Künstler. Ein Report: Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik [1. Aufl.] 9783839422878

Kunst wird von kreativen Menschen geschaffen. Mit ihren Angeboten an Ausdrucksformen zur gesellschaftlichen Selbstvergew

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Künstler. Ein Report: Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik [1. Aufl.]
 9783839422878

Table of contents :
Inhalt
Künstler sein. Eine Frage der Kulturpolitik?. Vorwort zu einem Report
Konzertierte Wertschätzung statt prekärer Arbeitsbedingungen! . Plädoyer für eine Kulturpolitik im Interesse von Künstlern
LITERATUR
„Es wäre schon ein Traum: Nichts anderes machen als Schreiben und Lesen“. Porträt von Paul Brodowsky
„Es kann ja auch einmal die fetten Jahre geben.“. Gespräch mit Anja Tuckermann
„Man muss das Haus rocken, dann verdient man was.“. Porträt von Lutz Hübner
„Theater suchen ihre Regisseure nicht beim Arbeitsamt.“. Gespräch mit Charlotte Roos
„Im Kulturbereich herrscht die Umkehrung der Marktwirtschaft.“. Porträt von John von Düffel
„Schreiben ist Knochenarbeit.“. Gespräch mit Christiane Schütze
MUSIK
„Musik ist lebensnotwendig.“. Porträt von Florian Poser
„Die Medien entziehen sich dem kulturellen Auftrag.“. Porträt von Michael Arlt
DARSTELLENDE KÜNSTE
„Das alte System kommt an seine Grenzen“. Porträt von Jan Linders
„Als ich nach Deutschland kam, glaubte ich, nie wieder in meinem Beruf arbeiten zu können.“. Porträt von Tatyana Khodorenko
„Ich teile mein Leben nicht in Arbeit und Freizeit.“. Porträt von Hildegard Plattner
„Meine Altersabsicherung ist eine Katastrophe.“. Porträt von Stefanie Seeländer
„Wir waren die Vorreiter des Neoliberalismus.“. Gespräch mit Dirk Cieslak
„Theaterarbeit ist mehr als ein Teil der Summe.“. Porträt von Angelika Sieburg
BILDENDE KUNST
„Wer definiert denn, wann jemand ein Künstler ist?“. Gespräch mit Mira Cichocki
„Nur von der Kunst habe ich nie gelebt.“. Porträt von Franziska Rutz
„Gott ist für die Finanzen zuständig.“. Porträt von Sarah Haffner
FILM UND FERNSEHEN
„Selbst der Wetterbericht ist teurer als ein Dokumentarfilm“. Porträt von Thomas Frickel
„Die deutschen Förderanstalten sollten dem deutschen Film mehr vertrauen.“. Gespräch mit Axel Ranisch
„Ich bin eher ein Handwerker.“. Porträt von Hacky Hackbarth
„Träume sind Träume. Realität ist was anderes.“. Gespräch mit Shaheen Dill-Riaz
„Der Beruf des Kinderfilmregisseurs ist quasi nicht mehr existent.“. Porträt von Bernd Sahling
„Sobald du weisungsgebunden bist, bist du kein selbständiger Künstler mehr.“. Porträt von Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser
„Filmförderung ist Wirtschaftsförderung.“. Gespräch mit Maria Stodtmeier und Paul Smaczny
ANHANG
Künstler
Autoren

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Wolfgang Schneider (Hg.) Künstler. Ein Report Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik

Wolfgang Schneider (Hg.)

Künstler. Ein Report Porträts und Gespräche zur Kulturpolitik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: John von Düffel © Katja von Düffel; Angelika Sieburg © Angelika Sieburg; Bernd Sahling © Bernd Sahling; Maria Stodtmaier © Maria Stodtmaier; Anja Tuckermann © Bernd Sahling; Thomas Frickel © Kerstin Hehmann; Michael Arlt © Michael Arlt; Paul Smaczny © Paul Smaczny; Hildegard Plattner © Aron Weigl; Hacky Hackbarth © Hacky Hackbarth; Paul Brodowsky © Juliane Henrich; Mira Cichocki © Mira Cichocki; Sarah Haffner © Sarah Haffner; Carsten Ludwig © Carolin Weinkopf; Lutz Hübner © Lutz Hübner; Charlotte Roos © Martin Klimas; Christiane Schütze © Christiane Schütze; Shaheen Dill-Riaz © Shaheen Dill-Riaz; Franziska Rutz © Franziska Rutz; Florian Poser © Manfred Pollert; Dirk Cieslak © Dirk Cieslak; Stefanie Seeländer © Stefanie Seeländer; Axel Ranisch © Dennis Pauls; Tatyana Khodorenko © Tatyana Khodorenko; Jan-Christoph Glaser © Jan-Christoph Glaser Lektorat: Nina Peters & Aron Weigl Satz: Aron Weigl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2287-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Künstler sein. Eine Frage der Kulturpolitik? Vorwort zu einem Report Wolfgang Schneider | 9 Konzertierte Wertschätzung statt prekärer Arbeitsbedingungen! Plädoyer für eine Kulturpolitik im Interesse von Künstlern

Wolfgang Schneider | 15

LITERATUR „Es wäre schon ein Traum: Nichts anderes machen als Schreiben und Lesen.“ Porträt von Paul Brodowsky

Inga Machel | 31 „Es kann ja auch einmal die fetten Jahre geben.“ Gespräch mit Anja Tuckermann

Jennifer Fandrich | 39 „Man muss das Haus rocken, dann verdient man was.“ Porträt von Lutz Hübner

Katharina Schröck | 53 „Theater suchen ihre Regisseure nicht beim Arbeitsamt.“ Gespräch mit Charlotte Roos

Katharina Widiger & Jennifer Fandrich | 67 „Im Kulturbereich herrscht die Umkehrung der Marktwirtschaft.“ Porträt von John von Düffel

Wibke Schmitt | 81

„Schreiben ist Knochenarbeit.“ Gespräch mit Christiane Schütze

Fabian Schütze | 87

MUSIK „Musik ist lebensnotwendig.“ Porträt von Florian Poser

Mia Panther | 97 „Die Medien entziehen sich dem kulturellen Auftrag.“ Porträt von Michael Arlt

Uta Budzinski | 107

DARSTELLENDE KÜNSTE „Das alte System kommt an seine Grenzen.“ Porträt von Jan Linders

Judith Franke | 121 „Als ich nach Deutschland kam, glaubte ich, nie wieder in meinem Beruf arbeiten zu können.“ Porträt von Tatyana Khodorenko

Hannes Opel | 131 „Ich teile mein Leben nicht in Arbeit und Freizeit.“ Porträt von Hildegard Plattner

Aron Weigl | 141 „Meine Altersabsicherung ist eine Katastrophe.“ Porträt von Stefanie Seeländer

Anna Kaitinnis | 151 „Wir waren die Vorreiter des Neoliberalismus.“ Gespräch mit Dirk Cieslak

Nina Peters | 159

„Theaterarbeit ist mehr als ein Teil der Summe.“ Porträt von Angelika Sieburg

Katharina Schröck | 171

BILDENDE KUNST „Wer definiert denn, wann jemand ein Künstler ist?“ Gespräch mit Mira Cichocki

Sebastian Polmans | 189 „Nur von der Kunst habe ich nie gelebt.“ Porträt von Franziska Rutz

Sarah Kuschel | 197 „Gott ist für die Finanzen zuständig.“ Porträt von Sarah Haffner

Julia Illmer | 205

FILM UND F ERNSEHEN „Selbst der Wetterbericht ist teurer als ein Dokumentarfilm.“ Porträt von Thomas Frickel

Stefanie Mrachacz | 215 „Die deutschen Förderanstalten sollten dem deutschen Film mehr vertrauen.“ Gespräch mit Axel Ranisch

Grit Lukas | 225 „Ich bin eher ein Handwerker.“ Porträt von Hacky Hackbarth

Florian Gründel | 235 „Träume sind Träume. Realität ist was anderes.“ Gespräch mit Shaheen Dill-Riaz

Simon Vu | 245

„Der Beruf des Kinderfilmregisseurs ist quasi nicht mehr existent.“ Porträt von Bernd Sahling

Nora Otte | 259 „Sobald du weisungsgebunden bist, bist du kein selbständiger Künstler mehr.“ Porträt von Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser

Olga Wierzenko | 271 „Filmförderung ist Wirtschaftsförderung.“ Gespräch mit Maria Stodtmeier und Paul Smaczny

Marcus Thomas & Dagmar Neumann | 283

ANHANG Künstler | 297 Autoren | 299

Künstler sein. Eine Frage der Kulturpolitik? Vorwort zu einem Report W OLFGANG S CHNEIDER

Allein drei Forschungsprojekte haben sich in jüngster Zeit am Lehrstuhl für Kulturpolitik mit der Thematik beschäftigt. Mit dem Künstler sein. Unter kulturpolitischen Gesichtspunkten. Reiner Küppers Dissertation ist Ende letzten Jahres erschienen und trägt den Titel „Künstlerinnen und Künstler zwischen kreativer Freiheit und sozialer Sicherheit“. Er führt einen Diskurs zur Kulturpolitik in Zeiten der europäischen Integration und behandelt diesen in einem multidisziplinären Kontext. Soziologische und kulturwissenschaftliche Theorien werden vor dem Hintergrund aktueller ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse erörtert, die Verantwortung des Staates seinen Künstlern gegenüber davon abgeleitet und der sozialrechtliche Horizont für eine Perspektive der Künstlersozialversicherung in Europa entwickelt. Das Ausmaß der Beeinflussung der Arbeits- und Lebensbedingungen selbstständiger Künstler durch europäische Vorgaben wird entscheidend davon abhängen, ob die länderspezifischen Sozialsysteme in den Aushandlungs- und Kompromissbildungsprozessen eher koordiniert – nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet – oder eher harmonisiert – also an denselben Zielen ausgerichtet – werden. Die europäische Perspektive lässt auch das Profil der deutschen Künstlersozialversicherung im neuen Licht erscheinen. „Einheit in der Vielfalt“ lautet ja immerhin das kulturpolitische Motto der EU und ihrer europäischen Kulturagenda. Sie will unter anderem die Mobilität von Künstler fördern.

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„Sollten nicht gerade Künstler und Publizisten profitieren können? Sicher ist – es kann nur um soziale Gerechtigkeit auch in Kunstdingen gehen. Und wahre soziale Gerechtigkeit, ohne die es keine wahre Freiheit der Kunst gibt, wäre also, Künstlern die Chance zu geben, sich durch ihre kreative, schöpferische Gestaltungskraft eine wirtschaftliche Existenz zu schaffen, und so auch das Unbequeme, das Grenzüberschreitende, die Vielfalt der künstlerischen Produktion zu sichern.“ (Küppers 2010: 148)

Azadeh Sharifi beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit dem Phänomen des Postmigrantischen Theaters. Einerseits geht es um die Schaffung einer eigenen Identität in der deutschen Gesellschaft und dem theatralen Kosmos, es geht um Themen und Traditionen der aufeinander treffenden Kulturen, es geht um Barrieren und Beteiligung. Die Untersuchung „Theater für alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln“ entwirft aber eben auch ein kulturpolitisches Modell, wie es unserer Kulturlandschaft gelingen möge, postmigrantische Künstler als Bereicherung des Theaterschaffens anzuerkennen und mit ihnen einen bisher kulturell ausgeschlossenen Teil der Bevölkerung als Publikum zu erschließen. „Postmigrantische Künstler sind in Deutschland vorhanden, nur eben nicht in den Stadttheatern. Ein genereller Überblick zeigt, dass in der künstlerischen Leitung kaum, beziehungsweise nur vereinzelt, Künstler mit Migrationsbiographie vorhanden sind. Die Entscheidung, wie ein Theaterhaus aufgestellt ist, wird nun aber einmal von der künstlerischen Leitung getroffen. Solange in diesen Positionen keine Menschen mit einer anderen Perspektive und mit anderen Erfahrungen, sprich Künstler mit Migrationsbiographie vorhanden sind, werden postmigrantischen Positionen nicht präsent sein, sondern immer nur von ‚biodeutschen‘ Künstlern reflektiert.“ (Sharifi 2011: 255)

Usa Beer hat ihre Dissertation über den Eigenwert des künstlerischen Schaffens am Beispiel von Bildenden Künstlern unter dem Titel „Zwischen Avantgarde und Auftrag. Bildende KünstlerInnen und ihre Kompetenzen als gesellschaftliches Potential“ veröffentlicht. Ihr geht es darum, das Tun von Künstlern als Gut der Gesellschaft zu fundieren, indem sie ihre Lebenswelten analysiert, ihr Hineinwirken in die Gemeinschaft reflektiert und Erkenntnisse für eine Kulturpolitik generiert, die der Bedeutung des künstlerischen Schaffens gerecht werden kann.

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„Im Spannungsfeld von machbarer Gegenwart und visionärer Zukunft liegt die Möglichkeit des Möglichen, sowie des (heute noch) Unmöglichen. Den Funktionskreislauf des alten Selbst und (Opfer-)Rollenverständnisses zu durchbrechen, ist die an dieser gemäße (Selbst-)Aufgabe der KünstlerInnen und der Beginn eines Engagements für die Belange der KünstlerInnen, in Parallelität zu oder Deckungsgleichheit mit dem schöpferischen Tun, und damit notwendigerweise eines Dialoges mit der Gesellschaft auf allen Ebenen jenseits und diesseits der Selbstkonzentration. Allein dies wirft die Fragen aller auf; im Mikrosystem liegt die Bewegung des Makrosystems. Aufgabe der Kulturpolitik ist es, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen inklusive angemessener, fairer Konditionen dafür zu schaffen. Die Kulturpolitik steht im Dienst der Kunstfreiheit und nicht im Dienste einer Kunst als Dienstleistung, was Orte, Projekte, Aufträge, Möglichkeiten an und in denen KünstlerInnen tätig werden können, und die Implementierung einer ‚Kultur als Pflichtaufgabe‘ nicht ausschließt. Nur dann entwickelt sich das freie Spiel einer Avantgarde, der libertären, nicht der liberalen Kräfte.“ (Beer 2012: 314f.)

噚Um der Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, bedarf es einer Kulturpolitik, die insbesondere den Prozess der kulturellen Partizipation vorantreibt. […] Aber nicht alle Menschen können und wollen ihre Selbstvergewisserung über künstlerische Erlebnisse erfahren; nicht für alle ist die Sphäre der Kultur der ihnen gemäße Ort oder Anlass des Nachdenkens über den Sinn ihres Lebens, der Suche nach ideeller Bereicherung oder purem Vergnügen“ (Deutscher Bundestag 2008: 49f.), heißt es im ersten Kapitel des Schlussberichtes der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages, eine Argumentation, die als Grundlage für die öffentliche Künstlerförderung dienen kann. „Wenn dennoch indirekt auch für sie die Künste diese Bedeutung haben, dann über mehrfache Vermittlung durch Medien und Öffentlichkeiten. So haben die Künste diese Bedeutung auch indirekt, als Teilbereich der Kultur. Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung.

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Und deshalb bedarf es einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und mitgestaltet.“ (Ebd.: 50)

Die Künste werden von Künstlern geschaffen. Kulturpolitik muss sich deshalb um sie kümmern. Im Dialog mit den Kreativen. Ganz im Sinne von Irina Wanka, Schauspielerin und Mitglied der Europäischen Filmakademie, die im Rahmen der Veranstaltung „Der arme Poet. Kulturpolitik in der Krise. Neue Wege?“ des Kulturforums der Sozialdemokratie 2011 im Willy-Brandt-Haus Berlin forderte: „Ein Künstler ist darauf angewiesen, dass der Gesetzgeber für seine besondere Arbeitswelt adäquate Regelungen findet und für die Einhaltung derselben Sorge trägt. […] Ich appelliere daher an Sie, sich unsere Arbeitswelt sehr genau anzusehen und dafür den Rahmen zu schaffen, der es uns Künstlern erlaubt, sich weitgehend der Schaffung von Kunst zu widmen. Dies setzt auf die Dauer eine angemessene Entlohnung, die angemessene Beteiligung an den Verwertungen sowie eine halbwegs gesicherte soziale Absicherung voraus. Kunst hat einen dauerhaften finanziellen (61 Milliarden im Jahr, wie wir eben gehört haben!) und einen hohen gesellschaftlichen Wert. Vergessen wir nicht, Kunst wird von Künstlern geschaffen, nicht von denen, die die Rechte an ihr erworben haben oder von denen, die diese Kunst verwerten.“ (Kulturforum der Sozialdemokratie 2011: 26)

Ganz im Sinne der Hamburger Kreativen und Künstler, die zusammen mit mehr als 5000 Bürgern 2010 das Manifest „Not in our name, Marke Hamburg!“ veröffentlichte und sich gegen die Vereinnahmung einer Standortpolitik wendete, die mittels Kulturförderung zur Imagebildung der Stadt beitragen sollte. „Wir, die Musik-, DJ-, Kunst-, Theater- und Filmleute, die Kleine-geile-Lädenbetreiber und Ein-anderes-Lebensgefühlbringer, sollen der Kontrapunkt sein, zur ‚Stadt der Tiefgaragen‘ (Süddeutsche Zeitung). Wir sollen für Ambiente sorgen, für die Aura und den Freizeitwert, ohne den ein urbaner Standort heute nicht mehr global konkurrenzfähig ist. […] Und da sind wir nicht dabei. Wir wollen nämlich keine von Quartiersentwicklern strategisch platzierten „Kreativimmobilien“ und „Kreativhöfe“. […] Für uns hat das, was wir in dieser Stadt machen, immer mit Freiräumen zu tun, mit Gegenentwürfen, mit Utopien, mit dem Unterlaufen von Verwertungund Standortlogik.“ (www.nionhh.wordpress.com)

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Ganz im Sinne von 228 Berliner Künstler und Kulturschaffenden, die sich 2011 in einem offenen Brief unter dem Motto „Haben und Brauchen“ an den Kultursenator und Regierenden Bürgermeister gewandt haben, um gegen kurzweilige Kunstevents, gegen prekäre Arbeitsbedingungen von Künstler und für eine strukturfördernde Kulturpolitik zu demonstrieren. Sie plädieren unter anderem für „einen öffentlichen Dialog darüber, wie die Produktions- und Präsentationsbedingungen von zeitgenössischer Kunst in Berlin außerhalb medienwirksamer Leuchtturm-Projekte nachhaltig gefördert und weiterentwickelt werden können“ (www.habenundbrauchen.de). Ein Manifest wendet sich gegen die Enteignung des Gemeinwesens, definiert Arbeit in den Künsten, fordert Teilhabe statt Abspeisung. „Angesichts der Aufwertung, die Berlin als Stadt durch die Beiträge von Kulturschaffenden (und deren Initiativen wie Projekträumen) zur Stadtkultur erfährt – wenn nicht allein schon angesichts der Tatsache dass an die 8000 Künstler hier leben – bleibt die Ausstattung der Stadt mit Stipendien und Projektförderungen mangelhaft. Eine wirkliche Teilhabe an der Aufwertung in der Stadt kann darüber hinaus nur durch längerfristige strukturelle Projekte gewährleistet werden. Hier bieten sich Modelle der Selbstverwaltung an wie die Hinterlassung von Liegenschaften. Ebenso wären Projekte zur Anschubfinanzierung im Kunstbereich nötig […]“ (Ebd.)

Grundlage der vorliegenden Publikation ist ein Projekt, das mittels qualitativer Methoden Künstler zu Wort kommen lässt. Ein im Jahr 2009 auf zwei Semester angelegtes Forschungsunternehmen mit Studierenden der Hildesheimer Kulturwissenschaften hat sich mit dem „Künstlerbericht“ von 1975 und neueren Untersuchungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Künstler in Deutschland beschäftigt sowie durch Interviews mit Schriftstellern, Filmemachern, Musikern, Theaterschaffenden und Bildenden Künstlern eigenes Material gesammelt, analysiert und reflektiert. Direkte und indirekte Künstlerförderung, die Künstlersozialversicherung und andere kulturpolitische Konzepte, die die Freiheit der Kunst begünstigen sollen, standen dabei auf dem Prüfstand. Herausgekommen ist eine Art „KünstlerReport“ mit zwei Dutzend Porträts, die auch das Notwendige für eine Kulturpolitik benennen, die aus der Sicht der Betroffenen Reformbedarfe beschreibt und zur Diskussion in den Kommunen, Ländern und im Bund beitragen kann. Mit den transkribierten Aussagen sollen die Künstler selbst zu Wort kommen; denn allzu oft kümmert sich Kulturpolitik mehr um die Institutio-

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nen der Kunst, meint Kulturpolitik zu weiten Teilen eine städtische Kunstförderung und hat zwar theoretisch etwas zur Rolle der Künstler in der Gesellschaft zu sagen, aber das ist ein Sprechen über die Akteure, ein Dialog mit den Kunstproduzenten wäre aber zu intensivieren, eine Kulturpolitik der Künstler eine anzustrebende Perspektive. Gedankt sei den Künstlern, die sich auf unsere Fragen eingelassen sowie reflektiert und engagiert geantwortet haben, den Autoren und namentlich Nina Peters und Aron Weigl für die Redaktion.

Beer, Usa (2012): Zwischen Avantgarde und Auftrag. Bildende KünstlerInnen und ihre Kompetenzen als gesellschaftliches Potenzial. Studien zur Kulturpolitik, herausgegeben von Wolfgang Schneider, Band 14, Frankfurt am Main. Deutscher Bundestag (2008) (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission, Regensburg. Kulturforum der Sozialdemokratie (2011) (Hg.): „‚Der arme Poet‘. Kulturpolitik in der Krise. Neue Wege“, in: Kulturnotizen 14, Berlin. Küppers, Reiner (2010): Künstlerinnen und Künstler zwischen kreativer Freiheit und sozialer Sicherheit. Ein Diskurs zur Kulturpolitik in Zeiten der europäischen Integration. Studien zur Kulturpolitik, herausgegeben von Wolfgang Schneider, Band 9, Frankfurt am Main. Sharifi, Azadeh (2011): Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln, Studien zur Kulturpolitik, herausgegeben von Wolfgang Schneider, Band 13, Frankfurt am Main. www.habenundbrauchen.de vom 05.01.2013. www.nionhh.wordpress.com vom 05.01.2013.

Konzertierte Wertschätzung statt prekärer Arbeitsbedingungen! Plädoyer für eine Kulturpolitik im Interesse von Künstlern W OLFGANG S CHNEIDER

Kunst und Kultur werden von kreativen Menschen gestaltet, die einen großen Teil ihrer Lebenszeit dem künstlerischen Schaffen widmen. Mit ihren Angeboten zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung agieren Künstler in einem komplexen Handlungsrahmen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Ihre Arbeiten sind nicht allein nach den Maßgaben von Effizienz, Produktion und Einschaltquoten zu bewerten. Aus diesem strukturellen Nachteil ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Verantwortung. „Kultur in einer demokratischen Gesellschaft“, so heißt es in der Präambel zum Bericht der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages von 2007, „benötigt Freiräume für das Unverfügbare, das weder ökonomisch noch politisch Nutzbare – um der Künstler willen, aber auch um ihrer selbst willen.“ (Deutscher Bundestag 2008: 43) Um der Künstler willen, das sind etwa 1,5 Millionen, die in den 27 Ländern der Europäischen Union in den letzten Jahren als solche gearbeitet haben. Laut Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, vom 14. April 2011, sind das mehr als 300 000 aus Deutschland, immerhin gut ein Fünftel und rund ein Prozent der Gesamtbeschäftigten. Hinter den Zahlen verbergen sich Schriftsteller und die so genannten Kulturschaffenden, also „Autoren, Journalisten, Bildhauer, Maler, Komponisten, Musiker, Sänger, Choreografen, Tänzer, Schauspieler, Regisseure und andere ähnliche Künstler“. (Eurostat 2011)

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Künstler-Report fff. In den Jahren 1972 bis 1975 wurde in der alten Bundesrepublik Deutschland erstmalig ein Bericht mit Daten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage von Künstlern und deren Stellung in der Gesellschaft erarbeitet. Der Künstlerbericht war die Grundlage für verschiedene Reformvorhaben, das Wichtigste war sicherlich das 1981 verabschiedete Künstlersozialversicherungsgesetz. Vielen Künstlern, die in der Künstlersozialkasse eine Kranken- und Alterssicherung als Versicherte gefunden haben, geht es seitdem besser, die meisten von ihnen sind aber nach wie vor in ihrer Existenz ungesichert. Sie sind zumeist hochflexibel, überdurchschnittlich gebildet, engagiert und kinderlos, organisieren sich zum großen Teil als selbstständige Kleinunternehmer – stehen aber finanziell miserabel da. Ihr Durchschnittseinkommen ist lächerlich gering, soziale Absicherung so gut wie nicht vorhanden, fast allen droht die Altersarmut. Wie viel erschreckende Wahrheit in der Redewendung von der brotlosen Kunst steckt, belegte 2010 der „Report Darstellende Künste“ über die wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland. Grundlage des vom Fonds Darstellende Künste herausgegebenen informativen Bandes sind nationale und internationale Studien, die Ergebnisse eines Symposiums, eine Fragebogenaktion und Interviews. Die bilden die ernüchternden Arbeitsund Lebensbedingungen deutscher Tanz- und Theaterkünstler schnörkellos ab. Trauriges Fazit: „Für die Mehrheit der Theater- und Tanzschaffenden hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage in den letzten Jahren deutlich verschlechtert.“ (Fonds Darstellende Künste 2010: 15) Weil etwa 50 Prozent der darstellenden Künstler von ihrer Kunst allein nicht leben können, müssen sie mit anderen Berufen Geld verdienen. Sie versuchen sich notgedrungen im freien Unternehmertum als Selbstständige, sind auf besser verdienende Partner angewiesen oder bekommen noch lange von den Eltern etwas zugesteckt – sofern diese dazu in der Lage sind. Selbstmanagement gehört dazu, wenn man wie 62 Prozent der darstellenden Künstler in anderen Orten als dem Wohnort tätig ist (davon 47 Prozent im Ausland). Und wenn man, in Zeiten kommunaler Finanznot bedroht von Haushaltskürzungen oder Strukturreformen, jederzeit sozusagen von der Bühne gefegt werden kann. Wen wundert es da, dass 66 Prozent kinderlos sind. Das durchschnittliche Einkommen eines freien darstellenden Künstlers beträgt etwas mehr als 12 000 Euro – im Jahr, nicht im Monat. Damit

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liegt es etwa 40 Prozent unter dem aller Arbeitnehmer in Deutschland, einschließlich geringfügig Beschäftigter. Aus der günstigen Künstlersozialkasse fallen viele heraus oder werden gar nicht erst aufgenommen, wenn sie zu wenig im rein künstlerischen Bereich verdienen. (Vgl. Zimmermann/ Geißler 2010) Die Studien sind empirischer Natur. Susanne Keuchel vom Zentrum für Kulturforschung listet die Arbeitssituationen auf, eine Untersuchung des Landesverbandes freier Theaterschaffender Berlin wertet die Lebensverhältnisse von Darstellenden Künstlern aus. Angeregt wird, wie man dem vorhandenen künstlerisch-kreativen Potential in der Gesellschaft langfristig Perspektiven geben kann: „Zur Zeit werden nach den Ergebnissen der Studie viele künstlerische Produktionen in der freien Theater- und Tanzszene nur dadurch ermöglicht, dass Theater- und Tanzschaffende, die mehrheitlich über eine akademische Ausbildung verfügen, teilweise auf ihren Lohn beziehungsweise eine adäquate Bezahlung verzichten. Noch geben 50 Prozent der freien Theater- und Tanzschaffenden an, dass sie mit Blick auf die Experimentierfreudigkeit und künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten lieber in der freien Theater- und Tanzszene arbeiten als an kommunalen oder staatlichen Bühnen. Langfristig ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich die freien Theaterund Tanzschaffenden zur Sicherung des Lebensunterhalts und zu Gunsten einer größeren Planungssicherheit in anderen Arbeitsbranchen Beschäftigung suchen, wenn man hier nicht neue Perspektiven schafft. Ein Rückzug der freien Theater- und Tanzschaffenden in andere Arbeitsbereiche würde einhergehen mit einem deutlichen Verlust des künstlerisch-kreativen Potentials und vor allem einer Vielzahl an kulturellen Angeboten in unseren Städten. Angesichts eines solchen Szenarios steht die Frage im Raum: Wann hat die fehlende Wertschätzung von künstlerischer Innovation und Leistung Auswirkungen auf unsere Gesellschaft?“ (Ebd.: 192)

Cornelia Dümcke dokumentiert Ergebnisse einer Sichtung der Literatur zu den Darstellenden Künsten im Spiegel der Kultur und Kreativwirtschaftsberichte der Länder und Städte in Deutschland, das deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts recherchierte zum Status der Künstler im Bereich Darstellende Künste. Die Forschung zum Thema ist ergiebig. Zu verweisen wäre noch auf Carroll Haaks Abhandlung über die „Wirtschaftlichen und sozialen Risiken auf den Arbeitsmärkten von Künstlern“ (erschienen in Wiesbaden 2008), die in ihrer Dissertation aufzuzeigen versucht, dass ein Sondersystem innerhalb des bestehenden Sozialversiche-

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rungssystems wie das der Künstlersozialkasse für die soziale Absicherung im Alter unzureichend ist. Auch die Expertise von Marlies Hummel über „Die wirtschaftliche und soziale Literatur bildender Künstlerinnen und Künstler“ im Auftrag des Bundesverbandes Bildender Künstler (erschienen in Königswinter 2008) und der Endbericht des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur „Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich“ (erschienen in Wien 2008) geben Auskunft über das Künstlerdasein. Gerade die Berufsgruppe der Kunstschaffenden zeichne sich vor allem durch Freiheit, Selbständigkeit und Individualität aus, so dass sich formale Gemeinsamkeiten nicht unbedingt unmittelbar herstellen lassen. „Das professionelle künstlerische Tun ist beispielsweise von keiner bestimmten Ausbildung abhängig, wie das in anderen Berufsgruppen der Fall ist. Es ist ebenfalls an keine konkrete Organisation gebunden und findet auch nicht in bestimmten Beschäftigungssituationen statt; darüber hinaus stellen sich auch die Rahmenbedingungen künstlerischen Arbeitens (was beispielsweise die Produktions- und Distributionsmethoden betrifft) in den verschiedenen Kunstsparten sehr unterschiedlich dar, was die Erfassung der Kulturschaffenden als eine soziale Gruppe zu einem herausfordernden Unterfangen macht“, stellt der Endbericht „Zur Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich“ fest. (Schelepa/Wetzel/Wohlfahrt: 165)

Ein alternatives Modell wird in diesem Zusammenhang immer wieder einmal auf die Agenda gesetzt, die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen. Als Gestaltungsmittel einer Gesellschaft soll eine Basis für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit geschaffen werden, das wiederum Kreativität und Leistungsfähigkeit ermögliche. Götz W. Werner und Adrienne Goehler knüpfen dabei an die humanistischen Ideale der Aufklärung an und sehen in der Finanzkrise die Chance gegenzusteuern, um auch die Künstler vom ökonomischen Druck zu befreien, Leuchtturm oder Event sein oder gar der Kulturwirtschaft und dem Tourismusmarketing dienen zu müssen. „Im Kulturbetrieb wird nicht gekündigt, der Prozess des Arbeitsverlusts ist ein unauffälliger: Man wird einfach nicht mehr beauftragt, Projekte laufen aus, statt Sextetten werden nur noch Terzette gebucht, aus öffentlichen Mitteln wird keine Kunst mehr angekauft etc. Kunstschaffende erhöhen also die Arbeitslosenstatistik nicht sichtbar […] und sind deshalb nicht wahlrelevant.“ (Fonds Darstellende Künste 2010: 338)

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Kulturpolitik für Künstler? Wenn schon die Künstler im Mittelpunkt einiger Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage stehen, muss auch die Frage konsequent folgen: Und wie hält es die Politik mit denen, die ihre Kreativität im Staate wirken lassen? In Deutschland sind es neben den Kommunen vor allem die Länder, die politische Verantwortung tragen, wenn es um die Belange der Kunst geht. Sie sind es, denen die sogenannte Kulturhoheit eine Gestaltungsaufgabe im politischen Mehrebenensystem zukommen lässt. Nehmen sie ihren Auftrag wahr, formulieren sie eine Kulturpolitik für Künstler? Ein Blick in die Koalitionsvereinbarungen und Regierungsprogramme in den sechzehn Ländern ist eher ernüchternd. Auf zweieinhalb Seiten (von insgesamt 88) vereinbaren Grüne und SPD unter der Überschrift „Starkes Kulturland Baden-Württemberg“ für die Zeit von 2011 bis 2015 das Bestehende zu bewahren, zukünftig aber „mehr künstlerische Freiräume“ zu gewähren, „um den Weg für neues und für experimentelle Kultur zu ebnen“. Künstler kommen in diesem Zusammenhang nicht explizit vor, auch Künstlerförderung steht nicht ausdrücklich auf der Agenda in Stuttgart, von einer Kulturpolitik für Künstler ist nicht die Rede. Nur im Absatz „Schwerpunkt kulturelle Bildung“ finden sie Erwähnung: „Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Kultureinrichtungen aller Sparten wie auch Künstlerinnen und Künstler soll durch gezielte Programme gefördert werden.“ Knapp zwei Seiten formulieren SPD und Grüne im 102 Seiten umfassenden Mainzer Koalitionsvertrag zum Thema „Kulturelles Erbe erhalten – kulturelle Vielfalt fördern“. Teilhabe wird postuliert, Projekte werden propagiert, „jedem Kind seine Kunst“ versprochen. Im zwölften Absatz heißt es dann: „Wir wollen junge Künstlerinnen und Künstler ein attraktives Umfeld für ihre Arbeit bieten und sie verstärkt fördern. Junge Kunst soll zu einem festen, mit Rheinland Pfalz verbundenen Begriff werden.“ „Kulturmetropole Hamburg“ lautet ein Kapitel im SPD Regierungsprogramm für die Freie und Hansestadt 2011 (bis 2015). Gleich zu Beginn heißt es: „Wir wollen den Dialog mit den Kulturschaffenden fördern. Wir wertschätzen sie für die Bedeutung für die Stadt und begrüßen es ausdrücklich, wenn Künstler Konflikte, Brüche, Kritik thematisieren, formulieren und auf den Punkt bringen.“ Die Sozialdemokraten wollen dafür sorgen, dass Hamburger Künstler „international sichtbar werden, indem wir dafür

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(Ausstellungs-)räume und Präsentationsmöglichkeiten schaffen und fördern“. Weder in den Koalitionsvereinbarungen 2011 bis 2016 zwischen SPD und CDU für die Bildung einer Regierung in Mecklenburg Vorpommern, noch im Koalitionsvertrag (2012-2017) zwischen CDU und SPD für die 15. Legislaturperiode des Landtages des Saarlandes kommen Künstler weder als Subjekte noch als Objekte vor. Auch beim Koalitionsabkommen zwischen CDU und FDP in Niedersachsen von 2009 kommt die Suchmaschine zu dem Ergebnis: „Dokument wurde durchsucht. Keine Treffer“. Das gilt interessanterweise auch für den Vertrag über die Bildung der Staatsregierung zwischen CDU und FDP im Freistaat Sachsen von 2010, da es dort mit dem Kulturraumgesetz ein Deutschlandweit ein einzigartiges Instrument der Kulturförderung gibt, das durchaus Künstler als Adressaten zu fokussieren weiß. Künstler sucht man auch vergebens in der Vereinbarung zwischen CDU und SPD in Sachsen-Anhalt für die 6. Legislaturperiode des Landtags 2011 bis 2016. Immerhin wird unter der Überschrift „Kulturpolitisches Engagement auf Bundesebene“ die Übereinstimmung mit den Handlungsempfehlungen der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ dokumentiert, in denen dezidiert Aussagen zur Künstlerförderung formuliert sind. Darüber hinaus unterstützt die Landesregierung in Magdeburg, die Initiative Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern „und die Künstlersozialversicherung als wichtiges Element der sozialen und kulturellen Künstlerförderung zu stärken“. Ganz ähnlich argumentieren CDU und SPD in der Vereinbarung „Starkes Thüringen – innovativ, nachhaltig, sozial und weltoffen“ (2009-2013): „Die Koalitionspartner unterstützen Bestrebungen Kultur als Staatsziel zu verankern und schließen sich damit dem Empfehlung der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ an. Weiterhin setzen sie sich dafür ein, dass die Künstlersozialkasse als unverzichtbarer Beitrag zur sozialen Sicherung der Künstlerinnen und Künstler erhalten bleibt.“ Des Weiteren argumentiert die Große Koalition mit der Bedeutung von Kultur für den Wirtschaftsstandort und als Tourismusziel. Ein Kulturwirtschaftsbericht soll in diesem Sinne fortgeschrieben und im Rahmen einer Potenzialanalyse „die soziale Lage der Kulturschaffenden untersucht“ werden. In Brandenburg soll die Kulturentwicklungskonzeption des Landes mittels der Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer Regierungskoalition von SPD und Linke (2009-2014) weiterentwickelt werden; denn Kulturpo-

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litik sei „auch Quelle wirtschaftlicher Wertschöpfung“. In unmittelbarer Nachbarschaft vereinbarten SPD und CDU eine Koalition von 2011 bis 2016 und überschreiben das neunte Kapitel mit „Kreatives Berlin: Kultur, Medien und digitale Gesellschaft“. Die Hauptstadt versteht sich als Magnet für Kreative aus aller Welt. „Der anhaltende Zuzug von Kunstschaffenden und Kreativen hat Berlin zu einem national und international ausstrahlenden Anziehungspunkt für Künstlerinnen und Künstler gemacht.“ In der Koalitionsvereinbarung 2008 bis 2013 zwischen CSU und FDP für die 16. Wahlperiode des bayerischen Landtags wird der Verfassungsrang von Kunstförderung dem Kapitel Kultur vorangestellt. Unter den Leitlinien von Regionalität und Dezentralität soll ein attraktives Kulturangebot im ganzen Lande unter anderem durch eine „Plattform zur Präsentation bayerischer Künstler“ sichergestellt werden. Nordrhein-Westfalen begründet seine Internationalität mit der kulturellen Vielfalt des Landes. „Unsere Künstlerinnen, Künstler und Kultureinrichtungen genießen weltweit hohe Wertschätzung. Sie sind damit zu wichtigen Kulturbotschaftern unseres Landes geworden“, heißt es auf Seite 111 des Koalitionsvertrages von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (2012 bis 2017). Erarbeitet werden soll ein Kulturfördergesetz, in der die Künstler selbstverständlich Berücksichtigung finden sollen: „Nur eine Minderheit der Künstlerinnen und Künstler kann allein von ihrer kulturellen Tätigkeit leben. Deshalb hat der Staat eine besondere Verantwortung für deren soziale Absicherung. Wir werden deshalb weitere Maßnahmen zur individuellen Künstlerförderung prüfen und eine Bündelung dieser Maßnahmen organisieren.“

Das Land Bremen sei „ohne seine Künstlerinnen und Künstler nicht denkbar“, so der zweite Satz im Kapitel Kultur der Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer rot-grünen Regierungskoalition für die 18. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft 2011 bis 2015. Es gälte, sich den gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen, um mit den Kulturschaffenden neue Wege zu beschreiten. „Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass gerade die Kunst einen Eigenwert besitzt, der sich jeglicher Messbarkeit entzieht. […] daraus leiten wir den politischen Auftrag ab, gemeinsam mit den vielen Akteurinnen und Akteuren in diesem Bereich für den Erhalt und die Weiterentwicklung des kulturellen Lebens in Bremen und Bremerhaven zu streiten.“ (S. 87)

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Wie in den meisten der Koalitionsverträgen wird der Kulturellen Bildung besondere Aufmerksamkeit gezollt. In Bremen mit einem interessanten Akzent: „Wir erwarten von den Schulen, dass sie zusätzlich zu den Fachlehrerinnen und Fachlehrern die Fähigkeiten und Angebote von Künstlerinnen und Künstlern in ihren Ganztagsbetrieb integrieren.“ Modellprojekte sollen vorangetrieben, Patenschaften zwischen Künstlern und Kreativen sowie öffentlichen Kultureinrichtungen mit Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen unterstützt werden. Bleibt noch ein Blick in die Wiesbadener Koalitionsvereinbarung „Vertrauen, Freiheit, Fortschritt. Hessen startet ins nächste Jahrzehnt“ von CDU und FDP 2009 bis 2014. Nur einmal kommen sie vor, die Künstler, unter Punkt 13 im Kapitel Integration: „Wir werden dafür Sorge tragen, dass beispielsweise ausländischen Unternehmen, erfolgreiche Wissenschaftler, Studenten, Künstler und Sportler mit Migrationshintergrund für ihre Leistungen öffentliche Anerkennung erfahren, und bewusst ihre Vorbildfunktion herausstellen.“ Noch immer nicht werden Künstler als relevante Ansprechpartner der Politik angenommen. Künstler werden allzu selten als wichtige Akteure der Gesellschaft anerkannt, Künstler spielen in der Politik nicht die Rolle, die ihnen gelegentlich bei anderen Anlässen gerne bekundet wird, wenn zum Beispiel Konzerthäuser in Betrieb gehen, Theater Jubiläen feiern oder Ausstellungen in Museen mit einer Vernissage eröffnet werden. So ist es zumindest in den Koalitionsverträgen nachzulesen, mal mehr, mal weniger. Die Nagelprobe ist und bleibt aber die Praxis der Kulturpolitik und da hat die parlamentarische Demokratie noch reichlich Nachholbedarf. Zu all den Befunden – ob nun die der zahlreichen empirischen Ergebnissen aus den Studien oder die der politischen Lyrik aus den Regierungsprogrammen und Koalitionsvereinbarungen in den Ländern –, fügen sich die Porträts und Gespräche mit Künstlern, die in dieser Publikation dokumentiert sind. Sie geben nicht nur Auskunft über künstlerische Interessen und biografische Entwicklungen, sie pointieren auch konkrete kulturpolitische Aussagen. Aus der Analyse ergeben sich sieben Überlegungen für eine Kulturpolitik, die Künstler gesellschaftlich ernst nimmt, indem sie Rahmenbedingungen für Arbeitsbedingungen ermöglicht.

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Erstens: Kulturelle Vielfalt schützen! Die meisten der befragten Künstler setzen sich mit dem Arbeitsmarkt auseinander, kritisieren den Druck des Marktes und die Ökonomisierung der Kultur. Eine Filmregisseurin plädiert angesichts der Frage, ob der Markt den gefühlten Überschuss an Filmemachern nicht selbst regulieren könne, für eine Art „Schutzprogramm für experimentellen, innovativen und künstlerisch wertvollen Film“. Dieser habe seine Berechtigung und sei sehr wichtig, weil er wiederum den kommerziellen Film beeinflusse und neue Impulse setze. Immer wieder wird auf den Auftrag der Kulturpolitik verwiesen, für kulturelle Vielfalt Rahmenbedingungen zu schaffen und die viel beschworenen Freiräume tatsächlich auch zu ermöglichen. Man müsste zudem Auftrittsorte haben, bei denen man die Zusammenarbeit der verschiedenen Künste unterstützt, schlägt eine Schriftstellerin vor. Es geht in der ganzen Gesellschaft, in der ganzen Welt, immer um Vernetzung, aber wenn Künstler das versuchen, erreicht sie die auf Sparten eingeengte Förderung nicht. Und die Raster sind oft sehr eng und starr. Zweitens: Kunst ist Kulturelle Bildung! Gefragt nach dem Bildungsauftrag seiner Arbeit hebt ein Musiker die Bedeutung seiner Lehrtätigkeit besonders hervor. Die Vermittlung von Musik durch Kulturelle Bildung sei für ihn sogar der wichtigste Teil. Weiter bestätigt er, dass dies auch von den Künstlern in der Gesellschaft erwartet werde. Viele Künstler betonen selbstbewusst, dass sie zur Kulturellen Bildung beitragen, indem sie mit ihren Kunstwerken auch eine Wahrnehmungsschulung implizieren. Bibliotheken sind wichtig, sagt eine Schriftstellerin. Viele Schulbibliotheken würden zum Beispiel für Schreibwerkstätten gerne Autoren einladen. Doch das geht häufig nicht, da die Eltern das Geld nicht aufbringen können. Es hat nicht jede Schule einen reichen Elternverein. Die Politik klagt sehr darüber, dass Kinder und Jugendliche ungebildet sind, schlecht lesen und sprachlich zu wenig ausgebildet sind, aber sie unterstützen viel zu wenig direkt an dieser Stelle, weil das nicht mit marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert werden kann. Es gibt bestimmte Bevölkerungsgruppen, die müssen gefördert werden, dazu gehören Kinder und Jugendliche.

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Drittens: Kultur braucht Förderung! Künstler profitieren von der direkten Künstlerförderung. Aber Preise, Stipendien und Projektaufträge gehen oft an der Lebenswirklichkeit vorbei. Viele Befragte plädieren für eine Überprüfung des kulturpolitischen Instrumentariums, einige fordern eine konzertierte Aktion der diversen Förderer in Stadt und Land, öffentlicher und privater Einrichtungen und des Bundes. „Viele Förderungen unterliegen einer Altersbeschränkung, das finde ich schwierig. Ich habe schon ein Dutzend Bücher veröffentlicht, ich bin nicht mehr unter 35 Jahren, ich bin keine Anfängerin und trotzdem kann ich ab und zu mal eine Förderung gebrauchen. Wenn ich alle zwei Jahre ein Stipendium hätte, dann könnten auch größere Projekte entstehen. Ganz ohne Förderung ist es sehr schwierig. [...] es wäre ganz gut, wenn es viel mehr Förderung für kürzere Zeiträume geben würde, mit entsprechend höheren Summen. Dass man wirklich drei Monate mal alles ausschalten und einfach schreiben kann.“ Und: „Das eigentliche Problem ist die Ungleichgewichtigkeit: Frauen haben meistens einen ganz anderen Lebenslauf als Männer, selbst wenn er nicht so unordentlich ist wie meiner. Frauen kriegen ja meistens Kinder um die 30 und haben dann erst einmal mit denen zu tun. Viele Stipendien, Förderprogramme und Ausschreibungen richten sich aber nur an Künstlerinnen bis 35. Ich finde, dass die Lebensläufe stärker in Betracht gezogen werden sollten.“ Viertens: Wider die Bürokratie der Künstlerförderung! Die Klage ist groß, denn der Förderdschungel sei intransparent. Und es brauche zu viel Zeit, um Mittel zu beantragen, um Mittel zu bekommen, um Mittel abzurechnen. Eine Bildende Künstlerin nennt die am häufigsten genannten Faktoren, die Verbesserung bedürfen: bessere Ausstellungsmöglichkeiten und bezahlbare Atelierräume, vor allem Beratungsstellen, die internationale Ausschreibungen und Preise transparent für Künstler aufbereiten. Das Modell von Künstler-Agenturen, die Mittlerorganisation sein könnten zwischen Kulturpolitik und Kulturschaffenden, taucht in diesem Zusammenhang auch schon einmal auf.

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Fünftens: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen Kulturauftrag! „Die Medien verheimlichen gute Musik. Es zählt nur, sagt der Musiker, was eingängig ist, damit der Verbraucher nicht viel nachdenken muss. Die Medien entziehen sich dem kulturellen Auftrag, den sie meiner Meinung nach haben. Ich würde mir wünschen, dass Medien ihren Kulturauftrag ernster nehmen.“ Auch dieses Thema beschäftigt viele der befristeten Künstler, nicht nur die Filmemacher, aber insbesondere die: „In der Filmförderung sind wir eigentlich gut aufgestellt“, sagt der Filmregisseur, „nur beim Fernsehen treten wir seit Jahren auf der Stelle.“ Denn im öffentlichrechtlichen Rundfunk kommt der Dokumentarfilm zu kurz. Für die wenigen verfügbaren Sendeplätze gibt es tendenziell immer weniger Geld. Die Honorierung im Dokumentarfilmbereich liegt weit unter allen anderen Urheber-Vergütungen, die im Rundfunk gezahlt werden. In den letzten zwanzig Jahren, in denen die Gagen zum Beispiel für Produktionsleitung oder Kamera um mehr als 200 Prozent gestiegen sind, blieb die Steigerung für Dokumentarfilmautoren und Regisseure einstellig. Von den Produktionsbudgets ganz zu schweigen. „Im Blick auf die Bezahlung bilden wir unter allen Kreativen des Mediensektors das Schlusslicht. Selbst der Wetterbericht ist teurer als ein Dokumentarfilm.“ Sechstens: Die Künstlersozialkasse und die Bundesagentur für Arbeit sind reformbedürftig! Die Gesellschaft entwickelt sich, die Kunst und die Künstler selbstverständlich auch. Aber kommt denn auch die Kulturpolitik nach? Immer wieder benennen die befragten Künstler auch Reformbedarfe bei der Künstlersozialversicherung. „Ich finde es schwierig zu definieren, wer Künstler ist. Die KSK macht das ja knallhart. Autorentätigkeit, Kamera und Regie sind künstlerisch. Aber Cutter, also Leute, die Filme schneiden, sind zum Beispiel nicht als Künstler bei der KSK anerkannt, obwohl diese genauso eine künstlerische Arbeit machen, wie die hinter der Kamera“, sagt der Filmemacher. Was die KSK wirklich für Künstler bedeutet, das wurde dem Dramatiker erst klar, als es zu Diskussionen über eine etwaige Abschaffung kam. „Es wäre ein absoluter Horror, wenn es die KSK nicht mehr gäbe.“ Sie sei für „freiberufliche Arbeit extrem wichtig. Sie muss aber auch mit

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der Zeit gehen.“ Dies gelte selbstverständlich auch für die Arbeitsvermittlung. „Die Mitarbeiter bei der Bundesagentur für Arbeit sagen einem auch ganz ehrlich, dass man dort durchs Raster fällt, weil die mir natürlich weder als Regisseurin, noch als Autorin einen Job vermitteln können, wie sollen sie auch? Theater suchen ihre Regisseure nicht beim Arbeitsamt. Für mich konnten die gar nichts tun, aber ich musste trotzdem immer da sein. Selbst wenn man das anfechtet mit der Begründung, einen Beruf zu haben, in dem man viel verreist, um Kontakte zu verschiedenen Leuten und Einrichtungen zu knüpfen, wird man als Arbeitssuchender eingestuft und als Arbeitssuchender, der Geld bekommen möchte, muss man zu Hause sein, allzeit bereit loszurennen, falls sich ein Job ergeben soll.“ Siebtens: Grundsicherung der Kultur. Grundeinkommen der Künstler! „Warum werden Künstler nicht bezahlt?“, fragt ein Filmregisseur. „Ich halte ein Grundgehalt für Künstler dringend für angebracht. Natürlich muss man prüfen, wer das bekommt und was er dafür tut. Aber die Deutschen lieben ihre Künstler nicht. Ein Künstler in Frankreich ist was ganz anderes als in Deutschland. Irgendwie ist das seltsame Vorurteil verbreitet, dass Künstler faul sind oder zu viel Geld bekommen.“ Und noch grundsätzlicher plädiert ein Schriftsteller: Als wesentliche Aufgabe der Kulturpolitik sei es, die Wichtigkeit von Kunst und Kultur noch entschiedener zu unterstreichen. Die Gesellschaft brauche einen Ausgleich zum Wirtschaftsstreben und Konkurrenzdruck. „Wir müssen begreifen, dass Kultur nicht nur ein Luxus, sondern als Gegenangebot eine existenzielle Notwendigkeit ist, dass der Mensch mehr ist, als dieses zu verwertende Wesen.“ Seiner Meinung nach haben das Kulturelle und das Soziale viele Verbindungen. „Eine soziale Kultur kann nur entstehen, wenn es auch eine ästhetische Kultur gibt und umgekehrt.“ Es ist gut, Künstler zu Wort kommen zu lassen, es ist gut, Auftrag und Wirklichkeit von Kulturpolitik am lebenden Corpus zu obduzieren, nicht alles ist gut, was gefordert wird – auch das muss gesagt werden. Politik ist kein Selbstbedienungsladen und Künstler müssen nicht von der Wiege bis zur Bahre gefördert werden. Aber es muss Konsens sein, dass nicht nur Armes Großes gebiert, es gibt eine soziale Verantwortung des Kulturstaates, es gibt eine Verpflichtung der sozialen Marktwirtschaft, nicht alles dem

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Diktat der Ökonomie zu unterwerfen. Kunst kostet und Künstlerarbeit sollte uns kostbar sein. Ohne dass mit Umwegrentabilitäten argumentiert werden muss, ohne die Kultur- und Kreativwirtschaft zum neuen Götzen einer Kulturpolitik zu machen. Künstlerförderung, ein Auftrag der Kulturpolitik Ob die Stellungnahmen der Künstler nun repräsentativ sind oder nicht, ob sie Altbekanntes wiederholen oder Egoismen befriedigen wollen, deutlich geworden ist, die Stimmen der Künstler sollten der Gesellschaft wichtig sein. Insofern möchte ich abschließend die gefilterten sieben Forderungen an die Kulturpolitik pointieren. Kulturpolitische Konsequenz sollte sein, die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Künstlern in Deutschland zu reformieren; Defizite im Kulturmanagement, Stärkung der Kulturvermittlung und Initiierung von kulturpolitischem Engagement seien als Leitlinien genannt. Kulturpolitische Konsequenz sollte aber auch sein, Kulturpolitik mehr konzeptionell zu denken, sozial- und bildungspolitisch zu vernetzen und von der Realität des Künstlerlebens auszugehen. Kulturpolitisch konsequent wäre zudem, eine Art Künstlerverträglichkeitsklausel bei allen gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen mitzudenken. Wenn sie uns so viel Wert sein sollen, die Künstler in Deutschland, wie es in den Sonntagsreden gelegentlich zu hören ist, dann muss dies auch im Alltagshandeln gefühlt werden dürfen. Es braucht eine Kulturpolitik, die Kunst ermöglicht, verteidigt und mitgestaltet, die daraus abgeleitet den gesellschaftspolitischen Auftrag hat, Künstler nicht ihren prekären Arbeitsund Lebensbedingungen zu überlassen, sondern eine konzertierte Wertschätzung durch soziale und wirtschaftliche Absicherung zu garantieren.

Deutscher Bundestag (Hg.) (2008): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete-Kommission, Regensburg. Eurostat (Hg.) (2011): Kultur in der EU 27. Kulturstatistiken im Rampenlicht, Pressemitteilung 55, Brüssel. Fonds Darstellende Künste (Hg.) (2010): Report Darstellende Künste. Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland, Essen.

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Schelepa, Susanne / Wetzel, Petra / Wohlfahrt, Gerhard u. a. (2008): Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich. Endbericht, Wien. Zimmermann, Olaf / Geißler, Theo (Hg.) (2010): „Künstlerleben: Zwischen Hype und Havarie“, in: Politik und Kultur, H. 6, 2010, Berlin.

Literatur

„Es wäre schon ein Traum: Nichts anderes machen als Schreiben und Lesen“ Porträt von Paul Brodowsky I NGA M ACHEL

Paul Brodowsky ist Autor, Slash-Schriftsteller und Universitätsdozent. Und im Grunde ist er immer noch Student. Brodowsky stellt fest: „Es hat sich besser entwickelt, als ich mir das hätte träumen lassen.“ Es ist allgemein bekannt: „Kunst und Kultur sind ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Gemeinwesens und damit unserer Zukunft.“ Auf REGIERUNGonline gibt Kulturstaatsminister Bernd Neumann zu Protokoll, was kaum jemand bestreiten kann. Und will. Eine Selbstverständlichkeit. Die Gesellschaft braucht Kunst. Doch was genau bedeutet sie, diese Selbstverständlichkeit, was davon ist greifbar, wenn es gilt, eine Kulturpolitik zu betreiben? Die Gesellschaft braucht Kunst – das impliziert kein kulturpolitisches Profil, es entbehrt zunächst einmal sogar der nötigen Plausibilität – denn es erklärt gar nichts. Etwas erklären – das könnte möglicherweise die Ausformulierung der Kunstauffassung, die hinter einer solchen Relevanzund-Dringlichkeit-der-Kultur-Erkenntnis steht. Befragt wird der produktive Einzelfall. Paul Brodowsky denkt kurz nach. Kein Satz von ihm ist ein Reflex, ein Schuss ins Blaue. Ein Satz von Paul Brodowsky ist überlegt. Kunst von Wert, sagt er langsam und fixiert den Blick auf irgendeinen Punkt – vielleicht an der Wand, sei so etwas wie eine Weltwahrnehmungshilfe. „Man kann etwas darüber lernen, was es bedeutet, in der Welt zu sein. Diese Hilfe anzubieten ist die Funktion von Kunst. Das kann ein Filzanzug von Joseph

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Beuys sein, oder eben ein Roman. In gewisser Hinsicht ist es eine Weise oder Möglichkeit, mit sich selbst in einen Dialog zu treten und Visionen zu entwickeln. Obwohl, „Visionen“ – das sei eigentlich ein Unwort … Paul Brodowsky wurde 1980 in Kiel als jüngstes von sieben Kindern geboren. Durch ein Schreibseminar im Rahmen einer Sommerakademie kam er bereits während der Schulzeit zu eigener literarischer Praxis und der Kurzprosa der Wiener Nachkriegsliteratin Ilse Aichinger so nah, dass er an der Universität Hildesheim von 1999 bis 2005 Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte, inklusive Exkurs in die USA im Rahmen eines Praktikums in einer Literaturagentur in New York. Zusammen mit anderen Studierenden des Studienganges gründete er die Literaturzeitschrift „BELLA triste“. In diesem Zusammenhang entstand außerdem die Idee für das Literaturfestival „PROSANOVA“, das Brodowsky 2005 mit anderen kollektiv leitete. Gut eineinhalb Jahre nach Beginn seines Studiums erhielt Brodowsky eines Tages einen Brief von einem Lektor des SuhrkampVerlages. Der hatte in der Literaturzeitschrift „Büchner“ seine Prosaminiaturen gelesen und überlegt, dass sich die auch in einem Büchlein gut machen würden. Das fand Brodowsky auch, schrieb seine Kurzprosa weiter und veröffentlichte im März 2002 sein Debüt „Milch, Holz, Katzen“ bei Suhrkamp. In den Folgejahren erhielt er ein Arbeitsstipendium des Landes Niedersachsen und ein Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. 2006 war er als „Writer in Residence“ am Deutschen Haus der New York University. Im Juni 2006 hat Brodowsky am Wettbewerb des Klagenfurter IngeborgBachmann-Preises mit der Titelerzählung seines Erzählbandes „Die blinde Fotografin“ teilgenommen. Im selben Jahr erhielt er den Niedersächsischen Literaturförderpreis. Neben erzählender Literatur schreibt Brodowsky auch Essays, Hörspiele und Theaterstücke, darunter Auftragswerke für die Wiener Festwochen oder das Theater Freiburg. Ebenfalls 2006 wurde sein Stück „Stadt, Land, Fisch“ in einer Werkstattinszenierung durch Regisseur Laurent Chétouane an den Münchener Kammerspielen präsentiert. Zum Zeitpunkt des Gespräches lehrt Brodowsky an der Hildesheimer Universität im Fach Literatur, lebt und arbeitet ansonsten aber in Berlin. Im Sommer 2009 zieht er nach Freiburg im Breisgau, im Mai 2010 kommt dort sein Sohn zur Welt.

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Hybrides Berufsfeld Wird er aus bürokratischem Anlass gezwungen seinen Werdegang zu pointieren, dann stellt Paul Brodowsky fest: Hauptberuflich ist er freier Schriftsteller. Oder besser: Autor – der Schriftsteller-Begriff sei auratisch ja ziemlich aufgeladen. Und: Nebenberuflich ist er Universitätsdozent. „Das ist klassisch für meine Generation“, konstatiert er, „es gibt hybride Berufsfelder.“ Konkret heißt das: Von den sechzig Arbeitsstunden in der Woche verwendet Brodowsky je zwanzig Stunden erstens für Verwaltungstätigkeiten, zweitens für die Arbeit an der Universität, und drittens für die künstlerische Produktion. Schreiben, das tue er hauptsächlich in den Semesterferien, „oder an den zwei, drei Tagen in der Woche, die neben der Dozententätigkeit noch übrig bleiben.“ Etwas frustrierend, könnte man folgern, für einen hauptberuflichen Schriftsteller oder Autor, sich dem Schreiben nur zu einem Drittel der eigenen Arbeitszeit widmen zu können. Wäre das Ideal nicht ein andauerndes Schreiben, das Schreiben allein? „Es ist eine freie Entscheidung“, hält Brodowsky entgegen, „finanziell würde ich drauf verzichten können, den Dozentenjob zu machen.“ Aber er macht ihn trotzdem. „Weil ich das mag, Unterrichten, Leute weiterzubringen, ihnen zu helfen, das finde ich befriedigend, auf eine Art … Außerdem hängen bei mir beide Bereiche eng zusammen – ich unterrichte ja Schreiben und nicht Biologie. Das heißt, das was ich unterrichtend mache, bringt mich unter Umständen auch in meinem Schreiben weiter.“ Der perfekte Beruf? Brodowsky lacht. Die Antwort folgt zögerlich. „Natürlich gibt es zwischen diesen Polen auch ein gewisses Druckverhältnis. Der wissenschaftliche Betrieb erwartet von einem, dass man sich ihm mit ganzer Seele hingibt. Und beim Schreiben kommt man meist am besten durchs Schreiben selbst voran, durch die Praxis. Dazu kommt, dass bei mir das Schreibinteresse auch noch mal geteilt ist: Dramatisches Schreiben und Prosa. Das heißt: Ein Drittel meiner Arbeitszeit ist dem Schreiben gewidmet und davon grob gesprochen je die Hälfte für jedes Genre. Es gibt schon immer wieder Anfragen für Projekte, die mich eigentlich interessieren und die sogar okay bezahlt sind, bei denen ich dann trotzdem anfangen muss auszuwählen, denn all das kann man neben dem Uni-Alltag nicht schaffen – gäb es den nicht, könnte ich mehr schreiben. Das gerät schon mal in Konflikt.“ Offensichtlich, denn Brodowsky fügt hinzu: „Insgeheim hat das Schreiben

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Priorität gegenüber der wissenschaftlichen Arbeit und dem Unterrichten. Aber alle Autoren, die ich bewundere, waren auch intellektuell auf der Höhe ihrer Zeit. Daher denk ich, das kann auch mir nur gut tun. Insofern ist das auf eine Art auch eine Fortführung meines Studiums.“ – Paul Brodowsky ist zum Zeitpunkt des Gespräches im Winter 2008, 28 Jahre alt und nach eigenen Angaben „jung und in Entwicklung begriffen.“ Auf jeden Fall, so schließt er den Bogen, sei das alles nicht ganz so einfach zu jonglieren. Die persönliche Freizeit sei minimal. Die einzige Zeit im Jahr, in der er „arbeitslos“ sei, seien die vier bis sechs Wochen, in denen er sich Zwangsurlaub gibt. Einfach, klar und deutlich zu erkennen aber ist: Die Kleinkunst der beruflichen Hybridität zahlt sich aus. In den letzten drei Jahren sei sein Nettoeinkommen gestiegen, sagt er, zwar verdiene er im Jahresdurchschnitt mehr Geld durch das Schreiben, die halbe Stelle an der Uni mache aber um die vierzig Prozent seines Gesamtverdienstes aus. Eine sichere Basis, ein monatliches Festeinkommen. Die Einnahmen als freier Autor dagegen kommen schubartig und sind oft ungewiss. „Es gibt immer kleinere Beträge, die so reintröpfeln. Und dann gewinnt man mal einen Preis und bekommt fünfoder zehntausend Euro oder man bekommt ein Stipendium – wenn’s gut läuft, sind das vielleicht zwanzigtausend, und davon kann man dann wieder ein Jahr leben. Allerdings weiß man das nie so ganz genau – die Übersicht über das, was man verdient, ist schwer zu gewinnen.“ Im Vergleich zu durchschnittlichen Gehältern anderer Hochschulabsolventen sei sein eigenes Gehalt vielleicht eher normal bis wechselhaft, neben Künstlern und Kommilitonen aber stehe er recht gut da. Vermutlich liegt das nicht zuletzt daran, dass Brodowsky nüchtern Abstand nimmt vom romantischen Ideal des sich ganz in seinem Werk auflösenden Künstlers. Brodowsky tut, was getan werden muss. „Ich bin relativ pragmatisch, was das sich Kümmern um Stipendien und Förderung betrifft“, sagt er. „Und natürlich denke ich genau darüber nach, wie ich ein Exposé schreibe, das ich bei einer Stiftung einreiche und das ein Interesse bestimmter Leute wecken sollte. Das könnte man auch alles ablehnen. Andere sind zum Beispiel auch viel skrupulöser, denken, ihre Arbeiten seien noch nicht gut genug, um sich für irgendwas zu bewerben. Ich dagegen versuche immer alles abzugreifen, was geht, und von fünf Bewerbungen klappt eben eine.“ Klar, sagt er, man könne es zwar auch ohne diese Bemühungen zu etwas bringen, „das gibt es immer wieder. Trotzdem fällt mir niemand

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ein, den ich selbst kenne, von dem man sagen könnte, er habe völlig kompromisslos sein Künstler-Ding durchgezogen und wäre damit erfolgreich geworden.“ Derzeit ist Paul Brodowsky Stipendiat am Künstlerhof Schreyahn, eine Förderungsstätte, die von der Nicolas-Born-Stiftung des Landkreises Lüchow-Dannenberg im Hannoverschen Wendland getragen wird. Marktferne heißt nicht Mittellosigkeit „Je kaffiger desto preisender!“, ruft hier Oliver Jungen dazwischen – in Form eines in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Essays vom 30. April 2008. Die Position des FAZ-Journalisten im Diskurs um relevante Literatur ist unversöhnlich nostalgisch, seine Helden sind nicht die jungen Autoren der Jetztzeit, sondern die vom Schlage Alfred Döblins und Rainald Goetz’ – des Rainald Goetz von vor zehn Jahren, versteht sich. Jungen vermisst auf deutschem Boden die „detonative“, ja „militante“ Literatur vergangener Tage. Und er weiß auch, wo sie geblieben ist – mitsamt ihrer Schreiber ist sie in den überdimensional großen Topf gefallen, auf dem in goldenen Lettern „Autorenförderung“ steht. Mehr Preise als Schriftsteller gäbe es in Deutschland, klagt Jungen an, hunderte von öffentlichen und privaten Literaturpreisen seien auf die deutschsprachige Literatur niedergegangen und hätten sie sanft unter sich begraben. Mehr als eine Million Euro jährlich vom Deutschen Literaturfonds, eine feste Verankerung von Arbeits- und Jahresstipendien im Kulturetat aller Länder, Gastprofessuren und Stadtschreiberstellen. Die „Subventionsverschwörung“ habe die Literatur als Pflegefall abgestempelt, als tatterige Tante, der man nun den nahenden Lebensabend versüßen wolle. Und die Literatur? Die sei „zutraulich geworden durch die regelmäßige Fütterung“, sie habe ihre Aufgabe zur Wirksamkeit vergessen. Und jeder zweite, der einen „Geniebefall“ an sich entdeckt, schließe sich der friedlichen Meute munter an. Opportunismus und Taktik aber seien schon ein halbes Steckenbleiben. Irgendwann sei das, was in Büchern stand, mal subversiv gewesen. „Hungert sie aus“, fordert Jungen daher, auf dass sich Schriftsteller wieder auf eigene Verantwortung durchs Leben schlagen. Kafka jedenfalls habe es nicht geschadet. Trotzdem, will man hinzufügen, hätte vielleicht niemand mit ihm tauschen wollen. Paul Brodowsky kennt den Artikel. Und er sieht nicht aus wie jemand, dem man damit auf den Schlips getreten ist. Seine Prosa nimmt laut Suhr-

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kamp Verlag „Alltägliches in den Blick“, und zwar so, „dass dieses in ein merkwürdiges Licht gerät“. Fühlt er sich schuldig, weil, was er schreibt, nicht direkt „detoniert“? „Da muss man auch abstrahieren können“, sagt Brodowsky ungekränkt. „Ich denke nicht: ‚Ah, der will jetzt verhindern, dass ich Geld kriege‘.“ Jungen versuche, ein bestimmtes Umdenken bei verantwortlichen Stellen zu erwirken, sozusagen Kulturpolitik vom Journalistensessel aus zu machen. Teilweise könne er den Impuls Oliver Jungens nachvollziehen: „Marktferne Kulturformen sind extrem wichtig für die Entwicklung neuer Formen, die Erschließung neuer Inhalte von Kultur.“ Dennoch kranken die Thesen Jungens an einem klischeehaften Autorenbild und einer Art sozialdarwinistischen Vorstellung von den potenziellen Selbstreinigungskräften des Literaturbetriebs, würde man nur die angebliche Überalimentierung der Autoren einstellen. „Die Gleichung ‚mittelloser Schriftsteller gleich guter Schriftsteller‘ ist natürlich blanker Unsinn, wie ein Blick in die Literaturgeschichte sehr schnell lehren kann.“ Vielmehr sei es wichtig, dass Literatur von relativ vielen produziert werden könne; aus einer breiten Basis erwüchsen dann auch ästhetische Spitzenleistungen und Innovationen, wie Jungen sie einfordere. Dass der Literaturbetrieb und die Literaturförderung ästhetisch kompromittierend wirken, glaubt Brodowsky eher nicht. „Ich würde vielleicht ein Exposé, aber sicherlich nicht ein Schreibprojekt daraufhin ummodeln, damit ich möglichst Stipendien dafür bekomme oder einen Preis gewinne.“ Leben, kämpfen und sterben für den Text, das kann man machen. Paul Brodowsky findet aber auch noch andere Dinge interessant. „Mit zwölf wollte ich Ornithologe werden. Ich komme aus einer Naturwissenschaftlerfamilie. Mit vierzehn habe ich dann angefangen Theater zu spielen. Das hat mich dazu gebracht, sehr viel zu lesen … Und dann hat man so mit sechzehn, siebzehn ‚Intellektueller alter Schule‘ gespielt und ist schon mal im Frack zur Schule gegangen“, sagt er, lacht, schaut einen kurz an und wieder weg. „Ich habe dann eine freie Theatergruppe gegründet und inszeniert.“ Aber dann hat ihn ein Tinnitus umdenken lassen, „da habe ich gemerkt: Ich will doch nicht Regisseur werden oder Schauspieler – das ist mir zu anstrengend, da bekommt man Tinnitus!“ Doch die eigentliche Erkenntnis war die: „Ich habe mir zu großen Druck gemacht, weil mir das Ganze so wichtig war“. Und dann? „Dann wollte ich Literaturübersetzen an der Uni Düsseldorf studieren. Plan B war Hildesheim.“

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Dann also kam das Schreiben. Und das weder mit dem manischen Gestus eines Rainald Goetz, noch mit der nach Soziophobie schmeckenden Subversivität eines Franz Kafka. „Klar, man fängt erstmal an, mit so einem ozeanischen Gefühl von ‚man ist mit allem verbunden und kann alles‘. Aber das differenziert sich dann in so einem Studium aus. Talent ist auch begrenzt, man ist stets am Ausloten. Sicher gibt es Dinge, die man grundsätzlich gern erreichen möchte, aber eigentlich war meine ‚Karriere‘ immer sehr von besagter Hybridität geprägt, das kenn ich auch von meinen Freunden.“ Aber er wäre nicht Paul Brodowsky, dächte er nicht auch darüber nach, wie es noch sein könnte: Wie hybrid kann man eigentlich aus freien Stücken sein? Ohne Leseförderung keine Literatur „Es wäre schon ein Traum: Als freier Autor leben und nichts anderes machen als Schreiben und Lesen. Ich bewundere zum Beispiel dieses Lebensmodell von Rainald Goetz. Jemand der sein Leben komplett auf das Künstlersein ausgerichtet hat, der seine Funktion darin sieht, die Mechanismen der Gegenwartsgesellschaft intelligent zu reflektieren und als Text immer wieder in dieselbe einzuspeisen. Das – und man hat bei Goetz das Gefühl: eigentlich nur das – wird permanent und manisch und als absoluter Lebensinhalt betrieben. Das finde ich schon irgendwie toll, aber ich weiß auch nicht, ob ich dieses radikal Ungebundene für mich tatsächlich will.“ Ja, die ganze Hybridität habe wohl auch etwas mit dem Unwillen zu tun, Entscheidungen zu treffen und damit potenzielle andere Wege auszuschließen, das wisse er schon. Brodowsky aber bleibt bei der Sache und berichtet der Anschaulichkeit halber: „Eine Zeit lang dachte ich zum Beispiel, ich würde Lektor werden. Jetzt steht das kleine Türchen offen, eine Uni-Karriere zu machen. Momentan merke ich aber, dass ich das Schreiben ernster nehme als das wissenschaftliche Arbeiten.“ Doch der Literaturbetrieb bleibt schwer berechenbar. Würde ihn das Autor-Dasein in den finanziellen Ruin treiben, und sich das Leben so allzu beschwerlich gestalten, könnte er das Schreiben zwar nicht aufgeben, sagt er: „Ich würde auch ohne, dass ich dafür Geld bekäme, weiterschreiben.“ Sinnvollerweise gelte es dann aber, dennoch andere berufliche Zweige weiter auszubauen. „Entscheidungen fallen dann eher aus dem Moment heraus. Und, ja, … es geht immer weiter.“

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Für Paul Brodowsky ging es bisher auf diese Weise immer weiter gut. Die Bereicherung durch die Kunst war ihm Grund genug, sich zu arrangieren mit den Gegebenheiten. Kompromisse eingehen, Freizeit opfern, Bürokratie akzeptieren. Das ist realistisch und funktional und deshalb ist es sogar ein bisschen cool. Und: Jeder andere könnte das auch. Potentiell. Brodowsky sieht eine elementare politische Verantwortung darin, den Möglichkeitswert der Kunst zu vermitteln, das Bewusstsein für Kunst überhaupt zu schärfen – sie als ein Grundrecht zu begreifen und so auch zu schützen. „Leseförderung! Literarische Schreibförderung! Ohne Leser keine Literatur!“, appelliert er mit Nachhalt. „Es wäre wichtig zu erkennen, dass die schulische Ausbildung ab der Grundschule mehr auf Ausbildung von ‚Literacy‘, also Lesekompetenz bei den Schülern ausgerichtet sein müsste. Mehr Vorlesen in der Grundschule, das Selber-Lesen der Schüler massenhafter unterstützen, mehr Gegenwartsliteratur in der Mittel- und Oberstufe und weniger Eintrichtern von Dietrich-Schwanitz-bürgerliche-DistinktionsAllgemeinbildung. Die Lust für Literatur sollte geweckt werden – eben dadurch, dass Schüler erfahren, dass die Themen von Literatur, vor allem der gegenwärtigen, sie angehen. Und das muss angstfreier geschehen als im normalen Deutschunterricht. Zudem: Literarisches Schreiben als Grundkurs für alle, so wie das mit Creative Writing-Kursen an Colleges und Highschools in den USA praktiziert wird, auch um allgemeine Schreibkompetenz auszuprägen. Und: Autoren an die Schulen!“ Das klingt als täte sich eine neue Tür auf.

„Es kann ja auch einmal die fetten Jahre geben!“ Gespräch mit Anja Tuckermann J ENNIFER F ANDRICH

Am Hanser-Stand auf der Leipziger Buchmesse im März 2009 treffe ich Anja Tuckermann. Nachdem ich zuerst die falsche Frau gefragt hatte, ob sie meine Gesprächspartnerin sei, kommt eine zierliche Frau mit dunkler Lockenmähne auf mich zu und sagt schüchtern: „Ich glaube, ich habe meinen Namen gehört.“ Wir suchen uns im Gewühl am ersten Tag der Buchmesse einen freien Tisch. Anja Tuckermann schreibt seit 21 Jahren – Kinderbücher, Romane, Theaterstücke, Libretti und andere Texte für Musik, Kurzprosa und Drehbücher. Sie erhielt 2006 den Deutschen Kinderliteraturpreis für ihr Buch „Denk nicht, wir bleiben hier“ sowie viele Stipendien und andere Auszeichnungen. Geboren im bayerischen Selb, aufgewachsen in BerlinKreuzberg, arbeitete sie nach ihrem Schulabschluss als Organisatorin und Reiseleiterin von Jugendfreizeiten sowie als Redakteurin beim RIASKinderfunk. 1988 erschien ihr erstes Buch „Mooskopf“, viele weitere Bücher folgten. 2008 erschien ihr neuestes Jugendbuch „Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war“. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Ankara war sie 2007 zwei Monate Stadtschreiberin in Ankara. Mit diesen vorab gelesenen Informationen über Frau Tuckermann beginne ich das Interview mit dem Interesse, mehr über konkrete Förderinstrumentarien zu erfahren, die sie als Autorin nutzt sowie über die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb welcher sie agiert. Ist die Kulturpolitik in Deutschland künstlerfreundlich oder künst-

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lerfeindlich? Welche Kulturpolitik brauchen Künstler? Was sollte kulturpolitisch verändert werden? Laut der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages kann nur ein Prozent der Autoren von ihrer Autorschaft leben. Was sagen Sie aus Ihrer Erfahrung und Sichtweise dazu? Ich kann das bestätigen. Ich lebe auch nicht von meinen Büchern, sondern von meinen Lesungen und Workshops. Insofern lebe ich von meiner freischaffenden Tätigkeit, aber nicht vom Schreiben an sich. Das geht nicht. Man kann von dem Honorar, also dem Vorschuss für ein Buch, nicht mal ein halbes Jahr leben. Also ich jedenfalls nicht, andere mit höheren Vorschüssen vielleicht schon. Werdegang und Arbeitsalltag Was ist Ihr Beruf? Ich habe die Schule beendet und dann Verschiedenes gearbeitet. Mein Beruf ist Schriftstellerin. Ich habe nie eine Ausbildung gemacht, kein Studium, keine Lehre. Ich habe nach der Schule mit Kindern gearbeitet, einen Treffpunkt für Mädchen mit aufgebaut und Reisen betreut usw. Dann war ich drei Jahre beim RIAS in Berlin angestellt. Das war das einzige Angestelltenverhältnis in meinem Leben. Anschließend habe ich freischaffend weiter für den Sender gearbeitet. Wie sind Sie dann zur Schriftstellerei gekommen? Schon am Ende der Schulzeit habe ich an meinem ersten Buch geschrieben, aber ich wusste natürlich überhaupt nicht, wie man ein Buch bei einem Verlag unterbringt und wie es dann weitergeht. Ich konnte das Buch fertig schreiben, weil mir ein Stipendium der Stadt Berlin bewilligt wurde. Ich schrieb dieses Buch in sechs Monaten fertig und fand sofort einen Verlag. Das war dann ein guter Anfang. Im Jahr darauf ist mein erstes Buch erschienen. Wie ist das Manuskript zum Verlag gekommen? Ich hatte 1987 eine Autorenfortbildung von der Bertelsmann Stiftung mitgemacht. Das Manuskript habe ich einem der Workshopleiter, einem Lektor, geschickt. Der hat es gelesen. Es geht ja nicht nur darum, ob das Manuskript gut ist oder nicht, sondern auch darum, ob es gelesen wird oder nicht.

