der eigenen Gruppe, in diesem Fall innerjüdisch, Differenzierungen und Abgrenzungen vorgenommen, die es ermöglichen, Stereotype auf die eigene Gruppe anzuwenden, ohne sich damit selbst zu treffen. Eine ähnliche Dynamik führt auch Sander L. Gilman zum jüdischen Selbsthass aus: Der Andere akzeptiere die Stereotypisierung durch die definierende Gruppe, i. d. R. die kulturell dominante Majorität, wobei er die vermeintlich positiven Aspekte der Stereotypisierung auf sich beziehe und die negativen einer Untergruppe seiner eigenen Gruppe zuschreibe.21 Oring, der letztlich den jüdischen Humor in seiner Gemachtheit als Konzept betrachtet und damit ja auch seinen mythischen Charakter betont, sieht die drei Konzeptualisierungen jüdischen Humors (transzendent, defensiv, pathologisch) als die zentralen Erklärungszusammenhänge, die aber häufig miteinander verbunden und nicht mehr klar zu trennen seien. Jüdischer Humor sei – und diese These ist zentral für den vorliegenden Beitrag – eine Kristallisation von Konzeptionen jüdischer Geschichte und Identität,22 d. h. Konzepte von jüdischem Humor sind letztlich Ausdruck der vorherrschenden oder zugrunde liegenden Vorstellungen dessen, was Jüdischsein bedeutet. Damit wird jüdischer Humor zu einer Facette von (Selbst-)Bildern des Jüdischen, zu einer Vorstellung, die sowohl von Juden als auch von Nichtjuden gestützt wird.

Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness und als Kennzeichnung von Filmfiguren als jüdisch taucht besonders häufig in Form des Erzählens von Witzen oder komischen Anekdoten auf. Es handelt sich also in der Regel um Sprachwitz. Es lässt sich feststellen, dass jüdische Figuren in einigen Filmen als generell humorvoll gezeichnet werden. In anderen ist ein humorvoller Tonfall für die Beschreibung jüdischer Milieus und der innerjüdischen Kommunikation wichtig, wie sie beispielsweise innerhalb der (jüdischen) Familie stattfindet. In der Fernsehkomödie So ein Schlamassel (2010) ist ein humorvoller Tonfall zwischen den Familienmitgliedern und das Erzählen von Witzen ein zentrales Merkmal jüdischer Geselligkeit und gehört zu den gemeinsamen Familienessen der Familie

21 Vgl. Gilman, Jüdischer Selbsthass (wie Anm. 19), S. 16f. 22 Oring, The People of the Joke (wie Anm. 2), S. 271.



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Grüngras/Silberschatz offenbar fest dazu, da alle die Witze, die Benno Grüngras, der Vater der Protagonistin, erzählt, bereits kennen. Auch in der Fernsehkomödie Zores (2006) ist Humor ein zentraler Bestandteil der Charakterisierung von Jewishness. So wird wiederkehrend gezeigt, wie Rebekka Rosen ihren verstorbenen Mann Hans Rosen auf dem Friedhof besucht. Sie spricht dort mit ihm und es ist auch seine Stimme zu hören. Der Film endet damit, dass er mit seinem ,Nachbarn‘ Samuel Rappaport über ,die Frauen‘ witzelt und die beiden darüber so lachen, dass die Grabsteine wackeln. Häufig werden jüdische Figuren nicht durch das Erzählen von Witzen als jüdisch erkennbar gemacht. Zumeist wurden sie schon zuvor verbal als solche ausgezeichnet. Der jüdische Humor dient vielmehr dazu, ihre Jewishness zu verdichten und zu authentifizieren, weshalb er z.  T. konkret mit jüdischem Leben verknüpft wird. So erzählt auch Emmanuel Goldfarb in Oliver Hirschbiegels kammerspielartig inszeniertem Ein ganz gewöhnlicher Jude (2005) einen Witz. Der Aufhänger des Films ist die Anfrage des Sozialkundelehrers Gebhardt, der ein Mitglied der jüdischen Gemeinde zum Unterrichtsbesuch einlädt, da er mit seiner Klasse gerade das Thema Judentum durchnimmt. Dieser Brief stellt die Ausgangssituation dar, an der sich Goldfarbs Versuch einer Antwort zu einer Abrechnung mit der deutsch-jüdischen Beziehung nach 1945 entspinnt. Allein zu Hause nimmt er immer wieder Anlauf zu einer Antwort, was zu einem monologisierenden Streifzug durch eine Vielzahl als jüdisch wahrgenommener Topoi und (argumentativer) Motive führt. Den Witz leitet er folgendermaßen ein: „Soll ich Ihnen einen Witz erzählen, Herr Gebhardt, als Auflockerung der trockenen Materie, das tun Sie doch sicher auch als guter Pädagoge?“ Der Witz wird hier, entsprechend seiner engen Verknüpfung mit jüdischer Geschichte als Leidensgeschichte in den Monolog über die schwierige jüdische Kindheit im Deutschland nach der Shoah eingebunden. Goldfarb erzählt bitter: Ein stotternder Jude bewirbt sich als Fernsehmoderator. Als er vom Vorsprechen zurückkommt, fragt ihn sein Freund: „Nu, haben Sie Dich genommen?“ „N-n-nein“, sagt er. „Und warum nicht?“ „A-a-a-alles A-antisemiten.“

Goldfarb bezieht den Witz auf seine Mutter, die hinsichtlich des Antisemitismus Verfolgungswahn gehabt habe, der aber bei so viel erlebter Verfolgung wohl verständlich sei. Hier wird der Witz in einen direkten kausalen Zusammenhang mit Verfolgung gestellt, aus der er zu resultieren scheint. Diese narrative Verknüpfung von Witz und Lebensgeschichte der Mutter betont den defensiven Charakter des jüdischen Humors und seinen Ursprung im Leid. Darüber hinaus wird jüdi-

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scher Humor hier ganz konkret im Leben verankert, d. h. der Witz wird als Beispiel einer realen jüdischen Perspektive angeführt.

Die soziale Funktion von jüdischem Humor im Film Humor ist eng verknüpft mit sozialen Grenzen: Geteilter Humor und gemeinsames Lachen stehen ebenso sehr für Zusammengehörigkeit wie die Unmöglichkeit, gemeinsam über die gleichen Dinge zu lachen, Distanz und Differenz markiert.23 Und so fungiert Humor auch im Film als Mittel, um die Beziehung und sozialen Grenzen zwischen Figuren näher zu charakterisieren. Da auch medial vermittelter Humor an soziale Grenzen und Zugehörigkeiten gebunden ist – sei es literarisch oder filmisch vermittelter Humor – lässt sich über das Lachen des Publikums mit und über Filmfiguren etwas über seinen Sinn für Humor und seine Sozialisierung herausfinden. Giselinde Kuipers beschreibt die soziale Funktion von Humor als eine Einladung, näher zu kommen und (soziale) Distanz zu überwinden, und das Lachen als die Annahme dieser Einladung. Gleichzeitig etabliere und festige Humor, so Kuipers weiter, symbolische Grenzen, so wie Pierre Bourdieu es für den Geschmack beschrieben habe.24 Diese symbolischen Grenzen markieren Unterschiede häufig entlang sozialer Kategorien: Zwischen Männern und Frauen, zwischen gebildet und ungebildet, zwischen arm und reich, zwischen privilegiert und subaltern, zwischen alt und jung, zwischen uns und den Anderen. Damit ist die Grenzziehung – ähnlich wie beim Geschmack – eine zentrale Funktion von Humor, und das nicht nur, weil Aggression, Feindseligkeit und Diskriminierung oder Herabsetzung auch Bestandteile von Humor sein können.25 Die Markierung von Differenz und auch das Austesten, wer mit wem lacht, und damit das Feststellen von Gemeinsamkeiten sowie das Überwinden von Distanz, können als zentrale Funktionen von Humor definiert werden. In diesem Sinne dient das Erzählen von Witzen auch der genaueren Beschreibung der Beziehung der Figuren untereinander, besonders der Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Filmfiguren. In der Schimanski-Folge Das Geheimnis des Golem von 2004 ermittelt Horst Schimanski in jüdischen Milieus. Eine Szene zeigt ihn beim jüdischen Ehepaar Fränkel, von denen er zum Essen eingeladen wurde. Gerahmt wird die Sequenz

23 Kuipers, Giselinde: Humor Styles and Symbolic Boundaries. In: Journal of Literary Theory 3.2 (2009). S. 219–239, hier S. 219. 24 Kuipers, Humor Styles and Symbolic Boundaries (wie Anm. 23), S. 223. 25 Kuipers, Humor Styles and Symbolic Boundaries (wie Anm. 23), S. 222–223.



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von Klezmermusik, die Kamera schwenkt über eine Menora. Fränkel ist traditionell gekleidet mit weißem Hemd, schwarzer Weste und Kippa, seine Frau sitzt schweigend am Tisch, sie sagt während des ganzen Gespräches kein Wort, sondern lächelt nur zurückhaltend. Während des Essens erzählt Fränkel einen Witz, der den laxen Umgang von Juden mit den religiösen Speisevorschriften persifliert. Schimanski lacht und beginnt mit den Worten „Der ist gut, ich hab’ auch einen“ einen antisemitischen Witz zu erzählen, der sich auf die Größe der jüdischen Nasen bezieht und auf den jüdischen Geiz. Danach stockt das Gespräch, sowohl Fränkel als auch seiner Frau bleibt das Lachen im Halse stecken. Das Erzählen von Witzen wird hier zum Marker von Differenz: Humor wird nicht geteilt, und es ist daher kein gemeinsames Lachen möglich. Die Unmöglichkeit des gemeinsamen Lachens basiert hier nicht auf sozialer oder kultureller Differenz, die ein Verstehen der Pointe unmöglich macht,26 sondern vielmehr auf der unterschiedlichen Perspektive auf die antisemitische Tendenz des Witzes. Gleichzeitig thematisiert die Szene die Nähe, die es teilweise zwischen antisemitischem Judenwitz und jüdischem Witz gibt. Eine Variation einer solchen Szene, die aber noch deutlicher macht, dass auch geteiltes historisches Wissen in einer solchen sozialen Aushandlungssituation eine Rolle spielt, findet sich in So ein Schlamassel: Der Onkel des nichtjüdischen Marc Norderstedt erzählt in Anwesenheit von dessen jüdischer Freundin Jil Grüngras einen antisemitischen Witz. Dieser Witz, dessen Pointe ebenfalls auf das antisemitische Stereotyp des jüdischen Geizes bzw. Geschäftssinns abhebt, markiert eine Grenze zwischen denen, die lachen und denen, die nicht lachen. Marc lacht zunächst verhalten und unsicher, hört dann aber auf. Jill und Marcs Mutter lachen nicht, während sein Onkel, seine Tante und sein Vater herzhaft lachen. Dass auch hier das nicht geteilte Lachen eher aus unterschiedlichen Perspektiven auf geteiltes kulturelles und historisches Wissen um Stereotype des Jüdischen resultiert als aus mangelndem Verständnis, zeigt sich daran, dass ihr Lachen erst unterbrochen wird, als Jill anfügt, der Onkel habe etwas vergessen. Die Gebote, die die Juden genommen hätten, weil sie umsonst gewesen seien, seien zuvor den Deutschen angeboten worden, die sie nicht genommen hätten, weil ein Gebot „Du darfst nicht morden“ geheißen habe. Damit stellt sie rekurrierend auf das geteilte Wissen um die deutsche Vergangenheit – ohne es zu explizit

26 Bei Kuipers heißt es dazu: „You have to understand a joke to appreciate it. This is one of the mechanisms by which humor marks symbolic boundaries: its appreciation relies in knowledge that some people have and others do not. Only people familiar with a specific culture, code, language, group, field, or social setting, may be able to ,decode‘ a joke.“ Humor Styles and Symbolic Boundaries (wie Anm. 23), S. 225.

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zu benennen – eine direkte Verbindung zwischen dem antisemitischen Witz und der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung her. Doch auch positive Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Filmfiguren können über das Erzählen von Witzen, Anekdoten oder Aphorismen eindrücklich beschrieben werden. So ermittelt die Kommissarin Klara Blum im „Tatort“ Der Schächter von 2003 in einem Mordfall, in dem ihr jüdischer Freund Jakob Leeb zu Unrecht vom offenkundig antisemitischen Staatsanwalt verdächtigt wird. Nach einem Fluchtversuch aus Konstanz erzählt Jakob Leeb im Gefängnis Klara Blum einen Witz, der zum einen seine persönlichen Ängste in Zusammenhang mit der Mordermittlung gegen ihn ausdrückt und gleichzeitig – ohne dies explizit zu machen – die jüdische Verfolgung beschreibt, in der Fremdzuschreibungen oft sehr wirkmächtig und folgenreich sind.27 In diesem Sinne funktioniert der Witz als dreifache Allegorie: auf Judenverfolgung im Allgemeinen, auf Jakob Leebs eigene Familiengeschichte – er wurde protestantisch erzogen und dennoch als jüdisch nach Treblinka deportiert, wo seine ganze Familie ermordet wurde – und auf die aktuelle Situation, in der er zu Unrecht eines Mordes beschuldigt wird. Keiner von beiden lacht, als er den Witz fertig erzählt hat. Trotzdem stellt der Witz Einverständnis oder Nähe zwischen ihnen her. Klara Blum versteht die Allegorie und lächelt nur. Sie nimmt Jakobs Hand und bezieht sich auf den Witz, um klar zu machen, dass sie sich der Fremdzuschreibung nicht anschließen wird und sagt: „Wenigstens diese Katze hier weiß es.“ Hier wird nicht nur die jüdische Figur charakterisiert als eine, die eine besondere Beziehung zum Humor hat und Verfolgung und Repression mit dem Erzählen von Witzen begegnet, sondern diese Szene beschreibt auch die Beziehung zwischen Klara Blum und Jakob Leeb genauer und charakterisiert Blum näher. Sie versteht als Hintergrund des jüdischen Humors die Verfolgungs- und Bedrohungsgeschichte und lacht nicht.28

27 „Ein Mann wird aus der Psychiatrie entlassen und der Arzt fragt ihn, ob er jetzt sicher ist, dass er keine Maus ist, und da sagt er: ‚Natürlich weiß ich, dass ich keine Maus bin.‘ Er geht weg und kommt schlotternd zurück: ‚Da draußen ist eine Katze.‘ Und der Arzt sagt: ‚Sie wissen doch, dass Sie keine Maus sind.‘ Und der Mann sagt: ‚Ja, ja ich weiß es schon, aber weiß das die Katze auch?“ „Der Schächter“, DE (2003). 28 Interessant an dieser Stelle ist nicht nur die Parallele zu Art Spiegelmans Comic „Maus. A survivor’s tale“, die schon fast wie ein intertextueller Verweis wirkt, sondern auch, dass Klara Blum sich, trotz Freundschaft und Sympathie, als Katze bezeichnet. Das kann so gedeutet werden, dass trotz Nähe und Einverständnis eine Differenz (in den Zugehörigkeiten) bleibt, derer sie sich bewusst ist. Als Katze gehört sie zu der Gruppe der Täter bzw. ihren Nachkommen. Sie steht mit diesem Bewusstsein symbolisch für die deutsche NSVergangenheit und Schuld reflektierenden Deutschen.



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Auch in Zores findet eine Verbrüderung einer nichtjüdischen mit einer jüdischen Figur mittels eines erzählten Witzes statt: Rebecca Rosen, die Mutter des Protagonisten, hat Streit mit ihrem bayerischen Koch Beppi. Sie sitzen bedrückt an ihrem Krankenbett und sie sagt, dass er nicht so betreten drein schauen solle und beginnt nach einer kurzen Pause einen Witz zu erzählen. Der Witz ist etwas anzüglich und während sie erzählt, sind abwechselnd die beiden am Krankenhausbett und Beppis imaginierte Illustrationen des Witzes zu sehen. Die Szene wird von Klezmermusik untermalt. Als Rebecca zur Pointe kommt, hört die Musik auf und beide lachen herzhaft. Interessant an der Inszenierung des Witzes, den Rebecca erzählt, sind vor allem seine Untermalung mit Musik sowie seine atmosphärische Funktion. Nachdem Rebecca zu erzählen beginnt, setzt Klezmermusik ein und begleitet ihre Stimme, steigert sich langsam, wird zunehmend schneller und hört auf, als sie die Pointe erzählt hat. Klezmer wird nicht nur in diesem Film, sondern allgemein als typisch für jüdisches Milieu und jüdische Kultur verstanden, und in diesem Sinne macht seine Verwendung an dieser Stelle nicht nur den Witz zu einer kurzen Unterbrechung der Handlung, sondern verortet ihn gleichzeitig im Feld der jüdischen Kultur. Die Wirkung des Witzes ist an dieser Stelle im Gegensatz zu dem Witz in Das Geheimnis des Golem nicht die Exklusion, d. h. die Betonung der Distanz zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Figur, sondern vielmehr die Herstellung von Nähe und Verbundenheit über das gemeinsame Lachen. Beppi, der ohnehin als vertraut mit der jüdischen Kultur charakterisiert wird (und deshalb relativ unbefangen und frei damit umgehen kann), versteht Rebeccas Witz und lacht herzhaft. Das gemeinsame Lachen zeigt, dass es Nähe und geteilte Erfahrungen zwischen den beiden gibt.29 Daran schließt sich die über die Figurenebene hinausgehende Frage an, welche Rolle jüdischer Humor in der kommunikativen Vermittlung zwischen Film und Publikum spielt. Warum lacht ein überwiegend deutsches nichtjüdisches Publikum über die jüdischen Filmfiguren und ihre Witze, die diese machen müssen, um als jüdisch erkennbar zu sein? Auf welche gefühlten oder gewünschten Zugehörigkeiten lässt das schließen und welche Differenzen und Distanzen werden möglicherweise sichtbar? Während die Beziehungen zwischen Filmfiguren anschaulich durch geteilten oder nichtgeteilten Humor beschrieben werden können und es sich bei diesem Humor letztlich um Interaktionen handelt, ist der medial vermittelte Humor, sei er

29 Die Gemeinsamkeit wird nicht nur über Beppis Kenntnis der jüdischen Kultur, sondern auch darüber hergestellt, dass sein Vater als Kommunist im KZ und dort mit einem jüdischen Häftling befreundet war.

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literarisch oder filmisch, weniger interaktiv. Kuipers, die die sozialen Funktionen von Humor und besonders die Bedeutung von geteiltem Humor für die Konstitution sozialer Beziehungen betont, beschreibt literarischen Humor als Austausch zwischen Autor und Leser: „It is the ‚voice‘ of the author that is amusing, even in the portrayal of humorous exchanges, and readers seek out texts and authors that resonate with their humor style.“30 Dabei müssten, so Kuipers, Autor und Leser nicht sozial ähnlich oder gleich sein, doch der Sinn für Humor müsse beiden gemein sein. Ähnliches soll hier für das Verhältnis von Film und Publikum angenommen werden. Der Sinn für Humor, den ein Film stilistisch und in der Figurenzeichnung zeigt, muss, um zu geteiltem Lachen zu führen, zum Humor des Publikums passen. Es muss, so ließe sich weiter überlegen, die Bereitschaft von Seiten des Publikums geben, die Einladung, die der Humor der Filmfiguren oder auch die gesamte filmischen Darstellung ausspricht, durch Lachen anzunehmen. Dabei ist keiner der hier erwähnten Filme in seinem Tonfall durchgehend humoristisch: Neben humorvoll erzählten Szenen stehen auch ernsthafte; neben humorvollen Figuren tauchen auch weniger humorvolle oder humorlose auf. Bezogen auf die Interaktion mit dem Publikum kann jüdischer Humor im Film unterschiedliche Funktionen haben: Weniger explizit thematisiert als in den hier besprochenen Filmen, also eher als Tonart des Humors, kann er erstens als „Jewish moment“ dem Publikum die Möglichkeit einer jüdischen Lesart eines Filmes anbieten, während andere Teile des Publikums mit geringerem (kulturellen) Wissen über das Judentum den betreffenden Film oder die betreffende Figur nicht als jüdisch verstehen.31 Hier hat der Humor die Funktion inne, Gemeinsamkeiten zwischen Zuschauer und Figur bzw. Film zu schaffen. Der jüdische Humor kann zweitens darüber hinaus, wie bereits diskutiert, jüdische Figuren als solche erkennbar machen und sie in einer Art und Weise als humorvoll-folkloristisch darstellen, die verstanden und gemocht wird. Drittens – und so soll in diesem Zusammenhang die Bereitschaft des deutschen, überwiegend nichtjüdischen Publikums, über jüdischen Humor und speziell jüdische Witze zu lachen, interpretiert werden – kann gemeinsames Lachen Distanz überbrücken und eine (vermeintliche) Nähe schaffen, die besonders im aktuellen gesellschaftlichen Kontext der Bundesrepublik real kaum existent ist und dennoch oder vielleicht gerade

30 Kuipers, Humor Styles and Symbolic Boundaries (wie Anm. 23), S. 224. 31 Dazu heißt es bei Jon Stratton: „[…] Jewishness can be understood as a variable textual attribute not necessarily tied to characters identified as Jews, and any reader with varying degrees of knowledge of Jewish/Yiddish religion and culture may experience a Jewish moment.“ Stratton, Jon: Coming Out Jewish. Constructing Ambivalent Identities. London 2000. S. 300.



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deshalb gewünscht wird. Diese Nähe durch das medial vermittelte, gemeinsame Lachen soll hier in Zusammenhang mit dem Wunsch nach einer lebendigen jüdischen Kultur in Deutschland gestellt werden. Diesen Wunsch, der spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung immer stärker sichtbar wird32 und sich beispielsweise auch im Klezmerboom33 ausdrückt, erklärt Katharina Ochse als zusammenhängend mit der Shoah: Sichtbares und vitales jüdisches Leben würde die Leerstelle, die die Vernichtung der Juden hinterlassen hat, füllen und damit das letzte sichtbare Zeichen der Shoah tilgen.34 Das Schließen dieser Leerstelle führe zu einer vermeintlich jüdischen Kultur, die vorwiegend von Nichtjuden produziert würde. Ruth Ellen Gruber bezeichnet dies als virtuelle jüdische Kultur.35

Fazit Am Ende der anfänglich beschriebenen Casting-Sequenz aus Der Passagier. Welcome to Germany sieht man den letzten Schauspieler, der einen Witz erzählt. Er trägt eine Sonnenbrille und ist in Großaufnahme zu sehen, und diesmal hört man auch die Pointe des Witzes. Es folgt eine Überblendung. Der Schauspieler ist nun vor einem dunklen Hintergrund in Häftlingskleidung zu sehen. Die Szene zeigt ihn bei Dreharbeiten, er wurde beim Casting für die Rolle eines KZ-Häftlings ausgewählt. Gespielt wird dieser jüdische Schauspieler, der als letzter vorspricht, vom jüdischen Schriftsteller und Theaterregisseur George Tabori. Hier wird auf zwei Ebenen auf Jewishness und Besetzungspolitik verwiesen: Regisseur Mr. Cornfield (gespielt von Tony Curtis) lässt die Schauspieler jüdische Witze erzählen, um zu

32 Weiterführend z. B.: Gilman, Sander L./Remmler, Karen (Hrsg.): Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature since 1989. New York 1994; Gruber, Ruth Ellen: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe. Berkeley/Los Angeles 2002. 33 Siehe dazu: Lichtblau, Albert: Unter Philosemitismusverdacht. Der Klezmerboom – Für nichtjüdische Musizierende erlaubt? In: Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Hrsg. v. Irene A. Diekmann u. Julius H. Schoeps. Berlin 2009. S. 623–651. 34 Ochse, Katharina. „What Could Be More Fruitful, More Healing, More Purifying?“ Representations of Jews in the German Media after 1989. In: Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature since 1989. Hrsg. v. Sander L. Gilman u. Karen Remmler. New York 1994. S. 113–129, hier S. 121. 35 Gruber, Virtually Jewish (wie Anm. 32). Siehe dazu außerdem Alexander Jungmanns Artikel in diesem Band, „Fremdbilder des Jüdischen – ein Berliner Hype und seine jüdischen Wahrnehmungen“.

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sehen, ob sie authentisch einen Juden spielen können. Er wählt für die Rolle des jüdischen KZ-Häftlings einen jüdischen Schauspieler aus, den Thomas Brasch wiederum mit einem jüdischen Schauspieler besetzt hat. Mit dieser Sequenz thematisiert und problematisiert Thomas Brasch einerseits die Frage der Rollenbesetzung und andererseits auch die Frage, was als typisch jüdisch wahrgenommen wird. Die Rollenbesetzung sollte unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit des Schauspielers im realen Leben funktionieren, was sie tatsächlich – wie das Beispiel eindrücklich zeigt – nicht tut: „In theory, the ethnicity of an actor or actress should be irrelevant to the role – acting, after all, is just that: acting – but broader ideological factors influence casting decisions, and these in turn become relevant to the film depiction of ethnic experience.“36 Aber welchen Witz erzählt nun Tabori als Schauspieler so überzeugend? Moshe, der weltberühmte Hollywoodregisseur, will heiraten. Sein Bruder, der Arzt, sagt: „Moshe, in Deinem Alter, Du bist 75. Wie alt ist Deine Braut?“ „Ja, sie ist 21.“ Sein Bruder sagt: „Ja, ist das nicht gefährlich? Du weißt, ein Infarkt in der Hochzeitsnacht … und so weiter.“ „Nu“, sagt der Moshe, „wenn sie stirbt, sie stirbt.“

Tabori spricht, während er den Witz erzählt, schnell und gleichmäßig, als würde er ihn bereits kennen. Er macht keine Pausen und versucht nicht die Pointe hervorzuheben. Er wirkt nicht bemüht. Beim Sprechen hat er einen Akzent und er erzählt nicht nur einen in seinem Thema und seiner Pointe jüdischen Witz, sondern seine Sprache ist, besonders in der Satzstellung, von einem Akzent gefärbt, der jiddisch anmutet. Er erzählt also den jüdischen Witz mit einer jüdischen Performance. Verdeutlichen lässt sich an dieser Konstellation, dass es sich hier um einen in gewisser Hinsicht selbstkritischen oder selbstironischen Witz handelt, da er sich auf die eigene Gruppe, jedoch nicht auf den Erzähler des Witzes bezieht: Wenn dieser vor dem bekannten jüdischen Hollywood-Regisseur den Witz einleitet mit „Moshe, der weltberühmte Hollywood-Regisseur“, dann bezieht sich das vielmehr auf Cornfield. Hier findet eine innerjüdische Abgrenzung statt. Diese gruppeninterne Abgrenzung sorgt dafür, dass der Erzähler des Witzes und die Gruppe, auf die die Pointe abhebt, nicht identisch sind. Folgt man Orings Argumentation, dass die Idee von jüdischem Humor untrennbar mit der Konzeption oder Vorstellung jüdischer Erfahrung und Geschichte als einer Leidensgeschichte verknüpft ist, so erfährt man dadurch viel

36 Rosenberg, Joel: Jewish Experience on Film. An American Overview. In: American Jewish Yearbook (1996). S. 3–50, hier S. 26.



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über das vorherrschende Bild von Jüdinnen und Juden. Die Betonung des spezifisch jüdischen Humors wird in dieser Argumentation zu mehr als der bloßen Unterscheidung von den Anderen, nämlich zum Festhalten am Bild der Juden als Opfer. Einerseits werden sie nicht aus dieser Sonderrolle der Opfer entlassen, andererseits erfolgt durch das gemeinsame, geteilte Lachen eine Solidarisierung mit ihnen und eine Reduktion der dazwischenliegenden Distanz. Es ist das Suchen nach Nähe zum Anderen, der aber dennoch oder gerade deshalb der Andere bleiben muss. Die Überblendung nach der Pointe des Witzes, die den von Tabori gespielten Schauspieler im Kostüm eines KZ-Häftlings sichtbar werden lässt, zeigt genau das: Der jüdische Schauspieler kann der Rolle des Opfers nicht entkommen, die Konzeption des jüdischen Humors ist unmittelbar und untrennbar mit dieser Opferrolle verbunden und lässt weder den Schauspieler in dem Film im Film, noch Tabori dieser Zuschreibung entkommen. Dieses Bild des Jüdischen ist und bleibt aktuell, so kann man die Szene lesen, weil es letztlich dem Wunsch nach einem exotisch-folkloristischen Juden entspricht. Die komplexe Verschränkung von Fremdzuschreibungen und Selbstbildern beeinflusst diese Reaktualisierung des Bildes insofern, als dass selbst jüdische Regisseure auf diese Zuschreibung reagieren müssen. Die Akzeptanz der Zuschreibung, die im Falle des jüdischen Humors nicht als eine eindeutig negativ konnotierte verstanden werden muss, stellt dabei eine mögliche Reaktion dar.

Literatur Ben-Amos, Dan: The „Myth“ of Jewish Humor. In: Western Folklore 32.2 (1973). S. 112–131. Davies, Christie: Exploring the Thesis of the Self-Deprecating Jewish Sense of Humor. In: Humor – International Journal of Humor Research 4.2 (1991). S. 189–209. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. 9. Aufl. Frankfurt/M. 2009. Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt/M. 1993. Gilman, Sander L./ Remmler, Karen (Hrsg.): Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature since 1989. New York 1994. Gruber, Ruth Ellen. Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe. Berkeley/Los Angeles 2002. Kuipers, Giselinde: Humor Styles and Symbolic Boundaries. In: Journal of Literary Theory 3.2 (2009). S. 219–239. Landmann, Salcia: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung. Olten 1961. Landmann, Salcia: Als sie noch lachten. Das war der jüdische Witz. München 1997. Lerman, Antony: Jewish Self-Hatred: Myth or Reality? Jewish Quarterly 210 (2008). http://www. jewishquarterly.org/issuearchive/article2366.html?articleid=432 (20. 2. 2012).

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 Lea Wohl von Haselberg

Lichtblau, Albert: Unter Philosemitismusverdacht. Der Klezmerboom – Für nichtjüdische Musizierende erlaubt? In: Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Hrsg. v. Irene A. Diekmann u. Julius H. Schoeps. Berlin 2009. S. 623–651. Ochse, Katharina. „What Could Be More Fruitful, More Healing, More Purifying?“ Representations of Jews in the German Media after 1989. In: Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature since 1989. Hrsg. v. Sander L. Gilman u. Karen Remmler. New York 1994. S. 113–129. Oring, Elliot: The People of the Joke. On the Conceptualiztion of a Jewish Humor. In: Western Folklore 42.4 (1983). S. 261–271. Rosenberg, Joel: Jewish Experience on Film. An American Overview. In: American Jewish Yearbook (1996). S. 3–50. Stratton, Jon: Coming Out Jewish. Constructing Ambivalent Identities. London 2000. Ziv, Avner: Introduction. In: Humor – International Journal of Humor Research 4.2 (1991). S. 145–148.

Filme Ein ganz gewöhnlicher Jude, DE, 2004/2005, Spielfilm, Regie: Oliver Hirschbiegel, 93 Min. Das Geheimnis des Golem, DE, 2004, TV-Spielfilm, Regie: Andreas Kleinert, 90 Min. Der Passagier – Welcome to Germany, BRD/CH/GB, 1987/1988, Spielfilm, Regie: Thomas Brasch, 103 Min. Der Schächter, DE, 2003, TV-Spielfilm, Regie: Jobst Oetzmann, 90 Min. Max Minsky und Ich, DE, 2006/2007, Spielfilm, Regie: Anna Justice, 99 Min. So ein Schlamassel, DE, 2009, TV-Spielfilm, Regie: Dirk Regel, 88 Min. Zores, DE, 2006, TV-Spielfilm, Regie: Anja Jacobs, 86 Min.

Alexander Jungmann

Fremdbilder des Jüdischen Ein Berliner Hype und seine jüdischen Wahrnehmungen Die Begeisterung für die jüdische Kultur ist umso größer, je weniger reale Juden vorhanden sind. Henryk M. Broder1 The three challenges that will confront them [Jews in Europe; A. J.] in the future are the pluralist democratic challenge, the multicultural challenge, and the Jewish presence inside Europe’s growing Jewish Space. Diana Pinto2

In meinem Beitrag möchte ich mich mit zweierlei beschäftigen: Zunächst sollen überwiegend touristisch und kommerziell motivierte Aneignungsweisen des Jüdischen, wie sie seit der ersten Dekade der wiedervereinigten Metropole Berlin als modischer Hype ,am historischen Ort‘ entstanden sind, in den Blick genommen werden. Hierfür greife ich auf eigene Beobachtungen vor Ort, journalistische Beiträge und frei zugängliche Internetauftritte zurück. In einem zweiten Abschnitt werden hierzu verschiedene Stimmen aus dem jüdischen Berlin präsentiert und deren jeweilige Positionierungen analysiert. Die empirische Basis hierfür besteht aus längeren narrativen Leitfadeninterviews. Diese führte ich im Rahmen meiner soziologischen Grundlagenarbeit Jüdisches Leben in Berlin mit in Gruppenaktivitäten der jüdischen Community an der Peripherie und außerhalb der jüdischen Gemeinde zu Berlin (JGB)3 engagierten Einzelpersonen zwischen 1999 und 2006.4 In einem explorativen Verfahren vor

1 Henryk M. Broder zit. nach Meike Wöhlert: Trendy Judentum. In: ZITTY 16 (1998). S. 14. 2 Pinto, Diana: The third pillar? Towards a European Jewish Identity. In: GOLEM 1 (1999). S. 37. 3 Ausgewählt wurde z. B. ein noch zu DDR-Zeiten in Ostberlin entstandener „Jüdischer Kulturverein“, die Homosexuellengruppe „Yachad“, ein „Israelischer Stammtisch“ oder die israelkritische „Nahostgruppe“. – Peripherie bezeichnet hier Gruppen, die nicht in die religiösen und sozialen Kernaufgaben der Gesamtgemeinde einbezogen sind. So trifft sich zwar der Jüdische Studentenbund oder der Israelische Stammtisch in Gemeinderäumen, beide erreichen aber auch Juden und Jüdinnen, die nicht in der Gemeinde Mitglied oder aktiv sind. 4 Jungmann, Alexander: Jüdisches Leben in Berlin. Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft. Bielefeld 2007.

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und während des Erhebungsprozesses wurden von mir gezielt Auskunftspersonen nach den Merkmalen unterschiedlicher Herkunft, religiöser Orientierung sowie nach verschiedenen innerjüdischen Tätigkeitsbereichen ausgewählt mit der Absicht maximaler Kontrastierung.5

Der Hype um den Davidstern in Berlin In Folge der Zuwanderung von weit über 100 000 Jüdinnen und Juden aus Osteuropa nach Deutschland sind wir seit nunmehr über 20 Jahren Zeugen eines beispiellosen und nicht minder spannenden Prozesses, des quantitativen wie qualitativen Wachstums hiesiger jüdischer Gemeinden und jüdischen Lebens überhaupt. Doch für das wachsende Feld allgemein als jüdisch wahrgenommener Kulturmanifestationen gilt: Längst nicht überall wo ,jüdisch draufsteht, ist auch jüdisch drin‘. Denn ebenfalls seit gut zwei Dekaden sind in Deutschland Versatzstücke jüdischer Kultur unübersehbar in Mode gekommen, durchaus vergleichbar mit anderen Ländern Europas.6 Eine spezifisch deutsche Note bekommt diese Tendenz hierzulande erst dadurch, dass sie Teil der Gegenwartskultur der Nachfahren des Täterkollektivs ist, die sich zugleich durch eine exzessive Gedenkkultur gegenüber den jüdischen Holocaustopfern auszeichnet.7 Als ein ubiquitäres hiesiges Indiz für die modische Aneignung jüdischer Residuen kann das von den USA ausgehende Revival der ursprünglich osteuropäischen Klezmer-Musik verstanden werden, das bereits in den frühen 1980erJahren noch das damalige Westdeutschland erreichte und ebenfalls mit einer landesspezifischen Besonderheit bis heute anhält: Wurde und wird Klezmer in den USA zu einem überwiegenden Teil von jüdischen Musikern für ein jüdisches Publikum gespielt, verhält es sich in der europäischen Klezmer-Hochburg Deutschland anders: Die Musiker sind – nicht zuletzt aus dem Fehlen einer gewachsenen jüdischen Klezmertradition heraus – wie auch ihr Publikum mehrheitlich nicht-

5 Genauere soziostrukturelle Angaben zu den Interviewten folgen im Eingangsteil des Abschnitts 2. Jüdische Wahrnehmungen des nichtjüdischen Hypes um den Davidstern. 6 Vgl. hierzu die Studie von Ruth Ellen Gruber: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe. Berkeley/Los Angeles 2002. 7 Der deutsch-jüdische Soziologe M. Bodemann spricht in diesem Zusammenhang von „Gedenk-Epidemie“. (Bodemann, Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996. S. 13.). Wie weit zwischen beiden Phänomen Wechselbeziehungen bestehen, muss an dieser Stelle unerörtert bleiben.



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jüdisch.8 Doch während im Fall des hiesigen Klezmer-Revivals offensichtlich ist, dass es sich bei den Klezmorim (Musikern) nicht mehr um osteuropäische Schtetl-Juden handelt, finden sich deutschlandweit, vor allem aber in Berlin, hinsichtlich heutiger jüdischer Lebenswelten viel uneindeutigere, vermeintlich jüdische Kulturmanifestationen: Gemeint sind touristisch und kommerziell bestimmte Attraktionen und Anlaufpunkte am ,historischen Ort‘ im ,jüdischen Berlin‘, wie insbesondere die Gegend um die Neue Synagoge in der östlichen Innenstadt. Gemeinsam ist ihnen, dass trotz einer im Weiteren näher beleuchteten jüdischen Aura weitgehend auf inhaltliche Bezüge zu den konkreten sozialen Lebenswelten früherer und vor allem heutiger Jüdinnen und Juden in Berlin verzichtet wird. Für diese Phänomene habe ich summarisch die Bezeichnung „nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen“ gewählt. Der Begriff der Inszenierung bedarf einer genaueren Differenzierung. Seine Verwendung erfolgt hier nicht pejorativ: So sind alle Formen der Dar- und Ausstellung vergangener Kulturleistungen Inszenierungen, von wem und für welchen Zweck auch immer. Die Requisiten solcher stadträumlichen Inszenierungen bestehen aus einer Ansammlung von Lokalen, Bars, einem Theater mit jüdischen Stücken und Musikdarbietungen, Speisen, Musik-CDs, Ritualgegenständen, Bagels usw., die vielfach einen ,jüdischen Touc‘ haben, ohne jedoch originär jüdisch zu sein. Dieser Effekt stellt sich umso mehr ein, wenn, wie beispielbezogen etwa an dem Hacke-schen Hoftheater noch zu zeigen sein wird, die Übergänge zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Sphäre fließend sind. Touristisch und kommerziell motivierte modische Aneignungsformen jüdischer Kultur in Berlin oder anderswo sind nicht minder legitim wie jede/alle anderen entsprechend motivierten Verwertungen im Kulturbereich auch. Dies gilt, unbenommen der hier im Weiteren erfolgenden Darstellung und Diskussion spezifischer Verflachungen und Verfälschungen. In der Summe repräsentieren diese modischen Aneignungsformen eine Art „Hype um den Davidstern“.9 Er zentriert sich räumlich in der westlichen Span-

8 Rita Ottens und Joel Rubin weisen in ihrem Standardwerk: Klezmermusik, München [u. a.] 1999, nach, dass die lange Klezmer-Tradition insbesondere aus der jüdischen Massenauswanderung aus dem zaristischen Russland in die Vereinigten Staaten fußt (insbesondere d. Kap. „Klezmer-Musik in Amerika“, S. 179–284. 9 Die Bezeichnung verdanke ich Meike Wöhlert mit ihrer gleichnamigen Titelgeschichte im Berliner Stadtmagazin ZITTY 16 (1998). S. 14–19. Die modische, massenkompatible Beschäftigung mit jüdischer Thematik in Berlin wurde schlagartig zu einem gewissen Medienereignis, als das Berliner Stadtmagazin mit einem kubistisch verfremdeten Davidstern in konzentrischen Kreisen und der Überschrift „Trendy Judentum. Der Hype um den Davidstern“

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dauer Vorstadt um die goldene Kuppel der Neuen Synagoge im östlichen Zentrum der Stadt. Die das Stadtgrau überstrahlende bauliche Ikone des Erinnerns an das jüdische Berlin der Vor-NS-Zeit in der Oranienburger Straße dient dabei als Fixpunkt. Doch auch von diesem einstmals größten jüdischen Gotteshaus Deutschland ist nur noch ein teilrekonstruierter Torso mit Schaufassade und winzigem Gebetsraum existent und bietet damit eine die vermeintliche Authentizität des Ortes betonende Hintergrundkulisse für die im Weiteren noch näher beschriebenen nichtjüdischen Inszenierungen. Und vor Ort befindliche Einrichtungen der jüdischen Gemeinde und anderer jüdischer Organisationen dienen bestenfalls als Staffage oder werden im touristisch geprägten Treiben als zu unspektakulär gar nicht erst wahrgenommen. Dabei firmiert der Hype in der ,In-Gegen‘“ unter Schlagworten wie ,Jüdisches Berlin‘, ,Jüdisches Viertel‘ oder ,Scheunenviertel‘. Über die falsche Verwendung insbesondere des letzten Reizworts im Rahmen des o. g. Hypes wird im Folgenden in einem Exkurs noch näher eingegangen. Dabei soll mit dem Beitrag gezeigt werden, dass uneindeutige Übergänge zwischen jüdischer Vergangenheit und Gegenwart auf Gebäudeebene sowie stadträumliche Projektionen für das Gelingen der hier behandelten Inszenierungen offenbar besonders förderlich sind. Die jüdische Berliner Publizistin Iris Weiss, die seit 1995 selbst Führungen zu jüdischen Themen in Berlin anbietet, beschrieb und kritisierte entsprechende Beobachtungen in der Oranienburger Straße und im Umfeld der Neuen Synagoge bereits vor Jahren drastisch als „Jewish Disneyland“: Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein und so für viele eine Annäherung an jüdische Geschichte wegen der hier noch sichtbaren jüdischen Orte (Synagogenruine, Schule, Friedhof ...) zu erleichtern. – Zunehmend tauchten auch Phänomene auf, die vorgaukelten, „jüdisch“ zu sein […]. – Zu den „Zutaten“ dieses Potpourris gehören Restaurants wie das „Mendelssohn“, in dem regelmäßig Schweinefleischgerichte mit Sahnesoße serviert werden, überfüllte Klezmerkonzerte […]. Abgerundet wird das Angebot von einer Vielzahl von Rundgängen. Auf Nachfrage stellt sich häufig heraus, dass die Veranstalter keinen Juden persönlich kennen und es auch nicht für nötig halten, irgendeine Form jüdischen Lebens kennenzulernen. – Kritisch muss vermerkt werden, dass gelegentlich auch Juden bei „Jewish Disneyland“ mitspielen, […] nicht nur in Berlin.10

titelte. Die Titelgeschichte und die Aussagen der darin zu Wort kommende Berliner Jüdinnen und Juden können neben ihrem Informationsgehalt für die überwiegend nichtjüdische Leserschaft des Magazins zugleich auch als ein frühes Zeugnis einer kritischen Haltung von Teilen eines judaisierenden Milieus wie von örtlichen jüdischen Stimmen gegenüber dem Hype gedeutet werden. 10 Weiss, Iris: Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des „Jüdischen“. In: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 3 (2000). S. 43–44. Unter dieser Überschrift hielt die Autorin



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Es wäre sicher lohnenswert, mit künftigen Forschungsarbeiten genauer zu untersuchen, in wieweit die populäre mehrheitsgesellschaftliche, aber auch jüdische Verwendung der Narrative ,Renaissance‘ oder ,Revitalisierung‘ jüdischen Lebens in Berlin unbewusst oder bewusst auf Hype-Manifestationen Bezug nimmt.11 Michal Bodemann hatte jedenfalls bereits Mitte der 1990er-Jahre klischeebehaftete Bilder des Jüdischen in seinen Reflexionen über das deutsche „Gedächtnistheater“ (Buchtitel) wahrgenommen und dabei vor allem die mit Stereotypen arbeitenden medialen Darstellungsweisen von Juden kritisiert: In deutschen Darstellungen stehen jedoch meist nicht jüdisches kulturelles oder gemeinschaftliches Leben oder die Individualität der einzelnen jüdischen Person im Vordergrund. Vielmehr werden Juden als Genus repräsentiert, […] jüdische Individuen in ein Korsett des Bedürfnisses nach Stereotypen gezwängt. […] Als Ort gesellschaftlicher und politischer Orientierung dient er [der jüdische Körper; A. J.] der exotischen Begierde, als Medium wiederum dient er der Kommunikation als Kafkasche Schreibtafel.12

Bis hierher sollte deutlich geworden sein, dass die hier thematisierte Hype-Kultur in der Shoah-bedingten, jahrzehntelangen Abwesenheit von lebendigem und allgemein wahrnehmbarem jüdischen Lebenswelten im öffentlichen Raum und dem hieraus resultierenden geringen alltäglichen Austausch zwischen Juden und Nichtjuden gründen. Auf zwei oben bereits erwähnte Punkte möchte ich an dieser Stelle noch genauer eingehen, um die Komplexität des hier geschilderten Themas an der Schnittstelle zwischen jüdischen und nichtjüdischen Besetzungen des „Jewish Space“ (D. Pinto) näher zu illustrieren: das Scheunenviertel und das Hackesche Hoftheater.

deutschlandweit auch öffentliche Vorträge. – Eine vergleichbar ironisch-provokante Analogie wählte der Berliner Publizist Thomas Lackmann für seine Publikation über die Entstehung des Jüdischen Museums Berlin: Lackmann, Thomas: Jewrassic Park. Wie baut man (k)ein Jüdisches Museum. Berlin 2000. 11 Die beiden Begriffe und ihre Bewertung aus der Perspektive der heutigen jüdischen Community in Berlin wurden von mir ausführlich im Kap. III. 1. „Renaissance und Revitalisierung“ meiner Gesamtuntersuchung analysiert; vgl. Jungmann, Jüdisches Leben (wie Anm. 4), S. 181–250. 12 Bodemann, Gedächtnistheater (wie Anm. 7), S. 11–12.

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Exkurs I: Das Scheunenviertel – Renaissance eines Etikettenschwindels unter neuen Vorzeichen Eine besondere Bedeutung im Zuge des Hypes um den Davidstern kommt dem unter touristischen wie auch kommerziellen Gesichtspunkten neu aufgeladenen Schlagwort ,Scheunenviertel‘ zu. Tatsächlich wird unter diesem Etikett heute aus Versatzstücken der Sozialhistorie und urbaner Legendenbildung bereits zum zweiten Mal eine Umdeutung betrieben. Diese ist der Motivlage nach völlig unterschieden von einer vormaligen, allerdings stadträumlich vergleichbaren ersten Umetikettierung bereits vor über sieben Jahrzehnten während des Nationalsozialismus. Allgemein gesprochen wurden und werden mit dem Reizwort ,Scheunenviertel‘ ausgewählte Stadtquartiere außerhalb des historischen Scheunenviertels mit Klischees über dessen vormalige jüdische Bevölkerung in Verbindung gebracht. Um beide Umdeutungen kenntlich zu machen, bedarf es eines historischen Exkurses: Ursprünglich waren seit dem späten 17. Jahrhundert in Folge einer neuen Feuerverordnung vor den Festungsmauern der Stadt 27 Scheunen errichtet worden. Diese befanden sich im östlichsten Teil der Spandauer Vorstadt13, bevor die Gegend (einst eine Handvoll kürzerer, paralleler Straßenzüge) seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Wohnviertel kleiner Leute wurde. Mit dem explosionsartigen Anstieg der Bevölkerung sammelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier und in den westlich angrenzenden Straßen mehr und mehr arme Zuwanderer, Kleinhändler, bald auch Kleinkriminelle, Prostituierte und Bettler. In mehreren Schüben wanderten in Folge der zaristischen Pogrome im Gebiet des heutigen Russlands, Polen und Litauens im späten 19. Jahrhundert sowie nach dem Ersten Weltkrieg insgesamt 40  000 osteuropäische Juden ein. Für das Berliner Bürgertum waren sie, bereits durch Aussehen und ihrer jiddischen Sprache kenntlich, ungeliebte Fremde aus dem ,Osten‘. Diesem Ressentiment hingen auch weite Teile des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums der Stadt an, welches aus berechtigter Furcht vor Antisemitismus nicht mit der ungeliebten ,Verwandtschaft‘ aus dem Osten assoziiert werden wollte.14 (Siehe hierzu den Beitrag in diesem Band von Paula Wojcik, Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Perspektiven in der Konzeption des Jüdischen in polnisch- und

13 Eine Stadterweiterung nördlich des mittelalterlichen Berlins im heutigen Bezirk Mitte. 14 Vgl. hierzu Frajman, Michael/Roth, Andrew: Das jüdische Berlin heute. Ein Wegweiser. Berlin 1999. S. 174–175 sowie Rebiger, Bill: Das jüdische Berlin. Berlin 2000. S. 186–187.



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deutschsprachiger Gegenwartsliteratur.) „,Scheunenviertel‘ wurde zum Synonym für sozialen Abstieg und Elend.“15 Nach Total-Abriss und einer Neubebauung (u. a. der Volksbühne) im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik deportierte der NS-Staat nach jahrelangem Polizeiterror die Reste der vormaligen jüdischen Bevölkerung des Viertels: Im Oktober 1938, kurz vor der Reichspogromnacht, wurden die letzten ca. 10 000 aus dem ehemals zu Russland gehörenden Polen eingewanderten jüdischen Bewohner nach Polen ausgewiesen. Im Anschluss wurde von den Nazis bewusst die gesamte Spandauer Vorstadt und damit insbesondere die noch verbliebene alteingesessene jüdische Bevölkerung mit dem stigmatisierenden Begriff ,Scheunenviertel‘ belegt, bevor auch sie in die Vernichtungslager des Ostens deportiert wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die westliche Spandauer Vorstadt zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahrzehnten bevorzugte Wohngegend der weitgehend assimilierten und sich seit dem Kaiserreich überwiegend als Deutsche verstehenden Berliner Juden war. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es sich zum religiösen sowie institutionellem Zentrum der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands entwickelt.16 Hier, zwischen Hackeschem Markt im Osten und Oranienburger Tor im Westen, um „die Oranienburger Straße […] befand sich der gutbürgerliche, ja reiche Teil der Spandauer Vorstadt“17. Die sozialen Unterschiede zwischen beiden Vierteln hätten kaum größer sein können! – Als sich die späte DDR-Führung wenige Jahre vor der Wende schließlich zur Teilrekonstruktion der Kriegsruine der Neuen Synagoge und der Einrichtung einer baulich angegliederten Forschungseinrichtung (Centrum Judaicum) entschloss, war auch hier, wie zuvor im historischen Scheunenviertel, kaum mehr etwas von den jüdischen Spuren übrig geblieben, das einstige Unwort, außer bei der älteren Bevölkerung mit Vorkriegserinnerungen, nahezu vergessen. Zeitgleich mit vielen weiteren Um- und Abbrüchen im Berlin der Nachwendeund Wiedervereinigungszeit wurde das Schlagwort ,Scheunenviertel‘ seit Mitte

15 Kratz, Peter/Steglich, Ulrike: Das Falsche Scheunenviertel. Ein Vorstadtverführer. Berlin 1997. S. 205. Die Halbwelt dieser Gegend war im Berlin der Weimarer Republik verrufen und legendär, übte zugleich aber auf Intellektuelle und Literaten wie etwa Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Heinrich Mann eine gewisse Faszination aus, auch jüdische Sozialisten und Linkszionisten wie Martin Buber, Gustav Landauer und Gershom Scholem waren hier in einem jüdischen Lehrhaus tätig. 16 Neben der o. g. Neuen Synagoge (1866), dem seinerzeit größten und prächtigsten Bau des deutschen Reformjudentums, und dem jüdischen Gemeindezentrum befanden sich hier allein mehr als 100 jüdische soziale und Bildungseinrichtungen; vgl. Eckhard, Ulrich/Nachama, Andreas: Jüdische Orte in Berlin. Berlin 1996. S. 9. 17 Eckhardt/Nachama, Jüdische Orte (wie Anm. 16), S. 7.

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der 1990er-Jahre ein weiteres Mal als falsche Bezeichnung für die westliche Spandauer Straße publik: Die neuerliche Umetikettierung geschah nun aber aus völlig gegensätzlichen Motiven als bei den Nazis, nämlich zur Wertsteigerung einer Gegend, zugleich ein Effekt und ein Verstärker des beschriebenen Hypes um den Davidstern. Ausgangspunkt hierfür war, dass zunächst die Oranienburger Straße und Stück für Stück auch die übrige westliche Spandauer Vorstadt von Künstlern und einer sich nach Osten aufmachenden Kneipenszene entdeckt wurde und sich rasch zum ,In-Viertel‘ entwickelte. Mit der damit einsetzenden touristischen Durchdringung der Gegend wurde das vormalige Unwort ,Scheunenviertel‘ mit seiner Bedeutungslatenz ,vormaliges ostjüdisches Berlin‘ in den Dienst des geschilderten Hypes genommen. Auch wenn dieser seinen Höhepunkt offensichtlich überschritten hat, hält die irreführende Etikettierung der Gegend im Zeichen überwiegend nichtjüdisch inszenierter jüdischer Exotik und originär jüdischer baulicher Relikte erstaunlicher Weise bis auf den heutigen Tag an. Das soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden: Anfänglich handelte es sich noch um Umbenennungen von aus der DDR stammenden Einrichtungen, nicht am Ort, aber immerhin in unmittelbarer Nachbarschaft, südwestlich des ehemaligen Scheunenviertels: Eine 1987, noch zu DDR-Zeiten gegründete Galerie an der Neuen Schönhauser Straße wurde durch die Unwissenheit eines ihrer Mitarbeiter 1991 für zwei Jahre in „Galerie im Scheunenviertel“ umbenannt, bevor die falsche Bezeichnung 1993 in „Galerie am Scheunenviertel“ korrigiert wurde. Die Galerie existierte bis Juli 2001.18 Um die Ecke, in der Weinmeisterstraße wurde aus einer aus DDR-Zeiten stammenden Fischbratküche in den frühen 1990er-Jahren die Kneipe „Zum Scheunenviertel“.19 Wenig später wurde auch wieder die ein Kilometer weiter vom ehemaligen historischen Armenviertel entfernte westliche Spandauer Vorstadt mit dem nun positiv konnotierten ,Label‘ versehen. Dort angesiedelte alteingesessene wie neueröffnete Einrichtungen schmückten sich mit dem Begriff: „Selbst das Christliche Hospiz in der Auguststraße konnte nicht widerstehen, mit dem Reizwort (im doppelten Sinne) in einem seiner Prospekte zu kokettieren. Wir im Scheunenviertel.“20

18 Kratz/Steglich, Scheunenviertel (wie Anm. 15), S. 188–189; Online Now!: http://www. galerie.de/berlin.html (14. 9. 2011). 19 Kratz/Steglich, Scheunenviertel (wie Anm. 15), S. 187. 20 Kratz/Steglich, Scheunenviertel (wie Anm. 15), S. 209.



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In der Oranienburger Straße wurde in einem Altbau westlich der Neuen Synagoge 1998 ein Hotel „Am Scheunenviertel“ eingerichtet und erst nach einem Besitzerwechsel im Jahr 2010 in „Hotel 38“ umbenannt.21 Auch heute noch ziert der große Schriftzug „am Scheunenviertel“ die frisch restaurierte Fassade. Ein ebenfalls aktuelles Beispiele der Falschetikettierungen ,Scheunenviertel‘ ist das immerhin offizielle Hauptstadtportal des Landes Berlin: Berlin.de. Hier wird unter dem Stichwort ,Scheunenviertel‘ mit dem Text eines Berlin-Reiseführers von 1997 in drei knappen Abschnitten zwar eine stimmige Darstellung der Geschichte und Lokalisierung des ehemaligen Armenviertels geliefert. Allerdings ist die Seite mit einem Luftbild des Wahrzeichens der westlichen Spandauer Vorstadt, der neuen Synagoge, illustriert. Im letzten Abschnitt werden mit derselben ,Logik‘ die touristischen Anlaufpunkte dieser Gegend, Sophienstraße und Oranienburger Straße, ebenfalls fälschlich dem Scheunenviertel zugeordnet.22.

Exkurs II: Das Hackesche Hoftheater Das Hackesche Hoftheater soll im Folgenden als ein herausragendes Beispiel für den fließenden Übergang zwischen nichtjüdischen Inszenierungen des Jüdischen und Inszenierungen eines jüdischen kulturellen Erbes von jüdischer Seite sowie heutigen jüdischen Kulturmanifestationen vorgestellt werden. Zwischen 1993 und 2006 war das Kulturprojekt Hackesches Hoftheater unter der Leitung seines Begründers, Burkhardt Seidenmann, ein verlässlicher Anlaufpunkt in Sachen jüdisch-jiddischer Kultur für Besucher der Spandauer Vorstadt.23 Fast jeden Abend wurde hier jiddisches Theater und osteuropäisch-jüdische, d.  h. vor allem Klezmermusik von Juden wie Nichtjuden gespielt.24 Neben den fest

21 Hotel 38: http://www.hotelas.com (l4. 9. 2011) und mündliche Informationen von der heutigen Besitzerin. 22  Stengel, Mathias: Scheunenviertel: http://www.berlin.de/orte/sehenswuerdigkeiten/ scheunenviertel/ (14. 9. 2011). 23 Burkhart Seidenmann, nach Eigenaussagen ein Nichtjude mit jüdischen Wurzeln, betrieb zu DDR-Zeiten fast 25 Jahre lang nicht weit von den Hackeschen Höfen in der westlichen Spandauer Vorstadt ein Pantomimentheater. Diese erste Off-Bühne im Osten, das Pantomimenensemble, zeitweise organisatorisch dem Ostberliner Deutschen Theater angegliedert, war die Keimzelle des späteren Hackeschen Hoftheaters. Im Zuge dessen stieß Seidenmann auf die in dieser Zeit in beiden Teilen Deutschlands noch kaum wiederentdeckte jiddische Musik- und Theaterkultur (Informationen von B. Seidenmann gegenüber dem Autor). 24 Die jüdischen Künstler und Sänger Jalda Rebling, Karsten Troyke und Mark Aizikovitsch standen hier regelmäßig auf der Bühne.

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engagierten Künstlern waren viele bedeutende Klezmergruppen aus dem In- und Ausland zu Gast. Außerdem fanden hier Lesungen und Filmvorführungen statt, die den Bogen zu heutigem jüdischen Leben und jüdischer Gegenwartskultur spannten. Die Kleinkunstbühne befand sich von Anbeginn an inmitten der, nach der aufwendigen Sanierung von 1994 bis 1996 zum Berliner Jugendstil-Wahrzeichen avancierten, berühmten Hackeschen Höfe, einem aus acht Höfen bestehendem labyrinthischen Baukomplex. Geworben wurde auf dem Eingangsschild und in Programmen unter dem Namen mit dem Hinweis „am historischen Ort“ zu spielen. Dies dürfte ein Hinweis darauf sein, dass sich in der Nähe der heutigen Spielstätte im Übergangsbereich zwischen der deutsch-jüdisch geprägten Spandauer Vorstadt und den ,Westausläufern‘ des von osteuropäischen Juden bewohnten Scheunenviertel tatsächlich ein jiddischsprachiges Theater befand.25 Unbenommen dessen waren in dem ,gutbürgerlichen‘, seit seiner Errichtung gleichsam Wohn-, Werkstatt- und Veranstaltungsbereiche beherbergenden weit verzweigten Hofkomplex noch unmittelbar vor der NS-Verfolgung mehr als ein Viertel der Mieter jüdisch.26 Nicht zuletzt auf Grund seiner exponierten Lage in den seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zur touristischen Attraktion aufgestiegenen Hackeschen Höfen – woran das Theater sicherlich seinen Anteil hatte – erlangte es rasch den Platz als wichtigster Spielort für Klezmerkonzerte und jiddische Theaterstücke in Berlin. Hierfür stand der Versuch von jüdischen wie nichtjüdischen Künstlern, der an dieser Spielstätte nahezu allabendlich vorgetragenen jiddischsprachigen Theater- und Musikkultur überwiegend mit dem Anspruch auf weitmögliche Werktreue und Authentizität und ohne Effekthaschereien gerecht zu werden. Eine gewisse Ambivalenz und zugleich Paradoxie bestand von Anfang an darin, dass die Kleinkunstbühne damit ungewollt eine tragende Rolle als Stichwortgeberin und Projektionsfläche für den oben geschilderten Hype um den Davidstern einnahm, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge. So musste das Pionier- und Vorzeigeprojekt des Viertels Anfang 2006 in Folge der gestiegenen Mieten im Hofkomplex schließen. In dieser ersten Annäherungen an das Themenfeld sollte deutlich geworden sein, dass die Metropole einen hervorragenden Resonanzkörper für ganz disparate Erwartungen und Assoziationen gegenüber einem ,jüdischen Berlin‘ abgibt und sich damit par excellence für nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen eignet.

25 Seidenmann nahm im Gespräch mir gegenüber ausdrücklich Bezug auf dieses Theater als ein frühes Vorgängerprojekt seiner eigenen Kleinkunstbühne. 26 Eckhardt/Nachama, Jüdische Orte (wie Anm. 16), S. 19.



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Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich konstatieren, dass die zahlreichen Wechsel der Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts, die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, die Teilung und schließlich die Wiedervereinigung eine Fülle an Traditionsbrüchen sowie „Gleichzeitigkeit(en) des Ungleichzeitigen“ in die Stadttopografie Berlins eingeschrieben haben,27 wie vielleicht nirgendwo sonst in Europa. Doch genau dadurch können Metropolen überhaupt und Berlin bevorzugt zur begehrten Projektionsfläche ganz unterschiedlicher Hypes und Kulturevents werden.28 Darüber hinaus befanden sich vor allem in der historischen Mitte und in Altbauquartieren im Ostteil der Stadt bis in die 1990er-Jahre hinein im Sinne einer touristischen Vermarktung noch weitgehend unerschlossene und entwickelbare Stadträume. Konkret auf den Hype um den Davidstern bezogen lässt sich in Berlin – in Deutschland einzigartig – eine auch touristisch sehr gut verwertbare geschichtsträchtige Konstellation ausmachen: Einerseits ist die ehemalige und gegenwärtig von Neuem wieder deutsche Hauptstadt seit über 150 Jahren das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland – wenn auch im Vergleich mit der Vor-NS-Zeit auf bescheidenem Niveau. Aus beidem bedient sich die hier thematisierte berlinspezifische Hype-Kultur. Andererseits wird die Metropole seit der Wiedervereinigung aber auch als die ehemalige Schaltzentrale der europaweiten Verfolgung und Vernichtung der Juden während der NS-Zeit wahrgenommen. Auf dieser Wahrnehmung fußt eine andere Konzeption Berlins: die Hauptstadt der deutschen Gedenkkultur an die nationalsozialistische Verbrechen. Für beides steht ein großer Fundus an historisch aufgeladenen Orten und symbolträchtigen Gebäuden bereit, um Benjamins Notiz eines Zitates von Ferdinand Lion aus seinem Passagenwerk aufzugreifen: „Dinge, die in den politischen Ereignissen nicht oder kaum zum Ausdruck kommen, entfalten sich in den Städten, sie sind ein feinstes Instrument, empfindlich trotz ihrer Steinschwere […] für die lebendigen historischen Luftschwingung.“29 Es gibt einige Hinweise darauf, dass der ,Hype um den Davidstern‘ seit einigen Jahren seinen Höhepunkt überschritten hat: Längst sind viele seiner Accessoires

27 Den Gedanken der Einschreibung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in die moderne Großstadt verdanke ich Walter Benjamin, dessen eigene Theoriebildung immer wieder um diesen Topos kreiste, wie sich an vielen Stellen seines Passagenwerks belegen lässt (s. u. das Zitat zur Fußnote 29). – Der Begriff Ungleichzeitigkeit geht ursprünglich auf Ernst Bloch zurück, einem frühen Weggefährten Benjamins und dessen Theoriebildung. 28 Hier sei nur beispielhaft Berlins Rolle als Projektionsfläche für bestimmte Massen-Events als Raverstadt (Love Parade) als Homostadt (Christopher Street Day) oder als Multi-Kulti-Stadt (Karneval der Kulturen) erwähnt. 29 Ferdinand Lion zit. nach Walter Benjamin: Gesammelte Schriften V 1, Frankfurt/M. 1982. S. 546.

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schon wieder aus dem Stadtbild verschwunden wie Kneipen, Hotels, das Hoftheater oder bestimmte Speisen. Trotzdem wird uns das sich möglicherweise in den Ausprägungsformen und Ausmaß wandelnde Phänomen nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen sicher noch länger erhalten bleiben.

Jüdische Wahrnehmungen der nichtjüdischen Hypes um den Davidstern Im Rahmen meiner Gesamtuntersuchung zu heutigem jüdischen Lebens in Berlin erschien es mir sinnvoll, in jüdischen Gruppenaktivitäten an der Peripherie und außerhalb der Berliner jüdischen Einheitsgemeinde engagierte Jüdinnen und Juden danach zu befragen, ob und wie sie die beschrieben Inszenierungen des Jüdischen und den Hype um den Davidstern von nichtjüdischer Seite wahrnehmen. Es wurden 23 Personen in längeren narrativen Leitfrageninterviews befragt. Gemeinsam war allen Interviewten, dass sie: –– im halachischen Sinne Juden30; –– gebürtige Berlinerinnen und Berliner oder mindestens seit mehreren Jahren in der Stadt lebend; –– in einer jüdischen Gruppenaktivität am Rand oder außerhalb der JGB maßgeblich engagiert sind. Weitere Eigenschaften sind: –– die meisten sind in der mittleren Altersgruppe zwischen 20 und 50 Jahre alt; –– es wurden ebenso viele Männer wie Frauen interviewt;31 –– unter den Befragten sind sowohl religiös Orthodoxe, Sephardische, Konservative, Altliberale sowie Progressive bzw. Egalitäre und Säkulare; –– die Interviewten stammen aus dem früheren Westdeutschland und Westberlin, der DDR und Ostberlin, der SU und den GUS-Staaten, aus Westeuropa, Israel sowie aus den USA.

30 Dies bedeutet Abkömmlinge einer jüdischen Mutter oder anerkannte Konvertiten. (Zu dieser Problematik siehe Ruth Zeiferts Beitrag in diesem Band „Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/nichtjüdischen Doppelperspektive von ‚Vaterjuden‘“.) 31 Um die Anonymität in der überschaubaren jüdischen Community Berlins sicherzustellen, wird hier durchgängig die neutrale Beschreibungsform als Person oder die Endung „/-in(nen)“ für beide Geschlechter verwendet.



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Alle Interviewten wurden zum Themenbereich nichtjüdischer Hype/-Inszenierungen befragt, wobei sich etwa die Hälfte der Befragten zum Hype äußerte. Auf Grund der Fülle an Antworten können hier lediglich die das Meinungsspektrum repräsentierenden Schlüsselaussagen wiedergegeben werden.32

Plurale jüdische Blicke auf den Hype um den Davidstern Mein Interesse an der Sicht der befragten innerjüdisch engagierten Jüdinnen und Juden im Themenfeld orientierte sich an zwei Einzelfragen: einerseits auf deren Einschätzung der Auswirkungen des Hypes auf mit ihm konfrontierte Nichtjuden (2.1.1) und andererseits auf die örtliche jüdische Community (2.1.2.).

Bewertung des Hypes und seiner Auswirkungen auf Nichtjuden Eine Einstiegsfrage zum Themenfeld zielte darauf ab, ob die Befragten den Hype und die entsprechenden Inszenierungen in Berlin überhaupt als solche wahrnehmen. Fünf Gesprächspartner/-innen äußerten sich umfassender, davon die meisten dezidiert kritisch zu den Wirkungsweisen und Effekten der Hype-Phänomene: Im jüdischen Kulturverein aktive, orthodox orientierte, aus Ostberlin stammende Person (P 1) Neben dem hype-bedingten quantitativ wie qualitativ von der nichtjüdischen Öffentlichkeit überschätzten Ausmaß jüdischen Lebens, würde der Hype von der Öffentlichkeit und den Medien fälschlicherweise als Beleg für ein auflebendes jüdisches Leben wahrgenommen, wie sie konstatiert: „[…] dieser Unsinn, der auch immer in der Zeitung steht: ,das neuerstandene jüdische Leben in der Oranienburger Straße.‘“ Eine im Reformjudentum administrativ tätige, aus Westdeutschland stammende Person (P 2) Ihre inhaltliche Kritik macht sie daran fest, dass die in den Jahrzehnten vor 1933 weit fortgeschrittene jüdische Assimilation in Deutschland ebenso ausgeblendet

32 Zur einfacheren Zuordnung werden hier angeführte und zitierte Gesprächspartner/-innen in der Reihenfolge ihrer Nennung nummeriert.

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werde33 wie die Tatsache der ablehnenden Haltung des Gros der hiesigen Juden gegenüber den damals in Berlin lebenden Ostjuden: „Das ist auch das Fatale jetzt in Berlin, da in der Oranienburger Straße oft jüdische Kultur mit jiddischer Kultur verwechselt wird und etwas bemüht wird, was hier nie originär war. Es gab zwar Ostjuden in Berlin ständig, aber als nicht wohlgelittene Minderheit, und der Jude im Charlottenburger Westend war nun mal Mittelständler.“ Zur hype-bedingten Klischeebildung und Exotismus bemerkt sie kritisch: „Natürlich ist das Jüdische ganz unspektakulär, weil man keinen visuellen Unterschied hat.“ Diese schlichte Realität brächte allerdings keine touristischen Attraktionen hervor. In deren Bereitstellung gehe es also um das Erfinden eines nachträglichen Kolorits. In einer israelkritischen Nahostgruppe aktive, religiös säkulare, aus Ostberlin stammende Person (P 3) Die auf Grund ihrer religiös säkularen und politisch ausgesprochen israelkritischen Ausrichtung außerhalb der jüdischen Gemeinde stehende Person stellt ins Zentrum ihres Statements die Kritik: „Es gibt in dem Sinne gar kein jüdisches Leben. Also gerade um die Oranienburger, […] das ist für Touristen.“ Heutiges jüdisches Leben in Berlin besäße demnach keine einheitliche lebensweltliche Verortung etwa durch ein mehrheitlich jüdisches Wohnviertel mehr. Wohnen mache sich auch bei Juden viel mehr an sozialem Status als an jüdischer Zugehörigkeit fest. Wo solches existiere, wie etwa hiervon um die Ecke in der Jüdischen Oberschule, fände dies eingesperrt hinter Sicherheitszäunen statt. Da es auch kaum eine Infrastruktur einer jüdischen Alltagskultur (wie etwa bei einigen metropolitanen Einwanderungskulturen) mit einer Häufung von Geschäften, Kneipen und alltäglichen Dienstleistungen gäbe, hält die Person I. Weiss’ Begriff „Jewish Disneyland“ für eine treffende Bezeichnung der kritisierten Hype-Phänomene. Konservativ bis altliberal orientierte, im israelischen Stammtisch aktive Person (P 4) Auch wenn die Person sich nicht wie die anderen bisher in diesem MeinungsCluster angeführten aus Deutschland stammenden Stichwortgeber/-innen differenziert und ausführlich zu Hype-Phänomenen äußert, zeigt sie durchaus Verständnis für die Hype-Phänomene. Auf die Frage nach ihrer Einschätzung des

33 Zur Illustration wählt P 2 das ihr bekannte Beispiel der internen Diskussion in der früheren jüdischen Abteilung des Berlin-Museums in der Zeit vor der Neueröffnung 2001 darüber, ob man Fotos jüdischer Wohnzimmer in Berlin aus der Kaiserzeit zeigen sollte, da sich auf ihnen keine jüdischen Details finden ließen: Die Museumsmitarbeiter/-innen mutmaßten laut der Gesprächspartnerin, dass sich auf den historischen Aufnahmen das Gebetbuch wahrscheinlich im Schrank, der Leuchter hinter der Tür befand!



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Hypes und der Tatsache, dass die Mehrheit der Klezmermusiker in Deutschland nichtjüdisch seien, antwortet sie entschieden: „Das ist o. k. Ist doch legitim, muss ja auch nicht jüdisch sein.“ In ihrer dem Hype gegenüber gelassenen Einstellung sieht sie sich offenbar dadurch bestärkt, dass sie in der Metropole Wachstumstendenzen originär jüdischer Aktivitäten wahrnimmt, zu denen sie ,ihren‘ Stammtisch zählt. Eher säkulare, an verschiedenen jüdischen Kultur- und Kunstprojekten beteiligte USA- bzw. New-York-stämmige Person (P 5) Auf einen – wie ich finde – hochinteressanten Aspekt macht die kulturschaffende Person aufmerksam. So reflektiert sie, sicher nicht unbenommen ihrer biografisch bedingten außereuropäischen Perspektive als aus New York Stammende34, das Faktum, dass es sich bei dem hier erörterten nichtjüdischen Hype offensichtlich um kein nur in Deutschland vorhandenes Phänomen handeln würde. Vielmehr sollte der Hype über Deutschland hinaus als Teil eines geschichtlich bedingten, möglicherweise noch bis zu 100 Jahre anhaltenden nichtjüdischen „Sonderinteresses“ angesehen werden. Dieses bestünde aber auch in den anderen europäischen Ländern, die in der NS-Zeit besetzt und von Juden „gereinigt“ worden seien und wo sich auch wieder jüdisches Leben entwickele. Den Hype sieht sie nur als eine Spielart dieser Entwicklung an: „Es gibt dieses Interesse an Juden, [an] Judentum, [es] zeigt kein Zeichen von Verminderung“, wobei die vorliegende Untersuchung (die sie mit ihrer Teilnahme unterstützt) Ausdruck des von ihr zuvor skizzierten europaweiten nichtjüdischen Sonderinteresses sei.

Auswirkungen des Hypes auf die jüdische Gemeinschaft Berlins sowie sich hieraus für sie ergebende Konsequenzen Zu innerjüdischen Effekten des Hypes und seiner Inszenierungsformen äußerten sich sechs jüdische Gesprächspartner/-innen ausführlicher (P 1, P 2, P 5, P 6, P 7, P 8). Die ersten drei Personen sind bereits aus dem vorherigen Abschnitt bekannt. Im egalitären Minjan aktive und langjährig einen jüdischen Internetanbieter mitbetreibende/-r Wahlberliner/-in (P 6) Diese Person bekommt den Hype ,hautnah‘ mit, da sich der Minjan regelmäßig unter der goldenen Kuppel in der Neuen Synagoge versammelt: Auch wenn es, anders als in anderen Berliner Synagogen, nicht üblich ist, sah sich die Beter-Ver-

34 New York ist eine Stadt mit immerhin mehr als zwei Millionen jüdischen Einwohnern!

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sammlung gezwungen, ein Merkblatt zu verfassen35 „mit Verhaltensrichtlinien, wie man sich in einem jüdischen Gottesdienst zu verhalten hat, dass man es an bestimmten Stellen als sehr störend empfindet, wenn da die Leute im Gänsemarsch herauslaufen. Dann haben wir eigentlich nichts dagegen, wenn die Leute […] ein bisschen informiert sind, dass wir also kein Vaterunser beten. Dass ist also wirklich schon vorgekommen, dass jemand fragte: ,Ja wann wird das Vaterunser gebetet?‘“ In der beschriebenen Problematik mischt sich offensichtlich Unsensibilität gegenüber den Betenden mit geringen Kenntnissen über zentrale Unterschiede beider monotheistischen Religionen. Reformjüdisch ausgerichtete, journalistisch tätige Person mit westdeutschen Wurzeln (P 7) Die reformjüdisch orientierte P 7 thematisiert am Beispiel zweier Lokale ausführliche Verdrängungsmechanismen originär jüdischen Alltagslebens in Berlin im Zuge des hier thematisierten Hypes. Beide befinden sich in Nachbarschaft zur Neuen Synagoge.36 Lokal 1: Vorausgeschickt werden muss, dass es auf Grund seines orientalischen Namens, seiner israelisch geprägten Küche und nicht zuletzt seiner bevorzugten Lage in der ,Touristenmeile‘ Oranienburger Straße von Nichtjuden von seiner Eröffnung in den frühen 1990er-Jahren bis zu einer Schließung um 2005 in der Regel als ,jüdisch‘ wahrgenommen wurde. In Berlin-Reiseführern wurde es als „jewish styled“ beschrieben. Mit dieser Formulierung werden international Lokale bezeichnet, die israelische und oder andere jüdische Spezialitäten anbieten, ohne eine koschere Küche zu besitzen. In den Anfangsjahren trafen sich in dem von einem Israeli betriebenen Lokal auch häufiger Mitglieder der Berliner jüdischen Gemeinde, Ende der 1990er-Jahre war es noch ein Stammlokal von Gemeindemitgliedern. Die journalistisch tätige Person berichtete von einem Wandel: Auf der einen Seite habe das Restaurant weiterhin ein zahlreiches und zahlungsfreudiges hypegeleitetes nichtjüdisches Publikum bedient. So weiß sie durchaus von „Nichtjuden, die da hingehen, weil sie denken: ,Na ja, das ist was Jüdisches, und vielleicht lernt man da Juden kennen?‘“ Auf der anderen Seite wurde das Lokal in seinen letzten Jahren kaum mehr von Berliner Juden besucht; wobei die Gründe offen-

35 Die alt-liberale Gemeindesynagoge Pestalozzistraße verfährt laut P 3 vergleichbar mit Besuchern. 36 Das Gespräch mit P 7 fand im zweiten der von ihr thematisierten Lokale statt. Die Namen beider Lokale sollen auf Grund der erörterten Interna ungenannt bleiben.



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sichtlich hype-generiert waren: Einerseits ließ die im Gastraum vorherrschende „Bahnhofsatmosphäre“ es kaum zu, ein intensiveres Gespräch zu führen. Andererseits hätte das „Preis-Leistungs-Verhältnis“ in keiner angemessenen Relation mehr gestanden. Lokal 2: Das andere Lokal, von dem die publizistisch tätige Person berichtet, befindet sich in der Nähe des Erstgenannten. Es zeichnet sich durch keinerlei äußere Merkmale als ,jüdisch‘ aus, besitzt keine „jewish styled“ Küche und auch keine jüdischen Pächter, sondern wird von Kurden geführt: „Und das Interessante ist, dass das XY, wo wir jetzt sitzen, sehr gut von Juden frequentiert wird, und dass in diesem Nebenraum, wo wir das Interview führen, sehr oft am Freitagabend Juden nach Kabbalat Schabbat eben da sind. Nach dem Gottesdienst hier noch miteinander was essen gehen. Und die Besitzer […] da also auch sehr offen und sehr freundlich und entgegenkommend sind. Tatsächlich ermöglichen die Inhaber dem egalitären jüdischen Betkreis, hier nach Schabbat den Kiddusch zu begehen und sogar den im Regelfall relativ teuren koscheren Wein mitzubringen „und kriegen noch zwei Kerzen auf den Tisch gestellt“. Aber auch unter der Woche könnte man als Jude zufällig mal andere Juden hier treffen, ohne sich verabredet zu haben. So bilanziert sie den jüdischen Charakter in diesem Lokal: „Aber das würde niemand als einen jüdischen Raum bezeichnen, […], definieren“ – „obwohl es über gewisse Zeiten eben doch einer ist.“ Progressiv-jüdisch engagierte Person (P 2; s. o. 2.1.1.) Als Einzige der befragten Personen äußert sich die über Berlin hinaus für das progressive Judentum aktive Person, dezidiert selbstkritisch zu den jüdischen Umgangsweisen mit dem Hype: Demnach sähen sich jüdische Gemeinden in Berlin wie in Deutschland überhaupt immer wieder veranlasst, bei der Konzeptionierung von öffentlichen jüdischen Kulturveranstaltungen Hype-Erwartungshaltungen von der nichtjüdischen Seite her zu genügen. Die Ursache hierfür sieht sie in dem kommerziellen Gesichtspunkten nachgebenden Kalkül von GemeindeVerantwortlichen, auf diese Weise eine größere Popularität der von ihnen angebotenen Kulturveranstaltungen unter dem potentiell mehrheitlich nichtjüdischen Publikumskreis zu erreichen, indem deren Klischees bedient werden. So ließe man zu von jüdischer Seite veranstalteten Kulturfestivals und -wochen immer wieder israelische Stars und ausländische Klezmerbands einfliegen, „die ja sehr unterhaltsam sein mögen, aber eigentlich sehr wenig mit der jüdischen Realität hierzulande zu tun haben“. Stattdessen würde von jüdischer Seite „in Deutschland gerne versäumt, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen“, kritisiert sie diesen Exotismus in den eigenen Reihen. Demgegenüber weiß sie von genügend jüdischen Künstlern mit deutscher, russischsprachiger oder amerikanischer

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Herkunft, welche lebendige jüdische Kultur aus Berlin zur Genüge präsentieren könnten, ohne Anbiederung an nichtjüdische Klischeevorstellungen. Eine solche grundsätzliche Orientierung wäre ihrer Meinung nach für die alltägliche jüdische Kulturarbeit wie auch für die innerjüdische Integration weitaus sinnvoller. Russlandstämmige/-r Galerist/-in der Jüdischen Galerie mit orthodoxem Glaubenshintergrund (P 8) Sehr interessant erscheint mir die Antwort dieser Person, schließlich profitiert die in der Oranienburger Straße gelegene Jüdische Galerie zweifelsohne von dem Hype in der ,Touristenmeile‘, auf deren Laufkundschaft sie sich längst, etwa mit Postkartenverkauf, eingestellt hat. Auf die Frage, ob unter den nichtjüdischen Besuchern der Galerie auch solche seien, die gegenüber dem jüdischen Aspekt der Galerie eine besondere Reaktion zeigten, antwortet sie nur mit leiser Ironie: „Ja, die Leute, die uns besonders mögen. – Es gibt sehr viele Beispiele dafür. – Und man redet sehr oft darüber […] und man zeigt, dass es sehr gut für diese jüdischen Künstler ist, hier ausgestellt [zu werden] und es eine gute Beeinflussung der deutschen kulturellen Szene ist usw. usf. – Bla, bla, bla.“ Die Jüdische Galerie ist offenbar ein besonders geeigneter Ort im ,Jüdischen Berlin‘, um sich gegenüber Juden philosemitisch zu gerieren. Jüdische/-r Kulturverein-Aktivist/-in (P 1; s. o. 2.1.1.) Auch die im noch zu DDR-Zeiten gegründeten Jüdischen Kulturverein (im Folgenden JKV) engagierte Person der ersten Stunde berichtet räumlich aus dem Zentrum des Hype-Geschehens, da der JKV seit Jahrzehnten in der Oranienburger Straße residiert. Für die jüdische Seite sieht sie aus dem Hype keine nennenswerten Probleme erwachsen, da sich für sie das einzig relevante jüdische Leben, nämlich das religiöse Gemeindeleben, Nichtjuden weitgehend entziehe und eben nicht durch das einschätzbar und bestimmbar sei, was Nichtjuden –– dafür halten; –– an Angeboten im jüdischen/pseudojüdischen Bereich nutzen; –– selber im deutsch-jüdischen Feld an Aktivitäten entfalten. Außerdem könnte mit den hype-bedingten Gottesdienstbesuchen von Nichtjuden der falsche Eindruck entstehen, die Synagogen seien „soweit so voll“, was sie ja eigentlich nicht sind. P 1 kritisiert entsprechend auch den Begriff ,jüdische Renaissance‘, für den sie im religiösen Kernbereich des jüdischen Berlins keine Anhaltspunkte sieht.



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New Yorker/-in (P 5; s. o. 2.1.1.) „Jewish Disneyland“ hält sie zwar für eine kulturelle Realität in Berlin – „virtuell bedeutet fast wahr“ – doch zeigt sie hierbei große Gelassenheit: Explizit verweist sie darauf, dass sie die von ihr auch immer mal wieder im jüdischen Berlin angetroffene Befürchtung der Verdrängung und des „Neu Definierens“ originärer jüdischer Kultur durch den nichtjüdischen Hype keineswegs teilt und beschließt das Themenfeld versöhnlich: „[…] die traurige Vergangenheit der Juden, […] die Lehren dieser Erfahrungen […] gehören einem jedem Menschen. Und so denke ich mal, dass die Freude und die Trauer in Klezmermusik kann auch jedem Menschen gehören.“

Befunde zu den jüdischen Blicken auf den Hype Angesichts der großen Bereitschaft etwa der Hälfte der Erhebungsauswahl, sich über den Hype um den Davidstern sowie über nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen in Berlin auszulassen, bestätigt m. E. die Relevanz dieses Fragebereichs im Kontext der Gesamtuntersuchung. Umgekehrt zeigt sich, dass die andere Hälfte meiner Gesprächspartner/-innen keine ausgeprägte Meinung besaß oder den Hype als solches gar nicht wahrnahm. Aus der Befragung lassen sich einige relativ deutliche Ergebnisse ableiten. Allgemein kann festgehalten werden, dass von den interviewten jüdischen Kulturschaffenden der Hype in seinen Auswirkungen auf Nichtjuden, die sich insbesondere als Touristen in der Gegend um die Neue Synagoge aufhalten, als weitaus problematischer angesehen wird, als auf die jüdische Community. Zwei speziellere Muster werden dabei deutlich. Ob und – wenn ja, wie – sich die Befragten zum Hype im Einzelnen positionierten, ließ eine relativ starke Abhängigkeit vom persönlichen Herkunfts- und Erfahrungshintergrund sowie etwas weniger ausgeprägt von der jeweiligen religiösen Orientierung erkennen.

Herkunfts- sowie Erfahrungsabhängigkeit: Mindestens einer von zwei Faktoren trifft bei der Hälfte der Befragten zu, die sich differenzierter gegenüber dem Hype positionierten: –– biografisch-, insb. herkunftsbedingte, tiefere Kenntnisse des deutsch-jüdischen Feldes; –– direktes Konfrontiertsein mit konkreten Ausprägungsformen des Hypes. Bei den meisten der kritischen Stimmen zum Hype und seinen Auswirkungen auf Nichtjuden wie Juden sind beide Faktoren gegeben (P 1, P 2, P 6 und P 7).

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Zur Herkunftsabhängigkeit: Auffallend ist, dass die über den Hype Reflektierenden mit israelischem (P 4) und New-Yorker Migrationshintergrund (P 5) am gelassensten auf dessen Inszenierungen reagierten. Hier scheint sich ein Identitätsunterschied abzuzeichnen: Engagierte Jüdinnen und Juden mit deutschem Hintergrund bedürfen in ihrem Ringen um eine erst im Entstehen begriffene deutsch-jüdische Identität offenbar einer Abgrenzung von nichtjüdischen Hypes im hiesigen „jewish space“. Die klischeebesetzten Fremdzuschreibungen werden als illegitim empfunden. Umso schärfer lehnen einige von ihnen die Beteiligung von Juden am Hype-Geschehen kategorisch ab, wie die zitierte Publizistin Iris Weiss und P 2. Demgegenüber sehen sich die o.  g. israelstämmige und die aus New-York stammende Person nicht in ihrer gefestigten jüdischen Identität bedroht. Der Hype wird von ihnen aus einer größeren identitären bzw. biografischen Differenzposition heraus eher analytisch betrachtet. Die Gruppe der befragten Russischsprachigen wiederum sieht sich gar nicht in der Lage, sich explizit gegenüber dem Hype zu positionieren: Aus den betreffenden o. g. Interviews, aber auch aus einer größeren Anzahl weiterer Interviews und Gespräche komme ich zu zwei Schlüssen: Einerseits sehen die Einwanderer aus der SU und den GUS-Staaten demnach überwiegend eine Herausforderung darin, über ihre sprachliche, kulturelle und statusbezogene – als jüdische Kontingentflüchtlinge – Gruppenidentitäten hinaus, überhaupt erst persönliche Zugänge zum Judentum zu entwickeln. Andererseits scheint mir vor allem unter den Älteren die Freude über den ungehinderten Zugang zu Judaica – wie originär jüdisch diese auch immer sein mögen – erkennbar und damit gegenüber einer skeptischen oder gar kritischen Einstellung viel naheliegender. Schließlich sind diese Menschen nach Jahrzehnten der Unterdrückung jüdischer Existenz in der ehemaligen SU und vielfach nach persönlichen antisemitischen Erfahrungen gezielt und auf eigenen Wunsch nach Deutschland und insbesondere in das unter jüdischen Zuwanderern sehr beliebte Berlin gekommen. Und auch im seltenen Fall des direkten Konfrontiertseins mit Hype-Phänomenen, wie etwa die russlandstämmige, in einer jüdischen Galerie tätige P 8, reagiert diese Person nur amüsiert und ironisch. Zur Erfahrungsabhängigkeit: Hierbei gilt es, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass die in Berlin lebenden Jüdinnen und Juden wie in all den Jahrzehnten seit 1945 auch nach Wohn- und Arbeitsorten überwiegend in den Innenstadtteilen und deren Nachbarschaft im Westteil Berlins beheimatet sind, ganz im Gegensatz zu den Klischeeproduktionen der stadträumlich eng begrenzten Hype-Kultur um die Neue Synagoge. Gleiches gilt für das Gros an örtlichen jüdi-



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schen Einrichtungen und Aktivitäten.37 Ebenso sind auch über die Hälfte meiner jüdischen Gesprächspartner/-innen persönlich von Hype-Phänomenen nicht betroffen. Auch bei denjenigen, die sich insgesamt positiv (P 4) oder zumindest verständnisvoll (P 5) gegenüber dem Hype geäußert haben, befinden sich die Lebenswelten wie auch die von ihnen maßgeblich mitgetragenen jüdischen Gruppenaktivitäten überwiegend im Westteil Berlins, fern des Hypes. Das heißt umgekehrt, dass sich außer diesen zwei Stimmen zum Hype nur solche Personen geäußert haben, deren erfragte soziokulturelle und z. T. religiöse Aktivitäten sich in der betreffenden In-Gegend befinden. Entsprechend warten sie mit von ihnen unmittelbar erfahrenen und entsprechend anschaulich geschilderten NegativBeispielen aus der nichtjüdischen Hype-Kultur auf.

Abhängigkeit von der religiösen Orientierung: Schwächer, wenn auch durchaus nachweisbar, spielt die religiöse Orientierung eine Rolle für die Positionierung der Gesprächspartner/-innen gegenüber dem Hype. Vereinfacht gesagt lässt sich festhalten, je progressiver die religiöse Orientierung desto negativer die Einschätzung gegenüber innerjüdischen wie mehrheitsgesellschaftlichen Auswirkungen des Hypes (insb. P 2, P 6 und P 7). Hier drückt sich die starke Überschneidung zu den beiden Faktoren der oberen Auswahl aus. Die religiös Progressiven stammen überwiegend aus der Minderheitsgruppe der biografisch ,deutsch‘ geprägten Jüdinnen und Juden entsprechend der dieser Gruppierung innerhalb der Berliner Community überhaupt. Außerdem besitzen die überwiegend zeitgleich mit dem Hype in Berlin erst entstandenen oder gewachsenen progressiven bzw. egalitären religiösen Strömungen eine besondere Offenheit gegenüber interessierten Nichtjuden bis hin zu Konvertierten. Daher scheint mir auch hier wieder eine Abgrenzung gegenüber den sich gegenüber heutigem jüdischen Leben überwiegend desinteressiert zeigenden Hype-Manifestationen besonders plausibel.38 Konservativ und orthodox Orientierte verstehen ihr Jüdischsein demgegenüber der Tendenz nach weniger ,kulturalistisch‘. Treffend formulierte es die Person aus der kleinen Ostberliner Vorwendegemeinde (P 1): Ihre Vorstellung von jüdischem Leben, also das reli-

37 Dies gilt für nahezu alle Gemeindesynagogen und außerhalb der Gemeinde befindliche religiöse Gruppierungen, das Gros der Sport-, Kultur- und Sozialeinrichtungen der JGB sowie für die überwiegende Zahl der an deren Peripherie befindlichen Vereinigungen wie etwa den Jüdischen Studentenbund oder außerhalb von ihr angesiedelte informelle Gruppen, wie den Israelischen Stammtisch oder die jüdischen Homosexuellen-Gruppe. 38 Dies zeigte sich auch daran, dass der einzige Hinweis auf persönliche Erfahrungen mit aggressiven Versuchen der Judenmissionierung aus diesem Spektrum kam. (P 6)

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giöse Gemeinschaftserleben, ist den „Blicken der Nichtjuden weitgehend entzogen“. Ich kann nur mutmaßen, dass auch aus dem zum Themenfeld ,schweigenden Kreis‘ der befragten mehr oder weniger religiös orthodox orientierten Russischsprachigen, der religiöseste Teil sich ebenfalls durch nichtjüdische Inszenierungen in der eigenen jüdischen Identitätsbildung nicht bedroht sieht. Doch welche Ergebnisse lassen sich aus der vorliegenden Untersuchung der Hype-Thematik festhalten? Es sollte deutlich geworden sein, dass auch aus Sicht der befragten jüdischen Kulturschaffenden in Berlin einen Hype um das ,Jüdische Berlin‘ und entsprechende nichtjüdische Inszenierungen des Jüdischen existierte und z. T. noch besteht. Ein zentraler Befund lautet, dass es in der jüdischen Community sehr unterschiedliche Wahrnehmungen gegenüber dem nichtjüdischen Hype und seinen Inszenierungen gibt. Zusammengefasst legen die Ergebnisse nahe, dass die biografische, räumliche und teilweise auch religiös bedingte Nähe zwischen in Deutschland maßgeblich sozialisierten Juden und Nichtjuden eine ablehnende Haltung gegen den Hype hervorbringt, der von ihnen als konkurrente Semantik im deutsch-jüdischen Feld wahrgenommen wird. Die identitär stark jüdisch verwurzelten israelischen und US-amerikanischen Gesprächspartner/innen haben demnach hingegen mit den Hype-Phänomenen offensichtlich keinerlei Probleme. Das Gros der aus Osteuropa zugewanderten Befragten besitzt wiederum keine dezidierte Meinung zur Thematik, erfreut sich am aus ihren Herkunftsländern kaum bekannten nichtjüdischen Interesse oder nimmt die HypeInszenierungen schlicht als solche gar nicht wahr.

Ausblick Abschließend möchte ich einen Aspekt betonen, der jenseits der hier vorrangig behandelten Hype-Thematik liegt und doch deren Ende beschleunigen könnte – denn die Klimax des Hypes erscheint mir seit einigen Jahren überschritten: Ich meine jüdische und nichtjüdische Entgrenzungen, ohne dass das eine im anderen aufginge. Jeweils ganz unterschiedlich gelagerte christlich-jüdische Initiativen (etwa gegenüber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit), das o. g. Hackesches Hoftheater, die jüdische Homosexuellengruppe Yachad wie auch viele populär- und jugendkulturelle Aktivitäten der letzten Jahre in Berlin und darüber hinaus haben gezeigt: Mittlerweile ist eine wachsende Alltagssphäre von sich in ganz unterschiedlichen Bereichen begegnenden und austauschenden Juden und Nichtjuden entstanden. Auch diese Beispiele sind Bestandteil des im zitierten Eingangsmotto von D. Pinto erwähnten „growing Jewish Space“. Sollte dieser Raum weiter wachsen, wird der Hype um den Davidstern vielleicht nur eine etwas



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bizarre Episode des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in Deutschland nach 1945 bleiben, aber eine im deutsch-jüdischen Kontinuum vergleichsweise harmlose.

Literatur Frajman, Michael/Roth, Andrew: Das jüdische Berlin heute. Ein Wegweiser. Berlin 1999. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften V 1 [Das Passagenwerk], Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1982. Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996. Eckhard, Ulrich/Nachama, Andreas: Jüdische Orte in Berlin. Berlin 1996. Gruber, Ruth Ellen: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe, Berkeley/Los Angeles 2002. Kratz, Peter/ Steglich, Ulrike: Das Falsche Scheunenviertel. Ein Vorstadtverführer. Berlin 1997. Lackmann, Thomas: Jewrassic Park. Wie baut man (k)ein Jüdisches Museum, Berlin 2000. Ottens, Rita/Rubin, Joel: Klezmermusik. München (u. a.) 1999. Pinto, Diana: The third pillar? Towards a European Jewish Identity. In: GOLEM 1 (1999). S. 33–37. Rebiger, Bill: Das jüdische Berlin, Kultur, Religion und Alltag. Berlin 2000. Weiss, Iris: Jewish Disneyland – die Aneignung und Enteignung des „Jüdischen“. In: GOLEM. Europäisch-jüdisches Magazin Nr. 3 (2000). S. 43–48. Wöhlert, Meike: Trendy Judentum. In: ZITTY 16 (1998). S. 14–19. Hotel 38: http://www.hotelas.com (l4. 9. 2011). Online Now!: http://www.galerie.de/berlin.html (14. 9. 2011). Stengel, Mathias: Scheunenviertel. http://www.berlin.de/orte/sehenswuerdigkeiten/ scheunenviertel/ (14. 9. 2011).

 Teil II: Zwischenräume

Alina Bothe

Da-Zwischen Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße „Grenadierstraße!“ Johann wollte nun endlich wissen, was es mit dieser „Grenadierstraße“ auf sich hat, von der er bereits mehr als einmal gehört hatte. Man erklärte es ihm kurz: Altmodische Juden aus Polen, Galizien und Russland, Fanatiker in langen „Kaftanen“ und mit langen Bärten, sind nach Berlin eingewandert und haben sich in der Gegend um die Grenadierstraße niedergelassen. Die meisten sind Bettler, Trödler oder Handwerker […]. Im glatt rasierten, zivilisierten Berlin ist auf diese Weise ein bärtig-bettelnder Hort des Fanatismus entstanden.1

Grenadierstraße von Fischl Schneersohn ist ein ausgesprochen interessanter und höchst facettenreicher jiddischer Roman, in dem sich ein Panorama jüdischer Identitäten im Berlin der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeigt. Der Roman Grenadierstraße, Erstveröffentlichung Warschau 1935, ist keine Beschreibung des Berliner Scheunenviertels, wie der Titel vermuten lassen könnte, sondern die Lebensgeschichte seines Protagonisten Johann Ketner. Anhand dieser zeichnet Schneersohn ein komplexes, immer wieder gebrochenes Bild differenter jüdischer Identitäten zwischen Ost und West, topografisch fest in der Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel verortet und zugleich mit mythischidentitärem Fokus. Verschiedene Lesarten des Romans bieten sich an. In diesem Beitrag soll im ,Da-Zwischen‘ Berlins das Panorama jüdischer Identitäten, wie Schneersohn es skizziert, zwischen Orten und Personen analysiert werden. Da Berlin gerade aus osteuropäisch-jüdischer Perspektive ein Ort des Transits und der Migration war, bietet es sich an, die Stadt als Zwischenraum zu beschreiben. Nach einer kurzen theoretischen Skizze des ,Da-Zwischen‘, hier verstanden als städtischer Raum der Übersetzung und Hybridität, in dem die identitären Entwürfe Schneersohns diskutiert werden sollen, wird basierend auf verschiedenen Situationen und Begegnungen ,Da-Zwischen‘ das identitäre Panorama mit seinen Ambivalenzen, Brechungen und Dynamiken entfaltet. Zum besseren Verständnis wird zunächst kurz auf das Scheunenviertel, in dem die Grenadierstraße lag, und die Person Schneersohns eingegangen. Ziel des Beitrags ist es, die Beschreibung hybrider jüdischer Identitäten in Fischl Schneersohns Roman Grenadierstraße

1 Schneersohn, Fischl: Grenadierstraße. Hrsg. v. Anne-Christin Saß. Mit einem Nachwort von Mikhail Krutikov. Aus dem Jiddischen von Alina Bothe. Göttingen 2012. S. 74.

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herauszuarbeiten und sie in den Zwischenräumen Berlins der 1900er- bis 1920erJahre zu verorten. Theoretisch gerahmt wird dies durch den Bezug auf die u. a. von Homi K.  Bhabha in The Location of Culture2 ausgearbeiteten Konzepte von Sprache, Raum und Identität. Für die Analyse jüdischer Identitäten eignet sich der Roman neben seinem offenen Blick ins jüdische Berlin jener Zeit vor allem auch aufgrund eines handwerklichen Kniffs des Autors: Der osteuropäische Jude und Berliner Migrant Schneersohn nimmt die Perspektive des deutschen Juden Ketner ein, um seiner osteuropäisch-jüdischen Leser/-innenschaft in den frühen 1930er-Jahren die Komplexität jüdischer Identitäten und ihrer Interaktion im Berlin in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten darzulegen.

,Da-Zwischen‘. Theoretische Anmerkungen Das ,Da-Zwischen‘ ist eine höchst produktive Kategorie wissenschaftlichen und literarischen Denkens, weil es Dichotomien aufbricht und zugleich Prozessualitäten erkennbar macht. Mit der ortsanzeigenden Vorsilbe ,da‘ wird gleichzeitig auf die Verräumlichung des ,Zwischens‘ in der Stadt hingewiesen. An der relationalen Kategorie des ,Da-Zwischen‘, das verbindet und trennt, hat der Raum sich zu erweisen. Der Begriff des ,Zwischenraums‘ oder ,third space‘, der dem ,Da-Zwischen‘ zugrunde liegt bzw. der im ,Da-Zwischen‘ seine stadträumliche Referenz erfährt, basiert vor allem auf den Arbeiten Bhabhas und Edward W. Sojas.3 Zuvor hatte bereits Michel Foucault mit seinem Konzept der Heterotopien einen mittleren Ort versucht auszumachen und Henri Lefebvre den Raum als Kategorie in die marxistische Denktradition eingebracht.4 Seine herkömmliche theoretische

2 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. Reprinted. London 2007 (Siehe dazu auch den Beitrag in diesem Band Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/ nichtjüdischen Doppelperspektive von ,Vaterjuden‘ von Ruth Zeifert.) 3 Vgl. u. a. Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge 1996; Bhabha, The Location (wie Anm. 2). 4 Vgl. u. a. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981; Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford 1991; Marcuse, Peter: Globalisierung nach dem 11. September: städtische, politische und ökonomische Auswirkungen. In: Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen. Hrsg. v. Albert Scharenberg u. Oliver Schmidtke. Münster 2003. S. 232–253; Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. S. 204; Hoff, Karin: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland. Göttingen. S. 4; Döring, Jörg/Thielmann, Tristan: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und

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Bedeutung erhält der Zwischenraum im interkulturellen Kontakt, der z.  B. auf der literarischen Ebene bei der Übersetzung von Texten stattfindet. Dabei ist Text hier nicht nur auf den in Buchstaben verschriftlichten Text, sondern auch auf das kulturelle Umfeld des Textes zu beziehen. Der Zwischenraum ist mehr. Er ist, wie Doris Bachmann-Medick notiert, „ein Raum von außergewöhnlicher konzeptueller Offenheit“.5 Bhabha interpretiert das Konzept des ,third space‘ bzw. ,space-inbetween‘ entlang verschiedener Optionen der (Re-)Definition des Verhältnisses von ,self‘ und ,other‘, von Kolonisierenden und Kolonisierten, (post-)kolonialen Migrant/-innen und Mehrheitsgesellschaft hin zu einer Öffnung auf etwas Mittleres oder Drittes, das die binäre Dichotomie von Selbst/Andere/-r zugunsten auszuhandelnder Alternativen, die allen Beteiligten Subjektposition und Subjektivität zugestehen, durchbricht. Um das Denken singulärer Zugehörigkeiten und binärer Dichotomien im Sinne kultureller Neuerung zu überwinden, ist es notwendig, in Zeiten und Räumen zwischen dem Manifesten und Existenten zu denken. Diese Aufgabe kommt dem ,Da-Zwischen‘ zu, es ist, wie bereits einleitend notiert, ein Raum der Übersetzung und der Hybridität. Dieses Argument erweitert Bhabha dahingehend, dass jegliche Kultur Produkt eines widersprüchlichen und ambivalenten Prozesses ist, wobei dem dritten Raum die Aufgabe zukommt, die Offenheit von Kultur zu immer neuen Interpretationen sicherzustellen. Daraus schlussfolgert Bhabha, dass es das ,Zwischen‘ ist, „that carries the burden of meaning of culture“.6 Die zentrale Figur in den Zwischenräumen Bhabhas ist der Migrant oder Exilant, der Andere, dessen Erfahrung der Begrenztheit nicht nur ein Phänomen des Übergangs, sondern auch der Übersetzung ist.7 Hieran lässt sich die Feststellung, dass der Zwischenraum ein intersubjektiver Ort zwischen Agent/-innen ist, anschließen.8 Daher betont Bhabha „agency“ als zentral für den

Sozialwissenschaften. Hrsg. v. Jörg Döring u. Tristan Thielmann. Bielefeld 2008. S. 7–45, S. 7. 5 Bachmann-Medick, Cultural Turns (wie Anm. 4), S. 298. 6 Bhabha, The Location (wie Anm. 2), S. 56. 7 Bhabha hat seine Überlegungen zunächst für postkoloniale Migrationsverhältnisse formuliert. Zu Übertragungen dieser Konzepte auf andere Kontexte vgl. u. a. Bachmann-Medick, Cultural Turns (wie Anm. 4); Hoff, Die Entdeckung (wie Anm. 4); Breger, Claudia/Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. v. Claudia Breger u.Tobias Döring. Amsterdam 1998. S. 1–18; Brauch, Julia [u. a.] (Hrsg.): Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place. Aldershot 2008. Shachar Pinsker hat Sojas Konzept des third space auf die Cafés Berlins in den 1920er-Jahren bezogen. Pinsker, Shachar: Spaces of Hebrew and Yiddish Modernism – The Urban Cafés of Berlin. In: Dohrn, Verena/Pickhan, Gertrud: Transit und Transformation – Osteuropäischjüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Göttingen 2010. S. 56–76. 8 Bhabha, The Location (wie Anm. 2), S. 272.