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Das Buch war gleich zu Anfang sehr erfolgreich und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Das erste Buch war wirklich ein wunderbarer Anfang. So leicht ist es dann nicht immer gewesen. Ist es einfacher, in die Branche einzusteigen, wenn erst einmal ein Buch erschienen ist? Ich war damals ganz ahnungslos, wie man überhaupt mit Leuten bei Verlagen redet und was die einem sagen. Für das zweite Buch musste ich dann noch mal einen langen Anlauf nehmen. Ich hatte damals ja die Stelle beim Radio, später habe ich sie aufgegeben, damit ich weiterschreiben konnte. Das wäre nicht zusammen gegangen mit einer festen Arbeit. Das heißt, Sie haben die Sicherheit aufgegeben, um dann schreiben zu können? Ja. In dem Moment, in dem ich eine feste Planstelle hätte bekommen können, habe ich gesagt: „Jetzt gehe ich.“ Ich wollte die Stelle nicht belegen. Ich habe dabei an mich gedacht. Ich habe viele Überstunden gemacht, es war eine schöne Arbeit, die mir Spaß gemacht hat, aber durch die Überstunden, die Sendungen, die wir jede Woche zu füllen hatten, blieb keine Zeit zum Schreiben. Ich wollte mich grundsätzlich entscheiden. Ich wollte nicht eine sichere Stelle mit festen Einkommen haben und gleichzeitig immer denken: „Aber ich würde ja so gerne was anderes tun.“ So wollte ich nicht leben. Was wollten Sie werden als Sie klein waren? Das werde ich öfter bei Lesungen gefragt. Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich wollte immer nur tun, was ich will. Das war das Wichtige. Geschrieben habe ich schon als Kind gerne. Ich bin zwar nicht gerne in die Schule gegangen, aber das hatte damit nichts zu tun. Ich hätte gerne Film studiert. Das hat nicht geklappt. Malerei hätte ich auch gerne studiert, hat auch nicht geklappt. Welche beruflichen Tätigkeiten üben Sie heute aus? Schriftstellerin, Literaturwerkstattleiterin, Vorleserin, Journalistin. Ich schreibe auch Theaterstücke, aber im Moment eher selten, weil ich jetzt zwei große Buchprojekte hinter mir habe. Ab und zu schreibe ich einen Artikel für eine Zeitung. Und ab und zu den Text für einen Komponisten.

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Haben Sie einen geregelten Tagesablauf? Ich bin sehr diszipliniert beim Arbeiten, aber ich habe keinen festen Rhythmus. Ich versuche immer, früh aufzustehen, schaffe das aber meistens doch nicht, und dann fange ich direkt an: Ich mache zuallererst Organisationsarbeiten oder schreibe an meinem aktuellen Text weiter. Ich arbeite zu Hause und alles andere, was einen ablenken könnte, wie Haushalt, Freunde, das verschiebe ich auf nachmittags oder abends, wenn ich schon etwas geschrieben habe. Aber ich kann den zeitlichen Ablauf auch jederzeit wieder umwerfen. Als ich anfing, freischaffend zu arbeiten, brauchte die Überwindung, zu Hause auch wirklich zu arbeiten, ein bisschen Übung. Das fällt mir jetzt nicht mehr schwer. Jedenfalls wenn ich weiß, was ich schreiben möchte. Üben Sie Ihre hauptberufliche Tätigkeit hauptsächlich an Ihrem Wohnort aus? Die Frage ist, was als hauptberuflich angesehen wird. Wenn ich zum Beispiel ein Aufenthaltsstipendium habe, bin ich nicht zu Hause, sondern schreibe woanders. Aber wenn das Schreiben die hauptberufliche Tätigkeit ist, dann ist es zu Hause. Womit ich mein Geld verdiene, sind die Lesungen und da bin ich immer unterwegs. Das ist sehr viel Reiserei. Man kommt und geht. Innerhalb welcher Reichweiten finden die Projekte außerhalb Berlins statt? In fast allen Bundesländern Deutschlands, in der Deutschschweiz, ich war aber auch in Istanbul, Ankara oder Beirut. Das Weiteste war Indien, das ist jetzt aber schon ein paar Jahre her. Da habe ich auch einen Workshop für Jugendbuch-Romanautoren gegeben. Die Goethe-Institute sprechen mich jeweils für solche Aufträge an, ich kümmere mich nicht selbst darum. Bisher sind auch immer Angebote gekommen, weil ich sehr viel gemacht habe und sich aus allem, was ich getan habe, etwas Neues ergab. Bei den Fördermöglichkeiten bewerben Sie sich dann initiativ? Es ist eine ganz andere Art zu wirtschaften, wenn man freischaffend ist, weil ich ja weiß, ich bekomme nicht jeden Monat mein regelmäßiges Gehalt. Das heißt ich sehe, wenn ich in zwei, drei Monaten keine Einnahmen habe. Ich habe immer ein bisschen Geld gespart, so dass ich mindestens drei Monate überstehen kann. Wenn es über die drei Monate hinausgeht,

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beginne ich im Internet und in Zeitschriften Ausschreibungen durchzusehen. Dann überlege ich mir, ob ich mich bewerbe und mache das dann zum Teil. Da muss man dann schon auf dem Laufenden bleiben. Das bin ich auch. Da die Wettbewerbe zum Teil auch wie eine Lotterie sind, bewerbe ich mich bei mehreren. Wenn ich einen fertigen Text habe und nicht extra etwas schreiben muss, nehme ich sowieso teil. Und wenn ich extra einen Text schreiben will, dann muss die Ausschreibung für mich wichtig oder aussichtsreich sein. Soziale und wirtschaftliche Situation Wie beurteilen Sie insgesamt Ihre wirtschaftliche Lage? Ich bin froh darüber, dass ich es geschafft habe, die Arbeit so zu gestalten, wie ich sie will und ich keine ungeliebten Auftragsarbeiten wie SerienSchreiben annehmen muss. Aber es stört mich, wenn ich durch die Lesungen wieder herausgerissen werde aus meinem Schreibprozess. Manchmal könnte es ein bisschen komfortabler sein. Es ist sehr mühsam, für jede Lesung die ganze Organisation und die Verträge usw. zu machen. Das kostet viel Zeit. Wenn mehr Geld da wäre und ich jemanden mitfinanzieren könnte, der mir helfen würde, dann hätte ich auch mehr Zeit, mich auf größere Projekte zu konzentrieren. Einen Roman schaffe ich nicht ohne ein Stipendium. Welche Finanzierungsquellen nutzen Sie, um Ihre beruflichen Projekte zu realisieren? Lesereisen, Schreibwerkstätten – bei Einrichtungen mit gemischter Finanzierung aus Projektmitteln von kommunalen Stellen, Bundes- oder Landeszentrale für politische Bildung, EU-Mittel, Goethe-Institute, Universitäten. Etwas genauer angegeben sind die Lesungen bei Literaturwochen, in Luzern und Zürich gibt es „Jugend und Kultur“ von den Kantonen, die machen große Leseveranstaltungen. Ich war zum Beispiel bei der saarländischen Kinderbuchmesse, bei einer Lesereihe in Sankt Augustin „Zu Gast auf dem Sofa“, bei der Münchner Bücherschau. Bei den Goethe-Instituten waren es immer Workshops, zu denen ich eingeladen wurde, in Ankara und in Indien. In Ankara hat sich daraus ergeben, dass ich mit einem Theater

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zusammen arbeite und ein Stück schreibe. Da waren die Unterstützung und das Interesse vom Goethe-Institut da. Stipendien sind der kleinere Teil. Letztes Jahr war ich in der „Villa Waldberta“ vom Kulturreferat München, das war ein Stipendium von drei Monaten. Das ist natürlich toll, da hab ich mein letztes Buch in großen Zügen weiterschreiben können. Waren an dem Aufenthalt in der Villa Bedingungen geknüpft? Ja, ich sollte die museumspädagogische Arbeit des noch im Aufbau befindlichen NS-Dokumentationszentrums beraten. Diese Aufgabe hielt sich aber zeitlich in Grenzen. Aber das Gute war, dass ich nicht speziell einen Text für den Ort schreiben musste, nicht bei jeder Aufenthaltspflicht muss man etwas „abliefern“. Ich bewerbe mich bei manchen Stellen von vornherein nicht, wenn schon in der Ausschreibung steht, was man alles tun soll. Da wird man so vereinnahmt, dass die Zeit gar nichts bringt. Wenn ich ein Stipendium bekomme von 1000 Euro monatlich und daran ist eine Aufenthaltspflicht von acht Monaten geknüpft, aber meine Miete in Berlin beträgt 1100 Euro, muss ich trotzdem Geld dazu verdienen. Wenn ich die ganze Zeit dort bleiben muss, ist das unmöglich. Ich muss zwischendurch wegfahren und lesen. Ohne die Lesungen geht es gar nicht. Ich hatte auch mal ein Stipendium in der „Akademie Schloss Solitude“, dort gab es einen Mietzuschuss. Das heißt, ich konnte mit dem Mietzuschuss und dem Stipendium dort leben und meine Miete bezahlen. Manche vermieten auch ihre Wohnung, das hab ich zum Teil auch gemacht. Wie viele vergütete Projekte haben Sie durchschnittlich im Jahr? Das weiß ich nicht. Ich kann das schlecht sagen. Manchmal habe ich drei Lesungen im Monat und manchmal zwei Wochen lang drei Lesungen am Tag. Es ballt sich immer im Oktober und November, die Einnahmen spare ich für die Monate Februar, März, April. Die Buchmessen bringen aus wirtschaftlicher Sicht fast nichts ein, es sei denn, man knüpft Kontakte, aus denen sich etwas ergibt, oder verabredet etwas Neues.1

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Im Fragebogen, den Anja Tuckermann nach dem Gespräch ausgefüllt hat, gibt sie an, dass sie in einem Jahr vier bis fünf Schreibwerkstätten und ca. 80 Lesungen durchführt. Diese Projekte sind fest vergütet.

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Sind Sie in der Künstlersozialkasse versichert? Ja. Ohne die wäre es schwierig. Die Künstlersozialkasse ist dringend notwendig. Es ist für freischaffende Künstler nicht möglich, im Vorfeld alles genau abzurechnen, da sie ja nicht wissen, welche Projekte sie machen werden. Das ist für mich ein perfektes System so. Forderungen an die Kulturpolitik Was hat Kulturpolitik mit Ihnen direkt zu tun? Ich komme aus Berlin, dieser Pleitestadt. Was mich persönlich ärgert, ist, dass die Politiker sich einerseits gerne mit Künstlern schmücken, aber andererseits Berliner Künstler und gerade Berliner Literaten so wenig fördern. Auch der Umstand, dass viele Bibliotheken schließen, hat mit meiner Arbeit zu tun. Bibliotheken sind wichtig. Viele Schulbibliotheken würden zum Beispiel für Schreibwerkstätten gerne Autoren einladen. Doch das geht häufig nicht, da die Eltern das Geld nicht aufbringen können. Es hat nicht jede Schule einen reichen Elternverein. Die Politik klagt sehr darüber, dass Kinder und Jugendliche ungebildet sind, schlecht lesen und sprachlich zu wenig ausgebildet sind, aber sie unterstützen viel zu wenig direkt an dieser Stelle, weil das nicht mit marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert werden kann. Es gibt bestimmte Bevölkerungsgruppen, die müssen gefördert werden, dazu gehört die Jugend, ebenso brauchen bestimmte Kunstsparten Förderung. Die muss es geben und ich finde, auch eine Vielfältigkeit sollte gefördert werden. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat gesagt: „Kunst und Kultur sind ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Gemeinwesens und damit unserer Zukunft.“ Warum braucht unsere Gesellschaft Kunst? „Kultur als Staatsziel“, da schaudert es mir – ich dachte, wir sind so etwas wie eine Kulturgesellschaft. Kultur heißt ja auch der Umgang miteinander, der friedliche Umgang. Kunst verbindet Menschen. Ich mache zwar meine eigene Kunst, meine Bücher, aber Kontakt mit Menschen habe ich durch die Lesungen und Workshops. Kunst verbindet, Menschen können sich in der Gesellschaft ausdrücken und mitteilen. Das ist für unser Dasein genauso wichtig wie die Sprache. Bei Vorlesewettbewerben von Schulen konnte ich das auch beobachten: Immer wenn jemand eine Geschichte vorliest, sit-

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zen hunderte Leute und hören einfach zu, wie ein anderer vorliest. Das ist so friedlich. In dem Moment sind die Menschen miteinander verbunden. Keiner richtet irgendeinen Schaden an in dieser Zeit. Und natürlich ist Kunst auch ein Mittel zum Weltenöffnen. Vor allen Dingen ist Kunst auch die Geschichte einer Nation und Geschichtsschreibung. Ob es jetzt Bücher oder Bilder sind oder Musik. Aus diesem Grund ist es so schlimm, dass Bibliotheken schließen. Jede einzelne Geschichte ist Teil einer Geschichte der ganzen Nation. Aus Ihrer Antwort habe ich herausgehört, dass Ihnen der Kontakt zu Ihren Lesern sehr wichtig ist? Ja, sonst ist man mit seinem Schreiben nur allein. Beim Schreiben mache ich mir noch keine Gedanken darüber, für wen ich schreibe. Ich kann nur das schreiben, was mich selbst interessiert. Es muss mich anrühren und interessieren. Beim Schreiben ist es so, als würde ich das Geschriebene miterleben. Natürlich lerne ich auch, wenn ich lese. Zum Beispiel wenn mir etwas gefällt oder nicht gefällt, dann überlege ich, warum hat der das so und so gemacht und wie will ich das machen. Aber damit bin ich wirklich erst einmal alleine beschäftigt. Erst wenn das Manuskript fertig ist, suche ich den Kontakt zum Verlag, einem Lektor und dem Publikum, der Leserschaft. Wie schätzen Sie die Zukunftschancen für Autoren ein? Ich denke, es wird immer Autoren geben. Allerdings gibt es immer mehr Autoren, die von vornherein ihren finanziellen Erfolg berechnen, bevor sie überhaupt anfangen zu schreiben. Da sind wir wieder bei dem vorigen Abschnitt: es muss auch Autoren geben, die nicht Mainstream schreiben. Qualität und finanzieller Erfolg müssen nicht immer einhergehen. Wenn jemand finanziell keinen Erfolg hat, ist das Buch vielleicht trotzdem sehr gut und unverzichtbar. Ich würde es schlimm finden, wenn es eines Tages überwiegend Autoren geben würde, die zum Beispiel ein bisschen Holocaust, Grusel und Abenteuer, ein bisschen Erotik und Sex usw. zusammenbringen. Jeder mischt sich da auf seine Weise seinen eigenen Cocktail zurecht, der am meisten Geld zu versprechen scheint. Aber meine Zukunftschancen? Keine Ahnung, ich mach einfach immer weiter. Und bin sicher, dass es weiter gut geht. Es gibt auch Leute, die aufgegeben haben. In den Jahren, in denen ich schon veröffentliche, habe ich ein solches Aufgeben

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einige Male mitbekommen. Sie haben die Unsicherheit nicht ausgehalten. Sie wollten mehr Geld verdienen. Man kann mehr Geld verdienen, indem man Sachen schreibt, bei denen man als Autor genau weiß, die gibt es vielleicht ein halbes Jahr, dann sind sie für immer weg. Das würde ich eher als eine Dienstleistung bezeichnen. Dann gibt es Leute wie mich; ich schreibe ziemlich langsam. Ich würde aber auch nie etwas anderes schreiben. Wenn ich in finanzieller Not wäre, würde ich lieber andere Arbeiten machen und nebenher schreiben. Was müsste kulturpolitisch verändert werden, um die Zukunftsperspektiven zu verbessern? Was ich im Moment sehe, ist, dass als erstes finanzieller Erfolg gefragt ist, also meistens Mainstream entsteht. Bestimmtes muss aber gefördert werden. Wenn man eine künstlerische Vielfalt in der Gesellschaft haben will und meint, das gehört zur Kultur dieser Gesellschaft, das ist eine Grundsatzentscheidung, dann muss man die gute Literatur, die nicht in die Bestsellerlisten kommt, auch fördern. Manche Leute sagen zu mir: „Na, dann schreib doch nicht. Dann geh richtig arbeiten!“ Aber ich gehe davon aus, dass es immer noch den Willen in der Gesellschaft gibt, dass man Literatur haben will, dass Literatur notwendig ist. Die Bedingungen, unter denen Literatur entstehen kann, sind jedoch schwierig. Man sollte versuchen, eine größere literarische Bandbreite zu ermöglichen. Genau wie in der Musik. Viele Freunde von mir sind Musiker. Komponisten versuchen etwas zu schaffen, was nicht nur pure Unterhaltung ist. Wenn sich da etwas entwickeln soll und in den großen Konzertsälen nicht nur Klassiker gespielt werden sollen, muss das gefördert werden. In früheren Zeiten hatten die Komponisten und auch die Autoren Förderer, private Mäzene. Was in späteren Jahren von den Werken übrig bleibt, weil sie Qualität haben, das wissen dann die Leser oder Hörer drei Generationen weiter. Man müsste Auftrittsorte haben, bei denen man die Zusammenarbeit der verschiedenen Künste unterstützt. Es geht in der ganzen Gesellschaft, in der ganzen Welt, immer um Vernetzung, aber wenn Künstler das versuchen, erreicht sie die auf Sparten eingeengte Förderung nicht. Und die Raster sind oft sehr eng und starr.

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Wie schätzen Sie die aktuelle Förderlandschaft ein? Viele Förderungen unterliegen einer Altersbeschränkung, das finde ich schwierig. Ich habe elf Bücher veröffentlicht, ich bin nicht mehr unter 35 Jahren, ich bin keine Anfängerin und trotzdem kann ich ab und zu mal eine Förderung gebrauchen. Wenn ich alle zwei Jahre ein Stipendium hätte, dann könnten auch größere Projekte entstehen. Ganz ohne Förderung ist es sehr schwierig. Einerseits wollen sich die Leute, die einen Preis oder Stipendium vergeben haben, mit den Namen bekannter Autoren schmücken, andererseits wollen viele nur Anfänger fördern. Man kann nicht immer die Gleichen fördern, d.h. es wäre ganz gut, wenn es viel mehr Förderung für kürzere Zeiträume geben würde, mit entsprechend höheren Summen. Dass man wirklich drei Monate mal alles ausschalten und einfach schreiben kann. In einem Satz: Die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft? Der Künstler als Spiegel und Vermittler: Als Künstler muss man mit seiner Kunst so einhaken, dass man die Leute irritiert und aus ihrem Trott weckt, dass bei ihnen was hängen bleibt und sie einen anderen Blick bekommen; und wenn es nur für drei Tage ist. Welches Thema müsste Ihrer Meinung nach unbedingt auf eine kulturpolitische Agenda? Die Lebensbedingungen von Künstlern. Aufzeigen, unter welchen Bedingungen Kunst entsteht. Förderung von mehr als dem einen Prozent. Wahrscheinlich müsste man für besondere Projekte auch mal Verlage ansprechen und vernetzen, sodass Verlage auch Sachen drucken können, hinter denen sie stehen, aber alleine nicht realisieren könnten. Zum Beispiel gibt es einen Kinderbuchverlag, der hat eine ganz wunderbare Gedichtreihe. Alle sind glücklich, dass es sie gibt, aber wer weiß, wie lange noch. Das sind so Perlen, aber der Verlag kann sie vielleicht kaum halten. Das sind die Schätze, die im Bücherregal bleiben und die nicht beim nächsten Flohmarkt wieder rausfliegen. Natürlich gibt es jetzt dieses „book-on-demand“, und immer mehr Leute schreiben ihre Memoiren und wollen unbedingt ein Buch machen. Ich finde es gut, wenn Leute schreiben, es könnte in jeder Familie einer die eigene Geschichte schriftlich festhalten, aber es muss nicht unbedingt alles raus in die Welt. Es wäre schön, wenn die Verlage weniger drucken müssten, aber dann wirklich die Bücher, bei denen sie denken: „Die-

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ses Buch muss es in der Welt geben.“ Ganz unabhängig von der Politik müsste es Mäzene geben, auch für Literaten. Auch wenn wir gerade in einer Zeit leben, in der jeder sein Geld festhält. Oder es müsste ein System geben wie in anderen Ländern, in denen Künstlern jedes halbe Jahr ein Gemälde abgekauft wird. Beispielsweise könnte eine staatliche Stelle von Mäzenen Gelder sammeln und Autoren pro Monat zwei Kurzgeschichten abkaufen. Eine Art von Grundsicherung. Das kommt der Idee vom Grundeinkommen nahe. Als Grundeinkommen oder auch Bürgergeld werden verschiedene Konzepte für ein vom Staat ausgezahltes Grundeinkommen bezeichnet. Man hat eine Existenzsicherung und kann darüber hinaus in dem Beruf arbeiten, der einem liegt und somit auf der Gesellschaft nützlich sein. Es geht um die Entscheidung, was für eine Gesellschaft man haben will und was man dafür zu tun bereit ist. Wie man das praktisch umsetzen könnte, weiß ich auch nicht. Man kann nicht beschließen, dass jeder, der schreibt, ein Grundeinkommen bekommt, das ist unmöglich: das ist das „book-ondemand“-Thema, wo nicht jeder Autor auch Profi ist. In den Schriftstellerverband wird man aufgenommen, wenn man ein gedrucktes Buch, für das man nicht selbst bezahlt hat, vorweisen kann. Für ein Grundeinkommen würde ich auch etwas tun, es wäre nicht für umsonst. Das finde ich auch wichtig. Selbstbild Wie beurteilen Sie das gesellschaftliche Ansehen, das Sie als Künstlerin genießen? Die Leute finden es erst einmal interessant. Sie können sich allerdings nicht immer etwas darunter vorstellen. Wenn ich sage, ich schreibe Kinderbücher, dann gehen die Vorstellungen der Leute in Richtung Erzieherin. Bei Empfängen beispielsweise ist das Gespräch dann beendet. Bei Belletristik sind die Leute interessierter. Oft sind sie auch neugierig auf eine Person, die es wagt, auf die Sicherheit zu verzichten. Manche sind auch neidisch. Aber es ist eine Anerkennung zu spüren, oft auch dafür, dass man es schafft, ein Buch zu Ende zu schreiben. Das sind Reaktionen, auf die ich gestoßen bin. Grundsätzlich gibt es ein positives Bild.

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War es schon einmal so, dass Sie überlegen mussten, etwas anderes zu machen, um wieder Geld zu verdienen? Ja, deshalb denke ich auch, es gibt viele ältere Autoren, die man fördern müsste, weil sie am Existenzminimum leben. Auch Leute, die mal sehr bekannt waren und es nicht mehr sind. Eine Lebenskrise oder eine längere Krankheit reicht manchmal dazu. Aber ich selbst habe auch schon überlegt wie es wäre, regelmäßig Geld zu haben. Es ist oft mühsam, immer darüber nachdenken zu müssen, wie es weiter geht. Ich war einfach mal müde zwischendurch. Wie sieht das ideale Lebensführungsmodell eines Künstlers für Sie aus? Ideal wäre, ich könnte in aller Ruhe schreiben und fertig werden, ohne tausendmal unterbrochen zu werden, ohne immer wieder den Koffer zu packen und losfahren zu müssen. Ich hätte gern die Möglichkeit, gemeinsame Projekte zu erarbeiten und auf die Bühne zu bringen, mit Musikern und Malern vor allem Neues zu entwickeln. Das wäre für mich toll: diese Mischung aus in aller Ruhe alleine arbeiten und im Kontakt zu Künstlern anderer Sparten neue Formen zu erproben, diese Grenzen zu sprengen. Dafür braucht man natürlich Geld. Man braucht einfach Geld, um in Ruhe Kunst machen zu können. Viele sagen andererseits, wenn man nicht auf Einnahmen angewiesen ist, entsteht auch nichts, dann sitzen die Künstler nur zu Hause und haben eine Blockade. Das finde ich zynisch. Es kann sich ja auch abwechseln, es könnte ja auch einmal die fetten Jahre geben. Welchen Stellenwert hat Ihr Beruf in Ihrem Leben? Das Schreiben ist natürlich ein Teil meines Lebens. Das ist nicht nur ein Beruf, sondern da hängt mein Dasein dran. Es ist nicht mehr etwas, das ich, wenn ich damit kein Geld verdienen würde, einfach lassen könnte. Es ist nicht Hobby, auch Beruf, auf jeden Fall Teil meines Lebens. „Da hängt mein Dasein dran“ Künstlerin sein heißt für Anja Tuckermann Selbstverwirklichung, Treue zum eigenen Schreiben und Existenzsicherung. Schriftsteller müssen Lebenskünstler sein, müssen flexibel, kreativ und vor allem bereit sein, dieses Leben zu führen. Selbst eine erfolgreiche und bekannte Autorin wie Anja Tuckermann kann allein von ihrer Autorschaft nicht leben und ist auf För-

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dermittel sowie vor allem auf ihre freiberuflichen Tätigkeiten angewiesen. Ihre Aussagen machen deutlich, dass Förderung nicht immer an den richtigen Stellen ansetzt. In Ruhe schreiben zu können ist nur möglich, wenn man nicht gleichzeitig während einer Aufenthaltspflicht in einer Villa überlegen muss, wie man die Miete für die eigene Wohnung bezahlen soll. Die von der Autorin gemachten vielfältigen Vorschläge zeigen, wie sehr Kulturpolitik in die Lebensgestaltungsmöglichkeiten von Künstlern eingreift. Zum einen decken Förderinstrumentarien nicht das gesamte Kunstspektrum und das Alter von Künstlern ab. Auch Frau Tuckermann kann Förderung gebrauchen, obwohl sie vierzehn Bücher veröffentlicht hat, an vielen Kooperationen mit anderen Künstlern aus Musik und Theater teilgenommen hat und auch namhafte Preise gewonnen hat. Zum anderen ist der Zugang zu Kunst und Kultur aus Sicht Tuckermanns nicht allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen offen gestellt, sodass auch in dieser Hinsicht kulturpolitische Änderungen eintreten sollten, um auch nachhaltig das Verständnis für Kunst und Kultur zu prägen. Die Kulturpolitik in Deutschland ist für Schriftsteller nicht als dezidiert künstlerfreundlich zu bezeichnen. Sie wirkt zwar unterstützend und helfend, jedoch zeigt sich am Beispiel Anja Tuckermanns, dass ihre freischaffende Tätigkeit die eigentliche Einnahmequelle ist, während die Stipendien und Förderinstrumentarien eher ein willkommener Bonus ist, für den man aber auch einiges in Kauf nehmen muss. Mehr private Förderung, die sie in ihrer Idee nach einem Mäzen formuliert, der einem zum Beispiel Kurzgeschichten abkauft, könnte auch gebraucht werden. Mit privater Förderung könnte dann das ausgeglichen werden, was die öffentliche Förderung nicht leisten kann.

„Man muss das Haus rocken, dann verdient man was“ Porträt von Lutz Hübner K ATHARINA S CHRÖCK

„Helene Weigel hat mal zu irgendeinem Anfänger gesagt: ‚Wenn Du das Theater nicht ernst nimmst, wirst du nichts am Theater, wenn du das Theater zu ernst nimmst, wirst du nichts am Theater‘ – Ich finde, da ist was dran.“ Lutz Hübner nimmt das Theater ernst – aber nicht zu sehr. Seit knapp zwanzig Jahren ist er im Theatergeschäft und kein Ende ist in Sicht. Innerhalb kürzester Zeit gelang ihm der Sprung an die Spitze der Theaterautorenriege; ein Sprung, der ein Weg war mit Höhen und Tiefen, aber vor allem mit einer ordentlichen Portion Glück und Zuversicht. Vielleicht kann man Hübner als idealistischen Realisten beschreiben: Er kennt die Theaterwelt, die Theaterfamilie, und hat mit ihr ein Zuhause gefunden. Dennoch verklärt er diese Welt nicht. „Es muss was in Bewegung sein“, sagt Hübner. Man braucht Glückstreffer und Durchsetzungswillen und vielleicht auch eine gewisse Portion Dickköpfigkeit. Um als Theaterautor nicht nur Fuß fassen, sondern auch leben zu können, und mit diesem Leben zufrieden zu sein, muss man sein eigenes Modell erfinden. Lutz Hübner hat die ihm eigene Konstruktion gefunden. Wie er bei einer Latte Macchiato in einem Café in Berlin Kreuzberg sitzt und von seinem Leben berichtet, wirkt er zufrieden. Dabei scheint es so, als würde ein stetiges Schmunzeln seinen Bericht begleiten und eine Begeisterung und ein Optimismus, den nur jemand ausstrahlen kann, der

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seine Arbeit so zu lieben scheint wie er. Von dem „Woher“, dem „Jetzt“ und dem, was vielleicht noch auf ihn zukommt, erzählt er ehrlich und direkt. Dabei zeigt er mit seiner Offenheit auch immer den Willen, für seine Meinung einzustehen. Mit klaren Statements zeichnet er sein Bild vom Theater, vom Schreiben, vom Leben als Künstler. Lutz Hübner ist an der Spitze angelangt, aber immer bodenständig geblieben. Bereitwillig antwortet er auf Fragen, die ihm wohl schon tausendfach gestellt wurden, aber lässt sich auch gerne auf provokantere ein. Die interessante Mischung aus der Freude am Beruf, dem ihm eigenen Vertrauen, seiner selbsterkannten Hybris und der Fähigkeit, sich selbst, genau wie das Theater, nicht zu ernst zu nehmen, machen ihn aus – nicht nur als spannenden Gesprächspartner, sondern auch als besonderen Menschen und Künstler. „Tabori hat gesagt: ‚Neunzig Prozent Transpiration, zehn Prozent Inspiration.‘ Ich glaube, das haut ganz gut hin.“ Hübners Werdegang Den Weg zu seinem Beruf und seinem Künstlerdasein beschreibt der 1964 in Heilbronn geborene Autor, Regisseur und Schauspieler als die „übliche Mischung aus Selbstüberschätzung und Zufall“. Es gab keinen Masterplan, und zu Beginn stand das „klassische ‚Ich weiß nicht, was ich werden soll‘Studium“: Germanistik, Philosophie, Soziologie. Sein Gang zur Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater in Saarbrücken war 1986 ein Versuch, „absolut seriös zu werden“, nachdem er schon vorher Bühnenluft im Bereich des freien Theaters geschnuppert hatte. Sechs Jahre lang arbeitete er als Schauspieler und Regisseur an den Theatern Neuss und Magdeburg, um dann zu kündigen und sich „in die freie Arbeit zu werfen“. Einen konkreten Entschluss, ab sofort nur zu schreiben, gab es nicht. Allerdings führte eine Mischung von unterschiedlichen Motiven zu diesem „Reinschlittern“. Hübner selbst beschreibt seinen Werdegang als Mosaik: „Er ist Steinchen für Steinchen zustande gekommen.“ Ausschlaggebend war dabei auch seine Frau Sarah Nemitz, die bis heute im Produktionsprozess der Hübnerschen Stücke beteiligt ist: da sie keine Lust hatte auf die übliche „Vorsprechtour“ quer durch Deutschland, um sich Theatern vorzustellen, beschlossen die beiden, ein Stück zu entwerfen und Leute einzuladen, und entgingen so der typischen Situation eines Vorsprechens. Hübner sammelte viel Material für einen Soloabend – bis ein befreundeter Dramaturg sagte:

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„Ich glaube, wenn du’s selber schreibst, bist du schneller.“ Also hat er das gemacht: Mit dem Monolog „Tränen der Heimat“ war das Paar Hübner/Nemitz noch ein paar Jahre auf Tour. Das zweite Stück entstand auf ähnliche Weise: Aus einem Auftrag für einen Abend in Magdeburg zum Thema AIDS, wurde „Letzte Runde“. Ausschlaggebend für die weitere Theaterautorenlaufbahn war der dann folgende Auftrag vom GRIPSTheater, ein Stück zum Thema „Generationen“ zu entwerfen. Daraus wurde „Das Herz eines Boxers“ – das Erfolgsstück Hübners, das 1998 mit dem Deutschen Kinder- und Jugendtheaterpreis ausgezeichnet wurde. Sein Schreiben entstand also aus der Praxis, es war nie ein „Muss“ oder ein „Drängen“, schreiben zu wollen. Es gab nie den einen Moment der Entscheidung. Lutz Hübner passt damit in die Beschreibung des Deutschen Bühnenvereins, der den typischen Werdegang eines Theaterautors, dessen Beruf staatlich nicht geregelt ist, wie folgt sieht: „Schaut man sich den Werdegang zeitgenössischer Theaterautoren an, stößt man häufig auf Absolventen des Studienganges Szenisches Schreiben, auf Studenten von Geisteswissenschaften (insbesondere Philosophie, Germanistik, Theaterund Kulturwissenschaften), auf Romanautoren und Lyriker sowie auf Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen.“ Nur die wenigsten Theaterautoren können vom Schreiben leben. Und Lutz Hübner hatte, bis zu dem Zeitpunkt, da sein Schreiben ihn tatsächlich finanzierte, gleich zwei weitere Standbeine: Inszenieren und Spielen. Der Weg durch die Praxis und über die Bühne war abgesichert und gab Rückhalt. Ohne diese Stütze und die Möglichkeit, auch in anderen Bereichen in der Theaterwelt arbeiten und damit und davon leben zu können, wäre das Schreiben gescheitert, so Hübner. Für die Künste und damit auch für die Arbeit am und für das Theater braucht man Begabung, doch diese allein reicht nicht aus. Für Lutz Hübner ist das Schreibhandwerk existenziell für das Theaterschreiben: „Ohne Handwerk kommt man nicht weit, auch als Musiker beispielsweise muss man sein Instrument beherrschen und ob man dann Freejazz macht oder Musikantenstadel, ist die eigene Entscheidung. Aber man muss erst einmal wissen, wo greif ich welchen Akkord – und das ist beim Schreiben nicht anders.“ Die Zuschauer hätten Anspruch auf handwerklich Gutes, nicht nur auf die „Ausgeburt eines genialen Irren“. Dabei betont er jedoch, dass es immer ein Grundtalent brauche. Nicht alles könne man lernen, eine Grundlage müsse vorhanden sein – für das Schreiben ebenso wie für das Schau-

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spielen. „Ich glaube, das ist dann individuell, wie man sein Handwerk ausbildet. Das Handwerkliche ist insofern wichtig, als man es so verinnerlicht hat, dass man sich dessen nicht mehr bewusst ist beim Schreiben.“ Lutz Hübner hat sich sein Handwerk selbst angeeignet, er hat es durch seine Jahre auf der Bühne und vor der Bühne ausgebildet. Durch seine eigenen Spielerfahrungen weiß er, was ein Schauspieler vom Text erwartet, und durch sein Inszenieren weiß er, was für einen Regisseur ein guter Text ausmacht. Ebenso wichtig ist für ihn das Studium gewisser Autoren – der Stücke und der Werkstattberichte, um eine Methodik zu entwickeln. Sein Weg ging durch die Praxis. Ein Studium und die Ausbildung sind für ihn ein unentbehrlicher Teil auf dem Weg zum Künstler. Dabei sei eine Mischung aus Theorie und Praxis ideal. Die „Lehrjahre“ müssten jungen Menschen einen Freiraum, einen geschützten Ort des Ausprobierens geben. Und dafür müsse Zeit sein. Die Tendenz, die Ausbildungsdauer zu verkürzen, alles kompakter und gepresster zu gestalten, missfällt ihm. Für ihn war der wichtigste Aspekt seines Studiums, „sich mit einer fixen Idee rumschlagen zu können, zusammen mit Freaks, die dieselbe fixe Idee haben“. Doch dieser Freiraum und eine gute handwerkliche Ausbildung alleine reiche nicht, „Theater ist ein absoluter Familienbetrieb“, alles laufe über „die Kreise, in denen man sich bewegt“. Wichtig und unabdingbar, um Fuß fassen zu können, seien Kontakte, Bekannte, die empfehlen, helfen, weiterleiten. Und vor allem brauche es Glückstreffer, Treffer, wie Hübner sie hatte. Sein erster Verleger war ein solcher: Bei einer Premierenfeier kennen gelernt, das erste Stück von Hübner angenommen, und daraus entstand bis heute ein festes Verhältnis zum Theaterverlag Hartmann & Stauffacher. Das Leben und Wirken als freiberuflicher Künstler „Die finanzielle Situation der meisten Theaterautoren ist oft unbefriedigend.“ Während der Deutsche Bühnenverein noch relativ harmlose Worte für die finanzielle Lage der Dramatiker in Deutschland findet, verwendet die Süddeutsche Zeitung schon den Begriff „prekär“. Hübner hat Glück – wie er selbst von sich sagt. Mit „im Schnitt an die dreißig Produktionen pro Spielzeit“, kann er sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen. Der Theaterautor ist der einzige am Theater, der erfolgsabhängig bezahlt wird, seine Einnahmen berechnen sich aus den Zuschauerzahlen, d.h. aus

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den verkauften Eintrittskarten. „Um seinen Lebensunterhalt vom Schreiben für die Bühne bestreiten zu können, – dies gelingt in Deutschland recht wenigen Dramatikern – muss ein Autor mit seinen Werken sehr viele Zuschauer erreichen“, so der Deutsche Bühnenverein auf seiner Webseite. Diese Abhängigkeit wäre gut in Frage zu stellen: Warum sollte ausgerechnet der Autor abhängig sein vom Zuspruch, von der Bereitschaft des Publikums, sich ein Stück anzusehen, also auch vom Geschmack und der Laune des Publikums? Warum nicht eher der Regisseur, der ein Stück für das Publikum so aufbereitet, dass es ihm zu gefallen habe (oder eben auch nicht) oder Intendanz und Dramaturgie, die Verantwortlichen für die Spielplangestaltung oder die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, verantwortlich für Werbung und PR? – Spinnt man diesen Gedanken weiter, so kommt man bald zu einem erfolgs- und gewinnorientierten Modell, das der deutschen Kultur- und Theaterauffassung doch eigentlich und glücklicherweise widerspricht. Mittlerweile reißen sich die Theater um junge deutsche Dramatik, und Hübner selbst ist einer der meistgespieltesten Theaterautoren Deutschlands. Dazu kommen zahlreiche (rechtlich abgesicherte und auch schwarze) Produktionen weltweit. In „Herz eines Boxers“ sagt die Figur Leo: „Das ist wie im richtigen Leben, du musst immer in Bewegung sein, und irgendwo ist eine Lücke, da kommst du rein.“ Diese Lücke hat Hübner für sich gefunden und sein ihm eigenes, funktionierendes Modell konstruiert: Durch ein Auftragshonorar, das sein Verlag mit den Theatern aushandelt, sowie die Tantiemen, die in der so genannten Regelsammlung festgelegt sind, hat Hübner eine gewisse Planungssicherheit. Im Bereich der Autorschaft für ein Theater gibt es verschiedene Beschäftigungsentwürfe: In Mannheim existiert das Modell einer Hausautorenschaft. Nach der Zeit des ersten Theaterdichters, der auf diese Weise angestellt war, Friedrich Schiller, lag das Konzept sehr lange auf Eis und wurde 1996/97 wieder eingeführt. Die Berliner Schaubühne wiederum verfolgt eine andere Methode: Dort ist der Autor Marius von Mayenburg als Dramaturg angestellt, oder anders ausgedrückt: Der Dramaturg ist auch Verfasser von Stücken. Doch selbstverständlich könnten nicht alle Autoren (fest) angestellt werden, so Hübner. Zudem würde dies dem Berufsbild und -konzept auch in gewisser Weise widersprechen: Er vergleicht das Theaterschreiben mit Rockmusik, denn „man muss das Haus rocken, dann verdient man was. Wenn man daneben liegt, hat man Pech gehabt“. Man kann nicht immer mit festen Einnahmen

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rechnen. Das Restrisiko sei berufsimmanent, und man müsse sich „darüber im Klaren sein, dass man eigentlich ohne Netz und doppelten Boden arbeitet“. Damit ein Stück für einen Autor funktioniert, sowohl als Kunst, aber auch als finanzielle Einnahmequelle, brauche es gut zehn unterschiedliche Inszenierungen und die damit verbundene wachsende Bekanntheit und Tantiemenzahlungen, sagt Hübner. Ob ein Werk nach seiner Uraufführung von einem anderen Theater erneut gespielt werde, das sei und bleibe immer ein Glücksspiel. Theaterautor als Freiberufler, Autor für einen non-print Bereich: Die Situation der Dramatiker ist originär außergewöhnlich und unsicher. Zu den üblichen Arbeits- und Lebensbedingungen freiberuflich tätiger Menschen kommen die Unsicherheiten des Theaterbetriebs. Die Abhängigkeit vom Publikums-Wohlwollen und damit immer auch vom Regisseur und den Schauspielern, schränkt ein und kann die Existenz gefährden. Es braucht Erfahrung, Selbstsicherheit und vor allem auch Rückhalt, um sich als Theaterautor durchzusetzen. Junge Autoren haben es manchmal schwer, sich einen Stand im Theater zu erarbeiten. Anfänger werden im Theaterbetrieb stets erst einmal belächelt – sie kommen frisch ans Haus und „wollen das Theater neu erfinden“, so Hübner. Doch erst eigene Erfahrungen im reellen Theateralltag machten realistisch und schulten das Selbstbewusstsein. Auch der heutige Erfolgsautor Hübner hatte anfangs mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Eines seiner Stücke habe er durch einen Regisseur „verloren“. Ein Regiekonzept, das den Aussagen und Vorstellungen Hübners widersprach, machte das Stück „kaputt“. Doch, erst wenige Jahre im schreibenden Geschäft, hatte der Jungautor damals nicht den Mut, Einspruch zu erheben. Mittlerweile würde er es tun – man brauche einfach „Mut und Willen“, und müsse lernen, dies zu zeigen und sich durchzuboxen. Sich durchboxen, Glück und Ausdauer haben, die richtigen Leute kennen und seine Überzeugung für die Kunst und den Beruf nicht aufgeben, das scheinen Bestandteile des Erfolgsrezeptes zu sein, mit denen man es schafft, als Theatermensch und auch als freier Theaterautor durchzukommen. Finanziell und ideell. Hübner lebt als Theatermensch und seine Liebe beschränkt sich nicht nur auf das Schreiben. Was früher seine Existenz sicherte, ist heute Luxus für ihn. Er beschreibt sich selbst als „Autor, der ab und an auch mal ein Stück inszeniert“. Regie führen und selber spielen ist für ihn eine Möglichkeit, auszubrechen aus dem Schreibtischalltag. Sein künstlerisches Schaffen gleicht einem Bürojob: Aufstehen, Kaffee kochen,

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sich mit diesem an den Schreibtisch setzen und schreiben. Eine ernüchternde Beschreibung. Doch zu dieser kontinuierlichen Arbeit kommen lange Recherchen, inspirierende Erfahrungen, angefangen von einem anregenden Spaziergang durch die Straßen Kreuzbergs bis hin zu Alltagserlebnissen und Milieustudien verschiedenster Art. Ein dreiviertel Jahr Vorbereitung, um in drei Wochen ein Stück nieder zu schreiben. Für Hübner braucht das Schreiben Kontinuität und Struktur: Jeden Tag am Schreibtisch sitzen, Notizen machen, Pläne aufstellen und abarbeiten. Figurenprofile entwickeln und Szenarien entwerfen und dann in weniger als einem Monat den Stücktext schreiben. Das sei intensive Arbeit und „extrem anstrengend“. Dazu kommen eigene Proben, Besuche von Proben, Inszenierungen, Uraufführungen und Reisen. Lutz Hübner ist viel unterwegs, sei es auf Einladung des GoetheInstitutes in verschiedenen Ländern der Welt oder innerhalb Deutschlands. Workshops, die er gibt, seien dabei weniger eine Einnahmequelle, sondern eher Quelle neuer Ideen. Es reizt ihn, Meinungen, Themen und Gedanken von anderen Menschen kennen zu lernen und sich von diesen inspirieren zu lassen. Im Düsseldorfer Institut für Medien- und Kulturwissenschaft hat er Blockseminare zum „Creative Writing“ angeboten. Das sei „Stückentwicklung für Anfänger“ gewesen. Er selbst bleibe dadurch in Kontakt mit dem Zeitgeist. Das gleiche erfüllte sich für ihn beim Projekt „Theaterautoren treffen Schule“ („TAtSch“), das im September 2009 seinen Anfang genommen hat. Dieses vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in Frankfurt am Main initiierte Projekt bringt Autoren und Kinder in Kontakt und ermöglicht gegenseitige Befruchtung. Es ist angelegt als Kooperation mit dem Deutschen Literaturfonds e.V. und wird finanziert mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes. Die beteiligten Autoren erhalten ein Honorar von 3000 Euro. Auch bei der Teilnahme an diesem Projekt war für Lutz Hübner die „Familie“ ausschlaggebend. Auf die Frage, wieso er sich entschlossen habe, bei „TAtSch“ mitzuarbeiten, antwortet er schlicht, Henning Fangauf (der stellvertretende Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland) habe ihn angesprochen und die Erfahrung beweise, dass alle Ideen von Fangauf gut seien. Ein klares Beispiel für ein „Wer wen kennt“ und gegenseitiges Vertrauen als Grundlage für Auftragsakquise und das Entdecken neuer künstlerischer Gestaltungsräume.

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„So ist das Leben, man will durch die Tür und läuft dagegen.“ Zukunftspläne Hübner scheint unermüdlich und voller unerschöpflicher Ideen, mehr als dreißig Stücke hat er seit 1994 verfasst, und es scheint kein Ende in Sicht. Doch manchmal geht auch der größte Erfolg nicht weiter. Realistisch und bodenständig wie Hübner bei all seiner Theater- und Schreibbegeisterung ist, kann man mit ihm sachlich über seine mögliche Zukunft reden. Workshops geben und als Dozent arbeiten, das wäre eine Option. Oder weiter schreiben, in anderen Feldern. Ein Spätwerkroman sei nicht geplant, auch kein Historienschinken, vielleicht einmal gesammelte Erzählungen. Dann schon eher ein Drehbuch verfassen oder fürs Fernsehen arbeiten, immerhin bliebe er so quasi im Genre. Doch Fernsehen sei eine Industrie und es sei anstrengend, bis ein Werk tatsächlich realisiert werde. Vorstellen könne er es sich jedoch, insofern sich ein Team entwickle. Denn die Arbeit im Team ist ihm sehr wichtig, so ist ihm seine Frau Sarah Koautorin und Lektorin. Und gemeinsam mit Dramaturgen und Regisseuren entwickelt er seine Stücke. Als Theaterautor zu schreiben, unterscheidet sich nicht nur genrebedingt vom Schreiben als Prosaautor. Während ein Schriftsteller sein Werk durch das Lektorat laufen lassen muss, bevor es im Verlag zum Druck gebracht wird, um dann in die Hände und unter die Augen des Lesers zu gelangen, geht die Idee des Theaterschriftstellers andere Wege, bis sie verwirklicht wird. Hübners Stücke durchlaufen bis zur Probenfassung verschiedene Instanzen: „Dramaturgie, Sarah, Dramaturgie, Regie, Lektor, Verleger. Das sind ’ne ganze Menge Leute, die das dann gelesen haben.“ Doch auch nach der Fertigstellung des Manuskripts ist der Theatertext Hübners noch nicht beim Rezipienten angelangt. Erst durch die Umsetzung auf der Bühne, werden die Ideen realisiert. Hübner sieht seine Werke als „Material, das mit Leben erfüllt werden muss“, es sind für ihn keine Lesedramen. „Was fehlt, muss auf der Bühne entstehen.“ Buchpublikationen, wie zum Beispiel seine „Vier Theaterstücke“, seien ein „angenehmer Nebeneffekt für die Eitelkeit“. Es gefalle schon, Buchrücken mit dem eigenen Namen im Regal stehen zu haben. Aber finanziell unterstützen oder einbringen würde ein solcher Druck so gut wie nichts. „Regelmäßige Auftragsarbeiten oder ein Engagement als Hausautor sind rar gesät. Aus diesem Grunde müssen Theaterautoren häufig auf ande-

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re Tätigkeiten ausweichen – im günstigsten Falle auf das Bearbeiten und Übersetzen klassischer Werke der dramatischen Literatur oder das Verfassen von Drehbüchern für Radio, Film und Fernsehen“, so formuliert es der Deutsche Bühnenverein. Lutz Hübner scheint für seine Zukunft einige Türen offen zu haben. Nicht nur wegen seines immensen Ideenreichtums, sondern vor allem auch durch sein großes Netzwerk. Er ist überzeugt davon, dass für alle Freiberufler Netzwerke und Eigeninitiative unverzichtbar seien. „Es ist nie ‚Elfenbeinturmtür auf – Stück raus‘, sondern es ist immer eine Gruppe von Leuten, die sich auch äußert.“ Kulturpolitische Rahmenbedingungen Unbedingt notwendig sind für die Arbeit als Autor und am Theater generell die vorhandenen Strukturen. Dabei betrachtet Hübner die in Deutschland vorhandene Theaterlandschaft differenziert, er sieht grundlegend je nach Berufsfeld Vor- und Nachteile. Für die Tätigkeit als Theaterautor bietet für ihn die Stadt- und Staatstheaterstruktur auf jeden Fall bessere Bedingungen als die Freie Szene. Neben einer eingespielten und funktionierenden Logistik seien genug gute Schauspieler vorhanden, die den Text umzusetzen vermögen. Größere Produktionen könnten (auch finanziell gesehen) nur an solchen Häusern realisiert werden. Zudem, bemerkt Hübner trocken, käme keiner der Schauspieler zu spät zur Probe, weil er noch eine Nachtschicht Taxi fahren musste. Autoren, die das Freie Theater als Arbeitsfeld vorziehen würden, neigten, so Hübner, zu „Romantizismus“. Als Regisseur jedoch empfindet Hübner das Freie Theater als „sehr, sehr angenehm“. Man könne das gesamte Ensemble selbst bestimmen und zum Beispiel mit einer kleinen Produktion eigenverantwortlich arbeiten und auf Tour gehen. Aber das funktioniere „natürlich nur über Abenteuerlust und Selbstausbeutung“. Ein Theater und dessen Strukturen kann in extremen Fällen vor allem Rückendeckung geben. Seit Anfang 2006 mussten Hübner und sein Verlag Hartmann & Stauffacher zahlreiche Prozesse führen: Hübners Theaterstück „Ehrensache“ handelt von einem Ehrenmord. Inspiration für Hübner, sich mit einem solchen Thema zu beschäftigen, war ein Fall in der Stadt Hagen. 2004 wurde eine junge Türkin von zwei Männern erstochen, ihre Freundin schwer verletzt. Die Mutter des getöteten Mädchens sah in der entsprechenden Figur des Stückes zu viele Verweise auf ihr Kind und dieses zu-

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dem negativ dargestellt. Ohne die Unterstützung von Verlag und Theater wäre es für Hübner nicht möglich gewesen, die Prozesse bis in die letzte Instanz durchzustehen. Wäre das Stück in einer freien Produktion im Freien Theater entstanden, hätte die Androhung einer einstweiligen Verfügung das Aus bedeutet. „Es war vor allem ein Alptraum“, antwortet Hübner auf die provokante Frage, ob der gesamte Fall für ihn wirklich eine Sache im Dienste der Freiheit der Kunst war, es nur um das mit der Aufführung verbundene Geld ging oder ob dies alles eine geschickte und erfreuliche PR-Aktion war. „Der Skandalisierungseffekt funktioniert im Theater nicht“, sagt Hübner. Das Stück war nach dem Prozessmarathon verloren, es wurde nicht, wie einige Stimmen vermuteten, zu einem Dauerbrenner, sondern verschwand von den Spielplänen. Die gerichtliche „Treibjagd“ wurde letztendlich zu einem Präzedenzfall, der nicht nur die Frage behandelte, ob das Stück aufgeführt werden dürfe oder nicht, sondern grundsätzlich fragte, wie weit Kunst gehen und wie weit sie sich auf Wirklichkeit beziehen dürfe. Hübner hat den Prozess gewonnen; hätte allerdings die Gegenpartei den Sieg davongetragen, „wäre das ein Präzedenzurteil gewesen, mit dem man jedes Theaterstück hätte verbieten können, das sich auf einen authentischen Fall bezieht“, so Hübner. Der Autor konnte auf die Unterstützung seines Verlages und des Theaters bauen. Ein Anfänger ohne Verlag hätte diesen Rückhalt nicht gehabt. Doch solche Fälle sind selten und ein genereller Rechtsschutz für Künstler sei nicht nötig, so Hübner. Die Unterstützung durch Verlage und Theater reiche im Allgemeinen aus. Da nicht jeder junge Theaterautor einen Verlag habe, der die Arbeitskontakte herstellt, oder auch persönliche Kontakte zu Dramaturgen fehlten, sei es wichtig, zu genau diesen Vermittlungsinstanzen zu gehen. Dafür sei vor allem persönliche Überwindung nötig, das gehöre einfach dazu, das müsse man schaffen. Hübners privates Beispiel dafür ist das folgende: „Das weiß ich aus meiner ersten Zeit, da habe ich ein Stück genommen und bin ins Berliner Ensemble marschiert, als mich noch keine Sau kannte, und hab’ gesagt: ‚Ich hab’ hier ein Stück, hätte jemand Lust das zu lesen?‘ Das war natürlich eine furchtbare Überwindung und man fühlte sich ich-weißnicht-wie, und da hatte ich einfach Glück: Die haben’s dann gelesen und gesagt: ‚Das Stück ist zu groß für uns, können wir nicht machen, aber hast du nicht Lust, zu Brechts hundertstem Geburtstag ’nen kleinen Text zu

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schreiben?‘ Wenn man solche Aktionen nicht hinkriegt, dann hält man den Beruf eh nicht durch. Das gehört dazu, man muss kommunizieren können.“ Man muss den Willen haben, sich durchzuboxen. Sollte man jungen Theater„boxern“ unter die Arme greifen und eine deutsche Uraufführungsquote an Stadt- und Staatstheater einführen? Nein, sagt Hübner, denn eine Quote sage bei weitem nichts über die Qualität aus. Dem Medium Theater angemessen seien jedoch „halbe try-outs“ wie sie schon zahlreich möglich seien bei Festivals, Lesungen, Lesenächten und anderen Veranstaltungen. Dort könnten Autoren ausprobieren, wie ihre Stücke wirken und wie sie ankommen. Nicht nur angehende Theatermenschen bräuchten vor allem in der Ausbildung geschützte Räume, auch das Publikum bräuchte einen gewissen Schutzraum. Schaffung und Wahrung von Strukturen und die Arbeitsbedingungen freiberuflicher Theaterautoren und Theatermacher sind schon seit Jahren Anlass für die Gründung verschiedener Initiativen. In den neunziger Jahren war Hübner aktiv in der Autorenvereinigung „Theater neuen Typus“ (TNT), in einer Zeit, als deutsche Uraufführungen, so Hübner, noch als „aberwitzige Unterfangen“ galten. Das Theater entdeckte erst nach und nach, dass es auch zeitgenössische deutsche Autoren gibt. Versteht man Kulturpolitik als die Schaffung von Rahmenbedingungen für Kunstschaffen, so sind Preise und Auszeichnungen ein wichtiger Bestandteil derselben und für die Künstler unabdingbar. Dabei sind für Hübner mehrere Dinge wichtig. Für „Das Herz eines Boxers“ erhielt er 1998 den Deutschen Kinder- und Jugendtheaterpreis. In seiner damaligen Anfängersituation war ihm das damit verbundene Preisgeld ein willkommenes Extra. Letztendlich seien Preise ja auch „Stipendien“ und somit auch „eine Unterstützung von Leuten, die freiberuflich unterwegs sind“. Das größere Plus sieht Hübner jedoch in der damit verbundenen Reputation und dem durch die Auszeichnung entstehenden Effekt, dass das Stück, welches ausgezeichnet wurde, „ins Laufen kommt und viele Produktionen erlebt“. Der Kinder- und Jugendtheaterpreis war und ist für Hübner eine Initialzündung. Daraus entstehe auch langfristig gesehen eine entscheidende Wirkung, nämlich „dass sehr viele Leute, die vor sich 200 Stücke liegen haben, natürlich vor allen anderen 199 das Stück lesen, das den Jugendtheaterpreis bekommen hat.“ Wenn dieses Stück dann gut laufe, dann würde auch das nächste Stück des Autors gerne gelesen werden. Somit käme der Stein ins Rollen und die Autorenkarriere bekäme den richtigen Anstoß. Wichtig für einen Preis sei sein Bekanntheitsgrad. Die großen und wichtigen Preise wie

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der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker und der Deutsche Kinder- und Jugendtheaterpreis sind für Hübner Selbstläufer geworden. Erst diese „Premiumpreise“ garantierten eine langfristige Wirkung. Für ihn kann es prinzipiell nicht genügend Preise geben, doch sinnvoll wäre neben der monetären Auszeichnung vor allem auch eine damit verbundene Aufführung an einem Theater, „zu dem die Leute dann auch fahren und sich das Stück anschauen“. Gekannt werden und andere kennen, sei das A und O im Theater. Nicht nur das Einander-Kennen ist wichtig, auch das FüreinanderEintreten, in bestimmten Fällen müsse man einfach aktiv werden. Bei einer Demo in der ersten Reihe laufen und „’n Transparent tragen, dass die KSK erhalten bleibt“, das würde Hübner ohne Zweifel tun, falls es um die Abschaffung der Künstlersozialkasse gehen sollte. Er ist seit Jahren Mitglied, bis vor kurzem eigentlich eher ohne groß darüber nachzudenken. Aber was die KSK wirklich für Künstler bedeutet, das wurde ihm erst klar, als es zu Diskussionen über eine etwaige Abschaffung kam. „Es wäre ein absoluter Horror, wenn es die KSK nicht mehr gäbe.“ Sie sei für „freiberufliche Arbeit extrem wichtig“. Ebenso schrecklich ist es für ihn, dass unter allen Sparzwängen Kultur zuerst zu leiden habe. Wenn gekürzt werde, dann immer erst an den kleineren und mittleren Theatern. Vor allem, da Kulturförderung zu den freiwilligen sozialen Leistungen gehöre. Spätestens mit der Schuldenbremse, werde an den Kulturetats rigide gestrichen werden, so Hübners Meinung. Kultur sei immer sofort „Verhandlungsmasse, wenn eine Stadt Pleite gehe“ – und in den kommenden Jahren würde der Unsicherheitsfaktor zunehmen. Kultur ist in Deutschland immer noch spargefährdet, es gibt keine geregelte Sicherheit für Theater- und Kulturschaffende. Lutz Hübner, der seit Jahren Verbindungen nach Brasilien pflegt – seine Stücke werden dort von einer befreundeten Theatergruppe aufgeführt – beschreibt ein für ihn gelungenes Modell: „Die gesamte brasilianische Industrie ist verpflichtet, ein Prozent des Erwirtschafteten in die Kultur zu stecken.“ Der „SESC“, der „Servicio Social de Comercio“, ein Verband von Handels- und Industrieunternehmen, arbeitet unter anderem eng mit dem deutschen Goethe-Institut zusammen. Der Steueranteil, der als Sozial- und Kulturanteil abgegeben wird, diene dem Betrieb von Kulturzentren, in denen „alles versammelt ist, was der SESC unter ‚sozialem Service‘ versteht“ – vom Schwimmbad über

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Internet-Cafés mit Computerkursen bis hin zum Theater und der kostenlosen medizinischen Betreuung der SESC-Firmen. Hübners Wunsch an die Kulturpolitik wäre es, durchzusetzen, dass Kultur nicht mehr als freiwillige Leistung gelte, sondern die Kunst- und Kulturförderung als ein unantastbarer Posten in den Haushalt aufgenommen werde. Man müsse gar nicht den wirtschaftlichen Begriff des „Standortfaktors Kultur“ bemühen, doch Kultur sei einfach wichtig für die Identität und die Ausstrahlung der Kommunen. „Städte kommen durch Kunst auf die Landkarte, Kultur hat erst einmal etwas mit Wahrnehmung zu tun.“ Er nennt die Stadt Hagen als Beispiel, „wo es im Prinzip überhaupt nichts gibt außer einer Einkaufszone, einen Karstadt und ein Theater. Wenn das Theater weg ist – Karstadt ist auch bald weg – dann haben sie nur noch ’ne Einkaufszone mit KiK-Läden, und dann können die irgendwann mal die Bretter hochklappen.“ „Wenn das Theater einen ruft …“ Die Bedeutung des Theaters für Lutz Hübner Kultur ist für Lutz Hübner ein Grundnahrungsmittel: „Theater gehört da mit rein.“ Doch Hübner bleibt auch hier auf dem Boden der Tatsachen: Man könne von „normalen Leuten“ nicht verlangen, dass sie „jede Woche einmal ins Theater gehen“, normale Leute grenzt er hierbei von denen ab, die im Kultur- oder Theaterbereich arbeiten. Auch bei seinen Projekten mit Jugendlichen und Kindern (zum Beispiel „TAtSch“) ist für ihn nicht ausschlaggebend, diese zu fleißigen Theatergängern erziehen zu wollen. Der gesellschaftlich-soziale Aspekt ist für ihn relevanter. Theater ist für ihn auch Teil einer Festkultur. Denn „ehrlich gesagt, wann haben die Leute mal die Gelegenheit, sich richtig hübsch anzuziehen und einen festlichen Abend zu erleben, unabhängig von dem, was auf der Bühne passiert?“ In der Pause einen Sekt zu trinken und den Nachbarn zu treffen, „der auch das C-Abo hat“ – das sei der Kontext, in dem Theater passiere. Das würde von vielen zwar belächelt, aber Hübner findet dies gut. Theater ist für ihn etwas Besonderes, „und vor allem auch ein Illusions- und Unterhaltungsbetrieb, bei allem gesellschaftlichen Anspruch“. Also „delectare“ statt „prodesse“, eher erfreuen als belehren? „Belehren sollte man nie“, so Hübner, „aber man sollte den Leuten Fragen stellen, dass sie anfangen, selbst nachzudenken.“ Für Lutz Hübner geht es nach dem Theater weiter. Das gemeinsame Dar-

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über-Reden und Ins-Gespräch-Kommen nach der Vorstellung mache den besonderen und einzigartigen Charakter von Theater aus. Diese „Aura“ könne kein anderes Medium leisten – kein Kino und kein Film. Das „Tolle am Theater“ sei es, dass 300 Leute gemeinsam etwas erlebten, „Emotionen durchmachen“, sich „Geschichten erzählen und ins Gespräch kommen“. „Moral versteht sich von selbst“ – so zitiert Hübner den Publizisten Theodor Lessing. Die Aufgabe des Theaters und damit vor allem auch die Aufgabe des Stückeschreibers sei es, den Blick darauf zu lenken. Die richtigen Fragen stellen und die richtigen Antworten geben. Das tut Hübner auch auf die Frage, was er jungen Menschen antworte, wenn sie ihn fragten, ob sie ans Theater gehen sollten oder nicht: Wenn das Theater einen brauche, dann rufe es einen. Natürlich sei es unsicher, das sagt er klar und deutlich und zitiert aus dem Film „Fame“: „Bedenkt, ihr seid eine unterprivilegierte Minderheit, und ihr werdet leiden!“ Natürlich sei der Beruf so, aber man müsse einfach „mit Volldampf ins Theater rein“, dann und nur dann würde man es durchhalten! Wenn er gefragt wird, ob einer zum Theater solle oder lieber nicht, dann antwortet er mit „Nein“. Wenn man wirklich ins Theater wolle, dann wüsste man das, müsste nicht fragen – und würde gehen. Lutz Hübner wusste das und weiß es. Und mit Volldampf wird es bei ihm weitergehen.

„Theater suchen ihre Regisseure nicht beim Arbeitsamt“ Gespräch mit Charlotte Roos K ATHARINA W IDIGER & J ENNIFER F ANDRICH

Charlotte Roos wurde 1974 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Magisterabschluss in Germanistik und Romanistik folgten verschiedene Regieassistenzen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, beim Steirischen Herbst in Graz und am Staatstheater Hannover. Seit 2001 entstanden eigene Inszenierungen in Graz, Bochum, Hannover und Zürich. Zurzeit beendet sie ihr künstlerisches Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL). Im Oktober 2007 wurde Charlotte Roos zu den Wiener Werkstatttagen eingeladen. Im Frühjahr 2008 folgte ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen. Von März bis November 2008 nahm sie am Autorenprojekt stück/für/stück des Schauspielhauses Wien und im Juni 2008 am Forum Junger Autoren Europas im Rahmen des Festivals „Neue Stücke aus Europa“ am Staatstheater Wiesbaden teil. Ihr erstes Stück „Die Unmöglichkeit einer Insel“ wurde in der Spielzeit 2007/08 am Schauspielhaus Jena uraufgeführt und behandelt das große Thema eines neuen Europäischen Kolonialismus. Ihr zweites Stück „Allergie“, ebenfalls am Schauspielhaus Jena 2008 uraufgeführt, erschafft das Psychogramm zweier Frauen im Kampf mit sich und der Welt. Noch frei zur Uraufführung ist ihr drittes Stück „Hühner.Habichte.“, das die unerwartete Rückkehr animalischer Instinkte in die sogenannte Zivilisation behandelt. Charlotte Roos arbeitet zudem an einem längeren Prosaprojekt mit dem Arbeitstitel „865“.

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Wir trafen Anfang 2009 die Autorin, Lektorin, Übersetzerin und Regisseurin in Hannover, ihrem Wohnort. Laut der Enquetekommission des Deutschen Bundestages kann nur ein Prozent der Autoren vom Schreiben leben. Was sagen Sie dazu? (lacht) Ich habe mir fast so etwas gedacht. Das hört man ja immer wieder, wenn Leute oder Autoren sich äußern. Vor allem Theaterautoren. Selbst die, die schon einige Stücke auf der Bühne hatten, müssen nebenbei noch etwas Anderes machen. Entweder in Zeitungen veröffentlichen, unterrichten oder sie sind Dramaturgen am Theater. Ich glaube, vom Schreiben am Theater zu leben, ist erst möglich, wenn man Roland Schimmelpfennig ist. Man muss schon sehr viel nachgespielt werden. Und wie sieht es bei Ihnen persönlich aus? Ich fange gerade erst an. Und wenn man anfängt, für die Bühne zu schreiben, ist man froh, wenn man einen Verlag hat, der einen vertritt. So ist die Möglichkeit größer, dass man überhaupt gespielt wird. Wenn sich das Theater für die Texte interessiert, dann gibt es, wenn man Glück hat, eine Uraufführungspauschale. Davon kann man sich dann ein paar Kaugummis kaufen. Das ist jetzt übertrieben, aber es ist nicht viel Geld. Davon kann man nicht leben. Dann bekommt man Tantiemen, die sich aber immer nach den Zuschauerzahlen richten. Somit auch nach der Größe des Saales und danach, wie viele Zuschauer dort reinpassen. Und dann geht es auch danach, wie oft im Monat man gespielt wird. Bleibt es bei dem einen Theater oder kommt noch ein anderes hinzu? Dann kann es schon erträglich werden. Aber bei mir ist es im Moment eher unerträglich. Es ist nicht so schlecht, dass ich sage, so, jetzt werfe ich die Flinte ins Korn, aber davon leben kann ich noch lange nicht. Und wie finanzieren Sie sich? Ich versuche, ungefähr die Hälfte durch mein Schreiben aufzubringen und ich lektoriere. Kürzlich habe ich ein Drehbuch übersetzt. Also Sachen, die sich im Umkreis des Schreibens befinden. Letztes Jahr hatte ich ein dreimonatiges Stipendium im Künstlerdorf Schöppingen. Ich leihe mir Geld von meinem Vater, weil ich die letzten drei Jahre auch noch ein künstlerisches Studium gemacht habe. Ich fand es einfach realistischer, nicht gleichzeitig Schreiben, Arbeiten und Geld verdienen zu wollen. Jetzt ist dieses

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Studium zu Ende, und ich muss jobben und zwar fern von dem, was ich eigentlich machen möchte. Aber natürlich lektoriere ich weiterhin, übersetze oder schreibe mal einen Essay, der dann irgendwo veröffentlicht wird. Aber da muss jetzt noch etwas Anderes dazu. Im Moment passe ich auf das Kind von Bekannten auf und verdiene mir so ein bisschen Geld. Wo würden Sie gerne hinkommen? Ich hätte schon gerne, dass sich Anerkennung und Erfolg für die Texte mit dem decken, was ich letztlich dafür bekomme. Ich schreibe relativ lange an einem Text. Und fast jeder, der an der Produktion beteiligt ist, der Regisseur und auch die Schauspieler, verdienen mehr als ich. Natürlich verdient kein Anfänger am Theater gut und man geht auch nicht ans Theater, wenn man viel Geld verdienen möchte. Zunächst einmal möchte ich aber damit auskommen. Aber ich erwarte nicht, dass das in den nächsten fünf Jahren passiert. Dann müsste ich schon einen Hit landen. Ich schreibe auch Prosa, vielleicht kommt dadurch irgendwann finanziell noch etwas dazu. Gleichzeitig erfordert Prosa noch mehr Konzentration, jedenfalls bei mir. Da kann ich nicht sechs Stunden auf ein Kind aufpassen und mich danach hinsetzen und an meinem Roman schreiben. Ich würde sehr gern dahin kommen, mir die Hälfte oder zwei Drittel meines Einkommens mit Schreiben zu verdienen. Zusätzlich könnte ich mir vorstellen, zu unterrichten, einen Lehrauftrag zu haben oder meinetwegen auch an einem Gymnasium mit Schülern zu arbeiten. Wenn sich das ein Drittel, zwei Drittel auffächern würde, fände ich das vollkommen in Ordnung. Ich brauche nicht die ganz große finanzielle Anerkennung. Dann hätte ich mich gleich für etwas Anderes entschieden. Sehen Sie einen Missstand darin, dass die Autoren weniger verdienen als die Ausführenden? Ich finde generell, dass es relativ unmöglich ist, wie der ganze Betrieb funktioniert. Dass immer die gleichen Leute gefördert werden, die schon eine Eintrittskarte haben. Mich stört, dass Förderung nicht in die Breite geht, sondern es diesen Club gibt, wo man zugegebener Weise froh ist, wenn man auch zeitweise dazugehören darf. Texte werden ja so beurteilt: Wenn nicht schon dreizehn andere drauf geschaut und gesagt haben, „die laden wir mal zu einem Workshop ein“, dann gucken die drei wichtigen Nasen, die im deutschen Theaterbetrieb rumrennen, erst gar nicht drauf.

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Über die Funktion von Fördergeldern und Fördermodellen sollte man mal scharf nachdenken. Es ist ein Missstand, dass das, was für die Bühne geschrieben wird, in der Regel nur einmal aufgeführt, schlecht bezahlt und dann auch noch in die Tonne geworfen wird. Alle spielen für die Abonnenten ein bisschen Musiktheater, Tschechow und Shakespeare usw. Und dann gibt es noch eine Uraufführung von einem jungen Dramatiker. Da guckt man dann immer nach Frischfleisch und fördert mehr sich selbst. Das ist jetzt immer pauschal gesagt. Es gibt Orte, wo das anders ist, da habe ich mich wirklich gefördert gefühlt. Wo war das? Die Leute, die ich meine, wissen das … Ich kritisiere das Fördersystem jetzt lieber, falls das eine Öffentlichkeit erreicht, weil es nicht die Regel ist, dass man wirklich gefördert wird. Die Förderung junger Dramatiker ist super für die Theater. Da können die sich einen Aufkleber an ihre Türen kleben, aber die jungen Dramatiker stoßen da nicht auf besonders viel Interesse. Es ist halt immer die Frage, wer da wen fördert. Es ist schon so, dass Kulturförderung in Deutschland im weltweiten Vergleich einen hohen Stellenwert hat. Aber Sie finden, dass das auf falsche Weise passiert? Nicht bei den Richtigen oder immer bei denselben? Man sollte die Modelle überdenken. Die, die gefördert werden sollen, sollen eben auch gefördert werden. Und eine Mehrfachförderung sollte nicht möglich sein. Wenn man sich um solche Förderungen bemüht, dann kriegt man schon mit, dass einige Personen durch Glück und Zufall, und ich gönne denen das auch, an allen möglichen Stellen absahnen, da 500 Euro Stipendium, da ein Jahresstipendium oder ständig in irgendwelchen Villen leben … Wenn man da einmal drin ist, durchläuft man einen wahren Katalog von Förderungen. Das ist auch in Ordnung. Ich möchte auch, dass das Gefördere bei mir noch ein bisschen weitergeht. Ich denke nur, dass die Modelle noch nicht wirklich ausgetüftelt sind. In England zum Beispiel wird man als Autor besser behandelt. Ich kann nicht viel darüber sagen, ob man dort mehr, weniger oder das Gleiche verdient, es wird eher weniger sein, aber du hast dort wenigstens die Möglichkeit, anders als beim in Deutschland dominierenden Regietheater, während der Proben an deinen Texten zu arbeiten oder dich selber als Theaterautor noch mal zu überprüfen. Das sehe ich dann auch als eine Art Förderung,

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durch die ich besser werden kann. Mir wäre so ein Modell wichtiger, bei dem ich ernst genommen werde. Finanziell ist es zwar schwierig, aber das war schon immer so. Es ist eh ein Luxus, künstlerisch zu arbeiten. Ich würde mich ja nicht einmal als Künstlerin bezeichnen wollen … Als was dann? Ich schreibe Theaterstücke und ich inszeniere auch welche. Ich mache verschiedene Sachen und vielleicht kommt durch die Kreuzung verschiedener Glücksfälle einmal Kunst dabei heraus. Ich würde das als eine sehr schlecht bezahlte Arbeit bezeichnen, die man macht und die auch gebraucht wird. Es ist wichtig, dass jemand diese Arbeit macht und dass jemand künstlerisch tätig ist. Aber mir gibt das nichts, sagen zu können, dass ich Künstler bin. Mir gibt es was, wenn ich an Sachen arbeite und merke, ich kann jemandem damit etwas erzählen. Wenn es produziert und im Theater aufgeführt wird, dann komme ich ein Stück weiter damit, und wenn ich mein nächstes Stück schreibe, komme ich damit eventuell auch finanziell weiter. Aber es ist genauso wichtig, über Fördermöglichkeiten nachzudenken, bei denen man nicht unbedingt nur finanziert, sondern mit Blick auf die eigene Arbeit gefördert wird. Dass man das Gefühl hat, da ist jemand, der beim zweiten Stück auch noch hinguckt und nicht nur einen Scheck überreicht. Wenn man Leute fördern will, muss man gucken, wie man das macht. Ich habe auch keinen idealen Entwurf. Ich kann nur Beispiele nennen, wie es nicht gehen kann. Es läuft immer über bestimmte Clubs und bei Wettbewerben dürfen nur Leute mitmachen, die schön jung sind und die schon am Literaturinstitut in Leipzig oder in Hildesheim Kreatives Schreiben studieren oder auch schon mal beim Workshop vom Burgtheater mitgemacht haben. Das ist meine Hauptkritik. Wenn ich in meine Vita schreibe, dass ich am DLL studiert habe, ist das eigentlich peinlich, weil es nichts aussagt über mich. Es wäre besser, wenn die sich wirklich die Zeit nehmen würden Manuskripte zu lesen. Das wird auch gemacht, ich will jetzt nicht nur motzen. In den letzten Jahren hat sich offenbar viel getan. Autoren wie Theresia Walser erzählen, als sie vor zehn Jahren angefangen haben, fürs Theater zu schreiben, gab es noch keine Workshops oder Autorenlabore für junge Theaterautoren. Diese Möglichkeiten haben sich vervielfacht. Trotzdem sollte es auch heute noch darum gehen, dass man nicht nur zum Club gehört und für diese sehr kleine Szene schreibt.

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Wir würden gern noch etwas über das Stipendium im Künstlerdorf Schöppingen erfahren. Wie das abläuft? Da bewirbt man sich und das ist ein Aufenthaltsstipendium. Die haben dort ein Bauernhaus in einem kleinen Ort im westlichen Münsterland. Für Bildende Künstler gibt es dort Ateliers und man zieht für drei bis sechs Monate in das Haus ein und wird finanziell unterstützt, 1025 Euro im Monat. Die Kosten für die Ateliers oder Wohnung, die man bezieht, gehen davon noch mal ab. Man bewirbt sich mit einem bestimmten Projekt, das von einer Jury bewertet wird. In Schöppingen besteht Residenzpflicht, die jedoch nicht zu kleinlich eingehalten werden muss. Wenn man beruflich so weit ist, dass man an bestimmten Orten oder in bestimmten Gruppierungen arbeitet, muss man eben auch mal unterwegs sein. Man kann dann nicht drei Monate auf Einsiedelei machen, obwohl man das eventuell gerne würde. Aber an den meisten Stellen darf man nicht über ein Viertel der Zeit weg sein, weil es denen auch darum geht, dass Gruppen entstehen und man spartenübergreifend ins Gespräch kommt. Mit welchem Projekt hatten Sie sich da beworben? Ich habe mich mit einem Prosamanuskript beworben, Roman wäre schon zuviel gesagt, eine längere Erzählung soll es werden, und damit wurde ich dann eingeladen. Hat das einen Titel? Es hat einen Arbeitstitel, der ist „865“. Dann das Autorenprojekt des Schauspielhauses Wien, was war das? Das war eine Zusammenarbeit unter vier Autoren. Da habe ich mich mit meinen Stücken beworben. Das Schauspielhaus hat dann vier Autoren ausgewählt, die sich einmal im Monat mit den Leuten vom Schauspielhaus in Wien, also dem Leiter, der Leiterin der Dramaturgie, den Regisseuren, aber auch mit dem Autor, der damals dort Hausautor war, getroffen haben. Wir haben uns einmal im Monat für ein Wochenende oder drei Tage getroffen und der Reihe nach über die Stücke geredet. Mein letztes Stück, was ich geschrieben habe, wurde dort diskutiert, wir haben gemeinsam gelesen und es gab eine kleine Abschlusspräsentation mit dem Ensemble vom Schauspielhaus.

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Also nur eine fachliche, keine finanzielle Unterstützung? Eine finanzielle Unterstützung gab es nur insofern, als dass sie am Ende ein Stipendium vergeben haben, das ich aber leider nicht bekommen habe. Das hat ein Kollege ergattert. Und das Forum junger Autoren Europas? Das war ein Festival in Wiesbaden für europäische, zeitgenössische Theaterprojekte und da gab es ein Forum für Kritiker und eins für junge Dramatiker, die von überall her kamen. Es gab eine englischsprachige Gruppe, in der Leute aus verschiedenen europäischen Ländern waren und eine deutschsprachige Gruppe. Nach zwei Wochen fand dann eine Art Abschlusspräsentation statt. Man konnte tagsüber arbeiten und diskutieren und an den Abenden sehr viel Theater gucken. Das war eigentlich das Allertollste daran. Bei Workshops kommt es immer darauf an, wie sich die Gruppe zusammensetzt. In Wiesbaden hätte ich es besser gefunden, wenn man sich trotz der Sprachbarrieren mehr vermischt hätte. Das war an den Produktionen aus verschiedenen Ländern am Interessantesten. Zu sehen, wie unterschiedlich inszeniert und mit dem Stoff umgegangen wurde. Davon hätte ich in den Workshops auch gern mehr profitiert. Wie kam es zu der Entscheidung, nach einem abgeschlossenen Studium noch mal in Leipzig anzufangen? Ich habe immer schon geschrieben, aber eher für mich und ohne künstlerischen Anspruch. Ich habe das früher nie ernst genommen als etwas, mit dem ich leben will. Das Schreiben ist dann aber doch so wichtig geworden, dass ich einfach mal gucken wollte, wo ich damit stehe. Tatsächlich habe ich es vorher keinem gezeigt, ganz im Gegenteil und dann habe ich einfach Texte rausgeschickt. Das DLL hat mich eingeladen und erst da habe ich überlegt, ob ich dort hingehen soll oder nicht. Wie das finanziell gehen soll, noch mal zu studieren. Was eben nur durch den Deal mit meinem Vater zustande kam. Das ist natürlich eine privilegierte Position, einen Vater zu haben, der einem das Geld leihen kann und der das auch noch gern macht. Hat es bis jetzt etwas gebracht, diesen Abschluss zu haben? Ich bin gerade noch am Basteln. Das hat letztendlich auch damit zu tun, wo ich dann bleibe. Ich bin gerade in Hannover, weil mein Freund hier Schauspieler ist. Es steht aber noch aus, wo wir danach wohnen werden. Es hat

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nur Sinn, wenn man sich etwas aufbaut oder nach bestimmten Angeboten in verschiedenen Städten Ausschau hält. Oder man bietet einer Einrichtung Theater- oder Schreibkurse an. Das ist ja im Grunde eine gute kulturpolitische Initiative, etwas Neues anzubieten, anstatt sich auf bestehende Posten zu bewerben … Gerade in Zeiten, in denen es kriselt, wird an Kultur gespart, gleichzeitig werden die Leute aber alle immer „kreativer“. So kann man an Gymnasien jetzt auch Darstellendes Spiel belegen. Da das immer schicker wird, dass die Kinder schreiben und tanzen und spielen und Kunst machen, kann man das vielleicht auch mal für sich ausnutzen und ein bisschen Geld dafür bekommen. Sind Sie in der Künstlersozialkasse? Bin ich. Und wie bewerten Sie diese? Finde ich super, wäre ein Skandal, wenn es die nicht mehr gäbe. Es gab ja diese Initiative, die KSK abzuschaffen und das wäre eine Katastrophe. Wenn ich jetzt auch noch meine Krankenkasse als Selbständige komplett selber bezahlen müsste, wäre das schlimm. Die KSK ist eine super Einrichtung und soll bitte bleiben. Es ist wirklich die einzige Absicherung, die wir haben. Ansonsten ist keiner zuständig. Ich hätte jetzt auch Anspruch auf Harz IV, aber ich habe lieber einen Privatkredit bei jemandem, als mich dort mit meinem akademischen Abschluss hinzustellen und hin und her vermittelt zu werden. Man muss sich dort auch immer melden. Nach meinen festen Regieassistenzen habe ich Arbeitslosengeld 1 bekommen. Aber als ich nicht immer zur Stelle war und täglich meinen Briefkasten kontrolliert habe, wurde ich zu einem Gespräch eingeladen, das ich nicht wahrnehmen konnte, und dann wurde mir das Geld gestrichen. Die Kollegen bei der Bundesagentur für Arbeit sagen einem auch ganz ehrlich, dass man dort durchs Raster fällt, weil die mir natürlich weder als Regisseurin noch als Autorin einen Job vermitteln können, wie sollen sie auch? Theater suchen ihre Regisseure nicht beim Arbeitsamt. Für mich konnten die gar nichts tun, aber ich musste trotzdem immer da sein. Selbst wenn man das anfechtet mit der Begründung, einen Beruf zu haben, in dem man viel verreist, um Kontakte zu verschiedenen Leuten und Einrichtungen

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zu knüpfen, wird man als Arbeitssuchender eingestuft und als Arbeitssuchender, der Geld bekommen möchte, muss man zu Hause sein, allzeit bereit loszurennen, falls sich ein Job ergeben sollte. Ich mache mich ungern von diesen Sozialgeldern abhängig. Ich kenne aber andere Leute, die sich das regelrecht zum Sport machen, jeden Monat das Geld einzusacken, aber dazu bin ich zu unorganisiert, worauf ich nicht stolz bin. Man kann da bestimmt geschickter und auch härter sein und seinen Lebensunterhalt ohne private Unterstützung verdienen, aber ich bin da im Moment noch auf einem anderen Weg. Ich finde es für mich schwierig, künstlerisch zu arbeiten und mich gleichzeitig mit diesem Bürokratismus und den Behördengängen auseinandersetzen zu müssen. Ähnlich wie ich es gerade auch beim Babysitten beschrieben habe, da bin ich wahrscheinlich auch zu unflexibel, aber ich kann es mir eben nicht vorstellen, acht Stunden ein Kind zu betreuen und dann plötzlich wieder in einem ganz anderen Modus zu sein. Die KSK ist wirklich die einzige Absicherung, die ich habe. Dort gehen dann wenigstens diese Rentenbeiträge weiter und alles andere ist Luxus, den man sich dazu verdienen muss. Als ich damals meine Regiehospitanzen in Hamburg gemacht habe, konnte ich mir auch nicht wie sonst ein bisschen Geld mit Kellnern verdienen. Also konnte ich die Hospitanz nur machen, weil mein Vater mich mit der Unterkunft in Hamburg unterstützt hat. Teilweise habe ich bei Verwandten oder bei Freunden gewohnt. Das finde ich schlecht, dass das ein Luxus ist, ein Praktikum in einer anderen Stadt zu machen. Gibt es ein bestimmtes Maß an materieller Eingeschränktheit, bei dem Sie den Beruf aufgeben würden? Jein (schüttelt den Kopf). Bei mir ist es nicht so, weil ich meine Miete immer irgendwie auftreiben konnte, da ich bisher immer von zu Hause aus abgesichert war. Ich fühle mich nicht gerade besser damit, dass ich mich nicht selber finanzieren kann. Das will ich ändern. Aber ich werde immer Zeit zum Schreiben abknapsen können. Letztendlich ist es eine Frage von unbedingt Wollen. Ich kenne andere Leute, die das Handtuch werfen würden oder es schon geworfen haben und sich sagen, was habe ich davon, mich jetzt hier Künstler, Literat oder Dramatiker nennen zu können, wenn ich kein Geld verdiene, keine Anerkennung bekomme und alles Andere, was man sich so wünschen würde, auch nicht machen kann. Letztendlich glaube ich, das ist bei den Leuten, die sich dafür entschieden und vielleicht

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auch schon zwei bis drei Sachen auf die Bühne gebracht haben, nicht mehr die Frage. Aber die Realität ist eben, dass kaum jemand davon lebt. Was wollten Sie werden, als Sie klein waren? Ich glaube, ich habe das nie ausgespuckt, wie man sich das so vorstellt: Ich will Feuerwehrmann werden und so. Aber im Kopf hatte ich schon den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, gerade mit 16, 17 fand ich das ganz toll. Welchen Stellenwert hat der Beruf in Ihrem Leben? Es vermischt sich alles. Ja, mein Beruf hat einen sehr hohen Stellenwert auch dadurch, dass ich das immer mit mir herumtrage und nie die Tür hinter mir schließen kann, um Feierabend zu machen. Ist das manchmal eine Belastung? Ich finde es sehr anstrengend. Wenn es gut läuft, man eine Idee verfolgt, an einem Stück dran ist oder an einer Überarbeitung sitzt und ganz genau weiß, wo es hin soll, dann ist es toll. Dann ist es das Einzige, was ich mir vorstellen kann, und dann will ich nichts anderes machen. Es gibt aber auch Zeiten, in denen man gerade ein Projekt beendet hat und nach einem neuen sucht. Dann quält man sich, setzt sich an den Schreibtisch und dann würde ich gerne sagen können: So, jetzt habe ich frei und geh mal Bowling spielen. Aber das geht nicht so einfach und das nervt schon. Können Sie in einem Satz sagen, welche Rolle der Künstler Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft spielt? Welche Rolle er spielen sollte? Oder so. Ich finde schon, dass ein Künstler eine Haltung haben sollte, zu dem was passiert. Ich hoffe auch, dass das in meinen Stücken auftaucht. Damit meine ich nicht, dass man unbedingt politisch Stellung nehmen sollte. Das kann auch entstehen, ohne dass ich das dezidiert so geplant habe. Aber im Nachhinein gefällt es mir, wenn ein Künstler sich positionieren kann. Er sollte nicht der Kunst wegen Kunst machen, sondern im Extremfall dazu bereit sein, Stellung zu beziehen. Ein Kulturbetrieb, der immer die fördert, die schon im Club sitzen und die, die nicht das Glück haben, in dem Club

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zu sein, werden auch nicht gefördert, verhindert natürlich eine solche Haltung. Geht es um eine Reflexion unserer Gesellschaft? Ja, und ich verstehe auch gar nicht, dass man denkt, man könnte sich rausnehmen. Tut ja letztendlich auch keiner. Man verhält sich, ob man will oder nicht, immer dazu. Man erzählt Geschichten, die in Beziehung stehen zu dem, was man sieht, erlebt, wie man aufgewachsen ist, wo man hin will usw. Ich verlange von mir, dass ich in irgendeiner Weise damit umgehe, ohne direkt politisch zu sein oder ein politisches Stück zu schreiben. Aber dass man aus einem Text bestimmte Sachen rausziehen kann oder bestimmte Reizthemen wiederfindet, ohne das geht es bei mir nicht. Das verlange ich mir ab und hoffe, dass ich das auch hinkriege. Verlangen Sie auch von Ihren Rezipienten, dass sie Stellung zum Stück beziehen? Nee, von denen verlange ich gar nichts. Ich erhoffe mir höchstens etwas. Natürlich ist es schön, wenn man verstanden wird. Wenn erkannt wird, was versteckt in einem Text stehen könnte. Aber etwas erwarten von Lesern oder Zuschauern, fände ich vermessen. Was wäre ein ideales Lebensführungsmodell eines Künstlers? Es wäre schon toll, wenn ich einfach mit einem Selbstverständnis meine Arbeit machen könnte und auch so gesehen werde, wie jemand, der arbeitet, der schreibt. Und nicht als ein Spinner, der versucht, mit irgendetwas Absurdem Geld zu verdienen. Das ist ein Bild, was viele Leute noch im Kopf haben. Ich merke das auch bei einigen Bekannten, die das Gefühl haben, ich hätte immer Zeit. „Ach, die Charlotte, die können wir ja mal anrufen, die können wir einplanen, weil die ja nichts macht. Die sitzt immer nur zu Hause.“ Das war in der Theaterzeit genau das Gegenteil, also auch kein perfektes Lebensführungsmodell. Das Theater ist ja wirklich so ein Ort, da gibt es immer etwas enorm Wichtiges zu tun oder zu besprechen oder zu betrinken. Das perfekte Lebensführungsmodell eines Künstlers, das ist schon sehr abstrakt. Ich habe auch immer Probleme mit diesem Begriff. Für mich ist da immer dieses Pathos dahinter, zu sagen: „Hach, ich bin Künstler …“

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Sie hätten lieber keine Sonderstellung? Nein, ich brauche keine Sonderstellung, ich würde gern ernst genommen werden mit dem, was ich mache. Das gehört sicher zu meinem Ideal dazu und dass ich weitgehend unabhängig arbeiten kann. Dass ich nicht ständig irgendwelchen Sachzwängen, Beziehungen oder Vereinen angehängt werde und danach meine Entscheidungen treffen muss. Das ist mir wichtig. Bei Aufträgen wäre es mir wichtig, dass das nicht zwingend in irgendein Spielplanmotto gequetscht wird. Oder dass ich nicht vorher schon genau weiß, wenn ich da jetzt Bockmist baue, dann bin ich raus. Obwohl bestimmte Zwänge auch in der Kultur normal sind. Das ist ein Wirtschaftszweig. Trotzdem ist es wichtig, dass im Theater oder in der Kultur Dinge bearbeitet werden, die sich finanziell nicht so lohnen wie andere. Ich würde mir einfach gern erlauben können zu arbeiten und mir dabei Zeit zu nehmen. Es ist nicht so, dass ich dann hinterm eisernen Vorhang mein Stück aufführen will. Es ist eine Gesetzmäßigkeit des Theaters, dass ich das Stück auch jemandem zeigen will, dass da ein Medium ist, mit dem ich umgehen will. Aber ohne dass jemand hinter mir steht und mich ständig an die Zuschauerzahlen und die Sponsoren erinnert oder mir ein Thema vorschreibt. Zum idealen Lebensführungsmodel gehört für mich Unabhängigkeit und natürlich irgendwann auch ein Mindestmaß an finanzieller Unabhängigkeit. Das ist eigentlich schon das Stichwort: Unabhängigkeit, denn viele Förderungen verlangen einem ab, dass man irgendwo hinkommt, anwesend ist und Networking betreibt. Es gibt aber viele Autoren, die überhaupt nicht klar kommen, wenn sie aus ihrem gewohnten Umfeld raus müssen. Ich finde es gut, wenn ich in meiner Arbeit unterstützt werde und dann selber entscheiden kann, ob ich mich zurückziehen, recherchieren, mal raus oder in den Urlaub fahren will. Das würde ich gern selbst entscheiden. Auch wenn die Idee der Förderprojekte gut ist, dass man auch einen Ort hat, an dem man für sich sein kann, einen Austausch hat und auch machen kann, was man will. Das konnte ich in Schöppingen, das war wirklich super. Ich konnte da auch für eine Woche eine befreundete Schauspielerin einladen und mit ihr einen Monolog arbeiten. Trotzdem ist es so, dass man dahin muss, mit der Idee, dass es ein Ort ist, der allen, die Ruhe brauchen, gefällt. Teilweise kann es aber auch sein, dass du keine Ruhe brauchst. Ich kann manchmal auch gut Unruhe gebrauchen, in der ich mir dann eine Blase kreiere und draußen tobt es weiter. Für mich war es auch zeitweise schwierig zu switchen. Beispielsweise wenn ich dann reisen oder irgend-

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welche Leute treffen musste und dann wieder zurück nach Schöppingen kam und mich dann back to nature fühlen sollte. Das war teilweise absurd. Es gibt Vorstellungen, die mit künstlerischer Arbeit verknüpft sind, bei denen ich immer denke, was soll das jetzt sein? Das entwickelt sich doch in anderen Bereichen auch weiter. Ich sitze nicht mehr zum Recherchieren in der Bibliothek und mache mir lauter kleine Zettelchen. Es haben auch alle begriffen, dass ich am Computer sitze, rumsurfe, mir Informationen besorge und mir die Inspirationen sonst woher hole. Was aber diesen Künstlermythos angeht, wird immer noch so getan, als sitze man Sturm-und-Drangmäßig ich weiß nicht wo. Ist das Verständnis vom Künstler noch ein bisschen hinterher? Müsste man die Fördermöglichkeiten anpassen? Ich weiß nicht, was man müsste. Ich weiß nur, dass ich teilweise damit nichts anfangen kann und dass es letztendlich eh immer darauf ankommt, was ich geschrieben habe und was die Leute sehen, in dem, was ich gearbeitet habe. Dieses ganze Pipapo von Autorenförderung ist eher ein Zirkus drum herum. Ich bin da lieber nicht mehr darauf angewiesen. Ich hätte gern, dass ich ein Stück schreibe, das zuerst die Leser und dann die Zuschauer begeistert. Ich will nicht wieder Unterlagen fertig machen müssen, die zu irgendeiner Förderstelle schicken und dann schlaflose Nächte haben aus Angst, ich könnte wieder nicht dabei sein. Man ist da ja wahnsinnig darauf angewiesen. Ich will mich um Gottes Willen nicht gegen Förderung aussprechen, aber es ist in meiner Idealvorstellung so, dass ich das nicht mehr dringend brauche und mich trotzdem einbringen, austauschen und eine Position beziehen kann. Einfach durch meine Arbeit. Natürlich ist das hilfreich, wenn ich gefördert werde, irgendwo hinkommen kann und 3000 Euro dafür bekomme. Das heißt für mich, drei Monate lang keine Abhängigkeiten und dann kann ich eventuell auch mal nicht schreiben, ohne sofort ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Das Perverse daran ist aber, dass es junge Autoren gibt, die sich irgendwann nur noch mit einem positiven Juryurteil als richtige Autoren fühlen können. Das Schöne an diesen Förderungen ist allerdings, dass man Leute trifft, die das Gleiche machen. Ich hatte auch am DLL weniger das Ziel, Diplomkünstler zu werden. Es war eher wichtig, meine zwei, drei Leute zu treffen, die ich auch nicht wieder verliere und mit denen ich auch später noch an Texten arbeite.

„Im Kulturbereich herrscht die Umkehrung der Marktwirtschaft“ Porträt von John von Düffel W IBKE S CHMITT

John von Düffel ist einer der wenigen Dramaturgen in Deutschland, die gleichzeitig Autoren sind. Neun Jahre lang arbeitete er als Dramaturg am Thalia Theater in Hamburg, schrieb gleichzeitig Romane, Dramen und arbeitete als Gastdozent an Universitäten. Seit der Spielzeit 2009/10 ist er Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin. Von Düffel ist Studiengangsleiter des Faches Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste und lebt mit seiner Frau in Berlin. 1966 in Göttingen geboren, zog John von Düffel während seiner Kindheit und Jugend mit seiner Familie nach Nordirland, in die USA und wieder zurück. Sein Studium der Philosophie, Germanistik und Volkswirtschaftslehre beendete er mit 23 Jahren mit einer Promotion über die Erkenntnistheorie. Zu seinen besonderen Erfolgen gehören „Vom Wasser“ und „Houwelandt“, die ihm verschiedene Literaturpreise einbrachten. 5. März 2009, Thalia Theater Hamburg. Ich werde an der Pforte des Künstlereingangs abgeholt und folge John von Düffel durch mehrere verwinkelte Gänge in sein Büro im oberen Stockwerk. „Ich bin eigentlich nicht so repräsentativ für Künstler in Deutschland, die meisten Schriftsteller schreiben ja ausschließlich“, stellt er bereits im Fahrstuhl fest. Die zwei Schreibtische in seinem Büro sind überladen mit Büchern, Manuskripten und Bewerbungsmappen. Das E-Mail-Programm seines Computers ist geöffnet und verkündet im Fünf-Minuten-Takt die Ankunft neuer Nachrich-

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ten. John von Düffel wirkt gelassen in dem Chaos und auf humorvolle Weise erzählt er, wie er Künstler wurde, was ihn an seinem Beruf reizt und welche Schwierigkeiten der Arbeitsalltag eines Schriftstellers und Dramaturgen beinhaltet. Noch während der Promotion begann John von Düffel Kritiken zu schreiben. Der Freiburger Kleinanzeiger war ein Anzeigenblatt, das sich finanziell einen Kulturteil leisten konnte „und der Kulturteil war sozusagen ich. Drei Theaterkritiken pro Woche, das bedeutete für mich drei Theaterbesuche pro Woche, und das war neben vielen anderen Veranstaltungen auch interessant, weil ich viel gesehen und mich schreibender Weise damit auseinandergesetzt habe“, erinnert er sich an die Anfänge seines Schreibens. Den ersten rein schriftstellerischen Erfolg brachte das Verfassen von Hörspielen. Ende der Achtzigerjahre bekam John von Düffel den Tipp, dass unbekannte Autoren eher eine Chance mit Hörspielen als mit Theaterstücken hätten. Hier bot sich die Gelegenheit, mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Der Einstieg zum dramatischen Schreiben war gemacht. Die Hörspiellandschaft war lange Zeit eine versteckte Subvention der Autorenszene. „Viele Autoren, nicht nur solch Unbedeutende wie ich damals, sondern auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, also viele bekannte Autoren, haben immer mal wieder Hörspiele geschrieben, weil die erst mal gute Chancen hatten.“ Einnahmen erbrachten zu dieser Zeit neben den Hörspielen weiterhin die Theaterkritiken. Außerdem moderierte John von Düffel bei einem Lokalradio in Freiburg als Kinokritiker eine eigene Sendung. Die Wiedervereinigung brachte von Düffels berufliche Wende Nach eineinhalb Jahren entwickelte sich aus der Motivation, über das Theater zu schreiben, der Wunsch, Teil des Prozesses zu sein. „Das ist eben der große Unterschied zwischen dem Kritiker, der sich ja nur auf Ergebnisse bezieht und dem Dramaturgen oder dem Autor, der am Anfang oder zumindest in der Mitte eines Prozesses steht.“ Die Möglichkeit, als Dramaturg am Theater zu arbeiten, brachte schließlich 1991 die Wiedervereinigung. „Damals wurden, im Gegensatz zu heute, Dramaturgen gesucht.“ Durch die politischen Umbrüche wurden im Osten viele Theater neu besetzt. John von Düffel bekam eine Stelle als Dramaturg in Stendal. „Dort habe ich Dramaturgie von der Pieke auf gelernt. Mit den vielen Anfangsfehlern, die man

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immer macht in Berufen.“ Durch seine Erfahrungen und erlernten Fähigkeiten in der Pressearbeit, gelang es John von Düffel sich im Bereich der Dramaturgie zu etablieren. Mitte der Neunziger hatte er gerade zwei Jahre an seinem ersten Roman „Vom Wasser“ gearbeitet, als sich die Verlage auch aus finanziellen Gründen sehr für junge deutsche Dramatik interessierten. „Da hatte ich noch mal das Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort mit den richtigen Tätigkeiten unterwegs zu sein.“ Gleich mehrere seiner ersten Stücke wurden angenommen. Zwar wurden sie auf kleinen Bühnen gespielt, aber sie erhielten Aufmerksamkeit. Für John von Düffel selbst waren es jedoch nicht seine besten Stücke, sondern mehr die Gunst des Augenblicks. Ironischerweise ebbte das Interesse genau zu dem Zeitpunkt an seinen Stücken ab, als er die seiner Meinung nach besten Theatertexte verfasste. Der Markt verlangte nach neuen Autoren und seinen Namen kannte man inzwischen. „Das war schon merkwürdig, dass die Stücke, auf die ich besonders stolz war, auf einmal nicht beachtet wurden, weil eine bestimmte Mode vorbei war.“ Aus der Sicht des Arbeitsethikers Es wird deutlich, wie dankbar John von Düffel ist, seinen Traumberuf ausüben zu können. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und stellte später fest, dass dieser Wunsch bereits bei seiner Mutter und seinen Großeltern vorherrschte, diese ihn jedoch nicht verwirklicht hatten. Dass er heute vom Schreiben leben kann, bezeichnet er bescheiden als Glücksfall. Doch Glück allein dürfte nicht gereicht haben für den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, für den Aspekte-Literaturpreis des ZDF, den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses in Hamburg oder den NicolasBorn-Preis. Auf der anderen Seite haben die äußeren Bedingungen gestimmt. Politische Veränderungen, die Vorzüge einer sich entwickelnden Kunstsparte und daraus entstehende Kontakte haben die künstlerische Laufbahn des Dramaturgen und Autors beeinflusst und mitgestaltet. Die Produktionsbedingungen sowohl im Theater- als auch im Literaturbetrieb haben sich seit den Achtzigerjahren verändert und befinden sich nicht zuletzt aufgrund neuer Medien im Wandel. Auf Zukunftsprognosen für das Berufsbild eines Autors will sich John von Düffel nicht festlegen. „Es wird einen Teil vom traditionellen Autorsein immer weiter geben, weil es eine große Sehnsucht

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nach einfachen Geschichten gibt: ein Mann oder eine Frau und ein Blatt Papier und dann entsteht etwas, was Menschen bewegt.“ Er selbst habe nicht unter dem Druck der Angst vor Arbeitslosigkeit studiert. „Ich hatte keine Vorstellung von Bezahlung, Arbeitszeiten, sozialer Absicherung – das hat mich nicht interessiert. Ich wollte Theater machen und Texte schreiben. Die Metaebene hat mich nie beschäftigt. Insofern bin ich wohl eher ein Arbeitsethiker, meine Befriedigung liegt in der Arbeit selbst. Zufrieden oder befriedigt bin ich nur, wenn es mir gelingt, gut zu sein. Wenn ich das Gefühl habe, mir gelingt gerade etwas, ich lerne etwas dazu, ich komme voran.“ Die Arbeitswoche eines Dramaturgen besteht aus sechs, manchmal auch sieben Tagen. Die Arbeit am Theater ist von Kontinuität gezeichnet und fordert den Dramaturgen genau wie alle anderen Mitarbeiter des Betriebes. Ein Großteil seiner Arbeit besteht aus Organisation. „Die Vorstellung vom reinen, freien Künstlertum, wo man nur tolle Gedanken und erhebende Ideen hat und voller Inspiration durch den Tag geht, ist sowieso Illusion. Tatsächlich muss man in die Organisation einsteigen, um Theater nicht nur als Kunstform, sondern auch als Betrieb zu verstehen. Leider ist dieser auch manchmal zehrend und Kräfte raubend, aber es ist die Bedingung dafür, dass es funktionieren kann.“ Die künstlerische Arbeit jedoch besteht aus Probenbesuchen, Gesprächen mit Regisseuren und Schauspielern. Auch ein hohes Maß an Vermittlungsarbeit gehört zu den Aufgaben eines Dramaturgen. Einerseits intern in die anderen Abteilungen und andererseits nach außen an den Zuschauer. Zum Arbeitsalltag eines Schriftstellers hingegen gehört der Lesungsbetrieb. Für den Autor bedeutet das viel Zeit unterwegs und ständig wechselnde Hoteladressen. Vom Schriftsteller wird viel Flexibilität verlangt, im besten Fall ist er weder an einen bestimmten Ort, noch an ein Schreibformat gebunden. So müssen auch Romanautoren Artikel für Zeitschriften schreiben oder einen Essay veröffentlichen. Die Anstrengung, zwei Berufe auszuüben John von Düffel mangelt es nicht an Aufträgen und darüber ist er sehr froh. Trotzdem „gibt es eine große Sehnsucht danach, einfach mal einen Monat kein Ergebnis erzeugen zu müssen. Das ist vielleicht ein bisschen schizophren und vielleicht auch etwas pervertiert, aber ich würde gerne mal wie-

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der für die Schublade schreiben.“ Die Anstrengung zwei Berufe gleichzeitig auszuüben, ermöglicht eine wirtschaftliche und finanzielle Absicherung, insofern es so etwas in künstlerischen Berufen überhaupt gibt. Diese Grundlage befreit vom großen Erfolgsdruck und ermöglicht künstlerische Freiheit. Selbst wenn mehrere Werke hintereinander schlecht besprochen würden, könnte dies dem Ansehen John von Düffels kaum etwas anhaben. Durch bisherige Erfolge konnte er sich ein Stück Unabhängigkeit erarbeiten. Er kennt jedoch auch die andere Seite und Kollegen, die mit der Ungewissheit leben müssen, woher die nächsten Einnahmen kommen werden. Dabei entscheidet weniger Talent über den Erfolg, als die öffentliche Aufmerksamkeit, weil man zur richtigen Zeit das richtige Thema gewählt hat. „Neunzig Prozent dessen, was einem widerfährt, ist nicht planbar. Damit muss man leben. Manchmal glückt einem etwas in der Arbeit, aber es glückt einem eben nicht in der Öffentlichkeit, das ist nicht immer identisch.“ John von Düffel sieht auch Autoren als Teil eines Marktgeschehens. Künstler müssen ihre Werke am Ende verkaufen können und Aufmerksamkeit erhalten. „Insofern ist die Grenze der künstlerischen Freiheit immer das Interesse einer Öffentlichkeit und sei sie auch noch so klein.“ Nach einem biografischen Einblick und persönlichen Ansichten über verschiedene Aspekte seines Arbeitsalltages wie beispielsweise Planungssicherheit, Arbeitszeiten und Flexibilität in beiden Berufen, spricht John von Düffel noch über die kulturpolitische Lage in Deutschland. In welchem Verhältnis stehen Künstler und Gesellschaft? Wie schätzt er die aktuelle Lage von Fördermitteln für Autoren oder von Literaturpreisen ein? Lassen sich aus seinen Erfahrungen kulturpolitische Forderungen ableiten? „Der Service der Kultur besteht darin, mehr zu geben, als die Menschen verlangen. Ein Angebot zu machen, das über jede Nachfrage hinausgeht und so auch die Möglichkeit bietet, auf Dinge zu stoßen, mit denen man nie gerechnet hat. Das ist interessant, weil es das Prinzip Tausch aufhebt. Denn die Gegenseite bietet einem etwas, das einen verwundert, überrascht, verstört.“ Gerade im Vergleich mit anderen Ländern verfügt Deutschland über eine sehr gute Preislandschaft. John von Düffel sieht Literaturpreise als Spiegel des Interesses von Lesern und der Öffentlichkeit an einem Werk. Er betont die wichtige Funktion der Ermunterung. Da sich ein Autor außerhalb von Preisen und Stipendien ständig auf einem Markt behaupten muss.

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„Preise sind das Einzige, wo ein Autor nicht in einem direkten Verhältnis von Leistung und Bezahlung steht.“ Das deutsche Fördersystem für Autoren ist in den letzten Jahren immer wieder kritisiert worden, da es zu unübersichtlich sei. Brauchen wir ein zentrales System für Subventionen? „Wir haben es mit der Umkehrung von Marktwirtschaft zu tun. Im Kulturbereich ist es ja so: Erst wenn ich höre, ein Buch ist ganz toll oder es gibt ein Theaterstück, was man gesehen haben muss, entsteht bei mir die Nachfrage.“ Das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage in der Kultur müsse durch vielfältige Unterstützung ausgeglichen werden. John von Düffel schätzt sehr, dass Kultur in Deutschland noch einen hohen Stellenwert hat. „Da leben wir noch auf einer Insel der Seligen.“ Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Autorenbild der Öffentlichkeit und dem Misstrauen gegenüber Literaturpreisen. Erst durch die Anerkennung der Arbeit eines Schriftstellers als Erwerbsarbeit – im Gegensatz zu einem Bild von künstlerischer Tätigkeit als Rausch oder Exzess – kann eine realistische Einschätzung erfolgen. Als Aufgabe der Kulturpolitik sieht John von Düffel, die Wichtigkeit von Kunst und Kultur noch entschiedener zu unterstreichen. Die Gesellschaft brauche einen Ausgleich zum Wirtschaftsstreben und Konkurrenzdruck. „Wir müssen begreifen, dass Kultur nicht nur ein Luxus, sondern als Gegenangebot eine existenzielle Notwendigkeit ist, dass der Mensch mehr ist, als dieses zu verwertende Wesen.“ Seiner Meinung nach haben das Kulturelle und Soziale viele Verbindungen. „Eine soziale Kultur kann nur entstehen, wenn es auch eine ästhetische Kultur gibt und umgekehrt.“

„Schreiben ist Knochenarbeit“ Gespräch mit Christiane Schütze F ABIAN S CHÜTZE

Ein Interview mit einer alleinerziehenden, freien Journalistin und Autorin in Stuttgart zur Mittagszeit in einer kleinen Wohnung. Es gibt Kaffee und selbst gebackene Kekse der Schwester sowie die Gewissheit, dass zum Leben des Literaten dazugehört, schlecht davon leben zu können. Du hast eine Ausbildung zur Ergotherapie gemacht und bist seit 1985 freie Journalistin und Autorin. Du warst bei einer Zeitschrift wie „Spielen und Lernen“ und später bei der „Sendung mit der Maus“ tätig. 1988 bist du dann zum Rundfunk gekommen, damals noch der SDR. Das sind viele unterschiedliche Tätigkeiten, an was arbeitest du denn momentan? Ich arbeite derzeit an einem Theaterstück und habe den Auftrag, eine umfangreiche Festschrift für eine Schule zu schreiben. Wie sieht das genau aus: Du bist ja nicht fest angestellt. Bekommst du Anfragen oder Schreibaufträge? Generell wären Anfragen und die Möglichkeit, aus verschiedenen Anfragen auswählen zu können, ein Traum. So ist es aber nicht. Größtenteils habe ich Verlagen, dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk oder Zeitschriften auf gut Glück Textproben geschickt oder Themenangebote gemacht in der Hoffnung, dass man sich über diese Angebote kennen lernt und dass dabei ein Auftrag herauskommt. Und wenn der erste Auftrag gut gelaufen war, dann war die Tür in der Regel für weitere Aufträge geöffnet. Bei dieser Art der

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Akquise ist es so, dass man vielleicht fünfzig Themenvorschläge schreibt und dabei maximal drei Aufträge herauskommen. Seit wann schreibst du Theaterstücke? Seit knapp eineinhalb Jahren. Und wie sah die Akquise beim Schreiben für das Theater aus? Beim Theaterstück gab es zunächst keinen Auftrag, sondern den Wunsch, ein Theaterstück zu schreiben. Und ich wusste, dass es eine große Schulklasse gibt, die auf der Suche war nach einem zeitgemäßen Stück. Deshalb habe ich mich mit dem Lehrer in Verbindung gesetzt, der meiner Idee gegenüber nicht abgeneigt war. Ich habe das Stück geschrieben und hatte anschließend Glück, da ein Verlag es in sein Programm mit aufgenommen hat. Wie haben sich die Aufträge an der Schule ergeben, du sprachst von einer Festschrift? Über die Jahre habe ich im PR-Bereich Aufträge für Schulen übernommen. Es gab ein paar Leute, die wussten, dass ich für diese Tätigkeit ganz gut geeignet bin. Früher habe ich das aber öfter gemacht, heute vernachlässige ich den Bereich. Und ab dem Moment, wo man etwas vernachlässigt, kommen auch nicht mehr viele Aufträge nach. Es gibt allerdings noch eine Schule, für die ich früher die Öffentlichkeitsarbeit gemacht habe und die jetzt vermehrt nachfragt und übrigens auch anständig bezahlt. Das heißt, letztendlich passiert doch nicht alles auf gut Glück, was du schreibst? Nein, die Mischung ist die: Ich mache eigentlich gar nichts gerne nur auf gut Glück. Aber man muss auf diese Weise anfangen. Meistens biete ich nichts Fertiges an, sondern fühle erst einmal vor, ob jemand Interesse hat an meiner Idee. Und wenn ich dann ein positives Signal bekomme, dann schreibe ich. Wie bist du zum Schreiben gekommen? Du hast kein literaturwissenschaftliches Studium hinter dir. Warum kam das nie in Frage? Das ist eine gute Frage, ich kann sie nicht beantworten. Ich glaube, das hatte finanzielle Gründe. Ich habe gerne geschrieben und zwar, glaube ich, von Geburt an (lacht). Manche werden mit … was weiß ich im Mund geboren.

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Ich wurde mit einer Zigarette und einem Stift im Mund geboren. Allerdings habe ich lange nicht gewusst, wie man das überhaupt macht mit dem Schreiben. Und so war es nahe liegend, dass man mich zur Zeitung verfrachtet hat. Zuerst wollten sie mich nicht, haben mich aber dann Probeschreiben lassen und dann hieß es: „Komm halt mal vorbei, einer ist abgesprungen.“ Es wurde also eine Stelle frei und die haben festgestellt, dass ich schreiben kann und dazu noch sozial bin. Aber ich hätte nicht gedacht, dass Journalismus so blöd ist. Das hat mir nicht gefallen. Bei der Zeitung muss man ja über Themen schreiben, die für mich nicht so brennend interessant waren. Zum Beispiel hätte ich gerne über die damals viel diskutierten Jugendhäuser geschrieben und über jugendliche Straftäter, aber das durfte ich nur manchmal. Ich musste regelmäßig zu den so genannten Kaninchenzüchtervereinen gehen und zu Gemeinderatssitzungen und es musste unter der Vorgabe der jeweiligen Zeitung oder Redaktion geschrieben werden. Und das hat mir schon immer gestunken. Würdest du aus heutiger Perspektive sagen, dass ein Literaturstudium gut gewesen wäre oder ist das für deine Arbeit und das finanzielle Einkommen irrelevant? Ich glaube, für das Schreiben spielt es letztendlich keine Rolle. Schreiben kommt nicht durch ein Studium. Es erweitert auf jeden Fall den Horizont, aber man kann nicht unbedingt gut Schreiben, wenn man gut studiert hat. Schreiben ist meiner Ansicht nach im Wesentlichen Knochenarbeit und Übungssache. Aber im Kulturbereich oder zum Beispiel bei öffentlichrechtlichen Sendeanstalten ist es, aus Gründen der Selbstdarstellung, sicherlich besser, wenn man ein Studium vorweisen kann. Ist das Interesse dann größer? Ja, man zählt mehr. Das ist mir aufgefallen: diejenigen, die im Literaturbetrieb etwas zu sagen haben oder als Schriftsteller neu aufkommen, haben eigentlich alle ein Studium, bis auf die Dame von Harry Potter, glaube ich.

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Musst du dich in deiner freiberuflichen Arbeit komplett selbst vermarkten? Und wie sieht dann, von der Vermarktung aus gesehen, dein Arbeitsalltag aus? Mein Arbeitsalltag spielt sich am Computer ab, hier schreibe ich. Und dann muss ich mich dazu zwingen, mich zwischendurch zu vermarkten: Das sind alle zwei Monate etwa zwei bis drei Tage, an denen ich am Stück Verlage oder Redaktionen oder wen auch immer anschreibe, mir kleine Bewerbungsanschreiben ausdenke oder auch mal telefoniere. Meistens heißt es dann „Schicken Sie mal“, und dann schickt man es also und wartet zwei bis vierzehn Monate, bis man eine Antwort bekommt. Man wird immer darauf hingewiesen, bitte nicht noch einmal anzurufen und manchmal bekommt man auch gar keine Antwort mehr. Macht dir das nichts aus? Das ist von nervend bis belastend, wenn nichts funktioniert. Wenn aber irgendjemand positiv reagiert und sagt „Ja, das will ich“, dann ist alles bestens und dann kann ich auch die anderen Absagen verkraften. Wenn aber nur Absagen kommen, das geht an die Substanz und ans finanziell Eingemachte, dann winkt der Herr Hartz IV. Musstest du das schon einmal in Anspruch nehmen? Ja, im letzten Jahr und sehr ungern. Dann dachte ich allerdings, es macht eigentlich nichts, andere machen das auch. Ich weiß das von vielen Künstlern, vor allem in der Malerei, der Darstellenden Kunst. Auf der einen Seite war es klasse, weil ich soviel Geld hatte wie nie zuvor – im Gegensatz zu anderen Hartz IV-Empfängern war ich glücklich. Ich habe aber festgestellt, dass man sich doch etwas minderwertig fühlt und sich vor allem auch nicht mehr so gut verkauft. Man kommt nicht unbedingt auf die Idee, sich um Aufträge zu kümmern, weil das Geld irgendwie reinkommt. Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, ist es für die Kunst nicht gerade gut, wenn man ein festes Einkommen bekommt ohne dafür zu arbeiten. Sollten der Künstler oder die Künstlerin schon ums Überleben kämpfen müssen, um überhaupt künstlerisch tätig zu werden? Da bin ich zwiespältig. Grundsätzlich finde ich schon, dass der Staat etwas mehr tun sollte für seine Künstler als bisher. Zum einen kommt ja nicht einmal jeder Künstler in die Künstlersozialkasse rein. Und wenn Künstler

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einmal Hartz IV beantragen, um eine Grundsicherung zu haben, sollte ihnen daraus kein Strick gedreht werden mit der Drohung, sich um einen Nebenjob zu kümmern. Eine kleine Grundsicherung der Miete und der laufenden Nebenkosten wäre eine Mordserleichterung und würde ja nicht bedeuten, dass ich mich zurücklehnen kann. Du hast angedeutet, dass der Staat etwas zu wenig macht für freiberufliche Künstler und Künstlerinnen. Gibt es Stellen, an denen der Staat dich persönlich zu wenig unterstützt? Eine Grundsicherung von, was weiß ich, 800 Euro im Monat, fände ich schon gut. Man wüsste dann, dass man gar nicht so tief fällt, wenn mal eine Flaute kommt. Ich habe mir noch nicht so viele Gedanken darüber gemacht, was der Staat tun könnte. Aber ich habe den Eindruck, dass der ganze Literaturbetrieb in fester Hand ist und Quereinsteiger selten eine Chance haben. Ich finde auch, dass die Verlage zu sehr vom Markt diktiert werden. Als Literat oder Autor hat man es schwer, einen Verlag zu finden, weil die nur danach gucken, was sich verkauft. Das ist entscheidend und hier könnte der Staat helfen. Schöpfst du auch aus anderen Geldern? Manchmal ein bisschen. Zweimal hatte ich das Glück, über die Verwertungsgesellschaft bezuschusst zu werden. Die haben einen Sozialfonds für besondere Fälle. Dadurch, dass ich schon seit zwanzig Jahren in der Verwertungsgesellschaft bin, konnte ich mit Begründung den Sozialfonds in Anspruch nehmen. Dann habe ich einmal ein Arbeitsstipendium vom Schriftstellerverband bekommen, was für zwei, drei Monate ganz in Ordnung war. Aber ich finde schon, dass es mehr geben könnte, was eine Grundsicherung garantiert. Wie schaffst du dir einen Gesamtüberblick über Stipendien oder andere Förderungen? Der Schriftstellerverband tut da einiges, da bin ich ja auch Mitglied. Aber oft lese ich die ganzen Informationen auch nicht und damit fängt es ja schon an … (lacht). Und es liegt an der Struktur meiner Person, dass ich mich nicht da rumtreibe, wo sich alle rumtreiben. Zu Veranstaltungen und Gremien gehe ich nicht hin. Und so würde ich auch sicher nicht so schnell ausgewählt werden, von einer Jury von irgendeinem Schriftstellerverband.

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In dieser Beziehung tue ich für meine Vermarktung zu wenig. Es sollte Pools geben oder Stiftungen, die für solche wie mich eine Vermarktung übernehmen. Ich würde das alles sehr gerne einer Agentur übergeben, das wäre sehr schön. „Für solche wie mich“, kannst du das noch einmal kurz umreißen, wer Leute wie du sind? „Leute wie ich“ sind solche, die für ein Nischenpublikum schreiben, nicht für die breite Masse, aber auch nicht für einen abgehobenen, nicht mehr verständlichen Literaturbetrieb. Sind welche wie du eigentlich in der KSK? Schon immer. Und wie würdest du die Wichtigkeit der KSK für dein Berufsleben einordnen? Ich hätte über viele Jahre meinen Alltag nicht so gut finanzieren können, wenn ich die üblichen Sätze für die Krankenkasse hätte bezahlen müssen. Wenn ich jetzt 400 Euro im Monat für eine Krankenversicherung zahlen müsste, was der übliche Satz wäre, dann wäre ich Dauergast bei Harz IV. Ohne die KSK geht es für dich also nicht? Überhaupt nicht. 1998 hast du den CIVIS Medienpreis bekommen. Hatte dieser eine Wichtigkeit für dich oder hast du gemerkt, dass dieser Preis etwas bewirkt hat? Sie haben alle so getan, als würde er etwas bewirken. Aber unterm Strich kam nichts raus, wobei da auch wieder eine kleine Einschränkung zu machen ist: Das war wieder ein Problem der Vermarktung, denn man hatte einfach vergessen bekannt zu machen, dass ich zu den Preisträgern gehöre (lacht). Da, wo es interessant gewesen wäre, nämlich innerhalb des SWR/WDR haben sie es vergessen, das bekannt zu machen. Eine kurze Einschätzung deinerseits: Ist es heute schwieriger, vom Schreiben zu leben, als noch in den 1980er-Jahren? Ja, aufgrund der Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft inklusive der Funkanstalten, in der immer mehr Personal abgebaut wird, gibt es immer mehr freie Autoren. Gleichzeitig gibt es immer mehr Studenten, die Sachen stu-

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dieren, bei denen man nicht so genau weiß, was man anschließend arbeiten soll. Zum Beispiel die Germanisten oder die Literaturwissenschaftler, die Kulturwissenschaftler oder Sportwissenschaftler, die keine Anstellung mehr in einem anderen Bereich finden und dann in den Bereich Journalismus oder Schreiben allgemein drängen. Und jeder darf sich freier Journalist nennen. Das bedeutet eine hohe Quantität. Ja, es gibt eine unwahrscheinliche Quantität. Ich habe mal gelesen, dass allein von den Journalistenschulen und journalistenähnlichen Studiengängen im Jahr in Deutschland 10.000 neue Schreiber dazu kommen. Der Autor und Universitätsprofessor Hanns-Josef Ortheil meint in dieser Hinsicht etwas Interessantes festgestellt zu haben: dass die heutigen Autorinnen und Autoren immer mehr Disziplinen erfüllen müssen oder in immer mehr Bereiche reindrängen, um überleben zu können und um weiterhin interessant zu sein. Du schreibst Theaterstücke oder auch mal eine Festschrift. Steht hinter der Tatsache, dass du in unterschiedlichen Bereichen schreibst, der Überlebenswille? Das ist fast richtig. Ich bin Medienwechsler, das heißt innerhalb des großen Feldes Schreiben. Da ich ab dem Moment, in dem ich mich definitiv vom Journalismus verabschiedet habe, ein neues Feld brauchte, habe ich neue erschlossen. Das ist das eine. Theater war für mich ein denkbares Feld, da ich vorher Hörspiele geschrieben hatte, die ich übrigens auch weiterhin gerne schreibe. Und da ist der Schritt zum Theater gar nicht so groß. Somit fühle ich mich jetzt nicht als Branchenfremde, wenn ich ein Theaterstück schreibe, sondern als eine, die schon ganz viel mitbringt, nämlich die Dialoge und viele Elemente, die man im Theater über Körper und Bühne und Bild erweitern muss. Aber dass Schriftsteller und Literaturen auch andere Sachen gemacht haben, um zu überleben, ist meiner Ansicht nach überhaupt kein neues Phänomen. Das hat Else Lasker-Schüler in den 20erJahren auch schon machen müssen. Denn das gehört zum Literaten dazu, dass er schlecht davon leben kann.

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Und du hast dir sicherlich das finanziell Schlechteste ausgesucht: Literatin und dazu noch alleinerziehende Mutter. Ich kenne niemanden, bei dem es so war wie bei mir, wirklich nicht. Es gab Zeiten, da war nichts da, nicht einmal der Unterhalt für das Kind. Und dafür lief es bei mir eigentlich prächtig. Also selbst noch am Leben, nicht verhungert? Sogar dicker geworden (lacht), zwei Kilo mehr als früher. Was sind deine Pläne für die nächsten Jahre? Noch Literatur? Oder Malerei, wie es auf deiner Internetseite www.texten-lernen.de zu sehen ist? Der Schwerpunkt liegt sicherlich weiterhin auf dem Schreiben. Und ich kann mir vorstellen, mittelfristig mit diesem Theater für bestimmte Schulklassen und Amateurgruppen zu agieren. Was mir Spaß macht und es wo es einen Bedarf gibt und auch ein wenig Geld. Ja, und Bücher schreiben. Ich hätte gerne mal meinen Roman fertig gemacht. (lacht) Das heißt, du hast schon Bücher geschrieben, die noch nicht veröffentlicht sind? Ich habe zwei Bücher veröffentlicht und dazu noch vier Buchmanuskripte, die derzeit bei Verlagen und Agenturen rumschwirren. Das sind die Fälle, bei denen du bislang noch keine Rückmeldung bekommen hast? Ja, das sind zwei Sachbücher, ein belletristischer Erzählband, was ganz schwierig ist, und ein umfangreiches Kinderbuch. Dann gibt es einen Roman, den ich mal fertig schreiben müsste und den ich noch nicht angeboten habe. Wie sieht denn für dich die Zukunft aus? Eine Zukunftsvision? … Heiraten (lacht), einen reichen Mann.

Musik

„Musik ist lebensnotwendig“ Porträt von Florian Poser M IA P ANTHER

Florian Poser, 1954 in Hamburg geboren, ist freiberuflicher Jazzmusiker und gilt als der beste Vibraphonist Deutschlands. Mit seinen diversen Combos, u.a. der „Florian Poser Group“ und der „Brazilian Experience“ ist er regelmäßig auf Tourneen in der ganzen Welt unterwegs und lebt ansonsten mit seiner Familie im Niedersächsischen Oldenburg. Seit fast dreißig Jahren nimmt er als Musiker und Komponist eigene Tonträger auf, 2005 auch in New York. In einem Fernsehbeitrag von Radio Bremen aus dem Jahr 2005 wird deutlich, dass die Jazzmusikszene und ihre finanziellen Bedingungen nicht mit der Popmusikbranche verglichen werden können. Ohne das Einkommen seiner Frau, einer Lehrerin, wäre die wirtschaftliche Lage prekär. Mittlerweile stellt Posers Haupttätigkeit, sein „wirtschaftliches Standbein“, die Professorentätigkeit dar. „Ich habe in Bremen an der Hochschule für Künste eine halbe Professur in der Musiklehrerausbildung. Dort betreue ich die angehenden Lehrer im Fachbereich ‚Jazzcombo‘ sowie ‚Musik und Computer‘. Ich gebe Kurse für Sequenzer und Notensatzprogramme“, so Poser in einem Interview mit Ingo Baron in der Februarausgabe 2005 der Zeitschrift „Drums & Percussion“. Florian Posers Betätigungsfelder sind vielseitig. Der Oldenburger nennt sich selbst einen freiberuflichen Musiker als Instrumentalist und Komponist, Organisator eigener Tourneen und Konzerte, Professor im Fach Popularmusik für Lehrerausbildung an der Hochschule für Künste Bremen sowie Dozent für Jazz-Vibraphon an der Musikhochschule Detmold, Lehrer für Vibraphon an der Musikschule der Stadt Oldenburg und Leiter diverser

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Workshops und anderer freiberuflicher Unterrichtstätigkeiten. Davon sei, wie Florian Poser erläutert, die Popularmusik-Professur zwar sein Hauptbetätigungsfeld, die ersten zwei Bereiche nähmen aber die meiste Zeit seiner, wie er selbst sagt, Fünfzig- bis Sechzig-Stunden-Woche ein. Hinzu kommt, dass Poser sich komplett selbst managt, er hat keinen Agenten, sondern organisiert alle vertraglichen Angelegenheiten wie Engagements, Konzerte und Aufnahmen eigenständig. Und das seit Beginn seiner Karriere. „Es wäre natürlich angenehm, wenn mich ein Agent an jedem Ersten des Monats anruft und sagt, dass ich die und die Konzerte zu spielen habe. Um die geschäftliche Seite schlage ich mich nicht, aber ich habe sie als Teil des Berufes akzeptiert“, so Poser in „Drums & Percussion“. Es sei eben eine Kostenfrage, einen Agenten einzustellen und er habe zudem bisher noch niemanden gefunden, dem er diese Aufgabe gern hätte übertragen wollen. Vom Cello zum Vibraphon Bereits als Kind hatte Florian Poser ein Faible für Musik und Musikinstrumente. War es zunächst das Violoncello, welches er bereits im Alter von sieben Jahren zu lernen anfing, kamen später Gitarre, Klavier und das Schlagzeug hinzu. „Ich komme aus einem klassisch geprägten Elternhaus. Mein Vater ist der Hamburger Komponist Hans Poser (1917-1970). Die ‚klassische Musik‘ – dieser Begriff beinhaltet für mich alle Musik von Barock bis zur Gegenwart – ist fester Bestandteil meiner musikalischen Wurzeln und hat nach wie vor eine große Bedeutung für mich, gleichwohl ich sagen muss, dass ich mich als Hörer sämtlicher musikalischer Genres bediene“, so Poser in einem Interview, das er mit Sabine Lange führte und das auf der Website des Künstlers auf www.florian-poser.de nachzulesen ist.“ Schlagzeug studierte er drei Jahre an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, ohne dieses jedoch abzuschließen. Anschließend erlernte Florian Poser ein Instrument, welches ihn schon früh fasziniert hatte und das er im Interview mit „Drums & Percussion“ so beschreibt: „Das Vibraphon habe ich auf einer Schallplatte meines Vaters entdeckt, einer vom Modern Jazz Quartett. Das war für mich immer der Inbegriff von Jazzmusik: Vibraphon, Bass, Schlagzeug. Natürlich ist das Vibraphon ein Instrument, was etwas weiter vom Mainstream weg liegt. Aber es war eine Vision, die ich immer hatte, irgendwann einmal Vibraphon zu spielen.“

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Zunächst begann er als Autodidakt, erlernte dann bei Wolfgang Schlüter und Tom van der Geld im Rahmen des Hamburger Kontaktstudienganges „Popularmusik“ das Spiel des Vibraphons und bildete sich bei Künstlergrößen wie David Friedman, Gary Burton und Dave Samuels in zahlreichen Jazz-Workshops weiter. Den Weg zum Jazz, der sich Florian Poser über die Leidenschaft zum Blues erschloss, prägten vor allem Musikervorbilder wie Herbie Hancock und Chick Corea. Zusätzlich zu seinen Tätigkeiten als freiberuflicher Musiker, Dozent, Workshopleiter und Konzertmanager übt der gebürtige Hamburger noch eine weitere Tätigkeit sehr erfolgreich aus: das Komponieren. Nicht nur, dass er alle Stücke seiner „Florian Poser Group“ und der Combo „Brazilian Experience“ selbst erdenkt, über 200 Werke, unter anderem Auftragswerke, hat er bereits komponiert. Eine Titelliste sowie zahlreiche Hörbeispiele befinden sich auf Florian Posers Website. Das Business wird schwieriger, die Popularität größer Finanzieren tut sich der Allround-Musiker hauptsächlich durch die eigenen Einnahmen. Die Zahl seiner vergüteten Projekte im Jahr sei sehr variabel, so Poser, sie liege zwischen dreißig und fünfzig. Private Förderer gäbe es keine. Dadurch variiere auch die wirtschaftliche Lage sehr stark, „manchmal ausgesprochen gut und manchmal höchst schwierig“, insgesamt sei sein Nettoeinkommen aber über die letzten drei Jahre etwa gleich geblieben. Dass er von der wirtschaftlichen Krise und den allgemeinen Einbrüchen in der Musikbranche weniger betroffen ist, mag daran liegen, dass es sich bei ihm um einen Ausnahmekünstler handelt. Obwohl das Musikgeschäft, so Poser im Gespräch mit Ingo Baron, härter geworden sei: „Bei mir ist es erfreulicherweise so, dass in dem Maße, in dem das Business schwieriger wird, meine Popularität größer wird. Insgesamt hält sich also für mich die Sache immer die Waage.“ Öffentlich gefördert wurde der Jazzmusiker besonders in den ersten zehn Jahren seiner Karriere. „Ich war 1989 und 1991 Künstlerstipendiat des Landes Niedersachsen und habe einige Kompositionspreise gewonnen.“ 1985 erhielt er außerdem den Ernst-Fischer-Preis und gewann beim Oldenburger Kompositionswettbewerb mit seiner Komposition ‚St. Mountain – Concertino für Vibraphon und Orchester‘. Während sich seine Tourneen und Auftritte in der ganzen Welt abspielen, beschränkt sich seine Lehrtä-

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tigkeit auf das regionale niedersächsische Umfeld Posers. Auf die ihm verliehenen Preise hin angesprochen, bestätigt er – ohne allerdings genauere Angaben zu machen – den Prestigewert derartiger Preise. Die Lukrativität hänge allerdings sehr von der jeweiligen Förderung ab. Es gäbe verschiedene „Exemplare“. Als zusätzliche Einnahmequelle dienen Florian Poser die Workshops, die er hin und wieder an verschiedenen Einrichtungen anbietet. Manchmal geht es in eben diesen Workshops nicht nur um die Vermittlung musikalischer Kompetenzen. Durch sein komplett autarkes Selbstmanagement ist der Freiberufler zur Ausnahmeerscheinung in der Musikbranche geworden. Im Jahr 2005 informierte er beispielsweise in einem „Business-Workshop“ in Hannover darüber „wie man ein internationales Projekt auf die Beine stellt“. In „Drums & Percussion“ ergänzt der Vibraphonist: „Letztendlich werde ich aber auch erklären, wie man von der Idee zur Tournee kommt und welche Schritte dazwischen liegen. So etwas wird sicher gerne vernachlässigt.“ Obwohl das Einkommen eines Jazzmusikers wie Florian Poser nicht zum Leben ausreichen würde, fällt dieser aufgrund der Höhe seines Einkommens an der Hochschule für Künste in Bremen durch das Raster der Künstlersozialversicherung. Demgegenüber ist er sowohl rentenversichert als auch zu Arbeitslosengeld berechtigt. Vom Selbstbild des Künstlers und politischen „Sonntagsreden“ Gefragt nach dem kulturellen Bildungsauftrag seiner Arbeit hebt der Musiker die Bedeutung seiner Lehrtätigkeit besonders hervor. Die Vermittlung von Kultur und Musik durch Kulturelle Bildung sei für ihn der wichtigste Teil, so Florian Poser. Weiter bestätigt er, dies werde auch von den Kulturschaffenden in der Gesellschaft erwartet. Das gesellschaftliche Ansehen eines Künstlers bzw. Musikers in Deutschland bewertet Florian Poser hingegen lediglich als „ganz o. k.“. Von der Kulturpolitik erwarte er in Zukunft, die Belange der Kultur nicht, wie in den meisten Fällen, hinten anzustellen und stattdessen mehr Geld für Kultur auszugeben: „Wie wär’s zum Beispiel mit einer Kultur-Bürgschaft in Höhe von 50 Milliarden Euro oder einem Kultur-„Rettungsschirm“ in gleicher Höhe …?“ Musik und Musiker werde

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es immer geben, auch ohne finanzielle Förderung, eine Aufstockung der Gelder wäre aber in der Tat wünschenswert und dringend notwendig. Ohne eine Zunahme an Förderung, so lässt sich folgern, wird die Lage der Kulturschaffenden in Deutschland immer prekärer. Kann sich der deutsche Staat Kultur leisten? Er muss es, will er sich nicht selbst die Lebensgrundlage entziehen. Denn: Gesellschaft braucht Kultur! Und gerade Musik bezeichnet Florian Poser als „lebensnotwendig. Sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft“ und schließt sich damit zentralen Positionen, beispielsweise des Deutschen Musikrates, an. Die Handlungsempfehlungen der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ würden allerdings zu wenig ernst genommen, sagt Florian Poser. Der Vibraphonist äußert die Vermutung, Politiker nutzten Bezugnahmen auf derartige Forderungen lediglich für „Sonntagsreden“ und fügt hinzu: „Vorne von der Wichtigkeit der Kultur reden und hinten die entsprechenden Etats mal wieder kürzen … So läuft’s doch in der Realität!“ Trotz allem: Für den Oldenburger Florian Poser ist sein Beruf der schönste, den er sich vorstellen kann. „Ich empfinde es als eine äußerst privilegierte Situation, seinen Lebensunterhalt fast ausschließlich mit Dingen zu verdienen, die einem Spaß machen!“ Neben seiner Familie und dem Wunsch nach Gesundheit, habe Musik in seinem Leben den höchsten Stellenwert, so der Jazzer. Er entkräftet das Bild des romantischen Künstlers, indem er sagt, man solle sich keine Illusionen darüber machen wie ein Musikerdasein aussehe. Er selbst habe das während seines Studiums zwar auch getan, aber Musiker zu sein erfordere zusätzlich zu Kreativität und Spaß „unglaublich viel Disziplin, Organisiertheit, Hingabe und Durchhaltevermögen“. Weiter formuliert er: „Wenn man nicht für die Musik ‚brennt‘, sollte man die Finger davon lassen!“ Anhang: Fragen an Florian Poser am 22. Juni 2009 1.) Werdegang und Ausbildung Haben Sie ein (Fach-) Hochschulstudium abgeschlossen? Wenn ja, um was für ein Studium handelt es sich? (Wo?) Dreijähriges Schlagzeugstudium an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Kein Studienabschluss. Danach Tätigkeit als Musikschullehrer und freiberuflicher Musiker.

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Mussten Sie Schulgeld oder Studiengebühren bezahlen? Nein. Haben Sie eine anderweitige abgeschlossene Berufsausbildung? Nein. Haben Sie vor und/oder nach Ihrer Ausbildung Praktika gemacht? Nein. 2.) Arbeitsalltag und Arbeitsmarkt Welche Tätigkeiten üben Sie heute aus? 1. Freiberuflicher Musiker (Instrumentalist und Komponist) 2. Organisator eigener Tourneen und Konzerte 3. Professor im Fach Popularmusik (Lehrerausbildung) an der Hochschule für Künste HB 4. Dozent für Jazz-Vibraphon an der Musikhochschule Detmold 5. Lehrer für Vibraphon an der Musikschule der Stadt Oldenburg 6. Diverse freiberufliche Unterrichtstätigkeiten (Workshops etc.) Welche würden Sie davon als Ihre Haupttätigkeit beschreiben und in welchem Beschäftigungsverhältnis stehen Sie hauptsächlich? (freie Mitarbeit, angestellt, selbstständig) Haupttätigkeit ist zweifelsfrei 3. aber auch 1./2. nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Wenn Sie selbständig sind, in welcher Betriebsform organisieren Sie Ihre Tätigkeit? (Freiberufler ohne Betriebsform, GbR, GmbH, andere) Freiberufler. Innerhalb welcher Reichweite sind Sie beruflich aktiv? Verweisen Sie hierbei bitte auf Ihre Haupt- bzw. Nebentätigkeit (Heimatregion, andere Bundesländer, europäisches Ausland, sonstiges Ausland) Lehrtätigkeit: im regionalen Umfeld. Musikertätigkeit: weltweit. Wie viele Stunden beträgt Ihre durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche? 50-60 Std.

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3.) Wirtschaftliche Situation Erhalten Sie gelegentlich Unterstützung von Kommunen? Wenn ja, in welchem Rahmen? (Projektförderung, Stipendien etc.) Ich war 1989 + 1991 Künstlerstipendiat des Landes Niedersachsen und habe einige Kompositionspreise gewonnen. Außerdem wurden Projekte von mir mehrfach mit dem „Jazzpodium Niedersachsen“ gefördert. Bekommen Sie Förderungen vom Land Niedersachsen oder vom Bund? Wenn ja, inwiefern? (Projektförderung, Stipendien, Auszeichnungen etc.) S. o. Würden Sie sagen, dass Künstler von Auszeichnungen/Preisen hauptsächlich an Ansehen gewinnen, also ideell profitieren, anstatt finanziell? Hängt vom Preis ab. Es gibt da durchaus lukrative Exemplare … Werden Sie überdies privat gefördert? Wenn ja, durch wen? Nein. Wie viele vergütete Projekte (z.B. Auftritte) haben Sie etwa durchschnittlich im Jahr? 30-50 (ist sehr variabel!) Wie bewerten Sie Ihr Nettoeinkommen innerhalb der letzten drei Jahre? (gestiegen, gesunken, gleich geblieben) Eher gleich geblieben. Wie beurteilen Sie insgesamt ihre wirtschaftliche Lage? (sehr gut, gut, normal, unterschiedlich, eher schlecht, schlecht) Sehr unterschiedlich! Manchmal ausgesprochen gut und manchmal höchst schwierig. 4.) Soziale Situation Sind Sie bei der Künstlersozialversicherung versichert? Wenn nein, warum nicht? Durch die Höhe des Einkommens an der Hochschule für Künste gehöre ich nicht mehr zum Kreis der Berechtigten.

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Sind Sie derzeit rentenversichert? Ja. Haben Sie Anspruch auf Arbeitslosengeld? Ja. 5.) Selbstbild Was wird von ihnen als Kulturschaffender in der Gesellschaft erwartet? Haben Sie z.B. einen Vermittlungsauftrag in Bezug auf Kulturelle Bildung? Das ist Teil meiner Lehrtätigkeit! Wie beurteilen Sie das gesellschaftliche Ansehen, das Sie als Künstler genießen? (sehr gut, gut, normal, unterschiedlich, eher schlecht, schlecht) In Deutschland ist das ganz o. k. (im Gegensatz zu z.B. den USA …). Was ist das Schönste an Ihrem Beruf? Dass es der schönste Beruf ist, den ich mir vorstellen kann. Ich empfinde es als eine äußerst privilegierte Situation, seinen Lebensunterhalt fast ausschließlich mit Dingen zu verdienen, die einem Spaß machen! Haben sich Vorstellungen, die Sie von Ihrem späteren Beruf während des Studiums hatten, in der Arbeit bewahrheitet? Leider nicht. Während des Studiums hatte ich – von jetzt aus gesehen – viel zu viele Illusionen. Das Musikerdasein erfordert unglaublich viel Disziplin, Organisiertheit, Hingabe und Durchhaltevermögen. Wenn man nicht für die Musik „brennt“, sollte man die Finger davon lassen! Welchen Stellenwert hat die Musik in Ihrem Leben? Familie, Gesundheit, Musik – ungefähr in diesem Bereich. Also ganz oben! 6.) Forderungen an die Kulturpolitik/kulturpolitische Perspektiven Warum braucht die Gesellschaft Musik? Musik ist lebensnotwendig. Sowohl für den Einzelnen, als auch für die Gesellschaft. Das „Warum“ vermag ich nicht zu beantworten.

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Werden Ihrer Meinung nach die Handlungsempfehlungen an die Kulturpolitik, beispielsweise von der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages ernst genommen? Wohl ernst, aber nicht ernst genug. So was eignet sich immer gut für Sonntagsreden. Vorne von der Wichtigkeit der Kultur reden und hinten die entsprechenden Etats mal wieder kürzen … So läuft’s doch in der Realität! Wie schätzen sie die Zukunftsperspektiven für Musiker ein? Was müsste kulturpolitisch verändert werden, um die Zukunftsperspektiven zu verbessern? Musik wird es immer geben und somit wird es auch immer Musiker geben. Natürlich wäre mehr Geld für die Kultur wünschenswert, doch die Kultur kommt – leider – fast immer zuletzt dran … (Wie wär’s z.B. mit einer Kultur-Bürgschaft in Höhe von 50 Milliarden Euro oder einem Kultur„Rettungsschirm“ in gleicher Höhe …?)

„Die Medien entziehen sich dem kulturellen Auftrag“ Porträt von Michael „Maddy“ Arlt U TA B UDZINSKI

Michael „Maddy“ Arlt – Sänger, Mundharmonikaspieler und Songtexter – ist der Frontmann der Hildesheimer Band „B. B. & The Blues Shacks“, die mittlerweile seit über zwanzig Jahren existiert. Im Jahr 1989 entschieden sich die Brüder Andreas und Michael Arlt dafür, ihre Passion zum Beruf zu machen. Seit diesem Zeitpunkt verdienen die Bandmitglieder ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit ihrer Bluesband. Mittlerweile wurden elf Alben produziert, über 2500 Konzerte gespielt und zahlreiche Preise gewonnen. Die „Blues Shacks“ touren seit zwanzig Jahren durch die ganze Welt. Pro Jahr stehen durchschnittlich 120 Konzerte in ungefähr zehn bis 15 Ländern an. Einige Höhepunkte der Band waren die Ernennung zur Besten Europäischen Bluesband (2003/04) durch die Trophee France Blues sowie der BLUES NEWS Award 2007 für die beste DVD-Veröffentlichung, die USA-Tour im Jahr 2008 oder der Preis der Deutschen Schallplattenkritik für das Album „Unique Taste“, ebenfalls im Jahr 2008. Andreas Arlt wurde mehrfach als bester europäischer Bluesgitarrist ausgezeichnet. Der Bluesjournalist und -autor Dietmar Hoscher schrieb über die Band: „Es gibt gute Bands, es gibt sehr gute Bands und es gibt Bands, welche Maßstäbe setzen. ‚B. B. & The Blues Shacks‘ zählen zweifelsfrei zu letzterer Kategorie.“ Die Band beschreibt sich auf ihrer Website www.bluesshacks.com selbst folgendermaßen: „Zu einem ‚B. B. & The Blues Shacks-Konzert‘

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sind schon einige ohne klare Vorstellung vom Blues gekommen, aber keiner ist so gegangen. Die fünf Musiker lassen ihr Publikum mit musikalischem Können und Spielfreude spüren, wie viel Gefühl in dem Sound der 40er- und 50er-Jahre liegt. Echte Menschen spielen auf echten Instrumenten Songs, die sie lieben. Und das reißt mit. „B. B. & The Blues Shacks“ beeindrucken gerade live mit Stücken ihrer Vorbilder wie T-Bone Walker oder Sonny Boy Williamson, aber auch ihre Eigenkompositionen swingen und shuffeln gewaltig. Darum gelten sie auch als beste Bluesband Europas. Nach einem Abend mit Michael Arlt, Andreas Arlt, Dennis Koeckstadt, Bernhard Egger und Henning Hauerken weiß jeder, was Blues wirklich ist.“ Zuletzt erschien, in diesem Jahr, das Album „London Days“ beim Label Crosscut Records. Bluesmusiker – kein Ausbildungsberuf Michael Arlt, Jahrgang 1969, kam nach eigener Einschätzung relativ spät zur Musik. Inspiriert durch seinen Bruder, den Blues-Gitarristen Andreas Arlt, entschloss er sich im Alter von 17 Jahren, Mundharmonika zu lernen. Das Instrument begeisterte ihn, der Sound faszinierte ihn. Daraufhin kaufte er sich ein Instrument, dazu ein Lehrbuch und begann damit, sich durch Nachspielen seiner favorisierten Bluesaufnahmen das Mundharmonikaspiel autodidaktisch beizubringen. Die Mundharmonika wurde zu seinem Instrument und Arlt blieb dabei. Nach einiger Zeit stieg er in die Band ein. Da „B. B. & The Blues Shacks“ keinen Sänger hatten und Michael Arlt während seiner Spielpausen als Soloinstrumentalist so wenig zu tun hatte, war er fortan Harpspieler und zugleich Sänger der Hildesheimer Bluesband. Während seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten war die Musik noch Hobby – die Band hatte derzeit ca. zehn bis zwanzig Auftritte pro Jahr. Eine berufliche Perspektive ließ sich zu dieser Zeit für Arlt nicht erkennen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, gegen Ende seines Studiums der Sozialen Arbeit an der HAWK (Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst) Hildesheim, hatte sich die Band so weiterentwickelt, dass Michael Arlt durch die Musik einen Betrag verdiente, der sich ungefähr mit der Höhe seiner vorher erhaltenen Ausbildungsförderung deckte. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit als Berufsmusiker zu leben, war für den Harpspieler und Sänger ein natürlicher Schritt, da die Band sich mittlerweile einen Bekanntheitsgrad erarbeitet hatte, der eine akzeptable Existenzba-

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sis darstellte. Ohne diese Grundlage wäre diese Entscheidung, so Arlt, eine „fatale Kamikaze-Aktion“ gewesen. Ausgenommen von seinem studienbezogenen Anerkennungsjahr als Sozialarbeiter in einer Kindertagesstätte, übte Michael Arlt diese Tätigkeit nie hauptberuflich aus. Auf die Frage hin, ob er je eine weitere musikalische Ausbildung an einer Musikhochschule in Betracht gezogen hätte, schüttelt Michael Arlt entschlossen den Kopf. „Notentechnisch“ sei er dazu zu wenig bewandert. Außerdem werde sein Instrument im hochschulischen Rahmen nicht unterrichtet. Allerdings habe er während der neunziger Jahre fünf Jahre lang Gesangsunterricht bei der Jazzsängerin Kati Schiffkowski in Hannover genommen, um seine stimmlichen Möglichkeiten zu erweitern: Arlt erinnert sich daran, den Klang seiner Singstimme beim Anhören der ersten Aufnahmen der Band als unerträglich empfunden zu haben. Kurze Zeit später hätten Freunde ihm Gesangsunterricht zum Geburtstag geschenkt. Intonatorisch wie musikalisch habe ihn das „sehr viel weitergebracht“. Die Arbeit Wie gestaltet sich das alltägliche Leben eines Bluesmusikers? Arlt merkt an, dass ein Patentrezept nicht existiere – an regelmäßige Arbeitszeiten sei keinesfalls zu denken. Auf die Frage hin, ob er in Prozent einschätzen könne, wie viel Zeit er pro Woche mit Üben, Auftreten, Schreiben, Proben und Organisieren verbringe, antwortet der Musiker: „Kann ich nicht sagen. Es kommt wie es kommt.“ Üben mache ja auch nur dann Sinn, wenn man „Bock drauf“ habe. Es nütze nichts, sich zu quälen. Für ihn sei Üben dann sinnvoll, wenn er von einem bestimmten Stück inspiriert und begeistert sei, was er gern selbst spielen können würde; „alles andere ist ja Quatsch“, sagt Arlt. Da die Band sich über zwanzig Jahre eingespielt habe, gebe es keine regelmäßigen Proben. Kollektives Improvisieren und Jammen würde es aufgrund der Routiniertheit der Band schon seit Jahren nicht mehr geben. Arlt meint, dass gemeinsames Improvisieren eher für Sessions angemessen sei. Der Terminplan der Musiker richte sich vor allem nach den Auftritten, deren Anzahl auch stets variiere. Weiterhin durchlebe die Band in gewissen Abständen sehr unterschiedliche Phasen. Arlt nennt als Beispiel die Vorbereitungsphase für die Produktion des im Sommer 2010 erschienenen Albums „London Days“: Zunächst habe er viel Zeit allein verbracht, um die

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neuen Kompositionen auszutüfteln. Wenn er einen Song geschrieben habe, sei dieser trotzdem lange noch nicht fertig, meint Michael Arlt. Zunächst habe er sich bezüglich seiner Texte sprachlich beraten lassen, um grammatikalische Fehler auszuschließen und um sicherzugehen, dass sich seine Worte nach „landläufigem Amerikanisch“ anhörten, „damit es nicht so steif klingt“. Den Prozess des Schreibens und Redigierens der Songtexte schildert Michael Arlt als mühsam und zeitintensiv. Schließlich wurden die Songs in gemeinsamer Arbeit im Probenraum ausgeformt, arrangiert und eingeübt. Der Hildesheimer Musiker meint, dass es eine Ausnahme sei, einige Wochen am Stück gemeinsam im Bandkeller zu verbringen. Die Vorbereitungszeit für die Aufnahmen, wo „das ganze Zeug“ eingeübt würde, nähme dabei die meiste Zeit in Anspruch. Das reine Einspielen der CD dauere ca. zwei Wochen. Hinzu kämen im Nachhinein noch Gesang, Bläser, Abmischen und Mastern – ein langwieriger Prozess. Dazu assoziiert Michael Arlt Folgendes: „Dann gibt’s das Ganze illegal im Internet. Wie ich mich dazu positionieren soll, weiß ich auch noch nicht. Da gibt man einen fünfstelligen Betrag für so eine Produktion aus und bekommt mit, dass sich das einfach jemand runterlädt. Ein seltsames Gefühl. Ich brenne auch manchmal ein altes Album, das im Handel nicht mehr erhältlich ist, für den Privatgebrauch. Aber diese Kaltschnäuzigkeit der Internetnutzer, die Musik gedankenlos downloaden, stört mich. Sich hingegen konsequent dem Internet zu verschließen, halte ich auch nicht für richtig. Doch habe ich persönlich das Bedürfnis, die CD in der Hand zu halten. Wenn ich etwas geil finde, bin ich nicht mit einer bloßen Datei zufrieden. Ich brauche das Cover, die Scheibe.“ Band-Administration Andreas Arlt, Michael Arlts Bruder und Gitarrist der Band, kümmere sich um die Einnahmen und Ausgaben der Band. Er verwalte das Bandkonto. Doch sei letztlich jedes Bandmitglied für sich selbst verantwortlich, erläutert Arlt. Um die Steuererklärung und weitere private Versicherungen habe sich jeder selbst zu kümmern. Arlt sei seit ca. zwölf Jahren über die Künstlersozialkasse (KSK) versichert. In Bezug auf seine Steuererklärung lasse er sich von einem Steuerberater unterstützen. Als Bandmusiker seien allerdings keine regelmäßigen Einnahmen zu verzeichnen. Arlt erläutert, dass die große Problematik bei Musikern auch

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darin bestünde, dass in einem Monat sehr viel zu tun sei und unter Umständen im Folgemonat eine Auftragsflaute auftreten könne. Diese Unregelmäßigkeit der Einnahmen habe bei allen Bandmitgliedern immer ein gewisses Unsicherheitsgefühl erzeugt, berichtet Arlt. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, haben die Herren von „B. B. & The Blues Shacks“ deshalb gemeinsam ein „recht ausgetüfteltes eigenes System“ entwickelt: Die Musiker hätten vor einigen Jahren gemeinsam überschlagen, dass jedes Bandmitglied ca. 1000 Euro monatlich brauche, um seine laufenden Kosten zu decken. Diesen Betrag überwiesen sich die Musiker monatlich als fixe Summe vom Bandkonto, das Andreas Arlt als Kassenwart verwalte. Bei einigen in bar bezahlten Auftritten erhielten die Musiker die entsprechenden Gagen zusätzlich. Wenn besonders viele Gigs anstünden, dann gebe es auch manchmal Extra-Überweisungen, erläutert Michael Arlt. Doch für den Fall, dass es einen schwachen Monat geben sollte, haben die Bluesmusiker trotzdem den fixen Mindestbetrag zur Verfügung – und somit ein gesichertes Grundeinkommen. Persönliche (wirtschaftliche) Situation Auf die Frage, wie er seine wirtschaftliche Situation bewerte, antwortet der Künstler: „Ach ja, ich bin schon ganz zufrieden, aber, um so zu leben wie ich gern würde, könnte schon noch mehr Geld da sein. Ich würde gern, ohne zu überlegen, mal zwanzig CDs oder einen neuen Fernseher bestellen. Aber ein wenig muss ich schon noch darüber nachdenken, auf welche Art ich mein Geld ausgebe.“ Über „Geldnot“ müsse er sich allerdings nicht beklagen. Versicherungen Hat ein Bluesharpspieler Aussicht auf Rente? Rentenversichert ist Michael Arlt bei der KSK, „aber dabei wird nicht viel herauskommen, die Künstlersozialkasse zahlt ja in die gesetzliche Rentenversicherung nur zusätzlich ein“, berichtet Arlt. Aber der von der Künstlersozialkasse zu erwartende Betrag sei verschwindend gering. Er habe zusätzlich privat vorgesorgt, wie auch jeder seiner Bandkollegen. Weiterhin existiere über die Band eine Lebensversicherung. Interessanterweise sei der Künstler auch über die GEMA rentenversichert: Dies sei nur möglich, wenn man als Künstler den höchst-

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möglichen Status der GEMA-Mitgliedschaft erreicht habe. Vor einigen Jahren seien über den Zeitraum von fünf Jahren die Einnahmen von „B. B. & The Blues Shacks“ über die GEMA so hoch und durchgehend stabil gewesen, dass dieser Mitgliedschaftsstatus erreicht wurde und somit die Möglichkeit bestand, auch über die GEMA selbst einen Rentenanspruch zu stellen. Allerdings haben lediglich Michael und Andreas Arlt diesen Status, da nur diese beiden Herren am eigentlichen Kompositionsprozess der Songs von „B. B. & The Blues Shacks“ beteiligt waren. Die zusätzlichen GEMAEinnahmen gingen aber auf das Bandkonto. Zwar würden ausschließlich den Arlt-Brüdern die Einnahmen zustehen, doch haben sie entschieden, die GEMA-Beträge mit allen Bandmitgliedern zu teilen. Am Ende eines Jahres käme für die Brüder Arlt immerhin eine Summe im fünfstelligen Bereich heraus. Dazu bemerkt Arlt lakonisch: „Wir spielen auch viel. Da kriegste ja auch viel.“ Zufriedenheit Michael Arlt wird gebeten, den Zufriedenheitsfaktor einiger Berufsaspekte zu bewerten. An seinen Arbeitszeiten habe er absolut nichts auszusetzen. Auf die Frage nach dem Wohlbefinden in seinem künstlerischen Arbeitsumfeld gibt der Sänger zu bemerken, dass er sich dieses ja selbst forme: „Da ich mir das alles selber geschaffen habe, ist das auch alles so, wie ich mir das vorstelle. Der Bandbus entspricht meinen Vorstellungen, unser Probenraum ist in Ordnung – ich wüsste nicht, was ich da zu beanstanden hätte.“ Im Bereich Teamarbeit zeigt er sich mittelmäßig zufrieden. Seine künstlerische Freiheit könne er vollkommen genießen: es gebe niemanden, der ihm in seine Arbeit hineinrede. Er selbst bestimme jeden Schritt. Den Faktor Publikumsresonanz zu bewerten, findet Michael Arlt eher schwierig, da diese sehr unterschiedlich ausfallen kann. Dieser sei einerseits vom Veranstalter und weiterhin von der jeweiligen Zusammensetzung des Publikums bei den verschiedenen Konzerten abhängig. Der Musiker äußert mit einem kleinen Anflug von Bedauern, dass das Publikum der „Blues Shacks“ „eher älter“ sei. Er würde sich wünschen, auch noch mehr Jugendliche unter zwanzig als festes Publikum für die Band gewinnen zu können. Im Bereich Mobilität und Flexibilität bezeichnet sich Arlt als zufrieden. Er genieße das Reisen und die Möglichkeit, viele Orte zu besuchen, wobei man eher selten die Gelegenheit habe, sich die entsprechenden Städte inten-

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siver anzuschauen. Außerdem beanstandet Michael Arlt, dass es oft stressig sei, zu Auftritten fliegen zu müssen. Die vielen Wartezeiten, das In-DerSchlange-Stehen beim Check-In oder bei der Gepäckausgabe empfinde er als äußerst störend. Weiterhin störe ihn die Uneinheitlichkeit in den Gepäckregelungen der verschiedenen Fluglinien: Man wisse nie, ob man seine Gitarre mit in den Passagierraum nehmen dürfe oder nicht. Zuletzt habe die Band einen Flug nach Fuerteventura verpasst, was laut Arlt einer „Superkatastrophe“ gleichgekommen sei. In diesem Zusammenhang merkt er an, es als unangenehm zu empfinden, stets von anderen abhängig zu sein, die einen „wieder abholen und irgendwo hinbringen“. Mit dem eigenen Bandbus hätte man mehr Freiheiten und könne die Fahrt selbst bestimmen. Das viele „Rumwarten“ sei sehr lästig. Die positive Aufregung darüber, ein Musiker mit Band auf Tour zu sein, habe sich während der letzten Jahre relativiert. Trotzdem wertschätzt und genießt Michael Arlt das viele Reisen, das sein Beruf mit sich bringt. Gern erinnert sich der Bluesharpspieler an einen Betriebsausflug, den die Band Mitte der Neunzigerjahre unternommen hatte: Die „Blues Shacks“ reisten gemeinsam nach Amerika, um wichtige „Musikhauptstädte des Blues“ zu erforschen. Die Musiker mieteten sich einen Cadillac und bereisten unter anderem Chicago, New Orleans, Memphis, Texas und Austin. In den Anfangsjahren sei die Band zudem viel auf verschiedene europäische Blues-Festivals oder in andere Städte Deutschlands gefahren, um auf Blues-Sessions zu spielen und sich in der Szene zu etablieren. Bei der Frage nach Zufriedenheit in musikalischer Hinsicht bringt Michael Arlt gemischte Gefühle zum Ausdruck: „Einmal bin ich musikalisch nicht zufrieden, weil ich denke, dass es immer noch besser geht.“ Außerdem schränke man mit zu viel Selbstzufriedenheit unter Umständen schnell die eigenen Möglichkeiten ein. Dazu Arlt: „Ich glaube auch, dass, sobald man sich selbst zu gut findet, nicht mehr gut sein kann. Dann ist man durch.“ Man solle schon selbstbewusst hinter den eigenen Fähigkeiten stehen, sich aber nicht durch ein übersteigertes Selbstbild im Weg stehen und somit stehen bleiben. „Ich strebe stets etwas anderes an, versuche immer, besser zu werden als ich war. Generell finde ich, dass es für einen Musiker keine gute Eigenschaft ist, zufrieden zu sein. Ich versuche immer, mein Potenzial auszubauen, hoffe immer, dass da noch mehr ist. Wenn wir gespielt haben, bin ich nach dem Konzert mit dem, was wir geliefert haben, oft eher unzufrieden.“ Trotzdem spüre der Bluesmusiker Lust weiterzumachen. Es

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gebe auch großartige Momente beim Musikmachen: „Ich liebe es, wenn die ganze Band an einem Strang zieht. Ich mag die perfekten Momente auf der Bühne, wenn die Band tight ist, wenn es groovt.“ Für Michael Arlt gebe es keine langweiligere Musik als „schlecht gespielten Blues“. Deshalb verspüre er wahrscheinlich bisweilen das ein oder andere Vorurteil. Wenn der Blues „groovt“, dann gebe es keine großartigere Musik, schwärmt der Sänger. Das Besondere beim Blues sei, dass der „Blueser“ gleichzeitig technisch versiert sein und fähig sein müsse, Emotionen auszudrücken. Seien beide Faktoren nicht zu gleich starken Teilen vorhanden, dann könne Blues binnen kürzester Zeit auch zur „langweiligsten Musik werden, die man sich vorstellen kann“. Auf die Frage hin, ob bei jedem seiner Konzerte auf der Bühne die gleiche Freude an seinem Beruf spüren würde, meint Arlt, dass er bei Betriebsfesten oder ähnlichen „drögen Veranstaltungen“ nicht mit der gleichen Energie musizieren würde wie bei einem Konzert, zu dem die Gäste ausschließlich wegen der Musik anreisten. Bei einigen Firmenveranstaltungen oder Hochzeiten habe er sich schon oftmals fehl am Platz gefühlt. Was hält Michael Arlt vom Freizeitfaktor seines Berufes? Der Musiker bedauert ein wenig, dass er oft dann nicht in Hildesheim sein könne, wenn private Veranstaltungen und Zusammenkünfte stattfänden: diese fielen meist auf die Wochenenden, wo für die Band die meisten Auftritte anstünden. Dazu Arlt: „Immer wenn in Hildesheim was los ist, bin ich nicht da. Ob meine Freunde Geburtstag haben, heiraten oder meine Eltern Silberhochzeit feiern, nie kann ich da sein. Unter der Woche habe ich genug Freizeit, nur leider zur falschen Zeit.“ Insgesamt gesehen beschreibt Michael Arlt sich als zufrieden, weil er genau das machen könne, was er wolle. Keiner rede ihm in seine Arbeit hinein. Außerdem gebe es keinen wirklichen Chef. Er übe genau die Tätigkeit aus, worauf er immer „Bock gehabt“ habe und sei sein eigener Chef. Arlt bezeichnet sich als „ziemlich zufrieden“ mit der Gesamtsituation seines Berufes. Gesellschaftliches Ansehen Wie beurteilt Michael Arlt das gesellschaftliche Ansehen, das er als Künstler genießt? Er meint, dass dies eigentlich andere Leute beurteilen müssten, weil ihm selbst in dieser Hinsicht ein „klarer Blick auf die Sache“ fehle. Er

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bemerke allerdings immer wieder, dass einige Menschen ihn hofierten, andere wiederum noch nie etwas von ihm gehört hätten und ihn nicht kennen würden, was laut Arlt „ja auch okay“ sei. Der Bluesmusiker selbst lehne es aber ab, für sich als Künstler eine „gesellschaftliche Sonderstellung“ einzunehmen. Er brauche dies nicht, wolle „ganz normal“ sein: vor und hinter der Bühne. Öffentliche Förderung / Preise Michael Arlt bestätigt, dass an „B. B. & The Blues Shacks“ bereits einige öffentliche Preise verliehen worden seien, allerdings habe sich dies in finanzieller Hinsicht nie ausgezahlt. Als Beispiel nennt er den Preis der Deutschen Schallplattenkritik: Nach dem Erhalt der Auszeichnung habe man als Künstler die Befugnis, käuflich Aufkleber mit der Aufschrift „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ zu erwerben und auf die eigene CD aufzukleben, um das eigene Renommee zu verbessern. Allerdings sei mit dieser Auszeichnung kein Geldpreis verbunden. Man freue sich, dass „Leute deine Arbeit in irgendeiner Form würdigen“, aber finanziell sei die Sache nicht gewinnbringend. „B. B. & The Blues Shacks“ haben bisher noch mit keinem Preis Geld erhalten. An eine Förderung durch kulturpolitische Institutionen sei ebenfalls nicht zu denken. Für eine Bluesband gebe es keine Nische in der Kulturförderungslandschaft Deutschlands. Die Band habe einmal gemeinsam versucht, ihr eigenes Hildesheimer „Blues Shacks Festival“ von der Stadt Hildesheim fördern zu lassen. Der Antrag wurde nicht bewilligt. Das Hobby zum Beruf machen Michael Arlt beschreibt, dass der Sprung vom Hobby- zum Profimusiker vor allem verlange, „die Sachen professioneller anzugehen“. Generell sei es nötig, planvoll und überlegt zu investieren: „Wenn irgendwo was rauskommen soll, muss man auch Geld reinstecken“, sagt der Bluesmusiker. Als Beispiel nennt er das jährlich in Hildesheim eigens von der Band veranstaltete „Blues Shacks Festival“. Unter anderem müsse man dabei genau überlegen, wie die Werbung für das Festival gestaltet und umgesetzt werden solle. Auch bei anderen Angelegenheiten der Band werde genauso sorgsam gearbeitet: Man überlege genau, welche Auftrittsangebote ange-

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nommen würden und welche nicht. Es sei nicht mehr möglich und unverhältnismäßig für 500 Euro auf einer Gartenparty zu spielen, erklärt Arlt. Man sage diese Anfragen zwar schweren Herzens ab, allerdings erhöhten „bessere Referenzen“ den Nachfragewert der Band, der ja in direktem Zusammenhang zu den Einnahmen der Band stünde. Diese Vorgehensweise zahle sich auf lange Sicht aus. Michael Arlt veranschaulicht diesen Aspekt an einem Beispiel: Vor einiger Zeit sei die Stadt Hildesheim nach vielen Jahren Pause mit einem Auftrittsangebot auf die Band zugekommen. Die Höhe der angebotenen Gage entsprach einem Betrag, für den die Bluesband zu Amateurzeiten noch aufgetreten wäre. Nach einigem Verhandeln wäre die Stadt Hildesheim letztlich doch bereit gewesen, eine „angemessene Gage“ zu zahlen. Dieser Auftritt habe sich gelohnt, da auch viel Publikum gekommen sei. Der Musiker erinnert sich an die Anfangszeit der Band zurück: „Zu Beginn ist es immer so. Der Prediger im eigenen Lande zählt nichts, ob in Hildesheim oder insgesamt in Deutschland. Anfangs wollte hier auch keiner etwas von uns wissen. Wir hatten viele Gigs außerhalb Hildesheims. Und auf einmal wurden wir auch für unsere Heimatstadt interessant. Seitdem haben wir darauf geachtet, besonders viel außerhalb zu spielen.“ Der stets gut gefüllte Terminkalender der Band verlange von Veranstaltern außerdem, bei der Band Auftrittsanfragen möglichst ein Jahr vorab zu stellen. Auch dies steigere den Marktwert von „B. B. & The Blues Shacks“. Blues und Kulturelle Bildung Vor einigen Jahren führte die Band das Projekt „Blues at Schools“ durch. Michael Arlt berichtet, dass sie das Konzept einmalig intensiv im Emsland umgesetzt hätten. Aus dieser workshopartigen Zusammenkunft mit Jugendlichen seien auch Bands hervorgegangen. Seither bekäme die Band von Zeit zu Zeit wiederholt Anfragen von Schulen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, um die Band zu einer erneuten Durchführung des Projektes zu bewegen. Doch Arlt bewertet die wiederholte Umsetzung dieses Konzeptes als schwierig: Jeden Tag aufzubauen und „für Kinder zu spielen“ mache zwar Spaß, wäre ab einem bestimmten Punkt aber unbefriedigend und sei nicht gerade das, was sich Michael Arlt als Musiker vorstelle.