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Zwischenraum.9 Bhabhas Zwischenraum ist ein Ort der Aushandlung, wo Bedeutung produziert wird und zugleich die Produktion von Bedeutung als instabil, fluide, inpermanent erscheint. Hannah Arendts Überlegungen zum inter-est des Zwischenraums in Vita activa10 dynamisieren Bhabhas Konzept des Zwischenraums, indem sie das Konzept des Zwischenraums durch die inter-subjektiven Relationen ergänzen, deren Verflechtung zu beachten ist. „Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was ‚inter-est‘, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden.“11 In diesem Beitrag ist daher nicht der Zwischenraum, sondern das ,Da-Zwischen‘ als Raum der identitären Verhandlungen entwickelt worden. Im Folgenden ist in der Betrachtung der Verhandlungen von Identität in der Grenadierstraße nach dem Ort und den Subjekten des ,Da-Zwischen‘ zu fragen.

Fischl Schneersohn und die Grenadierstraße Die Grenadierstraße handelt Identitäten zwischen Ost und West, liberal und konservativ, zionistisch und assimiliert, fromm und weltlich sowie vielen anderen Gegensatzpaaren aus, was beispielhaft für Fischl Schneersohns Denken und Handeln steht. Dabei verharrt Schneersohn nicht in der Dichotomie dieser Gegensätze. Vielmehr sind sie Marker in den Aushandlungsprozessen, die er beschreibt. Mikhail Krutikov argumentiert aufgrund dieses undogmatischen Denkens, dass Schneersohns Werk und Person in Vergessenheit geraten seien, da Schneersohn zu vielseitig und komplex war.12 1887, in der Familie des Lubawitscher Rebben in der Ukraine geboren, chassidisch traditionell erzogen und ausgebildet, entscheidet Schneersohn sich im Alter von sechzehn Jahren für eine weltliche Ausbildung und legt extern das russische Abitur ab. Er kommt zum Wintersemester 1910 nach Berlin, um wie viele andere osteuropäisch-jüdische Studenten jener Jahre in Berlin Medizin zu studieren. Er säkularisiert sich, verliert dabei allerdings nie den Bezug zu seinen chassidischen Wurzeln. Der Übergang von der einen zur anderen Welt ist laut Kru-

9 Bhabha, Homi K.: Preface. In the Cave of Making: Thoughts on Third Space. In: Communicating in the Third Space. Hrsg. v. Karin Rosa Ikas u. Gerhard Wagner. New York 2009. S. ix–xiv, S. xiii. 10 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 9. Aufl. München 2010. 11 Arendt, Vita activa (wie Anm. 10), S. 224. 12 Krutikov, Mikhail: fishl shniarson: ekspeditsies in dem neshome-land, http://yiddish. forward.com/node/3133 (7. 9. 2011).

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tikov eines der wichtigsten Motive in Schneersohns literarischem Schaffen und wird auch in der Grenadierstraße von ihm thematisiert.13 Nach seiner Promotion in Petersburg wird Schneersohn nach der Revolution Professor für Psychiatrie in Kiew. Als er wieder nach Berlin zurückgekehrt ist, etabliert er sich in der Stadt als Psychiater und gehört dem großen Kreis der osteuropäisch-jüdischen Intellektuellen in der Stadt an. Unter anderem veröffentlicht er seine Vorlesungen zu psychiatrischen Themen und gibt für einige Jahre gemeinsam mit David Koigen eine Zeitschrift heraus, deren Ziel die Entwicklung einer überkonfessionellen Ethik ist. Zugleich schreibt Schneersohn auch belletristische Werke, die sowohl seine chassidische Herkunft und Jugend als auch sein psychologisch inspiriertes Theoriedenken widerspiegeln. Seine theoretischen Überlegungen fasst er in der von ihm begründeten „mensh-visnshaft“14 zusammen. Diese ist von einem heutzutage als ganzheitlich zu beschreibenden Menschenbild, dem Einklang von Psyche, Körper und Umwelt, geprägt. Zudem arbeitet er als Psychiater vor allem mit Kindern, entwickelt eine „heyl-pedagogik“, nach deren Konzept er in Berlin, Warschau und New York pädagogische Institutionen gründet. Sein Roman Grenadierstraße erscheint 1935 als Beilage der bekannten jiddischen Wochenzeitschrift literarishe bleter in Warschau, wo Schneersohn zeitweise lebt. 1937 geht er schließlich in den Jishuv, wo er 1942 unter anderem mit Samuel Josef Agnon und Martin Buber zusammen eine Organisation gründet, mit dem Ziel den Jishuv, aber auch die Weltöffentlichkeit ob der Shoah zu alarmieren. Nach der Shoah besucht er Displaced-Person-Camps in Deutschland und arbeitet vor allem als Traumapsychologe mit Überlebenden in Israel.15 Die Grenadierstraße war eine von mehreren Straßen im Berliner Scheunenviertel16, die den osteuropäisch-jüdischen Migrant/-innen oft unfreiwillig für kürzere oder längere Zeit Lebensort wurde. Schon Joseph Roth schrieb in seinem 1927 erschienenen Essay Juden auf Wanderschaft: „Berlin ist eine Durchgangs-

13 Vgl. Krutikov, fishl shniarson (wie Anm. 12). 14 Aufgrund des belletristischen Charakters der Grenadierstraße sind jiddische Termini in der Übersetzung regelbasiert phonetisch transkribiert worden. In diesem Beitrag werden weitere jiddische Termini gemäß des wissenschaftlichen YIVO-Standards transkribiert. 15 Zur Person Fischl Schneersohns vgl. ausführlich Anne-Christin Saß’ Einleitung der Neuübersetzung der Grenadierstraße (wie Anm. 1) und Krutikov: ekspeditsies (wie Anm. 12). 16 Ausführlich zum Berliner Scheunenviertel und der Dekonstruktion ostjüdischer Stereotype siehe Saß, Anne-Christin: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik. Göttingen 2012 (Siehe dazu den Beitrag in diesem Band von Alexander Jungmann, Fremdbilder des Jüdischen als Berliner Hype und jüdische Blicke darauf, der auch die Entstehung und Rezeption des Berliner Scheunenviertels thematisiert.)

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station, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt.“17 Während der Zeit der großen Wanderung zwischen 1880 und 1914 durchquerten hunderttausende osteuropäisch-jüdischer Migrant/-innen Berlin.18 Ihr Aufenthalt in Berlin war entweder eine Phase des Transits in andere Migrationsländer oder mehr oder minder freiwillig, wie Joseph Roth andeutet, Lebensort für Jahre oder sogar Jahrzehnte. Es ist dabei zu beachten, dass die jüdischen Migrant/-innen aus Osteuropa eine ausgesprochen heterogene Gruppe bildeten: Viele waren im Transit, andere kamen zum Studium an die Berliner Universitäten oder waren Intellektuelle, die für einige Jahre am intellektuellen und öffentlichen Leben der Stadt teilnahmen. Wenngleich es viele topografische Orte der osteuropäisch-jüdischen Migrant/-innen in Berlin gab, so wird vor allem das Scheunenviertel westlich des Alexanderplatzes mit ihnen assoziiert. Es „hatte sich seit der Jahrhundertwende zum Zentrum der überwiegend mittellosen und religiös geprägten galizischen und rumänischen Juden entwickelt.“19 Hier gab es Pensionen, Einrichtungen verschiedener Wohlfahrtsorganisationen, Betstuben und Synagogen sowie koschere Lebensmittelgeschäfte. Im Zentrum dieses Viertels lag die Grenadierstraße, die Martin Beradt bereits in seinem Roman Die Straße der kleinen Ewigkeit20 nachgezeichnet hat. Verena Dohrn und Anne-Christin Saß schätzen die Bedeutung der Grenadierstraße folgendermaßen ein: „Im transnationalen Koordinatensystem eines jüdischen Transitmigranten übernahm die Grenadierstraße daher eine zentrale Funktion als Informations- und Kontaktbörse.“21 Anders als für Beradt ist für Schneersohn die Grenadierstraße allerdings mehr Topos denn realer Ort der marginalisierten osteuropäisch-jüdischen Migrant/-innen. Der Roman Grenadierstraße beginnt mit einem Paukenschlag. Berlin, Bahnhof Alexanderplatz, Anfang der 1920er-Jahre: Im Trubel des riesigen Bahnhofs kommt der schwer erkrankte Gralnier Rebbe in der Stadt an und wird von hunderten begeisterten Chassidim aus der Grenadierstraße und dem weiteren Scheunenviertel empfangen. Unter den Passagieren, Passanten und Schaulustigen, die die Ankunft des Rebben beobachten, ist auch ein deutsch-jüdisches Ehepaar, Johann und Helene Ketner. Der Protagonist Johann Ketner, aufgewachsen als Sohn eines liberalen deutsch-jüdischen Bankiers in Berlin, befindet sich

17 Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft. 3. Aufl. München 2010. S. 64. 18 Vgl. Dohrn, Verena/ Saß, Anne-Christin: Einführung. In: Dohrn/Pickhan, Transit (wie Anm. 7), S. 9–24, hier S. 9; Brinkmann, Tobias: Ort des Übergangs – Berlin als Schnittstelle der jüdischen Migration aus Osteuropa nach 1918. In: Dohrn/Pickhan, Transit (wie Anm. 7), S. 25– 44, hier S. 28f. 19 Dohrn/Saß, Einführung (wie Anm. 18), S. 11. 20 Beradt, Martin: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Frankfurt/M. 2000. 21 Dohrn/Saß, Einführung (wie Anm. 18), S. 13.

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bereits sein ganzes Leben auf der Suche nach Sinn und Identität seines Lebens. „The main character of the novel, Johann Ketner, personifies the younger generation of German Jewish intellectuals with their search for spirituality in the imagined Orient, which is signified for him in Grenadierstraße at the heart of the Scheunenviertel.“22 In dieser Schlüsselszene des Romans am Bahnhof Alexanderplatz kreuzen sich die Wege einer chassidischen Autorität und eines deutschjüdischen Suchenden und Künstlers: in der Grenadierstraße. Von der Grenadierstraße ausgehend, entfaltet Schneersohn retrospektiv entlang der Lebensgeschichte seines Protagonisten Johann Ketner ein Panorama diverser different-hybrider jüdischer Identitäten im Berlin der 1900er- bis 1920erJahre. Nach einem traumatischen Erlebnis in seiner Kindheit, einer Begegnung mit seiner sterbenden Mutter, ist der junge Johann Ketner auf der vor allem spirituellen Suche nach dem Sinn seines Lebens und zugleich nach seiner eigenen Identität. An dieser Suche lässt Schneersohn seine Lesenden teilhaben und Ketner in verschiedene Milieus und Situationen folgen. Die Hauptfigur stammt aus dem wohlhabenden liberalen Milieu, sein Vater ist ein hochgeachtetes Mitglied der reformierten Gemeinde, betrachtet sich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Während seines Medizinstudiums kommt Ketner in Kontakt mit zwei Gruppen: den Verbindungsstudenten und jüdischen Studenten aus Russland. Der Kontakt mit den jüdisch-russischen Studenten, wie Schneersohn sie explizit attributiv benennt, zeigt ein hybrides Milieu, das sowohl religiös als auch politisch geprägt ist. Auseinandersetzungen zwischen linken Sozialisten und rechten Zionisten werden genauso geschildert, wie die gegen die osteuropäischjüdischen Studenten gerichteten studentischen Unruhen jener Jahre. Im weiteren Verlauf steht immer wieder die Auseinandersetzung des deutschen Juden Ketner mit dem osteuropäischen Judentum und seiner eigenen Identität im Zentrum des Romans. Die Suche nach Sinn und Identität Ketners findet ihre negative Klimax mit dem Ersten Weltkrieg, den Ketner als überzeugter Pazifist in katatonischer Starre in einem Sanatorium verbringt. Nach Kriegsende und Genesung entwickelt er eine Theorie der Suche, die individuelle identitäre Flexibilität, wie das Herauslösen aus den identitären Vorgaben der jeweiligen Sozialisation, zum Ziel hat. Das Buch schließt damit, dass die Hauptfigur zum ersten Mal die Grenadierstraße, den Raum des Rebben, betritt und damit jenes ,Da-Zwischen‘ erreicht, das seit seiner Kindheit sein Leben und seine Identität geprägt hat.

22 Krutikov, Mikhail: „Oberflächenäußerungen“ and „Grundgehalt“ – Weimar Berlin as a Memory Site of Yiddish Literature. In: Dohrn/Pickhan, Transit (wie Anm. 7), S. 274–292, hier S. 277.

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Ein Panorama der Identitäten Bahnhöfe sind Zwischenräume per se, Orte des Transits und der Begegnung von Personen. Es ist daher bezeichnend, dass Schneersohn den Roman am Bahnhof Alexanderplatz beginnen lässt, bevor er retrospektiv Ketners Lebensgeschichte erzählt. In der eröffnenden Szene des Romans werden die ersten Wahrnehmungen der Anderen ebenso wie hybride identitäre Konzepte deutlich. Die Versammlung der Chassidim aus der Grenadierstraße am Gleis wird aus deutscher bzw. deutsch-jüdischer Perspektive als ein In-Erscheinungtreten der Anderen am Ort des Transits wahrgenommen. Zunächst nennt Schneersohn all jene, die sich bei einer aus dieser Sicht ,normalen‘ Zugankunft am Gleis versammeln: Gepäckträger, Hotelagenten sowie Verwandte und Freunde. Die Chassidim aus der Grenadierstraße gehören nicht hierzu und werden als Andere direkt wahrgenommen. Bemerkenswert ist, dass Schneersohn sogleich beginnt, die Gruppe, die er zunächst als Einheit beschreibt, auszudifferenzieren und somit die hybriden identitären Konzepte andeutet, die er an späterer Stelle bezogen auf die Chassidim aus der Grenadierstraße ausformuliert. Heute wartete aber auch eine große Gruppe von mehr als hundert misrech-jidn23 mit Bärten, pejes und zumeist in langen Kaftanen. Unter ihnen waren ältere Männer mit weißgrauen Bärten und auch einige Rabbiner, die standesgemäß in seidene Kaftane gekleidet waren und standesgemäße breite polnische Hüte aus Satin trugen. Sie alle waren eingewanderte misrech-jidn, zumeist aus Polen und Galizien, die sich seit Jahren in Berlin in der bekannten südlichen Gegend um die Grenadierstraße (Berlin-Nord) niedergelassen hatten. Größtenteils waren die Einwanderer kleine Händler, Handwerker, Straßenverkäufer, Lumpensammler, Schnorrer und dergleichen. Einige waren allerdings auch erfolgreiche Geschäftsleute.24

Dieser ersten Beschreibung schließt sich eine Skizze der Grenadierstraße an, wiederum aus einer Perspektive, die die Grenadierstraße als einen Ort der Anderen deutet, zugleich aber schon erste Ambivalenzen in der Wahrnehmung des Ortes deutlich macht. Von den Deutschen, insbesondere von den deutschen Juden, wurde die ganze Gegend bloß „das ostjüdische Viertel“ oder auch nur „Die Grenadierstraße“ genannt. Das wird in einem solchen Tonfall gesagt, als ob die Menschen, die dort leben, von einem anderen Stern kämen.

23 Jiddische Lehnübersetzung des deutschen Begriffs Ostjude, wird nachfolgend noch ausführlicher erläutert. Die Kursivierung jiddischer Termini entspricht im Folgenden der Übersetzung. 24 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 19.

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Für die eleganten, wohlhabenden deutschen Juden aus dem Westen Berlins hat die „Grenadierstraße“ nämlich einen doppelten Klang: Auf der einen Seite klingt sie abstoßend langbärtig und nach langen Kaftanen, riecht faulig, ist vorzeitlich und altmodisch, verarmt, voller Schnorrer und Einwanderer. Auf der anderen Seite tönt sie aber auch so verlockend und anziehend nach traditioneller Verwurzelung, flammendem Fanatismus, schon geradezu legendärer Gläubigkeit, duldsam ertragenen Leiden, so unerfassbar und überflutend.25

Die misrech-jidn aus der Grenadierstraße werden wiederum nicht nur als Andere in Berlin wahrgenommen, sondern ihre Veränderung in der Migration wird von Schneersohn in einem Vergleich mit jenen, die soeben aus Osteuropa gekommen sind, dargestellt. „Zunächst sprangen einige hochgewachsene polnische Chassidim aus dem Zug heraus, die sich sofort entschlossen einen Weg bahnten. Sie sahen genauso chassidisch aus wie die ,Grenadier-Juden‘. Doch wirkten sie viel freier, gelassener und temperamentvoller. Sie trugen keine steifen Kragen und ihre pejes wurden niemals versteckt (im Vergleich zu ihnen wirkten die ,Grenadier-Juden‘ gehemmter).“26 Das Leben in der Migration, das Leben ,Da-Zwischen‘, verändert die Chassidim aus der Grenadierstraße, ihre Identität wird hybride. Diesen Veränderungsprozess macht Schneersohn auch an anderer Stelle aus, worauf zurückzukommen ist. Die große Familie des Protagonisten ist nach der Auftaktszene der Raum, in dem Schneersohn unterschiedliche identitäre Konzepte darstellt. Drei große Stränge lassen sich erkennen: Erstens das liberale Judentum des Vaters, zweitens die konservative Orthodoxie des Onkels mütterlicherseits, Professor Gerber, und drittens der assimilierte Zionismus des in zweiter Generation in Deutschland lebenden Großonkels, des Anwalts Grünstein, dessen Familie aus der Ukraine immigrierte. Das liberale Judentum wird bei seiner Suche nach seinem Platz im preußischen Staat und in seiner Auseinandersetzung mit den anderen jüdischen Strömungen charakterisiert. In der Figur des alten Geheimrats Semmering, der sich mit der Hand auf der Brust feierlich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens erklärt, das liberale Judentum als Befreiung der Religion vom Fanatismus deutet und fast obsessiv ist, dass die größte Gefahr von der Grenadierstraße ausgeht, wird das liberale Judentum geradezu karikierend auf die Spitze getrieben. Auch der Tempel mit Orgelmusik und der Gebetsschal, der mit Zylinder getragen nur noch sehr schmal über den Schultern liegt, entgehen Schneersohns scharfem Blick nicht. Zugleich verweist er jedoch auf Wohltätigkeit und andere große Errungenschaften des liberalen Judentums. Die konservative Orthodoxie

25 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 20. 26 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 22.

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wird in ihrer Auseinandersetzung mit den Misnagdim und den Chassidim Osteuropas gezeigt und der Zionismus und die nationale Frage stellen eine weitere identitäre Aushandlungsebene dar, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird. Die innerfamiliären Differenzen werden vor allem am Essen festgemacht. „Der liberale Ketner nannte seinen konservativen Schwager verdrießlich ‚Fanatiker‘ und schimpfte auf dessen ,Küchen-Judentum‘. Jener rief ihn spöttisch einen ,Drei-Tage-Juden‘, einen Juden, dessen Judentum sich auf die zwei Tage Rosch HaSchana und den einen Tag Jom Kippur beschränkt.“27 Die koschere Küche des konservativen Gerbers ist Schneersohn allerdings eine weitere Bemerkung für sein osteuropäisch-jüdisches Publikum wert, die zugleich die Bedeutung von Essen für Identität zeigt. „Auf sein koscheres Essen, das für ihn, anders als für einen misrech-jid, keine Selbstverständlichkeit, sondern fast eine Heldentat darstellte, beinahe einem Gottesdienst gleich, war er stolz. Jeder koschere Bissen verband ihn tiefer mit dem jüdischen Glauben, mit dem Judentum.“28 Für den Familienzweig Grünstein, mit deren Tochter sich Johann Ketner verbindet, ist das koschere Essen nicht religiös aufgeladen, sondern tradiert. „Nun trug man einen blutroten, heißen Borschtsch auf, den Frau Grünstein genauso würzte, wie ihre Schwiegermutter es schon tat. Der Borschtsch dampfte heiß auf dem Tisch in seiner kräftigen Röte, wie früher in Osteuropa, als man den Borschtsch bei den Eltern des Rechtsanwalts serviert hatte.“29 Während Johann das erste Mal in seinem Leben Borschtsch probiert, wird er sogleich von Helene gewarnt und auf die familiäre Bedeutung des Borschtsch hingewiesen: „Der Höchste soll dich daran hindern, ein falsches Wort über die rote Suppe (so nannte sie den Borschtsch) zu verlieren. Denn die Suppe ist wie ein wertvolles antikes Erbstück schon von den Urgroßeltern weitergereicht worden, die Mutter wird dir ein falsches Wort darüber nie verzeihen“.30 Speisenauswahl und -zubereitung werden von Schneersohn sehr bewusst als differenzierter und differenzierender Distinktionsmarker genutzt. Im weiteren Verlauf nimmt der Protagonist des Romans ein Studium der Medizin in Berlin auf, währenddessen es zu mehreren Szenen der Aushandlung jüdischer Identitäten kommt, von denen nachfolgend einige reflektiert werden sollen. Während des Studiums begegnet Johann Ketner zum ersten Mal osteuropäisch-jüdischen Migranten, die an der Berliner Universität sofort auffallen.

27 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 31f. 28 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 31. 29 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 114. 30 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 114.

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Wie sehr sie sich auch bemühten, dajtschmerisch auszusehen, waren sie doch mit ihrem wilden, zerzausten Äußeren zu auffällig. Unter den glatt rasierten, elegant gekleideten Deutschen mit blütenweißen Stehkragen und besten, wenngleich steifen Manieren, unter genau diesen echt zivilisierten jungen Männern stachen die jüdisch-russischen Studenten mit ihrer hemdsärmeligen, aufbrausenden Natürlichkeit hervor. Nicht jedes Gesicht war frisch rasiert, nicht jeder Kragen blütenrein. Die Haare waren etwas ungekämmt und der Mantel, auch wenn er in Berlin gekauft worden war, wurde nicht immer frisch gebügelt, sondern schien schon etwas schäbig.31

Mit dem im Jiddischen negativ konnotierten Wort „dajtschmerisch“ ist zum einen ein Jiddisch gemeint, das mehr Deutsch als Jiddisch ist, also eher dem verwandten Deutsch, denn der osteuropäischen mame loshn ähnelt. Zum anderen bezeichnete es Verhaltensweisen, die als typisch deutsch bzw. deutsch-jüdisch begriffen werden. In dieser Szene wird die Figuration des Anderen konstruiert: Erstens im Sterotyp des Studenten aus Osteuropa und zweitens im Stereotyp des deutschen Studenten. Kleidung ist dabei für Schneersohn generell ein Stilmittel, um Differenzen zu beschreiben; Kaftane und schäbige Mäntel, Ballkleidung, Jarmulkes und Kepkes werden als Produzenten von Bedeutung im ,Da-Zwischen‘ inszeniert. Die Anwesenheit der osteuropäisch-jüdischen Studenten in Berlin löst unterschiedliche Reaktionen aus. „Einige der deutsch-jüdischen Studenten fühlten sich kompromittiert von den unzivilisierten ,Glaubensgenossen‘ aus dem Osten.“32 Für sie sind die Studenten gleichgesetzt mit der Grenadierstraße, deren Beschreibung aus einer deutsch-jüdischen studentischen Perspektive einleitend zitiert worden ist. Von nationalistisch und antisemitisch gesinnten Studentenverbindungen sind in jenen Jahren studentische Unruhen, die sich direkt gegen die jüdischen Studierenden aus Osteuropa richteten, ausgelöst worden. Die Reaktion der deutsch-jüdischen Studenten im Anatomischen Saal, dem Sektionssaal für die Medizinstudenten, irritiert den Protagonisten besonders, ohne dass er selbst beginnt zu handeln, sondern nur beobachtet. Einige stimmten den Verbindungsstudenten stillschweigend, andere ganz offen zu. Fritz [der Cousin des Protagonisten Johann Ketner, A.  B.] und einige andere liberale deutschjüdische Studenten beteiligten sich entschieden mit am Kampf gegen die neue ,Grenadierstraße‘ an der Universität. Mit Ausnahme gewisser Gruppen mischten sich auch die zionistisch-gestimmten Deutschen nur in sehr geringem Maße ein.33

Auch der Anatomische Saal wird zu einer Bühne im Theater der Identitäten.

31 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 72. 32 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 73. 33 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 80.

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Eine zentrale Figur des Romans insbesondere während der studentischen Jahre Ketners ist Pintschuk. An ihm lassen sich die den einzelnen Protagonisten innewohnenden Ambivalenzen und Brechungen besonders deutlich aufzeigen. Zugleich ist das Verhältnis des Protagonisten Johann Ketner zu Pintschuk ebenso ambivalent wie dessen Charakter. Es schwankt zwischen Bewunderung für den klaren politischen Standpunkt Pintschuks, moralischer Abneigung gegenüber dessen Lebenswandel und kulminiert in Distanzierung. Diese Distanzierung bringt Ketners Enttäuschung zum Ausdruck, dass Pintschuk keine befriedigenden Antworten auf seine fortwährende Suche weiß. Pintschuk hat als JeschiweStudent in Russland einige Jahre „teg gegessen“34, bevor er ins Militär eingezogen wurde, als Arbeiter seinen Lebensunterhalt verdient, dann sein Gymnasialexamen nachholt und schlussendlich zum Studium nach Berlin gekommen ist, da er als Jude in Russland nicht hätte studieren können. Als politischer Aktivist ist er einem radikalen Sozialismus zuzuordnen, gleichzeitig ist er ein Lebemann, der immer neue „Verhältnisse“ eingeht und sich darüber finanziert, dass er am Wochenende in der Synagoge im Chor singt. Wenngleich Pintschuk in seinem Berliner Leben nicht religiös ist, bleibt er, dies ist Schneersohns Grundthese, als misrech-jid einem selbstverständlichen Judentum verbunden. Zugleich ist seine politische Haltung mit Osteuropa bzw. Russland verknüpft. Seine Figur ist in verschiedene bipolare Konflikte eingebunden, sowohl zwischen linken und rechten jüdischen Sozialisten aus Osteuropa, antisemitischen Verbindungsstudenten und migrantischen Studenten als auch zwischen deutsch-jüdischen und osteuropäisch-jüdischen Studenten, für die er teilweise überraschende Lösungen entwickelt. Zugleich ist er derjenige, der vor dem Antisemitismus der Studentenverbindungen warnt, eine Warnung, die sich mehrfach im Roman wiederfindet. Man sollte nicht so blind sein, nicht zu sehen, dass die studentischen Unruhen, das Verhalten der Verbindungsstudenten gegenüber den ostjüdischen Studenten, bloß eine schwache „Probe“ sind. Diese Verbindungsstudenten werden irgendwann in einer bösen Stunde Deutschland beherrschen und wenn sie die Bühne betreten, werden sie dasselbe Trauerspiel mit den deutschen Juden aufführen. Passt rechtzeitig auf Euch auf […].35

Eine ähnliche Warnung spricht Johanns Onkel, der Bruder seines Vaters, aus. „Der giftige Judenhass, der früher schon so häufig heftig gewütet hat und der jetzt in den schwarzen Geheimbünden kultiviert wird, schläft nicht allzu tief. Er kann jede Sekunde ausbrechen, so wie manche Vulkane. Jahrelang sind sie ruhig

34 Traditionelles Unterstützungssystem für Jeschiwe-Studenten, die jeden Tag bei einer anderen Familie aßen. 35 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 80.

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und plötzlich strömt heiße Lava aus.“36 Beide Szenen machen deutlich, dass die Verhandlung jüdischer Identitäten im Berlin der 1900er- bis 1920er-Jahre auch immer in der Auseinandersetzung mit einem virulenten und gefährlichen Antisemitismus geschieht. Während seines Studiums, das schlussendlich auch Ausdruck seiner fortwährenden Suche ist, ist Johann zeitweise Mitglied der Burschenschaft, einer schlagenden Verbindung. Nach einer Kneipe der Burschenschaft wird er von einem jüngeren Mitglied antisemitisch beleidigt, der ihm daraufhin ein Duell zur Satisfaktion anbietet. Für Ketner ist der Vorfall jedoch Grund, nach langem Zögern und Zaudern aus der Burschenschaft auszutreten und dahin zu gehen, „wohin mich die jüdische Nase führt“.37 Anders als sein Cousin Fritz, der in der Burschenschaft verbleibt und aufsteigt. Auch der konstante Antisemitismus, dem er ausgesetzt ist, bringt Fritz Ketner nicht dazu, die Burschenschaft zu verlassen. Dieser eskaliert, als er von einem nicht-jüdischen Burschenschaftsmitglied, dem Sohn eines adligen Diplomaten, in dessen Schwester sich Fritz verliebt, niedergeschossen wird. Wieder genesen, verlässt er mit ihr zusammen zeitweise die Stadt. Seiner jüdischen Identität wird er erst gewahr, als er aus Liebe in seiner Existenz bedroht ist. Fritz Ketner meldet sich im Gegensatz zu Johann freiwillig im Ersten Weltkrieg an die Front, steigt bis in höchste Offiziersränge auf und wird in der Weimarer Republik ein bedeutender Politiker. Etliche Jahre nach dem Tod seiner Mutter nimmt Johann Ketner Kontakt zu seinem konservativ-orthodoxen Onkel, Professor Gerber, auf, um sich von ihm in die Religiosität der deutschen Orthodoxen einführen zu lassen. Ein gemeinsamer Freitagabendbesuch in der konservativen Synagoge ist für Johann bereits sehr beeindruckend. Er vergleicht diese Erfahrung mit seinen wenigen Besuchen im Tempel. Seine Überlegungen dehnt er auf die unterschiedliche Religiosität seines Vaters und seines Onkels aus. „Derselbe schwarze Gehrock und Zylinder, dieselben feiertäglich gemäßigten Schritte und dieselbe fromm aufrechte Haltung. Der Unterschied war aber, dass dies bei den Liberalen nur einige Male im Jahr vorkam (Rosch HaSchana und Jom Kippur), bei den Konservativen aber jede Woche. Zudem war ihre Religiosität ernster und intensiver.“38 Aber er findet auch Gemeinsamkeiten, die in Differenz zur chassidischen frumkeyt stehen. „Er [Johann, A.  B.] hatte sogar den Gedanken, dass man bei den Orthodoxen und Liberalen, wie bei den gojischen Protestanten, in der Religion die bekannten Wesenszüge des herrschenden preußischen Militarismus bemerkte: Eiserne Disziplin, steife Ordnung,

36 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 165. 37 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 66. 38 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 174f.

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feierliche Wichtigkeit, kontrollierte Ekstase, trocken, ohne Gefühlsaufwallungen und glühende Seelentiefe.“39 Noch beeindruckender ist für ihn jedoch die sich anschließende Begegnung mit einem osteuropäischen Chassid, dem meschulech, einem Gesandten der Chassidim in Berlin. „Man nannte ihn den meschulech, obwohl nicht jeder Deutsche die Bedeutung des Wortes kannte (und es deutsch ausgesprochen wird: Meschu-la-ach).“40 Meschulech ist das entsprechende jiddische Wort für Gesandter. Gerber lädt den meschulech spontan zum Abendessen zu sich ein. Dabei stellt sich als erstes heraus, dass dieser in Berlin weder Fleisch isst und noch Wein trinkt. Kiddusch spricht er daher folglich über den zwei Barches, westjiddischen Challot, die Schneersohn für seine Leser/-innen in Osteuropa sogleich als challes erklärt. Allerdings irritieren den meschulech die Barches sehr. „Bei uns bekommt jeder Mensch zwei große challes und bei Ihnen gibt es für alle zusammen zwei kleine challes. Entschuldigen Sie, dass ist irgendwie […].“41 Essen ist auch in dieser Situation Bestandteil der Aushandlung von Identität. Nachfolgend verwickelt Gerber den meschulech in ein Gespräch, indem er eine Frage stellt, die zum Disput führt: „Wie gefällt Ihnen unsere Synagoge?“42 Der meschulech hat in Berlin eigentlich dajtschmerische Verhaltensweisen angenommen. „Als angenehmer, zugewandter Mensch versuchte er mit anderen Leuten auszukommen. Er hatte sogar einige dajtschmerische Höflichkeitsformen übernommen (er trug so etwas ähnliches wie einen weißen Kragen, benutzte Worte wie ,Entschuldigen Sie‘ oder ,bitte‘, kaute keinen Tabak mehr, benutzte ein Taschentuch und dergleichen mehr).“43 Aber am Sabbat antwortet er ganz bei sich: „Für Berlin ist es eine schöne Synagoge.“44 Auf Gerbers leicht empörte Nachfrage, wieso denn nur für Berlin, führt er aus: Sie sollten keinen Groll hegen, ich werde Ihnen etwas erzählen. Es wird berichtet, dass der alte Graniever Rebbe, sein Andenken soll gesegnet sein, als er in Berlin war, sich wie ein Deutscher gekleidet hatte und am Schabbat in der Früh zu Ihnen in die Synagoge zum Beten ging. Er sagte anschließend, dass die Synagoge eine wahrhafte Photographie des Judentums sei […]. Wie eine Photographie gibt die Synagoge alles genau wieder, kein kleines Biss-

39 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 175f. 40 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 177. 41 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 184. 42 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 185. 43 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 177. 44 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 185.

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chen fehlt, es ist nur nichts lebendig. Es ist aber eine schöne Photographie, die der Höchste haben will.45

Die Berliner Orthodoxie ist für ihn marinierte Frömmigkeit. Kurz nach diesem Gespräch verabschiedet sich der meschulech und lässt die Familie Gerber geschockt zurück, so dass Frau Gerber von ihrem Mann verlangt: „Wenn du diese Ostjuden studieren willst, nimm sie mit ins Seminar, in die Synagoge, aber nicht zu den Kindern nach Hause.“46 Der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität ist bereits einige Male angerissen worden. Abschließend soll an drei Beispielen gezeigt werden, wie Schneersohn mit Sprache Identitäten darstellt. Dies geschieht erstens bei der Verwendung identitärer jiddischer Worte wie misrech-jidn und dajtschmerisch, zweitens durch erläuternde Übersetzungen im Text und drittens durch lautsprachliche Wiedergaben. Schneersohn verwendet erstens als Bezeichnung der osteuropäischen Jüdinnen und Juden bewusst zwei Worte: ostjidn und misrechjidn. Der negativ konnotierte Terminus „Ostjuden“ wird verwendet, sobald aus deutsch-jüdischer Perspektive über die Migrant/-innen gesprochen wird. Hingegen nutzt Schneersohn das jiddische Wort misrech-jidn, das die wörtliche Übersetzung von Ostjuden ist, als positive identitäre Selbstzuschreibung aus osteuropäisch-jüdischer Perspektive. Anhand dieses Wortes verhandelt Schneersohn die Identitäten vor allem der migrierten Protagonist/-innen. Auch das Wort dajtschmerisch beschreibt identitäre Differenzen, die auf Ost und West bezogen werden, wobei eine gewisse osteuropäisch-jüdische Interpretation dieser Differenzen ob der Konnotation des Wortes überwiegt. Erläuternde Übersetzungen im Text sind zweitens ein besonders spannendes Phänomen der Grenadierstraße. Als der Protagonist seine Bar-Mizwa feiert, verwendet Schneersohn im jiddischen Original das Wort Konfirmation und fügt Bar-Mizwa in Klammern hinzu. Gleiches gilt u. a. für die Verlobung, die als „tnoim“ erläutert wird. Drittens gibt der Autor die deutsche Aussprache jiddischer respektive hebräischer Worte wieder, wenn er z. B. ein lautmalerisches „Me-schu-la-ach“ einfügt und damit das Austarieren von Differenz und Überschneidung versprachlicht.

45 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 187. 46 Schneersohn, Grenadierstraße (wie Anm. 1), S. 190.

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Fazit: Aushandlung und Übersetzung Bedeutung wird in der Grenadierstraße als Übersetzung der Akteur/-innen zwischen Räumen, Subjekten und auch Sprachen ausgehandelt, hieraus gewinnt der Roman seine besondere Dynamik. Im ,Da-Zwischen‘ Berlins findet die Aushandlung jüdischer Identitäten zwischen Ost, West, liberal, konservativ, orthodox und/oder chassidisch, zionistisch und/oder assimiliert statt. Als Stilmittel der Distinktion verwendet er dabei die genaue Beschreibung äußerer Erscheinungsmerkmale wie Kleidung, aber auch Essen, Sprache und Verhalten werden von ihm differenzierend charakterisiert. Eine Meta-Ebene der Erklärung und des Kommentars, die außerhalb der eigentlichen Romanhandlung steht, dient ihm dabei als ,Da-Zwischen‘ der Erläuterung und auch Belehrung zwischen Autor und Leser/-innen. Schneersohn lässt sich trotz seiner teils holzschnittartigen Zeichnungen der Figuren allerdings nicht auf binäre Dichotomien ein, sondern öffnet alle Figuren für Ambivalenzen, Brechungen und Dynamiken. Die Verwendung des Konzepts des ,Da-Zwischen‘ lässt dabei erkennen, „was dazwischen liegt und Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander trennen“47. Dort und hier, ,Da-Zwischen‘, wird auch Identität ausgehandelt, mit Arendt das „Wer-einer-ist“48. Schneersohn verhandelt in der Grenadierstraße, so lässt sich abschließend festhalten, die Identitäten seiner Protagonist/-innen vor allem durch Übersetzung und Kulturtransfer. Dies sollte im Berlin jener Jahre nicht überraschen, denn „[s]prachliche Übersetzung und kulturelle Übertragung befanden sich an diesem heterogenen Ort gewissermaßen im Zentrum des Geschehens.“49 Die skizzierten jüdischen Identitäten im Berlin der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, allen voran die des suchenden Ketners, aber auch die Pintschuks, sind hybride, oszillieren, sie sind ,Da-Zwischen‘ und dennoch stabil in ihrer steten Prozessualität.

Literatur Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 9. Aufl. München: Piper 2010. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006.

47 Arendt, Vita activa (wie Anm. 10), S. 224. 48 Arendt, Vita activa (wie Anm. 10), S. 222. 49 Terpitz, Olaf: Berlin als Ort der Vermittlung – Simon Dubnow und seine Übersetzer. In: Dohrn/Pickhan, Transit (wie Anm. 7), S. 114–135, hier S. 115.

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Beradt, Martin: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Frankfurt/M. 2000. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. Reprinted. London 2007. Bhabha, Homi K.: Preface. In the Cave of Making: Thoughts on Third Space. In: Ikas, Karin Rosa/ Wagner, Gerhard (Hrsg.): Communicating in the Third Space. New York 2009. (Routledge Research in Cultural and Media Studies, 18). S. ix–xiv. Brauch, Julia/Lipphardt, Anna/Nocke, Alexandra (Hrsg.): Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place. Aldershot 2008. Breger, Claudia/Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten. In: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Hrsg. v. dens. Amsterdam 1998 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, 30). S. 1-18. Brinkmann, Tobias: Ort des Übergangs – Berlin als Schnittstelle der jüdischen Migration aus Osteuropa nach 1918. In: Transit und Transformation – Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Hrsg. v. Verena Dohrn u. Gertrud Pickhan. Göttingen 2010. S. 25–44. Dohrn, Verena/Saß, Anne-Christin: Einführung. In: Transit und Transformation – Osteuropäischjüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Hrsg. v. Verena Dohrn u. Gertrud Pickhan. Göttingen 2010. S. 9–24. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hrsg. v. Jörg Döring u. Tristan Thielmann. Bielefeld 2008. S. 7–45. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981. Hoff, Karin: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland. Göttingen 2003 (Grenzgänge. Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte 4). Krutikov, Mikhail: „Oberflächenäußerungen“ and “Grundgehalt“ – Weimar Berlin as a Memory Site of Yiddish Literature. In: Transit und Transformation – Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Hrsg. v. Verena Dohrn u. Gertrud Pickhan. Göttingen 2010. S. 274–292. Krutikov, Mikhail: fishl shniarson: ekspeditsies in dem neshome-land, http://yiddish.forward. com/node/3133 (7.9.2011). Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford 1991. Marcuse, Peter: Globalisierung nach dem 11. September: städtische, politische und ökonomische Auswirkungen. In: Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen. Hrsg. v. Albert Scharenberg u. Oliver Schmidtke. Münster 2003. S. 232–253. Pinsker, Shachar: Spaces of Hebrew and Yiddish Modernism – The Urban Cafés of Berlin. In: Transit und Transformation – Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Hrsg. v. Verena Dohrn u. Gertrud Pickhan. Göttingen 2010. S. 56–76. Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft, 3. Aufl. München 2010. Saß, Anne-Christin: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012. Schneersohn, Fischl: Grenadierstraße. Hrsg. v. Anne-Christin Saß. Mit einem Nachwort von Mikhail Krutikov. Aus dem Jiddischen von Alina Bothe. Göttingen 2012. Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge 1996. Terpitz, Olaf: Berlin als Ort der Vermittlung – Simon Dubnow und seine Übersetzer. In: Transit und Transformation – Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939. Hrsg. v. Verena Dohrn u. Gertrud Pickhan. Göttingen 2010. S. 114–135

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„... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären …“1 Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik

Einleitung Als der deutsch-jüdische Jurist und Publizist Dr. Berthold Haase am 25. Januar 1923 in der C.V.-Zeitung über Umfang und Charakter der Einwanderung osteuropäischer Juden im Jahr 1922 berichtet, konstatiert er: „Es ist gewiß bedauerlich, daß die jüdischen Ausländer aus dem Osten durch ihr Gebahren [!] und durch ihre rückständige Zivilisation unangenehm auffallen. Es ist begreiflich, daß die hochkultivierten deutschen Juden dies als besonders lästig empfinden.“2 Über diese Äußerung echauffiert sich darauf in der Zeitung Jüdische Rundschau der Redakteur der Presse-Rundschau: Die Gegenüberstellung des „hochkultivierten deutschen Juden“ und der „durch ihr Gebaren und durch ihre rückständige Zivilisation unangenehm auffallenden Ostjuden“ bedeutet eine Beleidigung des jüdischen Volkes, die sich der Centralverein, der angebliche Wahrer der jüdischen Ehre, nicht zuschulden kommen lassen dürfte.3

Offenbar vertreten hier zwei große deutsch-jüdische Zeitungen gänzlich konträre Haltungen den osteuropäischen Juden gegenüber. Handelt es sich bei der ersten Äußerung um einen verbalen Fauxpas, der nicht die grundsätzliche Haltung der C.V.-Zeitung repräsentiert, oder kommt hier eine generelle Distanzierung des liberal-jüdischen Milieus den osteuropäischen Juden gegenüber zum Ausdruck? Und vertritt die Zeitung Jüdische Rundschau tatsächlich eine solidarischere Haltung

1 C.V.-Zeitung, 5. 6. 1924, Nr. 23. S. 341. An der zitierten Stelle räumt der Autor des Artikels, Ludwig Haas, ein, dass eine pauschale Vorverurteilung der Ostjuden abzulehnen sei, betont jedoch gleichzeitig die primäre Loyaliät der deutschen Juden zum deutschen Vaterland. 2 C.V.-Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 27. 3 Jüdische Rundschau 30. 1. 1923, Nr. 9. S. 44.

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gegenüber den Ostjuden4, die der Empörung in der Replik auf Haase gerecht wird? Und wenn dies der Fall ist, inwiefern unterscheidet sich das Verhältnis der verschiedenen Strömungen im deutschen Judentum zu den Ostjuden und welche Rückschlüsse auf die deutsch-jüdischen Identitäten lassen sich daraus ableiten? Zwischen 1914 und 1921 wanderten etwa 100 000 osteuropäische Juden nach Deutschland ein.5 Bei der Volkszählung im Jahr 1925 machten die osteuropäischen Juden einen Anteil von 15,2 % an der Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Juden aus, also zweieinhalb Mal so viel wie im Jahr 1900 (5,9 %).6 Die vorliegende Untersuchung fragt danach, welche Bedeutung dieser – innerhalb der jüdischen Bevölkerung – signifikanten Gruppe bei den Identitätskonstruktionen der deutschen Juden während der Weimarer Republik zukommt. Diese Frage stellt sich einerseits auf einer innerjüdischen Ebene: Wie wurde in der deutsch-jüdischen Presse die ostjüdische Identität zur deutsch-jüdischen Identität ins Verhältnis gesetzt und diskutiert? Andererseits spielt bei den Identitätskonstruktionen der deutschen Juden auch eine wichtige Rolle, wie sie ihre Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt wahrnahmen: Es ist also zu erörtern, welche Funktionen die Ostjuden bei der Selbstverortung der deutschen Juden innerhalb der deutschen Gesellschaft und des deutschen Staates einnahmen. Für die Bildung der Arbeitshypothese werden die Überlegungen Shulamit Volkovs über die dissimilierenden Effekte der Konfrontation der deutschen Juden mit den Ostjuden im Kaiserreich für die Zeit der Weimarer Republik einbezogen.7

4 Der Begriff Ostjude wurde 1903 von dem Publizisten Nathan Birnbaum geprägt, und bezeichnete diejenigen osteuropäischen Juden, die sich nicht akkulturiert hatten, Jiddisch sprachen und ein traditionell orthodoxes Religionsverständnis hatten (vgl. Kußmaul, Sibylle: Die „Ostjuden“ in Nürnberg 1880–1933. Eine Minderheit zwischen Ausweisung und Assimilation. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 84 [1997]. S. 150). Obwohl der Begriff aufgrund seiner zeitgenössischen Vereinnahmung durch die Antisemiten und seines pauschalisierenden Charakters problematisch ist, wird er hier aus pragmatischen Gründen verwendet. 5 Vgl. Blank, Inge: „… nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof“. Ostjuden in Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Klaus J. Bade. München 1993. S. 327. 6 Vgl. Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 12). S. 72. 7 Volkov, Shulamit: Die Dynamik der Dissimilation. Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer. In: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays. Hrsg. v. dies. München 1990. S. 166–180.

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Methode Als quellenhistorischer Ausgangspunkt für die Analyse werden deutsch-jüdische Periodika der Weimarer Zeit gewählt. Die historische deutsch-jüdische Presse8 ist eine aufschlussreiche Quelle für die Erforschung der Binnendiskurse innerhalb des Judentums, da sie von Juden produziert wurde, sich in erster Linie an ein jüdisches Publikum richtete und das wichtigste Massenmedium des politischen, kulturellen und religiösen Austausches deutscher Juden darstellte.9 Es werden die auflagenstärksten reichsweit vertriebenen Zeitungen der bedeutendsten Strömungen und politischen Richtungen im Judentum ausgewertet. Diese Zeitungen waren Im deutschen Reich (für 1918 bis 1922) bzw. die C.V.-Zeitung (für 1922 bis 1925; beide vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens herausgegeben) für das religiös liberal und politisch konservativ ausgerichtete Judentum, Der Israelit für die Orthodoxie und die Jüdische Rundschau für den Zionismus. Als Untersuchungszeitraum wird die Zeit von 1918 bis 1925 gewählt, da in dieser Phase die Berichterstattung über die Ostjuden in Deutschland eine substantielle Rolle in den deutsch-jüdischen Zeitungen gespielt hat. Ab Mitte der 1920er-Jahre nahm die Berichterstattung über die ostjüdischen Emigranten zugunsten einer intensiven Beschäftigung mit den zunehmend bedrohlichen nationalsozialistischen Aktivitäten rapide ab. Das methodische Vorgehen zur Analyse der Berichterstattung über die Ostjuden in der deutsch-jüdischen Presse orientiert sich an Überlegungen der historischen Diskursanalyse (DA), die davon ausgeht, dass historische Realitäten und historisches Wissen Konstrukte sind, die durch Diskurse strukturiert werden. Michel Foucaults Diskursbegriff, an dem sich diese Untersuchung orientiert, kann umrissen werden als die Summe von regelmäßig auftretenden Aussagen

8 Entsprechend der jüdischen Presseforschung wird deutsch-jüdische Presse hier definiert als Gesamtheit der Presseerzeugnisse, die von Juden für ein jüdisches Publikum produziert sind und sich mit jüdischen Themen befassen (vgl. Nagel, Michael: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. In: 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext. Hrsg. v. Martin Welke. Bremen 2008 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge, Bd. 22 i.e. 23). S. 379; Terlau, Achim [u. a.] (Hrsg.): Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den ersten Zionistenkongreß, die „Ostjudenfrage“ und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse. Tübingen 2003 (= Conditio Judaica, Bd. 45), S. VII; EdelheimMuehsam, Margaret T.: The Jewish Press in Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book 1 [1956]. S. 163). 9 Vgl. Terlau, Positionierung (wie Anm. 8), S. VII; Nagel, Presse (wie Anm. 8), S. 283–284.

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über bestimmte Dinge.10 Der Rahmen der Aussagen ist begrenzt durch eine in der Gesellschaft allgegenwärtig wirksame Regulierung, die den Diskurs vorstrukturiert und dessen Akteuren doch nicht bewusst ist. Der Diskurs normiert also das „Sagbare, Denkbare und Machbare“.11 In der vorliegenden Untersuchung werden regelmäßig auftretende Aussagen über die osteuropäischen Juden in deutschjüdischen Zeitungen herausgearbeitet und dahingehend untersucht, wie sie die Identitätskonstruktionen deutscher Juden beeinflussten. Auch der Rahmen, in dem sich diese Aussagen bewegten, wird aufgezeigt, um die Beschränkungen des Diskurses über die Ostjuden zu verdeutlichen. Bei der Auswertung der Zeitungen wird nur der Berichterstattungsteil berücksichtigt, d. h. Inserate und Beilagen werden nicht einbezogen. Die Analyse der Texte erfolgt auf zwei Ebenen: Zunächst werden die Artikel des Quellenkorpus quantitativ ausgewertet, das heißt, dass die Fläche, die sie in den Zeitungen einnehmen, vermessen wird. So können die Anteile und Konjunkturen von bestimmten Themenbereichen der Berichterstattung über die Ostjuden berechnet und grafisch dargestellt werden, wie es im Diagramm 1 auf S. 141 geschieht. Eine Auswahl von Themen, die sowohl einen signifikanten Raum innerhalb der Berichterstattung über Ostjuden einnehmen als auch eine inhaltliche Relevanz für den identitätsbildenden Diskurs über die osteuropäischen Juden haben, wird auf inhaltlicher Ebene detaillierter analysiert. Diese Themen sind „Antisemitismus gegenüber Ostjuden“  (33,8  %), „Politische und administrative Aktivitäten in Bezug auf die Ostjuden“ (33,2 %) und „Deutsch-jüdische Wohltätigkeit und Wohlfahrt für die ostjüdischen Migranten“  (22,4  %). Der Schwerpunkt der Inhaltsanalyse liegt bei Deutungs- und Argumentationsmustern in der Berichterstattung über die osteuropäischen Juden, die Tendenzen zur Assimilation bzw. zur Dissimilation der jeweiligen Gruppen im deutschen Judentum in Bezug auf die deutsche Gesellschaft aufweisen.12

10 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981. S. 170. 11 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt/M. 2008. S. 105. 12 Assimilation und Dissimilation werden hier entsprechend Volkovs Ausführungen definiert: Assimilation wird als Prozess der Angleichung an die deutsche Gesellschaft gedeutet und Dissimilation als Prozess der Festigung der jüdischen Identität, der mit einer Distanzierung von der deutschen Gesellschaft einhergeht, interpretiert (vgl. Volkov, Dynamik (wie Anm. 7), S. 166–167).

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Diagramm 1: Anteile der Schwerpunktthemen an der Berichterstattung über Ostjuden in allen untersuchten Zeitungen insgesamt in Prozent.

Shulamit Volkovs Dissimilationsthese Der israelischen Historikerin Shulamit Volkov zufolge herrschte in der Zeit des Kaiserreiches innerhalb des Judentums eine Dynamik, die der Akkulturation und der Integration der deutschen Juden in die nicht-jüdische Gesellschaft entgegenwirkte.13 Volkov zufolge wurde das Verhältnis der deutschen Juden zu den osteuropäischen Juden zum einen durch den Umstand geprägt, dass erstere den scheinbar vor allem gegen die Ostjuden gerichteten Antisemitismus zunehmend auch auf das deutsche Judentum bezogen interpretierten.14 Zum anderen hätten die Konfrontation und der Kontakt mit den osteuropäischen Juden bei einem Teil der deutschen Juden zu einer Hinwendung zur jüdischen Religion und Tradition oder auch zur säkularen Ideologie des Zionismus geführt.15 Allerdings habe die Begegnung der deutschen Juden mit den osteuropäischen Juden partiell auch dazu geführt, dass sich die deutschen Juden stärker an die deutsche Gesellschaft assimilierten: Zum einen konnte das Ansteigen des Antisemitismus oder die Angst davor das Bedürfnis der deutschen Juden bestär-

13 Vgl. Volkov, Dynamik (wie Anm. 7), S. 167. 14 Vgl. Volkov, Dynamik (wie Anm. 7), S. 172–173. 15 Vgl. Volkov, Dynamik (wie Anm. 7), S. 179–180.

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ken, sich gegenüber den Ostjuden abzugrenzen. Zum anderen stellt Volkov in Anlehnung an die Forschungen Norbert Elias’ eine gesteigerte innere Distanz der deutschen Juden gegenüber den Ostjuden nach Abschluss der Emanzipation fest: Die nun an ihrem Statuserhalt interessierten deutschen Juden hätten den osteuropäischen Juden gegenüber Peinlichkeit und Scham empfunden.16 Die Überlegungen Volkovs unterscheiden ebenso wie auch die skizzierte Fragestellung zwischen einem innerjüdischen Schauplatz, auf dem sich deutsche und osteuropäische Juden kulturell begegneten, und einem außerjüdischen Schauplatz, auf dem osteuropäische und deutsche Juden mit dem Antisemitismus der nichtjüdischen Umwelt konfrontiert wurden. In der Umsetzung der Dissimilationsthese in Bezug auf die Weimarer Republik wird diese den Themen der Analyse entsprechend abgewandelt und erweitert: Im Bereich der Beziehungen der deutschen Juden zur nicht-jüdischen Umwelt werden dem Antisemitismus die politischen und administrativen Maßnahmen in Bezug auf die Ostjuden hinzugefügt. Da in der Weimarer Republik die zumeist virtuelle Begegnung der deutschen Juden mit den Ostjuden weniger auf der kulturellen Ebene als vielmehr im Bereich der Wohltätigkeit und Wohlfahrt stattfand, repräsentiert dieser Bereich die Sphäre der innerjüdischen Beziehungen.

Analyse der Berichterstattung deutsch-jüdischer Zeitungen über die osteuropäischen Juden „... Ausfluß einer überhitzten Phantasie ...“17 Die Berichterstattung über den Antisemitismus gegenüber den Ostjuden Im Kontext des gegen die ostjüdischen Emigranten gerichteten Antisemitismus ist der Scheunenviertelpogrom in Berlin Anfang November 1923 das sicherlich drastischste Ereignis. Die Ausschreitungen erstreckten sich über zwei Tage, und die Beteiligten plünderten in ihrem Zuge Geschäfte, demolierten jüdisches Eigentum, verletzten und demütigten jüdische Bürger.18 Von höherer Kontinui-

16 Vgl. Volkov, Dynamik (wie Anm. 7), S. 178–179. 17 Der Israelit, 4. 12. 1924, Nr. 49. S. 2. 18 Vgl. Clay Large, David: Out with the Ostjuden. The Scheunenviertel Riots in Berlin, November 1923. In: Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History. Hrsg. v. Christhard Hoffmann, Werner Bergmann u. Helmut Walser Smith. Ann Arbor 2002. S. 130–133.

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tät im Untersuchungszeitraum von 1918 bis 1925 war jedoch nicht antisemitische Gewalt, sondern vielmehr eine anhaltende Agitation gegen die osteuropäischen Juden, v. a. durch Organisationen wie die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund. Diese Agitation beinhaltete neben klassisch antisemitischen Stereotypen, wie dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung, v.  a. die Behauptung einer Masseninvasion von Ostjuden nach Deutschland, und den Vorwurf, die Ostjuden würden von der wirtschaftlich unstabilen Lage nutznießen und wären in kriminelle Aktivitäten verstrickt.19

Untersuchung von Konjunkturen der Berichterstattung Die starke Zunahme des Anteils der Berichterstattung über antisemitische Hetze und Aktivitäten gegen die osteuropäischen Juden vom Jahr 1918 auf das Jahr 1919 von 0 % auf 35,7 % (Diagramm 1) ist wenig aussagekräftig, da für die Jahre 1918 und 1919 der Großteil der Ausgaben der Zeitung Der Israelit fehlt20 und die Jüdische Rundschau mit 29 von 31 Artikeln insgesamt im Quellenkorpus überproportional vertreten ist. Im Vergleich zur tatsächlichen Themengewichtung hat hier also möglicherweise eine Verzerrung stattgefunden. Der neuerliche Anstieg der Berichte im Jahr 1920 hängt vor allem mit einer intensiven Auseinandersetzung der liberalen Juden in der Zeitschrift Im deutschen Reich mit dem Antisemitismus gegenüber den Ostjuden zusammen. Zu einer zweiten Hochphase der Berichterstattung über den gegen die Ostjuden gerichteten Antisemitismus (neben dem Anstieg 1919 und 1920) kam es unter dem Eindruck des Scheunenviertelpogroms und des Erstarkens des Antisemitismus in Bayern im Jahr 1923: Der Anteil des Themas an der Gesamtberichterstattung über die osteuropäischen Juden stieg um gute zehn Prozentpunkte an und blieb auch im Folgejahr konstant. Im letzten Jahr des Untersuchungszeitraumes 1925, in dem es keine Aufsehen erregenden Entwicklungen hinsichtlich des Antisemitismus gegen die osteuropäischen Juden gab, nahm die Berichterstattung im Vergleich zum Vorjahr 1924 um über die Hälfte ab (von 37,6 % auf 17,7 %).

19 Vgl. Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness. 1800–1923. Madison 1999. S. 230–233. 20 Es liegen lediglich die Ausgaben Nr. 43 für 1918 und Nr. 1, 49–50 und 51 für 1919 vor. Die restlichen Ausgaben sind nicht erhalten bzw. archivalisch nicht verfügbar.

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Analyse inhaltlicher Charakteristika der Berichterstattung In allen vier untersuchten Periodika veränderte sich die Berichterstattung über den gegen die Ostjuden gerichteten Antisemitismus in den Jahren zwischen 1918 und 1925 massiv, jedoch auf ganz unterschiedliche Weise. Bevor diese Veränderungen detaillierter untersucht werden, sei zunächst auf einige Konstanten hingewiesen: Die Zeitschrift Im deutschen Reich, die C.V.-Zeitung und die Zeitung Der Israelit verfolgten über den gesamten Untersuchungszeitraum die Strategie, die antisemitischen Fehlinformationen über die ostjüdische Einwanderung argumentativ zu widerlegen.21 Konsistent mit der zionistischen Auffassung, dass das Problem des Antisemitismus in der Diaspora unlösbar sei, ist in der Zeitung Jüdische Rundschau der Tonfall deutlich weniger apologetisch und aufklärerisch als in den übrigen Zeitungen.22 Das augenfälligste Merkmal ist hier die vielfach wiederholte Beteuerung der Solidarität der Zionisten mit den Ostjuden.23 Bei allen untersuchten Zeitungen stellte der Scheunenviertelpogrom im November 1923 eine Zäsur in der Berichterstattung über den Antisemitismus gegen die Ostjuden dar: Während in den Periodika des Centralvereins in den Jahren 1920 bis 1923 explizit positive Darstellungen von osteuropäischen Juden regelmäßig auftraten, sind solche Darstellungen nach November 1923 nicht mehr zu finden. Vielmehr nahmen Äußerungen zu, in denen die Journalisten die Distanz zwischen Ostjuden und deutschen Juden bekräftigten. Auch fällt auf, dass die C.V.-Zeitung insgesamt nur zwei Artikel zum Scheunenviertelpogrom veröffentlichte. In diesen Beiträgen fehlt jegliche Stellungnahme der Redaktion zu den Ereignissen. Die primär Betroffenen des Pogroms, also die Ostjuden, werden nicht direkt benannt.24 In den Beiträgen der Zeitung Der Israelit zum Scheunenviertelpogrom wurde eine Dichotomie zwischen dem antisemitischen „berufsmäßigen Berliner Verbrechergesindel […]“, das den Pogrom initiiert hätte, und der übrigen Bevölkerung konstruiert. Die Beteiligung der übrigen Bevölkerung sei nicht auf antisemitische Motive, sondern auf die wirtschaftliche Not zurückzuführen. Somit wurde der Antisemitismus als gesellschaftliches Phänomen marginalisiert. Aufschlussreich hinsichtlich der orthodoxen Haltung gegenüber dem Antisemitismus sind

21 Vgl. u. a. Im deutschen Reich, Juli 1895, Nr. 1. S. 2f. ; C.V.-Zeitung, 4. 5. 1922, Nr. 1. S. 2–3; Der Israelit, 27. 3. 1924, Nr. 13. S. 2. 22 Beispielhaft für diese Position vgl. Jüdische Rundschau, 30. 11. 1923, Nr. 100. S. 580; Jüdische Rundschau, 6. 7. 1920, Nr. 44. S. 353. 23 Vgl. u. a. Jüdische Rundschau, 3. 10. 1919, Nr. 70. S. 1; Jüdische Rundschau, 20. 11. 1923, Nr. 97. S. 561; Jüdische Rundschau, 3. 2. 1925, Nr. 10. S. 89. 24 Vgl. C.V.-Zeitung, 23. 11. 1923, Nr. 45. S. 347–349.

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die Konsequenzen, die aus dem Scheunenviertelpogrom gezogen wurden: Die orthodoxen Juden sollten den Antisemitismus nicht bekämpfen, sondern sich stattdessen auf die religiösen Werte und Inhalte des Judentums besinnen.25 Diese Interpretation der Ereignisse durch die orthodoxe Zeitung lässt sich nicht eindeutig in das Analyseschema von Assimilation und Dissimilation einordnen. Der Rückzug aus dem Kampf gegen den Antisemitismus bedeutet einerseits, dass potentielle Konfrontationen in der deutschen Gesellschaft und Politik vermieden wurden, hat also eine assimilatorische Komponente. Andererseits beinhaltet die Forderung nach der Rückbesinnung auf religiöse Werte auch eine Bejahung der jüdischen Identität, die mit einer Abgrenzung von der nicht-jüdischen Umwelt einhergehen kann. In der Berichterstattung über den Antisemitismus gegen die Ostjuden der Zeitung Jüdische Rundschau ist insgesamt eine Abkehr von der deutschen Gesellschaft erkennbar: Anfangs dominierten Erklärungsmuster, die antisemitische Hetze gegen die Ostjuden und deren Erfolg auf die wirtschaftliche Krisensituation zurückführen.26 Im Kontext des Scheunenviertelpogroms jedoch wurden wirtschaftliche Motivationen bei den Plünderungen zwar anerkannt, der Ursprung der Ausschreitungen jedoch auf einen genuin antisemitischen Hass zurückgeführt. Die Frustration über die staatliche Wirtschaftspolitik und die Krisenlage hätte die Unruhen lediglich kanalisiert und den Beteiligten einen Anlass gegeben, ihre antisemitischen Ressentiments in gewalttätiges Handeln umzusetzen.27

„Die Ostjuden sollen behandelt werden wie alle Ausländer, nicht besser, aber auch nicht schlechter.“28 Die Berichterstattung über die ,Ostjudenpolitik‘ Die gesetzliche Lage hinsichtlich der ostjüdischen Migranten wurde während der Weimarer Republik durch eine Reihe von Erlassen geregelt. Insgesamt lässt sich sowohl in Preußen als auch in Bayern eine Verschärfung der rechtlichen Lage für die Ostjuden bis Mitte der 1920er-Jahre feststellen.29 In Preußen äußerte sich

25 Vgl. Der Israelit, 15. 11. 1923, Nr. 46. S. 1–2. 26 Vgl. Jüdische Rundschau, 19. 12. 1919, Nr. 90. S. 703 u. 705. 27 Vgl. Jüdische Rundschau, 9. 11. 1923, Nr. 96. S. 538. 28 C.V.-Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 26. 29 Ausführlicher zu den Erlassen in Preußen vgl. Aschheim, Steven E.: The Double Exile. Weimar Culture and the East European Jews. 1918–1923. In: Towards the Holocaust. The Social and Economic Collapse of the Weimar Republic. Hrsg. v. Michael N. Dobkowski u. Isidor Wallimann. Westport 1983. S. 231–232; Blank, Heimat (wie Anm. 5), S. 327–328; Heid, Ludger:

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dies durch verschiedene Internierungsaktionen auf der Grundlage des Ediktes des preußischen Ministerpräsidenten vom 17. November 1920.30 In Bayern, wo die Nationalsozialisten einen vergleichsweisen großen politischen Einfluss ausübten, erging am 5. Oktober 1923 ein Erlass, der die Ausweisung von Ausländern festlegte, die gegen die Wuchergesetzgebung verstießen. Über die tatsächliche Umsetzung dieses de facto gegen die osteuropäischen Juden gerichteten Erlasses ist wenig bekannt, es waren jedoch etwa 5 000 Ostjuden durch den Erlass von der Ausweisung bedroht.31

Untersuchung von Konjunkturen der Berichterstattung Das Thema „Politische und administrative Aktivitäten in Bezug auf die Ostjuden“ hat in jedem Jahr des Untersuchungszeitraums von 1918 bis 1925 einen signifikanten Anteil an der Gesamtberichterstattung über die osteuropäischen Juden (Diagramm 1), und seine Konjunkturen sind in hohem Maße an der politischen Ereignisgeschichte dieser Phase orientiert. Der erste Anstieg im Jahr 1919 auf 26,5 % Anteil an der Gesamtberichterstattung ist auf das im November erlassene Edikt des preußischen Innenministers Wolfgang Heine zum Aufenthaltsrecht der Ostjuden in Preußen zurückzuführen. In den Jahren 1920 bis 1924 oszillierte der Anteil an Beiträgen zum Thema um den Mittelwert von 35,7 %. Das generell hohe Niveau des Flächenanteils der ,Ostjudenpolitik‘ an der Gesamtberichterstattung über Ostjuden dieser Jahre liegt darin begründet, dass die politischen Entwicklungen in Bezug auf die Ostjuden sehr genau von der deutsch-jüdischen Presse beobachtet wurden und in dieser Phase wichtige Entwicklungen in diesem Bereich stattfanden. In den Jahren 1921, als ostjüdische Ausländer in Konzentrationslagern interniert wurden, und 1923, dem Jahr der Ausweisungsaktionen in Bayern, war der Anteil der Berichterstattung in diesem Themenbereich besonders hoch. Im

„Die Juden sollen ruhig verbrennen!“. Ostjuden im Konzentrationslager Stargard (1921). In: „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben …“. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern. Ein Sammelband. Hrsg. v. Margret Heitmann. Hildesheim 1996. S. 401 u. 404. 30 Ausführlicher zu den Internierungen vgl. Aschheim, Exile (wie Anm. 29), S. 232; Blank, Heimat (wie Anm. 5), S. 328.; Clay Large, Ostjuden (wie Anm. 18), S. 127. 31 Ausführlicher zu den sog. „Ostjudenausweisungen“ in Bayern vgl. Adler-Rudel, Salomon: Ostjuden in Deutschland, 1880–1940. Zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten. Tübingen 1959. S. 328–337; Blank, Heimat (wie Anm. 5), S. 328; Pommerin, Reiner: Die Ausweisung von Ostjuden aus Bayern 1923. Ein Beitrag zum Krisenjahr der Weimarer Republik. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 34 (1986). S. 313.

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Jahr 1925 sank der Anteil der Berichterstattung zum Thema dann auf den zweitniedrigsten Wert von 22,1 %.

Analyse inhaltlicher Charakteristika der Berichterstattung Bei den C.V.-Publikationen, der Zeitung Der Israelit und mit Einschränkungen auch bei der Zeitung Jüdische Rundschau lässt sich in der Berichterstattung über politische und administrative Maßnahmen, die sich auf die ostjüdischen Einwanderer bezogen, eine grundsätzlich unterschiedliche Bewertung der bayerischen und preußischen Politik feststellen. Zwar wurden in den Jahren 1918 bis 1922 in Im deutschen Reich und C.V.‑Zeitung anfangs noch vereinzelt kritische Äußerungen hinsichtlich der sogenannten ,Ostjudenpolitik‘ in Preußen formuliert, z.  B. hinsichtlich der Internierung von Ostjuden im Lager Stargard im Jahr 1921.32 Allerdings wurde hier ein struktureller Antisemitismus, der die Internierungen erst möglich gemacht hatte, nicht in Erwägung gezogen. Abgesehen davon nahmen positive Bewertungen der ,Ostjudenpolitik‘ der preußischen Regierung zu, die unter anderem als konstruktiv,33 besonnen34 und von „staatsmännische[m] Geiste erfüllt“35 charakterisiert wurde. Zwar wurden die bayerischen Ausweisungsaktionen in der C.V.-Zeitung als antisemitisch motiviert dargestellt.36 Es wurde jedoch an keiner Stelle explizit für die Ostjuden Partei ergriffen: Weder wurden die Ausweisungsaktionen als Ostjudenausweisungen bezeichnet, noch wurden die Ungerechtigkeit der Ausweisungen im Einzelnen angeprangert, wie es jeweils in den übrigen Zeitungen geschah. Die Entwicklungen im bayerischen Fremdenrecht wurden in der Zeitung Der Israelit durchgehend als gezielt gegen die Juden unter den Einwanderern gerichtet eingestuft.37 Insbesondere die Bedingungen, unter denen die Ausweisungen durchgeführt wurden, wurden als Schikanen und Diskriminierung kritisiert38 und mit traumatischen Ereignissen der jüdischen Geschichte, wie der Vertreibung aus Spanien im Jahr 149239 verglichen. Während die Journalisten der

32 Vgl. Im deutschen Reich, Juli 1921, Nr. 7–8. S. 217; C.V.-Zeitung, 4. 5. 1922, Nr. 1. S. 6. 33 Vgl. Im deutschen Reich, Juli 1921, Nr. 7–8. S. 218–219. 34 Vgl. Im deutschen Reich, Juli 1921, Nr. 7–8. S. 218. 35 C.V.-Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 26. 36 Vgl. C.V.-Zeitung, 2. 11. 1923, Nr. 44. S. 339; C.V.-Zeitung, 24. 1. 1924, Nr. 4. S. 27. 37 Vgl. u. a. Der Israelit, 15. 4. 1920, Nr. 15. S. 4; Der Israelit, 1. 11. 1923, Nr. 44. S. 2; Der Israelit, 25. 12. 1924, Nr. 52. S. 5. 38 Vgl. u. a. Der Israelit, 1. 11. 1923, Nr 44. S. 5; Der Israelit, 25. 12. 1924, Nr. 52. S. 5. 39 Vgl. Der Israelit, 1. 11. 1923, Nr. 44. S. 2.

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Zeitung Der Israelit also nicht zögerten, den bayerischen Staat als Hochburg eines politisch tolerierten Antisemitismus zu kritisieren, ist die Darstellung der ,Ostjudenpolitik‘ in Preußen deutlich vielschichtiger: Das Handeln der Regierung und des preußischen Landtages wurde von Behörden und Verwaltung prinzipiell mit unterschiedlichen Maßstäben bewertet. Landtagsabgeordneten wurde beispielsweise mangelndes Verständnis und Mitgefühl für die ostjüdischen Flüchtlinge oder sogar eine Nähe zu den antisemitischen Parteien unterstellt.40 Die politische Haltung der Regierung gegenüber den Ostjuden wurde dagegen als human,41 „freiheitlich […]“42 und kooperativ den Organisationen der ,Ostjudenfürsorge‘ gegenüber43 beschrieben. In der zweiten Phase des Untersuchungszeitraumes fielen jegliche kritische Kommentare weg und das Vertrauen in die Maßnahmen der Regierung hinsichtlich der ostjüdischen Einwanderer wurde verstärkt betont.44 Die in der Zeitung Der Israelit geäußerte Kritik am bayerischen Fremdenrecht weist nicht unbedingt auf eine dissimilative Haltung der orthodoxen Zeitung hin, denn hier wurde eher das Offensichtliche festgestellt, als eine sonderlich kritische Position eingenommen. Die Ostjudenpolitik in Preußen wurde dagegen zunehmend positiv bewertet, obwohl sich die rechtliche und soziale Lage der ostjüdischen Einwanderer nicht unbedingt verbesserte. Hier vertritt die Zeitung Der Israelit also einen explizit assimilativen Kurs. Wie in der Zeitung Der Israelit wurde in der Zeitung Jüdische Rundschau der deutschen Staatsregierung und der preußischen Regierung bis 1920 grundsätzlich eine konstruktive und nicht-antisemitische Haltung unterstellt,45 während die Behörden unterschiedlicher Verwaltungsebenen und -bereiche vielfach kritisiert wurden.46 Im Kontext der Affäre um den Brand im Internierungslager Stargard im Jahr 1921 sowie der Misshandlungen und Erniedrigungen der jüdischen Insassen durch das Wachpersonal wurde in der Zeitung Jüdische Rundschau zunehmend Kritik laut. Immer wieder wurden die Abschaffung der Internierungslager und die Freilassung aller nicht-kriminellen Gefangenen eingefordert.47 Dieser regierungs-

40 Vgl. u. a. Der Israelit, 12. 8. 1920, Nr. 32. S. 3; Der Israelit, 7. 12. 1922, Nr. 49. S. 4; Der Israelit, 27. 3. 1924, Nr. 13. S. 2. 41 Vgl. Der Israelit, 18. 12. 1919, Nr. 49–50. S. 4; Der Israelit, 15. 1. 1920, Nr. 2. S. 2; Der Israelit, 15. 4. 1920, Nr. 15. S. 2. 42 Der Israelit, 15. 4. 1920, Nr. 15. S. 2. 43 Vgl. Der Israelit, 25. 8. 1921, Nr. 34. S. 2; Der Israelit, 14. 9. 1922, Nr. 37. S. 4. 44 Vgl. Der Israelit, 2. 12. 1920, Nr. 48. S. 3. 45 Vgl. z. B. Jüdische Rundschau, 6. 1. 1920, Nr. 1. S. 3. 46 Vgl. z. B. Jüdische Rundschau, 12. 12. 1919, Nr. 88. S. 689. 47 Vgl. Jüdische Rundschau, 3. 6. 1921, Nr. 44. S. 315; Jüdische Rundschau, 17. 6. 1921, Nr. 48.

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kritische Kurs setzt sich auch im Folgejahr 1922 fort. Die staatlichen Maßnahmen und die Art und Weise ihrer Durchführung wurden nun als grundsätzlich diskriminierend den Ostjuden gegenüber dargestellt.48 Die Berichterstattung über die Ausweisungsaktionen in Bayern im Jahr 1923 bewertet die Ausweisungen wie die anderen untersuchten Zeitungen als explizit antisemitisch.49 Allerdings zeichnet sich in der Bedeutung, die die Jüdische Rundschau ihnen beimaß, eine Abkehr von der Zukunft der jüdischen Existenz in Deutschland ab: Die Ausweisungen in Bayern wären ein „Warnungszeichen für das gesamte deutsche Judentum“ und würden langfristig vor den deutschen Juden nicht halt machen.50

„Wir deutschen Juden [...] haben [...] die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ...“51 Die Berichterstattung über Wohltätigkeit und Wohlfahrt für die ostjüdischen Migranten In der Weimarer Republik erlebte das Engagement für die in Deutschland lebenden osteuropäischen Juden eine Hochphase. Die Gründung des Arbeiterfürsorgeamtes der jüdischen Organisationen Deutschlands (AFA) im Januar 1918 durch den Zusammenschluss schon bestehender jüdischer Hilfsorganisationen bedeutete eine entscheidende Verbesserung für die soziale Betreuung der in Deutschland lebenden ostjüdischen Arbeiter.52 Unter den zum AFA gehörenden Organisationen war der 1901 gegründete Hilfsverein der deutschen Juden die größte und älteste Institution. Er befasste sich im Gegensatz zum AFA eher mit den Problemen und Bedürfnissen der durchwandernden Ostjuden.53

S. 339; Jüdische Rundschau, 5. 8. 1921, Nr. 62. S. 446. 48 Vgl. Jüdische Rundschau, 14.3.1922, Nr. 21. S. 21. 49 Vgl. Jüdische Rundschau, 2.11.1923, Nr. 94. S. 347–348; Jüdische Rundschau, 9. 11. 1923, Nr. 96. S. 359. 50 Vgl. Jüdische Rundschau, 2. 11. 1923, Nr. 94. S. 347. 51 Der Israelit, 18. 12. 1919, Nr. 49. S. 4. 52 Vgl. u. a. Maurer, Ostjuden (wie Anm. 6), S. 23f.; Oltmer, Jochen: Verbotswidrige Einwanderung nach Deutschland. Osteuropäische Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 17 (2007) 1. S. 105; Für die Geschichte des AFA vgl. Adler-Rudel, Ostjuden (wie Anm. 31). 53 Vgl. Brinkmann, Tobias: Managing Mass Migration. Jewish Philanthropic Organizations and Jewish Mass Migration from Eastern Europe. 1868/1869–1914. In: Leidschrift. Historisch Tijdschrift 22 (2007) 1. S. 85–88; Wertheimer, Jack: Unwelcome strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York 1991. S. 172.

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Untersuchung von Konjunkturen der Berichterstattung In den Jahren 1919 bis 1922 unterschreitet der Anteil der Beiträge über Wohlfahrt und Wohltätigkeit der deutschen Juden gegenüber den ostjüdischen Einwanderern niemals 25 % (Diagramm 1). Die hohen Werte zu Anfang dieser Phase stehen in Zusammenhang mit der intensiven Berichterstattung über die Arbeit des 1918 gegründeten Arbeiterfürsorgeamtes. In den Jahren 1923 bis 1925, in denen die Einwanderung von Ostjuden schon stark zurückgegangen war und keine umfangreicheren Hilfsaktionen mehr stattfanden, fallen die Anteile der Berichte über die deutsch-jüdische ,Ostjudenfürsorge‘ auf schließlich 16,4 % im Jahr 1925.

Analyse inhaltlicher Charakteristika der Berichterstattung Im Gegensatz zu den Themenbereichen des Antisemitismus gegenüber den Ostjuden und der ,Ostjudenpolitik‘ liegt bei der Berichterstattung über die ,Ostjudenfürsorge‘ der Periodika des Centralvereins und der Zeitung Jüdische Rundschau eine hohe Kontinuität in den Diskursstrategien vor. Bei C.V.-Zeitung und Im deutschen Reich fällt der vergleichsweise distanzierte Tonfall auf: Bei einem Thema, das prädestiniert ist für Solidaritäts- und Empathiebekundungen, wurde eher zweckrational argumentiert und die „Ehrenpflicht“54 zur Hilfe für die Ostjuden und das „soziale[...] Verantwortungsgefühl“55 der deutschen Juden betont, wobei allerdings offen bleibt, ob diese Pflichtgefühle den Ostjuden oder nicht doch eher dem deutschen Staat und der deutschen Gesellschaft gegenüber bestanden. Die wichtigsten Argumentations- bzw. Aussagemuster sind erstens, dass die deutsch-jüdische Wohlfahrt langfristig die Rück- oder Weiterwanderung der sich in Deutschland aufhaltenden Ostjuden zum Ziel hätte.56 Zweitens wurde betont, dass kriminelle Ostjuden nicht von der Hilfstätigkeit der deutschen Juden profitieren würden,57 und dass diese sogar eine präventive Wirkung hätte, da sie die Ostjuden davor bewahren würde, „sich einer unproduktiven und schädlichen Erwerbstätigkeit zuzuwenden“58 oder zu „Schnorrern“59 zu werden.

54 C.V.-Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 26. 55 C.V.-Zeitung, 14. 9. 1922, Nr. 19. S. 243. 56 Vgl. C.V.-Zeitung, 4. 5. 1922, Nr. 1. S. 6; C.V.-Zeitung, 14. 9. 1922, Nr. 19. S. 242; C.V.Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 26. 57 Vgl. Im deutschen Reich, Juli 1920, Nr. 7–8. S. 237; C.V.-Zeitung, 4. 5. 1922, Nr. 1. S. 6; C.V.Zeitung, 24. 4. 1925, Nr. 17. S. 300. 58 C.V.-Zeitung, 14. 9. 1922, Nr. 19. S. 242. 59 C.V.-Zeitung, 24. 4. 1925, Nr. 17. S. 300.

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Schließlich wurde der wirtschaftliche Nutzen der ,Ostjudenfürsorge‘ durch die „Produktivierung“60 der ostjüdischen Einwanderer, also deren Vermittlung in Ausbildungs- und Arbeitsstellen in volkswirtschaftlich zuträglichen Arbeitsmarktsegmenten, herausgestellt.61 In den Beiträgen der Zeitung Jüdische Rundschau dominiert ein pragmatischer Duktus. Diesen als eine Distanzierung der zionistischen Juden gegenüber den Ostjuden zu begreifen, wäre jedoch zu kurz gegriffen: Naheliegender ist, dass das Engagement für die Ostjuden von den zionistisch ausgerichteten deutschen Juden in einem höheren Maße als selbstverständlich angesehen wurde als in liberalen und orthodoxen Kreisen. Deswegen hielten es die Journalisten der Zeitung Jüdische Rundschau wahrscheinlich schlicht für nicht notwendig, ihre Unterstützung für die osteuropäischen Juden zu begründen oder gar zu rechtfertigen. Für eine solche Interpretation sprechen Äußerungen, die deutschen und ostjüdischen Juden ein gemeinsames Schicksal zuschreiben, beispielsweise dass auch deutsche Juden jederzeit wieder in eine existenzielle Notlage geraten könnten und das Schicksal der Ostjuden ein jüdisches Schicksal wäre.62 Die Berichterstattung der Zeitung Der Israelit über die deutsch-jüdische Wohltätigkeit und Wohlfahrt für die Ostjuden ist generell von einem hohen Maß an Emotionalität und Mitgefühl geprägt, worauf die häufig abgedruckten Aufrufe zu Spenden und aktiver Mithilfe63 hinweisen. Besonders in Berichten der ersten Jahre des Untersuchungszeitraums wurden die ostjüdischen Flüchtlinge häufig als hilflos und unmündig dargestellt, beispielsweise in der Betonung der Notwendigkeit, durchreisende Flüchtlinge an Bahnhöfen vor der Kontaktaufnahmen durch „Ausbeuter […]“64 zu schützen. Auf diese Weise wurde eine Dichotomie aufgebaut zwischen den vorgeblich passiven Ostjuden als Opfer von Antisemitismus und politischer Schikane einerseits und den deutschen Juden als selbstlosen, edelmütigen und großzügigen Helfern in der Not andererseits.65 Ab 1920 gewannen zunehmend Argumentationsmuster an Gewicht, in denen die ,Ostjudenhilfe‘ als volkswirtschaftlich nützlich interpretiert wurde. So wurde die Einrichtung einer Wohn- und Arbeitsstätte für ostjüdische Arbeiter vor den

60 C.V.-Zeitung, 4. 5. 1922, Nr. 1. S. 6. 61 Vgl. Im deutschen Reich, Juli 1920, Nr. 7–8. S. 237; C.V.-Zeitung, 14. 9. 1922, Nr. 19. S. 242; C.V.-Zeitung, 25. 1. 1923, Nr. 4. S. 26. 62 Vgl. Jüdische Rundschau, 1. 7. 1921, Nr. 52. S. 369–370. 63 Vgl. z. B. Der Israelit, 23. 12. 1920, Nr. 51. S. 2f.; Der Israelit, 17. 3. 1921, Nr. 11. S. 5; Der Israelit, 22. 12. 1921, Nr. 51. S. 5. 64 Der Israelit, 25. 11. 1920, Nr. 47. S. 5. 65 Vgl. Der Israelit, 25. 11. 1920, Nr. 47. S. 5.

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Toren Berlins als entlastend für den Berliner Wohnungsmarkt bezeichnet66 und an anderer Stelle betont, dass ostjüdische Arbeiter in keinerlei Konkurrenzverhältnis zu deutschen Arbeitern stünden.67

Synthese von Inhaltsanalyse und quantitativer Analyse Visualisiert man die Ergebnisse der Inhaltanalyse stark vereinfacht in einem Raster, ergibt sich folgendes Bild:

Antisemitismus Politik und Administration Wohltätigkeit

Im deutschen Reich / CV-Zeitung

Der Israelit

Jüdische Rundschau

A A

D/A A

D D

– (Grundhaltung: A)

A

– (Grundhaltung: D)

Tabelle 1: Schematische Darstellung der Assimilations- / Dissimilationstendenzen und diesbezüglichen Grundhaltungen in den untersuchten Zeitungen (A bzw. D entsprechen einer Tendenz zur Assimilation bzw. zur Dissimilation, der Querstrich entspricht dem Fehlen einer Tendenz) * Die Entscheidung, ob hier eine Assimilations- oder eine Dissimilationstendenz vorliegt, kann nicht abschließend beantwortet werden (s.o.).

In einem letzten Analyseschritt werden nun die Ergebnisse der qualitativen und der quantitativen Analyse kombiniert, und es wird überprüft, ob sich inhaltliche Tendenzen zur Assimilation bzw. Dissimilation durch die jeweiligen Konjunkturen der Berichterstattung verstärken oder abschwächen. Beim Thema Antisemitismus gegenüber den osteuropäischen Juden ergibt sich ein gemischtes Bild: Bei den Periodika des Centralvereins wird die starke Tendenz zur Assimilation etwas gemindert, da in den Jahren 1920 und 1921, in denen die Zeitschrift Im deutschen Reich besonders intensiv über das Thema berichtete, eine positive Darstellung der Ostjuden vorherrschte. Bei der Zeitung Der Israelit ist die Entscheidung, in welche Richtung deren Berichterstattung über den Untersuchungszeitraum von 1918 bis 1925 tendiert, aus den genannten Gründen schwierig. Jedoch kann man davon ausgehen, dass der Rückzug in die Religiosität nach dem Scheunenviertelpogrom 1923 ein höheres Gewicht in der Berichterstattung hatte als frühere

66 Vgl. Der Israelit, 5. 8. 1920, Nr. 31. S. 3. 67 Vgl. Der Israelit, 22. 12. 1921, Nr. 51. S. 5.

 „... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären …“  

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Tendenzen, da in dieser Phase eine intensive Auseinandersetzung der deutschjüdischen Presse mit den antisemitischen Aktivitäten gegenüber den Ostjuden stattfand. Die starke Tendenz zur Dissimilation in der Zeitung Jüdische Rundschau wird noch gesteigert durch den zunehmenden Anteil des Themas in der Berichterstattung der Jahre 1923 und 1924. In der Berichterstattung über die ,Ostjudenpolitik‘ ergibt die Zusammenführung von quantitativer und qualitativer Analyse bei den C.V.-Periodika ein weitgehend unverändertes Bild, da die Konjunkturen der Berichterstattung zu diesem Thema variieren und daher kaum eine relevante Wirkung auf inhaltliche Entwicklungen haben. Wenn überhaupt, werden solche inhaltlichen Tendenzen der Berichterstattung (s. Tabelle 1) in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes nach 1921 durch die etwas höhere Intensität der Berichterstattung verstärkt. Im Falle der C.V.-Zeitung wird der generell assimilierende Kurs durch die verhältnismäßig kritische Haltung zur Internierung von Ostjuden auf dem vorläufigen Höhepunkt der Berichterstattung 1921 etwas abgeschwächt – allerdings ist diese Kritik im Vergleich zu den anderen untersuchten Zeitungen relativ verhalten. Bei den Periodika des Centralvereins und in der Zeitung Jüdische Rundschau lassen sich in der Entwicklung der Berichterstattung zum Thema deutsch-jüdische Wohltätigkeit gegenüber den ostjüdischen Emigranten keine Veränderungen ablesen. Die Konjunkturen der Berichterstattung in der Zeitung Der Israelit weichen von denen der untersuchten Zeitungen insgesamt erheblich ab und schwankten in der Zeit zwischen 1920 und 1925 stark.68 Aufgrund des Fehlens von assimilatorischen oder dissimilatorischen Tendenzen (C.V.-Periodika und Jüdische Rundschau) bzw. der unstetigen Entwicklung der Konjunkturen der Berichterstattung (Der Israelit) lässt sich die quantitative Entwicklung der Berichterstattung über die deutsch-jüdische ,Ostjudenfürsorge‘ mit der inhaltlichen Entwicklung nicht erkenntnisbringend in Verbindung setzen. Die Umsetzung der Effekte der Konjunkturen der Berichterstattung auf deren inhaltliche Entwicklungen in einem Schema sieht also folgendermaßen aus:

68 1920: 38,3 %, 1921: 39,7 %, 1922: 21,7 %, 1923: 13,1 %, 1924: 54,3 %, 1925: 22,4 %.

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Antisemitismus Politik und Administration Wohltätigkeit

Im deutschen Reich / CV-Zeitung

Der Israelit

Jüdische Rundschau

AA +-

D/A + A

D ++ D+



A



Tabelle 2: Schematische Darstellung der Zu- und Abnahmen von Assimilations- /Dissimilationstendenzen in den untersuchten Zeitungen (++ bzw. -- entsprechen starken Verstärkungen- bzw. Abschwächungen von Tendenzen, + bzw. - entsprechen leichten Verstärkungen- bzw. Abschwächungen von Tendenzen, = entspricht dem Ausbleiben einer Veränderung).

Es wird deutlich, dass die Grundtendenzen der Berichterstattung der einzelnen Zeitungen durch die Konjunkturen fast bei allen Themen eindeutig gestützt oder zumindest nicht verändert werden. Bei der Berichterstattung der C.V.-Periodika über den Antisemitismus gegenüber den osteuropäischen Juden und die ,Ostjudenpolitik‘ ist nur eine leichte Minderung (Antisemitismus) bzw. eine Aufhebung von Verstärkung und Abschwächung der Assimilationstendenz zu verzeichnen. Betrachtet man die zusammengeführten Ergebnisse der quantitativen und der qualitativen Analyse insgesamt, überrascht die starke Diskrepanz zwischen der außerjüdischen und der innerjüdischen Sphäre hinsichtlich der Dynamik der Berichterstattung: Die Themenbereiche, die die nichtjüdische Umwelt betreffen, weisen einen starken Wandel auf, die innerjüdischen Themen dagegen eine hohe Konstanz. Die Sensibilität, mit der die Journalisten auf die Entwicklungen in Politik und Gesellschaft (Scheunenviertelpogrom, Internierungsmaßnahmen in Preußen, bayerische Ausweisungspolitik) reagierten, setzte sich also im innerjüdischen Bereich nicht fort.69 Diese Dynamik spricht dafür, dass schon in dieser relativ frühen Phase der Weimarer Republik ein Krisenbewusstsein der deutschen Juden hinsichtlich ihrer Sicherheit und Integration im deutschen Staat und in der deutschen Gesellschaft herrschte. Freilich wurde ein solches Bewusstsein von den Journalisten bzw. Zeitungen der verschiedenen politischen und religiösen Richtungen auf unterschiedliche Weise verarbeitet, wie im Folgenden abschließend erläutert wird.

69 Die Ausnahme, die die Zeitung Der Israelit mit ihrer Tendenz zur Assimilation in der Berichterstattung über die deutsch-jüdische Ostjudenfürsorge hier darstellt, lässt sich vielleicht mit dem geringen Rückhalt innerhalb des deutschen Judentums, den das orthodoxe Milieu in seinem Engagement für die Ostjuden erfuhr, erklären (vgl. Der Israelit, 2. 11. 1922, Nr. 44. S. 2).

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Fazit Die Überlegungen Shulamit Volkovs zu den dissimilierenden Wirkungen der Konfrontation der deutschen Juden mit den Ostjuden lassen sich in Bezug auf die Weimarer Republik nur für die Berichterstattung der zionistischen Zeitung Jüdische Rundschau bestätigen. Die Tendenzen der Periodika des Centralvereins und der Zeitung Der Israelit zur Assimilation liegen jedoch ebenfalls im Rahmen der von Volkov festgestellten möglichen Reaktionsmuster deutscher Juden auf die Begegnung mit den osteuropäischen Juden. Die Frage, welche Rolle die Ostjuden in den Identitätskonstruktionen der deutschen Juden in der Weimarer Republik gespielt haben, muss differenziert beantwortet werden: Ambivalent erscheint die Haltung der Zeitung Der Israelit zu den Ostjuden: Einerseits fand auch in deren Beiträgen eine subtile Abgrenzung gegenüber den ostjüdischen Emigranten statt, indem das Verhältnis zwischen deutschen und osteuropäischen Juden als ein asymmetrisches zwischen den helfenden deutschen Juden und den hilfsbedürftigen Ostjuden beschrieben wurde. Andererseits wird durch den unbedingten Appell an die Emotionen und die Empathie der Leser in den Schilderungen der Not der Ostjuden auch eine Nähe zu ihnen aufgebaut. In der zionistischen Zeitung Jüdische Rundschau wird die Berichterstattung über die Ostjuden eher für das zionistische Projekt genutzt: Betonungen der Solidarität mit den Ostjuden und des Umstands, dass man mit ihnen ein gemeinsames jüdisches Schicksal teile, stärkten den jüdischen Volksgedanken. Das Maß, in dem dabei jeweils strategische Erwägungen oder genuin empfundene Solidarität eine Rolle spielten, ließe sich jedoch nur durch eine detailliertere Untersuchung entschlüsseln, die auch (auto)biografische und politische Literatur mit einbezöge. Bei den liberalen Juden schließlich dominierte das Bedürfnis, sich von den osteuropäischen Juden abzugrenzen. Das in den C.V.-Periodika gezeichnete Bild der Ostjuden und ihrer angeblichen kulturellen Eigenschaften stützt Steven A. Aschheims These, dass die osteuropäischen Juden eine Projektionsfläche dessen waren, was die ,hochkultivierten‘ deutschen Juden nicht sein wollten – kulturell und wirtschaftlich rückständig, ungebildet und in ihrem Verhalten auffällig.70 Auch erscheinen hier Volkovs Überlegungen in Anlehnung an Norbert Elias schlüssig, dass die deutschen Juden auf den kulturellen Habitus der Ostjuden mit

70 Aschheim, Steven E.: Spiegelbild, Projektion, Zerrbild. „Ostjuden“ in der jüdischen Kultur in Deutschland. In: Osteuropa 58 (2008) 8–10. S. 67–71.

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Scham reagierten, da sie den eigenen als relativ gefestigt erlebten Status in der deutschen Gesellschaft nicht verlieren wollten. Das hohe Maß, in dem das deutsche Judentum in der Weimarer Republik in seinen politischen und religiösen Strömungen ausdifferenziert war, spiegelt sich wider in den unterschiedlichen Weisen, in denen die Ostjuden für die Identitätsbildungen der deutschen Juden vereinnahmt wurden. Wie oben herausgearbeitet, reagierte die Berichterstattung über die Ostjuden im Bereich der Beziehungen zur deutschen Gesellschaft und zum deutschen Staat besonders sensibel auf Veränderungen. Es lässt sich also konstatieren, dass Fremdzuschreibungen seitens der nichtjüdischen Umwelt die Selbstbeschreibungen deutscher Juden in der Weimarer Republik stark prägten. Dies galt offensichtlich nicht nur für die assimilierten Juden aus dem Milieu des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, sondern auch für die zionistischen und orthodoxen Juden.

Literatur Adler-Rudel, Salomon: Ostjuden in Deutschland. 1880–1940. Zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten. Tübingen 1959. Aschheim, Steven E.: The Double Exile. Weimar Culture and the East European Jews. 1918–1923. In: Towards the Holocaust. The Social and Economic Collapse of the Weimar Republic. Hrsg. v. Michael N. Dobkowski u. Isidor Wallimann. Westport 1983. S. 227–241. Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness. 1800–1923. Madison 1999. Aschheim, Steven E.: Spiegelbild, Projektion, Zerrbild. „Ostjuden“ in der jüdischen Kultur in Deutschland. In: Osteuropa, 58 (2008) 8–10. S. 67–82. Blank, Inge: „… nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof“. Ostjuden in Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Klaus J. Bade. 3., unveränd. Aufl. München 1993. S. 324–332. Brinkmann, Tobias: Managing Mass Migration. Jewish Philanthropic Organizations and Jewish Mass Migration from Eastern Europe. 1868/1869–1914. In: Leidschrift. Historisch Tijdschrift 22 (2007) 1. S. 71–89. Clay Large, David: Out with the Ostjuden. The Scheunenviertel Riots in Berlin, November 1923. In: Exclusionary violence. Antisemitic riots in modern German history. Hrsg. v. Christhard Hoffmann, Werner Bergmann u. Helmut Walser Smith. Ann Arbor 2002. S. 123–140. Edelheim-Muehsam, Margaret T.: The Jewish Press in Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book 1 (1956). S. 163–176. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981. Hambrock, Matthias: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935. Köln 2003. Heid, Ludger: „Die Juden sollen ruhig verbrennen!“. Ostjuden im Konzentrationslager Stargard (1921). In: „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben …“. Geschichte und Kultur der

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Juden in Pommern. Ein Sammelband. Hrsg. v. Margret Heitmann. Hildesheim 1996. S. 401–427. Jaeger, Achim/Terlau, Wilhelm/Wunsch, Beate/Horch, Hans Otto (Hrsg.): Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den ersten Zionistenkongreß, die „Ostjudenfrage“ und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse. Tübingen 2003 (= Conditio Judaica, Bd. 45). Kußmaul, Sibylle: Die „Ostjuden“ in Nürnberg 1880–1933. Eine Minderheit zwischen Ausweisung und Assimilation. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 84 (1997). S. 149–224. Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt/M. 2008. Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland. 1918–1933. Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 12). Nagel, Michael: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. In: 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext. Hrsg. v. Martin Welke. Bremen 2008 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge, Bd. 22 i. e. 23). S. 379–394. Oltmer, Jochen: Verbotswidrige Einwanderung nach Deutschland. Osteuropäische Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 17 (2007) 1. S. 97–121. Pommerin, Reiner: Die Ausweisung von „Ostjuden“ aus Bayern 1923. Ein Beitrag zum Krisenjahr der Weimarer Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986). S. 311–340. Schwarz, Johannes: Jüdische Presse. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Hrsg. v., Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps u. Hiltrud Wallenborn. Darmstadt 2001. S. 285–295. Terlau, Wilhelm/Wunsch, Beate: „Ein Gespenst geht um in Deutschland […]“. Die „Ostjudenfrage“ im Spiegel der deutschsprachigen jüdischen Presse während des Ersten Weltkriegs. In: Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den ersten Zionistenkongreß, die „Ostjudenfrage“ und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse. Hrsg. v. Achim Jaeger, Wilhelm Terlau, Beate Wunsch u. Hans Otto Horch. Tübingen 2003 (= Conditio Judaica, Bd. 45). S. 67–109. Volkov, Shulamit: Die Dynamik der Dissimilation. Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer, in: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays. Hrsg. v. ders. München 1990, S. 166–180. Wertheimer, Jack: Unwelcome strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York 1991.

Juliane Sucker

„… auf Gedeih und Verderb mit Deutschland verbunden“? Gabriele Tergits literarische Spurensuche nach dem jüdischen Ich „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man einige der jüdischen Namen wirklich in gute deutsche umwandeln soll. […] Ihr Buch ist nun wirklich alles andere als ein antisemitisches, so daß wir uns meiner Meinung nach diesem Vorwurf auf keinen Fall aussetzen würden.“1 Das schreibt 1976 die Fischer-Taschenbuch-Lektorin Jutta Siegmund-Schultze an die deutsch-jüdische Autorin Gabriele Tergit  (d.  i. Elise Reifenberg). Tergits Debütroman aus Weimarer-Jahren, Käsebier erobert den Kurfürstendamm2, soll neu aufgelegt werden. Das Pikante: Tergit möchte eine Reihe Änderungen vornehmen, die sich auf die Gestaltung des jüdischen Figurenarsenals beziehen. Die „besonders widerwärtige […] Herzfeld“ zum Beispiel sollte abgewandelt werden, nebst ihrem Namen, wobei der Autorin für die freizügige Gymnastiklehrerin ein weniger jüdisch klingendes „Käthe Brügger“ oder „Becker“ vorschwebte.3 Oder der primitive jüdische Dr. jur. Reinhold Kaliski: Er erschien Tergit „zu penetrant und nicht wichtig für den Roman“.4 In den beim Verlag eingereichten Fahnen strich sie die Figur ersatzlos. Ähnliches lässt sich bei Tergits Anläufen beobachten, ihrem 1951 erschienenen deutsch-jüdischen Familienroman Effingers5 Ende der 1970er-Jahre eine Neuauflage zu bescheren. Auch in diesem Fall versuchte sie, das Jüdische in ihrem Buch, das sie einmal den „anerkannt besten Roman über die deutschen Juden“6 genannt hatte, zu relativieren. Es handele sich nicht um den Roman des jüdischen Schicksals, „sondern es ist ein Berliner Roman in dem sehr viele Juden sind.“ So war sie der Meinung, dass

1 Siegmund-Schultze, Jutta an Gabriele Tergit am 28. 9. 1976, 2 Bl., ms. m. Unterschr., Deutsches Literaturarchiv Marbach (im Folgenden DLA) [A: Tergit]. 2 Tergit, Gabriele: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Berlin 1931/32. Im Folgenden abgekürzt mit „Käsebier“ und bei Seitenangaben mit „KB“. 3 Tergit, Gabriele an Jutta Siegmund-Schultze am 15. 9. 1976, 1 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr. DLA [A: Tergit]. 4 Tergit an Siegmund-Schultze (wie Anm. 3). 5 Tergit, Gabriele: Effingers. Roman. Hamburg 1951. Bei Seitenangaben im Folgenden abgekürzt mit „EF“. 6 Tergit, Gabriele an Jutta Siegmund-Schultze am 2. 10. 1976, 2 Bl. ms. Durchschlag m. hs. Korrekturen o. Unterschr., DLA [A: Tergit].

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der Axel-Springer-Verlag, in dem der Roman erscheinen sollte, „einen großen Fehler machen würden, wenn er ein so stark deutsch kulturgeschichtliches Buch als jüdisch anzeigen würde.“7 Beschrieben ist damit der auch binnenliterarisch verhandelte Identitätskonflikt der assimilierten Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit, die sich – wie die Mehrzahl ihrer jüdischen Figuren – wenigstens bis zu ihrer Flucht aus Berlin als Deutsche fühlte und mit ihren jüdischen Wurzeln allenfalls peripher in Berührung gekommen war. Der Beitrag richtet den Fokus auf Tergits autobiografisch gefärbte Romane Käsebier erobert den Kurfürstendamm und Effingers. Anhand einer literaturwissenschaftlich motivierten Textanalyse, die das faktuale Palästina-Konvolut8 mit einbezieht und auch die historische Lebenspraxis der Autorin nicht unberücksichtigt lässt, soll das im fiktionalen Entwurf dargebotene Selbstverständnis von Juden im wilhelminischen Deutschland, der Weimarer Republik sowie im ,Dritten Reich‘ beleuchtet werden. Gefragt wird, wie Jüdischkeit erzählerisch erfahrbar gemacht wird und wie sich die Autorin, die 1933 in die Tschechoslowakei, späterhin nach Palästina und England emigrierte, zu Fragen der Traditionsbewahrung und Assimilation, der Orthodoxie und des Zionismus stellt, wie zu Ein- und Ausschlüssen von Juden in der christlichen Mehrheitsgesellschaft der erwähnten Epochen. Welche Kontinuitäten und Brüche werden in den Ich-Konzeptionen ihrer jüdischen Romanfiguren sichtbar und welche Möglichkeiten zur identitären Neubestimmung exemplarisch durchgespielt?

Brüche im Ich: Das Exil als identitäre Herausforderung In Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Literatur9 ist die Problematik der Identitätsbestimmung von jüdischen oder als jüdisch etikettierten deutschsprachigen

7 Tergit, Gabriele an Ernst Rowohlt o. D., 1 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit]. 8 Das sog. Palästina-Konvolut, das zwischen 1933 und 1938 von Gabriele Tergit in Jerusalem und Tel Aviv verfasste faktuale Texte beinhaltet, befindet sich im DLA [A: Tergit]. (Tergit, Gabriele: Palästina-Konvolut, o. D., Typoskr., m. hs. Korr., DLA). Die entstehende Dissertation der Verfasserin wird sich infolge umfangreicher Archiv-Recherchen und Arbeiten am NachlassMaterial eingehend auch mit den nicht edierten Texten auseinandersetzen. 9 Da die Diskussion um die Angemessenheit des Begriffs einer „deutsch-jüdischen“/„jüdischdeutschen“ Literatur hier nicht geführt werden kann, wird verwiesen auf die in der Einleitung dieses Sammelbandes aufgeführte Forschungsliteratur zum Thema.



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Schriftstellern als zentrales Thema ausgewiesen worden. Demnach charakterisiert die Frage nach der eigenen Identität deutsch-jüdische Autoren ebenso wie ihre literarischen Werke, die dieses Dilemma widerspiegeln.10 Dabei erscheint es jedoch problematisch, heute noch von einem feststehenden Identitätsbegriff auszugehen. Denn so populär, programmatisch verheißungsvoll und mannigfaltig eingesetzt er ist, so grenzunscharf und umstritten ist er auch.11 Letztlich beruhen Definitionen ,vom Juden‘ auf einer willkürlichen und essentialistischen Vorstellung von Juden und Judentum, wie es Jean-Paul Sartre schon in seinem 1944 verfassten Essay Überlegungen zur Judenfrage formuliert hat: „Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten […]. Der Antisemit macht den Juden.“12 Das bestätigt sich in den Effingers, wenn von den Repräsentanten einer deutschen Studentenverbindung 1913 allerlei „,Beweise‘“ erbracht werden, die von der „,Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit‘“ des jüdischen Kommilitonen, der der deutschen Begriffe unwürdig und der Ehre völlig bar sei, zeugen sollen  (EF,  391). So sind die Denunziationen nicht nur dazu angetan, repetitiv auf das Fremde des Juden im Sinne eines Genitivus objectivus abzustellen. Sie verknüpfen die Feststellung, dass „,zwischen Ariern und Juden ein tiefer moralischer und physischer Unterschied besteht, und daß durch jüdisches Unwesen unsre Eigenart schon viel gelitten hat‘“ (EF, 391) zugleich mit der Schlussfolgerung, die Fremdheit der Juden manifestiere sich zum Großteil darin, der christlichen Gemeinschaft aktiv Schaden zuzufügen. Überdies schreiben tradierte

10 Vgl. Hammer, Almuth: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Mit Fallstudien zu Else Lasker-Schüler und Joseph Roth. Göttingen 2004 (zugl. Diss., Univ. Gießen, 2003). S. 9. Obgleich vor aller Konjunktur des Wortes, Juden in der modernen Welt auf das Thema der Identität fixiert gewesen seien, wie Michael A. Meyer notiert (Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Anne Ruth Frank-Strauss. Frankfurt/M. 1992. S. 10), ist die Erfahrung des Identitätsverlustes oder Identitätsbruches nicht als genuin jüdische Fragestellung, sondern vielmehr als grundsätzliches Problem der Moderne zu beschreiben. Vgl. zu „kosmopolitischen MehrfachIdentitäten“, die zuerst für die in der Diaspora lebenden Juden charakteristisch wurden und die heute auf einen immer größeren Teil der Menschheit zutreffen. Witte, Bernd: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007. S. 13. 11 Siehe ausführlich zu diesem Themenkomplex und der einschlägigen Forschungsliteratur Straub, Jürgen: Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hrsg. v. Friedrich Jaeger u. Burkhard Liebsch. Stuttgart 2004. S. 277–303. 12 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage (Betrachtungen zur Judenfrage, 1948). Reinbek 2010. S. 44 (Herv. i. Orig.).

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Heterostereotype wie jenes der ,schönen Jüdin‘13, der ,ungebildeten Ostjuden‘14, der Überlegenheit der Juden im Kulturellen und Wirtschaftlichen und antisemitische Stereotype15 das ,Bild vom Juden‘16, wie es Gustav Freytags Roman Soll und Haben17 geprägt hat, fest. Und so sind denn die Effingers ein mentalitäts- und alltagsgeschichtlich eindrucksvolles Dokument über die allmählichen Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung von Juden im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik und deren systematischer Verfolgung im ,Dritten Reich‘. Mehr noch aber als um Fremdzuschreibungen geht es in den Effingers um Selbstzuschreibungen, die, weil sie von außen zusehends in Frage gestellt und schließlich für ungültig erklärt werden, in den Lebensmittelpunkt der Figuren rücken. Tergits in der Tradition des bürgerlichen Familienromans à la Buddenbrooks stehender Roman demonstriert, dass keineswegs von einer jüdischen Kollektividentität die Rede sein kann, wie es das Schlagwort von ,der jüdischen Identität‘ gerne glauben machen möchte. Daher bleibt mit Blick auf eben jene umstrittene ,jüdische Identität‘ die kontinuierlich dem Vorwurf ausgesetzt ist, in klischeehaften Zuschreibungen und Pauschalierungen zu enden, nur eine nüchterne Arbeitsdefinition: In Anlehnung an Stephan Wendehorst wird eine flexible Kombination aus Selbst- und Fremdzuschreibung vorgeschlagen: „Jude ist wer sich selber als solcher betrachtet oder von anderen als solcher betrachtet wird oder im Extremfall zum Juden ‚gemacht‘ wird.“18 Dass im Grunde genommen völlig unklar ist, was das eigentlich ist, dieses Jüdische, hat die 1894 in Berlin geborene, in einem assimilierten jüdischen Elternhaus aufgewachsene Elise Hirschmann, alias Gabriele Tergit, auch im Zuge ihrer privaten Suche nach dem jüdischen Ich wiederholt konstatiert. Mit

13 Vgl. zum Stereotyp der ,schönen Jüdin‘ den Beitrag in diesem Band von Hildegard Frübis, Porträt und Typus. Repräsentationen ,der‘ Jüdin in der Jüdischen Moderne. 14 Weiterführend siehe Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Aus dem Amerikanischen v. Isabella König. Frankfurt/M. 1993. 15 Prototypisch ist Karl Marx’ Schrift „Zur Judenfrage“, die Juden zur Allegorie des Kapitalismus stilisiert: Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Ders./Friedrich Engels: Werke, Studienausgabe, Bd. 1: Philosophie. Hrsg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1990. S. 34–62. 16 Vgl. Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München 2001. 17 Freytag, Gustav: Soll und Haben: Roman in sechs Büchern. (1855). Waltrop, Leipzig 2002. Siehe weiterführend: Krobb; Florian (Hrsg.): 150 Jahre „Soll und Haben“. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005. 18 Wendehorst, Stephan: Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Leipzig 2006. S. 19. (Vgl. hierzu den Beitrag Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/nichtjüdischen Doppelperspektive von ,Vaterjuden‘ von Ruth Zeifert in diesem Band.)



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dem befreundeten Schriftsteller Armin T. Wegner stritt sie über Fragen des Diasporajudentums, des Zionismus und der Assimilation, in nuce das „Abstraktum ‚Jüdischsein‘“19: „Judengenau [sic!] wie Nichtjuden verstehen darunter Jeder etwas völlig anderes. Ich habe das doch am eigenen Leib erlebt […]. Dass ich mit Zähnen und Klauen gegen den Begriff der Bodenverbundenheit bin, den ich für grundlegend falsch halte musst du mit nachfolgenden Erklärungen hinnehmen.“20 Und in einem 1979 mit ihr geführten Interview bemerkte Tergit, dass es ,den‘ Juden und ,das‘ Judentum als eindeutig definierte Kategorie nicht gäbe: „[A]ll diese Verallgemeinerungen über Juden; Juden sind doch so verschieden wie alle anderen Menschen auch. Sie sind völlig verschieden; […] Juden, Nicht-Juden, da kann man nicht verallgemeinern.“21 Von dieser grundlegenden Überzeugung gibt Tergits im Wesentlichen zwischen 1932 und 1938 vornehmlich im Exil entstandene Familienchronik Effingers eindrucksvoll Zeugnis. Die Effingers sowie weite Teile ihrer mehrheitlich unveröffentlichten Palästina-Reportagen dokumentieren eindrucksvoll die Selbstreflexion der ihrem Selbstverständnis nach „Berliner Jüdin“22 über erfahrene Identitätsbrüche und das Bedürfnis einer Neupositionierung im Moment, da diese von außen vollständig in Frage gestellt war.

Zwischen Traditionsbewahrung und Assimilationsbestrebung. Jüdisches Selbstverständnis in den Effingers In ihrem rund 750-seitigen „umfassenden historischen Roman über die deutschen Juden“23 erzählt Tergit die Geschichte dreier deutsch-jüdischer Familien über vier Generationen der Jahre 1878 bis 1948 hinweg: Der assimilierten Oppners und Goldschmidts, gut situierter Bankiers aus Berlin, deren Darstellung an die jüdischen Großbankhäuser der Rothschilds, Mendelssohns, Bleichröders, Warburgs und Oppenheims angelehnt ist, und der frommen, bescheidenen Uhrmacherfamilie Effinger aus dem fiktiven kleinstädtischen Kragsheim in Süddeutschland,

19 Tergit, Gabriele an Armin T. Wegner am 30. 6. 1956, 2 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., DLA. 20 Tergit an Armin T. Wegner (wie Anm. 19) (Herv. i. Orig.). 21 Tergit, Gabriele im Gespräch mit Jacob-Henri Hempel. Unveröffentlichtes Typoskript (1979), S. 9–10, DLA [A: Tergit]. 22 Tergit an Armin T. Wegner (wie Anm. 19). 23 Tergit, Gabriele an Norbert Muhlen am 8. 1. 1954, 1 Bl., ms. Original m. Unterschr., m. hs. Korr., DLA [A: Tergit].

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die Züge von Tergits süddeutscher Verwandtschaft trägt. Mithilfe eines facettenreichen – eigentlich möchte man sagen schier unüberschaubaren – Figurentableaus, werden z.  T. stark divergierende Identitätskonzeptionen und Deutungsmuster von Jüdischkeit, werden die Fragwürdigkeit der Beschreibung einer Gruppe ,der Juden‘ als ein verbundenes Kollektiv durchexerziert. Ein probates Mittel für die Darstellung identitätskonstituierender Selbstzuschreibungen ist schon das gewählte Genre des Familienromans. Das hat Sigmund Freud in seinem Essay Der Familienroman des Neurotikers herausgearbeitet.24 Und wirft man einen Blick auf die nun schon seit geraumer Zeit in Schwang gekommenen, meist autobiografisch gefärbten Familiengeschichten der zweiten und dritten Generation, scheint sich diese Beobachtung zu bestätigen.25 In den Effingers nun bietet Tergit dem Leser mit bemerkenswertem psychologischen Feingefühl einen Abriss der verschiedenen Typologien ,des Juden‘ und der Wortgefechte der Familienmitglieder, die sie einmal als Traditionalisten, einmal als Liberale, ein anderes Mal als Zionisten definieren. Weil Tergits „Chef d’oeuvre“26, wie der ehemalige Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, Will Schaber, die Effingers 1979 genannt hat, ein Bündel der zeitgenössischen Selbstinterpretamente von dem aufruft, was jüdisch ist oder sein könnte, verlohnt es, die Figurenkonstellation etwas genauer zu betrachten. Dabei wird schon auf formaler Ebene explizit, wie vielschichtig, ja unübersichtlich die innerjüdische Debatte um Konzepte zur Neubestimmung des Judentums war. Die Technik der wechselnden Wahrnehmungsperspektive mehrerer am erzählten Geschehen beteiligter Figuren erlaubt es der Autorin, ein Kaleidoskop jüdischer Eigenzuschreibungen zu skizzieren. Die Ästhetik der Vielstimmigkeit, d.  h. die auf einen geselligen Kreis von Personen ausgeweitete polyperspektivische Darstellungsweise, ermöglicht die Vermittlung zahlreicher, oft miteinander streitender Varianten jüdischer Selbstwahrnehmung. In diesem Zusammenhang erweist sich ein Blick auf die Zitation der Figurenrede als aufschlussreich: Nicht immer lässt sich die wörtliche Wiedergabe von Geäußertem eindeutig einer Figur zuordnen. Das Stimmengewirr

24 Freud, Sigmund: Der Familienroman des Neurotikers. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. VII. Frankfurt/M. 1999. S. 227–231. 25 Man denke nur an Charles Lewinskys „Melnitz“, Irene Disches „Großmama packt aus“, Jakob Hessings „Mir soll’s geschehen“, Eva Menasses „Vienna“, Minka Pradelskis „Und da kam Frau Kugelmann“, Gila Lustigers „So sind wir“, Barbara Honigmanns „Ein Kapitel aus meinem Leben“, Viola Roggenkamps „Familienleben“ – und die Liste ließe sich lange noch so weiterführen: Familienromane boomen. (Zu sämtlichen Literaturangaben siehe das Literaturverzeichnis dieses Beitrags.) 26 Schaber, Will: Die „jüdischen Buddenbrooks“. Zum 85. Geburtstag von Gabriele Tergit. In: Aufbau v. 2. 3. 1979.



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verweist nicht nur auf die grundsätzliche Vielfalt jüdischer Selbstbilder, sondern auch auf den Verlust von Orientierung angesichts der Verunsicherung jüdischen Selbstverständnisses, die durch die Emanzipation im ausgehenden 19. Jahrhundert, Säkularisierung und Akkulturation sowie den zunehmenden Antisemitismus hervorgerufen wurde. Wirft man einen Blick auf die poetologische Konzeption des Romans, auf Deutungselemente und -muster von Jüdischkeit, erscheinen die Effingers, Oppners und Goldschmidts als Spiegel verschiedenartiger, disjunkter Lebensentwürfe und Bewusstseinsformen. In ihrer Parzellierung geben sie die Zersplitterung der jüdischen Gemeinschaft vom wilhelminischen Deutschland über die Weimarer Jahre bis zur NS-Zeit wider. Da sind z. B. die Brüder Waldemar und Ludwig Goldschmidt. Im stillen Einverständnis über eine tendenziell bürgerliche Lebensweise, der Kultur, Bildung und Sittlichkeit als „Schlüssel zur Emanzipation“ und zur Akzeptanz in der nichtjüdischen Gesellschaft galten, wie es George L. Mosse formulierte,27 sind sie über Fragen der Traditionsbewahrung und Akkulturation tief zerstritten. Der eine, Waldemar, hat sich als fortschrittsgläubiger Humanist, Kunstsammler und Liebhaber der deutschen Klassik, deren Zitation dazu dient, den bürgerlichen Habitus der Familie zu unterstreichen, weitgehend vom Judentum entfremdet. Hingegen verkörpert der andere, Ludwig, was in der kaiserlichen Reichshauptstadt um 1900 zusehends im Schwinden begriffen war: das traditionelle Judentum. Seinem Bruder wirft der mit einer mondänen, in jüdischen Wohlfahrtsorganisationen engagierten russisch-stämmigen Jüdin Verheiratete, mit der die Autorin ein Gegengewicht zu den im Roman selbst klischiert gestalteten ,ungebildeten Ostjuden‘ schafft, vor, stündlich die Gesetze der Väter zu übertreten. Das hat er gemein mit Mathias Effinger, der jenes traditionelle Landjudentum repräsentiert, anhand dessen Leo Baeck die „Milieufrömmigkeit“ beschrieben hat.28 Der gesetzestreue Jude, der auffallend Tergits Großvater ähnelt, dient der Autorin nicht nur dazu, die in den Roman eingeschriebene territoriale und soziale Opposition Stadt/Land engzuführen mit dem Gegensatz zunehmender Assimilierungstendenzen im urbanen Raum einerseits und dem Festhalten an einer nach außen abgeschotteten jüdischen Welt in ländlichen Regionen ande-

27 Mosse, George L.: Jewish Emancipation. Between Bildung and Respectability. In: Ders.: Confronting the Nation. Jewish and Western Nationalism. Hannover 1993. S. 131–145. Vgl. zur Verbürgerlichung der Juden in Deutschland: Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Mit 40 Tabellen. Göttingen 2004 (zugl. Habil.-Schr., Techn. Univ. Dresden, 2003). 28 Leo Baeck hier zitiert nach Jospe, Alfred: A Profession in Transition. The German Rabbinate, 1910–1939. In: LBI YB, Nr. 19, 1974. S. 51–59, hier S. 52.

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rerseits.29 Der Blick auf den Kragsheimer Familienteil macht überdies deutlich, welche Bedeutung das Aufeinandertreffen der deutschen Juden mit den zumeist vor Pogromen im Russischen Reich und Wirtschaftsboykotten in Galizien geflohenen, in das industrialisierte Deutsche Reich eingewanderten chassidischen Juden erhielt. Wenn Mathias Effingers Unmut über die langen schwarzen Kaftane, das ganztägige Studium der Torah und die liturgischen Melodien der ostjüdische Glaubensgenossen beschrieben wird (EF, 527), lassen sich die „Spannungen, die sich mit der kollektiven wie individuellen Suche nach einer zeitgemäßen Religiosität verbanden“30, anschaulich herausarbeiten. Nicht selten mündeten sie in stereotypen Projektionen und Zerrbildern31 einzelner Strömungen innerhalb des Judentums. Anhand der Konfrontation des süddeutschen Familienteils mit den hier nur im Interesse der Lesbarkeit unter dem Sammelbegriff ,Ostjuden‘ zusammengefassten, ihrer Staatsangehörigkeit nach zumeist österreichischen, russischen, ungarischen und rumänischen Juden, werden Differenzkonstrukte, d. h. ethnische und kulturelle ,Andersartigkeit‘ zwischen den deutschen und osteuropäischen Juden poetologisch reflektiert. An den Passagen, die die von Tergit auch in ihrem im Exil in Jerusalem und Tel Aviv entstandenen Palästina-Konvolut aufgegriffene „Spaltung […] in Ostjuden und Deutsche“32 thematisieren, lässt sich ablesen, wie sehr die Selbstversicherung des Eigenen über die Abwehr des Anderen erfolgt. Das kennt man so ähnlich auch aus den Erzähltexten von Karl Emil Franzos, Henry William Katz, Manès Sperber, Soma Morgenstern und Joseph Roth. Dass der innerreligiöse Konflikt nicht nur zwischen Reformjuden und Traditionalisten, Assimilierten und Orthodoxen schwelt, sondern auch die Figuren selbst innerlich tief zerrissen sind, macht die Figur des jovialen Emmanuel

29 Monika Richarz notiert, dass die Orthodoxie auf dem Land, wo Tradition und soziale Kontrolle herrschten und weniger kulturelle Einflüsse wirkten, länger unangefochten weiterbestanden habe. Hingegen habe sie in den Städten unter dem jüdischen Bildungsbürgertum schnell an Einfluss verloren, „weil sie nicht zuletzt als ein Hindernis auf dem Weg zur sozialen Integration angesehen wurde“. (Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780–1871 (Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1). Stuttgart 1976, S. 48. 30 Lässig, Jüdische Wege (wie Anm. 27), S. 424. 31 Vgl. Aschheim, Steven E.: Spiegelbild, Projektion, Zerrbild : „Ostjuden“ in der jüdischen Kultur in Deutschland. In: Osteuropa. Interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Hrsg. v. der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, 58 (2008) 8/10. S. 67–81. 32 Tergit, Gabriele an Herrn Edelstein und Herrn Lichtwitz am 28. 8. 1934, 2 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., m. hs. Anm., Provenienz Mytze, DLA [A: Tergit].



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Oppner deutlich: Einerseits hält der Alt-1848er, ein eingefleischter Preuße, nichts von Religion und nichts vom Glauben seiner Väter. „,Nach alter heidnischer Sitte‘“ findet er alles komisch, was mit Religion zu tun hat (EF,  93, 253). Andererseits hält er apodiktisch an dem Ritus der Beschneidung fest, das er „,ein Symbol der Gesamthaftung Israels‘“ nennt (EF, 126). Wie heterogen und mitunter rivalisierend jüdische Eigenbilder sein konnten, demonstrieren auch die hitzig geführten Debatten über den Konfessionswechsel zum Christentum und über „Mischehe[n]“33. An dem prominenten Motiv der interreligiösen Heirat, mit dem Tergit einmal mehr auf ein zeittypisches Phänomen abstellt, lässt sich ablesen, wie sehr an dem Kontakt zwischen Juden und Christen „irgendwo auch der Wunsch beteiligt [war], der Familie neuen Glanz zu verleihen, dem Aufstieg der Firma zu dienen.“ (EF, 279) Und während die an christlichen Umgang gewöhnten Juden in der Stadt im Grunde keinen Anstoß an interkonfessionellen Eheschließungen nehmen, hält es der fromme Familienteil in der ländlichen Region, wo es traditionell weniger Berührungspunkte zwischen Juden und Nichtjuden gab als in der Stadt,34 für eine Sünde, einen „,Goy‘“ zu heiraten (EF, 234). Die Diskrepanz von jüdischer Selbstidentifikation und externer Zuschreibung reflektiert Tergit in jenen Passagen, die die Auseinandersetzung über die mögliche Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland zur Sprache bringen. „,[A]ber wir sind doch auf Gedeih und Verderb mit Deutschland verbunden‘“, entgegnet das Alter Ego der Autorin, Lotte Effinger, ihrem Verlobten als dieser für den Fall, dass „in Deutschland alles schiefgeht“, schon 1919 die Möglichkeit erwägt, in die Schweiz auszuwandern (EF, 474). So werden die Problematik der Heimatlosigkeit als wesentliches Differenzkriterium und das in diesen Passagen antizipierte Exil als traumatische Erfahrung gewaltsamer identitätspolitischer Ausschließung ausgewiesen. Wie Lotte fühlt sich auch ihr Bruder Erwin tief mit seiner Heimat Deutschland verbunden. Er will in kein Land emigrieren, das in der Wüste liegt (EF, 385).35 Hingegen lehnt der zionistisch gesinnte Kurt Lewy als eine der wenigen Figuren im Roman die „,Anpassungssucht‘“ an die deutschen Sitten, die er prototypisch im Tannenbaum versinnbildlicht sieht, vehement ab. Die Absage an sein Volkstum hält er für Verrat und ist überzeugt, dass gerade die Assimilation zum Antisemitismus führte (EF, 391, 386). So schimpft er denn, der

33 Tergit, Gabriele: Prosa So wars eben. Roman, Teil I., m. Inhaltsangabe, Typoskr. Durchschl., m. hs. Korr., DLA [A: Tergit]. 34 Vgl. Richarz, Jüdisches Leben (wie Anm. 29), S. 57. 35 Vgl. Sucker, Juliane: Heimatlos in Palästina. Zur Inszenierung von Entwurzelung und Fremdheitserlebnissen in Gabriele Tergits Texten. In: Exil: Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse. H. 1 (2010). S. 79–90.

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er mit den Worten Tergits zur „Sekte innerhalb der Judenheit“36 zu zählen ist, den befreundeten Erwin Effinger den „,Typ des widerwärtigen Assimilanten‘“ und sucht, indem er sich einer zionistischen Vereinigung anschließt, den „,rasenden Auflösungstendenzen im Judentum ein Gegengewicht‘“ zu verleihen (EF, 386, 391). Auch die assimilierte, wie ihre Erfinderin Tergit in den 1920er-Jahren in der Frauenbewegung aktive Marianne Effinger trägt die inneren Spannungen des bürgerlichen jüdischen Milieus um die Jahrhundertwende zur nicht-jüdischen Umwelt zur Schau: Als sich ihre christliche Liebschaft Martin Schröder als Deutschnationaler und damit Verächter alles Jüdischen entpuppt, entschließt sich Marianne zur Auswanderung nach Palästina. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann sie die „Verwurzelung im Deutschtum […] nicht mehr anerkennen“ und wendet sich ab von Fragen der Akkulturation und Gleichberechtigung von Juden und Christen. Sie ist überzeugt: „Die Entwurzelung der deutschen Juden, nämlich aus dem Judentum, war ein Irrtum.“  (EF,  716) An dem brüchigen Ich Marianne Effingers wird nicht nur deutlich, dass die von außen an die im Berlin der Weimarer Jahre und der NS-Zeit hoch assimilierten Juden herangetragenen antisemitischen Fremdbilder viele überhaupt erst zur Auseinandersetzung mit dem Judentum zwangen. Offenkundig wird auch, dass der Versuch, „die Heimatlosigkeit durch die Rückkehr ins ‚verlorene Land‘ zu beenden“37 für viele deutsche Juden zum Scheitern verurteilt war. In Palästina lebt die im repräsentativen Tiergartenviertel in einer Achtzimmerwohnung mit roten Teppichen, breiten Treppen samt Bronzegittern und mit allegorischen Figuren verzierten Fenstern aufgewachsene Tochter des Industriellen-Ehepaars Annette und Karl Effinger in einem Kibbuz. In ihrem Zelt bereitet sie auf einem Petroleum-Kocher das Essen in Blechnäpfen zu.38 Sie teilt sich mit zumeist nur Hebräisch sprechenden Olim, wie die „aufsteigenden“ Einwanderer genannt wurden, die Waschräume39 und müht sich neben anderen nach Erez Israel eingewanderten Pionieren aus dem unfruchtbaren Wüstenboden „statt Dornen und Disteln Apfelsinen zu gewinnen und Mandeln und Feigen“.40 Mariannes Leben in der sozialistischen Gemeinschaftssiedlung lässt sich in einer Vielzahl der überwiegend unveröffentlichten Palästina-Reportagen weiter-

36 Tergit, Gabriele: o. T., o. D., 2 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit]. 37 Hammer, Erwählung (wie Anm. 10), S. 188. 38 Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, 3 Bl. ms. Durchschl., o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit]. 39 Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, Teil II, m. hs. Korr., ungeordnet, DLA [A: Tergit]. 40 Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, 3 Bl. ms. Durchschl., o. Unterschr., m. hs. Korr., hier Bl. 1, DLA [A: Tergit].



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verfolgen.41 Plastisch beschrieben findet sich darin, was die in Jerusalem und Tel Aviv heimatlose Exilierte Gabriele Tergit in den Jahren 1933 bis 1938 erlebt hat. Es sind ihre publizistisch verarbeiteten Eindrücke von dem, was sie den „Irrsinn der Bewunderung der Landwirtschaft“,42 ein „kulturelles Chaos“43 und die „Hetze gegen die deutschen Juden“44 genannt hat. Aus diesen zumeist reportageartigen Texten spricht nicht nur Tergits tiefe Skepsis gegenüber den politisch-religiösen Bestrebungen des „fanatischen Palestina [sic!]“45, das den ,Jeckes‘ sozial wie kulturell kaum Integrationsmöglichkeiten bot und ihnen häufig feindlich gesinnt gegenüber trat. Deutlich werden auch die tiefe Verunsicherung der eigenen Existenz und die Angst vor Selbstverlust infolge der Entwurzelung und Entortung, auf die Anne Kuhlmann zufolge mit einem neuen Selbstentwurf reagiert werden musste.46

Von ,Golisch‘ zu ,Gohland‘ – Käsebier erobert den Kurfürstendamm Anders als in den Effingers werden jüdische Selbstzuschreibungen im Käsebier nur rudimentär verhandelt. Der nur etwa ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtübernahme bei Rowohlt erschienene Roman macht sich den rasanten Aufund Wiederabstieg des nichtjüdischen Volkskomikers Georg Käsebier aus der Hasenheide zum Thema. Die Geschichte des bescheidenen Titelhelden, der zum Schlagerstar hochgejubelt einen kurzen Ausflug an den glamourösen Kurfürstendamm der ,Roaring Twenties‘ macht, wird flankiert von allerlei anderen Themen: dem bunten Treiben des großstädtischen Amüsierbetriebs, einem Bauskandal,

41 Tergit, Gabriele: Im Schnellzug nach Haifa. Mit Fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek. Hrsg. v. Jens Brüning u. m. einem Nachw. v. Joachim Schlör. Berlin 1996. 42 Tergit, Gabriele an Hans Jäger am 26. 5. 1966, 2 Bl, ms. Durchschlag o. Unterschr., m. hs. Korr., hier Bl. 1, DLA [A: Tergit]. 43 Tergit, Gabriele: o. T., o. D., 22 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., hier Bl. 1, DLA [A: Tergit]. 44 Tergit, Gabriele an Grete Hirschberg am 19. 12. 1959, 2 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., hier Bl. 1, DLA [A: Tergit]. 45 Tergit, Gabriele an Curt Riess am 10. 6. 1972, 4 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., hier Bl. 3, DLA [A: Tergit]. 46 Anne Kuhlmann: Das Exil als Heimat. Über jüdische Schreibweisen und Metaphern. In: Exilforschung: Ein internationales Jahrbuch. Bd. 17: Sprache, Identität, Kultur. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung/Society for Exile Studies v. Claus-Dieter Krohn [u. a.]. München 1999. S. 198–213.

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einer Reihe enttäuschter Liebschaften und v.  a. dem Niedergang der seriösen Tagespresse. Gemäß dem Anspruch des Zeitromans, ein wirklichkeitsgetreues Abbild seiner Zeit zu entwerfen,47 ist in der Redaktion der fiktiven „Berliner Rundschau“ mit Miermann, Gohlisch, Cochius und Waldschmidt eine Reihe jüdischer Journalisten und Verleger beschäftigt. Sie verleihen – möchte man das seit 1885 kursierende, späterhin der nationalsozialistischen Propaganda dienliche Schlagwort von der „,Verjudung der deutschen Presse‘“ aufgreifen – der Häufung der Juden im Pressewesen der Weimarer Republik Ausdruck. Mit den liberalen Großverlagen Rudolf Mosse (Berliner Tageblatt und Berliner Volkszeitung) und Ullstein (Vossische Zeitung), für die die promovierte Historikerin Tergit seit 1924 als Feuilletonistin und Gerichtsreporterin tätig war, erlangten die jüdischen Zeitungsverlage eine hervorragende Stellung im Presse- und Verlagswesen.48 Für die feuilletonistische Gerichtsreportage, wie sie Paul Schlesinger alias Sling, Moritz Goldstein, Rudolf Olden und – als eine der ersten Frauen in Weimarer Jahren – Gabriele Tergit prägten, spricht Daniel Siemens von einer besonderen „Domäne der deutsch-jüdischen Intelligenz“.49 Der Käsebier, der von den zeitgenössischen Lesern als Schlüsselliteratur interpretiert wurde,50 spiegelt am Beispiel des publizistischen Massenbetriebs den Ausschluss von Juden aus dem kulturellen und städtischen Raum wider. Und so macht denn auch schnell die pejorative Losung von der „jüdischen Asphaltpresse“ die Runde (KB, 62). In rechtspopulistischen Blättern werden „widerliche ausländische Juden“, „schmierige Jude[n]“ und „Rotfrontschweine“ denunziert (KB, 62, 153), was alles zuerst der an Tergits Kol-

47 Die Druckindustrie war bekanntlich ein von Juden bevorzugter Unternehmenszweig. Weiterführend siehe Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich (Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 2). Stuttgart 1979. S. 31, 33–34. 48 Weiterführend siehe Kurt Koszyk: Deutsche Presse. 1914–1945. Geschichte der deutschen Presse Teil III. Hrsg. v. Fritz Eberhard. Bd. 7. Berlin 1972. V. a. S. 250ff. 49 Siemens, Daniel: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919–1933. Stuttgart 2007. S. 81. 50 Als der Roman im Winter 1931/32 bei Rowohlt erschien, fühlten sich viele, darunter Tergits Kollege beim Berliner Tageblatt, Walther Kiaulehn, und der Redakteur vom Berliner Herold, Peter Sachse, an den Berliner Komiker Erich Carow erinnert. Carow (1893–1956) war ein deutscher Volkskomiker und Kabarettist. 1927 gründete er im Berliner Norden am Weinbergsweg Carows Lachbühne „für den kleinen Mann im großen Berlin“ (Volker Kühn). Kühn; Volker: Hoppla, wir beben. Kabarett einer gewissen Republik 1918–1933 (Bd. 2). Kleinkunststücke. Eine Kabarett-Bibliothek in 5 Bden. Weinheim/Berlin 1988. S. 362. Kiaulehn, Walther: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Schlüssel zu einem Schlüsselroman. In: Berliner Zeitung am Mittag v. 24. 11. 1931. S. 3f.; Sachse, Peter: Kein Roman um Erich Carow. Käsebier unter falscher Flagge. In: Berliner Herold v. 28. 11. 1931.



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legen beim Berliner Tageblatt, Walther Kiaulehn, angelehnte Emil Gohlisch zu spüren bekommt. Im „Völkischen Aufgang“, mit dem Tergit den Völkischen Beobachter kodiert, wird er im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie als „,schmieriger Jude‘“ ,demaskiert‘. Eigentlich heiße er Cohn, womit die Autorin auf die berühmte Schlusswendung „Kommen Sie, Cohn!“ aus Fontanes Geburtstagsgedicht An meinem Fünfundsiebzigsten (1895) anspielt.51 Mit einem ironischbissigen Brief an die Adresse des rechten Blattes, in dem er die nichtjüdische Herkunft seines Namens erläutert und damit seine jüdische Herkunft verleugnet, adaptiert Gohlisch das rassisch konnotierte Fremdbild. Angesprochen ist damit nicht nur das Problemfeld des Namens als Stigma, das seit einigen Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erfährt,52 sondern auch das spannungsvolle Wechselverhältnis von Fremd- und Selbstbild. Der Hinweis auf den germanischen Ursprung und damit die genealogische Bestimmung des Namens ,Gohlisch‘, der mit ,Gohland‘ identisch sei, erlangt besondere Bedeutung, wenn man sich vor Augen führt, dass die Autorin in der Neuausgabe ihres Romans einige Namensänderungen vornehmen und die ohnehin nur beiläufig eingestreuten Andeutungen zu den jüdischen Wurzeln einiger Figuren gestrichen wissen wollte. Weder den Verlag noch sich selbst wolle sie dem Vorwurf des Antisemitismus aussetzen, ließ Tergit in einem Schreiben an den Fischer-Taschenbuch-Verlag wissen. Es könne zu viele Deutsche geben, „die denken könnten für sowas war Auschwitz gerade richtig“.53 Die Lektorin Jutta Siegmund-Schultze schlug ihr den Wunsch, das jüdische Figurenarsenal in ein ,weniger jüdisches‘ umzubauen, jedoch aus. Siegmund-Schultze befürchtete, die Umwandlung der ,jüdischen‘ in ,deutsche‘ Gestalten könnte die Authentizität des Buches schmälern und auf Seiten der Leser zu „völligen Missverständnissen“ führen.54 Die Jüdin Käte Herzfeld beispielsweise sei keinesfalls so widerwärtig wie sie der Autorin offenbar im Nachhinein erscheine, schrieb die Lektorin an Tergit. Und weiter:

51 Fontane, Theodor: An meinem Fünfundsiebzigsten. In: Ders.: Werke, Schriften und Briefe, Abt. I, Bd. 6.2. Hrsg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. München/Wien 1978. S. 340–341, hier S. 341. „Cohn“ leitet sich von hebr. „Kohen“ (Priester) ab. Schon im Mittelalter wurden „Cohen“ oder „Levi“ als Beinamen getragen und daher in der Neuzeit, transkribiert als „Kohn“, „Cahn“ oder „Kahn“, häufig zum Familiennamen gewählt. (Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung von 20 000 Nachnamen. Hrsg. v. Rosa Kohlheim u. Volker Kohlheim. Mannheim 2005. S. 173.) 52 Siehe weiterführend: Bering, Dietz: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart 1988. 53 Tergit an Jutta Siegmund-Schultze (wie Anm. 3). 54 Siegmund-Schultze an Gabriele Tergit (wie Anm. 1), hier Bl. 1–2.

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Es ist eine sehr schillernde und für die Zwanziger Jahre typische Gestalt, wie sie fast nur von einer Berliner Jüdin verkörpert werden kann. Wir fanden gerade die Beschreibung dieser Frau sehr reizvoll und in keiner Weise diskriminierend, geschweige denn antisemitisch. Wir waren hier im Verlag der einhelligen Meinung, daß man Ihnen den Vorwurf des Antisemitismus in keiner Weise unterstellen kann, im Gegenteil, es tauchen eigentlich in der von Ihnen geschilderten Gesellschaft viel weniger Juden auf als in der damaligen Gesellschaft tatsächlich vertreten waren.55

Wirft man einen Blick auf das Feld des literarischen Antisemitismus, das sich mittlerweile zu einem produktiven Feld entwickelt hat, zu dem beispielsweise Fotis Jannidis und Gerhard Lauer mit ihrer Untersuchung zu Theodor Fontanes Stechlin einen erhellenden Beitrag geleistet haben,56 fällt auf, dass die Zeichnung jüdischer Figuren im Käsebier keinen stereotypen Mustern unterliegt. Die Figuren sind weder auf subtile oder weniger subtile Art negativ konnotiert. So hat man es denn auch nicht mit eindeutig antisemitisch getönten Judenbildern zu tun, die vorurteilsbeladene Ressentiments transportierten oder Feindbilder affirmierten, wie dergestalt antisemitisches Gedankengut in literarischen Texten Ruth Klüger in ihrer Studie zu jüdischen Gestalten in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts herausgearbeitet hat.57 Auch kann im Falle des Käsebier nicht davon gesprochen werden, dass das Figurentableau in zwei Lager, ein als solches erkennbar ,jüdisches‘ und ein ,deutsches‘ zerfiele. Schon allein deshalb nicht, weil Tergit keine simplen Polaritäten Juden/Nichtjuden bedient. Protagonisten wie Antagonisten sind kaum als ‚typisch jüdisch‘ oder ,typisch deutsch‘ identifizierbar. Die jüdische Herkunft einiger Figuren spielt allenfalls eine nebengeordnete Rolle. So muss der Leser die sporadisch eingestreuten, zudem ausgesprochen vagen Informationen über die jüdischen Wurzeln einiger Figuren im Laufe der Geschichte Stück für Stück zusammensetzen. Welchen Stellenwert das Judentum beispielsweise im Leben des Feuilletonredakteurs Georg Miermann einnimmt oder besser gesagt gerade nicht einnimmt, erfährt man eher beiläufig. Dabei ist es für die Analyse des nur wenige Monate nach seinem Erscheinen auf die ersten Bücherverbotslisten gesetzten Käsebier eine aufschlussreiche Beobachtung, dass sich Miermanns jüdische Herkunft respektive seine Entfremdung vom Juden-

55 Siegmund-Schultze an Gabriele Tergit am 13. 12. 1976, 2 Bl., ms. m. Unterschr., hier Bl. 2, DLA [A: Tergit] 56 Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: „Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß herausgekommen“ – Antisemitismus und Figurenzeichnung in „Der Stechlin“. In: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. v. Konrad Ehlich. Würzburg 2002. S. 103–119. Siehe auch Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998. 57 Klüger, Ruth: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994.



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tum – die als zentrales Motiv in den Effingers herausgearbeitet wurde – erst am Ende des Romans offenbart. Der Leser erfährt, was nach halachischem Gesetz gar nicht möglich ist: dass nämlich Miermann längst aus dem Judentum ausgetreten ist (KB, 279). Nach seiner Entlassung durch den „Naziintellektuelle[n]“ (KB, 241) Willi Frächter, der die liberale „Berliner Rundschau“ an sich reißt und sie durch überbordende Reklame und allerlei Rationalisierungskünste von einem seriösen Blatt zu massengängiger Unterhaltungsware umbaut, fragt Miermann seine Frau angesichts ihrer beider Assimilation: „,Sind wir nun so viel schöner geworden, du mit deinen blonden Haaren und blauen Augen und ich mit meinen Büchern über die deutsche Romantik und die deutsche Klassik?‘“ (KB, 276) Erst kurz bevor er einen Herzschlag erleidet, besinnt sich Miermann seiner jüdischen Herkunft.58 Die augenfällige Nicht-Akzentuierung von Jüdischkeit, die als herausragendes Charakteristikum des Käsebier zu beschreiben ist, ist vordergründig als poetologisch reflektierter Ausdruck der Assimilation der deutschen Juden im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu werten. Und diese Beobachtung gilt ebenso für Tergits von den zeitgenössischen Lesern als „authentische Geschichte aller deutschen Juden“59 gelesene Effingers: „,Wer Hunderte, ja Tausende von Jahren unter einem Volk gelebt hat, gehört dazu‘“  (EF,  386), dekretiert Erwin Effinger 1913. Die Mehrzahl der jüdischen Romanfiguren findet es „,[d]ie Hauptsache […], daß wir uns als Deutsche fühlen.‘“ (EF, 195) Nicht selten patriotisch gesinnt, wollen sie nur das „,Beste[] für unser Vaterland‘“ (EF, 622). Die literarisch verhandelte jüdische Annäherung an die christliche Mehrheitsgesellschaft hat Tergit auch in dem unveröffentlichten Typoskript Die Judenfrage beschrieben: Sie [die Juden, J. S.] wurden Deutsche und Franzosen durch Luft und Klima, durch Landschaft, Sprache und Menschen, durch Geist und Geschichte, wie jede Minderheit, die zerstreut in einer andersnationalen Mehrheit wohnt. Sie selbst fühlten sich als Deutsche und Franzosen einer anderen Religion. Aber ihren Mitbürgern blieben sie ein fremdes Volk. [...] Das ist die Judenfrage. Und wie jede echte Tragik lässt sie sich nicht auflösen.60

Dass Tergit auch im Falle der Effingers knapp dreißig Jahre nach deren Erscheinen darum bemüht war, sich des Jüdischen in ihrem Buch zu entledigen, muss

58 „Es kamen die 35 Jahre unausgesprochenen Worte von seinen Lippen, das uralte Sterbegebet der alten Juden: ‚Schmah isroel, adonoi elohenu adonoi echod.‘ ‚Höre, Israel, der Ewige, unser Gott ist der eine Gott.‘“ (KB, 277) 59 Tergit, Gabriele an Ludwig Marcuse am 13. 7. 1955, 1 Bl., ms. Durchschlag o. Unterschr., DLA [A: Tergit]. 60 Tergit, Gabriele: Die Judenfrage, o. D., 4 Bl., ms. Original o. Unterschr., m. hs. Korr., DLA [A: Tergit].

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zum einen als Ausdruck dessen gewertet werden, dass sich Tergit nicht als jüdische Autorin exponieren wollte. Zum anderen dürften wohl auch marktstrategische Motive eine Rolle gespielt haben, d.  h. müssen die Versuche der Autorin, die ,jüdischen Elemente‘ des Romans zu eliminieren, als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack interpretiert werden. Bekanntlich hat sich die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft lange Zeit schwer getan mit einer dezidiert jüdischen Thematik.61 Beim außerakademischen wie genuin wissenschaftlich verfahrenden Publikum ist der Roman trotz der von Verleger- und Kritikerseite wiederholten Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrooks, John Galsworthys Forsyte Saga und Fontanes Gesellschaftsromanen bis heute weitgehend unbeachtet geblieben. Tergits Ansinnen, von dem politischen Gehalt ihres Romans abzusehen, erstaunt aber auf die Tatsache hin, dass sie die Effingers doch geschrieben hatte, „um darzstellen [sic!] wie das Verhältnis zwischen Juden und Christen letztlich zu Auschwitz führen konnte“.62 Der angestrebte Umbau der ,schlechten‘ jüdischen in ,gute‘ deutsche Figuren fördert eindrucksvoll den Identitätskonflikt63 der Autorin zutage, die sich in ihrer Rolle als Journalistin frühzeitig selbst ein wenig jüdisch klingendes Pseudonym zugelegt hatte. Mit Alfred Polgar, dem großen, aus Wien zugereisten Feuilletonisten des großstädtischen Berlins der 1920er-Jahre, gehörte Tergit damit zur „erschreckend lange[n] Reihe getarnter Juden der Literatur“.64

Fazit Während Tergit in Käsebier erobert den Kurfürstendamm, ihrer Momentaufnahme der Jahre 1929 bis 1931, d. h. der zeitgeschichtlich dem Untergang geweihten „Goldenen Zwanziger“, auf Ausschlussmechanismen und Fremdperzeptionen fokussiert und ein stark verknapptes Bild jüdischer Selbstzuschreibungen zeichnet, legt sie in den Effingers den Schwerpunkt auf die Darstellung eines spezifischen jüdisch-bürgerlichen Selbstbildes. Wo die neusachliche Satire auf das Presseund Marketingwesen der modernen massenmedialen Konsumgesellschaft Hete-

61 Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band von Ulrike Schneider, Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur. 62 Tergit, Gabriele an Walter von Hollander am 1. 9. 1948, 3 Bl. ms. Durchschlag o. Unterschr., hier Bl. 2, DLA [A: Tergit]. 63 Vgl. zu Identitätsfluchten Hammer, Erwählung (wie Anm. 10), S. 9. 64 Polgar, Alfred: Namen machen Leute. In: Ders.: Das große Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Vorwort von Harry Rowohlt. Zürich 2004. S. 262–265, hier S. 263.



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rostereotype und Kollektivbilder aufruft, nimmt Tergits vornehmlich im Exil entstandener Familienroman vielfältige durch innerjüdische Diskurse geprägte Eigenbilder zwischen Zugehörigkeit, Liminalität und Ablösung in den Blick. Dabei stehen unterschiedliche Figurationen des Jüdischen in einem Dialog, sie nehmen aufeinander Bezug, streiten miteinander oder stehen sich bis zuletzt unversöhnt gegenüber. Im Käsebier und in den Effingers erteilt Tergit, die sich auch in ihren EgoDokumenten gegen a priori festgelegte Kriterien von Juden und Judentum wandte, dem Konstrukt eines jüdischen Kollektivs, wie es die nationalsozialistische Propaganda Glauben machen wollte, eine Absage. Zwar deuten Tergits Umbau-Versuche der ,bösen‘ jüdischen Figuren in ,gute‘ deutsche auf die identitäre Verunsicherung der deutsch-jüdischen Autorin und Journalistin, die Anfang der 1930er-Jahre von Joseph Goebbels im Angriff als „miese Jüdin“ denunziert worden war.65 Beide Romane belegen aber eindrucksvoll, dass Tergit, die als jüdische Autorin auf antisemitische Stereotype ihrer Zeit und rassisch konnotierte Zuschreibungen von außen reagieren musste, diese nicht literarisch reproduziert.

Quellen Siegmund-Schultze, Jutta an Gabriele Tergit am 28. 9. 1976, 2 Bl., ms m. Unterschr., DLA [A: Tergit]. Siegmund-Schultze, Jutta an Gabriele Tergit am 13. 12. 1976, 2 Bl., ms m. Unterschr., DLA [A: Tergit] Tergit, Gabriele: Die Judenfrage, o. D., 4 Bl., ms Original o. Unterschr., m. hs Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, o. D., 3 Bl. ms Durchschl., o. Unterschr., m. hs Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, o. D., 3 Bl. ms Durchschl., o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: Prosa Effingers, o. D., Teil II, m. hs Korr., ungeordnet, DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: Prosa So wars eben. Roman, o.D., Teil I., m. Inhaltsangabe, Typoskr. Durchschl., m. hs Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: Palästina-Konvolut, o.D., Typoskr., m. hs. Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele: o. T., o. D., 2 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit].

65 Tergit im Gespräch mit Jacob-Henri Hempel (wie Anm. 21), S. 7, 4, DLA [A: Tergit]. Vgl. Schütz, Erhard: Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler? Zum Status von Reporterinnen in der Weimarer Republik – das Beispiel Gabriele Tergit. In: Autorinnen der Weimarer Republik. Hrsg. v. Walter Fähnders u. Helga Karrenbrock. Bielefeld 2008. S. 215–237, hier S. 229.

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 Juliane Sucker

Tergit, Gabriele: o. T., o. D., 22 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., hier Bl. 1, DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele im Gespräch mit Jacob-Henri Hempel. Unveröffentlichtes Typoskript (1979), DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Armin T. Wegner am 30. 6. 1956, 2 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., DLA. Tergit, Gabriele an Curt Riess am 10. 6. 1972, 4 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Ernst Rowohlt o. D., 1 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., unvollst., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Grete Hirschberg am 19. 12. 1959, 2 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Hans Jäger am 26. 5. 1966, 2 Bl, ms Durchschlag o. Unterschr., m. hs Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Jutta Siegmund-Schultze am 15. 9. 1976, 1 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr. DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Jutta Siegmund-Schultze am 2. 10. 1976, 2 Bl. ms Durchschlag m. hs Korrekturen o. Unterschr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Ludwig Marcuse am 13. 7. 1955, 1 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Norbert Muhlen am 8. 1. 1954, 1 Bl., ms Original m. Unterschr., m. hs Korr., DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Herrn Edelstein und Herrn Lichtwitz am 28. 8. 1934, 2 Bl., ms Durchschlag o. Unterschr., m. hs Anm., Provenienz Mytze, DLA [A: Tergit]. Tergit, Gabriele an Walter von Hollander am 1. 9. 1948, 3 Bl. ms Durchschlag o. Unterschr., DLA [A: Tergit].

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Andreas Stuhlmann

„Sie sehen: ich bin wütend.“ Hannah Arendt und Gershom Scholem streiten über Judentum im Exil

Netze und Fäden der Freundschaft „Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.“1 Am 21. Oktober 1940 schrieb Hannah Arendt diesen Satz an ihren Freund Gershom Scholem in Jerusalem. In den folgenden beinah 25 Jahren entspann sich über annähernd 140 weitere erhaltene Briefe ein herzlicher und spannungsreicher Dialog. Der letzte bekannte Brief, von Scholem an Arendt, ist datiert auf den 27. Juli 1964. Der zitierte Satz findet sich im zweiten Brief, geschrieben im französischen Montauban, 50 Kilometer nördlich von Toulouse, wo Arendt, ihre Mutter und ihr Mann Heinrich Blücher als Flüchtlinge unter prekären Umständen im Exil lebten. Er legt Zeugnis ab vom tiefsitzenden Schock, den die Nachricht vom Selbstmord Walter Benjamins bei Arendt ausgelöst hatte. Bereits im ersten überlieferten Brief vom 29. Mai 1939 hatte Arendt ihrer Sorge um die ökonomische Situation des von ihr gelegentlich zärtlich „Benji“ genannten gemeinsamen Freundes im Zentrum gestanden: Ich hatte versucht, ihm hier etwas zu vermitteln und bin kläglich gescheitert. Dabei bin ich mehr als je von der Wichtigkeit überzeugt, ihn für seine weiteren Arbeiten ganz sicherzustellen. Seine Produktion hat sich für mein Gefühl bis in stilistische Einzelheiten hinein gewandelt. [...] Es scheint mir oft, als käme er erst jetzt an die für ihn entscheidenden Dinge heran. Es wäre abscheulich, wenn er da nun gehindert würde.2

Der Austausch von Informationen über die letzten Wochen von Benjamins Leben, die Umstände seines Todes im französisch-spanischen Grenzort Port Bou, v.  a. aber die gemeinsame Sorge um das Nachleben seines Werkes, wird sich als ein roter Faden durch die Korrespondenz hindurchziehen. Den zweiten großen thematischen Komplex innerhalb des Briefwechsels bilden Mitteilungen über das Schicksal anderer Freunde und gemeinsamer Bekannter und damit auch, der

1 Arendt, Hannah u. Scholem, Gershom: Briefwechsel 1939–1964 (BWAS). Hrsg. v. Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia. Frankfurt/M. 2010. S. 10. 2 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 7–10.

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Satz macht es schon deutlich, der Kontext von Flucht, Vertreibung und Verfolgung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus und die Nöte des Exils. Im Dialog treten aber auch die individuellen Positionen von Arendt und Scholem hervor, wie diese Situation innerhalb der jüdischen Geschichte zu verorten, wie auf sie zu reagieren sei. Einen dritten Komplex bildet nach dem Ende des Krieges, als beide im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction Deutschland bereistem, um geraubte jüdische Kulturgüter, von Torah-Rollen bis zu ganzen Bibliotheken, nach Israel bzw. in die USA zu verbringen, die Diskussion um die Zukunft des jüdischen Volkes, das Verhältnis zu den Deutschen und den Umgang mit individuellen Tätern. Am Beispiel des Prozesses gegen Adolf Eichmann kam es dann 1963 zu einem Bruch im Dialog, der nicht mehr recht zu kitten war. Bis zur Publikation des vollständigen Briefwechsels 2010 wurde das Verhältnis v. a. im Licht dieses Zerwürfnisses interpretiert. Mir liegt daran, diese Beziehung als eine Freundschaft im Medium des Briefes und der damit gegebenen Einschränkungen und Möglichkeiten zu lesen, die den Rahmen bilden, um die Fragen der jüdischer Identität zu verhandeln. Dafür sollten zunächst die Lebensumstände beider Briefpartner rekapituliert werden. Gershom Scholem wurde am 5. Dezember 1897 als Gerhard Scholem in Berlin in eine weitgehend assimilierte jüdische Buchdrucker-Familie hineingeboren, die seit Beginn des 19.  Jahrhunderts in Berlin lebte.3 Er besuchte bis 1915 das Luisenstädtische Realgymnasium und begann daneben, angeregt durch Heinrich Graetz’ elfbändige Geschichte der Juden zunächst autodidaktisch, dann bei dem Rabbiner Dr.  Bleichrode, Hebräisch zu lernen. Zum Missfallen seiner Eltern engagierte sich Scholem von 1912 an in der jüdischen Jugendbewegung.4 1915 begegnete Scholem Walter Benjamin, ihre Freundschaft hielt trotz zahlreicher Differenzen bis zu Benjamins Tod 1940.5 1917 schloss sich Scholem in Berlin aktiven Zionisten aus Osteuropa an, im selben Jahr gelang es ihm, sich dem Dienst im Ersten Weltkrieg durch Simulation einer psychischen Störung zu entziehen und ein Studium der Mathematik und Philosophie bei Gottlob Frege an der Universität Jena aufzunehmen. Von 1918 bis 1922

3 Ich folge hier weitgehend Campanini, Saverio: A Case for Sainte-Beuve. Some Remarks on Gershom Scholem’s Autobiography. In: Creation and Re-Creation in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of His 70th Birthday. Hrsg. v. Peter Schäfer u. Rachel Elior. Tübingen 2005. S. 363–400. 4 Scholem, Gershom: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erw. Fassung, aus dem Hebr. von Michael Brocke u. Andrea Schatz. Frankfurt/M. 1994 und Scholem, Betty/Scholem, Gershom: Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917–1946. Hrsg. v. Itta Shedletzky in Verbindung mit Thomas Sparr. München 1989. S. 35–55. 5 Scholem hat die Freundschaft beschrieben. In: Scholem, Gershom: Walter Benjamin – Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/M. 1975.



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studierte er aber dann Orientalistik in Bern und wurde in München mit seiner Dissertation über das Buch Bahir (Sefer ha-Bahir), zur Sprachtheorie der Kabbala, promoviert. 1923 entschied er sich für den politischen Zionismus und damit gegen den Versuch, als Jude in Deutschland zu leben, da er aus der Geschichte der Unterdrückung, auch des assimilierten Judentums, im 19. Jahrhundert keine Perspektive für ein autonomes jüdisches Leben in Deutschland abzuleiten vermochte. Er änderte nun seinen Vornamen und wanderte nach Palästina aus, wo er sich als Mitglied der Linken im Brit Schalom für die „Wiedergeburt“ des jüdischen Volkes und die Verständigung zwischen Juden und Arabern engagierte. In Jerusalem arbeitete Scholem zunächst als Bibliothekar, nach der Eröffnung der Hebräischen Universität im April 1925 als Lehrbeauftragter für jüdische Mystik. 1933 wurde für ihn eine Professur geschaffen, die der akademischen Erforschung der jüdischen Mystik gewidmet war, die vom Reformjudentum weitgehend verdrängt und von der Judaistik bis dahin kaum beachtet worden war. 1936 heiratete Scholem in zweiter Ehe seine Studentin Fanja Freud. Als er 1938 für die Hilda Stich Stroock Lectures ans Jewish Institute of Religion nach New York eingeladen wurde, kam es auf der Hinreise in Paris zu mehreren Begegnungen mit Benjamin, auf der Rückreise allerdings war Benjamin nicht in Paris, sondern besuchte Bert Brecht in Schweden, so dass Scholem stattdessen Arendt und Blücher traf.6 Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren, wuchs in Königsberg und Berlin auf, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch u. a. bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promoviert wurde.7 Mit ihrem ersten Mann, Günther Stern, lebte sie zunächst in Frankfurt und nachdem dessen Habilitation von Theodor W. Adorno abgelehnt worden war, wieder in Berlin. Dort nahm Arendt, gefördert durch ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die Arbeit an einem eigenen Habilitationsprojekt über Rahel Varnhagen auf. Vermittelt durch Kurt Blumenfeld war sie für die World Zionist Organisation tätig, um Material über beginnende Judenverfolgungen zu recherchieren. Das Varnhagen-Buch war noch nicht abgeschlossen, als sie im Juli 1933 kurzzeitig von der Gestapo verhaftet wurde. Über Karlsbad, Genua und Genf gelang es ihr, Stern nach Paris zu folgen, wo sie Benjamin wiedertraf, aber auch Heinrich Blücher kennenlernte, einen ehemaligen Kommunisten und Antistalinisten. Ohne Papiere arbeitete sie für die zionistische Jugend-Alijah, die jüdischen Jugendlichen zur Flucht nach Palästina verhalf, und begleitete

6 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 13. 7 Obwohl im Einzelnen durch die Erschließung neuer Materialien überholt, fußt meine Darstellung auf Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Aus dem Amerik. von Hans Günter Holl. Frankfurt/M. 1986.

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1935 eine Gruppe nach Palästina, wo sie auch durch Vermittlung ihres Studienfreundes Hans Jonas mit Scholem zusammentraf.8 Nach der Scheidung von Stern heiratete sie im Januar 1940 Blücher, im Mai wurde Arendt zunächst in Paris, dann im Lager Gurs9 interniert, nach einem Monat gelang ihr die Flucht nach Lourdes, wo sie per Zufall Benjamin wiedertraf, dann nach Montauban. Im September 1940 kam es zu einer letzten Begegnung mit Benjamin in Marseille, bei der er Arendt mehrere Dokumente, darunter eine Fassung seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte zur Weiterleitung an Adorno in New York übergab. 1941 floh sie von dort gemeinsam mit Blücher und ihrer Mutter über Lissabon nach New York. Ab Oktober 1941 schrieb sie für mehrere Zeitschriften, für das Menorah Journal, die Contemporary Jewish Record für den Aufbau u. a. bis Ende 1942 die Kolumne This means You.10 Sie arbeitete als freie Schriftstellerin, war von 1944 bis 1946 Forschungsleiterin der Conference on Jewish Relations, anschließend bis 1949 als Lektorin im Schocken-Verlag tätig. Von 1949 bis 1952 arbeitete sie als Executive Secretary für die Jewish Cultural Reconstruction Corporation (JCR) an der Rettung jüdischen Kulturguts. 1953 erhielt sie eine befristete Professur am Brooklyn College in New York, 1959 wurde sie Gast-Professorin in Princeton, 1963 schließlich Professorin für Politische Theorie in Chicago. Die Briefe bilden die Fortsetzung, aber nur einen mageren Ersatz für das persönliche Gespräch, das 1935 in Jerusalem begonnen und sich 1938 in Paris fortgesetzt hatte. V. a. Arendt benutzte eine Reihe von Metaphern, die den Wert und die Bedeutung dieses brieflichen Dialogs für sie festhalten, darunter am häufigsten das Bild von den Fäden: „Es ist solch eine Beruhigung von Freunden noch zu hören“, schrieb sie am 25. April 1942 an Scholem. „Solche Briefe sind wie dünne feste Fäden, von denen man sich einreden möchte, dass sie einen Rest unserer Welt noch zusammenhalten könnten.“11 Sie erhielt über diese Fäden aber Infor-

8 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 10. 9 In einem Brief aus Lissabon vom 17. Februar 1941 an den Administrator der Central British Funds in London, Scholem Adler-Rudel, schilderte Arendt die Umstände der Internierungen von Flüchtlingen aus NS-Deutschland. Vgl. Katrin T. Tenenbaum: Pensiero e azione ai tempi dell’Olocausto: Hannah Arendt e Salomon Adler-Rudel. In: MicroMega 4 (2000). S. 223–242. Adler-Rudels Buch gibt einen guten Überblick über die unterschiedlichen, teils sogar konkurrierenden jüdischen Hilfsorganisationen zur Zeit des NS. Adler-Rudel, Scholem: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933–1939. Tübingen 1974 (Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 29). 10 Diese Artikel sind versammelt in: Hannah Arendt: Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau 1941–1945 (VAMS). Hrsg. v. Marie Louise Knott. München 2000. 11 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 28. Zur Notwendigkeit der Kommunikation bzw. des Dialogs als einzige Form der Wahrheit vgl. Arendt, Hannah: Karl Jaspers: Bürger der Welt. In:



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mationen über Freunde und Bekannte wie Hans Jonas, der als Soldat in einer britischen Einheit diente, oder Kurt Blumenfeld. Sie versorgte Scholem mit Neuigkeiten aus den USA und Europa. Im Interview mit dem Journalisten Günter Gaus am 28. Oktober 1964 beschrieb Arendt, was sie mit Jaspers „das Wagnis der Öffentlichkeit“ nannte: Man „exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person“, handele öffentlich, wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns sei. „Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. […] Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen.“12 In diesem Sinne sind diese Briefe, die v. a. bei Arendt häufig den Duktus der gesprochenen Sprache behalten, Dokumente des Vertrauens, der Privatheit und freundschaftlichen Zuneigung und zugleich öffentliches, ja politisches Handeln. Sie werden Teil eines Brief-Netzes, das asynchron und zeitversetzt soziale Bindungen unterstützt und ersetzt. Solche epistolaren Netzwerke nehmen in gestufter Intimität und gestufter Öffentlichkeit seit dem 18. Jhdt. eine zentrale Rolle ein in der Selbstverständigung natürlich nicht nur, aber besonders unter bürgerlichen Juden. Vor allem Scholem bedient sich immer wieder formaler Gestaltungselemente, wie sie dem gehobenen bürgerlichen Briefstil des 19. Jahrhunderts entstammen: Er rekurriert auf die Schreibsituation („Liebe Hannah, Ihr Brief erreicht mich in diesem Moment, in dem ich sehe, dass auch mein Begleitbrief zu dem vor drei Tagen an Sie abgegangenen Expressbrief offizieller Natur liegen geblieben ist. Ich verbinde gleich beide Sachen.“13), rekapituliert Aus- und Eingang der letzten Stücke der Korrespondenz und dankt für Informationen, Hinweise oder mitgeschicktes Schriftgut. Arendts Briefe wirken ungeduldiger, sie mischt dienstliche und private Kommunikation, Deutsch und Englisch, verleiht ihrem Ärger durch Flüche – „for heaven’s sake“14 – oder wütende Gebärden Ausdruck: Dass ich Sie fragen muss, Sie schriftlich fragen muss, wie es Ihnen geht, macht mich so wuetend, dass ich es unterlasse. Moderne Schreibtische, die ja ohnehin nicht für Menschen eingerichtet sind, haben keine Tintenfaesser mehr. Es waere ganz und gar herrlich, jetzt eines an die Wand schmeissen zu koennen. In diesem Sinne – Ihre Hannah15

Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. v. Ursula Ludz. München, Zürich 2001. S. 94–106, hier S. 98. 12 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: „Ich will verstehen.“ Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hrsg. v. Ursula Ludz. München/Zürich 1996. S. 44–70, hier S. 70. 13 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 259. 14 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 138. 15 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 127.

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Auffällig ist, dass die Anrede bei aller Vertrautheit beim respektvollen „Sie“ verbleibt. Arendt beginnt ihre Briefe mit „Lieber Scholem“ oder „Lieber Freund“, er wechselt zwischen „Liebe Freundin“, „Liebe Hannah“, „Liebe Hanna Arendt“ oder „Hanna Bluecher“ (sic!), beide unterzeichnen mit ihren Vornamen, wobei Scholem seinen alten deutschen Namen Gerhard benutzt. Der eingangs zitierte Satz zum Tod Benjamins ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Themen des Briefwechsels häufig ineinandergreifen und sich überlagern. Der Hinweis auf die würdelose anonyme Bestattung Benjamins, dessen Grab unauffindbar bleibt,16 wird überlagert vom Bild des Flüchtlings als Hund, als recht- und wehrlose Kreatur. Arendts eigene Erlebnisse als Staatenlose während der Internierung und der Flucht trennen sie von Scholem und prägen ihre Arbeit. In zwei ihrer bekanntesten Studien, The Origins of Totalitarianism (1951) und The Human Condition (1958), steht dieses Motiv im Zentrum. 1943 schrieb sie für das Menorah Journal den Essay We Refugees, in dem sie sich mit der verheerenden Situation von Flüchtlingen und Staatenlosen auseinandersetzt, die ohne Rechte „vogelfrei“17 sind. Arendts „we“, das den Text durchzieht, nur an zwei Stellen durchbrochen vom „Ich“ der Autorin, ist allerdings kein globaler und transhistorischer Plural, sondern bezieht sich konkret auf die verfolgten Juden. Sie beschreibt das Exil als Zwang zur Adaption, zur Aufgabe von Alltag, Heimat, Beruf und Sprache, zur Aufgabe der „privaten Welt“18, letztlich zur Selbstaufgabe, die tausende Flüchtlinge in den Selbstmord trieb. „Ein Mensch, der sein Selbst aufgeben möchte, entdeckt, dass die Möglichkeiten der menschlichen Existenz so unbegrenzt sind wie die Schöpfung“,19 bilanziert sie sarkastisch. Arendt kritisiert, hier ist sie Scholem nah, vehement die traditionelle jüdische Identitätspolitik der Assimilation und plädiert mit Bernard Lazare für ein Selbstverständnis der Juden als „bewusste Parias“.

16 Am 17. Oktober 1941 schreibt Arendt an Scholem: „Wir haben, als wir Monate später in Port Bou ankamen, vergeblich sein Grab gesucht, es war nicht zu finden, nirgends stand sein Name. Der Friedhof geht auf die kleine Bucht, direkt auf das Mittelmeer, er ist in Terrassen in Stein gehauen; in solche Steinwälle werden auch die Särge geschoben. Es ist bei weitem eine der phantastischsten und schönsten Stellen, die ich je in meinem Leben gesehen.“ Vgl. Arendt/ Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 19. 17 Ich zitiere nach der deutschen Fassung von Eike Geisel. Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge (WF). In: Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. v. Marie Luise Knott. München 1986. S. 7–21, hier S. 21 18 Arendt, WF (wie Anm. 17), S. 8. 19 Arendt, WF (wie Anm. 17), S. 17.



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In seinem Buch Homo sacer greift Giorgio Agamben auf Arendt20 zurück und rekurriert in einer für sie typischen Bewegung auf die Trennung des Begriffes „Leben“ in Aristoteles Nikomachischer Ethik in eine rein animalische Seite der Existenz (ζωή) und eine vom Menschen gestaltete (βίος). Agamben sieht in dieser Trennung die Grundlage einer Spaltung der menschlichen Identität in ein vergesellschaftetes Wesen (βίος πολιτικός) und das nackte Leben (nuda vita).21 Die Unterscheidung zwischen βίος und ζωή findet er im römischen Recht in der Figur des Homo sacer. Das Worts „sacer“ enthält eine analoge Doppelbedeutung: heilig und ausgestoßen, „vogelfrei“.22 Der Homo sacer ist damit zugleich unantastbar und völlig schutzlos. Agamben erkennt in diesem Konzept einen Raum jenseits von Recht und Kultus, der nicht erst mit der Ausstoßung bzw. Verbannung des bloßen, des fremden und des anderen Lebens beginnt. Dies führt ihn zu politischen und staatsrechtlichen Fragen von Freiheit und Souveränität23, wie er sie bei Benjamin, Arendt und Carl Schmitt,24 aber auch bei Michel Foucault vorformuliert findet. Im Zentrum steht die Kritik einer vermeintlichen Fortschrittsbewegung, in der individuelle und kollektive Identitäten immer neue rechtsfreie Räume schaffen, in denen Menschen, besonders Flüchtlinge, auf „das nackte Leben“ reduziert werden. An einer Kulturgeschichte der politischen Gefangennahme, v. a. aber an den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zeigt Agamben dies auf. Diese biopolitische25 Entwicklung ermöglicht einen totalitären Zugriff jederzeit auf jeden Einzelnen, auch in Demokratien. Arendt spricht davon, dass in diesem Sinne die Flüchtlinge bloß „die Avantgarde ihrer Völker“ repräsentierten.26 Dass das Motiv aber auch von Juden gegen andere Minoritäten in Anschlag gebracht wurde, zeigt eine Skizze zu Ludwig Börne. Eine Denkschrift von Heinrich Heine, eine Erklärung nach Börnes Tod 1836, aufgenommen in die

20 Agamben bezieht sich schon 1994 direkt auf We Refugees: Giorgio Agamben: Au-delà des droits de l’homme – exil et citoyenneté européenne. In: Tumultes Nr. 5: Figures de ll’Étranger. Immigrés, nomades, exiles (1994), S. 79–99. 21 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Ital. von Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002. S. 11–12. 22 Agamben, Homo sacer (wie Anm. 21), S. 15. 23 Zum für Arendt zentralen Begriff der Souveränität, bei dem auch sie auf Schmitt rekurriert, vgl. Arendt, Hannah: Freiheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994. S. 201–226, hier S. 214. 24 Das Werk von Schmitt stand fraglos bei Agambens Definition von Souveränität in ihrem paradoxen Verhältnis zum Ausnahmezustand Pate wie bei seiner Definition von Feindschaft. Vgl. Agamben, Homo sacer (wie Anm. 21), S. 17–19 und 88–90. 25 Der Begriff der „Biopolitik“ Foucaults findet sich in Agamben, Homo sacer (wie Anm. 21), S. 127–128. 26 Arendt, WF (wie Anm. 17), S. 21.

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Schriftstellernöte. Heine stellt eine Verbindung zwischen seiner Auseinandersetzung mit Börne und der vorausgegangenen Polemik mit dem homosexuellen Dichter August von Platen her. Platen hatte Heine antisemitisch beleidigt und war nach dem Ende des Schlagabtauschs 1835 in Syrakus gestorben. Beide Gegner hätten ihn wie Köter angekläfft, so Heine, aber er bewahre eigentlich gegenüber solcher Kritik die Ruhe, solches Gebell beinträchtige seinen Schlaf nicht: „Nur einmal, als ich aus ganz besondern Gründen nicht schlafen konnte, stand ich in der Nacht auf und schlug einen Hund tot. Er starb nicht gleich, sondern schleppte sich noch bis Sizilien, bis zu einem Dorf bei Palermo, wo der Hund begraben liegt.“27 Bereits von Amerika aus forderte Arendt Scholem dann im September 1946 auf, sich für die Auflösung jener Lager in Atlit bei Haifa und auf Zypern einzusetzen, in den die Briten diejenigen Überlebenden des Holocausts internierten, denen sie eine Einreise nach Palästina verwehrten.28 Uns allen wuensche ich, dass es am Ende des naechsten Jahres keine Juden mehr in Konzentrationslagern gibt. Glauben Sie nicht, dass dies unser einziges politisches Programm augenblicklich sein sollte? Ich will wirklich nicht ueber Politik reden, bzw. schreiben, um unser Einverstaendnis nicht zu trueben. Aber wenn Sie koennen und wenn Sie auch so denken, for heaven’s sake, versuchen Sie dafuer etwas zu tun – eine Zeitung zu gewinnen oder sonst was. Die Konzentrationslager sind der Beginn der Vernichtungslager. Das liegt in der Logik dieser Sache.29

Scholem wehrte diese Zumutung allerdings ab und schob gesundheitliche Gründe vor, warum er sich in der Sache nicht engagieren könne. In We Refugees hatte Arendt dieses Dilemma so zuspitzt: „die Zeitgeschichte [hat] eine neue Gattung von Menschen geschaffen […] – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.“30

27 Heine, Heinrich: Erklärung nach Börnes Tod. In: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München 1976, Bd. 9. S. 46–50, hier S. 49. 28 Scholems Bruder Werner, von 1924 bis 1928 Reichstagsabgeordneter der KPD, wurde 1940 im KZ Buchenwald ermordet. 29 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 129. 30 Arendt, WF (wie Anm. 17), S. 9.



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Die „Major Trends in Jewish Mysticims“ und eine deutsche Jüdin in der Romantik Als Scholem 1938 über Paris nach New York reiste, arbeitete er bereits an dem Buch, das sein erstes Hauptwerk werden sollte. Aus den New Yorker Vorlesungen ging das auf Englisch geschriebene Buch Major Trends in Jewish Mysticism (1941) hervor. Er schickte das Manuskript im Herbst 1939 an Benjamin, der es, so hat es Arendts Biografin Elisabeth Young-Bruehl beschrieben, im Winter 1939/40 leidenschaftlich immer wieder mit Arendt und Blücher diskutierte.31 Während Benjamin seine Lektüre in seine Arbeit an den Geschichtsphilosophischen Thesen einfließen ließ, die eine Revision historischer Metaphysik einerseits aus den Quellen des Judentums, andererseits aus einem unorthodoxen Marxismus unternahmen und damit zu einem Schlüsseltext seines Werkes wurden,32 zeigt sich bei Arendt der Einfluss Scholems indirekter.33 Es ist v. a. die Figur des Sabbatai Zwi, des Religionsgelehrten, Mystikers und selbsternannten Messias des 16. Jahrhunderts, die sie fasziniert und zu der sie immer wieder zurückehrt. Wiederholt bestürmte sie Scholem, Zwi eine längere eigenständige Studie zu widmen, bis er dies in den 1950er-Jahren realisieren konnte.34 Scholem kündigte das Buch im November 1942 an – „bin vor einem großen Buch über die sabbatianische Bewegung“35 – und vermeldete im Dezember 1946: „Ich schreibe am hebräischen Sabbatai Zwi –erstmal“.36 Arendt hatte bereits im September 1946, nicht nur weil sie für Schocken, der ja auch der Verleger der Major Trends war, ein neues Buch akquirieren wollte, sondern auch in eigenem Interesse nachgebohrt: „Wann wird der Sabbatai Zwi fertig?“37 Erst im August 1954 schrieb Scholem während eines Forschungs-

31 Young-Bruehl, Hannah Arendt (wie Anm. 7), S. 235–237. 32 Vgl. Lindner, Burkhardt: Engel und Zwerg. Benjamins geschichtsphilosophische Rätselfiguren und die Herausforderung des Mythos. In: Was nie geschrieben wurde, lesen. Frankfurter Benjamin-Vorträge. Hrsg. v. Lorenz Jäger u. Thomas Regehly. Bielefeld 1992. S. 236–2 66 und Mosès, Stéphane: L’ange de l’histoire: Rosenzweig, Benjamin, Scholem. Paris 1992. 33 Suchoff, David: Gershom Scholem, Hannah Arendt, and the Scandal of Jewish Particularity. In: Germanic Review 72/1 (1997). S. 57–76. 34 Die hebräische Fassung erschien 1957 unter dem (hier übersetzten) Titel, Gershom Scholem: Sabbatei Zwi: und die sabbatianische Bewegung zu seinen Lebzeiten, eine deutsche Ausgabe erschien erst zehn Jahre nach Scholems Tod als: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, übertr. von Angelika Schweikhart. Frankfurt/M. 1992. 35 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 34. 36 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), 148 (Herv. i. Orig.). 37 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 126.

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aufenthalts in London ihr wieder über den Fortgang seines „Riesenschmökers“38 und beklagte, der „S. Zwi“ steige in London nur zögerlich aus „dem Nebelmeer hervor“39: „Nach 15 Jahren unglaublichen Schürfens und Spürens habe ich nun so viel phantastisches Material daß ich all meine früheren Manuskripte und Entwürfe kaum benutzen kann und alles fast vollkommen neu machen muß. […] Sogar das Hebräische mache ich unendlich langsam, weil die Formulierungen für die sogenannte kleine Unsterblichkeit bei mir immer große Hemmungen hervorrufen.“40 In der Figur Zwi sah Arendt einerseits die Chance einer genuin jüdischen, messianisch-revolutionären Bewegung verwirklicht, aber andererseits auch die Gefahr, dass unmittelbares politisches Handeln, das von mystischer Spekulation inspiriert und angeleitet sei, in tiefe Resignation führe, so dass der Zusammenbruch der sabbatianischen Bewegung nach der Niederschlagung durch die Truppen des ottomanischen Reiches um so katastrophalere Folgen für das Judentum hatte: „From now on the Jewish body politics was dead and the people retired from the public scene of history.“41 Diese historische Abwendung vom „Wagnis der Öffentlichkeit“ habe fatale Folgen gehabt, da die Juden das Geschäft der Politik allein den Nichtjuden überließen. Auch Scholems Hinweis, Arendt habe ihm mit dem letzten Satz ihrer Besprechung „eine Meinung ueber den Geschichtsverlauf imputiert“, die er nur von sich weisen könne und für die sie in seinen „ruehrenden Schlussworten eigentlich doch keinen genuegenden Beleg“ habe.42 Es ist genau diese historische Linie, die Arendt in ihrer Studie über Rahel Varnhagen verfolgt hatte. Die Biografie der romantischen Literatin und Saloniere Rahel Varnhagen von Ense wird darin zur Folie, auf der Hannah Arendt ihr Konzept des notwendigen Entscheidungsprozesses des (jüdischen) Außenseiters zwischen den Rollen als Paria oder Parvenu entwickelt. Rahel wird für sie zur Symbolfigur für die Ausgrenzung der Juden trotz Assimilation, für die Max Weber in Bezug auf die Juden den Begriff des „Pariatums“ verwendet hatte. Angeregt durch Bernard Lazare, stellt Arendt dem Paria den Begriff des „Parvenu“ gegenüber. Sie zeichnet für Varnhagen die Entwicklung von einer gläubigen Anhängerin der Aufklärung, die zunächst glaubte trotz einer aber letztlich niemals zu

38 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 409. 39 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 395. 40 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 395. 41 Hannah Arendt: Jewish History, Revisited. In: Jewish Frontier (March 1948). S. 34–38, hier S. 38. 42 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 84.



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erringenden Gleichheit wie ein Parvenü zu reüssieren, zur radikalen Verfechterin einer bewussten Pariaexistenz nach.43 Den eine Generation jüngeren Heinrich Heine sieht sie aber, trotz Taufe und des erfolgreich absolvierten Jurastudiums, von Beginn an als bewussten Paria. Während Varnhagen aufgrund ihrer ungebrochen aufklärerischen Vorstellung von dem langsamen, aber sicheren Fortschritt, der zu einer Reform und Neugestaltung der Gesellschaft führen müsse, zunächst jeder politische Kampf fern lag, weiß Arendt Heine, Börne und ihre Generation „zwangsläufig“ solidarisch mit „den – ganz allgemein – Entrechteten“ und ihr Schicksal ebenso „zwangsläufig“ verflochten mit bestimmten Bewegungen und bestimmten Revolten.44 Beide, Varnhagen und Heine, eint die Haltung, in der sie sich bewusst für eine Pariaexistenz entscheiden und der Versuchung der Assimilation widerstehen: „Beide haben sich nie zu beruhigen vermocht über ihr Schicksal, beide haben sich nie hinter großen oder prahlerischen Worten verstecken mögen, haben immer Rechenschaft gefordert und nie ‚klug geschwiegen und christlich geduldet‘ (Heine).“45 In diesem Sinne wird Heine zum „Erben“ von Varnhagens Vermächtnis und auf eine merkwürdige Weise zur Projektionsfigur von Arendts eigener „zionistischer Kritik an der Assimilation“.46 Varnhagen hinterlässt dem Jüngeren zweierlei: „die Geschichte eines Bankrotts und ein rebellisches Herz“.47 Aber diese Geschichte, dieser Text aus ihrem „alten beleidigten“, aber dennoch rebellischen Herzen, wie es in jenem von Arendt ausgiebig zitierten Brief an Heine heißt, den sie an das Ende ihrer Darstellung von Rahel Varnhagens Lebensgeschichte stellt, „wird doch dabei der Ihrige bleiben müssen.“48 Varnhagens Text wird derjenige Heines bleiben müssen, eine grammatisch eigenwillige Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft macht die Unentrinnbarkeit deutlich, in der sich Heines

43 Zur Problematik dieser Konstruktion einer biografischen „Wende“ vgl. vor allem Weissberg, Liliane: Hannah Arendt, Rahel Varnhagen and the Writing of (Auto)biography. In: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. Hrsg. v. Liliane Weissberg. Baltimore, London 1997. S. 3–65 und Julia Kristeva: Das weibliche Genie. Bd. I. Hannah Arendt. Berlin/Wien 2001. 44 Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. (RV) München, Zürich 1981. S. 167. 45 Arendt, RV (wie Anm. 44), S. 211. 46 Brief Arendts an Jaspers vom 7. September 1952. In: Hannah Arendt u. Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hrsg. v. Lotte Köhler u. Hans Saner. 2. Aufl. München/Zürich 2001. Nr. 135. S. 233–238, hier S. 233. 47 Arendt, RV (wie Anm. 44), S. 211. 48 Brief Rahel Varnhagens v. Ense an Heinrich Heine vom 21. September 1830. In: Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Bd. 24. Briefe an Heine 1823–1836. Bearb. von Renate Francke. Hrsg. v. der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique. Paris/Berlin 1974. S. 60–61.

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Generation befindet. Rahel Varnhagen starb im Bewusstsein, eine doppelte jüdische Tradition gestiftet zu haben. Heine, wie auch Börne und die anderen „großen Rebellen des 19. Jahrhunderts“, hätten, so Arendt, der „Legitimation der Unterdrückung“ bedurft, um sich als Juden öffentlich in politische Belange einzumischen, in einem Bekenntnis zum nicht abzuschüttelnden Judentum zur Mündigkeit zu gelangen.49 In ihrem Essay Die verborgene Tradition macht Hannah Arendt Heines Biografie und Werk zum Ausgangspunkt der literarisch-künstlerischen Geschichte eines angenommenen Pariatums, als dessen weitere Vertreter sie auch noch Bernard Lazare, Charlie Chaplin50 und Franz Kafka anführt. Scholem war nicht einverstanden und schrieb ihr dazu im Juli 1944: „Gegen Ihre Pariah-These möchte ich sonst schon eine Diskussion abführen, denn ich habe meine Bedenken gegen Ihre (sehr gut formulierten!) Interpretationen von Heine als von Kafka. Die Texte reden (nach meinem „Raschi“) eine andere Sprache und Sie müssen m. E. eine Menge Dinge, die in diese Sicht der Lage nicht hineinpassen, weglassen. (Mit Kafkas ‚Schloß‘ kommen Sie nicht durch, möchte ich sagen).“51 Doch will Arendt, wie Seyla Benhabib betont, keine neue lineare geschichtliche Entwicklung konstruieren: Sie habe sich in ihrer historischen Arbeit als „Perlentaucherin“ im Sinne Benjamins verstanden und sei bemüht gewesen, quasi aus archäologisch exemplarischen Mosaiksteinen und historischen Bruchstücken die sedimentierte und verborgene Bedeutung und damit Geschichte(n) herauszulesen.52 Im Interview mit Günter Gaus fügte Arendt einen weitern Schritt hinzu: Nur aus der Anerkennung der Paria-Rolle könne dann eine Chance zur Abwehr der Verfolgung erwachsen und so spitzte Arendt ihre Haltung in dem Diktum „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“ apodiktisch zu.53

49 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/Zürich 1981. S. 119, 126–129. 50 Die Gerüchte, Chaplin sei jüdischer Herkunft, halten sich hartnäckig bis heute, entbehren jedoch jeder biografischen Fundierung. Hier kann nicht ihr gesamter Zusammenhang rekonstruiert werden. Vgl. Peter Haining: Charlie Chaplin. A Centenary Celebration. London 1989. S. 21, und Liliane Weissberg: Hannah Arendt, Charlie Chaplin und die verborgene jüdische Tradition. Graz 2009. 51 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), 53 (Herv. i. Orig.). 52 Arendt, Hannah: Walter Benjamin. In: Ludz, Menschen in finsteren Zeiten (wie Anm. 30), S. 184–242. Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Hrsg. v. Dan Diner. Frankfurt/M. 1988. S. 150–174 und Dies.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998. 53 Arendt, Fernsehgespräch mit Günter Gaus (wie Anm. 12), S. 44–70.



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Bevor Arendt das Manuskript der Rahel im September 1939 an Scholem schickte, hatte Benjamin es dem Freund bereits angekündigt und davon gesprochen, dass es einen großen Eindruck auf ihn gemacht habe, da Arendt „wider den Strom erbaulicher und apologetischer Judaisitk“54 schwimme. Scholem antwortete, das Buch habe ihm sehr gefallen, „obwohl ich es mit einem anderen Akzent las, als sie es geschrieben hat. Es ist eine ausgezeichnete Analyse dessen, was sich damals abgespielt hat, und es zeigt, dass eine Verbindung, die auf Schwindel aufgebaut war, wie diese von Seiten der deutschen Juden mit dem ‚Deutschtum‘ nicht ohne Unglück ausgehen konnte.“55

Eine Ausgabe Walter Benjamins Die zunächst gemeinsamen Bemühungen von Arendt und Scholem um eine Edition von Werken Walter Benjamins entspringen ebenso stark einem Gefühl der Loyalität gegenüber seiner Person und seinem Werk, wie massiven Ressentiments gegenüber seinen ehemaligen Kollegen vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, die ebenfalls eine Edition planten. Horkheimer und Adorno hatten Benjamin zwar unterstützt, ihre Zahlungen aber im Sommer 1939 eingestellt und bemühten sich nach dessen Tod, den Nachlass auszuwerten. Schon nach der gescheiteten Habilitation Sterns hatte Arendt den nur indirekt belegten, aber umso häufiger zitierten Satz über Adorno geprägt: „Der kommt uns nicht ins Haus.“56 – Als ihr das von ihr pflichtschuldig bei Adorno eingelieferte Manuskript der Thesen als verloren gemeldet wurde, schimpfte sie gegenüber Blücher von einer „Schweinebande“57 im Institut. Scholems Abneigung gegen den „little snob“ Adorno, dessen Texte er als „schnoeselig und „boesartig“ und in der „ungeheuren Forschheit des Stils“58 gruselig abkanzelte, galt allerdings noch mehr Max Horkheimer, der bei ihm eine „heftige Antipathie“ erregte, „von der ich annehmen möchte, dass sie von ihm erwidert wird. […] Sein Aufsatz über die Judenfrage in der Zeitschrift ist ein freches, arrogantes und widerwärtiges Gerede ohne Kenntnis und Substanz, über das ich mich in meinem letzten Brief dessen Anlan-

54 Walter Benjamin u. Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940. Hrsg. v. Gershom Scholem. Frankfurt/M. 1980, S. 295 55 Benjamin/Scholem (wie Anm. 54), S. 309. 56 Young-Bruehl, Hannah Arendt (wie Anm. 7), S. 132. 57 Hannah, Arendt u. Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968. Hrsg. u. mit einer Einf. von Lotte Köhler. München/Zürich 1996. S. 127. 58 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 72 und 147.

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gen bei Benjamin mir noch sicher ist, sehr heftig und offen geäußert habe.“59 Da diese Briefe, wie alle noch in Paris auffindbaren Nachlass-Materialien, in New York in einem Safe vom Institut verwahrt wurden, konnte Scholem sich also einigermaßen sicher sein, dass Horkheimer seine Ressentiments kannte. Etwa ein Jahr nach Benjamins Tod, im Oktober 1941, regte Arendt zum ersten Mal bei Scholem an, einen nachgelassenen Text von Benjamin bei Schocken zu publizieren, jene Thesen Über den Begriff der Geschichte, von denen Benjamin Arendt im September 1940 in Marseille eine Fassung zur Weiterleitung an Adorno übergeben hatte.60 Diese Publikation kam ebenso wenig zustande wie zunächst eine ebenfalls bei Schocken geplante Auswahl aus den großen Essays. Adorno erwies sich in diesem Fall als ein überlegener Konkurrent. Er war Arendt nicht nur zuvorgekommen und hatte bereits im November bei Scholem mit dem Plan einer Gesamtausgabe und der Bitte um Hilfe bei der Beschaffung von Manuskripten antichambriert, er veröffentlichte auch bereits 1942 in der Zeitschrift des Instituts die Geschichts-Thesen. Zudem hatte er für eine Werkausgabe eine mündliche Verfügung Benjamins, die ihn als Herausgeber einsetzte, und schon eine umfängliche Sammlung von Originalmanuskripten und Typoskripten auf seiner Seite.61 Er konnte mit Peter Suhrkamp auch noch einen deutschen Verleger gewinnen und erzielte mit Benjamins Erben und weiteren Leihgebern von Dokumenten rasch ein Einvernehmen nicht nur für eine Auswahl sondern bereits auch für eine große Werkausgabe, während Scholem und Arendt noch etwas ratlos Rechtefragen erörterten, vergeblich den wankelmütigen Schocken zu überzeugen versuchten und ohne Erfolg mit anderen Besitzern von Manuskripten, wie etwa Bert Brecht, verhandelten. „Sie kennen die Umstände ja laenger und besser als ich und wissen, das weder Ja ja. noch Nein nein ist“, fasste Arendt die zähen Verhandlungen zusammen. „Die Soehne verstehen nicht allzu viel […]. Im Uebrigen haengt alles von Imponderabilien ab, die man unmoeglich uebersehen oder kon-

59 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 44. Vgl. Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Studies in Philosophy and Social Science 8/1.2 (1939). S. 115–136. 60 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 19. Zur Editionsgeschichte der Thesen vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Henri Lonitz u. Christoph Gödde. Bd. 19. Hrsg. v.. Gérard Raulet. Frankfurt/M./Berlin 2010. S. 355–368. 61 Am 21. Juni 1942 schrieb Arendt an Scholem, „dass das Institut ein mimeographiertes Gedenkheft, das nicht einmal geheftet verschickt wird, im Andenken Benjamins herausgegeben hat. Darin findet sich aber aus dem Nachlass nur die geschichtsphilosophischen Thesen, die ich mitgebracht habe. Ich fürchte, dass dies alles sein wird und sie alles übrige in den Archiven zu begraben gedenken.“ Vgl. Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 31–32.



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trollieren kann. Sie sehen: ich bin wuetend.“62 Der bei aller Boshaftigkeit gegenüber dem Institut im privaten Dialog zwischen Arendt und Scholem mit Adorno stets in einem „nicht unhöflichen, aber doch äußerst unterkühlten, respektvollen aber latent aggressiven Ton“63 geführte Briefwechsel zeigt v.  a. einen Streit um die Deutungshoheit über das öffentliche Bild eines der wichtigsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts. Dies illustriert deutlich ein Brief Adornos aus Los Angeles an Arendt in New York vom 1. März 1947, in dem dieser darauf hinweist, Benjamin habe ihm seinen „gesamten literarischen Nachlass anvertraut“ und dass er selbst im Besitz zentraler Nachlassteile sei und mit Benjamin 1938 eine „grössere Gesamtdarstellung seiner philosophischen Intention“ vereinbart habe, die er besser „denn irgendein anderer“ leisten könne.64 Scholem deutete diesen Brief als Zeichen von Arroganz wie Angst, dass er, Scholem, Benjamins ältester Freund, sich zum Anwalt von Benjamins Erbe machen zu wollen beabsichtige. Nachdem Adorno und seine Frau Gretel zunächst 1955 eine zweibändige WerkAuswahl vorgelegt hatten und nun wieder um Scholems Mitarbeit bei einer Briefausgabe warben, die dann 1966 erschien, wechselt Scholem aus Arendts Sicht nach der deutlichen Abkühlung ihres Verhältnisses die Seiten. In einem Brief an Adorno vom 29. Januar 1968 analysiert er Arendts Reaktion auf die Briefausgabe in ihrem Essay über Benjamin für den Merkur, den sie später weiter umarbeitete. Er habe einen „viel gehässigeren Ton“ gegenüber Adorno erwartet und in dem Text gingen „Originalitätssucht (Benjamin kein Philosoph!!!), Missverständnisse und diskutable Behauptungen […] durcheinander. Die erste Eigenschaft überwiegt, wie so oft in ihren Schriften.“65 Beide blieben in die Edition von Benjamins Schriften verwickelt, Scholem wurde Mitherausgeber der Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag, und legte 1967, unterstützt von Adornos Mitarbeiter Rolf Tiedemann, eine Auswahl seiner Benjamin-Interpretationen vor.66 Arendt edierte letztlich doch noch 1968 bei Schocken einen englischsprachigen Auswahlband mit dem Titel Illuminations, der allerdings auf dem Text von Adornos Ausgabe

62 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 168. 63 Diese etwas barocke Beschreibung findet sich in: Auer, Dirk/Rensmann,Lars/Schulze Wesel, Julia: Affinität und Aversion. Zum theoretischen Dialog zwischen Arendt und Adorno. In: Arendt und Adorno. Hrsg. v. Dirk Auer, Lars Rensmann u. Julia Schulze Wesel. Frankfurt/M. 2003. S. 7–31, hier S. 9. 64 Adorno an Arendt am 1. März 1947. In: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. v. Detlev Schöttker u. Erdmut Wizisla. Frankfurt/M. 2006. S. 168. Zur rechtlichen Lage vgl. Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 228. 65 Scholem an Adorno am 29, Februar 1968. In: Arendt und Benjamin (wie Anm. 64), S. 186. 66 Scholem, Gershom: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1967.

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von 1955 basiert, auch wenn Arendt sich in der editorischen Notiz von Adornos Anspruch auf einen definitiven Text distanzierte.67 In ihrem einleitenden Essay, der auf dem Text im Merkur beruhte und den sie später auch im New Yorker publizierte und in ihre Porträt-Sammlung Men in Dark Times aufnahm, entwarf sie ihr Bild Benjamins. Anders als Adorno, der auf das philosophische Profil anhob, zeichnet Arendt Benjamins Physiognomie ideengeschichtlich nach, sie entwirft das Bild einer Wahlverwandtschaft zwischen ihnen beiden und fand das schon zitierte Bild von Benjamins Methode als der eines Perlentauchers, einer Methode die sie auch für sich in Anspruch nahm und in diesem Essay exemplifizierte.68

Die Frage nach dem „Ahabath Israel“ – Zerwürfnisse 1946 und 1963 Bei aller demonstrativen Herzlichkeit und allem ostentativen Respekt zwischen Arendt und Scholem beruhte das Verhältnis gerade wegen der medialen Vermitteltheit und Asynchronizität im Medium des Briefs doch auf einer Reihe von Fehleinschätzungen und Missverständnissen. Gerade weil einige der zwischen beiden verhandelten Themen hochgradig emotional aufgeladen waren und ein hohes Maß an Vertrauen und Vertrautheit implizierten, eine Vertrautheit, die ja nur über die Klammer der gemeinsamen Freundschaft mit Benjamin und wenige persönliche Begegnungen vermittelt war, entstanden im Laufe der Zeit doch Enttäuschungen, zumal sich komplexe und langsame Wandlungen von Einschätzungen über die punktuelle Kommunikation per Brief nur schlecht mitteilen ließen. Ein wichtiges verbindendes Element war beider enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit für die Jewish Cultural Reconstruction, für die beide in den frühen 1950er-Jahren nach Deutschland reisten, geraubte jüdische Kulturgüter inventarisierten und zum Versand vorbereiteten. Auch wenn sie in dieser Arbeit in einzelnen Einschätzungen differierten, verband sie neben der gemeinsamen Sache das Entsetzen über die Zustände in Deutschland, vor allem aber über das moralische Versagen weiter Teile der Bevölkerung angesichts der Shoah und die Unfähigkeit zur Reflexion, die für beide längere Aufenthalte zur Belastung werden ließen und für Arendt jeden Gedanken an eine Remigration unmöglich machten.

67 Benjamin, Walter, Illuminations. Essays and Reflections. Übers. v. Harry Zohn, hrsg. v. Hannah Arendt. New York 1968. S. 265–267. 68 Arendt, Hannah, Walter Benjamin 1892–1940. In: Benjamin, Illuminations (wie Anm. 57), S. 1–55.



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Über die Jahre der Freundschaft belasteten, abgesehen von einigen kleineren Irritationen und Meinungsverschiedenheiten, zwei echte Kontroversen das Verhältnis, die beide in Texten Arendts ihren Anlass hatten. Zum ersten Mal flammte Scholems Zorn 1946 anlässlich von Arendts Aufsatz Zionism Reconsidered69 zur politischen Zukunft Palästinas auf, da er sich von Arendts Kritik am Zionismus persönlich verletzt fühlte. Er hatte Arendt aufgrund ihrer Tätigkeit für einige zionistische Organisationen als Zionistin wahrgenommen und sie auch so seinem Freund Shalom Spiegel in New York empfohlen: „Eine meiner guten Freundinnen, Frau Hannah Arendt-Bluecher, ist aus Frankreich nach New York gekommen […]. Sie ist eine wunderbar Frau und eine ausgezeichnete Zionistin […].“70 Arendt selbst positionierte sich Scholem gegenüber diplomatischer: Ich habe nie an die Zwei-Welten-Theorie (Zion und Galuth) geglaubt, aber die Ereignisse der letzten Jahre haben doch wirklich bewiesen, dass das jüdische Volk ein Ganzes ist. Für dieses jüdische Volk in seinen besten Teilen ist es ungeheuer wichtig, das Ihr da seid – viel wichtiger als wenn Ihr eine hochmütige Aristokratie bilden würdet und Euch eine Feder an den Hut stecken könnt.71

Allerdings hatte er auch Arendts Kolumne im Aufbau verfolgt, die der Idee verpflichtet war, das jüdische Volk müsse sich auf Basis von Freiheit und Gerechtigkeit neu organisieren. Sie hatte dort den „Bankrott gängiger Ideologien“ proklamiert und sich entschlossen gezeigt, „sich den Kopf zu zerbrechen um eine theoretische Neufundierung jüdischer Politik“ zu erreichen.72 Den Nationalismus lehnte sie als Basis für ein jüdisches Gemeinwesen ab, sie kritisierte das Desinteresse der jüdischen Organisationen an einer Vertretung auch der Juden außerhalb Palästinas in der Diaspora, forderte verstärkte Bemühungen zur Rettung der Juden in Europa und die Aufstellung einer eigenen jüdischen Armee im Kampf gegen den Nationalsozialismus: „Nur wer gekämpft hat, kann hinterher am Verhandlungstisch sitzen.“73 Mit solchen Positionen stellte sich Arendt deutlich außerhalb des zionistischen Diskurses. Im Interview mit Günter Gaus distanzierte sie sich später noch weiter:

69 Arendt, Hannah, Zionism reconsidered. In: Menorah Journal 33 (August 1945). S. 162–196, zit. nach: Hannah Arendt: The Jewish Writings. Hrsg. v. Jerome Kohn u. Ron Feldman. New York 2007. S. 343–370. 70 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 13. 71 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 29. 72 Arendt, Hannah: Cui Bono? In: Dies.: VAMS (wie Anm. 10), S. 44–47, hier S. 47. 73 Arendt, Hannah: Die jüdische Armee – der Beginn einer jüdischen Politik? In: Dies.: VAMS (wie Anm. 10), S. 20–23, hier S. 23.:

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[I]ch war keine Zionistin. Man hat auch nicht versucht, mich dazu zu machen. Immerhin war ich in gewissem Sinne davon beeinflußt; nämlich in der Kritik, in der Selbstkritik, die die Zionisten im jüdischen Volke entfaltet haben. Davon war ich beeinflußt, davon war ich beeindruckt, aber politisch hatte ich nichts damit zu tun.74

Ein Forum für ihre Kritik und Selbstkritik fand sie in der Jungjüdischen Gruppe, die der Maxime verpflichtet war: „Die Kritik des jüdischen Patrioten am eigenen Volk hat den Zweck, das Volk auf den Kampf besser vorzubereiten.“75 Es „wächst bei uns höchst paradoxerweise die Zahl jener, die Moses und David durch Washington oder Napoleon ersetzen“76, schrieb sie an anderer Stelle. Das Judentum müsse den Bezug zu seiner eigenen Tradition und den Symbolfiguren der eigenen Exilgeschichte wiederherstellen, und – ein vertrautes Motiv aus ihrem Varnhagen-Buch – die jüdische Paria-Identität als einen „Segen“ wahrnehmen, als eine Waffe im Kampf um die Freiheit. Scholem zeigte sich enttäuscht und bekannte sich dazu, Zionist und auch „Nationalist“77, ja sogar ein „Sektierer“ zu sein: „Mir ist das Staatsproblem vollkommen schnuppe, da ich nicht glaube, dass die Erneuerung des juedischen Volkes von der Frage seiner politischen, ja sogar von der Frage seiner sozialen Organisation abhaengt.“78 Er wirft Arendt seinerseits vor, ihr Artikel sei von Hohn gegenüber dem Zionismus gekennzeichnet und biete „eine muntere Neuauflage kommunistischer Kritik strikt antizionistischen Charakters, versetzt mit einem diffus bleibenden Gallus-Nationalismus“.79 Dabei sei das „Gemisch“ ihrer Argumente „hoechst sonderbar und von verschiedenem Kaliber und Standard“.80 In der Frage der jüdischen Armee ist er zum einen als Pazifist anderer Meinung, zum anderen wehrt er die von Arendt genannten Gründe für ein Scheitern der Aufstellung einer solchen Armee pauschal als bloßen „Unsinn“81 ab. Im Juni 1963 erschien Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen auf Basis von Reportagen, die sie 1961 als Prozessbeob-

74 Arendt, Fernsehgespräch mit Günter Gaus (wie Anm. 12), S. 49. 75 Arendt, Cui Bono? (wie Anm. 72), S. 47. 76 Arendt, Hannah: Moses oder Washington? In: Dies.: VAMS (wie Anm. 10), S. 43–44, hier S. 44. 77 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 93. Vgl. Jacobson, Eric: Ahavat Yisrael: nationhood, the pariah and the intellectual. In: Creation and Re-Creation in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of His 70th Birthday. Hrsg. v. Peter Schäfer u. Rachel Elior. Tübingen 2005. S. 401–415. 78 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 94. 79 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 92. 80 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 92. 81 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 93.