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Nebenbeschäftigung Neben seiner hauptsächlichen Tätigkeit als Bluesmusiker geht Arlt noch einem Nebenjob nach, der auf den Kenntnissen seines Studiums der Sozialen Arbeit aufbaut. In einer sozialen Einrichtung in Hildesheim betreut er einzelne Jugendliche als Vertrauensperson. Michael Arlt habe einen „guten Zugang“ zu jungen Menschen, die als „Problemfälle“ gelten. Innerhalb dieser Tätigkeit führt er Gespräche und unternehme Ausflüge mit den Jugendlichen. Er selbst sei – bis auf seinen Bruder Andreas Arlt, der ab und an Gitarrenunterricht gebe – weiterhin der Einzige in der Band, der noch einer nebenberuflichen Aufgabe nachgehe. Was müsste kulturpolitisch verändert werden, um die Situation von Künstlern in Deutschland zu verbessern? Zu dieser Frage merkt Arlt zunächst an, sie lediglich aus höchst subjektiver Perspektive bewerten zu können. An den Fördermöglichkeiten habe er nichts zu beanstanden, da die Band sowieso stets unabhängig von öffentlichen Fördertöpfen existiert habe. Gesamtgesellschaftlich würde sich Michael Arlt „mehr Geschmack in der Gesellschaft“ wünschen. Er finde es enttäuschend, wie sich der „Geschmack der Massen“ gestalte und findet es absurd, „dass DJ Ötzi ’ne goldene Stimmgabel kriegt“. Arlt macht zudem folgende drastisch-vorwurfsvolle Bemerkung: „Die Medien verheimlichen gute Musik. Es zählt nur, was eingängig ist, damit der Verbraucher nicht viel nachdenken muss. Die Medien entziehen sich dem kulturellen Auftrag, den sie meiner Meinung nach haben. Ich würde mir wünschen, dass Medien ihren Kulturauftrag ernster nehmen.“ Der Musiker fügt aufgeregt hinzu: „Ich kann niemanden ernst nehmen, der Samstagabends Florian Silbereisen anbietet.“ Michael Arlt vermisst in der Medienlandschaft „Charaktere, die wirklich etwas darstellen“. Dieser Kommentar verdeutlicht den Authentizitätsanspruch des Bluesharpspielers. Was stellt Arlt sich darunter vor? Wann ist ein Künstler nach seiner Ansicht „authentisch“? Der Musiker meint dazu: „Man merkt es den Leuten an, ob sie es sind oder nicht. Die letzten Platten von Johnny Cash, Tom Waits oder Van Morrison finde ich echt. Man merkt, dass sie das, was sie da machen, gerne tun und ihr musikalisches Output keinem gekünstelten Gehampel gleichkommt.“ Die Musik der Shacks sei ein Konglomerat aus Blues, Soul und allem, „was uns so gefällt“. Jedes Album stehe unter einem gewissen Stern. Die neue CD sei auch eine Mischung aus Blues, R&B und Soul geworden. Als

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„eigenen Stil“ würde Arlt dies allerdings nicht bezeichnen, das alles habe es ja schon gegeben. Den Anspruch, einen eigenen Stil zu entwickeln, stelle die Band auch nicht. Arlt würde diesen Versuch auch nicht wagen wollen: „Das Einzige, was ich machen kann, ist, musikalisches Material so zu verarbeiten, dass ich es gut finde und meine eigenen Texte für authentisch halte. Am Ende ist wichtig, dass ich meine Musik als ehrlich empfinde. Es soll gut grooven. Das ist eigentlich alles.“ Dieser Kommentar findet sich inhaltlich auch in der Beschreibung des vorletzten Albums „Unique Taste“ auf ihrer Website wieder: „B. B. & The Blues Shacks“ „stehen auf Wurzeln, beherrschen ihre Instrumente virtuos und wollen nur eins: echte Musik machen, die berührt. Ganz einfach.“

Darstellende Künste

„Das alte System kommt an seine Grenzen“ Porträt von Jan Linders J UDITH F RANKE

Jan Linders ist in einer Krisensitzung eine der kommenden Produktionen betreffend, als ich zum Interviewtermin in sein Büro komme. Er hat für alles und jeden ein offenes Ohr und während der einen Stunde, die wir für das Interview zusammensitzen, gibt es immer wieder Anrufe und Fragen, denen sich der neue Schauspieldirektor am Stadttheater Heidelberg widmet. Sofort kommt er danach auf das Interview zurück, nutzt die entstehenden Situationen als Beispiele zur Verdeutlichung dessen, wovon er spricht. Jan Linders redet viel in dieser Stunde. Über Systeme, die gut sind am Theater, in der Kunst generell. Über Systeme, die sich ändern können, und solche die es müssen. Wenig spricht er dabei über sich selbst, viel über Visionen und Möglichkeiten, die er sieht, ein bisschen darüber, wie er versucht, diese umzusetzen. Er erzählt ruhig, unaufdringlich, mit einer tiefen Begeisterung für die Art von Arbeit, an der er beteiligt ist. Was einem klar wird aus diesen Ausführungen und Gedankenspielen ist Folgendes: Für das Theater und seine Entwicklung sind die beteiligten Menschen mit ihren Vorstellungen, Visionen und Ideen entscheidend. Seit Herbst 2009 ist Jan Linders Schauspieldirektor am Stadttheater Heidelberg. Fast jeder Tag hat 14 Arbeitsstunden. Das ist er aus seiner Arbeit in der Freien Szene nicht unbedingt gewohnt, aber es reizt ihn. Weil er mithilft, etwas zu verändern. Am Haus, in der Stadt, an den Strukturen des Theaters und hoffentlich auch am Kunst- und Künstlerverständnis.

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Prozesse steuern als Dramaturg Jan Linders Interesse am Theater fing als Schüler im Kindertheater in Hamburg an. Mit „Schülerausweis und Taschengeld“ als „ein Vielfraß“, der sich so viel wie möglich anschaute. Durch ein Projekt auf „kampnagel“ während des Studiums merkte er, dass das Theater ein Ort war, an dem er seine „vielen dilettantischen Talente“ ausprobieren und ausbauen konnte. Schauspieler werden wollte er nie. Es ging ihm eher um die Hintergründe, das Funktionieren des Systems Theater. Um Strukturen und Prozesse, nicht um Selbstdarstellung. Das vielleicht ist auch einer der Gründe, warum er mehr dramaturgisch denn als Regisseur arbeitet: Als Dramaturg steht man nicht an vorderster Front und kann dennoch Prozesse steuern. Auch heute noch interessieren ihn vor allem die unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich eine Idee im Theater entfalten kann. Journalismus hätte er sich auch vorstellen können, denn auch dort hätte er sich intensiv mit verschiedensten Themen beschäftigen, Dialoge führen, Fragen und Antworten suchen und finden können. Er studierte Literaturwissenschaft und Germanistik in Hamburg und den USA, hospitierte und assistierte in beiden Ländern „im Olymp“: bei George Tabori, Andrea Breth, Achim Freyer. Vor allem prägte ihn Robert Wilson, bei dem er Dekonstruktivismus nach Derrida studierte. Sein Wunsch nach der Arbeit am System, der analytischen Arbeit wurde so weiter verstärkt. Heiner Müller, den er kurz nach seiner Rückkehr im Frühjahr 1989 nach Deutschland kennen lernte, war für ihn der Beginn seiner Auseinandersetzung mit der „Mehrschichtigkeit des Theaters“. Jan Linders lud Heiner Müller ein, Walter Benjamin zu lesen – und inszenierte so seine Magisterarbeit als mehrschichtige, szenische Lesung. An diesem Charakteristikum des Theaters reizen Jan Linders besonders die sich eröffnenden Dialogangebote: „Als Wissenschaftler liest man alleine. Ich kann nicht allein sein. Im Theater prallt man auf Schauspieler, auf Dramaturgiekollegen, Bühnenbildner, das Publikum, auf alle möglichen Leute.“ Aus eigener Erfahrung sind Auslandsaufenthalte und Hospitanzen etwas, das Linders jedem angehenden Theaterschaffenden empfiehlt: Neue Theater- und Gesellschaftssysteme kennen lernen, so viel Unterschiedliches wie möglich sehen. Das Studienangebot in Deutschland hat sich hierfür durch die Angebote u. a. in Hildesheim und Gießen extrem verbessert, findet Linders. Ein Dramaturgie- oder Regiestudium sei absolut sinnvoll und

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eine sehr gute Vorbereitung auf die praktische Arbeit. In vielen Studiengängen entstünden durch praktische Arbeit schon während des Studiums Netzwerke und Kontakte, worauf es stark ankomme: „Menschen machen sehr viel aus am Theater. Da muss man schnell schauen, mit wem möchte ich zusammenarbeiten, wer interessiert mich wirklich, mit wem sind welche Ideen möglich.“ Arbeitsethos und Arbeitspensum Nach dem Studium wollte Linders zunächst frei arbeiten. Und kommt so erst jetzt mit Mitte Vierzig ans Stadttheater. Nicht unbedingt ein Nachteil, wie er findet. Vieles entdeckt er neu, wusste es, erfährt es aber jetzt erst selbst. Zum Beispiel, wie groß der Organisations- und Kommunikationsaufwand eines Systems wie des Stadttheaters Heidelberg ist. Täglich beantwortet Linders circa hundert E-Mails – achtzig davon hausintern. Er ist wöchentlich auf drei bis vier Sitzungen, sieht Proben und Premieren im eigenen Haus, verbringt viele Stunden im Zug. Diese Dienstreisen genießt er, denn es tut gut, auch Anderes zu sehen. Gerade am Wochenende sieht er sich Premieren und Inszenierungen an anderen Spielstätten an. Es vergeht kein Wochenende ohne Theater, was aufreibender ist als das Arbeiten in der Freien Szene. Für Familie hat fast niemand in Linders Umfeld Zeit, er selbst auch nicht, denn Arbeitszeiten von neun bis Mitternacht oder später sind nicht gut familienkompatibel. Dieses Engagement braucht es aber, wenn man das Stadttheater verändern will. Und daran arbeitet Linders. Nicht, weil das, was läuft oder lief, schlecht ist: im Gegenteil. Neben dem Wunsch, praktisch zu arbeiten, war es dieses Theatersystem, das ihn aus den USA nach Deutschland zurückkommen ließ. „Ich finde, dass das deutsche Stadttheater ein unglaublich tolles Instrument ist – immer schon war.“ Das Stadttheater als Freiraum der Gesellschaft, das Räume bietet für einen Diskurs, für Dialog, für ästhetische Auseinandersetzung. Von diesen Räumen gibt es nicht mehr viele, denn Kirchen haben ihre Bedeutung verloren, Shopping Malls unterliegen der privaten ökonomischen Gesetzgebung und auf öffentlichen Plätzen läuft mehr und mehr Budenzauber. Da ist Theater ein Ort in der Mitte der Gesellschaft: Architektonisch verankert, gerade in Orten wie Heidelberg, wo man wirklich in der „Theaterstraße“ ein Haus in der Mitte der Stadt hat. Aber bis sich dieses Bild wieder in den Köpfen der Leute etabliert hat, ist

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es ein weiter Weg. Linders wagt erste Schritte auf diesem Weg, sucht den Dialog. Zunächst den Dialog im Inneren des Theaters. Oft stimmt in der inneren Theaterstruktur das Verhältnis der Gehälter nicht. Die großen Kollektive, wie Chöre und Orchester, sind vertraglich unflexibel, bekommen jedoch mehr Geld als Schauspieler, die teilweise für Hungerlöhne rund um die Uhr arbeiten. Jan Linders kommen die Erfahrungen aus der Freien Szene zugute, die Erfahrung von Festivals: „Ich denke dann, kann man das nicht auch anders hinkriegen? Sicherlich müssen Künstler bezahlt werden. Aber man muss nicht immer auf Verträge pochen. In Heidelberg können wir zum Beispiel nicht gut bezahlen – aber wir behandeln gut. Das kostet zwar Mühe, aber daran müssen wir arbeiten.“ „Open Space“ als Arbeitscredo Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Künstler, sondern für alle, die am Theater beschäftigt sind. Vom Pförtner bis zum Intendanten. Um ein Feedback zu bekommen, um sicherzustellen, dass nicht nur von der Leitung nach unten abgegeben wird, hat Linders einen regelmäßigen „Open Space“ eingeführt: eine offene Diskussionsform, in der die Teilnehmer die Themen selber setzen. „Das alte System kommt an seine Grenzen. Es muss sich immer wieder selbst vergewissern, sich selber befragen.“ Das System Stadttheater komme, so Linders, sicher auch an seine Grenzen, weil seit den Neunzigerjahren an immer mehr Spielorten immer mehr produziert werde, was sicher auch mit der sich ändernden Publikumsstruktur zusammenhänge. An den festen Häusern sei immer noch sehr viel mehr Geld vorhanden als in der Freien Szene. Diese sei, außer in Berlin, völlig unterfördert. In der Hauptstadt gebe es über den Hauptstadtkulturfonds, den Fonds Darstellende Künste oder auch die Förderung durch den Berliner Senat die umfassendste Förderung der Republik. Andererseits existiere auch eine unwahrscheinliche Dichte an Künstlern, die von der Förderung profitieren wollten. „Der Nachteil des Freien ist, man lebt doch von der Hand in den Mund“, erklärt Jan Linders. „Man vergisst ganz schnell so was wie Altersversorgung. Jetzt habe ich netto das Gleiche, aber ich habe brutto viel mehr und von diesem Bruttoanteil wird unter anderem die Altersversorgung abgeführt.“

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Was die Freie Szene lehrt Das Stadttheater kann von einem weiteren Vorteil der Freien Szene profitieren: „Man lernt in der Freien Szene viel besser rechnen. Man weiß, was eine Produktion bedeutet, was sie kostet. Man rechnet in Vollkosten. Sowohl Finanzen, als auch Zeit. Man hat das Funktionieren einer Produktion – man fängt ja immer von Null an – viel besser im Kopf als in einem Stadttheater, wo es sehr viele Zuständigkeiten gibt, super ausgebildete Spezialisten, aber wo auch viel Energie im System stecken bleibt. Vollkosten hieße ja, auch Werkstattstunden umzurechnen.“ Ebenso um das Theater auch nach außen zu öffnen und so eine neue Struktur zu schaffen, bringt Jan Linders Methoden aus der Freien Szene mit: die Offenheit für neue Formen. „Man muss sich als Theater mit den anderen Kulturinstitutionen vor Ort auseinandersetzen, an Kooperationen denken, den Dialog suchen.“ Ein Prozess, der in einem großen System wie dem Stadttheater Geduld braucht. Er selbst hat eine solche Kooperation 2005 mit dem „Neuen Wunderhorn“ in Heidelberg ausprobiert. Im Rahmen des Fonds „Heimspiel“ standen für das Bundeskulturstiftungsprojekt 40.000 Euro Initiativförderung zur Verfügung sowie Zuschüsse der Stadt. Kombiniert mit den materiellen Mitteln des Theaters konnte die gesamte Stadt motiviert werden, an der Produktion mitzuwirken, und letztendlich standen 400 Leute auf der Bühne. Ein Budget der Freien Szene mit Möglichkeiten des Stadttheaters, aber unter freien Produktionsbedingungen. „Wir haben das relativ autonom gemacht, wir haben gesagt: ‚Wir können noch nicht sagen, wann wir euch von der Technik brauche …‘ Irgendwann waren sie dann dran. So haben wir dafür gesorgt, dass hier ziemlich viel passiert ist.“ Es sind Arbeitsmodelle dieser Art, die man gerade in kleineren Städten initiieren müsste, so Linders. Eine solche direkte Zusammenarbeit mit den Bürgern und Institutionen, die ihnen näher stehen als das Theater, kann vielleicht zu dem dringend nötigen Wandel im Künstlerbild beitragen: „Wir leben immer noch irgendwie im Goethe-Zeitalter. Der Künstler wird als Genie gesehen. Ich glaube, man muss den Künstler eher als Produzenten sehen. Oder als jemanden, der an Prozessen beteiligt ist, Dialoge in Gang setzt.“ Dass Castingshows und von Förderpreisen „durchlauferhitzte“ Superstars dieses Bild noch fördern, ärgert Linders. Das Genietum habe sicherlich in der emanzipatorischen Phase des Theaters vor zweihundert Jahren eine wichtige Funktion gehabt. Am

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Ende der spätbürgerlichen Gesellschaft aber muss sich das Künstlerbild wenden. Das Geniedenken ist besonders für ein Theater, wie Linders es versteht, hinderlich. „Wenn ein Künstler als Genie daherkommt und sagt: ‚Das ist jetzt so, es kommt alles von einer Eingebung‘, dann ist er eben nicht dialogbereit. So Leute kann ich in kollektiven Arbeitsprozessen nicht gebrauchen.“ Für Linders hat Künstlersein eher mit einer Haltung als mit einem tatsächlichen Beruf zu tun: „Ein künstlerisches Verhalten ist eines, was über Systemregeln, Systemgrenzen hinausgeht. Künstler sein heißt, Freiheit zu testen, Regeln in Frage zu stellen, immer auf der Spur des Neuen sein, des Experiments, der Versuche des Unerhörten, des Ungesehenen. Den Markt austricksen wollen oder testen wollen.“ Mehr als Reproduktion. Das kann und muss man von einem Künstler permanent verlangen. Von einer solchen künstlerischen Haltung könnte die Gesellschaft ungemein profitieren, was sie an einigen Stellen bereits tut oder das zumindest versucht: Linders kennt Politiker, Wirtschaftsmanager und Unternehmensberater, die ihn fragen, welche Methoden das Theater denn habe zur Problemlösung von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, von fehlendem Teamgeist und wachsendem Misstrauen zueinander. Aus diesen Gesprächen heraus entwickelte er die Idee des „Institutes für künstlerische Sozialforschung“: ein Institut, das gesellschaftliche Probleme wie ein Thinktank aufgreift und mit den künstlerischen Strategien des Theaters versucht, Lösungsansätze zu finden. „Zum Beispiel mit dem spezifischen Konzept der Probe: simulieren, wiederholen, Wiederholung einüben, so tun, als würde etwas im Moment entstehen – und das jeden Abend neu.“ Das wäre eine Art, die Subvention zurückzugeben, sich das Ansehen der Gesellschaft zu verdienen. Linders schmunzelt: „Die Idee eines solchen Institutes ist, glaube ich, nach wie vor interessant, vielleicht schaffe ich das irgendwann mal als Trojanisches Pferd in einem Theater.“ Theater braucht eben auch den Dialog nach außen. Manche Künstler können für sich arbeiten, manche können auf Geschichte warten, ein van Gogh sogar auf die Ewigkeit. „Das Theater muss für den Moment arbeiten.“ Wichtig ist für Linders der Anspruch der Kommunikation. Vom Künstler an sich selbst und von der Gesellschaft an ihn. „Als Lyriker kann man sich im Dialog mit Hölderlin und Paul Celan bewegen. Wir müssen das erstmal im Dialog mit den Leuten. Kunst ist Kommunikation und man kann sich nicht komplett verweigern – am Theater schon gar nicht.“ Dort

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muss man mit dem Publikum kommunizieren, den sehr spezifischen Dialog mit den Menschen suchen. Nicht nur mit denen, die da sind, sondern möglichst immer noch mit ein paar mehr. Und das sind zu neunzig Prozent – abgesehen von einigen großen Bundesligatheatern – die Menschen aus der Stadt, der Region, die mit ihren Ansprüchen und Themenideen ans Theater kommen. Und die muss man nicht immer bedienen, aber man muss sie kennen. „Die Dialogbereitschaft von Seiten der Gesellschaft auf der anderen Seite kann nicht von selbst kommen, das muss man sich als Künstler erarbeiten.“ Theater als Ort des Diskurses Linders sucht den Dialog mit möglichst vielen Schichten. „Das Theater ist natürlich immer ein gewisser Gemischtwarenladen. Keine Spezialboutique, die nur das eine anbietet.“ Das geht in Großstädten wie Berlin, wo sich jedes subventionierte große Haus ein Segment des Publikums suchen kann. In Städten wie Heidelberg aber muss das Theater Vollanbieter sein. Gerade da ist es wichtig, mit anderen Kulturinstitutionen zusammenzuarbeiten. In Heidelberg sind das der Kunstverein und die Hochschule für jüdische Studien. Mit beiden ist Jan Linders im Gespräch. Eine Kooperation mit der Universität machen die unterschiedlichen Zeitstrukturen fast unmöglich. Eine weitere Möglichkeit, neue Besucherkreise zu erreichen, könnten Werbung und Kommunikation über Facebook und andere Soziale Netzwerke sein, um so im Internet neue Besucherkreise zu erschließen. Am ehesten könnte man so wahrscheinlich Studierende erreichen, die momentan so gut wie gar nicht ins Stadttheater kommen. Für Linders war das Theater schon zu Studienzeiten „ein Ort mit spannenden Themen, wo man neue, interessante Leute trifft, rauskommt aus dem Alltag. Ein Ort der Freiheit und des Diskurses. Das ist Stadttheater für Studenten heute nicht mehr.“ Deshalb sollte sich ein Theater immer wieder selbst vergewissern: Wie kann Stadttheater wirklich der Ort in der Mitte der Gesellschaft bleiben? Den Betrieb nur per se am Laufen zu halten kann nicht funktionieren. Aber für die meisten Leute, die als Künstler arbeiten und sich so verstehen, käme das auch nicht in Frage. Linders ist nicht der einzige, der neue Spielformen und Methoden aus der Freien Szene ins Stadttheater bringt. Viele Regisseure wechseln zwischen Freier Szene und Produktionen am Stadttheater. „Da gibt es einen Generationswechsel in den Dramaturgien. Leute mit

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viel freier Erfahrung kommen an Stadt- und Staatstheatern in Entscheidungspositionen.“ Linders sieht das Stadttheater in einer Umbruchphase – und da arbeitet er gerne mit. „In zehn bis zwanzig Jahren wird das Stadttheater sicherlich wieder so aufregend sein wie vor zehn bis zwanzig Jahren.“ Auf jeden Fall aber werde es ein ganz anderes Publikum bedienen statt der Senioren und Seniorinnen von heute. Die Menschen, die in zwanzig Jahren dieses Alter erreicht haben werden, zeigten momentan wenig Interesse am Stadttheater in seiner jetzigen Form. Das Theater auch für diese Menschen interessant zu gestalten, die weder in ehemaligen Kulturstrukturen verwurzelt seien noch durch theaterpädagogische Angebote früh an neue Formate herangeführt wurden, sei schon jetzt vorausblickend Aufgabe des Stadttheaters. Langfristig müssen Strukturen grundlegend überdacht werden und auch Theaterförderung müsse für diesen Strukturwandel sorgen. Diese Überzeugung war eine der Hauptmotivationen für Jan Linders, am Künstlerporträt mitzuwirken. Er stimmt den neuesten Studien des „Fonds Darstellende Künste“ zu, wenn es um Änderungen in der finanziellen Struktur für Künstler geht und hält beispielsweise die Künstlersozialkasse für unverzichtbar, die auch ihn in seinen Jahren der freien Arbeit über Wasser gehalten habe. Förderungen und Studien sollten aber ein weiterreichendes, gemeinsames Ziel verfolgen, wie Linders findet. Nicht die Formulierung klarer politischer Forderungen sollte das Ziel sein. Nicht in erster Linie. „Für die Funktionalität und die Verantwortung der Kunst müssen die Augen geöffnet werden. Es geht erstmal um die Aufgabe der Kunst an sich, losgelöst von Personen.“ Eine Möglichkeit, diese Sichtweise auf Kunst zu fördern, ihre Verantwortung und Notwendigkeit zu erkennen, ist für Jan Linders eine frühe Sozialisation mit Theater und Künsten im Allgemeinen von Kindheit an, so wie er sie erfahren hat. „Wenn man kulturelles Denken und Sehen eingeübt hat, dann ist man offener“, davon ist Linders überzeugt. Deshalb stärkt er die Theaterpädagogik am Haus und begrüßt Programme wie das „Enterprogramm“ in Mannheim. Dort besuchen Jugendliche und Kinder mit ihren Schulklassen einmal im Jahr eine kulturelle Veranstaltung. Das zu ermöglichen, bedeutet für Jan Linders Kulturpolitik im engeren Sinne. Kultur für alle also? Linders seufzt. „Ein toller Kampfslogan, aber leider nicht komplett durchsetzbar.“ Das Theater ist eine bürgerliche Angelegenheit, aber: „Es ist immer noch mein Wunsch, dass die Bauarbeiter, die

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jetzt hier unser Theater umgebaut haben, auch in der Generalprobe der Zauberflöte sitzen. Ich hab das einmal erlebt. Es funktioniert.“ Man kann ein Diskussionsklima schaffen, über den kulturellen Dialog indirekt an andere herankommen. Dass möglichst viele Menschen an diesem Dialog teilhaben, hält Linders für dringend notwendig: „Zur Kunst gehört Freiheit. Die freie Auseinandersetzung ist etwas, was jeder Mensch braucht. Jeder Mensch muss diesen Ort des Anderen kennen und die Möglichkeit bekommen, jenseits von ökonomischen und systemischen Zwängen zu denken. Das kann man im Theater, glaube ich, gut lernen.“ Theater ist nicht Luxus, sondern Lebensmittel Dafür müsste sich jedoch im Endeffekt jede Politik als Kulturpolitik verstehen. Die Finanzpolitik, die die Bedingungen schafft, Außenpolitik, die vernetzt mit anderen Ländern, Innenpolitik und Justiz, die dafür sorgt, dass juristische Rahmenbedingungen stimmen. „Das muss die Politik sich immer wieder klarmachen, dass das nicht nur ein Luxus ist, sondern ein Lebensmittel. Es gibt ein Recht auf diese Grundversorgung. So wie auf sauberes Wasser und saubere Luft.“ Das kulturpolitische Potenzial von Theater und Kunst im Allgemeinen müsse der Politik oft noch vermittelt werden. „Politisches Theater heißt nicht, Themen behandeln, die eben aktuell sind. Theater politisch machen heißt, sich der Politizität eines öffentlichen Diskurses und des Veränderungswillens, den man vereinbart, bewusst zu sein. Theater kann nicht Ort von Eskapismus sein. Sondern ein Ort, an dem man sich eben mit dem Anderen, mit Strukturen und Systemen auseinandersetzt“, sagt Linders und versucht dies konkret in der dreijährigen Kooperation zwischen dem Stadttheater Heidelberg und dem Theater Beit Lessin in Tel Aviv, die er 2009 in die Wege geleitet hat und die im Rahmen des „Fonds Wanderlust“ entstanden ist: Künstler aus Israel und Deutschland arbeiten hier gemeinsam an verschiedenen Produktionen. „Man merkt eine Öffnung. Man merkt sofort, was passiert.“ Am „Fonds Wanderlust“ der Kulturstiftung des Bundes, die die Produktion fördert und auf eine Kooperation mit ausländischen Theatern abzielt, nehmen dreißig Theater teil, was Linders sehr begrüßt: „Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Impuls. Hier ändert Förderung wirklich Systeme.“

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Jan Linders will mit seinem Theater den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs führen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Israel“ ist dabei nichts Neues. Die Form allerdings. Die gemeinsame Recherche und das gemeinsame Arbeiten, statt nur einer internationalen Besetzung, führt das Team zwischenzeitlich an seine Grenzen. Aber der Prozess ist das Spannende für alle Beteiligten. „Dass deutsche Künstler nach Israel und israelische Künstler nach Deutschland kommen, dort leben und arbeiten und nicht nur ein Auslandsgastspiel machen. Das ist zum Beispiel eine neue Stufe, die das Stadttheater betreten kann.“ Systeme sind immer träge. Muss Linders also seine Ideen im Stadttheater durchboxen? „Was heißt boxen? Man muss die Leute mitreißen. Man muss sie motivieren, muss ihnen sagen, wir machen jetzt was anderes, aber das hat den und den Grund.“ Theater heißt für Jan Linders, die ihn und andere umgebende Situation, die Bedingungen und Strukturen genau anzuschauen, nachzudenken und die eigene Haltung zu verändern. Daran sei eine erfolgreiche Produktion messbar, „dass sie die Künstler verändert, die daran teilgenommen haben. Dass sie von der Produktion etwas lernen, dass es sie weiterbringt. Es geht darum, einen Schritt weiter zu machen. Das ist genau das, was ich mit politischem Theater meine: Man muss den Anspruch auf mehr haben, auf Bewegung.“

„Als ich nach Deutschland kam, glaubte ich, nie wieder in meinem Beruf arbeiten zu können.“ Porträt von Tatyana Khodorenko H ANNES O PEL

Die Puppenspielerin greift nach einer kleinen, handgenähten Figur. Es ist ein Junge. Ein Winzling mit flauschigem, orangefarbenem Haar, großen Pupillen, drei Fingern, vier Zehen, runden Rosenkohlohren und einer knubbeligen Nase. Dann ertönt eine piepsende Stimme, die direkt aus den Händen der Spielerin zu kommen scheint: „Guten Tag, ich bin Däumling. Das ist meine Welt.“ Sie führt den Winzling geschickt an einer Vorrichtung, die ihm – für den Zuschauer nicht sichtbar – wie ein Miniaturkleiderbügel aus dem Rücken ragt. Mit der winzigen Hand des Männchens weist sie auf den angrenzenden Raum ihrer Wohnung, der Lager, Werkstatt und Probebühne in einem ist. Die kleine Figur spricht erneut: „Aber ich möchte die Welt kennen lernen!“ Ein Stück entsteht Tatyana Khodorenko wohnt in Geismar, dem südlichsten Stadtteil Göttingens. Das Reich ihrer Puppen beginnt in einem Nebenraum ihres Wohnzimmers. Hier lagern die ordentlich in ein Dutzend schwarze Leinensäcke verpackten Figuren und Bühnenbilder all ihrer Produktionen. Lebensgroße Stabpuppen neben winzigen Handpuppen wie ihrem Däumling und am Boden Koffer voll Klappmaulfiguren, die sie gemeinsam mit Kindern in Bas-

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telkursen herstellt und spielt. Während auf der linken Seite eine kleine Nähwerkstatt eingerichtet ist und sich in den Regalen Stoffe, Klebemittel, Knöpfe und weiteres Zubehör bis unter die Decke stapeln, befindet sich in der Mitte des Raumes ihre behelfsmäßige Probebühne. „Ich spiele als Solokünstlerin alle Rollen und mache den Umbau und die Requisite immer live. Deshalb muss ich mir auch bei der Konzeption genau überlegen, wie ich jedes einzelne Element des Stückes baue oder nähe, damit es praktisch und gut spielbar ist.“ Die Lösungen sind oft verblüffend, wie die am Theater der Nacht in Northeim vom Holzbildhauer Heiko Brockhausen entworfene vermutlich größte Matrjoschka der Welt, in der sie „Jemilja und der Zauberfisch“ aufführt. Oder das auf Hühnerfüßen stehende Haus der Hexe Baba Yaga, in dem sie „Die Froschprinzessin“ darbietet. Das abwechslungsreiche Szenenbild bei „Däumlings Wanderschaft“ nähte sie auf eine zehn Meter lange Stoffbahn. Im Verlauf der Aufführung wird diese dann Stück für Stück aus einer Weidentruhe gezogen. Trotz der vielen Stunden auf der Bühne und in der heimischen Werkstatt ist Tatyana Khodorenko zufrieden. „Ich mag am Theater, dass es die Seele ein Stück öffnet. Das lässt sich nicht mit Fernsehen oder Computer vergleichen. Es ist ein großartiger Moment. Die Entscheidung nach Deutschland zu gehen fiel mir auch deshalb sehr schwer. Ich glaubte, ich würde nie wieder in meinem Beruf arbeiten können.“ Hinterm eisernen Vorhang Als Tatyana Khodorenko 1986 ihr Diplom zur staatlich anerkannten Puppenspielerin erhielt, hieß St. Petersburg noch Leningrad und die Welt jenseits der Bühnen schien trotz anbrechender Glasnost unter Gorbatschow für alle Zeit geteilt. Die Systemfrage färbte auch die künstlerischen Horizonte von Ost und West einschlägig und förderte die Herausbildung vollkommen komplementärer Kulturlandschaften. Heute hat die längst wiedervereinigte Figurentheaterszene in Deutschland zwar noch immer mit den Erschütterungen der Kollision zweier divergenter Kulturbetriebe in den 1990er Jahren zu kämpfen, insgesamt scheint jedoch der Spielbetrieb – nach zwei Weltkriegen und der über ein halbes Jahrhundert andauernden Teilung – gerade durch die intensiven politischen Auseinandersetzungen auf internationalen Bühnen sowie in Foren und Instituten kreativer, offener und ver-

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netzter geworden zu sein. Das Figurentheater hat sich mittlerweile seiner Vergangenheit gestellt und macht sich auf ins digitale Zeitalter. „Ich habe an der Russischen Akademie der Künste im damaligen Leningrad Puppenspiel studiert. In der Sowjetunion war das ganz normal. Wir machten erst eine Schauspielausbildung und danach lernten wir das Spielen mit allen möglichen Puppenarten.“ Tatyana Khodorenko lacht viel. Besonders wenn sie von Früher spricht. Mit ihrem starken russischen Akzent, der kleinen Statur und dem freundlichen, mondrunden Gesicht wirkt es gelegentlich, als stamme sie selbst aus einem der russischen Märchen, die sie als Solokünstlerin auf deutsche und internationale Bühnen bringt. Vor 16 Jahren sind ihr Mann und ihre Tochter als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. „Das Leben während der Perestroika war hart. Ich habe zuletzt im Ensemble des Staatspuppentheaters von Kiew gearbeitet. Das Geld hat gerade zum Leben gereicht. Aber der Staat schien auseinander zu fallen. Manchmal gab es keine Lebensmittel, Kleidung oder andere Dinge, die man zum Leben brauchte. Darum haben wir uns entschieden nach Deutschland zu gehen.“ Mittlerweile lebt die 50-Jährige gemeinsam mit ihrer 29-jährigen Tochter Katharina in Göttingen. Katharina studiert Kommunikationswissenschaften und hilft ihrer Mutter sowohl bei der Öffentlichkeitsarbeit und bei Textproben wie auch als Fahrerin und Beleuchterin auf ihren Tourneen. Ihre Zeit an stehenden Figurentheaterbühnen in der ehemaligen Sowjetunion betrachtet sie heute mit gemischten Gefühlen: „Man spielte in großen Ensembles. Jeder Puppenspieler war nur für eine einzige Rolle pro Vorstellung zuständig. Aus heutiger Sicht ist das fast unvorstellbar. Es gab Mechaniker, Maskenbildner, Regisseure, Szenografen, Bühnenbildner usw., alles nur für ein einziges Puppentheater.“ Eine Produktion glich mehr einem Schichtbetrieb als einem Theater. Die Künstler waren sehr gut ausgebildet und genossen internationales Ansehen, doch die Teilnahme an internationalen Festivals blieb unter der eisernen Zentralverwaltung Moskaus so gut wie unmöglich. Nach der Auflösung der Sowjetunion traten östliche Staatspuppentheater erstmals ausgedehnte Tourneen an. Auch Tatyana Khodorenko nahm mit dem Ensemble des staatlichen Puppentheaters Kiew an internationalen Figurentheaterfestivals in Mexiko, Spanien, England, Frankreich, Polen und Deutschland teil. „Es gibt noch immer viele staatliche Puppentheater in Russland und in der Ukraine, aber die Lage der Puppenspieler hat sich dort nicht maßgeblich gebessert. Früher verdiente man in

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einem großen Ensemble der Ukraine umgerechnet knapp 76 Euro. Heut sind es an einer etablierten Bühne knapp 350 Euro im Monat. Doch die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen.“ Selbstständige Theatergruppen sind nach wie vor sehr selten. Wie in der damaligen DDR, hatten die Feldzüge von der Regierung eingesetzter Kommissionen gegen private Puppenbühnen die Figurentheaterlandschaft bereits in den 1950er-Jahren auf Parteilinie gebracht. Ein nachhaltiges kulturpolitisches Konzept, das den weiterhin staatlich subventionierten Ensembles ein rentables und eigenverantwortliches Wirtschaften ermöglicht, scheint noch nicht gefunden. Als Tatyana Khodorenko 1996 Deutschland erreichte, war sie überrascht, dass sie in Niedersachsen eine unabhängigere, aber auch strukturschwächere Theaterszene vorfand. Es gab einige, jedoch vorrangig sehr kleine, freie Figurentheatergruppen. Nach der Wende verzeichnete man für Westdeutschland etwa 260 professionelle Bühnen in Westdeutschland, die hauptsächlich vom Puppenspiel lebten. Die Ensembles bestanden jedoch selten aus mehr als zwei Leuten. Die Puppenspieler waren auch als solche zumeist nicht ausgebildet. In der Bundesrepublik hatte es bis 1983 gedauert, bis die erste universitäre Ausbildung an der staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart mit dem Studiengang „Figurentheater“ möglich wurde. Zuvor beschränkte sich die Ausbildung auf die Kollegs des ehemaligen Deutschen Instituts für Puppenspiel in Bochum oder Workshops bzw. Weiterbildungen für Lehrer, Schauspieler und Artisten. Auch das Publikum schien noch nicht vollends mit dem Puppenspiel als eigenständiger Kunstform vertraut. Für viele Gäste ihrer Vorstellungen war Figurentheater noch vorrangig Kindertheater. Etwas überspitzt formuliert schien es beinahe, als hätte man in Westdeutschland die Zeit ein Stück zurückgedreht. Kleine Gruppen von Puppentheater-Laiendarstellern zogen durchs Land, um vorrangig in Schulen oder Kindergärten pädagogisch wertvolles Kaspertheater aufzuführen. Puppenspiel oder Figurentheater? Der Diskurs, ob das Figurentheater sich nun mehr an traditionellen Überlieferungen als „Volkskunst“ oder an neuartigen, eigenständigen Darstellungsformen zu orientieren habe, wurde im vergangenen Jahrhundert heftig geführt und dauert teilweise bis heute an. Tiefgreifende Veränderungen in der Ästhetik bzw. der Aufführungspraxis wie beispielsweise das offene Spiel,

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das den künstlerisch-schöpferischen Moment bzw. den Puppenspieler auch für den Zuschauer überhaupt erst sichtbar machten, gelangten nur langsam auf die Bühnen, wie Tatyana Khodorenko berichtet. Noch bis zur Jahrhundertwende galt das Puppenspiel als mittelalterliche, kurzweilige Unterhaltungsform fahrender Wanderbühnen auf Jahrmärkten oder im Varieté. Schließlich begann die künstlerische Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts mit radikalen Ausdrucksmöglichkeiten, die im Umgang mit Figuren und Objekten bestanden, zu experimentieren. Reibefläche war stets, der bereits im berühmten Kleistaufsatz thematisierte Aspekt der reinen und unverfremdeten Darstellung. Die Maschine bzw. Marionette kann sich nicht zieren, denn sie spielt nicht – sie ist. Diese Tugend habe sie dem Schauspieler voraus. Ob auf der Suche nach einer Synthese der Gattungen im expressionistischen Gesamtkunstwerk bzw. der Beschwörung von Maschinenästhetik und Dynamik im Futurismus oder äquivalent in der nach einem neuen Menschenbild strebenden Ästhetik der russischen Symbolisten und Suprematisten wurden stets auch Puppen und Marionetten bzw. Objekte in die Arbeit integriert. Die Künstler trugen damit maßgeblich zur Weiterentwicklung des Puppenspiels zu einer eigenständigen theatralen Kunstform bei. Heute umfasst sie unter dem Begriff „Figurentheater“ ebenfalls Mischformen (Mensch und Puppe) oder spezielle Formen wie Objekttheater und Schwarzes Theater. Puppen und Ideologie Die enorme Ausdruckskraft und große Publikumswirkung des Puppentheaters blieben jedoch auch den radikalen politischen Gruppierungen dieser Zeit nicht verborgen. Konträr zur künstlerischen Avantgarde versuchten die aufkommenden Jugendbünde, die den Umbrüchen im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Traditionsbewusstsein und nationalistisch überhöhter Romantik begegneten, das Puppenspiel als neue Volkskunst wiederzubeleben. Hiermit wurde auch der Weg für die pädagogische Domestizierung der Kasperfigur und ihren politischen Missbrauch geebnet. Die berühmte Hohnsteiner Gruppe, die unter der Leitung von Max Jackob aus der Wandervogelbewegung hervorging, genoss im gleichgeschalteten Kulturbetrieb des Nationalsozialismus als Handpuppentheater neben etwa 40 anderen geduldeten Bühnen große Privilegien. Sowohl im Nationalsozialismus wie auch in der sowjetischen Kulturlandschaft unterdrückte man avantgardisti-

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sche und experimentelle Bestrebungen jenseits der Parteilinie stark. Die sowjetischen Ensembles wurden daher maßgeblich an den Bedürfnissen des berühmten Puppenspielpioniers und -virtuosen Sergej Obraszow ausgerichtet, der ab 1931 das erste Staatstheater für Puppenspiel in Moskau als Intendant übernahm und es über 60 Jahre leiten sollte. Auch Tatyana Khodorenko musste während ihrer Zeit auf den Bühnen der ehemaligen Sowjetunion die Erfahrung von Zensur und Propaganda machen. „Wir haben damals am Theater in Ludz eine Geschichte über einen Hahn gespielt. An einer Stelle sollte der Hahn sagen, er würde gerne auf die andere Seite des Zaunes fliegen. Das war schon zu viel. Wir mussten es sofort ändern und sagen, dass der Hahn nur an eine andere Stelle des Hofes gehen wollte.“ Das Kiewer Ensemble spielte russische, aber auch die klassischen Märchen, die aus dem französischen von Charles Perrot überliefert waren. Außerdem gab es Dramen und Komödien. „Schneewittchen, Pinocchio, der gestiefelte Kater, Frau Holle. Wir haben alles gespielt. Russische Märchen sind ein wenig anders als die europäischen“, sagt Tatyana Khodorenko und lacht. „In russischen Märchen warten die Figuren immer. Sie warten und warten darauf, dass ein Wunder geschieht. Das liegt ein wenig in der Mentalität der Russen, glaube ich. Die Hoffnung auf ein Wunder.“ Das eigene Figurentheater Für Tatyana Khodorenko erscheint es nach zehn Jahren noch immer wie ein Wunder, dass sie in Deutschland ihr eigenes Figurentheater aufbauen und unterhalten konnte. Nach ihrer Ankunft in Deutschland war die Familie zunächst auf Sozialhilfe angewiesen. „Ich hatte am Anfang sehr große Angst wegen meiner Sprache. Denn ich habe mit meinen Puppen hier“, sie schwenkt den kleinen Däumling, dem sie gerade ein Ohr annäht, in der Luft, „gemeinsam angefangen Deutsch zu lernen. Insofern bin ich in dieser Hinsicht eigentlich ungefähr so klein wie sie. Aber ich habe Glück gehabt. Mich mit meinem eigenen Theater selbstständig zu machen, hätte ich allein niemals geschafft.“ Zu einem ihrer größten Förderer zählt sie das „Theater der Nacht“ in Northeim. In dem kleinen, verträumten Städtchen zwischen Hildesheim und Göttingen befindet sich seit 2001 vermutlich eines der schönsten Figurentheater im gesamten Bundesgebiet: Aus einer alten Feuerwache wurde unter der Leitung von Ruth und Heiko Brockhausen mit

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Unterstützung des Landes, der Stadt und privater Förderer in vielen Jahren Umbauarbeit ein Märchenhaus, das vom Keller bis in den dritten Stock gleichzeitig als Bühne, Café, Bühnenbild und Figurenmuseum fungiert. Da das Theater der Nacht in Northeim mittlerweile auch Sitz der deutschen Vertretung der Union International de la Marionette (UNIMA) wurde, knüpfte Tatyana Khodorenko als Mitglied schnell deutsche und internationale Kontakte über das Netzwerk. Zunächst absolvierte Tatyana Khodorenko ein einjähriges Praktikum in dem Northeimer Theater. Sie half beim Umbau des Hauses und organisierte über ihre vielen Kontakte in Russland die Teilnahme und Übersetzung einer Aufführung am Moskauer Figurentheaterfestival im „Obraszow Theater“, dem größten Figurentheater der Welt. Später wurde ihre Stelle als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vom Arbeitsamt bezuschusst. Der Schritt in Richtung Selbstständigkeit gelang erst 2003 mit tatkräftiger Unterstützung der Theaterleitung. Im Rahmen eines über den Zeitraum von drei Jahren durch das Arbeitsamt finanzierten Existenzgründungszuschuss, war es ihr möglich, den Sprung in die Selbstständigkeit zu schaffen. Nach der erfolgreichen Premiere ihrer ersten deutschsprachigen Produktion im Jahr 2002 „Jemilja und der Zauberfisch“ schienen auch ihre letzten Zweifel ausgeräumt. Für das Stück fertigte Heiko Brockhausen die wahrscheinlich größte Majtroschka der Welt an, in deren Innenraum gespielt wird. In den letzten zehn Jahren hat Tatyana Kodhorenko acht Produktionen realisiert. Neben klassischen Märchen wie „Frau Holle“, „Rotkäppchen“ und „Die Prinzessin auf der Erbse“ führt sie auch russische Märchen auf, so etwa „Mascha und der Bär“ oder „Die Froschprinzessin“. Hin und wieder erhält sie auch von russischen Vereinen Anfragen für Stücke in russischer Sprache. Außerdem betreut sie drei Puppenbaukurse mit Kindern an einer Grundschule und der Deutsch-Russischen Gesellschaft Niedersachsen e.V. in Hannover: „Momentan bin ich schon etwas müde. Ich brauche für eine Produktion immer ein knappes Jahr. Also vom ersten Figurenentwurf bis zur Premiere. Nebenbei habe ich Tourneen mit meinen alten Produktionen und die Kurse. Aber Förderungen gibt es nun mal meist ausschließlich für neue Stücke.“ Und die Förderungen sind entscheidend dafür, dass sie zumindest von ihrer Kunst leben kann. Unterstützung erhielt sie bereits vom Fonds Darstellende Künste, der unter Zuwendung der Kulturstiftung des Bundes seit 1988 herausragende Einzelprojekte fördert, sowie dem Land-

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schaftsverband Südniedersachsen, dem Landkreis und der Stadt Göttingen und weiteren Stiftungen. Mit viel Glück übernimmt ein Förderer bis zu 40 Prozent der Produktionskosten von etwa 10.000 Euro. „Es ist sehr viel Arbeit, die ich allein niemals schaffen würde.“ Tatyana Khodorenko ist sehr dankbar für die Unterstützung, die sie vom Theater der Nacht, von Verwandten und Freunden erhält. Bei der Regie und Ausstattung neuer Produktionen arbeitet sie hier oft eng mit Ruth und Heiko Brockhausen zusammen. Neben ihrer Tochter, die ihr nicht nur bei den Vorstellungen, sondern auch bei der Öffentlichkeitsarbeit, der Übersetzung von Stücken und beim Lernen der Texte hilft, gehen ihr viele Freunde bei Textfassungen und beim Nähen und Basteln des Bühnenbildes zur Hand. Spielen für Kinder Für Tatyana Khodorenko bedeutet es viel, für Kinder zu spielen: „Nirgendwo ist die Aufmerksamkeit größer. Und man bekommt sofort eine Reaktion von ihnen, auf gute und verbesserungswürdige Szenen. Wenn alles reibungslos klappt, ist es so, als ob mir die Energie, die ich das gesamte Jahr über in das Stück gelegt habe, direkt aus dem Zuschauerraum wieder entgegenstrahlt. Das ist toll.“ Die Inspiration für ihre Charaktere sammelt die Puppenspielerin direkt aus dem Leben. Mal erinnert sie sich an den Fetzen eines Gespräches zwischen einem alten Ehepaar im Bus oder nur an die unbedarfte Geste eines kleinen Jungen, der sich vor einem Schaufenster in der Innenstadt mit dem Handrücken immer wieder über die laufende Nase fährt. Wenn das Stück dann entschieden ist, beginnt sie mit der Arbeit an den Figuren. Sind diese erst einmal vollzählig, übernehmen sie das Stück: „Es klingt ein wenig verrückt, aber die Figuren entscheiden selbst, welcher Charakter, welche Sprache und welche Szenen zu ihnen passen.“ Perspektiven und neue Horizonte Tatyana Khodorenko blickt zuversichtlich in die Zukunft: „Mit meiner Arbeit kann ich nicht reich werden“, sagt sie schulterzuckend. „Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, auf der Couch zu sitzen und Sozialhilfe zu bekommen. Wenn ich noch 15 oder 20 Jahre weiterspielen kann, dann wäre ich sehr froh.“

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Ein Projekt, das sie in den nächsten zwei Jahren noch realisieren möchte, ist ein Stück für Erwachsene. Ein klassisches, italienisches Drama soll es sein, vielleicht mit Musik. Mehr verrät sie noch nicht. Auch wenn die Figurentheaterbühnen und Festivals in Deutschland in Zeiten krisenbedingter, kommunaler Mittellosigkeit hart zu kämpfen haben, ist Tatyana Khodorenko überzeugt, dass das Puppenspiel als Kunstform mittlerweile fest im deutschen Kulturbetrieb verankert ist und bleibt. Die Gründung des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp) und die Übernahme der Leitung des seit 1948 bestehenden Bochumer Festivals Figurentheater der Nationen (FIDENA) 1992 durch Silvia Brendenal und deren erneute Übernahme 1999 durch Annette Dabs, kennzeichneten auch einen Generationswechsel innerhalb der institutionellen kulturpolitischen Ausrichtung des Diskurses in Deutschland. Es liegt nun in den Händen dieser neuen Generation von Figurentheatermachern und Vermittlern, trotz knapper Kassen Darstellungsformen, Bühnen, Sprachen, Inszenierungen und Debatten zu begründen, um ein immer weiter in den virtuellen Raum vordringendes Publikum auch weiterhin für die Dinge, Objekte, Puppen, Figuren und ihre Welt zu faszinieren. Das große, komplexe Ganze anhand des kleinen Überschaubaren in Miniaturform zu erzählen, neue interessante Perspektiven aufzumachen, Horizonte und Weltanschauungen zu hinterfragen, das erwarten Zuschauer von heutigen Puppen, Objekten und Künstlern auf der Bühne. Aus der Erkenntnis, dass beide Welten, die große, alltägliche außerhalb des Theaters und die kleine, etwas schneller rotierende auf der Bühne unmittelbar miteinander verbunden sind, resultiert die gemeinsame Verantwortung, die notwendigen Voraussetzungen für sie zu schaffen. „[...] so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“ (Heinrich von Kleist – Über das Marionettentheater)

„Ich teile mein Leben nicht in Arbeit und Freizeit“ Porträt von Hildegard Plattner A RON W EIGL

Es ist Sonntagmittag, zwölf Uhr. Während des einstündigen Gespräches zu Hause bei Hildegard Plattner klingelt sechsmal das Telefon. Die Anrufer wollen Karten bestellen für die aktuelle Produktion von Kästners „Emil und die Detektive“, denn es ist nicht nur das private Telefon der Theaterleiterin, sondern auch das Kartentelefon des Kinder- und Jugendtheaters Böblingen, einer mittelgroßen Stadt zwanzig Kilometer südlich von Stuttgart. Aber die Anrufer haben Pech, denn alle zwölf Vorstellungen sind bereits ausverkauft. Dass die Theaterleiterin selbst die Kartenvorbestellungen entgegennimmt, braucht nicht zu wundern, denn das Kinder- und Jugendtheater besteht nur aus drei Mitarbeiterinnen, wovon eine nur vier halbe Tage für das Büro verantwortlich ist. Hildegard Plattner ist Leiterin, Theaterpädagogin, Dramaturgin und Regisseurin in einem, erstellt Bühnenbild- sowie Lichtkonzeption. „Laut Stellenbeschreibung bin ich Musiklehrer“, sagt sie mit großem Gelächter. Als ein solcher wurde sie 1986 an der Musik- und Kunstschule Böblingen fest angestellt, obwohl sie nie Musik unterrichtet hat. Begonnen hat alles mit dem Wunsch Schauspielerin zu werden. Am Wiener Max-Reinhard-Seminar hat sich die gebürtige Kärntnerin Hildegard Plattner zuerst beworben. Nachdem sie es bis in die dritte Runde geschafft hatte, dann aber nicht mehr auf der begehrten Liste der Aufgenommenen stand, beschloss sie, es nicht weiter zu versuchen und begann ein Pädago-

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gikstudium in Reutlingen. Ihre Wahl fiel auf die Pädagogische Hochschule im Schwäbischen, weil ihr Kriterium war: „Wo gibt’s eine gute Theatertruppe?“1 Mit der in Reutlingen wurde sie aber nicht glücklich und begann schon während des Studiums an der Volkshochschule Böblingen mit Schauspielkursen und führte dort auch Regie bei einigen Projekten. Immer in den Sommersemesterferien ging es in die Schweiz nach Zug um dort für jeweils drei Monate an einer Sommerakademie teilzunehmen. Im ersten Jahr im Fach Schauspiel, im zweiten war es Dramaturgie, im dritten Regie. „Das war eine sehr schöne Ausbildung, eine sehr intensive. Wir haben zusammen gelebt und gearbeitet, fernab von jeglichem normalen Leben. Wir waren in den verrücktesten Ambientes und haben uns dann später noch drei Jahre in Folge freiwillig getroffen und eigene Projekte gemacht.“ Das war in der Zeit, als Plattner Deutsch und Geschichte in einer Brennpunktschule in Stuttgart unterrichtet hat. Deutsch für Kinder, deren Eltern Migrationshintergrund hatten, war ihr Schwerpunkt. Mit der Geburt ihrer Tochter im Jahr 1978 beendete sie ihre Laufbahn als Lehrerin. Dem Theater blieb sie aber weiterhin treu, auch später als alleinerziehende Mutter. Mittlerweile leitete sie eine Erwachsenen- sowie eine Kindergruppe an der Volkshochschule Böblingen. Aus der Erwachsenengruppe gründete sich 1982 die freie Theatergruppe Theater Kulisse e.V. und ein Jahr später gab es das Kinder- und Jugendtheater an der Musik- und Kunstschule Böblingen. Plattner wechselte mit gutem Grund den Arbeitsplatz: „Volkshochschulen haben Kurssysteme und ich wollte von Anfang an durchgehend mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Also nicht zehnmal und dann fertig. Das hat dem Rhythmus der Musik- und Kunstschule viel besser entsprochen.“ Anfangs waren es gerade mal so viele Schüler, dass man eine Kinder- und eine Jugendgruppe daraus machen konnte. Schnell wurden es immer mehr und zeitweise gab es zehn Gruppen aller Altersklassen. Bis heute sind es regelmäßig über hundert Amateure, die jährlich in drei- bis vier Produktionen mit jeweils zwölf Aufführungen auf der Bühne stehen. In den ersten drei Jahren war Hildegard Plattner lediglich mit einem Honorarvertrag an die Musik- und Kunstschule gebunden. Man hat ihr allerdings damals einen zu hohen Honorarsatz ausbezahlt. „Ich hab mich total

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Sämtliche Zitate entstammen dem persönlichen Gespräch mit Hildegard Plattner am 25.03.2012.

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gefreut, dass man freiberuflich ja so schlecht nicht leben kann. Ich hab natürlich keine Ahnung davon gehabt. Die haben sich da aber irgendwie verrechnet und nach drei Jahren kam die Nachricht, dass ich jetzt 10.000 Mark nachzahlen müsse.“ Zum Glück war sie seit Beginn des Studiums Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die immerhin erreicht hat, dass nur die Hälfte zurückzuzahlen war. Die Festanstellung drei Jahre später, um die sie fortwährend kämpfte, hat dann bewirkt, „dass die Erkenntnis kommt, dass man total blöd ist, wenn man seinen Job aufgibt. Als Grundund Hauptschullehrerin hab ich von vorneherein viel mehr verdient als dann als ‚Musikschullehrerin‘. Ich war ‚Musikschullehrerin‘, bin immer noch ‚Musikschullehrerin‘ und als eine solche eingestuft. Das kann man einfach nicht vergleichen. Hinwiederum ist es so, dass du dann diese ganzen sozialen Absicherungen hast. Ich hab auf jeden Fall gestaunt, wie wenig man verdient. Aber beim öffentlichen Dienst ist es ja so, dass du dann im Alter etwas mehr kriegst.“ Jetzt gegen Ende ihres Arbeitslebens ist sie wieder ziemlich genau bei dem Gehalt angekommen, den sie als Junglehrerin am Anfang ihres Berufslebens bekommen hat. Doch trotz der gering bezahlten Tätigkeit werden diese Art von BAT-Verträgen, wie sie in den Achtzigerjahren vereinbart wurden, heute so gut wie nicht mehr vergeben. Künstlerische Freiheit in einer Nische Hat die Festanstellung etwas an der Freiheit in der Arbeit selbst verändert? „Gott sei Dank eigentlich nicht. Und zwar deshalb, weil ich in so einer Nische arbeite. Es gibt nicht hundert Theaterlehrer, die man mit mir vergleichen kann. Ich konnte mir mein eigenes Zuhause bauen, den Arbeitsstil selbst entwickeln. Hab auch nie in irgendwelchen Schulgebäuden geprobt, außer am Anfang in der Musikschule. Das ging aber bald gar nicht mehr, weil alle Musiklehrer auf mich eine Wut hatten und ich auf sie, weil wir uns alle immer in den Quere gekommen sind. Wir arbeiteten intensiv und lange, haben also den Saal besetzt und dann noch Kulissen gestellt. Je größer wir wurden, desto mehr Stressfaktoren produzierten wir.“ Aber wohin geht man, wenn man täglich probt und oft am Wochenende aufführt? „Im Laufe meines Lebens habe ich drei Theater geplant. Immer mit der Hilfe eines Architekten, sogar ganz neue Theater in Gemeinschaftsgebäuden. Das war übrigens ein sehr schöner Prozess damals, dass man die Nutzer gefragt hat: Was braucht man, was wünscht man sich. Aber nichts ist draus gewor-

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den.“ Schließlich im Jahr 1990 wurde man fündig: Eine alte, aber große Friedhofskapelle, die nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut und 1953 zum Städtischen Feierraum umfunktioniert wurde, sollte das neue Zuhause des Kinder- und Jugendtheaters werden. „Der Raum war gegeben, die Bühne wurde dann konzipiert als Werkstattbühne.“ Auch die räumliche Freiheit war endlich da. Und von dort aus ließ sich immer wieder in andere, öffentliche Räume vorstoßen, hinein in die städtische Gesellschaft: das Theater als Teil der Stadt und nicht als abgeschottete Brutstätte theatraler Erfahrungen für eine kleine Gruppe. Die Freiheit in ihrem künstlerischen Schaffen hat Hildegard Plattner immer genossen. „Ich hatte großes Glück, dass ich mich selbstbestimmt entwickeln konnte.“ Doch dazu braucht man auch Geld. Ohne Geld kann man vielleicht theaterpädagogische Workshops veranstalten, aber mit professionellem Anspruch produzieren lässt sich nur mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung. Wie viel gibt es von der Stadt? „Das ist ein Witz!“ Denn schaut man in den Haushalt des Theaters, so gibt es rund 10.000 Euro pro Jahr für alle Produktionen, alle Projekte. Von den Einnahmen, die erspielt werden, müssen wieder 8900 Euro abgeben werden. Wären die Einnahmen geringer, würde dem Theater zwar nichts passieren, „aber wenn wir nicht mehr einnehmen würden als die abzugebende Summe, dann würden wir keine Produktionen machen können, weil wir uns ja im Grunde mit den Einnahmen selber finanzieren. Das Geld, das wir bekommen, reicht genau für eine Produktion und ein bisschen mehr. Alles was wir darüber hinaus verdienen, können wir dem Theater wieder zuführen. Aber das ist nicht von alleine passiert, sondern durch Kampf und dann die Verfügung des alten Oberbürgermeisters, die ich tausendmal kopiert habe und heilig aufbewahre.“ Auf die Frage, wie viel Freiheit einem dann die städtische Kulturpolitik als Teilfinancier lässt, antwortet Hildegard Plattner nur: „Was für eine Kulturpolitik?“ Sie bezeichnet die Absenz einer aktiven kulturpolitischen Gestaltung aber auch als Vorteil, „weil keiner auf die Idee kommt zu fragen: Was darf ein Theater rein äußerlich, was darf ein Theater nicht, wie sind die Vorschriften? Da hat kein Mensch irgendeine Ahnung von irgendwelchen Vorschriften, was für mich natürlich ein Glück ist. Dann kommt wieder alle zwei Jahre jemand und moniert einen fehlenden Sicherheitskorb. Da ist so wenig Platz, da kriegst du überhaupt keinen Sicherheitskorb hin. Aber dann sagen wir: Ja, das machen wir jetzt ganz bestimmt und dann

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vergehen wieder zwei, drei Jahre bis zu nächsten Kontrolle.“ Also Kulturpolitik als technische Anweisung mal alle paar Jahre. „Und ansonsten kriegt man keine Unterstützung, wenn man ein Projekt machen will. Wir haben zum Beispiel eine Kulturkonzeption erstellt für die Kunstschule: eine Kunstschulkonzeption. Das hat eine Mitarbeiterin gemacht zu einem Zeitpunkt vor zehn Jahren, an dem die Welt jetzt so langsam angekommen ist. Und diese Kunstschulkonzeption wurde schlicht auf den Mist geschmissen, weil es niemandem wichtig war. Darin war eine wirklich gute Vernetzung mit Künstlern, Schulen und Kindergärten vorgesehen. Und es war eben auch ein Jahr Arbeit meiner Mitarbeiterin. Ich bin es schon gar nicht mehr gewohnt, dass irgendein Mensch unseren Anliegen offen gegenübersteht, dass ich am Ende meines Berufslebens nicht mehr frage, sondern nur noch Projekte entwickle und versuche, irgendwo dafür Geld aufzutreiben. Aber überhaupt nicht erwarte, dass die Stadt mich da in irgendeiner Weise unterstützt.“ Zwischen Kunst, Pädagogik und Verwaltung Unterstützung erfährt Hildegard Plattner aber durch eine Mitarbeiterin, die den Großteil der Verwaltung übernimmt. Nachdem die halbe Verwaltungsstelle im Jahr 2003 gestrichen wurde, gibt es nun wieder eine von der Kunstschule praktisch selbst finanzierte Stelle im Unfang von 9000 Euro pro Jahr, „indem alle Eltern freiwillig drei Euro mehr zahlen, als eigentlich die Schulgebühren betragen.“ Ohne sie wäre der Verwaltungsanteil nicht zu schaffen. Sämtliche Finanzen, die Barkassen von Theater, Tanz und Kunstwerkstatt, die Schülerlisten und Gemeinderatsvorlagen etc. übernimmt die Mitarbeiterin. Die Kommunikationsvorlagen entwirft die Theater- und Kunstschulleiterin zwar, die Ausführung aber bleibt ihr erspart. „Das könnte ich gar nicht. Zum einen könnte ich es wirklich nicht, weil ich keine Finanzfrau bin. Ich kann zwar in etwa kalkulieren, wie viel man braucht, und das stimmt auch meistens, aber ich wäre nicht fähig das richtig buchhalterisch zu machen.“ Trotzdem ist das Arbeitszeitverhältnis immer noch ein Drittel Verwaltungsarbeit zu zwei Drittel künstlerischer Arbeit. Und wie sieht es mit dem Verhältnis von Kunst und Pädagogik in der Arbeit Hildegard Plattners aus? Trennen würde sie das nicht. Auf die Frage, ob sie sich als Künstlerin oder eher als Pädagogin bezeichnen würde, antwortet sie ohne zu überlegen: „Ich bezeichne mich als Theaterfrau. Ich teile

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mein Leben nicht in Arbeit und Freizeit. Und ich teile auch mich selber nicht. Ich gebe mich ganz – in jeder Hinsicht – und deswegen kann ich das nicht auseinander halten. Und wenn ich jetzt mit den Mitarbeiterinnen von der Kunstschule hier sitze und ein Projekt entwickle, dann hat das mit Pädagogik nichts zu tun. Aber trotzdem bin ich die, die ich bin, und denke immer praktisch: Wie setzen wir’s um und wen braucht man und welches Publikum soll das ansprechen?“ Die Vermittlung dessen, was sie künstlerisch mit den Kindern, den Jugendlichen und Erwachsenen erarbeitet, gehört für sie von Anfang an mit in den Entwicklungsprozess, so Plattner. Pädagogik wird von ihr einerseits verstanden als Vermittlungsprozess zwischen dem Medium Theater und den Schauspielerschülern und andererseits als Vermittlung der Theaterproduktion in Bezug auf das Publikum. Die erfolgreiche Realisation von Projekten ist somit grundlegender Teil der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Prozess und Produktion sind zwei Seiten derselben Medaille. „Ich sitze nicht im Wald und schreibe irgendetwas, ohne zu wissen, ob es realisiert wird. Nicht einmal mehr Gedichte. Allerdings habe ich schon viel entwickelt, was nicht realisiert wurde, was dann aber nicht an mir lag. Wie oft in dem Bereich kriegst du ein Projekt, sollst es entwickeln und dann heißt es ‚Danke schön. Doch nicht‘.“ Ihre eigenen Projekte aber verfolgt sie stets mit Inbrunst. „Das Gesamtprojekt beinhaltet, es zu gebären, das Stück zu bearbeiten, es so zu bearbeiten, dass es für die Kinder, Jugendlichen oder älteren Spieler passt, ihnen ihr Zuhause zu geben im Stück. Und die absolut wichtigste Aufgabe ist, für die Spieler den Weg zu erfinden, wie sie dorthin kommen. Weil mein Weg ja nicht ist: Hier ist der Text und jetzt lern mal und dann geh von links nach rechts. Sondern mein Weg ist, dass jeder in Improvisationen jede Rolle vorher ausprobiert, dass ich eine Vorübungen-Schleuse mache, dass sie das Stück fühlen, dass sie sich auskennen im Stück. Oder das Stück selbst ganz neu erfinden. Den Weg zu entwickeln, das ist eigentlich ein ganz, ganz großer, spannender Baustein meiner Arbeit und auch ein sehr schwerer.“ Wie viel ihrer tatsächlichen Arbeit ist eigentlich noch Teil dessen, was Hildegard Plattner laut Arbeitsvertrag leisten muss? „Ich bin angestellt für 34 Zeitstunden,“ sagt sie, „dann bekomme ich sieben Zeitstunden angerechnet für Vorbereitung und Zusatzproben, was mich leise lächeln lässt, weil schon ein einziger Tag Probe am Samstag oder Sonntag sieben Stunden sind oder eine einzige Vorstellung. Ich bin bei einer Nachmittagsvor-

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stellung um zwei Uhr im Theater und gehe um acht oder neun Uhr wieder raus aus dem Theater. Ich bin für keine Aufführung angestellt. Ich bin nicht für die Konzeption angestellt. Ich bin nicht für den Bühnenaufbau angestellt. Also, was heißt angestellt, ich kriege halt nichts dafür. Es verbietet mir aber auch niemand das zu tun. Das ist Freiheit …“ Auch dafür, dass sie die Kunstschulleitung übernommen hat, bekommt sie nichts. Auch das ist ein freiwilliger Akt, der aber durchaus sinnvoll ist, denn die Kunstschule, die zur Musik- und Kunstschule gehört, bekommt eine zusätzliche Förderung des Landes Baden-Württemberg, wenn sie eigenständig agiert, also einen Kunstschulleiter vorweisen kann. „Dazu brauchst du eine fest angestellte Person mit Studienabschluss und dann bist du berechtigt Förderung zu kriegen. Und da ich in der ganzen Kunstschule der einzige Mensch bin, der gleichzeitig Diplom hat und Vollzeit fest angestellt ist, gibt’s keinen anderen als mich, der das machen kann.“ Die Landesmittel gibt es dann für Projekte, die außerhalb der normalen Unterrichtsstunden stattfinden. Und das ist viel bei der Plattner’schen Arbeitsweise: alle Zusatzproben, Aufführungen und Kooperationen zählen als Projekt. Die Stadt erhält als Konsequenz dieser Arbeit aus Stuttgart zwischen 30.000 und 50.000 Euro im Jahr zusätzliche Landesfördermittel, denn „je mehr Projekte du machst, desto mehr Geld kriegst du.“ Dieses Geld wird dann zur Finanzierung der Musik- und Kunstschule verwendet, um den verpflichtenden selbst zu erwirtschaftenden Deckungsgrad in Höhe von 51 Prozent zu erreichen. „Und dieser Baustein ist ein Baustein zur Gesamtfinanzierung. Da sehen wir als Theater im Prinzip gar nichts davon.“ Der Baustein ist allerdings einer der Gründe dafür, dass die Gebühren für den Unterricht an der Kunstschule relativ niedrig gehalten werden können: Sie betragen zwischen 30,50 Euro und 35,50 Euro monatlich.2 Wertschätzung der künstlerischen Arbeit Entscheidend für das Funktionieren des Kinder- und Jugendtheaters sind aber ohnehin nicht die Finanzmittel: „Unser Geheimnis ist nicht Geld, sondern Manpower und Freunde. Das heißt, geschenkte Zeit, geschenkte Kraft, geschenkte Arbeit, geschenktes Licht, geschenktes Equipment für die

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Vgl. http://www.boeblingen.kdrs.de/servlet/PB/show/1358395/Gebhren%20201 2 pdf [31.03.2012].