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achterin beim ersten Verfahren gegen einen Verantwortlichen des Nationalsozialismus in Israel für den New Yorker geschrieben hatte. Die öffentliche Kontroverse entzündete sich hauptsächlich an zwei Themen: am Begriff der „Banalität des Bösen“, mit dem Arendt Eichmann charakterisierte, und an der Haltung der „Judenräte“ als Kollaborateure des Holocausts.82 Scholem antwortet auf das Buch am 20. Juni 1963, wie zwischen beiden Usus ist, mit einer dezidierten persönlichen Kritik und mit dem längsten Brief der ganzen Korrespondenz: Nach der Lektuere Ihres Buches bin ich von der Banalität des Boesen, auf dessen Herausarbeitung es Ihnen, wenn man dem Untertitel glauben sollte, angekommen ist, in keiner Weise ueberzeugt. Es erscheint diese Banalitaet auch eher als ein Schlagwort denn als das Resultat einer so eingreifenden Analyse, wie Sie sie, unter ganz entgegengesetzten Vorzeichen, in Ihrem Buch über den Totalitarismus auf weit ueberzeugendere Weise gegeben haben. Damals hatten Sie anscheinend noch nicht entdeckt, dass das Boese das Banale sei. Von dem radikal Boesen, von dem Ihre damalige Analyse beredtes Zeugnis und Wissen ablegte, hat sich die Spur nun in einem Schlagwort verloren, das in der Lehre von der politischen Moral oder der Moralphilosophie doch wohl in andere Tiefe eingefuehrt werden muesste, wenn es mehr sein soll als das. Es tut mir leid, dass ich in ehrlicher und freundschaftlicher Gesinnung gegen Sie nichts Positiveres zu den Thesen Ihres Buches vorbringen kann.83

Arendt antwortete Scholem vier Wochen später, am 20. Juli 1963: Sie haben vollkommen Recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. [...] Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.84

Scholem – und hier ist der Disput am interessantesten – geht auch auf Arendts Legitimierung der Vollstreckung des von Israel gegen Eichmann gefällten Todsurteils ein, die er historisch und in Bezug auf die Stellung Israels zu den Deutschen für falsch hält.85 Arbeitet er sich zunächst an der Art der Argumentation und

82 Aus der Vielzahl der Literatur zum Thema: Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M. 2000 und Smith, Gary (Hrsg.): Hannah Arendt revisited. „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen. Frankfurt/M. 2000. (Anm. der Hrsg.: Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band „Das zwangshaft projizierende Selbst“. Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovici von Susanne Düwell. 83 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 434. 84 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 444. 85 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 433.

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ihrer Konsistenz ab, wird Scholem in der Frage der schuldhaften Verwicklung der Juden polemisch und deutlich schärfer: Es gibt Aspekte der juedischen Geschichte (und mit der beschaeftige ich mich schliesslich seit 50 Jahren), die der Abgruendigkeit keineswegs entbehren: Daemonische Verfallenheit ans Leben, Unsicherheit in der Orientierung in dieser Welt (der die Sicherheit der Frommen gegenüber steht, von der in Ihrem Buch auf ergreifende Weise nicht die Rede ist), Schwaeche, die mit Heroismus auf unendlich vertrakte Weise verschlungen ist, auch Lumperei und Herrschsucht. Das alles hat es immer gegeben und in einer Zeit der Katastrophe waere es sonderbar, wenn es nicht in irgendwelchen Phaenomenen zur Geltung gekommen waere.86

Scholem konzediert eine Schwäche der Juden angesichts der Vernichtungsmaschinerie, doch mag er von Komplizenschaft nichts wissen. Das Buch hinterlasse ein „Gefühl der Bitterkeit und der Scham, nicht über das Referierte, sondern über die Referentin“.87 Arendts Argumentation sei, so fährt er fort, „ein Hohn auf den Zionismus und ich fuerchte, dass es das ist, worauf es Ihnen dabei ankam. Darueber will ich nicht diskutieren.“88 Obwohl der Gegenstand des Buches die Tötung eines Drittels des Volkes sei, dem er sie beide zurechne, auch wenn Arendt sich durch ostentative „flippancy“ im Stil wohl davon zu distanzieren suche, zeige sie eine zynische Leichtfertigkeit im Umgang mit den Dingen, wenn sie etwa über Leo Baeck sage, er sei „in the eyes of both Jews and Germans the ‚Jewish Fuehrer‘“ gewesen.89 Es ist der herzlose, ja oft geradezu haemische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Herzen unseres Lebens angehende Sache, bei ihnen abgehandelt wird. Es gibt in der juedischen Sprache etwas durchaus nicht zu definierendes und völlig konkretes, was die Juden Ahabath Israel nennen, Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, wie bei so manchen Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind, nichts zu merken.90

In ihrer Antwort geht Arendt zunächst auf diese Vorwürfe ein. Wie schon 1946 distanziert sie sich von „Linksintellektuellen“ wie Brecht oder Hanns Eisler und wiederum vom Vorwurf des Hohns gegenüber dem Zionismus.91 Auch über ihr Selbstverständnis als Jüdin verweigert sie die Diskussion.92 „Was meine Herzlo-

86 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 428. 87 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 427. 88 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 433. 89 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 430. 90 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 429. 91 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 443 und 458. 92 Vgl. Butler, Judith: „I merely belong to them.“ The Jewish Writings by Hannah Arendt. In:



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sigkeit etc. anlangt, so werden Sie ja wohl nicht von mir verlangen, dass ich Ihnen darauf antworte.“93 Sie verweist aber dennoch auf ihre Kommentare zur Rolle des Herzens in der Politik in ihrer Studie On Revolution, die im selben Jahr erschienen war.94 Zur Vollstreckung des Todesurteils gegen Eichmann fügt sie hinzu: Sie sagen es war „historisch falsch“. Meiner Meinung nach war es politisch (das Historische interessiert hier nicht) nicht nur richtig, es wäre schlechterdings unmöglich gewesen, das Urteil nicht zu vollstrecken. Man hätte das das Todesurteil nur dann nicht vollziehen brauchen, wenn man Jaspers Vorschlag gefolgt wäre und Eichmann sozusagen an die United Nations ausgeliefert hätte. Das hat ja niemand gewollt, und es war vermutlich auch unmöglich, also musste man ihn hängen. Gnade kam nicht in Frage.“95

Zuletzt greift sie Scholems Vorschlag auf, die Kontroverse zu veröffentlichen: Sie schlagen vor, Ihren Brief zu veröffentlichen und fragen mich, ob ich etwas dagegen habe. Ich möchte von einer Transformation in die dritte Person abraten. Der Wert dieser Auseinandersetzung besteht darin, dass sie Briefcharakter hat und auf dem Boden der Freundschaft geführt wird. Wenn Sie also bereit sind, Ihren Brief mit meiner Antwort zugleich zu veröffentlichen, so habe ich selbstverständlich nichts dagegen. Aber lassen wir es bei der Briefform.96

„My heart goes out to you“ – Fazit Während Scholem im Rückblick von einer „Freundschaft voller Konflikte und Streitpunkte“97 sprach, bemühte sich Arendt, das solidarische und freundschaftliche Gespräch zwischen ihnen als zwei Überlebende in Gang zu halten, die die „Sintflut“ überstanden haben, „nachdem die Welt untergegangen ist“: Nun sitzen wir also, die paar Überlebenden (die wir ja nicht eigentlich etwas dafür können, dass wir noch am Leben sind, und daher wieder – nicht froh – aber gewiss werden sollten) wie Noah in seiner Arche, in der wir noch nicht einmal das Nötigste haben retten können; schlimmer ist, dass wir paar Noahs auch mit dem zusätzlichen Ungeschick behaftet scheinen, unsere Archen genau aneinander vorbei ins Nicht-Treffbare zu steuern. Und wenn ich auch

London Review of Books 29/9 (2007). S. 26–28. 93 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 458. 94 Arendt, Hannah: On Revolution. New York 1963. 95 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 443 (Herv. i. Orig.). 96 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 444. 97 Scholem, Gershom: Briefe 2. Hrsg. v. Itta Shedletzky. München 1995. S. XIX.

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dagegen bin, alle Noahs in eine Arche zu bringen, was leider angesichts der geringen Zahl derer, die wissen, was los ist, ein Leichtes wäre, so hätte ich es doch mehr als gerne gesehen, wenn man ein paar Schiffchen aneinander hätte binden können oder wenigstens so steuern, dass man sich noch Hallo und Wie geht’s zurufen kann.98

Während Scholem resigniert vom Zerfall der jüdischen Welt spricht („Die Distanz zwischen den verschiedenen Judentümern in Europa und Amerika und Palästina ist meines Erachtens katastrophal und nicht mehr einzuholen. […] Es zerfällt alles und man versteht sich nicht mehr“99), versucht Arendt jener Zersplitterung jüdischer Identität, der Desintegration von jüdischer Biografie entgegen zu arbeiten. Edmond Jabès etwa hat diese Zersplitterung als Konsequenz der Erfahrung des Massenmordes formuliert, die jeden menschlichen Nachvollzug überschreite und damit auch den Gedanken eines sinnvollen, zielgerichteten Lebenslaufs und die Möglichkeit kohärenten Erzählens ausschließe. Für Jabès und seine Figuren sind ihre realen Biografien von der Gewalt der Geschichte so weitgehend zerstört worden, dass sie sich in ihnen nicht mehr widerzuspiegeln vermögen.100 Das Denken und Schreiben der Exilantin Hannah Arendt kreist um diesen „Traditionsbruch“ der Shoah und die Rettung des Erzählens als notwendigen Erfahrungsaustauschs, als Basis des Gesprächs, das wiederum der Nukleus politischen Handelns ist. „Die Diskussionen vertagen wir getrost bis nach dem Krieg“, schrieb sie am 14. Januar 1945 an Scholem. „Die Frage ist nur, in welchem Cafe wir uns dann treffen. Auf jeden Fall, wie Schweijk, punkt fuenf Uhr.“101 Der Verweis auf Jaroslav Hašeks „braven Soldaten“ und Paria, der mit einer Mischung aus Chuzpe, Naivität und stoischem Gleichmut den Ersten Weltkrieg überlebt, er ist ein humorvolles Angebot an Scholem, die eigene Situation mit einem Quäntchen Selbstironie anzunehmen. Arendts Rede zum Hamburger Lessingpreis Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten vom 28. September 1959 ist m. E. ein Schlüsseltext der deutsch-jüdischen Streitkultur nach 1945. In ihr widmete sich Arendt dem Gespräch als Kern der Auseinandersetzung, dem Risiko und der Notwendigkeit von Öffentlichkeit und der Freundschaft als einzig möglicher Form der Solidarität mit den gesellschaftlichen „Parias“. Sie rekurrierte dabei auf ihre eigenen Erfahrungen als deutsche Jüdin. Sie verwies auf die Gefahr, angreifbar zu werden, indem man sich zu weit exponiere und auf das Risiko, dass der Zugang zur Öffentlichkeit und damit die freie Entfaltung der Persönlichkeit willkürlich beschränkt werden

98 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 140. 99 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 133. 100 Vgl. Jabès, Edmond: Das Buch der Fragen. Frankfurt/M. 1989. 101 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 56.



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könnten. Arendt war gegenüber der Schutzfunktion, die in der Idee einer universellen Öffentlichkeit stecke, zutiefst skeptisch, obwohl sie an die Notwendigkeit einer Partner- oder Komplizenschaft mit der Öffentlichkeit glaubte. Ihr Vertrauen galt gestuften, halbprivaten Netzwerken mit einer mehr oder weniger intimen, eventuell sogar codierten Kommunikation mit einem selektierten Empfängerkreis. Mendelssohn, Heine oder Kafka (oder sie selbst) hätten zunächst nur für Freunde und „jene unbekannten, vereinzelten Leser und Hörer“102 geschrieben, mit denen sie sich „verbrüdert“ gewusst hätten. Doch die Brüderlichkeit sei von allen Werten der Aufklärung der trügerischste, bilanzierte sie und setzte stattdessen auf die Freundschaft als Raum und Medium der Solidarität.103 Hans Jonas beschwor in seiner Trauerrede bei Arendts Beerdigung ihre besondere Begabung zur Freundschaft, ihr „genius for friendship“ als Gegengewicht zu ihrer „passion for thinking“.104 Die Redewendung ist von Young-Bruehl und anderen immer wieder einseitig als Beleg für ein besonderes Talent zur Freundschaft als sozialer wie politischer Praxis gedeutet worden. Gerade der Briefwechsel mit Scholem zeigt aber, dass sich das polemische Talent, der Angriff als beste Form der Verteidigung, und die Begabung zur Freundschaft zumindest die Waage hielten. In diesem Sinne entließ sie ihre Bücher immer wieder skeptisch in die Öffentlichkeit und vertraute sich und ihr – wie Rahel Varnhagens – rebellisches Herz lieber dem Briefwechsel an. Am 27. November 1946 schrieb sie an Scholem: My heart goes out to you – das heißt, da es keinen Pass braucht und kein Geld und keinen „Urlaub“, hat es sich ein Ticket genommen und segelt friedfertig in der Touristenklasse nach Palästina. Sie werden sich dann in Haifa an den Hafen stellen und dafür sorgen, dass man es nicht an Land lässt.105

102 Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing. München 1960. S. 28. 103 Arendt, Von der Menschlichkeit (wie Anm. 102), S. 39–47. 104 Jonas, Hans: Hannah Arendt, 1906–1975. Eulogy Delivered at the Funeral Service at Riverside Memorial Chapel [8 December 1975]. Appendix C. In: Wiese, Christian: The Life and Thought of Hans Jonas. Waltham 2007. S. 180. 105 Arendt/Scholem, BWAS (wie Anm. 1), S. 141–142.

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Lena Kreppel

Ein deutsch-jüdischer Emigrant im Erstkontakt mit dem Zionismus Zur Selbstdarstellung in autobiografischen Texten von Fritz Wolf

Einleitung Die Emigration in das britische Mandatsgebiet Palästina stellte die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohenen assimilierten Juden vor neue Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit ihrer ,deutsch-jüdischen Identität‘. Innerhalb des Jischuw, der jüdischen Ansiedlung in Palästina, wurde das zionistische Projekt vorangetrieben, sodass viele Emigranten aus Deutschland hier erstmals mit der Theorie und Praxis des Zionismus konfrontiert wurden. Dabei stellten das Aufeinandertreffen jener Emigranten, die sich als deutsche Staatsbürger wahrgenommen hatten und sich in der deutschsprachigen Kultur verwurzelt fühlten, mit Formen der zionistischen Folklore und die Auseinandersetzung mit der nationalen Zuschreibung vom Judesein Reibungspunkte dar. So erging es auch Fritz Wolf (1908–2006) aus Heilbronn, der im Jahre 1933 nach Italien und schließlich 1936 nach Palästina emigriert war. Fritz Wolf stammte aus einer assimilierten jüdischen Unternehmerfamilie, er wurde in Deutschland im Fach Rechtswissenschaften promoviert und absolvierte im Jahre der Machtübernahme der Nationalsozialisten sein Referendariat. In Palästina ließ er sich in der Ortschaft Nahariyya nieder, in der bereits seine Schwester mit ihrer Familie lebte. Nahariyya, nördlich von Haifa am Mittelmeer gelegen, wurde im Jahre 1935 von deutschen Juden als landwirtschaftliche Siedlung und Alternative zwischen dem Kibbuzleben und dem Stadtleben gegründet.1 In diesem Beitrag werden Fritz Wolfs autobiografische Texte Israel-Buch für Anfänger (1951) und Das Zwischenreich (1959/60) einer literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen.2 Es wird die Auseinandersetzung Fritz Wolfs mit dem

1 Zur Geschichte Nahariyyas siehe Kreppel, Klaus: Nahariyya – das Dorf der Jeckes. Die Gründung der Mittelstandssiedlung für deutsche Einwanderer in Eretz Israel 1934/35. Unter Mitwirkung von Eli Bar-On (Nahariyya) und Andreas Meyer (Kfar Vradim). Tefen 2005; Kreppel, Klaus: Nahariyya und die deutsche Einwanderung nach Eretz Israel. Die Geschichte seiner Einwohner von 1935 bis 1941. Unter Mitwirkung von Andreas Meyer (Kfar Vradim) und Michael Dror-Dreyer (Herzliya). Tefen 2010. 2 Beide Texte befinden sich im Archiv des Museums der deutschsprachigen Juden in

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zionistischen Verständnis von der kulturellen und nationalen Dimension vom Judesein untersucht. Somit möchte ich versuchen, die Selbstdarstellung Fritz Wolfs in der Auseinandersetzung mit dem zionistischen Projekt herauszuarbeiten, wie sie sich in seinen Texten manifestiert. Es handelt sich bei dem Beitrag um leicht veränderte Auszüge aus meiner Dissertation Deutsch. Jüdisch. Israelisch. Identitätskonstruktionen in autobiographischen und essayistischen Texten von Erich Bloch, Jenny Cramer und Fritz Wolf, in der ich die identitäre Neuverortung dieser drei Autoren im Kontext unterschiedlicher zeitgenössischer Diskurse von 1948 bis 1967 untersucht habe.3

Aufbau einer jüdischen Heimstätte Der politische Zionismus war als Reaktion auf die Assimilierungstendenzen von Juden in Mitteleuropa, den europäischen Antisemitismus sowie Pogrome gegen Juden in Osteuropa im 19. Jahrhundert entstanden. Er postulierte die Notwendigkeit der Gründung eines jüdischen Nationalstaates und wurde, im Unterschied zur ,Zionssehnsucht‘ von in der Diaspora lebenden religiösen Juden, innerhalb der säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft entwickelt.4 Im Jahre 1896 hatte Theodor Herzl, Mitbegründer des politischen Zionismus, in seinem Werk Der Judenstaat die Grundlagen des zionistischen Projekts vorgestellt. Diese wurden im darauffolgenden Jahr auf dem Ersten Zionistischen Kongress in Basel in einem Programm als Ziele der Zionistischen Bewegung verabschiedet. So wurde als Ziel genannt, eine rechtlich gesicherte Heimstätte für Juden in Palästina zu errichten.5

Tefen, Israel. Für die Genehmigung, aus den Texten zu zitieren, danke ich dem Museum der deutschsprachigen Juden sowie Uri Wolf (Nahariyya). Zum Museum der deutschsprachigen Juden siehe Kreppel, Lena: Das Museum der deutschsprachigen Juden im Kontext des israelischen Erinnerungsdiskurses. In: Das Gedächtnis des Exils. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn u. Lutz Winckler. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung. München 2010 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 28). S. 67–84. 3 Kreppel, Lena: Deutsch. Jüdisch. Israelisch. Identitätskonstruktionen in autobiographischen und essayistischen Texten von Erich Bloch, Jenny Cramer und Fritz Wolf. Würzburg 2012 (Epistemata Literaturwissenschaft 750). Zugl. Dissertation. Berlin 2011. 4 Vgl. Zuckermann, Moshe: Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus. Bonn 2009, S. 23; Zimmermann, Moshe: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion. 2. erg. Aufl. Berlin 1997 (AtV; 8501 Aufbau-Thema), S. 19f. 5 Vgl. Zimmermann, Wende (wie Anm. 4), S. 19f.; Herzl selbst hatte auch Argentinien als mögliches Territorium genannt. Vgl. Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Essay von Nike



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Innerhalb des Jischuw waren die unterschiedlichen Strömungen des Zionismus vertreten, doch herrschte Einigkeit darin, die Diaspora zu negieren, die jüdische Emanzipation als gescheitert zu betrachten und in dem Bestreben, die jüdische Kultur als Basis nationaler Sicherung der Juden zu erneuern.6 Um die zionistische Utopie eines jüdischen, kulturell und national definierten Kollektivs entstehen zu lassen, galt es, die Basis für eine jüdische Gesellschaft im britischen Mandatsgebiet Palästina zu schaffen. Zur Legitimation der Landnahme konstruierten die politischen Eliten ein historisches Narrativ, das auf die jüdische Geschichte in Palästina vor 2 000 Jahren verweist. Die zionistische Bewegung bediente sich dabei eines Geschichtsverständnisses, das den Anspruch auf das Territorium Palästina als „unvergessliche historische Heimat“7 aus dem biblischen Israel herleitete. Als Bindeglied zwischen dem biblischen Land des Königreichs Israel und der zionistischen Besiedlung Palästinas im 20.  Jahrhundert stand eine hebräischsprachige Nationalkultur und der ,Sabre‘ als Sinnbild des ,neuen Juden‘.8 Im zionistischen Narrativ wurde er mit Attributen ausgestattet, die jenen des diasporischen Juden entgegenstanden. Während der in der Diaspora lebende Jude mit dem Wehrlosen, Degenerierten und Verfolgten assoziiert wurde, wurde der Sabre als starker, wehrhafter, landwirtschaftlich arbeitender Held imaginiert.9

Wagner. Neudruck der Erstausgabe von 1896. Augsburg 1986, S. 69. 6 Vgl. Zuckermann, Sechzig Jahre (wie Anm. 4), S. 23. 7 Herzl, Judenstaat (wie Anm. 5), S. 69. 8 Vgl. Interview mit Tom Segev in Joggerst, Karin: Getrennte Welten – getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Anhang: Interviews mit Benny Morris, Ilan Pappé, Tom Segev, Moshe Zimmermann u. Moshe Zuckermann. Münster [u. a.] 2002 (Konfrontation und Kooperation im Vorderen Orient 6). S. 124–130, hier S. 126; Gelber, Yoav: Die Geschichtsschreibung des Zionismus: von Apologetik zu Verleugnung. In: Historikerstreit in Israel: Die „neuen Historiker“ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Hrsg. v. Barbara Schäfer. Frankfurt/M. [u. a.] 2000. S. 15–44, hier S. 26 und 27f.; Zabar: hebr. Kaktusfeige. Das Äußere der Kaktusfeige ist stachelig, das Innere süß und einzigartig. Vgl. Tzahor, Zeev: Der neue Israeli. In: Israel. Hrsg. v. Gisela Dachs. 1. Aufl. Frankfurt/M. 2008 (Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts). S. 23–33, hier S. 31. 9 Vgl. Zuckermann, Sechzig Jahre (wie Anm. 4.), S. 24 und 25f.; Ram, Uri: From Nation-State to Nation-----State. Nation, History and Identity Struggles in Jewish Israel. In: The Challenge of Post-Zionism. Alternatives to Israeli fundamentalists Politics. Hrsg. v. Ephraim Nimni. London [u. a.] 2003 (Postcolonial Encounter). S. 20–41, hier S. 34.

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Von wilden „Bauernflegeln“ Fritz Wolf befasst sich in seinen beiden autobiografischen Texten mit einzelnen Elementen der zionistischen Kultur. Er begegnet dieser Kultur erstmals bei seiner Überfahrt von Italien nach Palästina im Jahre 1936, von der er in seinem 1951 verfassten Text Israel-Buch für Anfänger retrospektiv berichtet. In dem 80 Seiten umfassenden Text beschreibt er neben seiner Emigration auch die Anfangsjahre in Nahariyya. Im Folgenden wird ein Textausschnitt wiedergegeben, in dem Fritz Wolf die Reaktion der an Bord des Schiffes anwesenden Chaluzim, die Pioniere der Jugend-Alijah10, der organisierten Einwanderung von Jugendlichen, schildert, die am Horizont auf dem palästinensischen Festland den Berg Carmel erblicken: „Carmel“ brüllen die Chaluzim vorn auf dem Schiff. Blaue Blusen mit roter Verschnürung packen sich an den Händen: das Akkordeon schreit auf […]. [D]ie Jugend-Alijah [feiert] ihre Ankunft in Erez Israel: sie tanzt Horra – unaufhörlich und mit einer Ausdauer und Begeisterung und Kraft wie man sie nur in jungen Jahren hat. Denn plötzlich kam ich mir sehr alt vor, und sehr fern dieser Jugend die Horra tanzt und sehr fern diesem Land in dem die „Horra“ der Nationaltanz sein soll. Ich habe nie an einer Jugendbewegung teil genommen und nie viel übrig gehabt für „Volkstänze“, die mir immer barbarisch und goijisch vorgekommen sind. Aber das ist meine Schuld – ich gebe es innerlich zu, während ich zusehe: angezogen von der Wildheit und abgestossen von der Wildheit.11

Fritz Wolf verdeutlicht hier sein Befremden, mit dem er den Horatanz, der ihm während dieser Überfahrt begegnet, wahrnimmt. Er stellt retrospektiv sein 28-jähriges Ich als angewidert und zugleich fasziniert von der ihm begegnenden und ihn im Lande Israel erwartenden zionistischen Jugendkultur dar. Die uniformierte Kleidung der Chaluzim lässt keine Individualität mehr zu. Das folkloristische Instrument Akkordeon, das, wie Fritz Wolf später im Text schreibt, „das Rauschen des Wassers, diese ewig gleich wundersame Melodie, überschrie […]“12, ist Teil des rustikalen Benehmens, das der aus Rumänien stammende Tanz seinen

10 Alijah hebr. Einwanderung, wörtlich Aufstieg. 11 Wolf, Fritz: Israel-Buch für Anfänger. 1951. Unveröffentlichtes Manuskript. Museum der deutschsprachigen Juden, Tefen. G.F.0113/23, S. 39–40. In wörtlichen Zitaten werden Schreibweise und Interpunktion des maschinengeschriebenen Originals beibehalten. Abweichungen von heutiger und zeitgenössischer gültiger Rechtschreibung werden nicht gekennzeichnet. Eindeutige Tippfehler wie etwa die fehlerhafte Reihenfolge von Buchstaben werden ohne Kennzeichnung korrigiert. 12 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 40.



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Akteuren entlockt. So wie das Akkordeon in Fritz Wolfs Ohren „[auf]schreit“, so „brüllen“ auch die „barbarisch[en]“ Pioniere in ihrer „Wildheit“. Mittels der Verwendung dieser archaisch annotierten Begriffe distanziert sich Fritz Wolf als Spross eines assimilierten, bildungsbürgerlichen, musikalischen Hauses, der selbst statt eines lärmenden Akkordeons einen Flügel im Gepäckraum des Schiffes mit sich führt,13 von der ihm dargebotenen Szenerie. So grenzt er sich von dem jugendlichen Enthusiasmus der jungen Pioniere ab, von der, wie er meint, grobschlächtigen, zionistischen Folklore und damit letztlich vom zionistischen Projekt, zu dessen identitätsstiftendem Accessoire die Hora und weitere kollektivistische Symbole gehören. Die ihn abstoßende und zugleich anziehende exotische Wildheit charakterisiert Fritz Wolf wenig später im Text näher: Wenn man Horra tanzt, so hebt man die Knie und wirft den rechten Fuss über den linken und stampft auf den Boden. Stampft den Druck und die Last und das Getto hinein und packt wer dabei steht am Arm und reisst ihn hinein in den Kreis, der sich schneller und schneller dreht, der quirlt und stampft und aufschreit in Gesang – kein Wort zu verstehen – nur aufbellende Laute von Freiheit und Erde.14

Aus Sicht des assimilierten Juden mitteleuropäischer Herkunft beschreibt Fritz Wolf hier den Tanz, den er sogleich abwertend in die Kultur der Juden in Osteuropa einordnet, wenn er den Tänzern eine osteuropäische Ghetto-Herkunft unterstellt (Siehe dazu den Artikel in diesem Band von Paula Wojcik, Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Neue Konzeptionen des Jüdischen in polnischund deutschsprachiger Gegenwartsliteratur). Das kraftvolle Stampfen und Rufen von ihm unverständlichen Lauten, vermutlich Jiddisch oder Hebräisch, lässt die Tänzer erneut in die Ecke des Fremden, Unzivilisierten, Archaischen rücken. Auch wenig später im Text vergleicht Fritz Wolf die Jungzionisten mit dem Animalischen, wenn er die Jungen und Mädchen, die mit der Jugend-Alijah nach Palästina immigrieren, als „Arbeitstiere und Landeroberer“15 bezeichnet. Ob hier Kritik an der Kolonisierung des palästinensischen Territoriums mitschwingt, lässt sich nur vermuten. Allerdings klingt bereits eines der Kernelemente des sozialistischen Zionismus an: die Abkehr vom Intellektuellen und die

13 Vgl. Witzthum, David: Die Nahariyade. In: Die Jeckes. Hrsg. v. Gisela Dachs. 1. Aufl. Frankfurt/M. 2005 (Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts). S. 79–85, hier S. 80; Interview mit Fritz Wolf in Kreppel, Klaus: Wege nach Israel. Gespräche mit deutschsprachigen Einwanderern in Nahariya. Bielefeld 1999. S. 37–49, hier S. 37. 14 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 40. 15 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 40.

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Hinwendung zur agrarischen Bearbeitung des Bodens zum Aufbau eines jüdischen Nationalstaates. So erwähnt Fritz Wolf hier den Ackerboden, den er als Motiv erneut aufgreift, wenn er mit der Beschreibung der Hora-Tänzer fortfährt: Die Körper fliegen in die Höhe, wie Lehmbrocken in die Höhe geschleudert werden: Schweiss rinnt von den Gesichtern, die Augen verglasen […]. Mir war so übel als sähe ich Betrunkene. Niemand, der dies sah konnte von „jüdischer Dekadenz“ sprechen, diese Jugend glich eher einer Horde von Bauernflegeln, und Walter Darré, der Führer des Reichsbauernstandes unter Herrn Hitler, hätte seine helle Freude gehabt.16

In seiner fortschreitenden Erzählung darüber, was er bei der Überfahrt an zionistischem Kulturgut erlebt, vergleicht Fritz Wolf die ihm so fremd anmutenden Pioniere mit „Lehmbrocken“ und „Bauernflegeln“, denen der Schweiß wie nach schwerer körperlicher Arbeit über das Gesicht fließt. Mit seiner Assoziation mit dem sogenannten ,Reichsnährstand‘ und damit der Agrarorientierung der Nationalsozialisten fährt Fritz Wolf fort, sich von den zionistischen Idealen des bodenbearbeitenden Sabre zu distanzieren. Es ist ihm unmöglich, das geringste Verständnis für die Horatänzer, die sich in diesem kollektiven Ausdruck ihrer kulturellen Zugehörigkeit in Trance zu tanzen scheinen, aufzubringen oder ihnen zumindest mit Toleranz zu begegnen. Stattdessen wendet sich der feinsinnige Pianist Fritz Wolf von diesem Anblick angewidert ab, von dem ihm „übel“ wird. Er zieht es vor, sich in Abgrenzung zu dem sich hier darbietenden Bild der Folklore die Konventionen seiner kulturellen Herkunft und Sozialisation zu vergegenwärtigen. So folgt im Text die Erinnerung an einen Abend in gehobener Gesellschaft, in der er sich mit seiner Tanzpartnerin Elsi im Ballsaal eines Hotels in Garmisch befindet: [E]inen Augenblick lang sah ich Elsi vor mir – jene längstentschwundene Elsi im grünen Abendkleid, im Biedermeierstil in blossen Schultern: Elsi die Arierin, das Freifräulein von Wegener, die Goite, eine Liebe, eine Geliebte, eine Welt und meine Welt – wie ich einmal glaubte. Der Ballsaal im Riessersee-Hotel. Die Tanzkapelle: zwei schwere Bechsteinflügel, Saxophone und Schlagzeug. Und ich, im Smoking mit hohem steifen Kragen und schwarzer Binde war derselbe gewesen, der jetzt in diesen tosenden Strudel sah. Beziehungslos.17

Fritz Wolf gibt hier eine Szene aus seinem zurückgelassenen Leben in Deutschland wieder, das ebenso wie die damalige Freundin „längstentschwunden[…]“ zu

16 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 40. 17 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 40.



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sein scheint. Es sind der Ballsaal im Grandhotel, die Tanzkapelle, der Smoking und die Verabredung mit einer Nichtjüdin aus der idealisierten Zeit vor der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, die er dem äußeren Erscheinungsbild und dem Auftreten der jungen Zionisten an Bord des Schiffes entgegensetzt. Dies war einst seine Welt gewesen, so hatte er zumindest „[ge]glaubt“, ehe ihn die Geschichte eines Besseren belehrte. Zugleich distanziert er sich von seinem Leben in Deutschland, wenn er die Freundin abfällig eine „Goite“, eine Nichtjüdin, nennt und damit den später erfahrenen Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft vorwegnimmt. Was Fritz Wolf innerhalb des Jischuw erwartet, ist eine Kultur, die sich ihm in seiner ersten Begegnung mit ihr als rustikale Folklore offenbart und zu der er keinen Zugang finden kann. Wenig später im Fortgang seiner Erzählung äußert er sich abschließend zu den Pionieren: „Als ich nach dem Abendessen auf Deck kam, tanzten die Chaluzim noch immer oder schon wieder.“18 Mittels seiner ironischen Bemerkung über die Ausdauer und Permanenz dieses ,unzivilisierten‘ Tanzes versucht er anzudeuten, welche lärmenden Störfaktoren ihn möglicherweise auch in Palästina begleiten werden. So distanziert er retrospektiv sein 28-jähriges Ich von der aus Osteuropa stammenden zionistischen Kultur, noch ehe es das Land Israel erreicht hat. Die potentiellen Leser seines Textes lässt Fritz Wolf wiederholt um die kulturelle Zugehörigkeit zu seinem Herkunftsland Deutschland wissen und stuft diese als wertvoller gegenüber der zionistischen Kultur ein. Die Emigration aus Deutschland wird hier als Vertreibung aus dem kulturellen Umfeld erlebt und erlitten. Fritz Wolfs Selbstdarstellung ist von Attributen einer bildungsbürgerlichen, assimilierten Herkunft geprägt, und von der Abgrenzung zu der im zionistischen Narrativ angestimmten sozialistisch-agrarischen Gemeinschaft. Dies verdeutlicht er durch die Kontrastierung seiner auf Distinguiertheit basierenden Herkunft mit dem archaischen und ,unzivilisierten‘ Umfeld des zionistisch orientierten Jischuw.

„[...] ich hatte meine Juedischkeit unter Beweis gestellt.“ In der Konfrontation mit dem Zionismus geht Fritz Wolf darüber hinaus auch auf sein Verständnis vom Judesein als nationale Kategorie ein, das er ebenfalls

18 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 41.

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in dem 1951 verfassten Israel-Buch für Anfänger entfaltet. Darin berichtet er von der Begebenheit, als er während der Überfahrt von Italien nach Palästina seinen Schritt reflektiert, ein neues Leben innerhalb des Jischuw zu wagen: Ich stehe an Deck, als sich das Schiff langsam vom Ufer löst – los von Europa – los von allem was vertraut war und Heimat hiess – jetzt entfernt mich jede Seemeile weiter und weiter – jetzt wird es ernst und ernster – von Stuttgart nach Mailand fuhr man eben doch nur 12 Stunden mit dem Schnellzug – jetzt werden es Tage und Tage sein, die mich von Papa und Mama trennen – viele Tage, viele Meilen … Wer weiss ob man sich wieder sieht. Wer weiss ob man sich wieder sieht.. ein halber Meter vom Ufer, das blaue Wasser unten gurgelt und wird weiss von Schaum … ein ganzer Meter … neben mir Einwanderer, Rückwanderer, Turisten, Matrosen … die blau-weisse Flagge wird hochgezogen – die jüdische Flagge also.. es wird mir doch komisch zu Mut – jüdisch zu Mut – ein jüdisches Schiff – die blau weisse Flagge – und nun singen sie die „Hatikawah“ – ja das ist eine komische Sache – eine komische Nationalhymne haben sie – haben wir??? – sehr traurig, sehr sentimental sehr wehmütig – oder doch voll Hoffnung – ja, sie singen neben mir – ein jüdisches Schiff also – wir sind unter uns: Juden. Unter uns Juden: man hat es mit Stolz erzählt: Die Matrosen Juden, die Offiziere – nur der Kapitän ist kein Jude. Die Stewards Juden, die Maschinisten Juden? Eigentlich sollte man es annehmen. Können Maschinisten Juden sein. Juden. Saujuden, schmutzige Juden, Judenjungen – seit zwanzig Jahren. Das blosse Wort hat mich geformt. Wir werden sehen was nun kommt.19

Fritz Wolfs Beschreibungen bestehen aus einer Aneinanderreihung von Empfindungen und Gedanken. Mit der Abfahrt aus Europa lässt er das hinter sich, was „vertraut war und Heimat hieß“, und damit verbindet er offenbar vor allem die Nähe zu seinen Eltern. Er befindet sich an Bord des Schiffes in einer gemischten Gesellschaft aus Reisenden unterschiedlicher Motivation, darunter sind viele Menschen, die wie er selbst aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen waren und sich zu einem neuen Leben in Palästina innerhalb des Jischuw entschlossen hatten. Als an Deck die zionistische Flagge gehisst wird, wird Fritz Wolf „jüdisch zu Mut“. Das bedeutet, er beginnt damit, sich mit den Juden an Bord des Schiffes und dem Judesein zu identifizieren, ohne weiter zu definieren, was dies eigentlich bedeutet. Er erwähnt die spätere Nationalhymne Hatikwa20, in der die Sehnsucht nach einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina zum Ausdruck kommt. Auf Fritz Wolf wirkt sie in ihrer Sentimentalität und Traurigkeit „komisch[…]“ und er fragt zweifelnd in sich hineinhorchend, ob es auch seine Hymne sei. Schließlich bezieht er sich doch in das jüdische Kollektiv mit

19 Wolf, Israel-Buch (wie Anm. 11), S. 39. 20 Hatikwa hebr. die Hoffnung.



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ein und scheint sich entschieden zu haben, wohin er (in diesem Moment) gehört: „[W]ir sind unter uns: Juden.“ Fritz Wolf zählt die unterschiedlichen Berufe an Bord des Schiffes auf, in denen möglicherweise Juden arbeiten, und assoziiert damit die ihm aus Deutschland bekannten Schimpfwörter, die dort in Verbindung mit dem Begriff Jude verwendet wurden und die ihn „geformt“ haben. Zugleich zeigt sich hier der Richtungswechsel seines Blickes: Während er zu Beginn des Textauszugs zu seinen Eltern nach Deutschland blickt, reflektiert er in der Mitte seine Identifikation mit den Juden an Bord, um am Ende des Textauszugs seinen Blick in die Zukunft in Palästina zu lenken: „Wer werden sehen was nun kommt.“ Nachdem sich bereits bei der Überfahrt der „Prozess der Verdichtung, Umformung, Intensivierung meiner ‚Juedischkeit‘“21 angedeutet hat, berichtet Fritz Wolf in dem 1959 und 1960 verfassten Text Das Zwischenreich von seiner Ankunft im Hafen von Haifa. In der über 800 Seiten starken Autobiografie erzählt Fritz Wolf von seinem Leben während der Zeit von der Emigration aus Deutschland bis in die Gegenwart der Abfassung. Er gibt darin die Erinnerungen an die Anfangsjahre in Nahariyya wieder und reflektiert hier ebenfalls seine persönliche Definition vom Judesein: Ich war angekommen. Es bestand kein Zweifel darueber. Ob ich wollte oder nicht: ich hatte meine Juedischkeit unter Beweis gestellt – durch den bloßen Akt der Rueckkehr in „unser“ Land. Ich hatte keine Ahnung von diesem Land. Ich war, wenn man so will, noch immer ein Deutscher, oder wenigstens ein „Europaeer“, und kein Jude. Ich war noch immer gespeist vom „Centralverein Deutscher Staatsbuerger Juedischen Glaubens“, der das Judentum als Religion, nicht aber die Juden als eine Nation betrachtete. Alles was hier geschrieben wird zum besseren Verstaendnis des Zionismus, war mir fremd – und gerade deshalb muss es gesagt werden, viel weniger um den Leser ueber den Zionismus zu belehren, als vielmehr um ihn darueber zu belehren, welche geistigen Umwandlungsprozesse, welche Neuorientierung ich durchzumachen hatte. Ich hatte mich immer als Deutscher gefuehlt.22

Fritz Wolf stellt hier seine persönliche Lesart dem innerhalb des Zionismus vorherrschenden nationalen Verständnis von „Juedischkeit“ gegenüber. Wenn er die zionistische Losung von der Rückkehr der Juden in „,unser‘ Land“ aufgreift, setzt er das Possessivpronomen „unser“ in Anführungszeichen und distanziert sich somit vom zionistischen Narrativ. Auch merkt er ironisch an, mit dem Akt der Einwanderung nach Palästina sein Judesein bewiesen zu haben. Dabei stellt

21 Wolf, Fritz: Das Zwischenreich. 1959/60. Unveröffentlichtes Manuskript. Museum der deutschsprachigen Juden, Tefen. G.F.0113/1, S. 78. 22 Wolf, Zwischenreich (wie Anm. 21), S. 83.

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er heraus, dass Judesein für ihn stets eine religiöse Zuschreibung gewesen sei. Erst der Zionismus, der ihm in Deutschland fremd gewesen sei, habe ihn mit der nationalen Definition des Judeseins konfrontiert. So demonstriert Fritz Wolf, dass er sich bei der Einwanderung nach Palästina noch immer als „ein Deutscher, oder wenigstens ein ‚Europaeer‘, und kein Jude“ wahrgenommen hatte. Weder bezeichnet er sich als bekennenden Juden noch als überzeugten Zionisten. Nach seiner Einwanderung nach Palästina wird Fritz Wolf mit der Umsetzung der zionistischen Idee innerhalb des Jischuw konfrontiert und damit zugleich zu einem Teil des zionistischen Projekts. Einen weiteren Schwerpunkt stellt daher seine Haltung zum zionistischen Projekt aus der Perspektive des Siedlers dar. In Das Zwischenreich finden sich Bemerkungen über seine persönliche Identifikation mit den nationalen Ereignissen im Jahr der Staatsgründung 1948. Fritz Wolf sagt darin über sich, dass sein „‚Ich‘“ bei der Staatsgründung Israels „schon viel zu alt war, zu viel erlebt hatte, zu sehr geformt war – und den Ereignissen zu fern stand – als dass es wirkliche ‚Bereicherungen‘, wirkliche innere Gestaltwerdung erfahren haette.“23 Retrospektiv ist er als 40-Jähriger bereits in seiner Persönlichkeit zu sehr entwickelt, um sich mit dem Staat Israel identifizieren zu können. Dennoch manifestiert sich in Fritz Wolfs Texten, dass der Grad seiner Identifikation mit dem zionistischen Projekt variiert. Ebenfalls in Das Zwischenreich thematisiert er den Umgang der britischen Mandatsregierung mit illegalen Einwanderern. Bereits in den 1930er-Jahren hatte die britische Mandatsregierung Einwanderungsquoten für Juden festgelegt, an denen sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg festhielt, sodass die illegale Einwanderung vonseiten der Hagana, der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation, in den Jischuw forciert wurde.24 Die Mandatsregierung versuchte, die illegalen Flüchtlingsströme nach Europa umzuleiten und aufgespürte illegale Einwanderer auf Zypern oder Mauritius zu internieren, eine Politik, die innerhalb des Jischuw auf Empörung stieß.25 Fritz Wolf berichtet von der Verhaftung illegaler Einwanderer in Nahariyya, die Palästina nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Seeweg erreicht

23 Wolf, Zwischenreich (wie Anm. 21), S. 573. 24 Vgl. Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel. Orig.-Ausgabe., 5., durchges. Aufl. München 2006 (Beck’sche Reihe 1461), S. 352 und 357; Benz, Wolfgang: Illegale Einwanderung nach Palästina. In: Jüdische Emigration: Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung. 1. Aufl. München 2001 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 19). S. 128–144, hier S. 129 u. 130f. 25 Vgl. Krämer, Geschichte Palästinas (wie Anm. 24), S. 352 u. 357; Benz, Einwanderung (wie Anm. 24), S. 129 u. 130f.



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hatten. Die illegalen Einwanderer wurden von britischen Soldaten gefasst und bis zu ihrem Abtransport im örtlichen Kino bewacht: Wir standen da, eigentlich ganz Nahariya, und warteten bis die Tueren des Kinos sich oeffneten und die Illegalen durch einen Soldatenkordon auf Lastwagen verfrachtet wurden, wie Gefangene, um nicht zu sagen wie Vieh … Sie kamen in einer langen Kette: 100 Mann vielleicht ich weiss es nicht genau zu schaetzen. Die Menschen, wir, warteten und schwiegen und das Schweigen wurde tiefer und tiefer … Dann, ich weiss nicht wer begann, flammte die Hatikwah empor: spontan, grossartig, trotzig – schrie den wegfahrenden Autos nach; war Triumph der Idee ueber die Gewalt, war Aufschrei und Verzweiflung; Hoffnung und Widerstand. Es war eine grossartige unvergessliche Minute … Dann waren die Illegalen fort. Die Menge zerstreute sich. Der Alltag nahm wieder Besitz von uns …26

In Abgrenzung zum Verhalten der britischen Soldaten nimmt sich Fritz Wolf hier als Teil des jüdischen Kollektivs („wir“) wahr, das aus Protest gegen die Verhaftungen die Hymne der zionistischen Bewegung, die Hatikwa, anstimmt. Auch Fritz Wolf verspürt Solidarität mit den illegalen Einwanderern, den ,Displaced Persons‘ aus Europa, die gekommen waren, um nach den Erfahrungen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und des Holocausts ein neues Leben in Palästina zu beginnen, und stimmt in die spätere Nationalhymne Israels mit ein. Ob das in Fritz Wolf entflammte Kollektivgefühl aus Empörung über die Verhaftung der Juden durch das britische Militär entstand, die bei ihm die Assoziation einer Behandlung „wie Vieh“ auslöst, oder aus tatsächlich erfolgter nationaler Identifikation herrührt, sei dahingestellt. Es erscheint in diesem Kontext eher als Ausdruck einer temporären Aufwallung in jener „grossartige[n] unvergessliche[n] Minute“. So endet die Textstelle mit der Bemerkung, dass schließlich jeder, auch er, nachdem die Gefangenen abtransportiert worden waren, wieder seinem Alltag nachging. Es sind demnach singuläre Momente, in denen sich Fritz Wolf als Teil eines Kollektivs wahrnehmen kann. Etwa wenn es, wie hier, darum geht, inhumanes Verhalten der Briten gegenüber den illegalen Einwanderern bloßzustellen.

Schluss Es wurde aufgezeigt, dass sich in Fritz Wolfs autobiografischen Texten in der Auseinandersetzung mit Elementen der zionistischen Kultur eine Selbstdarstellung manifestiert, die von Attributen einer bildungsbürgerlichen, assimilierten

26 Wolf, Zwischenreich (wie Anm. 21), S. 580.

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Herkunft geprägt ist. Fritz Wolf unterstreicht dabei die Verwurzelung in seiner Herkunftskultur und grenzt sich vom Zionismus, wie er ihm in Form von Folklore bei der Überfahrt nach Palästina begegnet, ab. Zugleich zeichnet er die Entwicklung von einem 28-jährigen Emigranten aus Deutschland hin zu einem Mitglied des Jischuw nach. Sein junges Emigranten-Ich grenzt Fritz Wolf stets von der Theorie des Zionismus und ihrer gesellschaftlichen Umsetzung in Palästina ab. Stattdessen betont er die nationale Zugehörigkeit zu Deutschland. Judesein als nationale Kategorie zu interpretieren stellt Fritz Wolf dabei als Novum heraus, sodass er sich, der sich als deutscher Staatsbürger wahrnimmt, nicht mit dem Zionismus als nationalem Projekt zu identifizieren vermag. Die erklärte Zugehörigkeit zum Jischuw basiert nicht auf einer Veränderung von Fritz Wolfs Verhältnis zum Zionismus per se. Vielmehr sind es konkrete Situationen, in denen eine Identifikation mit dem Jischuw in Abgrenzung zu als feindlich wahrgenommenen britischen Soldaten notwendig wird.

Quellen Wolf, Fritz: Israel-Buch für Anfänger. 1951. Unveröffentlichtes Manuskript. Museum der deutschsprachigen Juden, Tefen. G.F.0113/23. Wolf, Fritz: Das Zwischenreich. 1959/60. Unveröffentlichtes Manuskript. Museum der deutschsprachigen Juden, Tefen. G.F.0113/1.

Literatur Benz, Wolfgang: Illegale Einwanderung nach Palästina. In: Jüdische Emigration: Zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung. 1. Aufl. München 2001 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 19). S. 128–144. Gelber, Yoav: Die Geschichtsschreibung des Zionismus: von Apologetik zu Verleugnung. In: Historikerstreit in Israel. Die „neuen Historiker“ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Hrsg. v. Barbara Schäfer. Frankfurt/M. [u. a.] 2000. S. 15–44. Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Essay von Nike Wagner. Neudruck der Erstausgabe von 1896. Augsburg 1986. Joggerst, Karin: Getrennte Welten – getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Anhang: Interviews mit Benny Morris, Ilan Pappé, Tom Segev, Moshe Zimmermann u. Moshe Zuckermann. Münster [u. a.] 2002 (Konfrontation und Kooperation im Vorderen Orient 6).



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Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel. Orig.-Ausgabe., 5., durchges. Aufl. München 2006 (Beck’sche Reihe 1461). Kreppel, Klaus: Wege nach Israel. Gespräche mit deutschsprachigen Einwanderern in Nahariya. Bielefeld 1999. Kreppel, Klaus: Nahariyya – das Dorf der Jeckes. Die Gründung der Mittelstandssiedlung für deutsche Einwanderer in Eretz Israel 1934/35. Unter Mitwirkung von Eli Bar-On (Nahariyya) u. Andreas Meyer (Kfar Vradim). Tefen 2005. Kreppel, Klaus: Nahariyya und die deutsche Einwanderung nach Eretz Israel. Die Geschichte seiner Einwohner von 1935 bis 1941. Unter Mitwirkung von Andreas Meyer (Kfar Vradim) u. Michael Dror-Dreyer (Herzliya). Tefen 2010. Kreppel, Lena: Das Museum der deutschsprachigen Juden im Kontext des israelischen Erinnerungsdiskurses. In: Das Gedächtnis des Exils. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn u. Lutz Winckler. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung. München 2010 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 28). S. 67–84. Kreppel, Lena: Deutsch. Jüdisch. Israelisch. Identitätskonstruktionen in autobiographischen und essayistischen Texten von Erich Bloch, Jenny Cramer und Fritz Wolf. Würzburg 2012 (Epistemata Literaturwissenschaft 750). Zugl.: Dissertation. Berlin 2011. Ram, Uri: From Nation-State to Nation-----State. Nation, History and Identity Struggles in Jewish Israel. In: The Challenge of Post-Zionism. Alternatives to Israeli fundamentalists Politics. Hrsg. v. Ephraim Nimni. London [u. a.] 2003 (Postcolonial Encounter). S. 20–41. Tzahor, Zeev: Der neue Israeli. In: Israel. Hrsg. v. Gisela Dachs. Israel. 1. Aufl. Frankfurt/M. 2008 (Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts). S. 23–33. Witzthum, David: Die Nahariyade. In: Die Jeckes. Hrsg. v. Gisela Dachs. 1. Aufl. Frankfurt/M. 2005 (Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts). S. 79–85. Zimmermann, Moshe: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion. 2. erg. Aufl. Berlin 1997 (AtV; 8501 Aufbau-Thema). Zuckermann, Moshe: Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus. Bonn 2009.

 Teil III: Spiegelungen und Projektionen

Hannah Ahlheim

Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘ Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik Ende des Jahres 1932 veröffentlichte die Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnachweise, die sich um Arbeitsvermittlung und die Entwicklung des Arbeitsmarkts kümmerte,1 eine Broschüre mit dem Titel Unser Recht auf Arbeit. Mit Hilfe dieser Schrift versuchten Juden in Deutschland, sich gegen den wachsenden Antisemitismus zu wehren, der in den letzten Jahren der Weimarer Republik auch auf wirtschaftlichem Gebiet seine Wirkung zeigte.2 Juden seien, hieß es, „zum Objekt einer gewissenlosen und demagogischen Hetze geworden, die alles, was wir in den letzten 50 Jahren erlebt haben, weit übertrifft“3. Vor allem der so genannte ,stille‘ Boykott jüdischer Arbeitnehmer, also die stillschweigende Übereinkunft von Arbeitgebern, keine Juden einzustellen, und der öffentlich propagierte Boykott als ,jüdisch‘ gekennzeichneter Geschäfte, Kanzleien und Praxen hatten in der Wahrnehmung der Betroffenen bedrohliche Ausmaße angenommen.4 Die Verfasser der Broschüre sahen als Ursache für die antisemitischen Übergriffe auf Juden im Wirtschaftsleben in erster Linie die vorurteilsbeladenen Bilder ‚vom Juden‘ und ‚der Wirtschaft‘ und „die Legende vom jüdischen Reichtum und besonderen Wohlstand“. Sie hofften, durch Aufklärung diejenigen, „die nur aus Unkenntnis der Dinge und aus Verkennung der Verhältnisse dieser Legende Glauben schenken, […] davon überzeugen zu können, daß das Märchen vom

1 Zur komplexen Entwicklung der verschiedenen jüdischen Institutionen vgl. u. a. Kipp, Angelika: Die Entstehung und Entwicklung der Arbeits- und Berufsfürsorge der Juden in Deutschland 1919 bis 1933 (Dokumente. Texte. Materialien. Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 31). Berlin 1999. 2 Besonders engagiert im Kampf gegen Antisemitismus im Wirtschaftsleben war der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), vgl. dazu u. a. Ahlheim, Hannah: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011; Paucker, Arnold: Der jüdische Abwehrkampf gegen den Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Hamburg 1968. 3 Unser Recht auf Arbeit. Merkblatt für Mitarbeiter und Vertrauensleute der jüdischen Arbeitsnachweise. Hrsg. v. der Vereinigten Zentrale für jüdische Arbeitsnachweise in Deutschland. Berlin-Charlottenburg 1932. S. 5. 4 Vgl. Ahlheim, Antisemitismus (wie Anm. 2), S. 133–154.

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Reichtum der Juden, wenn es überhaupt jemals zutraf, durch die wirtschaftliche Entwicklung restlos zerstört wurde“5. Die uralten, tradierten Stereotype vom „Reichtum der Juden“, vom ,Wirtschaftsjuden‘, vom ,Shylock‘, gegen die die Verfasser der Broschüre Unser Recht auf Arbeit anschrieben, waren genuiner Bestandteil des ,modernen‘ Antisemitismus6, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Figur des ,parasitären‘ kapitalistischen Juden geprägt hatte.7 In den Jahren der Weimarer Republik hatte das Bild von ,den Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ dann noch einmal neue, aktuelle Züge bekommen. Der „Reichtum der Juden“ war in den Augen der Antisemiten mitnichten ein „Märchen“, im Gegenteil, habe doch nach dem Ersten Weltkrieg mit der „schrankenlosen Geldherrschaft“ auch die „Judenherrschaft“8 endgültig begonnen. Wovon genau also, so fragt das erste Kapitel dieses Aufsatzes, handelte das „Märchen“, welches ‚Judenbild‘ entwarf der wirtschaftliche Antisemitismus, der am Ende der Weimarer Republik „turmhoch“9 angewachsen schien? War es einfach der vermeintliche „Reichtum der Juden“, der den ,Wirtschaftsjuden‘ im antisemitischen Denken kennzeichnete? Was machte dieses „Märchen“ so ungemein attraktiv nicht nur für radikale und bekennende Antisemiten, sondern auch für diejenigen, die es scheinbar aus „Unkenntnis“ anhörten und erzählten? Die Versuchung war und ist groß, die Resistenz und Attraktivität dieses „Märchens“ mit seiner hohen Plausibilität zu erklären: Anders als andere, eindeutig antisemitisch geprägte Bilder vom Jüdischen scheint das Stereotyp vom „Reichtum der Juden“ eben doch ein ,Körnchen Wahrheit‘ zu enthalten. Schon die Zeitgenossen sahen im Antisemitismus „‚weiter nichts als Geschäftsneid und Eifersucht auf jüdische Wirtschaftserfolge“,10 und reale materielle Konflikte und Neid werden bis heute zur Erklärung antisemitischen Denkens und Handelns

5 Unser Recht auf Arbeit (wie Anm. 3), S. 4. 6 Zum Begriff des modernen Antisemitismus vgl. u. a. Rürup, Reinhard: Antisemitismus und moderne Gesellschaft. Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Das „bewegliche Vorurteil“. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Hrsg. v. Christina von Braun [u. a.]. Würzburg 2004. S. 81–100. 7 Dazu Benz, Wolfgang: Das Bild vom mächtigen und reichen Juden. In: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. Hrsg. v. ders. München 2001. S. 13–26; Raphael, Freddy: Der Wucherer. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps [u. a.]. München/Zürich 1995. S. 103–118; Haibl, Michaela: Vom „Ostjuden“ zum Bankier. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997). S. 44–91. 8 Jung, Rudolf: Kapitalismus und Judentum. In: Die Weltfront. Eine Sammlung von Aufsätzen antisemitischer Führer aller Völker. Hrsg. v. Hans Krebs. Aussig 1926. S. 23–27, hier S. 24. 9 Goldmann, Felix: Das Wesen des Antisemitismus. Berlin 1920. S. 62. 10 Bernstein, Fritz: Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses. Neudruck der ersten Auflage von 1926. Berlin 1980. S. 182.



Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘ 

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herangezogen. So verweist etwa Götz Aly in seiner neuesten Studie darauf, dass der soziale Neid der „langsamen“ und rückständigen Deutschen auf die „wirtschaftlich und geistig regen Juden“11 die Ursache des antisemitischen Hasses gewesen sei. Um Antisemitismus zu erklären, müsse man, so Aly, „auch über die Gewandtheit und den Bildungswillen, die Geistesgegenwart und den schnellen sozialen Aufstieg so auffällig vieler Juden sprechen“12. Waren Juden also, wie es auch das antisemitische Vorurteil nahelegte, dem Kapitalismus tatsächlich ,näher‘ als Nichtjuden?13 An welchen Punkten konnte und musste der Verweis auf diese Nähe oder zumindest auf eine spezifisch jüdische Wirtschaftsmentalität als antisemitisches Stereotyp erkannt werden, und wie sollten Juden darauf reagieren? In den letzten Jahren der Weimarer Republik, das zeigt das zweite Kapitel dieses Textes, wurden die Fragen nach der Präsenz und Wirkung des antisemitischen Vorurteils und einer möglichen Gegenwehr aus verschiedenen Gründen akut. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch die jüdische Minderheit in Deutschland schwer getroffen, die Angst vor Pauperisierung wuchs, man dachte über „Berufsumschichtung“ und neue Ausbildungswege nach, hinzu kam die langsam wachsende Erkenntnis, dass man Juden aus der Wirtschaft ausschloss, „weil sie Juden sind“.14 Verschiedene jüdische Organisationen schlossen sich daher zusammen und versuchten, die „wirtschaftliche Lage der deutschen Juden“15 zu analysie-

11 Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. Frankfurt/M. 2011. S. 282. 12 Aly, Warum die Deutschen (wie Anm. 11), S. 20. 13 Vgl. [u. a.] Berg, Nicolas (Hrsg.): Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Bd. VI). Leipzig 2011; Reuveni, Gideon: Juden und Geld. Mythos und Historiographie. In: Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen, neue Ansätze. Hrsg. v. Eli Bar-Chen [u. a.]. München 2003. S. 47–58. Zu den Schwierigkeiten im Umgang mit Stereotypen siehe auch Mommsen, Hans: Zur Frage des Einflusses deutscher Juden auf die deutsche Wirtschaft in der Zeit der Weimarer Republik. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte (Bd. II). Stuttgart 1966. S. 348–369; Treue, Wilhelm: Zur Frage der wirtschaftlichen Motive im deutschen Antisemitismus. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Hrsg. v. Werner E. Mosse. Tübingen 1971. S. 387–408. Wie präsent das Stereotyp vom „jüdischen Gewinnler“ ist, zeigt z. B. die Debatte um Vivien Kleins Biografie von Heinz Berggruen, die Michael Naumann im Berliner Tagesspiegel als „denunziatorisch“ bezeichnet hat (Naumann, Michael: Ein denunziatorisches Werk. In: Tagesspiegel, 14. 11. 2011, http://www.tagesspiegel.de/kultur/ein-denunziatorischeswerk/5832078.html, 4. 12. 2011). 14 Lestschinsky, Jakob: Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums. Aufstieg, Wandlung, Krise, Ausblick (Schriften der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge, Bd. 7). Berlin 1932. S. 150. 15 „Beiträge zur wirtschaftlichen Lage der deutschen Juden“ lautete der Titel einer Artikelserie

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ren. An ihren Diskussionen wird deutlich, wie nahe sich jüdische Selbstbilder und antisemitische Fremdbilder kommen konnten, und welche Gefahren es barg, nach dem ,Körnchen Wahrheit‘ zu suchen – selbst wenn man es in der Absicht tat, das „Märchen“ zu widerlegen.

Antisemitische Bilder vom ,raffenden Juden‘ Die Vorstellungen ,vom Juden‘ und ,der Wirtschaft‘, die zu den wohl ältesten antijüdischen Stereotypen gehören, hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neue Formen angenommen. Die seit der Antike und durch das Mittelalter hindurch tradierten Bilder vom ,Wucherer‘ und ,Schacherer‘ waren dabei nicht einfach ersetzt, sondern ergänzt und verändert worden: Der kaftantragende ,Wucherjude‘, der ,Hofjude‘ und der ,listige‘ Bauchladenverkäufer standen widerspruchslos neben dem reichen, gut gekleideten ,Börsenjuden‘ und dem internationalen jüdischen Bankier. Die jüdischen Figuren, die antisemitische Schriften und Karikaturen vorführten, waren lächerlich und gefährlich zugleich. Die dargestellten Juden bedrohten aus Sicht der Antisemiten nicht zuletzt durch ihre Geldgier, ihr durchtriebenes Schachern, ihre netzartigen Handelsverbindungen und ihre internationale Finanzmacht das gesamte deutsche Volk. Als ein bekannter Vertreter antisemitischen Denkens hatte Otto Glagau bereits 1879 die „Judenfrage“ zur „sozialen Frage“ erklärt,16 er zeichnete in zahlreichen Artikeln und Schriften das Bild der jüdischen „Börsen- und Gründungsschwindler“, die schachernd und wuchernd das produktive deutsche Volk „aussaugten“ und unterjochten.17 Eindeutig wurde ,der Jude‘ in den Fantasien der Antisemiten als fremd kategorisiert, die Nation und ihre „deutsche Arbeit“18 wurden gegen die „unproduktiven“ Juden konstruiert.19 Eine neue Qualität erhielten die antisemitischen Bilder vom ,Wirt-

in der Zeitschrift Der Morgen. 16 Glagau, Otto: Des Reiches Noth und der neue Culturkampf. Osnabrück 1879. S. 282. Vgl. auch Maier, Hans (Hrsg.): Die Antisemiten. (Wirtschaftliche Vereinigung). Deutsches Parteiwesen. Heft 2. 2. Aufl. München 1911. S. 1. 17 Beispielhaft die Sammlung von Aufsätzen aus der Gartenlaube aus den Jahren 1874/75, zusammengefasst in Glagau, Otto: Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel aus der Gartenlaube. Leipzig 1876. 18 Vgl. dazu u. a. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Deutsche Arbeit. Stuttgart 1861; Schatz, Holger [u. a.]: Freiheit und Wahn deutscher Arbeit. Zur historischen Aktualität einer folgenreichen antisemitischen Projektion. Hamburg/Münster 2001. 19 Vgl. Alter, Peter [u. a.] (Hrsg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. München 1999.



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schaftsjuden‘ in den letzten Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts auch durch die Verbindung mit den rassistischen und sozialdarwinistischen Lehren, die die als jüdisch gestempelten Eigenschaften zu angeborenen und damit „unverbesserlichen“ Charaktereigenschaften erklärten. In den Jahren der Weimarer Republik wurden die Bilder vom ,Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ im antisemitischen Weltbild dann noch einmal aktualisiert und an die sozialen, ökonomischen und politischen Konflikte der Zeit angebunden. Die „Macht des Finanzkapitals“, so der Nationalsozialist Hans Buchner 1928, sei seit dem Ersten Weltkrieg gewachsen,20 das „arbeits- und mühelose Einkommen“21, wie es etwa das NSDAP-Parteiprogramm nannte, war nach Auffassung der Antisemiten in den Jahren der Konzentrationsbewegung in zahlreichen Wirtschaftssektoren auf dem Vormarsch.22 Die Politik schien durch die Reparationsverhandlungen sowie den Dawes- und Young-Plan direkter denn je von den Finanzmärkten abhängig. In den Augen der Antisemiten belegte zudem der weltweite Börsencrash von 1929, wie unberechenbar und vernichtend die kapitalistische, für die Antisemiten in ihren Grundzügen ,jüdische‘ Wirtschaftsordnung für jeden Einzelnen sein konnte. All diese Veränderungen, Übel und Ängste, die mit neuen wirtschaftlichen Strukturen verbunden waren, hatten ihre Ursache angeblich im ,Juden‘ und seinem „beweglichen raffenden Geist“, der dem „ursprünglichen schaffenden und schöpferischen Geist“23 der Deutschen gegenüberstehe. Die „volkszerstörende Wirtschaft“ der Vergangenheit, so brachte Bernhard Köhler 1936 das antisemitische Verständnis ,vom Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ auf den Punkt, sei nicht falsche Theorie wie Liberalismus oder Marxismus gewesen, „kein Ismus links oder Ismus rechts, sondern kurz und bündig: Der Jude“.24

20 Buchner, Hans: Die goldene Internationale. Von Finanzkapital, Tributsystem und seinen Trägern (Nationalsozialistische Bibliothek, Bd. 3). München 1928. S. 38. 21 Feder, Gottfried: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken (Nationalsozialistische Bibliothek, Bd. 1). 2. Aufl. München 1928. Punkt 11. S. 7. 22 Zur wirtschaftlichen Entwicklung der Weimarer Republik vgl. u. a. James, Harold: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936. Darmstadt 1988; auch Peukert, Detlev: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt/M. 1987. 23 Feder, Programm (wie Anm. 21), S. 26. Feders Unterscheidung in „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital sei, so ein Bericht des Berliner Polizeipräsidenten von 1930, „Gemeingut aller Nationalsozialisten“ (Zusammenstellung von Material über wirtschaftsgefährdende Tendenzen der N.S.D.A.P. sowie ihre Stellung zu den Grundbegriffen des Privateigentums, 5. September 1930 (Polizeipräsident in Berlin), Bundesarchiv Berlin (BArch). R 1501. 126 123. Bl. 38ff.). 24 Mitteilungen der Kommission für Wirtschaftspolitik der NSDAP 1 (1936). Heft 6. S. 6. Hauptstaatsarchiv Nürnberg (StaNu) NS-Mischbestand (Rep. 503). Sammlung Streicher. Nr. 143.

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Diesen Vorgang der Personalisierung, der abstrakte Zusammenhänge und Vorstellungen, nicht zuordenbare Erfahrungen und Empfindungen in einer konkreten Figur zusammenbringt und damit fassbar zu machen scheint, beschreibt Theodor W. Adorno als die „‚Verdinglichung‘ einer gesellschaftlichen Realität“.25 Die Umwälzung der Gesellschaft, die alle Lebensbereiche erfassende und undurchschaubare, entpersonalisierte Macht wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen konnte als von einem benennbaren Akteur gewolltes Übel, als Aggression, als gezielter Angriff beschrieben und so in gewissem Sinne verständlich gemacht werden. In einem weiteren, entscheidenden Schritt wurde die Figur ,des Juden‘ durch die Rückbindung an tatsächlich existierende Personen noch einmal konkretisiert. Antisemitischen Autoren und Rednern wie Hans Buchner, Johann von Leers oder auch Gottfried Feder ging es darum, die Verschwörungstheorien direkt auf die Wirtschaftswelt der Weimarer Republik zu übertragen und anhand bestimmter ökonomischer Entwicklungen, einzelner Personen und ihrer Geschäfte (scheinbar) zu belegen. Bekannte Protagonisten in den Fantasien der Antisemiten waren im Wirtschaftsleben neben den Bankiersfamilien, etwa den Rothschilds und Warburgs,26 sowie einzelnen Persönlichkeiten wie Oscar Wassermann oder Jacob Goldschmidt27 zum Beispiel Julius Barmat, Iwan Kutisker und die Brüder Sklarek, die in auch jenseits radikal antisemitischer Kreise viel beachtete Korruptionsskandale verwickelt waren.28 Sie waren für die Antisemiten der lebende Beweis für die „kommunistischen Kapitalistenknechte“29 und „jüdischen Bonzen“ zugleich, die auf Kosten der „schaffenden“ Deutschen lebten. Sie hätten, so hieß es in zahlreichen Hetzschriften, enge Verbindungen zur Sozialdemokratie und, wenn man nur richtig suche, auch zur KPD, sie fräßen Kaviar und Champagner, kleideten zwielichtige Damen in Pelze und Seide, sie führen protzige Autos und wohnten

25 Adorno, Theodor W. [u. a.]: Studien zum autoritären Charakter (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1182). 3. Aufl. Frankfurt/M. 1999 [engl. 1950]. S. 191. 26 Vgl. z. B. Buchner, Hans: Dämonen der Wirtschaft. Gestalten und dunkle Gewalten aus dem Leben unserer Tage. München 1928; Leers, Johann von: Juden sehen Dich an. BerlinSchöneberg 1933. 27 Vgl. z. B. Rede Gottfried Feders am 13. November 1926. Verhandlungen des Reichstags. III. Wahlperiode. Stenographische Berichte. Bd. 391. S. 8112–8117, hier S. 8115. 28 Vgl. u. a. Malinowski, Stefan: Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996). S. 46–65; Ludwig, Cordula: Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924–1934. Frankfurt/M. [u. a.] 1998. 29 So Schumann, Arthur: Die Kommunistischen Kapitalistenknechte. München 1932.



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in prunkvollen Villen. Dabei seien die „Betrugs“- und „Geldjuden“30 natürlich persönlich unangenehme „Parvenus“ mit „ostjüdischen“ Wurzeln.31 Ähnliche Züge wurden auch den „Warenhausjuden“ zugeschrieben; sie kämen „von weiter östlich her“, von dort, „wo der Kaftan und die Hängelocke bis auf diesen Tag zu unentbehrlichen Requisiten der Volkszugehörigkeit zählen“32, gleichzeitig aber zögen sie mit den Warenhäusern das „rechte Kind des Kapitalismus“33 auf, das in mondänem Glanz in allen westlichen Großstädten erstrahle. Der auf dem Land umherziehende „Wucherjude“, der schachernde „Ostjude“, reiche Bankiers und innovative Geschäftsleute, sie alle waren ‚der Jude‘, und sie zierten Postkarten, tauchten in Witzblättern, auf Wahlplakaten und in unzählbaren Flug- und Hetzschriften auf. Diese Beispiele bestätigen zunächst, dass der ,reiche‘ und ,unproduktive‘, ,raffende Jude‘ eine weitverbreitete und wirkungsmächtige antisemitische Fantasie war, in der immer auch eine gewisse Bewunderung mitschwang. Die Aggression gegen den ,Wirtschaftsjuden‘ wurde sicherlich gespeist aus Ungerechtigkeitsempfinden und sozialem Neid. Gerade die Eigenschaften, mit denen Antisemiten aller Couleur den ,Wirtschaftsjuden‘ ausstatteten, die Fantasien, die sich um ,den Juden‘ und ,die Wirtschaft‘ rankten, zeigen aber auch, dass es mitnichten um die Auseinandersetzung mit realen Personen und ihrer gesellschaftlichen oder ökonomischen Position ging: Im antisemitischen Denken wurden konkrete Personen zu abstrakten Stereotypen, die alle denkbaren, noch so widersprüchlichen Eigenschaften verkörperten. In der stereotypisierten Figur ,des Juden‘ erhielten abstrakte und schwer fassbare ökonomische Strukturen, die die Situation des Einzelnen in der Weimarer Gesellschaft spürbar und real beeinflussten, scheinbar eine konkrete Form, einen Namen und ein Gesicht. Am ,Juden‘ konnten so die durch die Gesellschaft geprägten (inneren) Konflikte des Einzelnen und Fantasien von Macht und Unterdrückung, Ausschweifung und Grenzübertretung ebenso gedacht und verhandelt werden wie Gefühle von Angst, Abhängigkeit und Unsicherheit. Durch dieses für vorurteilsvolles Denken so typische Zusammenspiel von Konkretisierung und Abstraktion erhielt das antisemitische „Märchen“, erhielt das Bild vom ,Juden‘ sein zerstörerisches Potential.

30 So überschreibt Johann von Leers die „Kapitel“ in seinem Machwerk „Juden sehen Dich an“ (wie Anm. 26). 31 Zahlreiche Beispiele u. a. bei Haibl, Vom „Ostjuden“ zum Bankier (wie Anm. 7). 32 Buchner, Hans: Warenhauspolitik und Nationalsozialismus (Nationalsozialistische Bibliothek, Bd. 13). 3. Aufl. München 1931. S. 3. 33 Sombart, Werner: Das Warenhaus – ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters. In: Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis der Entwicklung des Warenhauses in Deutschland. Berlin 1928. S. 77–88, hier S. 87f.

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Die „wirtschaftliche Lage der deutschen Juden“: Jüdische Selbstbilder Das „Märchen vom Reichtum der Juden“ hatte also während der Jahre der Weimarer Republik neue Züge und neue Kraft erhalten, und jüdische Organisationen versuchten seit Mitte der 1920er-Jahre verstärkt, sich gegen antisemitische Verleumdungen auch im Bereich des Wirtschaftslebens zu wehren. Sie wollten diesem „Märchen“ durch Aufklärung begegnen und den antisemitischen Vorurteilen Tatsachen entgegenstellen. So erschien 1927 eine Artikelreihe in der Zeitschrift Der Morgen, die sich mit der „wirtschaftlichen Lage der deutschen Juden“ auseinandersetzte. Die Aufsätze, in denen sich verschiedene Experten jeweils mit einer Branche beschäftigten, waren durchaus als „Aufklärungsschriften“ zur „Verteidigung“ gegen antisemitische Angriffe gedacht.34 Nur eine systematische Behandlung des Stoffes, so formulierte es der im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) aktive Ludwig Holländer in einem Brief an den Herausgeber des Morgen, Julius Goldstein, werde „die Irrlehre von einem Gegensatz zwischen dem (christlichen) schaffenden und dem (jüdischen) raffenden Kapital zu widerlegen helfen; sie wird ferner die durchaus mittelstandsfeindlichen (und damit die Mehrzahl der Juden schädigenden) Entwicklungstendenzen der modernen Wirtschaft aufzeigen.“35 Doch die Artikelserie wurde nach den ersten erschienenen Aufsätzen wieder eingestellt – schnell war deutlich geworden, wie unlösbar und auf welch komplizierte Weise die Versuche der Selbstdarstellung von Juden mit antisemitischen Argumentationen verknüpft waren. Anlass für die Einstellung der Serie war die Kritik des ebenfalls im C.V. engagierten Bankiers Paul Homburger an einem Artikel von Hans Priester zur Teilnahme der deutschen Juden am Geldmarkt. Um dem Vorurteil vom reichen jüdischen Bankier entgegenzuwirken, versuchte Priester, den materiellen und personellen Anteil der Juden am Geldmarkt zu messen; er ,zählte‘ also Juden. Da die öffentlichen Institute in der Hand des Reiches waren, argumentierte er, könne hier grundsätzlich nicht von einem jüdischen Einfluss ausgegangen werden. Auf den unteren Ebenen gebe es ohnehin nur wenige jüdische Angestellte, und selbst wenn man sich die Direktoren der einzelnen Banken anschaue, werde man „mit Erstaunen feststellen, daß der Grad der Verjudung

34 Holländer an Goldstein. 11. November 1927. Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) HM2/8767. Bl. 122 (Sonderarchiv Moskau 721–1–2518). 35 Holländer. 11. November 1927 (wie Anm. 34), Bl. 123.



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offensichtlich gering ist“,36 so Priester mit einem Begriff aus dem Vokabular der Antisemiten. Abgesehen davon, dass Priesters Zahlen offensichtlich so falsch oder doch zumindest lückenhaft waren, dass der Völkische Beobachter diese Möglichkeit nutzte, die angebliche Falschheit der Juden zu ,belegen‘,37 wirkt sein Versuch, den Einfluss von Juden auszuzählen, geradezu hilflos. Er nahm die Argumentation der Antisemiten ernst, ohne den Sinn der ja auch von den Antisemiten fleißig betriebenen Suche nach dem ,Jüdischsein‘ einzelner Personen in Frage zu stellen. „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren“, so schrieb dann auch Homburger an Goldstein, „dass diese Artikel viel zu sehr auf Verteidigung eingestellt sind, vor allem auf den Nachweis, dass von einem überragenden Einfluss der Juden in den einzelnen Wirtschaftszweigen keine Rede sein könne“.38 Wenn in dieser Weise, wandte Homburger ein, „die prozentuale Beteiligung der Juden in einzelnen Wirtschaftsgruppen festgestellt wird, ohne oder ohne genügend auf die positiven Leistungen der Juden in diesen Gruppen hinzuweisen, so verdirbt eigentlich jeder Jude, der in irgendeinem Beruf etwas Positives leistet, die Statistik.“39 Homburger wies also darauf hin, auf welche Schwierigkeiten ein Abgleich des „Märchens“ mit der Realität traf, denn die Realität – in Form der Anzahl von Juden – konnte ganz unterschiedlich bewertet und genutzt werden. Schon in den vorangegangenen Artikeln im Morgen hatten sich solche Schwierigkeiten angedeutet. Die Frage, wie man denn eigentlich mit den positiven Leistungen von Juden in ihren Berufen umgehen sollte, ohne die Statistik „zu verderben“, stellte sich allen Autoren. Um das antisemitische Vorurteil vom überragenden Einfluss der Juden in der Wirtschaft zu widerlegen, zeigte etwa Gerhard Buer anhand von mühsam zusammengetragenen Daten zu einzelnen Unternehmen, „daß auch in der Metallindustrie der jüdische Einfluß keineswegs dominierend ist“.40 Doch das konnte und wollte Buer dann so doch nicht stehen lassen; es lasse sich durchaus auch zeigen, ergänzte er, dass „jüdische Männer in dieser Industrie eine bedeutende und zum Teil vorbildliche Rolle zu spielen vermochten“.41 Dieser Halbsatz belegt, in welchem Konflikt sich die Autoren der Reihe befanden: Ging es um

36 Priester, Hans: Die Teilnahme der deutschen Juden am Geldmarkt. In: Der Morgen (1927/28). Nr. 3. S. 323–330, hier S. 329. 37 Vgl. Homburger an Goldstein. 23. August 1927. CAHJP HM2/8767. Bl. 136f. (Sonderarchiv Moskau 721–1–2518). 38 Homburger. 23. August 1927 (wie Anm. 37), Bl. 136. 39 Homburger. 23. August 1927. Bl. 136. 40 Buer, Gerhardt: Die Beteiligung der Juden an der deutschen Eisen- und Metallwirtschaft. In: Der Morgen (1927/28). Nr. 1. S. 86–98, hier S. 98. 41 Buer, Beteiligung (wie Anm. 40), S. 98.

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Verteidigung durch die Betonung der Unwichtigkeit der Juden oder um Verteidigung durch die Betonung der erworbenen Verdienste? Und wie sollte man mit den ,scheinbaren Belegen‘ antisemitischer Stereotype umgehen? Während Buer jedoch wenigstens feststellen konnte, das „Wort vom jüdischen Handelsgeist“ habe, „historisch gesehen, nicht viel mehr zu besagen, als die Volksweisheit, daß der Teufel in der Not Fliegen frißt“,42 konnte Ernst Landsberg in seinem Artikel Die Juden in der Textilindustrie nicht ganz so eindeutig Position beziehen. Denn, das stellte Landsberg fest, die Textilindustrie bzw. der Textilhandel waren tatsächlich zu großen Teilen in jüdischer Hand – er lieferte also einen scheinbaren Beleg für die antisemitische Argumentation. Landsberg wies daher explizit darauf hin, dass die wirtschaftliche Situation der Juden in Westeuropa historisch gewachsen und kaum „mit der Befähigung der Juden zum Handel an sich oder mit ihrer Intellektualität“43 zu begründen sei. Umso erstaunlicher lesen sich seine Überlegungen am Ende des Artikels: Ein möglicherweise doch erkennbarer besonderer Erfolg jüdischer Textilhändler könne darauf zurückzuführen sein, „daß es heute eine öffentliche Meinung und eine allgemeine Intellektualität gibt, die stärker als je auf das Praktisch-Rationale in Verbindung mit dem Ästhetisch-Wertvollen gerichtet und somit gerade der beweglichen Denkungsart des jüdischen Händlers besonders adäquat sind.“44 Gab es also doch einen ,jüdischen Typus‘, der besonders ,beweglich‘ war und damit besonders gut in die ,Zeit‘ passte? Die Frage, ob und inwiefern sich Juden in ihrer sozialen und ökonomischen Struktur, aber auch in ihrer Einstellung zu wirtschaftlichen Fragen von Nichtjuden unterschieden, stellte sich den jüdischen Organisationen kurze Zeit, nachdem die Artikelserie im Morgen erschienen war, auch aus einem anderen Grund: Die Zahl der Wohlfahrtsempfänger unter den Juden war, so die Einschätzung, schon 1925 etwa doppelt so hoch gewesen wie in der nichtjüdischen Bevölkerung, und die Weltwirtschaftskrise schien die Veränderung sozialer Strukturen innerhalb der jüdischen Minderheit beschleunigt zu haben.45 Das Bestehen einer spezifisch „jüdischen Wirtschaftsnot“ werde nun nicht mehr geleugnet, stellte der in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland aktive Alfred Berger auf dem Verbandstag des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden 1931

42 Buer, Beteiligung (wie Anm. 40), S. 88. 43 Landsberg, Ernst: Die Juden in der Textilindustrie. In: Der Morgen (1927/28). Nr. 1. S. 99–113, hier S. 99. 44 Landsberg, Textilindustrie (wie Anm. 43), S. 100. 45 Zum Schlagwort der „Proletarisierung“ vgl. u. a. Lestschinsky, Schicksal (wie Anm. 14), S. 5f.; Niewyk, Donald L.: The Impact of Inflation and Depression on the German Jews. In: Leo Baeck Institute Year Book 28 (1983). S. 19–36, hier S. 24.



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fest.46 Die Angst vor einer „Proletarisierung“ der deutschen Juden griff um sich, und die Frage, ob und inwiefern sich die Situation der Juden in der Krise von der der nichtjüdischen Mehrheit unterschied und wie man mit einem solchen möglichen Unterschied umgehen sollte, wurde dadurch auf ganz andere Weise akut.47 Allerdings erwies es sich trotz intensiver Bemühungen weiterhin als nahezu unmöglich, ein genaues, statistisch abgesichertes Bild von der „wirtschaftlichen Lage der deutschen Juden“ zu zeichnen. Der unter anderem in der jüdischen Arbeitsfürsorge aktive Zionist Salomon Adler-Rudel hatte bereits 1930 festgestellt, dass jede Untersuchung zur wirtschaftlichen Situation vorerst „Stückwerk“ bleiben müsse.48 Alle, „die wir über dieses Problem reden“, tasteten „bei dieser schwierigen Frage im Dunkeln“,49 gestand auch Alfred Berger ein. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Zahlen, so der Sozialwissenschaftler Alfred Marcus in seiner Studie über Die wirtschaftliche Krise des deutschen Juden, sei eine genaue Bestandsaufnahme der Stellung der Juden in der Wirtschaft nur schwer zu leisten. Außerdem gehe aus der Tatsache, dass der jüdische Anteil so schwer zu definieren und zu messen sei, „die weitere und nicht weniger schwerwiegende hervor, daß bei einer Abschätzung der Stellung, welche die Juden innerhalb der deutschen Wirtschaft einnehmen, der Willkür ein sehr breiter Spielraum überlassen bleibt“50. Marcus bestätigte so noch einmal die Vorbehalte, die bereits gegen die Artikelserie im Morgen vorgebracht worden waren. Einigen konnten sich die Experten auf der Basis der spärlichen vorhandenen Daten zumindest darauf, dass Juden überproportional in den Sektoren Handel und Verkehr und in den freien Berufen vertreten waren, auch wenn sich die Berufs- und Einkommensstruktur von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft einander anzunähern schien. Diese spezifische, mittelständische Berufsstruktur, so nahmen die Zeitgenossen an, machte die jüdische Minderheit besonders krisenanfällig.51 Hinzu kam, dass die sich andeutende Abwanderung aus dem Handel

46 Vgl. Stenographischer Bericht des Verbandstages des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden. In: Verwaltungsblatt des Preußischen Landesverbandes Jüdischer Gemeinden 9 (1931), Heft 5, S. 1–52, S. 31. 47 Jakob Lestschinsky sah die „Proletarisierung“ als Teil der Anpassung an die nichtjüdische Gesellschaft. Vgl. Lestschinsky, Schicksal, (wie Anm.14) S. 13 u. S. 118. 48 Adler-Rudel, Salomon: Wirtschaftssituation der deutschen Juden und Berufsprobleme der Jugend. In: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 1 (1930). S. 161–168, hier S. 161. 49 Stenographischer Bericht (wie Anm. 46). 50 Marcus, Alfred: Die wirtschaftliche Krise des deutschen Juden. Eine soziologische Untersuchung. Berlin 1931. S. 10. 51 Vgl. Bennathan, Esra: Die demographische und wirtschaftliche Struktur der Juden. In: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Hrsg. v.

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die Juden nicht etwa verstärkt in Landwirtschaft, Industrie und Handwerk zu führen schien, sondern in den Öffentlichen Dienst und in den Sektor der privaten Dienstleistungen.52 Die berufliche Entwicklung des deutschen Judentums, so Marcus, habe in den letzten 100 Jahren „in geradezu imponierender Eindeutigkeit zum geistigen, akademischen oder auch künstlerischen Beruf, zur – angeblich – höchsten Stufe des beruflichen Lebens und Erlebens“53 geführt. Gerade vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses erschien eine „Proletarisierung“ bedrohlich. Die Juden sollten daher, das forderte der Liberale Kurt Zielenziger in seiner Studie über „jüdische Wirtschaftsführer“, ihre „typischen“ Berufe, das ihnen eigene Wirtschaftsdenken aufgeben. Nur durch eine „innere Umstellung“ könnten Juden ihrer Rolle als „Wirtschaftsführer“, die es zu halten gelte, auch weiterhin gerecht werden.54 Eine ganz andere Schlussfolgerung zog Alfred Marcus: Die deutschen Juden müssten sich damit abfinden, so seine Argumentation, dass auch sie in Zukunft mit den Händen arbeiten müssten und zum Proletariat gehören würden, sie müssten sich „der Praxis des gesamten deutschen Volkes“55 anpassen. Die Experten nahmen also an, dass eine Veränderung der Berufs- und Sozialstruktur eine Folge der Krise sein würde und sein müsste. Doch es ging nicht nur um eine veränderte soziale Position, mit der man sich zu arrangieren hatte, es ging auch um einen Wandel der „inneren Einstellung“, des Selbstverständnisses. Denn die deutschen Juden seien, so der auch in der innerjüdischen Debatte von allen Gruppierungen oft verwendete Begriff, zu „unproduktiv“. Auf einer Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden,56 in der es um die wachsende Zahl arbeitsloser jüdischer Angestellter ging, berichtete etwa der C.V.ler Holländer 1932 von einer Aussprache mit jüdischen Arbeitgebern, die anscheinend selbst kaum Juden einstellten. Es habe sich ergeben, fasst das Protokoll Holländers Referat zusammen, „dass es sich meistens nicht so sehr um ein Nicht-Einstellen-Können als um ein Nicht-Einstellen-

Werner E. Mosse. Ein Sammelband. 2. rev. und erw. Ausg. Tübingen 1966. S. 87–131, hier S. 89 u. S. 113ff. Vgl. auch Niewyk, Impact (wie Anm. 45), S.21. 52 Vgl. Kahn, Herbert: Die wirtschaftliche und soziale Schichtung der Juden in Deutschland. Wandlungen seit Bestehen des Deutschen Reiches. In: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 6 (1936). Heft 2. S. 51–63, hier S. 59. 53 Marcus, Alfred: Die Berufswahl der Jugend. In: Der Morgen (1932/33). Nr. 1. S. 31–41, hier S. 32. 54 Zielenziger, Kurt: Juden in der deutschen Wirtschaft. Berlin 1930. S. 280. 55 Marcus, Krise (wie Anm. 50), S.149. 56 Vgl. Birnbaum, Max P.: Staat und Synagoge. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden (1918–1938). Tübingen 1981. S. 192–199.



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Wollen handle. Die jüdischen Angestellten hätten zuwenig Sitzfleisch. Für eine langwierige Fachausbildung und für eine gleichmässige Tätigkeit ohne grosse Fortkommensmöglichkeiten eignen sie sich nicht.“57 Auch Alfred Hirschberg griff diese Darstellung jüdischer ,Eigenarten‘ auf und sah als Ursache für die spezifische Berufsstruktur von Juden in Deutschland „die Ungeeignetheit des Juden für gewisse Berufe und Branchen“.58 Viele Zeitgenossen sahen daher eine „Produktivierung“59 der deutschen Juden als entscheidenden Schritt, wenn man eine sichere Position im Wirtschaftsleben halten wollte. Selbstverständlich standen hinter dieser Forderung sehr unterschiedliche Selbstbilder und Ziele. Während es dem C.V. und dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten etwa darum ging, die Position der jüdischen Minderheit in Deutschland abzusichern, antisemitischen Vorurteilen zu begegnen und den Beitrag von Juden zum Funktionieren der deutschen Wirtschaft zu würdigen, stellte für die Zionisten die Hinwendung zum Ackerbau und zum Handwerk eine Grundvoraussetzung für den Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina dar. Der Weg nach Palästina war für sie auch die einzige Möglichkeit, die jüdische Wirtschaftsstruktur zu „normalisieren“.60 In anderen Ländern sei die „Produktivierung und Umschichtung“ der Juden „in großem Stil mißlungen“, so Sucher B. Weinryb im Jahr 1936.61 Allerdings war zu dem Zeitpunkt, als Weinryb sein Plädoyer für eine „Berufsumschichtung“ verfasste, schon abzusehen, dass Juden in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft keinen Platz mehr haben würden. So ist die gesamte Debatte um die spezifische Sozialstruktur der deutschen Juden und ihre Bedeutung für die „Wirtschaftsnot“ am Ende der Weimarer Republik nicht losgelöst von der Entwicklung des Antisemitismus zu lesen: Der ökonomische Druck auf Juden wuchs auch, und das nahmen die Zeitgenossen sehr deutlich wahr, weil antisemitische Ressentiments ihnen viele Wege versperrten. Es war letztlich kaum auszumachen, ob die diagnostizierte Krise denn nun tatsächlich auf wie auch immer begründbare jüdische ,Eigenschaften‘ oder eben doch auf den wach-

57 Referat Ludwig Holländer. Protokoll der Sitzung vom 28. August 1932. CAHJP HM2/8768. Bl. 755f. (Sonderarchiv Moskau 721–1–2541). 58 Sitzung Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaftsfragen. Mai 1932. Verhandlung über die Bekämpfung des Wirtschaftsboykotts. CAHJP HM2/8768. Bl. 880 (Sonderarchiv Moskau 721– 1–2541). 59 Vgl. (u. a.) Penslar, Derek J.: Shylock’s Children. Economics and Jewish Identity in Modern Europe. Berkeley 2001, Kapitel 5, S. 205–216; Kapitel 6. 60 Vgl. Weinryb, Sucher B.: Der Kampf um die Berufsumschichtung. Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Juden in Deutschland (Jüdische Lesehefte, Bd. 13). Berlin 1936. 61 Weinryb, Berufsumschichtung (wie Anm. 60), S. 38.

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senden Antisemitismus zurückzuführen war. Neben einem „freiwilligen Fernhalten“ der Juden selbst von bestimmten Berufen und Positionen, das betonte Zielenziger denn auch bereits 1930, „erfolgt eine bewußte Ausschließung der Juden. Durch die Ausgestaltung der Riesenkonzerne vollzieht sich eine Verdrängung der Juden, die ganz im Stillen, aber oft sehr überlegt geschieht.“62 Die Versuche, die „wirtschaftliche Lage der deutschen Juden“ zu analysieren und ein eigenes Bild von ,den Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ zu zeichnen, waren daher, wie Holländer in der Diskussion um die Artikelserie im Morgen formuliert hatte, immer „auf Verteidigung“ eingestellt, und jede Selbstbeschreibung musste sich auch gegen die antisemitischen Stereotype abgrenzen. Umso frappierender ist es, wie wirkungsmächtig die tradierten Vorstellungen ,vom Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ auch für das jüdische Selbstbild in den Weimarer Jahren waren, und wie nahe sich das antisemitische Fremdbild vom ,raffenden Juden‘ und das jüdische Selbstbild vom besonders im Handel erfolgreichen, ,unproduktiven‘ Juden kommen konnten. Eine ,jüdische Wirtschaftsmentalität‘, die Grundlage für die Selbstbestimmung und auch das Selbstbewusstsein jüdischer Deutscher sein konnte und sollte, wurde mit Kategorien der Differenz beschrieben, die auch bei den Antisemiten eine zentrale, fatal andere Rolle spielten. Auch der Verweis auf „Tatsachen“, die das „Märchen vom Reichtum der Juden“ entkräften sollten, schien nicht immer das geeignete Mittel zu sein, antisemitische Ressentiments zu entlarven und ihnen entgegenzutreten. Denn wie sollte man mit ,gezählten Juden‘, wie mit ,scheinbaren Belegen‘ umgehen? „Verdarb“ ein Jude zu viel oder zu wenig dann nicht doch die Statistik? Was, wenn sich das „Märchen“ als wahr herauszustellen schien?

Das Vorurteil und das ,Körnchen Wahrheit‘ In seinen Betrachtungen zur Judenfrage distanzierte sich Jean-Paul Sartre 1946 deutlich von bisherigen Versuchen, Antisemitismus zu erklären und zu erforschen. Wer nach den äußeren Ursachen des Antisemitismus suche, so Sartre, beschäftige sich erst gar nicht „mit der Person des Antisemiten, sondern lediglich statistisch mit dem Prozentsatz der im Jahre 1914 mobilisierten Juden, dem Prozentsatz der Juden unter den Bankiers, den Industriellen, den Ärzten und den Anwälten, oder auch mit der Geschichte der Juden in Frankreich seit ihren

62 Zielenziger, Wirtschaftsleben (wie Anm. 54), S. 279.



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Anfängen“.63 Antisemitismus werde entweder als „rein subjektiver Geschmack“64 verstanden, oder aber eben als „ein soziales Phänomen, das man in Ziffern und Durchschnittszahlen ausdrücken kann, und das durch wirtschaftliche, geschichtliche und politische Gegebenheiten bedingt ist“.65 Dieser seiner Meinung nach „falschen“ und „gefährlichen“ Auffassung vom Wesen des Antisemitismus setzt Sartre seine Interpretation entgegen: „So bestimmt anscheinend die Idee, die man sich vom Juden macht, die Geschichte und nicht die geschichtliche Begebenheit die Idee.“66 In der historischen Antisemitismusforschung sei es inzwischen unstrittig, so konstatiert Klaus Holz im Jahr 2001 optimistisch, „daß sich der moderne Antisemitismus nicht aus Konflikten etwa um materielle Ressourcen zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung erklären läßt“.67 Zwar werde eine Nähe der Juden zum Kapitalismus konstatiert, aber daraus werde keine „korrespondenztheoretische Erklärung“ abgeleitet; es sei klar, dass die „besonderen Merkmale der Judenheit“ die Rolle eines, und das ist zentral, nur „scheinbaren Belegs antisemitischer Vorurteile“68 spielten. Und doch spukt das berühmte ,Körnchen Wahrheit‘, das im Stereotyp so schnell zu finden zu sein scheint, mehr oder weniger explizit noch immer durch die Köpfe und auch durch die Texte von Wissenschaftlern. Die geschichtliche Begebenheit wird immer wieder mit Hilfe von lange bekannten, oft erstaunlich stereotypen ,Bildern vom Juden‘ analysiert und beschrieben. Bestimmte Vorstellungen und Beschreibungen von der „wirtschaftlichen Lage“ der Juden, von der treibenden jüdischen Kraft in der Wirtschaftsentwicklung und von den „regen“ Eigenschaften von ,den Juden‘ in der Wirtschaft scheinen so plausibel zu sein, dass sie sich über die Zeit halten konnten und auch in innerjüdischen Debatten als Argumente ernst genommen und diskutiert wurden. Liegen die Ursachen für den Antisemitismus, diese Frage klingt immer wieder an, nicht vielleicht doch irgendwie begründet in diesen „besonderen Merkmalen der Judenheit“? Sartres Warnung ist also gerade für das „Märchen vom Reichtum der Juden“ noch immer aktuell: Dem spezifisch modernen antisemitischen Denken und den Bildern vom ,Wirtschaftsjuden‘ liegen zwar durchaus ,reale‘ soziale und ökono-

63 Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Zürich 1948. S. 6. 64 Sartre, Betrachtungen (wie Anm. 63), S. 7. 65 Sartre, Betrachtungen (wie Anm. 63), S. 7. 66 Sartre, Betrachtungen (wie Anm. 63), S.13. 67 Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001. S. 65. 68 Holz, Antisemitismus (wie Anm. 67), S. 65.

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mische Strukturen zu Grunde, die die Gesellschaft und die Wirtschaftsordnung des späten 19. und 20. Jahrhunderts und damit auch die Lebenswelt und die innere Welt der Antisemiten prägten. Doch es ist eben diese innere Welt, es sind die inneren Konflikte, die Wünsche, Ängste und Aggressionen, es sind die Fantasien der Antisemiten, die uns in Gestalt ,des Juden‘ entgegentreten, die sie in die abstrakte Figur des Juden „hineinsehen“69 und an konkreten Personen und Strukturen scheinbar zu belegen vermögen. Eine Geschichte von ,den Juden‘ und ,der Wirtschaft‘ muss also immer auch eine Geschichte des Antisemitismus sein, sie muss die Bilder des Jüdischen untersuchen, die ,den Juden‘ erst denkbar und als ökonomisches Subjekt fassbar machen und gleichzeitig die soziale Realität der jüdischen Minderheit mitbestimmen. Eine solche Geschichte muss sich der Macht der Stereotype bewusst sein, um ihnen ihre Gewalt nehmen zu können.

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Quellen Adler-Rudel, Salomon: Wirtschaftssituation der deutschen Juden und Berufsprobleme der Jugend. In: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 1 (1930). S. 161–168. Bernstein, Fritz: Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses. Neudruck der ersten Auflage von 1926. Berlin 1980. Buchner, Hans: Die goldene Internationale. Von Finanzkapital, Tributsystem und seinen Trägern (Nationalsozialistische Bibliothek, Bd. 3). München 1928. Buchner, Hans: Dämonen der Wirtschaft. Gestalten und dunkle Gewalten aus dem Leben unserer Tage. München 1928. Buchner, Hans: Warenhauspolitik und Nationalsozialismus (Nationalsozialistische Bibliothek, Bd. 13). 3. Aufl.. München 1931.

69 Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Vorurteil und Charakter. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Frankfurt/M. 1985. S. 64–75.



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Regina Schleicher

„Schlemiel“ – Jüdische Identität in der Satire des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Für die Identitätssuche der deutschen Juden im Kaiserreich galten verschiedene Faktoren, die sich nach Erik Petry in exogene und endogene Faktoren, angesichts der Zuschreibungen von außen und eigener Definitionen aufteilen lassen.1 Besonders problematisch war dabei die mit dem anwachsenden Antisemitismus stetig zunehmende negative Definition von außen.2 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gründeten deutsche Juden zahlreiche Vereine, um auf den wachsenden Antisemitismus zu reagieren und ihn abzuwehren, so Mitte der 1880er-Jahre die erste jüdische Studentenverbindung, 1890 den liberalen Verein zur Abwehr des Antisemitismus und 1893 den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.3 Es entstand ein „Dreieck aus Ablehnung, Anerkennung und Identitätskrise“4. In Anlehnung an das Modell von Petry möchte ich in diesem Beitrag die kurze Geschichte der verschiedenen Ausgaben einer deutsch-jüdischen Satirezeitschrift in einem Dreieck zwischen der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, dem Kampf von Jüdinnen und Juden um gesellschaftliche Anerkennung und einer kontinuierlichen Identitätskrise und -suche interpretieren.

1 Petry, Erik: Ländliche Kolonisation in Palästina. Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Köln [u. a.] 2004. S. 9. 2 Petry, Ländliche Kolonisation (wie Anm. 1), S. 10–11. 3 Petry, Ländliche Kolonisation (wie Anm. 1), S. 15. 4 Petry, Ländliche Kolonisation (wie Anm. 1), S. 15.

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Schlemihl, Schlemiel5 und die Redakteure Zwar gab es eine starke Mitarbeit deutscher Juden bei Satirezeitschriften wie Kladderadatsch6 und Simplizissimus7, jedoch kaum humoristisch ausgerichtete Zeitschriften, die sich vorrangig an eine jüdische Leserschaft wandten. Eine erste Publikation, die diese Richtung einschlug, war das deutschsprachige Illustrierte israelische Jahrbuch für Ernst und Scherz, das von 1859 bis 1860 in Ungarn erschien.8 Laut dem späteren Mitarbeiter des Schlemiel und Vorsitzenden der Berliner Zionistischen Vereinigung, Sammy Gronemann (1875–1952), gab es in der Zeit des Kaiserreichs vor dem Schlemiel lediglich das von Siegfried Meyer herausgegebene antizionistische Blatt Gut Woch9, in welchem, wie Gronemann kritisch kommentierte, „jüdische Art und jüdische Eigenarten in einer Weise verspotte[t] [wurden], welche das Entzücken jedes Antisemiten erregen mußte.“10 Bei Siegfried Meyer handelte es sich vermutlich auch um den Autor der Hochzeits-Hagadah11, die im März 1888 im Berliner Hermann-Verlag erschien,

5 Zu den beiden Titeln der Zeitschrift „Schlemihl“ und „Schlemiel“ vgl. Nemitz, Kurt: Bundesratufer. Erinnerungen. Oldenburg 2006. S. 63–65; Nemitz, Kurt: Erinnerungen an Julius Moses. In: Julius Moses. Schrittmacher der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik. Hrsg. v. Michael Schneider. Bonn 2006 (Gesprächskreis Geschichte 65). S. 39–65, hier S. 51–53; Schleicher, Regina: Spott auf einem schmalen Grat. Der Schlemiel, eine frühe zionistische Satirezeitschrift. In: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte/ German-Jewish Press and Jewish History. Hrsg. v. Eleonore Lappin [u. a.]. Bremen 2008. Bd. 2. S. 41–56, hier S. 41–42. 6 Kladderadatsch. Organ von und für Bummler/Humoristisch-satirisches Wochenblatt. Berlin 1848–1944. 7 Simplicissimus. München 1896–1944. Gegründet von Albert Langen und Thomas Theodor Heine. 8 Illustriertes israelisches Jahrbuch für Ernst und Scherz. Hrsg. v. Samuel Winter. Tirnau, Pesth 1859–1861. Vgl. hierzu Gottschalk, Jürgen: Eine doppelt versteckte „versteckte“ Bibliographie in Edmund Edels „Der Witz der Juden“. http://humoristica-judaica.pirckheimer.org/texte_1.htm (20. 10. 2011), Anm. 7. 9 „Gut’ Woch“, erscheint jeden Morgen nach Sch’beisse-Nacht. Hrsg. v. Siegfried Meyer. Jerusalem [=Berlin] 1898/5658–1908/5668 [= 1889/90]. 10 Gronemann, Sammy: Erinnerungen. Berlin 2002. S. 258f. Vgl. hierzu auch Schlör, Joachim: Wenn schon. Nachrichten von Sammy Gronemann. In: Sammy Gronemann: Schalet. Beiträge zur Philosophie des „Wenn schon“. Leipzig 1998. S. 229–247, hier S. 239f.; Gottschalk, Edmund Edel (wie Anm. 8), bes. Anm. 20; Gronemann, Sammy: ‚Gut Woch‘ – Ein Vorläufer des Schlemiel. In: Schlemiel. Jüdische Blätter für Humor und Kunst. Berlin 23 (1920). S. 208. Gottschalk verlegt das Erscheinungsdatum auf 1898, wie es auf dem Titel der Zeitschrift angegeben war. 11 Meyer, Siegfried: Hochzeits-Hagadah: d. i. Beschreibung des Aus- u. Einzuges der Kinder Israel Dorio Cohn und Wilhelm Bernhard aus dem gelobten Land des Ehestandes. Begangen am 18. des Monats März 1888. Berlin 1888.



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und eines unter dem Titel Was ist absurd? im Selbstverlag veröffentlichten Textes von 189712. Ein amerikanisches Beispiel in jiddischer Sprache stellte die ebenfalls nur kurzzeitig erscheinende New Yorker illustrierte jüdische Zeitung13 dar, die der „Vater des jiddischen Theaters“14, Abraham Goldfaden (1840–1908)15, gegründet und herausgegeben hatte.16 Der Titel des Schlemiel gemahnte zum einen im Zusammenhang der deutschen Literatur an die Novelle von Adelbert von Chamisso, in der die Hauptfigur Peter Schlemihl seinen Schatten an den Teufel verkauft und so zum Außenseiter wird, 17 und zum anderen an die Figur eines Schlemihl als Unglücksvogel, wie er in jiddischen Anekdoten erschien, die insofern als „Inbegriff des jüdischen Volkes“ interpretiert werden kann.18 Der Schlemihl sei „sich seiner Rolle meist nicht bewußt“, sondern „eine Figur, die andere ungewollt zum Lachen“19 bringe. Der Schlemihl, nach einer Neuherausgabe nach der ersten Nummer mit leicht geändertem Namen Schlemiel, wurde von Theodor Herzl (1860–1904) unterstützt und gelesen.20 Dieser schätzte das Blatt als „lustiges Kampforgan gegen das

12 Meyer, Siegfried: Was ist absurd? Berlin 1897. 13 New Yorker illustrierte jüdische Zeitung [=Jiddische Illustrierte Zeitung/New Yorker Illustrirte Zeitung]. Hrsg. v. Abraham Goldfaden. New York 1887–1888. 14 Moraly, Yéhuda: Défense et illustration d’Abraham Goldfaden, le „père du théâtre yiddish“ (1840–1908). In: Revue d’histoire du théâtre 3 (2008). S. 273–286, hier S. 279. 15 Abraham Goldfaden [=Avrum Goldnfoden, Avram Goldfaden, Abraham ben Chajim Lippe Goldfaden] Vgl. zu Goldfaden und der kurzlebigen Zeitschrift den Artikel in Jewish Encyclopedia: Wiernik, Joseph Jacobs: Goldfaden, Abraham B. Hayyim Lippe. In: Jewish Encyclopedia. http://www.jewishencyclopedia.com/view.jsp?artid=305&letter=G (11. 3. 2012); Band „G“, S. 23–24. Die Kopfleiste der Zeitschrift und eine Karikatur sind abgebildet in Schach, Fabius: Der deutsch-jüdische Jargon und seine Litteratur. In: Ost und West 3 (1901). Sp. 179–90, hier Sp. 189–190. 16 Vgl. auch o. A.: Periodicals. In: Jewish Enyclopedia. http://www.jewishencyclopedia.com/ view.jsp?artid=199&letter=P (11. 3. 2012). Bohlman, Philip Vilas: Jüdische Volksmusik. Eine mitteleuropäische Geistesgeschichte. Wien [u. a.] 2005. S. 38. 17 Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit 25 zweifarbigen Illustrationen von Franziska Walther. Mannheim 2011 [11814]. Vgl. hierzu auch Schirmers, Georg: Zum Leben und Werk von Menachem Birnbaum. In: Menachem Birnbaum. Leben und Werk eines jüdischen Künstlers. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Hagen 9. November bis 20. Dezember 1999. Hagen 1999. S. 7–37, hier S. 18. 18 Vgl. Schirmers, Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 18 und BenGershôm, Ezra: Der Esel des Propheten. Eine Kulturgeschichte des jüdischen Humors. Darmstadt 2000. S. 41. 19 BenGershôm, Der Esel (wie Anm. 18), S. 40. 20 Nemitz, Kurt: Von „Heißspornen“ und „Brauseköpfen“. Julius Moses, der „Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums“ (1902–1910) und der „Schlemiel“ (1903–1906). In: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hrsg. v. Michael Nagel. Hildesheim [u. a.] 2002.

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Gemeindeassimilantentum“21; nach mancher Darstellung ging die Gründung der Zeitschrift sogar auf einen Vorschlag Herzls zurück.22 Es gab auch eine ökonomische Unterstützung des Blatts durch das Aktionskomitee des Zionistenkongresses in Wien mit „100 Kr. die ersten 4 Monate, 75 Kr. die zweiten 4 Monate und 50 Kr. die letzten 4 Monate“.23 Der sich kritischen Kommentaren zum Schlemiel durchaus nicht enthaltende Herzl stiftete einen Preis von 20 Mark für den besten Witz, wie er in einem Schreiben an den Redakteur Max Jungmann am 7. Dezember 1903 verkündete, beharrte jedoch auf der Wahrung seiner Anonymität als Initiator.24 Die erste Nummer der deutsch-jüdischen Satirezeitschrift Schlemihl wurde noch als „modern-jüdische[s] Scherzblatt […]“, erhältlich über die Expedition der Jüdischen Rundschau, zum Preis von 20 Pfennigen in der von Herzl herausgegebenen Welt beworben.25 Das Erscheinen der Zeitschrift wurde vermutlich wegen Konflikten mit Herzl unmittelbar nach dieser ersten Ausgabe wieder eingestellt. Eine Neuherausgabe konnte nicht mehr unter Leo Winz (1876–1952), der vor allem als Herausgeber von Ost und West26 bekannt war, erfolgen. Dies geschah auf Theodor Herzls Betreiben hin, der Alfred Klee beauftragt hatte, zu den ehemaligen Mitarbeitern des Schlemihls direkt Kontakt aufzunehmen, um eine Publikation bei Winz zu umgehen.27 Herzl und Winz waren nach einer Auseinandersetzung über eine Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Ascher

S. 233–252, hier S. 239f.; Jungmann, Max: Erinnerungen eines Zionisten. Jerusalem 1959. S. 6–69. 21 Theodor Herzl: Brief an Alfred Klee, 13. 9. 1903. In: Theodor Herzl. Briefe und Tagebücher. Band 7: Briefe 1903–Juli 1904. Hrsg. v. Alex Bein [u. a.]. Frankfurt/M. [u. a.] 1997. S. 292f., hier S. 292; zitiert auch in Messner, Philipp: Leo Winz und die Diskurse jüdisch-nationaler Identität um 1900. Magisterarbeit. Berlin 2008. S. 71. http://www.mendeley.com/download/ public/2347871/3594469772/d79ee3ec29f4a3b635aaa9146063d74c5ba13a22/dl.pdf (12. 3. 2012). 22 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 249, 257; Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938. Göttingen 2005. S. 270; Mittelmann, Hanny: Sammy Gronemann (1875–1952). Zionist, Schriftsteller und Satiriker in Deutschland und Palästina. Frankfurt/M. [u. a.] 2004. S. 50. 23 Nemitz, Von „Heißspornen“ (wie Anm. 20), S. 240. 24 Theodor Herzl: Brief an Max Jungmann, 7. 12. 1903. In: Herzl, Briefe und Tagebücher 7 (wie Anm. 21), S. 461–462. 25 Die Welt. Zentralorgan der Zionistischen Bewegung. Berlin 1897–1914. Nr. 9 (1903), 27. 2. 1903. S. 9. 26 Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für Modernes Judentum/Monatsschrift für das gesamte Judentum. Hrsg. v. Leo Winz [u. a.]. Berlin 1901–1923. 27 Herzl, Brief an Alfred Klee (wie Anm. 21).



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Hirsch Ginsbergs kritischer Rezension von Altneuland28 zerstritten.29 Im Jahr 1908 hatten sich die Wellen offenbar geglättet, als in Ost und West eine Anzeige für den nun in einem anderen Verlag publizierten Schlemiel erschien.30 Die zweite Herausgabe der Zeitschrift als Schlemiel31, beworben in einem mehrspaltigen redaktionellen Artikel in der Welt als „Berliner Range“, „der seit kurzem seine Schellenkappe in das Kampfgetöse der jüdischen Meinungen hineinklingen lässt“32, erschien im Verlag des Generalanzeigers für die gesamten Interessen des Judentums33 des Sozialdemokraten Julius Moses (1869–194234). Der Name war, vermutlich aus Gründen des Urheberrechts,35 leicht abgewandelt.36 Wie im Schlemihl waren als Redakteure Max Jungmann (1875–1970), Theodor Zlocisti (1874–1943) und Sammy Gronemann beteiligt; weitere Mitarbeiter waren Emil Simonson (auch Simonsohn, 1861–?), Verfasser der Rubrik Wochenschaute und als Zeichner Josef Rosinthal37 sowie Hermann Struck (1876–1944).38 Für diese Neuausgabe der Zeitschrift erhielten sie, so Gronemann in seinen Erinnerungen, auch Lob von einem Kritiker des Zionismus, dem Redakteur Max Albert

28 Ginsberg, Ascher Hirsch: Altneuland. In: Ost und West 4 (1903), Sp. 227–244. Vgl. hierzu einen Brief von Leo Winz an Adolf Friedemann. In: The Uganda Controversy. Hrsg. v. Michael Heymann. Band 1. Jerusalem 1970. S. 68–71; vgl. auch Brenner, David A.: Marketing Identitites. The Invention of Jewish Ethnicity in „Ost und West“. Detroit 1998. S. 38–39. 29 Vgl. Anm. 28 des vorliegenden Beitrags und Messner, Leo Winz (wie Anm. 21), S. 71, Anm. 271. 30 Ost und West 4 (1908), Sp. 277–278.; vgl. auch Messner, Leo Winz (wie Anm. 21), S. 71. 31 Schlemiel. Illustriertes jüdisches Witzblatt. Hrsg. v. Max Jungmann. Berlin 1903–1905; Einzelnummern 1906 und als Schlemiel. Organ der Zione-Territorialisten 1907. Bei Nemitz, Bundesratufer (wie Anm. 5), S. 63 ist falsch das Jahr 1902 für den Beginn der Edition des „Schlemiel“ im Verlag von Julius Moses angegeben. 32 J. U. [=Julius Uprimay]: Der Schlemiel. In: Die Welt 46 (1903), 13. 11. 1903. Sp. 12–14. 33 Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums. Hrsg. v. Julius Moses. Berlin 1902–1911. 34 Bei Heymann ist fälschlicherweise für Julius Moses das Todesdatum 1945 in Tel Aviv angegeben. Vgl. Heymann (Hrsg.), The Uganda Controversy 1 (wie Anm. 28), S. 113. Moses starb jedoch 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt; vgl. Nemitz, Erinnerungen (wie Anm. 5), S. 82. 35 Vgl. Herzl, Brief an Max Jungmann (wie Anm. 24), S. 462 und Mittelmann, Sammy Gronemann (wie Anm. 22), S. 50. 36 Insofern kann Leo Winz zwar als Herausgeber der ersten Nummer, nicht jedoch als Gründer der gesamten Zeitschrift angesehen werden, wie bei David A. Brenner angegeben. Auch die Jahreszahlen sind bei D. A. Brenner nicht korrekt. Vgl. D. A. Brenner, Marketing Identitites (wie Anm. 28), S. 16. 37 Über Josef Rosintal ist wenig bekannt. Ein von ihm angefertigtes Herzl-Porträt ist abgebildet in einer Anzeige des Jüdischen Verlags: Altneuland 8 (1905), o. S. 38 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 260.

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Klausner (1848–1910). Dieser trat bei zionistischen Versammlungen häufig als Oppositionsredner auf.39 Max Nordau bezeichnete sich als „eifrige[n] Leser des Schlemiel“40 und Zangwill kommentierte: „We are all Schlemiels“41. Insgesamt stand die Zeitschrift im Kontext einer vielseitigen Publizistik und vielgestaltiger kultureller Aktivitäten im zionistischen Umfeld der ersten Jahre des 20.  Jahrhunderts. So war beispielsweise Hermann Struck auch an der von Ephraim Moses Lilien organisierten Kunstausstellung in Basel beteiligt, die während des fünften Zionistenkongresses Werke jüdischer Künstler zeigte.42 Mit einer Vielzahl von Aktivitäten sollten eine „eigenständige kulturelle jüdische Identität“43 gestärkt und die politischen Ziele des Zionismus im Bewusstsein der jüdischen Zeitgenossen verankert werden. Hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist insbesondere die Gründung des Jüdischen Verlags durch Martin Buber 1901 unter anderem mit Berthold Feiwel, Davis Trietsch und E. M. Lilien44 und die Herausgabe der Zeitschrift Ost und West durch Trietsch und Winz.45 Auch der Schlemiel-Redakteur Sammy Gronemann rief auf dem Zionistischen Kongress von 1905 dazu auf, mehr Symbole und visuelle Darstellungen einzusetzen, um den Erfolg des Zionismus zu erhöhen.46 Ein Großteil der Mitarbeiter des Schlemiel war bereits vor der Gründung der Zeitschrift im Sinne der Unterstützung des Zionismus politisch aktiv. Max Jungmann war schon 1895, als Zwanzigjähriger, Mitbegründer des Vereins Jüdischer Studenten, der erste politisch, nämlich zionistisch ausgerichtete jüdische Studentenverein.47 Laut Jungmanns Erinnerungen eines Zionisten war er selbst ein Jahr später, 1896, „als Stern am jüdischen Humorhimmel aufgegangen“,48 als er vom Verein für jüdische Geschichte und Literatur in Berlin, dem dessen Gründer

39 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 162, 260. 40 Zuschrift an die Redaktion, zitiert nach Nemitz, Von „Heißspornen“ (wie Anm. 20), S. 240. 41 Zuschrift an die Redaktion, zitiert nach Nemitz, Von „Heißspornen“ (wie Anm. 20), S. 240. 42 Rusel, Jane: Hermann Struck (1876–1944). Das Leben und das graphische Werk eines jüdischen Künstlers. Frankfurt/M. [u. a.] 1997. S. 74f.; Berkowitz, Michael: Art in Zionist Popular Culture and Jewish National Self-Consciousness, 1897–1914. In: Studies in Contemporary Jewry 6 (1989). S. 9–42, hier S. 19 43 Rusel, Hermann Struck (wie Anm. 42), S. 75. 44 Rusel, Hermann Struck (wie Anm. 42), S. 75–76. 45 Rusel, Hermann Struck (wie Anm. 42), S. 77–78. 46 Vgl. D. A. Brenner, Marketing Identitites (wie Anm. 28), S. 180, Anm. 78. 47 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 37. Zum Verein Jüdischer Studenten, vormals Vereinigung jüdischer Studierender vgl. Gross, Walter: The Zionist Students’ Movement. In: Leo Baeck Institute Year Book 1 (1959). S. 143–164, hier S. 144. 48 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 27.



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Gustav Karpeles vorstand,49 den Auftrag erhielt, für das Purimfest ein Lustspiel zu verfassen.50 Theodor Zlocisti war von 1892 an Mitglied der ersten Gesellschaft deutschsprachiger Zionisten in Berlin, Jung-Israel51 und ebenfalls 1895 an der Gründung des Vereins Jüdischer Studenten in Berlin beteiligt. 1905 gab er Schriften von Moses Hess mit einer von ihm verfassten biografischen Einleitung heraus; in den 1920er-Jahren verfasste er eine umfangreiche Hess-Biografie.52 Der Anwalt Sammy Gronemann betätigte sich nur nebenberuflich als Verfasser satirischer Texte, darunter auch Theaterstücke. Er war ebenfalls in der zionistischen Bewegung aktiv. Bereits 1901 war er Delegierter des fünften Zionistenkongresses, von 1911 bis 1933 Vorsitzender des Ehrengerichts und von 1923 bis 1946 Vorsitzender des Kongressgerichts der Zionistischen Organisation.53 1905 hatte er den Neuen Jüdischen Gemeindeverein in Berlin mitbegründet,54 der sich zum Ziel gesetzt hatte, das jüdische Leben in Deutschland zu demokratisieren.55 1919 beteiligte sich Gronemann an der Gründung der zionistisch und zugleich auf das lokale jüdische Leben in der Berliner Gemeinde ausgerichteten Jüdischen Volkspartei in Berlin,56 die hier von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, der Berliner Misrachi-Ortsgruppe, dem Neuen Jüdischen Gemeindeverein sowie dem Verband der Ostjuden getragen wurde.57 Die Partei kandidierte 1926 mit einem Programm, das eine Stärkung jüdischer Traditionen und die Bekämpfung von Austritt, Mischehe und Taufe sowie die Unterstützung des Zionismus vorsah.58

49 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 341. 50 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 27. 51 Zu Jung-Israel vgl. Gross, The Zionist Students’ Movement (wie Anm. 47), S. 143. 52 Zlocisti, Theodor: Moses Hess. Eine biographische Studie. Berlin 1905; Zlocisti, Theodor: Moses Hess. Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus, 1812–1875. Eine Biographie. 2., vollkommen neu bearbeitete Auflage. Berlin 1921. Vgl. auch Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 34. 53 Vgl. Heymann (Hrsg.), The Uganda Controversy 1 (wie Anm. 35), S. 110. 54 Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 241; Heymann (Hrsg.), The Uganda Controversy 1 (wie Anm. 35), S. 110. 55 Brenner, Michael: The Jüdische Volkspartei. National-Jewish Communal Politics during the Weimar Republic. In: Leo Baeck Institute Year Book (1990). S. 219–243, hier S. 221. 56 M. Brenner, The Jüdische Volkspartei (wie Anm. 55), S. 220. 57 Vgl. M. Brenner, The Jüdische Volkspartei (wie Anm. 55), S. 221; Gronemann, Sammy: Erinnerungen an meine Jahre in Berlin. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Joachim Schlör. Berlin 2004. S. 371. Laut M. Brenner war die Jüdische Volkspartei in Dresden zwar „nationaljüdisch“ ausgerichtet, befand sich jedoch in Opposition zur dortigen zionistischen Ortsgruppe. 58 Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 243; M. Brenner, The Jüdische Volkspartei (wie Anm. 55).

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Als nebenberuflicher Schriftsteller und Bühnenautor war Gronemann durchaus erfolgreich. Bereits 1896 hatte er mit Hermann Struck als Zeichner sein Erstlingswerk, die illustrierte Satire Tulpenthaliade59, veröffentlicht. Sein Roman Tohuwabohu60 von 1920 kann als „der erste jüdische Roman eines neuen Typus, ein selbstbewusst-jüdisches Buch“61 gelten, das dennoch von einer starken „Identitätskrise und -suche“62 geprägt war. Dass auch diese Ausgabe des Schlemiel nach 1905 nur noch in zwei Einzelnummern erschien, hat sicher mehrere Gründe: Gronemann nennt vor allem die mangelnde Motivation der Mitarbeiter nach dem Tod Herzls.63 Doch der Schlemiel, „das einzige Witzblatt in Deutschland, das nicht nur von Juden, sondern auch für Juden geschrieben ist, und […] anerkanntermassen auch eine scharfe Waffe im politischen Kampf gegen nichtjüdischen und jüdischen Antisemitismus [Herv. i. Orig.]“64 darstellte, wie ihn Chesker Zwi Klötzel in den Neuen jüdischen Monatsheften würdigte, erschien mehr als ein Jahrzehnt später, im Juli 1919, neu, diesmal im zweiwöchentlichen Rhythmus.65 Die jüdische Presse begrüßte ihn auch diesmal wieder freundlich, beispielsweise als „jüdische[n] Simplicissimus“66, und empfahl ihn „Freunden jüdischen Humors“67. Der Welt-Verlag hatte es sich zur Aufgabe gemacht, „uneingeengt von irgendwelcher Parteischablone, aber aufbauend auf der Grundlage nationaljüdischer Anschauungen, sowohl jüdische Zeitschriften herauszugeben, als auch im ausgedehntesten und weitherzigsten Mass jüdische Bücher zu publizieren.“68 Der

59 Gronemann, Sammy: Die Tulpenthaliade. Illustriert von Hermann Struck. Berlin 1896. Vgl. Mittelmann, Sammy Gronemann (wie Anm. 22), S. 27–29. 60 Gronemann, Sammy: Tohuwabohu. Berlin 1920. 61 Gempp-Friedrich, Tilmann: Der Roman Tohuwabohu oder Gronemanns Sicht auf die Dinge. In: Deutsche Kultur – jüdische Ethik. Abgebrochene Lebenswege deutsch-jüdischer Schriftsteller nach 1933. Frankfurt/M. [u. a.] 2011. S. 167–186, hier S. 167. 62 Gempp-Friedrich, Der Roman Tohuwabohu (wie Anm. 61), S. 183. 63 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 261; vgl. auch Mittelmann, Sammy Gronemann (wie Anm. 22), S. 51; Schlör, Ich der Stadt (wie Anm. 22), S. 270. 64 Klötzel, Cheskel Zwi: Der Welt-Verlag. In: Neue jüdische Monatshefte 2 (1919). S. 87–89, hier S. 88. 65 Der Schlemiel. Jüdische Bätter für Humor und Kunst. Berlin 1919–1920. 66 Der Israelit, laut Verlagsprospekt des Schlemiel, http://picasaweb.google. com/101256697434577425851/ZeitschriftenPeriodika?authkey=Gv1sRgCPD5pK617Z7-JA&feat= embedwebsite#5552013456152967762 (12. 3. 2012). 67 Blochs Österreichische Wochenschrift, laut Verlagsprospekt des Schlemiel, http:// picasaweb.google.com/101256697434577425851/ZeitschriftenPeriodika?authkey=Gv1sRgCPD 5pK617Z7-JA&feat=embedwebsite#5552013456152967762 (12. 3. 2012). 68 Klötzel, Welt-Verlag (wie Anm. 64), S. 87; auch zitiert in Schirmers, Zum Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 16.



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Verlag wollte nicht nur günstig sein, um möglichst viele Leserinnen und Leser zu erreichen, sondern auch mit einer ansprechenden Gestaltung eine erzieherische Wirkung erzielen: Ein Verlag, der wesentlich ethisch bildende und erzieherische Ziele anstrebt, muß die Herstellung reiner Luxuspublikation für verfehlt halten. Das literarische Gut, das er vermittelt, hat er einem möglichst großen Kreis zu vermitteln und deshalb Billigkeit anzustreben. Das aber darf er nicht auf Kosten einer unwürdigen Form erzielen. Das schöne Buch ist mittelbar Erzieher wie die schöne Straßenanlage, wie der geschmackvoll gebildete Gebrauchsgegenstand.69

In diesem Sinne publizierte der Verlag beispielsweise im Jahr 1920 das mit Steindrucken von Hermann Struck versehene Das ostjüdische Antlitz von Arnold Zweig70 und Menachem Birnbaums Chad Gadjo.71 Wie die Bücher aus diesem Verlag, so war auch der neue, diesmal einjährige Schlemiel sorgfältig gestaltet. Außer den früheren Mitarbeitern wie Max Jungmann, Sammy Gronemann und Emil Simonson, wirkte nun Menachem Birnbaum (1893–1943)72 als künstlerischer Leiter mit.73 Wie Jungmann in seinen Erinnerungen bestätigt, fand gegenüber den vorherigen Ausgaben des Schlemiel eine Professionalisierung statt: „Redakteure und Mitarbeiter wurden angemessen bezahlt.“74 Gronemann, der in der Regel Verfasser der Texte einer „Galerie des Schlemiel“ war,75 in der jüdische Persönlichkeiten ironisch porträtiert wurden, kam hier selbst zu Ehren: „Als Volksversammlungsredner besitzt er die Fähigkeit seine Gegner schmerzlos zu verletzen. Sie freuen sich über seinen Witz; aber wenn sie das Lokal verlassen, sehen sie aus wie Leute, die sich selbst rasieren.“76 Im Vergleich zu den beiden Vorläufern wurde in dieser, dritten Herausgabe des Schlemiel insgesamt die Schärfe der Satire etwas zurückgenommen. Politi-

69 o. A.: Die Welt-Drucke. In: Ewer, Januar 1921. S. 4; zum Teil auch zitiert bei Schirmers, Zum Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 18. 70 Zweig, Arnold: Das ostjüdische Antlitz. Zu fünfzig Steinzeichnungen von Hermann Struck. Berlin 1920. 71 Birnbaum, Menachem: Chad Gadjo. Zehn handgemalte Federzeichnungen. Handgemalter Einband mit Seidenbandverschluß. Deutsche Übertragung von Uriel Birnbaum. Berlin 1920. 72 Vgl. Zijlmans, Kitty: Jüdische Künstler im Exil: Uriel und Menachem Birnbaum. In: Österreichische Exilliteratur in den Niederlanden 1934–1940. Hrsg. v. Hans Würzner. Amsterdam 1986. S. 145–156. 73 Schirmers, Zum Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 18. 74 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 70–71. 75 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 263; Mittelmann, Sammy Gronemann (wie Anm. 22), S. 51. 76 o. A.: Galerie des Schlemiel: Sammy Gronemann. In: Schlemiel 15 (1920). S. 15.

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sche Themen wurden eher am Rande behandelt. Es fanden sich romantisierende und insbesondere osteuropäische Juden exotisierende Darstellungsweisen, die im Schlemihl und im alten Schlemiel noch bespöttelt wurden.77 (Siehe dazu die Artikel in diesem Band von Alina Bothe, Da-Zwischen. Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße, S.xx-xy und Anna Michalis, „... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären …“ – Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik.) Durch den Verkauf der Originale von Karikaturen sollten weitere Einnahmen erzielt werden.78 Mit Preisausschreiben für Skizzen und kleine Erzählungen „heiterer oder auch ernster Art“79 bemühte man sich um eine Einbindung der Leserinnen und Leser. Wie jedoch die Karikaturen des noch jungen Ludwig Wronkow (1900–1982) und einige Karikaturen Menachem Birnbaums zeigen, stellte sich, was die Bekämpfung des Antisemitismus und der Assimilation betraf, die Zeitschrift durchaus in die Traditionslinie der aggressiven Vorläufer. Menachem Birnbaums „Deutschnationale Blutprobe“ bezog sich beispielsweise auf das Verbot der Aufnahme jüdischer Mitglieder in die Deutschnationale Volkspartei. Eine Maschine aus Hakenkreuzen und einem mit Blut gefülltem Reagenzglas soll hier den rassistischen Antisemitismus entlarven.80 Dass auch dieser Schlemiel nur rund ein Jahr erschien, ist mit Sicherheit auf die steigenden Kosten in der Inflationszeit zurückzuführen.81 Einen vierten und letzten Versuch, einen Schlemiel herauszugeben, wagte schließlich vier-Jahre später, 1924, die Zeitschrift Menorah82, nach eigener Angabe, um „Freunden und Lesern eine möglichst weite Übersicht über jüdisches Wesen und Schaffen zu geben“83. Wieder arbeiteten Max Jungmann und Menachem Birnbaum maßgeblich mit. Es blieb, wie bei der Anfangsausgabe, dem Schlemihl, nur bei einer einzigen Nummer der vierseitigen Beilage des Familienblatts, da der Verlag offensichtlich viele negative Reaktionen auf das Satireblatt bekommen hatte: Es wurde von den Leserinnen und Lesern als zu politisch angesehen.84 Monate später ver-

77 Vgl. Schleicher, Spott (wie Anm. 5), S. 43; Schirmers, Zum Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 21. 78 Verkaufsanzeige des Welt-Verlags in: Schlemiel 7 (1919). S. 110. 79 Schlemiel 8 (1919). S. 123 und wiederholt in den folgenden Nummern. 80 Vgl. Schirmers, Zum Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 22. 81 Vgl. Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 263. 82 Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur. Berlin/Wien 1923–1932. 83 Die Redaktion: An unsere Leser. In: Menorah 12 (1924). S. 2. 84 o. A.: Zum „Schlemiel“. In: Menorah 2 (1925). Titelseite.



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Abb. 1: Menachem Birnbaum: Deutschnationale Blutprobe. In: Schlemiel 24 (1920). S. 324. (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main.) Bildlegende: „Maschine zur Feststellung des Gehalts an jüdischem Blut (man beachte die schwarzen Spuren in der Retorte!).“

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öffentlichte die Zeitschrift noch „Ein Schlußwort zum ‚Schlemiel‘“, in dem sich die Herausgeber dafür entschuldigten, dass durch „die Entgleisungen der Redaktion“ des Schlemiel „wertvolle Gruppen des deutschen Judentums verletzt“ worden wären.85

Zionistische Ausrichtung und Antisemitismus Max Jungmann konstatiert in seinen Erinnerungen, dass es für ihn keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Antisemitismus und seiner zionistischen Haltung gegeben hätte: „Woher auch immer meine jüdische Gesinnung kam, eins steht fest; Der Antisemitismus war daran unbeteiligt.“86 Auf Einladung von Theodor Zlocisti, damals Schriftführer von Jung-Israel, wohnte Jungmann 1895 zum ersten Mal einer Sitzung des Vereins bei.87 Jung-Israel war 1892 von Heinrich Loewe gegründet worden, der als einziger nicht-osteuropäischer Jude bereits in der Vorgängerorganisation, dem Russisch-jüdischen wissenschaftlichen Verein, Mitglied war.88 Jungmann benennt jedoch die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten als Faktor für die Entstehung des Zionismus: Es schien mir [...], dass drei Faktoren für die Entstehung des Judenstaates erforderlich waren; (1) die zionistische Idee an sich (bereits von Moses Hess proklamiert); (2) die zionistische Massenbewegung (von Herzl eingeleitet), (3) der unwiderstehliche Zwang durch die in der Weltgeschichte bisher unübertroffene Judenverfolgung der Nazis, die durch den brutalsten Mord von fast der Hälfte unseres Volkes eine nie zu tilgende Blutschuld auf Deutschland luden.89

Sammy Gronemann berichtet in seinen Erinnerungen von seiner ersten Begegnung mit Heinrich Loewe im Jahr 1896, der zu diesem Zeitpunkt bereits selbst in Palästina gewesen war.90 Sein eigener Weg zum Zionismus war jedoch mit einem, wie er selbst beschreibt, Prozess des Umdenkens verknüpft: „Aber unsereins

85 Hoffmann, Norbert: Ein Schlußwort zum „Schlemiel“. In: Menorah 11 (1925). S. 226. Isabella Gartner behandelt in ihrer Monografie der Zeitschrift diese Episode nur hypothetisch: Gartner, Isabella: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur (1923–1932). Materialien zur Geschichte einer Wiener zionistischen Zeitschrift. Würzburg 2009, besonders S. 99–106. 86 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 11. 87 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 16. 88 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 18. 89 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 26. 90 Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 231–232.; Schlör, Ich der Stadt (wie Anm. 22), S. 223.



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konnte es schon nicht begreifen, wenn man statt von Juden und Christen von Juden und Deutschen sprach. Die zentrifugale Tendenz allen deutsch-jüdischen Lebens steckte tief in uns.“91 Er berichtet von dem Besuch einer zionistischen Versammlung in Dräsels Festsälen, auf der Albert Goldberg sprach, der Mitbegründer des Vereins jüdischer Studenten in Berlin war,92 nach der er sich mit einem Herrn Schragenheim über beider skeptischer beziehungsweise gegnerischer Haltung gegenüber dem Zionismus ausgetauscht hatte.93 Antisemitismus war in allen Ausgaben des Schlemihl und des Schlemiel ein zentrales Thema in Text und Karikaturen. So schrieb Max Jungmann in einem Gedicht unter dem Titel Friede 1919: [...] Nur seine lieben treuen Hausgesetze Hat er [=der Riese] vom Schutt und Staub befreit, Und wie in guter alter Zeit Erblüht im Deutschen Land die Judenhetze.94

Die Mitverantwortung für antisemitische Gewalt wurde im Schlemiel in aller Schärfe auch jüdischen Gegnern des Zionismus gegeben, wie Joseph Reinach: „Der französische Text ist eine Huldigung für den Juden Joseph Reinach in Paris, der als feuriger Bekämpfer des Zionismus an der Verewigung der Pogrome eifrig mitarbeitet.“95 Immer wieder brachte der Schlemiel Spott über ‚assimilierte‘ deutsche Juden, insbesondere gegen den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (auch C.V.) an, den Gronemann als „Zentralverein deutscher Schicksalsgemeinschaftler“96 titulierte und dem er ein „Mißtrauensvotum“ gegen Gott, Moses und sämtliche Propheten sowie eine sehr spezifische Unterschriftensammlung andichtete: Dem Propheten Jeremia, der die giftigen Worte geschrieben hat: „Wenn Sonne, Mond und Sterne nicht mehr leuchten, soll auch Israel aufhören ein Volk vor mir zu sein“ ist wegen

91 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 148; Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 237–238, teilweise zitiert auch bei Mittelmann, Sammy Gronemann (wie Anm. 22), S. 30. 92 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 37. 93 Gronemann, Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 148; Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 238; Gempp-Friedrich, Der Roman Tohuwabohu (wie Anm. 62), S. 178. 94 Schlemiel 2 (1919), S. 2. 95 J. [=Max Jungmann]: Pogrom-Kongreß. In: Schlemiel 3 (1919). S. 54. 96 Gr. [=Sammy Gronemann]: Aus dem Vereinsleben. (Anmerkungen von Eduard Chaim Tippisch). In: Schlemiel 2 (1919). S. 22.

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antisemitischer Gesinnung und mangelnder prophetischer Voraussicht das Recht aberkannt worden, Mitglied des C. V. zu werden. Zu einer Protestaktion gegen ihn werden Unterschriften gesammelt.97

Sehr gerne wird hier auch das Selbstverständnis des Centralvereins aufs Korn genommen, so zu dessen Haltung gegenüber einem „Jüdischen Kongreß“98: Zur Teilnahme sind, nach zweckmäßiger Abänderung des Vorschlages des ursprünglichen vorbereitenden Ausschusses, nur solche Personen berechtigt, die ohne Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volke sich voll und ganz als unablösliche Bestandteile desjenigen Volkes fühlen, in dessen Territorium sie entsprechend den staatsrechtlichen Verträgen und Abstimmungsergebnissen sich jeweilig befinden.99

In den Augen Sammy Gronemanns lag ein Teil des Problems jüdischer Identität darin, dass deutsche Juden ihr Judentum primär als Religion ansahen,100 er setzte diese Auffassung mit einer Leugnung ihrer Existenz gleich: „Ja, rechts und links waren sich also die deutschen Juden einig, daß sie gar nicht existierten, da es eigentlich keine Juden gebe, sondern nur eine jüdische Religion.“101 In ihrer Bestimmung einer jüdischen Identität, die sich nicht über Religionszugehörigkeit definiert, vertraten Schlemiel-Mitarbeiter wie Zlocisti und Jungmann auch essentialistische Auffassungen. In einem Exkurs zur „Rassenlehre“ in seinen Erinnerungen von 1959 grenzt sich Jungmann explizit von Arthur de Gobineau ab und würdigt zugleich ausdrücklich diesbezüglich so unterschiedlich argumentierende Autoren wie Ignacy Mauricy Judt, Heinrich Singer, Sandler und Maurice Fischer.102 Jungmann war in den Jahren 1902 bis 1906 Verfasser von Artikeln, die sich zwar gegen Chamberlain stellten, jedoch prinzipiell am Ras-

97 o. A.: Neuestes vom Centralverein. In: Schlemiel 6 (1919). S. 90. 98 Vgl. hierzu auch o. A.: In Köngsberg. In: Im deutschen Reich 4 (1919). S. 182–183. 99 o. A.: Der jüdische Kongreß. In: Schlemiel 18 (1920). S. 243–245, hier S. 243. 100 Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 235. 101 Gronemann, zitiert nach Schlör, Wenn schon (wie Anm. 10), S. 235. 102 Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 76–78. Jungmann bezieht sich auf folgende Publikationen: Judt, Ignacy Mauricy: Die Juden als Rasse. Eine Analyse aus dem Gebiete der Anthropologie. Berlin 1903; Singer, Heinrich: Allgemeine und spezielle Krankheitslehre der Juden, gemeinverständlich dargestellt. Leipzig 1904; Sandler, Aron: Anthropologie und Zionismus. Ein populärwissenschaftlicher Vortrag. Brünn 1904. Mit Maurice Fischer meint Jungmann vermutlich Maurice Fishberg: Fishberg, Maurice: Die Rassenmerkmale der Juden. Eine Einführung in ihre Anthropologie. München 1913. Vgl. hierzu Lipphardt, Veronika: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1935. Göttingen 2008. S. 72–131. Vgl. auch Mosse, George L.: The Jews: Myth and Counter-Myth. In: Theories of Race and Racism. A Reader. London [u. a.] 2000. S. 195–205, besonders S. 201–202.



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senkonzept festhielten.103 In einem Artikel von 1902 mit dem Titel Ist das jüdische Vok degeneriert? in der Welt bezog sich Jungmann positiv auf Gobineau, da dieser das „jüdische Volk“104 als einziges bezeichnet hatte, das nicht entartet sei: „Alles in allem sind die Juden eine im Sinne des Philosophen ‚reine‘, d. h. nicht degenerierte Nation, deren vortreffliche natürliche Anlagen sie zu einer kräftigen Aeusserung ihrer Individualität befähigen.“105 Zlocisti legte seine Auffassung zu diesem Thema beispielsweise im Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes mit Schriften von Moses Hess von 1905 dar: „Hess ist als spezifisch-jüdischer Rassentyp dargestellt. Aus seiner Abstammung fliessen seine Kräfte, Krämpfe, Leiden und Hoffnungen. So konnte er der Schöpfer einer ethischen und höheren Rassentheorie werden, als Gobineau sie gibt.“106 In seiner biografischen Studie konstatierte Zlocisti, dass die Juden „die höchste Ausprägung der semitischen Rasse“ seien „wie die Hellenen die der indogermanischen Völkerfamilie“107, und in seiner Hess-Biografie von 1921 schloss er sich in Abgrenzung zu Gobineau und Chamberlain einer „Rassenidee“ ohne „Wertsetzung“ bei Hess an.108 Auch die im Schlemiel verwendete Bildsprache enthält essentialisierende Elemente, da auf gängige Stereotype eines jüdischen Äußeren wie große Hakennase etc. zurückgegriffen wird. So kann Georg Schirmers zu einer Karikatur der Schlemiel-Mitarbeiter von Menachem Birnbaum schreiben: „Hier, wie übrigens auch in vielen seiner späteren Karikaturen, stellt Menachem Birnbaum unbefangen Gesichtszüge dar, die von antisemitischen Karikaturisten – und dann selbstverständlich in bösartig verzerrender Weise – als typisch jüdische Physiognomien verwandt wurden.“109 Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie diese Reproduktion von Stereotypen interpretiert werden kann. Handelt es sich um eine affirmierende Reproduktion oder gibt es auch Beispiele für eine Wiederverwendung tradierter Bilder mit dem Ziel diese zu parodieren oder zu hinterfragen? Ich möchte im Folgenden am Bei-

103 Jungmann, Max: Ist das jüdische Volk degeniert? In: Die Welt 24 (1902). S. 3–4; außerdem zu Chamberlain im Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums und 1906 im Jüdischen Volkskalender, vgl. Jungmann, Erinnerungen (wie Anm. 20), S. 77. 104 Jungmann, Ist das jüdische Volk (wie Anm. 105), S. 3. 105 Jungmann, Ist das jüdische Volk (wie Anm. 105), S. 4. 106 Zlocisti, Theodor: Vorwort. In: Moses Hess: Jüdische Schriften. Hrsg. v. Theodor Zlocisti. Berlin 1905, o. S. 107 Zlocisti, Theodor: Moses Hess. Eine biographische Studie. In: Moses Hess: Jüdische Schriften (wie Anm. 108). S. I–CLXXI, hier S. CV. 108 Zlocisti, Moses Hess (wie Anm. 52), S. 295. 109 Schirmers, Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 11.

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spiel des Stereotyps der ‚jüdischen Nase‘110 abschließend erläutern, ob und wie es im Schlemiel gelang, die Verwendung des Stereotyps kritisch zu beleuchten und Zuschreibungen zu durchkreuzen.

Abb. 2: Ludwig Wronkow: o. T. In: Schlemiel 6 (1919). S. 94. (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main.) Bildlegende: „Allen Assimilanten und anderen Deutschnationalen wird der bewährte Nasenformer ‚Antisemit‘ empfohlen.“111

Bereits in der ersten Ausgabe der Zeitschrift 1903, die noch unter dem Namen Schlemihl erschien, wurde eine Persiflage veröffentlicht: „Über die Darstellung

110 Vgl. hierzu genauer Schleicher, Regina: Antisemitismus in der Karikatur. Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im Deutschen Kaiserreich (1871–1914). Frankfurt /M. [u. a.] 2009, besonders S. 47–50. 111 Schlemiel 6 (1919). S. 94. Vgl. auch Schirmers, Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 21.



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von Nasen bei jüdischen und nichtjüdischen Künstlern“112, die sich auf einen Artikel in der Zeitschrift Ost und West bezog, in dem der Autor Nathanja Sahuwi, vermutlich ein Pseudonym, über den Künstler Ismael Gentz schreibt: „Die Hoffnung auf eine jüdische Kunst beseelt uns ganz; sie giebt unserer schwachen Kraft den Mut zu schaffen oder doch zu wagen. Da drängt sich oft in bangen Stunden die Frage an uns heran: Giebt es denn eine jüdische Kunst?“113 Am Beispiel einer ‚jüdischen Nase‘ als identitärer Markierung parodierte der Schlemihl diese Diskussion über eine jüdische Kunst, wie sie prominent vor allem von Martin Buber geführt wurde114. Das Thema einer ‚jüdischen Nase‘ wird in den Schlemiel-Ausgaben nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgegriffen. So erscheint 1919 eine Kurzgeschichte, gezeichnet von Maxim Neander – auch hier ist von einem Pseudonym auszugehen – mit dem Titel Das Erlebnis einer Nase.115 Die Hauptfigur Siegmund Hirschbein kann ihre große Nase erst lieben, nachdem die Schwellung nach einer Prügelei wieder zurückgegangen ist. Deutlich gegen den Antisemitismus, aber nicht gegen die Zuschreibung einer ‚jüdischen Nase‘ wendet sich eine Karikatur von Ludwig Wronkow, die einen „jüdischen Nasenformer“ zeigt, eine Apparatur, mit der die ‚jüdische Nase‘ umgeformt werden soll. Der Zeichner, der auch für die dadaistischen Zeitschriften Das Bordell und Faun arbeitete,116 schreibt später selbst über diese Karikatur: „Für das jüdische Witzblatt Schlemiel erfand ich den Nasenformer für die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, die so gerne gute Preußen werden wollten.“117 In den satirischen Kommentaren des Stereotyps einer jüdischen Nase machten die Autoren und Zeichner des Schlemiel selbst die Brüchigkeit ihrer Identität, die sich partiell auf essentialistische Vorstellungen stützte, deutlich. Diese Texte ermöglichen die von David Brenner in seiner Studie zu den „Briefen aus Neu-Neuland“, die in der ersten Generation des Schlemiel während des Kai-

112 Sahuwi, Nathan: Über die Darstellung von Nasen bei jüdischen und nichtjüdischen Künstlern. In: Der Schlemihl 1 (1903). S. 4. 113 Sahuwi, Nathanjah: Ismael Gentz. In: Ost und West 2 (1903). Sp. 85–98, hier Sp. 98. 114 Schirmers, Leben und Werk (wie Anm. 17), S. 13f. Vgl. zu diesem Beispiel auch Schleicher, Spott (wie Anm. 5), S. 42–43. 115 Neander, Maxim: Das Erlebnis einer Nase. In: Schlemiel 7 (1919). S. 105–106. 116 Bohrmann, Hans (Hrsg.): Ludwig Wronkow. Berlin – New York. Journalist und Karikaturist bei Mosse und beim „Aufbau“. Eine illustrierte Lebensgeschichte. Bearbeitet von Michael Groth u. Barbara Posthoff. München [u. a.] 1989. S. 33f. 117 Tonbandabschrift, Bd. 2. In: Bohrmann (Hrsg.), Ludwig Wronkow (wie Anm. 116), S. 33.

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serreichs erschienen, geforderte Lesart einer Theoretisierung von Brüchen.118 Das Aufgreifen von Heterostereotypen zur Selbstbeschreibung evoziert Ambivalenzen, die in expliziter Entgegnung und Parodie thematisiert werden. Auf diese Weise können sich zwar die Widersprüche, mit denen sich eine Identitätssuche deutscher Juden in dieser Zeit konfrontiert sah, nicht auflösen. Sie werden jedoch sichtbar gemacht und somit – zumindest – für eine humorvolle Bearbeitung geöffnet.

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118 Brenner, David A.: ‚Schlemiel, Shlimazel‘: A Proto-Postcolonialist Satire of ‚Germans‘, ‚Jews‘, and ‚Blacks‘. In: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte (wie Anm. 5) 1, S. 303–318, hier S. 305. In seiner Monografie zu Ost und West hatte D. A. Brenner die Rubrik noch als Verwendung von rassistischen Stereotypen über Schwarze mit dem Ziel einer Erhöhung von Juden interpretiert. Vgl. D. A. Brenner, Marketing Identities (wie Anm. 46), S. 198, Anm. 65.



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New Yorker illustrierte jüdische Zeitung [=Jiddische Illustrierte Zeitung/New Yorker Illustrirte Zeitung]. Hrsg. v. Abraham Goldfaden. New York 1887–1888. o. A.: Verlagsprospekt des Schlemiel, http://picasaweb.google.com/101256697434577425851/ ZeitschriftenPeriodika?authkey=Gv1sRgCPD5pK617Z7-JA&feat=embed website#5552013456152967762 (12. 3. 2012). Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für Modernes Judentum/Monatsschrift für das gesamte Judentum. Hrsg. v. Leo Winz, Davis Trietsch. Berlin 1901–1923. Sandler, Aron: Anthropologie und Zionismus. Ein populärwissenschaftlicher Vortrag. Brünn 1904. Schlemiel. Illustriertes jüdisches Witzblatt. Hrsg. v. Max Jungmann. Berlin 1903–1905; Einzelnummern 1906 und als Schlemiel. Organ der Zione-Territorialisten 1907. Simplicissimus. München 1896–1944. Singer, Heinrich: Allgemeine und spezielle Krankheitslehre der Juden, gemeinverständlich dargestellt. Leipzig 1904. Zlocisti, Theodor: Moses Hess. Eine biographische Studie. Berlin 1905. Zlocisti, Theodor: Vorwort. In: Moses Hess: Jüdische Schriften. Hrsg. v. Theodor Zlocisti. Berlin 1905. Zlocisti, Theodor: Moses Hess. Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus, 1812–1875. Eine Biographie. 2., vollkommen neu bearb. Aufl. Berlin 1921. Zweig, Arnold: Das ostjüdische Antlitz. Zu fünfzig Steinzeichnungen von Hermann Struck. Berlin 1920.

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Judentum als traditionelle Kritik Der Beitrag Max Wieners zum Bild des Jüdischen im Gespräch der Religionen „Daß ich, wo immer ich Gelegenheit dazu habe, jüdische Probleme zu erörtern, dies in dem mir positiv und fruchtbar erscheinenden Sinne tue, ist ganz selbstverständlich.“ (Max Wiener an Alfred Klee)1

Identität durch Dialog Nach Michael A. Meyer waren vor aller psychologischen und soziologischen Konjunktur des Wortes „Juden in der modernen Welt auf das Thema der Identität fixiert“.2 Identität ist Selbstverstehen und somit ein reflexiver Prozess und keine einem Subjekt anhängende Eigenschaft. Als reflexiver Prozess entsteht Identität nur in der Sozialität, genauer gesagt Identitäten geschehen in Gesprächssituationen, die eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zur eigenen Tradition provozieren. Das jeweilige Selbstbild oder die Selbstbeschreibung eines Individuums oder einer Gruppe wird auf diese Weise herausgefordert. Die herausgeforderte Selbstkennzeichnung muss in der Gesprächssituation verantwortet und kann als solche anerkannt werden. Gespräche sind somit gute Gelegenheiten. Die Verwendung der so gewonnenen Identität als Abgrenzungskriterium ist eine mögliche, jedoch keinesfalls zwingende Folge dieser Situation.3 Diese dialogische Ausrichtung des Nachdenkens über die eigene Herkunft und Zukunft in Philosophie, Theologie und Religion ist insbesondere ein kennzeichnendes Phänomen der Zeit nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges.

1 Der Brief Max Wieners an Alfred Klee vom 14. November 1930 ist abgedruckt in: Schine, Robert S.: Jewish Thought Adrift. Max Wiener (1882–1950). Atlanta 1992. S. 167. 2 Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt/M. 1992. S. 10. 3 Für das historische Volk Israel überhaupt kennzeichnet Seebass die Situation entsprechend wie folgt: „Identität ergibt sich ja stets aus einem Spannungsverhältnis der Abgrenzungen und dem stets wachen Bedürfnis nach Kommunikation mit Nachbarn, mit anderen Kulturen gerade nach deren Eigenheiten und im persischen Großreich zumal sozusagen mit der weiten Welt, der damaligen Oekumene.“ (Seebass, Horst: Israels Identität als Volk des einen Gottes. In: Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus. Hrsg. v. Werner Gephart u. Hans Waldenfels. Frankfurt 1999. S. 97).

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Der Dialog von Gesprächspartnern unterschiedlicher Herkunft vermittelt die Selbst- und Fremdbeschreibung des Einzelnen. Die religiös multiforme Gruppe um die Zeitschrift Die Kreatur, also die Richtung, die mit Franz Rosenzweig als das ‚Neue Denken‘ bzw. ‚Sprachdenken‘ bezeichnet wird, und deren am stärksten wahrgenommene Figur Martin Buber ist, stellt hierbei nur den markantesten Versuch dar, mit der Dialogizität menschlicher Existenz philosophisch und theologisch Ernst zu machen.4 Doch auch bei weniger beachteten Autoren finden sich entsprechende, einem monologisierenden Denken absagende Ideen. Eine interessante konkrete Gelegenheit zur selbstbildenden Auseinandersetzung war das Projekt des protestantischen Theologen Paul Tillich im Jahre 1929 für das zweite Buch des Kairos-Kreises, ein sich um Tillich etablierender Gesprächskreis religiöser Sozialisten. Tillich plante einen Sammelband, der den Protestantismus auf „das entscheidende, belastendste und darum auch fruchtbarste Problem seiner Existenz“ hinweisen sollte.5 Dieses Problem ist das Problem der Kritik. Tillich erhoffte sich Aufschluss über das Verhältnis von Kritik und Tradition im Protestantismus durch den Vergleich mit Positionen anderer religiöser Traditionen, die in einem gemeinsamen Forum kommunizieren sollten. Zu diesem Zwecke enthielt der Band wider die „Uniformität der Auffassungen“ Beiträge verschiedenster Provenienz. Neben protestantischen Theologen, wie dem Pastoralmediziner Adolf Allwohn6, dem psychologisierenden praktischen Theologen Alfred Dedo Müller7 und dem liberalen Theologen und Barth-Kritiker Theodor Siegfried8 wie dem später von der Roten Armee ermordeten Gegner

4 Vgl. das Vorwort der Herausgeber Martin Buber, Joseph Wittig und Victor von Weizsäcker zum ersten Heft der Kreatur: „Erlaubt aber und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch: der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eigenen Beschlossenseins, die Unterredung über die gemeinsame Sorge um die Kreatur.“ (In: Die Kreatur, Erster Jahrgang [1926/1927], S. 1). 5 Tillich, Paul: Vorwort des Herausgebers. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich. Darmstadt 1929. S. X–XI. 6 Adolf Allwohn (1893–1975), Theologe und Religionsphilosoph in Frankfurt, dann Psychotherapeut, sein Hauptarbeitsgebiet war die tiefenpsychologisch orientierte Seelsorge (siehe seine Schrift Allwohn, Adolf: Evangelische Pastoralmedizin. Grundlegung der heilenden Seelsorge. Stuttgart 1970.). 7 Alfred Dedo Müller (1890–1972), Praktischer Theologe in Leipzig, bemühte sich insbesondere um eine Integration psychologischer Erkenntnisse in die Seelsorgerausbildung. 8 Theodor Siegfried (1894–1971), Marburger Theologe und Religionsphilosoph, vertrat eine Theologie als Theorie religiöser Beziehung (vgl. Lüders, Ulrich: Theologie als Beziehungslehre. Geschichtsdeutung, Kirchentheorie und Religionsverständnis bei Theodor Siegfried in praktisch-theologischer Perspektive. Frankfurt/M. [u. a.] 2006). Seine Auseinandersetzung mit Karl Barth findet sich u. a. in: Siegfried, Theodor: Das Wort und die Existenz. Eine



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des Nationalsozialismus Ernst Lohmeyer9, steht ein Beitrag des fördernden SSMitglieds Heinrich Frick10, aber auch Texte unorthodoxer und nicht ‚zünftiger‘ Protestanten wie des Sprachdenkers Eugen Rosenstock11. In einer zweiten Abteilung, welche die Lösung des Problems im außerprotestantischen Christentum und im Judentum präsentiert, finden sich der Text eines ungenannten katholischen Geistlichen, der Aufsatz Simon Franks12 über die griechische Orthodoxie und, den Band abschließend, ein großer Beitrag des Berliner Rabbiners Max Wiener mit dem Titel Tradition und Kritik im Judentum.13 Ort und Zeit seines Erscheinens machen den Beitrag Wieners hinsichtlich des Themas ‚Bilder des Jüdischen‘ in besonderer Weise interessant. Im Folgenden geht es mir um eine Textanalyse eines vernachlässigten Textes des zu Unrecht wenig beachteten Autors Max Wiener, der zur Frage nach dem Bild des Jüdischen einen provokanten und merkwürdigen Beitrag liefert. Dabei beschränke ich mich aus Raumgründen auf konkrete Auseinandersetzung Wieners mit den Vorgaben des Herausgebers Paul Tillich. Im konkreten Zusammenspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung aus der Diskussionssituation des Sammelbandes heraus können die Ideen Wieners in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als paradigmatisch für den Prozess jüdischer Identitätsbildung innerhalb eines historisch markierten Gesprächszusammenhanges beschrieben werden.

Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. Band I: Die Theologie des Wortes bei Karl Barth. Eine Prüfung von Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik, Gotha 1930. 9 Ernst Lohmeyer (1890–1946), Neutestamentler u. a. in Breslau, zuletzt in Greifswald. 10 Heinrich Frick (1893–1952), systematischer Theologe und Religionswissenschaftler in Marburg, insbesondere befasst mit Missionskunde, 1937–1945 Dekan der Marburger Theologischen Fakultät. 11 Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), Rechtshistoriker, Andragoge und Soziologe jüdischer Herkunft, lehrte u. a. in Breslau und am Dartmouth College, seine Sprachphilosophie findet sich in: Rosenstock-Huessy, Eugen: Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band. Erster und zweiter Teil Heidelberg 1963, Zweiter Band. Dritter und vierter Teil Heidelberg 1964. 12 Simon Frank (1877–1950) russischer Philosoph jüdischer Herkunft, u. a. Schriften zur Gotteslehre und Religionsphilosophie. 13 Wiener, Max: Tradition und Kritik im Judentum. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich (wie Anm. 5), S. 347–407.

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Max Wiener und die Frage der jüdischen Identität Max Wiener, geboren 1882 in Oppeln, gestorben 1950 in New York, gilt der Nachwelt vor allem als repräsentativer Vertreter des liberalen Judentums seiner Zeit,14 vor allem aufgrund seiner biografischen Nähe zu Leo Baeck, dessen Schüler, Assistent und Nachfolger er an verschiedenen Orten, zuletzt in Berlin, war. Vielleicht hat auch und gerade seine Aufgeschlossenheit für seine geistige Umgebung – bei aller Rigorosität seiner auf das Judentum bezogenen Ideen – zu dieser Einordnung Wieners geführt. Wiener ist durch sein Studium am Fraenckelschen Seminar in Breslau sowie an der Lehranstalt in Berlin – sowohl als Schüler und als Lehrender an letzterer Institution – Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Ebenso ist er einer ihrer entschiedensten Kritiker, gerade auch was die Frage des hier vermittelten jüdischen Selbstbildes betrifft. Die Wissenschaft des Judentums prägte von Beginn an ein starker Impuls zur Identitätsbildung für die jüdische Bevölkerung. Allerdings ging es vor allem um eine politische Identität, welche durch die Wissenschaft als emanzipatorisches Instrument erreicht werden sollte. Nach dem bekannten Diktum von Immanuel Wolf bedeutet das: „Die wissenschaftliche Kunde des Judenthums muß über den Werth und Unwerth der Juden, über ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, anderen Bürgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden, entscheiden.“15 Dieses Bemühen zeitigte durchaus Erfolge, auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Zur Hauptzeit von Wieners Wirken während der Weimarer Republik war ein Dialog der Wissenschaft des Judentums mit der protestantischen Theologie in Gang gekommen.16 In seiner Offenheit für derartige Auseinandersetzungen insbesondere mit der protestantischen Theologie und seiner weitergehenden Bereitschaft, in der Gesprächssituation noch über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinaus eine existenziell-religiös eindeutige Position auch gegen etablierte Autoritäten

14 Vgl. Wiese, Christian: Artikel „Max Wiener“. In: Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher u. Otfried Fraisse. Stuttgart 2003. S. 350. 15 Wolf, Immanuel: Über den Begriff eines Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1823). S. 23. 16 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Leonore: Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums während der Weimarer Republik. In: Juden in der Weimarer Republik, Skizzen und Porträts. Hrsg. v. Walter Grab u. Julius H. Schoeps. Darmstadt 1998. S. 158. Vgl. auch die Rolle des theologisch vielgeschmähten Kulturprotestantismus bei der Abwehr des Antisemitismus (Nowak, Kurt: Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik [Kleine Schriften zur Aufklärung 4]. Wolfenbüttel/Göttingen 1991).



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und Idole zu beziehen, ist Wiener eine der interessantesten Figuren des deutschen Judentums der Weimarer Republik. Im konkreten Fall des Tillichschen Sammelbandes greift Wiener den Diskussionszusammenhang auf, um angesichts dieser Gelegenheit (durchaus im Sinne eines Kairos) das Jüdischsein mit einem dezidiert identifizierenden und identitätsstiftenden Inhalt zu füllen. Seine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Judentums zur Kritik richtet sich dabei nicht nur an die in Tillichs Band vertretenen anderen Konfessionen, sondern auch und im Speziellen an die eigene Religion. Sie ist Teil der Analyse, der Würdigung und der Überwindung der jüdischen Emanzipationsgeschichte, die er in seinem Hauptwerk, der Schrift über Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation aus dem Jahre 1933, ausführlicher und abschließend beschrieben hat.17 Es kam Wiener darauf an, nach dem sichtbaren Scheitern der Wissenschaft des Judentums als eines Exponenten jüdischer Emanzipationstendenzen, den Juden zu zeigen, wie sie aus sich selbst, d. h. aus ihrem Judentum heraus und ohne Anleihen an die Umgebung, sein und ihr Überleben selbsttätig sichern können. Nicht erst das Weltkriegserlebnis, Wiener war Frontrabbiner, hat zu seiner dialogbereiten Offenheit vor einem ernsten Hintergrund Anlass gegeben. Seit Beginn seiner intellektuellen Laufbahn ist er aufmerksamer Beobachter wie Teilnehmer an den Diskussionen seiner Zeit, und dies durchaus in interreligiöser Hinsicht. Vor allem interessiert an philosophischen Fragestellungen beschäftigt sich Wiener schon früh mit Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant, vor allem aber mit Fichte, dessen Denken er in seiner Dissertation J. G. Fichtes Lehre von Wesen und Inhalt der Geschichte untersucht.18 Auch später rezipiert er philosophische Neuerscheinungen, so etwa Spenglers Geschichtsmorphologie, der er eine ausführliche Rezension widmet,19 wie auch das aufkommende Sprachdenken in den Zwanzigerjahren.20 Zur innerjüdischen Diskussion um das Spinoza-Jahr 1932 nimmt er entschieden Stellung,21 wobei es ihm in den späteren Jahren vor

17 Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Hrsg. v. Daniel Weidner. Berlin 2002. 18 Wiener, Max: J. G. Fichtes Lehre vom Wesen und Inhalt der Geschichte. Kirchhain 1906. 19 Wiener, Max: Wirklichkeitsdeutung: Bemerkungen zu O. Spenglers Geschichtsphilosophie. In: Der jüdische Wille 2 (1919). S. 237–240. 20 Vgl. Schine, Jewish Thought Adrift (wie Anm. 1), S. 77. Siehe auch Schines Ausführungen zum Unterschied von Wieners Denken und der „Philosophy of Dialogue“ (Schine, Jewish Thought Adrift (wie Anm. 1), S. 81). 21 Vgl. hierzu bspw. Wiener, Max: Zur Geschichte der religiösen Aufklärung. II. Spinozas Stellung zur Religion der Offenbarung und III. Das Wesen der Religion und der Pantheismus Spinozas. In: Liberales Judentum 3 (1911). S. 155–158 und S. 207–210, später in aller Deutlichkeit: Unser Spinoza? Ein Nachwort zum Jubiläum. In: Jüdische Zeitung für

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allem darum geht, die Unangemessenheit des philosophischen Zugriffs bei der Beantwortung der Frage nach der jüdischen Identität aufzuzeigen. Das zunächst verdeckte, später aber konkret angesprochene Ziel seiner Philosophiekritik ist vor allem das Denken seines vormaligen Lehrers Hermann Cohen. Wiener diagnostiziert hier das entscheidende Übel für die jüdische Selbstbehauptung: Die unangemessene Begrifflichkeit philosophischen Sprechens führt zu einem inadäquaten Selbstbild. Seine entschieden vorgebrachte Ansicht ist, daß wir seit der Emanzipation der Juden im westlichen Europa mehr und mehr einem nichtjüdischen Religionsbegriff verfallen sind. Es ist ganz natürlich, daß es so kommen mußte; denn die Emanzipation brachte uns in die Gefahr der vollkommenen Assimilation. Und in der Verteidigung unsrer religiösen und geistigen Eigenart, in der Selbstbehauptung unsres Wesens, das in der Tiefe wesentlich als religiöses empfunden wurde, mußte der allgemeine Begriff der religiösen Idee in den Vordergrund rücken, d. h. Judentum mußte mit Christentum verglichen werden, an der Idee der wahren Religion mußten sie sich beide ausweisen […].22

Durch den Vergleich der jüdischen Religion mit einem allgemeinen Religionsbegriff jedoch geriet das Judentum in Sachen Identität vom Regen in die Traufe. Die Idee der ‚wahren‘ Religion, vermittelt durch einen allgemeinen Religionsbegriff, ist nämlich ein philosophisches Konstrukt,23 welches als solches zum einen ein völlig verzerrtes Bild von der Religion zeichnet, und, was noch schlimmer ist, zum anderen ein fehlleitendes Vorbild für das Nachdenken von Juden über sich selbst aufstellt. Das jüdische Selbstbild darf deshalb nicht von einem allgemeinen philosophischen Religionsbegriff abhängen. Genau hier setzt auch Wieners scharfe Kritik am liberalen Judentum an, welches eine vorschnelle Subsumption seiner Person unter diese Strömung zumindest als erläuterungsbedürftig erscheinen lässt. Mit signifikanten Parallelen zur Kritik der zeitgenössischen Lebensphilosophie an der Philosophiezunft erhebt Wiener folgenden Vorwurf: Dieses liberale Judentum ist seinem Inhalte wie seinem historischen Zusammenhang nach, der über die Person des Moses Mendelssohn geht, nichts andres als ein Ableger der deistischen Aufklärung. Und dem Wesen liberalistischer Denkweise entspricht es durchaus [,] an die Stelle seelischer Konkretheit, an den Platz der Wirklichkeit des Lebens, der Wirksamkeit des tatsächlichen Gefühls, den Gedanken, die Idee, eben die Weltanschauung zu setzen.24

Ostdeutschland 4 (27. 1. 1933), S. 1. 22 Wiener, Max: Was heißt religiöse Erneuerung?. In: Liberales Judentum 14 (1922). S. 5. 23 Wiener, Was heißt religiöse Erneuerung? (wie Anm. 22), S. 7. 24 Wiener, Was heißt religiöse Erneuerung? (wie Anm. 22), S. 7.



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In Cohens Denken nun findet nach Wiener diese Entwicklung der Emanzipation von der Lebenswirklichkeit zur (bloßen) Idee ihren letzten Ausdruck. Somit erscheint dessen Philosophieren in Sachen jüdischer Religiosität bestenfalls als nutzlos. Sein ehemaliger Schüler Wiener stellt eindeutig heraus, „daß uns Cohens Lehren von der Religion im allgemeinen und von der jüdischen im besonderen völlig als Konstruktionen aus rein philosophischem Systematisierungsbedürfnis heraus erscheinen.“25 Mittels einer philosophischen Verallgemeinerung ist also das rechte Bild des Jüdischen nicht zu gewinnen. Im Gegenteil wirkt ein solches Abbild fatal und wird durch Wiener drastisch gekennzeichnet. Die Präsenz der Idee auf dem Felde der Religion ist durch die Qualitäten eines Untoten, eines mörderischen Geistes aus der einschlägigen Schauerliteratur charakterisiert, der sich zu deren Verhängnis vom Blut der Lebenden nährt. Die Auswirkungen einer philosophischen Konstruktion mit geschichtsphilosophischer Ambition bezüglich einer ‚Idee‘ oder ‚Geistes des Judentums‘ auf die konkrete jüdische Existenz beschreibt Wiener mit einem eindrücklichen Bild. Es ist Vampirismus: „Der ‚Geist‘ des Judentums, oder was dafür gehalten wird, überschattet die lebendige Seele der Judenheit, die abstrakte Wahrheit rüstet sich, über blutvolle Wirklichkeit hinwegzuschreiten, und die Konsequenzen einer Lehre scheinen die unveräußerlichen Ansprüche des Lebens zu überwinden.“26 Dieses drastische Bild ist Produkt der philosophischen jüdischen Emanzipationsbewegung und ihrer Hauptprotagonisten. Auch hier schreckt Wiener in seiner fundamentalen Kritik nicht vor großen Namen und Traditionen zurück und nennt Anfangs- und Endpunkt einer scheinbar glanzvollen, letztlich jedoch fatalen Entwicklung: „Von Moses Mendelssohn bis Hermann Cohen versuchte man die Ablösung eines Lehrgehaltes von der konkreten körperhaften Basis der jüdischen Gemeinschaft; die Religion des Judentums wurde auf die absolute Erkenntnis der Philosophie bezogen.“27 Im Spiegel der Philosophie findet sich nach Wiener nur ein Schreckbild des Jüdischen, ungeeignet zur Charakteristik jüdischer Identität. Angesichts dieses Befundes kommt er so zu verstörenden Urteilen über bestimmte religionsdialogisch relevante Autoren. Unversehens werden Heroen der interreligiösen Verständigung Beispiele, wie

25 Wiener, Was heißt religiöse Erneuerung? (wie Anm. 22), S. 27. Gegen diese Interpretation vgl. insbesondere Dieter Adelmanns Betonung der Bedeutung des Jüdischen für das Denken Cohens (Adelmann, Dieter: „Reinige dein Denken“. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen. Hrsg. v. Görge K. Hasselhoff. Würzburg 2010). 26 Wiener, Max: Nationalismus und Universalismus bei den jüdischen Propheten. In: Der Jüdische Wille 2 (1919). S. 191. 27 Wiener, Max: Jüdische Frömmigkeit und religiöses Dogma. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (MGWJ) 68 (1924). S. 33.

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man ein Gespräch der Religionen nicht gestalten sollte. Wiener kritisiert beispielsweise den Säulenheiligen der Emanzipationsgeschichte und dessen heiligen Text, Lessing und seine Ringparabel nämlich, und zwar aus genau diesem Grund. Ein harmonisierender Dialog auf der Basis einer gemeinsamen Grundlage (Geschichte, Begriff, Idee etc.) ist nach Wiener ein philosophisches Konstrukt eines äußeren Beobachters. Wer dies zur Grundlage des Gesprächs mache, könne somit nicht das adäquate Selbstbild der Betroffenen wiederspiegeln. Entscheidende Kritikpunkte an Lessing als dem überkonfessionellen Aushängeschild der emanzipatorischen Bewegung finden sich schon in Wieners Dissertation. So hat Lessing in einer (für das Judentum) unannehmbaren Weise die Bedeutung der Offenbarung relativiert: „Nach diesem [Lessing, K. M. S.] verdankt die Menschheit der göttlichen Erziehung nichts, was sie nicht auch durch eigene Kraft erringen könnte. Die Offenbarung, d. i. die Erziehung der Gattung, beschleunigt nur den Prozess des Fortschreitens, ohne doch eine conditio sine qua non zu sein.“28 Die Ringparabel selbst bietet ein metasprachliches Konstrukt und hat den Kontakt zu der von ihr zu beschreibenden Objektsprache längst verloren. Dies ist sowohl abträglich für das Selbstbild der Religion wie auch für das Gespräch der Religionen untereinander. Anstatt eine dialogische Auseinandersetzung zu befördern, wird das Gespräch vielmehr behindert, da das metasprachliche Konstrukt dem Anspruch und dem Selbstbild der jeweiligen Religion nicht gerecht werden kann und der Dialog so im besonderen Sinne zu einer sinnlosen Veranstaltung wird. Das Bild, das hier entsteht, zeichnet Wiener wie folgt: Gibt es […] ein Recht der Koexistenz von Religionen? Die Fabel von den drei Ringen in Ehren. Aber sie hat doch bloß einen Sinn für denjenigen, der keinen Ring besitzt und mit mildem Lächeln den Streit von außen her beobachtet. Wer mittendrin steht, kann nicht glauben, daß der echte Ring verloren ging, wenn nicht sein unechter ihm wertlos werden soll. Unbildlich gesprochen: Der Religion muß Wahrheit innewohnen, wenn sie einen Sinn haben soll.29

In ihrem Optimismus und ihrer Versöhnlichkeit wirkt Lessings Ringparabel – jedenfalls in Wieners Darstellung – in der Tat sehr anheimelnd. Für Wiener selbst bleibt jedoch die wichtigere Frage unbeantwortet, ob dieses idyllische Bild sich nicht nur der Perspektive eines externen Beobachters verdankt, der sich als solcher natürlich evaluativer Äußerungen zu enthalten hat. Nur durch eine solche Perspektive wird der Kampf um die Wahrheit, der sich aus einem den monotheistischen Religionen inhärenten Anspruch auf Wahrheit speist, zu einem sinnlo-

28 Wiener, J. G. Fichtes Lehre, (wie Anm. 18), S. 65. 29 Wiener, Jüdische Frömmigkeit (wie Anm. 27), S. 156.



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sen Unterfangen. Demgegenüber macht Wiener sehr deutlich, dass ohne diese inhärente Wahrheit bzw. ohne diesen inhärenten Wahrheitsanspruch der Begriff der Religion sinnlos wird und infolgedessen das identitätsstiftende Selbstbild des Judentums als die (einzige) Offenbarungsreligion zusammenbricht.

Tradition und Kritik im Judentum Den Kampf gegen diese Auswirkungen emanzipatorischer Bewegung führt Wiener jedoch dezidiert nicht aus einer isolierten bzw. sich selbst isolierenden Position heraus. Vielmehr macht er das Milieu für das eigene Anliegen dienstbar. Im eigentlich religiösen Bereich zeigt sich Wiener als durchaus für die Forschungsansätzen christlicher Kollegen aufgeschlossen. Insbesondere hinsichtlich der bibelwissenschaftlichen Forschung ist er davon überzeugt, dass die Diskussion für das jüdische Selbstbild fruchtbar sein kann. Nicht überzeugt ist er jedoch von der Wissenschaft als solcher, die seiner Meinung nach Gefahr läuft, eine christianisierte Wissenschaft zu werden, ja qua Wissenschaft eigentlich schon die für eine Religion fatale Grundtendenz des Christentums teile, nämlich seine ihm immanente Tendenz zur Säkularisierung.30 Die Auseinandersetzung mit der christlichen Bibelwissenschaft nutzt Wiener also weniger zur Etablierung einer jüdischen Wissenschaft, sondern vor allem zur Profilierung des eigenen jüdischen Selbstbildes. In gleicher Weise gestaltet er den Dialog mit Philosophie und Theologie der Vergangenheit, aber auch und gerade der Gegenwart. An der gemeinsamen Unternehmung mit christlichen Kollegen verschiedener Konfessionen auf theologischer Basis im Sammelband Protestantismus als Kritik und Gestaltung wird dies insbesondere deutlich. Mit der Titelwahl hatte Tillich im ‚Protestantismus‘ den Bezugspunkt und in ‚Kritik und Gestaltung‘ die Perspektive der Darstellungen vorgegeben. Mit der Aufnahme des Bandes in die Reihe, die den religiös-politischen, im Kontext eines religiösen Sozialismus entwickelten ‚Kairos‘-Begriff Tillichs im Namen trägt, ist ebenso eine

30 „Auch die christliche Welt hat seit der Renaissance und dem Humanismus eine Umwandlung erfahren, die nicht anders charakterisiert werden kann, als daß sie eine Emanzipation von der Alleinherrschaft der religiösen Werte gewesen ist. Aber der Unterschied zwischen dieser allgemein europäischen und der jüdischen Emanzipation in bezug auf das Religiöse liegt auf der Hand. In der außerjüdischen Sphäre verlief diese Bewegung teils derart, daß die konsequente Entfaltung der religiösen Idee selber zu einer Säkularisierung des Gesamtlebens führte, wie sie etwa die Reformation im mittelalterlichen Geiste begonnen hat […].“ (Wiener, Jüdische Religion (wie Anm. 17), S. 27).

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gewisse sachliche Vorgabe festzustellen. Wieners großer Aufsatz Tradition und Kritik im Judentum zeigt nun in aller Schärfe die Schwierigkeit, aber auch den jeweiligen Nutzen eines Dialogs, der die gegenseitige Kommunikationsfähigkeit eruiert und zugleich das unverlierbar Eigene thematisiert. Als philosophierender Theologe mit entsprechenden Erfahrungen – Tillich war im Weltkrieg Feldprediger – ist der Herausgeber des Sammelbandes dabei für Wiener geradezu der ideale Gesprächspartner, um in diesem Dialog das eigene jüdische Selbstbild zu schärfen. In der Person des Herausgebers bietet sich also nicht nur die Chance zum interreligiösen Dialog, sondern gleichzeitig auch die Gelegenheit zum Dialog mit dem philosophischen und dem theologischen Denken. Der Dialog ist dabei keine bloß intellektuelle Auseinandersetzung unter zeitenthobenen Umständen, sondern findet unter den Bedingungen der katastrophalen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, d. h. des Ersten Weltkriegs und den revolutionären Umwälzungen in seiner Folge statt. In gewisser Weise ist sogar die Möglichkeit und Aufgabe des Dialogs überhaupt thematisiert. Um die Chance nicht verstreichen zu lassen, akzeptiert Wiener zunächst die Vorgaben des Dialogpartners und spielt gewissermaßen dessen Spiel auf dessen Feld unter dessen Bedingungen. Das Feld der Auseinandersetzung sind der Kritikbegriff und seine Funktion hinsichtlich der (religiösen) Tradition. Mit Bedacht wählt Wiener für den Titel seines Textes mit der Konjunktion Tradition und Kritik eine recht allgemeine Relationierung der Kernbegriffe. Doch anstatt die Begriffe Tradition und Kritik auf seine Religion anzuwenden wie es der Intention des Herausgebers des Bandes entsprochen hätte, wählt Wiener zur nachdrücklichen Selbstcharakteristik als Jude eine andere Vorgehensweise, die durch das Konterkarieren der Spielregeln die eigene Position umso deutlicher macht. Freilich ist sein Text auf den ersten Blick lediglich eine Geschichte des jüdischen Denkens hinsichtlich des Verhältnisses von Tradition und Kritik. Im Verlauf seiner Überlegungen präzisiert Wiener dann aber den von Tillich postulierten Gegensatz zwischen Tradition und Kritik als den Gegensatz zwischen „Sache und Persönlichkeit, zwischen Institution und Seele“.31 Mittels dieser Unterscheidung ist das alte protestantische Problem des Verhältnisses von Einzelnem und Kirche angedeutet, welches der Fragestellung zugrundliegt. Tradition und Kritik befinden sich im Judentum hingegen nicht in einem Gegensatzverhältnis, sondern vielmehr in einem wechselseitigen Fundierungs- und Explikationsverhältnis. Wiener problematisiert zunächst zum einen den Begriff des Judentums als eine fest abgegrenzte Einheit angesichts der Vielfalt der Ausprägungen, den die

31 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 396.



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„Religion des Alten Testamentes“32 erfahren hat. Zwar wird eine grundsätzliche Einheitlichkeit von ihm nicht bestritten, es zeigt sich jedoch, dass Einheit hier nicht als äußerlicher Sammelbegriff gelten kann, sondern (per Tradition) ein intern strukturierendes Prinzip darstellt. Zum anderen wird der Kritikbegriff in zwei Hauptlinien unterschieden, auf der einen Seite als der „Kampf um das rechte Verständnis des göttlichen Wortes und seine zuverlässige Überlieferung“33, welcher aber nicht ein Problem der durch Torah und Talmud eingerichteten wirklichen jüdischen Lebensordnung ist, sondern eine seelische Einstellung bzw. Frömmigkeit „in der engsten Bedeutung dieses Wortes“34 betreffe. Die „liberale Reform“ auf der anderen Seite pflege einen anderen Kritikbegriff, nämlich Kritik als „bewußte Opposition gegen das Traditionsprinzip selber“35, und suche so das Wesen oder den Geist der jüdischen Religion zu bestimmen. Das entscheidende Problem ist nun für Wiener die den religiösen ‚Verband‘ stiftende anfängliche Offenbarung als Grund jüdischer „Traditionsgesinnung“.36 Die Offenbarung stellt die jüdische Nation auf Dauer und zwingt so „ihre Gläubigen stets zum Blick auf ihren Ursprung“.37 Wie nun ist aber angesichts dieser grundsätzlichen Perspektivierung die Stellung der Propheten mit ihrer kritischen Botschaft? Tillich nimmt in seinem eigenen Text Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip gerade diese prophetische Botschaft als vom „Jenseits der Gestaltung“ stammend für den Protestantismus in Anspruch: „Die Kritik des Protestantismus ist prophetische Kritik.“38 Wiener macht jedoch deutlich, dass die Botschaft der Propheten nicht im Sinne der christlichen Formel ‚Ihr habt gehört …, ich aber sage euch‘ religionskritisch ist, sondern in Zeiten einer noch nicht erstarrten Religion durch den emphatischen Hinweis auf den Ursprung, also auf das Uralte, welches sich als das stets wahrlich Neue erweist, kritisch wirkt. Der Blick voraus ist der Blick zurück. Bei den Propheten geschehe dies durch das spezielle Kennzeichen religiöser Kritik, nämlich „Auslese und Neubewertung“, und zwar solcherart, dass sie hierdurch einen Blick auf das Ursprüngliche erlaubt, der so „das Gotteswort von einst beglaubigt“.39 Für die Propheten ist Kritik Präsent-

32 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 347. 33 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 347. 34 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 348. 35 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 348. 36 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 348. 37 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 349. 38 Tillich, Paul: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich. Darmstadt 1929. S. 3–38, hier S. 8. 39 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 353.

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machen des Ursprungs, welcher an jeder Stelle der historischen Entwicklung die gleiche, höchstrangige Bedeutung behält. Die von allem Nichtjüdischen scharf absondernde Lebensordnung ist also für alle Zeit unbedingt gültig „als das feste Fundament jüdischen Religionslebens“40, jedenfalls bis vor die Schwelle der Emanzipationsbewegung. Durch Einreihung mündlicher und schriftlicher Lehre in die Tradition wurde so ein Inhalt geschaffen, welcher „der Subjektivität und dem individuellen Urteil formal kaum noch einen Spielraum verstattet“.41 Für das rabbinische Judentum vollziehen sich Wandel und Fortschritt im traditionellen Gehäuse, Modifikationen finden ohne – im nichtjüdischen Sinne – traditionskritisches Bewusstsein oder Auflehnung statt. Wenn also die Lebensordnung in diesem Sinne als Selbstverständliche lebendig bleibt, so gibt es keine eigentlich geschichtliche Erinnerung: Das Gesetz gilt und ordnet immer und überall, d. h. das lebendige Gesetz manifestiert sich paradoxerweise als Statik. Kritik bedeutet hier also nicht, dass Grundlagen selbst zum Problem gemacht werden, sondern eine Neugewichtung innerhalb der Tradition, in die der gesamte „Daseinsbetrieb“42 einbezogen ist. Doch gerade diese Möglichkeit zeitigt eine „erhebliche Bewegungsfreiheit innerhalb des gesetzlichen Systems“.43 Durch Kritik getragener Fortschritt ist somit keine Entwicklung, sondern eine räumliche Expansion und interne Dynamik innerhalb des religiösen Feldes, die dem Einzelnen eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten bietet. Im Judentum ist die Tradition gegenwärtig und ermöglicht immer wieder das Neue. Wiener schreibt: „Das Neue kommt in Erklärung, im Verständnis, in der Sinnergründung des Alten zum Durchbruch.“44 Dies bedeutet nun nach Wiener eine immense Verantwortlichkeit des Einzelnen hinsichtlich Tradierung und Vermittlung des Alten, die aber nicht nur Bürde, sondern ebenso eine Aufgabe ist, die den persönlich Verpflichteten konkret mit Stolz erfüllt und gleichzeitig verhindert, dass dieser Stolz in einen bindungslosen Subjektivismus umschlägt. Es ist dies eine „unbedingte Demokratisierung unter der Herrschaft des religiösen Gebotes“.45 Doch alle diese Entwicklungen, insbesondere innerhalb der Halacha bleiben unbedingt traditionsgebunden und können „sich kaum einen wesentlichen Wandel der Dinge eingestehen“.46 Der individuelle Spielraum in Sachen Auslegung wird hierdurch jedoch kaum beschränkt. In dieser Hinsicht zeigt sich

40 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 355. 41 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 356. 42 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 364. 43 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 364. 44 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 365. 45 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 367. 46 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 369.



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der talmudisch-rabbinische Geist als fruchtbar für das religiöse Leben, gerade weil er durch den Gedanken, dass das Neue in Wahrheit ein Altes ist, den „Traditionalismus als Gesinnung“47 erzeugt. Streitigkeiten werden so niemals zu Konflikten zwischen Alt und Neu – also gegen die Tradition –, sondern sind Kämpfe von traditionalistischen Schulen. Das Karäertum ist laut Wiener somit ein biblizistischer Traditionalismus ohne die lebenspraktische Anpassungskraft des Talmudismus; und für Maimonides steht die Autorität der Tradition unbestritten fest. Im Gegensatz zur rabbinischen Frömmigkeit werde hier allerdings die (philosophische) Theorie über die Praxis gestellt, deren Vernunftbezogenheit zu einem aristokratischen Mystizismus führt, welcher, wie bei Spinoza ablesbar, letztlich der entscheidenden religiösen Idee des Gottesvolkes zugunsten einer persönlichen philosophischen Frömmigkeit, einer nur persönlichen Religion, zuwiderlaufe.48 Jedoch gibt es, wie Wiener zeigt, eine einflussreiche Gegenbewegung. Wider die philosophische Übermächtigung mobilisiert etwa der Dichter Jehuda haLevi in seinem Kampf gegen die rationalistisch-aristotelischen Tendenzen der Rabbiner das „Eigenrecht des Religiösen“49, die Religion des Gottesvolkes. Die Kabbalah ist nach Wiener zu interpretieren als die Ausbuchstabierung des Traditionalismus in eine Stimmung „mystischer Zeitlosigkeit oder Vergegenwärtigung“50, in der das Wunder immer wieder präsent ist, „die unmittelbar zu erlebende Gegenwart Gottes“.51 Resümierend schreibt Wiener: „Die gesamte bisher beschriebene Entfaltung der ‚Kritik‘ und ihres Verhältnisses zur Tradition hat das gemeinsam, daß die Tradition selber und ihre Abstammung aus göttlicher Offenbarung nie zum Problem gemacht wird.“52 Die Entwicklung spiele sich vielmehr innerhalb des gleichsam axiomatischen Bezugsrahmens der Tradition ab. Die liberale Reform des Judentums ist nun ein Problem, da sie nicht eine in erster Linie religiöse, sondern zudem und oftmals in erster Linie eine politisch-opportunistische Bewegung darstellt. Zugunsten der Integration der Juden in die (staats-)bürgerliche Gesellschaft wird nach Wiener dem Judentum entnationalisierend der religiös entscheidende Gottesvolkcharakter genommen und es gleichzeitig in eine ‚Konfession‘ umgewandelt. Dies geschieht durch systematisierend-begriffliche Stilisierung, die als solche das Maimonidische Programm wiederholt. Jedoch hier wie in der aufkommenden Wissenschaft vom Judentum bewahrt und bewährt sich

47 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 374. 48 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 386. 49 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 388. 50 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 393. 51 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 397. 52 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 401.

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der „traditionalistische Geist“. Er führt zum Traditionalismus als Gesinnung, die sowohl der liberalen wie auch der orthodoxen Strömung im Judentum zueigen ist und die den postulierten Gegensatz beider für Wiener schlicht verschwinden lässt.53 Die Wissenschaft des Judentums wiederum stellt sich letztlich, wie Wiener am Beispiel der Überlegungen Abraham Geigers zeigt, als Versuch dar, in gleichsam talmudischer Weise den Traditionalismus als solchen aufzuhellen, um ihn zu einem lebendigen Faktor praktischer Lebensgestaltung zu machen: Der Kampf geht nicht um Leugnung und Ausmerzung des in der talmudisch-rabbinischen Tradition enthaltenen religiösen Gutes, sondern es ist ein Kampf um das Recht jeder Generation, für die Gestaltung ihres religiösen Lebens die ihr eingehenden Formen zu schaffen, veraltetes, überlebtes Brauchtum abzustoßen, das überkommene Erbe im Sinne lebendig gewordenen Geistes umzuschmelzen und zu nutzen.54

Die religiöse konstitutive Charakteristik des Judentums als Gottesvolk ist dabei von entscheidender Bedeutung. Diesen bleibenden, sich aus der Offenbarung speisenden Charakter als eigentlichen Identitätsmotor jüdischer Individuen aufzuzeigen, ist der historische Sinn des Zionismus.55 Wiener schreibt abschließend hinsichtlich der jüdischen ‚Urheimat‘: Aber die göttlich erlebte Pflicht, sich in seiner Blutsgemeinschaft um jeden Preis zu behaupten, die Durchdringung allgemein seelischer und geistiger Anlagen mit dem treu festgehaltenen heiligen Erbgut, die durch das Religionsgesetz ebenso wie durch ein eigenartiges Schicksal geschaffene tiefe Charakterprägung haben ein nationales Selbst erzeugt, das nicht aufgelöst werden kann, soll diese Religion nicht ihren Sinn verlieren. Die jüdische Religion selber verlangt bei allem Universalismus ihrer Gotteslehre das jüdische Volk.56

53 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 404. 54 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 405. 55 Wiener ist aufgrund der Bedeutung, die er den Begriffen ‚Offenbarung‘ und ‚Nation‘ für die jüdische Religion zuschreibt, ein starker Befürworter des Zionismus. Robert S. Schine schreibt: „[…] he reclaims the ‚national idea‘ for Liberal Judaism, and, as a rabbi and religious leader, argued that modern Judaism, including its ,Liberal‘ branch, would find its fulfillment in Zionism.“ (Schine, Jewish Thought Adrift [wie Anm. 1], S. 120). Dieses nicht zuletzt auf seine Fichte-Studien zurückzuführende und vom Zionismus erhellte Bild des Jüdischen ist Wieners Alternative zum Bild des Jüdischen, welches die von ihm kritisierte Emanzipationsgeschichte vermittelt. 56 Wiener, Tradition und Kritik (wie Anm. 13), S. 407.



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Tradition als Kritik Wiener liefert also in seinem scheinbar historisierenden Aufsatz ein paradoxes Ergebnis. Er beschreibt im Hinblick auf Tradition eine ‚Geschichte‘ des Judentums, welche gerade dessen Geschichtlichsein durch den Nachweis der ständigen Präsenz des konstitutiven Elements der Offenbarung in seinen verschiedenen historischen Gestaltungen nachdrücklich problematisiert. Die nichtgeschichtliche Geschichte ist der Grund der Einheit des Judentums. Im signifikanten Gegensatz zu Tillich, ist die Gestalt der Gnade im Judentum nicht bloße „Bedeutungsgestalt“57, sondern Nationalgestalt im Sinne des Gottesvolkes. Kritik im Judentum zeitigt keinen linearen Geschichtsablauf, sondern eine Explicatio, eine Entfaltung der individuellen Möglichkeiten im Rahmen der Offenbarung.58 Kritik problematisiert somit nicht die zeitlichen Gestalten, sondern durchdringt sie in ermöglichender Weise. Das Judentum mit seiner grundsätzlichen traditionalistischen Gesinnung ist somit kein „Museum der Theorie“59, sondern behält und bewahrt seinen Nutzen für das Leben. Diese komplizierte Auffassung kritischer Tätigkeit zeigt deutlich die Abgrenzung vom protestantischen kritischen Projekt, wie Tillich es beschreibt. Die Kritik des Judentums bewegt sich innerhalb eines gesetzten (gesetzlichen) Rahmens, die protestantische Kritik attackiert von einem äußeren Punkt, nämlich vom Ewigen her über die zeitlichen Gestalten. Hatte Tillich im Vorwort des Buches Protestantismus als Kritik und Gestaltung die unbedingte Kritik, die so vom Ewigen her über jede Gestaltung in der Zeit ergeht, als die Basis einer protestantischen Haltung bestimmt,60 so charakterisiert Wiener die mögliche Kritik im Judentum als eine dynamische ‚Schwergewichtsverlagerung‘ innerhalb eines axiomatischen Rahmens der Tradition. Zwar scheint dies nur eine bedingte Kritik zu sein, sie hat aber gerade aufgrund ihrer Verwurzelung in der Tradition die Kraft, etwas wesenhaft Neues zu Tage zu fördern. Sie ist in diesem Sinne des Präsentmachens der Wurzeln radikaler als eine alle Verwurzelung in Frage stellende protestanti-

57 Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip (wie Anm. 38), S. 20. 58 Entsprechend gestaltet sich Wieners Historiografie: „Er erzählt die Geschichte des modernen Judentums weder als Emanzipationsgeschichte, als Befreiung des eigentlichen Judentums von äußerlichen Schranken, noch als Verfall der Frömmigkeit oder als Anpassung des Judentums an seine Umwelt, sondern relativierte diese Sichtweisen – die ja noch heute oft das Geschichtsbild von der Emanzipationszeit bestimmen – als Sichtweisen der einzelnen Parteien.“ (Weidner, Daniel: Max Wiener. Säkularisierung und das Problem der jüdischen Philosophie. In: Transversal 6 (2005). S. 50). 59 Vgl. Schine, Jewish Thought Adrift (wie Anm. 1), S. 84. 60 Tillich, Vorwort (wie Anm. 5), S. IX.

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sche Kritik.61 Für das Judentum ist Kritik das Bewusstsein der Gegenwart der Tradition und somit kairologisches Organ des Unbedingten. Sie ist eine neue Erfüllung mit altem Gehalt. Somit ist nicht die Kritik Basis einer kritischen Haltung, sondern vielmehr die Tradition selbst. Hier kommt ein Unterschied im Verhältnis zur Geschichte bzw. des Geschichtsbildes in besonderer Weise zum Tragen. Die Geschichte des Judentums ist Geschehen der Offenbarung und bildet keinen Zeitenstrom aus. Dieses Geschichtsbild als Strom ist vielmehr für das Christentum charakteristisch62 und ebenso in gewisser Weise auch für die letztlich politische Agenda der jüdischen Emanzipationsbewegung wie für das Projekt eines religiösen Sozialismus. Bei Tillich heißt es entsprechend: Für die protestantische Entgegenständlichung der Gnade ist die Wesens-Sphäre dynamisch; in ihr wird das Neue gesetzt. Die Geschichte ist der Ort der Wesenheiten. Die Idee steht im Historischen, nicht jenseits seiner. Die Gestalt der Gnade ringt ständig um Verwirklichung in den wechselnden historischen Gestalten. […] Die Gestalt der Gnade als lebendige Gestalt und damit die Geschichte als Ort der Wesensverwirklichung: Das liegt im protestantischen Prinzip beschlossen und muß aus ihm herausgeholt werden.63

Dieses dynamische Bild ist dem Bild des Jüdischen fremd, denn nicht Geschichte ist hier der Ort der ‚Wesensverwirklichung‘, sondern allein die Offenbarung, die im Gottesvolk resultiert. Die Kritik im Judentum führt zur Nationalisierung. Kritik ist zwar auch dem Christentum immanent, führt aber letztlich zur Säkularisierung.64 Im Christentum verselbstständigt sich das kritische Prinzip und führt

61 Somit läuft auch das Judentum dem Protestantismus den religionsgeschichtlich innovativen Rang ab: „Auf diese Weise wurde zum erstenmal der Wortsinn dessen, was in der Weltgeschichte als ‚Reformation‘ bezeichnet wurde, ein Programm des Handelns.“ (Liebeschütz, Hans: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum Jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich. Tübingen 1970. S. 201). 62 „Aber alles Wesentliche im jüdischen Dasein war festgelegt durch die Tradition, in der die sinaitische Offenbarung ausgelegt und weitergeführt worden war. Was von außen kam, in der Regel ein machtvoller Druck oder – in Ausnahmefällen – eine freundliche Unterstützung, bildete keine ‚Geschichte‘ für den Juden, der es als seine Aufgabe ansah, den heiligen Beruf seines Volkes weiterzutragen.“ (Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig [wie Anm. 61], S. 207). 63 Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip (wie Anm. 38), S. 35. 64 Vgl. hierzu Stünkel, Knut Martin: Die letzte Entdeckung des Christentums durch die Wissenschaft des Judentums bei Max Wiener. In: Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums. Hrsg. v. Görge K. Hasselhoff. Berlin/New York 2010. S. 301–343. Vgl. hinsichtlich der Fremdheit der jüdischen Tradition gegenüber der Geschichte Weidner, Daniel: Nachwort. In: Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (wie Anm. 17), S. 292.



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zur Selbstaufhebung. Während christliche Identität in Selbstauflösung besteht, erweist sich jüdisches Leben als Bleibendes. In diesem Sinne kann Wieners späte Selbstcharakteristik als überlebender deutscher Jude aus dem Jahre 1949 durchaus verallgemeinert werden: „We have become history, but the true history is not only past, but also present and future.“65 Das durch Tillichs Sammelband manifestierte Gespräch der Religionen macht somit deutlich, dass Kritik nur dann lebenspraktisch fruchtbar gemacht werden kann, wenn sie in Form jüdischer Frömmigkeit daherkommt. Dieses emphatische und verantwortungsvolle Selbstbild des Jüdischen ist für Max Wiener die Lösung des Problems der Kritik im Judentum.

Literatur Adelmann, Dieter: „Reinige dein Denken“. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen. Hrsg. v. Görge K. Hasselhoff. Würzburg 2010. Allwohn, Adolf: Evangelische Pastoralmedizin. Grundlegung der heilenden Seelsorge. Stuttgart 1970. Buber, Martin/Wittig, Joseph/Weizsäcker, Victor von: Vorwort zum 1. Heft der „Kreatur“. In: Die Kreatur I (1926/27). S. 1-2. Liebeschütz, Hans: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum Jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich. Tübingen 1970. Lüders, Ulrich: Theologie als Beziehungslehre. Geschichtsdeutung, Kirchentheorie und Religionsverständnis bei Theodor Siegfried in praktisch-theologischer Perspektive. Frankfurt/M. [u. a.] 2006. Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt/M. 1992. Nowak, Kurt: Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik (Kleine Schriften zur Aufklärung 4). Wolfenbüttel/ Göttingen 1991. Rosenstock-Huessy, Eugen: Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band. Erster und zweiter Teil. Heidelberg 1963, Zweiter Band. Dritter und vierter Teil. Heidelberg 1964. Schine, Robert S.: Jewish Thought Adrift. Max Wiener (1882–1950). Atlanta 1992. Seebass, Horst: Israels Identität als Volk des einen Gottes. In: Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus. Hrsg. v. Werner Gephart u. Hans Waldenfels. Frankfurt/M. 1999. S. 87–104. Siegele-Wenschkewitz, Leonore: Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums während der Weimarer Republik. In: Juden in der Weimarer

65 Wiener, Max: The Jews from Germany who Survived. In: Congregation Habonim, New York, Anniversary Year Book (New York 1949). S. 16. Hier zitiert nach: Schine, Jewish Thought Adrift (wie Anm. 1), S. 174.

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Republik, Skizzen und Porträts. Hrsg. v. Walter Grab u. Julius H. Schoeps. Darmstadt 1998. S. 153–178. Siegfried, Theodor: Das Wort und die Existenz. Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. Band I: Die Theologie des Wortes bei Karl Barth. Eine Prüfung von Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik. Gotha 1930. Stünkel, Knut Martin: Die letzte Entdeckung des Christentums durch die Wissenschaft des Judentums bei Max Wiener. In: Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums. Hrsg. v. Görge K. Hasselhoff. Berlin/New York 2010. S. 301–343. Tillich, Paul (Hrsg.): Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Darmstadt 1929. Tillich, Paul: Vorwort des Herausgebers. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich. Darmstadt 1929. S. IX–XI. Tillich, Paul: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich. Darmstadt 1929. S. 3–38. Weidner, Daniel: Nachwort. In: Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Hrsg. v. Daniel Weidner. Berlin 2002. S. 283–295. Weidner, Daniel: Max Wiener. Säkularisierung und das Problem der jüdischen Philosophie. In: Transversal 6 (2005). S. 41–64. Wiener, Max: J. G. Fichtes Lehre vom Wesen und Inhalt der Geschichte. Kirchhain 1906. Wiener, Max: Zur Geschichte der religiösen Aufklärung. II. Spinozas Stellung zur Religion der Offenbarung und III. Das Wesen der Religion und der Pantheismus Spinozas. In: Liberales Judentum 3 (1911). S. 155–158 und S. 207–210. Wiener, Max: Nationalismus und Universalismus bei den jüdischen Propheten. In: Der Jüdische Wille 2 (1919). S. 190–200. Wiener, Max: Wirklichkeitsdeutung: Bemerkungen zu O. Spenglers Geschichtsphilosophie. In: Der jüdische Wille 2 (1919). S. 237–240. Wiener, Max: Was heißt religiöse Erneuerung?. In: Liberales Judentum 14 (1922). S. 5–9 u. 26–29. Wiener, Max: Jüdische Frömmigkeit und religiöses Dogma. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (MGWJ) 67 (1923). S. 153–167 und S. 225–244, MGWJ 68 (1924), S. 27–47. Wiener, Max: Tradition und Kritik im Judentum. In: Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Hrsg. v. Paul Tillich. Darmstadt 1929. S. 347–407. Wiener, Max: Unser Spinoza? Ein Nachwort zum Jubiläum. In: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland 4 (27. Januar 1933). S. 1. Wiener, Max: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Hrsg. v. Daniel Weidner. Berlin 2002. Wiese, Christian: Artikel „Max Wiener“. In: Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher u. Otfried Fraisse. Stuttgart 2003. S. 350–353. Wolf, Immanuel: Über den Begriff eines Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums 1 (1823). S. 1–24.

Susanne Düwell

„Das zwangshaft projizierende Selbst“ Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovici Zentrales Thema des Autors Doron Rabinovici ist die Auseinandersetzung mit Identitätszuschreibungen vor dem Hintergrund des Diskurses über Nationalsozialismus und Shoah. Im Fokus der Romane stehen jüdische Protagonisten, die gezwungen sind, im Kontext der österreichischen Gesellschaft auf Zuschreibungen jüdischer Identität und Versatzstücke eines fortwirkenden Antisemitismus zu reagieren. Eine zusätzliche Verschärfung erfährt diese Konstellation durch die Tatsache, dass das Verhältnis der Protagonisten zur Generation der Eltern – Überlebenden der Shoah – ebenfalls durch Projektionen und die Weitergabe von Traumatisierungen gekennzeichnet ist. Hinzukommt ein vielfach spannungsreiches Verhältnis von Diaspora und Israel. Die Probleme und Aporien der Fremd- und Selbstzuschreibungen werden in den literarischen Texten durch ironische, groteske oder fantastische Textelemente gebrochen. Rabinovici hat auch in politischen Beiträgen und Essays diese Konstellation analysiert: Für die Nachkommen der Opfer, die in den Ländern der Täter – Deutschland und Österreich – leben, konzentriert sich die Differenz zwischen nicht-jüdischer deutscher und jüdisch-deutscher Seite auf differente politische Erfahrungen und eine differente Perspektive auf die Geschichte Deutschlands und Österreichs: „Die gemeinsame Geschichte definiert die jüdische und die österreichische Gegenwart, verläuft wie Stacheldraht zwischen beiden Identitäten.“1 Eine Besonderheit der Situation in Österreich ist bedingt durch die Tatsache, dass das offizielle Österreich lange Zeit Verantwortung für die Geschichte abgelehnt und für sich die ‚Opferthese‘ in Anspruch genommen hat, mit der Konsequenz, dass die eigentlichen, jüdischen Opfer unterschlagen werden mussten. So entstand das Dilemma, dass sowohl die Markierung jüdischer Identität – wie jede fixierende Identitätszuschreibung – als auch die Unsichtbarkeit jüdischen Lebens in den Ländern der Täter problematisch erscheinen. Diese Ausgangssituation wird bei Rabinovici vielfach verknüpft mit einem Motivkomplex der Mimikry sowie der Auflösung, Vertauschung und Verdoppelung von Identität, als Ausdruck der komplexen und mitunter aporetischen Situation jüdischer Figuren im deutschen/österreichischen Kontext, und ist vor allem im Roman Suche nach

1 Rabinovici, Doron: Credo und Credit. Einmischungen. Frankfurt/M. 2001. S. 137.

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M. korreliert mit einem Konzept antisemitischer (und philosemitischer) Projektionen, das an Adornos und Horkheimers Antisemitismustheorie anknüpft. Im Folgenden soll die Auseinandersetzung mit Bildern des Jüdischen in den Texten Rabinovicis einer genaueren Analyse unterzogen werden, im Zentrum der Lektüre wird der Roman Suche nach M. stehen, gefolgt von einigen Überlegungen zum Roman Andernorts in Relation zum Thema Transkulturalität und deutschjüdische Kultur bzw. Literatur. Rabinovicis Suche nach M. Roman in zwölf Episoden2 ist fokussiert auf die Entwicklung zweier Söhne von Überlebenden der Shoah, geboren im Wien der 1960er-Jahre. In Szene gesetzt wird, wie politische Kontinuitäten zur nationalsozialistischen Vergangenheit in der österreichischen Gesellschaft und die traumatische Erfahrung der Eltern auch das Leben der folgenden Generation bestimmen. Durch das Schweigen der Überlebenden wird das transgenerationelle Fortwirken der NS-Verbrechen noch forciert. Was die beiden Protagonisten – Dani Morgenthau und Arieh Fandler – in Rabinovicis Roman auszeichnet und das fantastische Element des Romans generiert, ist ihr übernatürliches mimetisches Vermögen in Bezug auf Verbrechen in einer Gesellschaft, die ihre eigene Schuld und Verstrickung abwehrt. Beide spüren nicht nur Verbrecher auf, sondern sie gleichen sich diesen mimetisch an. Bei Arieh Fandler führt das zu einer unwillkürlichen äußerlichen Mimikry an das Erscheinungsbild des Täters, diese Gabe zur Inkorporation macht sich der israelische Geheimdienst zunutze. Dani Morgenthau, der mit allergischen Hautreaktionen auf die unausgesprochene Schuld anderer reagiert, verfügt dagegen schon als Kind über ein detailliertes Wissen und eine Innenansicht aller möglichen Verbrechen. Das Hineinversetzen in die Schuld anderer und die damit verbundene allergische Reaktion dominierten die Figur derartig, dass individuelle Züge zunehmend verschwinden. Dieser Prozess steigert sich beim Erwachsenen in grotesker Weise, so dass sich Morgenthau aufgrund seiner Hauterkrankung ganz in Mullbinden hüllt und zu einem in der Wiener Presse viel diskutierten Phantom namens Mullemann mutiert, der in die kriminalistische Verfolgung unaufgeklärter Verbrechen einbezogen wird. Dieser öffentlichkeitswirksame Aspekt der Figur verweist darauf, dass sowohl antisemitische als auch philosemitische Zuschreibungen – gemäß der Definition Adornos, der Antisemitismus sei „das Gerücht über die Juden“3, – involviert sind in einen Prozess zirkulierender Gerüchte.