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Technik und geborgte Spezialgeräte, wenn jetzt ein ausgebildeter Bühnenmeister die Lichtkonzeption macht. Und wenn er sich einbildet, er brauche jetzt vier Projektoren, weil er das so und so umsetzen will, dann besorgt er sie und wir können sie benützen. Das könnten wir uns selbst niemals leisten.“ Mit dem wenigen Geld, das zur Verfügung steht, wird aber zum Beispiel der Bühnenauf- und -abbau finanziert, der mit Ehrenamtlichen allein gar nicht machbar wäre. „Es sind dann zwar Leute, die nicht so viel verlangen oder es sind Freunde, aber sie kriegen es schon auch als ganz normalen Job bezahlt. Das will ich auch nicht anders.“ Wenn man dann aber doch einmal knapp bei Kasse wäre, wüsste man, dass alle auch umsonst arbeiten würden, „weil sie wissen, dass das Ziel schön ist. Dass eben nicht ausgebeutet wird und dass gezahlt wird, wenn es geht – und wenn es nicht geht, geht es halt nicht. Dieses Risiko-Mittragen der Beteiligten ist das Geheimnis. So kannst du auch ohne finanzielle Sicherheit wirklich große Projekte umsetzen.“ Das funktioniert aber nur, weil die Projekte an sich überzeugen. „Wenn ich immer kreative Sandkastenspiele erzeugen würde, würde sich das abnützen. Es sind halt immer wieder andere Projekte, die wieder Neues fordern und meistens ein bisschen ungewöhnlich sind und eben auch interessieren.“ In der Stadt hat sich über die Jahre eine Klientel gebildet, die ihrer Arbeit positiv gegenüber steht. Das hat man gesehen, als 2009 eine Theaterproduktion zum Thema „Kindergefängnisse“ nicht am ursprünglich zugesagten idealen Spielort, dem Kellergewölbe einer Aussegnungshalle, stattfinden durfte, obwohl schon emsig darin geprobt wurde und es nur noch ein paar Wochen bis zur Premiere waren. In einer nachträglich einberufenen Sitzung sprach sich der Gemeinderat offiziell aus Gründen der Pietät gegenüber den Toten für ein Spielverbot aus. Von der Kreiszeitung Böblingen wurde daraufhin im Internet eine Debatte losgetreten, die weite Kreise zog und in der das Kinder- und Jugendtheater größtenteils Zustimmung erfuhr. Die Unterstützung der Bevölkerung und der Medien hat Hildegard Plattner. „Von der Politik, vom Gemeinderat, von der Stadtverwaltung aus glaube ich eher, dass sie froh sind, wenn ich weg bin. Aber geschätzt werden als Künstler, als künstlerischer Mensch?“ Nach ihrer Einschätzung ist das kaum der Fall. Ihre Arbeitsmoral würde dagegen eher Wertschätzung erfahren. „Da habe ich noch niemanden getroffen, der mir vorgeworfen hat, ich würde die Freiheit ausnutzen und zu wenig arbeiten.“ Der große Ar-

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beitsaufwand wird also anerkannt, die Inhalte der Arbeit und deren Ergebnisse dagegen kaum. „Hauptsache es ist voll. Wenn das Theater leer wäre, wäre es auch wieder anders. Aber da es voll ist, lassen sie mich in Ruhe. Sonst würde ich meine Freiheit sofort verlieren. Wenn ich eine Produktion in den Sand setze und am Ende des Jahres mit dem Etat im Minus bin, dann gäbe es auch ganz schnell die Variante der Vorschriften.“ Die Freiheit in der Arbeitsweise und damit auch die künstlerische Freiheit gibt es also nur, solange sich der Saal füllt. Und das sind pro Vorstellung je nach Bestuhlung hundert Plätze aufwärts. Hier offenbart sich dann doch indirekt eine Beeinflussung der eigentlichen Arbeit, denn bei der Stückauswahl schaut Plattner natürlich darauf, „dass ich nicht dreimal experimentelles Theater für 18- bis 30-Jährige mache, sondern wenigstens einen Renner, der meiner Meinung nach ein Renner ist, und ich somit wenigstens das Einnahmensoll erwirtschafte.“ Nur dann bleiben nach einer ausverkauften Spielreihe noch Mittel für die restlichen Produktionen, in denen dann wieder größere Freiräume in thematischen und ästhetischen Fragen existieren. Einen Akt der Wertschätzung hat Hildegard Plattner allerdings doch erfahren. 2003 erhielt sie den Kulturpreis der Stadt. Man hatte auch fast keine andere Wahl, da sie die im selben Jahr stattgefundenen kulturellen Hauptveranstaltungen des Stadtjubiläums, den „Zeitpark“ und die „Bauernoper“, als Künstlerische Leitung geplant, organisiert und mit großen Teilen der städtischen Bevölkerung umgesetzt hat. Einsparpotenzial: Theaterfrau Die Wertschätzung der Stadt war janusköpfig, denn im selben Jahr hat man die halbe Verwaltungsstelle des Theaters gestrichen. Hildegard Plattners Erwartungen an die Kulturpolitik halten sich deshalb mittlerweile in Grenzen. „Schaffe es allein – oder du gehst unter.“ Und doch hat sie einen Wunsch: „Einen schnelleren und unkomplizierten Kontakt zu den Menschen, die kulturpolitisch entscheiden. Und von denen auch klarere und direktere Äußerungen und nicht ein Hinhalten, dass du etwas beginnst, was letztlich doch nicht erlaubt wird. Das ist sonst sehr kräfteraubend und nervenaufreibend. Dann würde ich mir auch wünschen, dass sie, wenn sie irgendwelche Pläne haben etwas zu verändern, die Basis mit einbeziehen würden. Und dass sie nicht über drei Jahre ein monatliches Treffen veranstalten, um irgendwelche schlauen Gedanken noch einmal zu kauen, son-

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dern dass es kurze Wege gibt und wirklich gemeinsam mit den Nutzern entschieden wird.“ Noch einmal betont sie aber, wie sehr sie es schätze, dass die derzeitige Entwicklung des „Immer-mehr-bestimmt-Werden, Immermehr-eingesperrt-Werden, Immer-mehr-reglementiert-Werden“ sie größtenteils noch nicht erfasst habe. Für die Zukunft sieht sie allerdings nicht, dass das Kinder- und Jugendtheater so weiter existieren kann wie bisher. „Ich zweifle stark daran, dass man noch mal jemanden Vollzeit anstellt für diesen Job. Und nur wenn du Sicherheit hast, dass du dich wenigstens ernähren kannst, bist du in der Lage diese Arbeit, die ja im Zweijahresrhythmus von der Stückauswahl bis zur Premiere geplant wird, zu machen. Es geht die Tendenz zum Kurz-, Honorar- und Einjahresvertrag oder von Ferien zu Ferien sogar, dass die Sommerferien ausgeklammert sind, was den Theaterpädagogen in ein unsicheres Umfeld hebelt. Und wenn du ein unsicheres Umfeld hast, dann kannst du nicht so planen und entwickeln und auch Kinder nicht langfristig begleiten. Bei mir beginnen die Kinder ja meistens im Alter von fünf und gehen im Alter von zwanzig Jahren. Das ginge nicht mehr. Ich hätte dann keine Zeit, um die Kinder selbst etwas entwickeln zu lassen. Ich hätte auch keine Zeit für Workshops außerhalb des Theaters, was meine Spezialität ist.“ Als „Fossil im Berg“ bezeichnet sie sich, „das es jetzt noch gibt, das die Chance gekriegt hat über einen so langen Zeitraum mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten und mit ihnen immer wieder Neues zu entwickeln, sie erfahren zu lassen und darauf aufzubauen. Und du baust eben auf nichts auf, wenn du immer nur ein Dreivierteljahr arbeitest. Aber genau das ist meine Einschätzung der Zukunft.“ Wenn im Jahr 2014 Plattners Anstellung und eine Ära zu Ende gehen, wird man sehen, wie viel einer städtischen Gesellschaft Theater und Kulturelle Bildung Wert ist. Doch noch gibt es die Theaterfrau Hildegard Plattner in Böblingen, noch können durch langfristige theaterpädagogische Arbeit konzeptionell, dramaturgisch, schauspielerisch und ästhetisch spannende Produktionen entstehen. Und noch lebt die Kinder- und Jugendtheaterbühne mit ihren Vorstellungen – auch heute wieder.

„Meine Altersabsicherung ist eine Katastrophe!“ Porträt von Stefanie Seeländer A NNA K AITINNIS

Stefanie Seeländer ist „Clownin und Komödiantin, Schauspielerin und Chansonette“ – so steht es auf ihrer Internetseite. Doch was würde sie als ihren Hauptberuf bezeichnen? „Manchmal ist mein Fluch, dass ich mich nicht auf eine Sache festlegen kann. Das ist aber auch toll, weil ich dadurch immer wieder unterschiedliche Sachen mache.“ Als Seeländer von der Künstlersozialkasse aufgefordert wurde, sich auf eine Sparte festzulegen, entschied sie sich für die der Unterhaltungskünstlerin. Ihr Argument: Alles, was sie mache, sei letztlich unterhaltsam! Alle zwei bis drei Jahre entwickelt Seeländer ein neues Musikkabarett-Programm und tritt zudem mit dem Hannoveraner Comedy-Club Holla Bolla auf. Pro Jahr bestreitet sie bis zu 36 Veranstaltungen. „Da ist ein Potential.“ Die Anfänge Stefanie Seeländer wurde im Mai 1971 geboren. Der Vater war Lehrer, die Mutter Diplompädagogin. Obwohl ihre Eltern nichtkünstlerische Berufe ausübten, sind beide laut Seeländer kreative Menschen. Ihre Mutter habe „Kinderlieder rauf und runter“ gesungen, und in der Wohngemeinschaft, in der sie mit ihren Eltern lebte, führte sie mit anderen Kindern regelmäßig Theaterstücke auf. Auch in der Waldorfschule förderte man ihr Talent. „Sie haben Potenzial in mir gesehen und ich hatte viele Möglichkeiten, mich

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auszuprobieren.“ In der Schule erlernte sie ein Instrument, spielte im Orchester und sang im Chor. „Ich will zur Bühne!“ Künstlerische Ausbildung „Mit 14 oder 15 Jahren habe ich ins Tagebuch geschrieben: ‚Ich will zur Bühne!‘“ Und so kam es dann auch. Zur gleichen Zeit, als Seeländer ihr Abitur machte, setzte der Musical-Boom in Deutschland ein. „Ich habe gerne getanzt, gesungen und auf der Bühne gestanden. Da dachte ich, dass es großartig wäre, eine Kombination aus allem zu studieren: nämlich Musical.“ Nach ihrem Schulabschluss absolvierte Seeländer eine zweijährige Ausbildung an der privaten New York City Dance School in Stuttgart. „Bei den Musicalauditions wurde aber viel rumgezickt, das war nicht mein Ding. Außerdem hatte ich einen Hang zur Komik.“ Deswegen entschied sich Seeländer anschließend für eine einjährige Ausbildung an der Schule für Tanz, Clown & Theater in Hannover mit den Schwerpunkten Comedy und Clownerie. Um ihre finanzielle Lage und den Rückhalt ihrer Eltern musste sie sich während der insgesamt dreijährigen Berufsausbildung nicht sorgen. Zwar habe ihr Vater ihre beruflichen Perspektiven kritisch hinterfragt, doch „trotzdem haben mir weder meine Mutter noch mein Vater generell gesagt: ‚Mach das nicht!‘“ Ihre Mutter riet sogar: „Mach das, wozu du Lust hast. Egal, ob das finanziell erträglich ist.“ „Ach, jetzt fängst du mal irgendwas an …“ Der Weg in die Selbstständigkeit Über ihren Einstieg in das Berufleben mit 24 Jahren meint Seeländer rückblickend: „Das Gute ist, dass ich damals so jung und ein bisschen naiv war. Ich habe mir gesagt: Och, jetzt fängst du mal irgendwas an und guckst dann weiter.“ Mit einem Kollegen aus der Clownschule entwickelte sie daraufhin sowohl ein Comedy-Programm als auch ein Clown-Programm für Kinder. Um ihr Einkommen aufzubessern, nahm Seeländer erst im Café, dann am Theater und anschließend bei einer Musicalproduktion einen Nebenjob an. „Ich habe immer viele kleine Sachen gemacht und nebenbei mein Comedy und meine Selbstständigkeit gehabt.“

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Der Entschluss, als selbstständige Künstlerin zu arbeiten, war nicht von langer Hand geplant. „Irgendwann kam die Entscheidung: Wenn ich von meiner künstlerischen Tätigkeit leben will, muss ich mich auch versichern. Ich habe mich dann bei der Künstlersozialkasse angemeldet. Lange darüber nachgedacht habe ich nicht, sondern es hat sich einfach ergeben.“ Wohl auch deswegen schreckte Seeländer nicht vor den finanziellen Risiken einer selbstständigen Tätigkeit zurück. „Ich habe gar nicht gedacht, dass ich es finanziell nicht schaffe.“ „Wir haben nicht gelernt, wie man sich verkauft.“ Finanzierung und Netzwerkarbeit Zusätzliche finanzielle Förderung erhielt Seeländer nie. „Erst später wusste ich, dass es Stiftungen gibt, die einzelne Produktionen finanzieren. Als ich mich selbstständig gemacht hatte, dachte ich daran gar nicht.“ In diesem Zusammenhang kritisiert sie ihre beiden Ausbildungsstätten: „Wir haben nicht gelernt, wie man sich verkauft. Wenn man selbstständig ist, gehören Akquise und Selbstorganisation aber einfach dazu. Nach meinen Abschlüssen war ich weitgehend auf mich alleine gestellt.“ Deswegen suchte sich Seeländer professionelle Hilfe bei der Erstellung von Plakaten und Flyern, der Produktion von CDs oder auch für ihren Internetauftritt. Besonders hilfreich sei zudem der Austausch mit Kollegen über existenziell notwendige Themen wie Selbstvermarktung und Arbeitssuche gewesen. In diesem Zusammenhang betont Seeländer die Bedeutung von Netzwerken und verweist auf ihre ersten, in Hannover geknüpften Kontakte. „Jetzt wäre es total verkehrt, aus der Stadt wegzugehen. Vieles lebt davon, dass die Leute mich kennen und ich die Kollegen oder Veranstalter kenne. Wenn man diese Kontakte als Künstler nicht hat, funktioniert es nicht.“ Deutschlandweite Auftritte sind auch aus diesem Grund schwierig. „Wenn du nach Süddeutschland gehst, fehlen dir dort möglicherweise Kontakte und Menschen, die dich weiterempfehlen.“ Problematisch wäre ebenfalls, dass viele Veranstalter keine Festgage zahlen und die Künstler das Risiko eines finanziellen Verlustes mittragen müssten. Zusätzlich zu ihren Auftritten als „Clownin und Komödiantin, Schauspielerin und Chansonette“ erteilt Seeländer zwei Mal pro Woche Steppunterricht. Den relativ regelmäßigen monatlichen Verdienst nutzt sie, um Festkosten wie die Miete zu zahlen. „Das ist eine kleine Sicherheit.“ See-

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länder betrachtet den Unterricht allerdings nicht als Nebentätigkeit. Zum einen, weil sie selbstständig arbeitet, und zum anderen, weil Steppen eine künstlerische Tätigkeit ist. „Meine Erfahrung war bisher zum Glück, dass immer wieder irgendetwas kommt.“ Finanzielle Unsicherheit Laut Seeländer sind im Kleinkunstbereich nur einige wenige Künstler oder Regisseure frühzeitig für ein ganzes Jahr ausgebucht und können mit einem sicheren Einkommen planen. Die Mehrheit der Künstler muss sich mit einer fortwährend unsteten Auftrags- und Finanzlage auseinandersetzen. Zu dieser Mehrheit gehört auch Seeländer. „Im Sommer sind die Auftrittsmöglichkeiten schlecht und ich verdiene weniger. Dann kommen oft diese Momente, in denen ich mich frage, wie es jetzt weitergeht und ob es überhaupt richtig ist, was ich mache. Meine Erfahrung war bisher zum Glück, dass immer wieder irgendetwas kommt. Dafür bin ich auch extrem dankbar. Ich versuche, mir in diesen Momenten klarzumachen, dass solche Durststrecken dazugehören. Wenn man offen bleibt, fällt einem ein tolles neues Projekt ein, oder es kommt, ganz ohne mein Zutun, ein neues hinzu.“ Vorausschauend legt Seeländer für den Fall solcher „Durststrecken“ in den auftragsreichen Jahreszeiten wie Herbst und Winter Geld zurück, um auf das gesamte Jahr verteilt wenigstens über 1000 Euro pro Monat zu verfügen. „Luxussachen – wie ein Auto, Urlaub oder eine große Wohnung – konnte ich mir früher nicht leisten. Das war doof, aber nicht dramatisch. Vielleicht bin ich auch nicht der Typ, der so etwas dringend braucht.“ Die gravierendste „Durststrecke“ erlebte Seeländer zur Zeit der Euroumstellung. Währenddessen reduzierten sich ihre Engagements auf ein Minimum. Rückblickend bezeichnet sie diese Monate daher als „große Katastrophe“. Die im Jahr 2008 einsetzende Wirtschaftskrise hatte dahingegen keine spürbaren Auswirkungen auf ihre Auftragslage. Zwar waren die Firmen etwas zurückhaltender, einen Einbruch aber wie bei der Währungsumstellung konnte sie nicht feststellen. Trotz ihres optimistischen Naturells und der Freude an ihrer Arbeit überlegte Seeländer vor einiger Zeit, die Berufssparte zu wechseln. „Ich dachte zwischendurch daran, mich auf eine Festanstellung am Theater zu bewerben. Dann erfuhr ich allerdings, was die am Theater verdienen. Das

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ist so wenig, dass ich gedacht habe: ‚Lieber ein bisschen weniger Sicherheit und dafür ein bisschen mehr Geld!‘“ „Meine Altersabsicherung ist eine Katastrophe!“ Finanzielle Perspektiven Ein geringes Einkommen, finanzielle Unsicherheiten und „Durststrecken“ gehören anscheinend zum Berufsalltag der meisten im Kleinkunstbereich tätigen Künstler. Da viele bereits während ihrer aktiven Zeit regelmäßig finanzielle Engpässe durchleben, stellt sich die Frage nach ihren Möglichkeiten der Altersabsicherung. Seeländer verdient zu wenig, als dass sie von den monatlichen Einnahmen Geld für eine private Altersvorsorge zurücklegen könnte. Die ihr zustehende staatliche Rente stimmt sie zugleich wenig optimistisch. „Meine Altersabsicherung ist eine Katastrophe! Ich habe neulich einen Rentenbescheid bekommen, nach dem ich etwa 300 Euro im Monat erhalten werde. Darüber denke ich aber nicht viel nach. Wer weiß, was ich noch mache, wenn ich siebzig bin. Vielleicht ist es auch gut für meinen Job, dass ich mich darum nicht so sehr sorge. Wenn man viel Sicherheit braucht, ist dieser Job schwierig.“ „In meinem Beruf kann ich gar kein Kind kriegen.“ Familie und Beruf „In meinem Beruf kann ich gar kein Kind kriegen.“ – Das meinte Seeländer zumindest früher. Entgegen ihrer Überzeugung wurde sie nämlich doch Mutter. „Ich habe den großen Bonus, dass mein Mann einen gesicherten Job hat und ich gut sagen konnte, dass es kein finanzielles Drama ist, ein bisschen Pause zu machen.“ Trotz der finanziellen Unterstützung fiel Seeländer die Vereinbarkeit von Kind und Beruf nicht immer leicht. Schon drei Monate nach der Entbindung begann sie, wieder zu arbeiten, um als Unterhaltungskünstlerin präsent zu bleiben und ihre Etablierung im Kleinkunstbereich nicht zu gefährden. Insbesondere die ersten Wochen nach dem Wiedereinstieg seien sehr anstrengend gewesen. „Kurz vor dem Auftritt brachte mir mein Mann noch meinen Sohn vorbei, dann musste ich ihn schnell stillen und fünf Minuten später stand ich schon auf der Bühne.“ Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen Akquise und Vertragsabschlüssen im Optimalfall eins zu eins betragen sollte. Durch die Betreuung

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ihres Kindes bleibt Seeländer jedoch deutlich weniger Zeit zur Selbstvermarktung als früher. Dies führt dazu, dass sie entsprechend weniger Aufträge erhält. Außerdem spricht Seeländer einen weiteren, kritischen Punkt an: „Als alleinerziehende Künstlerin hast du ein echtes Problem. Da braucht man viel mehr Unterstützung. Viele sagen zwar, man soll das Kind einfach mitnehmen – das funktioniert aber nicht. Diejenigen, die kein gutes Umfeld mit Betreuungsmöglichkeiten haben, haben Pech.“ Auf die Frage nach Veränderungen durch ihre Rolle als berufstätige Mutter, die über das Organisatorische und Finanzielle hinausgehen, antwortet Seeländer: „Mir war mein Job immer sehr wichtig und ist es auch heute noch. Er hat aber nicht mehr diese lebensnotwendige Bedeutung wie vorher. Es gibt einfach noch etwas anderes, das wahnsinnig wichtig ist im Leben.“ „Eine Stadt oder eine Kultur lebt davon, dass es viele kleinere, unterschiedliche Dinge gibt.“ Handlungsempfehlungen Stefanie Seeländer hat sich mittlerweile in Hannover und Umgebung beruflich etabliert und tritt in Kleinkunsttheatern mit einer Kapazität von bis zu 200 Zuschauern auf. Der Einstig in die Selbstständigkeit wäre ihr aber wesentlich leichter gefallen, wenn sie mehr Informationen über finanzielle Hilfen, wie zum Beispiel Fördergelder, erhalten hätte. Da auch andere Künstler nur mangelhaft oder bisweilen überhaupt nicht über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten informiert sind, sollten diese stärker und gezielt publik gemacht werden. Außerdem könnten Künstler indirekt durch eine verbesserte staatliche Förderung kleiner Theater und von KleinkunstVeranstaltungsorten unterstützt werden. „Ich denke, dass eine Stadt oder eine Kultur davon lebt, dass es viele kleinere, unterschiedliche Dinge gibt.“ Stattdessen wird gerade die Existenz kleiner Theater häufig durch die Kürzung öffentlicher Gelder bedroht. Als erstrebenswert bezeichnet Seeländer die Gründung eines Kleinkünstlerverbandes. Die Idee, eine Initiative zu gründen, um Künstlern eine Plattform zum Informationsaustausch zu bieten, ist nicht neu. Sie wurde bereits im Rahmen eines privat organisierten Künstlerstammtisches, an dem auch Seeländer regelmäßig teilnimmt, diskutiert. Die Umsetzung fand je-

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doch nie statt. „Wenn Künstler anfangen, auch noch andere zu vermarkten, wird das irgendwann zu viel.“ „Ich habe das Gefühl, ihnen durch meine Art etwas Besonderes geben zu können.“ Der Reiz des Künstlerberufes Warum nun nimmt Stefanie Seeländer die Unsicherheiten ihres Metiers und die persönlichen Einschränkungen auf sich? Zum einen bietet und fordert der Beruf der Unterhaltungskünstlerin eine große Vielseitigkeit. Kreativität, Leidenschaft, Kontaktfreudigkeit, Entschlossenheit, Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen sowie, insbesondere in Krisenzeiten, Optimismus – all diese Eigenschaften sind wesentliche Voraussetzungen, um darin bestehen zu können. Zum anderen hat Seeländer großen Gestaltungsspielraum. Sie kann häufig zu Hause arbeiten, sich ihre Arbeitszeit relativ frei einteilen und ferner ein Programm entwickeln, das zu ihr passt. „Ich empfinde es als großes Glück, so zu arbeiten. Wenn mir etwas nicht gefällt, mache ich es einfach nicht!“ Außerdem bringt die Arbeit als Unterhaltungskünstlerin ein Geben und Nehmen mit sich. Gerade die kleinen Auftritte, bei denen sie das Publikum einbeziehen kann, sind in diesem Kontext bedeutend. „Wenn die Leute weggehen und sagen: ‚Das war ja ein schöner Abend!‘, gibt mir das natürlich etwas. Es ist eine Form von Bestätigung oder Selbstverwirklichung. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, ihnen durch meine Art etwas Besonderes geben zu können.“

„Wir waren die Vorreiter des Neoliberalismus“ Gespräch mit Dirk Cieslak N INA P ETERS

Interessieren Sie sich für Kulturpolitik? Grundsätzlich ja. Mein Problem ist dabei nur, dazu eine Position zu entwickeln. Bei Kultur, wenn wir jetzt einmal so etwas wie Sport außen vor lassen, interessiert mich so etwas wie ein erzieherischer Ansatz. Ich bin überzeugt, da muss man ganz viel tun … (lacht) Wenn in der Schule und im Kindergarten die Traditionszusammenhänge immer mehr schwinden, dann muss dazu ein Gegenpol entstehen. Das republikanische Prinzip der Einheitsschule für alle unterstütze ich. Und da gibt es dann vielleicht auch Verbindungen zur eigenen Arbeit. Wir haben unsere Methode „Recherche in der Wirklichkeit“ genannt, das sind Versuche, sich mit Sozialem auseinander zu setzen. Es sichtbar zu machen und dabei auf dem Sozialen zu bestehen. Dem anderen Aspekt von Kulturpolitik, Kultur als das Identitätsmuster für Gesellschaft zu definieren, da das Nationale verschwunden ist, stehe ich misstrauisch gegenüber. Die Beschwörung der Wichtigkeit von Kultur ist eine Informationsstrategie, die dazu dient, das Reale an den Rand zu kehren. Welches Verständnis vom Künstler haben Sie? Theater ist ein Subventionssektor. Der Künstler bekommt Geld vom Staat, um seine Arbeit zu machen. Ich selbst frage mich immer mehr, für wen ich das mache. Man ist eingezwängt in eine bestimmte Zirkulation von Ver-

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marktung, eines Verwertungszusammenhanges, der sich ganz explizit an bestimmte Leute richtet. Und das stimmt mich unzufrieden. Ich habe verschiedene Versuche gemacht, meine Arbeit anders zu legitimieren. Aber dafür gibt es gar kein Forum, weil es immer nur darum geht, dass alle um die Subventionen kämpfen und darum, sich in diesem zirkulären Markt zu platzieren. Der französische Philosoph Alain Badiou hat das ganz schön formuliert in dem „Dritten Versuch eines Manifests für den Affirmationismus“. Da beschreibt er das Selbstreferenzielle, das er gar nicht so sehr auf die Künstler selbst bezieht, sondern auf die Zuschauer. In selbstreferenziellen Zirkeln wird ein Zustand, eine Realität, stabil gehalten. Wie beim Fußball. Ich habe keine Ahnung von Fußball. Aber ich kenne das selbst von mir. Verfangen zu sein in der selbstreferenziellen Zirkulation. Jetzt suche ich eher nach Alternativen, nach Verbündeten. Wie sieht diese Alternative konkret aus? Wir sitzen in „Der Vierten Welt“, einem 2010 gegründeten Theater am Kottbusser Damm in Berlin, einem sozialen Brennpunkt, der allerdings attraktiv ist für Künstler, Studierende, Menschen mit geringen finanziellen Mitteln. Sprechen Sie hier ein anderes Publikum an, an diesem neuen Ort, als bisher? Das hoffen wir einfach mal. Allerdings braucht das Zeit und geht nicht so einfach. Es ist ein langer Prozess. Es gibt ein Konzept von einem Ort, erste Ansätze der Umsetzung und auf der anderen Seite steht die eigene künstlerische Arbeit. Sie steht in gewissem Sinne in der Vierten Welt zur Disposition. Das Letzte, was ich gemacht habe, habe ich am Stadttheater gemacht. Wo war das? Das war „Hamlet“ in Magdeburg. „Hamlet“ war der Stoff, an dem ich mit Laien gearbeitet habe. Es ging um die Frage, inwieweit bin ich in der Lage, nicht nur bei den Geschichten der Laien hängen zu bleiben, sondern inwieweit kann ich mit den Laien ein Stück Weg in eine andere Richtung gehen? Wenn man biografisches Material von Laien zu einem Theaterabend komponiert, dann kann man viel über die Wirklichkeit erfahren: Das finde ich inzwischen als künstlerischen Ansatz als zu kurz gegriffen, ich glaube, man muss ganz andere Metadimensionen einführen oder diese Geschichten anders befragen. Man braucht diese andere Dimension von Utopie und Rea-

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lem. Man muss in der Lage sein, diese ganzen biografischen Geschichten in einen politischen und philosophischen Kontext zu stellen und zu denken. Es geht darum die latent affirmative Dimension des biografischen Materials aufzubrechen. Wie sieht der finanzielle Rahmen dieses Raumes aus? Wir haben 80.000 Euro jährliche Basisförderung durch den Berliner Senat. Das ist für zwei Projekte vorgesehen. Wir finanzieren den Raum zur Hälfte aus der Basisförderung, wir sparen uns Probenräume und Kosten für den Spielort. Wir investieren alle Einnahmen, die wir haben, in diesen Raum. Dieser Raum ist aus Bühnenbildmitteln gebaut. Wir haben einen super Bühnenbildner, der ein sehr guter Handwerker und Organisator ist. Das Material für den Boden haben wir zum Beispiel fast alles geschenkt bekommen. So arbeitet man hier. Genau. Das war der Ausschuss einer bedeutenden Berliner Kunstausstellung. (lacht) Die Bilder hingen mal auf diesem Fußboden. Wir haben 150 Euro für einen Kranwagen gezahlt, das waren die Kosten des Fußbodens. Die Beleuchtung haben wir aus Bühnenbildmitteln gekauft, damit können wir den Raum strukturieren, wir können bestimmte Lichtqualitäten herstellen. Das ist erst einmal angemessen, damit können wir sehr viel machen. Wir versuchen die Einnahmen so ökonomisch wie möglich einzusetzen. Die andere Hälfte dessen, was wir brauchen, müssen wir durch geförderte Projekte einspielen. Das heißt, dass Künstler hier ihre geförderten Projekte zeigen, bei einer Einnahmenbeteiligung von 60 zu 40. 40 Prozent erhalten wir. Wir haben Getränkeverkauf usw. So kommen wir fürs Erste über die Runden, können den Raum bezahlen und die Nebenkosten. Wir haben hier niemanden beschäftigt. Das machen wir jetzt erst einmal für drei Jahre. Sie sind seit 1993 in Berlin, damals war die Arbeitssituation für darstellende Künstler sehr anders, richtig? Ich bin ja Quereinsteiger. Theater hat mich immer interessiert, ich bin aber eher zufällig zum Theater gekommen. Dabei hatte ich großes Glück, von Anfang an mit Profis arbeiten zu können. Ohne je hospitiert zu haben oder eine Assistenz gemacht zu haben, habe ich als Regisseur angefangen zu ar-

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beiten. Die erste Arbeit, 1989 wurde gleich von Hannah Hurtzig nach Kampnagel eingeladen. Das war schon eine Berliner Produktion? Nein, das war noch eine Bremer Produktion. Damals haben wir die von uns selbst getragenen Produktionskosten mit den Vorstellungen wieder reingeholt. Das waren damals rund 2000 Mark. Es war eben noch eine Zeit, in der es andere Spielräume gab. Was heißt das? Armin Dallapiccola, mit dem ich gearbeitet habe, hatte einen Vertrag beim Stadttheater, der auslief. Er hatte das Stadttheater satt und wollte etwas Eigenes machen. Also beschloss er, freier Schauspieler zu werden und hat sich mit mir zusammengeschlossen, um Theater zu machen. Das war damals eine Entscheidung, die man offensichtlich einfach treffen konnte. Man hatte nicht mehr Geld, aber das Leben hat weniger gekostet. Es gab mehr Nischen, Zwischenräume, in denen man sich arrangieren konnte. Man hat einfach in einer Kneipe gearbeitet und konnte davon seine Miete bezahlen. Und hat das etwas mit dem Alter zu tun? Ich glaube nicht. Es war einfacher, einen Job zu finden und irgendwie sein Auskommen zu sichern. Das war überhaupt kein Thema. Unsere zweite Arbeit war dann so erfolgreich, dass uns 1990 der neue Leiter von Kampnagel, Hans Man in ’t Veld, gleich koproduzieren wollte, was er auch drei Jahre lang gemacht hat. Hießen Sie damals schon „Lubricat“? Ja, mit der zweiten Arbeit haben wir uns „Lubricat“ genannt. Der Vorgang, ein Label zu gründen, war damals neu und es war ein politischer Akt in Abgrenzung zu dem gesellschaftlichen Raum der Ende der Achtzigerjahre angefüllt war mit Psychologie und ICH-Arbeit. Es war mir unangenehm, „ich“ zu sagen. Vielleicht auch, weil ich ja keine Ahnung von Theater hatte, das wäre mir anmaßend vorgekommen. Und wie ging die Finanzierung der Gruppe weiter? Mit Res Bosshart bei Kampnagel war erst einmal Schluss. Er war angetreten mit einem Begriff vom neuen Europäischen Tanz und wir fanden das damals schon „Eurokitsch“. Wir haben das als eine unglaubliche Negierung

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empfunden, als Europaeinheitswahre. Wir hatten nie eine Auseinandersetzung mit Bosshart, aber es war klar, das passt nicht zusammen. Und dann hatten wir wieder großes Glück. AIDS war damals ein großes Thema. Ein guter Freund von Armin und mir, Uwe Wenzel, ein Tänzer, war gestorben. Wir wollten etwas dazu machen. Es war ein ganz einfaches Konzept mit einem Sänger, einem Tänzer, Musik und Interviews mit der Mutter des gestorbenen Freundes. Das waren ein ganz schlichter Text und ein abstraktes Tableau, das eine extrem hohe emotionale Kraft entfaltet hat. Es gab damals ein Lifestyle-Magazin, das einen Aidsfonds hatte, „Max“. Und dieser „Max“-Fonds fand uns ganz gut und hat uns einfach das ganze Geld, das in dem Fonds für Kultur vorgesehen war, gegeben. Da hatten wir plötzlich 40.000 Mark, das war damals viel Geld. Und dann gab es den WeltaidsKongress in Berlin, dort haben wir es gezeigt. Es war damals das Aidsstück und extrem erfolgreich. Und das war unser Einstieg in Berlin. Damit hatten wir gute Karten, hatten einen Namen, mit dem uns die Türen zu den OffTheatern offen standen, ob das nun das Theater zum Westlichen Stadthirschen war oder auch das Tacheles. Das leitete damals Jochen Sandig, der mit Ihnen die Sophiensaele begründet hat und später, 2006, dann das Radialsystem in Berlin. Konzeptionell waren das Zebu Kluth und ich, die die Idee Sophiensaele formuliert haben, und Jochen Sandig war der Macher, der Beziehung hatte zur Wohnungsbaugesellschaft Mitte. Er hat die Sophiensaele an Land gezogen. Das war damals noch möglich in Berlin, das waren die letzten Zuckungen der Wende-Gründungseuphorie. Was genau war möglich? Denn hier in Berlin-Kreuzberg ist doch auch gerade wieder etwas möglich. Es war 1996 noch möglich, ein Objekt dieser Größe in Berlin-Mitte ohne kommerzielles Konzept zu bekommen. Es gab einen anderen Geist, die Stadtbaurätin hat es unterstützt, die Dame von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte war damals im Grunde eine Aktivistin, die das Tacheles ermöglicht hat. Und auf der anderen Seite war ein Spieler wie Jochen Sandig. Und dann gab es Sasha Waltz im Hintergrund, die mit „Allee der Kosmonauten“ ein extrem erfolgreiches Stück produziert hat. Es gab eine Basisförderung durch den Berliner Senat. Ohne den künstlerischen Erfolg von Sasha Waltz wären auch die Sophiensaele nicht möglich gewesen. Alle an-

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deren haben Jahre gestrampelt, um den Laden überhaupt zum Laufen zu bringen. Sie hatte es geschafft, dass man in Sophiensaele ging. Ja, man ist zu Sasha Waltz gegangen. Alles andere war langer, zäher Kampf um die Aufmerksamkeit. Das ist die Zeit, in der sich das neue Freie Theater und vor allem der Tanz überhaupt erst etabliert hat. Die Sophiensaele sind eine Zäsur in der Geschichte der Freien Szene, die Szene hat sich seit dieser Gründung zunehmend professionalisiert. Für die Arbeitssituation der freien Theaterkünstler in Berlin hat sich die Arbeitsweise insofern verändert, als sich neben dem Stadttheatersystem ein freier Markt entwickelt hat mit koproduzierenden freien Spielstätten in anderen Städten in Deutschland, Österreich, der Schweiz. Können Sie dazu etwas sagen? Was hat die Zäsur bedeutet? Und wie haben Sie damals gearbeitet im Gegensatz zu heute? Was stattgefunden hat, ist die Ablösung vom Off-Theater. Das Off-Theater mochten wir nicht mehr, soviel war klar. Das war muffig geworden und hatte seine emanzipatorische Kraft verloren. 1989 war eine Leerstelle entstanden, keiner von uns hatte eine Vision. Aber alles stand unter dem Stern „anders produzieren“, freier produzieren, projektbezogen zusammen kommen, niemand richtet sich fest ein. Das war auch Jochen Sandig immer wichtig, „niemand ist hier für ewig“. Den Satz würde ich zumindest unterschreiben. Wir waren alle getragen von einer neuen Freiheit. Das war das Neue an der Projektidee. Das war eine liberale Idee, wir waren letztendlich die Vorreiter des Neoliberalismus. Das heißt, nicht Professionalisierung war das große Wort, sondern Projekt. Die Professionalisierung hat sich in diesem Zuge mit entwickelt. Es gab viele Diskussionen über eine neue Förderstruktur. Wir haben damals große Papiere dazu formuliert. Und was hat sich kulturpolitisch verändert? Letztlich gab es mehr Geld. Ich kann nicht sagen, ob das auf uns zurückgeht. Aber Sasha Waltz etwa war extrem erfolgreich. Und es war klar, aus diesem Bereich kommen neue Leute. Da entsteht was. Der Tanz war extrem erfolgreich. Der Tanz hat sich da viel stärker profiliert als das Sprechtheater.

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Weil sie teilweise aus den Stadttheatern rausgeschmissen wurden und frei produzieren mussten, oder? Genau. Letztendlich war es ein schleichender Wandel. Es gab mehr Geld, die Idee des freien Produzenten wurde stark. So sind dann später Kuratoren auf der Bildfläche erschienen … (lacht) Wir hatten die Idee von Produzentenbüros, die stark inspiriert war von dem holländischen Modell. Das hat sich dann nicht durchgesetzt. Dann gab es die Kulturstiftung des Bundes und noch mehr Geld. Und so hat sich nach und nach ein Markt entwickelt. Die Szene hat sich transformiert in einen Markt. Die Sophiensaele sind ein Name geworden, das HAU von Matthias Lilienthal ist ein Name geworden. Und es ist ein unglaublicher Beschleunigungsapparat entstanden. Was heißt das konkret für einen Künstler wie Sie? Für uns bedeutet das, wir produzieren viel mehr. Wir spielen viel weniger. Die ganze Aufmerksamkeitsökonomie ist gerichtet auf das Neue, es ist schwer, sich dagegen durchzusetzen. Kulturpolitisch könnte man allerdings einer Beschleunigung der Freien Szene entgegenwirken und speziell die Wiederaufnahme von freien Einzelprojekten fördern, wie das bereits getan wird. Ist das sinnvoll? Ja, wir haben das ja auch gemacht. Und das hat auch, was den Publikumszuspruch angeht, gut funktioniert. Wäre eine Konzentration auf Wiederaufnahmeförderung in der Freien Szene sinnvoll? Damit sich auch hier, wie im Stadttheater, so etwas wie ein Repertoire bilden könnte. Ja, auf jeden Fall. Unser Ziel hier in der „Vierten Welt“ ist es ja, ein Repertoire aufzubauen. „Kommunisten“ wurde wieder aufgenommen, das hatte eine Förderung vom Hauptstadtkulturfonds, „Wunderblock“ wurde wieder aufgenommen. Die Frage, die wir uns mit der „Vierten Welt“ stellen ist, wie Räume aussehen müssen, die sich den Wirkkräften der Verwertungsmechanismen des Marktes entziehen? Das ist sicher eine Frage der alltäglichen Praxis und des Denkens in den Räumen in denen Kunst, Theater produziert wird. Das heißt, man muss die Arbeiten der Künstler an so einem Ort zusammen denken. In eine Beziehung setzen. Verbindungen herstellen und daraus ein Programm erarbeiten das seine eigene, man könnte sagen, innere Kohärenz entwickelt.

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Welche weitere Empfehlung für die öffentliche Theaterförderung haben Sie noch? Es könnte einfach 10.000 Projekte geben, bei denen man dann nur dreimal spielt. Projekte, die genau so gedacht sind: als ein Ausprobieren. Dann kann man immer noch sehen, was daraus entsteht, vielleicht ja auch etwas Größeres. Aber erst einmal kann es auch die kleinere Form als Experiment und Werkstatt geben. Beim Berliner Senat gibt es eine Einzelprojektförderung. Was kommt für einen Regisseur ganz konkret eigentlich dabei rum, wenn eine Einzelförderung bewilligt wird? Für mich sind das im Moment 5000 Euro. Was natürlich viel zu wenig ist. Derzeit arbeitet der Berliner Landesverband Freie Theaterschaffende (LAFT) e.V. daran, eine Honoraruntergrenze einzufordern. Was halten Sie davon? Ja, unbedingt! Es muss aber eingebettet sein in eine Gesamtidee. Und diese zu formulieren, ist das Problem. Ich glaube, man muss diesen Markt entschleunigen. Wie? Die Frage bleibt am Ende immer, wie das Geld verteilt wird. Welchen Anteil an der Kulturförderung bekommen die sogenannten Freien und wie viel die Institutionen, sprich Häuser? Man muss fundamental andere Bedingungen schaffen, glaube ich. Es ist heute viel hierarchisierter als früher. Was heißt das? Das hat sehr viele Aspekte. Zum Beispiel stehen heute alle unter dem Zwang, immer ein Projekt machen zu müssen und das in einer bestimmten Größenordnung. Sonst ist man nichts. Wir haben damals etwa aus der Not heraus, ein Afrika-Projekt gemacht. Wir hatten nur wenig Geld, 7000 Mark. Dann haben wir das auf dem Flur gemacht, mit 30 Leuten. Und die Bedingungen waren dem Projekt angemessen. Ich will das nicht idealisieren und auch nicht für schlechte Bezahlung argumentieren. Ich möchte sagen, man kann mit wenigen Mitteln gute Arbeit machen. Und das muss man sich trauen. Heute muss man ins HAU gehen, und dann muss man diese und jene Technik haben. Oder arme Orte müssen so tun, als wären sie ein richtiges professionelles Theater. Die Relationen stimmen oft nicht mehr. Die

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Marktgesetze sind heute so stark, dass beständig gewisse Dinge behauptet oder gegen jede reale Situation fantasiert werden müssen. Das ist ein grandioser Betrieb geworden und alle stehen unter einem extremen Druck und sind überarbeitet. Ich finde das Ganze ziemlich uninteressant. Berlin ist ein Magnet geworden. Aber ob das der Arbeit gut tut, das möchte ich bezweifeln. Sie wechseln zwischen freiem Arbeiten und der Arbeit an festen Häusern, warum? Das Geld für die Miete muss bezahlt werden. Ich bin nicht so gefragt an festen Häusern, ich wollte da nie rein, habe mich aber gefreut, wenn man mich gefragt hat. Aber alle diese Stadttheater bauen ja am Rand einen ambitionierten freien Sektor auf, daran möchte ich mich nicht beteiligen. Einen Billiglohnmarkt mit freien Künstlern? Genau. Neulich war ich im Gespräch mit einem Intendanten, der mir für eine Stückentwicklung 5000 Euro angeboten hat. Man kann doch nicht für eine Stückentwicklung, bei der ich sechs Wochen mit den Schauspielern probe und immense Vorarbeit leisten muss, 5000 Euro geben. Er könnte mir ein Stück geben und ich probe das in zwei Wochen. Ja. Aber da stimmen doch die Relationen nicht mehr. Da verkaufe ich lieber Karten an der Schaubühne. Sie haben ein Kind im Kita-Alter, ihre Lebensgefährtin ist freie Dramaturgin. Wie ändert sich das Leben eines Künstlers mit Kind? Man arbeitet mehr. Man schaut, dass es irgendwie funktioniert. Haben Sie eine Altersvorsorge? Nein. Der Report Darstellende Künste, der 2009 veröffentlicht wurde, hat deutlich gemacht, dass freie Künstler oft sehr gut ausgebildet sind, mehrere Sprachen sprechen. Und dass die Künstler oft keine Kinder haben. Wie könnte man dem denn familienpolitisch gegensteuern? Ich weiß gar nicht, ob man für Künstler speziell etwas machen sollte. Ich denke, man sollte eine allgemeine Familienpolitik machen. Wovon wir betroffen sind, das betrifft ja im Endeffekt immer mehr Leute. Es geht ja ganz vielen so, deshalb glaube ich nicht an irgendwelche Sonderregelungen. Ich

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weiß auch gar nicht, ob man irgendwelche Sonderforderungen stellen sollte. Ich weiß, dass es so nicht weiter geht. Inwieweit geht es so nicht weiter? Es ist ja alles relativ, vielleicht kann man auch nicht sagen, dass es so nicht weitergeht. Denn wir selbst versuchen ein Konzept zu entwickeln, das eine Alternative sein könnte, wie es weitergeht. Meine Aufgabe als Künstler ist es ja, weiter zu gehen und weiter zu sehen. Ich kann versuchen, verschiedene Bedürfnisse zu formulieren, wobei ich weiß, dass es mir selbst schwer fällt, diese einzulösen. Was sind das für Bedürfnisse? Ich hätte gerne eine stärkere Form von Gemeinschaftlichkeit. Und gibt es Strukturen, die man schaffen könnte, kulturpolitische Entscheidungen, die Künstlern zugute kämen? Wenn jeder von uns, der da arbeitet, 1500 Euro hätte, dann hätten wir als Familie 3000 Euro und dann wäre alles gut. Jeder, der an einem Projekt arbeitet, sollte 2000 Euro verdienen, man muss sich ja noch versichern usw. Diese Zahl kann ich nennen. Aber ich fühle mich genauso betroffen wie alle anderen. Ich wohne seit zwölf Jahren in Berlin-Prenzlauer Berg. Damals war ich schon die erste Verdrängungswelle, wir haben schon einen guten Teil der alten Bewohner verdrängt. Und dann habe ich in einem anderen Sanierungsgebiet meine Endumsetzwohnung bekommen. 20 Jahre ist eine Deckelung auf der Miete und irgendwann ist die weg. Da bin ich aber genauso betroffen wie mein Nachbar, der Maurer ist. Wenn ich merke als Künstler, ich werde von jeder Seite attackiert, es wird von allen Seiten versucht, mein Leben einzuschränken, dann ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wie zeigt sich dieser Angriff? 70 Euro Mieterhöhung, das ist ganz banal. Eine bestimmte Gewissheit, dass die Dinge einfach so weitergehen und es schon funktionieren wird, ist einfach verloren gegangen. Wann? Wann? Das ist schleichend passiert. In den letzten zwölf Jahren. Ende der 90er Jahre habe ich für drei Jahre als fest angestellter Sozialarbeiter gear-

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beitet. Das war übrigens ein reines Missverständnis, dass ich diesen Job bekommen habe, weil ich ja Sozialwissenschaftler bin, das hat mit Sozialarbeit nichts zu tun. (lacht) Ich würde das heute auch wieder machen, wenn es mit der Kunst nicht funktioniert. Aber die Situation wäre dieselbe. Denn die gesamte Arbeitswelt ist so abgründig geworden. Und da möchte ich als Künstler keine Sonderrolle einnehmen. Sicher, im Detail kann man ganz viel sagen, was die Förderpolitik angeht. Da könnte einiges viel angemessener sein. In der Jury Tanz und Theater des Berliner Senats, der ich angehöre, kommt es immer wieder zu der Diskussion: Einigt man sich auf eine Honoraruntergrenze und nimmt dafür in Kauf, dass viele Projekte, die man gerne fördern würde, nicht gefördert werden können? Im Grunde müsste man sich darauf verständigen, oder? Ja, natürlich. Und es gibt beispielsweise so etwas wie eine Einstiegsförderung für junge Leute. Sie bekommen 5000 Euro und müssen sehen, was sie damit machen können. Das finde ich gut. Ich glaube, es braucht eine andere Begleitung von jüngeren Künstlern. Ich glaube, dass viel Erfahrung verloren geht. Vielleicht kann das LAFT so etwas erreichen. So etwas wie einen Generationenvertrag unter Künstlern? Ja. Manchmal denkt man, dass junge Künstler doch sehr naiv an ihre Projekte rangehen. Man fühlt sich etwas altväterlich, wenn man so etwas sagt … … nein, ich hatte das als meine letzte Frage auch so formuliert: Was würden Sie einem jungen Künstler mit auf den Weg geben, wenn er Sie darum bitten würde, ihm etwas auf den Weg zu geben? Man macht ja Erfahrungen als freier Künstler … Er muss mindestens einen Verbündeten haben. Er muss mindestens einen haben, bei dem er das Gefühl hat, wir machen das zusammen. Das muss er mindestens haben, sonst wird das nichts.

„Theaterarbeit ist mehr als ein Teil der Summe“ Porträt von Angelika Sieburg K ATHARINA S CHRÖCK

„Das Theater nicht getrennt vom Leben oder das Leben getrennt von der Kunst …“ Es hat schon eine dramaturgisch passende Rahmung, dieses Gespräch mit Angelika Sieburg: Auf dem kleinen Balkon über einem Hinterhof in Frankfurt leuchtet ihr Haupthaar in der Abendsonne feuerrot. Die Haare sind ein Blickfang und scheinen ganz zum Charakter dieser Frau zu passen, umrahmen sie doch nicht nur ein freundliches, interessiertes Gesicht mit ernsten Augen, umgeben von Lachfältchen, sondern unterstreichen sie auch die Leidenschaft, mit der Angelika Sieburg von ihrer Arbeit erzählt. Lebensumstände und theatrale Situation vermengen sich nicht nur an diesem Abend auf dem Balkon; immer wieder kommen wir in unserem Gespräch auf die Verbindung zwischen Kunst und Leben zurück, reflektieren wir Menschsein und Handwerk, Arbeitsweise und Bedeutung. Draußen zu sitzen war gar keine Frage, der Abend ist lau und ganz selbstverständlich nehmen wir an einem kleinen Balkontisch Platz – als würde Angelika Sieburg immer und überall die Freiheit, und sei es nur die freie Luft, suchen. Es passt zu ihr. Der Begeisterung ihrer Erzählung kann man sich kaum entziehen, so ansteckend schildert sie die Theaterarbeit im Mitbestimmungsmodell, ihre Liebe zum epischen Theater und ihre nie versiegende Neugier. Diese, ge-

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paart mit Entdeckungsfreude, ist wohl der Charakterzug, welcher ihr im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auf dem Weg durch das ständige Auf und Ab des Lebens geholfen hat. Es ist beeindruckend, den Schilderungen dieser Frau zu lauschen, die so für die Grundwerte und Überzeugungen einer freien, gleichberechtigten, politischen Theaterarbeit brennt. „Ich war so besessen, das war klar, das haben die gemerkt.“ Mit Verzögerung und Leidenschaft: Sieburgs Werdegang Neugier und Freiheit – diese Prinzipien scheinen Angelika Sieburg zu bestimmen. Diese und der Sinn für Gemeinschaft und Verantwortung gleichermaßen haben sie bis heute ihr Leben lang begleitet. Ganz wichtig für ihren Werdegang in der Theaterwelt ist dabei auch ihr Staunen über die Arbeit anderer, aber vor allem über ihre eigene und über ihre Berufung. Sieburg entstammt einer Schauspielerfamilie und „das war irgendwie klar, die muss zum Theater“. Doch es lief nicht so geradlinig ab, wie es zu vermuten wäre. Zum ersten Mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stand sie bereits mit vier Jahren: Sie „durfte das Christkindl sein“ und war sich dieser Bedeutung mehr als bewusst. Also ertrug sie tapfer die großen Anforderungen: Still zu sein und die kratzenden Wollstrümpfe zu ertragen und als Lohn dafür mit eigenem Einsatz etwas Neues zu schaffen, Begeisterung zu spüren, stolz sein können auf sich selbst. Vor allem auch das gute Gefühl, eine „Erwachsene zu sein und wirklich auch Geld zu verdienen“. Sie konnte auf einmal mit etwas, das ihr Freude machte, die Familie unterstützen. Aber das Finanzielle war nur ein Aspekt, der die Begeisterung schürte. In ihren Kindheitsjahren war sie in viele spannende Projekte – teils mit sehr ernsten Themen – eingebunden und hatte dabei das Glück, mit guten Regisseuren zusammenarbeiten zu können, die sich um die Jungdarsteller bemühten und ihnen respektvoll gegenübertraten. G. W. Papst war einer derer, die Sieburg bedeutsame Erlebnisse ihres jungen Schauspiellebens geschenkt haben. In einem seiner Filme konnte sie ein „Kind spielen, ein Goebbelskind und dieses Erlebnis, was das für mich bedeutet hat! Ernst genommen zu werden!“ Doch das Filme drehen, das für sie Erwachsensein bedeutete, kollidierte mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen ihres Heranwachsens: Es stand bald zur Debatte, sich ganz dem Gymnasium zu wid-

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men und mit dem Drehen aufzuhören oder sich gegen einen höheren Bildungsabschluss zu entscheiden: „Und ich wollte lieber filmen und dann bin ich aus der Schule rausgeflogen, weil ich zu viel gefilmt habe.“ Ihre Eltern unterstützten ihre junge Filmkarriere und es war klar, dass die junge Angelika in die Fußstapfen ihrer Eltern trat, „so wie wenn alle Schuster sind, dann wird man auch Schuster“. Das Geld für die Schauspielschule hatte die Mutter mühsam zurückgelegt, aber die Pubertät und die Rebellion kam dazwischen: „Ich habe gesagt: Nein. Ich mache es nicht. Das kommt nicht in Frage. Jetzt ist genug Theater.“ Heute sagt Sieburg, diese Entscheidung war genau die richtige, sie wäre einfach zu jung gewesen für die professionelle Schauspielerei und die harte Ausbildung auf dem Weg dorthin. Für sie war damals der Bruch mit der Schullaufbahn der Moment, wo sie selbst sich sagte: „Ich habe noch gar nichts erlebt, ich hatte das Gefühl, ich versäume das Leben, da ist noch irgendwo was.“ Sie wollte also das „richtige Leben“ kennen lernen, jenseits der eigenen Künstlerwelt, in der sie sich bislang bewegte. Langweilig waren die der Schule nachfolgenden Jahre sicher nicht, kamen zu den Anforderungen einer Ausbildung zur Buchhändlerin auch noch die Verpflichtungen einer jungen Mutter, die sich um zwei Kinder kümmern musste. Den Weg schließlich zurück in die Welt des Schauspiels beschreibt Angelika Sieburg sehr bildhaft, als wäre ihr die plötzliche Eingebung noch so deutlich vor Augen. Es war für sie ein „Aha-Erlebnis“, das sie nie vergessen wird und auch diesen Moment durchlebt sie in Erinnerung nicht alleine, sondern in Gemeinschaft mit ihren Kindern: Sie ging mit ihrem Sohn und ihrer Tochter, zwei und ein halbes Jahr alt, durch Wien, „mit dem Kinderwagerl und sehe das Schild Schauspielschule. Das war so ein schönes altes Haus mit einem Lift und im fünften Stock war die Schauspielschule. Also bin ich – in jedem Arm ein Kind – da rein und hab mir Unterlagen geholt“. Damit fand das Geld, das die Mutter lange Jahre eisern gespart hatte, doch noch seine Bestimmung und Sieburg schrieb sich in der Schauspielschule Wien ein. Das Vorsprechen „lief super, die haben gemerkt, dass ich mit Feuer dabei bin.“ Allerdings waren die nächsten Jahre viel Arbeit, musste sie ja das, was sie schon seit Jahren bereits erfolgreich tat, nun noch einmal richtig und offiziell lernen. Sie hatte „viele Tiefs“, dennoch biss sie sich durch, denn sie war „wild entschlossen, mit dem Theater einmal ihr Leben zu finanzieren“ und diesen „wahnsinnigen Freiheitsdrang“ hat man gemerkt, „diesen Willen, diese Leidenschaft“, ohne die es

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nicht geht. Nebenbei ihre Kinder großzuziehen, gelang nur durch die große Unterstützung von allen Seiten. „Heute wäre das nicht mehr möglich, das ginge gar nicht, weil es viel taffer ist.“ Ihre Mutter half, wo sie konnte und auch die Schule kam ihr entgegen: „Ich hatte da wirklich große Privilegien, man hat Rücksicht genommen.“ Probezeiten, Unterricht, all das wurde so organisiert, dass Angelika Sieburg ihren Abschluss machen konnte. Bereits zu dieser Zeit galt zudem die Kehrseite der Medaille: „Ich war eher ein Fremdkörper, ich bin nicht einen trinken gegangen“. Dies zog sich durch ihr ganzes Leben, auch später als sie im Engagement war, war sie „dann halt diejenige, die nach Hause ging, weil sie die Kinder hatte“. Doch sie will die Zeit nicht missen, ihre Leidenschaft für das Theater war ihr Antrieb, alles zu schaffen, was sie sich vornahm, und diese Zeit schweißte die Familie sicher noch enger zusammen – Bande, auf die sie bis heute blind vertrauen kann. Unterstützung und Rückhalt, damals wie heute, wie sie später berichten wird. Vielleicht waren es gerade die Erlebnisse aus jungen Jahren, die ausschlaggebend wurden für ihre Auffassung vom richtigen Leben und Arbeiten. „Zusammen“ lautet hierbei vielleicht das wichtigste Schlagwort: gemeinsam Dinge angehen, bewältigen und erreichen. Immer wieder kommt sie im Gespräch auf den Punkt ihres Lebens, in dem das Zusammenarbeiten mit Anderen als gleichberechtigtes Element einer Gruppe einen Höhepunkt erlebte und der ihre weiteren künstlerischen Aktivitäten weitgehend prägte, den Beginn ihrer Theaterarbeit in Frankfurt. „Das war ein Aha-Erlebnis! Das war was ganz Anderes, was ganz Neues und es hat funktioniert!“ Frankfurt und das TAT als Weg in die Freiheit und Wurzel der künstlerischen Arbeit Von Kindheitsbeinen an wachsen mit Angelika Sieburgs Spielerfahrung und ihren Erlebnissen in Theater und Film ihr Verantwortungsbewusstsein und ihr Verständnis von Freiheit. Verantwortung tragen und tragen wollen und das Konzept der Freiheit gehen bei ihr Hand in Hand. Nur wenn man Möglichkeiten hat, verantwortungsvoll selbstbestimmt zu handeln, kann man sich „frei“ nennen und als Freie arbeiten bedeutet umgekehrt auch, Verantwortungen abgeben zu können und diese teilen zu wollen. Diese freie Form der Theaterarbeit scheint bei Sieburg nicht einfach nur eine Form des Beschäftigungsverhältnisses zu sein, sondern eng verbunden mit

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ihrer Lebenseinstellung und Überzeugung. Dass sie sich warmherzig zum Freien Theater bekennt, ist keine romantische Verklärung und Verdrängung einer angespannten Situation, vielmehr ist es Folge ihrer eigenen Erfahrungen unterschiedlicher Arbeitsweisen und des Ausprobierens verschiedener Modelle. In ihren Berufsalltag ist sie klassisch gestartet: Wie viele junge Kollegen zog es sie nach Deutschland, denn dort gab es gutes Geld und es war eine Chance für sie, auch privat neu anzufangen. Nach zwei Jahren am kleinen Städtebundtheater Hof half ihr eine Kollegin dabei, etwas Neues zu finden. Gemeinsam reisten sie durch Deutschland, um sich den Stadt- und Staatstheatern vorzustellen, was für Sieburg „ganz unangenehm“ war. Sie ist immer noch froh, „dass ich danach eigentlich nicht mehr vorgesprochen habe, dass mir das erspart geblieben ist, das ist eine schreckliche Situation.“ In Frankfurt konnte sie bleiben, wurde engagiert im neuen Theater am Turm (TAT). Dort hatte der damalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann dem Theater einen „Mitbestimmungsauftrag, sozusagen von oben“, übergeben. Es lag „natürlich in der Luft, in der Zeit, dass überall, in den Firmen auch, Mitbestimmungsmodelle überlegt wurden und er als SPD-Politiker, als Kulturdezernent, fand das eine pfiffige Idee.“ Konkret bedeutete dieses Mitbestimmungsmodell (MBM) eine neue Art des künstlerischen Entstehungsprozesses mit einer kollektiven basisdemokratischen Arbeitsweise. In der Struktur Stadttheater hat sich Angelika Sieburg dagegen nie wohl gefühlt: „Da war für mich keine Freiheit.“ Das, was andere Kollegen als Schutz ansehen („Die freut sich, wenn der Inspizient kommt und sagt, es ist noch eine Viertelstunde“), kann sie „nicht nachvollziehen. Ich kann da nichts Tolles dran finden.“ Das gemeinsame Arbeiten mit Regisseur Paul Binnerts im TAT war so anders als die klassische Probenphase am Stadttheater: Zusammen wurde sich der Textvorlage genähert, in Improvisationen kreisten alle Beteiligten eine mögliche ästhetische Fährte ein und mit der Zeit entstand so ein Umsetzungsansatz, der immer mehr gefestigt wurde. „Das war noch weiter als Mitbestimmung, das war eine Revolution!“ Noch heute sprüht Sieburg vor Begeisterung: „So was kann richtig toll sein, wenn es jemand macht, der es kann!“ Diese banal anmutende Voraussetzung ist grundlegend, denn kollektive kreative Arbeit kann auch sehr schnell im Leerlauf enden. Doch im TAT funktionierte es und Angelika Sieburg nahm diese Erfahrungen als Arbeitsgrundsatz mit in ihre Theatergruppen und bevorzugt bis heute diese Form.

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Den Grundstein für ihr weiteres Theaterleben hat das Modell am TAT sicherlich gelegt: „Ermutigt durch das MBM haben wir gelernt, Verantwortung zu tragen, mitzudenken. Du kannst eigentlich, glaube ich, nur Verantwortung übernehmen, wenn du auch Spielraum hast, wenn du wirklich gestalten kannst.“ Gestaltung und Freiheit gepaart mit bewusst verantwortungsvollem Handeln; politische und philosophische Dimensionen eröffnen sich durch diese Überlegung ganz von allein. Sieburg deutet die Reichweite ihres Handelns durch ihre Überzeugung nur an, wenn sie folgendes Bild vehement zeichnet, um die Idee des Modells zu beschreiben, die sie durch die Erfahrungen im TAT verinnerlicht hat: „Ich bin nicht nur Besitzer einer Rolle, sondern ich bin das Stück. Ich erzähle ein Stück und nicht nur meine Rolle. Und das glaube ich heute noch! Dass das eine gute Sache ist, dass man sozusagen das ganze Stück trägt – ja! Ich baue einen Tisch oder einen Stuhl! Es ist doch so frustrierend, wenn man nur eine Schraube macht! Dieser Gedanke ins Künstlerische übertragen ist natürlich irre!“ Gemeinsam mit engagierten Künstlern durfte das TAT experimentelle Formen in Frankfurt entwickeln, dann wurde das Haus geschlossen, eine politische Entscheidung: Das Theater am Turm und noch zwei andere Einrichtungen waren in den Augen der „CDU-Mehrheit […] die Brutstätten für linke Ideologien“. Die Frankfurter setzten sich ein für ihr international bedeutsames Theater: „Siebentausend sind auf die Straße gegangen, richtig toll!“ Doch es half nichts. Zum Glück war das Ensemble gut organisiert und hatte rechtzeitig gut verhandelt: Es gab ein Jahr Sicherheit durch Lohnfortzahlung. Nach diesem jähen Ende fanden sich vierzehn engagierte Theatermenschen, die nicht zurück in die Stadttheaterfestungen mochten, sondern in der TAT-Tradition weitermachen wollten und zusammen eine neue Arbeit anfingen. Sie fanden sich so, wie die Welt des Theaters funktioniert: „Man kannte sich halt oder sie kannten uns und sprachen uns an.“ Das neue Ensemble, halb professionelle Schauspieler, halb Quereinsteiger oder SemiProfis, sammelte sich um den niederländischen Regisseur Binnerts. Die „Schlicksupp teatertrupp“ wurde eines der ersten professionellen Freien Theater Deutschlands, Pionier einer vielfältigen Theaterlandschaft. Ein Dreivierteljahr dauerten die Proben für das erste Stück: Es gab kein vorher festgelegtes Konzept, keine Rollenzuweisung; es wurde gemeinsam improvisiert, sich so dem Stück genähert und dann wurden gemeinsam im Ensemble die Rollen verteilt. Dieses Debüt der Truppe wurde ein großer Er-

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folg und Auftakt für einige Jahre erfolgreicher Theaterarbeit. Es ist bezeichnend, dass sich ihr erstes freies Stück „Der Brotladen“ einer Vorlage Brechts bediente, ebenso wie das erste Stück Binnerts am TAT „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ vom Vorbild und Begründer des epischen Theaters stammte. Erarbeitet wurden beide Umsetzungen in einer kollektiven Arbeitsweise, wie Brecht selbst sie bevorzugte, um sich dem epischen Theater zu nähern. Ideen einer großen Theatertheorie tatsächlich in der Praxis angewandt zu sehen, ist imponierend. Vor allem da es – aller Kritik zum Trotz – funktioniert zu haben scheint. Sieben Jahre lang lebte und wirkte die Truppe zusammen, dann war sie völlig in die Miesen gewirtschaftet. „Es gab halt einfach keine Strukturen für Freie“. Aber Sieburg trotzte auch diesen Widrigkeiten. Gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Wellano fand sie eine eigene Lösung und gründete mit neuem Konzept das „Wu Wei Theater“. Ihre Idee war einfach und effektiv: Sie produzierten mit ganz wenig Budget und gingen dann mit diesem Stück auf Tournee, um das Geld wieder einzuspielen. Durch ihre Flexibilität – denn „wir hatten kaum Zeug, wir waren ein kleines Ensemble“ und sie spielten mit einem klaren schlichten Raumkonzept – konnten sie immer auf den Theaterschneeball hoffen: „Wir haben auf einem Festival gespielt und dann waren dort wieder zwei, drei, die uns direkt wieder einluden und so reisten wir von einem zum nächsten.“ Mit Wellano zusammen als Doppelverdiener kamen sie mehr als gut über die Runden. Sie wird diese Zeit in Frankfurt später ihre fetten Jahre nennen. Schwerpunkt ihrer Arbeit bildete das epische Theater Brechts: „Mit Brecht kann man so viel machen! Wir hatten Touren in den USA, in China, in ganz Europa.“ Und der Erfolg gab ihr Recht. Episches Theater kommt gut an. Vielleicht auch gerade weil „man das Publikum bei Brecht immer aktiv miteinbeziehen kann, zum aktiven Gegenpart machen kann“. Zu Brechts Geburtstag reisten sie in die Vereinigten Staaten, gespielt wurde vor allem der „Gute Mensch von Sezuan“ – dreisprachig auf deutsch, englisch und chinesisch, „mit mitspielender Übersetzerin, die wie der aktive Zuschauer bei Brecht nachfragt, kommentiert und das Geschehen weiter treibt.“ Mit dem Export und der Tournee in China entstand der neue Name, der bis heute ihre Arbeit zeichnet: „Wu Wei Theater“ – das Theater des Erzählers. Doch irgendwann merkte Sieburg, dass das Konzept nicht mehr perfekt funktionierte. „Die Luft war raus“ und eine Pause war dringend vonnöten; ein Jahr zum Nachdenken, Innehalten. Die Formel der früheren Jahre –

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günstig produzieren, viel spielen – ging nicht mehr auf. Das epische Theater schien „nicht mehr der Knüller“ zu sein. „Und wenn das Publikum fehlt, dann muss eine Änderung her. Ich spiele immer noch fürs Publikum, ich will Publikum haben.“ Während des Pausierens von der Bühne war Sieburg jedoch nicht untätig, reiste als Kuratorin durch Deutschland, begutachtete Stücke für das Festival „Kaleidoskop“ und traf nicht nur auf neue junge Theatermacher sondern auch auf neue Theorien. „Da, das liest du jetzt“, sagte ihr Kuratoren-Kollege Lars Schmid und „drückte mir ein Buch von Thies Lehmann in die Hand.“ Neues Theater, neues postdramatisches, postepisches Theater – die Neugier war geweckt und sie schaute viel an, „sie alle, Rimini Protokoll und wie sie alle heißen“. Und sie las, traf Theatermacher, diskutierte, lernte und fand von Neuem ihre neugierige Leidenschaft und den Reiz, sich erneut zu wagen, etwas herzustellen. Mittlerweile ist das postdramatische Performative ein Schwerpunkt ihrer Arbeit, zusammen mit Kolleginnen produziert sie unter einem neuen Label, „Wu Wei Rekort Loew“, unter welchem sie verschiedene Ansätze vereinen. Inhaltlich greifen sie aktuelle gesellschaftlich relevante Themen auf und finden neue Formen des politischen Theaters. „Es gibt noch Dinge, für die ich kämpfen will!“ Gestaltungsspielräume und Verantwortung für freie Theaterarbeit als kulturpolitische Forderung Reibung und Reflexion mit anderen Theaterästhetiken ist Grundlage für Sieburgs eigene konzeptionelle Arbeit. Sie sucht den Austausch und denkt dabei gleichzeitig stets in größeren Dimensionen. Die Bedingungen und Möglichkeiten für freie künstlerische Prozesse interessieren sie und sie setzt sich dafür ein – nicht begrenzt auf die eigene Arbeit, sondern auch hier wieder gemeinschaftlich gedacht. Seit 2003 ist sie im Vorstand des Landesverbands Professionelle Freie Darstellende Künste Hessen e.V. (laPROF) und setzt sich für alle Theatermacher in ihrer Region ein. Stolz ist sie auf die neuesten Entwicklungen in ihrer Stadt: „Dafür habe ich gekämpft!“ Frankfurt am Main führte als drittes Förderinstrument, neben institutioneller und projektgebundener Förderung, die Konzeptförderung ein. Für Sieburg ist diese ein Schritt in die richtige Richtung. Doch ihre Gedanken gehen noch ein Stück darüber hinaus, sie wünscht sich deutschlandweit eine Art Basisförderung für die Zeit der Vorbereitung. Eine solche Förder-

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art wäre eine Anerkennung der freien (postdramatischen) Arbeitsprozesse, aus der sich neue Arten und Formen der Theaterarbeit entwickeln. Sie erhofft sich Unterstützung für die Zeit, in der man nicht sichtbar produziert, „dass man einfach auch mal sagen kann: ich habe jetzt drei Monate um Recherchen zu machen, Sekundärliteratur zu lesen“. Dass diese ganze Vorbereitungsphase nicht bezahlt ist, sei sehr hart. Eigentlich jedoch geht ihr eine solche künstlerische Grundausstattung nicht weit genug, da sei sie „zu sehr Idealistin oder was auch immer“, denn sie würde es nicht nur für Künstler haben wollen, sondern fände ein „Grundsalär“ gut, „ein Begrüßungsgeld für jedes Kind, das auf die Welt kommt. Nicht zu viel, aber einfach um zu sagen: Du hast das Recht, hier zu sein und es sind so viele Ressourcen da. Es ist so viel da und wir haben die Verantwortung“. Immer wieder taucht er auf, der Gedanke „Verantwortung zur Freiheit“. Im kulturpolitischen Denken und Wünschen, sich nicht nur auf die eigene Kunst zu beschränken, nicht nur auf den eigenen Ort, sondern umfassendere Rahmenbedingungen zu überlegen, das entspricht der Einstellung Sieburgs. Eine kollektivistische Denk- und Arbeitsweise scheint ihr so immanent zu sein, dass eine andere Möglichkeit gar nicht in Frage kommt. Ein weiterer Wunsch ist für sie, dass es bereits in der Ausbildung mehr Wahlmöglichkeiten für junge Menschen gibt, mehr Institutionen, die nicht auf klassische Strukturen abzielen. In den 70er-Jahren gab es eine einzige Schauspielschule, die kollektiv gearbeitet, also für Gruppen ausgebildet hat. Eine Kollegin aus dem TAT berichtete über diese Hannoveraner Schule. Sie „hat viel über diese Arbeitsweise erzählt, wie wahnsinnig viel in der Gruppe sie arbeiten, also nicht für den Star. Nicht konzentriert auf den Einzelnen, der es bringen muss.“ Neben dieser kollektiven Arbeitsauffassung sind für sie vor allem neue Formen unerlässlich für gute, zeitgemäße Theaterarbeit und damit verbunden immer der ästhetische Prozess und die Selbstreflexion. Dazu gehört auch, die Möglichkeit zu haben, ständig die auf dem Papier bereits abgeschlossene Arbeit weiterführen und bereits zur Premiere gekommene Stücke neu aufführen zu können. Eine Aufführungsförderung fände Sieburg gut, um es Theatergruppen zu ermöglichen, auch in kleineren Theatern zu spielen, „die wenig Geld haben“. Damit diese Räume mit guten Ensembles bespielt werden können, sollten diese zusätzlich für eine Wiederaufnahme und weitere Aufführungen finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand bekommen.