2 Rabinovici, Doron: Suche nach M. Roman in zwölf Episoden. Frankfurt/M. 1997. Zitate aus diesem Roman werden im Folgenden nur durch Seitenzahlen in nachgestellten Klammern kenntlich gemacht. 3 Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem



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Der aus seiner allergischen Reaktion resultierende Geständniszwang von Mullemann/Morgenthau invertiert die Schuldabwehr der österreichischen Gesellschaft, spielt aber auch auf die Übernahme antisemitischer Schuldzuweisungen an. Die Figur Mullemann bleibt befangen im Schema der Projektionen, seien es positive oder negative. In einem weiteren Schritt wird der Mechanismus der Projektionen auf den Bereich der Kunst übertragen. Am Beispiel der Rezeption eines Gemäldes mit dem Titel „Ahasver“ wird die Problematik Mullemanns auf ästhetischer Ebene gespiegelt: In Anlehnung an das Dorian-Gray-Motiv wird das Bild zum Spiegel für alle Betrachter. Für die Konstruktion von Rabinovicis Roman sind Dualismen und Spiegelungen zentral, vielfach arbeitet er auch mit Inversionen, die zwar parodistische Effekte erzeugen, jedoch in einem dualistischen Schema verbleiben.4 Dieses Schreibverfahren verweist sowohl auf die nach wie vor bestehende Opposition von Opfer- und Täterperspektive in Bezug auf den Nationalsozialismus als auch auf den Projektionscharakter des Antisemitismus, von dem noch die Gegenwart in Deutschland und Österreich geprägt ist. Darüber hinaus wird die Frage verhandelt, ob ein Selbstverständnis möglich ist, das sich von der Opferrolle oder dem Zwang, seine jüdische Identität zu verbergen, – d. h. von den Mechanismen der Projektion und Mimesis – abkoppeln kann. In diesem Kontext wird auch die Frage reflektiert, inwiefern die Bindung an Israel einen Ausweg aus Projektionen und tradierten Mustern bieten kann. Entsprechend der dualistischen und teilweise parodistischen Anlage des Romans bleibt die Konstruktion der Figuren weitgehend typenhaft. Einerseits werden die jüdischen Figuren der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegengesetzt, andererseits differenziert sich auch das Arsenal der jüdischen Figuren polar. In der Konzeption der beiden zentralen Protagonisten werden

beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1997. S. 125. 4 Das Motiv der Verdopplung ist nicht nur in den Romanen Rabinovicis prominent, sondern ein zentrales, fantastisches Motiv (deutsch-)jüdischer Literatur, mit dem Fragen der Identität im Kontext von Shoah, Antisemitismus und des Nahost-Konflikts reflektiert werden. Zu denken ist etwa an den satirischen Roman „Der Nazi und der Friseur“ von Edgar Hilsenrath, in dem das Doppelgängermotiv als satirisches Spiel mit antisemitischen Stereotypen und als Parodie der ‚deutsch-jüdischen Symbiose‘ gelesen werden kann. Grundsätzlich lässt sich das Doppelgängersujet interpretieren als Versuch innerhalb der auf die Shoah bezogenen Literatur stereotype Repräsentationsformen durch provozierende Verbindungen von Täter und Opfer aufzubrechen. Weitere Beispiele für eine derartige Verwendung des Doppelgängermotivs wären neben Rabinovicis „Andernorts“ der Roman „Gebürtig“ von Robert Schindel, „Operation Shylock“ von Philip Roth, „Die Tochter“ von Maxim Biller oder „Die Leinwand“ von Benjamin Stein.

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zwei Konstruktionen jüdischer Identität entworfen. Mullemann verkörpert u. a. das Zerrbild des Diaspora-Juden: vergangenheitsfixiert, krank, undefinierbar, rastlos. Demgegenüber migriert die Figur Arieh nach Israel, er ist in der Lage, sich und sein Land zu verteidigen, eingebunden in ein Kollektiv. Diesem Dualismus korrespondiert topografisch die Differenz zwischen dem vergangenheitsgesättigten Wien und dem modernen Tel Aviv. In der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Entwicklung der Protagonisten könnte das Leben in Israel zunächst als zukunftsfähige Alternative zum Leben in den Täterländern aufgefasst werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass in Übereinstimmung mit Adornos und Horkheimers Theorie des Antisemitismus für die Konstruktion der Figuren in Rabinovicis Roman die Begriffe Mimesis und Projektion konstitutiv sind, aber auch für den Konnex von Antisemitismus und Ästhetik in Anschlag gebracht werden können. Der Roman reflektiert dementsprechend die Bedeutung von Kunst und kulturellen Inszenierungen für die gesellschaftliche Tradierung antisemitischer Mythen. Nach Adorno/Horkheimer wird in der bürgerlichen Gesellschaft ein Verbot des Rückfalls in mimetisches Verhalten errichtet.5 Mimetische und magische Züge werden nur noch im anderen, besonders den Juden, gesehen und verfolgt: Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis [...]. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind.6

Die Idiosynkrasie der Antisemiten richtet sich gegen das Besondere, sie reagiert auf Momente der urgeschichtlichen Herkunft, der unbeherrschten Mimesis, der leiblichen Angleichung an Natur. Zeichen des mimetischen Erlebens treten hervor im Schauspiel, der Maskerade, der undisziplinierten Mimik und emo-

5 In „Elemente des Antisemitismus“ wird unterschieden zwischen einer echten und einer zerstörerischen Mimesis. Adorno „lokalisiert im neuzeitlichen Judenhaß die Wiederkehr des archaischen Impulses der Mimesis, jedoch in ‚verdrängter Form‘, die in ihrer paranoiden Angst den Juden nur um so konsequenter imitiert und vernichtet. Eben nicht wie die Mimesis, deren Illusion bewußt ist, enthält die verdrängte Mimesis immer ein Prinzip der Selbsttäuschung und Zerstörung: ‚Diese Art des verdrängt Mimetischen und das Destruktive (ist) dasselbe – das Nicht-mehr-man-selbst-Sein.‘“ Rabinbach, Anson: Warum sind die Juden geopfert worden? In: Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Hrsg. v. Gertrud Koch. Köln/Weimar/Wien 1999. S. 125–145, hier S. 138. 6 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969. S. 196.



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tionalen Gestik. Juden diese mimetischen Züge zuzuschreiben, gehört zum Repertoire antisemitischer Stereotype. Das totale Verbot der Mimesis führt nach Adorno und Horkheimer dazu, dass es als solches unbewusst bleiben muss. Die vollständig tabuierte Mimesis kann nur an den Verhaltensweisen der Anderen wahrgenommen werden. In der Verfolgung der projizierten mimetischen Züge besteht die einzig legitimierte Form mimetische Impulse selbst wieder auszuleben, jedoch in einer zerstörerischen Variante: „Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück.“7 Reflexion und Vernunft zeichnen sich durch bewusste Projektion aus, in der antisemitischen Projektion hingegen verschwindet die Fähigkeit des Subjekts zur Reflexion, sein Blick auf die Außenwelt ist reflexionslos: „Subjektives wird [...] blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt.“8 Dass dieser Projektionsprozess auch im Philosemitismus fortgesetzt wird, führt Rabinovici in seinem Roman in der Verwendung des Ahasver-Motivs vor, das u. a. als Projektionsfigur für existentielle Erfahrungen fungiert. Auch die Konzeption der Figur Mullemann als Personifizierung des Gewissens kann als intertextuelle Anspielung auf die Elemente des Antisemitismus gelesen werden, insofern als der Faschismus bei Adorno/Horkheimer als Liquidierung des Gewissens definiert wird. Gewissen besteht demnach in der „Hingabe des Ichs an das Substantielle draußen, in der Fähigkeit, das wahre Anliegen der anderen zum eigenen zu machen.“9 Diese Hingabe an die Anliegen der anderen sowohl in persönlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht und seine Empathie sind im Fall Mullemann jedoch so weitgehend, dass sie zur Selbstaufgabe führen. Das antisemitische Stereotyp, demzufolge Juden über übernatürliche Fähigkeiten und geheimes Wissen verfügen, wird ebenfalls in den surrealen Eigenschaften der beiden Hauptfiguren reflektiert.10 Das Dilemma, Vorstellungen anderer widerzuspiegeln oder zu verkörpern bzw. als Stellvertreter zu fungieren, dominiert die Konstruktion der jüdischen Figuren. Durch den Progress der Geschichte wird jedoch auch demonstriert, dass es sinnlos ist, falsche Projektionen und Widerspiegelungen zu korrigieren oder etwa durch philosemitische Umdeutungen zu ersetzen, da so die Kette der Projektionen fortgesetzt wird. Auch im Hinblick auf den Staat Israel setzt sich der Prozess der Projektionen und Umdeutungen fort. Wenngleich das Bild des Israeli dem traditionellen antisemitischen Stereotyp des effeminierten Juden diametral entgegengesetzt ist, haben

7 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 6), S. 201. 8 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 6), S. 203. 9 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 6), S. 205. 10 Vgl. dazu auch Rabinovici, Doron: Credo und Credit. Oder Einige Überlegungen zum Antisemitismus. In: Ders.: Credo (wie Anm. 1), S. 67–80.

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sich antisemitische Vorstellungen in der Weise transformiert, dass der israelische Staat und Judentum derart miteinander identifiziert werden, dass im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts ein Amalgam aus altem und neuem Antisemitismus entsteht.11 Projektionsmechanismen prägen sowohl den Konflikt selbst als auch die politische Außenwahrnehmung.

Namensthematik Die Tatsache, dass in dem Roman Suche nach M. die Identität österreichischer Juden nach 1945 verhandelt wird, spiegelt sich auch in der für den Erinnerungsdiskurs zentralen Namensthematik. Verbunden mit der Judenvernichtung ist die Auslöschung der Namen der Opfer. In der Regel wurden deren Namen mit dem Eintritt ins Konzentrationslager bedeutungslos, der Name verbürgt fortan nicht mehr die Identität des Einzelnen.12 Jede der zwölf Episoden in Rabinovicis Roman ist überschrieben mit dem Namen einer Figur, für die ihre kollektive Zugehörigkeit und ihr Selbstverständnis in Frage stehen. Fast alle Figuren tragen zwar sprechende Namen – wie z. B. Rudi Kreuz,13 Sina Mohn oder Otto Toot. Die Namen garantieren jedoch nicht die individuelle Unverwechselbarkeit, so lebt ein Teil der jüdischen Protagonisten mit mehreren oder wechselnden Namen. Arieh ändert den Namen aufgrund seiner Tätigkeit beim israelischen Geheimdienst, sie erfordert eine Anpassung, die jede individuelle Kennzeichnung vermeidet. Dieser Namenswechsel wird in einer genealogischen Kontinuität positioniert: Ariehs Vater nimmt während des Nationalsozialismus den Decknamen Fandler an, um sich vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu schützen, ab den 1960erJahren lebt er erneut unter diesem Decknamen, der seine jüdische Herkunft ver-

11 Vgl. dazu Diner, Dan: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“. In: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Hrsg. v. Doron Rabinovici, Ulrich Speck u. Nathan Sznaider. Frankfurt/M. 2004. S. 310–329. 12 Vgl. Stiegler, Bernd: Die Aufgabe des Namens. Untersuchungen zur Funktion der Eigennamen in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1994. 13 Rudi Kreuz’ Verhältnis zu Juden ist bestimmt durch neidvolle Projektionen und einen daraus resultierenden Vernichtungswunsch, entsprechend der Projektionsthese von Adorno/ Horkheimer: „Zu jener Zeit, da jegliche Abscheu ihm zur Leidenschaft wurde, suchte er die Nähe von Juden, mehr noch von Jüdinnen. In den Augen dieser jungen Frauen sich widerspiegeln, bedeutete damals an Macht zu gewinnen. Alle Bewunderung und Neid, die er für sie empfand, wurden durch die Verlockungen der Fremdheit, durch das Wissen um die Abneigungen und Anfeindungen, denen sie ausgesetzt waren, beglichen. Sie erschienen ihm andersartig, was ihn an sein Inneres erinnerte.“ (163).



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birgt, in der Hoffnung, so das Fortwirken der Vergangenheit und seiner Überlebensschuld bannen zu können. Sein eigentlicher Name ‚Scheinowitz’ spielt auf diese Täuschungsmanöver und Identitätsvertauschungen an, die in der nächsten Generation reproduziert werden. Vergeblich versucht Jakob Scheinowitz/Fandler seinen Sohn sowohl von der jüdischen Tradition als auch von der Geschichte der Vernichtung abzuschotten.14 Durch den doppelten Vornamen Arieh und Arthur soll der Sohn nicht als Jude identifizierbar sein bzw. die Wahl haben zwischen zwei Identitäten: „Mit Bedacht war der Junge Arieh Arthur geheißen worden. Auf diese Weise sollte er weder unter Christen noch unter Juden ein Ausgestoßener sein, die Wahl zwischen beiden Welten haben.“ (139) Auch Dani Morgenthau trägt einen sprechenden, programmatischen und historisch vorgeprägten Familiennamen, der mit Visionen einer radikalen Veränderung, aber auch faschistischen Verschwörungstheorien verbunden ist. Dani ist der Hoffnungsträger seiner Eltern, sie verbinden mit ihm die Erwartung eines Neuanfangs. Vor allem der Titel des Romans Suche nach M. verweist auf den Verlust des Namens, insofern das Kürzel M. nicht mehr eindeutig zugeordnet werden kann, sondern ebenso wie die Figur Mullemann für verschiedene Projektionen offen ist. M. kann für Morgenthau stehen oder für Mullemann, für Monster oder Muselmann,15 M. kann – in Anspielung auf Fritz Langs Film – Mörder bedeuten, aber auch Messias – als ein solcher wird Mullemann zeitweilig durch die Presse und die begeisterte Öffentlichkeit dargestellt. Diese Polarisierung der Bedeutungen, die in der dichotomischen Struktur des Antisemitismus angelegt ist, wiederholt sich auch im Krankheitsbild Mullemanns: Der Hautausschlag erscheint einerseits als eine Stigmatisation, durch die Mullemann ausgezeichnet ist und die Schuld der Gesellschaft auf sich nimmt, andererseits ist diese Erkrankung auch eine Art Aussatz, die ihn verunstaltet und absondert. Nicht nur der Titel des Romans, sondern auch das erste fremde Verbrechen, zu dem sich Mullemann öffentlich in der Presse bekennt, spielen auf den Film M. Eine Stadt sucht einen Mörder an, in welchem die Bewohner einer Stadt einen Sexualverbrecher aufspüren, der mehrere Kinder umgebracht hat. Ebenso wie für Rabinovicis Roman-Konstruktion ist für die Figur des Mörders in Langs Film die Identitätsproblematik zentral. Eine weitere Parallele zum Film ergibt sich durch

14 „Der Vater bewahrte das Dunkel seiner Vergangenheit, hellte die Schatten, in denen er Arieh erzog, nicht auf. [...] In Arieh saß eine geheimnisvolle Schuld, von der er nichts ahnte, die aber seinem bloßen Dasein, der Gegenwart schlechthin, anhaftete.“ (49). 15 „In ihm pflanzten sich nicht bloß Herr und Frau Morgenthau, sondern alle Vorfahren der Familie fort, ob sie erschossen, erschlagen, vergast, oder als Muselmänner, als atmende Skelette, bis zum Tode ausgezehrt worden waren.“ (71).

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die Tatsache, dass der Mord, zu dem sich Mullemann durch einen Brief an die Presse bekennt, ebenfalls ein Sexualdelikt ist. Auch der Mörder im Film schreibt an die Presse, er unterschreibt zwar nicht, aber unterstreicht das Wort ‚Ich‘ in seinem Brief doppelt.16 Zwar versuchen der Sexualverbrecher Keysser, zu dessen Verbrechen sich Mullemann bekennt, und der psychopathische Mörder in Langs Film ihre Schuld zu verbergen, sie werden aber gefasst, weil sie von dem Wunsch nach Identität und Kenntlichkeit angetrieben werden. Ursache für die Überführung Keyssers ist, dass er – dessen Name von seinen Mitmenschen konsequent falsch geschrieben wird – mit seinem korrekten Namen identifiziert werden will. Einerseits ist Mullemann von diesen Verbrecher-Figuren abgesetzt, indem er sich gerade zu fremden Taten bekennt, aber nicht individuell identifizierbar sein will, andererseits wird ein analoges Verhältnis zwischen seiner Identitätsproblematik und der des Täters konstruiert. Mullemann spürt Erleichterung, wenn er die Taten anderer bekennt, Keysser, der unter seiner inneren Leere leidet, erfährt einen Moment der Erlösung im Morden: „Allein hatte er um so mehr das Gefühl, ausgehöhlt zu sein. Die Leere, die er in der Ehe, überhaupt in seinem Leben verspürte, buchte er auf sein Konto. Er war schuldig – von Beginn an. War er, um sich zu entdecken, auf die Pirsch gegangen? Hatte er deshalb angefangen, Frauen nachzustellen?“ (126) Die Analogie der Situation beider Figuren wird von Keysser reflektiert, nachdem er Mullemanns öffentliches Bekenntnis gelesen hat. Er fragt sich, ob Mullemann, indem er es „in der Phantasie beging, es sich vom Leibe schrieb“ (128), dieselbe Befriedigung erfährt wie er beim Morden.17 Wie später in der Episode um das Kunstwerk „Ahasver“ die Grenzen zwischen Kunst und Tat, werden hier die Grenzen zwischen Schreibakt und Verbrechen durchlässig. Der Mörder Keysser besteht am Ende der Episode darauf, dass die Schuld ihm individuell zugeschrieben wird mit den Worten: „Dieser ganze Mullemann ist nämlich eine Fälschung, eine Anmaßung, eine Mystifikation; ein reiner Blödsinn!“ (136) In Abgrenzung zur fragmentierten Identität18 seitens der jüdischen Opfer und

16 Der letzte Satz des im Film eingeblendeten Bekennerschreibens lautet: „Aber Ich bin noch nicht am Ende.“ Der Mörder kann am Ende dadurch gefasst werden, dass ihm ein M auf den Rücken gemalt wird, das ihn für alle identifizierbar macht. 17 Bereits zu Beginn des Romans wird die Frage nach Dani Morgenthaus Schuld aufgeworfen. Da er als Kind die Vergehen seiner Spielgefährten vorausahnt, stellt sich ihm die Frage, ob er sie dadurch nicht mitverursacht: „[…] doch fürchtete er, sie hätten ihre innersten Begierden nie kennengelernt, würde er sie nicht aussprechen.“ (35). 18 Diese Konstellation kann verstanden werden als Gegenüberstellung eines anachronistischen auf Einheitlichkeit zielenden Identitätsmodells und einer fragmentierten, hybriden Identität, die u. a. im Rahmen postkolonialer Theorien die Moderne charakterisiert. Vgl. z. B. Hall, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität. In: Rassismus und kulturelle Identität.



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ihrer Nachkommen, beharren die Täter auf dem Prinzip der Identität und Authentifizierung.19

Konstruktion der jüdischen Figuren Da Arieh Arthur Fandler bzw. Scheinowitz sich mit der nur negativen Identität, auf die sich das Judentum für seinen Vater Jakob Scheinowitz nach der Shoah reduziert, nicht abfinden will, schließt er sich einer jüdischen Studentenorganisation an. Letztlich gelangt er aber zu keiner positiven Selbstdefinition, sondern versucht sich selbst zu finden durch ein reaktives Verhaltensmuster, nämlich den Kampf gegen Antisemiten und Rassisten: „Um seine Herkunft kennenzulernen, hatte er sich der Clique angeschlossen, an diesem Abend aber erwachte in ihm zum ersten Mal der Wunsch, auf seine Wurzeln zu stoßen. Er wollte die Erzfeinde seiner Abkunft bekämpfen.“ (48) Ebenso wie Jakob Scheinowitz gelernt hat, versteckt und mit wechselnden Identitäten zu leben, ist Arieh ausgezeichnet durch eine übernatürliche Fähigkeit zu Anpassung, Nachahmung und Mimikry, dem antisemitischen Stereotyp der jüdischen Maskerade entsprechend. Die Mimikry an den Gegner, die so weit geht, dass er sich ihm physisch angleicht, befähigt ihn dazu, diesen zu finden. Nachdem Arieh einen Neonazi totgeschlagen hat, erscheint ihm die Flucht nach Israel als Befreiung von den Verstrickungen der Vergangenheit und des Antisemitismus. Diese Befreiungs- und Selbstfindungswünsche kollidieren jedoch mit der politischen Realität Israels. Er wird vom Geheimdienst angeworben, dessen Arbeit eine Fortsetzung seines individuellen Kampfes auf kollektiver Ebene darstellt: „Keiner verfügte über Ariehs wundersame Fähigkeiten, doch der ganze Apparat war von demselben Streben erfüllt,

Ausgewählte Schriften 2. Hrsg. v. ders. Hamburg 1994. S. 180–222; Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt/M. 2001. Im Zusammenhang des Ansatzes von Levy/Sznaider wird jüdische Existenz u. a. als „Personifizierung der Moderne und des Kosmopolitischen“ entworfen und somit wiederum Teil eines dichotomischen Deutungsmusters. Vgl. zur Kritik an der Metaphorisierung und Romantisierung des Jüdischen: Gilman, Sander L.: Jewish frontiers. Essays on bodies, histories, and identities. New York 2003. 19 Auch der Mörder in Langs „M. Eine Stadt sucht einen Mörder“ wird vor einem Tribunal von Gaunern zum Geständnis gebracht, in welchem er seine Identitätsproblematik offenbart. Er ist ein Getriebener, der sich zugleich selbst verfolgt und vor sich selbst davonläuft. Zur Erfassung des Mörders führt ein musikalisches Motiv, das auf die Problematik der Identität verweist, er pfeift wiederholt ein Motiv aus Griegs Vertonung von Ibsens „Peer Gynt“, wodurch er überführt werden kann. Das Drama „Peer Gynt“ kreist ebenfalls um die Selbstsuche und Identität des Helden: „Gönn’ mir nur Frist, ich führ’ den Beweis, daß ich ich selbst war zu aller Zeit.“

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der ihn zum Medium bestimmte: Von der Suche nach den Todfeinden ihrer Existenz.“ (142) Zwischen dem Kampf des Geheimdienstes und dem Kampf gegen das antisemitische Ressentiment, das zur Not auch ohne Juden funktioniert, wird jedoch insofern differenziert, als deutlich wird, dass im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ein echter Interessenskonflikt jenseits von Projektionen vorliegt.20 Anlass für den Entschluss, die Geheimdiensttätigkeit aufzugeben, ist der Auftrag, einen arabischen Agenten aufzuspüren, der – ebenso wie Arieh verheiratet und Vater einer kleinen Tochter – ihm als Spiegelbild seiner selbst erscheint und der wiederum auf ihn angesetzt wurde. Durch diese Spiegelung wird Arieh veranlasst, aus der Spirale gegenseitiger Verfolgung auszusteigen; beide Agenten führen ihren Auftrag nicht aus. In nuce wird hier die Utopie einer friedlichen Koexistenz realisiert. In der Gegensätzlichkeit der Darstellung der Begegnung mit dem arabischen Agenten und der Beschreibung der Konfrontation mit dem Neonazi, den Arieh in Wien totschlägt, wird die Differenz zwischen dem Kampf gegen den traditionellen Antisemitismus und dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern deutlich markiert. Vor allem im letzten Kapitel des Romans wird aber auch die Vermischung des israelisch-palästinensischen Konflikts mit der Geschichte der Judenvernichtung sowohl aus israelischer Perspektive als auch aus der der Gegenseite vorgeführt. In diesem Kapitel werden die Angriffe gegen Israel im Irakkrieg 1991 thematisiert. Ist das moderne Tel Aviv einerseits ansatzweise eine Alternative zum vergangenheitsbesetzten Wien, so wird hier beschrieben, wie die Vergangenheit in der Form deutschen Giftgases auch Israel erreicht und den Menschen, die sich durch Gasmasken vor den Angriffen schützen, das Aussehen von Insekten aufzwingt – eine überdeutliche Anspielung auf den rassistischen Antisemitismus.21 Die prominente Stellung dieses Kapitels als Abschluss des Romans legt die Deutung nahe, dass das letzte Kapitel des Antisemitismus noch nicht geschrieben ist und dieser in aktuellen Transformationen wirksam bleibt, vor allem in dem brisanten Konglomerat aus traditionellem europäischem und arabischem Antisemitismus.22

20 „In seinem Geburtsland fernab Israels hatte Arieh das Ressentiment ohne Motiv, die schiere, maßlose Leidenschaft gegen Juden kennengelernt. Der Konflikt im Nahen Osten war aber weniger von unbewußten Phantasien als von der Wirklichkeit entgegengesetzter Interessen geprägt.“ (147). 21 „Sie verwandelten sich in Ameisen oder Kakerlaken mit Filterrüsseln und riesigen Glasaugen. Sie wurden Insekten, die sich kaum noch bewegten und angestrengt atmeten.“ (249). 22 Vgl. dazu: Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt/M. 2004.



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Dani Morgenthau, Gegen- und Parallelfigur zu Arieh Scheinowitz, versucht schon als Kind die Funktion des Sündenbocks zu übernehmen, indem er sich für alle Vergehen anderer schuldig erklärt. Später entwickelt er die Fähigkeit durch seine Geständnisse Verbrechen aufzudecken, indem er auf übernatürliche Weise Tathergänge minutiös beschreiben kann, als sei er selber der Täter. Seine Übersensibilität für Verbrechen wird somatisch gespiegelt in allergischen Hautreaktionen, die nur durch ein Geständnis gelindert werden können: „Die Pusteln, Risse und Schrunde klangen erst ab, wenn er gestand, ein Losungswort sprach, Fluch oder Selbstbezichtigung, wenn er bekannte, was nicht er, sondern ein anderer begangen hatte.“ (85) Wegen dieser Hauterkrankung hüllt er sich ganz in Mullbinden ein und mutiert zur fantastischen Gestalt Mullemann. Ebenso wie im Fall Ariehs werden auch seine Fähigkeiten von den Ermittlungsbehörden nutzbar gemacht, seine minutiösen Geständnisse führen zur Entlarvung der Täter. Die Gestalt des Mullemann initiiert einen ambivalenten Deutungsprozess in der Öffentlichkeit, er wird als ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse interpretiert, wird für seine Aufklärung von Verbrechen bewundert, aber auch zunehmend gefürchtet, weil er in Gegenwart jedes Menschen in der Lage ist, dessen Vergehen und verborgenen Geheimnisse zu artikulieren. Die Strategien, die eigene Identität zu verschleiern, die ursprünglich in der Elterngeneration dazu dienten, das eigene Leben zu retten, wenden sich in der Gegenwart gegen die Überlebenden und ihre Kinder. So gibt die Großmutter Dani Morgenthau schon als Kind den Rat, „er solle seine Zukunft nicht an irgendein Land binden, müsse vielmehr beweglich bleiben.“ (30) Dani, dem die Eltern ihre eigene Überlebensgeschichte vorenthalten, verweigert seinerseits wiederum seine eigene Lebensgeschichte. Anstatt eine eigene individuelle Geschichte zu beginnen, will er in die Geschichten anderer eintauchen.23 Die Figur Dani Morgenthau oder Mullemann fungiert als Verkörperung von Projektionen, als neutrales Medium, in dem sich andere reflektieren: „Er spiegelte – durch seine bloße Anwesenheit – Vergangenheit wider.“ (84) Die Figur Mullemann lässt sich dementsprechend auch als die Verkörperung des psychischen Phänomens des Phantoms lesen. Gerade dadurch, dass die Überlebenden ihre Geschichte verschweigen, um ihre Nachkommen zu schützen, wird die Leidensgeschichte weitervererbt. Die Kinder sind gezwungen das verschwiegene Geheimnis auszuagieren.24 Analog

23 Demzufolge kann der Vater, der dem Kind Geschichten erzählt, „jenes Märchen über Dani nie zu Ende bringen, denn sein Sohn weigerte sich stets zuzuhören.“ (31). 24 Konstitutiv für das Phantom ist das Zusammenwirken von Trauma und Geheimnis bzw. Verschweigen, wodurch eine Art Weitervererbung des Traumas an die folgende Generation bewirkt wird. Nicolas Abraham fasst das Phantom auf als Vergegenständlichung

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zur Betrachtung der Röntgenbilder, auf denen Dani die Knochendeformationen seines Vaters, die diesem in einem beengten Warschauer Versteck als Kind entstanden, als weiße Flecken sieht, lernt er die Leerstellen in der Geschichte seiner Eltern zu füllen und das Verschwiegene zu hören.25 Die Konstruktion der Figur Morgenthau/Mullemann als Projektionsfläche beginnt mit den Projektionen der Eltern, denen er sich nicht entziehen kann. Sie sehen in ihm ein Substitut der Toten der Shoah und den Sinn ihres Überlebens. Zugleich personifiziert er ihre Schuldgefühle: „Alle ihre Gefühle der Schuld – er sog sie auf.“ (83) Als Projektionsfigur im Rahmen des Antisemitismus ist er darüber hinaus der dichotomischen Logik antisemitischer Stereotype entsprechend einerseits Gegenstand von Dämonisierungen, andererseits von Idealisierungen: „Entweder der Jud Süß oder der süße Jude, das Unglück oder der Heiland, Jesus oder Judas.“ (187) Sind die Figuren Arieh und Dani zum einen als Inkorporationen von Mimesis und Projektion angelegt, so wird zum anderen die antisemitische Projektion in der Figur Mullemann dahingehend invertiert oder parodiert, dass er – anders als in der Konstruktion des Antisemitismus als Projektion eigener verbotener Wünsche oder Vergehen – die Täter zum Geständnis zwingt, indem er ihre Schuld aktiv übernimmt und bekennt. Arieh und Mullemann werden als invertierte ahasverische Figuren konzipiert, sie ziehen zwar rastlos umher auf der Suche nach Schuld und Verbrechen, es ist aber nicht die eigene Schuld, sondern die der anderen, die diese Rastlosigkeit initiiert. Die eigene Identität ist für die jüdischen Figuren in Rabinovicis Roman insofern problematisch, als die traditionell antisemitische Gesellschaft, in der sie aufwachsen, vom Zwang beherrscht ist, Menschen immer wieder als Juden zu identifizieren, egal ob im Modus der Anerkennung oder der Exklusion. Rabinovici entwirft Modelle der Funktionsmechanismen dieser Identifizierung; dabei lässt sich die Unterscheidung zwischen

einer Lücke, eines unaussprechlichen Geheimnisses. Die gespenstische Verkörperung des Geheimnisses, der Zwang das Verschwiegene auszuagieren, manifestiert sich als transgenerationelle Traumatisierung in der nächsten Generation. Sowohl die verschwiegene gesellschaftliche Schuld als auch Traumatisierung und Schuldgefühle der Eltern äußern sich im Phantom Mullemann: „Das Auftreten des Phantoms zeigt demnach an, welche Wirkungen dasjenige, was für den betreffenden Elternteil eine Kränkung oder gar eine narzißtische Katastrophe bedeutete, auf den Nachkömmling hat. [...] das wiederkehrende Phantom ist der Existenzbeweis für etwas, das in einem anderen begraben liegt.“ Abraham, Nicolas: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 8 (1991). S. 691–698, hier S. 696. 25 „Dani konnte mit seinem Vater alle Verhärtungen, die nicht ausgeleuchtet waren, klar ausmachen, hörte in jedem Augenblick [...] die Auslassungen der Eltern [...]. Wie auf jenen medizinischen Aufnahmen des Gerippes waren alle Ausblendungen im grellen Kontrast zu erkennen.“ (29f.).



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Eigenem und fremden Projektionen im Rahmen von Opferdiskurs und Antisemitismus nicht mehr sinnvoll treffen. Charakteristisch für den antisemitischen Diskurs ist, dass „der Jude“ als der Andere, der diskursiv produziert wird, nachträglich als Ursache dieser Zuschreibung behauptet wird. Die Markierung des Fremden wird dabei immer wieder über Phantasmen des Körpers konstruiert.26 Die physischen Metamorphosen der Protagonisten in Rabinovicis Roman lesen sich als ironischer Kommentar zu diesem Körper-Diskurs. Aufgrund der antisemitischen Zuschreibung von Mimikry, Maskerade und – einer negativ gewerteten – Inauthentizität kann „der Jude“ als Verkörperung gegensätzlichster Eigenschaften interpretiert werden. Der Rückzug in die Anonymität und ins private Glück individueller Liebe, der am Ende des Romans skizziert wird, erscheint weniger als Lösung des Problems, sondern vielmehr als Zitat eines traditionellen romantischen Lösungsversuchs.

Ahasver Die Funktionsweise antisemitischer Mythen und die Bedeutung der Kunst für ihre Proliferation wird pointiert in der zehnten Episode mit dem Titel Navah reflektiert. Navah ist der Name der israelischen Ehefrau der Figur Arieh. Der bildende Künstler Otto Toot, der in seinen Porträts und Selbstbildnissen die Dargestellten durch Binden verhüllt und unkenntlich macht, so dass nur ein Sehschlitz offen bleibt, gibt einem seiner Bildnisse den Titel „Ahasver“. Die Legende von Ahasver geht zurück auf eine 1602 erschienene Broschüre über den ewigen Juden. Es wird beschrieben, dass Ahasver, ein Schuster aus Jerusalem, bei der Kreuzigung Jesu zugegen war, mit der Menge seinen Tod forderte und seither am Leben geblieben ist. Das Motiv des ruhelosen Umherwanderns wird durch folgende Episode motiviert: Als Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung vor dem Haus Ahasvers ausruhen will, wird er von diesem beschimpft und fortgejagt, darauf antwortet ihm Jesus: „Ich will stehen und ruhen/Du aber solt gehen.“27 Der Ahasver-Legende zufolge

26 „Ihre Funktion wird deutlich, sobald der scheinbar konkrete, reale fremde Körper als ein Konstrukt verstanden wird, das die herrschende Gesellschaft benötigt, um sich selbst als beständig, stabil und gleichbleibend zu definieren [...].“ Gilman, Sander L.: Die verräterische Nase. Über die Konstruktion von „Fremdkörpern“. In: Fremdkörper – fremde Körper. Hrsg. v. Annemarie Hürlimann. Ostfildern-Ruit 1999. S. 31–47, hier S. 42. 27 Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. S. 247. Vgl. auch Baleanu, Avram Andrei: Fünftes Bild. Der „ewige Jude“. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Antisemitismus.

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wandert dieser seither durch verschiedene Länder der christlichen Welt. In den zahlreichen Nachdrucken werden dem Text nicht nur aufhetzende antijudaistische Passagen hinzugefügt, sondern die Broschüre wird auch durch immer neue Nachrichten ergänzt, die bezeugen sollen, an welchen Orten Ahasver aktuell gesehen wurde. In allen Ländern spricht er die Landessprache und zeichnet sich – analog zu Mullemann, der ebenso wie Ahasver als eine Gerüchtfigur konstruiert wird – durch seine Demut, Selbstbezichtigung und Reue aus. Ahasver wird gedeutet als lebendiger Zeuge gegen die Juden, damit die Ungläubigen an den Tod Christi erinnert und bekehrt werden. Dieser Text hatte eine starke Verbreitung, in der späteren Überlieferung des 18. und 19. Jahrhunderts gerät der Konnex zwischen ruheloser Wanderschaft und der Kreuzigungsgeschichte jedoch aus dem Blick. Der Aspekt der ruhelosen Wanderschaft wird isoliert und interpretiert als Ausdruck eines jüdischen Charakters oder der jüdischen Leidensgeschichte. Ahasver ist von Anfang an eine ambivalente Gestalt: Er hat große Schuld auf sich geladen, ist aber auch in seiner Reue vorbildlich. Er fungiert als jüdischer Zeuge gegen die Juden, wird bekehrt und getauft. Seit 1645 wurde dem Text ein Anhang hinzugefügt, ein Bericht über die zwölf jüdischen Stämme, in dem aufgelistet wird, welche Rolle jeder einzelne Stamm bei der Kreuzigung Christi gespielt haben soll und welche Strafen und Plagen die Stämme dafür bis in die Gegenwart heimsuchen. Die Plagen, mit denen sie bestraft werden, sind körperliche Leiden, die Stigmata ähneln. Ihnen fließt beispielsweise Blut aus Händen und Füßen oder anderen Wunden, sie spucken oder schwitzen Blut, bekommen Beulen am Kopf, haben Würmer im Mund etc. Es liegt nahe die Hauterkrankung Mullemanns vor der Folie dieses Intertextes zu lesen. Die Episode über das Kunstwerk mit dem Titel „Ahasver“ in Suche nach M. verweist auf die zahlreichen literarischen Bearbeitungen dieses Sujets im 18., 19. und 20. Jahrhundert, die nur z. T. antisemitische Intentionen verfolgen, in denen die Figur des Ahasvers aber auch als Projektionsfläche für die eigene Subjektivität, Krisenphänomene oder Weltschmerz fungiert, so dass der antijudaistische Hintergrund des Motivs vielfach nicht mehr präsent ist.28 Rabinovici spielt in seinem Roman auf diese Formen literarischer Überlieferung antisemitischer Tra-

Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. München 1995. S. 96–102 und Baleanu, Avram Andrei: Ahasver. Geschichte einer Legende. Berlin 2011. 28 Besonders um 1800 finden sich zahlreiche literarische Bearbeitungen des Ahasver-Motivs, etwa bei Goethe, Schlegel, Hauff, Lenau oder Achim von Arnim. Bei letzterem ist allerdings die antisemitische Stoßrichtung vorherrschend. Aber auch hier dient die Figur des ewigen Juden als Projektionsfläche, indem alle krisenhaften und dunklen Seiten auf jüdische Figuren übertragen werden. Vgl. dazu Scheit, Gerhard: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg 1999.



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dition an und zeigt somit zugleich in Übereinstimmung mit der Kritischen Theorie die Untrennbarkeit von Kunst bzw. Kultur und politischer Verstrickung auf. Der Künstler Toot arbeitet in sein Gemälde „Ahasver“ unterschiedliche Sanitätsartikel ein und behandelt die Oberfläche so, dass der plastische Eindruck von Wunden und Geschwüren entsteht. Toot greift das antisemitische Motiv des ewigen Juden ohne Kenntnis der Tradition und in völliger Ignoranz seiner politischen Wirkung auf, er wünscht sich eine dezidiert unpolitische Aufnahme seines Werks: Wenn es einen gab, den dies alles nicht kümmerte, so Otto Toot. Dennoch, oder eben deshalb, bereitete ihm das allgemeine Interesse an Mullemann Sorgen, denn Toot fürchtete, das Publikum müßte nunmehr glauben, seine Gemälde wären eine Replik auf jenes öffentliche Gespenst. Er wünschte sich keinen Erfolg herbei, der auf solch einem Mißverständnis beruhte. (197)

Die unbedarfte Rezeption der ästhetischen Bearbeitungen antisemitischer Mythen wird in der Wirkung des Bildes auf die Kunsthistorikerin Sina Mohn gespiegelt. Das Bild ist offen für beliebige Projektionen der Betrachtenden, es funktioniert wie ein Spiegel, in dem je nach Perspektive und Position ein anderes Bild erscheint. Er spiegelt allerdings nicht das Äußere, sondern das Innere der Betrachtenden zurück, ihr Gewissen: „Der Charakter ‚Ahasvers‘ schillerte im Wechsel ihres Inneren, ihres Denkens, ihres Blicks; folgte ihrer Sicht.“ (200) Dieser Effekt wird von den Rezipienten jedoch nicht als Projektion gedeutet, sondern das Bild selbst erscheint als seine Ursache, insofern als die Betrachterin meint, von Ahasver angeblickt und zu ihren Erlebnissen gedrängt zu werden. Die Kunsthistorikerin Sina Mohn erkennt allerdings auch, dass sie sich selbst in dem Bild wiederfindet und nicht die Darstellung eines Juden. Insofern entspricht ihre Deutung des Bildes der philosemitischen Vereinnahmung des Jüdischen als einer Kategorie für existentielle Erfahrungen: „Die Figur, Ahasver, er hat uns im Visier. Er wandert, wandert uns nach, dringt in unser Inneres vor, setzt sich bei uns fest. Verstehen Sie, das ist Ihr Selbstportrait!“ (202) Die von Sina Mohn so angesprochene Israelin Navah Bein missversteht diese existentialistische Bildinterpretation jedoch als antisemitische Anspielung auf ihr Jüdischsein. Das Changieren zwischen uneigentlicher und wörtlicher Bedeutung, das für diese Episode charakteristisch ist, verweist auf ein konstitutives Element des Antisemitismus, der zwar metaphorisch etwa mit dem Vergleich zwischen Juden und Ungeziefer beginnt, aber mit dem Wörtlich-nehmen dieser Metaphorik und ihrer Überführung in Realität endet. Auch der Künstler Otto Toot erfährt am Ende der Episode, dass es einen unpolitischen Umgang mit antisemitischen Mythen nicht gibt. Nachdem er dem Berufsmörder Antonov, der auf der Suche nach Mullemann ist, zu verstehen gibt, dass er sich in dem Bild „Ahasver“ selbst porträtiert hat, ver-

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sucht Antonov, der die Differenz von Kunst und Wirklichkeit nicht anerkennt, Toot, den er nun für Mullemann hält, umzubringen. Die Produktion von Kunst und Mord, das Messer als Mordwaffe und der Pinsel des Malers verschmelzen – in Anlehnung an Dorian Gray – miteinander: Toot nimmt das Messer, das Antonov entglitten ist, ersticht diesen und schlitzt anschließend sein Kunstwerk auf: Otto Toot umfaßte den Griff in Angst und Zorn, packte ihn wie Pinsel oder Spachtel und malte mit dreißig Stichen Georgi Antonov rot, strich ihn aus. [...] Toot wandte sich um, fuhr, ohne hinzusehen, mit der Schneide bis zum Heft ins Gemälde, ließ das Stilett in der Leinwand stecken; einige Tropfen von Antonovs Blut rannen vom Messer herab aus dem Schlitz. Über „Ahasver“. (223)

Die Faszination für Blut, Tod und körperliches Leid, die sich als Obsession und Selbststilisierung in Toots Werk manifestiert, wird letztlich in die Tat umgesetzt. An dieser Stelle wird in drastischer Bildlichkeit noch einmal konkretisiert, wie die antisemitische Figur mit der eigenen Schuld der Projizierenden überzogen wird: Das Blut des von Toot erstochenen Antonov, das noch am Messer klebt, rinnt über die Ahasver-Figur. Ferner wird am Beispiel des Kunstwerks aufgezeigt, wie Antisemitismus und christliche Ikonografie aufeinander bezogen sind. Antonov meint aufgrund eines besonderen Lichteffekts beim Anblick des Gemäldes von einer religiösen christusgleichen Erscheinung am Morden gehindert zu werden. In seiner Sicht wird die Darstellung Ahasvers durch die Christuserscheinung überblendet.29 Die Israelin Navah dagegen kritisiert das Gemälde „Ahasver“ als modernen Ausdruck der Tradition des europäischen Antisemitismus, in der Juden nur die Rolle des Opfers zugeschrieben wird. Die Reduktion von Juden auf Verfolgung und Leiden sowie die von Sina Mohn praktizierte Selbstbespiegelung in diesem Leiden deutet Navah als moderne Variante der antisemitischen Ahasver-Geschichte: „So wollten und so wollen sie uns seit jeher sehen; in Fetzen, von Wunden umkränzt, zerschlagen, eingeschnürt und verletzt. Der Ewige Jude war und ist ihnen eine Ausstellung wert. Die Väter haben ihn als Untermenschen hingerichtet, die Söhne richten ihn als Heiligen her.“ (203) Gegenüber der Reduktion des Jüdischen im Opferdiskurs beharrt Navah auf einer israelischen Identität, die durch Widerstand, Stärke und Selbstbewusst-

29 Es ist nicht zufällig, dass sich Rabinovici auf den christlichen Ahasver-Mythos bezieht, da seines Erachtens die Muster des christlichen Antijudaismus auch noch im modernen Antisemitismus präsent sind, das religiöse Moment in ein ökonomisches konvertiert wurde, das aber weiterhin durch seinen religiösen Ursprung genährt wird: „Der Samen des Antisemitismus lag in den religiösen Mythen, lauerte dort, bis er unter bestimmten Umständen aufkeimen konnte, anwuchs wie ein Geschwür und durchbrach, selbst über die Grenzen der kirchlichen Lehre hinweg.“ Rabinovici, Credo (wie Anm. 1), S. 72.



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sein geprägt ist. Diese israelische Identität wird allerdings nicht näher erörtert, sondern nur plakativ mit Schlagworten umrissen: „Das jüdische Überleben, das israelische Selbstbewußtsein, der Jischuw, die Pioniere, die Chaluzim von Petach Tikvah oder Zichron Ya’akov, die Kibbuzniks aus Degania, das Treiben in Tel-Aviv interessieren hier niemanden.“ (203) Darüber hinaus ist auch die Konstruktion der israelischen Figur Navah in Bezug auf ihr Verhältnis zur europäischen Vergangenheit ambivalent. Zwar versucht sie sich in Europa von der Vergangenheitsfixierung abzugrenzen, doch konzentriert sich ihre Arbeit als Historikerin auf eben diese Geschichte, sie forscht über das Leben der jüdischen Gemeinde in Czernowitz und deren Vernichtung. Auch sie ist sich der transgenerationellen Bindung ihrer Generation an die Erfahrung der Shoah bewusst: „Wir, unsere ganze Generation, wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren!“ (219) In der Gegenüberstellung von Arieh und seiner Frau Navah spiegelt sich das Gegenüber von zionistischem Selbstverständnis und einem stärker auf die Shoah zentrierten Narrativ. Ariehs Flucht nach Israel ist nicht durch zionistische Überzeugungen motiviert, sondern er flieht in erster Linie aus Angst vor Strafverfolgung, nachdem er einen Neonazi totgeschlagen hat. Letztlich wird dieser Fluchtgrund jedoch auf die Tatsache bezogen, dass das Leben in der Diaspora immer auch eine Konfrontation mit antisemitischen Strukturen impliziert. Die Legitimation Israels und ein kollektives Selbstverständnis werden über das historische Narrativ antisemitischer Verfolgung thematisiert, auch die Strategien im israelisch-palästinensischen Konflikt werden mit diesem Geschichtsnarrativ korreliert. Indem Arieh am Ende des Romans seine Arbeit beim Geheimdienst aufgibt und sich ins Privatleben zurückzieht, deutet sich jedoch eine Abgrenzung von solchen kollektiven historischen Legitimationsversuchen an. Es zeichnet sich in der Geschichte Ariehs ein Progress von einem kollektivistischen israelischen Selbstverständnis hin zu einem individualistischen Selbstverständnis ab.30 Grundsätzlich sind die im Roman enthaltenen Deutungen der politischen Situation Israels nicht von der Vernichtung der europäischen Juden zu trennen, diese bleibt die Folie aller Interpretationen. Die Lebensrealität, die Arieh in Israel erwartet, wird nur in einem kurzen Absatz skizziert. Doch auch hier steht neben

30 Dan Diner beschreibt diese Individualisierung als Merkmal einer postmodernen postzionistischen Tendenz in Israel, die sich ideologischen Vereinnahmungen, die die Legitimation des Staates an bestimmte Geschichtsdeutungen binden, zu entziehen sucht. Diese Tendenz zur Individualisierung macht Diner verantwortlich für den großen Erfolg der ‚neuen Historiker‘ in Israel. Diner, Dan: Individualität und Nationalität. Wandlungen im israelischen Geschichtsbewußtsein. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 15 (1995). S. 5–26.

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der Militärpräsenz der Bezug zur langen Tradition europäischer Judenverfolgung im Zentrum: „Dann die Hitze, die Gerüche, das Schreien der Menschen, als müßten sie ein jahrhundertelanges Schweigen wettmachen, das Geknister der Stimmen aus Funkgeräten der Uniformierten, Maschinenpistolen, das Hupen der Taxis, ein Streit zwischen zwei Männern.“ (64)

Andernorts/Transkulturalität Auch in Rabinovicis Roman Andernorts bewegt sich das Leben des Protagonisten zwischen Israel und Diaspora, zwischen der Konfrontation mit einem israelischen, auf die Shoah fokussierten kollektiven Selbstverständnis, das von ‚Innen‘ kritisiert wird, und der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft in den Ländern der Täter. Dementsprechend beginnt der Roman an einem die „abgehobene“ Situation des Protagonisten charakterisierenden Ort: auf einem Flug zwischen Wien und Tel Aviv.31 Als programmatischer Subtext fungiert der Diskurs über Transkulturalität und hybride Konstruktionen kultureller Zugehörigkeit, die mit der Option verbunden sind, homogenisierende Identitätskonstruktionen zu transzendieren. Der Titel „Andernorts“ verweist auf die Raummetaphorik postkolonialer Theorien und die Tatsache, dass die zentralen Figuren nicht an einen Ort, eine Kultur, eine Identität gebunden sind, sondern sich in den Zwischenräumen bzw. an den „Bruchlinien“32 bewegen. Die Rezeption deutsch-jüdischer Literatur und Kultur im Kontext von Theorien der Transkulturalität wird in Rabinovicis Roman selbstreflexiv gespiegelt, indem der Protagonist Ethan Rosen als Wissenschaftler entworfen ist, der sich zum einen zwischen verschiedenen Sprachen, Ländern und Diskursen bewegt und zum anderen selbst zu den Themen Erinnerung und „Transkulturalität“33 forscht. Die Ansätze transkultureller Selbstdefinition werden jedoch auch in diesem Roman konterkariert durch die Reproduktion von Täter-Opfer-Dichotomien und

31 „Israelis wie Ethan waren in Zion geboren, doch am liebsten lebten sie andernorts, in New York, San Francisco oder London, in Paris, Berlin oder Rom.“ Rabinovici, Doron: Andernorts. Roman. Berlin 2010. S. 195. 32 Rabinovici, Andernorts (wie Anm. 31), S.11. Rabinovici markiert in „Andernorts“ mehrfach explizit den wissenschaftlichen Diskurs, an den der Text anknüpft. Mit der Bezeichnung „Bruchlinien“ wird der Titel eines einschlägigen Sammelbandes über Vergangenheitspolitik und Repräsentationen der Shoah zitiert. Koch, Gertrud (Hrsg): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999. 33 Rabinovici, Andernorts, (wie Anm. 31), S. 10.



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exklusive Identitätspolitiken, die sowohl den israelischen als auch den österreichischen Kontext dominieren. Und auch der Protagonist selbst bleibt fixiert auf Fragen nationaler, ethnischer und familiärer Zugehörigkeit, die ihn beispielsweise zwingen, gesellschaftliche Phänomene intern im israelischen Kontext zu kritisieren, die er in Österreich rechtfertigt. Er argumentiert grundsätzlich aus einer Position der Dissidenz; sie veranlasst ihn in jedem gesellschaftlichen Kontext dissidente Positionen zu vertreten, die häufig im Widerspruch zueinander stehen, wenn die Kontextgebundenheit politischer Äußerungen unberücksichtigt bleibt.34 Anders als die Protagonisten in Suche nach M., die sich ihrer Umwelt scheinbar angleichen, wird Rosen von seinen Angehörigen aufgrund seiner Dissidenz als „verkehrtes Chamäleon“35 bezeichnet. Aus dieser Haltung resultiert auch der Eingangskonflikt des Romans Andernorts. Der Roman beginnt damit, dass der jüdische Protagonist Ethan Rosen, der sowohl in Israel als auch in Österreich durch seine Veröffentlichungen bekannt ist, in einen Skandal verwickelt wird. Er ist gezwungen, sich dafür zu rechtfertigen, dass er einen österreichischen Autor für israelkritische Positionen kritisiert, die er in Israel zuvor selbst vertreten hat, und sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, er unterstelle dem Autor Antisemitismus, um ihn als Konkurrenten in einem akademischen Berufungsverfahren zu disqualifizieren – die Unterstellung des Antisemitismusvorwurfs als antisemitisches Argument. Der Titel des Romans „Andernorts“ reflektiert, dass aus der Perspektive des jüdischen Protagonisten seine öffentlich geäußerten politischen Positionen nicht unabhängig sind von dem gesellschaftlichen und kollektiven Kontext, in dem sie publiziert werden, und nicht unabhängig von der Person desjenigen, der sie äußert.36 Die komödienhafte Pointe des

34 „Überall und immer dagegen. In Paris die Arbeit über Kolonialfilme, in Jerusalem die Studie über Palästinenser in der Literatur. In Tel Aviv die Vorträge über die muslimischen Ruinen. Den Österreichern redet er von Antisemitismus, und in Chicago wolltest du unbedingt den Kommunismus einführen.“ Rabinovici, Andernorts, (wie Anm. 31), S. 114–115. 35 Rabinovici, Andernorts, (wie Anm. 31), S. 51. 36 Die in diesem Zusammenhang auftretende Formulierung „Zweierlei Rosen“ (Rabinovici, Andernorts, [wie Anm. 31], S. 34.) spielt an auf eine Publikation von Moshe Zuckermann, in der dieser die divergente Instrumentalisierung des Holocausts in der deutschen und der israelischen Öffentlichkeit analysiert, die auch die Konstellation in Rabinovicis Roman umreißt: „Zweierlei Holocaust meint ein Zweifaches. Zum einen möchte der Ausdruck auf die unterschiedlichen Bedeutungsfunktionen, die das geschichtliche Ereignis in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands erfüllt, verweisen. Zum anderen bezieht er sich auf die in beiden politischen Kulturen nachweisbare Diskrepanz zwischen dem Wesen des Holocaust und seiner politisch-ideologisch bzw. kulturindustriell verformten Rezeption.“ Zuckermann, Moshe: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen 1999. S. 170.

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Romans besteht abermals in einer Verdoppelung: Der österreichische Konkurrent ist überzeugt davon, der Halbbruder des jüdischen Protagonisten Ethan Rosen zu sein und wird in dessen Familie aufgenommen. Der Roman umkreist satirisch Fragen der Identitätspolitik und inszeniert in grotesker Form die Aporien eines letztlich biologistischen Identitätsdiskurses – beispielsweise in der Figur eines Rabbiners, der plant mithilfe eines gentechnisch produzierten Embryos die Ankunft des Messias herbeizuführen –, aber auch die bizarren Konsequenzen eines auf einen Opferstatus von Juden fokussierten Identitätsdiskurses nach 1945. In der Darstellung der ‚hybriden‘ Hauptfigur werden nicht nur Probleme jüdischer Identität nach der Shoah verhandelt, sondern auch die Verortung und Rezeption der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur. Die Ambivalenzen und Widersprüche, mit denen Ethan Rosen konfrontiert ist, lassen sich auf die Wahrnehmung deutsch-jüdischer Kultur und Literatur übertragen. Einerseits erfolgt zunehmend ein positiver Bezug auf transnationale, hybride, kosmopolitische Moderne- und Identitätskonzepte, die nationale Begrenzungen transzendieren, andererseits ist die Literatur vielfach auf antagonistische Verhältnisse im Diskurs nach der Shoah fokussiert.37 Darüber hinaus ist die Rezeption interkultureller Literatur durch die Annahme einer biografischen Fundierung der Texte gesteuert und an paratextuellen Aspekten orientiert – wie auch das Beispiel Rabinovici belegt –, statt sich auf die Schreibweise der Texte als entscheidendes Element der Zuordnung zu konzentrieren.38

37 Zur Diskussion, ob das Spiel mit verschiedenen Zugehörigkeiten und Rollen in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur angemessen mit dem Begriff der Hybridität zu erfassen ist, vgl. u. a. Braese, Stephan: Schreiben ans Stiefvaterland. Zum Anregungsgehalt postkolonialistischer Begriffsarbeit für die Lektüre deutsch-jüdischer Literatur. In: Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 415–436; Düwell, Susanne: „Das Politische hat jede Aussage angesteckt“ – Familienverhältnisse in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur. In: Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte XXXVI. Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Hrsg. v. José Brunner. Göttingen 2008. S. 215–235. Am deutlichsten wurde dieser „Theorietransfer“ von Todd Herzog kritisiert, der in der Anwendung des Begriffs der Hybridität auf deutsch-jüdische Literatur eine Wiederbelebung der nationalsozialistischen Idee des ‚Mischlings‘ sieht. Herzog, Todd: Hybrids and Mischlinge. Translating Anglo-American Cultural Theory into German. In: The German Quaterly 70.1 (Winter 1997). S. 1–17. Herzog zeigt an Texten von Honigmann, Dischereit, Dische und Biller auf, wie Entwürfe hybrider Identität in der Konfrontation mit gesellschaftlichen Festschreibungen jüdischer Identität und der Markierung jüdischer Körper scheitern. 38 Der Rezeption liegen vielfach essentialistische Konzepte von Identität oder Kultur zugrunde, die die in vielen Texten thematisierte Frage der Zugehörigkeit und Identitätsdiffusion nicht generell als ein Merkmal moderner Subjektbildung, sondern als ein Spezifikum der Texte deutsch-jüdischer Autor/-innen ohne eindeutige nationale Zugehörigkeit betrachten.



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Zur Beschreibung der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur werden vielfach räumliche Kategorien herangezogen, die diese als Minderheitenliteratur konzipieren und auf die Geschichte der gesellschaftlichen Randposition von Juden rekurrieren. Dabei ist z.  B. an Ansätze zu denken, die mit Begriffen wie Dissidenz, Marranentum, Exterritorialisierung, Kosmopolitismus, Exil, Grenze oder Diaspora versuchen, spezifische Erfahrungen der Geschichte des europäischen Judentums zu konzeptualisieren. Andreas Kilcher überträgt in diesem Zusammenhang das Konzept der ‚kleinen Literatur‘ von Deleuze/Guattari in Verbindung mit dem Konstrukt der ‚negativen Symbiose‘ zwischen Juden und Deutschen nach dem Holocaust auf die deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur. Die Bedingung deutsch-jüdischer Gegenwartsliteratur beschreibt er mit dem Begriff der „Exterritorialität“, der die These der „Randständigkeit des jüdischen Schreibens gegenüber der deutschen Kultur“39 impliziert. Kilcher unterscheidet zwei Formen der Randständigkeit, einmal die geografische bei jüdischen Autor/innen, die deutsch schreiben, aber nicht in einem deutschsprachigen Land leben und in deren Texten Deutschland vor allem auf deutsche Kultur fokussiert ist. Zum anderen wird der Begriff Exterritorialität metaphorisch verwendet für eine Haltung, die die Randständigkeit nach innen verlagert und sich den Konflikten und Antagonismen im deutsch-jüdischen Verhältnis aussetzt und der deutschen Gesellschaft, Sprache und Kultur mit Skepsis und Distanz begegnet. In Bezug auf die Position der inneren Randständigkeit differenziert Kilcher noch einmal zwischen einer Position, die auf eine geschlossene, eindeutige Identität verzichtet, und einer Position, die die deutsche Seite mit einer dezidiert jüdischen Gegenposition konfrontiert: „Während folglich Billers kulturelle Exterritorialität auf einer deutlich umrissenen jüdischen Andersheit des Schreibens gründet, baut Rabinovicis Randständigkeit auf einer brüchigen, versehrten und prekären jüdischen Identität, deren kultureller Standort gerade nicht eindeutig bestimmbar ist.“40 In Übereinstimmung mit diesem Befund rekurriert Rabinovici in einem Essay mit dem Titel Jenseits von Andernorts auf Theorien der Transkulturalität, denen zufolge Kultur immer schon hybrid ist und ein Amalgam aus verschiedenen kulturellen Einflüssen, also im eigentlichen Sinne ‚Assimilation‘. Problematisch bleibt der Begriff der ‚Assimilation‘ aber dennoch, da er in der Geschichte Europas gleichbedeutend war mit einem Zwang zur Anpassung und Homogenisierung als Folge des antisemitischen Ressentiments: „Der Befehl zur

39 Kilcher, Andreas: Exterritorialitäten. Zur kulturellen Selbstreflexion der aktuellen deutschjüdischen Literatur. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. v. Sander L. Gilman u. Hartmut Steinecke. Berlin 2002. S. 131–146, hier S. 133. 40 Kilcher, Exterritorialitäten (wie Anm. 39), S. 146.

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Assimilation ist eine paradoxe Aufforderung, der nicht nachgekommen werden kann, weil der Assimilant immer nur der Andere sein kann.“41 Der Umgang mit jüdischer Herkunft hat sich in der Generation der jüngeren jüdischen Autor/-innen merklich verändert gegenüber der Haltung der Elterngeneration, die in Rabinovicis Romanen durch eine negative Definition jüdischer Herkunft und die erlittene Verfolgung determiniert ist. Das Jüdische wird in der Gegenwartsliteratur zu einem zentralen Thema, die Differenzen werden sichtbar gemacht, auch Gegenstand von Parodie und Satire. Das Verhältnis zum Jüdischen gleicht aber weniger einem selbstbewussten Bekenntnis als einer hochreflexiven Relation: Die Problematik jedes Identitätsdiskurses wird hervorgehoben, ist dieser im deutschen/österreichischen Kontext doch nicht zu trennen von der Geschichte des Antisemitismus.

Literatur Abraham, Nicolas: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 8 (1991). S. 691–698. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1997. Baleanu, Avram Andrei: Fünftes Bild. Der „ewige Jude“. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius Schoeps u. Joachim Schlör. München 1995. S. 96–102. Baleanu, Avram Andrei: Ahasver. Geschichte einer Legende. Berlin 2011. Braese, Stephan: Schreiben ans Stiefvaterland. Zum Anregungsgehalt postkolonialistischer Begriffsarbeit für die Lektüre deutsch-jüdischer Literatur. In: Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Eva Lezzi u. Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 415–436. Diner, Dan: Individualität und Nationalität. Wandlungen im israelischen Geschichtsbewußtsein. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 15 (1995). S. 5–26.

41 Rabinovici, Doron: Jenseits von Andernorts. In: Sprache im technischen Zeitalter 198 (2011). S. 191–200, hier S. 196. Auch Klaus Hödl kritisiert die Vorstellung eines „authentischen“ Judentums als essentialistisch. Gegen die skeptische Infragestellung einer Renaissance jüdischer Kultur in Deutschland/Österreich hat Hödl darauf hingewiesen, dass die Gegenüberstellung von authentischem und virtuellem (zum Teil von Nicht-Juden getragenem) Judentum unhaltbar ist. U. a. am Beispiel des 1895 eröffneten jüdischen Museums in Wien zeigt Hödl auf, dass das Konzept der Hybridität nicht neu ist. Hödl, Klaus: Der ‚virtuelle Jude‘– ein essentialistisches Konzept? In: Der ,virtuelle Jude‘. Konstruktionen des Jüdischen. Hrsg. v. ders. Innsbruck 2005. S. 53–70.



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Diner, Dan: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“. In: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Hrsg. v. Doron Rabinovici, Ulrich Speck u. Nathan Sznaider. Frankfurt/M 2004. S. 310–329. Düwell, Susanne: „Das Politische hat jede Aussage angesteckt“ – Familienverhältnisse in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur. In: Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte XXXVI. Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Hrsg. v. José Brunner. Göttingen 2008. S. 215–235. Gilman, Sander L.: Die verräterische Nase. Über die Konstruktion von „Fremdkörpern“. In: Fremdkörper – fremde Körper. Hrsg. v. Annemarie Hürlimann. Ostfildern-Ruit 1999. S. 31–47. Gilman, Sander L.: Jewish frontiers. Essays on bodies, histories, and identities. New York 2003. Hall, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität. In: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hrsg. v. ders. Hamburg 1994. S. 180–222. Herzog, Todd: Hybrids and Mischlinge. Translating Anglo-American Cultural Theory into German. In: The German Quaterly 70.1 (Winter 1997). S. 1–17. Hödl, Klaus: Der ‚virtuelle Jude‘ – ein essentialistisches Konzept? In: Der ,virtuelle Jude‘. Konstruktionen des Jüdischen. Hrsg. v. ders. Innsbruck 2005. S. 53–70. Kilcher, Andreas: Exterritorialitäten. Zur kulturellen Selbstreflexion der aktuellen deutschjüdischen Literatur. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. v. Sander L. Gilman u. Hartmut Steinecke. Berlin 2002. S. 131–146. Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt/M. 2001. Rabinbach, Anson: Warum sind die Juden geopfert worden? In: Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Hrsg. v. Gertrud Koch. Köln/Weimar/Wien 1999. S. 125–145. Rabinovici, Doron: Suche nach M. Roman in zwölf Episoden. Frankfurt/M. 1997. Rabinovici, Doron: Credo und Credit. Einmischungen. Frankfurt/M. 2001. Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt/M. 2004. Rabinovici, Doron: Andernorts. Roman. Berlin 2010. Rabinovici, Doron: Jenseits von Andernorts. In: Sprache im technischen Zeitalter 198, (2011). S. 191–200. Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. Scheit, Gerhard: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg 1999. Stiegler, Bernd: Die Aufgabe des Namens. Untersuchungen zur Funktion der Eigennamen in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1994. Zuckermann, Moshe: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen 1999.

Ulrike Schneider

Versöhnung als Konzept der Verdrängung? Die Darstellung von jüdischen Protagonisten in der frühen (west-)deutschen Nachkriegsliteratur

Ausgangsüberlegungen Ein wesentliches Element literarischer Texte von Schriftsteller/-innen wie Alfred Andersch, Heinrich Böll, Albrecht Goes, Elisabeth Langgässer oder Luise Rinser bildet die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, zu der nicht selten auch die Darstellung jüdischer Protagonisten gehört. Das Erzählen über die historischen Ereignisse von 1933 bis 1945 nimmt unterschiedliche Themenschwerpunkte in den Blick, wobei die Verfolgung und Stigmatisierung von Juden oftmals neben Bilder von zumeist christlichen Rettergestalten oder christlich motivierten Hilfeleistungen treten. Trotz der damit verbundenen Versuche seitens der Autor/-innen, eine historische Kontextualisierung des Erzählten vorzunehmen und wichtige Nachkriegsdebatten, wie die Frage des Schulddiskurses, literarisch zu verhandeln, verbleibt gerade eine angestrebte Individualisierung der jüdischen Figuren durch literarische Mittel auf einer abstrakten Ebene. Der Rückgriff auf etablierte Erzählweisen und die oftmals typisierende Charakterisierung jüdischer Protagonisten verweist auf die Schwierigkeit eines Erzählens über die Vergangenheit und die Shoah, das zudem entscheidend von Legitimationsversuchen der Handlungsweisen der deutschen Bevölkerung geprägt ist. Dies offenbart nicht allein die schwierige Auseinandersetzung mit der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit durch unterschiedliche Vertreter des westdeutschen Literaturbetriebes – sowohl ehemalige Vertreter der ‚inneren Emigration‘ als auch der so genannten jungen Generation nahmen das Thema auf –, sondern es lassen sich zugleich Rückschlüsse auf Ausgangspunkte und Vorstellungen eines deutsch-jüdischen Kommunikationsraumes in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft erschließen. Gershom Scholems 1962 formulierte Absage an ein „deutsch-jüdisches Gespräch“1 und seine Verneinung einer positiv verstandenen deutsch-jüdischen Symbiose seit der Haskala aufgrund der historisch ausgebliebenen Gleichberechtigung zwischen Juden und Deutschen stehen Bestre-

1 Vgl. Scholem, Gershom: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, Judaica 2. Frankfurt/M. 1970. S. 7–11.

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bungen seitens des Literaturbetriebes, der Parteien und Kirchen gegenüber, in der politischen Kultur Westdeutschlands ein neues gleichberechtigtes Verhältnis zu begründen.2 Diese waren allerdings, wie Frank Stern herausstellte, von einer „Diskrepanz zwischen partiellen pro-jüdischen politischen Bekundungen und konkreten gesellschaftlich politischen Maßnahmen und Entwicklungen, zwischen öffentlichen und halb-öffentlichen Äußerungen“3 geprägt. Die literarischen Texte der frühen Nachkriegszeit sind Indikatoren dieses Gesellschaftsprozesses und verdeutlichen die Leerstellen bzw. Umdeutungen der privaten Erinnerung ebenso wie die Auslassungen gemeinsamer deutscher Gruppenerinnerungen. Zu fragen ist jedoch, ob die Feststellung Sterns, dass „die Haltung zu Juden […] zunehmend den Charakter eines unterschiedslos, ja stereotyp, alles Jüdische positiv wertende[n] gesellschaftliche[n] Phänomens“4 annahm, vorbehaltlos auf die literarischen Texte zu übertragen ist. Inwiefern spiegelt sich die Diskrepanz zwischen offiziellem/öffentlichem Agieren und privaten Meinungen hinsichtlich der Judenverfolgung und des Judenmords in der Literatur wider? Lassen sich philosemitische Tendenzen als „moralische Legitimierung“5 ablesen? Ist der zu beobachtende Rückgriff auf Stereotype wie das der „schönen Jüdin“, des „weisen alten Juden“6 oder des bindungs- und kinderlosen jungen Juden7 allein auf die Abwesenheit von Juden in der westdeutschen Gesellschaft zurückzuführen, der zur Schaffung von Ideal- aber nicht Realgestalten diente?8 Sowohl Christiane Schmelzkopf als auch Heidy M. Müller haben in ihren Untersuchungen zu ausgewählten Romanen und Erzählungen west- und ostdeutscher Autor/-innen auf wiederkehrende Darstellungsmuster verwiesen. Während Schmelzkopf die den Texten zugrunde liegenden ideellen gesellschaftlichen und christlichen Konzepte in das Zentrum der Untersuchung stellt, womit die „jüdische Figur im Dienste einer bestimmten ungeschichtlich-ideellen Bot-

2 Vgl.: Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Gerlingen 1991. S. 241. 3 Stern, Anfang (wie Anm. 2), S. 259. 4 Stern, Anfang (wie Anm. 2), S. 16. 5 Stern, Anfang (wie Anm. 2), S. 17. 6 Müller, Heidy M.: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa (1945–1981). Königstein/Ts. 2. Aufl. 1986. S. 16–17. 7 Vgl. Müller, Judendarstellung (wie Anm. 6), S. 190. 8 Vgl. Stern, Anfang (wie Anm. 2), S. 294: „Kritisch festzuhalten ist allerdings auch, daß die heilsgeschichtliche Begründung des zu schaffenden Verhältnisses zu Juden zu einer Überhöhung des Bildes vom Schicksal jüdischer Menschen und letztlich zu einer psychologisch stereotypisierten Charakterisierung von Juden als Leidenden und Auserwählten sowie von ihrer Rolle in der deutschen Gesellschaft führt.“



Versöhnung als Konzept der Verdrängung? 

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schaft an den Leser vorgestellt wird“,9 hebt Müller Deutungstendenzen hervor, die weniger der Aufklärung der NS-Geschichte als vielmehr der Entlastung der deutschen Protagonisten verpflichtet sind.10 Ruth Klüger spitzte diese These in ihrem Aufsatz Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur? zu und stellte verallgemeinernd für die zumeist westdeutsche Nachkriegsliteratur fest, dass ein Versagen der Autoren im Hinblick auf die Behandlung des „spezifisch Jüdisch[en]“11 vorliege: Kitsch und Pornographie setzen sich durch, Sentimentalität oder Brutalität, schon immer die beiden Seiten derselben Münze. Zusammengenommen ergibt sich ein Bild, in dem es nicht um die Erinnerung an die deutschen Juden geht, sondern eher um die Abwehr dieser Erinnerung und um die Wiederbelebung einer Legende, nämlich der vom Shylock, Opfer und Täter, und seiner Feinde, den braven Christen im Umkreis des wackeren Antonio […].12

In Ergänzung zu diesen grundlegenden Abfassungen13 soll im Folgenden den Darstellungs- und Deutungsweisen jüdischer Protagonisten am Beispiel von drei Nachkriegstexten aus der Sowjetischen Besatzungszone und Westdeutschland nachgegangen werden. Neben der Untersuchung der Figurencharakterisierung (Welche Eigenschaften werden den Protagonisten zugeordnet? Welche Stereotypen werden wie aufgenommen?) und den Handlungsweisen, die den Protagonisten zugeschrieben werden (Sind diese aktiv oder passiv? Welche Funktionen kommen ihnen im Handlungsverlauf zu? Welche Figurenkonstellationen bestehen?) soll eine Analyse der Erzählsituationen einerseits die Bedeutung des Erzählerkommentars für die behandelten Thematiken aufzeigen, anderer-

9 Schmelzkopf, Christiane: Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hildesheim [u. a.] 1983. S. 93. 10 Vgl. Müller, Judendarstellung (wie Anm. 6), S. 193: „Juden und Jüdinnen werden in den untersuchten Werken nur selten um ihrer selbst willen abgebildet […]. [So dienen] Juden als Demonstrationsobjekte im Dienste der christlichen Heilsgeschichte […]. Manche Schriftsteller beschreiben jüdische Nazi-Opfer weniger, um sie zu beklagen, als die Grausamkeit der Nazis anzuprangern […]. [Sie dienen weiterhin dazu], den nichtjüdischen Haupthelden Gelegenheit zur Bewährung zu verschaffen […].“ 11 Klüger, Ruth: Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Katastrophen über deutsche Literatur. Göttingen 2009. S. 9–39, hier S. 36 (erstmals 1985). 12 Klüger, Judenproblem (wie Anm. 11), S. 36. 13 Vgl. des Weiteren Janina Bachs Untersuchung, in deren Zentrum aber die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der ost- und westdeutschen Nachkriegsliteratur steht. Bach, Janina: Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur. Dresden 2007. Vgl. weiterhin Heukenkamp, Ursula: Jüdische Figuren in der Nachkriegsliteratur. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hrsg. v. Bernhard Moltmann. Frankfurt/M. 1993. S. 189–203.

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seits Aufschlüsse über die Aufnahme und Komplexität geschichtlicher Kontexte ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage des Adressaten einzubeziehen und inwiefern ein deutsch-jüdischer Kommunikationsraum als Referenzort der Texte vorgesehen war. Die Untersuchung des Schreibprogramms der Autor/-innen sowie der zugrunde liegenden stilistischen Strukturen eröffnet einen methodischen Ansatz, der einerseits die für die Entstehungszeit bedeutenden gesellschaftspolitischen Debatten, andererseits die Diskrepanz zwischen Entstehungszeit und den von der Forschung an die Texte herangetragenen Maßstäben berücksichtigt. Es geht somit darum, die spezifischen Entstehungs- und Veröffentlichungsbedingungen der frühen Nachkriegsliteratur zu ermitteln und zu fragen, wie die Autor/-innen darauf reagierten. Um die unterschiedlichen Zugänge zur Darstellung des Jüdischen in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur aufzuzeigen, wird eine z.  T. kontrastierende Perspektive gewählt: Am Beispiel von Texten der Autor/-innen Cläre M. Jung (1892–1981), Lotte Paepcke (1910–2000) und Albrecht Goes (1908–2000) sollen sowohl innerjüdische als auch außerjüdische Diskurse in den Blick genommen werden. Zugleich gilt es damit, bis auf Goes, weniger breit rezipierte Texte und Autor/-innen zu untersuchen und die bisherigen Perspektiven auf Autor/-innen wie Alfred Andersch, Heinrich Böll, Luise Rinser, Walter Jens, Elfriede Brüning oder Johannes Bobrowski zu erweitern. Lotte Paepcke, die in einer ‚privilegierten Mischehe‘ die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland überlebte, vollzieht in ihrem 1952 erschienenen autobiografischen Text Unter einem fremden Stern eine Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdzuschreibungen des Jüdischen. Eine Vergleichsfolie zu Paepckes Erzählung bietet der Roman Aus der Tiefe rufe ich von Cläre M. Jung, die die Verfolgungen der deutschen Juden zu beschreiben versucht und dabei tradierte Fundbilder des Jüdischen aufnimmt, ohne die Frage der Heterogenität von (konstruierten) Gemeinschaften zu stellen. Albrecht Goes, der in den 1950er- und 1960er-Jahren mit seinen Veröffentlichungen zu den wichtigsten westdeutschen Nachkriegsautoren zählte, unterlegt seiner Erzählung Das Brandopfer von 1954 einen theologischen Diskurs, der die Versöhnung zwischen christlicher und jüdischer Religion in den Vordergrund rückt.



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Konstruktionen von Gemeinschaft: Cläre M. Jung Aus der Tiefe rufe ich und Lotte Paepcke Unter einem fremden Stern 1946 erschien der Roman Aus der Tiefe rufe ich der Publizistin Cläre M. Jung im neu gegründeten Berliner Aufbau-Verlag. Jung veröffentlichte somit nicht nur im erfolgreichsten belletristischen Verlag der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern bekannte sich mit dieser Wahl zu einer „demokratischen Erneuerung Deutschlands“14, die das Credo des gleichnamigen Kulturbundes war, der im Juni 1945 gegründet wurde. Der Text gehörte zu einer der 62 Erstauflagen, die 1946 verlegt wurden, und reihte sich in die seit 1945 publizierten Neuerscheinungen von Peter Huchel, Nelly Sachs oder Theodor Plievier ein.15 Carsten Wurm weist Jungs Roman als problematisch aus, allerdings nicht aufgrund der von ihr gewählten Thematik – es gab keine Schwierigkeiten hinsichtlich der „militäramtlichen Zensur“,16 Jungs Buch steht vielmehr am Beginn von Veröffentlichungen, die sich mit der jüdischen Verfolgung beschäftigten17 –, sondern weil sie zu den „neue[n]“,18 unbekannten Autor/-innen zählte, womit Absatzschwierigkeiten einkalkuliert werden mussten. Jung war vor 1946 nicht als Schriftstellerin in Erscheinung getreten. Ihr Betätigungsfeld in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus lag im Bereich des Journalismus. Nach der von ihrem Mann Franz Jung unternommenen Gründung des Deutschen Feuilletondienstes 1927, dessen Leitung sie 1933 nach der Scheidung übernahm und bis zum Verbot 1944 führte, bestand ihre Hauptaufgabe in der Sammlung und Zusammenstellung wichtiger fremdsprachiger Artikel für deutsche Zeitungen.19

14 Wurm, Carsten: Prospekt und Umbruch. Die ersten Jahre des Aufbau-Verlages. In: Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–1949. Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 1996. S. 147–174, hier S. 148. 15 Die Auflagenhöhe betrug 10 000 Exemplare, dies entspricht nach Wurm der normalen Auflagenzahl eines Titels, die bis 1949 zwischen 10 000 bis 30 000 Exemplaren lag. In: Wurm, Prospekt (wie Anm. 14), S. 151. 16 Wurm, Prospekt (wie Anm. 14), S. 149. 17 Vgl. Schiller, Dieter: Alltag, Widerstand und jüdisches Schicksal. Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in der literarischen Öffentlichkeit der SBZ und frühen DDR. In: Schwieriges Erbe. Hrsg. v. Werner Bergmann. Frankfurt/M. 2005. S. 393–407. 18 Wurm, Prospekt (wie Anm. 14), S. 151. 19 Vgl. zur Biografie Cläre M. Jungs Melchert, Monika: Cläre M. Jung als Chronistin einer Epoche sowie Mierau, Sieglinde und Fritz: Gespräch mit Cläre M. Jung (erstmals in Sinn und Form 1978). In: Aus der Tiefe rufe ich. Texte aus sieben Jahrzehnten. Hrsg. v. Monika Melchert. Berlin 2004. S. 227–245 u. S. 209–226. Außer einem Auszug aus ihren Lebenserinnerungen,

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Der Roman war somit ihr erstes schriftstellerisches Werk, das veröffentlicht wurde. Die Autorin führt darin unterschiedliche Lebensgeschichten jüdischer Verfolgter in Berlin zwischen 1938 und 1943 zusammen. Die äußere Struktur des Textes wird über die Verordnungen, die ab 1938 gegen die jüdische Bevölkerung erlassen wurden und insgesamt 40 Textabschnitte einleiten, sowie die Nennung wichtiger historischer Daten (Novemberpogrom 1938, Beginn des Zweiten Weltkrieges) hergestellt. Von Jung und in der Neuauflage von 2004 als Roman-Chronik ausgewiesen, verlegte der Aufbau-Verlag den Text als Roman, um bessere Verkaufszahlen zu erzielen.20 Als Chronik verstand Jung den Text aus zwei Gründen: zum einen, weil ihm reale „einzelne jüdische Schicksale“21 zugrunde lagen, zum anderen, weil Grundzüge der eigenen Biografie, insbesondere die Hilfeleistung für zwei jüdische Schwestern, in dem Text fiktionalisiert wurden.22 Die Darstellung dieser Beziehung zwischen der nichtjüdischen Journalistin Bettina und den beiden jüdischen Schwestern Ellinor und Alice Jacobsohn bildet einen Hauptstrang des Textes, der die Chronik zudem eröffnet. Daneben werden am Beispiel von Familien, alleinstehenden Frauen, vom Berufsverbot betroffenen Anwälten und Professoren die unterschiedlichsten Umgangsformen mit der Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft sowie der Verfolgung gezeigt. Erzählt werden diese Versuche von einem extra- und heterodiegetischen Erzähler. Die Wahl des Tempus Präsens erweist sich hinsichtlich des Erzählerkommentars und der Figurenrede z.  T. als problematisch, da oftmals keine Abgrenzungen zwischen Kommentar und Rede zu bestehen scheinen bzw. durch wechselnde Fokalisierungen Aussagen eine Allgemeingültigkeit zugeschrieben wird, die insbesondere

der 1971 unter dem Titel „Bilder meines Lebens“ in der Zeitschrift Neue deutsche Literatur erschien, sind keine weiteren literarischen Texte von Jung in der DDR veröffentlicht worden. Es gab mehrere Versuche Jungs, ihre Manuskripte zu veröffentlichen, doch kam es nie zu deren Umsetzung. Ulrike Griebner weist auf die große Diskrepanz zwischen den zahlreichen Ehrungen für die Autorin als wichtige Kulturschaffende in der DDR und der ausgebliebenen Veröffentlichung ihres Werkes hin. Griebner, Ulrike: Spurensuche im Museum. In: Melchert (Hrsg.), Tiefe (wie Anm. 19), S. 247–258, hier S. 254. 20 Vgl. Mierau, Gespräch (wie Anm. 19), S. 221. 21 Mierau, Gespräch (wie Anm. 19), S. 221. 22 „Ich habe eines Tages zwei Mitschülerinnen auf dem Markt getroffen. In der Schule hatten wir weiter nichts miteinander zu tun. Sie wollten, wie man das nannte, flitzen. Verschwinden. Emigrieren. Ich habe ihnen meine Papiere gegeben.“ In: Mierau, Gespräch (wie Anm. 19), S. 223. Im Interview verweisen die Mieraus auf weitere Hilfeleistungen Jungs während des Nationalsozialismus, Jung selbst erzählt über ihre gefährdete Stellung als Publizistin. Diese Informationen können als Legitimierung von Jungs Verhalten gelesen werden, die sich einem erweiterten Widerstandsbegriff der Zivilcourage zuordnen lassen.



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hinsichtlich der wiedergegebenen Gedankenwelt sowie der verwendeten Sprache keine Distanzierung zur nationalsozialistischen Ideologie beinhalten: Der Mann steht lange über die reglose Gestalt gebeugt. So genau kennt er jedes Stückchen Haut dieses schmalen hochgebauten Körpers, der in seiner Makellosigkeit nichts von seiner Rassemischung verrät.23; ,Vielleicht gelingt es ihr noch einmal, hier herauszukommen‘, denkt er weiter, während er die Ruben vor sich sprechen läßt. Aber sie wird nie verstehen, worauf es ankommt. Um das zu wissen, muß man die Zeichen seiner Zeit verstehen, mitdenken können. Die Juden werden es nie lernen. Sie sind so taktlos, weil sie niemals von sich selber absehen. (AdT 90)

Während an anderen Textstellen die eigene Gedankenrede der Protagonisten durch einfache Anführungsstriche von der fremden Rede abgesetzt wird,24 heben sich die Grenzen in diesen Passagen auf. So enthält z.  B. die Übernahme der Begriffe „Makellosigkeit“ sowie „Rassemischung“ keine kritische Hinterfragung und Negation des von den Nationalsozialisten propagierten Rassismus. Biologische und antisemitische Termini werden nicht allein von der Erzählinstanz und deutschen Protagonisten verwendet, sondern finden sich ebenso in der direkten oder indirekten Rede jüdischer Protagonist/-innen, z. B. bei Susanne Walter: […] Menschen, die an den Grenzen der Rassen leben, wir haben selten noch die Tugenden der Erbströme, die in uns zusammenfließen, sondern nur die Schwächen von beiden Teilen. (AdT 94); ,Das ist es [gemeint ist hier der ‚Kampf‘ gegen die ‚Vernichtung‘ des Lebens, U. S.] –‘, denkt Alice, ‚was wir nicht können. Was wir niemals verstehen werden. (AdT 110)

Suggeriert wird damit, vor allem durch die wiederkehrende Wahl des Pronomens „wir“, das eine allgemeingültige Sprecherposition transportiert, dass die von den Nationalsozialisten propagierte ‚Überlegenheit‘ der ‚arischen Rasse‘ selbst von den Verfolgten als richtig empfunden wurde. Bereits in der zeitgenössischen Rezeption des Buches wurde durch den Literaturkritiker Heinz Rein dezidiert auf die „primitiv antisemitischen Passagen“25 verwiesen. Dies sowie die Untersuchung Victor Klemperers über die Verwendung sprachlicher Termini in seiner LTI26 verdeutlichen die hohe Brisanz des Themas in der Nachkriegszeit, das bei

23 Jung, Cläre M.: Aus der Tiefe rufe ich. Berlin 1946. S. 36. Im Folgenden Angaben im Text abgekürzt als AdT mit nachgestellter Seitenzahl. 24 Vgl. Jung, AdT, S. 29, 35, 56, 89, 110. 25 Rein, Heinz: Die neue Literatur. Versuch eines Querschnitts. Berlin 1950. S. 113–117, hier S. 115. 26 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1990. S. 21 u. S. 26: „Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die

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Jung jedoch keine kritische Auseinandersetzung findet. Weiterhin werden negativ tradierte, den Juden zugeschriebene Charaktereigenschaften nicht aufgehoben, sondern als feststehend transportiert. Deutlich wird daran, dass die Autorin bei der sprachlichen und thematischen Konstruktion des Romans das eigene Verhaftetsein im antisemitisch-rassistischen und antijudaistischen Diskurs kaum mitreflektierte. Sätze wie: Niemals war diese Rasse für körperlich schwere Tätigkeit auf lange Zeit hinaus besonders geeignet. Immer nur hat sie in der Hauptsache viel lieber die Früchte aus solchen Anstrengungen an den Mann gebracht, getauscht, gehandelt und vermittelt. (AdT 45) Aber die Kinder Israels sind immer nur die Söhne ihres Stammes geblieben, nie ihrem Stammesgott entwachsen und konnten niemals ein freies, auf sich gestelltes, ganz und gar erwachsenes Wesen werden […]. [Sie] stellen ein Hemmnis dar für jede andere Entwicklung, (AdT 122)

weisen auf die Übernahme seit dem Mittelalter bestehender christlicher und seit dem 19. Jahrhundert aufgekommener gesellschaftlicher Vorurteile hin. Die fehlende Einmischung seitens des Erzählers bzw. die ausbleibende Kommentierung bestimmter Gedankenreden hat die Vermittlung konstanter und gesellschaftlich abgesicherter Ideenwelten zur Folge, die zwar durch die Themenwahl und die Wahl der historischen Perspektive unterbrochen scheinen, aber innerhalb der erzählten Welt und somit auf den Adressaten durch die Aufnahme bestimmter Sprechweisen sowie der Darstellung der jüdischen Protagonisten weiter- und einwirken. Auffällig an dem von Jung entworfenen Figurenensemble ist dessen Verortung im Bildungsbürgertum Berlins. Weder damals im Scheunenviertel lebende, ehemals aus Osteuropa eingewanderte Juden27 noch der „mittelständischen Bevölkerungsgruppe“28 – (Siehe dazu Alina Bothes Artikel in diesem Band, DaZwischen. Zur jüdischen Identität in Fischel Schneersohns „Grenadierstraße“) – angehörige jüdische Familien finden Eingang in die Chronik. Vermittelt wird das Stereotyp des wohlhabenden Juden, der nicht, wie es der allgemeinen Sozialstruktur entsprach, vorwiegend im Mittelstand angesiedelt war, sondern der sozi-

Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. […] Und sogar bei denen, die die schlimmst verfolgten Opfer und mit Notwendigkeit die Todfeinde des Nationalsozialismus waren, sogar bei den Juden herrschte überall […] die LTI.“ 27 Vgl. Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft. In: Joseph Roth. Essays, Reportagen, Feuilletons. Hrsg. v. Helmuth Nürnberger. Göttingen 2010. S. 137–224. 28 Barkai, Avraham: Bevölkerungsrückgang und wirtschaftliche Stagnation. In: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. IV: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945. Hrsg. v. Michael A. Meyer. München 1997. S. 37–49, hier S. 41.



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alen Oberschicht zugehörig ist.29 Die von Jung entworfenen Lebenswelten sind den Stadträumen Wilmersdorf und Grunewald zugeordnet, Geld wird als wiederkehrendes Symbol der unterschiedlichen Protagonisten angeführt, die Ausweglosigkeit der Situation von den Protagonisten nicht wahrgenommen, anstelle des Aufbegehrens stehen weiterhin Kaffeehausbesuche, die gelungene Emigration wird hingegen als Verlust eines ‚sauberen‘ und kulturell hochwertigen Lebensraumes aber nicht als Lebensrettung empfunden: „Die Briefe – diese Briefe – An jedem Tisch fast wird ein solcher Brief gelesen. Und alle sind sie voller Klagen: wie schmutzig ist Schanghai, die Stadt Chicago kann man kaum ertragen, das Klima Tel Avivs macht arbeitsunfähig und krank.“ (AdT 44) Zwar gelingt es der Autorin durch die Vielzahl der eingeführten Protagonisten die einzelnen Lebensschicksale aufzuzeigen und nicht eine amorphe Masse, sondern Individuen sowie ihre heterogenen Erfahrungen der Verfolgung ins Zentrum zu rücken, doch werden diese als bestimmte Typen dargestellt: Der reiche und skrupellose Geschäftsmann Benno Joseph, die schöne, aber einem jüdischen Selbsthass verfallene Künstlerin Susanne Walter, der intellektuelle, der deutschen Kulturtradition verpflichtete Geisteswissenschaftler Ludwig Stein. Insbesondere die Beziehung zwischen Bettina und den Schwestern Jacobsohn spiegelt Dynamiken wider, die auf Gegensätze zwischen den beiden Parteien angelegt sind. Während Bettina als selbstbewusste, berufstätige, in einer Beziehung lebende Frau eingeführt wird, erscheinen die Schwestern ohne einander nicht lebensfähig, sind kinder- und beziehungslos.30 Als emanzipierte Frau, die ohne das Wissen ihres Lebensgefährten handelt, ist Bettina die Rolle der aktiv Handelnden zugeschrieben, die mit der Unterstützung für die Schwestern zum einen gegen das NS-Regime aufbegehrt – Widerstand im Sinne von Zivilcourage leistet –, zum anderen gegen „Urgewalten“, „unbekannte Kräfte“ (AdT 29) im Allgemeinen protestiert, womit

29 Vgl. dazu die Kritik von Heinz Rein, die von marxistisch-ideologischen Kriterien geleitet ist, aber dennoch die historische Verklärung im Roman hervorhebt. Rein, Die neue Literatur. (Vgl. Anm. 25) S. 115 u. S. 117. 30 Bis auf Susanne Walter und die nur im Zusammenhang mit ihrem Vater Benno Joseph erwähnte Vilma Rosanes werden alle weiblichen jüdischen Figuren als beziehungslos dargestellt. Als alleinstehende Mütter bzw. fürsorgliche Großmütter begehren sie nicht gegen die Verfolgung auf und finden den Tod entweder während des Untertauchens durch einen Bombenangriff (Irene Ruben) oder durch die Deportation (Hertha Landau). Die von Heidy M. Müller für vorwiegend männliche jüdische Protagonisten beobachtete Darstellungsweise findet sich bei Jung ausschließlich bei Frauen. Vgl. Müller, Judendarstellung (wie Anm. 6), S. 190. Allerdings steht Jungs Darstellung der Deportation älterer jüdischer Frauen im Gegensatz zu der von Heukenkamp konstatierten Ausblendung dieses Motivs in der unmittelbaren Nachkriegsliteratur. Vgl. Heukenkamp, Jüdische Figuren (wie Anm. 13), S. 194.

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das NS-Regime zwar angesprochen wird, aber eine konkrete gesellschaftspolitische Kritik nicht verbunden ist. Anstelle dessen tritt in den wiederkehrenden Gedankengängen Bettinas, die ihren Höhepunkt in einem gedanklichen Monolog am Ende des Buches finden, sowie in Aussagen anderer Protagonisten ein anthropologisches Geschichtskonzept, das eine Universalisierung der Erfahrungen enthält31 und jegliche Frage der Schuldverstrickung ebenso ausklammert wie Fragen nach den konkreten historischen, ideologischen und politischen Bedingungen des NS-Regimes: Es geht doch darum, daß der Mensch sich selbst erobern soll. Die Geschichte des Menschengeschlechts ist die Vermenschlichung des Menschen. Der Mensch kennt sich nicht, weiß nichts von den Kräften, die in ihm schlummern. Noch wird er immer getrieben, von unbekannten Mächten aus unbewußten Tiefen. (AdT 153)

Während Bettina ein Aktionsradius zugeschrieben wird, der über die individuelle Hilfeleistung hinausgeht und sie als Widerständige gegen den ewigen Weltenkreislauf erscheinen lässt, ist der Handlungsradius der beiden Schwestern auf die eigene Familie beschränkt. Zwar handeln sie selbstständig in Bezug auf das Sterben der Mutter,32 aber zur eigenen Lebensrettung sind sie auf die Hilfe Bettinas angewiesen. Dem selbstlosen Handeln Bettinas, sie lehnt jegliche finanzielle Gegenleistung ab, stehen die hervorgehobene Wohlhabenheit der Schwestern, vor allem aber ihre Naivität hinsichtlich der Flucht gegenüber. Die fragile Sicherheit, in der sie sich aufgrund der überlassenen Dokumente wähnen und aufgrund derer sie die Flucht immer wieder hinauszögern, wird durch den Erzählerkommentar als egoistisch ausgewiesen: Mit diesen Ausweisen zu einer neuen Sicherheit gestärkt, bewegt sich nun Alice so, als gäbe es für sie keine Gefahren mehr […]. Sie braucht sich keinen Zwang mehr anzutun, mit dem Risiko, das ein anderer Mensch für sie trägt, eine andere Frau, die ihr geholfen hatte. Deren Namen auf allen den Papieren steht, die für alles, was sie tut, nun aufzukommen hat, ohne daß sie es weiß. Was geht das sie [Alice, U.S.] an? (AdT 134)

31 So wird in dem Abschiedsbrief an ihren Freund Hans Hartmann die bevorstehende Deportation von der Protagonistin Susanne Walter mit dem Kriegseinsatz gleichgesetzt: „Was bedeutet schon die Unbequemlichkeit einer tagelangen Fahrt, habt Ihr Soldaten denn nicht dasselbe auszuhalten: Hitze oder Kälte, oft schwierige Transportverhältnisse und einfachstes Essen. […] Und auch die freie Willensäußerung ist Euch ebenso genommen […].“ AdT, S. 94. 32 Monika Melchert verweist auf die Umkehrung des Medea-Motivs im Zusammenhang mit der ‚Ermordung‘ der Mutter durch Veronal durch die beiden Töchter, um sie vor der Deportation zu bewahren. Vgl. Melchert, Jung (wie Anm. 19), S. 243.



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Die von der Autorin angelegte Konstellation zwischen Bettina und den Schwestern läuft auf eine Deutung der unterschiedlichen Erfahrungen zugunsten der deutschen Protagonistin hinaus. Sie fungiert für den Nachkriegsleser als Identifikationsfigur, deren Perspektive nicht allein eine Entlastung des eigenen Verhaltens, sondern zudem Deutungen des Geschehens enthalten, die auf eine Enthistorisierung hinauslaufen. Sowohl die gefährdete Lebenssituation der Jacobsohn-Schwestern als auch die zum Scheitern verurteilten Emigrationsversuche der übrigen Protagonisten treten hinter der Handlung Bettinas zurück. Dies offenbart auch die Textstruktur des Romans: Das Fazit des Erlebten und der Ausblick in eine neue Zukunft obliegt Bettina, nicht den jüdischen ProtagonistInnen. Somit bleibt am Ende des Romans der Eindruck, verstärkt durch die unreflektierte Übernahme der NS-Terminologie, dass die von Jung dargestellte Chronik eher der Legitimierung der eigenen Handlungsweisen dient als der kritischen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und der Schuldverstrickung der Deutschen: Hier geht es darum, wie politisch nichtorganisierte Deutsche, […], aus menschlichem Anstand heraus jüdische Mitbürger vor der drohenden Deportation retten, sie bei sich verstecken oder ihnen Ausreisepapiere verschaffen. Der Verdacht allerdings, daß solchen Handlungsmustern der Rettung in allererster Linie eine Alibifunktion für die Autoren zukam, läßt sich nicht zerstreuen.33

Trotz dieser Kritik ordnete sich Jungs Roman in die frühen Veröffentlichungen des Aufbau-Verlages ein, die nach Wurm im „Frühjahrsprogramm 1946“34 vor allem von Vertretern der ‚inneren Emigration‘ und ehemaligen Widerstandskämpfern stammten, da eine zwar unpolitische, aber dennoch vollzogene „Abrechnung mit dem Nationalsozialismus“35 die Basis des Textes bildet. Einen Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive bietet der biografische Text Unter einem fremden Stern von Lotte Paepcke. Paepcke absolvierte vor 1933 das Jurastudium, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft konnte sie jedoch nicht mehr als Juristin arbeiten und war nach 1945 als Journalistin für den Rundfunk sowie für Zeitungen tätig. 1952 veröffentlichte sie im Verlag Frankfurter Hefte ihren – so die Einordnung des Herder-Verlages bei der Wiederauflage des Titels 2004 im Waschzettel – „Erfahrungsbericht“36 der Verfolgung. Ebenso wie bei Jung war es

33 Melchert, Monika: Die Zeitgeschichtsprosa nach 1945 im Kontext der Schuldfrage. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsliteratur (1945–1960). Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 2000. S. 101–166, hier S. 135. 34 Wurm, Prospekt (wie Anm. 14), S. 155. 35 Wurm, Prospekt (wie Anm. 14), S. 155. 36 Bisher gibt es kaum (Forschungs-)Literatur zu Lotte Paepcke. Eine Ausnahme bildet das Vorwort zu ihrem Buch, in dem der Journalist Martin Doerry Lebensstationen Papeckes

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das erste Auftreten als Autorin. Der Verlag Frankfurter Hefte, dessen wichtigste Basis die Herausgabe der die ersten Nachkriegsjahrzehnte prägenden Zeitschrift Frankfurter Hefte war und deren Verleger Eugen Kogon ab 1948 mit der Veröffentlichung eigenständiger Titel begann, war katholisch, aber dennoch linkspolitisch ausgerichtet. Berücksichtigt man die theologischen Fragestellungen, insbesondere die Thematisierung der ausgebliebenen Nächstenliebe zwischen Verfolgern und Verfolgten in Paepckes Text, entspricht dieser dem Verlagsprogramm. Paepckes Text erschien zudem innerhalb einer kleinen Reihe von autobiografischen Texten weiblicher Autoren.37 Im Gegensatz zu Jung und bedingt durch die Gattungswahl besteht ein autobiografischer Pakt zwischen Autorin, Erzählerin und Ich-Figur. Die damit verbundene interne Fokalisierung hebt Paepckes Sprecherposition als verfolgte Jüdin, jüdische Ehefrau in einer ‚privilegierten Mischehe‘, Deutsche und Überlebende hervor.38 Die retrospektiv angelegte chronologische Schilderung des, wie es in einer Rezension des Kölner Anzeigers heißt, „echte[n] Dokument[s]“39 setzt in den ersten Jahren der NS-Diktatur und der Zäsur durch das Novemberpogrom 1938 ein, das Zentrum bilden die Kriegsjahre 1941 bis 1945. Neben der Darstellung der eigenen Erfahrung steht die Beschreibung des immer kleiner werdenden Kreises jüdischer Verfolgter, am Beispiel der Freundin Lilli und der Großmutter unternimmt sie die Beschreibung von Deportation und Vernichtung.40 Bereits der Titel verweist auf ihre Außenseiterposition innerhalb der deutschen Gesellschaft, auf die Fremdheit innerhalb der Stadt Leipzig, die aufgrund des Zuzugs als doppelte erfahren wird, die vor allem aber durch die Ausgrenzung und der damit vollzogenen äußeren Negation der eigenen Identität hervorgerufen wird. Vielfältig eingesetzte Naturmetaphern dienen Paepcke zur Vermittlung dieser Erfahrung: „Ach, die Sonne – sie hat sich sonderbar verändert. Fremd hängt sie unter einem fremden Himmel. […] Es ist ihre Sonne, die der Mächtigen und Vielen, die all die Häuser hier gebaut und deren Siege auf den Plätzen stehn. Wo nehmt das Recht ihr her, die Erde mir zu stehlen?“41 (UfS 23)

beschreibt. Vgl. Doerry, Martin: Vorwort. In: Unter einem fremden Stern. Geschichte einer deutschen Jüdin. Freiburg [u. a.] 2004. S. 5–10. Im Folgenden im Text zitiert als UfS. 37 Diese Reihe umfasste neben Paepcke Irma Loos’ Rumänisches Tagebuch (1951) und Inge Scholls Die weiße Rose (1952). Vgl. Ernst, Christian: Öffentliche Erinnerung an die Weiße Rose im Ost-West-Vergleich. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Potsdam 2009. S. 86. 38 Vgl. UfS (wie Anm. 36), S. 32 u. S. 29. 39 W. F.: Mahnung aus der Vergangenheit. In: Kölner Anzeiger vom 12. 9. 1952. 40 2002 wurden die Briefe von Lilli Jahn, deren Cousine Paepcke war, unter dem Titel „Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944“ von Martin Doerry herausgegeben, Veröffentlichungsort war die Deutsche Verlagsanstalt. 41 Das Signalwort „fremd“ taucht immer wieder im Text auf, es wird z. T. aber auch aus der



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Die die deutsche Gesellschaft bestimmende Kriegspropaganda überträgt sie nachträglich auf die Beschreibung ihrer eigenen Verfolgung und verweist somit nicht allein auf die täglich bestehenden „Kampfhandlungen zwischen dem deutschen Volk und den Juden und Mischehen“ (UfS 24), sondern sie verdeutlicht anhand dessen zugleich das Zwischen-den-Orten-Stehen aufgrund ihrer Lage. Während die Bombenangriffe der Alliierten ihr einerseits die einzig mögliche Rettung vor der Verfolgung bringen können, erlebt sie andererseits diese Angriffe als ebenso existenzbedrohend wie die übrige Bevölkerung. Zugleich ergibt sich aus den Beschreibungen des erfahrenen Kriegsalltags ein Anknüpfungspunkt für das westdeutsche Lesepublikum, in denen die Erfahrungen der Mehrheit aufgehoben sind.42 Die Kriegserinnerung Paepckes scheint folglich Teil der Gruppenerinnerung der Deutschen zu sein. Dies hebt sie innerhalb des Textes jedoch auf, da sie auf die entscheidende Erfahrungsdifferenz verweist, die eine gemeinsame Erinnerung nicht zulässt. Gerade in der Wiedergabe des deutschen Alltags, den kleinen Gesten der Nächstenliebe, den verschiedenen Formen des Mitläufertums liegt eine bestechende Analyse des Systems und das Wissen, dass jegliche Menschlichkeit vor dem Hintergrund der antisemitischen Propaganda versagte und die Unterstützung des Einzelnen für das System größer war als es in der Nachkriegsgesellschaft thematisiert wird: Sie waren zum größten Teil keine Unmenschen, diese kleinen Beamten und Angestellten, die im Krieg unter oft unmenschlichen Umständen ihre Pflicht taten und sich in Großdeutschland einen gut ausgestatteten Lebensabend sichern wollten, nach vieler Jahre Arbeit. […] Mochte der Führer einen oft auch zu seltsamen Dingen rufen […], so waren das wohl Dinge, die zu tun man eigentlich nicht vorgehabt hatte. Aber Gott und Führer gehen oft seltsame Wege, und Heldentum hat seine eigenen Gesetze. (UfS 36–37)

Paepcke deckt die Mechanismen des Schulddiskurses auf und interveniert gerade auf der Ebene der privaten Erinnerung gegen eine vorschnelle Entlastung des jeweiligen Verhaltens.43 Indem sie an die eigenen Erfahrungen des Nachkriegs-

deutschen Sprecherposition heraus verwendet zur Beschreibung des Kriegsalltags: „[…] aus dem Allzuvertrauten der Heimat ist man plötzlich hineingestellt in das ganz Fremde“ UfS (wie Anm. 36), S. 21, „fremde Flieger“ S. 27, „fremder Gast“ S. 28, „Panzer der Fremdheit“ S. 83, „der fremde Schrecken [der Kriegsflugzeuge]“ S. 93, „fremde[r], geliehene[r] Frieden“ S. 110. 42 Vgl. „War es Leben, diese Nächte ohne Schlaf? Wenn die Luft vor den stürzenden Bomben zurückprallte und gegen die Hauswände schlug; wenn die Minen sich rund um das Haus in die Straße wühlten, Splitter und Telefondrähte in unser Zimmer schleudernd?“ UfS (wie Anm. 36), S. 55, weiterhin S. 73. 43 Vgl. zur Schuldfrage nach 1945: Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. München 1979. Friedmann, Jan/Später, Jörg: Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte. In: Wandlungsprozesse in

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publikums anzuknüpfen scheint, diese zugleich aber hinterfragt und mit ihrer Erfahrung konfrontiert, eröffnet sie mit ihrer Schilderung einen Reibungsprozess mit dem Lesepublikum, in welchem einem gemeinsamen Kommunikationsraum eine Absage erteilt wird. So differenziert Paepcke die gesellschaftlichen Mechanismen während der NS-Zeit und der Nachkriegszeit darstellt, so sehr neigt sie hinsichtlich der Konstruktion einer jüdischen Schicksalsgemeinschaft zur Vereinfachung. Zwar ergibt sich im Gegensatz zu Jung aufgrund der anderen Gattungswahl keine ausführliche Grundlage für eine Figurenanalyse, dennoch lassen sich aus den gewählten Metaphern und dem Einsatz bestimmter Typisierungen Rückschlüsse ziehen. Die aufgrund der äußeren Bedingungen und Verordnungen erfolgte jüdische Zugehörigkeit bezieht sich bei Paepcke im engeren Sinn auf die jüdischen Ehepartner ‚privilegierter‘ und nicht-‚privilegierter‘ Mischehen. Bereits vor dem ‚Eintreten‘ in diese Gemeinschaft deutet sie ihre Zugehörigkeit zu dieser durch die Verwendung des Bildes der „heimlichen Brüder“ sowie der pluralen Sprecherposition „wir“ an.44 Trotz der politischen Reglementierungen, die zur Herstellung der Zwangsgemeinschaft führen und von Paepcke auch als Konstruktion deutlich gemacht werden, greift sie für die Beschreibung dieser nicht auf die heterogenen Eigenschaften und unterschiedlichen sozialen Herkünfte der Mitglieder zurück. Sie konstruiert sie vielmehr auf der Folie der traditionell überlieferten Verfolgungsgeschichte des jüdischen Volkes. Die gegenwärtige Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung – das Wort „Osten“ wird wiederkehrend als Periphrase für die Konzentrations- und Vernichtungslager verwendet – wird von ihr somit in die seit dem babylonischen Exil bestehenden Verfolgungen eingereiht und eine Rückbindung ihrer Existenz an die sowie eine Identifikation mit der Geschichte des Volkes vollzogen: „Und so fühlte ich, wie in mir jenes unterwürfige Lächeln entstand und in den Blick der Augen trat, das die Juden auf ihrem jahrtausendelangen Weg durch das Leben fremder Völker begleitet hat.“ (UfS 48) Als Gegensatz zur Aufkündigung der deutschen Zugehörigkeit steht die Herstellung eines ‚natürlichen‘ Familienverbandes aufgrund der jüdischen Herkunft, in dem jegliche Heterogenität aufgehoben ist und Solidarität und Mitgefühl die obersten Werte bilden. Diffizil ist die Identitätszuschreibung, die Paepcke dabei vollzieht, die sowohl auf

Westdeutschland. Hrsg. v. Ulrich Herbert [u. a]. Göttingen 2002. S. 53–90. Kämper, Heidrun: Artikel „Schuld“. In: Opfer – Täter – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs. Berlin 2007. S. 229–306. 44 Vgl. „[…] und wo sind jene anderen, seine heimlichen Brüder, die Juden ohne Privileg“ sowie „Ein neues Glück und neue Schmerzen werden hier für uns geboren werden; und wir in ihnen.“ UfS (wie Anm. 36), S. 22.