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Grundsätzlich durchzieht jedoch nur ein bestimmter Wunsch alle Ausführungen Sieburgs: Weiter als Freie arbeiten und (davon) leben zu können. Das deutsche Fördersystem gibt in seiner jetzigen Form die Möglichkeit dafür. Selbst wenn es manchmal ein langwieriges Prozedere ist, gewinnt Sieburg auch diesem einen positiven Aspekt ab: „diese Unabhängigkeit, diese Freiheit, auch diese Freude, wenn es gelingt“. Zudem bieten die Rahmenbedingungen einen großen Möglichkeitsraum: „Ich habe jetzt wieder eine Idee, drei, vier verschiedene Stiftungen, Geldgeber, Fonds und so anzubaggern, aber ich bin ja von keinem einzigen ganz abhängig. Wenn der eine sagt, er gibt nichts, dann hab ich noch die anderen drei oder vier. Das ist für mich diese Möglichkeit der Freiheit, dass ich nicht von einem einzigen abhängig bin. Das ist das Wichtigste bei mir.“ Bisher haben sie und ihr Mann erst ein einziges Stück nicht machen können – ansonsten haben sie jede Idee realisieren können. Vielleicht wäre das freie Leben noch angenehmer, wenn es ein Basiseinkommen gäbe – sei es durch eine lokale Förderung oder durch die Gesetzgebung bundesweit. Denn das ist das einzige, was sie bei ihren Kolleginnen und Kollegen am Stadttheater irgendwie verstehen kann: „Es ist die Sicherheit, natürlich, du kannst sagen, du bekommst zwölfmal im Jahr eben deine 1750 brutto, du kannst sagen, dass dir das lieb ist“, aber für dieses Geld möchte sie ihre Freiheit niemals aufgeben: „Ich will mein Leben selber gestalten. Es gibt für mich keine Alternative.“ Es ist beeindruckend, wie sehr sie sich für die freie Theaterarbeit einsetzt, allen damit verbunden Schwierigkeiten trotzt und gleichzeitig die vielen Vorzüge unterstreicht. Ihre Begeisterung dafür ist ansteckend. Dennoch sind ihr auch gerade die beiden Seiten, die „Auf und Abs“, die mit einem solchen Leben einhergehen, sehr bewusst. „Ich mache mir keine Sorgen. Wenn ich mein Leben betrachte, so als Kurve!“ Freies Arbeiten auf mehreren Füßen Angelika Sieburgs Arbeitsweise ist die der Freiheit und der Verantwortung und der bleibt sie treu. Bei aller Gestaltungsfreiheit und kollektiver Arbeit – oder gerade deswegen – spielt Geld, spielen die Finanzen immer eine entscheidende Rolle. Dabei ist ihr Vertrauen und Ehrlichkeit besonders wichtig: „Ich will offen legen können, wer wie viel bekommt, woher das Geld

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kommt.“ Schon immer war dabei eindeutig, dass es keine klaren Grenzen mehr zwischen den Berufsbezeichnungen gibt. Im kollektiven Prozess weichen diese auf und das ist für Sieburgs Selbstverständnis essenziell. Sie ist mehr als ein einzelnes Teil der Summe. Ihre Freiheit ermöglicht, man könnte auch sagen, verlangt von ihr, ein Leben als Mehrfachwesen. Sie übernimmt viele Aufgaben gleichzeitig und bewegt sich behände zwischen vielen Möglichkeiten, interessanten Aspekten und wechselnden Berufsbildern. Das ist anstrengend, begeistert Sieburg aber dennoch, sie will keinen Aspekt ihrer Personalunion missen. Auf die Frage, auf was sie sich festlegen würde, wenn sie müsste, antwortet sie zunächst schnell und klar: „Also im Moment würde ich mich festlegen als Schauspielerin“, doch im gleichen Atemzug, „aber … Anfang der 90er hätte ich gesagt, ich bin Regisseurin.“ Damals, als sie „total durchdrungen war von dieser Arbeitsweise“ und „vom epischen Theater überzeugt“. Heute ist sie hauptsächlich Schauspielerin in einem Team und zugleich Produzentin, „was nicht ganz einfach ist.“ Doch die Regisseurin ist nicht auf ewig weggesperrt, sie sei „im Moment in der Schublade und vielleicht kommt sie auch irgendwann mal wieder raus.“ Da sie sich im Moment auf neuem Terrain bewegt und sich viel mit performativen Formen beschäftigt, sind ihre Kolleginnen und sie froh, wenn sie „Dramaturgen haben, die aus Gießen kommen oder Hildesheim“. Denen, die in solchen Dingen gut ausgebildet seien, trete sie dann „mit großen Augen und Ohren“ entgegen. Wieder ein Hinweis darauf, wie wichtig und prägend eine gute Ausbildung ist, deren Vielfalt die Theaterlandschaft nachhaltig gestalten wird. An solchen neuen Projekten nicht nur durch ihr Schauspiel Teil zu haben, sondern diese auch zu ermöglichen, das ist ihre Aufgabe als Produzentin. Sie versteht ihre Tätigkeit dabei hauptsächlich als Kulturmanagement, als „kulturpolitische Arbeit“, die wiederum eng mit ihrer Person verbunden ist. Über die Jahre hinweg hat sie viele Leute kennen gelernt an Stellen, bei denen sie Anträge stellen kann, und „das hilft.“ Darüber hinaus geht es aber auch um das Denken an andere, nämlich Strukturen schaffen für Freies Theater, die vorhandenen verbessern und auch auf diesem Feld, „Gott sei Dank auch mit anderen, mit jungen, mit einem Team“ arbeiten und sich gemeinsam für allgemeingültig bessere Gestaltungsrahmen einsetzen. Um ihr selbst gerecht zu bleiben, müssen die Belastungen durch Management und künstlerische Arbeit gut austariert sein: „Die Balance muss bleiben, aber so lange es, sagen wir mal, so 30 Prozent sind, vielleicht

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höchstens 35 Prozent, dann geht das mit der Organisation.“ Aber auch in diesem Bereich geht es Angelika Sieburg um den Gestaltungsspielraum, denn die Kulturmanagement-Aufgaben sind „ja auch kreativ! Ich habe jetzt ein neues Festival erfunden!“ Das Festival „made in Hessen. 100% Theater“ soll ganz klar, auch hier den Prinzipien treu, den Austausch untereinander und die Auseinandersetzung miteinander fördern sowie die Zusammenarbeit stimulieren. Neben der künstlerischen Arbeit auf der Bühne und dem Ehrenamt hat und hatte Sieburg stets weitere Beschäftigungsfelder. Zum guten Leben gereicht hat das Schauspielern alleine nie. Dazu kamen immer Kurse, Seminare, seien es solche theaterpädagogischer Natur oder solche, die als Lehrerfortbildung das epische Theater zum Thema hatten. Vor allem in den Anfängen ihrer Theaterarbeit „musste man originell sein“, Verträge am Theater galten damals nur für zehn Monate – in der Spielzeitpause hatte man frei, daher brauchte diese Zeit auch nicht bezahlt werden. Finanzielle Nöte kennt Sieburg wohl und weiß damit umzugehen: „Es gab auch Zeiten, da musste ich genau schauen: Was kostet die Milch und geh lieber zu Fuß, dann sparst du die zwei vierzig“. Dazu im Gegensatz ihre Zeiten, in denen es richtig gut lief, zu zweit, mit „meinem Mann als Doppelverdiener.“ „Das war eine super Zeit“, in der sie wegfahren konnte, eine Putzfrau hatte und sich gemeinsam mit Mann und Mutter ein Haus auf Sardinien kaufte. Dieses Haus jedoch „essen wir jetzt auf“. Größten Rückhalt fand sie bei ihrer Familie: „Es haben mir auch schon meine Kinder geholfen, das ist ganz zauberhaft.“ Anfang des Jahres 2000, vor ihrem intensiven Kontakt mit Thies Lehmanns Theorien, nahm sie dann die schon erwähnte Auszeit, ihr Sabbatjahr. „Einfach mal aussteigen, nachdenken, überlegen, wie es weiter geht.“ Das war nur möglich durch die Hilfe und finanzielle Unterstützung ihrer Mutter. Auch wenn diese Zeit kein Jahr der völligen Isolation und Untätigkeit war, schließlich führte es zum intensiven Kontakt mit dem Postdramatischen und somit zu einer Weiterentwicklung ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeiten, doch eine solche Pause ohne oder mit kaum Verdienst, ist nur möglich, wenn man aufgefangen wird. Ob sie sich Sorgen mache, dass es mit dem Theater nicht mehr weitergehen könne, wenn sie nicht mehr spielen könne? Nein, ihr ist „erst mal nicht bange. Vielleicht wenn man ganz krank ist und man auf Pflege angewiesen ist, aber im Moment würde ich mal sagen, habe ich keine Sorge. Ich

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habe so viele Möglichkeiten.“ Eben eine solche ist die ehrenamtliche Arbeit für laPROF, die ihr nicht nur Erfüllung in einer sinnvollen Beschäftigung gibt, sondern ihr vielmehr das bietet, was ihr so wichtig ist. Neue Menschen und ihre Ideen kennen lernen, umgekehrt ebenso etwas vermitteln können. „Ich habe sehr viel Freude, mit jungen Menschen zu arbeiten, das ist ein unglaublich wunderschönes Feld, ich bin eigentlich fast nur umgeben von viel Jüngeren und genieße das sehr. Ich lerne von jungen Menschen und gebe weiter, was ich geben kann.“ Ihre Grenzen kennt sie jedoch, auch das ein Zeichen großer Lebenserfahrung und gelungener Selbstreflexion: Ein Großprojekt mit Kindern um die vier Jahre, „das war einfach zu heftig“. Ihren gesunden Realismus hat sie sich durch die langjährige Theaterarbeit angeeignet und findet mit diesem einen Ruhepunkt im ständigen Streben nach neuen Projekten. Ihre Neugier auf andere und anderes lässt sie stets Kooperationen, gemeinsames Produzieren und Ausprobieren suchen, doch gelingen kann das nur, wenn die Ästhetik der Mitstreiter zusammenpasst. „Es ziehen sich manche an und andere stoßen sich ab. Also da muss was sein! Man muss irgendwie denken ‚Boah, das ist spannend!‘“ Nicht jeder neue Trend muss aufgenommen werden oder gefallen und Sieburg steht treu zu sich selbst. Ein Beispiel bringt sie aus den 90er-Jahren: Da „hat sich als neue Art dargestellt, ja, ich sag jetzt mal, grob gesprochen, Ficken und Shoppen. [...] Das kam als neue zeitgenössische Theaterform, das hat mich gelangweilt, ich fand es uninteressant, […] ich hab’s nicht gemocht. Da hab ich gedacht: Also nein, wenn das jetzt die neuen Formen sind, dann bleib ich lieber bei meinem epischen Theater.“ „Ich habe immer gespielt aus meinem Spieltrieb.“ Kunst und Mensch, Theater und Leben So schlicht und einfach ist es jedoch nicht, denn schließlich möchte sie ein Auditorium haben: „Ich mache Theater immer noch fürs Publikum!“ In ihrer ehrlichen Art bekennt sie jedoch sofort: „Also natürlich auch für mich, na klar!“ Leben und (Theater-)Arbeit zu trennen und gleichzeitig Kunst und Leben zusammenzudenken, was zunächst zwiespältig klingt, überzeugt dennoch in der Art, wie Sieburg diese Auffassung lebt: „Es gab eine Zeit, da haben wir wirklich verordnet: Jetzt darf nicht mehr über Theater gesprochen werden – verboten! Und dann hat doch wieder einer von uns begonnen. Aber jetzt ist es eigentlich so organisch geworden, dass es wirklich den

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Moment gibt, wo ich müde bin und dann einfach sage: Jetzt ziehe ich mich zurück.“ Auf der anderen Seite sucht sie selbst in ihrer Freizeit immer wieder neue Impulse. Selbst in der Entspannung – der neu gefundenen Liebe zum Zen – begeistert sie sich mit Gesprächen mit Menschen, die sie neu kennen lernt. Diese Philosophie zeigt ihr auch Wege, in aller kollektiver Ausrichtung auf sich selbst zu achten und zu konzentrieren. Ihren Alltag strukturiert sie, sofern möglich, nach ihren Vorlieben: morgens die Pflichtarbeit am Schreibtisch und danach „am liebsten nur noch künstlerische Arbeit“. Einfach nur Künstler sein, ist jedoch gar nicht so einfach. Zunächst steht Sieburg sich dieser Bezeichnung selbst im Weg: „Ich muss sagen, aus der ganzen politischen Entwicklung, aus der ich komme, ich hätte mich nie als Künstler bezeichnet.“ Es ist „nichts schrecklicher“, als wenn man „auf der Straße als Künstler“ bezeichnet wird. Der „bunte Hund“ war und ist sie schon lange: „Pumuckl“ nennt sie die Nachbarin, heute vielleicht mehr schalkhaft gemeint als beleidigend, in den 70er-Jahren hingegen war es deutlich von Nachteil, als Künstler wahrgenommen zu werden. Mit Mann und zwei Kindern kam sie nach Frankfurt: „Schauspielerpaar, unverheiratet mit Hund, sucht ruhige schöne Wohnung – das kannst du vergessen, da kommt kein Mensch, das will niemand haben. Das ist hoffnungslos.“ Etwas Glück brachte sie dann doch noch in ihre vier Wände – ein Schauspielerkollege zog fort und der Vermieter war an Theatermacher gewöhnt, sie durften einziehen. Auch an dieser Stelle wieder das, was die Theaterfamilie auszeichnet: sich kennen und helfen. Mittlerweile, so scheint ihr, käme ihr Künstlersein rein äußerlich noch mehr zur Geltung und ihr wird immer stärker bewusst, welchen Platz die Theaterkunst im Leben einnimmt, welche Aufgabe sie darin sieht: „Den kreativen Impuls, den hat jeder und der ist da – mehr oder weniger. Diese Entfaltung, diese Möglichkeit des Ich-Seins oder der Persönlichkeitsentwicklung, das ist eine wunderschöne Erfahrung. Ich möchte jungen Leuten den Mut geben dafür. Diesen Mut, sich hinzustellen und sie erfahren zu lassen. Sei du selber, sei, sei, lebe, lebe – habe den Mut zu lachen, traurig zu sein, zu fühlen!“ Diese „Entfaltung“ ist für Sieburg der Grundimpuls der Schauspielerei. Ihr selbst wurde als Kind, in ihrer Ausbildung und bis heute immer wieder gesagt und bestätigt, dass sie „natürlich“ wirke, aus einem „Spieltrieb“ heraus spiele. In ihr scheint also ihr eigenes Motto tatsächlich aufgegangen zu sein: „Da gibt es einen wunderschönen Satz: Nicht den

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Menschen zum Schauspieler zu machen, sondern den Schauspieler zum Menschen. Ich glaube, es ist Tabori oder es ist Brecht, ich weiß es nicht, aber das ist eigentlich mein Ding: Ich möchte eigentlich Mensch sein.“

Bildende Kunst

„Wer definiert denn, wann jemand ein Künstler ist?“ Gespräch mit Mira Cichocki S EBASTIAN P OLMANS

Liebe Frau Cichocki, stellen Sie sich bitte kurz vor: Ihren Arbeitsort, Ihren Lebensraum und in welchen Bereichen Sie künstlerisch tätig sind. Geboren und aufgewachsen bin ich in Polen, seit 1976 lebe ich in Deutschland in Nettetal am Niederrhein unweit der Grenze zu den Niederlanden. Dieser Lebensraum ist geprägt durch weitläufige Wälder, kleine Flüsse und viele Seen inmitten von Naturschutzgebieten. Kurz: Dieses Gebiet ist gekennzeichnet von unerschöpflicher und wunderschöner Natur. Ich lebe in einem Mehrfamilienhaus in einer kleinen Wohnung, die ich sozusagen „multi-funktional“ nutze, das heißt mein Wohnbereich wird bei Bedarf kurzerhand in ein Atelier umgewandelt. Künstlerisch bin ich im Bereich der Malerei und der Fotografie tätig, wobei ich bei der Malerei für die Darstellung meiner Werke mit Acryl-, Öl- und Pastellfarbe arbeite. Das Gestalten von Skulpturen erschließe ich mir derzeit. Wie sind Sie zur Kunst gekommen? Wie zu einem für Sie spezifischen Ausdruck? Zur Kunst bin ich sicher durch die Arbeiten meines damaligen Lebensgefährten, aber auch durch familiäre Vorbilder wie meine Mutter und meinen Neffen, gekommen. Sie alle malten und ich war von ihren Werken sehr inspiriert, sodass in mir immer mehr der Wunsch reifte, auch so malen zu können wie sie. In dieser Phase begegnete ich dem Düsseldorfer Künstler Rüdiger Kramer, Student bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstaka-

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demie, bei dem ich schließlich erste Malkurse besuchte. In diesem Kurs war ein erstes Experimentieren mit Pastellkreide wegweisend für die Suche nach eigenen ästhetischen Ausdrucksformen. Schon bald spürte ich, dass Malen für mich eine Art Meditation ist. Die Freiheit, das eigene Ich in der Farbwelt zu vertiefen, birgt für mich die Möglichkeit, Emotionen und Gedanken im künstlerischen Schaffen auszuleben. Sie haben kein Kunststudium an einer Hochschule absolviert, noch in keiner Galerie ausgestellt. Inwieweit lassen Sie den Begriff des Berufes eines Künstlers für sich gelten? Und beschränkt sich dieser lediglich auf Ihre Arbeit oder spielt er auch im Alltag eine Rolle? Den Begriff des Künstlers lasse ich für mich voll und ganz gelten, weil ich auch durch die Malerei einen Teil meines Lebensunterhaltes bestreite. Ich glaube, den Begriff Kunst oder Künstler kann man nicht nur auf die Arbeit beschränken, weil Kunst uns überall – vor allem in der Natur – begegnet. Ich denke da beispielsweise an ein kunstvoll gesponnenes Spinnengewebe oder die strukturell meisterhaft gestalteten Nester der Wespen. Ich bin sehr dankbar, Künstler in diesem Sinne sein zu dürfen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Künstler sich ihr Lebensumfeld – vor allem die Natur – aber auch vieles darum herum mit ganz anderen Augen, vielleicht auch positiver als andere, erschließen. Erzählen Sie von Ihrer Arbeitsweise. Ich arbeite phasenweise. Nach guten Begegnungen und Gesprächen, nach solchen Naturerlebnissen, die ich gerade geschildert habe, bin ich oft inspiriert und greife dann zum Pinsel, um meine guten Gedanken und Gefühle auszudrücken. Oft entstehen dann zwei oder drei Bilder an einem Tag. Beschreiben Sie einen Arbeitstag. Ein Arbeitstag lässt sich nur schwer beschreiben. Die Antwort auf die vorhergehende Frage zeigt aber schon ansatzweise, dass Emotionen und Inspiration dabei eine wichtige Rolle für mich spielen, viel stärker als formale Überlegungen und theoretische Konzepte. Letztendlich könnte man sagen, ich arbeite spontan, situationsorientiert. Können Sie von Ihrem Beruf als Künstlerin leben? Das kann ich derzeit nicht. Ich muss aber deutlich sagen, dass dies mein Traum und auch mein Ziel ist.

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Haben Sie dahingehend Pläne, dies zu verwirklichen? Nun, konkrete Pläne diesbezüglich habe ich nicht. Vielmehr sage ich noch einmal: Es ist mein Traum, dies zu verwirklichen. Und ich glaube, es ist auch wichtig, Träume zu haben. Sie müssen nicht immer verwirklicht werden, aber Träume zu haben ist schon wichtig; für mich als Mensch und für meine Malerei. Vielleicht gelingt es mir ja irgendwann wirklich ein eigenes kleines, schönes, lichtdurchflutetes Atelier zu haben, in dem ich arbeiten und auch meine Werke in einem ansprechenden Ambiente präsentieren kann. Dies wäre sicher ein erster Schritt dahingehend, vom Beruf als Künstler leben zu können. Wie bedeutsam sind für Sie Ausstellungen unter rein ökonomischen Aspekten und wie wichtig im Allgemeinen? Der ökonomische Aspekt von Ausstellungen spielt sicherlich eine Rolle, für mich persönlich aber eher eine untergeordnete Rolle, weil nämlich das Materielle für mich nicht das Wichtigste im Leben ist. Das Wichtigste ist für mich einfach, authentisch zu bleiben. Und wer meine Bilder und mich kennt, der weiß, dass ich mich aufgrund von ökonomischer Motivation nicht verbiege. Das würde mir sicher auch die Freiheit beim und die Freude an der Malerei vergraulen. Für mich sind Ausstellungen daher vielmehr wichtig, um meine Bilder präsentieren zu können, mit interessanten Menschen hierüber ins Gespräch zu kommen und so ein Feedback zu erhalten. Außerdem ist für mich wichtig, andere Betrachter einfach an meinen Werken teilhaben zu lassen. Müssen Sie mit Ihrer Kunst Zugeständnisse eingehen, beispielsweise Auftragsarbeiten annehmen oder eine Art Selbstmarketing betreiben, um überhaupt mit Ihrer Kunst Geld zu verdienen? Mit meiner Kunst muss ich eher weniger Zugeständnisse eingehen, weil für mich – wie vorhin bereits erwähnt – nicht der ökonomische Aspekt im Vordergrund steht. Auftragsarbeiten nehme ich nur ganz wenige an, allerdings auch nur dann, wenn ich der Überzeugung bin, dass diese Bilder mit meinen Emotionen übereinstimmen. Als Selbstmarketing versuche ich Bilder an verschiedenen Orten auszustellen, um natürlich wenigstens ab und an ein Bild zu verkaufen, damit ich zumindest die Materialkosten wieder ausgleiche. Dies können verschiedene Orte sein, etwa Cafés, Restaurants

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oder auch Ausstellungsmöglichkeiten in Institutionen wie einem Rathaus oder einer Sparkasse. Wie sind Ihre Erfahrungen in diesen Bereichen der Ausstellung? Halten Sie Ausstellungsorte wie etwa das Café, Restaurant, ein Rathaus, eine Sparkasse als angemessen für die Betrachtung von Bildern, von Kunstwerken? Der Gestaltung der jeweiligen Räumlichkeit kommt eine überaus wichtige Rolle zu. Cafés oder auch Restaurants sind für Ausstellungen dann gut geeignet, wenn die darin präsentierten Bilder einen echten Blickfang und auch eine Bereicherung für die jeweilige Räumlichkeit darstellen. Die Werke müssen dem Raum eine gute Atmosphäre geben, sodass sie auch als Kunstwerke von den Gästen wahrgenommen werden. Ist abzusehen, dass Bilder in einer Räumlichkeit untergehen, sodass sie letztlich gar nicht wahrgenommen werden, dann macht es wenig Sinn, dort auszustellen. Wenn aber das Ambiente stimmt, so kommt man auch eher in Gespräche über die Bilder und so kann es sein, dass Gäste in Cafés oder Restaurants gehen, weil sie gehört haben, dass dort ansprechende Bilder ausgestellt sind. Gerade wenn psychologische, emotionale Ansprüche und Konstitutionen bei der Produktion eine so tragende Rolle spielen, wie bei Ihnen, beansprucht man damit nicht auch den Betrachter auf eine bestimmte Weise? Sie stellen auch in Privaträumen aus, glauben Sie, für den Betrachter liegen hier mehr Möglichkeiten, Ihre Bilder zu erleben? Ich denke beim Betrachten von Bildern ist der Betrachter immer gefordert, nicht nur bei meinen Bildern, sondern grundsätzlich. Es ist immer die Frage, wie weit der Betrachter die Bereitschaft mitbringt, sich auf ein Bild einzulassen. Ich bin sicher, meine Bilder wirken nicht, wenn man sich nicht darauf einlässt. Aber warum schaut man sich diese denn sonst an? Einfach aus Neugier? Das wäre mir im Endeffekt zu wenig. Ein Betrachter, der sich meine Bilder ansieht, soll, wenn er die Ausstellung besucht, diese mit einem Lächeln und mit frohem Herzen verlassen. Natürlich ist mir auch klar, dass dies nicht bei jedem gelingt. Ausschlaggebend für die Wirkung eines Bildes ist auch die Vorliebe für gewisse Farben, die bei allen Menschen unterschiedlich ist. Dies beeinflusst schon die positive oder negative Wirkung eines Bildes. Ich denke, wer nicht bereit ist, sich auf ein Bild wirklich einzulassen, dem dürfte es schwer fallen, Gefallen an einem Bild zu finden.

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Dies stellt insofern schon eine gewisse Forderung an den Betrachter. Dies ist, so denke ich, aber bei Ausstellungen in Privaträumen sicherlich leichter, weil diese doch eher von Leuten besucht werden, die meine Art von Malerei kennen und so schon vor dem Besuch ahnen, was auf sie zukommt. Ich stelle meine Bilder auch nur in solchen Räumen aus, von denen ich überzeugt bin, dass diese Räumlichkeiten zu meinen Bildern passen und meinen Bildern Raum zur Entfaltung geben. Wichtig ist aber für mich auch, dass die Menschen, die in diesen Privaträumen leben, etwas von meinen Bildern und auch von mir mitnehmen, im Grunde genommen kann ich sagen, nicht nur die Räume, sondern auch die Menschen müssen zu mir und meinen Bildern passen. Das wird dann auch der Betrachter ganz sicher spüren. Haben Sie Kontakt zu Künstlern, die von ihrem Beruf leben können? Ja, das habe ich. Schon bedingt durch den Besuch von Malkursen bei solchen Künstlern. Die so geknüpften Kontakte sind bis heute erhalten geblieben. Außerdem versuche ich auch, solche Künstler kennen zu lernen, weil ich einen Gedankenaustausch mit ihnen sehr interessant finde. Sehen Sie Unterschiede zu diesen Künstlern? Ich meine weniger im künstlerischen Ausdruck, sondern in der Möglichkeit, die Kunst zum Lebensinhalt zu machen? Die Kunst nimmt sicher schon einen großen Teil meines Lebens ein, weil ich in meinen Bildern Gedanken und Stimmungen zum Ausdruck bringe und beim Malen eine große Freiheit verspüre. Ob dies auch bei diesen Künstlern immer so ist; da bin ich mir nicht ganz so sicher. Ich für meinen Teil freue mich, wenn ich mal ein Bild verkaufe. Wenn ich aber ein Bild gemalt habe, das mir sehr gut gefällt und niemand kauft es, so kann ich mich daran erfreuen und es ist für mich nicht schlimm, weil für mich wie gesagt nicht das Wirtschaftliche im Vordergrund steht. Für mich ist es wichtig und hat oberste Priorität, authentisch zu bleiben. Und ich glaube, dass mir dies leichter fällt, wenn ich nicht vom Verkauf von Bildern abhängig bin. Hierin sehe ich einen großen Unterschied zwischen mir und den Künstler, die ihren Lebensunterhalt von der Kunst bestreiten müssen.

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Wann in Ihrer Biographie wurde der Beruf des bildenden Künstlers bedeutend? In meiner Biographie wurde der Beruf des bildenden Künstlers erst in den vergangenen Jahren bedeutend, da ich ja erst etwa im Jahr 2000 zur eigenen Malerei gekommen bin. Seit etwa einem halben Jahr verfüge ich nun auch über eine eigene Homepage (www.galerie-mira.de). Ab wann kamen sie mit dem Feld der Kulturpolitik in Kontakt? Inwiefern würden Sie sagen, waren und sind Sie Begünstigte im kulturpolitischen System? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sicherlich erst einmal für sich selbst den Begriff der Kulturpolitik definieren. Dazu gehört insgesamt ja auch mehr, als nur der Bereich der eigentlichen Kunst, nämlich Bildung, Wissenschaft und sicherlich auch Medienpolitik, die sich wiederum alle als eigenständige Bereiche definieren lassen, dennoch aber auch irgendwo in gegenseitigen Beziehungen stehen. Eine Hauptaufgabe der Kulturpolitik im eigentlichen Sinne ist sicherlich die Kulturförderung, wobei hierzu die Finanzierung öffentlicher Institutionen (z. B. Theater, Museen, Bibliotheken) und privater Kunstschaffender (z. B. Filmförderung, Kunstvereine) gehören. Von daher kann ich für mich gelten lassen, dass ich im Sinne der Kulturförderung mit der Kulturpolitik noch gar nicht in Berührung gekommen bin. Kulturpolitisch komme ich natürlich dann in Kontakt, wenn ich Kunstmuseen oder Ausstellungen besuche. Auch stehe ich sicherlich weniger mit einer Kulturpolitik in weiterem Sinne im Zusammenhang, weil meine Bilder nicht direkt auf irgendwelche gesellschaftlichen Defizite hinweisen wollen. Um die zweite Frage in diesem Zusammenhang zu beantworten, kann ich für mich klar sagen, dass ich bisher nicht Begünstigte im kulturpolitischen System gewesen bin.

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Vielleicht ist aber gerade die Selbstorganisation eine Möglichkeit, selbst kulturpolitisch aktiv zu werden, auch oder gerade weil keine Agentur oder Galerie dahinter steckt, so etwa im Austausch mit anderen Künstlern, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie Sie, in gemeinsamen Ausstellungen oder die Selbstpräsentation der Homepage? Sie haben im September mit zwei Künstlerfreunden ausgestellt, vielleicht können Sie an diesem Beispiel die Selbstorganisation beschreiben. Wie zum Beispiel wurde auf die Ausstellung aufmerksam gemacht, was passierte dort? Ich suche ganz gerne den Kontakt zu anderen Künstlern, weil ich es mag, Gespräche über Kunst und das Schaffen eigener Werke zu führen. Gute Gespräche verschaffen mir dann auch neue Inspiration und Motivation. Wenn die Chemie mit anderen Künstlern stimmt, würde ich auch Ausstellungen mit anderen Künstlern gemeinsam machen. So würde sicher auch ein ganz anderer Personenkreis einmal meine Bilder kennen lernen. So war es etwa Anfang September 2010, als ich mit zwei Künstlern gemeinsam eine Ausstellung auf dem Privatgelände und in den Privaträumen des einen Freundes durchgeführt habe. Schon die Vorbereitungsphase zeigte, dass wir auch menschlich gut harmonierten, was für mich immer eine wichtige Rolle spielt. Neben der Ankündigung auf meiner Homepage wurden Flyer gestaltet, die wir im Freundes- und Bekanntenkreis verteilt haben. Insgesamt haben rund 120 bis 130 Personen die Ausstellung besucht. Aufgrund des guten Wetters konnte auch der Garten mitgenutzt werden, was der ganzen Ausstellung ein besonderes Flair verlieh. Auch die Platzierung der Bilder (Blumenbilder im Blumenbeet, Steinbilder am Steinbeet und große Bilder an der Hauswand) gaben der ganzen Veranstaltung etwas Besonderes. Unterstrichen wurde dies noch durch Gedichtvorträge (teilweise zu den Bildern) und Gesangsvorträge. Ich bezweifle, ob solch eine persönliche Stimmung mit vielen guten Gesprächen und vielen neuen, netten Bekanntschaften in einer Galerie aufgekommen wäre. Das ist das Schöne an solchen privaten Ausstellungen und meiner Unabhängigkeit von Galeristen: Man wird immer wieder angenehm überrascht. Wie sehen Sie den Status des Künstlers in der Gesellschaft? Und wie würden Sie Ihre Position in diesem Rahmen verstehen? Der Status des Künstlers in unserer Gesellschaft ist sicherlich von seinem Schaffen und seinen geschaffenen Werken abhängig. Man muss sich in unserer Gesellschaft doch fragen, was ist alles Kunst und wer definiert sie.

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Von daher steht und fällt der Status des Künstlers mit seinen Werken. Man muss sich weiterhin fragen, wer definiert denn, wann jemand ein Künstler ist. Oft wird der Status eines Künstlers ja auch dadurch begründet, dass man zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, die richtigen Leute kennen gelernt hat, die einen dann groß rausbringen. Grundsätzlich halte ich Kunst aber für wichtig, um sich in andere Welten versetzen zu lassen, einmal innezuhalten, um über bestimmte Dinge nachzudenken und vielleicht auch einen anderen Blickwinkel zu bekommen, um die Phantasie anzuregen und auch eine gewisse Freiheit auszuleben. Ist es nicht gerade dann von Vorteil, wenn man sich nicht auf dem Kunstmarkt bewegt und auch von Gönnern, Galeristen abhängig ist, von einem Produktionsdruck, der auch die Freiheit des Ausdrucks einschränken kann? Ich habe ja auch bei verschiedenen Fragen bereits darauf hingewiesen, dass ich es in meiner Malerei genieße, meine Stimmungen, Gedanken, Emotionen in unendlicher Freiheit ausdrücken zu können und dies ist für mich oft wichtiger, als ein Bild zu verkaufen, weil es meiner Seele gut tut. Und genau deshalb ist das Malen für mich eine Art Meditation. Würden Sie behaupten, Kunst hat einen Auftrag in Bezug auf die Gesamtgesellschaft? Und wie würden Sie davon ausgehend ganz konkret Ihre eigenen Arbeiten verstehen? Sicherlich hat die Kunst einen Auftrag in Bezug auf die Gesamtgesellschaft und da spielt ja das gerade oben Gesagte mit hinein. Eine Gesellschaft ohne Kunst wäre wie ein Brot ohne Mehl. Unsere Gesellschaft wäre leer. Ich selbst sehe die Kunst, also in dem Fall speziell die Malerei, als ein Arbeitsfeld, in dem ich mich inspirieren lassen kann, in dem ich mich mit mir selbst auseinander setzen kann und in dem ich letztlich zu mir selbst finden kann. Für mich ist die Kunst ein angenehmer Teil meines Lebens. Frau Cichocki, herzlichen Dank für das Gespräch.

„Nur von der Kunst habe ich nie gelebt“ Porträt von Franziska Rutz S ARAH K USCHEL

In ihrem Projekt „Temporäre Heimat“ sammelte Franziska Rutz Koffer der Braunschweiger Bevölkerung und trug diese zu einer Installation in der St. Martinikirche zusammen. „Heimat ist immer das Verlorene“, mit diesem Zitat von Martin Walser beginnt der Katalog zu dieser Arbeit. Sie selbst packte 1994 ihren Koffer und kam von der Schweiz nach Deutschland. Seitdem lebt und arbeitet sie als freischaffende Künstlerin in Braunschweig. Hilfreich bei der Eingliederung in die lokale und nationale Kunstszene war für sie der Eintritt in den Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK), der ihr Kontakte und Unterstützung bei Ausstellungen bot. Sicherlich handle es sich um einen Verband mit allen dazu gehörigen Beiträgen und vereinstypischen Strukturen, sagt Franziska Rutz. Doch ihrer Ansicht nach sei es wichtig, dass Lobbyarbeit an den richtigen Stellen gemacht werde. Und genau deswegen machten künstlerische Vereinigungen Sinn. Geboren wurde Franziska Rutz 1956 in Zürich. Nach einer Ausbildung zur Erzieherin studierte sie von 1981 bis 1985 Freie Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern (SfG) im Fachbereich Design und Kunst. Seit 1986 nennt sie sich „Freischaffende Bildende Künstlerin“ wobei sich das Empfinden als solche zunehmend in der Auseinandersetzung mit künstlerischer Tätigkeit im Studium eingestellt habe. Zu einer Künstlerexistenz gehört für sie die Intention, von der Kunst leben zu können, wenn dies auch oftmals in der Praxis nicht möglich sei. Auf eine Definition will sie sich jedoch nicht festlegen. Überhaupt schließt sie bei ihren Mei-

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nungsäußerungen stets die Möglichkeit des Um- und Andersdenkens mit ein. Nichts ist bei der Künstlerin absolut, sondern „Alles im Fluss?“, wie der gleichnamige Titel einer anderen Bildserie lautet. Flexibel sein musste sie darüber hinaus, als Rückenprobleme ihre bildhauerische Tätigkeit zunehmend einschränkten. Heute schafft sie collageartige Fotografien mit Hilfe digitaler Bildbearbeitung und „Kommunikation stiftende Installationen“, wie in einem ihrer Kataloge zu lesen ist. Die Ausbildung Ihr Studium der Freien Kunst mit dem Schwerpunkt Bildhauerei an der SfG fiel in eine Zeit, in der eine Auseinandersetzung mit dem Kunstmarkt und eine Vorbereitung auf den „Berufsalltag Künstler“ bei den Studenten verpönt war. „Wir hätten uns auch dagegen gewehrt, das war so in den achtziger Jahren. Dinge wie Buchhaltung, Sich-Vermarkten oder die Frage, wie man an Galerien herantritt, wurden natürlich boykottiert.“ Vielmehr stand das künstlerische Ausprobieren im Vordergrund. Eine kritische Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Aspekten des Künstlerdaseins hätte sie allerdings interessiert, sagt Franziska Rutz rückblickend. Und so liegt es ihres Erachtens im Interesse der Studierenden, dass diese Inhalte heutzutage ein Bestandteil des künstlerischen Studiums sind. Auch der Bericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages greift die notwendige Veränderung und Erweiterung von bedarfs- und praxisbezogenen Ausbildungsinhalten an Kunsthochschulen auf. Thematisiert wird darin, neben einer Stärkung der betriebswirtschaftlichen Ausbildungsinhalte, ein erhöhter Praxisbezug wie die „Förderung der Teilnahme an Wettbewerben, öffentlichen Auftritten und Auslandsaufenthalten“. Einflüsse durch Reisen und fremde Länder werden auch in der Arbeit von Franziska Rutz sichtbar, für die Auslandsaufenthalte während des Studiums zu wichtigen Erfahrungen zählen. Der Sprung vom Studium in den Beruf gelang ihr Mitte der achtziger Jahre auch ohne dezidiertes Kunstmarktwissen durch Teilnahmen an Wettbewerben für junge Schweizer Kunst und durch ihre begleitende Lehrtätigkeit an zwei Wochentagen als Werklehrerin an einer heilpädagogischen Schule in Luzern. Die sich anschließende Stelle als Dozentin an der Gestaltungsschule „Farbmühle“, in der sie von 1989 bis 1994 arbeitete, deckte die Kosten für den Lebensunterhalt.

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Nicht erst seit ihrer Ausbildung zur Erzieherin ist für Franziska Rutz die Kunst mit dem Sozialen, der Lehre und Pädagogik verbunden. Sie sei immer zweigleisig gefahren – auch notwendigerweise. „Nur von der Kunst habe ich nie gelebt, das ging nicht, da bin ich zu schlecht darin, mich zu vermarkten.“ Natürlich bestand zwischenzeitlich der Wunsch, stärker auf dem Markt etabliert zu sein. Doch um Frustgefühle angesichts des ausbleibenden finanziellen Durchbruchs gar nicht erst aufkommen zu lassen, habe sie ihre Einstellung an die Gegebenheiten angepasst: Ihr Geld verdiene sie mit Nebentätigkeiten, die allerdings immer auch den für die Künstlerin wichtigen Bezug zur Realität bedeuteten. Die Nachfrage nach neuen Bildern sei immer wichtig und motivierend gewesen für das künstlerische Schaffen, ebenso die Möglichkeit, immer wieder ausstellen zu können. Doch sie weiß um den Druck und die Erwartungen, die mit einem „Leben von der Kunst“ verbunden sind. Kunst zwischen Nebentätigkeiten und Realität „Es tut mir ganz gut, ich würde den Realitätsbezug ja völlig verlieren“, sagt sie und spricht dabei über ihre Nebentätigkeiten, die stets eine Verbindung zu ihrer künstlerischen Arbeit aufwiesen. Keine Jobs bei der Post oder in Kneipen, wie es Kommilitonen machten, sondern Honorartätigkeiten als Lehrkraft, später soziokulturelle Projekte mit Migrantinnen, die Arbeit in einem „mobilen atelier“, bei dem sie mit einer Kindergartengruppe fotografierte und Collagen erstellte. Realitätsbezug, Austausch und ein „Sich den Menschen stellen“ sind für Franziska Rutz mit den Tätigkeiten, die ihr Einkommen sichern, verbunden. Natürlich raubten sie oftmals Zeit und Kraft, die sie gerne für ihre künstlerische Arbeit gehabt hätte, merkt sie an. Doch häufig brächten diese Aktivitäten sie auch in künstlerischen Prozessen weiter und stifteten immer wieder einen Bezug zu den Lebenswirklichkeiten außerhalb der Kunst. Mit dem finanziellen Standbein „Lehrtätigkeit“ ist Franziska eine von vielen Künstlerinnen, wie die Umfrage „Die wirtschaftliche und soziale Situation bildender Künstlerinnen und Künstler“ von Marlies Hummel im Rahmen einer BBK-Expertise ergab. Im Jahr 2008 wurden zum vierten Mal bildende Künstlerinnen und Künstler aller Altersgruppen zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation befragt. Darin gab nahezu jeder zweite an, dass er sich sowohl aus Kunstverkäufen als auch aus anderen Einnah-

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mequellen finanziere. Eine der am häufigsten genannten Nebentätigkeiten ist die Lehre. Im Einnahmebereich zwischen 40.000 bis 60.000 Euro, die aus dem Verkauf von Kunstwerken und Lehrtätigkeit erwirtschaftet wurden, waren die Einkommen aus Lehre gegenüber denen aus Kunstverkäufen sogar nahezu doppelt so hoch. Mit zunehmendem Alter koste der Wechsel zwischen dem eigenen künstlerischen Schaffen und der Lehrtätigkeit immer mehr Kraft, sagt Franziska Rutz. Für sie werde etwa die Auseinandersetzung mit neuer Kameratechnik oder ständig neuen Programmen zur Bildbearbeitung als Vorbereitung auf ihre Kurse immer anstrengender. Zwischen Kunstmarkt und Unabhängigkeit Schwieriger als die Balance zwischen Nebentätigkeiten und Kunstschaffen sei für sie die Verbindung zwischen kreativem Tun und der eigenen Vermarktung und Organisation, die bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit schlucke. Mit inbegriffen sei dabei das Erstellen von Bewerbungen für Wettbewerbe und Ausstellungen sowie die Akquise neuer Kurse. Fünf Jahre nach Abschluss ihres Studiums befand sie sich in einer Krise, hin und her gerissen zwischen der Anpassung an den Kunstmarkt und der eigenen Arbeit. Zweifel an der Möglichkeit, die künstlerische Unabhängigkeit mit der Abhängigkeit gegenüber dem Markt, dem „Gedrängtwerden in eine Richtung“, in Einklang bringen zu können, stiegen auf. Sie plante auszusteigen und verbrachte von 1991 bis 1992 ein Jahr in Italien. Dann kamen doch die Entscheidung für das „Leben als Künstlerin“ und die Rückkehr in die Schweiz. Nach wie vor jedoch ist Unabhängigkeit mehr als eine Vokabel für Franziska Rutz, etwas, was sie so lange wie möglich versucht zu erhalten. Als extremes Beispiel nennt sie Goethe, über den sie gerade liest. Der sei aus Gegenleistung mit seinem Mäzen in den Krieg gezogen. So schlimm sei es ja glücklicher Weise nicht mehr, merkt sie an. Das Abwägen zwischen Nutzen und damit verbundenen Abhängigkeiten jedoch bleibt. Stipendien bieten oftmals die Chance, an andere Orte zu gehen, jedoch immer für begrenzte Zeit. Gerade für Studienabgänger, meint Franziska Rutz, sind sie eine gute Möglichkeit. Sie selbst habe diese in einer Zeit, in der sie Stipendien hätte erhalten können, nicht wahrgenommen. Nun, mit 53 Jahren, ist sie aus dem Stipendien-Alter heraus. Darüber hinaus sei es in

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ihrem jetzigen Lebensabschnitt schwer möglich, die Stadt zu wechseln, eine Bedingung, die an viele Stipendien geknüpft sei. Dann müsste sie alle Kurse umlegen oder absagen und wisse nicht, ob sie die Lehrtätigkeit nach ihrer Abwesenheit wieder aufnehmen könne. Schließlich gäbe es viele, die ihren Job sofort übernehmen würden. Auch ihre Schweizer Staatsbürgerschaft stand einer Bewerbung in Deutschland schon einmal im Weg. Eine Ausnahme im Fördersystem bildet in Hinsicht auf das Lebensalter von Künstlerinnen der Gabriele Münter Preis, der europaweit als einziger explizit an Künstlerinnen über vierzig verliehen wird. Bei Preisen sei es etwas anders als bei Stipendien, weiß die Künstlerin aus Erfahrung. Da bewerbe sie sich ganz gern mal, wobei zunehmend Bewerbungsgelder anfielen und das sei ihres Erachtens nicht gut – zumindest so lang es nicht wenigstens Freikataloge dafür gäbe. Förderungen für Projekte und Kataloge habe sie selten bezogen, da die Bewerbungen sehr zeitintensiv seien und die Konkurrenz hoch ist. Sie produziert und finanziert ihre Kataloge in der Regel selbst. Mehrfach betont sie den Widerwillen gegen das Sich-Vermarkten. Fünf Jahre lang organisierte eine Galeristin in Berlin für sie einmal jährlich eine Ausstellung und verkaufte in der Regel einige Bilder. Derzeit besteht diese Verbindung nicht und sie müsste sich eigentlich nach neuen Galeriekontakten umsehen, sagt sie und fügt hinzu: „Ich mach’s auch ungern, da arbeite ich lieber an einem neuen Bild, als mich darum zu kümmern.“ Die disziplinierte Kunst des Arbeitsalltags Ihr Arbeitsalltag beginnt morgens um 9 Uhr mit dem Anschalten des Computers. Bis mittags arbeitet sie daran; nach einer kurzen Pause begibt sie sich in ihr nahe gelegenes Atelier, das sie sich glücklicherweise aufgrund der geringen Miete leisten kann. Zunächst sei es eine Notlösung gewesen, den Computer in der Wohnung zu belassen, da das Atelier im Winter sehr kalt werde und die Luft aufgrund von Umbauarbeiten staubig sei. Inzwischen sei aus der Notlösung eine akzeptable Variante geworden, die ihr die Trennung zwischen Computer- und haptischer Arbeit im Atelier ermögliche. Kunst sei für sie wie ein Handwerk, das man immer trainieren müsse, nicht allein deswegen verordne sie sich einen disziplinierten Arbeitsrhythmus.

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Kunst versus Krankheit und Alter So strukturiert der Arbeitsalltag von Franziska Rutz ist – derzeit ist es anders. Nach einer größeren Operation ist die Künstlerin für mehrere Wochen krankgeschrieben. Eine Zeit, in der sie zwar zu Hause ist und Ruhe hat, jedoch die Umstände der Situation deutlich spürt: „Krank kann man schöpferisch nicht tätig sein. Man darf einfach nicht krank werden!“ Sechs Wochen beträgt die Zeit, während der die Künstlersozialkasse (KSK) finanzielle Hilfe leistet. In ihrem Fall beliefe sich das Krankengeld auf etwa acht Euro am Tag, da sie am Existenzminimum lebt und sich das Krankengeld der KSK aus 70 Prozent der durchschnittlich letzten zwölf Monatsbeiträge berechnet. In längeren Krankheitszeiten muss man von guten Zeiten zehren, wenn es die vorher gab, man hat eine Familie oder Freunde im Hintergrund oder, wie bei Franziska Rutz und vielen anderen Künstlern, Partner oder Partnerin, die einen über Wasser halten. Franziska Rutz hat aufgrund ihrer vorherigen Berufstätigkeit in der Schweiz Ansprüche auf Altersbezüge in Höhe von etwa 500 Euro im Monat. Eine Sicherheit, die mit den Ansprüchen aus der rein künstlerischen Tätigkeit nicht zu vergleichen ist. Markant wird dieser Zusammenhang mit einem erneuten Blick auf die Studie Hummels: Nahezu 50 Prozent der befragten Künstlerinnen beziehen ihre Altersbezüge aufgrund anderer, nicht künstlerischer Tätigkeiten. Kunst und Kulturpolitik Franziska Rutz denkt gesellschaftsnah und hält Sonderförderungen für Künstler als sozial schwer legitimierbar. Natürlich sei die KSK gut und wichtig. Generell sei sie jedoch eher dafür, ein Bürgergeld für alle einzuführen anstatt Künstler gesondert zu unterstützen. Ihrem Erachten nach ist dieses Anliegen gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen schwer zu rechtfertigen. Ihre Wünsche bezüglich kulturpolitischer Förderungen auf kommunaler sowie auf Bundesebene äußert sie eher zurückhaltend. Sie betreffen mehr und bessere Ausstellungsmöglichkeiten sowie Förderungen für bezahlbare Atelierräume. Hiermit nennt sie zwei der laut BBK-Umfrage am häufigsten genannten Faktoren, die einer Verbesserung bedürfen. Beratungsstellen, die internationale Ausschreibungen und Preise transparent für Künstler aufbe-

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reiten, sowie bessere Förderungen für Kataloge wären darüber hinaus wünschenswert. Als einen der wichtigsten Aufträge der Kulturpolitik sieht sie die allgemeine Förderung des Kunstverständnisses. Den Schutz des Urheberrechtes im Zuge der Verbreitung neuer Medien sieht Franziska Rutz im Gegensatz zu anderen Kollegen nicht ganz so eng. Nur an Ausschreibungen von kommerziellen Unternehmen, deren Ziel es ist, Ideen und Vorschläge für ihre Interessen zu realisieren ohne eine angemessene Vergütung zu zahlen, nehme sie generell nicht teil. Kunst und ihre Bedeutung für das Leben Kunst und Leben sind für Franziska Rutz miteinander verwoben. Kunst solle nicht nur in Museen, sondern als Alltagsgegenstand, mitten im Leben zu finden sein, so ihr Wunsch. „Ich finde es wichtig, dass Künstler durchaus gewillt sind, in der Gesellschaft zu sein und dass man eben auch kreativ tätig sein kann, wenn man Normalbürger ist.“ Das sich wandelnde Bild vom Künstler begrüße sie, da dieses immer weniger von Musen und Drogenexzessen geprägt sei. Zwar brächten auch solche Lebensweisen die eine oder andere Arbeit hervor, jedoch sei dies für künstlerische Kreativität auf Dauer nicht produktiv. Mit Blick auf das derzeitige Künstlerimage merkt sie kritisch an, dass dieses zu eventlastig sei: „Man muss sich fast schon performen, um Erfolg zu haben.“ Für Franziska Rutz ist die Nähe ihrer Kunst zum Leben von elementarer Bedeutung. Und diese Nähe besteht nicht nur darin, dass ihr Computer im Wohnzimmer der Altbauwohnung und damit mitten im Lebens-Raum zu finden ist: Im Zentrum der „künstlerischen Auseinandersetzung steht der Mensch in seinen verschiedenen Lebenswelten und Realitäten. In welchen Verhältnissen und Bezügen er lebt, was ihn erfüllt, was sein Sosein prägt und mit welchen Verhinderungen er zu kämpfen hat, das interessiert mich“, ist auf ihrer Homepage zu lesen. Sie thematisiert die soziale Rolle der Frau und die Globalisierung in der modernen Welt, indem sie ihren Blick nicht nur auf ihr nächstes Umfeld beschränkt, sondern beispielsweise chinesische Lebensrealitäten im Projekt „High Speed Urbanism“ in ihren Fotos collagiert. Kunst gehört für sie in den Lebensalltag und das beginnt mit einem erschwinglichen Kunstwerk statt einem IKEA-Druck an der Wand. Ihr gefällt der Ansatz des „mobilen ateliers“ und ihre Erfahrung zeigt, dass die Berührungsängste von Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen eindeutig

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geringer seien. „In einer visuell überfrachteten Welt ist es umso wichtiger, dass Kunst eine Gegensteuerung auf das Wesentliche, auf das Sein übernimmt“, sagt Franziska Rutz. „Ich denke, sonst könnte ich aufhören ...“, sagt sie noch dazu und lächelt.

„Gott ist für die Finanzen zuständig“ Porträt von Sarah Haffner J ULIA I LLME R

Sarah Haffner wurde 1940 in Cambridge, England, geboren. Ihre Eltern Sebastian und Erika Haffner waren 1938 dorthin emigriert. Ihr neun Jahre älterer Halbbruder Peter, der Sohn aus der ersten Ehe der Mutter, habe sie „darauf gebracht“, Malerin zu werden, erzählt sie rückblickend. „Er hat angefangen, in Wimbledon Kunst zu studieren, und da hat er mich auch manchmal losgeschickt, um Farben zu holen. Er hat mir immer erzählt, woran er gerade arbeitet, wenn ich in sein Zimmer kam. Er hat bemerkt, dass ich begabt bin, und als ich 13 war, hat er zu meinen Eltern gesagt, sie sollen mir Ölfarben zu Weihnachten schenken.“ Ein Jahr später, 1954, zog sie mit ihrer Familie nach West-Berlin. „Ich habe mich hier in der Schule sehr unwohl gefühlt, nachdem wir nach Deutschland umgezogen waren. Nach zwei Jahren hatte ich es satt. Ich sah für mich nur zwei Möglichkeiten: Entweder gehe ich nach England zurück auf ein Internat und mache Abitur oder ich bleibe in Deutschland, dann gehe ich von der Schule ab und studiere Kunst. Es gab darüber immer wieder Auseinandersetzungen mit meinem Vater. ‚Kunst, da wirst du nie von leben können. Malerei ist doch kein Beruf! Mach doch Grafik oder Restauration‘, meinte er. Na ja, ich hab mich durchgesetzt. Hat Monate gedauert, die Auseinandersetzung. Aber dann bin ich runtergegangen von der Schule.“ Zunächst besuchte sie ein Jahr lang die Meisterschule für das Kunsthandwerk in Berlin. Schon bald riet ihr einer ihrer Lehrer: „Sie bleiben hier nicht lange. Sie stellen hier eine Mappe zusammen und dann bewerben Sie sich an der Kunsthochschule.“ Mit 17 Jahren begann sie ihr Kunststudium

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an der Hochschule für bildende Künste (später HdK, heute UdK). Nach der Grundlehre kam sie in die Fachklasse für Malerei des Professors Ernst Schumacher. „Dummerweise bin ich mit 19 schwanger geworden (lacht). Und damals war das so, wenn man schwanger wurde, dann ging man wieder runter.“ 1960 wurde ihr Sohn David geboren. „Dann habe ich nachts gearbeitet. Also, ich habe nicht aufgehört zu arbeiten, sondern gleich weitergemacht. So bis ein oder zwei Uhr morgens, und um sieben stand ich wieder auf, um meinen Sohn zu versorgen.“ 13 Jahre später, im Jahre 1973, holte sie ihren Abschluss an der Kunsthochschule nach, gemalt hat sie immer. Nach der Studentenbewegung 1969 beschloss Sarah Haffner, wieder nach England zu ziehen, „mit dem Ziel vor Augen, endlich ordentlich Geld zu verdienen und Abstand zur dogmatisch gewordenen Studentenbewegung zu bekommen. Ich habe gedacht, ich muss jetzt Ordnung in mein Leben bringen und in Deutschland wird das ohne formale Qualifikation nichts.“ Zuvor war sie auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen und hatte Geld durch privaten Englischund Kunstunterricht dazu verdient. Sarahs Bruder Peter unterrichtete seit 1960 an der Watford School of Art. Nachdem Sarah dort einige Vorträge gehalten hatte, bot man ihr einen Lehrauftrag für drei Trimester an. 15 Monate dauerte der Aufenthalt in London, dann kehrte Sarah Haffner mit ihrem Sohn nach Berlin zurück. „Die Studentenbewegung war zwar dogmatisch geworden, aber ich war zu sehr von ihr geprägt, um mich mit der Dinner-Party-Kultur und dem Smalltalk zurechtzufinden, auch in England fühlte ich mich als Außenseiterin. Im Nachhinein muss ich sagen, die Entscheidung war richtig. Ich weiß nicht, ob ich in England von der Malerei hätte leben können. In England gibt es keine Tradition, dass die Bürger die Kunst unterstützen wie zum Beispiel Kunstvereine, die in Deutschland schon im 19. Jahrhundert gegründet wurden. Und in Deutschland war es so, dass fast jeder Architekt, Zahnarzt oder Psychologe, der was auf sich hielt, irgendwelche Originale oder zumindest Grafiken in seinem Wartezimmer hängen hatte.“ Ihre Erfahrung in der Lehre verhalf ihr kurz nach ihrer Rückkehr 1971 zu einer Anstellung bei der 1. Staatlichen Fachschule für Erzieher. Sie unterrichtete dort zehn Jahre das Fach „Kinderspiel und Arbeit“ in einem fes-

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ten Arbeitsverhältnis und begann nach sieben Jahren, ihre Stelle zu reduzieren. Lehre und sonstiges Engagement in Schule und Gewerkschaft waren schwer mit regelmäßiger malerischer Tätigkeit vereinbar. 1975 arbeitete sie, nach vergeblichen Versuchen einer betroffenen Nachbarin über Polizei und Ämtern zu helfen, an einer Fernsehdokumentation über Frauenmisshandlung und englische Frauenhäuser, was die Finanzierung des bundesweit ersten Frauenhauses in Berlin nach sich zog, in dem Sarah Haffner sechs Monate ehrenamtlich tätig war. In Bezug auf die Studentenbewegung sagt die Künstlerin heute: „Wir hatten alle dieses Über-Ich und das Gefühl, gesellschaftlich etwas tun zu müssen. Und nachdem ich das in Bewegung gesetzt hatte, hatte ich das Gefühl, mit gutem Gewissen malen zu können.“ Im Berliner Künstlerhaus Bethanien lernte Sarah Haffner Siebdruck. Denn nach zwei Jahren, in denen sie sich, neben der Arbeit in der Schule zunächst als Filmautorin, als Herausgeberin eines Buches und mit der Mitarbeit im Frauenhaus ausschließlich dieser Thematik Missbrauch gewidmet hatte, hatte sie das Gefühl, „du kannst nicht mit dem Malen wieder da anfangen, wo du vorher warst, du musst was Neues finden.“ Mit 41 Jahren gab sie ihre Tätigkeit an der Fachschule für Erzieher ganz auf. Erleichtert wurde diese Entscheidung durch den Lehrauftrag, den sie ein Jahr zuvor von der HdK angeboten bekommen hatte. „Mit dem Lehrauftrag hatte ich die Miete für die Wohnung. Und damit habe ich dann den Sprung gewagt, die feste Stelle aufzugeben. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Es hat ‚Platsch‘ gemacht, und dann bin ich geschwommen (lacht). Ich habe gedacht, hoffen wir, dass es gut geht. Und es ist gut gegangen (lacht), aber es hätte genauso in die Hose gehen können, und eigentlich bin ich ganz stolz. Ich war ja immerhin schon 41, als ich meine Sicherheit aufgegeben habe. Im Nachhinein muss ich sagen, es war mutig, aber Gott sei Dank hab ich es gemacht.“ Ihren Lebensunterhalt finanzierte sie nun durch Ausstellungen und den Verkauf von Bildern und Grafiken. Berufskünstlerin Sarah Haffner malt großformatige Bilder, die sie selbst nicht selten überragen. „Nicht sehr markttauglich“, wie sie trocken bemerkt. „1985 war ich eingeladen, zehn Tage auf einem Hausboot in Norddeutschland zu verbringen. Kurz bevor ich abfuhr, hab ich gedacht, es könnte ja auch regnen, und schmiss noch irgendwas ins Auto rein, aber ohne viel zu überlegen was:

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Papier, Gouachefarben und Ölkreiden. Und tatsächlich hat es die ganze Zeit geregnet und ich stand auf dem Hausboot und hab immerzu das Wasser in dieser Mischtechnik gemalt, die durch Zufall zustande gekommen war. Ich kam mit sechs Bildern nach Berlin zurück, und das hat enorm was ausgelöst. Ich habe zwar weiterhin meine großen Ölbilder gemalt, aber diese kleinen Bilder – das war viel lockerer, viel spontaner, wie eine Art kontrolliertes Herummatschen. Und das wurde dann mein hauptsächliches finanzielles Standbein. Seither habe ich etwa 260 von diesen abstrahierten Landschaften gemacht. Und davon habe ich acht bis zehn im Jahr verkauft. Die gingen weg wie warme Semmeln. Als ich anfing, sie zu malen, kosteten sie 1500 Mark, und im Laufe der Zeit wurden sie immer teurer. Zum Schluss kosteten sie 4000 Mark, und sie wurden immer noch sehr gut gekauft. Wenn ich Glück hatte, verkaufte ich noch ein oder zwei von den großen Bildern im Jahr und davon konnte ich gut leben.“ Ungefähr 2000 Mark netto monatlich brauchte Sarah Haffner für ihren Lebensunterhalt. Sie habe sich schon eingeschränkt, sagt sie, und habe beispielsweise etliche Versicherungen gekündigt. „Große Sprünge“ konnte sie keine machen, aber sie habe auch nicht schlecht gelebt, resümiert sie. Die meisten Bilder hat Sarah Haffner privat verkauft. Sie wollte sich nie „von einem Galeristen abhängig machen“, da Galeristen 40 oder 50 Prozent des Preises für sich beanspruchen. Trotzdem gelang es ihr, ihre Arbeiten in vier bis fünf Ausstellungen im Jahr zu zeigen und ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Wenig Selbstorganisation sei nötig gewesen, sagt Sarah Haffner. Die meisten Ausstellungen seien ihr angeboten worden, wie auch schon die erste, 1965 in der Berliner Galerie Benjamin Katz. Sarah Haffner betont, wie wichtig positive Kritiken für ihre Anerkennung als Künstlerin waren, die oft weitere Ausstellungsmöglichkeiten nach sich zogen. 1985 arbeitete die Künstlerin nach einem strikten Zeitplan an Bildern für eine geplante größere Ausstellung. Doch bei den letzten Bildern machte sich bei ihr das Gefühl breit, „es hat sich hier was totgelaufen, und wenn die Ausstellung vorbei ist, musst du was anderes finden“. Sarah Haffners nächstes Projekt, Monate nach der Ausstellung, war eine Arbeit für eine Galerie in Hamburg. „Ich fing zweimal an: ein konventionell komponiertes Selbstporträt und verwarf es wieder. Es war totlangweilig. Beim dritten Versuch habe ich nur das gemalt, was mich wirklich interessierte: eine nachdenkliche Haltung und ein lächelndes Gesicht, ausschnitthaft, stark vergrößert. Es entstand eine ungewöhnliche Komposition für ein Porträt mit

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einer durchgehenden Diagonale: die schräge Lilie zwischen Hand und Gesicht. Das war der Anfang eines neuen Weges.“ Diese Situation, die sie als „große Krise“ bezeichnet, war eine „inhaltliche und finanzielle Bedrohung“ für sie, „weil ich nicht wusste, wie es weitergeht“. Ihr gelang der Übergang von „additiven, stark am Gegenstand orientierten Bildern“ hin zu „tektonisch gebauten, abstrahierten und stimmungsbetonten Arbeiten. Jetzt konnte ein Gesicht blau oder grün sein und bekam dadurch etwas Geheimnisvolles, Melancholisches.“ Statt wie zuvor häufig mehrere Schichten Öl auf die Leinwand aufzutragen, malte sie nun die ersten Schichten eines Bildes mit Tempera. Diese Veränderung der Technik in Verbindung mit der Veränderung des Gegenstandes half ihr über die Krise hinweg. Jahre später experimentierte sie wieder mit verschiedenen Techniken und fand ihre zurzeit bevorzugte Mischtechnik, Tempera mit Pastell. Sarah Haffner betont, dass finanzieller Druck Krisen zwar verstärken könne, diese aber andererseits auch dazu beitrügen, „am Ball zu bleiben. Ich musste, als ich von der Kunst gelebt habe, drei bis fünf Ausstellungen im Jahr machen. Und dann bist du immer dabei, für irgendeine Ausstellung zu arbeiten. Ich mochte gern eine Deadline haben.“ „Wenn man Freiberufler ist, das merkt man ziemlich schnell, muss man an Gott glauben. Gott ist für die Finanzen zuständig, und wenn du ordentlich glaubst, dann klappt es auch schon (lacht). Diese 14000 Mark, die ich noch auf der Kante hatte von dem Schuljob, habe ich als meine stille Reserve betrachtet. Ich hab gedacht, da gehst du nicht ran, wenn es irgendwie geht. Und die laufenden Kosten musst du verdienen. Und immer, wenn ich dachte, jetzt weiß ich nicht, wie es weitergeht, dann kam irgendwas. Man konnte fast die Uhr danach stellen. Einmal dachte ich, jetzt sieht es aber ziemlich mau aus, jetzt musst du doch an deine Reserve gehen, da ruft eine Frau aus Wien an und sagt. „Ich habe einen Katalog von Ihnen gesehen und bin bald in Berlin. Kann ich mal kommen und gucken?“ Und dann hat sie gleich drei Bilder gekauft. Solche Sachen passierten, völlig aus dem Nichts. Und als so etwas zwei oder drei Mal passiert war, wusste ich, du kannst dich drauf verlassen, dass irgendwas passiert. Und das ist die einzige Einstellung, mit der man das machen kann. Wenn man irgendeine Sicherheit haben will oder sagt, es ist wichtig, dass ich das, das, das und das alles habe und ohne kann ich nicht leben, dann hat es keinen Zweck.“ Dass Sarah Haffner nicht mit einem festen Einkommen rechnen konnte, empfand sie selten als Bedrohung. Die Freiberuflichkeit löste im Gegenteil

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„ein enormes Gefühl von Freiheit“ bei ihr aus. Der Glaube daran, „über die Runden zu kommen“, wurde bekräftigt durch die zu einer gewissen Zeit wirtschaftlich florierende Situation in West-Berlin. „Es war so, dass das Geld bei den bürgerlichen Leuten locker saß. Und wenn es schlimm wurde, musste ich im Bekanntenkreis nur verlauten lassen, dass ich gerne wieder eine Arbeit verkaufen würde, und dann war schon irgendjemand da.“ Sarah räumt ein, dass es „manchmal ganz schön schwer“ sei, während man eine wirtschaftliche Krisensituation erlebe, „aber im Rückblick habe ich als Freiberuflerin ein gutes Leben gehabt. Ich hab die Zeit erlebt, wo es möglich war, relativ unkompliziert davon zu leben.“ Nach dem Fall der Mauer „Richtige Existenzangst“ hatte Sarah, „nachdem die Mauer gefallen war und die Leute ihr Geld festhielten. Es gab auf einmal ungefähr 2000 professionelle Künstler mehr in der Stadt, aber gleichzeitig brach dieser ganze Kunstmarkt der bürgerlichen Leute zusammen, weil die Zeiten unsicher geworden waren. Viele hielten ihr Geld fest oder sie kauften sich irgendwo eine Datsche und steckten das Geld da rein. Für Künstler und Künstlerinnen war das eine schlimme Zeit“, sagt Sarah Haffner heute. Sie selbst verdiente im Jahr 1992 lediglich 7000 Mark netto. Doch ein Jahr später passierte „ein Wunder“. Der Kulturredakteurin der Berliner Zeitung zuliebe, die zuvor eine Ausstellung von Sarah Haffner „sehr schön besprochen“ hatte, stellte die Künstlerin im Foyer der Berliner Zeitung aus, obwohl sie die Räume „ziemlich öde“ fand. Wieder veröffentlichte die Berliner Zeitung eine halbseitige Rezension. „Das hat ein Schweizer Sammler im Flugzeug gelesen, ist ausgestiegen, in die Ausstellung gegangen und hat neun Bilder gekauft! So was gibt es einfach nicht.“ Ein weiteres Bild kaufte die Berliner Zeitung, ein anderes ein Psychologe, der Sarah Haffner regelmäßig Arbeiten für seine Sammlung abkaufte. „1992 habe ich also 7000 Mark verdient, und 1993 habe ich 170.000 Mark verdient, und damit konnte ich dann mehrere Jahre leben.“ Auf die Frage, ob sie öffentliche Förderungen erhalten habe, führt sie Ankäufe der Berlinischen Galerie, des Deutschen Historischen Museums sowie des Jüdischen Museums und eine Auftragsarbeit für die damalige Staatliche Kunsthalle Berlin an. Preise oder Stipendien habe sie nicht gewonnen. Als sie ihre Karriere als Berufskünstlerin begann, sei sie für viele

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Stipendien bereits zu alt gewesen, und in der Zeit zuvor war eine Bewerbung um Unterstützung wegen ihres „Brotberufs“ nicht nötig. „Das ist eigentlich ein Problem. Frauen haben meistens einen ganz anderen Lebenslauf als Männer, selbst wenn er nicht so unordentlich ist wie meiner. Frauen kriegen ja meistens Kinder um die 30 und haben dann erst einmal mit den Kindern zu tun. Viele Stipendien richten sich aber nur an Künstler oder Künstlerinnen bis 35. Ich finde, dass die Lebensläufe stärker in Betracht gezogen werden sollten.“ Sarah Haffner war aktives Mitglied im Berufsverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK). Häufig saß sie in Wettbewerbsjurys der Arbeitsgruppe Kunst am Bau des BBK. Die Mitgliedschaft im BBK war für Sarah Haffner nicht nur die Möglichkeit, kulturpolitisch mitzuwirken, sondern „auch eine verlässliche Einnahmequelle in den 70ern.“ In den neunziger Jahren sei sie dennoch aus dem BBK ausgetreten und seither in keinem Verein mehr organisiert. Sarah Haffner kritisiert die „bürokratischen, machtorientierten Systeme“ von Vereinen wie dem BBK. „Es war, wie es immer ist in solchen Vereinigungen, Parteien, Gewerkschaften“, sagt sie, „das Sagen haben die Funktionärstypen und es gibt kaum Möglichkeiten der Kontrolle.“ Die späte Schaffensphase Sarah Haffner wurde im Jahr 2010 siebzig Jahre alt. Als ihr Vater 1999 starb, machte sie eine Erbschaft, womit sie nicht mehr auf Verkäufe ihrer Bilder angewiesen war. Dadurch kann sie es sich seither leisten, mit dem Arbeiten aufzuhören, wenn die Konzentration nachlässt, und muss sich nicht mehr wie früher zwingen, weiter zuarbeiten, wenn sie nicht mehr ganz bei der Sache ist. Dass sie nicht mehr von ihren Arbeiten leben muss, sei „ein enormes Glück“, sagt sie. Sie erzählt von Kollegen in ihrem Alter, die „nicht mehr so leicht an Ausstellungen rankommen“ und resigniert das künstlerische Arbeiten aufgegeben haben. Sarah Haffner hat die Anzahl ihrer Ausstellungen reduziert. „Manchmal eine, manchmal zwei und manchmal gar keine.“ Dies sei in ihrem Fall eine bewusste, persönliche Entscheidung, erzählt sie, und hinge mit dem Zeitaufwand zusammen, den eine Ausstellung verursache. „Eine Ausstellung macht soviel Arbeit wie ein Bild. Und da male ich lieber ein Bild (lacht).“ Doch auch Sarah Haffner, die immer noch Anerkennung für ihr künstlerisches Arbeiten findet, leidet

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darunter, dass in der Öffentlichkeit „vor allem die jungen Künstler interessant sind. Es wird mit der Zeit nicht einfacher. Ich finde, ältere Künstler haben es nicht leicht. Die gelten als von gestern.“ Mit ihrem Eintritt in die Selbständigkeit, wurde Sarah Mitglied der Künstlersozialkasse (KSK). „Wenn ich davon leben müsste, dann sähe es schlimm aus“, sagt sie in Bezug auf den sehr geringen Rentenanteil, den sie durch ihre Einzahlungen in die KSK heute aus der Rentenkasse erhält. „Ich kriege jetzt um die 700 Euro eigene Rente und aus einer Lebensversicherung, die ich angelegt habe, kriege ich noch mal 500 Euro. Das wäre das, wovon ich jetzt leben müsste, wenn ich keine Erbschaft gemacht hätte.“ Der deutlich größere Rentenanteil ergibt sich aus der früheren Tätigkeit im öffentlichen Dienst. Sarah Haffner hat die Künstlersozialkasse für sich als eine Möglichkeit der Minimalabsicherung betrachtet – mehr aber auch nicht. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass das eine ausgesprochen seriöse Sache ist“, sagt sie, und sie hat „noch keine richtige Meinung dazu, ob Künstler generell gefördert werden müssen“. Förderkriterien sollten ihrer Meinung nach keine Abschlüsse an Kunsthochschulen sein, sondern eher „die Eigenständigkeit, die Ernsthaftigkeit und die Beharrlichkeit der Arbeit.“ „Es ist ein unglaubliches Privileg, künstlerisch arbeiten zu können“, sagt Sarah Haffner. Ihr sei es gelungen, von ihrer Kunst leben zu können und dabei nicht auf öffentliche Förderung angewiesen zu sein. Ihre Kunst habe sich nie an den Trends des Kunstmarktes orientiert und sie habe sich „nie verbiegen müssen“, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Ihr herausragendes, anerkanntes Werk und eine wirtschaftlich florierende Situation führten zu ausreichenden Verkäufen von Bildern. Durch Ausstellungen und positive Kritiken derselben konnte sie sich in der Kunstszene fest etablieren. Ihre zuversichtliche Art und Bereitschaft sich, wenn es nötig ist, in ihrer Lebensweise zu beschränken, haben zu diesem gelungenen Künstlerleben beigetragen. Selbst etwas ungläubig erzählt die Künstlerin von vielen positiven Zufällen und Begegnungen, die ihr beispielsweise unerwartet Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten einbrachten. Das Eintreten solcher Zufälle und das Vertrauen darauf hat ihr viel Selbstmanagement erspart. Sarah Haffner findet, sie habe „enorm viel Glück gehabt“, und ist sich bewusst, dass ein solch reibungsarmes, selbstverständliches Leben als Künstlerin nicht der Normalfall ist.

Film und Fernsehen

„Selbst der Wetterbericht ist teurer als ein Dokumentarfilm“ Porträt von Thomas Frickel S TEFANIE M RACHACZ

Thomas Frickel, 1954 in Mainz geboren, ist Autor, Regisseur und Produzent von kurzen und programmfüllenden Dokumentarfilmen. Sein Film „Der Störenfried“ war 1993 zum Deutschen Filmpreis nominiert, außerdem erhielt er von der Jury der Evangelischen Filmarbeit die Auszeichnung „Film des Monats“. Neben vielen anderen Filmproduktionen wird sein Dokumentarfilm „Deckname Dennis“ von 1997, der mehrere Filmpreise erhielt, besonders gewürdigt. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit ist Frickel seit 1986 geschäftsführender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK), in der er die Interessen der Filmschaffenden vertritt. In dieser Funktion gehört er auch dem Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt (FFA) an und ist im Verwaltungsrat der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst tätig, die Regisseuren, Produzenten und anderen künstlerisch tätigen Filmschaffenden Vergütungen für die Zweitverwertung ihrer Arbeiten zahlt. Frickel vertritt hier die Interessen der Dokumentarfilmproduzenten. Derzeit ist er einer der Sprecher der Sektion Film/Medien des Deutschen Kulturrats, 1996 hat er das Europäische DokumentarfilmNetzwerk EDN mitbegründet. Vor kurzem ist er in den Beirat der Künstlersozialkasse (KSK) berufen worden, deren Tätigkeit er sowohl als Versicherter wie auch als abgabepflichtiger Filmproduzent kennt. Thomas Frickel hat Germanistik, Publizistik, Soziologie und Orientalistik studiert. Das

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Studium finanzierte er durch journalistische Arbeiten für lokale und überregionale Zeitungen. Wie kam Thomas Frickel zum Filmemachen? „Ich hab das nie systematisch gelernt, ich bin sozusagen ein Seiteneinsteiger. Mit 14 Jahren habe ich zu meiner Konfirmation Geld geschenkt bekommen, davon wurde das erste Filmmaterial gekauft. Zusammen mit Freunden haben wir damals in der Schule eine Filmgruppe aufgebaut und die Super-8-Filme, die wir gedreht haben, haben wir dann gegen kleine Münze in der Aula vorgeführt.“ Erste Festival-Erfahrungen sammelte die Gruppe beim „Fest der jungen Filmer“, einem jährlichen Treffen im westfälischen Werl, welches von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Jugendfilmclubs ausgeschrieben wurde. Dort entstand schon in den siebziger Jahren ein bundesweites Netzwerk von Filmbegeisterten. „Aus diesem Kreis kamen einige, die noch heute in der Branche einen Namen haben.“ Zum Beispiel der erfolgreiche Dokumentarfilmer Pepe Danquart oder der Trickfilmer Michael Schaack, später bekannt durch seine „Werner“-Serie. Für sie alle war das „Fest der jungen Filmer“ künstlerisches Experimentierforum und Sprungbrett, aber auch ein Forum der ersten kritischen fachkundigen Auseinandersetzung mit dem Medium Film. „Zum einen war dort die inzwischen mangels Material weitgehend verschwundene Super-8-Bewegung präsent. Ebenso aber auch die ersten Videokooperativen, zum Beispiel die Medienwerkstatt Freiburg. Aber auch andere Leute traf man später in der Branche wieder, zum Beispiel als Medienvermittler. Einer gehört beispielsweise zum engeren Team des Kommunalen Kinos Nürnberg.“ Was muss(te) er tun, um Filme machen zu können? Frickel ist durch sein Interesse und das selbständige Umsetzen von Filmideen in die Branche „gerutscht“. Und er empfindet diese Offenheit für „Quereinsteiger“ als großen Vorteil. „Es hat mich nie jemand nach meinem Abschluss gefragt. Jeder hat sich nur die Filme angeguckt und mich daran gemessen. Und das ist gut, wenn man an dem gemessen wird, was man vorlegt, was man kann und was man tut. Und ich glaube, das ist auch ein großes Privileg.“ Die spezialisierende Ausbildung an einer Filmhochschule ist für die Filmlaufbahn also nicht unabdingbar. Von kreativen, filmästheti-

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schen und künstlerisch-handwerklichen Voraussetzungen einmal abgesehen, kann also Filme machen, wer es sich leisten kann. Denn eine qualitative Filmproduktion ist teuer, da es neben den Kosten für das Equipment viele unterschiedliche Aufgaben und Arbeitsschritte zu tun gibt. „Ich bin ja eines der letzten Fossilien, die alles machen. Filmemachen ist normalerweise ein arbeitsteiliges Geschäft. Da gibt es für jeden Bereich Leute, die nur dafür zuständig sind. Ich mache nicht aus Überheblichkeit alles selbst, sondern weil ich es mir mit meinen Budgets nicht leisten könnte, zum Beispiel für fünfzig oder sechzig Drehtage einen Kameramann zu bezahlen, der 350 oder 400 Euro am Tag kostet. Ich schreibe also meine Projekte selbst, ich bin Autor, Regisseur, mein eigener Kameramann und schneide die Filme auch noch. Und der Gipfel der Vermessenheit ist: Meinen Film ‚Deckname Dennis‘ habe ich auch selbst verliehen, selbst zum Publikum gebracht. Das lief übrigens ganz gut.“ Um eigene Projektideen durchsetzen zu können, braucht es Durchhaltevermögen, künstlerisches und auch organisatorisches Geschick. Besonders die Produktion von Dokumentarfilmen unterliegt gewissen Abhängigkeiten und Abläufen, die man nicht immer vorhersehen kann, die aber trotzdem mitfinanziert werden müssen. Dadurch werden Koordinationsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen oft auf eine harte Probe gestellt. „Eines lernt man in diesem Bereich: Wenn man ein Filmprojekt anbietet, muss man sich auch immer selbst verkaufen. Dabei darf man nicht zu triumphierend, aber auch nicht zu bescheiden auftreten.“ Dass es trotz Zähigkeit und gutem künstlerischen Produkt nicht leicht sei, an eine Förderung oder einen Sendeplatz zu kommen, sei vielen aus der Branche, gerade den jungen Nachwuchsfilmern von den Filmhochschulen, nicht bewusst, so Frickel. „Es gibt Kollegen, die meinen, dass die Redakteure in ihrem Redaktionsstübchen sitzen und nur auf ihr Projekt warten. Aber so ist es nicht. Für jeden Sendeplatz, der zu bestücken ist, gibt es vielleicht 80 oder 120 Vorschläge, und nur einer kann genommen werden.“ Bei Berufseinsteigern und Studenten der Filmhochschulen müsse also von vornherein „ein größeres Bewusstsein darüber hergestellt werden, wie schwierig es ist, sich als Filmemacher eine Existenz aufzubauen.“ „Es gibt immer welche, die schaffen das. Aber es wird auch immer andere geben, die es nicht schaffen. Und das hat nicht unbedingt damit zu tun, dass sie nicht gut sind, sondern damit, dass sie an bestimmten Kreuzwegen vielleicht die falsche Richtung eingeschlagen haben. Oder dass sie viel-

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leicht nicht so geschäftstüchtig sind wie andere.“ Denn von Glück und Talent allein ließen sich keine Filme herstellen. Daher muss Thomas Frickel, um seine Ideen verwirklichen zu können, viele Tätigkeiten ausüben, die mit dem Filmemachen an sich nicht direkt zu tun haben. Wie finanziert sich Thomas Frickel? Den Hauptanteil seines Einkommens bezieht Frickel zwar aus der künstlerischen Tätigkeit, welches das entscheidende Kriterium für die Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse (KSK) ist. Einen Teil erwirtschaftet er mit seiner Arbeit für die AG DOK, aber auch als freier Journalist, indem er für verschiedene Publikationen Artikel schreibt. Bei der Filmherstellung und Verwertung addieren sich die Gagen als Autor und Regisseur mit Erträgen aus öffentlichen Vorführungen in Kino oder Fernsehen, den Lizenzeinnahmen aus den DVD-Verkäufen seiner Filme, mit dem Verleih der eigenen Werke und den Auszahlungen der Verwertungsgesellschaften. Gerade die Verwertungsgesellschaften (wie zum Beispiel die VG Bild-Kunst), spielen im Gesamtgefüge künstlerischer Einkommen eine wichtige Rolle. Dort werden private Mitschnitte und andere Zweitnutzungen urheberrechtlich geschützter Werke vergütet. Regisseure, Produzenten, aber auch Kameraleute, Cutter oder etwa Szenenbildner erhalten für jeden gekauften DVDRohling oder jedes audiovisuelle Aufzeichnungsgerät einen Teil der Abgaben, die der Käufer dafür entrichtet. Für diese Wahrnehmungsberechtigten ist sie oft die einzige zusätzliche Einnahmequelle für Filme, deren Rechte sie ansonsten an Verwerter wie zum Beispiel Rundfunkanstalten abgegeben haben. Ein wichtiger Teil seines Einkommens resultiert aus seiner Geschäftsführertätigkeit für die AG DOK, ohne die er sich das Filmemachen nicht leisten könnte. Obwohl an das Amt viel Verantwortung geknüpft ist, wird es keineswegs so gut bezahlt wie vergleichbare Geschäftsführertätigkeiten in der Branche. Allerdings gibt diese Funktion Frickel die Möglichkeit, für die Interessen seines Berufsstandes einzustehen und sein politisches Engagement einfließen zu lassen. Als Frickel das Amt 1986 übernahm, betreute er 160 Filmemacher, heute sind es mehr als 870. Frickels Einkommen speist sich also aus einem Konglomerat verschiedener Tätigkeiten. Die vielen verschiedenen Aktivitäten erschweren zugleich die Festlegung auf eine genaue Berufsbezeichnung. „Ich sage

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manchmal, ich weiß gar nicht, was ich hauptberuflich mache.“ Andererseits kann er dadurch auch bewusst zwischen mehreren möglichen Angaben wählen. „Wenn ich nicht auffallen will, gebe ich Journalist an. Oft auch Regisseur.“ Ein regelmäßiges Einkommen von Beginn der Berufstätigkeit an hätte natürlich auch regelmäßige Abgaben für die Altersvorsorge ermöglicht. „Ich bin erst sehr spät darauf gekommen, dass man für seine Altersvorsorge etwas tun muss“, sagt Frickel. Er erhält von der Deutschen Rentenversicherung von Zeit zu Zeit Zwischenbescheide über seine finanzielle Perspektive. Darin wird ihm dann bescheinigt, dass er später mit einer Rente um die 500 Euro rechnen kann. Manche seiner Kollegen haben noch weniger. Und wie finanzieren sich seine Filme? „Vom Filmemachen allein konnte ich lange Zeit nicht leben. Wir haben die ja auch sehr idealistisch gemacht.“ Und diesen idealistischen Ansatz braucht es wohl. Denn das Geld, welches ein erfolgreicher Film einspielt, gelangt nicht unbedingt in die Tasche des Produzenten, sondern es wird oft in neue Projekte investiert. Ein wichtiges Finanzierungsinstrument ist auch die Referenzförderung, die als Investition und finanzielle Förderung für ein neues Projekt vergeben wird. Das ist zum einen ein nützlicher Katalysator für neue Projekte, die man ohne diese Unterstützung viel schwerer umsetzen könnte. Andererseits kann man von Zukunftsprojekten aber keine bereits vollzogene Arbeit bezahlen. Der Dokumentarfilm „Keine Startbahn West“ über den Ausbau der Startbahn am Frankfurter Flughafen, bekam eine solche Referenzförderung. Diese investierte Frickel mit Zustimmung seiner früheren Partner in den Film „Schlachtenbummel“, ein Projekt, das sich allerdings nur zu einem sehr geringen Teil durch Fördermittel realisieren ließ. „Dieser Film ist im Grunde genommen ohne Geld entstanden. Und weil es kein Geld gab, hat die ganze Sache über zehn Jahre gedauert.“ In solchen Arbeitsphasen verlassen sich die Künstler oft auf die Unterstützung von Kollegen, die diese finanzielle Situation kennen und trotzdem mitarbeiten, gegen Gagenrückstellung. Das heißt, dass die Filmproduktion zunächst ohne Entlohnung der Mitwirkenden vonstatten geht. Allerdings wird vereinbart, dass Gagen dann ausgezahlt werden, wenn der Film Geld einspielt. „Schlachtenbummel“ wurde letztlich auf der Berlinale 1989 in der Sektion „Neue deutsche Filme“ gezeigt. Erst gegen Ende des Jahres kam

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der Rundfunk auf Frickel zu. Da es in einer Reihe über den Ersten Weltkrieg zufällig noch einen freien Sendeplatz gab, kaufte der NDR den Film. Erst dann, nach sieben Jahren, konnte Frickel sein Filmteam bezahlen. 1997 erschien „Deckname Dennis“, den der Regisseur als seinen erfolgreichsten Film einordnet. In dem Kinojahr, in dem der Film 30.000 Kinozuschauer in der Abrechnung hatte, war Frickel wirtschaftlich am besten gestellt. „Ein Dokumentarfilm, der 30.000 Kinozuschauer in Deutschland hat, ist leider immer noch die Ausnahme. Wenn zum Deutschen Filmpreis heute dreißig Dokumentarfilme gemeldet werden, kann man davon ausgehen, dass nur drei oder vier davon überhaupt relevante Zahlen an der Kinokasse erreichen. Denn Erfolg ist nicht planbar. Es kann sein, dass man sich dafür entscheidet, Filme zu machen und dabei denkt, man wird in Cannes auf der Bühne mit Blumensträußen überhäuft und es passiert nie und man trägt immer nur die Kabel.“ Schon länger hat Thomas Frickel ein neues Projekt im Auge. Doch da er viel Zeit und Konzentration für die finanziell notwendige Arbeit als Vorsitzender der AG DOK aufbringt und es bereits einzelne Verzögerungen im Ablauf gab, zieht sich die Umsetzung des Filmprojektes in die Länge. Welche Arbeitsmöglichkeiten gibt es außerdem für Filmemacher? Da der große Durchbruch nur wenigen gelingt, müssen sich viele mit anderen Jobs und Projekten über Wasser halten. „Im Dokumentarfilmbereich gibt es manche Kolleginnen und Kollegen, die nebenbei eine Menge anderer Sachen machen müssen, sonst reicht es nicht zum Überleben. Die Kompromisse fangen damit an, dass man eigentlich das Kino im Kopf hat, aber das Geld nur beim Fernsehen verdienen kann. So arbeiten potentiell „große“ Regisseure für formatierte Sendeplätze oder manchmal sogar an Magazinbeiträgen und müssen froh sein, wenn sie eine gute Auftragslage haben, die sie sich immer wieder durch neue Auftragsannahmen erhalten müssen. Denn die Konkurrenz ist groß. Viele arbeiten als freie Mitarbeiter für den Rundfunk. Auch wenn sie dadurch immer wieder genötigt sind, Dinge zu tun, die sie gar nicht machen wollen und an der eigenen Projektarbeit gehindert werden.“ Neben denjenigen freien Mitarbeitern, die nur sporadisch für einen oder mehrere Sender arbeiten, oft selbst die Themen und Produkte anbieten und

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die sich folglich selbst auch viel mehr vermarkten müssen, gibt es im Fernsehbereich noch die festen freien Mitarbeiter, die regelmäßig für die gleiche Redaktion arbeiten und deren Aufträge oft von den Sendern selbst gestellt werden. Die Sender haben sich mittlerweile jedoch ein Kontingent angelegt, das regelt, wie lange ein freier Mitarbeiter überhaupt beschäftigt werden darf. Als konkrete Beispiele dafür, wie andere Filmemacher Geld verdienten, nennt Frickel: Bücher schreiben, Theaterregie führen, oftmals auch die Annahme von Lehraufträgen, Arbeiten als Kameramann oder Taxifahrer. Was muss sich aus Frickels Sicht strukturell verändern, um die Existenz des Künstlers verbessert zu sichern? Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen des Filmschaffens in Deutschland sind gut. So sieht Thomas Frickel, „dass wir eigentlich in der Filmbranche gut aufgestellt sind, vieles erreicht haben.“ In der Filmförderung ist der Dokumentarfilm dem Spielfilm gleichgestellt. „Nur beim Fernsehen treten wir seit Jahren auf der Stelle.“ Denn im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt der Dokumentarfilm zu kurz. Für die wenigen verfügbaren Sendeplätze gibt es tendenziell immer weniger Geld. Die Honorierung im Dokumentarfilmbereich liegt weit unter allen anderen Urhebervergütungen, die im Rundfunk gezahlt werden. In den letzten zwanzig Jahren, in denen die Gagen zum Beispiel für Produktionsleitung oder Kamera um mehr als 200 Prozent gestiegen sind, blieb die Steigerung für Dokumentarfilmautoren und Regisseure einstellig. Von den Produktionsbudgets ganz zu schweigen. „Im Blick auf die Bezahlung bilden wir unter allen Kreativen des Mediensektors das Schlusslicht. Selbst der Wetterbericht ist teurer als ein Dokumentarfilm.“ Wichtig wäre deshalb eine ständige Überprüfung der Leitidee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, vor allem der drei Säulen Bildung, Information und Kultur, die auch in den Staatsverträgen genannt sind. Obwohl der Dokumentarfilm im Kernbereich dieses Funktionsauftrages steht, wird er oft sträflich vernachlässigt. Die Qualitätsdebatte müsste deshalb nach Frickels Ansicht in der Öffentlichkeit noch viel intensiver geführt werden.