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einem ursprünglichen Erkennen als auch allgemein zugeschriebenen Charaktereigenschaften wie „einen verhältnismäßig hochgezüchteten Intellekt und [einer] aufrüherische[n] Selbständigkeit“45 beruht: Die Juden in der Diaspora bilden fast immer eine Art Familienverband. Jeder, auch der unbekannte Glaubensgenosse, wird mit selbstverständlicher Vertrautheit und auch Vertraulichkeit als Verwandter von den andern aufgenommen. […] Die absolute Fremdheit, wie sie sonst zwischen Menschen, die sich nicht kennen, existiert, gibt es bei Juden nicht. […] Sie kennen und erkennen einander, und keiner kann sich vor dem andern verbergen. Aber auch die Erbarmungslosigkeit des Fremdseins unter den Menschen gibt es bei ihnen nicht. (UfS 60, 61 u. 62)

Zu der vollzogenen Idealisierung treten Beschreibungen von Jüdinnen im Bild einer „fleischige[n] Mütterlichkeit“, typischer „Gesten und Bewegungen jüdischer Kaufmänner“ sowie die Schilderung von jüdischen Kaufleuten mit „ihren dicken Brillen“.46 Ist die Konstruktion einer idealen Gemeinschaft als Gegenentwurf vor dem Hintergrund der erfahrenen Ausgrenzung zu sehen, frappiert, dass Paepcke auf traditionelle Klischees zurückgreift, die Konnotationen vom Stereotyp des jüdischen Händlers enthalten. Anwendung finden diese allein im Zusammenhang mit der Darstellung der jüdischen Zwangsgemeinschaft, während bei der Charakterisierung der Großmutter oder der Freundin Lilli jegliche Typisierungen fehlen. Vielleicht ist es die trotz der Tendenz zur Homogenisierung dennoch empfundene Fremdheit im neuen Lebensumfeld, die Begegnung mit „allerlei Schicksale[n]“47, die zum Rückgriff auf Klischees führen. Offenbar wird daran aber auch, dass die von Paepcke beabsichtigte Vereinheitlichung und Rückbindung an eine gemeinsame Tradition auf der Grundlage der jüdischen Religion gedacht wird. Dies zeigen die von ihr verwendeten Begrifflichkeiten, insbesondere die Metapher von den „jüdischen Brüdern und Schwestern“48, ebenso wie ihr am Ende des Textes stehendes Bekenntnis zur jüdischen Glaubensgemeinschaft, welches sie zugleich in ihrer Funktion als Überlebende als Auftrag begreift: Aber es war, als thronte über dem geflickten Dach der Kapelle der alte Gott der Juden in seiner Wolkensäule, der Gott ohne Namen und Ort, der Ich-bin-der-ich-bin. Wenn im kleinen Raum drinnen die Beter ihre Knie beugten vor dem Mysterium der Erscheinung des Herrn, – dann hörte ich mich herausgerufen bei meinem Namen, herausgeschickt, vorbei an aller fremden Heimat zu einem unbekannten Ziel. (UfS 126)

45 UfS (wie Anm. 36), S. 60–61. 46 UfS (wie Anm. 36), S. 63 u. S. 65. 47 UfS (wie Anm. 36), S. 62. 48 UfS (wie Anm. 36), S. 109.

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Die von ihr konstruierte jüdische Verfolgungsgemeinschaft wird als traditionell religiös gebundene Gemeinschaft verstanden. Zugleich eröffnet dies aber auch eine Annäherung an die christlich-deutsche Nachkriegsgesellschaft. Die von ihr ebenfalls gebrauchte, in einer deutlich christlichen Tradition stehende Symbolik (von der Kirchenmusik Bachs über die Formulierung des christlichen Auferstehungs- und Erlösungsgedankens) wird nicht nur in den jüdisch theologischen Diskurs eingeflochten, sondern die christliche Tradition steht gleichberechtigt neben der jüdischen. Der am Ende des Textes formulierten Absage an ein gemeinsames Leben zwischen Juden und Deutschen steht die Bejahung eines jüdischchristlichen Wertesystems im Text gegenüber, das für Paepcke allein die Basis für ein Zusammenleben nach der Shoah bieten kann.

Versöhnungskonzepte: Albrecht Goes Das Brandopfer 1954 erschien im renommierten S. Fischer Verlag die Erzählung Das Brandopfer des Schriftstellers und Pfarrers Albrecht Goes. Bereits 1946 hatte Goes die Erzählungen Begegnung in Ungarn und 1949 Unruhige Nacht veröffentlicht. Gemeinsam ist den drei Werken die Thematisierung von Krieg und Verfolgung. In die Darstellung sind z. T. seine Erfahrungen als Kriegspfarrer während des Zweiten Weltkrieges eingeflossen. Aufgrund der literarischen und theologischen Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sowie seines Engagements für die christlich-jüdischen Beziehungen, wobei seine persönliche Verbindung zu Martin Buber, dessen Werke er als wegweisend für sein eigenes Verständnis des Judentums auswies, eine wichtige Rolle spielte, galt Goes als einer der ersten Schriftsteller und Theologen, der die „christliche Tradition des Antijudaismus“49 überwand. Während der 1950er- und 1960erJahre erfuhren seine Werke eine breite Rezeption in der Bundesrepublik, ab den 1960er-Jahren zudem in der DDR.50 Die Bedeutung Goes’ für ein neues deutschjüdisches Verhältnis zeigt sich in seiner Rolle als Laudator bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1953 an Martin Buber, aber auch in seiner Funktion als moralische Instanz, die im Sinne Bubers den „Gottesdienst

49 Zwanger, Helmut: Albrecht Goes. Freund Martin Bubers und des Judentums. Tübingen 2008. S. 42. 50 Vgl. zur Rezeption Goes’: Wirth, Günter/Pleßke, Hans-Martin: Albrecht Goes. Der Dichter und sein Werk. Berlin 1989.



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[als] Menschendienst“51 fordert. Dieser Dienst, von Goes als wichtigste christliche Aufgabe verstanden, steht im Zentrum der Erzählung Das Brandopfer. Eingeleitet durch eine Invocatio, die das Gedenken und die Nächstenliebe als zentrale Themen des nachfolgenden Textes ausweist, folgt die Erzählung des „Menschendienstes“ der Metzgersfrau Margarete Walker, die das Zentrum des Textes bildet. Die anachronische Anlage des Textes sowie der Einsatz von unterschiedlichen Genres wie Bericht und Brief unterstützt die inhaltliche Dramaturgie, die auf die Aufklärung der Lebensgeschichte Walkers ausgerichtet ist. Die Basiserzählung ist Ende der 1940er-Jahre angesiedelt, während die durch Analepsen dargestellte Binnenerzählung die Zeit von 1935/36 bis 1942 umfasst. Der Wechsel zwischen homo- und autodiegetischem Erzähler verstärkt die Zeugnisfunktion, die der Rede der Protagonistin Walker zukommt. Während in Verbindung mit Margarete Walkers Bericht sowie ihrem Brief Autodiegese vorliegt, tritt der namenlose „Assistent der Staatsbibliothek“52, der gleichzeitig der direkte Adressat von Walkers Bericht ist, als homodiegetischer Erzähler auf. Der „Menschendienst“ Walkers besteht in kleinen Hilfeleistungen für ihre jüdischen Kunden sowie der Gewährung eines Schutzraumes für den Sabbatgottesdienst in ihrer Metzgerei in den Jahren 1940 bis 1942. Mit ihrer Erzählung übt Walker eine doppelte Zeugnisfunktion aus. Zum einen legt sie Zeugnis über die Verfolgung der Juden und die Schikanen und Bedrohungen durch die Gestapo ab. Hier fungiert sie im Sinne einer historischen Zeugin53 und nutzt den Augenzeugenbericht als wichtigstes Element: „Ich habe es dann an diesem Abend alles zum erstenmal erlebt, was man erleben konnte: die Angst, mit der die mir ihre Lebensmittelkarten über den Tisch hin reichten […].“ (B 92) Zum anderen vollzieht sie durch das „Brandopfer“, welches sie während eines Bombenangriffs im Herbst 1942 aufgrund des Wissens um die Deportationen und Vernichtungslager als Sühneleistung unternehmen will und dessen Spuren sich in ihrem Gesicht abzeichnen, eine Opferhandlung, die als religiöses Opfer ausgezeichnet ist und sie damit zur Märtyrerin werden lässt:

51 Goes, Albrecht: Martin Buber, der Beistand. Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Martin Buber. In: Zwanger, Goes (wie Anm. 49), S. 56–63, hier S. 62. Goes verfasste zudem das Vorwort für die Taschenbuchausgabe des 1955 im FischerVerlag publizierten „Tagebuch der Anne Frank“. 52 Goes, Albrecht: Das Brandopfer. In: Unruhige Nacht. Das Brandopfer. Berlin 1961. S. 93. Im Folgenden im Text zitiert und abgekürzt als B. 53 Vgl. zum Begriff des Zeugen: Assmann, Aleida: Vier Grundtypen von Zeugenschaft. In: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Hrsg. v. Michael Elm [u. a.]. Frankfurt/M. 2007. S. 33–51.

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Wenn es so ist, daß eine, die ihr Kind erwartet, den Kinderwagen hergeben muß, weil man über sie und das Ungeborene ohne Grund ein Todesurteil gesprochen hat, wenn das in der Welt ist, dann kann es nicht mehr gut werden. Das kommt nicht mehr ins Gleichgewicht. Und eigentlich ist nichts anderes mehr möglich als dies: daß alles gut aufgeräumt wird – im Feuer. (B 124–125)

Die Anlage des „Menschendienstes“ von Walker als religiöses Opfer suggeriert für den heutigen Leser aufgrund der Anlehnung an das griechische Wort „holokaustos“ als Synonym für den Mord an den europäischen Juden eine Gleichsetzung der Erfahrung und hebt die Singularität der Shoah auf. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Einsatz des Zeugnisberichtes. Den beiden jüdischen Protagonisten, Sabine und ihrem Vater – bei deren Anlage Goes auf beliebte Typisierungen zurückgreift, die der bindungs- und heimatlosen, intelligenten jungen ‚Halbjüdin‘54 und die des emigrierten, ehemaligen assimilierten Intellektuellen – wird ebenfalls ein Zeugnisbericht zugeschrieben. Allerdings sind diese sehr viel kürzer gefasst als Walkers und können als Ergänzung zu diesem verstanden werden. Während der Bericht Sabines ebenfalls als historischer Zeugenbericht angelegt ist und über diesen Deportation und Vernichtung erstmals thematisiert werden,55 dient der als Brief verfasste Bericht des Vaters Berendson nicht der Bezeugung der jüdischen Verfolgung, sondern des „Brandopfers“ Margarete Walkers. Indem Goes die in der unmittelbaren Nachkriegszeit wichtige Textgattung des Erlebnisberichts, der gerade von Shoah-Überlebenden zur Darstellung der eigenen Erfahrung genutzt wurde, zugleich aber im juristischen Kontext die Funktion der Zeugnisfähigkeit übernahm,56 zur Vermittlung einer deutsch-christlichen Erfah-

54 „Sabine, die Sachliche, Sabine, die Regentin […]; Sabine, die Übermütige – und sie kennen nur wenige … Noch seltener sieht man Sabine, die Scheue, die Flüchtende – Sähe man auf den Grund, so sagte man vielleicht: Sabine, der Gast.“ B (wie Anm. 52), S. 102. Vgl. zur Figurencharakteristik der Protagonistin Müller, Judendarstellung (wie Anm. 6), S. 79. Bach, Janina: Christliche Botschaft – Albrecht Goes: „Das Brandopfer“. In: Bach, Erinnerungsspuren (wie Anm. 13), S. 271–287, hier S. 277. 55 In der Chronologie der Erzählung steht der Bericht Sabines vor dem Brief Margarete Walkers. 56 Erlebnisberichte fungierten als juristisches Zeugnis für die Verfolgung von Straftätern sowie als Mittel zur Aufklärung einer breiten Öffentlichkeit über die Verbrechen. Vgl. Peitsch, Helmut: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit.“ Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945–1949. Berlin 1990. S. 103–104 u. S. 123–125. Peitsch ordnet in seiner Typologie der Autobiographik aufgrund des ausgewerteten Materials das Genre Erlebnisbericht vorwiegend der Gruppe Opfer des Faschismus und Widerstandskämpfern zu, während Vertreter der ‚inneren Emigration‘ auf das Genre Tagebuch, ehemalige Diplomaten und Militärangehörige auf Memoiren zurückgriffen.



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rung einsetzt, löst er die Gattung aus dem Verfolgtenkontext. Zugleich vollzieht er damit eine Verlagerung der Beschreibung der historischen Ereignisse. Zwar dient der Zeugnisbericht Walkers auch der historischen Kontextualisierung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, zugleich wird darüber aber – und dies tritt durch das „Brandopfer“ in den Vordergrund – die christliche Nächstenliebe bezeugt, die ein Identifikationsangebot für einen Großteil der Bevölkerung bot: Damit verwischt der Text die Grenzen zwischen dem Erlebnis und der Erinnerung der Opfer und der Erfahrungen von Angehörigen des Tätervolks. […] Der Titel „Das Brandopfer“ beinhaltet einen Opferbegriff, der nicht den ermordeten Juden und anderen Bevölkerungsgruppen zugeordnet wird, sondern dem freiwilligen Opferdienst der deutschen Metzgerin.57

Unterstützt wird diese Lesart durch die Anlage der jüdischen Protagonisten: Als direkt handelnde Protagonistin tritt nur Sabine innerhalb der Basisierzählung auf. Die Zuschreibungen als „Gast“ und „rätselhaftes Geschöpf“58 durch den homodiegetischen Erzähler sind an dessen interne Fokalisierung gebunden, diese ist bestimmend für die Charakterisierung der Protagonistin. Eine Innensicht, aus der Rückschlüsse über ein Selbstverständnis Sabines als Jüdin, Deutsche oder auch Frau gezogen werden könnten, wird nur partiell über den Dialog zwischen der Ich-Figur und Sabine vermittelt, wobei der Zeugnisbericht Sabines das Zentrum bildet und somit die Erfahrung der Verfolgung zentrales Element ist: „Damals hatte er [der Vater] das mit der Trennung schon beschlossen, und wenn ich heute an die Stunde denke, dann weiß ich: das alles war damals schon in seinem Blick und in der Gebärde […] und in dem Wort.“ (B 106) Die Funktion der Protagonistin ist allein als Schlüsselfigur für die Lebensgeschichte Walkers angelegt, denn durch Sabine und deren Verbindung zu ihrem Vater wird der Leser über das „Brandopfer“ aufgeklärt. Fragen zum Ort deutsch-jüdischer Überlebender bzw. ehemaliger Verfolgter im Nachkriegsdeutschland, zu ihrem Selbstverständnis als Deutsche und/oder deutsche Juden werden ebenso wenig gestellt wie eine Auseinandersetzung mit ihren Traumata unternommen wird. Als indirekte Protagonisten treten jüdische Figuren in Walkers sowie in Sabines Zeugnisbericht auf. In beiden fällt die klischeehafte Zeichnung dieser, im Bericht Walkers zudem die Konstruktion einer homogenen Glaubensgemeinschaft auf. So werden die Gesichtszüge des Rabbiners der Prophetenfigur Jeremia nachgezeichnet – „er sah aus wie der Prophet Jeremia“ (B 116) –, die Beschreibung der Freundin Rebekka

57 Bach, Erinnerungsspuren (wie Anm. 13), S. 271–287, hier S. 276–277. 58 B (wie Anm. 52), S. 102.

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durch die Protagonistin Sabine orientiert sich ebenfalls an der biblischen Gestalt – „und sie sah wahrhaftig aus wie die Rebekka am Brunnen, du kannst dirs schon denken, wie …“ (B 105)59 –, während die Masse der jüdischen Kunden von Walker mit den Attributen „traurig“, „fremd“ (B 112) beschrieben wird. Der Wechsel der der Protagonistin Walker zugeschriebenen Bezeichnung von „den Juden“ (B 111) zu „,meinen Juden‘“ (B 113) verdeutlicht nicht allein die unterstellte Vorstellung eines jüdischen Außenseitertums innerhalb der deutschen Gesellschaft und dass Juden als solche von jeher ‚kenntlich‘ sein müssen, sondern auch das Interpretationsmuster, welches der Erzählung unterliegt: Handlungen werden allein der deutschen Retterfigur Walker zugestanden, die von ihr ausgeübte christliche Nächstenliebe wird mit dem Dank der verfolgten Protagonisten belohnt. Darüber transportiert Goes ein Versöhnungskonzept, das auf einem gemeinsamen christlich-jüdischen Menschen- und Weltbild aufbaut. Die am Ende der Erzählung vorgenommene Gleichsetzung der Erfahrungen,60 indem diese kommentarlos nebeneinander gestellt werden – „daß sie alle, auch er, der Mitwisser [die IchFigur] nun, auch Sabine […] und Sabines Vater, der gerettete Retter – bewahrt sind zu anderem Dienst“ (B 133) –, impliziert als Aufgabe für die christlich-deutsche Nachkriegsgesellschaft eine Versöhnung der Religionen und rückt die Bedeutung der Nächstenliebe ins Zentrum einer gemeinsamen christlich-jüdischen Beziehung. Im Kontext des theologischen Nachkriegsdiskurses der evangelischen und katholischen Kirche nimmt Goes die Frage des persönlichen Umgangs mit Schuld auf, die aufgrund christlicher Moralvorstellungen verhandelt wird. Die von den Kirchen auf die metaphysische Ebene verschobene Schuldfrage, nur Gott kann als Richter von Schuld auftreten,61 offenbart sich bei Goes durch die ‚Freisprechung‘ der Metzgersfrau. Ihr Martyrium wird nicht angenommen, anstelle dessen tritt die Forderung des weiteren „Menschendienstes“ für eine Versöhnung der Religionen, die im Nachkriegsdeutschland im Dienst der christlich-jüdischen

59 Vorausgesetzt wird hier, dass der Leser sowohl die äußere Zeichnung der Gestalt als auch die ihr zugeordneten Eigenschaften vor Augen hat. Unbeantwortet bleibt allerdings, ob dies in der jüdischen oder christlichen Tradition und damit verbundenen durchaus differierenden Auslegungen steht. 60 Vgl. auch Bach, die auf diese Deutung ebenfalls verweist: Bach, Erinnerungsspuren (wie Anm. 13), S. 281–283. 61 Friedmann [u. a.], Kollektivschuld (wie Anm. 43), S. 70: „Zugleich sprachen Kirchenvertreter und Theologen den alliierten Besatzern […] die Berechtigung ab, über Schuld und Unschuld der Deutschen zu richten. Wer auf ein Schuldbekenntnis dränge, maße sich göttliche Befugnisse an und behindere den Prozeß der Selbstprüfung und Gewissensforschung. Es entstehe ein schweres Unrecht, wenn eine ‚menschliche Obrigkeit nunmehr zu strafen unternimmt, was allein nach göttlichem Recht als Unrecht zu gelten hat.‘“



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Gesellschaften steht, die „Brüderlichkeit, Humanität und Toleranz“62 zu ihren Grundpfeilern erklärten. Die Erzählung erschien 1955 als Schulbuchausgabe. 1956 folgte eine Hörfunksendung des Süddeutschen Rundfunks unter dem Titel Doch die Flamme soll euch nicht versengen, 1961 die Verfilmung durch den Regisseur Oliver Storz, die im Westdeutschen Rundfunk als Der Schlaf der Gerechten ausgestrahlt wurde. Die breite Rezeption verdeutlicht, dass die der Erzählung inhärenten Interpretationsmuster, denen ebenso wie bei Jung die Tendenz zur Enthistorisierung und Humanisierung eingeschrieben ist, auf das westdeutsche, vor allem christliche Nachkriegspublikum ausgerichtet waren. Die von Schmelzkopf hervorgehobene „fragwürdige Idyllisierung“63 der jüdischen Figuren und Bräuche sowie die von Bach konstatierte Relativierung von „Mitschuld und Verantwortung der Mehrheit der Deutschen“64 fassen die den Texten von Goes über die jüdische Verfolgung inhärenten Interpretationsmuster zusammen. In der Konzeption von „Menschendienst“ und Nächstenliebe geht es in erster Linie um die Entschuldung des eigenen Verhaltens, dazu dienen die jüdischen Protagonisten, die jüdische Erinnerung tritt dahinter allerdings zurück.

Fazit Anhand der diskutierten literarischen Texte wird nicht nur das Spektrum von Darstellungsweisen und Deutungsmustern deutlich, die in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur verhandelt wurden, sondern sie verweisen auch auf die Problematiken innerhalb der Nachkriegsgesellschaft, die gerade in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Verfolgungsthematik und der Funktionalisierung von jüdischen Protagonisten hervortreten. Frappierend ist, wie sehr die Texte von Jung und Goes auf ein Versöhnungskonzept angelegt sind, welches bei beiden Autoren auf Widerstands- und Hilfeleistungen der (christlichen) Bevölkerung aufbaut und zur Entlastung von Individualschuld dient. Trotz der unterschiedlichen Veröffentlichungsorte und der Differenz von acht Jahren hinsichtlich der Veröffentlichungszeit treten innerhalb der Funktionalisierung der jüdischen Protagonisten dieselben Mechanismen hervor, die zu einer Universalisierung von Erfahrung und einer Enthistorisierung der realen geschichtlichen Ereignisse

62 Stern, Anfang (wie Anm. 2), S. 290. 63 Schmelzkopf, Gestaltung (wie Anm. 9), S. 18. 64 Bach, Erinnerungsspuren (wie Anm. 13), S. 287.

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führen. Allerdings sind es dabei weder Ideal- noch Realgestalten, die entworfen werden, sondern vielmehr Vorstellungen von jüdischen Identitäten, die entweder auf übernommenen sozialen Stereotypen (Jung) oder einer idyllischen, sich an biblischen Figuren orientierenden Bilderwelt (Goes) beruhen. Meines Erachtens ist der Rekurs auf seit Mitte des 19. Jahrhunderts existierende Typisierungen jüdischer Figuren nicht allein auf die von Stern genannte Abwesenheit ‚realer‘ Juden zurückzuführen.65 Vielmehr offenbaren die verwendeten Figurenzeichnungen, die auch bei einer Schriftstellerin wie Paepcke Anwendung finden, dass keine anderen literarischen Modelle zur Verfügung standen bzw. auf diese nur begrenzt zurückgegriffen werden konnte. Die radikale Ironisierung, mit der Heine in den Bädern von Lucca 1829 gesellschaftliches Stereotypdenken in Bezug auf Juden aufdeckt und kritisiert, konnte unmittelbar nach der Shoah ebenso wenig angewendet werden wie die Darstellung einer Normalität jüdisch-heterogenen Lebens in Deutschland. Beides verbot sich aufgrund des Völkermordes. Die Publikationsgeschichte von Edgar Hilsenraths Roman Nacht (1964/1978) zeigt zudem, dass eine radikale, nichts beschönigende Beschreibung des Ghettos und dessen Insassen von den Verlagen noch Mitte der 1960er-Jahre weniger akzeptiert wurde als verklärende, auf Menschlichkeit ausgerichtete Interpretationsangebote. Für die Darstellung jüdisch-heterogenen Lebens war das nötige Bewusstsein der Erfahrungsund Erinnerungsdifferenz von Seiten der Autor/-innen unentbehrlich. Während Paepcke dies in ihrem Erfahrungsbericht kenntlich macht und benennt, verbleiben Jung und Goes allein in ihrem Erfahrungsraum. Obgleich von Goes innerhalb des öffentlichen Gesprächs mit Buber auf den anderen Erfahrungsraum verwiesen wird, gelingt es ihm genauso wenig wie Jung, einen deutsch-jüdischen Kommunikationsraum in Form eines differenzierten Adressatenbezugs zu schaffen.

Quellen Goes, Albrecht: Das Brandopfer. In: Unruhige Nacht. Das Brandopfer. Berlin 1961. Goes, Albrecht: Martin Buber, der Beistand. Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Martin Buber. In: Albrecht Goes. Freund Martin Bubers und des Judentums. Hrsg. v. Helmut Zwanger. Tübingen 2008. S. 56–63. Jung, Cläre M.: Aus der Tiefe rufe ich. Berlin 1946. Paepcke, Lotte: Unter einem fremden Stern. Geschichte einer deutschen Jüdin. Freiburg [u. a.] 2004.

65 Vgl. Stern (wie Anm. 2), Anfang, S. 16.



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Literatur Assmann, Aleida: Vier Grundtypen von Zeugenschaft. In: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Hrsg. v. Michael Elm u. Gottfried Kößler. Frankfurt/M. 2007. S. 33–51. Bach, Janina: Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur. Dresden 2007. Barkai, Avraham: Bevölkerungsrückgang und wirtschaftliche Stagnation. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. IV: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945. Hrsg. v. Michael A. Meyer. München 1997. S. 37–49. Doerry, Martin: Vorwort. In: Unter einem fremden Stern. Geschichte einer deutschen Jüdin. Freiburg [u. a.] 2004. S. 5–10. Ernst, Christian: Öffentliche Erinnerung an die „Weiße Rose“ im Ost-West-Vergleich. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Potsdam 2009. Friedmann, Jan/Später, Jörg: Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte. In: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Hrsg. v. Ulrich Herbert [u. a.] Göttingen 2002. S. 53–90. Griebner, Ulrike: Spurensuche im Museum. In: Aus der Tiefe rufe ich. Texte aus sieben Jahrzehnten. Hrsg. v. Monika Melchert. Berlin 2004. S. 247–258. Heukenkamp, Ursula: Jüdische Figuren in der Nachkriegsliteratur. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hrsg. v. Bernhard Moltmann. Frankfurt/M. 1993. S. 189–203. Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. München 1979. Kämper, Heidrun: Artikel „Schuld“. In: Opfer – Täter – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs. Berlin 2007. S. 229–306. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1990. Klüger, Ruth: Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Katastrophen über deutsche Literatur. Göttingen 2009. S. 9–39. Melchert, Monika: Die Zeitgeschichtsprosa nach 1945 im Kontext der Schuldfrage. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsliteratur (1945–1960). Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 2000. S. 101–166. Melchert, Monika: Cläre M. Jung als Chronistin einer Epoche. In: Aus der Tiefe rufe ich. Texte aus sieben Jahrzehnten. Hrsg. v. Monika Melchert. Berlin 2004. S. 227–245. Mierau, Sieglinde/Mierau, Fritz: Gespräch mit Cläre M. Jung. In: Aus der Tiefe rufe ich. Texte aus sieben Jahrzehnten. Hrsg. v. Monika Melchert. Berlin 2004. S. 209–226. Müller, Heidy M.: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa (1945–1981). Königstein/Ts. 2. Aufl. 1986. Peitsch, Helmut: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“ Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945–1949. Berlin 1990. Rein, Heinz: Die neue Literatur. Versuch eines Querschnitts. Berlin 1950. S. 113–117. Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft. In: Joseph Roth. Essays, Reportagen, Feuilletons. Hrsg. v. Helmuth Nürnberger. Göttingen 2010. S. 137–224. Schiller, Dieter: Alltag, Widerstand und jüdisches Schicksal. Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in der literarischen Öffentlichkeit der SBZ und frühen DDR. In: Schwieriges Erbe. Hrsg. v. Werner Bergmann. Frankfurt/M. [u. a.] 2005. S. 393–407.

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 Ulrike Schneider

Schmelzkopf, Christiane: Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hildesheim [u. a.] 1983. Scholem, Gershom: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, Judaica 2. Frankfurt/M. 1970. Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Gerlingen 1991. W. F.: Mahnung aus der Vergangenheit. In: Kölner Anzeiger vom 12. 9. 1952. Wirth, Günter/Pleßke, Hans-Martin: Albrecht Goes. Der Dichter und sein Werk. Berlin 1989. Wurm, Carsten: Prospekt und Umbruch. Die ersten Jahre des Aufbau-Verlages. In: Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–1949. Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin 1996. S. 147–174. Zwanger, Helmut: Albrecht Goes. Freund Martin Bubers und des Judentums. Tübingen 2008.

 Teil IV: Aufbrüche

Paula Wojcik

Mehr als Opferrivalität und Schuldabwehr? Perspektiven in der Konzeption des Jüdischen in polnisch- und deutschsprachiger Gegenwartsliteratur Wird ein flüchtiger Blick auf die Forschungsliteratur geworfen, die sich mit Juden und Judentum in der Literatur nach 1945 beschäftigt, so lesen sich einige der Titel wie Urteile über einen unerfreulichen Status quo: Da ist von Katastrophen die Rede1, von Missachtung und Tabu2 und von der Sprache des Schweigens3. Auch das Forschungsfeld des literarischen Antisemitismus behauptet sich zunehmend4 und beschäftigt sich mit Beispielen eines inadäquaten Umgangs mit dem Judentum, der sich vor allem durch Produktion von „semantischen wir-Gruppen“5 auf der Basis einer Juden-Nichtjuden-Dichotomie auszeichnet.6 Diese durchaus berechtigte Perspektive auf die deutsche Literatur muss jedoch durch eine solche ergänzt werden, die untersucht, wie ein adäquater Umgang mit dem Judentum in der Literatur erfolgen kann, welche Identitäts- und Gesellschaftskonzepte dabei maßgeblich sind und welcher Strategien sich Schriftsteller bedienen, um Stereotype und Vorurteile gezielt zu demontieren. Bislang wurden diese Fragen in der deutschen Forschungslandschaft vorrangig anhand der deutsch-jüdischen Literatur verhandelt. Hier erweisen sich

1 Klüger, Ruth: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994. 2 Briegleb, Klaus: Missachtung und Tabu: eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin/Wien 2003. 3 Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001. 4 Vgl. etwa auch Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998 oder die Arbeiten von Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt/M. 2000; dies.: Das „Bild des Juden in der Literatur“. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998). S. 140–150 oder dies.: „Juden und deutsche Literatur“. Die Erzeugungsregeln in der Germanistik. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hrsg. v. Mona Körte u. Werner Bergman. Berlin 2004, S. 353–374. 5 Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus: Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001. S. 540. 6 Das weist besonders anschaulich und detailgenau Martin N. Lorenz in seiner Untersuchung zu Martin Walser nach: Lorenz, Martin N.: Auschwitz drängt uns alle auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005.

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Texte von Schriftstellern wie beispielsweise Maxim Biller, Rafael Seligmann oder Robert Schindel als ertragreich, da diese Autoren eine besonders intensive und schonungslose Auseinandersetzung im Zeichen einer „entmythologisierten Normalität“7 führen. Wie Norbert Otto Eke in seinem Aufsatz Im „deutschen Zauberwald“. Spiegel und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beschreibt, richtet sich die Kritik dieser Autoren „gegen die Deckerinnerung der Normalität mit ihrer unguten Melange aus Schamabnutzung und Schuldabwehr“ und „gegen die Deckerinnerung der Opfergeschichte und die Moralität des Guten“, womit der Kern der Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Judentum in Deutschland und Österreich getroffen ist. Im vorliegenden Beitrag soll eine Erweiterung dieser Perspektive vorgenommen werden, indem die Frage nach den Mechanismen und Strategien, die eine „entmythologisierte Normalität“ des Jüdischen in der Literatur befördern, aus dem Rahmen der jeweiligen Nationalliteratur und damit der länderspezifischen Nachkriegsdiskurse herausgelöst wird, ohne diesen Rahmen dabei vollständig zu negieren. Dazu sollen exemplarisch Texte aus Polen, Deutschland und der Schweiz sowie ein Beispiel der so genannten ‚Migrationsliteratur‘ in die Analyse einbezogen werden, die es ermöglichen eine transnationale Perspektive des Umgangs mit dem Judentum in der Literatur herauszuarbeiten. Um diese Form der Auseinandersetzung nicht als eine alleinige Angelegenheit der jüdischen Literatur erscheinen zu lassen, werden hier gezielt Autoren untersucht, die von der Forschung nicht als Vertreter jüdischer Literatur gehandelt werden. Der bekannteste der hier untersuchten Texte hat seine Prominenz gleich zwei Skandalen zu verdanken: In der Schweiz löste das Erscheinen von Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark8 aufgrund des authentischen Hintergrundes einen Protest seitens des St.  Gallener Stiftsbibliothekars Johannes Duft aus, der sich allzu negativ in der Figur des Onkels Jakob abgebildet sah und daraufhin eine Replik auf Hürlimann verfasste.9 Die in Deutschland entstandene Debatte bezog sich dagegen auf die Problematisierung des Schweizer Nachkriegsantisemitismus. Die Besprechung des Werkes in der Fernsehsendung Das literarische Quartett vom 17. 8. 2001 löste eine umfangreiche Feuilletondebatte aus, die in nuce um

7 Eke, Norbert Otto: Im „deutschen Zauberwald“. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hrsg. v. Michael Bogdal [u. a.]. Stuttgart/Weimar 2007. S. 243–261, hier S. 253. (Herv. P. W.) 8 Hürlimann, Thomas: Fräulein Stark. Novelle. Frankfurt/M. 2003. Im Folgenden mit FS abgekürzt. 9 Duft, Johannes: Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch „Fräulein Stark“ von Thomas Hürlimann. St. Gallen 2001.



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das Versagen der Kritik kreiste. Marcel Reich-Ranicki warf Hürlimann vor, eine ausdrückliche Thematisierung der antisemitischen Problematik versäumt zu haben, die einen Kernstrang des Buches ausmache. Neben Hürlimanns Text wird als Beispiel der deutschen Literatur Jan Koneffkes Roman Paul Schatz im Uhrenkasten10 untersucht, dessen Handlung hauptsächlich während der Kriegszeit im jüdisch geprägten Berliner Scheunenviertel angesetzt ist (siehe dazu auch den Artikel in diesem Band von Alina Bothe, DaZwischen. Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße). Vor dem Hintergrund des um sich greifenden Antisemitismus, hadert der kindliche Protagonist mit seiner deutsch-jüdischen Identität. In Dariusz Muszers Die Freiheit riecht nach Vanille11 wird die Identitätsproblematik insofern weiter aufgefächert, als dass der Protagonist nicht nur eine doppelte Identität besitzt, sondern sich als „Mischling, ein slawisch-germanischjüdischer Köter“12 bezeichnet. Der Autor dieses „Schelmenromans“13 ist ein in Deutschland lebender Pole, der sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch veröffentlicht und sein Werk somit selbst eindeutigen Kategorisierungen entzieht. Der Text, der dieses Korpus abschließt, ist der Erzählband Jüdinnen bedienen wir nicht14 des polnischen Autors Mariusz Sieniewicz, der das Jüdische in postmoderner Manier in unterschiedlichen Formen des Andersseins codiert. All diese Beispiele verbindet ein Spannungsbogen, der geschlagen wird zwischen einer lokalen und globalen Dimension der Auseinandersetzung mit Bildern des Jüdischen und der gesellschaftlich verankerten Haltung dem Judentum gegenüber. Vor allem aber thematisieren und reflektieren die Texte Projektionen von Vorurteilen, Ängsten oder stereotypen Vorstellungen auf „den Juden“, was diesen zu einem beliebig wandelbaren Konzept, einer Phantasmagorie macht, die sich einer Näherbestimmung entzieht und daraus wiederum ein stereotypisierendes Potenzial bezieht. Dieses angsteinflößende ungreifbare Jüdische, das

10 Koneffke, Jan: Paul Schatz im Uhrenkasten. Köln 2000. S. 31. Im Folgenden mit PSU abgekürzt. 11 Muszer, Dariusz: Die Freiheit riecht nach Vanille. München 1999. Im Folgenden mit FV abgekürzt. 12 FV (wie Anm. 11), S. 213. 13 Vgl. Oberstein, Peter: Provokante Ansichten. Autor Dariusz Muszer und sein Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung, 14. 10. 2000, S. R. 6. 14 Sieniewicz, Mariusz: Żydòwek nie obsługujemy. (Diese und alle folgenden Übersetzungen: P. W.). Warszawa 2006. Im Folgenden mit ZO abgekürzt.

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mit Konzepten wie der „Fremde“15, „die Figur des Dritten“16 oder das Abjekte17 zu erfassen versucht wurde, hat seinen Ursprung in dieser Uneindeutigkeit der Zuordnung, die wiederum aus den (unreflektieren) Projektionsleistungen resultiert. Anhand der vier Textbeispiele werden Konzepte des Jüdischen auf den Prüfstand gestellt, die aus Projektionsvorgängen und Fremdzuschreibungen hervorgehen, die sich relativ zu einem spezifischen Selbstbild verhalten.

Projektion Projektionen von körperlichen Devianzen dienen der Stigmatisierung und Denormalisierung18 von Juden. Die Bilder des Jüdischen, die durch Vorstellungen der vermeintlich spezifisch jüdischen Nase, Füße oder Hautfarbe hervorgerufen werden, haben nicht nur die Aufgabe, ein abstoßendes Äußeres zu zeichnen, sondern verweisen über das Körperliche hinaus auf Charaktereigenschaften und moralische Veranlagung. Diesen Bildern liegt ein Weltbild zugrunde, das die ursprünglich religiöse Dichotomie von Juden vs. Christen säkularisiert als Juden vs. Deutsche, Engländer etc. weiterführt.19 In der Literatur wurde diese Vorstellung im 19. Jahrhundert maßgeblich durch zwei Romane befördert: Soll und Haben von Gustav Freytag und Der Hungerpastor von Wilhelm Raabe. Ruth Klüger hält insbesondere letzteren für ein ausdrückliches Beispiel der Säkularisierung des Judenhasses und fasst zusammen: „Das Melodram um Gut und Böse könnte nicht dicker aufgetragen werden und ist umstandslos auf christlich/jüdisch verteilt“.20 Dieses Melodram manifestiert sich auf der körperlichen Ebene in dem Gegensatz von Deutschen und Juden: „die einen häßlich und hassenswert, die anderen schön und erhaben.“21

15 Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Suhr. Hamburg 2005. S. 92. 16 Vgl. Holz, Klaus: Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt. In: Soziale Systeme 1 (2000). S. 269–290. 17 Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror: an Essay on Abjection. New York 1982. 18 Das Verständnis dieses Begriffs orientiert sich an Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3., erg. u. überarb. Aufl. Göttingen 2006. 19 Vgl. Gilman, Sander L.: The Jew’s Body. New York 1991. S. 38. 20 Klüger, Ruth: Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“. In: Literarischer Antisemitismus. Hrsg. v. Bogdal [u. a.] (wie Anm. 7), S. 103– 110, hier S. 107. 21 Henke, Hans-Gerd: Der „Jude“ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1914. Mainz 1994. S. 33.



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Dieses manichäische Muster, das Martin Gubser als eines der beliebtesten Mittel des literarischen Antisemitismus herausarbeitet,22 wird von Edgar Hilsenrath in Der Nazi und der Friseur bewusst dekonstruierend überzeichnet, wenn der Deutsche Max Schulz dank seiner „schwarze[n] Haare, Froschaugen, eine[r] Hakennase, wulstige[n] Lippen und schlechte[n] Zähne“23 die Identität seines zuvor ermordeten jüdischen Freundes Itzig annehmen kann. Eine ähnliche Manichäik wird auch in dem Roman Paul Schatz im Uhrenkasten von Jan Koneffke konstruiert, in dem der kindliche Protagonist seinen jüdischen Vater, den „schimmeligen Schildermaler aus Przemyśl“24, als eine Anhäufung antisemitischer Klischees beschreibt: Nein, seinen Vater mochte er nicht. Er haßte Vaters feuchte Lippen, wenn er sie auf seinen Mund preßte, er haßte Vaters kriecherisches Wesen und sein fremdklingendes Deutsch, das klang, als habe er Schmalz im Mund. Er haßte seine behaarten Arme, wenn sie sich um seinen Hals legten, und verabscheute seine Spinnenfinger.25

Paul, der nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Großvater aufwächst, verinnerlicht eine Dichotomie, die seinen engsten Umkreis prägt. Im Gegensatz zum schwach und kränklich beschriebenen Vater, wird der antisemitisch eingestellte Großvater als mächtig und gesund geschildert. Nicht nur der martialisch klingende Name Karl Haueisen weist auf einen entgegengesetzten Typus hin, auch in den Beschreibungen legt der Junge großen Wert darauf, das Äußere des Großvaters von allem Jüdischen abzugrenzen. So beispielsweise dessen Bart, „der vor seine Zehen fiel und ein Lieber-Gott-Bart war, kein Rabbinerbart, ziegen- und flatterhaft“.26 Die körperliche Unterscheidung wird auf die moralische Ebene transferiert, wenn Vater Jakob, dem „Schwindler und Herzensbrecher“27, ein zügelloses Liebesleben vorgeworfen wird: Sein altes Sofa ist „von tausend Liebhaberinnen behockt und behopst und verschlissen“28. Diese Verbindung zwischen körperlicher Devianz und ebenso deviantem sexuellen Verhalten ist nicht zufällig. Sie markiert den Juden als Fremd-Körper in zweifacher Hinsicht und bezieht sich auf einen tat-

22 Zum manichäischen Grundmuster als Mittel des literarischen Antisemitismus vgl. Gubser, literarischer Antisemitismus (wie Anm. 4), S. 86–92. 23 Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Friseur. München 1998. S. 24. 24 PSU (wie Anm. 10), S. 45. 25 Ebd., S. 31. 26 Ebd., S. 7. 27 s. o., S. 11. 28 s. o., S. 124.

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sächlichen religiös begründeten Unterschied: „Es ist ein beschädigter männlicher Körper, denn er ist vom Makel der Beschneidung gezeichnet.“29 Dabei erfährt ein religiöses Ritual eine semantische Überführung zunächst auf die Ebene der körperlichen und später einer rassischen Devianz, die nicht mehr konfessionell überwunden werden kann. Die sexuelle Stigmatisierung der Juden hat dabei den Zweck, eine Vereinigung, sei es als assimilierter Bürger oder als Liebespartner, aufzuhalten und so eine Reinheit der Rasse zu erhalten, denn „[d]ie Häßlichkeit ist ein Merkmal des kranken Mitglieds der Gesellschaft, das versucht das Staatswesen zu infizieren.“30 Pauls Weltsicht ist durch diese Polarität des arischen Eigen-Körpers und des jüdischen Fremd-Körpers determiniert. Wiederholt beteuert er: „Ich bin nicht beschnitten. Mein Piephahn ist arisch.“31 Doch wird diese Weltwahrnehmung empfindlich gestört, als Paul seinen Vater als Statisten bei Dreharbeiten zu einem Film miterlebt, bei dem der Vater die Rolle eines SA-Mannes spielt.32 Wenn der vom Sohn als jüdisch wahrgenommene Körper von der UFA-Filmcrew nur auf die Merkmale „hatte graublaue Augen, war blond“33 reduziert wird, wird (hier) der Projektionsprozess durch eine konkurrierende Perspektive deutlich exponiert. Durch die interne Fokalisierung begünstigt, muss der Leser der subjektiven Perspektive eines Kindes folgen, das von seiner antisemitisch eingestellten Umgebung geprägt wird. Das Kind erweist sich jedoch als ein sehr unzuverlässiger Erzähler. Der Bruch seiner Perspektive, der hier durch die Einführung der konkurrierenden Sicht des Filmteams erzeugt wird, dient dazu, die Wahrnehmung des typisch Jüdischen als historisch und ideologisch gebundene Projektion zu entlarven.

29 Vgl. Gilman, Sander L.: Der ‚Jüdische Körper‘. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. München 1996. S. 167–179, hier S. 169. 30 Gilman, Sander L.: „Die Rasse ist nicht schön“ – „Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!“ Der schöne und der häßliche Jude. In: „Der schejne Jid.“ Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Erschien zur Ausstellung „Der Schejne Jid“ – Das Bild des Jüdischen Körpers in Mythos und Ritual, Jüdisches Museum Wien, Palais Eskeles, 16. September 1998 bis 24. Januar 1999. Hrsg. v. Gilman [u. a.]. Wien 1998. S. 57–74, hier S. 58. 31 PSU (wie Anm. 10), S. 31. 32 Ebd., S. 130f. 33 Ebd., S. 130.



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Schuld und Schuldabwehr Aus einer interkulturellen Perspektive nimmt sich der polnische Autor Dariusz Muszer der Frage nach der Konstruktion des Jüdischen an und stellt sowohl die deutsche Form der Schuldbewältigung als auch die polnische Schuldverdrängung in ein kritisches Licht. Der Anti-Held des Romans Die Freiheit riecht nach Vanille ist moralisch betrachtet eine äußerst zweifelhafte Figur, die aus einem nicht konkret bestimmbaren Niemandsland zwischen Deutschland und Polen nach Deutschland einreist und dort von seiner jüdischen Identität erfährt. Diese Entdeckung zwingt den bislang ausschließlich auf seinen materiellen Vorteil bedachten Protagonisten Naletnik, sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen, was jedoch keine kathartische Wirkung hat. Von der deutschen Polizei aufgehalten, wird er so lange als Pole beschimpft und geschlagen, bis er seine neuentdeckte jüdische Identität ins Feld führt: „Ich bin Jude“, sagte ich leise. […] „Oh Scheiße!“ schrie der Mollige. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ schrie der mit dem Bart. „Was machen wir jetzt?“ sagte der Dritte. „Tja“, sagte ich. „Da ist die Kacke am Dampfen, wie man das so schön auf hochdeutsch sagt. Drei Polizisten haben einen von unseren jüdischen Mitbürgern verprügelt und mit einer Pistole bedroht. Einer von ihnen wollte ihn sogar richtig erschießen, nicht wahr? Ich sehe schon wunderbare Schlagzeilen in der Bildzeitung. Ihr seid erledigt. Alle drei.“ „Mensch, warum hast du das nicht früher gesagt?“ der Mollige war betrübt. „Wir dachten, du bist ein Scheißpole, ein Autoknacker, ein Dieb oder so was.“ Die hatten jetzt richtig Schiß, und es machte mir Spaß, sie auf dem Boden winseln zu sehen. Zum ersten Mal spürte ich am eigenen Leibe, daß es überhaupt nicht schlimm ist, in Deutschland ein Jude zu sein. Jedenfalls tausendmal besser als ein beschissener Polacke.34

Diese Szene lässt sich als ein sarkastischer Kommentar zu der deutschen Form der Vergangenheitsbewältigung lesen. Bei Muszer verträgt sich eine übersteigerte Betroffenheit gegenüber Juden mit Fremdenfeindlichkeit gegenüber anderen Ausländern problemlos. Die Kritik zielt jedoch darüber hinaus auf eine philosemitische Konstruktion jüdischer Identität ab, die den Opferstatus mit moralischer Erhabenheit verwechselt. Doch auch auf die polnische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus wird im Roman deutlich angespielt. Naletnik trifft in Hamburg, wo er seinen jüdischen Vater sucht, eine polnische Jüdin, die sich weigert, mit ihm Polnisch

34 FV (wie Anm. 11), S. 132.

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zu sprechen. Als Grund für diese Aversion wirft sie ihm nur „Kielce 1946“35 als Schlagwort hin. Die Tatsache, dass der Protagonist nichts mit dieser Chiffre verbindet, obwohl es sich um das bekannteste Pogrom im Nachkriegspolen36 handelt, ist ein Beispiel für die polnische Form der Vergangenheitsbewältigung, in der Opferrivalität und der so genannte „Antisemitismus ohne Juden“37 eine Melange bilden, die eine öffentliche Debatte um einen polnischen Antisemitismus bis heute schwierig macht. Auch die Vorstellungen dessen, was als jüdisch gilt oder zu gelten hat, beruhen auf kulturell und subjektiv determinierten und perspektivisch verzerrten Projektionen, die Muszer hier in einem sarkastischen Ton überzeichnet. In dieser vorherrschenden Rhetorik des Angriffs,38 wird wiederholt auf das Leiden der europäischen Juden rekurriert: Seit Jahrhunderten waren sich die meisten Europäer darüber einig, daß man dieses Volk ausrotten sollte, ein für allemal. In der Geschichte haben sie unzählige Versuche unternommen, diesen Wunsch zu verwirklichen. Doch erst den deutschsprachigen Stämmen, die Europa kurz während des letzten Weltkrieges beherrschten, war es gelungen, die Endlösung richtig zu planen und genau durchzuführen. Ja, dazu brauchte man Spezialisten! Europa fühlte sich zwar erleichtert, jedoch stolz war es nicht. […] Alle Stämme hüllten sich in tiefes Schweigen wobei besonders schweigsam die Täter waren.39

Muszers Kommentar zu den Formen europäischer Vergangenheitsbewältigung produziert zugleich ein Bild des Juden, das sich jenseits der Opfer-Täter-Dichotomie bewegt. Muszers Bestreben richtet sich auf Normalisierung des Jüdischen

35 FV (wie Anm. 11), S. 143. 36 Am 4. Juli 1946 gab es in der polnischen Stadt Kielce ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung, bei dem über vierzig Menschen getötet wurden. Auslöser des Pogroms war bemerkenswerter Weise ein Ritualmordvorwurf. Bis heute wird in der polnischen Rechten die Beteiligung der Polen an dem Pogrom marginalisiert: Es wird als sowjetisches oder gar jüdisches Komplott bezeichnet, das die kommunistische Macht im Nachkriegspolen stärken sollte oder zionistische Ziele verfolgte. In Folge des Pogroms emigrierten viele der Holocaustüberlebenden aus Polen. 37 Zum Antisemitismus ohne Juden in Polen vgl. beispielsweise Bachmann, Klaus: Antisemitismus. In: Deutsche und Polen: Geschichte–Kultur–Politik. Hrsg. v. Andreas Lawaty u. Hubert Orłowski. München 2003. S. 439–450, hier S. 444 oder Breysach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Göttingen 2005. S. 353. 38 Dirk Uffelmann stellt neben dem Angriff Konzilianz als rhetorische Strategie Muszers fest. Vgl. Uffelmann, Dirk: Konzilianz und Asianismus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten. In: Zeitschrift für slavische Philologie 62 (2003). S. 277–309. 39 FV (wie Anm. 11), S. 142f.



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auf der moralischen Ebene. Die Lebensgeschichte des Vaters macht dies deutlich: Als Kind muss dieser zusehen, wie sein eigener Vater von einem Nazi kaltblütig ermordet wird und schwört Rache. Indem er nach Ende des Krieges die Tochter des Mörders vergewaltigt und schwängert, wird er selbst zum Täter. Das Kind dieser Mesalliance ist der Protagonist, der genealogisch Täter und Opfer in sich vereint. Die Auflösung der Grenzen dieser Dichotomie von Schuld und Unschuld, Täter und Opfer, in der Juden (gerne) auf eine Rolle festgelegt werden, wurde zuletzt in Quentin Tarantinos Film Inglorious Basterds40 zum Thema gemacht. Das neue Bild des Jüdischen, das hier angeboten wird, ist das eines vielschichtigen, moralisch wandelbaren, wehrhaften Juden. Das Paria-Element, das diesem Bild innewohnt, wird am Ende des Romans eingefangen: Dann schnitt ich mit dem Taschenmesser meine Tätowierung, meine Registrierschein-Nummer aus, blutete dabei wie ein geschlachtetes Schwein und aß sie auf. Ich will auf jeden Fall vermeiden, daß man mich dort oben fälschlicherweise für einen echten Germanen hält. Ich bin ja nur ein Mischling, ein slawisch-germanisch-jüdischer Köter, der den Weg des Außerirdischen gewählt hat, um zu überleben.41

Tabuisierung In Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark ist die Auseinandersetzung mit der Tabuisierung des Jüdischen in der Nachkriegsschweiz so programmatisch, dass sie zu einer falschen Lesart seines Textes führte. Hürlimanns Weigerung „das Wort ‚Jude‘ und ‚jüdisch‘ zu verwenden“42 führt laut Marcel Reich-Ranicki dazu, dass dieser Strang von der Kritik (und nach Reich-Ranicki folglich von der Leserschaft) übersehen wurde. Noch deutlicher unterstützt Ursula März den von Reich-Ranicki geäußerten Vorwurf: „Thomas Hürlimann hat sich in der Haltung des Ironikers auf ein literarisch hoch anspruchsvolles Gebiet begeben, das Gebiet des parodistischen, gleichsam bauchrednerischen Spiels mit rassistischen Codes, dem er nicht gewachsen war.“43

40 Inglorious Basterds. 148 Min. USA/Deutschland 2009. Regie: Quentin Tarantino. 41 FV (wie Anm. 11), S. 213. 42 Interview mit Marcel Reich-Ranicki „Ich bin nicht dazu da, Hürlimann zu belehren“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 9. 2001, S. 47. 43 März, Ursula: Katzenhaft. Noch einmal Hürlimann. In: Frankfurter Rundschau, 21. 8. 2001, S. 17.

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Es stellt sich hier die Frage, ob dieses „Spiel mit rassistischen Codes“, die in Fräulein Stark eindeutig als die jüdische Nase, der jüdische Name und die jüdische Sexualität tatsächlich fehlschlägt, oder ob Hürlimanns Darstellungsweise für die Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Form des Antisemitismus und der Konstruktion des Jüdischen geradezu notwendig ist. In diesem Coming-of-Age-Roman wird der heranwachsende Protagonist während der Ferien, die er in der Stiftsbibliothek seines Onkels verbringt, mit seiner erwachenden Sexualität und den antisemitischen Vorurteilen der katholisch-dörflichen Umgebung St.  Gallens konfrontiert. Besonders die Haushälterin des Onkels, Fräulein Stark, eine Appenzellerin, Tochter eines „knorrigen Bauern“44 und einer „Analphabetin“45, eine „schlichte Variante“46, scheint ein Repertoire an Vorurteilen auf den Neffen zu projizieren, in dem sich Angst, Verachtung aber auch Faszination spiegeln. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Nase des Jungen: „Gelt, sagte sie, und durch die Madonnenmaske blitzten plötzlich ihre Äuglein, du kannst die Spezialmischung riechen – du mit deiner Nase!“47 Die Nase als das am weitesten verbreitete Mittel der Stigmatisierung, das vor allem durch antisemitische Karikaturen des 19.  und 20.  Jahrhunderts eine flächendeckende Verbreitung erfuhr,48 ist an das Dispositiv der Sexualität gekoppelt, wie es bildhaft Horkheimer und Adorno in Elemente des Antisemitismus beschreiben: „In den vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehnsucht nach dem Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm.“49 Diese dionysische Ebene des Geruchssinns nimmt auch Rainer Erb auf: „Als Sinn der Lust, der Begierde, der Triebhaftigkeit trägt das Riechorgan den Stempel der Animalität. Riechen und Schnüffeln erinnert an etwas Tierisches.“50

44 FS (wie Anm. 8), S. 10. 45 Ebd., S. 65. 46 Ebd., S. 132. 47 Ebd., S. 30. 48 Vgl. Schleicher, Regina: Antisemitismus in der Karikatur: Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914). Frankfurt/M. 2009. S. 47–50. 49 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2008. S. 177–217, hier S. 193. 50 Erb, Rainer: Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase. In: Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hrsg. v. Heinrich Pleticha. Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. Bd. 7, Würzburg 1985. S. 107–126, hier S. 123.



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Diese Verbindung wird auch von Fräulein Stark gestiftet, die dabei nicht nur die Chiffre der Nase verwendet, sondern auch den abgelegten Namen der Familie „Katz“51. Der Name ging verloren, da der Onkel, Konvertit und katholischer Würdenträger, diesen im Zuge seiner Assimilation abgelegt hat, und seine Schwester den Namen ihres Ehemannes annahm. So erweist sich der Name nicht nur als Chiffre für das Tabuwort ‚Jude‘, sondern, wenn die Hilfsbibliothekare ihn im Umlauf halten, auch als eine überaus persistente Phantasmagorie: „wenn sie den Stiftsbibliothekar in einer sicheren Entfernung wußten, hielten [sie] sogar dann die Hand vor den Mund und haben das Wort kaum ausgesprochen, eher gehaucht: Katz.“52 Und auch das Fräulein scheut nicht, die unheilvolle Bedeutung dem Onkel nahezulegen: „Ihr Neffe ist ein kleiner Katz, da müssen wir besonders aufpassen.“53 Das Kind nimmt diese Projektionen auf und beschließt „das Katzenhafte […] hinauszubeten“54, will sich assimilieren, dabei spaltet [es] sich […] auf in ein imaginäres Wunsch-Bild der Zugehörigkeit und das seinerseits nun nicht akzeptierte Fremdbild des durch das „Katzenhafte“ (die unberechenbare Sexualität) bestimmten imaginären Juden, das ihm aus dem Spiegel entgegentritt und das er durch Triebunterdrückung abzuwehren sucht.55

Dieser imaginäre Jude ist ein Fremdbild, das deutlich vom Nachkriegsantisemitismus, Katholizismus und der spezifisch schweizerischen nationalen Identitätskonstruktion, die sich durch den „Glaube[n] an die ‚Prägekraft‘ des ‚Bodens‘ und an die Verkörperung des Schweizerischen in einem genuinen sogenannten ‚Homo alpinus helveticus‘ […] biologisch und geologisch“56 determiniert, beeinflusst wird. Und tatsächlich scheint die Geschichte der Familie Katz, der ostjüdischen Händler, die sich nach langer Irrfahrt in der Schweiz niederlassen und dort assimilieren, ein Gegenentwurf zu diesem Selbstbild zu sein. Damit schreibt diese Familiengeschichte „implizit […] gegen die monolithische Lieblingserzählung der Schweiz an, die Ursprung und Kraftquell in den Innerschweizer Bergen verortet.“57

51 Zu der antisemitischen Konnotation von jüdischen Namen vgl. Bering, Diez: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart 2. Aufl. 1988. 52 FS (wie Anm. 8), S. 40. 53 Ebd., S. 20. 54 Ebd., S. 84. 55 Eke, Im „deutschen Zauberwald“ (wie Anm. 7), S. 261. 56 Sarasin, Philipp [u. a.]: ImagiNation. Eine Einleitung. In: Die Erfindung der Schweiz 1848– 1998. Bildentwürfe einer Nation. Hrsg. v. Philipp Sarasin [u. a.]. Zürich 1998. S. 28. 57 Barkhoff, Jürgen: Die Katzen und die Schweiz. Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Hürlimanns ‚Familientrilogie‘. In: Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte

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Diese prekäre Mischung setzt sich aus religiös begründetem Antijudaismus, einem Selbstbild „als Alpenbewohner […], als im Boden verwurzelte Bauern, Sennen und Hirten“58 und der Angst vor der Assimilation zusammen. Die damit einhergehende Furcht vor der Unkenntlichkeit der Juden verleitet die nähere Umgebung der jüdischen Protagonisten, deren jüdische Identität durch Chiffren wie Nase und Name und ihre Korrelation mit dem Bereich der Sexualität, der seinerseits mit der Chiffre „Verstoß gegen das Sechste“59 bedacht wird, heraufzubeschwören. Im Roman wird jedoch sehr schnell deutlich, dass es sich um eine Denormalisierungsstrategie handelt, die eng mit den Tabus verbunden ist, denen sich diese Dorfgemeinschaft ausgesetzt sieht. Die erwachende Sexualität des Jungen im Sinne des Fräuleins als anormal zu bewerten, ist angesichts der Verspieltheit und Naivität des Kindes, die sich mit einem ständigen Schuld- und Schamgefühl paart, für den Leser kaum möglich. Ein weiteres Indiz für die Unhaltbarkeit der vom Fräulein erhobenen Vorwürfe ist das Liebesverhalten des Stiftsbibliothekars selbst: Als sie ihm unterstellt, eine Affäre mit einer Frau Namens Nares eingegangen zu sein, stellt sich der Name als ein Akronym für das Lebensmotto des Onkels heraus: „Nomina ante res“.60 Onkel Jakob ist sexuell abstinent und beteiligt sich auch nicht an den scheinheiligen Diskussionen der Dorfbewohner und des Fräuleins um die überall lauernden ‚Verstöße gegen das Sechste‘. In dem chiffrierten Sprechen über Sexualität wie über Judentum wird das Bedürfnis, die Tabus zu reformulieren und im Umlauf zu halten, deutlich, oder wie Foucault es für das Sexualitätsdispositiv beschreibt: „Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“61 Und wenn sich der Protagonist fragt „Warum geschah alles im Verborgenen, unter Röcken, unterm Tisch?“,62 dann wird er sich der Überführung von beidem – der Sexualität und des Judentums – aus dem offenen in einen verborgenen Diskurs bewusst. In diesem Sinne muss festgestellt werden, dass für die Konzeption des Romans die von Reich-Ranicki geforderte Ausdrücklichkeit geradezu

Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Beatrice Sandberg. Berlin 2010. S. 181–196, hier S. 189. 58 Sarasin [u. a.], ImagiNation (wie Anm. 56), S. 27. 59 FS (wie Anm. 8), S. 19. Damit ist das Sechste der Zehn Gebote gemeint: Du sollst nicht ehebrechen. 60 Ebd., S. 155–158 u. S. 165. 61 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1. Frankfurt/M. 6. Aufl. 1993. S. 49. 62 FS (wie Anm. 8), S. 131.



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destruktiv und zu der Absicht einer Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Form des Antisemitismus gegenläufig wäre. Die durch den homodiegetischen Erzähler erfolgte fortwährende Benennung dessen, was den übrigen Figuren der Diegese auszusprechen versagt bleibt, würde den durch die interne Fokalisierung erzielten Effekt zerstören und die Atmosphäre der Unsagbarkeit und das aus ihr resultierende Judenbild unglaubwürdig erscheinen lassen.

Exklusion Das letzte der aufgeführten Beispiele ist der postmoderne Erzählband des polnischen Autors Mariusz Sieniewicz Żydòwek nie obsługujemy (Jüdinnen bedienen wir nicht), in dem das Jüdische als Abstraktum, als pars pro toto der Devianz, der Alterität und der Irritation des Gewohnten auftritt. Die Struktur des Bandes verhandelt auf der Metaebene die Schwierigkeit der Bestimmung dessen, was jüdisch ist. In den Band eingeflochten sind kurze Erzählungen, die optisch abgesetzt kursiv gedruckt sind und mit dem Versuch einer Definition dessen beginnen, was die Jüdin sei. Diese Bestimmungsversuche stehen miteinander in einem Dialog, nehmen aufeinander Bezug, streiten miteinander: „Moment, Moment. Was für kranke Annahmen. Die Jüdin ist ein Hund – ein riesiger Mischling von einem kleinen Hof“, „Quatsch, die Jüdin war eine Braut“, „Die Braut eine Jüdin? … Blödsinn. Es stellte sich ein ziemlich durchschnittlicher Mann als Jüdin heraus.“ 63 Zwischen diesen kursiv hervorgehobenen, kürzeren Erzählungen sind im Wechsel längere eingeschoben, in denen die Jüdin nicht explizit genannt wird. Dieser regelmäßige, optisch unterstützte Wechsel verhilft den Eindruck einer ganzheitlichen Erzählstruktur zu erzielen. Diese Struktur wird von der letzten Erzählung, der der Erzählband seinen Titel verdankt, durchbrochen, wenn hier eine Jüdin als Figur tatsächlich auftaucht. Dem zunächst noch männlichen Protagonisten wird an der Kasse die Bedienung versagt, weil er als Jüdin identifiziert wird. Während er noch beteuert keine Jüdin zu sein, entdeckt sie plötzlich einen Davidstern auf ihrem Jackenärmel. Sie wird über Lautsprecher des Supermarktes als Sensation ausgerufen und von Gaffern umringt, beschimpft und mit Gegenständen beworfen. Zwar entpuppt sich die Geschichte letztendlich als Traum, doch wird dieser als eine bevorzugte Wirklichkeit proklamiert. Die Du-Form in

63 ZO, S. 181: „Zaraz, zaraz, co za chore przypuszczenia! Żydòwka to pies – wielki mieszaniec z małego obejścia.“; S. 27: „Bzdura, Żydòwką była panna młoda.“; S. 78: „Panna młoda Żydòwką? ... A gdzie tam! Okazał się nią pewien mężczyzna o dość przeciętnej powierzchowności.“

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der Geschichte hat einen zynisch appellativen Charakter: „Wach auf! […] Und es fängt wieder an, und du wirst erneut der Hauptdarsteller einer auswendig gelernten Wirklichkeit.“64 Sieniewiczs Intention ist dabei deutlich erkennbar, auch bringt er sie selbst auf dem Rückumschlag des Buches zum Ausdruck: „Wir sind Fremde – Jüdinnen. Alle! […] Eifrig kreieren wir Scheingemeinschaften, mit den falschen Vorstellungen, dass wir in ihnen leben und verwurzelt sind. Derweil leben wir, ja durchaus, doch bis zur Schmerzgrenze der Andersheit.“65 Dieser Andersheit gibt Sieniewicz inhaltlich durch Momente des Kafkaesken, Grotesken und Obszönen Ausdruck, während er auf der sprachlichen Ebene durch Neologismen, Umgangssprache und fremdsprachliche Begriffe, das System der Sprache in seiner Kohärenz und Geschlossenheit angreift. Trotz der grotesken und fantastischen Inhalte findet in dem Erzählband eine kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit statt, weshalb Sieniewicz einer Gruppe junger Autoren zugeordnet wird, die so genannte ‚engagierte Prosa‘ verfassen.66 Sieniewiczs Protagonisten dringen in einen gewohnten Alltag ein und irritieren ihn, sie durchbrechen Grenzen von Gender und Sprache. Ihre Störungen richten sich gegen ein funktionelles, mitleidsloses und unmenschliches System, eine Maschinerie des Kapitalismus. Damit wird die Andersheit und Uneindeutigkeit, die sich in den Konzepten des Grenzverwischers67 oder Zersetzers68 manifestiert, konnotativ aufgewertet und mehr noch, zum grundlegenden Merkmal des Menschseins erklärt. Es werden auch Exklusions- und Distinktionsmechanismen kritisch beleuchtet, die zu einer Stigmatisierung des Andersseins führen, wie es das Erschaffen von imaginären Gemeinschaften oder das Behaupten einer Deutungs- und Definitionshoheit in der Frage nach dem Wesen des Jüdischen sind.

64 ZO, S. 248. „Obudź się! […] I zacznie się, i będziesz na nowo głòwnym bohaterem wyuczonej na pamięć rzeczywistości.“ 65 ZO, Rückumschlag. „Jesteśmy odmieńcami–Żydòwkami. Wszyscy! [...] Gorliwie tworzymy ułudne wspòlnoty, z fałszywym przeświadczeniem, że w nich żyjemy i jesteśmy zakorzenieni. Tymczasem żyjemy, owszem, ale aż do bòlu inności.“ 66 Diese Einschätzung nimmt Robert Ostaszewski vor: „Der Autor von ,Jüdinnen bedienen wir nicht‘ wird zu einer Gruppe junger Prosaiker gezählt, die die Gegenwart beschreiben, sogenannte engagierte Prosa schaffen.“ („Autor ‚Żydówek nie obsługujemy‘ zaliczany jest do grupy młodych prozaików opisujących teraźniejszość, tworzących tzw. prozę zaangażowaną.”) Ostaszewski Robert: Groteską w rzeczywistość (Mit der Groteske in die Wirklichkeit). In: Tygodnik Powszechny, Książki w „Tygodniku“, 22. 5. 2005, Nr. 21. 67 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München 1980. S. 417. 68 Vgl. Faber, Richard: Zwanzigstes Bild: „Der Zersetzer“. In: Schöps/Schlör (Hrsg.), Antisemitismus (wie Anm. 29), S. 260–264.



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Schlussfolgerungen Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass sich die Beispiele mit unterschiedlichen Phänomenen der Konstruktion des Jüdischen auseinandersetzen, die aus anti- oder philosemitischer Perspektive eine jüdische Devianz behaupten. Sie reflektieren die Mechanismen, die an der Konstruktion, Produktion und Verbreitung von zu Stereotypen erstarrten, eindimensionalen Bildern beteiligt sind und befördern ein Bild des Jüdischen, das im Zeichen der „entmythologisierten Normalität“69 steht. Allen gemeinsam ist dabei ein kritischer Umgang mit komplexitätsreduzierenden Weltdeutungen, die auf dichotomen Strukturen von Gut und Böse basieren, die sich in festumrissenen, klar begrenzten semantischen Gruppen manifestieren. Diese Weltsicht lässt sich am einfachsten durch eine Präferenz des Statischen kennzeichnen: Die Rollen von Gut und Böse sind klar verteilt und unveränderlich; Institutionen, Gruppen und Gemeinschaften sind klar abgrenzbar, jedes Ein- und Durchdringen ist ein unerwünschter Akt; der feste Boden, auf dem die Gemeinschaft gedeiht, stiftet Identität. In den Romanen wird das Statische konterkariert und durch Dynamik als das beherrschende Element substituiert, die in dem Bild der Reisebewegung von Ost nach West ihren Ausdruck findet. Ausdrücklich findet eine Reise in Die Freiheit riecht nach Vanille statt, wenn der Protagonist aus dem noch kommunistischen Polen nach Westdeutschland flieht. In Fräulein Stark und Paul Schatz im Uhrenkasten werden die Bewegungen von Ost nach West in den Familiengeschichten thematisiert. Die Ost-Vergangenheit des Vaters von Paul Schatz wird durch die Chiffre „Przemyśl“ codiert. In Fräulein Stark wird auf der metadiegetischen Ebene die Geschichte der Vorfahren der Familie Katz berichtet, die als geradezu klischeehafte Wanderjuden mit Karren und Kindern aus einem nicht näher benannten Osten in die Schweiz kommen. In Jüdinnen bedienen wir nicht ist die Reise keine geografische, sondern eine sozio-historische vom Sozialismus zum Kapitalismus. Wiederholt wird die neue westliche Ausrichtung des Landes sprachlich durch englische und deutsche Begriffe angedeutet, die Handlung findet an Schauplätzen statt, die als symbolische Tempel des Kapitalismus gelten: im Einkaufszentrum oder bei McDonalds. Die ehemalige Ost-West-Grenze verläuft nicht mehr zwischen Polen und Deutschland, sie ist weiter in einen unbekannten Osten gewandert. Polen ist bei Sieniewicz ganz im Westen angekommen. Die Ost-West-Achse ist bekanntermaßen seit dem 18. Jahrhundert ein bedeutendes Feld sowohl des innerjüdischen Diskurses als auch des Sprechens über

69 Eke, Im „deutschen Zauberwald“ (wie Anm. 7), S. 253.

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Juden. Als rückständig, unaufgeklärt und dogmatisch von Maskilim abgelehnt,70 wird der ‚Ostjude‘ von der nationalsozialistischen Propaganda, die ihn als Schnorrer und degenerierter Krankheitsträger diffamierte, auch für die Westjuden des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer Gefahr71 (siehe dazu auch den Beitrag in diesem Band von Anna Michaelis, „... daß die Ostjuden Sünder und die deutschen Juden die reinen Engel wären …“72 – Ostjuden und jüdische Identität in der deutsch-jüdischen Presse der Weimarer Republik). Die Ostjuden werden von den assimilierten Juden als ein genuin fremdes Volkstum wahrgenommen,73 zugleich wird der Osten zur Wiege des Judentums stilisiert.74 Autoren wie Kafka sehen in der Identität der Ostjuden das wahre Judentum und sind sich dennoch dessen bewusst, dass für sie der Weg zurück verschlossen bleibt, da „der Schlüssel, der eine Rückkehr in die Tradition ermöglichen würde, längst verloren ist.“75 Die durch die Reisedomäne angedeutete Linearität von statischem Ausgangs- und Ankunftspunkt und einer dazwischenliegenden Reisebewegung wird zugunsten einer dynamischen Grundstruktur abgelehnt. Der Rück’stand‘ des Ostens weicht zugunsten einer eigenständigen Bewegung, die auch als Absage an das Klischee als erstarrtes Denken zu verstehen ist. Damit verändern sich auch die Konzepte der Identität: Eine territorial definierte weicht zugunsten einer mobilen Identitätskonstruktion, deren Wurzeln im Individuum und seiner Genealogie, nicht im geografischen Raum und der Genetik zu suchen sind, und das statisch-homogene Identitätskonzept wird zugunsten eines hybriden negiert. Durch eine Doppelung der Perspektiven, die durch das Zitieren von Klischees und ihrer reflexiven Brechung stattfindet, werden der normativ belegte geografische Raum und seine Bedeutung innerhalb der Konstruktion des Jüdischen demontiert. Die Alteritätsdichotomien, die in den einzelnen Diskursfeldern

70 Vgl. Herzig, Arno: Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780–1880). In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Erster Teil. Hrsg. v. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tübingen 1998. S. 10–28, hier S. 14. 71 Vgl. hierzu Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg 1986. S. 29f. 72 S. C.V.-Zeitung, 5. 6. 1924, Nr. 23, S. 341; An der zitierten Stelle räumt der Autor des Artikels, Ludwig Haas, ein, dass eine pauschale Vorverurteilung der Ostjuden abzulehnen sei, betont gleichzeitig die primäre Loyaliät der deutschen Juden zum deutschen Vaterland. 73 Maurer, Ostjuden (wie Anm. 71), S. 30. 74 Vgl. hierzu etwa Brenner, Michael: Wie jüdisch war die jüdisch-intellektuelle Kultur der Weimarer Republik? In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Christoph König. Göttingen 2001. S. 131–140, hier S. 137. 75 Theisohn, Philipp: Die Urbarkeit der Zeichen: Zionismus und Literatur: eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart 2005. S. 214.



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Körper, Sexualität, Normalität und Moral aufgemacht werden, verlieren sich in der Vergangenheit, in der sie verortet werden. Der ‚Osten‘ hat in allen Texten eine Gemeinsamkeit: es gibt ihn nicht mehr.

Literatur Bachmann, Klaus: Antisemitismus. In: Deutsche und Polen: Geschichte–Kultur–Politik. Hrsg. v. Andreas Lawaty u. Hubert Orłowski. München 2003. S. 439–450. Barkhoff, Jürgen: Die Katzen und die Schweiz. Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Hürlimanns ‚Familientrilogie‘. In: Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Beatrice Sandberg. Berlin 2010. S. 181–196. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Suhr. Hamburg 2005. Bering, Diez: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart 2. Aufl. 1988. Brenner, Michael: Wie jüdisch war die jüdisch-intellektuelle Kultur der Weimarer Republik? In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Hrsg. v. Wilfried Barner und Christoph König. Göttingen 2001. S. 131–140. Breysach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Göttingen 2005. Briegleb, Klaus: Missachtung und Tabu: Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin/Wien 2003. Duft, Johannes: Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch „Fräulein Stark“ von Thomas Hürlimann. St. Gallen 2001. Eke, Norbert Otto: Im „deutschen Zauberwald“. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hrsg. v. Michael Bogdal, Klaus Holz u. Martin N. Lorenz. Stuttgart/Weimar 2007. S. 243–261. Erb, Rainer: Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase. In: Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hrsg. v. Heinrich Pleticha. Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V., Bd. 7. Würzburg 1985. S. 107–126. Faber, Richard: Zwanzigstes Bild: „Der Zersetzer“. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. München 1995. S. 260–264. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt/M. 6. Aufl. 1993. Gilman, Sander L.: The Jew’s Body. New York 1991. Gilman, Sander L.: Der ‚Jüdische Körper‘. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hrsg. v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. München 1996. S. 167–179. Gilman, Sander L.: „Die Rasse ist nicht schön“ – „Nein, wir Juden sind keine hübsche Rasse!“ Der schöne und der häßliche Jude. In: „Der schejne Jid“. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Erschien zur Ausstellung „Der Schejne Jid“ – Das Bild des Jüdischen Körpers in Mythos und Ritual, Jüdisches Museum Wien, Palais Eskeles, 16. September

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1998 bis 24. Januar 1999. Hrsg. v. Sander L. Gilman, Gabriele Kohlbauer-Fritz u. Robert Jütte. Wien 1998. S. 57–74. Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998. Henke, Hans-Gerd: Der „Jude“ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1914. Mainz 1994. Herzig, Arno: Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780–1880). In: Conditio Judaica. Judentum Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Erster Teil. Hrsg. v. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tübingen 1998. S. 10–28. Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Friseur. München 1998. Holz, Klaus: Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt. In: Soziale Systeme 1 (2000). S. 269–290. Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus: Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001. Horkheimer, Max/Adorno, u. Theodor W.: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 2008. S. 177–217. Hürlimann, Thomas: Fräulein Stark. Novelle. Frankfurt/M. 2003. Klüger, Ruth: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994. Klüger, Ruth: Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hrsg. v. Michael Bogdal, Klaus Holz u. Martin N. Lorenz. Stuttgart/Weimar 2007. S. 103–110. Koneffke, Jan: Paul Schatz im Uhrenkasten. Köln 2000. Körte, Mona: Das ,Bild des Juden in der Literatur‘. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998). S. 140–150. Körte, Mona: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt/M. 2000. Körte, Mona: „Juden und deutsche Literatur“. Die Erzeugungsregeln in der Germanistik. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hrsg. v. Mona Körte u. Werner Bergman. Berlin 2004. S. 353–374. Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection. New York 1982. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3., erg. u. überarb. Aufl. Göttingen 2006. Lorenz, Martin N.: Auschwitz drängt uns alle auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005. Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg 1986. Muszer, Dariusz: Die Freiheit riecht nach Vanille. München 1999. Sarasin, Philipp/Ernst, Andreas/ Kübler, Christof/ Lang, Paul: ImagiNation. Eine Einleitung. In: Die Erfindung der Schweiz 1848–1998. Bildentwürfe einer Nation. Hrsg. v. Sarasin/Ernst/ Kübler/Lang. Zürich 1998. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001. Schleicher, Regina: Antisemitismus in der Karikatur: Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914). Frankfurt/M. 2009. Sieniewicz, Mariusz: Żydòwek nie obsługujemy. Warszawa 2006.



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Theisohn, Philipp: Die Urbarkeit der Zeichen: Zionismus und Literatur: eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart 2005. Uffelmann, Dirk: Konzilianz und Asianismus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten. In: Zeitschrift für slavische Philologie 62 (2003). S. 277–309. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München 1980.

Zeitungsartikel Interview mit Marcel Reich-Ranicki „Ich bin nicht dazu da, Hürlimann zu belehren.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 9. 2001. S. 47. März, Ursula: Katzenhaft. Noch einmal Hürlimann. In: Frankfurter Rundschau, 21. 8. 2001. S. 17. Oberstein, Peter: Provokante Ansichten. Autor Dariusz Muszer und sein Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung, 14. 10. 2000. S. R. 6. Ostaszewski, Robert: Groteską w rzeczywistość. [Mit der Groteske in die Wirklichkeit] In: Tygodnik Powszechny, Książki w „Tygodniku“, 22. 5. 2005, Nr. 21.

Film Inglorious Basterds. 148 Min. USA/Deutschland 2009. Regie: Quentin Tarantino.

Alexander Rasumny

Den Hass auf die Geschichte wegerzählen Funktionen der Marranenthematik in Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle Die Rolle der Geschichte bei der Produktion kollektiver (Selbst-)Bilder kann kaum überschätzt werden. Die Vergangenheit eines Kollektivs ist eine reiche Quelle für sein Selbstverständnis, aus welcher durch Reevokation, Reimagination und Rekonstruktion geschöpft wird. Geschichtswissenschaft erfüllte daher immer wieder die Funktion, die Leerstelle ‚nationale Identität‘ mit normativen Sichtweisen anzureichern, die als positive oder negative Ideale einer Gesellschaft die Entwicklungsrichtung vorgaben und der kontingenten gegenwärtigen Existenz einen kanonischen Kern im Rahmen einer Ätiologie oder Eschatologie verliehen. Für die fiktionale Auseinandersetzung mit dem von der Geschichtswissenschaft hervorgebrachten Wissen im historischen Roman gilt dies mindestens in gleichem Maße. So hat nicht zuletzt die deutsch-jüdische Literatur des 19. Jahrhunderts sich dieser Gattung bedient, um im Rückgriff auf historische Figuren und ihre Handlungen Vorbilder für die eigene Zeit zu generieren1. Auf der Suche nach einer „transnationale[n] Dimension“ aktivierten die zeitgenössischen deutschjüdischen historischen Romane vor allem die Geschichte der spanischen Kryptojuden während der Inquisition als „über das Deutsche (den deutschen Kulturraum, die deutsche ‚Nation‘)“ hinausweisendes Motiv2. Als 2001 Robert Menasses Roman Die Vertreibung aus der Hölle3 erscheint, der die Lebensgeschichte des Spinoza-Lehrers Samuel Menasseh ben Israel mit den Lehrjahren des fiktiven Historikers Viktor Abravanel in den 1960er- und 1970er-Jahren parallelisiert, haben sich die Voraussetzungen für den deutschjüdischen Marranenroman verändert: Sowohl das Schicksal der iberischen (in diesem Fall portugiesischen) Juden als auch der historische Roman als Gattung sind aus dem kollektiven jüdischen Bewusstsein verschwunden. Darüber hinaus ist zu diesem Zeitpunkt über ein Vierteljahrhundert postmoderner metahistoriografischer Auseinandersetzung in der Geschichtswissenschaft und im his-

1 Vgl. Krobb, Florian: Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002. 2 Krobb, Kollektivautobiographien (wie Anm. 1), S. 35. 3 Die Seitenzahlen werden nach der Erstausgabe zitiert: Menasse, Robert: Die Vertreibung aus der Hölle. Frankfurt/M. 2001.

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torischen Roman vergangen, die die gattungsinterne Diskussion nachhaltig beeinflusst haben. Auch Die Vertreibung aus der Hölle gehört zu jener Reihe der Gattungsmodelle, die die Prozesse der Erzeugung, Vermittlung und Deutung des historiografischen Wissens thematisieren und Kategorien wie Nation, Identität oder Normativität entmystifizieren bzw. schlichtweg als verbindliche Instanzen verweigern. Unter diesen Umständen verdient die Art und Weise eine Betrachtung, wie ein vormals so wichtiger Bestandteil des europäischen jüdischen Selbstverständnisses wie die Marranengeschichte in den metahistoriografischen fiktionalen Diskurs Eingang findet und welche Bilder mit welcher Funktion diese generiert. Dabei will ich drei Ebenen der Auseinandersetzung mit ‚Marranenbildern‘ in der Vertreibung aus der Hölle hervorheben: die Ebene der Geschichtsdarstellung, die die Entstehungsgeschichte tradierter Bilder transparent macht (1.); die metahistoriografische Ebene, die aus der Geschichte abgeleitete Bilder samt dem restlichen Wissen über die Vergangenheit dekonstruiert (2.); sowie die substituierende Ebene, die die Bilderproduktion über die historische Epoche mit Bezügen auf die Shoah überlagert und die Marranengeschichte als Folie für eigene Bewältigungsarbeit benutzt (3.).

Geschichtsdarstellung als Bloßlegung Die Geschichte der Marranen seit dem Anfang der Inquisition bietet viele unterschiedliche Ansatzpunkte für ein Modell kollektiven Selbstverständnisses. Es ist deshalb bezeichnend, dass Menasse sich zumindest für seine historische Hauptfigur für die Assimilation als Ausgangspunkt seiner Darstellung entscheidet: Manasseh wächst als Manoel in vollständiger Unkenntnis seiner jüdischen Herkunft auf und steht insofern stellvertretend für zahlreiche Juden, die bereits in vorangegangenen Generationen eine neue, christliche Identität angenommen hatten und von ihrer Abstammung erst durch die Inquisition erfuhren: „Die Inquisitoren wußten über jüdische Riten besser Bescheid, als diejenigen, die ihnen als angebliche Juden in die Hände fielen.“ (290) Dies trifft zwar historisch wie im Roman bei Weitem nicht für alle zu – so sind etwa Manassehs Eltern Kryptojuden, die ihren Sohn darüber im Unwissen halten –, dennoch bestätigt der Roman als eine seiner Grundaussagen über das kollektive jüdische Selbstverständnis den bekannten Satz Jean-Paul Sartres: „Der Jude ist ein Mensch, den die anderen als solchen betrachten.“4 (Siehe dazu den Artikel in diesem Band von

4 Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Zürich



Den Hass auf die Geschichte wegerzählen 

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Hannah Ahlheim, Das Vorurteil vom ,raffenden Juden‘. Antisemitische Fremdbilder und jüdische Identität in der Weimarer Republik.) In diesem Sinne schlägt der Roman bei Missachtung selbstständiger jüdischer Identitätsprozesse die diskursanalytische Position vor, dass Juden überhaupt erst durch den antisemitischen Diskurs (in diesem Fall durch die Inquisition institutionell verstärkt) als Einheit konstituiert wurden, wobei dies gerade im Fall der Marranen nicht fern von historischer Wahrheit zu sein scheint5. Für die Sozialisation Manassehs als Jude bietet dieses Modell ein plausibles Deutungsmuster: Die erste bewusste Begegnung mit dem Judentum findet für den späteren Rabbi tatsächlich über den Antisemitismus statt, und zwar über den eigenen. Als Teilnehmer an den unter seinen Altersgenossen veranstalteten „Schweinejagd[en]“ (30) auf vermeintlich jüdische Kinder ist sein erstes Wissen über seine Herkunft der von Fernando, dem Anführer der Gruppe, aufgestellte Katalog von echten und angeblichen Eigenschaften und Verhaltensweisen. Auffällig ist dabei, dass die Kinder ihre Autorität daher beziehen, dass sie die Inquisition im Kleinen nachspielen: Erst der Inquisitor entscheidet, wer Jude ist und wer nicht. Der Roman entscheidet sich an dieser Stelle für eine dezidiert externe Variante des Marranenbildes und skizziert dessen Genealogie in der institutionellen (physischen oder symbolischen) Gewalt. Dabei ist eine Wendung des Romans, dass die Geschichte des Bildes nicht vom Bild der Geschichte getrennt werden kann. Entsprechend wird das fremde Marranenbild extern historisiert. Dies ist bei der ‚Einführung‘ der zweiten Hauptfigur in ihr Judentum der Fall: Viktor Abravanel erfährt von dem katholischen Religionslehrer Hochbichler die Geschichte seiner Vorfahren zu Zeiten der Inquisition, die aus der Perspektive der Inquisitorfigur Hochbichler eine Geschichte wiederholt verweigerter Assimilation ist: Die Abravanels haben sich über die ganze Welt verstreut, haben sich überall angepaßt, assimiliert, und waren doch immer – wie soll ich sagen? Herausragend? Unterscheidbar? Du verstehst schon. Gespalten. Immer christlich. Und immer dieser Fetisch: Herkunft jüdisch. Fetisch. Warum nicht akzeptieren, wie die Welt ist, in der man Erfolg hat? (135)

Mit der Übergabe der Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus, die laut Hochbichler „nur deshalb in dieser Größenordnung möglich waren, weil auch die Opfer irgendwie daran geglaubt haben, daß da was dran ist, an der Geschichte mit dem Blut“ (137), verwischt der Antisemit die Spuren seiner diskursiven Gewalt, bei der sich Geschichte als nützliches Instrument erweist: Seine

1948. S. 61. 5 Krobb, Kollektivautobiographien (wie Anm. 1), S. 24 f.

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unheimlichen Kenntnisse ermöglichen es Hochbichler nicht so sehr, wie Florian Krobb es vermutet, „ein ganzes Spektrum jüdischer Orientierungsmöglichkeiten und Lebensentscheidungen vor Viktor“6 auszubreiten, sondern einen sich seines Judentums nicht bewussten Jungen auf eine grundlegende Abweichung von der Norm festzupinnen. Insofern erfüllen sie die gleiche Funktion wie die Inquisitionsarchive, die mit der Dokumentation eines vergangenen Judentums ein gegenwärtiges erschaffen. In diesem Sinne ist historische Narration ein Katalysator für Identitätsprozesse – mit dem Unterschied, dass hier nicht das Kollektiv an seinem Selbstverständnis arbeitet, sondern diese Arbeit bereits durch Fremdcharakterisierung geschieht. Beim betroffenen Kollektiv bewirkt die Fremdzuschreibung ein gespaltenes Selbstverständnis. Einmal in den diskursiven Raum geworfen, zwingt die antisemitische Darstellung die Marranen, sich irgendwie zu ihr zu verhalten. Die Außensicht des Antisemiten dezentriert das (kollektive) Subjekt, das als reine Differenz nunmehr in logischer Abhängigkeit von der Position des Antisemiten steht, und „vergiftet“7 damit die Identitätsbildungsprozesse von innen. Im historischen Teil des Romans ist eine Facette möglicher Reaktionen vertreten, wobei der Ausgangspunkt für Manasseh der blanke Horror einer Identität ist, deren Kohärenz ausgelagert ist und die im Moment der Selbsterkenntnis deswegen bereits entschwunden ist und immer schon zurückerobert werden muss: „Als er die Ordnung zu sehen begann, begann sie sich aufzulösen. Da war nicht mehr Schutz, nur noch Trotz.“ (110) Wenn später im Roman Selbstbilder tradiert werden, dann wird stets Differenz mittradiert, die im Herzen jeglichen kollektiven Gedächtnisses als Erinnerung an die Erfahrung der Ausgrenzung und Verfolgung liegt. Am deutlichsten wird dies wohl in der Vielschichtigkeit des Verhältnisses zur Sprache, ein Umstand, der im Laufe der Geschichte immer wieder konstitutiv für jüdisches Selbstverständnis war. Hier wird allerdings die Vielschichtigkeit auf die Fähigkeit einer indirekten Kommunikation reduziert und damit die antisemitische Unterstellung einer geheimen Sprache der Juden8 zu einer Tugend umgedeutet. Dass wiederum diese als Abgrenzung benutzt werden kann, erklärt Manassehs Schwester Esther: „Die Christen […] fassen alles nach dem Buchstaben auf, das ist das Problem mit ihnen. Wenn sie lesen, daß Menschen, die nicht

6 Krobb, Kollektivautobiographien (wie Anm. 1), S. 133. 7 Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage (wie Anm. 4), S. 79. 8 Vgl. Stumpp, Gabriele: Zu einigen Aspekten jüdischer Tradition in Robert Menasses „Vertreibung aus der Hölle“. In: Robert Menasse. Hrsg. v. Kurt Bartsch u. Verena Holler. Graz 2004. S. 59–78, hier S. 62; vgl. hierzu auch Gilman, Sander L.: Jewish Self-Hatred. Antisemitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore/London 1986.



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an Christus glauben, wie dürre Äste sind, die verbrannt werden, dann verbrennen sie Menschen wie dürre Äste.“ (244) Als „nichts Naturgegebenes, sondern etwas geschichtlich Errungenes, das sich aus der Erfahrung von Gefahr und Bedrohung herausgebildet hat“,9 verweist diese Fähigkeit aber zugleich auf die Erfahrung der diskursiven Gewalt: „Wir mußten das lernen, hinter die Buchstaben zu schauen und hinter die Masken der Menschen.“ (246) Wenn Manasseh später vom Paradies träumt, das er sich vorstellt als einen „Hafen in einer anderen Welt. Fremde, die nicht auffielen, Menschen ohne Angst. Und Buchstaben mit allen möglichen Bedeutungen, ausgenommen der einen: der buchstäblichen“ (247), wird die Differenzerfahrung einerseits eschatologisch aufgeladen und andererseits durch die Anspielung an den ‚PaRDeS‘ mit der rabbinischen Deutung der Tora codiert,10 die Ausgrenzung wird perpetuiert. Es ist wichtig festzuhalten, dass auf der Ebene der Geschichtsdarstellung Identitätswerdung und Bildproduktion mithilfe einer Bloßlegung ihrer Mechanismen lediglich verhindert werden. Ein aus positiven Aussagen bestehendes historisches Narrativ, das ausgehend von der geschichtstheoretischen Position des Romans hinsichtlich seines Status’ zu revidieren wäre, bietet die dargestellte Geschichte nicht. Im Gegenteil sind darin bereits viele metahistoriografische Elemente enthalten, die in Einklang mit der geschichtsskeptischen Ausrichtung des Romans stehen.

Geschichtsdarstellung als Demonstration metahistoriografischer Skepsis Die metahistoriografische Reflexion ist ein zentraler Aspekt des Romans, findet jedoch nicht auf der weitgehend transparenten Erzählerebene oder (obwohl eine der beiden Hauptfiguren ein Historiker ist) der Figurenebene statt, sondern ist innerhalb des Konstruktionsprinzips zu verorten. Dass historiografisches Wissen in Wirklichkeit fiktional ist, suggeriert der Roman, indem entsprechen-

9 Liska, Vivian: Judenstimmen, Menschenton. Die Frage nach dem Jüdischen in „Die Vertreibung aus der Hölle“. In: Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Hrsg. v. Eva Schörkhuber. Wien 2007. S. 134–147, hier S. 135. 10 Rabbinischer Literatur zufolge ist das Paradies (‚Pardes‘) ein Ort des Torahlernens. Entsprechend lautet das Akronym, das den in der jüdischen Schriftauslegung entwickelten vierfachen Schriftsinn kennzeichnet, ‚PaRDeS‘ (von Pschat, Remes, Drasch und Sod – einfache, allegorische, belehrende und geheime Bedeutung). Vgl. Krochmalnik, Daniel: Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen. Augsburg 2006. S. 7–26.

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der Geschichtsgebrauch emuliert und die historische Ebene des Romans als Projektion für die zeithistorische verwendet wird. Die beiden Ebenen11 stehen in einem Parallelitäts- oder Spiegelungsverhältnis zueinander, was in der Forschung bereits umfangreich dokumentiert wurde:12 Die Lebensläufe der beiden Hauptfiguren ähneln sich im Groben (jüdische Herkunft, Erziehung im katholischen Internat, Tätigkeit als Gelehrter bzw. Wissenschaftler) wie auch in den Details (z.  B. die Art und Weise, wie Manasseh und Viktor über ihre Herkunft informiert werden); sogar Charakterzüge stimmen überein (Heilserwartung in systemischem Denken, feminine Züge, Unsicherheit). Die Spiegelung wird durch thematische bzw. motivische Übereinstimmungen bei den Fragmenten der jeweiligen Erzählung verstärkt. Die fiktionalisierte Version der Biografie Manasseh ben Israels widerspricht zudem in vielen Details13 dem Forschungsstand über den historischen Spinoza-Lehrer.14 Dagegen ist der zeithistorische Handlungsstrang um Viktor stark autobiografisch geprägt. Matthias Beilein, der die Figur Viktors auf autobiografische Bezüge hin untersucht hat, schlussfolgert, dass [n]icht Viktor […] nach der vermeintlich authentischen Figur des Rabbi Menasseh konstruiert worden [ist] – die Konstruktion verläuft in die andere Richtung, nämlich von der

11 Eine dritte Zeitebene umfasst das Geschehen am Abend des Matura-Jubiläums Viktors und bildet eine Verlängerung der zeithistorischen Handlungsebene. 12 Verena Holler hat den parallelen Aufbau der beiden Handlungsebenen beschrieben: Holler, Verena: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt/M. 2003. S. 244–256. 13 Der historische Manasseh, der einen im Gegensatz zum versteinerten Fötus des Romans gesund geborenen jüngeren Bruder hatte, war wohl nie in einer jesuitischen Schule und kam also im Gegensatz zu seiner fiktiven Version nicht direkt mit der Inquisition in Kontakt. Beide Söhne des historischen Manasseh erreichten im Gegensatz zur Darstellung in Die Vertreibung aus der Hölle das Erwachsenenalter. Die Encyclopaedia Judaica bezeichnet den faktualen Anteil des Romans als unzuverlässig; vgl. Roth, Cecil/Offenberg, A. K.: Manasseh (Menasseh) Ben Israel. In: Encyclopaedia Judaica. Bd. 13. Hrsg. v. Fred Skolnik u. Michael Berenbaum. Detroit [u. a.] 2. Aufl. 2007. S. 454f. 14 Ein Umstand, den Menasse mithilfe vieler (vermeintlicher) Faktualitätssignale zu verbergen versucht – und wiederum andernorts offenlegt. Als Beispiel seien hier die dem Roman vorangestellten Mottos (7–9) genannt, die sowohl reale Äußerungen (z. B. von Ralph Waldo Emerson, Paul Celan) wie auch fiktive Zitate von Manasseh und Uriel da Costa beinhalten. Ohne Markierung ihrer tatsächlichen Fiktionalität suggerieren diese Zitate eine Nähe des fiktionalen Textes zu den überlieferten historischen Tatsachen. Ein Zitat aus dem Computerspiel Obsidian untergräbt jedoch den faktualen Charakter dieser Äußerungen. Vgl. Menasses Kommentar zu den Zitaten: Beilein, Matthias: „Wir sind die Angelus-Novus-Generation“. Interview mit Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici. Wien, Café Sperl, 4. 4. 2006. In: Ders.: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008. S. 297–325, hier S. 303.



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Gegenwart in die Vergangenheit. Rabbi Manasseh ist die Reflektorfigur für Menasses eigene Geschichte, die er parallel entlang der scheinbar fiktiven Figur konstruiert.15

Dass der Roman gerade keine wahrheitsgetreue Behandlung der Geschichte anstrebt, wird zudem aus zahlreichen Anachronismen deutlich. Die Gegenwart überlagert die Vergangenheit etwa mit solchen Phänomenen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts wie Rap (284), nackt durch die Straßen laufende „Blitzer“ (470) oder Heimwerker-Ethos.16 Diese Anachronismen werden auf der extradiegetischen Ebene, die fast durchweg transparent und nah an der Figurensprache gehalten wird, nicht markiert. Umso mehr fallen Abweichungen in für das 17. Jahrhundert fremden Begriffen wie „politische[s] Zentrum“ (45) oder „Kapital“ (50) als Erkennungszeichen der Nachzeitigkeit auf. Die revisionelle Haltung ist indes nicht so manifest wie es in den postmodernen historischen Romanen des angelsächsischen Sprachraums üblich ist, die häufig umfangreiche metafiktionale Passagen enthalten. Die dezent gehaltenen Signale für tatsächliche Fiktionalität vermeintlich faktualer Aussagen wurden seitens der Literaturkritik zuweilen übersehen und der Erzählstrang um Manasseh als im Realismus verankerte historische Darstellung gelesen.17 Die Geschichte fungiert im Roman somit als bloße Projektionsfläche einer solipsistischen Gegenwart, die in jedem Artefakt, in jedem Stück genuiner Überlieferung der Vergangenheit und in allem, was sie als Wissen über sie sammeln kann, nur sich selbst erkennt. Um auf eine Metapher des Autors zurückzugreifen, ist sie reduziert auf die Funktion eines antiquarischen Spiegels: „Aber das Bild zeigt nicht, wie es damals war, als der Spiegel produziert wurde, sondern wie wir aussehen, die wir hineinschauen.“18 Georg Lukács' gattungsbestimmendes Postulat der „Ableitung der Besonderheit der handelnden Menschen aus der historischen Eigenart ihrer Zeit“19 wird nicht eingelöst. Statt der Rekonstruktion der

15 Beilein, 86 und die Folgen (wie Anm. 14), S. 223. 16 Die Kunden Gaspars, Manassehs Vaters, die dessen Geschäft aufsuchen, „nur um zum Beispiel die neuesten Beschläge zu sehen“ (50), tun es wohl nicht aus professionellem Interesse, sondern als Hobby. Ihr Verhalten ist anachronistisch, da freizeitliches Werken eine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. 17 Siehe z. B. die Einschätzung Thomas Krafts im Rheinischen Merkur: „Man spürt, wie stofflich getränkt dieser Text ist, wie viel hier recherchiert und zusammengetragen wurde.“ Kraft, Thomas: Schöne heillose Welt. Robert Menasse ist ganz zu Recht der Star des diesjährigen Literaturherbstes. In: Rheinischer Merkur 41 (12. Oktober 2001). 18 Engelberg, Achim: Wenn die Geschichte mit dem Fuß aufstampft. In: Freitag 46 (8. November 2002). 19 Lukács, Georg: Werke. Bd. 6: Der historische Roman. Neuwied/Berlin 1965. S. 23.

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Epoche als Ergebnis einer sich von der Gegenwart unterscheidenden Gliederung der Bezugssysteme ist bewusste Naivität das Paradigma der Geschichtsvermittlung.20 In Hinblick auf die Gültigkeit aus der Geschichte gewonnener Bilder bzw. Identitätsmodelle wirkt eine solche Romanstruktur depotenzierend. Erinnerungsprozesse werden als Fiktionalisierungsprozesse vorgeführt, die den Anspruch auf historische Wahrheit von Anfang an in die Bahnen einer ideologisch determinierten Wahrhaftigkeit umlenken. Die Darstellungen, die sowohl eine von der Perspektive der Erzählzeit autonom bestehende Alterität als auch eine von der grundlegend fremden Bezugsstruktur der Vergangenheit zur Gegenwart gezogene Kontinuität vorgaukeln, werden so als Tatsachenbehauptungen ersichtlich, die einen nicht einlösbaren Wahrheitswert beanspruchen. Die Geschichte lügt, und an vereinzelten Stellen wird dies bei allen Glättungsversuchen deutlich. Es ist aus solcher metahistoriografischen Position heraus nur konsequent, auf welche Weise der Roman das Bild der historischen Epoche hervorbringt: verfälschend, der Gegenwart angleichend, nur selten sich verratend. Allerdings wird auch in Abwesenheit extradiegetischer Metareflexion die metahistoriografische Romanaussage nicht ausschließlich strukturell erzeugt, sondern findet sich auch auf der diegetischen Ebene wieder. Ein interessantes Beispiel bildet Manassehs Vater Joseph ben Israel, der seinen Erfahrungen als Opfer der Inquisition mythomotorisches Potential abgewinnen will und insofern am ehesten für eine unhinterfragte Erinnerungstradierung steht. Den Neubeginn in Amsterdam stellt Joseph – ehemals Gaspar Rodrigues Nunes – durch Annahme eines jüdischen Namens und durch die Beschneidung bewusst in den Zusammenhang historisch-mythischer Bilder. Dabei soll die nach Abrahams Vorbild selbst durchgeführte Beschneidung nicht nur den Bund mit Gott erneuern, auch zum Auszug aus Ägypten wird ein Bogen geschlagen: „Habe ich nach einem Arzt verlangt? Oder nicht vielmehr danach, die Schande Ägyptens von mir zu nehmen?“ (306) Die Flucht aus Portugal und die Ankunft in Amsterdam werden in diesem Sinne als eine Erneuerung des Exodus und der Wiederansiedlung im Lande Kanaan kodiert und damit in die jüdische Eschatologie eingegliedert. Die auf diese Weise mit Sinn angefüllte jüngste Vergangenheit wird im Rahmen einer Gesellschaft, die das Andenken an die Toten der Inquisition pflegt, tradiert, wobei die Kanonisierungsprozesse durch den Titel „Zum Andenken an die zu früh Ermordeten“ stark ironisiert werden. Man empfand den ursprünglichen Wortlaut mit „Verstorbenen“ statt „Ermordeten“ (345) nicht als den Tatsachen

20 Laut Eigenaussage des Autors hat die Figur Manassehs größtenteils noch vor einer eingehenden Recherche festgestanden. Vgl. Nüchtern, Klaus: Signatur des Wahnsinns. In: Falter 30 (25. Juli 2001).



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entsprechend, veränderte allerdings nur dieses eine Wort. „Danach hatte keiner mehr Lust oder die Kraft, für eine neuerliche Änderung des Namens zu streiten. Es würde, wie man sah, nur immer schlechter werden.“ (345) Durch die Besuche der Mitglieder der Gesellschaft in der Thoraschule soll die Geschichte zudem weitervermittelt, auch für die nachkommenden Generationen gültig gemacht werden, doch die Anwesenheit Manassehs kann sie als Konstrukt entlarven: Der Vater […] log, daß ihm die Luft wegblieb, manches übertrieb er, anderes verschwieg oder bagatellisierte er, mit Leidenschaft schmückte er aus, geradezu schamlos, fand Manasseh, schmückte er all die Banalitäten aus, für die er Worte fand, während er dort, wo er keine Worte hatte oder auch nur bloße Erinnerungslücken, dramatisch stockte, nur noch knappe Andeutungen mit tragischen Gesten untermalte und Gemütsregungen so theatralisch simulierte, daß er tatsächlich zu weinen begann, wenn er in die bestürzten Gesichter der Zuhörenden blickte. Einmal fragte er den Vater nach solch einer Veranstaltung, warum er gelogen habe. [...] „Hätte mir sonst einer geglaubt?“ fragte der Vater mit immer noch nassen Augen. (344f.)

Bezeichnend sind nicht nur Josephs Erinnerungslücken, die den prekären Status der Zeitzeugenschaft als historische Quelle offenlegen – an anderer Stelle bezeichnet der Historiker Viktor Oral History als „blinde[s] Vertrauen in die Authentizität von Erinnerungslücken“21 (388f.); die Kritik ließe sich dabei auf weitere Artefakte ausdehnen. Auch die Art und Weise, wie die Lücken gefüllt werden, verdient eine Betrachtung: Die Geschichte wird nicht berichtet, sondern inszeniert, was einerseits auf den Rollencharakter und die Austauschbarkeit historischer Bilder verweist und andererseits auf Fiktionalität. Die Begründung, die Joseph bietet, ist ganz und gar aristotelisch, das Wahrscheinliche ergänzt hier allerdings nicht das Wahre als eigenständiger Modus der Bedeutungsproduktion, sondern verdrängt es. Mit seinen Tränen zielt Joseph bewusst auf „die bestürzten Gesichter der Zuhörenden“ und schafft es, die beabsichtigte moralisch erbauende Wirkung zu erzeugen. Seine Version der Geschichte wird zwar tradiert, aber nur kraft und aufgrund ihres ästhetischen Charakters. Das hier angedeutete Rollenspiel mit nationalen Identitäten und historischen Selbst- und Fremdbetrachtungen durchzieht als Motiv den gesamten Roman. Die Amsterdamer Juden, meist Opfer der Inquisition, können, sobald ein Gemeindemitglied gegen die jüdischen Speisegesetze (die Kashrut) verstößt, ohne Bedenken selbst zu Tätern werden und im Gericht vor dem Gemeindesaal

21 Hierin liegt im Übrigen ein weiteres Beispiel für das Muster der semantischen Rückverweisung zwischen den Zeiteben: Die motivische Verbindung (unsichere Erinnerung) wird oftmals durch wörtliche Wiederholung („Erinnerungslücken“) verstärkt.

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die Inquisition nachspielen: „In Portugal und Spanien wurden Christen vor Gericht gezerrt, wenn sie verdächtigt wurden, im geheimen die jüdischen Speisegesetze zu befolgen, im jüdischen Amsterdam wurden Juden denunziert, die im Verdacht standen, daß sie diese Gesetze im geheimen nicht befolgten.“ (452) Die Ironie dieser Konstellation hat jedoch keinen geschichtsphilosophischen Erkenntniswert – die Geschichte wiederholt sich nicht, was vielfach als Konstruktionsprinzip des Romans verstanden wurde,22 sie wird lediglich von Menschen wiederholt. Die vermeintliche Selbsterkenntnis im Spiegel der Geschichte kann sogar zu absurderen Ergebnissen führen, wenn die Zeiten hysterisch genug sind. In der Endzeitstimmung des 17. Jahrhunderts fangen etwa deutsche und niederländische Christen, die noch einige Jahre zuvor Juden aus den Städten vertrieben, nun an, selbst zum Judentum zu konvertieren und „[a]n der Nordsee […] von einer ‚Heimat‘ unter der Wüstensonne Zions“ (472) zu träumen. Dem Rollenspiel sind lediglich in einer Hinsicht Grenzen gesetzt: Die Wunden der Vergangenheit können nicht verheilen und bleiben als Überbleibsel der Authentizität in der Identität erhalten. Der Vater, der tagsüber Erinnerung predigt, wünscht sich nachts aufgrund seiner Albträume nichts sehnlicher als Vergessen – den Horror der Folter immer unverfälscht in seinen Schreien bewahrend. (345) Der Sprachen lernende Sohn kann unterschiedliche Identitäten wie Masken anziehen, doch bleibt die vernarbte Wunde von einem Schlag des Aufsehers auf der Fahrt in das jesuitische Internat erhalten: Blau! Rot! Grün! Wie verschiedenfarbige Tücher, die er monoton der Reihe nach aus einer Truhe zog, führte er die Sprachen vor, mit einem seltsamen Blick, starr, aus tiefen Augenhöhlen, als blickte er durch eine Maske. Befremdlich erschien nun auch seine lange Narbe auf der Wange: Er bekam einen Bart, aber dort auf der Narbe wuchs kein Haar, weshalb diese Stelle wie „schlecht gemacht“ wirkte: Hier war die Maske gefalzt und geklebt worden. (341)

Die Narbe ist das störende Element, das sich in keine der Rollen integrieren lässt, sie ist der Rest der dekonstruierten Geschichtserzählung, der durch alle Masken hindurchblickt. Die historische Wahrheit offenbart sich hier nur in einem solchen Benjamin’schen „Tigersprung ins Vergangene“23 – Benjamins Thesen Über den

22 Vgl. Stumpp, Zu einigen Aspekten (wie Anm. 8), S. 68f. oder Rohringer Vešović, Katarina: Geschichte ist eine irre Komödie. In: Schörkhuber (Hrsg.): Was einmal wirklich war (wie Anm. 9), S. 53–82, hier S. 54. 23 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1,2: Abhandlungen. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991. S. 691–704, hier S. 701.



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Begriff der Geschichte scheinen starken Einfluss auf Menasses Roman genommen zu haben –,24 der aber als reines Trauma nicht im Dienste eines Orientierung bietenden Geschichtsbildes semantisiert werden kann. In diesem Sinne verdient eine Betrachtung, wie die Anachronismen in der Vertreibung aus der Hölle organisiert sind und welches Trauma genau durch die Maske der vermeintlichen Geschichtsdarstellung durchscheint.

Geschichtsdarstellung als Substitution Damit das aus dem kollektiven Bewusstsein deutschsprachiger Juden verschwundene „Marranenschicksal als mögliche Projektionsdimension für gegenwärtige Befindlichkeit erneut ins öffentliche Bewußtsein gerufen“25 werden kann, muss das Geschichtsbild aktualisiert werden und eine neue Funktion erhalten. Die Vertreibung aus der Hölle kann als ein Modell verstanden werden, wie eine solche Aktualisierung vonstatten gehen kann: Die frühneuzeitliche Katastrophe der portugiesischen Inquisition wird als Prisma in den Dienst der Bewältigungsarbeit der Shoah gestellt. Wie für einen autobiografisch gefärbten Roman eines Autors aus der zweiten Generation der Überlebenden zu erwarten,26 ist die Shoah im zeithistorischen Teil präsent, wobei diese Präsenz der Vergangenheit durch vage Referenzen und Analepsen hergestellt wird und der nah an der Figurensicht bleibende Erzähler keine direkte Darstellung bietet. Eine intra-diegetische Erzählung über die Shoah könnten etwa Viktors Großeltern leisten, die sie jedoch trotz häufigen Drängens verweigern. (320f.) Am nächsten kommen einer Darstellung Viktors wiederholte Albträume als Kind, mittels derer er Details der Verhaftung seines Großvaters durch die Gestapo erahnt. (461) Die Verbindung zur Shoah ist durch den famili-

24 Vgl. zu Benjamins „Engel der Geschichte“ (Benjamin, Begriff der Geschichte, [wie Anm. 23] S. 697f.) in Menasses Werk Müller-Tamm, Jutta: Die Engel der Geschichten. Zu einem Motiv in Robert Menasses Romantrilogie. In: Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Hrsg. v. Dieter Stolz. Frankfurt/M. 1997. S. 50–67. Menasse selbst rechnet sich zu der „Angelus-Novus-Generation“; Beilein, Angelus-Novus-Generation (wie Anm. 14), S. 304; vgl. auch Grohotolsky, Ernst: Gespräch Robert Menasse. In: Bartsch/Holler (Hrsg.), Robert Menasse (wie Anm. 8), S. 9–23, hier S. 17. 25 Krobb, Kollektivautobiographien (wie Anm. 1), S. 128. 26 Ebenfalls mit Romanen der second generation befasst sich der Beitrag von Susanne Düwell in diesem Band, „Das zwanghaft projizierende Selbst“. Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovici.

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ären Hintergrund27 immer schon gegeben – das Trauma wird von den Eltern und Großeltern weitergereicht: „[D]ie Eltern sind von der Geschichte herumgestoßen worden, aber dieses Kind nur von den Eltern. Menschen, die, befreit, sich gleich wieder unter Druck fühlten.“ (156) Einen persönlichen Bezug zur Shoah erlangt Viktor in diesem Sinne durch die Überlagerung seiner Gegenwart durch die Vergangenheit seiner Eltern und Großeltern und den direkten Einfluss auf seine psychische Befindlichkeit, die diese Vergangenheit auf ihn ausübt. Die umfassendere Überlagerung findet jedoch auf der historischen Ebene statt, wo der Leser durch überwiegend implizite Verweise „in eine Lage gebracht [wird], in der er Schoah und Inquisition parallelisiert und sich zwangsläufig immer wieder fragt, ob das ‚erlaubt‘ ist.“28 Wenn eine Freundin Viktors im zeithistorischen Teil bei der Beschreibung des Grauens der Inquisition von „Dutzende[n], die da verbrannt, Hunderte[n], die in langen Reihen zu diesem Scheiterhaufen geführt wurden“ (36) spricht oder wenn der wirtschaftliche Aufschwung des Heimatdorfes Manassehs auf Konfiskation jüdischen Eigentums bzw. auf Zulieferaufträge für die Inquisition zurückgeführt wird, bedarf es einer großen Anstrengung, das Geschehen unabhängig von dem kollektiven Wissen über den Holocaust zu betrachten. Ebenfalls werden Verbindungen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung geknüpft, wenn Fernando den mittlerweile entlarvten Manasseh mit einer antisemitischen Beleidigung und einer Geste begrüßt, die dem Hitlergruß identisch ist: Einmal war er hinausgelaufen, war Fernando und seinen Vasallen begegnet, und Fernando hatte eine Handbewegung gemacht, hoch stand die Hand in der Luft – ein ehrerbietiger Freundschaftgruß? Oder eine zum Zuschlagen ausgeholte Hand? Und Fernando rief ihn an – es klang wie ein ehrerbietiges „Seu Moel!“, „Herr Manoel!“, aber nein, es klang wie „Samuel!“, und das hieß „Du Jud!“ (97)

Ohne extradiegetische Markierung bleiben diese Stellen Suggestionen, die allerdings einen hohen Deutlichkeitsgrad besitzen und auf der diegetischen Ebene im zeithistorischen Teil des Romans auch explizit bestätigt werden, wenn Hochbich-

27 So ist etwa die Voraussetzung für die Flucht des Vaters Viktors in einem Rettungstransport nach Großbritannien die Verhandlung des fiktionalen (aber auch historischen) Manasseh ben Israel mit der damaligen puritanischen Regierung Englands über das Ansiedlungsrecht der Juden; seine jüdischen Großeltern sind Shoah-Überlebende; zudem ist Viktors nichtjüdischer Großvater als Sozialist Mitglied der „Kanonenfutter-Kompanie“ (159), mit der wahrscheinlich die Strafdivision 999 gemeint ist. 28 Visser, Anthonya: „Wieso hast du das so erzählt?“ Trügerische Identitäten in „Die Vertreibung aus der Hölle“. In: Schörkhuber (Hrsg.), Was einmal wirklich war (wie Anm. 9), S. 110–133, hier S. 113.



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ler während Viktors Unterweisung in dessen Familiengeschichte die Situationen der österreichischen Juden in den 1930er-Jahren und der portugiesischen Marranen in der frühen Neuzeit vergleicht. (134) Die Präsenz der Shoah im Roman wurde bereits als „thematischer Subtext“29 und als das „geheime Gravitationszentrum des Romans, das er umkreist, ohne es selbst darzustellen“ 30 erkannt. Die Shoah lässt sich, um noch einen Schritt weiterzugehen, sogar als eine eigenständige Zeitebene neben den beiden Handlungsverläufen sehen: Durch sie werden die Geschichten Manassehs als Zeuge einer Katastrophe sowie Viktors als Nachgeborener, dessen Leben trotz Nachzeitigkeit davon zu einem beträchtlichen Anteil vorbestimmt ist, viel enger miteinander verknüpft als durch das am Ende des Romans (485) erwähnte wissenschaftliche Interesse Viktors an Manasseh ben Israel. Das Fehlen der direkten Darstellung gehört dabei zum Kompositionsprinzip, das auf der diegetischen Ebene durch Viktors erfolglose Versuche, von seinen Großeltern Wissen über die Shoah zu erfragen, unterstrichen wird. Das Schweigen der Großeltern, aber auch der anderen Figuren, spiegelt die Verweigerungshaltung des Romans auf der strukturellen Ebene wider: Anstatt das Geschehen der Zeit darzustellen oder narrativ zu vermitteln, wird gerade die Leerstelle thematisiert. Das Ereignis ist in Form einer entleerten Erinnerung präsent: Zwar wird der Erinnerung an die Shoah im Roman eine bedeutende Rolle eingeräumt, jedoch erscheint das Erinnerte selbst nur indirekt in einer stellvertretenden Darstellung, die sich dem Ereignis lediglich annähert, sowie in der Darstellung der nachfolgenden Epoche, in der die Shoah als ein Phantomschmerz erscheint. Hier lässt es sich mit Henri Raczymow, ebenfalls ein Autor aus der zweiten Generation der Shoah-Überlebenden, von einer „abwesenden Erinnerung“ sprechen. Diese ergibt sich aus der Spannung zwischen der Notwendigkeit der Erinnerung und Darstellung einerseits und andererseits der Unmöglichkeit, sich als Nachgeborener eine präzise Vorstellung von der Zeit machen zu können – erschwert von der fehlenden Vermittlung durch die erste Generation. Diese Erinnerung soll nicht gefüllt werden; „[r]ather, I try to present memory as empty. I try to restore a nonmemory, which by definition cannot be filled in or recovered.“31 Solche Anästhetik32 in Raczymows Werk deutet Ellen Fine als notwendige Folge der „exclusion both from the experience and from knowledge about the experience. The ‚absent

29 Holler, Felder der Literatur (wie Anm. 12), S. 240. 30 Stumpp, Zu einigen Aspekten (wie Anm.8), S. 69. 31 Raczymow, Henri: Memory Shot Through With Holes. In: Yale French Studies 85 (1994). S. 98–105, hier S. 104. 32 Vgl. Nolden, Thomas: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg 1995. S. 127.

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memory‘ is filled with blanks, silence, a sense of void, and a sense of regret for not having been there.“33 In diesem Sinne lassen sich die Funktion des doppelten Aufbaus der Vertreibung aus der Hölle neben der Demonstration eines verfälschenden Geschichtsgebrauchs und die zu diesem Zeitpunkt nunmehr außergewöhnliche Stoffwahl wie folgt verstehen: Der Roman greift sowohl die Katastrophe der Shoah als auch die Bewältigungsarbeit der nachgeborenen Generation in ihrer Suche nach einem eigenen Bezug dazu auf. Doch da die Erinnerung an die Katastrophe im Rahmen der Anästhetik nicht durch Darstellung gefüllt werden kann und soll, wird stattdessen – in den Worten Vivian Liskas „aus der paradoxen Haltung heraus, dass es jedoch möglich sein muss, ja vielleicht sogar verpflichtend ist, gerade deshalb weiter zu sprechen als der Atem des Negativen reicht“34 – das Scheitern des Erinnerungsprozesses durch das Ausweichen auf eine andere Epoche dokumentiert. Diese fungiert damit als Stellvertreter, wodurch weite Teile ihrer Darstellung ihre Funktion verlieren und zu Symbolen für einen historischen Abschnitt werden, der im jüdischen kollektiven Bewusstsein weitaus präsenter ist. Die eigentliche Repräsentation der Ereignisse des frühen 17. Jahrhunderts ist funktional nicht nur der Historiografiereflexion untergeordnet, sondern auch dem spezifischen – ‚entleerten‘ – Erinnerungsprozess. Auf das identitätsstiftende Projekt der Geschichtsverarbeitung hat eine solche Unterordnung insofern eine aushöhlende Wirkung, als die Shoah als der große blinde Fleck der Nachgeborenen von vornherein nicht für Orientierung und Sinnstiftung in Anspruch genommen werden kann. Die Aktualisierung des Marranenstoffes in der Vertreibung aus der Hölle geht also mit dem Verlust seiner Autonomie als signifikante Episode der Geschichte, aus der zugunsten der Identitätsfindung normative Bilder gewonnen werden können, einher. Als Geschichte, die von anderen erzählt wird und deren Kernstück das Kollektiv im Vorfeld übernimmt, steht bei dem Marranenbild bereits dessen Charakter als Konstrukt im Vordergrund. Der für das heutige Selbstverständnis grundlegenden Shoah untergeordnet, wird das eigentlich dargestellte historische Ereignis – ebenso wie das implizierte – ausgehöhlt. Es verliert jegliche Autonomie, die es jemals als deutbares, sinntragendes historisches Geschehen trug, und wird zum bloßen Verweis, der die Fragen nach Sinn und Orientierung

33 Fine, Ellen S.: Transmission of Memory: The Post-Holocaust Generation in the Diaspora. In: Breaking Crystal. Writing and Memory after Auschwitz. Hrsg. v. Efraim Sicher. Urbana 1998. S. 185–200, hier S. 187. 34 Liska, Vivian: Nach dem Schweigen. Memoria in der österreichisch-jüdischen Gegenwartsliteratur. In: Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Hrsg. v. Arne De Winde u. Anke Gilleir. Amsterdam 2008. S. 215–226, hier S. 219.



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lediglich – an eine Leerstelle – weiterleitet. Die metahistoriografische Reflexion soll schließlich mithilfe einer am Marranenschicksal vollzogenen Demonstration das Rüstzeug zu einer Fundamentaldekonstruktion der Bedeutungsproduktion über und durch Geschichte liefern. Die Darstellung der Situation portugiesischer Juden im frühen 17. Jahrhundert ist überall lediglich Mittel zum kompositorischen Zweck und vermag es nicht, aktive und affirmative ideologische Arbeit zu leisten. Dennoch scheint die Wahl des Marranenbildes als Romanstoff nicht beliebig zu sein. Nicht nur bietet sich in einer parallelisierten Betrachtung gerade dieser Stoff zur Vorführung und Entlarvung historisch-ontologischer Konstanten (Geschichte wiederholt sich nicht, sie wird von den Menschen wiederholt) wie auch historiografischer Deutungsmuster (die vermeintlichen Lehren aus der Geschichte erweisen sich als Trugschluss) an. Es fällt zudem auf, dass Menasse mit dem 17. Jahrhundert auf eine vorhistoristische Zeit und die Anfänge des spezifisch neuzeitlichen Umgangs mit der Geschichte zurückgreift. Verstärkt wird das durch ein Modell des historischen Romans, das in der gattungsinternen ästhetischen Diskussion einen Schritt entgegen der Entwicklungsrichtung geht, fehlen im Roman doch metafiktionale, metahistorische oder metahistoriografische Passagen fast vollständig. Genau genommen tritt Die Vertreibung aus der Hölle mit einer identifikatorischen Lektüre der thematisierten Epoche hinter die Errungenschaft der frühesten Gattungsmodelle zu Beginn des 19. Jahrhunderts – die historistische, Alterität der behandelten Zeit berücksichtigende Betrachtung – zurück und knüpft methodisch an die unhistorisch schreibenden Vorgänger Walter Scotts35 an. Wie der Historismus, so soll auch der historische Roman im Rahmen einer De-Narration zurückgenommen werden, war das Romanprojekt doch, wenn man dem Autor Glauben schenken darf, „kontrolliert und in Form und Komposition erlöst, meinen Haß auf die Geschichte weg[zu]erzählen.“ 36

Literatur Beilein, Matthias: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008. Beilein, Matthias: „Wir sind die Angelus-Novus-Generation“. Interview mit Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici. Wien, Café Sperl, 4. 4. 2006. In: Ders.: 86 und

35 Vgl. Reitemeier, Frauke: Deutsch-englische Literaturbeziehungen: Der historische Roman. Sir Walter Scott und seine deutschen Vorläufer. Paderborn [u. a.] 2001. 36 Stolz, Dieter: ‚Es passiert alles mögliche‘. Ein Gespräch. In: Ders. (Hrsg.), Die Welt scheint unverbesserlich (wie Anm. 24), S. 317–329, hier S. 329.

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die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008. S. 297–325. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1,2: Abhandlungen. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991. S. 691–704. Engelberg, Achim: Wenn die Geschichte mit dem Fuß aufstampft. In: Freitag 46 (8. 11. 2002). Fine, Ellen S.: Transmission of Memory: The Post-Holocaust Generation in the Diaspora. In: Breaking Crystal. Writing and Memory after Auschwitz. Hrsg. v. Efraim Sicher. Urbana 1998. S. 185–200. Gilman, Sander L.: Jewish Self-Hatred. Antisemitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore, London 1986. Grohotolsky, Ernst: Gespräch Robert Menasse. In: Robert Menasse. Hrsg. v. Kurt Bartsch u. Verena Holler. Graz 2004. S. 9–23. Holler, Verena: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt/M. 2003. Kraft, Thomas: Schöne heillose Welt. Robert Menasse ist ganz zu Recht der Star des diesjährigen Literaturherbstes. In: Rheinischer Merkur 41 (12. 10. 2001). Krobb, Florian: Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002. Krochmalnik, Daniel: Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen. Augsburg 2006. Liska, Vivian: Judenstimmen, Menschenton. Die Frage nach dem Jüdischen in „Die Vertreibung aus der Hölle“. In: Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Hrsg. v. Eva Schörkhuber. Wien 2007. S. 134–147. Liska, Vivian: Nach dem Schweigen. Memoria in der österreichisch-jüdischen Gegenwartsliteratur. In: Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Hrsg. v. Arne De Winde u. Anke Gilleir. Amsterdam 2008. S. 215–226. Lukács, Georg: Werke. Bd. 6: Der historische Roman. Neuwied, Berlin 1965. Müller-Tamm, Jutta: Die Engel der Geschichten. Zu einem Motiv in Robert Menasses Romantrilogie. In: Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Hrsg. v. Dieter Stolz. Frankfurt/M. 1997. S. 50–67. Menasse, Robert: Die Vertreibung aus der Hölle. Frankfurt/M. 2001. Nolden, Thomas: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg 1995. Nüchtern, Klaus: Signatur des Wahnsinns. In: Falter 30 (25. 7. 2001). Raczymow, Henri: Memory Shot Through With Holes. In: Yale French Studies 85 (1994). S. 98–105. Reitemeier, Frauke: Deutsch-englische Literaturbeziehungen: Der historische Roman. Sir Walter Scott und seine deutschen Vorläufer. Paderborn [u. a.] 2001. Rohringer Vešović, Katarina: Geschichte ist eine irre Komödie. In: Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Hrsg. v. Eva Schörkhuber. Wien 2007. S. 53–82. Roth, Cecil/Offenberg, A. K.: Manasseh (Menasseh) Ben Israel. In: Encyclopaedia Judaica. Bd. 13. Hrsg. Fred Skolnik und Michael Berenbaum. Detroit [u. a.]. 2. Aufl. 2007. S. 454f. Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Zürich 1948.



Den Hass auf die Geschichte wegerzählen 

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Stolz, Dieter: „Es passiert alles mögliche“. Ein Gespräch. In: Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Hrsg. v. Dieter Stolz. Frankfurt/M. 1997. S. 317–329. Stumpp, Gabriele: Zu einigen Aspekten jüdischer Tradition in Robert Menasses Vertreibung aus der Hölle. In: Robert Menasse. Hrsg. v. Kurt Bartsch u. Verena Holler. Graz 2004. S. 59–78. Visser, Anthonya: „Wieso hast du das so erzählt?“ Trügerische Identitäten in Die Vertreibung aus der Hölle. In: Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Hrsg. v. Eva Schörkhuber. Wien 2007. S. 110–133.

Ruth Zeifert

Wir Juden, die Juden – ich Jude? Das Jüdische aus der jüdisch/nichtjüdischen Doppelperspektive von ‚Vaterjuden‘ Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder konvertiert ist. So sagt es die Halacha, das religiöse jüdische Gesetz. Menschen mit lediglich einem jüdischen Vater sind demnach keine Juden. Diese Definition entspricht vielfach weder dem Selbstnoch dem Fremdbild von Menschen patrilinear jüdischer Herkunft.1 In diesem Artikel wird vorgestellt, warum und wie Menschen patrilinear jüdischer Herkunft zu berücksichtigen sind, wenn es um jüdische Identität in Deutschland nach der Shoah geht und was sie als ‚das Jüdische‘ erleben, sehen und verstehen. ‚Das Jüdische‘ verstehe ich dabei zunächst einmal als weiter gefasst als das ‚Judentum‘, was häufig religiöse und geschichtliche Aspekte in den Fokus rückt.

Warum Patrilineare berücksichtigen? Betrachtet man, dass in Deutschland aktuell ca. die Hälfte der Kinder, die einen jüdischen Vater haben, nicht von einer jüdischen Mutter geboren sind, so scheint dies zunächst eine quantitativ drastische Aussage zu sein. Dass dies tatsächlich aber eine geringe Größe ist, zeigt die Gesamtzahl der Lebendgeborenen, hier am Beispiel 2004, mit zumindest einem jüdischen Elternteil von insgesamt 606 Kindern.2 Lediglich 195 ‚Vaterjuden‘ sind darunter, bei welchen wiederum heute noch unklar ist, wie viele davon sich als jüdisch bzw. nichtjüdisch identifizieren werden. Woher also die Relevanz? Zunächst einmal stellen Patrilineare nach obiger Statistik aktuell ca. ein Drittel aller in Deutschland Geborenen mit direkter jüdi-

1 Im Folgenden Patrilineare oder ‚Vaterjuden‘ genannt. 2 Vgl. die Tabelle 2.18 in der Fachserie des Statistischen Bundesamts 1/Reihe 1.1 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Natürliche Bevölkerungsbewegung 2004 am 23. 1. 2008 veröffentlicht. Zu berücksichtigen ist bei den Angaben des Statistischen Bundesamts, dass es sich um freiwillige Angaben zur Religionszugehörigkeit handelt. Die Statistik erfasst folglich all jene Juden nicht, die ihre Religionszugehörigkeit bei der Geburt ihres jüdischen oder nichtjüdischen Kindes nicht erfasst haben möchten.

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scher Herkunft im Sinne zumindest eines jüdischen Elternteils. Ein quantitativ relevanter Faktor sind darüber hinaus die jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Bei gut 200 000 Kontingentflüchtlingen, die zwischen 1990 und 2003 nach Deutschland eingewandert sind, ist in den Gemeinden lediglich ein Zuwachs von ca. 70  000 Mitgliedern verzeichnet worden.3 Zahlreiche derer, die keine Gemeindemitglieder wurden, sind patrilinear jüdischer Herkunft. Nach nunmehr zwei Jahrzehnten, in denen diese Personen jüdischer Herkunft von den Gemeinden gemäß der Halacha ignoriert wurden, reagierte kürzlich (sogar) die Orthodoxe Rabbinerkonferenz mit dem Angebot eines erleichterten Übertritts.4 Auch wissenschaftliche Arbeiten, wie die von Heinrich Olmer und Meron Mendel, nehmen Patrilineare in ihre Überlegungen auf.5 Sie sprechen sich für die Notwendigkeit aus, bei der Handhabung der halachischen Regeln in der Gemeindepraxis neue Wege für ‚Vaterjuden‘ anzudenken.

Datengrundlage und Auswertung Grundlage dieses Artikels sind 14 biografisch-narrative Interviews sowie über 30 Gespräche, die ich im Rahmen meiner Dissertation in den Jahren 2007 bis 2011 geführt habe. Die Erhebungen und deren Auswertungen sind weniger repräsentativ, als vielmehr qualitative, erste Hypothesen über Patrilineare aufstellend. Spreche ich über ‚Patrilineare‘, bezieht sich dies zumeist auf die Interview- und Gesprächspartner/-innen dieser Untersuchung. Die Interviewpartner/-innen waren Patrilineare (a) aller erwachsenen Generationen seit dem Nationalsozialismus,6 die (b) einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische deutsche Mutter haben und (c) sich überwiegend jüdisch fühlen, zumindest „irgendwie“ (Frau Elsa7). Patrilineare also, die nicht mit den Her-

3 Vgl.: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Jüdische Zuwanderer in Deutschland 2005. http://www.bamf.de/cln_118/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp3juedische-zuwanderer.html (20. 9. 2011). 4 Vgl.: Beribes, Alexander: Jude ist, wer ... http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/8988/highlight/wer&jude (20. 9. 2011). 5 Olmer, Heinrich C.: Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft. Würzburg 2010; Mendel, Meron: Jungsein – Judesein – Dasein? Perspektiven für jüdische Jugendarbeit in einer heterogenen Gemeinschaft. In: Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden. Hrsg. v. Michal Y. Bodemann u. Micha Brumlik. Göttingen 2010. S. 264–270. 6 Der älteste Interviewpartner wurde 1922, die jüngste Interviewpartnerin 1984 geboren. 7 Die Pseudonyme wählten die Interviewpartner/-innen in der Regel selbst. Siezten wir uns



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ausforderungen eines direkten Migrationshintergrunds, wie Ortswechsel oder Sprachneuerwerb befasst, dafür aber Teil der spezifisch deutschen Geschichte sind. Um ‚das Jüdische‘ aus Sicht der ‚Vaterjuden‘ zu beschreiben und zu analysieren, wurden die Interviews auf eben diese Frage hin exzerpiert.8 Die exzerpierten Aussagen wurden gemäß dem Vorgehen der Grounded Theory mit Schlagworten versehen, die den Inhalt der jeweiligen Aussage abstrakter fassen. Die so gewonnenen Schlagworte wurden schließlich sortiert und zu thematischen Einheiten zusammengefasst.9 Daraus ergaben sich sowohl die folgende Darstellung nach Perspektiven als auch deren Beschreibungen.10

Das Jüdische aus einer Innen-, Außen- und Eigenperspektive Dass Patrilineare eine relevante Größe der Menschen jüdischer Herkunft in Deutschland darstellen, ist mittlerweile unübersehbar. Ihre Lebenswirklichkeit verweist darüber hinaus in verschiedenen Zusammenhängen auf eine – zumindest in Teilen – vorhandene jüdische Identität. Gleichzeitig werden sie durch sich selbst und andere Juden und Nichtjuden häufig als eindeutig nicht zugehörig klassifiziert. Begründung hierfür ist vornehmlich die Halacha. Über die Innenund Außensicht auf das Jüdische hinaus gibt es bei ‚Vaterjuden‘ den spezifischen Blickwinkel, ‚zwischen den Stühlen‘ zu sitzen, weder ‚Fisch noch Fleisch‘ zu sein. Wir Juden, die Juden – ich Jude? beschreibt das Jüdische aus jüdischer, nichtjüdischer und teiljüdischer Sicht.

während des Interviews, ergänze ich die Anrede Herr/Frau. 8 Ernst, Wiebke/Jetzkowitz, Jens/König, Matthias: Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen. München 2002. 9 Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim 1996. 10 Durch dieses Vorgehen fallen Aspekte, die nicht erwähnt wurden, aber dennoch von Interesse sein können, aus der Analyse heraus. So wurde ich von Lesern dieses Manuskripts mehrfach nach der Rolle der Mutter gefragt. Da diese im vorliegenden Exzerpt nicht erwähnt wurde, findet z. B. dieser Aspekt auch keine Erwähnung in den Beschreibungen der Perspektiven.

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Wir Juden Als der Gruppe der Juden zugehörig verstehen und erleben sich Patrilineare, wenn überhaupt, immer auch über den jüdischen Vater. Den Vater und seine Familie beschreiben dabei sogar jene, die erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben von ihrem jüdischen Hintergrund erfahren oder getrennt lebende Eltern haben, als relevant für ihr Selbstverständnis. Vor dem selbstständigen Leben11 haben Patrilineare in der Regel wenige jüdische Bezugs- und Identifikationspersonen unabhängig vom Vater, der Familie und dem familiären Umfeld. Über jüdische Bezugspersonen dieser Lebensphase außerhalb des familiären Umfeldes berichten lediglich zwei Patrilineare. Im Gegensatz zum Zugehörigkeitsgefühl innerhalb des familiären Umfeldes zeigt sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit jüdischen Personen außerhalb dieses Umfeldes über das Gefühl, gemeinsam nicht der Mehrheitsgesellschaft zuzugehören. Frau BL berichtet beispielsweise von einem Besuch in einer Gedenkstätte, bei dem sie und Klassenkameradinnen und -kameraden ähnlichen Hintergrundes eine andere emotionale Betroffenheit ob des Ortes spürten als solche ohne jüdischen Hintergrund. Im Erwachsenenalter schaffen sich nur wenige Patrilineare ein eigenes jüdisches Umfeld. Falls sie dennoch eines aufbauen, erfolgt der Zugang häufig über Gruppen, wie der jüdischen Gemeinde und Kursen zu jüdischen Zusammenhängen, wie beispielsweise israelischen Tänzen. Zu diesem Zeitpunkt haben Patrilineare bereits ihr grundlegendes Verständnis davon, was (für sie) jüdisch ist. Ihre Zugehörigkeit hingegen müssen sie im Erwachsenenalter, wenn überhaupt, neu und selbst definieren. Beruflich wählten mehrere Patrilineare einen jüdischen oder israelischen Fokus. Häufig allerdings in einem Zusammenhang, in dem die Kolleginnen oder Kollegen keine Juden sind, Patrilineare also bereits aufgrund ihrer teiljüdischen Herkunft quasi eher dem Jüdischen zugehören, als das nichtjüdische berufliche Umfeld. Suchen Patrilineare die Nähe zu einer jüdischen Gemeinde, können sie sich informell zwar bereitwillig aufgenommen fühlen, formell aber mit ihrem nichtjüdischen Status konfrontiert sehen. Avshalom: Ja, es ist eine Zwittersituation. [...] das heißt, ich bin kein Vollmitglied in der jüdischen Gemeinde. Um Vollmitglied zu sein, müsste ich [...] den Übertritt gemacht haben [...]. Ich

11 Manche Interviewpartner/-innen zogen bereits mit 15 Jahren aus dem Elternhaus aus, weshalb hier nicht die Formulierung Erwachsenenalter verwendet wird.



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bin so assoziiert, sagen wir’s mal so, und werde natürlich nicht zur Torah aufgerufen oder das alles natürlich nicht, ich trage nicht öffentlich den Tallit12. Es gibt also viele Dinge, die ich nicht tue, aber trotzdem bin ich Mitglied in der jüdischen Gemeinde. Und es ist auch mein religiöses Zuhause.

Hier ist zwischen dem Gefühl der Zugehörigkeit und der formellen Zugehörigkeit zu unterscheiden. Das Paradox, das für Patrilineare auftreten kann, suchen manche beispielsweise in (absichtlich oder zufällig stattfindenden) Gesprächen mit Rabbiner/-innen für sich zu lösen. Avshalom: Ich hab dann [...] einem Rabbiner […] meine Lebensgeschichte erzählt. [...] und am Schluss fragte er mich: „Und was möchtest Du? Was soll ich jetzt tun, nachdem du deine Geschichte erzählt hast?“ Und ich sagte dann zu ihm: „Ich möchte nur wissen, wie sich das anhört.“ Ich hatte wieder das Gefühl, nicht normal zu sein. Irgendetwas lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Nicht immer und immer noch nicht und wieder muss ich es erzählen und wieder muss ich einen Weg finden. Und dann sagte er […], ich war dann damals sehr überrascht, als er sagte: „Es hört sich gut an, es hört sich SEHR gut an, es ist […], es ist eine alte Stimme, die in Ihnen ruft.“ [...] Wir hatten dann noch ein langes Gespräch und [...] er sagte dann „Sie werden es nie genau wissen. Sie werden sich entscheiden müssen, des Erbe anzutreten oder nicht.“ [Und dann:] [...] ich sei nicht der Einzige, der zu ihm mit solchen Geschichten kommt, es sei eine sehr typische Geschichte für, für Juden aus Europa. Und er gab mir dann seinen Segen mit auf den Weg. Damit fand dann so eine lange Reise ihr ..., für mich ihr ..., wie sagt man da? Ihr Ende ist vielleicht das falsche Wort, aber ich kam zur Ruhe.

Sowohl über die Gemeinde als auch im Gespräch mit dem Rabbiner gibt es bei Avshalom einen religiös jüdischen Bezugspunkt. In diesem Zusammenhang formulieren Patrilineare besonders häufig, sich formell nicht zugehörig zu fühlen und/oder es nicht zu sein, obwohl sie sich oft emotional zugehörig fühlen und auch Akzeptanz seitens der jüdischen Gemeindemitglieder und des Rabbiners erfahren. In Kursen mit jüdischem Bezug hingegen sind überwiegend Kursteilnehmer/innen ohne jüdischen Hintergrund. Patrilineare besuchen diese gelegentlich, um ihr Wissen zu vertiefen, z. B. in der hebräischen Sprache, oder die Nähe zu dem herzustellen, was zu Hause gelebt wurde. Tanzte der Vater im Elternhaus „chassidisch“ (Rebecca), kann auch bei dem/der Patrilinearen später Interesse bestehen, etwas Ähnliches zu tun. Nichtjüdische Kursteilnehmer/-innen begegnen ihnen dabei häufig. Deren Motivation wird als anders als die jeweilige eigene wahrgenommen. Treffen Patrilineare in solchen Zusammenhängen wiederum auf Juden, nehmen die Patrilinearen i. d. R. sensibel wahr, wenn sie von diesen

12 Der Tallit ist der jüdische Gebetsmantel bzw. -schal.

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auf ihren Status hingewiesen werden. Im Umfeld der Kurse findet keine/r der Interviewpartner/-innen eine jüdische Bezugsperson und es entsteht in der Regel kein Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer jüdischen Gruppe. Die frühesten jüdischen Bezugspersonen wirken sich bereits grundlegend darauf aus, ob Patrilineare sich dem ‚Kollektiv der Juden‘ zugehörig fühlen. Spätere Zusammenhänge bauen auf dieser Erfahrung und dem daraus resultierenden Selbstverständnis auf und kommen in der Regel durch Eigeninitiative zustande. Auch nichtjüdische Personen prägen das Zugehörigkeitsgefühl Patrilinearer zum ‚Kollektiv der Juden‘. Schaffen sich Patrilineare im Erwachsenenalter ein jüdisches Umfeld, liegt der Fokus meist auf dem Aspekt des Jüdischen, den sie in ihren Früherfahrungen erlebt haben. Mit dem ‚Kollektiv der Juden‘ verbunden zeigen sich Patrilineare auch über die Beschreibung von Gegenständen und Geschichten des jüdischen Vaters. Diese werden von Patrilinearen teilweise emotional belegt, so dass sie beispielsweise romantisiert in die eigenen Erinnerungen eingehen. Frau BL erwähnt eine Fotografie: Es hing neben dem Schreibtisch meines Vaters eine Fotografie, die mir große Angst machte als kleines Mädchen. Dieses Foto zeigte einen Mann, mit einem für mich damals sehr beängstigendem Helm. Viel später habe ich erfahren, dass das eine Fliegermütze war [...], dass das der Bruder meines Vaters war, der [...] als Flieger der britischen Armee bei einem Übungsflug abgestürzt ist.

Die Fotografie wird Teil einer erinnerten Familiengeschichte. In diesem Fall einer Familiengeschichte, die mit dem Nationalsozialismus in Verbindung steht, was bei der Generation, die während des Nationalsozialismus lebte, und den nachfolgenden Generationen häufig der Fall ist. Der Bruder des Vaters war, so kann es verstanden werden, in der britischen Armee; wahrscheinlich um das nationalsozialistische Deutschland zu bekämpfen. Eine Geschichte, die nicht allzu viele Personen in Frau BLs Umfeld teilen dürften. Hier wird eine Differenz zu nichtjüdischen Deutschen deutlich. Darüber hinaus ist es eine Geschichte, welche durch die ständige Präsenz der Fotografie nicht offensichtlich verheimlicht wurde, und dennoch dem kleinen Mädchen nicht offen stand. Frau BL erinnert sich an ihre jüdische Familiengeschichte folglich als eine geheimnisumwobene und auch eine, die sie von ihrem Umfeld unterscheidet. In der Erinnerung an ihre Verbindung zum Judentum erhält diese Geschichte einen wichtigen Stellenwert. Gegenstände religiöser und kultureller Art bleiben ebenfalls häufig in Erinnerung. Agnes:



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Mein Vater, der hatte so einen Schrank mit Glastüren […] und dabei lag so eine in Silber eingefasste Torah, nicht Torah, aber Altes Testament, zwei, vielleicht auch noch irgendwie, ein oder zwei silbern geschmückte Sachen. Das fand ich natürlich total interessant. Es war wahrscheinlich das Früheste, wo ich nachgefragt habe, was das ist.

Auch Agnes erinnert sich an Gegenstände, die deutlich präsent, aber geheimnisumwoben waren. Sie haben für den Alltag des Vaters und der Familie keine Bedeutung, außer stets präsent und hervorgehoben sichtbar zu sein. Es entsteht eine an das Elternhaus erinnernde Beziehung zu den Geschichten und Gegenständen. Geschichten und jüdische Gegenstände also, die eine tiefere zeitliche und intensivere persönliche Verwurzlung mit dem Judentum belegen. Bereits durch die geringe Anzahl an Juden in Deutschland ist Judesein vielerorts außergewöhnlich. Juden können daher für Einzelpersonen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft auf exemplarische Weise Juden darstellen. Auch Patrilineare beschreiben häufig, ihren Vater in dieser Rolle wahrgenommen zu haben. Rebecca beispielsweise hebt hervor, dass ihr Vater „der einzige Jude im Ort“ gewesen sei: „Vater war sozusagen so bekannt, wie ein bunter Hund in dem Ort.“ Jude zu sein wird zu einem Herausstellungsmerkmal. Jüdische Väter können sich aufgrund der Fremdzuschreibung veranlasst sehen, sich in bzw. zu der ihnen zugewiesenen Rolle zu verhalten, beispielsweise indem der eine auf Festen stets jüdische Witze erzählt oder ein anderer immer wieder in Gespräche über Nahostpolitik verwickelt und zu Stellungnahmen aufgefordert wird. Als Jude bekannt zu sein, kann so dazu führen, sich selbst als solcher wahrzunehmen bzw. sich so zu verhalten. Im Außen wiederum setzt ein einzelner Jude möglicherweise Standards für das, was in seinem Umfeld als jüdisch gilt. Aufgrund der Nähe zu ‚dem Juden‘, der stellvertretend für Juden allgemein steht, können somit einzelne Juden Standards für das setzen, was das Umfeld des Vaters als für alle Juden geltend jüdisch wahrnimmt. Der Vater ist mit seinen Sichtweisen, seinen Handlungen und in dem, wie andere ihn sehen, häufig ein Prototyp für das, was Patrilineare als jüdisch ansehen und auch häufig die Vergleichsperson mit jenen und jenem, was ihnen an Jüdischem begegnet. Die Lebensweisheiten des Vaters sind für den Patrilinearen auch meist ein wenig die Lebensweisheiten eines Juden. Die Aussage einer Gesprächspartnerin, der Vater habe eine Neupositionierung der Familie nach ihrer Familiengründung ausgedrückt, „Jetzt hast Du eine eigene Familie“, wird dabei beispielsweise als die Tradierung einer (nicht unbedingt niedergeschriebenen) jüdischen Weisheit erzählt. Als Kinder identifizieren sich Patrilineare wiederum mit ihren Vätern, weshalb Patrilineare sich ein Stück weit als jüdisch wahrnehmen können. Z. B. über die gleichen „traurigen Augen“, wie sie der Vater hatte, oder seinen Humor. Hier gibt

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es ebenfalls obige Wechselwirkungen. Die „traurigen Augen“ (Verlust) oder der jüdische Humor sind Persönlichkeitsmerkmale des Vaters, welche bekannten Klischees des Jüdischen oder aber logischen Auswirkungen des Schicksals der Juden und der Migration entsprechen. (Siehe zum jüdischen Humor den Artikel von Lea Wohl von Haselberg, „Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt.“ Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen, S. 77–92 in diesem Band.) So werden sowohl Persönlichkeitsmerkmale des Vaters zu Verallgemeinerungen dessen, wie Juden sind, wie aber auch andersherum der jüdische Vater über bekannte oder logische Zuschreibungen auf Persönlichkeitsmerkmale dessen festgelegt, was bekanntermaßen jüdisch ist. Durch die Nähe zum Vater können Patrilineare Eigenschaften, die an ihm als jüdisch identifiziert werden, an sich selbst wiederfinden. Die Ähnlichkeit der Eigenschaften wiederum kann dazu führen, dass andere oder sie selbst sich als Träger jüdischer Eigenschaften erkennen. Wie oben beschrieben, ist der Vater für Patrilineare immer wichtig in der Frage nach dem eigenen Jüdischsein. In der Regel sagen Patrilineare, dass ihre Väter wenig religiös sind, aber dennoch einen Weg hatten oder haben, ihr Judentum zu leben, z. B. über Aktivitäten (jüdische Gemeinden), aber auch Persönlichkeitsmerkmale (Belesenheit), religiöse Gegenstände (Mesusa) oder aber über das Verhalten aufgrund der Erwartungen der Außenwelt – weil man weiß, dass man nicht nur als Person erscheint, sondern auch als der Jude, als der man Erwartungen zu erfüllen hat. Es sind Handlungen und die zugrunde liegenden Motivationen, die Patrilineare hier oftmals als praktiziertes Jüdischsein präsentieren. Das Judesein des Vaters zeigt sich darüber hinaus in Aspekten der Involviertheit trotz nichteigener Handlungen. Der Vater wurde als Jude geboren, was Konsequenzen für sein Leben hat. Auch wenn er selbst sagt, nicht religiös zu sein oder Kritik am Judentum übt, so wurde er doch als Jude geboren und bleibt dies unwiderruflich. Die erste unbeeinflusste Konsequenz der jüdischen Geburt ist beim Mann in der Regel die Beschneidung. Dieser körperliche Eingriff ist ein Leben lang sichtbar und Anzeige der jüdischen Zugehörigkeit. Eine weitere Konsequenz zeigt sich beispielsweise in gemischten Partnerschaften bezüglich eines gemeinsamen Lebensendes. Rebecca: Wenn meine Eltern gemeinsam überlegen, wo sie begraben werden wollen, wird’s schon’n Problem. Wenn sie bei der jüdischen Gemeinde anrufen und die sagen „Naja, also“, mein Vater kann, kann auf’m jüdischen Friedhof begraben werden, aber meine Mutter dürfte nur mit den Füßen, zu seinen Füßen liegen. Also Füße an Füße; die dürften niemals nebeneinander liegen.

Rebecca beschreibt diese religiöse Implikation als Problem für die Eltern und sich selbst. Neben dieser innerjüdisch religiösen Einbezogenheit benennt Herr Falkus



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die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Er führt den Holocaust als einen Involviertheitsaspekt an, der keiner eigenen Handlung von Juden bedurfte. Da sein Vater gebürtiger Jude war, wurde diese Zeit, so Herr Falkus, zum „Schicksal“ seiner Familie. Der Vater ist somit immer bzw. immer wieder mit seinem Judesein konfrontiert, ohne eigene Handlungen auszuüben. Trotz der zahlreichen, nicht ausschließlich positiven Implikationen, die das ‚Judesein‘ mit sich bringt, formuliert offenbar kein Vater den Wunsch, nicht als Jude geboren worden zu sein, obwohl durchaus Väter zum Christentum konvertierten oder als nichtgläubige Menschen bzw. Agnostiker bezeichnet werden. ‚Judesein‘, so könnte man sagen, ‚passiert einem‘. ‚Judesein‘ ist so beschrieben etwas, das ein Mensch durch Geburt wird. ‚Jüdischsein‘ sind demgegenüber aktive Handlungen und Eigenschaften, die Menschen jüdischer Herkunft über Tradierung erlernt haben. Dieser Interpretation zufolge können Patrilineare aus ihrer Sicht zwar jüdisch, aber nicht Jude sein. Beschreiben Patrilineare Juden aus der Innensicht, sprechen sie meist über die Vermittlung des Jüdischen und die Verbindungen zu Juden und Jüdischem. Dabei sind jüdische Gegenstände und Geschichten der Familien ein Beleg für die Tiefe und Wahrhaftigkeit ihres jüdischen Hintergrunds. Jüdische Bezugspersonen bis zum selbstständigen Leben befestigen diesen unwiderruflichen Bezug ebenfalls. Für Patrilineare ist der Vater ein wichtiger, häufig auch der wichtigste Bezugspunkt der Beschreibung dessen, was Judesein und Jüdisches ist. Die Person des Juden ist dabei zentral in den Beschreibungen, nicht die Gegenstände, Rituale oder beispielsweise Gesetze. So werden häufig Eigenschaften beschrieben, die einerseits ein Abgleich mit Klischees sind, andererseits Persönlichkeitsmerkmale eines Juden zum stereotyp Jüdischen stilisieren können. ‚Wir Juden‘ ist die Zugehörigkeit über die Vergangenheit und den Vater. ‚Wir Juden‘ ist der Bericht, mit einem Juden gelebt zu haben, wie auch der Vergleich eigener Eigenschaften mit denen des Juden – und ihren Klischees.

Die Juden Wenn Patrilineare darüber berichten, dass ‚echte‘ Juden, der Vater beispielsweise, über Juden sprechen, so beinhaltet dies meist eine Kritik und/oder eine Legitimierung von Kritik. Rebecca beschreibt, wie oben erwähnt, dass ihre Eltern aufgrund eines nichtjüdischen Partners nicht nebeneinander auf dem jüdischen

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Friedhof beerdigt werden dürfen. Ein Ärgernis und Problem für den Vater. Und Hannah berichtet über ihren Versuch, Gemeindemitglied zu werden. Hannah: Ich dacht eben in meiner Blauäugigkeit, ich geh jetzt in die Gemeinde und nehme ein bisschen Hebräischunterricht und versuche ein bisschen religiöses Wissen mir anzueignen. Dann haben die mir gesagt, das kann man eben nur als Gemeindemitglied. Dann hab ich gesagt: „Ja, dann werde ich halt jetzt Gemeindemitglied.“ War für mich jetzt nicht so ein Problem. Ja, und danach bekam ich also so einen fünfseitigen Fragebogen in die Hand gedrückt, wo ich also irgendwie bis [...] in die vierte Generation […] [die] Jüdischkeit meiner Eltern, Vorfahren, Vorvorfahren belegen sollte. […]. Ja, und dann hab ich eben angefangen, zu Hause auch nachzufragen. Mein Vater ist extrem aufgeregt über die ganze Sache [gewesen], [er] meinte, es sei ja wie bei den Nazis, das wär ja wohl noch schöner […].

Beides sind Kritikpunkte von Juden an Juden, die im Zusammenhang mit dem jüdischen Gesetz auftreten. Das jeweilige Gesetz verunmöglicht in beiden Fällen die Teilnahme an jüdisch organisiertem Leben (bzw. Sterben) und widerspricht dabei dem Selbstverständnis. Einem Selbstverständnis offensichtlich, das zwar jüdisch, aber liberal bzw. säkular seitens der Betroffenen verstanden wird und in diesem Sinne gelebt werden will. Die Kritik der Patrilinearen wird in diesen Fällen legitimiert, indem sie von einem ‚echten Juden‘ geäußert wird. Hannah unterstreicht ihren Unmut über dieses Erlebnis durch die Reaktion ihres Vaters. Neben der religiösen Gesetzgebung bezüglich Patrilinearer wird auch die israelische Gesetzgebung allgemein thematisiert. Die Sicherheit Israels wird häufig als Rechtfertigung für die Ablehnung von Kritik durch nichtjüdische Deutsche an israelischer Politik angeführt. Aber es wird auch Kritik an Israel geäußert. Herr Falkus merkt beispielsweise an, dass auch in Israel nicht akzeptable Extreme auftreten können. Sein Beispiel hierfür ist, dass auch in manchen Talmudschulen – vom israelischen Gesetz toleriert – „Intoleranz mit Hass gepredigt [wird]“. Kritik, Verständnis und Lob werden dabei sowohl von Kindern israelischer als auch nichtisraelischer Väter geäußert. Israelisches Gesetz und jüdische Halacha liegen in diesen Erwähnungen häufig nah beieinander. Sprechen Patrilineare in obigen Bezügen von diesen Gesetzen, ist deutlich, dass sie und die von ihnen beschriebenen Juden nicht zur ,Ingroup‘ derer gehören, die die Gesetze machen bzw. die sich nach ihnen richten können oder richten. Bei der Außensicht auf ‚die Juden‘ spielen darüber hinaus häufig Gefühle eine maßgebliche und oftmals unterschwellige Rolle. Es wird von Neid und Sehnsucht gegenüber Juden gesprochen, weil diese „richtige“ Juden sind. Rebecca: Als ich dann ins Gymnasium kam, nach [Name der Stadt] hier, da hatten wir ’ne richtige Jüdin in der Klasse, da war ich immer en bisschen neidisch, ich fand die immer blöd [lacht]. Ich dachte immer „Wieso ist die richtige Jüdin?“



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Oft wird die gefühlte Enttäuschung verbalisiert. ‚Richtige‘ Jüdin zu sein wird zum Unterscheidungsmerkmal. Rebecca sah sich folglich wahrscheinlich zwar als Jüdin, aber nicht als ‚richtige‘ Jüdin. Neben der Feststellung, dass „er [...] jüdisch [ist] und ich bin es nicht“ (Agnes) wird häufig ein Vergleich angestellt, wie jüdisch der ‚richtige‘ Jude ist. Das Gegenüber war Jude „obwohl ich in der Synagoge war und er irgendwie die ganze Zeit Drogen geschluckt hat“ (Agnes). Auch hier wird die Relevanz der formalen Zugehörigkeit für Patrilineare deutlich. Der fehlende formale Status ist, was Patrilinearen häufig emotional aufstößt. Über den Vergleich jüdischer Eigenschaften und Handlungen kann schließlich versucht werden, Gefühle wie Neid und Enttäuschung zu relativieren. Dabei zeigt sich, dass, je stärker die Selbstwahrnehmung als Jude ist, umso stärker wird die Wertung, nicht zugehörig zu sein, als Ablehnung empfunden. Positiv wahrgenommen werden Juden, wenn sie die Position des Gelehrten und Ratgebers einnehmen. Patrilineare machen dies häufig auch an ihren Vätern fest. Diese studierten beispielsweise die Torah, wie Rebeccas Vater, der immer „eine alte hebräische Bibel […] gelesen [hat]“, sind „bewusste“ (Frau Elsa) oder „hochintelligente“ Männer (Frau Café). Das religiöse Judentum ist dabei lediglich das Grundwissen, über das jüdische Personen verfügen. Über das bloße religiöse und traditionelle Wissen hinaus bedarf es persönlicher Eigenschaften, wie der Fähigkeit zu analysieren oder jüdische Rituale in irgendeiner Form gelebt zu haben. Schließlich mündet das Konsultieren des Juden hier in einen Rat, welcher Analyse, Frage oder Lebensweisheit beinhalten kann. Den so beschriebenen Juden begegnen Patrilineare i. d. R. persönlich. Es sind in den Interviews ausschließlich Männer und Einzelpersonen als jüdische Gelehrte bzw. Ratgeber erwähnt, wie im obigen Zitat von Avshalom, in dem er von dem Rabbiner spricht. Patrilineare nehmen immer auch eine deutliche Außensicht auf ‚die Juden‘ ein. Es ist auffällig, dass dennoch wenige konkrete Aspekte in dieser Perspektive formuliert werden, sondern diese eher implizit eingenommen wird. ‚Die Juden‘ können durch Patrilineare so konstruiert werden, dass es für sie nicht erstrebenswert ist, Teil dieser Gruppe zu sein. In dieser Sicht erschweren ‚die Juden‘ beispielsweise durch Gesetze das Leben von Juden und Patrilinearen. Wenn die Kritik von jüdischen Bezugspersonen ausgesprochen oder bestätigt wird, kann die eigene formelle Zugehörigkeit als weniger erstrebenswert bewertet werden. Gleichzeitig bleibt über die Abgrenzung zum Gros eine positive Bewertung des Jüdischen und jüdischer Personen möglich. ‚Die Juden‘ sind aber auch schlicht, was man selbst nicht ist und werden kann. Es geht um die formelle Zugehörigkeit, Jude zu sein, ohne den aktiven Weg des Konvertierens gehen zu müssen. Judesein wird in dieser Fremdsicht unerreichbar, weil Judesein durch Geburt festgelegt ist. Beide Aspekte sprechen aus einer Involviertheit heraus. Sie bieten Erklärungs-

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ansätze, warum man zwar irgendwie Teil des ‚Kollektivs der Juden‘ ist, aber ‚die Juden‘ doch andere sind.

Ich Jude? Obwohl Patrilineare oft formulieren, sich „irgendwie sehr jüdisch [zu fühlen]“ (Frau Elsa), ist es ihnen dennoch häufig ein Problem, sich als jüdisch zu verstehen. Eine wichtige Verbindung Patrilinearer zum Jüdischen ist ihre jeweilige Familiengeschichte. Diese liegt aber in der Vergangenheit. Es fehle das lebendig Jüdische in ihren Leben, denn dieses ist mit ausschlaggebend für ein jüdisches Selbstverständnis. Judith: Ja, und dann war es halt irgendwann so, dass ich dachte: Es ist eigentlich ganz schade, dass ich [...] für mich mit Judentum in erster Linie [...] diese Verfolgungsgeschichte verbinde und [...] dieses Opfer-Sein meiner Großeltern […] und nichts Lebendiges.

Was das Lebendige ist, differiert. Oft wird beschrieben, dass das Judentum eine Religion sei und man selbst entweder zu wenig darüber wisse oder aber kein religiöser Mensch sei. Judith: […] aber es ist ja auch klar, wenn man nicht religiös ist und das bin ich eben nicht, was ja auch ausschließt, irgendwie zu konvertieren, wenn man wirklich nicht religiös ist, dann bleibt ja so viel anderes nicht.

Oder Hannah: [...] das gesamte Judentum [sind] für mich eben nur […] quasi gelebte Kindheitserinnerungen […] ohne wirklich großen Wissenshintergrund; [...] den tieferen Sinn, oder auch die Philosophie, die dahinter steht, die gesamten talmudschen Weisheiten und sowas, das kenn’ ich eben alles nicht so.

Es zeigt sich hier, dass von Patrilinearen meist das Gefühl einer Lücke beschrieben wird. Es fehlt oft etwas, um sich wirklich jüdisch zu fühlen, bzw. wirklich ‚lebendig‘ jüdisch zu sein. Judith beschreibt die fehlende Religiosität als Verunmöglichung eines legalisierten Judendaseins, Hannah hingegen führt fehlendes Wissen als Schlüssel dafür an, ein jüdisches Selbstverständnis selbstbewusst vertreten zu können. Die zu schließende Lücke ist dabei meist der Aspekt, der das Jüdische nach dem jeweiligen tradierten Verständnis ausmacht. So ist Hannahs Vater Gelehrter und Judiths Vater von Haus aus religiös erzogen und aufgewachsen.



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Diese von Patrilinearen beschriebenen Lücken implizieren die unausgesprochene Vermutung, es gäbe etwas Grundlegendes und Umfassendes, das Juden ausmache. Es führt darüber hinaus zu der Annahme, Juden könnten sich als – in gewisser Weise – vollwertig jüdisch wahrnehmen; im Gegensatz zum eingeschränkten „irgendwie sehr jüdisch fühle[n]“ (Frau Elsa) vieler Patrilinearer. Denn es wird nicht von Juden berichtet, die, analog zu der hier beschriebenen Erlebniswelt von Patrilinearen, ihr Jüdischsein aufgrund ihres fehlenden Wissens oder ihrer mangelnden Religiosität in Frage stellen. Vielmehr wird die Verbindung des Vaters mit seinem Judesein als eine tief verwurzelte wahrgenommen, gleich ob in jungen Jahren gelegt, wie bei Judiths Vater oder erst spät aufgenommen, wie bei Frau Elsa: Mein Vater stammte aus einer weitgehend assimilierten Familie und hatte selbst aus, wie ich annehme, unterschiedlichen Gründen eigentlich sehr wenig Bezug zu seinem Judentum. Das heißt, dieses Judentum war für ihn in ’nem gewissen Sinne inexistent. Das […] änderte sich eigentlich erst später […], weil er durch mich sozusagen zurückgeführt wurde, dorthin.

Eine Differenz zwischen ‚echten Juden‘, z.B. dem jüdischen Vater, und sich selbst kann wahrgenommen werden. Das grundlegend Jüdische, so könnte man es formulieren, ist bei Juden vorhanden, auch wenn der Bezug oder ein aktives Jüdischsein oft fehlt. Gegenüber nichtjüdischen Deutschen hingegen können sich Patrilineare aufgrund eines Mehr an Wissen als differierend und daher als mit der jüdischen Herkunft verbunden erleben. Judith: Die größte Differenz zu anderen nicht christlichen Kindern habe ich darin empfunden, dass ja ganz viele Leute immer so sagen […]: „Ich bin gar nicht christlich und ich bin auch nicht religiös, aber wir feiern natürlich schon mit Weihnachtsbaum und gehen in die Kirche.“ […] Da sind wir auf ’ne andere Art […] nicht-christlich, als andere Nicht-Christen. Ja [lacht] also weil’s bei uns diese Traditionen [Anmerkung R. Z: in die Kirche zu gehen] dann tatsächlich gar nicht gab.

Trotzdem wurde bei Judith auch Weihnachten gefeiert. In diesem Zusammenhang berichten Patrilineare häufiger, ein breiteres Wissen durch Kenntnisse und Erfahrungen beider Hintergründe zu haben. Um ihre Verbindung mit dem Jüdischen zu untermauern, werden von Patrilinearen häufig Übereinstimmungen mit äußerlichen Klischees angeführt. Ob als Zuschreibung der nichtjüdischen Verwandtschaft, man sehe aus wie eine „ganze Synagoge“ (Frau Elsa) oder wie im Fall von Rebecca, die sich als Kind freute, als sie Locken bekam. Rebecca resümiert gar: „Egal, ob Adlernase oder

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sonst was, also alle Klischees, ich hätte sie gerne bedient.“ Die Belegkraft der Klischees wird von allen Patrilinearen immer auch als nicht glaubwürdig dargestellt. Nonverbal zeigt sich dennoch in drei Interviews, wie zwei äußerliche Klischees des Jüdischen adaptiert wurden. So wurden Szenen in diesen Fällen in einer Art ‚jüdischem Singsang‘ ausgesprochen und eine gestenreiche Sprache verwendet. Beides wirkt authentisch und wenig übertrieben, entspricht aber deutlich Klischees des Jüdischen. Die Klischees, nicht allein die äußerlichen, so kann man sagen, wie oben ausgeführt, können Teil der Selbstwahrnehmung und/oder Selbstdarstellung sein. Diese tragen so in Teilen die empfundene jüdische Identität an die Oberfläche, ins Außen. Und stecken auch all diese Beschreibungen und Erklärungen in den Aussagen der Patrilinearen, eins bleibt nahezu allen Gesprächen gemein: Die Fragen und der Definitionswunsch nach dem, was jüdisch ist – obwohl die Definition dessen, wer Jude ist, religiös formell feststeht. Die Antwort aber auf die Frage, was jüdisch ist, könnte Aufschluss über die undeutliche Eigendefinition geben. Die Erklärung dessen, was jüdisch ist, würde somit für Patrilineare über die reine religiöse Formalie hinaus festlegen, wer es ist. Rebecca: Ich denke heute noch darüber nach, ist es nun eine Rasse oder ist es nun eine Religion? Und wirklich, eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Wenn es eine Rasse ist, könnte man mehr von meinen Eigenschaften darauf zurück führen, wenn man sagte, es ist nur eine Religion, […] kann man gar nichts darauf zurückführen. [...] ja, weiß ich nicht [lacht], ich komm immer wieder an den Punkt, wo ich sagen muss, eigentlich weiß ich’s nicht. Und so lang mir nicht jemand hundertprozent sagen kann, „das ist ein Volk, die Juden, das ist nicht nur ’ne Religion“, ja ... R. Z: Von wem würdest Du das annehmen, das er das sagt? Rebecca: Also akzeptieren, annehmen im Sinne von akzeptieren? R. Z: Hmhm. Rebecca: Nein, […], wahrscheinlich von niemandem, auch nicht vom Micha Brumlik oder […] [...] Reich-Ranicki [lacht].

Immer wieder wird beschrieben, was Patrilineare erfahren, aber nicht als Erklärung für die Verbindung mit und die Zugehörigkeit zum Judentum gelten lassen wollen oder können. Frau Elsa spricht davon, dass sich bei Menschen jüdischer Herkunft „individuelle und kulturelle Erfahrungen sozusagen genetisch verschlüsseln und wirken“, Rebecca hat „Blutsübertragung“ als Idee zwar ausgeschlossen, aber gleichzeitig doch verinnerlicht, und Avshalom spricht von dem „Erbe“, das er antreten möchte bzw. muss. Das Jüdische ist, so ist es allen gemeinsam, etwas, das über Belegbares und Rationalisierbares hinaus geht.



Wir Juden, die Juden – ich Jude? 

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Was ist es, das Jüdische und wer ist es, der Jude? Patrilineare, die sich jüdisch fühlen, haben, wie bereits dargelegt, ein facettenreiches Bild des Jüdischen. Zu identifizieren sind drei Beschreibungsschwerpunkte: Wissen, Charakter und Ausübung. Der am deutlichsten fassbare Beschreibungsschwerpunkt dessen, was das Jüdische ausmacht, ist das Wissen: Zu diesem Wissen gehört zuallererst die familiäre Tradierung. Die jüdische Kultur und Religion sind hierbei ebenfalls zentral. Es werden Rituale beschrieben, wie beispielsweise mehrfach Hochzeiten. Essen, das die jüdische Großmutter zubereitete, wird in Erinnerung gerufen oder selbst zubereitet, oder die Sprachen, Hebräisch, wie auch Jiddisch, mitgedacht, wenn erzählt wird, was Patrilineare als Jüdisches erlebt und gelernt haben oder gerne können würden. Wissen über Jüdisches ist bei den meisten Patrilinearen von klein auf vorhanden und lebenslang erweiterbar. Zudem wird immer wieder eine Art Charakter des Jüdischen beschrieben: Es sind die Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften, die teilweise mittels Klischees zu fassen versucht werden, deren Belegkraft aber sofort in Frage gestellt wird. Der Charakter ist, was über die Luft (Frau Elsa) oder das Blut (Rebecca) mutmaßlich übertragen wird, aber nicht greifbar ist. Der dritte Beschreibungsschwerpunkt ist die Frage der Ausübung, danach, welche Art Jude man ist: So gibt es beispielsweise die orthodoxen Juden, mit denen sich Patrilineare dieser Untersuchung durchweg nicht identifizieren. Die Lebenswirklichkeit Patrilinearer entspricht vielmehr Juden, zu denen sie einen Bezug hatten, möglicherweise auch haben. Diese leben ein eigenes, individuelles Jude- und Jüdischsein. ‚Vaterjuden‘, die sich jüdisch fühlen, müssen heute bei Überlegungen bezüglich jüdischer Identität in Deutschland mitgedacht werden. Sie sind nicht nur eine quantitativ relevante Größe der ohnehin wenigen Menschen jüdischer Abstammung in Deutschland, sondern verfügen meist von Geburt an über erlebtes jüdisches Wissen. Darüber hinaus fühlen sie das, was hier als ‚jüdischer Charakter‘ bezeichnet wird. Einzig der Status und/oder der Weg der Legalisierung des eigenen Jüdischseins verwehren/verwehrt die eindeutig jüdische Selbstsicht und damit die lebendige Pflege des Jüdischen im Alltag der Patrilinearen. Die Weitergabe des erlebten Jüdischen endet in ihren Familien daher häufig mit ihnen. Das Jüdische ist für Patrilineare, die sich jüdisch fühlen, häufig die Sehnsucht nach einem größeren Zusammenhang, nach verbindlicher Zusammengehörigkeit aufgrund der existierenden jüdischen Wurzeln. Es ist der Blick auf die Zugehörigkeit zu der realen und biologischen Gruppe der Juden – auch über den Tod hinaus. Ob es dieses Zugehörigkeitsgefühl aber tatsächlich gibt, wenn man ‚richtiger Jude‘ ist, liegt außerhalb des Fokuses dieser Untersuchung. Dies kann aber bezweifelt werden und bietet einen Anknüpfungspunkt zu einigen Beiträgen dieses Sammelbandes.

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 Ruth Zeifert

Literatur Beribes, Alexander: Jude ist, wer ... http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/8988/highlight/wer&jude (20. 9. 2011). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Jüdische Zuwanderer in Deutschland 2005. http:// www.bamf.de/cln_118/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/ wp3-juedische-zuwanderer.html (20. 9. 2011). Ernst, Wiebke/Jetzkowitz, JensKönig, Matthias/ Schneider, Jörg: Wissenschaftliches Arbeiten für Soziologen. München 2002. Mendel, Meron: Jungsein – Judesein – Dasein? Perspektiven für jüdische Jugendarbeit in einer heterogenen Gemeinschaft. In: Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden. Hrsg. v. Michal Y. Bodemann u. Micha Brumlik. Göttingen 2010. S. 264–270. Olmer, Heinrich C.: Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft. Würzburg 2010. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim 1996.

Über die Autorinnen und Autoren Dr. Hannah Ahlheim, geb. 1978 in Frankfurt/M., Historikerin, zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen. Studium der Neueren/Neuesten Geschichte, Alten Geschichte und der Theaterwissenschaften/Kulturellen Kommunikation an der HumboldtUniversität zu Berlin. Promotion an der Ruhr-Universität Bochum 2008, Dissertation: ,Deutsche, kauft nicht bei Juden!‘ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935 (Göttingen 2011). Veröffentlichungen u. a. zur Rolle der Commerzbank bei der Enteignung der Juden in Deutschland und zur Schulgeschichte. Derzeit: Habilitationsprojekt zum Thema Schlaf und Ökonomie im ‚langen‘ 20. Jahrhundert. Alina Bothe, Historikerin M. A., geb. 1983 in Braunschweig. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Ost- und Südosteuropäischen Geschichte an der Freien Universität Berlin. Übersetzung des jiddischen Romans Grenadierstraße von Fischl Schneersohn. Derzeit Promotion an der Freien Universität Berlin zu Im virtuellen Zwischenraum der Erinnerung: Das Visual History Archive. Forschungsschwerpunkte in der Jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichte der Shoah, Digital History und der postmodernen Theorie. Prof. Dr. phil. Christina von Braun, Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin. Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Über fünfzig Filmdokumentationen, zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geistes- und Mentalitätsgeschichte. Sprecherin des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Vizepräsidentin des Goethe-Instituts. Zuletzt erschienen: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen (zus. m. Bettina Mathes), Berlin 2007; Stille Post. Eine andere Familiengeschichte, Berlin 2007. Mythen des Blutes, zus. m. Christoph Wulf (Hrsg.), Frankfurt/M 2007; Das Unbewusste: Krisis und Kapital der Wissenschaft, zus. m. Dorothea Dornhof u. Eva Johach (Hrsg.), Bielefeld 2009; Glauben, Wissen und Geschlecht in den drei Religionen des Buches, Wien 2009; Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2012. Dr. Susanne Düwell, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Literaturwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum im DFG-Forschungsprojekt Fall-Archive. Epistemische Funktion und textuelle Form von Fallgeschichtssammlungen in Fach- und Publikumszeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Publikationen zum Thema des Bandes (u.  a.): Gemeinsam mit Matthias Schmidt (Hrsg.): Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, Paderborn 2002; „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah, Bielefeld 2004 (Dissertation); (Un)sichtbarkeit in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur, in: Susanne Schoenborn (Hrsg.): Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945, München 2006. 214–231; „Das Politische hat jede Aussage angesteckt“ – Familienverhältnisse in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur. In: Brunner, José (Hrsg.): Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte XXXVI. Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Göttingen 2008. 215–235. PD Dr. Hildegard Frübis, Humboldt Universität zu Berlin, Studium der Kunstgeschichte und Ethnologie in Tübingen und Bologna, Promotion 1993 in Tübingen mit einer Arbeit über die Entdeckung Amerikas in den Bildprägungen des 16. Jahrhunderts (Berlin, Reimer 1995). Anschließend Assistentin an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Tübingen. 1996/97 Postdoktorandenstipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst,

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 Über die Autorinnen und Autoren

Kunsthistorisches Institut Frankfurt/M.; 1998 bis 2004 wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Seminar der Humboldt‑Universität zu Berlin; Habilitation Februar 2005 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Habilitationsschrift Die Illustrationen Max Liebermanns zu Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“. Bilder der Jüdischen Moderne im Kontext von Judenfrage und Kunstwissenschaft. Seit WS 2005/06 verschiedene Gast- und Vertretungsprofessuren (u. a. in Wien, Frankfurt/M. und Tübingen). Zurzeit Vertretung der Professur von Wolfgang Kemp am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Silke Hoklas hat Germanistik und Anglistik/Amerikanistik in Rostock studiert. Sie ist Stipendiatin des DFG-geförderten Graduiertenkollegs Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs der Universität Rostock und der Hochschule für Musik und Theater Rostock und arbeitet in ihrem Dissertationsprojekt zum frühen Film zu dem Bild des Mittelalters als frappierend anders wahrgenommenen Raum. Das Projekt untersucht die Konstruktionen des Mittelalters und dessen zugrunde liegende Archive, wobei vor allem eine enge Verknüpfung zwischen populären und wissenschaftlichen Diskursen der Entstehungszeit deutlich wird. Dr. Alexander Jungmann, geboren in Heidelberg, Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen. An der Universität Augsburg wurde er 2006 zum Thema heutiges jüdisches Leben in Berlin als aktueller Wandel einer metropolitanen Diasporagemeinschaft als qualitativ-empirische Grundlagenarbeit promoviert. Im Anschluss war er bis 2010 im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung (SFB 536) an der Ludwig-Maximimilians-Universität sowie am Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München beschäftigt. Gegenwärtig ist er an der Universität Augsburg an der Professur für Soziologie und Sozialkunde als Lecturer tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Kultur-, Stadt- und Migrationssoziologie. Weitere Themenfelder sind Vorurteilsforschung (insbesondere Anti-/Philosemitismus). Dr. Lena Kreppel hat Neuere deutsche Literatur, Politikwissenschaft, Publizistik und Kommunikationswissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache in Osnabrück, Nikosia und Berlin studiert. Im Jahre 2011 wurde sie an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation über Identitätskonstruktionen in autobiographischen und essayistischen Texten deutsch-jüdischer Emigranten in Israel promoviert. Während ihres Promotionsstudiums erhielt Lena Kreppel Stipendien des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Friedrich-Ebert-Stiftung, zudem war sie Gast am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themen Selbst- und Fremdbilder, Exil und Migration sowie Erinnerungskultur. Anna Michaelis, geboren 1982 in Düsseldorf, studierte die Fächer Neuere und Neueste Geschichte, Jüdische Studien und Soziologie in Düsseldorf. Im Jahr 2004 hielt sie sich sechs Monate in Santiago de Chile und La Serena auf, um dort ein Forschungsprojekt über die deutschjüdische Emigration nach Chile während der 1930er-Jahre durchzuführen. Ihre Magisterarbeit beschäftigte sich mit der Berichterstattung der deutsch-jüdischen Presse über osteuropäische Juden in der Weimarer Republik. Zurzeit ist sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als wissenschaftliche Angestellte und am Universitätssprachenzentrum als Lehrbeauftragte für Modernhebräisch tätig. Alexander Rasumny hat Vergleichende Literaturwissenschaft, Englische Philologie und Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen und an der University of Dublin/Trinity College



Über die Autorinnen und Autoren 

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studiert und mit einer Magisterarbeit zum Thema Geschichte und Identität im historischen Roman. Walter Scotts Waverley und Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle abgeschlossen. Seit April 2011 schreibt er an seiner Dissertation im Rahmen des Promotionsprogramms Ethik der Textkulturen an der Universität Augsburg zu dem Thema Von Poesie zu Literatur. Begriffsumbrüche des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus diskursanalytischer Sicht. Dr. Regina Schleicher ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Neuere Philologien der Goethe-Universität in Frankfurt/M. 2007 Promotion Romanische Philologie. Veröffentlichungen u. a.: Antisemitismus in der Karikatur. Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914). Frankfurt/M. 2009; Antisemitismus in der deutschen und französischen Karikatur 1871–1914. In: Fremde? Bilder von den „Anderen“ in Deutschland und Frankreich seit 1871. Katalog der gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 16. Oktober 2009 – 31. Januar 2010. S. 56–65; Spott auf einem schmalen Grat. In: Lappin, Eleonore/Nagel, Michael (Hrsg.): Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. Bremen 2008. Bd. 2. S. 41–56. Dr. des. Ulrike Schneider: Studium der Germanistik und Jüdischen Studien an der Universität Potsdam; 2005 Freie Mitarbeiterin der Stiftung Topographie des Terrors; 2005–2008 Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs Makom. Ort und Orte im Judentum (Universität Potsdam); seit 2010 Akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Funktionsstelle deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte; 2011–2012 Projektleitung des EU-Projektes Jewish Histories in Europe (Verein Zeitpfeil e.  V.) Mitherausgeberin des Bandes „Makom. Orte und Räume im Judentum“, Hildesheim 2007; „Ein Farbfilm von Gesichtern …“ Die ehrliche Kunst des einfachen Erzählens. Zur Poetologie Fred Wanders. In: Sprachkunst H.  41 (2010). S. 43–61; „Jean Améry 1912–1978 – Was bleibt dreißig Jahre nach seinem Tod?“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. H. 4 (2008). S. 369–375; „Die Erinnerungsfigur des Exodus als literarisches Mittel einer zeitgeschichtlichen jüdischen Geschichtsschreibung“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, H. 3 (2006). S. 243–262. Dr. Knut Martin Stünkel, Promotion mit einer Arbeit über Martin Heidegger (Formal anzeigendes Philosophieren. Heideggers Denken 1916–1976) an der Universität Bielefeld, Lehraufträge für Philosophie, Geschichte und Religionswissenschaft an den Universitäten Bielefeld und Bochum, z.  Z. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg für geisteswissenschaftliche Forschung (KHK) Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa in Bochum. Arbeitsgebiete Religionsphilosophie, Sprach- und Sozialphilosophie, Phänomenologie Jüdische Philosophie. Veröffentlichungen u.  a. über Nikolaus von Kues, Johann Georg Hamann, Eugen Rosenstock-Huessy, Franz Rosenzweig und Max Wiener. PD Dr. Andreas Stuhlmann, Wissenschaftlicher Koordinator des transdisziplinären Research Center und der Graduate School Media and Communication der Universität Hamburg. Habilitation zur politischen Verfasstheit von Medien und Literatur, Arbeitsgebiete: Intermedialität/ Konvergenz, Exilliteratur, deutsch-jüdische Literatur- und Kulturbeziehungen, Plagiat. Publikationen: „Die Literatur, das sind wir und unsere Feinde.“ Literarische Polemik bei Heine und Kraus. Würzburg 2010; „Tapferkeit vor dem Freund“ – Zu Korrespondenzen im Schreiben I. Bachmanns und H. Arendts. In: Literature–Text–„Bildung“: Essays in Honour of Beate Dreike. Oxford 2005. S.  103–112; „Dank! Dank! Dank! Dank! Dank! Else Lasker-Schüler an das Feuilleton der Vossischen Zeitung.“ In: Text. Kritische Beiträge 2012 (mit Mirko Nottscheid). S. 107–143.

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 Über die Autorinnen und Autoren

Juliane Sucker hat Neuere deutsche Literatur, Französisch und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Freiburg/Br., Paris-Sorbonne und Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Seit 2009 Dissertation an der HU‑Berlin zu Gabriele Tergit. Von 2009 bis 2012 war Juliane Sucker Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und erhielt zudem ein Forschungsstipendium des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, v. a. der Literatur der Weimarer Republik und des Exils sowie der deutsch-jüdischen Literatur. Lea Wohl von Haselberg, Studium der Film- und Medienwissenschaften, Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft und Psychologie in Frankfurt/M., Abschlussarbeit über Authentizität und (Un-)Darstellbarkeit in filmischen Holocaustdarstellungen. Seit 2009 Promotion an der Universität Hamburg zur Darstellung jüdischer Figuren in deutschen Spielfilmen nach 1945, außerdem Mitglied der Graduate School Media and Communication/Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte sind neben der filmischen Darstellung jüdischer Themen nach der Shoah, filmische Bilder und Stereotype von Jewishness sowie (hybride) Identitäten des Jüdischen. Lea Wohl von Haselberg ist Mitglied des Ismar-Elbogen-Netzwerkes für jüdische Kulturgeschichte e. V. und Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dr. Paula Wojcik, geb. in Wrocław (Polen), lebt seit 1988 in Deutschland. Studierte an der Universität Bremen Germanistik und Philosophie. Wurde an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit der Dissertation: Das Stereotyp als Metapher. Jüdische Stereotype in der Literatur promoviert. Arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung an der Friedrich-Schiller-Universität. Ruth Zeifert, Dipl. Soz., studierte in den Jahren 1993 bis 2000 an der Frankfurter Goethe-Universität. Sie arbeitete zwischen 2000 und 2007 als Projektmanagerin im Bereich Internetkonzeption. 2007 erhielt sie ein Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst e. V. Seitdem Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt/M. bei Lena Inowlocki und Micha Brumlik zu der Frage, was Menschen patrilinear jüdischer Herkunft mit dem Judentum bzw. Jüdischsein verbindet. In den Jahren 2009 und 2011 gebar sie zwei Töchter und nahm jeweils Elternzeit. Parallel engagiert sie sich seit 2007 in verschiedenen Arbeitsgruppen, wie beispielsweise der überregionalen Forschungsgruppe am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut zu den psychosozialen Spätfolgen der Shoah.

Abbildungsverzeichnis Beitrag von Hildegard Frübis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12:

Bildtafel Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II. Bildtafel Jüdisches Lexikon 1927, Bd. II. Nathaniel Sichel, Judit, Öl auf Leinwand, o. D. Zeitschrift „Ost und West“ 1907, Reproduktion von Nathaniel Sichel, Judit, o. D. Nathaniel Sichel, Salome, Öl auf Leinwand, o. D. Lesser Ury, Rebekka, Ölskizze, 1905. Anonym, Rachel, aus: Zeitschrift „Ost und West“, 1906. Alfred Dehodencq, „Jüdische Braut aus Marokko“, Öl/Leinwand, o. D. Eugène Delacroix, „Jüdin in Tanger, im Festtagskostüm“, Aquarell, 1832. Eugène Delacroix, „Verheiratete Jüdin in Tanger“, Aquarell, 1832. Gustav Richter, „Cornelie Richter im orientalischen Kostüm“, Ölgemälde, 1875. Gustav Richter, „Orientalin“, Ölstudie, 1863.

Beitrag von Anna Michaelis Diagramm 1: Anteile der Schwerpunktthemen an der Berichterstattung über Ostjuden in allen untersuchten Zeitungen insgesamt in Prozent. Tabelle 1: Schematische Darstellung der Assimilations-/Dissimilationstendenzen und diesbezüglichen Grundhaltungen in den untersuchten Zeitungen (A bzw. D entsprechen einer Tendenz zur Assimilation bzw. zur Dissimilation, der Querstrich entspricht dem Fehlen einer Tendenz) Tabelle 2: Schematische Darstellung der Zu- und Abnahmen von Assimilations-/Dissimilationstendenzen in den untersuchten Zeitungen (++ bzw. -- entsprechen starken Verstärkungen bzw. Abschwächungen von Tendenzen, + bzw. - entsprechen leichten Verstärkungen bzw. Abschwächungen von Tendenzen, = entspricht dem Ausbleiben einer Veränderung)

Beitrag von Regina Schleicher Abb. 1: Menachem Birnbaum: Deutschnationale Blutprobe. In: Schlemiel 24 (1920). S. 324. Abb. 2: Ludwig Wronkow: o. T. In: Schlemiel 6 (1919). S. 94.

Personenregister Ackermann, Andreas 14 Adler-Rudel, Salomon 182, 204, 231 Adorno, Gretel 193 Adorno, Theodor W. 26, 62, 181, 226, 282, 284, 285 Adorno. Theodor W. 191, 340 Agamben, Giorgio 185 Agnon, Samuel Josef 123 Allen, Woody 8, 78 Allwohn, Adolf 264 Aly, Götz 223 Andersch, Alfred 305, 308 Arendt, Hannah 23, 122, 179, 181, 182, 183, 184, 187, 188, 189, 190, 191, 194, 195, 196, 197, 198, 200, 201, 202, 203, 204 Aristoteles 185 Aschau, Frank (Pseudonym von Frank Warschauer) 57 Asholt, Wolfgang 16, 28 Bachmann-Medick, Doris 121 Baeck, Leo 139, 156, 165, 182, 198, 202, 207, 209, 217, 230, 238, 246, 247, 259, 260, 266 Balázs, Béla 58 Barmat, Julius 226 Barth, Karl 264 Beilein, Matthias 356 Ben-Amos, Dan 80 Ben-Chimol, Abraham 47 Benhabib, Seyla 190 Benjamin, Walter 103, 360 Beradt, Martin 124 Berger, Alfred 230, 231 Bhabha, Homi K. 16, 22 Biale, David 8 Biller, Maxim 283, 301, 332 Birnbaum, Menachem 243, 249, 250, 251, 255, 260, 261, 389 Bloch, Erich 206, 217 Blücher, Heinrich 179, 181, 191, 202 Blumenfeld, Kurt 181, 183 Bobrowski, Johannes 308 Bodemann, Michal 97 Bogdal, Klaus-Michael 15, 16, 29

Böll, Heinrich 305, 308 Börne, Ludwig 185 Bothe, Alina 19, 21, 22, 30, 119, 135, 250, 312, 333, 385 Brasch, Thomas 77 Braun, Christina von 1, 12, 17, 19, 222, 239, 385 Brecht, Bertolt 181, 192 Brenner, David 257 Broder, Henryk M. 93, 206, 216 Brod, Max 4 Brüning, Elfriede 308 Buber, Martin 99, 123, 246, 257, 264, 320, 321, 326, 328 Buchner, Hans 225, 226 Buer, Gerhard 229, 230 Chamberlain, Arthur Neville 254 Chamisso, Adelbert von 243 Chaplin, Charlie 190, 203, 204 Cohen, Hermann 6, 7, 9, 268, 269, 279 Cramer, Jenny 206, 217 Curtis, Tony 89 Davis, Christie 81 Dawes, Charles Gates 225 Dehodencq, Alfred 45 Delacroix, Eugéne 20, 45, 47, 48, 49, 53, 54, 55, 389 Deleuze, Gilles 301 Descartes, René 267 Döblin, Alfred 61, 99 Dohrn, Verena 124, 135 Duft, Johannes 332 Düwell, Susanne 25 Eichmann, Adolf 180 Einstein, Alfred 63 Eisler, Hanns 198 Eisner, Lotte 57 Eke, Norbert Otto 332 Elias, Norbert 142, 155 Elsaesser, Thomas 70 Erb, Rainer 340 Feder, Gottfried 226 Feiwel, Berthold 246 Fichte, Johann Gottlieb 267, 276

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 Personenregister

Fine, Ellen 363 Fischer, Maurice 254 Fontane, Theodor 172 Foucault, Michel 120, 139, 185, 342 Frank, Simon 265 Franzos, Karl Emil 166 Frege, Gottlob 180 Freud, Fanja 181 Freud Sigmund 7, 80, 164 Freytag, Gustav 13, 29, 162, 172, 177, 331, 334, 348 Freytags, Gustav 162, 177 Frick, Heinrich 265 Frübis, Hildegard 19, 33, 162, 385, 389 Galsworthys, John 174 Gaus, Günther 183, 190, 195, 196, 202 Geiger, Abraham 6, 276 Gentz, Wilhelm 50 Gilman, Sander L. 75, 82, 89, 92, 301, 303, 348 Ginsberg, Ascher Hirsch 245 Glagau, Otto 224 Gobineau, Arthur de 254, 255 Goebbels, Joseph 175 Goes, Albrecht 26, 305, 308, 320, 322, 326, 328 Goldberg, Albert 253 Goldfaden, Abraham 243, 259, 260 Goldschmidt, Jacob 226 Goldstein, Julius 228, 229 Goldstein, Moritz 170 Gorelik, Lena 11 Graetz, Heinrich 180 Gray, Dorian 296 Gronemann, Sammy 242, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 252, 253, 254, 260, 261 Gruber, Ruth Ellen 89, 94 Guattari, Félix 301 Gubser, Martin 13, 335 Haase, Bertholt 137 HaŠek, jaroslav 200 Hahn, Hans Henning 15 Hall, Stuart 1 Hammer, Almuth 11, 17 Harbou, Thea von 57, 64, 67, 74 Hebbel, Friedrich 61 Heidegger, Martin 181, 387

Heine, Christian Johann Heinrich 77, 185, 189, 386 Heine, Heinrich 326 Herzl, Theodor 206, 243, 244, 248, 252, 259 Hess, Moses 247, 252, 255, 259 Hilsenrath, Edgar 283, 326, 335 Hirschberg, Alfred 233 Hirschbiegel, Oliver 83 Hirschmann, Elise 162 Hoklas, Silke 20, 57, 386 Holländer, Ludwig 228, 232, 233, 234 Holz, Klaus 15, 29, 235, 347, 348 Homburger, Paul 228, 229 Horkheimer, Max 191, 192, 203, 236, 238, 284, 285, 286, 302, 340, 348 Huchel, Peter 309 Huppertz, Gottfried 63 Hürlimann, Thomas 332, 333, 339 Jannidis, Fotis 172 Jaspers, Karl 181, 182, 189, 202 Jens, Walter 308 John, Georg 58, 59 Jonas, Hans 182, 183, 201, 203 Judt, Ignacy Mauricy 254 Jung, Cläre M. 26, 308, 309, 310, 312, 315, 318, 325, 327 Jung, Franz 309 Jungmann, Alexander 21, 89, 93, 123, 386 Jungmann, Max 244, 245, 246, 249, 250, 252, 253, 254, 259 Kafka, Franz 7, 190 Kant, Immanuel 267 Karpeles, Gustav 247 Katz, Henry William 166 Kiaulehn, Walther 170, 171 Kilcher, Andreas 266, 280, 301, 303 Klausner, Max Albert 246 Klee, Alfred 244, 263 Klemperer, Victor 311 Klötzel, Chesker Zwi 248 Klüger, Ruth 172, 307, 334 Kogon, Eugen 316 Köhler, Bernhard 225 Koigen, David 123 Koneffke, Jan 333, 335 Kracauer, Siegfried 57 Kreppel, Lena 19, 23, 43, 205, 386

Personenregister 

Krobb, Florian 38, 354 Krutikov, Mikhail 22, 30, 119, 122, 135 Kuhlmann, Anne 169 Kuipers, Giselinde 84 Kutisker, Iwan 226 Lacan, Jacques 16 Landmann, Salcia 80 Landsberg, Ernst 230 Lang, Fritz 20, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 75, 287 Langgässer, Elisabeth 305 Lauer, Gerhard 172 Lazare, Bernard 23, 184, 188, 190 Leers, Johann von 226, 227 Lefebvre, Henri 120 Leibniz, Gottfried Wilhelm 267 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 201, 202, 270 Levin, David J. 69 Lilien, Ephraim Moses 246 Lion, Ferdinand 103 Lippmann, Walter 14 Liska. Vivian 364 Loewe, Heinrich 252 Lohmeyer, Ernst 265 Lubitsch, Ernst 69, 75, 78 Ludewig, Anna-Dorothea 19 Mann, Thomas 174 Marcus, Alfred 231, 232 Maybaum, Ignaz 7 McLuhan, Marshall 70 Menasseh ben Israel, Samuel 351 Menasse, Robert 27, 351, 354, 357, 361, 366, 367, 387 Mendel, Meron 370 Mendelssohn, Moses 3, 5, 268, 269 Meyerbeer, Giacomo 50 Meyer, Michael A. 161, 263, 312, 327 Meyer, Siegfried 242, 258 Michalis, Anna 250 Moreck, Curd 59 Morgenstern, Soma 26, 166 Mornay, Charles de 45 Moses, Julius 242, 243, 245, 258, 260 Mosse, George L. 165 Müller, Alfred Dedo 264 Müller, Heidy M. 306, 313 Muszer, Dariusz 27, 333, 337, 338

 393

Napoleon 45 Neander, Maxim 257 Nordau, Max 41, 43, 246 Ochse, Katharina 89 Olden, Rudolf 170 Olmer, Heinrich 370 Oring, Elliott 79 Paepcke, Lotte 26, 308, 309, 315, 317 Petry, Erik 241 Pinto, Diana 93 Platen, August von 186 Plievier, Theodor 309 Polaschegg, Andrea 16 Polgar, Alfred 174 Priester, Hans 228, 229 Raabe, Wilhelm 334, 348 Rabinovici, Doron 25, 197, 281, 282, 286, 303, 356, 361, 365 Raczymow, Henri 363 Rasumny, Alexander 27, 351, 386 Rautmann, Peter 47 Reich-Ranicki, Marcel 333, 339, 349 Reinach, Joseph 253 Reinhardt, Max 65, 67 Rein, Heinz 311, 313 Richter, Cornelie (geb. Meyerbeer) 50, 51, 53, 389 Richter, Gustav 20, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 389 Rinser, Luise 305, 308 Rohrbacher, Stefan 2 Rosenstock, Eugen 265, 387 Rosenzweig, Franz 264, 278, 279, 387 Rosinthal, Josef 245 Roth, Joseph 11, 29, 123, 161, 166, 177, 312, 327 Roth, Philipp 8 Rothschild 163, 226 Sachs, Nelly 309 Sahuwi, Nathanja 257 Sartre, Jean-Paul 13, 161, 234, 235, 352 Saß, Anne-Christin 22, 30, 119, 123, 124, 135 Schaber, Will 164 Schindel, Robert 283, 332, 356, 365 Schirmers, Georg 255 Schleicher, Regina 24, 241, 387, 389 Schlemihl, Peter 243, 258 Schlesinger, Paul 170

394 

 Personenregister

Schmelzkopf, Christiane 306 Schmitt, Carl 185 Schneersohn, Fischl 119, 122, 123, 250, 333, 385 Schneider, Ulrike 20, 26, 174, 305, 387 Scholem, Gershom 23, 99, 179, 180, 187, 191, 193, 202, 203, 204, 305 Schweinitz, Jörg 60 Scott, Walter 365, 387 Seidenmann, Burkhardt 101 Seligmann. Rafael 332 Senckenberg, Johann Christian 251, 256 Sichel, Nathaniel 20, 33, 36, 37, 38, 39, 43, 389 Siegfried, Theodor 264, 279 Siegmund-Schultze, Jutta 159, 171, 176 Siemens, Daniel 170 Sieniewicz, Mariusz 333, 343, 344 Simmel, Georg 7, 14, 30, 278, 279 Simonson, Emil 245, 249 Singer, Heinrich 254 Sklarek 226 Soja, Edward W. 120 Sperber, Manès 166 Spinoza, Baruch de 267, 275, 280, 351, 356 Sprengel, Peter 70 Stern, Frank 306 Stern, Günther 181, 191 Stiuhlmann, Andreas 23, 179, 387 Storz, Oliver 325 Struck, Hermann 245, 246, 248, 249, 258, 259, 260 Stünkel, Knut Martin 25, 263, 387 Sucker, Juliane 11, 20, 22, 159, 388 Suhrkamp, Peter 192 Tabori, George 89 Tarantino, Quentin 339 Tergit, Gabriele 22, 159, 167, 178

Tergit, Gabriele (Pseudonym von Elise Reifenberg) 22, 159, 160, 162, 164, 167, 170, 171, 172, 175, 178, 388 Tiedemann, Rolf 62, 74, 115, 193, 203, 360, 366 Tillich, Paul 25, 264, 265, 267, 271, 273, 280 Trietsch, Davis 246, 259 Ury, Lesser 20, 41, 42, 43, 54, 55, 389 Varnhagen, Rahel 181, 188, 189, 191, 201, 202, 204 Volkov, Shulamit 138, 141, 155 Wagner, Richard 61, 62, 72, 75, 76 Warburg 163, 226 Warschauer, Frank 57, 72, 74 Wassermann, Oscar 226 Weber, Max 188 Wegner, Armin T. 163, 176 Weinryb, Sucher B. 233 Weiss, Iris 96, 112 Wendehorst, Stephan 162 Wiener, Max 5, 6, 25, 263, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 274, 276, 277, 278, 279, 280, 387 Winz, Leo 244, 245, 259, 260 Wohl von Haselberg, Lea 11, 20, 77, 376, 388 Wojcik, Paula 19, 27, 98, 209, 331, 388 Wolf, Fritz 23, 43, 205, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 217 Wolf, Immanuel 266 Wronkow, Ludwig 250, 256, 257, 259, 389 Yerushalmi, Yosef Hayim 7 Young-Bruehl, Elisabeth 181, 187 Young, Owen 225 Zangwill, Israel 246 Zeifert, Ruth 28, 104, 120, 162, 369, 388 Ziv, Avner 79 Zlocisti, Theodor 245, 247, 252, 254, 255, 259 Zlocisti. Theodor 245, 247, 252, 255, 259 Zweig, Arnold 249