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Was ist für Thomas Frickel ein Künstler? Und was macht ihn aus? „Das Wort Künstler ist immer ein bisschen anspruchsvoll. Ich selbst würde es für mich nur zögernd als Selbstbezeichnung verwenden.“ Obwohl Frickel erklärt, dass es im Filmbereich Leute gibt, die sich als Künstler verstehen und ohne Zweifel künstlerisch arbeiten, zieht er es vor, den Künstlerbegriff anders zu verorten. „Wenn wir das mal von der formalen Seite aufdröseln, dann erfasst das Künstlersozialversicherungsgesetz einen ganz breiten Bereich von kreativen Berufsgruppen bis hin zum Journalisten. Eine weite Definition liegt mir schon deshalb näher, weil ich selbst ja auch zeitweise mein Geld schreibend verdient habe.“ Allgemein fasst Frickel für das Künstlerschaffen zusammen: „… dass es kreative Ansätze sind mit Wirklichkeit umzugehen. Und die Gesellschaft zu reflektieren, weitgehend ohne Reglementierungen, sondern der eigenen Intuition und auch der eigenen Interpretation folgend. Das kann man als jemand, der Bücher schreibt, das kann man als jemand, der Beiträge für Zeitungen, Rundfunk oder Fernsehen liefert. Das kann man auch als bildender Künstler machen. Dazu gehört immer, dass man seine, die eigene Existenz innerhalb des Bereichs, auf den sie bezogen ist, – also innerhalb der Gesellschaft, in der man lebt und die man reflektiert – mit kreativen Ausdrucksmitteln.“ Und was bedeutet Künstlersein für Frickel persönlich? „Die Möglichkeit, dass ich das, was ich im Kopf habe, umsetzen kann, dass ich mich – ziemlich abgegriffen – ‚verwirklichen‘ kann. Im Grunde genommen möchte das ja jeder auf irgendeine Weise, und das ist ein großes Privileg.“ Was damit zusammenhängt, ist die strukturelle Ungebundenheit, aus der sich eine Freiheit ergibt, die produktiv und gefährlich zugleich ist. „Ich hatte nie ein festes Beschäftigungsverhältnis, sondern ich habe immer freiberuflich gearbeitet. So frei, dass ich sagen konnte, ich kann jederzeit aufhören. Das ist Freiheit, natürlich immer teuer erkauft, auch mit einer totalen wirtschaftlichen Unsicherheit.“ Aber diese Selbstbestimmtheit ermöglicht auch Abwechslung. „Ich habe mit dieser Schreiberei mal irgendwann aufgehört, weil ich das Gefühl hatte, ich komm da in so ein Hamsterrad rein, wo man nicht mehr raus kann. Und ich habe mir nie vorstellen kön-

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nen, dass ich jeden Tag an die gleiche Stelle gehe, um die gleiche Uhrzeit und um da das Gleiche zu machen.“ Doch sofort schließt Frickel mit einem warnenden Fazit an: „Man muss relativ stabil sein, wenn man das aushalten will, und es gibt da natürlich zwischendurch auch Phasen, wo man das alles verflucht.“ Auf die Frage, ob er noch einmal den gleichen Weg gehen würde, wenn er die Wahl hätte, von vorne anzufangen, meint Frickel: „Ich habe mir zeitweise schon überlegt, eine feste Tätigkeit anzunehmen, habe mich dann allerdings relativ bewusst für diesen Weg entschieden und glaube, dass ich bis jetzt keine ernsthaften Gründe habe, das zu bereuen. Obwohl das andere sicher leichter gewesen wäre.“ Doch das Künstlerdasein zahlt sich dafür gelegentlich auf andere Weise aus. „Das ist natürlich auch ganz schön: mit Filmen durch die Lande zu reisen, mit Leuten zu reden, und da gibt es Anerkennung, die spürbar wird. Besonders in Erinnerung ist mir eine Vorführung im Kommunalen Kino in Freiburg, wo ‚Deckname Dennis‘ lief und eine Schlange von Leuten vor dem Kino stand, die das sehen wollten. Obwohl noch zusätzliche Stühle reingetragen worden sind, mussten trotzdem noch zwanzig, dreißig Leute weggeschickt werden. Was Besseres kann einem Film ja gar nicht passieren. Na doch, er könnte noch verklagt werden, das wär auch noch ganz gut, wenn’s einen Prozess gäbe“, sagt Frickel und lacht. „Also, solche Erlebnisse entschädigen dann gewissermaßen dafür, dass man auch Unbill auf sich nimmt.“ Braucht die Gesellschaft Künstler? „Ich denke, das braucht sie schon“, so Frickel. Diese Auffassung ist wohl gesamtgesellschaftlicher Konsens. Auch auf politischer Ebene gibt es an der Bedeutung der Kunst und der Künstler keinen Zweifel. Und sei es aus materiellen Gründen: Thomas Frickel führt in diesem Zusammenhang den kürzlich veröffentlichen Bericht der Bunderregierung zur Kreativwirtschaft an, in dem Kreativität als großer Umsatzfaktor und wichtiges gesellschaftliches Potential gewürdigt wird. Zugleich spiegelt sich in dieser Anerkennung ein wichtiges gesellschaftliches Bedürfnis. „Na klar braucht es Künstler, schon seit der Antike. Und immer noch mit den gleichen, ganz klassischen Aufgabenbeschreibungen, die auch in den Rundfunkstaatsverträgen auftauchen: Information, Unterhaltung, Bildung. Warum soll Unterhaltung

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nicht einen künstlerischen Anspruch haben, oder warum soll Bildung nicht unterhaltend daher kommen? Diese Verbindung auf eine Weise zu präsentieren, die die Menschen anspricht, ist heute so wichtig wie eh und je.“ Die Aufgabe des Künstlers von heute sei es, der in viele Einzelbereiche fragmentierten Gesellschaft integrierende Momente anzubieten, in denen die Menschen ihre Orientierungslosigkeit überwinden könnten. Viele Menschen hätten Probleme, die Realität, die auf sie einstürze, verstärkt durch Überangebote durch Internet und Medienkonsum, richtig einzuordnen. „Und da sehen wir in der Tat auch unsere Aufgabe als Dokumentaristen, Hilfestellung zu geben oder zumindest Ideen anzubieten, wie man diese Realität ordnen könnte. Wir machen Angebote. Wir sagen nicht ‚Das ist so‘.“ Von den hohen Erwartungen der politisch bewegten siebziger Jahre, in denen auch er den Anspruch hatte, Wahrheit abzubilden und bei den Zuschauern politische Handlungskonsequenzen hervorzurufen, tritt Frickel heutzutage zurück. „Das wird man heute so nicht mehr finden. Unsere Ansätze sind bescheidender geworden. Heute freut man sich schon, wenn ein Film Anlass zur Diskussion gibt und wenn Leute dadurch auf neue Gedanken kommen. Und wenn wir es schaffen, durch Filme oder Recherchen gesellschaftliche Diskussionen anzuregen oder mit zu beeinflussen, haben wir schon sehr viel erreicht.“

„Die deutschen Förderanstalten sollten dem deutschen Film mehr vertrauen“ Gespräch mit Axel Ranisch G RIT L UKAS

„Indezent, überzeichnet, bunt, rücksichtslos, geschmacklos – verstörend veristisch wie das Frühwerk von Otto Dix“, so beschreibt die Jury des „Hans W. Geißendörfer Nachwuchspreises“ die eingereichten Filme von Axel Ranisch. Der Student der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ hatte ihrer Meinung nach gegen fast alle Regeln der Zunft verstoßen, nach denen an deutschen Filmhochschulen Kurzfilme „gedreht, geschnitten und geföhnt werden“. Trotzdem wurde ihm der Preis für den Kurzfilm „Der will nur spielen“ verliehen, in der Hoffnung, dass „der hochbegabte junge Mann dem Druck seiner Zunft würde standhalten können“. Axel Ranisch übernahm in „Meine Daten und Ich“ (Dokumentarischer Spielfilm, 2008) die Rolle eines einsamen Filmemachers, der bei der Realisierung seines ersten Langfilmes finanziell und privat an seine Grenzen stößt. Ranisch kennt diese Situation, trotzdem steht die Karriere des tatsächlichen Axel Ranisch unter einem günstigeren Stern. Die Preise sowie Ranischs Teilnahme mit seinem Film „Glioblastom“ an den Hofer Filmtagen, dem zweitgrößten Filmfestival in Deutschland nach der Berlinale, verweisen auf wachsenden Zuspruch. Sein ehemaliger Professor Rosa von Praunheim sieht in ihm den „neuen Fassbinder“. Der 25-jährige Filmemacher spricht hingebungsvoll von seinem Beruf. Dennoch kennt er die Härte des Filmgeschäfts und berufliche und private Konsequenzen. Mit Humor

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und Selbstironie zeichnet er im sozialen Netzwerk „myspace.com“ sein Selbstporträt: „Axel Ranisch macht Filme. Nach aktueller Zählung umfasst seine Filmographie 64 Werke. […] Die Mehrzahl seiner Filme ist nach eigener Auffassung nicht gut. Einige wenige jedoch mag er selbst ganz gern. Seit Oktober 2004 studiert er an der HFF „Konrad Wolf“ in Potsdam Babelsberg Regie, was ihn zu keinem besseren Regisseur macht aber immerhin den Eindruck erwecken lässt, es wäre so. Ein befreundeter Fernsehregisseur hat einmal zu Axel gesagt, dass er „selbstverliebte, nennen wir es wohlwollend, KUNSTkacke“ fabriziere, die den Steuerzahler beleidigt, der ihm seinen Studienplatz finanziert. Sein Professor sagt immer, dass das Studium der Regie nach der Pilotenausbildung bei Lufthansa das zweitteuerste in Deutschland sei, mit dem Unterschied, dass die Piloten am Ende Piloten seien und die Regiestudenten arbeitslos. Axel Ranisch hört sich das alles an, nickt verständnisvoll mit dem Kopf und macht weiter. Was soll er auch tun, er kann ja nichts anderes.“ In seinem Lebenslauf bezeichnet sich Axel Ranisch, Jahrgang 1983, als Regisseur, Autor, Schauspieler, Medienpädagoge und Saunameister. Er studiert im letzten Studienjahr an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (HFF) in Potsdam-Babelsberg Regie. Die Hochschule ist die einzige Kunsthochschule des Landes Brandenburg und die älteste und größte von fünf Medienhochschulen in Deutschland. Ranischs Kurzfilme liefen auf diversen Filmfestivals in ganz Deutschland und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der „Hans W. Geißendörfer Nachwuchspreis 2008“ für seinen Kurzfilm „Der will nur spielen“. Die Hauptrolle in diesem Film übernahm der Schauspieler Charly Hübner, bekannt aus „Das Leben der Anderen“ und „Krabat“. „Der will nur spielen“ und sein 45-Minüter „Glioblastom“ liefen im Mai 2009 auf Arte. Das Interview mit Axel Ranisch findet in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Lichtenberg statt. Ranisch ist freundlich und aufgeschlossen, und er kocht erst einmal einen „dreifach geschwenkten Ranisch“ (bestehend aus drei Beuteln schwarzem Tee, viel Zucker und Milch). Währenddessen beginnt er über die Komplikationen rund um seinen anstehenden Diplomfilm und das dazugehörige Drehbuch zu erzählen:

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Bei einem Film wollen alle mitreden, das ZDF natürlich, denn die geben mir sehr viel Geld. Aber die wollen eben andere Sachen als ich. Und jetzt liegt mein Drehbuch, was schon einmal ein rundes, stimmiges Werk war, in tausend Scherben auf dem Boden. Die muss ich jetzt zusammenflicken. Und das wird mir wahrscheinlich noch ein paar Mal passieren. Ich weiß noch nicht genau, wie lang man so einen 90-Minüter überarbeitet. Deine Abschlussarbeit wird also ein 90-Minüter, der im ZDF ausgestrahlt wird? Ja, es wird ein Kinofilm. Zumindest stelle ich ihn mir so vor. Und da gilt es zunächst einmal, eine Produktionsfirma zu finden, denn für einen 90Minüter braucht man eine ganze Menge Geld. Diese Produktionsfirma habe ich gefunden, die haben sich schon vor ein paar Jahren für mich interessiert. Und jetzt brauchen wir eine Fernsehredaktion. Im deutschen Film geht alles übers Fernsehen: Man bekommt keinen Verleih, wenn keine Fernsehredaktion mit drinhängt. Die Redakteure beim deutschen Fernsehen haben große Macht. Und wenn keine Redaktion mit im Boot ist, dann machen die Filmförderanstalten nicht mit. Und dann gibt es „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF. Sie sind ja sehr eifrig und freundlich und fördern viele Debütfilme. Jeder Redakteur darf pro Redaktionssitzung ein Drehbuch vorschlagen. Und ich habe jetzt eine Redakteurin, die ist super und mag den Stoff gern. Und die fummelt mit der Produktionsfirma und mir so lange an dem Drehbuch herum, bis sie sagt, das ist jetzt soweit, dass ich das in die Redaktionssitzung gebe. Es kann dann sein, dass es beim ersten Mal durchfliegt und bei der zweiten Redaktionssitzung wieder rein genommen wird. Ungefähr so läuft es mit dem ZDF. Und deswegen dauert das so lange, bis die Gelder da sind. Ich denke, mein Diplomfilm kann mit 200.000 Euro realisiert werden, aber ich glaube, meine Produktionsfirma rechnet eher mit 500.000 Euro, und die müssen erst einmal aufgebracht werden. Bekommst du auch eine Vergütung dafür? Nein, als Student bekommt man für einen Diplomfilm nichts und das ist schon in Ordnung. Die Hochschule gibt ja viel Geld dafür, dass diese Filme realisiert werden können. Ich habe zwei Filme gedreht, die im Fernsehen gelaufen sind. Und die Gelder, die dadurch reinkommen, bekommt natürlich die Hochschule. „Glioblastom“ zum Beispiel hat etwa 17.000 Euro gekostet. Davon hat 12.000 Euro die Hochschule zur Verfügung gestellt.

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Nicht mit eingerechnet sind dabei die Rückstellungen der Hochschule: die Kameratechnik, Licht, Ton, die Schnitträume, Tonstudios, das Orchester, die Aufnahmen, die damit verbunden sind. Ich hab zwölf Produktionen von Hochschulgeldern gemacht und dabei bestimmt 50.000 Euro an Barmitteln in Filme reingepulvert. Das ist schon dekadent. Hättest du nicht schon mit „Glioblastom“ dein Diplom machen können? Ja klar, eigentlich könnte ich schon fertig sein. Aber das ist nicht besonders klug. Wenn die Filmleute sehen, dass man an dieser dekadenten Eliteschule studiert, sagen die: „Jetzt hat er schon an der HFF studiert, dann muss der aber auch mit einem Kinofilm rauskommen. Wer an der Hochschule keinen 90-Minüter realisiert, wie soll er es auf dem freien Markt schaffen?“ Was bedeutet das Künstlerdasein für dich? Ich mache seit sechs Jahren Filme. Beim ersten Film habe ich mir diesen Virus eingefangen und seitdem habe ich nichts anderes gemacht. Ich bin ein unermüdliches Arbeitstier. Ich habe kein Privatleben, ich habe vielleicht noch zwei Freunde von früher, die nichts mit Film zu tun haben. Ansonsten ist das heute eine große Familie und ich bin befreundet mit meinen Schauspielern, Kameraleuten oder mit meinen Schnittmeistern (lacht). Und weil ich in Eigenverantwortung oder als Regisseur Filme mache, hat jeder Film viel mit meinem Privatleben zu tun und einem Sich-Auskotzen. Aber ich habe mir oft die Frage gestellt: Was ist denn der Axel Ranisch, wenn man den Film abzieht? Was bleibt da noch übrig? So viel ist es, glaube ich, nicht und so ein Leben muss man schon wollen. Wie bist du zum Filmemachen gekommen? Ich wusste lange nicht, was ich machen sollte. Ich habe gerne geschrieben und Jugendtheater gespielt. Ich habe auch wahnsinnig gerne Musik gehört und gedacht, ich könnte ein toller Komponist werden. Bis ich gemerkt habe, dass Beethoven das ja schon viel besser gemacht hat (lacht). Und mir fehlte auch die Geduld zum Schreiben. Und weil ich so gerne Theater gemacht habe, wollte ich in einer Jugendbildungsstätte in Brandenburg einen Theaterworkshop besuchen. Der war voll und so blieb nur der Filmworkshop übrig. Dann hab ich gesagt, „okay, dann mache ich halt Film“. Da war ich achtzehn. Dann hab ich mein erstes kleines Filmchen gedreht und danach gleich den zweiten und dritten. Das hat riesigen Spaß gemacht. Und

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ich habe gedacht: Das ist es doch, denn das ist alles auf einmal: Musik, Literatur, Schauspiel und Fotografie. Und dann muss ich nur noch der Zehnkämpfer sein und das alles wollen. Wie ging es weiter? Ich hab erst einmal Abitur gemacht. In der Bildungsstätte, in der ich damals mein erstes Video gedreht habe, konnte man eine dreijährige Ausbildung zum Medien- und Theaterpädagogen machen. Das erste Jahr lief parallel zur 13. Klasse. Während der folgenden zwei Jahre war noch Zeit, Praktika zu machen. So war ich beim MDR, beim rbb und bei tv.berlin. Und da ich inzwischen Medienpädagoge war, konnte ich auch mit Jugendlichen arbeiten. In Brandenburg haben wir Filme gegen Rassismus gedreht. Das hat Spaß gemacht und da sind sicherlich etwa 15 Kurzfilme entstanden. Und dann hast du dich an Filmhochschulen beworben? Mit Ausnahme der HFF in Potsdam haben alle Hochschulen ein Mindestalter von 21 Jahren vorausgesetzt. Weil ich erst zwanzig war, habe ich mich nur an der HFF beworben und die haben mich genommen. Die HFF ist ja eine staatliche Schule, was müsst ihr bezahlen? Die normalen Gebühren. Das sind etwa 220 Euro im Semester, aber da ist das Semesterticket Berlin-Brandenburg mit drin. Wie finanzierst du dein Studium und dich selbst? Am Anfang des Studiums hieß es: „Nebenbei Arbeiten geht nicht. Das Grundstudium wird zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Und wir wollen nicht, dass ihr wegen einer Arbeitsstelle fehlt.“ Während des Grundstudiums habe ich bei meinen Eltern in Berlin gewohnt. Im Hauptstudium hat man dann die meisten Scheine erledigt. Man dreht nur noch Filme und hat mehr Zeit. Und da hat es sich ergeben, dass meine Familie gerade eine Sauna eröffnet hat, in der ich einen 400-Euro-Job annehmen konnte. Nebenbei gebe ich immer wieder Jugendseminare, Workshops, drehe Filme in verschiedenen Justizvollzugsanstalten in Brandenburg oder in Berliner Schulen. Was passiert, wenn du aus der Wiege der Hochschule raus musst in die freie Wirtschaft? Das ist ja dann projektabhängig, filmabhängig. Den ersten Film kann man immer machen, aber ob man dann auch noch einen zweiten machen kann

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… (lacht) Aber wenn man sich mit seiner Produktionsfirma nicht streitet, kann man auch einen zweiten machen. Vielleicht hat man irgendeinen Preis gewonnen oder honorierende Achtung im Kino erfahren. In der Regel bekommt der Regisseur zwischen drei und sieben Prozent des Gesamtbudgets. Da er nicht weisungsgebunden ist, braucht er auch kein festes, gewerkschaftlich geregeltes Honorar. Wenn ein Film ein Budget von einer Million Euro hat – und ein „Tatort“ etwa hat durchschnittlich zwischen einer und 1,5 Millionen Euro –, dann sind das zwischen 30.000 und 70.000 Euro für den Regisseur. Aber so einen Job muss man auch erst einmal bekommen. Und dann muss man von dem Geld auch leben können. Regisseure sind keine Großverdiener. Anders als bei Opernregie, da verdient man viel mehr: eineinhalb Monate, dann ist die Produktion raus, du verdienst etwa 20.000 bis 30.000 Euro pro Oper und kannst das mehrmals im Jahr machen. In deinem Lebenslauf stehen viele Preise, die du für deine Filme erhalten hast. Und Festivals, auf denen deine Filme gelaufen sind. Was hat das für eine Bedeutung für dich? Man will es ja nicht immer wahr haben, aber man braucht die als Rechtfertigung. Wenn ich meinen Diplomfilm mache, dann guckt eine Produktionsfirma oder ein Redakteur schon darauf: Laufen die Filme von dem? Wird der überhaupt honoriert? Auch Redakteure sind ja unsicher. Ich zum Beispiel habe nie einen Hitfilm gemacht. Es gibt Kommilitonen, die Hitfilme machen. Ein solcher Film kriegt zwanzig Preise und läuft bei achtzig Festivals und wird hoch gelobt. Das habe ich gar nicht. Fast jeden Preis, ich glaub es sind elf, hab ich immer mit anderen Filmen bekommen. Ich weiß nicht, ob das für mich spricht oder gegen mich. Aber ich bin eher der quantitative Typ. Ich hätte ja gar nicht die Geduld, zwei Jahre ausschließlich an einem Film zu arbeiten. Beziehst du öffentliche Fördergelder? Für Filmschaffende gibt es projektbezogene Fördergelder von Filmförderanstalten, die sich auf ganz Deutschland verteilen. Die fördern Film, teilweise Drehbuchentwicklungen und die Dreharbeiten. Und die sind natürlich darauf aus, dass ihr Geld im Land ausgegeben wird, zum Beispiel das Medienboard Berlin-Brandenburg. Da werde ich mich für meinen Diplomfilm bewerben. Die setzen aber voraus, dass bereits ein Verleiher oder ein Redakteur mit im Boot ist. Dann gibt es ja den Beauftragten für Kultur und

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Medien (BKM), die große Filmförderanstalt vom Bund und es gibt die Ministerien. Die haben auch noch Möglichkeiten Filme zu unterstützen. Bei jedem Film versucht man öffentliche Gelder zu bekommen, ein Leben lang. Und wie bist du zu deinen beiden Produzentinnen gekommen? Es gibt bei uns an der Hochschule etwas Tolles, die so genannte Filmmesse. Da stellt die Hochschule einmal im Jahr fünfzig bis sechzig Projekte des vergangenen Jahres vor. Die Sender und Produktionsfirmen schicken ihre Vertreter hin. Auf dieser Filmmesse habe ich „Kordes und Kordes“ kennen gelernt. Das Ziel ist es, eine Partnerschaft einzugehen. Einmal angenommen, man hat sich mit seiner Produktionsfirma verstritten und der Film aus der gemeinsamen Zusammenarbeit wird für den Deutschen Filmpreis nominiert. Dann ist die Nominierung allein schon 150.000 Euro wert, das heißt die Produktionsfirma bekommt diese 150.000 Euro. Wenn der Film den Preis bekommt, kriegt sie zusätzlich 250.000 Euro. Wenn es Streit gegeben hat, kriegt der Regisseur nichts. Dann kann der nur sagen, der Film, in dem ich Regie geführt habe, hat den Deutschen Filmpreis bekommen … Und du vereinbarst dann mit denen, wie viel Honorar du für deine Arbeit bekommst? Ja. Manche Regisseure haben auch eine Agentur, die das Honorar für sie aushandelt. Als Regisseur kann man auch in eine Agentur gehen? Ja. Hast du eine? Nein. Als Schauspieler schon, aber nicht als Regisseur. Wäre eine Agentur eine Option für dich? Ergeben sich daraus irgendwelche Vorteile? Wenn man in eine Agentur geht, bekommt man Regieangebote. Meistens etwas, das man gar nicht machen will. Da geht’s darum, Geld zu verdienen. Da muss man Serien drehen. Die Agentur sagt zwar, man muss nicht alles annehmen, aber die kriegen ja auch Prozente und leben davon. Deswegen drängen die einen dazu, so etwas zu machen. Wer partout Geld verdienen will, sollte in eine Agentur gehen.

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Hast du Forderungen an die Kulturpolitik? Ich finde das Filmsystem in Deutschland problematisch. Man ist zu stark abhängig von den Sendeanstalten und Redakteuren. Und die bestimmen auch noch, was das Publikum sehen will. Die interessanten Sachen laufen dann um zwei Uhr nachts. Wenn man einen Film im Fernsehen unterbringen will, dann kann man nur Krimi oder Liebesschmonzetten machen. Es geht also nur „Tatort“ oder „Rosamunde Pilcher“ und die entsprechenden Abwandlungen davon. Das Fernsehen muss revolutioniert werden. Filme müssen unabhängig vom Fernsehen gedreht werden können. Die Independence-Szene in Deutschland ist so klein, weil es kaum vernünftige Möglichkeiten gibt, solche Filme auf die Beine zu stellen. Und Sender denken immer gleich an Einschaltquoten. Vielleicht ändert sich das, weil das Internet eine immer größere Rolle spielen wird. Wahrscheinlich geht die Struktur von Fernsehen irgendwann ein. Denn sobald das Fernsehen über das Internet läuft, kann ich selbst entscheiden, wann ich was gucken will. Und dann haben schreckliche Talkshows oder Gerichtssendungen keine Chance mehr. Jedenfalls hoffe ich das. Wer guckt sich denn so was an? Und wie soll es zu einer Änderung kommen? Welche Möglichkeiten siehst du? Die deutschen Förderanstalten sollten dem deutschen Film mehr vertrauen. Und sie sollten Innovationen wagen. Wenn eine Förderanstalt einer Produktion zehn Millionen Euro zur Verfügung stellt, dann hat das wirtschaftliche Gründe. Tom Cruise dreht dann in Babelsberg, holt sich die Leute von hier. Er bringt natürlich eine ganze Menge Geld hier rein. Aber das ist eigentlich auch Geld, was man für deutsche Produktionen ausgeben könnte. Was kann man denn dem Neumann sagen? Generell sollen die nicht soviel bei Bildung und Kultur streichen. Ich begreife nicht, dass wir in einem Land leben, wo Kürzungen zuallererst am Kultur- und Bildungswesen vorgenommen werden. Es bleibt doch zwangsweise die Vermutung, dass es gewollt ist, dass das Land verdummt. Dass man es mit Menschen zu tun hat, die nichts wollen, keine Neugier haben, nicht leidenschaftlich sind, die ungebildet sind, die keinen Bock haben auf Theater und Oper und Film. Warum sind Kulturschaffende in Berlin der letzte Dreck? Warum wird von allen Leuten erwartet, dass sie Kultur umsonst kriegen. Warum werden Künstler nicht bezahlt? Ich versteh das nicht. Dann gibt es ein paar reiche Künstler, die sagen, wir sind gegen Grundeinkommen. Jeder Künstler solle sich das

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selbst verdienen. In Berlin verdienen Künstler aber kein Geld. Es gibt hier einfach wahnsinnig viele. Und man macht auch den Markt kaputt, wenn es immer wieder Leute gibt, die umsonst arbeiten. Ich halte ein Grundgehalt für Künstler dringend für angebracht. Natürlich muss man prüfen, wer das bekommt und was er dafür tut. Aber die Deutschen lieben ihre Künstler nicht. Ein Künstler in Frankreich ist was ganz anderes als in Deutschland. Irgendwie ist das seltsame Vorurteil verbreitet, dass Künstler faul sind oder zuviel Geld bekommen. Die große Depression, die nach dem neuen deutschen Film und dem Tod von Fassbinder eingetreten ist, legt sich schon. Da ist wieder was am Kommen. Ich werde jetzt auch einen Teufel tun und mir Sorgen um die Zukunft machen. Es ist nur einfach so, dass unwahrscheinlich viele Menschen ausgebeutet werden, gerade in der Branche. In vielen anderen Berufszweigen käme man gar nicht auf die Idee, die Leute nicht zu bezahlen für ihre Arbeit. In der Kunst schon. Es geht wirklich nicht ums Geldverdienen. Dafür ist Regisseur der falsche Beruf, denn die Arbeit mit Schauspielern ist einfach toll. Und so ein Film hat immer was Bleibendes. Filme sind Zeugnisse einer Zeit, auch Zeugnisse von mir. Und ich werde bestimmt keine Kinder haben, aber Filme werde ich haben. Also, es geht an der Stelle ja tatsächlich nicht ums Geldverdienen. So lange ich davon überleben kann, wüsste ich nichts, was ich lieber machen würde.

„Ich bin eher ein Handwerker“ Porträt von Hacky Hackbarth F LORIAN G RÜNDEL

1955 im ostfriesischen Norden geboren, sah die berufliche Entwicklung von Werner Hacky Hackbarth anfangs nicht nach einer Zukunft in der Filmbranche aus. Erst absolvierte er eine Lehre zum Bauzeichner, um danach ein Studium der Architektur abzuschließen. Heute lebt er unter anderem als selbständiger Autor und Regisseur von Dokumentar- und Kurzfilmen sowie als Kameramann und Kulturvermittler in Bremen. Ebenso unorthodox wie sein Weg zum Film sind seine meist dokumentarischen Produktionen. So zum Beispiel die 2004/05 für ARTE produzierte 29-minütige Kolportage „HOMO CISTA – Neulich in der Blechbox“, bei der Hackbarth für Drehbuch und Regie verantwortlich war. In der Collage aus den Elementen Reportage, Animationsfilm und assoziatives Videoessay, begibt sich der Philosoph Diogenes auf die Suche nach Menschen, die im 21. Jahrhundert seinem Vorbild des einfachen Lebens in einem Container nacheifern. „HOMO CISTA ist ein formales Experiment, voller Überraschungen und skurrilem Humor.“ Mit diesem Satz beschreibt die Produktionsfirma Nordmedia auf ihrer Homepage das Werk und zugleich Hacky Hackbarths künstlerischen Stil treffend. Hackbarth selbst ist im Gebrauch von großen Worten zurückhaltender. Er ist sich auch nicht sicher, ob er als Künstler zu bezeichnen wäre, obwohl Hackbarth von der Künstlersozialkasse (KSK) als solcher bezeichnet wird. „Ich bin eher ein Handwerker, der einsetzt, was er weiß und kann.“ Diese nüchterne Sicht ergibt sich, neben der Ablehnung eines überhöhten Künstlerbegriffs, durch die Notwendigkeit verschiedener Einnahmequellen. Denn

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von seiner Arbeit als Dokumentarfilmer und Kurzfilmproduzent allein kann Hackbarth nicht leben. „Wenn morgen eine Autofirma anruft, die Autoteile nach Südafrika verschickt und einen Film bestellt, dann haben die eine Vorstellung davon, wie das Video aussehen soll und dann mache ich das.“ Er erledigt für Unternehmen, Organisationen, Vereine und Privatpersonen Auftragsarbeiten. Diese sind meist Image-, Industrie- und Lehrvideos sowie Projekt- und Veranstaltungsdokumentationen. Des Weiteren betätigt sich Hackbarth als Medienpädagoge: Seit 2001 ist er Dozent bei ACT ONSTAGE/BACKSTAGE, Bremen, einer Institution, die jungen Menschen den Einstieg in Bühnenberufe erleichtern will. Zusätzlich gibt Hackbarth Seminare an der Volkshochschule. Auftragsarbeiten All diese Berufsfelder würde er jedoch nicht als Nebentätigkeiten bezeichnen, da sie alle mit dem Medium Film im Zusammenhang stehen. „Wenn ich mich mit etwas filmisch beschäftige, dann macht mir das Spaß. Das kann auch was total Abstruses sein. Wenn ich jemanden mittels eines Filmes erklären soll, wie man Pferde dressiert oder wie ein bestimmter Hochofen funktioniert, dann setze ich mich damit auseinander.“ Natürlich gelte es bei solchen Auftragsarbeiten abzuwägen. So wären Anfragen von Firmen mit fragwürdigem Betätigungsfeld oder Geschäftspraktiken, wie zum Beispiel der in Bremen ansässigen „Rheinmetall“, nicht Hackbarths Genre. Gerade das Beispiel der Rüstungsfirma ist mit Blick auf die Biographie Hacky Hackbarths nicht verwunderlich. Erste Erfahrungen mit Film und Kamera sammelte Hacky Hackbarth in den achtziger Jahren. Als Unterstützer des „Komitees gegen die Bombenzüge“, einer antimilitaristischen Gruppe, die sich mit US-amerikanischen Munitionstransporten beschäftigte, kürzte er mit Freunden einen WDRBeitrag über die Transporte. Die gekürzte Fassung sollte dann zur Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden. Doch während der Arbeit entstand die Idee zu einer eigenen Produktion. „Wir haben dann einen ganz schrecklichen Film gedreht. So ein bebildertes Referat, in dem wir alles Mögliche über die Bombenzüge und über Imperialismus sagten. Aber das hat uns vier, die das gemacht haben, so gefallen, dass wir uns eine Videokamera gekauft haben.“

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Die Arbeitsplattform WieDeo e.V. Kurz später, im Jahre 1985, gründete Hacky Hackbarth zusammen mit acht weiteren medieninteressierten und sozial engagierten Menschen die unabhängige Mediengruppe WieDeo e.V.. Hierbei stand nach Aussagen Hackbarths das politische Moment im Vordergrund. Und zwar der Wunsch, eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen. „Das Stichwort war, Nachrichten und Themen zu bearbeiten, die im Fernsehen nicht vorkamen“, beschreibt Hackbarth das Vorhaben von damals. Es entstanden Dokumentationen und Reportagen zu verschiedensten gesellschaftlichen Fragen. Meist wurden diese auf politischen Veranstaltungen oder Informationsabenden präsentiert. Dies oft auch in Zusammenarbeit mit anderen sozial, politisch oder ökologisch engagierten Organisationen. Erste größere Arbeiten Hackbarths setzten sich kritisch mit dem mit Kaffee- und Bananenhandel auseinander und dienten der gerade im Entstehen begriffenen „Fair-Trade“-Bewegung als Informationsfilme. Doch neben dem primären Interesse, zu informieren, gab es sehr heterogene Vorstellungen von Film, Video und Ästhetik. Dies förderte nach Angaben Hackbarths eine fruchtbare Diskussion über „das richtige Bild“ und das ästhetische Verfahren. „Der Zusammenschluss war zwar politisch motiviert, doch Formen der kollektiven Produktion wirken sich natürlich auch auf das Künstlerische aus und bringen neue Ästhetik hervor.“ Für den Autodidakten Hackbarth hatte die Gruppe noch andere Vorteile: Sie war eine wichtige Plattform zum Austausch von Wissen und Fertigkeiten. Von der Ausbildung und dem Spezialwissen einzelner im Bereich Medien profitierte die gesamte Gruppe. Dass er keine Filmhochschule oder keinen Medienstudiengang besucht hat, bereut Hackbarth heute nur indirekt. So lernte er nie mit einer Filmkamera umzugehen und räumt ein, dass er im Umgang mit Kamera oder Schnitt wohl versierter wäre, hätte er einen Hochschulabschluss im Bereich Film absolviert. „Da bin ich ganz Vollvideot“, bemerkt Hackbarth ironisch. Doch da Hackbarth nicht daran interessiert ist, einen Spielfilm zu drehen und das gängige Fernsehformat für Dokumentationen und Reportagen „Beta SP“ ist, wurde dies nie zu einem Problem. Hinzu komme, dass das Filmformat für die Arbeiten von Hackbarth auch schlicht zu teuer sei. Außerdem sei die Videokamera flexibler in der Handhabung bei dokumentarischen Aufnahmen mit wechselnden Licht- und Raumverhältnissen. „Ich

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hab zwar mal ein 16mm-Seminar besucht, doch ich hab gleich gemerkt, das ist nicht mein Ding. Es ist viel zu teuer, wenn man auf einen Knopf drückt und nicht gleich weiß, was passiert.“ Für seine Abschlussarbeit des Architekturstudiums gestaltete Hackbarth zwar ein Medienzentrum, doch der Entschluss, sich ausschließlich der Medienarbeit zu widmen, wuchs erst zwei Jahre später im Rahmen seiner ersten größeren Architektentätigkeit. Für ein alternatives Hausprojekt übernahm er die Aufsicht und Planung der selbstverwalteten ökologischen Sanierungsmaßnahmen. Diesen Prozess dokumentierte er gleichzeitig filmisch und schuf ein Agitprop-Video zur Unterstützung des Projektes. „Da wurde mir klar, dass ich trotz perfekter Arbeitsbedingungen – wir arbeiteten alle für einen geringen Einheitslohn, ein in der damaligen Alternativszene verbreitetes System – und trotz des interessantes Projektes und der netten Leute, gar kein Architekt sein wollte. Das war mir zu trocken.“ Dies war der Zeitpunkt, an dem Hackbarth sich vollständig dem Film zuwandte. Doch Hackbarth war seine Unabhängigkeit und sein filmisches Arbeiten über soziale Themen, die meist jenseits des MainstreamGeschmacks und der gewinnbringenden Aufträge liegen, wichtiger als eine Karriere in der Medienbranche. Die in den Neunzigern recht solide Absicherung durch Arbeitslosenhilfe, ermöglichten ihm in den folgenden Jahren die Produktion von Videos, ohne ausschließlich auf ihren Absatz achten zu müssen. Bis zum Jahr 2000 lebte Hackbarth nach eigenen Angaben hauptsächlich von Arbeitslosenhilfe. Unterbrochen von Phasen, in denen er an geförderten oder bezahlten Filmprojekten arbeitete, Workshops und Seminare im Bereich Kamera, Schnitt und Ton besuchte, Bildungsurlaube begleitete und eine selbstorganisierte Umschulung absolvierte. Diese Umschulung sei mit einer heutigen Ausbildung zum Mediengestalter zu vergleichen. Im Jahr 2000, erzählt Hackbarth, drohte schließlich Hartz IV am Horizont und er beschloss sich selbständig zu machen. 1992 gründete er gemeinsam mit anderen Mitgliedern von WieDeo e.V. die GbR ViDoc. Die Firma warf erst einmal keinen Gewinn ab. Jeglicher Umsatz wurde direkt in neue Projekte und Ausrüstung reinvestiert. Der GbR ViDoc war nicht als finanzielle Einnahmequelle gedacht, „wir haben die GbR ViDoc damals nur gegründet, weil wir uns neues Equipment kaufen wollten, und wir hatten genau soviel Geld, dass wir das Equipment zahlen konnten, nicht aber die Mehrwertsteuer“, so Hackbarth. Nach mehreren

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Wechseln in der personellen Zusammensetzung der Firma, ist Hacky Hackbarth seit etwa 1999 alleiniger Betreiber von ViDoc. Ohne den Vorteil eines Gewerbes, die Umsatzsteuerrückzahlung, seien die Ausgaben für technischen Bedarf für kleine Medienbetriebe kaum zu decken, betont Hackbarth. Ebenso erleichtert der Status einer Firma den Kontakt zu möglichen Auftraggebern. Seine Arbeit als Autor für Dokumentationen und Kurzfilme sowie als Medienpädagoge rechnet er jedoch nicht über die GbR ab, sondern als Selbständiger. Ob das Vorteile bringe, könne Hackbarth nicht sagen. Er habe sich einfach dazu entschieden. Die KSK und ihre Mängel In diesem Zusammenhang erwähnt Hackbarth die Künstlersozialkasse als wichtiges Instrument der staatlichen Kulturförderung. Auf dem Weg in die Selbständigkeit sei die KSK ein geeignetes Mittel, Künstler und Künstlerinnen zu unterstützen. Auch ihm selber wurde dieser Schritt erst durch die Übernahme etwa der Hälfte der gesetzlichen Versicherungsbeiträge durch die KSK ermöglicht. Doch er sieht durchaus auch Mängel im Anerkennungsverfahren der KSK. „Ich finde es schwierig zu definieren, wer Künstler ist. Die KSK macht das ja knallhart. Autorentätigkeit, Kamera und Regie sind künstlerisch. Aber Cutter, also Leute, die Filme schneiden, sind zum Beispiel nicht als Künstler bei der KSK anerkannt, obwohl diese genauso eine künstlerische Arbeit machen, wie die hinter der Kamera.“ Heute kann Hackbarth seine Frau und seine zwei Kinder mit seinen Einnahmen versorgen, doch reich wird er davon nicht. „Es geht. Ist aber sehr haarig. Anstrengend. Es müssen halt irgendwie 2000 Euro im Monat zusammenkommen.“ Vor der Geburt ihres zweiten Kindes absolvierte die Frau von Hacky Hackbarth ein Referendariat. Ihr damaliger Verdienst sei zwar nicht hoch, doch dieses Festgeld sei generell beruhigend gewesen, da gerade in einem künstlerischen Beruf die Einnahmen monatlich stark variieren könnten. Während der Studienzeit seiner Frau sei es teilweise schwerer gewesen, da es für die Spanierin als Nicht-Staatsangehörige keine finanzielle Förderung, wie zum Beispiel Bafög, gegeben habe.

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Bremen als Arbeitsstandort Auf die Frage nach dem Standort Bremen, mit seiner im Vergleich zu anderen Städten kleinen Filmszene, räumt Hackbarth ein, dass die Stadt für Menschen, die Spielfilme drehen wollten, unattraktiv sei. Doch diese Probleme tangierten ihn in seiner Sparte nicht. Für Hackbarth überwiegen die Vorteile der Stadt. So besitzt Bremen als einem der wenigen Bundesländer noch eine zwar kleine, aber unabhängige kulturelle Filmförderung, die durch das Filmbüro Bremen e.V. vergeben werde. Diese kulturelle Filmförderung ermöglichte der Mediengruppe WieDeo e.V. über die Jahre verschiedene Projekte sowie eigene Produktionen Hackbarths. Im Jahr 1993 ermöglichte der Bremer Kultursenat die Gründung des Medienzentrums Bremen. In diesem Rahmen zogen sechs Kultur schaffende Gruppen aus dem Bereich Medien unter ein Dach. Unter anderem das Filmbüro Bremen e.V., Kino 46 und die Mediengruppe WieDeo e.V.. Dies ermöglichte einen regen Austausch und die Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen. Zum Beispiel stellt das Kino 46 Hackbarth eine Plattform, um seine Produktionen vorzuführen. Für das ebenfalls ansässige Filmstudio der VHS bietet er Bildungsurlaube im Bereich Videobearbeitung an. Die Mediengruppe WieDeo e.V. gibt es seit zehn Jahren nicht mehr. Der Verein besteht zwar noch und einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder, doch die meisten gehen inzwischen eigene Wege in der Medienbranche. Dennoch hilft dieses gewachsene Netzwerk von Kontakten Hackbarth noch heute bei seiner Arbeit. So gibt es zum Beispiel Berührungspunkte mit Jens Werner, der verantwortlich ist für die Medienarbeit im Kulturzentrum Schlachthof in Bremen, ein anderer Freund aus der Gruppe fungiert häufig in Hackbarths Produktionen als Tonmann. Drei der ehemaligen Mitglieder gründeten die erfolgreiche Dokumentarfilm- und Produktionsfirma Trifilm GmbH, die 2008 den Adolf-Grimme-Preis für die Dokumentation „LUISE – eine deutsche Muslima“ erhielt. Diese trat unter anderem als Produzent von „HOMO CISTA“ auf. „Thomas Greh, ein Freund von mir und Mitbegründer von Trifilm, hat damals einen Themenabend für ARTE über Container gestaltet und selber eine Dokumentation und Reportage über Menschen, die in Container leben, gemacht. Doch er wollte noch etwas machen, was definitiv anders aussieht als seines. Eben ein bisschen schräger. Und da hat er netterweise an mich gedacht.“

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Unterstützung durch staatliche Kulturförderung Neben der finanziellen Unterstützung von konkreten Produktionen, profitiert Hackbarth auch von anderen Formen der staatlichen Kulturförderung. Filmprojekte, die er im Rahmen seiner Dozententätigkeit bei ACT ONSTAGE/BACKSTAGE mit Jugendlichen verwirklicht, könnten oft ohne Unterstützung des Kultursenats nicht stattfinden. In anderen Filmprojekten von Umwelt- und Nichtregierungsorganisationen, bei denen Hackbarth Drehbuch, Kamera oder auch den Schnitt übernahm, flossen, so Hackbarth, auch schon Gelder von Stiftungen und Fonds, die eigentlich speziell für soziale und ökologische Projekte eingerichtet wurden. Als Nachteil der Abhängigkeit von finanzieller Unterstützung benennt Hackbarth jedoch, dass sich Filmemacher oder Videokünstler in der Gestaltung und Konzeption ihrer Vorhaben möglichen Förderthematiken oder feldern anpassen könnten. Als aktuelles Beispiel führt er ein Projekt ins Feld, bei dem er selber nur für den Schnitt verantwortlich war. Es sollte eine Dokumentation zum zwanzigjährigen Bestehen der Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft entstehen, die die Prinzipien dieser Organisation erläuterte. Aufgrund der Nicht-Bewilligung von Fördermitteln, welche Hackbarth nicht werten möchte, entschloss sich der Produzent zu einer Kooperation mit einer Schule und es entstand ein Projekt, in dem Jugendliche an der Erstellung der Dokumentation partizipierten. „Das ist natürlich eine ganz andere Form, noch jemanden einzubinden. Sie wurde aus der Not geboren, um weitere Fördermittel zu erhalten.“ Ebenso bestehe gerade in Sektoren wie Kultur und Soziales eine beständige Gefahr, dass Gelder kurzfristig gestrichen würden. Hackbarth erlebte dies selber bei einem Filmprojekt mit Jugendlichen von ACT. „Beim letzten Filmprojekt von ACT kam dann plötzlich kein Geld, weil der Kultursenat irgendwie wieder Millionen in Großveranstaltungen gesteckt hat und dann wurde das ganz schön eng. Am Ende haben wir dann auf Rücklage gearbeitet, also ohne sofortigen Lohn, sonst wäre das Projekt gestorben.“ Mit dieser Aussage bezieht sich Hackbarth unter anderem auf die finanziell desaströse Musicalproduktion „Marie Antoinette“. Das Theater Bremen und der Kultursenat bezifferte das Defizit des staatlich geförderten Musicals auf mindestens 2,5 Millionen Euro. Seit den achtziger Jahren ist Hacky Hackbarth in der Film- und Kulturszene Bremens aktiv. In dieser Zeit veränderte sich die Kulturpolitik des

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Landes sowie des Bundes. Dieser Veränderung attestiert Hackbarth einen schleichenden Paradigmenwechsel, der das Augenmerk der Förderung von der Breite auf spezielle Großprojekte verlagert. „Als wir angefangen haben, hatte noch jedes Bundesland eine unabhängige kulturelle Filmförderung und viele Mediengruppen oder freischaffende Künstler konnten dadurch ihre Projekte realisieren. Heute gibt es meines Wissens nur noch sehr wenige Länder mit solch einer Art der Förderung. Auch in Bremen bin ich skeptisch, ob diese noch zehn Jahre existiert.“ Mit einem Etat von etwa 150.000 Euro könne diese, so Hackbarth, im Grunde genommen nicht mal ein anständiges Projekt fördern. Im Vergleich dazu finanzierte der Deutsche Filmförderfonds seit seiner Gründung am 1. Januar 2007 bis zum 14. Juli 2009 221 Filme mit über 136 Millionen Euro. Weiter kritisiert Hackbarth die öffentliche Förderung kommerzieller Großproduktionen, die kleineren und deshalb nicht kulturell oder künstlerisch minderwertigeren Produktionen vorbehalten sein sollten. „Dass große Kinofilme noch Gelder für Drehbuch oder Detailfragen beantragen und diese meist bewilligt kriegen“, findet Hackbarth nicht richtig, da es viele Projekte gäbe, bei denen 5000 bis 10.000 Euro darüber entschieden, ob sie stattfinden könnten. „Und ob es wichtig ist, dass ‚Lola rennt‘ 10.000 Euro mehr bekommt oder nicht, kann ich jetzt auch nicht sagen“, fügt Hackbarth ironisch an. Doch eine generelle Verurteilung der staatlichen Förderung kostspieliger Kinofilme liegt Hackbarth fern. Er sieht die Notwendigkeit der Partizipation an landesweit und international erfolgreichen Produktionen durch die Filmförderanstalten, die sich so wirtschaftlich legitimierten. Hackbarth unterstreicht jedoch die Wichtigkeit, künstlerisch und kulturell anspruchsvolle Film- und Videoprojekte zu fördern, „die ohne Zuschüsse gar nicht stattfinden könnten.“ Das Ende wichtiger Arbeitsplattformen Kleine Produktionen, experimentelle, künstlerische und kritische Dokumentationen und Filme liegen Hackbarth besonders am Herzen. Zunehmend fehle es diesen jedoch an Präsentationsmöglichkeiten. Zum Beispiel wurde die Sendereihe „Der dokumentarische Blick“, 1993 von Klaus Wildenhahn beim NDR ins Leben gerufen, vor einigen Jahren ersatzlos gestrichen. Dieser Sendeplatz ermöglichte bis dato unbekannten Dokumentarfilmern, eigene Projekte durch finanzielle Unterstützung umzusetzen sowie

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eine Ausstrahlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Auch Hackbarth wurde mehrmals für dieses Programm ausgewählt. Als weiteres Beispiel führt Hackbarth das Ende des „Freiburger VideoForums“ an. Dieses Video- und Dokumentarfilmfestival bot seit 1984 einen Raum des Kennenlernens und des Austausches für nicht-kommerzielle Filmemacher und Dokumentarfilmer. Alljährlich besuchte Hackbarth das Festival, welches er immer als sehr inspirierend empfand. 2002 wurde ein Weiterbestehen des Festivals durch die Streichung der Zuschüsse der Stadt an die Medienwerkstatt Freiburg e.V. schließlich unmöglich. Von 1996 bis 2004 organisierte Hackbarth zusammen mit Ralf Schauwacker ein eigenes kleines Filmfestival im Café Kairo: die „KaiRolle“. Obwohl die beiden keine professionelle PR-Arbeit gemacht hätten, seien die Zuschauerzahlen immer zufrieden stellend gewesen. Das Eintrittsgeld erhielt der vom Publikum gewählte Gewinner. In den letzten Jahren erhöhte sich, so Hackbarth, der Rechercheaufwand nach guten Produktionen und nachdem Ralf Schauwacker den Betrieb des Café Kairo einstellte, war auch das Ende des Filmfestivals gekommen. Heute wird ein ähnliches KurzfilmFestivalkonzept unter dem Namen „Young Collection“ vom Filmbüro Bremen e.V. in Zusammenarbeit mit dem Kino 46 verwirklicht. Die beschriebenen Veränderungen der Kulturpolitik betrachtet Hackbarth nie losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. „Die Gesellschaft insgesamt und das Klima haben sich seit den achtziger Jahren verändert. Und mit ihr die Kulturpolitik sowie die Filmschaffenden, die aus ihr stammen. Damals gab es eine allgemeine Aufbruchstimmung und einen ganz anderen Elan, mit dem man etwas verändern wollte und Dinge ausprobieren.“ In den achtziger und neunziger Jahren hatte WieDeo e.V. viele Kontakte zu anderen Zusammenschlüssen und Mediengruppen. Einmal jährlich reisten die Mitglieder durch Deutschland, um sich mit anderen Gruppen auszutauschen und Kooperationen zu planen. So entstand eine rege alternative Szene, die es heute, resümiert Hackbarth, kaum mehr gibt. Er ist sich bewusst, dass Gruppen bestehend aus zehn bis zwanzig Menschen auf lange Dauer schwer zu erhalten seien und Mitglieder verschiedene Wege gehen wollten. Doch hätten sich der Aufwand und die Hoffnung auf eine funktionierende, kollektive Arbeit gelohnt. Viele kleine alternative Produktionsfirmen und kulturelle Institutionen, die heute die Kulturlandschaft Deutschlands mitprägten, seien entstanden.

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Stellenwert der Kunst Ob die Aufnahme des Staatszieles Kultur in das Grundgesetz etwas Positives bewirke, kann Hackbarth nicht bewerten, da für ihn Kunst und Kultur immer ein Querschnitt und Spiegelbild der Gesellschaft darstelle. Daher steht er dem Versuch, die Bedeutung der Kunst gesetzlich festzuschreiben, skeptisch gegenüber. Der Impuls eines gesellschaftlichen Dialoges über Bedeutung und Verantwortung von Kultur und Kunst müsse aus der Gesellschaft und der ihr angehörigen Kunstschaffenden kommen. Abschließend nach persönlichen Vorschlägen an die Kulturpolitik gefragt, äußert sich Hackbarth pragmatisch und direkt: „Bevor das nächste Musical mit drei Millionen Euro in die Weser gekippt wird, wären eine Million Euro für Bremer Filme sinnvoller. Das wäre doch prima, oder?“

„Träume sind Träume. Realität ist was anderes.“ Gespräch mit Shaheen Dill-Riaz S IMON V U

Ich habe Shaheen Dill-Riaz schon Jahre vor diesem Interview kennen gelernt, eher zufällig, als Freund einer Bekannten, die in Hildesheim einen Kurzfilm drehte. Es handelte sich um ein „Kleinstprojekt“ (laut Filmbüro Bremen) ohne Geld, der klassische Studentenfilm. Dass Dill-Riaz zu diesem Zeitpunkt schon ein preisgekrönter Dokumentarfilmregisseur war, ist mir erst spät bewusst geworden, und die Tatsache, dass er für Freunde unbezahlt arbeitet, obwohl er mit eigenen Projekten völlig ausgelastet sein müsste, passt zu seiner erstaunlichen Lebens- und Arbeitseinstellung: Obwohl er vom Apparat der Filmindustrie in Beschlag genommen wurde, ist er erstaunlich bodenständig geblieben. Das Gespräch mit einem Mann, der sich als diskutables Beispiel für einen funktionierenden Überlebensentwurf im Wahnsinn der Branche herausstellen wird, verzögert sich über Wochen: Es ist Berlinale, trotz einiger Anläufe findet sich kein Zeitfenster. Irgendwann, Wochen nach Ende der Festspiele, freue ich mich endlich über die Möglichkeit eines Skypegespräches – ohne genau zu wissen, wohin mein digitales Stimmensignal da gesendet werden wird. Shaheen Dill-Riaz, so stellt sich später heraus, sitzt in Konstanz und hat soeben erfahren, dass er den Adolf-Grimme-Preis für den besten Dokumentarfilm erhalten wird. Trotz des damit verbundenen Brimboriums nimmt er sich fast zwei Stunden Zeit für unser Gespräch.

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Shaheen, herzliche Glückwünsche zu dem Preis! Schön, dass du trotz Grimme-Stress bei der Verabredung geblieben bist. Ach, das ist okay. Viele E-Mails, Anfragen von Journalisten. Das war zwar zu erwarten, aber ich dachte nicht, dass dieser Preis so einen Wind machen würde. Das hier soll ja ein Künstlerreport werden. Und der Adolf-Grimme-Preis ist ein Fernsehpreis. Siehst du dich als Künstler? Können Dokumentarfilme, die mit Fernsehpreisen ausgezeichnet wurden, überhaupt Kunst sein? Die Antwort steckt, glaube ich, schon in der Frage. Fernsehen ist ein Massenmedium. Aber man kann nicht sagen, dass Fernsehen keine Kunst oder keine künstlerischen Werte vermitteln kann. Was ausgestrahlt wird, ist sehr umfangreich. Es gibt unterschiedliche Formate, Filme, Nachrichten, DokuFeatures, Doku-Fiktion. Ich möchte eher anhand meiner Filme argumentieren. Beim Grimme-Preis geht es um besonders erfolgreiche, wertvolle Projekte, die im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Und ich denke schon, dass Dokus als Kunstfilm bezeichnet werden können, denn ich unterscheide als Macher ja nicht zwischen Doku und Feature. Es geht mir darum, Geschichten zu erzählen, und ich unterscheide die Formate also eher anhand der unterschiedlichen Mittel, die verwendet werden und anhand der Themen, die in den Filmen vorkommen. Über die zentralen Aspekte und Themen meiner Filme könnte ich auch fiktive, inszenierte Filme drehen. Der Unterschied läge natürlich im Aufwand und in der Herangehensweise, sicher auch verbunden mit ganz anderen Ergebnissen. Wie bist du zum Dokumentarfilm gekommen? Ursprünglich wollte ich mit Dokus gar nicht viel zu tun haben. Mein Traum war das Filmemachen an sich. Zum Dokumentarfilm kam ich über das Kamera-Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg. Dort war ich verpflichtet, mit den Regiestudenten im ersten Jahr kleine dokumentarische Übungen zu drehen und daraus funktionierende Miniaturen zu schneiden. Dabei habe ich Blut geleckt und die Ansprüche und Möglichkeiten des Dokumentarischen kennen gelernt. Ich denke, Dokus können genauso poetisch sein wie fiktive Filme, wenn man kreativ mit den Mitteln umgeht.

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Die Steilvorlage zur Verteidigung des allgemein negativ konnotierten Fernsehsystems hast du ja gut genutzt. Es geht mir darum, auszuloten, inwiefern man sich mit den Umständen in Deutschland abfinden kann und muss, und ab wann eine Selbstdefinition als Künstler auch ungesund werden kann. Ja, das ist eine wichtige Frage, die mich seit langem beschäftigt. Und „Eisenfresser“1 ist ein gutes Beispiel für ein Dasein zwischen Anpassung und Idealismus: Das Projekt als Kinofilm aufzuziehen, war schon schwer genug und vor allem das Finden der Verleiher war schwierig. Schließlich haben wir einen Verleiher gefunden haben, der sich für unseren Film eigentlich erst gegründet hat. Die Realität ist: Dokumentationen, egal wie gut sie sind, haben es schwer im Kino. Das sieht man auch auf dem weltweiten Markt. Verleiher behandeln Dokus letztendlich stiefmütterlich, weil Spielfilme im Vordergrund stehen und schon immer die Majorität im kommerziellen Bereich ausgemacht haben. Kommerziell erfolgreiche Dokus beschäftigen sich tendenziell eher mit zeitgeistigen Themen: siehe Michael Moore, „We feed the world“ oder „Let’s make money“. Es geht nicht um Geschichten, sondern um Themen. Gott sei Dank gibt es in Deutschland aber auch Sendeplätze für andersartige Formate, obwohl die Sender wissen, dass Dokus im Kino kaum eine Chance haben. Ohne diese Sendeplätze wäre auch der Langdokumentarfilm „Eisenfresser“ nicht entstanden, das ginge gar nicht. Stimmt, der kleinste Teil der Filme, die jede Woche ins Kino kommen, ist dokumentarisch. Deswegen ist es ja umso erstaunlicher, dass dein Film, der ja eine Mischung aus themen- und geschichtenorientiertem Dokumentarfilm ist, es ins Kino geschafft hat. Ja, obwohl er leider nicht wirklich erfolgreich war. Entscheidend ist ja nicht die Qualität, sondern die Vermarktung eines Films und vor allem auch, in welcher Situation der Markt sich gerade befindet und wie er auf einen Film reagiert. Wie konnte es eigentlich geschehen, dass sich ein Kamerastudent zum gefeierten Dokumentarfilmregisseur entwickelt? Ursprünglich war Film an sich schon immer das diffuse Ziel, aber ich hatte Angst, in die Richtung vorzustoßen, weil meine Sprache noch nicht so weit

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Dokumentarfilm zu den Arbeitsbedingungen und der Umweltsituation in den Abwrackwerften von Chittagong, Bangladesch.

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war, als ich nach Deutschland kam. Erschreckend war für mich auch die Erkenntnis, dass sich Hundertschaften für eine Handvoll Studienplätze an Filmhochschulen bewerben. Ich konnte ja nicht ernsthaft denken, dass ich aus Bangladesch herkomme und direkt gegen europäische Bewerber bestehen kann. Ich hatte noch Stolpersteine vor mir: Unterlagen, die Sprache etc. Man muss einfach sehr gut deutsch verstehen können, weswegen ich zwischenzeitlich etwas anderes studiert habe, um auch die Sprache zu lernen und immatrikuliert zu sein: Das war Kunstgeschichte. (Er lacht.) Interessant ist diese Entwicklung von Kunstgeschichte über Kamera zur Dokumentarfilmregie auch im Hinblick auf äußere Einflüsse und innere Beweggründe. Die Kamerabewerbung war keine Leidenschaftsentscheidung. Zu Beginn stand die rationale Frage: Was ist sinnvoll? Regie ist gut, aber es ist kein definierbarer Studiengang. Man kann eigentlich nicht zum Künstler ausbilden oder zum Schriftsteller. Die Ausbildung vermittelt viel grundsätzliches Handwerk, aber mein Ansatz war konkreter: Womit kann ich später tatsächlich Geld verdienen? Schnitt kam in Frage, das hatte ich bis dahin aber kaum gemacht. Ich habe sehr gern fotografiert und oft als Fotograf gearbeitet. Kameraarbeit ist etwas Konkretes, weil man Geld verdienen kann ohne seine eigenen Filme zu machen. Hat dich deine eigene Entwicklung überrascht? Es ging ja nicht nach Plan, aber dennoch würdest du doch ungern mit dir als Kameramann tauschen wollen, oder? Ich arbeite noch sehr gerne an der Kamera für andere Projekte, so ist es nicht. Bei eigenen Projekten ist die gesamte Verantwortung immer bei mir, das dauert immer alles sehr lange in der Vor- und Nachbereitung. Und da habe ich einfach keine Zeit mehr, bei anderen Projekten die Kameraarbeit zu übernehmen. Hauptberuflich bin ich jetzt eben Regisseur, das muss man so wahrnehmen, und das bedeutet, dass ich im Kamerabereich eben leider weniger machen kann.

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Das ist ja eigentlich amüsant. Was denkst du über diese Entwicklung? Könntest du als „einfacher“ Kameramann vielleicht sogar glücklicher sein? Na ja. Nein. Filmemachen war schon immer der Traum. Auf der filmischen Ebene Geschichten erzählen, aber wie man da hingelangt, kann man ja nie genau wissen. (Er lacht.) Aber ehrlich gesagt dachte ich schon immer eher realistisch: Träume sind Träume, Realität ist etwas anderes. Man fängt mit dem Beruf an und hofft, dass man irgendwann vielleicht den Weg findet. Aber ich war mir da auch nicht sicher. Selbst meinen Kommilitonen an der Filmschule habe ich nie erzählt: Weißt du, eigentlich will ich Regisseur werden. (Wir müssen lachen. Es wirkt, als hätte er schon lange nicht mehr über seinen bisherigen Weg nachgedacht, als falle ihm grade erst auf, wie merkwürdig es für ihn gelaufen ist.) Es kam eigentlich nie der Punkt, dass ich sagte: Okay, jetzt will ich mal meinen eigenen Film machen. Als ich als Kameramann mit den anderen Projekten tätig war, dachte ich aber öfters: Ach, es wäre doch toll, diese Bilder auch selbst schneiden zu können. Wie Kameramänner immer sind, so eitel ... (Wieder lacht er herzhaft und unverhohlen.) Man ärgert sich oft darüber, was der Cutter da für einen Scheiß gemacht hat, wo die schönen Bilder hin sind und so weiter. So kam das ehrgeizige Ziel auf, für das Diplomprojekt alles selbst zu machen. Im Gespräch mit dem Kameradozenten habe ich meine Überlegungen das erste Mal erwähnt. Man hatte mal meine Übungen gesehen, aber es war in der gesamten Studienzeit eigentlich nie die Rede von einer eigenen Regiearbeit. Das hat sich entwickelt und ich finde es gut so. Was waren dann die wichtigsten Schritte während des Studiums, damit es weitergehen konnte nach der Schule? Wie wichtig sind deiner Meinung nach zum Beispiel Preise für das deutsche Filmsystem? Jeder hat an der Schule seinen eigenen Weg. Manche kommen dorthin, um Leute kennen zu lernen, waren davor schon als Kameraleute oder Regisseure tätig. Die brauchen die Schule als Ausbildung eigentlich nicht mehr. Sie kommen wegen des Zertifikats, um eine Anerkennung zu erhalten für das, was sie ohnehin schon machen. Viele sagen aber auch ganz gezielt: Ich

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möchte das lernen und das, weil sie sich noch gar nicht so entschieden haben und den Beruf noch gar nicht kennen. Oft ist der Ausgang aus der Schule dann so, dass die Leute schon in der Studienzeit einen gewissen Erfolg haben oder spätestens eben mit dem Diplomfilm. Die Aufgabe der Schule ist es ja zum Glück nicht nur, Fachkräfte fürs Fernsehen auszubilden, sondern in allen Bereichen auch echte Filmemacherpersönlichkeiten. Zwei Beispiele: Andreas Dresen und Andreas Höfer. Die beiden haben sich im Studium kennen gelernt, ein paar Filme zusammen gemacht, bis zum Diplomfilm und der Weg ging danach auch gemeinsam weiter. Natürlich hatte Dresen schon während des Studiums eine klare Handschrift erkennen lassen, mit seinem Vordiplomfilm war er schon erfolgreich auf mehreren Festivals, Höfer hat auch schon während des Studiums fantastische Kameraarbeiten abgeliefert. So kamen sie als Paar nach draußen und wurden mit offenen Armen vom Markt empfangen. Das ist natürlich der ideale Weg, davon träumt jeder. Und was waren für dich die wichtigsten Erfahrungen? Ich hatte ja eigentlich kaum Erfahrungen mit dem Filmemachen, deswegen haben mir die Basisseminare zu Technik und anderen Grundlagen sehr geholfen. Als Regisseur braucht man das ja auch. Erfahrungen im Schnittbereich zu machen und sich ausprobieren zu können: Das passiert alles noch im Grundstudium. Nach zwei Jahren macht man dann mehrere Komplexübungen, Filmübungen usw., bei denen alle Studiengänge beteiligt sind. Und zwischendurch gibt es eben die themenorientierten Seminare für verschiedene Bereiche, zum Beispiel für die Kamerastudenten irgendwelche Helikopteraufnahmen oder Lichtseminare. Wie ging es nach dem Studium weiter? Was war der erste Film, mit dem du dich wirklich identifizieren konntest? Mein Diplomfilm „Sand und Wasser“ – ein abendfüllender Dokumentarfilm – war ein relativ großer Festivalerfolg und somit eine gute Basis für die nächsten Projekte. Sofort nach dem Diplom habe ich mich dann getraut, ein Exposé an das ZDF/Kleines Fernsehspiel zu schicken. Das hat geklappt. Die Redaktion war von der Idee begeistert, aber es kommt oft vor, dass man dort von den früheren Arbeiten nicht so überzeugt ist und ein Projekt dann doch nicht unterstützen will. Insofern hat mein Diplomfilm „Sand und Wasser“ wichtige Überzeugungsarbeit geleistet, eine Handschrift erkennen

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lassen und meine Chancen enorm gesteigert. Nach dem Studium musste ich daher nicht viel drum herum machen. Der normale Weg wäre ja als Kamerastudent nach dem Studium gewesen mit Assistentenjobs anzufangen, als Operator oder zweite Kamera. Und wenn ich Glück gehabt hätte, hätte ich mit den Leuten aus der Schule vielleicht einen längeren szenischen Film machen können. Dieser normale Weg ist sehr mühsam und es dauert lange, bis man tatsächlich nur von seiner eigenen Kameraarbeit leben kann und von Projekten, die auch Spaß machen. Das ist mir zum Glück erspart geblieben, weil ich dann sofort mit meinen eigenen Projekten angefangen habe. Der nächste Film nach dem Diplom, „Die glücklichsten Menschen der Welt“, hat mich dann als Autor und Regisseur auch außerhalb der HFF zum ersten Mal etabliert und mir einen Boden gegeben, auf dem ich stehen und von dem aus ich weiter arbeiten konnte. Gab es denn wirklich keinerlei Überbrückungszeit zwischen Diplom und dem nächsten eigenen Projekt? (Er lacht auf.) So einfach war es dann doch wieder nicht. „Sand und Wasser“ hatte tatsächlich schon viel Zeit und Geld verschlungen, in der Zeit konnte ich auch leider nicht viel nebenher arbeiten. Danach gab es eine drei- bis viermonatige Phase, in der ich als Kameramann fürs Fernsehen gearbeitet habe. Auch während des Studiums musste ich mir mit Jobs den Lebensunterhalt finanzieren. Aber es hat sich dabei schon um „Kamerajobs“ gehandelt oder waren da auch andere Sachen dabei? Natürlich waren es keine schönen Projekte mit einer tollen Geschichte oder nettem Team, sondern Reportage-Kameraarbeiten im Fernsehen. Hin und wieder vielleicht mal ein Fernsehfilm, wo man dann für „richtige Kameramänner“ arbeiten konnte, als Assistent, Materialassistent usw. Die Atmosphäre war dann eher so wie in der Schule und man konnte auch etwas dazu lernen und es hat mehr Spaß gemacht. Das waren aber nicht viele Filme, als Neuling kam man an die interessanteren Projekte nicht so einfach heran. Das waren einfach Jobs, um die Lebenskosten zu decken. Ich hatte keine Stipendien oder Bafög. Wir haben pro Semester 50 oder 100 Mark bezahlt, was ja nichts ist im Vergleich zu heute, wo man 500 Euro hinblättern muss. Von meinen Eltern konnte ich auch nichts erwarten. In brenzligen Notlagen hat mein Bruder mir manchmal Geld geschickt. Es gab auch ein Darlehen

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oder eine Förderung für bedürftige Studenten, vor allem für ausländische, glaube ich, vom Studentenwerk Potsdam. Damit man überleben konnte in der Zeit, in der man zum Beispiel Vordiplom geschrieben hat. Das war nicht viel, aber es war schon eine Rettung. Wie ist es denn momentan? Könntest du einen Kamerajob nebenher gebrauchen, finanziell oder psychologisch? Psychologisch eigentlich immer gern, das hatten wir ja schon. Man kann da tatsächlich ganz gut den Horizont erweitern und sehen, wie andere arbeiten, neue Leute kennen lernen usw. Wenn nur das Zeitproblem nicht wäre. Finanziell gesehen geht es im Moment, obwohl sich das schnell wieder ändern kann. Geld und Arbeit sind immer seltsam verteilt bei mir. Manchmal, wie 2009, war es tatsächlich etwas eng, weil ich nichts Konkretes in der Hand hatte und zwischen den Projekten gehangen bin, recherchiert habe etc. Es gab eine Unterstützung von der DEFA-Stiftung dafür, um die Fixkosten zu decken, aber es ist nicht so üppig gewesen. Was für eine Art Förderung ist das denn? Das ist keine Filmförderung, sondern ein Stipendium, manchmal zeit-, manchmal betragsbezogen. Dann gibt es noch die Gerd-Ruge-Stiftung vom Land NRW, die machen etwas Ähnliches. Man muss dort einfach eine Filmidee einreichen, mit einer gewissen Vorrecherche, dann bekommt man ein Recherchestipendium über sechs Monate und dabei jeden Monat 1000 Euro. In dieser Zeit recherchiert man. Bei der Gerd-Ruge-Stiftung muss man am Ende ein drehfertiges Treatment einreichen. Danke für die Infos, davon habe ich noch gar nicht gehört. Noch zu deinem Alltag: Wo lebst und arbeitest du zurzeit hauptsächlich? Momentan lebe ich in Konstanz, weil ich auf Einladung der Uni ein Stipendium angenommen habe. Es ist ein Wissenschaftskolleg: Sie laden dort Wissenschaftler und Künstler ein, die für eine begrenzte Zeit, ein Jahr oder auch länger, in Konstanz wohnen und dort unter der Schirmherrschaft der Uni an eigenen Projekten arbeiten, aber diese Projekte an der Uni präsentieren müssen. Die Residenzpflicht bedeutet, dass man in Konstanz wohnen muss, dafür werden einem jedoch eine Wohnung sowie ein Büro gestellt und die Lebenshaltungskosten bezahlt.

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Wie kam es denn ursprünglich dazu? Wahrscheinlich sind Preise dafür wichtig und auch Veröffentlichungen, oder? Veröffentlichungen vor allem. Preise wohl eher indirekt, aber sicher steigt die Bekanntheit und Anerkennung, je mehr Preise man gewinnt. In diesem Fall gab es aber auch inhaltliche Überschneidungen, weil hier Wissenschaftler an der so genannten „global community chain“ arbeiten. Das ist eine Forschung, die vor zehn bis zwölf Jahren in den USA begann. Zwei Wissenschaftler der Uni Konstanz sind daran beteiligt, sie haben meinen Film „Eisenfresser“ gesehen und fanden ihn bezüglich ihrer Forschungen passend und interessant mit Blick auf die Frage, wie Produkte weltweit Zusammenhänge herstellen (ganz ähnlich wie bei dem Film „Babel“ übrigens, nur auf einer industrielleren, weniger philosophischen Ebene) und vor allem, wie sie die Wirtschaft beeinflussen. In diesem Kontext dachten sie, ich könnte hier meine Filme präsentieren und mich mit Wissenschaftlern darüber austauschen. Woran arbeitest du momentan? Ich habe eine eigene Produktionsfirma, mit der ich auch meinen letzten Film „Korankinder“ fürs ZDF produziert habe. Im Moment produziere ich einen Dreißigminüter für 3sat und die Reihe „Fremde Kinder“. Das ist noch relativ unkompliziert, weil ich keine Filmförderung beantragen muss, sondern nur Fernsehgelder, aber normalerweise heißt es ja, die Arbeitsbereiche Autor, Regisseur und Produktionsfirma sollten getrennt bleiben. Das mögen die Sender nicht so gerne … Und in deinem speziellen Fall nimmst du dazu auch noch den Posten des Kameramannes mit ein. Vier Positionen, eine Person: Was sagen denn die Geldgeber dazu? Na ja, das ist unterschiedlich, je nachdem, um was für eine Produktion es sich handelt. Förderer sehen das natürlich nicht gerne, entscheiden sich dann aber – in meinem Fall – auch für das Projekt und damit für die mir eigene Arbeitsweise, weil ich ja für meine Filme alles in Personalunion durchführen muss. Ich komme aus der Kameraarbeit und so wie ich arbeite, arbeitet nicht jeder. Es ist eine erzählerische Entscheidung, genauso wie wenn ein Autor/Regisseur einen Essayfilm plant, für den er monatelang, vielleicht jahrelang alleine unterwegs sein muss. Solche Projekte kosten insgesamt weniger Geld, haben aber eben diese Bedingungen. Wenn man in

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solchen Fällen die Förderung kompliziert macht und auf den Prinzipien beharrt, kommen solche kleinen oder andersartigen Filme eben nicht zustande. Da sind dann Förderer zum Glück auch realistisch, obwohl sie eigentlich verschiedene Positionen auch von verschiedenen Personen besetzt sehen wollen. Es geht dabei ja auch um Arbeitsteilung. Filmförderung funktioniert ja schließlich so: Das Ziel ist es, das von lokaler oder nationaler Stelle vergebene Geld durch die Hände einer Produktionsfirma auch lokal oder national an Filmschaffende gelangen zu lassen. Je mehr Personen an der Produktion beteiligt sind, desto besser ist das natürlich. Aber wenn man sich dafür entscheidet, wie ich zu arbeiten, hat das natürlich Konsequenzen. Ich glaube auch nicht, dass meine Arbeitsweise generell die ideale ist. Wie viel arbeitest du an deinen eigenen Projekten: kreativ, recherchierend oder eher bürokratisch? Wie viel Zeit kannst oder willst du für dieses universitäre Projekt einberechnen und wie viel Freizeit bleibt am Ende übrig? (Er lacht herzhaft.) Oh, das ist ein Chaos. Ich bin da weder diszipliniert noch besonders organisiert. Ich arbeite teilweise tagelang, wochenlang durch wie ein Wilder – oder mache häufig auch gar nichts, weil ich müde bin oder frustriert. Dann sitze ich auch mal tagelang auf der Couch herum, ohne wirklich produktiv zu sein. Generell orientiere ich mich natürlich nach dem Projektstand. Wenn etwas geschrieben werden muss, dann schreibe ich eben zwei Wochen durch. Welche Arbeiten übernimmt die Produktionsfirma für dich? Die Produktionsfirma übernimmt normalerweise alle Förderanträge, ich kann mich generell schon ganz gut auf meine eigenen Sachen konzentrieren. Aber wenn man alles selber produzieren muss, ist das natürlich sehr viel Arbeit. Das deutsche Fördersystem ist mittlerweile sehr kompliziert geworden, vor allem wenn man Fernsehgelder und Filmförderung zusammen haben möchte. Dafür braucht man dann tatsächlich jemanden, der sich ausschließlich darum kümmert. Zum Glück hatte ich bei „Eisenfresser“ und den „Glücklichsten Menschen“ eine sehr gute und zuverlässige Produzentin, die mir den Rücken freigehalten hat, sodass ich mich auf die eigentliche Arbeit konzentrieren konnte.

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Wie hast du sie gefunden? Das lief über die Schule. Michael Weihrauch, ein Kamerakommilitone, hat eine Produktionsfirma gegründet und mich mit Kathrin Lemme bekannt gemacht, denn er hatte meinen Diplomfilm gesehen. Die beiden hatten schon anderweitig als Produzenten für andere Firmen gearbeitet und wollten etwas Eigenes aufmachen, und so wurde ich als erstes Projekt der neuen Firma vorgeschlagen. Bist du insgesamt zufrieden, so wie alles bei dir gelaufen ist? Ich bin zufrieden. Auch was Fördermöglichkeiten und das Fördersystem insgesamt angeht. Ich muss mich einfach nur selbst besser organisieren und mit meinen eigenen Problemen und Dingen besser umgehen, aber das ist ein Privatding. Das, was ich verdiene, ist für meine Leistung, für das, was ich erbringe, eigentlich okay. Wobei das natürlich total abhängig ist von den Produktionsfirmen und davon, wie sie mit Teammitgliedern umgehen. Es gibt da auch schreckliche Geschichten über verzögerte Zahlungen, massive Vorwürfe über Fördergelder, die auf Umwege in künftige Projekte gesteckt werden, Schulden bei Banken usw. Es ist anscheinend ein bisschen wie Spekulieren im Bankgeschäft. Würdest du dich für strengere Maßnahmen im Fördersystem aussprechen? Nein, die Förderer wissen davon ja gar nichts. Das ist die Verantwortung der Firma, als Arbeitgeber die Arbeitnehmer rechtzeitig zu bezahlen. Das geht ja den Sender oder die Filmförderung nichts an. Und viele Leute könnten natürlich zur Förderstelle gehen und diese Tatsachen melden, sodass die Firma auf eine Schwarze Liste kommt, aber das macht niemand, weil niemand aus dem Pool der Firma herausfallen möchte, aus Angst davor, beim nächsten Projekt nicht berücksichtigt zu werden. Das ist die innere Kommunikation der Branche, niemand will sich einen schlechten Namen machen. Das ist natürlich bitter, aber auch verständlich. Ein Teufelskreis. Was ist denn mit den Verbänden? Es gibt natürlich den Bundesverband Kamera (BVK) oder die AG DOK (Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm), aber ich glaube, die machen da auch kaum oder sehr selten etwas – auch, weil sich selten Leute melden. Nach dem Projekt kann man ja alle darüber informieren, wie man behandelt wurde. Das hätte dann schon Konsequenzen, Disziplinarverfahren usw.

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Aber man will ja generell nicht die Stimmung kaputtmachen, denn man muss ja zusammen arbeiten. Und teilweise sind die Firmen auch einfach überfordert mit Projekten. Sie tun das alles ja meist nicht absichtlich, sondern könnten vielleicht, ohne an ein paar Ecken illegal zu handeln, gar nicht überleben. Viele gehen dann eben lieber diese Kompromisse ein. Das ist ein Grundproblem in der Filmindustrie, die Nähe zwischen dem professionellen und dem privaten Verhältnis. Das Paradoxe dabei ist, dass es ja auch nicht anders geht, denn es ist schließlich meistens eine Arbeit auf engstem Raum, die viel von Persönlichkeiten und Geschmäckern abhängt, was bedingt, dass man sich auch persönlich kennen und mögen muss. Da verwischen oft oder fast immer die Grenzen, und wenn es dann Personen gibt, die das – wie auch immer – ausnutzen, wird es sehr schnell sehr schwierig. Bist du eigentlich in der KSK? Ja. Und hast du eine Rentenversicherung? Ja … (Er lacht kurz und verlegen.) Da ist Folgendes passiert: Als ich vor einiger Zeit einen Brief bekam, in dem stand, wie viel Rente ich bekomme, musste ich lachen: 40 Euro oder so. Alle Kollegen meinten darauf: „Niemand erwartet, von der KSK leben zu können. Was denkst du denn? Du musst einfach eine extra Rentenversicherung abschließen.“ Das hab ich dann gemacht, ziemlich spät, vor ein paar Monaten erst – die Riesterrente über meine Bank. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, von dieser Rente zu leben. Ich hoffe, dass ich arbeite, solange es geht und dann von Erspartem leben kann. Angewiesen sein möchte ich auf die Rente nicht, aber für alle Fälle. Findest du die KSK denn dann überhaupt sinnvoll? Es hängt von den Verdiensten und von den Angaben ab. In manchen Jahren wusste ich auch nicht, was ich verdiente … (Er stockt kurz, versucht sich zu erinnern. Man bemerkt eine gewisse Unsicherheit und Unwillen gegenüber dem Thema.) Das war alles ein bisschen durcheinander. Als Bezuschussung der Krankenversicherung ist sie aber, glaube ich, ganz gut geeignet, da unterstützt sie den Künstler schon. Als Rente geht es eigentlich nicht. An dieser Stelle bricht die Aufzeichnung auf meinem Rechner ab, ohne dass ich es bemerke. Wir sprechen noch gut eine halbe Stunde über interessante,

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auch existenzielle Themen, und als ich ihm am nächsten Tag von dem bedauerlichen, peinlichen Ausfall erzähle, antwortet er sehr entspannt, dass wir gerne auch den letzten Teil des Gesprächs wiederholen könnten. Dankend lehne ich jedoch ab. Die Vorstellung eines Gespräch-Reenactments kommt mir absurd vor, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass wir noch mal in eine ähnlich offene Stimmung hineingelangen würden, wenn wir Gesagtes noch einmal besprechen würden. Um seiner Offenheit gerecht zu werden, hier dennoch der Versuch einer Zusammenfassung: Das schon mehrfach erwähnte Paradoxon des heute etablierten Filmschaffenden und Filmkünstlers zeigt sich in der kräftezehrenden, auslaugenden, niemals endenden Selbstdarstellung, Selbstbeweihräucherung, Selbstfeier bei gleichzeitigem Verwischen von Professionellem und Privatem. Nicht nur sind Geschäftspartner auch meistens Freunde, wodurch Missverständnisse und Zerwürfnisse augenblicklich eine völlig neue Härte und Relevanz bekommen, auch bleibt keine Zeit, einen privaten Freundeskreis aufzubauen. Die Arbeit hört weder auf noch fängt sie irgendwo genau an und wird bei den meisten durch eine ebenso kräftezehrende wie beflügelnde Feierkultur kompensiert. Die ewige Ekstase führte zu einem Lagerkoller, der sich in der Zweckgemeinschaft der Filmschaffenden eingenistet hat wie eine chronische Bronchitis. Er gehört zum Wesen einer Branche, in der immer nur einige Wenige ganz oben stehen können, aber alle jeden kennen müssen. So wird die Industrie zu einer Ansammlung Privatlebenloser, ganztags-vernetzter Eigenbrödler, die aber anscheinend in diesem Zustand aufgehen. Es ist schwierig zu sagen, welche Seite der Gleichung zuerst existierte. Der Mensch folgt seinen Instinkten und seinen Neigungen und so landen vielleicht auch nur Persönlichkeiten in dieser Branche, für die dieses Leben das einzig mögliche ist. Shaheen Dill-Riaz könnte einer von ihnen sein, obwohl seine bodenständige Demut, Selbstkritik und sein Realitätssinn nicht zu den Vorurteilen gegenüber der Filmbranche passen. Aber vielleicht sind sie die Gründe dafür, dass er noch nicht existenziell mit der aufgeputschten Blase der Filmindustrie kollidiert ist. Stattdessen erzählt er auch von den offensichtlichen Verlierern der beschriebenen Umstände, von denjenigen, die unter dem Selbstbild eines Künstlers und dem ständigen Ausnahmezustand zerbrechen und lässt dabei stets demütig durchblicken, wie viel Glück er bisher gehabt hat. „Kaum jemand kann erfolgreich sein und gleichzeitig ein normales Familienleben aufrecht erhal-

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ten“, sagt er am Ende unseres Gesprächs, und wie ich zu verstehen meine, klingt er ein wenig traurig, als wir uns leise verabschieden.

„Der Beruf des Kinderfilmregisseurs ist quasi nicht mehr existent“ Porträt von Bernd Sahling N ORA O TTE

Bernd Sahling wurde 1961 in Naumburg geboren. Er absolvierte 1983 ein Volontariat im DEFA-Spielfilm-Studio in Babelsberg. Im Anschluss war er als Regieassistent unter anderem für Hannelore Unterberg, Helmut Dziuba und Rolf Losansky tätig. Bernd Sahling begann 1986 sein fünfjähriges Diplomstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf (HFF) in Babelsberg. Bereits während des Studiums ergab sich für ihn die Möglichkeit, direkt beim Film und für das Fernsehen zu arbeiten. Der Übergang zwischen seinem Studium und dem Berufseinstieg verlief fließend. Schon der Volontariatsabschlussfilm wurde im Kino gezeigt und läuft heute noch auf Festivals („Lied für Anne“ – DEFA 1985) der Abschlussfilm an der HFF, eine Langzeitdoku über einen Ostberliner Punk, der in den Westen geht, war eine Koproduktion mit der Hochschule für Fernsehen und Film München und der Fernseh- und Filmproduktionsgesellschaft Eikon und wurde vom Kleinen Fernsehspiel angekauft („Alles wird gut“ – 1989/90). Seitdem arbeitete Sahling als freiberuflicher Autor und Regisseur. Seit 2005 gibt er im medienpädagogischen Bereich Workshops für Schüler und Studenten und arbeitet mit Filmstudenten. Nach TV-Dokumentationen und Spielfilmarbeiten, wie dem Kurzspielfilm „Die Rechte der Kinder – Ruhestörung“ (1997) und „Gymnasium oder wir werden sehen“ (1999) über sehbehinderte Kinder, gab er im Jahr 2004 mit „Die Blindgänger“ sein hoch

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gelobtes Spielfilmdebüt. Bernd Sahling ist Mitglied des Fördervereins Deutscher Kinderfilm e.V. und des Filmverbandes Brandenburg e.V. Nach einer These des Autors und Lektors Jo Lendle können „nur ein Prozent aller Autoren vom Schreiben leben: Und selbst die verdienen eher an Lesungen, Preisen, Artikeln und diesem ganzen Drumherum.“ Welche Aussagen lassen sich in diesem Zusammenhang zur Dokumentar- und Kinderfilmbranche machen? Im Bereich des Dokumentar- und Kinderfilms würde die Ein-Prozent-Marke noch nicht einmal erreicht werden, erklärt Bernd Sahling. Nur sehr wenige könnten ausschließlich vom Filmen leben. Es gäbe keine wirtschaftliche Absicherung, man lebe sozusagen von der Hand in den Mund. Kreativität sei gefragt bei der Absicherung der Existenzgrundlage und die Suche nach Nebenbeschäftigungen gehöre neben dem anstrengenden Filmbusiness ebenso zum Lebensalltag. Bernd Sahling sieht sich selbst in einer eher schlechten wirtschaftlichen Lage. Sein Nettoeinkommen sei in den vergangenen drei Jahren gesunken. Er bezieht die Hälfte seines Einkommens aus seinen Nebentätigkeiten, die sich zusammensetzen aus Vorträgen, Gremien und Juryarbeiten wie für einige Jahre dem Auswahlgremium der Sektion „Generation“ der Berlinale. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Kindern, bot ihm das Jugendamt Potsdam 1996 eine Honorararbeit als Einzelfallhelfer an. Zu dieser Zeit suchte das Amt händeringend Männer für die Betreuung von Jungen. Vier Jahre kümmerte er sich, neben seinem eigentlichen Beruf als Regisseur, um einen neunjährigen hyperaktiven Jungen. Eine feste Stelle als Dozent an einer Filmhochschule lehnte Bernd Sahling ab, da er die Vorteile der Selbstständigkeit schätze. Er arbeite sehr gerne als freiberuflicher Filmemacher mit Kindern. „Es gehört zu den kulturellen und bildungspolitischen Aufgaben, Kindern Gehör und Stimme zu verleihen, sie in den medialen Lebensalltag zu integrieren und über Filme mit ihnen ins Gespräch zu kommen.“ Die Verantwortung der Kinderfilmemacher bestehe für ihn nicht nur darin, ein junges Publikum zu bespaßen, sondern vor allem in der Beobachtung und der Auseinandersetzung mit den Problemen und Themen der jüngeren Generationen. Beim Kinderfilm gehe es ihm nicht um die Draufsicht oder Absichten der Eltern – diese können natürlich auch Thema sein – aber im eigentlichen Mittelpunkt stehe für ihn die Perspektive der Kinder. Der Nachwuchs müsse sich mit seinen Interessen in der Gesellschaft respektiert und vertreten sehen.

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In der Einzelfallhilfe wurde Bernd Sahling mit Themen konfrontiert, die ihn auch als Filmemacher interessierten. Er nutzte die Arbeit mit seinem jungen Klienten als Grundlage für ein neues Drehbuch mit dem Titel „Das verlorene Lachen“, für dessen Realisierung er sich seit 2001 einsetzt. Genauso wie bei seinem Spielfilmdebüt „Die Blindgänger“ interessierten Bernd Sahling die Geschichten des Lebens, die ihn unmittelbar umgeben. Auf der Grundlage seiner gesammelten Notizen über den Lebensalltag des neunjährigen Jungen, entwickelte er das Drehbuch für sein Projekt. Bernd Sahling erkannte in seiner Nebentätigkeit als Einzelfallhelfer den Vorteil, ganz nah an seiner filmischen Zielgruppe zu sein. Doch gibt er gleichzeitig zu bedenken: „Der einzige Nachteil ist der hohe Aufwand an Zeit und Kraft, die ich eigentlich für meine Filmprojekte benötige.“ Zehn Jahre Abstand zwischen Idee und Erstausstrahlung Am Beispiel von seinem Spielfilmdebüt „Die Blindgänger“ erläuterte Bernd Sahling den langwierigen Prozess von der Idee bis zur Vollendung eines Filmprojekts. Der Vorläufer seines späteren Spielfilms war eine Langzeitdokumentation über die Kindheit eines blinden Mädchens. In seinem Spielfilm griff er die Themen auf, die im Dokumentarfilm nicht gezeigt werden durften, die ihn aber beschäftigten. Die Anfänge der Drehbuchidee lagen zwischen 1995 und 1996. Damals hatte Bernd Sahling ein Stipendium vom DAAD erhalten. Er reiste in die USA und entwickelte dort mit Hilfe seines Professors vom Filminstitut Chicago das Drehbuch. Aufgrund einer weiteren Förderung durch das Kuratorium junger deutscher Film (KJDF) erhielt Bernd Sahling die Möglichkeit, zusammen mit dem Dramaturgen Thomas Hailer, der heute als Programm-Manager der Berlinale an der Seite des Festivaldirektors tätig ist, und dem Koautor Helmut Dziuba, der zahlreiche Kinder- und Jugendspielfilme im DEFA-Spielfilmstudio realisiert hat, das begonnene Drehbuch fertig zu stellen. Zwischen 1998 und 1999 legte er der Produzentin der Kinderfilm GmbH Erfurt die Endfassung vor. Diese benötigte knapp zwei Jahre, um die finanziellen Mittel für den Film zu beschaffen. „Die Blindgänger“ konnte 2003 gedreht und 2004 fertig gestellt werden. Das Filmvorhaben umfasste von der Idee bis zur Premiere eine Zeitspanne von zehn Jahren. „Ideen, Drehbücher und vor allem die Finanzierung brauchen einfach Zeit, besonders im Arthousebereich des Kinderfilms“, erläutert Bernd Sahling. Der Zeitraum von zwei

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Jahren, um Gelder zu bekommen, sei sogar relativ kurz für sein Genre, denn viele Fördermittel blieben ihm verwehrt, weil er den Erwartungen der Filmförderstellen, die finanziellen Ausgaben binnen kürzester Zeit wieder einzuspielen, nicht gerecht werden könne. Dieser Anspruch sei bei Arthousefilmen für Kinder nicht realisierbar und beim Dokumentarfilm für Kinder schlichtweg unmöglich. Es gibt die Kategorie „Bestseller-Verfilmung“, die ein Garant für erfolgreiche Verkaufszahlen und eine damit einhergehende Refinanzierung zu sein scheint. Als Beispiel hierfür nannte Bernd Sahling „Die wilden Kerle“ oder die Verfilmungen der Bücher von Cornelia Funke. Diese Filme erhielten in der Regel staatliche Förderung. „Es geht mir um die Gleichberechtigung von Projekten mit größeren und geringeren Marktchancen“, betont Bernd Sahling. In seinem Filmgenre könne er den Auswahlkriterien nicht gerecht werden und keine Rentabilität in kürzester Zeit garantieren. Allerdings sind positive Entwicklungen zu verzeichnen: Die Mitteldeutsche Medienförderung (MDM) setzt bei Kinderfilmen mittlerweile den Nachweis der Wirtschaftlichkeit aus. „Es ist Irrsinn zu glauben, dass sich jede Art von Kinderfilm schnell refinanzieren kann“, so Sahling. Denn zu viele unterschiedliche Faktoren beeinflussten die Rezeptionsbedingungen des jungen Publikums. Er gibt zu bedenken, dass ein Film wie „Die Blindgänger“ nicht nur aus der Vorbereitung und der Umsetzung bestehe, sondern auch in gleichem Maße aus der Nachbereitung. Er vereine mehrere Themen wie Behinderung, den Umgang mit Verbänden etc., wodurch er bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen zum Einsatz kommen könnte. Diese zusätzliche Arbeit, beispielsweise Blindenverbände zu kontaktieren, die den Film in ihre Programme einbinden, müsste eigentlich dem Verleiher abverlangt werden. Doch die kapitulierten oft vor dieser zeit- und geldaufwendigen Aufgabe, falls sie überhaupt dazu bereit sind, einen Arthousekinderfilm in die Kinos zu bringen. „Es ist eine Grundentscheidung unserer Gesellschaft, ob wir unseren Kindern ein vielfältiges Kinoprogramm anbieten oder nicht. Die Verleiharbeit gehört genauso in den zu subventionierenden Bereich“, fordert Bernd Sahling. Im Bereich der staatlichen Filmfördersysteme sei Deutschland führend, denn die einzelnen Länder und auch der Bund stellten verschiedene Fördermittel bereit. Das Problem der ungleichen Verteilung liege also nicht an einer Geldknappheit, sondern an einem mangelnden Bewusstsein dafür,

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dass eine bestimmte Art von Kinderfilm nur subventioniert entstehen könne und dann auch subventioniert bleiben müsse. Es sollten spezielle Subventionen für die Art der Kinderfilme zur Verfügung gestellt werden, die es aufgrund des allgemeinen Marktverhaltens nicht schafften, ihr Budget wieder einzuspielen. Subvention heißt für Bernd Sahling, privilegiert für etwas Geld auszugeben, unabhängig von der Rentabilität oder dem Profit. Das Problem des ständigen Neubeginns Bernd Sahling hat in seinem Beruf schon bessere Zeiten erlebt: Ursprünglich kommt er aus einem Land, in dem Kinderfilme regelmäßig gedreht wurden. In der DDR hatte er im DEFA-Studio in Potsdam seine Ausbildung als Kinderfilmregisseur begonnen. Es gab eine direkte Sparte für diesen Bereich. Pro Jahr sind zwei bis vier Kinderfilme entstanden. Derzeit wird im Arthousebreich für Kinder etwa alle vier bis fünf Jahre ein Film gedreht. Sahlings Mentor Helmut Dziuba konnte in der DEFA fast alle zwei Jahre einen Spielfilm für Kinder oder Jugendliche schreiben und umsetzen. Allerdings gab es auch Regisseure, die in Ungnade gefallen waren und nicht drehen durften – die Kehrseite des sozialistischen Studiobetriebs. Grundsätzlich war die Arbeit als Kinderfilmer ein geachteter Beruf, aus dem sich eine eigene Community entwickelte. „Das gibt es so heute nicht mehr. Der Beruf des Kinderfilmregisseurs ist quasi nicht mehr existent“, bedauert Bernd Sahling. „Die Blindgänger“ wurde 2003 gedreht. Zurzeit dreht Bernd Sahling Dokumentarfilme mit und für Kinder und Jugendliche und hilft ihnen eigene Filmprojekte zu realisieren. Wann Sahling seinen nächsten Spielfilm in Angriff nehmen kann, ist offen. „Das verlorene Lachen“ hat zwei Drittel der Finanzierung erhalten. Es sieht aber trotzdem so aus, als könne der Film nicht gedreht werden, weil sich bisher kein Fernsehsender als Koproduzent gefunden hat. Anders als die DDR-Regisseure, die aufbauend aus Erfahrungen vorangegangener Filmdrehs fortwährend gelernt haben, wie man für Kinder Drehbücher entwickelt, wie man mit Kindern arbeitet, wie man Kinder inszeniert, stehen Kinderfilmregisseure heute, aufgrund der langen Schaffenspausen, vor dem Problem des ständigen Neubeginns. Der sensible Umgang mit den Geschichten der Heranwachsenden, den jungen Darstellern auf dem Set während der Dreharbeiten, das Einhalten der Arbeitszeiten von fünf Stunden pro Tag etc. sind Aufgaben, die trainiert werden müssen.

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Ohne handwerkliche Übung könne sich keine Sicherheit auf diesem Gebiet einstellen. Und Meisterwerke sind ohne handwerkliche Übung auch nicht zu erwarten. Wenn es doch noch grünes Licht für „Das verlorene Lachen“ geben sollte, wird Bernd Sahling unter Druck arbeiten müssen, da trotz fehlender Arbeitskontinuität bei diesen hohen Summen keine Fehler passieren dürfen. Die Fördermittel müssen gewinnbringend umgesetzt werden. „Die Situation, dass die Wirtschaftlichkeit eines Kinderfilms stärker in den Mittelpunkt gestellt wird als die künstlerische oder gesellschaftliche Relevanz, ist für mich hochgradig frustrierend.“ Es gebe kaum mehr Platz für handwerkliche als auch inhaltliche Spielräume in diesem Bereich, worunter die Experimentierfreude leide. Unter diesen Bedingungen wolle kaum noch jemand hauptberuflich in diesem Metier arbeiten. Es gäbe zwar Nachwuchs, der an den Filmhochschulen Kurzfilme im Kinderbereich produzierte, doch sobald dieser nach dem Abschluss versuche, den ersten langen Kinderfilm umzusetzen, gerate er schnell an die Grenzen, die nur mit einer Nachwuchsförderung für Kinderfilm zu überwinden wären. Dementsprechend verlassen die meisten Kinderfilmregisseure die Branche wieder nach oder vor dem ersten realisierten Langfilm. Bernd Sahling möchte keine Unterscheidung zwischen ernsthaften und unterhaltenden Kinderfilmen ziehen. Es gäbe einfach Filme, die eigneten sich mehr dazu, in kürzester Zeit viele Kinder ins Kino zu holen, und andere, die in den ersten zwei Jahren nicht so viel Geld einspielen könnten. „Blindgänger“ gehöre zu letzterer Kategorie. Der Film wurde in den ersten Jahren von 25000 Zuschauern gesehen. Mittlerweile kann der Film europaweit über 100.000 verkaufte Karten verzeichnen. Die meisten Zuschauer hat „Die Blindgänger“ durch die Einsätze wie bei Filmernst in Brandenburg und anderen Kinder-Jugend-Schulfilm-Wochen erreicht. Diese Veranstaltungen werden als verkaufte Kinokarte gerechnet. Ob diese Verkaufszahlen einen großen Erfolg beschreiben oder nicht, ist schwer zu analysieren. „Für so einen Film ist es sicherlich ein gutes Ergebnis“, meint der Filmemacher selbst. Doch hat der Film seine zwei Millionen Euro, die er gekostet hat, noch nicht wieder eingespielt. Auf die Auszahlung seiner Rückstellungen wartet Bernd Sahling bis heute. Die Fördersituation im Bezug auf Rückstellungen hat sich 2009 geändert. Bisher setzten sich Rückstellungen wie folgt zusammen, wie Sahling erläutert: „Der Produzent musste nachweisen, dass 15 Prozent des Budgets

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als Eigenmittel getragen werden. Manchmal waren es auch 20 oder 25 Prozent, je nach Statut der Stiftung oder Filmförderungsanstalt. Dies konnte der Produzent nur, indem er entweder Honorare zurückstellte oder Referenzmittel in Form von Auszeichnungen vorangegangener Filme, zum Beispiel dem Deutschen Filmpreis, vorlegte. Auch die Zusicherung von finanzieller Unterstützung durch Fernsehsender galt als Referenzmittel.“ Mittlerweile sei es so, dass „der Produzent fünf Prozent an Eigenmitteln als Geldsumme nachweisen muss. Generell aber darf nach EU-Recht die Förderung eines Films nicht mehr als 80 Prozent betragen, 20 Prozent müssen über Senderbeteiligung, Sponsoren oder Eigenmitteln gestellt werden.“ Im Moment entscheiden sich die Fernsehsender aber ausgesprochen selten für Originaldrehbücher im Kinderfilmbereich. In den letzten Jahren entstanden hauptsächlich Märchen und Literaturverfilmungen, weil hierbei hohe Einschaltquoten gewährleistet seien. „Wir bewegen uns in einer Monokultur“ „Es sind einige Bemühungen seitens der Gremien zu erkennen, den Missständen in der Kinderfilmbranche entgegenzuwirken. Zum Beispiel besagtes Kuratorium junger deutscher Film und mittlerweile auch der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. In diesen Gremien sitzen Förderer, die darüber entscheiden, welche Filme finanziert werden“, sagt Bernd Sahling. Der Regisseur geht davon aus, dass die Gremienmitglieder, die zusätzlich auch in anderen Gremien in Köln oder Leipzig sitzen, den bereits vom KJDF finanziell unterstützten Filmen auch gewogen sein werden. „Das sind schon bemerkenswerte Ansätze.“ Könnte Bernd Sahling selbst eine Liste an Förderkriterien aufstellen, so wären vor allem folgende Punkte darin enthalten: „Filme, die sich um das Leben der Kinder drehen und die Darstellung ihrer Welt mit ihren Problemen einbeziehen. Der Versuch, Geschichten auf andere Arten zu erzählen, damit das Filmhandwerk und die Erzähltechniken vorangetrieben werden. Es muss die Möglichkeit eingeräumt werden, dass Filmemacher Mut zum Risiko haben, was zurzeit nicht mehr existiert. Aber nur so kann Vielfalt entstehen. Ich will keine Filme ausgrenzen. Bestseller, etwa Literaturverfilmungen, sind genauso wichtig wie Dokumentarfilme oder Originaldrehbuchfilme. Mir geht es um Vielschichtigkeit. Aber meiner Meinung nach bewegen wir uns gerade in einer Monokultur.“

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Die Verantwortung gegenüber der frühzeitigen Prägung von Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen der jungen Rezipienten, spielt für Bernd Sahling eine entscheidende Rolle bei der Überlegung über die Veränderungen der Förderkriterien. Die Schweden und Norweger hätten uns an diesem Punkt einiges voraus, so Bernd Sahling. Sie zeigten seit Jahren Kinderfilme mit Anspruch und Themen, die sich mit dem komplizierten Lebensalltag von Kindern beschäftigten. Die Kinder würden mit diesen Filmen groß und erhielten dadurch einen weitgreifenden Einblick in die komplexe Filmlandschaft. In Deutschland scheint diese Vielschichtigkeit zu fehlen. Wenn Bernd Sahling hier einen Kinderworkshop zum Thema Dokumentarfilm gibt und die Fünft- oder Sechstklässler fragt, was sie unter einem Dokumentarfilm verstünden, dann nennen sie ihm oftmals die Tierdokumentationen aus dem Nachmittagsprogramm der Fernsehsender, weil sie keine anderen kennen. Wenn er ihnen daraufhin Dokumentarfilme zeigt, die beispielsweise nicht mit Voice-over unterlegt sind, merkt er sehr wohl, dass eine Neugier für andere Formen des Dokumentarfilms bei den Kindern vorhanden ist. Ob sie dieses geweckte Interesse aber auch weiterhin verfolgen könnten, sei abhängig von den Möglichkeiten, die ihnen von Seiten der Eltern oder Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt würden. „Kurzfristiges Denken funktioniert nicht bei Kindern“, betont Bernd Sahling. Die Langfristigkeit und Nachhaltigkeit müsse unbedingt berücksichtigt werden. Als Beispiel für diesen Ansatz zieht Bernd Sahling seine eigene Erfahrung heran, die er mit dem Jungen aus der Einzelfallhilfe gesammelt hat. Bernd Sahling unternahm damals mit dem Jungen eine Paddeltour, an der sich sein Zögling nur widerwillig beteiligte – er fand die „geradezu bescheuert“. Als der Junge aber nach der dreijährigen Betreuung zu einer letzten gemeinsamen Unternehmung aufgefordert wurde, antwortete dieser: „Paddeln wäre ganz schön.“ Diese nachhaltige Wirkung könne nicht in Geld umgerechnet werden und sei schwer zu kalkulieren. Man wisse einfach nicht, welches Angebot bei welchen Kindern nachwirke. Deswegen sei es so wichtig, mehrere Angebote zu machen. Bewegungen in der Dokumentarfilmlandschaft für Kinder Wer die Entscheidungen beeinflusst und trifft, was für Filme gerade auf dem Markt gefragt sind, lässt sich für Bernd Sahling schwer feststellen. Er beobachtet, dass die Dokumentarfilmbranche für Kinder einem ständigen

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Auf- und Abschwung unterlegen ist. Kurz vor Abschluss seines Studiums an der HFF gab es eine Phase, als der Kinderdokumentarfilm sehr gefragt war. Damals durften die Absolventen eine ganze Staffel von halbstündigen Kinderdokumentarfilmen für den ORB (heute RBB) produzieren. Doch schon nach einem Jahr wurde diese Dokumentarfilmreihe aus unbekannten Gründen wieder eingestellt. Derzeitig macht sich NRW für den Kinderdokumentarfilm stark. Die Initiative „dokyou“ lade Filmemacher dazu ein, in NRW in die Schulen zu gehen und die Schüler für den Dokumentarfilm zu interessieren. Gleichzeitig helfen die Workshops den Filmemachern, ihre Themen und Geschichten für einen Dokumentarfilm zu finden. Inzwischen sind sechs kurze Dokumentarfilme für „dokyou“ entstanden, die auf vielen Festivals, in Schulveranstaltungen und Tagungen gezeigt wurden. „Wenn aus dieser Initiative eine Regelmäßigkeit entstehe, würde das vielleicht einiges in der Dokumentarfilmlandschaft bewegen.“ „Der Alltag eines Kindes ist so vielfältig und so kompliziert, dass es gut wäre, wenn sich viel mehr Filmemacher und Filmmitarbeiter finden, die sich damit auseinandersetzen wollen.“ Dies könne nur ausreichend geschehen, wenn eine Regelmäßigkeit dieser Arbeit und auch ihrer Bezahlung gewährleistet sei. Beim Bund gibt es nur eine Filmförderung explizit für den Kinderfilm, die zusammen mit dem Kuratorium junger deutscher Film vegeben wird. Insgesamt stellen sie ein Jahresbudget von etwa einer Million Euro zur Verfügung. Alle Kinderfilmmacher reichen ihre Projektanträge dort ein und stehen in Konkurrenz zueinander. Bernd Sahling ist mit einem kleineren Dokumentarfilm und einem Langspielfilm sogar sein eigener Konkurrent. Diesen Umstand kritisiert Bernd Sahling heftig: „Wenn der Kinderfilmbereich verbessert werden soll, dann müssten andere Förderstrukturen entwickelt werden.“ Es müsse nach privilegierten Maßstäben gehandelt werden, denn in dieser Branche werde keiner reich oder berühmt. Bernd Sahling fordert für die kulturpolitische Agenda: „Eine kulturelle Kinderfilmstiftung, die ein Jahresbudget von ca. zehn Millionen Euro zur Verfügung hat.“ Dieser Gedanke resultiert aus seinen Erfahrungen mit Teilförderungen für Projekte mit Originaldrehbüchern im Kinderfilmbereich. Diese Teilförderungen seien oft Fehlinvestitionen. Bei einem seiner Filmvorhaben erhielt er eine Teilförderung, um seine jungen Darsteller casten zu können, doch da weitere Gelder zur Umsetzung seines Films ausblieben, musste er das Casting stoppen und das Projekt wurde auf Eis gelegt. Diese Arbeit

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führte somit zu keinem Film, da die Entwicklung der Kinder unabhängig von den Fördermitteln voranschreitet. Mit einer staatlichen Zuwendung von einer Million Euro pro Jahr für die gesamte Kinderfilmbranche, lässt sich einfach nicht viel erreichen. Es gäbe immer wieder Filmprojekte des Kuratoriums junger deutscher Film und des BKM, die eine Förderung von 250.000 Euro zugesagt bekommen hätten. Da es ihnen aber nicht möglich gewesen wäre, den Rest der Finanzierung zusammenzubekommen, wären diese Projekte nie zu Ende gebracht worden. Natürlich existierten unabhängig von den großen Filmförderstellen etliche Wege für die Beschaffung von Geldern, es gäbe andere Förderinstitutionen, die dem Kinderfilm sehr gewogen seien. „Wenn ein Filmemacher hartnäckig bleibt, kann er über die Jahre vielleicht sogar das kleine Wunder vollbringen und aus den unterschiedlichen Förderungen einen ganzen Film finanzieren. Aber kaum ein Produzent hat Lust, auf diesem Niveau ein zweites Mal einen Film zu produzieren“, erklärt Sahling. Die Kleinstaaterei und Häppchenvergabe, die sich hinter diesem System verberge, sei sehr zeitaufwendig und nervenaufreibend. Die meisten widmeten sich daher schnell dem Erwachsenenfilm, der sich eher rentiere. In dieser Kategorie gäbe es auch mehr Sendemöglichkeiten, beispielsweise das „Kleine Fernsehspiel“, bei dem auch Arthouse-Filme gezeigt würden. Für Kinderfilm fehlten an dieser Stelle die Möglichkeiten. Entwurf für eine bessere Förderung von Kinderfilmen Bernd Sahling glaubt, dass die allgemeine Scheu vor zu spröden, komplexen und konfliktreichen Inhalten für diese derzeitige Situation mit verantwortlich sei. Die Angst, die jungen Zuschauer mit diesen Themen und dadurch auch die Quote nicht zu erreichen, scheint für Sahling ein Grund zu sein, warum diese Filme auf dem Markt noch vor ihrer Produktion so gnadenlos scheitern. Seit Jahren wird über spezifischere Förderinstrumentarien, die den Produktionsbedingungen des Kinderfilms gerecht werden, diskutiert. Die SPD hat mittlerweile die Initiative ergriffen und kam zu dem Ergebnis, dass die klassische Rentabilität bei Kinderfilmen nicht als oberstes Kriterium angelegt werden darf. Es könne nicht nur darum gehen, wie viele Kinder den Film sehen und ob sie sich unterhalten fühlen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit den wichtigen Themen für dieses junge Publi-

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kum. Im optimalen Fall könnten diese auch für ein erwachsenes Publikum von Interesse sein und die Filme es in das Abendprogramm der Kinos schaffen. Bernd Sahling bedauert, dass Kinderfilme ausschließlich an Nachmittagen in den Kinos gezeigt werden. Er beobachtet die weit verbreitete Haltung von Eltern, die ihre Kinder in die Nachmittagsvorstellung setzen, ohne selbst wirkliches Interesse an den Filmen zu zeigen. Bei diesen Rezeptionsbedingungen ist es sehr schwierig, ein größeres Publikum zu gewinnen. Im Vergleich zu Frankreich scheint dieses Phänomen in Deutschland Tradition zu sein. François Truffaut beispielsweise hat Kinderfilme gedreht, die ganz selbstverständlich abends für Erwachsene im Kino liefen. Es sind also nicht nur die Förderkriterien, sondern auch das Rezeptionsverhalten, das einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinderfilmbranche ausübt. Bernd Sahling weiß, dass nie alle Drehbücher und Filme verwirklicht werden können. Es wird immer Gremien geben, die bestimmte Drehbücher und Filme aus verschiedenen Gründen ablehnen oder fördern, das ist schließlich ihre Aufgabe und Wettbewerb ist nun einmal Teil des Filmberufes. Und es ist wiederum gut, dass es immer alternative Möglichkeiten für eine Projektfinanzierung gibt. Grundsätzlich erhofft sich Sahling aber, dass es eine zentrale Stelle gäbe, die in der Lage sei, fünf Kinderfilme pro Jahr voll zu finanzieren. „Es sind gute Drehbücher für Kinder in den letzten Jahren in Deutschland entstanden. Würde sich eine Stiftung bereit erklären, jedes Jahr um die zehn Millionen Euro zur Verfügung zu stellen und nicht nur zehn oder fünfzehn Prozent eines Kinderfilms zu finanzieren, sondern, abzüglich des Eigenanteils der Produzenten, das gesamte Budget, dann würde sich die ganze Situation extrem entspannen.“

„Sobald du weisungsgebunden bist, bist du kein selbstständiger Künstler mehr“ Porträt von Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser O LGA W IERZENKO

Die Regisseure Carsten Ludwig (geb. 1970) und Jan-Christoph Glaser (geb. 1976) kennen einander seit vielen Jahren und arbeiten seit 2002 erfolgreich als Regisseurduo zusammen. Nach „Detroit“ (2003) folgte der Episodenfilm „1. Mai – Helden bei der Arbeit“ (2008) und im Sommer desselben Jahres fanden die Dreharbeiten zum Langspielfilm „66/67 – Fairplay war gestern“ statt. Für „66/67“ war im Herbst 2009 die Uraufführung auf dem Zurich Film Festival, danach kam der Film in die Kinos. Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser leben zurzeit beide in Berlin. Ludwig studierte zunächst Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Nach seinem ersten Schauspielengagement in Potsdam entschied er sich für ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Gesprägt durch seine Erfahrungen mit dem Schauspielberuf, nahm er mit realistischen Vorstellungen und Erwartungen das Regiestudium an der dffb auf. Er machte sich keine Illusionen im Hinblick auf die berufliche Situation von Regisseuren: „Dass es eng werden würde, beweisen auch die Statistiken“, so Carsten Ludwig. „Aus meinem Jahrgang gibt es neben mir noch zwei Studenten, die jeweils einen langen Film gemacht haben. Alle anderen, und das sind immerhin 14 oder 15, haben noch kein langes Projekt gemacht. Und das, obwohl ich 2003 meinen Abschluss gemacht habe. Das einmal hochgerechnet: Es gibt jedes Jahr 500 Bewerber, 18 werden genommen (Kamera- und Regiestudenten) und von

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den 18, die möglicherweise das Studium auch beenden, die meisten tun das, schaffen es drei, einen Langfilm zu machen. Und von den dreien, die einen Langfilm gemacht haben, schaffen es dann vielleicht zwei, noch einen zweiten Langfilm zu machen. So dünnt sich das nach hinten hin ordentlich aus. Es werden mehr Filmhochschulen, aber es werden nicht mehr Leute, die am Ende lange Filme machen. Jedenfalls nicht viele.“ Jan-Christoph Glaser studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin und leitete fünf Jahre lang eine Videogruppe an der Universität der Künste Berlin (UdK). Mit Christoph Bach, einem Schauspieler, mit dem Ludwig und Glaser auch später oft zusammenarbeiteten, drehte er damals die Kung-Fu-Trashkultserie „Auftrag Moabit“, die auf MTV lief. Die Regisseure lernten sich kennen, als Ludwig an der dffb einen Kurzfilm drehte und noch einen Regieassistenten suchte. Ein befreundeter Produzent führte die beiden zusammen. Bei anschließenden Kurzfilmprojekten sammelten sie Erfahrungen in der Arbeit miteinander. „Wir stellten fest, dass wir sehr unterschiedliche Fähigkeiten hatten und zum Glück auch unterschiedliche Defizite haben, aber in einer Form, dass es puzzlemäßig ganz gut zusammenpasste.“ 2002 drehten sie als Duo ihren ersten Langfilm „Detroit“, mit dem sie auf internationalen Festivals Erfolge feierten. Jan-Christoph Glaser und Carsten Ludwig bezeichnen sich selbst als Regisseure, die nicht nur einen vorgegebenen Stoff umsetzen, sondern in einem umfassenderen Sinne Filme machen. Das heißt, sie entwickeln ihre Geschichten selbst, schreiben das Drehbuch, suchen sich Produzenten, Sender etc. „Der spannende Teil ist eigentlich das Schreiben, Drehen, Schneiden. Die anderen Sachen sind sehr anstrengend und auch zeitaufwändig“, sagt Carsten Ludwig. Ob sie sich als Künstler bezeichnen würden? Früher hätten sie sich mit dem Begriff Künstler schwer getan. „Der Kunstbegriff ist ja ohnehin einer der schwersten zu definierenden Begriffe überhaupt. Mir geht’s da ähnlich wie Jan-Christoph“, so Ludwig, „ich hab mich damit früher immer schwer getan und das Ganze eher als ein Handwerk begriffen. Es ist natürlich auch zu einem Hauptteil Handwerk, aber ich glaube trotzdem, dass es einen Spielraum gibt, der möglicherweise die Arbeit, die man macht, vom reinen Handwerk unterscheidet. Das heißt, wir lassen relativ bewusst Spielräume offen, sowohl beim Drehbuch als auch beim Drehen, von denen wir selber sagen, das ist etwas, was nicht bis zum

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Äußersten durchkalkuliert werden kann und vor allem auch nicht soll. Und das ist eher künstlerischer als handwerklicher Natur.“ An „66/67“ arbeiteten Luwig und Glaser über drei Jahre. Von drei Langfilmen ist es der erste, bei dem sie eine reguläre Gage bekommen haben. Aber gemessen an der Zeit, die sie in den Film investierten, hält sich diese in Grenzen. Bezahlt wurden sie genau genommen nur für die letzten zehn Monate ihrer Arbeit. Ludwig benennt die relativ langen Pausen zwischen Projekten als eines der größten Nachteile des langsamen Finanzierungssystems in Deutschland. Teilweise würde man über zwei oder mehr Jahre hinweg nicht mit Schauspielern arbeiten, was für die Arbeit eines Regisseurs nicht förderlich sei. Dieses Defizit auszugleichen, sei schwierig. Ludwig und Glaser versuchen in solchen Leerlaufphasen durch das Produzieren von Demobändern für Schauspieler in Übung zu bleiben, aber in Wahrheit ist es, wie Carsten Ludwig feststellt, „was ganz anderes, wenn du am ersten Tag am Set stehst und feststellst, jetzt musst du mit den Leuten was anfangen!“ Finanzierung nicht über die Kunst allein Um sich mit ihrem Beruf finanzieren zu können, üben beide Regisseure teilweise Nebentätigkeiten aus und nehmen Arbeitslosengeld in Anspruch. Jan-Christoph Glaser lebte längere Zeit von Hartz IV, um über die Runden zu kommen: „‚Wenn es nicht anders geht‘, das klingt immer so, als würde man sich auf die faule Haut legen. Aber es funktioniert einfach nicht anders (Zustimmung durch Carsten Ludwig) in diesem Rahmen, in dem wir arbeiten“, so Glaser. Beide sehen Mängel in der Kompetenz der Sachbearbeiter bei den Arbeitsagenturen und deren Umgang mit Arbeitssuchenden. Diese seien mit ihrer Berufsgruppe überfordert, man biete wenig Hilfestellung. Die Handhabung sei von Sachbearbeiter von Sachbearbeiter verschieden, klare Richtlinien seien nicht erkennbar. Jan-Christoph Glaser hätte zum Beispiel durch eine Filmgage eine Zeit lang ca. 1000 Euro im Monat zur Verfügung gehabt, was etwas über dem Hartz-IV-Satz liegt. Nachdem seine finanziellen Mittel aufgebraucht waren und er kein Geld mehr zur Verfügung hatte, sagte ihm die Sachbearbeiterin, dass er ja wisse, dass seine Arbeit endlich sei. Er hätte demnach mit diesem Geld haushalten und dadurch länger auskommen müssen. Mitgeteilt wurde ihm diese Regelung zuvor jedoch nicht.

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Jan-Christoph Glaser und Carsten Ludwig halten die wenigen Vermittlungsangebote, die es für Künstler dann doch gibt, nicht für effektiv. In der Agentur für Arbeit würde man mit der Aussage, man könne nichts für sie tun, resignieren. Carsten Ludwig kennt aus seiner Zeit als Schauspieler die damalige Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (heute Künstlervermittlung der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung) noch aus eigener Erfahrung: „Die hat ein bisschen was tun können, allerdings nie an die großen, selbst nicht an die mittleren Theater vermitteln können, das war immer Kinder- und Jugendtheater und so ein Zeug. Und für Regisseure kann man es im Prinzip vergessen! Die Möglichkeit, dass es in Zukunft eine größere Anzahl von Vermittlungsangeboten für Künstler geben könnte, sehen die beiden nicht. Vielleicht „in einer utopischen Welt“. In der Künstlersozialkasse (KSK) sind beide Regisseure nicht versichert, wollen dies aber bald nachholen. Der Grund, warum sie noch nicht Mitglied der KSK sind, liegt eher an den fehlenden Informationen bezüglich der Aufnahmebedingungen. So sagt Carsten Ludwig: „Ich war als Schauspieler kurze Zeit drin. Aber dann bin ich da wieder draußen gewesen, ich weiß auch nicht warum. Ich kenn mich mit so einem Zeug nicht so gut aus, Jan-Christoph ist da besser und ich richte mich dann nach ihm.“ Den Gedanken an Altersvorsorge bzw. Rente verdrängen Ludwig und Glaser weitestgehend. Carsten Ludwig gibt zu, seine Rentenbescheide gar nicht erst zu öffnen, denn er vermute nichts Gutes. Glaser versucht die Gedanken an Rente mit hoffnungsvolleren Gedanken an die Zukunft zu verscheuchen: „Man sagt sich, irgendwann hab ich vielleicht mal einen besser bezahlten Job, und dann kann ich diesen ganzen Quatsch mal abarbeiten. In Wahrheit ist es absolute Notverwaltung, die man da macht. Irgendwie gucken, dass man durchkommt.“ Wenn Ludwig und Glaser einen Film machen, drücken sie die Daumen, dass sie noch einen weiteren Film machen können. Das ist ihr Karriereplan. Es sei äußerst schwierig, über ein Projekt hinaus zu planen. Sie sind sich bewusst darüber, dass ihr aktueller Film „66/67“ oder zumindest der nächste in den Augen der Filmkritik ein Erfolg werden müsse. Sonst könne es mit der Karriere sehr schnell vorbei sein. So sei ihnen, sagt Ludwig, „klar, dass wir jetzt natürlich nicht von der Naivität gesegnet sein dürfen, anzunehmen, wir machen jetzt alle zweieinhalb Jahre einen Film und das geht bis in alle Tage so weiter. Wir müssen uns vor dem Kulturbetrieb für das

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Geld, was wir hier verschwenden, rechtfertigen. In Form von Erfolg, wie auch immer der aussieht: Preise, Publikum etc.“ Künstlerisch frei oder weisungsgebunden? Künstlerische Schaffensfreiheit ist Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser sehr wichtig. Laut Ludwig sei der Vorteil von Low-Budget-Filmen der, dass man weitestgehend die Kontrolle über seine künstlerische Arbeit habe. Dafür müsse man jedoch auch in Kauf nehmen, dass der Film zum Beispiel nicht zur Primetime im Fernsehen laufe, sondern eher gegen Mitternacht. Bei einem höheren Budget hätten mehr Leute Mitspracherecht und somit verliere man ein gewisses Maß an Freiheit. Einschränkungen im kreativen Schaffensprozess entständen auch im Umfang und der Art dessen, was man einreichen muss, um bestimmte Förderungen zu erhalten. Durch das Durchplanen und Erklären von Dingen im Vorfeld, die sich eigentlich erst im kreativen Prozess genauer konstituieren können, entstehe ein enormer Erwartungsdruck. Ludwig beschreibt es folgendermaßen: „Um eine Drehbuchförderung oder eine Stoffentwicklung zu beantragen, musst du theoretisch schon mit einem fertigen Buch kommen. Du kommst mit einem dreißig- oder vierzigseitigen Exposé, wo alles genau durchgeplant ist, was allerdings gar nicht so gut ist. Denn auf der einen Seite kann das dem einen oder anderen vorher helfen zu wissen, was er will, aber auf der anderen Seite baut man sich ganz schnell einen Fahrplan auf und hat dann das Gefühl, man müsse das gegenüber den Redakteuren oder der Redaktion, die das abgenommen haben, auch einhalten. Auch wenn man mittendrin feststellt, die Idee und das Gefühl stimmen, aber wir müssen eigentlich ganz woanders hin, tut man sich selber erst mal schwer damit.“ Für ihren Film „66/67“ drehten Ludwig und Glaser, nachdem das Drehbuch in der ersten Runde beim ZDF abgelehnt wurde, vier Demo-Szenen aus dem Buch. Die Kosten für den Dreh trugen sie selbst. Die Szenen zeigten sie den Redakteuren, die daraufhin reagierten. „Ach, so soll das aussehen! Na, klasse, das unterstützen wir.“ Ob ihr Drehbuch oder das Exposé zunächst unklar waren oder ob es an den fantasielosen Redakteuren lag, das fragt sich Carsten Ludwig heute noch. Fakt ist, das Drehbuch blieb dasselbe, nur durch die Umsetzung der Szenen schien die Redaktion in der Lage zu sein zu verstehen, in welche Richtung es gehen sollte und gewährte eine

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Förderung. Dass es in Deutschland jedoch überhaupt die Möglichkeit gibt, auch nicht kommerzielle Filme durch Förderungen zu verwirklichen, weiß Carsten Ludwig trotz aller Kritik am deutschen Fördersystem zu schätzen: „Ich finde das System, in dem wir verhaftet sind, nicht verkehrt. Es ist schon erstaunlich, dass solche schrägen, abseitigen Geschichten, wie sie von uns präferiert werden, überhaupt ein Budget von über einer Million Euro bekommen. Das war bei unserem letzten Film der Fall. Ich finde das natürlich angemessen und ich halte das auch für notwendig, dass eine Kultur, eine Nation, eine Gesellschaft, die versucht, sich auch über Kultur zu definieren – mehr schlecht als recht, aber immerhin –, solche Projekte fördert. Und gleichzeitig ist es ganz klar: Die Chance auf die kommerzielle Auswertung solcher Projekte ist gering. Im Idealfall spielt der Film seine Kosten wieder ein. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man Geld nicht zurückbekommt, ist relativ hoch.“ Im Gespräch verbinden die beiden Regisseure ein selbständiges Arbeitsleben mit künstlerischer Freiheit, wobei es eine Rolle spiele, ob man in der Arbeit weisungsgebunden sei oder nicht. Weisungsgebunden bedeute, laut Glaser, dass jemand dem Regisseur genaue Anweisungen gäbe, wie etwas zu sein habe. „Sobald du weisungsgebunden bist, bist du kein selbständiger Künstler mehr.“ Es käme dabei immer auf den Sender, die Redaktion, die Produktion und auf das persönliche Verhältnis an. Ludwig und Glaser sind bei ihren Projekten laut Vertrag nicht weisungsgebunden. Regisseure, die Fernsehserien wie „Küstenwache“ oder „Alarm für Cobra 11“ machten, seien dagegen, so sagt Ludwig, in ihrer Freiheit eingeschränkt und weisungsgebunden. „Das Verhältnis zu unseren Arbeitspartnern lässt uns eine größtmögliche Autonomie, aber je mehr du dich in diesen Betrieb begibst, umso weniger Freiheit hast du. Dann bist du ganz einfach ein Dienstleister.“ Jan-Christoph Glaser räumt dagegen ein: „Die Fördersumme ist am Ende doch viel Geld. Redakteure müssen sich verantworten, Redaktionen müssen sich verantworten und so weiter und so fort. Und da sichern sie sich ab, indem sie einen bestimmten Einfluss behalten.“ Entscheidungen von anderen Es gibt verschiedene Möglichkeiten für Regisseure, einen zu Film realisieren. Der wahrscheinlichste Weg ist der über eine Produktionsfirma oder einen Produzenten bzw. eine Produzentin. Theoretisch könne sich, so Lud-

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wig, jeder, egal ob mit oder ohne Vorbildung, mit einem Drehbuch auch direkt bei einem Sender bewerben. Diese kleine Nische gäbe es. Oder man kenne einen Redakteur, mit dem man vorher schon mal ein Projekt gemacht habe, wie im konkreten Falle von Ludwig und Glaser. Ihr Film „66/67“ war bereits vom ZDF/Kleinen Fernsehspiel anfinanziert, danach suchten sie sich gemeinsam mit dem Redakteur einen Produzenten. Glaser betont, dass es in Deutschland im Prinzip kaum Projekte, auch keine Kinoprojekte, mehr gäbe, bei denen man auf die Förderung eines Fernsehsenders verzichten könne. „In diesem Bereich bist du auf ARD, ZDF, 3sat, ARTE angewiesen.“ Es gäbe wenige große Filmprojekte, wie zum Beispiel die von Til Schweiger, die keinen Sender benötigen würden. Til Schweiger funktioniere als eigene Marke, seine Filme spielten hohe Gewinne ein: „Wenn du solche Zahlen vorweisen kannst, dann brauchst du natürlich auch nicht unbedingt einen Sender, dann willst du ihn auch gar nicht.“ Der Vorteil ohne Sender zu arbeiten sei, dass man mehr Rechte behalten könne und weniger Gewinn abtreten müsse. Die finanziellen Fördermittel sind zweckgebunden, das bedeutet im Falle der Förderung durch einen Sender, dass Kalkulationen aufgestellt werden und das Geld erst gewährleistet wird, wenn die Gesamtfinanzierung gesichert ist. „Wenn wir sagen, wir brauchen für diesen Film 1,2 Millionen Euro, und das ZDF sagt, wir geben euch 500.000 dazu, dann können wir denen nicht am Ende mit 800.000 kommen, weil die dann sagen, ‚wir haben euch die 500.000 nur gegeben für den Fall, dass ihr auch 1,2 Millionen zusammenkriegt‘.“ Kritik an den Förderungsmöglichkeiten in Deutschland üben Ludwig und Glaser an der Art der Entscheidungen der meisten Fördergremien, die meistens auf einer Konsensentscheidung beruhen. Durch die Konsensentscheidung hätten Geschichten, wie sie das Regisseurduo in ihren Filmen erzählen wolle, oftmals keine Chance auf Förderung. „Solche Entscheidungen sind in den meisten Fällen Konsensentscheidungen. Beim Medienboard gibt es das Intendantenprinzip, da entscheidet das tatsächlich eine Person, aber in der Regel ist es anders. Unsere Geschichten sind nicht besonders konsensfähig. Und wenn wir zwölf Leute haben, die über irgendwas von uns abstimmen, dann wird es wahrscheinlich so ein paar Exzentriker geben, die sagen, ‚Mensch, das wollen wir fördern‘, aber das Gros wird lieber auf andere Sachen setzen. Ich will damit gar nicht sagen, dass wir da nicht auch was dazu beitragen könnten, uns da noch ein bisschen mehr aufzudrängen,

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aber in Wahrheit begegne ich diesem System noch immer mit sehr viel Misstrauen,“ so Ludwig. Auch bei der Vergabe von Filmpreisen kritisieren Ludwig und Glaser die Art, Entscheidungen zu treffen. So war zum Beispiel früher der Deutsche Filmpreis Entscheidung einer Jury, wohingegen er heute eine Akademieentscheidung ist, wo viele Leute abstimmen und es, laut Glaser, sehr schnell einen Konsens gibt. „Das ist die am höchsten dotierte KulturFilmförderung, und die wird quasi von der breiten Masse vergeben.“ Ebenso wenig vertrauen die Regisseure weder auf den Geschmack der Entscheidungsträger, noch auf die Qualität der Abstimmungen. Carsten Ludwig relativiert die Aussage von Glaser, dass es sich bei den Akademiemitgliedern des Filmpreises um die breite Masse handele, sagt aber trotzdem: „Die breite Masse sind natürlich immer noch Filmschaffende, aber trotzdem kannst du das meiste, was du im Fernsehen siehst, in der Pfeife rauchen. Unser Grundmisstrauen gegenüber einem ‚ausgewogenen‘ Publikum ist sehr hoch und deshalb machen wir uns auch nicht immer allzu viele Hoffnungen bei solchen Preisvergaben.“ Ludwig betont besonders die „Trittbrettfahrermentalität“ der Fördergremien und der Filmpreisvergaben. Ob ein Film Preise gewinne, sage nichts über dessen Qualität aus. Wenn ein Film einen Preis gewinne, zögen andere Preisvergabestellen mit. Wenn ein Film eine gute Bewertung bekomme, hätten andere die Sicherheit, mit ihrer Entscheidung nichts mehr falsch zu machen. Leicht frustriert meint Ludwig, dass andere, kleinere und abwegigere Filme somit überhaupt keine Chance erhielten, bei Konsensentscheidungen beachtet zu werden. Und die Filme, die dann mit vielen Preisen ausgezeichnet würden, seien gar nicht mal sonderlich gut. „Wenn das der allgemein glücklichmachende Film dieses Jahres wäre, dann wäre es ja gut, aber das ist nicht die Regel, das beweist diese ganze Konsensgeschichte, die müssen das dann auch alle toll finden und ersticken den Film förmlich mit Preisen.“ Die Produzenten leisteten, so Ludwig, unfassbare Lobbyarbeit bei den Fördergremien. „Es gibt viele Gremien, jeder sitzt irgendwo in einem Gremium drin, manchmal auch in zwei. Und wenn du völlig unbekannt bist, kannst du das tollste Drehbuch der Welt haben, aber es wird dich nicht weiterbringen.“ Jan-Christoph Glaser betont, dass der Großteil der Förderungen Wirtschaftsförderungen seien. Das bedeute, dass bestimmte Filmförderungen Länderförderungen seien und damit abhängig vom jeweiligen Bun-

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desland. Bekomme man beispielsweise eine Filmförderung in NRW, müsse man das Geld auch dort ausgeben. Glaser beschreibt die Illusionen, die er sich im Hinblick auf Förderungen früher gemacht habe: „Ich dachte, dass das Kulturförderungen sind und schräge, kleine Filme unterstützt werden und nicht ProSieben mit irgendeiner Daily Soap.“ Vermarktung via Festivals Festivals haben für Ludwig und Glaser eine große Bedeutung. Gerade in der Größenordnung ihrer Filme seien Festivals enorm wichtig, da sie kostenlose Werbung und Pressearbeit mit sich brächten. Praktisch gesehen, versuche man durch Festivals die Presse aufmerksam zu machen, um so, wenn der Film erfolgreich auf Festivals laufe, anschließend einen guten Kinostart zu haben. Auch Preise, so wenig repräsentativ sie auch seien, könnten, laut Ludwig, durchaus hilfreich sein, um einem Film mehr Aufmerksamkeit und mehr Presse zu verschaffen. Dotierte Preise stünden entweder zur freien Verfügung oder seien zweckgebunden. Carsten Ludwig führt weiter aus: „Es gibt zum Beispiel bei den Hofer Filmtagen den Kodak-Eastman-Preis, das ist Filmmaterial von Kodak im Wert von 4000 Euro für die nächste Produktion. Es gibt Produktionsgelder, die einfach in den nächsten Film einfließen, und es gibt auch hin und wieder einfach Geld.“ Festivals hätten für die Produktionsfirmen ebenfalls eine wichtige Bedeutung. Wenn ein Film es schaffe, im Wettbewerb eines A-Festivals zu laufen, habe die Produktionsfirma das nächste Mal die Möglichkeit, durch die Referenzfilmförderung höhere Geldmittel abzurufen. Schon die Teilnahme an einem A-Festival, wie zum Beispiel der Berlinale, den Internationalen Filmfestspielen von Cannes oder Venedig, den Internationalen Filmfestivals Shanghai oder Moskau etc. sei eine Auszeichnung für die Produktionsfirma sowie die Regisseure. Ludwig und Glaser sehen Festivals auch als Belohnung für ihre Arbeit an. Besonders das Reisen zu ausländischen Festivals mache großen Spaß. Mit ihrem ersten Film „Detroit“, waren die beiden Regisseure viel unterwegs. So beschreibt Glaser eine Einladung zum Festival nach Rotterdam: „Rotterdam, Official Selection, du wirst eingeladen, da ist eine tolle Atmosphäre, du wirst auf Händen getragen, wenn du Glück hast, und es macht wahnsinnig Spaß! Und du kriegst direkte Reaktionen, du hast Publikumsge-

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spräche und so, das ist natürlich auch vor allem bei den ausländischen Festivals toll. Da eingeladen zu werden, hinzufliegen, die Stadt zu sehen.“ Jan-Christoph Glaser beschreibt Festivals als Karussell, in das man hineingerät, ähnlich dem Mechanismus der „Trittbrettmentalität“ der Förderund Preisgremien. So wurde zum Beispiel ihr Film „Detroit“ zu Beginn von vielen Festivals in Deutschland abgelehnt, er lief lediglich auf dem Filmfest München. Dort wurde der Film jedoch entdeckt und prompt auf das größte europäische Independentfilm-Festival in Rotterdam eingeladen. Von da an ging es positiv weiter, der Film lief auf vielen europäischen Festivals (unter anderem in Göteborg, Portugal, Italien), aber auch auf außereuropäischen Festivals in Shanghai, Kairo, Rhode Island etc. Misstrauen gegenüber Politik und Kritik Carsten Ludwig schätzt die Zukunftsperspektiven für Künstler in Deutschland kritisch ein. Aufgrund der Kürzungen, die als erstes immer Kultur und Kunst betreffen würden, bleibe er den Versprechen von Politikern, Kultur und Kunst weiterhin zu fördern, gegenüber misstrauisch. „Das ist erfahrungsgemäß immer das Gleiche. Sobald es irgendwo knapp wird oder die Leute glauben, es wird knapp, wird die Kultur zusammengespart. Ich hab das in den Neunzigerjahren in Potsdam am Theater erlebt. Das Geld wurde um ein Drittel gekürzt, das muss man sich mal vorstellen. Da wurde immer argumentiert: Wir brauchen doch Wohnungen! Diese Polemik kommt sofort auf, sobald das Geld knapper wird. Deshalb muss ein großes Misstrauen bleiben“, gegenüber der Politik. Wünschenswert für Ludwig und Glaser wäre ein kritischerer und anspruchsvollerer Blick auf das Medium Film, der sehr vom Fernsehen geprägt werde. Dass das Sehen erlernt werde, eventuell auch als Unterrichtsfach Film in der Schule. Die Regisseure nennen als Negativbeispiel die deutsche Filmkritik, die ihrer Meinung nach zeige, wie inkompetent sich Kritiker mit Filmen auseinandersetzten. „Die Kritiken sind von einer unglaublichen Inkompetenz getrieben. Nicht, dass die Leute nicht schreiben können, die bon mots haben sie immer am Start, mal abgesehen davon, dass sie fast nur Verrisse schreiben oder Hymnen, dazwischen existiert nicht viel. Warum? Weil sie nichts wissen von der Herstellung eines Filmes. Die reden über die Schauspieler, ein bisschen über die Regie, aber schon das ist daneben. Die sagen ‚tolle Schauspieler, tolle Kamera, aber miese Regie‘.

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Da frage ich mich, wie kann das sein? Der Regisseur hat mit den Schauspielern gearbeitet, er hat sie sich ausgesucht, er hat den Einfluss auf die Kamera gehabt … Das finden die alles toll, aber der Regisseur ist trotzdem eine Niete? Die wissen gar nicht, wie die Abläufe funktionieren, keiner macht sich Gedanken über den Schnitt, über die Bildkomposition und so weiter“, so Carsten Ludwig. Als sie mit „Detroit“ auf Festivals im Ausland waren, haben sie aufmerksam die Kritiken gelesen, die über den Film geschrieben wurden. Ludwig meint, dass er damals das erste Mal etwas mit einer Filmkritik habe anfangen können, denn im Gegensatz zu deutschen Filmkritiken seien ausländische Filmkritiken oftmals fundierter und besser geschrieben. So beschränke man sich nicht ausschließlich auf die Diskussion über den Inhalt, sondern setze sich auch professionell mit dem Handwerk des Filmes auseinander. „Für mich gibt es keine wichtigen Inhalte, für mich gibt es einen guten Film oder einen wichtigen Film. Ein wichtiger Film kann sein: ein Mann und eine Frau treffen sich und verlieben sich, Schluss. Und es kann natürlich auch das ganz große Drama sein. Aber es geht darum, […] dass sie ein Handwerk haben, von mir aus auch ein bisschen Kunst am Start, und damit umgehen können. Aber das kann kaum noch einer bewerten und deshalb tut es auch keiner in Deutschland.“ Medienbildung als Gegengewicht zum Entertainment Wichtig ist Ludwig und Glaser, dass es ein klares Gegengewicht zum populären bzw. Unterhaltungsfernsehen und Entertainment-Kino gibt. Als gefährlich betrachten sie in diesem Zusammenhang, dass sich auch die öffentlich-rechtlichen Sender immer mehr in den Konkurrenzkampf hineindrängen ließen. Es zähle eher die Einschaltquote als die Qualität der Sendungen. Beide Regisseure sind der Meinung, dass eine kulturelle und medienästhetische Bildung der Kinder und Jugendlichen schon in der Schule dringend notwendig sei. Dabei sei wichtig zu berücksichtigen, wie kompetent die Lehrer selbst in solchen Fragen seien oder ob sie die Kinder etwa mit der Neuverfilmung der „Vorstadtkrokodile“ konfrontierten, von der Carsten Ludwig nicht viel hält. „Das hat mit Kultur nichts zu tun, das ist ein sich Anbiedern an ein bestehendes System, das von Mittelmäßigkeit geprägt ist.“ Das Bildungssystem müsse bereit sein, sich neu mit dem Medium Film

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auseinanderzusetzen, um eine qualitativ anspruchsvolle Beschäftigung mit dem Thema im Unterricht anzubieten. Carsten Ludwig vermisst dabei eine bestimmte Diskussionskultur. In Kulturtalkshows, wie zum Beispiel „3 nach 9“ im NDR, könne man in Jahresrückblicken erkennen, dass es vor zwanzig Jahren im Fernsehen noch eine Streitkultur gegeben habe. Heute sehe man unterschiedliche Leute zusammensitzen, von denen man genau wisse, dass sie nicht viel voneinander hielten. Trotzdem würde nicht gestritten und nicht diskutiert werden. Alle würden versuchen, möglichst nicht anzuecken, nicht in Streitgespräche über Kunst und Kultur verwickelt zu werden. „Das fehlt total“, sagt Carsten Ludwig, „und deswegen finden wir diese Eventscheißfilme, mit dem gleichen Scheißeventlook, mit den gleichen Scheißeventschauspielern immer toll und das ist für uns State of the Art in Deutschland und so geht’s weiter.“

„Filmförderung ist Wirtschaftsförderung“ Gespräch mit Maria Stodtmeier und Paul Smaczny M ARCUS T HOMAS & D AGMAR N EUMANN

Im klassizistischen Bau der Goldschmidtstraße 10 in Leipzig starb 1847 der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy. Bis 1991 diente der restaurierungsbedürftige Bau als Möbellager, bevor Kurt Masur sich der Sache annahm und mit Eliot Gardiner, Leon Botstein und Justus Frantz die internationale Mendelssohn Stiftung e.V. gründete, um das Erbe Mendelssohns zu erhalten. Heute betritt man das weiß getünchte Haus mit den hohen Altbaufenstern über einen einladenden Innenhof. Eine Wendeltreppe führt den Besucher vorbei an der Wohnung Mendelssohns ins zweite Stockwerk zum Produktionsbüro von EuroArts Music, der Wirk- und Arbeitsstätte des Produzenten Paul Smacznys. Im Eingangsflur reiht sich DVD an DVD der über die Jahre entstandenen Produktionen und während wir auf unsere Interviewpartner warten, folgt unser Blick den großen Namen des Klassik- und Jazz-Business: Daniel Barenboim, Claudio Abbado, Keith Jarret, Lang Lang, Dave Brubeck, Cassandra Wilson, Martha Argerich, Bobby McFerrin. EuroArts Music ist Deutschlands führende Produktionsfirma in den Bereichen audiovisuelle Konzertaufzeichnung und Musikdokumentation. Als Teil des Medienverbundes der Medici Arts Group kooperiert EuroArts Music seit 1990 mit den Berliner Philharmonikern, dem Lucerne Festival, der Staatskapelle Berlin, dem Gewandhausorchester in Leipzig und der Sächsischen Staatskapelle in Dresden. Im August 2005 produzierte die Firma das erste Konzert des West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim aus Ramallah und für den Dokumentarfilm „Knowledge is the Beginning“

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wurde EuroArts Music 2006 unter anderem mit dem International Emmy Award ausgezeichnet. Mit dem zuletzt entstandenen Dokumentarfilm „El Sistema“ betritt EuroArts Music 2009 neues Terrain: Erstmals wird die umfassende Musikdokumentation über das venezolanische Musiksystem des José Antonio Abreu auch im Kino zu sehen sein. Die Vorbereitungen für den Kinostart im April sind in den Büroräumen nicht zu übersehen: Bilder von jungen Venezolanern mit Geigen und Celli im Arm und dem lachenden Youngstars Gustavo Dudamel zieren die Schreibtische der Mitarbeiter. Mit dem Produzent und Geschäftsführer Paul Smaczny und Koregisseurin von „El Sistema“, Maria Stodtmeier, unterhielten wir uns über die Arbeit von EuroArts Music, die Zukunftsaussichten des Genres Musikdokumentarfilm und ihren Werdegang als Kunstschaffende in Deutschland. Herr Smaczny, Ihre Erfolgsgeschichte beim Film begann 1989. Zuvor haben Sie nach ihrem Studium die ersten Jahre als Deutschlehrer in Paris und als Dramaturg und Regieassistent an verschiedenen französischen Theatern gearbeitet. Warum der Wechsel? PAUL SMACZNY: Nach drei Jahren waren die spielzeitbezogenen Verträge in Frankreich ausgelaufen. Ich fuhr nach Deutschland zurück und wollte eigentlich weiter am Theater arbeiten. Dort fand ich allerdings nicht das, was ich gerne gefunden hätte. So stolperte ich über eine Anzeige vom Südwestfunk in Baden-Baden, der kommissarisch mit der Entwicklung von Arte beauftragt war. Sie suchten Leute mit deutsch-französischem Background und ich habe dann an ein paar Projekten mitgearbeitet. Über den Südwestfunk lernte ich Filmleute und Produzenten kennen und habe mich dann relativ kurzfristig entschlossen, ins Film- und Fernsehfach zu wechseln, immer mit der Absicht, irgendwann einmal an das Theater zurück zu kehren. Dieser Wunsch hat allerdings im Laufe der Jahre immer weiter abgenommen. Was hat Sie daran gereizt, im Musikproduktionsbereich zu bleiben? SMACZNY: Der kreative Reiz für EuroArts Music oder die ARD-Anstalten zu arbeiten war größer als während meiner Zeit am Theater. Die Strukturen waren offener, zumindest Anfang der neunziger Jahre. Es war eine Zeit, in der sich viel entwickelte und es gab einen großen Bedarf an neuen Programmen und Kräften, die in dem Bereich tätig waren. Die ganze Branche

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der Filmleute und Produktionsfirmen entwickelte sich. Die gab es in diesem Umfang in den achtziger Jahren noch nicht. Welche Projekte haben Sie betreut, bevor Sie bei EuroArts Music anfingen? SMACZNY: Das waren genau wie heute musikspezifische Projekte, Dokumentarfilme im Musikbereich, Konzert- und Opernaufzeichnungen. Die habe ich als freier Autor und Regisseur, überwiegend aber als Redakteur und Producer betreut. Zum Großteil für EuroArts Music, aber auch für den Süddeutschen- und Westdeutschen Rundfunk und ein bisschen was für Arte. Sie sind heute der Geschäftsführer von EuroArts Music. Wie kam es dazu? SMACZNY: Ach, das hat sich so ergeben! Die Produktionstätigkeit von EuroArts Music hatte sich in den neunziger Jahren stark intensiviert. Wir haben eng mit den Berliner Philharmonikern zusammen gearbeitet, mit denen wir Exklusivverträge hatten. Als dann die Aufträge größer wurden, machte man mir den Vorschlag, die Abteilung zu leiten und 2000 wurde die Geschäftleitung an mich herangetragen. Ich habe daraufhin genau überlegt, weil ich meine freie Tätigkeit zunächst nur zögernd aufgeben wollte. Da war einerseits das Gefühl der Ungebundenheit und Freiheit, das ich nicht verlieren wollte. Auf der anderen Seite wollte ich die Projekte, die ich angestoßen hatte, auch weiterentwickeln. Und natürlich habe ich gesehen, dass, würde ich jetzt die Gelegenheit ausschlagen, ich später nicht mehr die Möglichkeit hätte, die Dinge so mitzugestalten wie sie mir vorschwebten. Was waren die Schwierigkeiten Ihrer neuen Tätigkeit? SMACZNY: Man war dem wirtschaftlichen Druck stärker ausgesetzt als zuvor. Wenn Sie als Geschäftsführer neben der kreativen Tätigkeit zusätzlich auch den kaufmännischen Bereich im Blick haben müssen, dann ist das eine andere Welt. Das so zu balancieren, dass man mit beiden Bereichen weiterkommt, ist manchmal nicht ganz einfach. Frau Stodtmeier, seit 2001 stehen Sie mit EuroArts Music in Verbindung. Wie kam es zur Zusammenarbeit für den Film „El Sistema“? MARIA STODTMEIER: Ich habe Kulturarbeit studiert mit Schwerpunkt Kulturpolitik, Kulturmanagement, Soziologie und Kulturwissenschaften. Im Hauptstudium habe ich mich mit Postkolonialismus auseinandergesetzt. Was mich daran immer interessiert hat, war, dass wir lernten, Klischees

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aufzuspüren, vor allem im eurozentristischen Bereich. Wir haben erfahren, was es bedeutet, woanders hinzugehen und den ganzen postkolonialen Kontext zu verstehen. Wir sind sehr viel gereist, zum Beispiel nach Südafrika, wo wir die Kunstszene vor Ort analysierten. Mein Interesse lag eigentlich immer in der Literatur. Die Diplomarbeit habe ich über den Begriff der Weltliteratur geschrieben, der sich ja mit dem Kanon beschäftigt und eurozentristisch angelegt ist, von Goethe aber ganz anders gemeint war. Über die Literatur suchte ich dann nach Projekten, die diese Ideen, dieses Gedankengut aufspürten. In Venezuela habe ich für mich ein Projekt gefunden, wo das alles mehr oder weniger bestätigt wurde und gleichzeitig etwas völlig Neues war. Die Art, wie dort klassische Musik, ursprünglich ja ein Kulturgut aus Europa, mit völlig anderen Augen gesehen wird. Hinzu kam auch noch, dass mein Mann aus Venezuela kommt. Parallel dazu hat Paul Smaczny mit Claudio Abbado jahrelang über das Thema gesprochen und 2006 haben wir uns dann einfach zusammengetan. SMACZNY: Maria war schon als Praktikantin zu Beginn ihres Studiums und dann als projektbezogene Mitarbeiterin bei Konzertaufzeichnungen bei uns, mit dem Gustav Mahler Jugendorchester und dergleichen. Insofern wusste man, dass das funktioniert! Hatten Sie nach Ihrem Studium einen fließenden Übergang in das Berufsleben? STODTMEIER: Nein, also nach dem Studium nicht direkt. Ich habe 2005 mein Diplom gemacht und war dann zwei Jahre in Spanien und auch erst einmal suchend. Wie auch während meines Studiums habe ich mich vor allem mit Stipendien über Wasser gehalten und als Tourneebegleitung für Orchester gearbeitet. So habe ich ein interessantes Netzwerk an Musikern und Konzerthäusern kennen gelernt, was mir natürlich auch heute immer wieder hilft. Um Fuß zu fassen, also einerseits zu studieren und gleichzeitig den Arbeitsmarkt im Blick zu haben, war meine Arbeit für die literaturWERKstatt berlin hilfreich. Vor dem Studium habe ich dort drei Jahre lang an Projekten und Lesungen mitgearbeitet. Und am Literaturexpress Europa 2000. STODTMEIER: Genau, ein Millenniumsprojekt, bei dem ich mitgefahren bin. Es ging um die Doppeldeutigkeit „Europa erfahren“. Hundert Autoren sind mit dem Zug von Lissabon über das Baltikum nach Moskau und dann nach

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Berlin gefahren. Ein kulturpolitisches Projekt, bei dem es um Übersetzungen ging und die Frage, wie viele Sprachen in welche Sprachen übersetzt werden können. Essays und Bücher wurden geschrieben und übersetzt, zum Beispiel ins Isländische oder Albanische. Dabei zeigte sich, dass bestimmte Sprachen nicht übersetzbar sind und dass die Übersetzer heutzutage oft nicht mehr von dem Geld für literarische Übersetzungen leben können. Auch die europäische Kulturkommission war eingebunden. Und sind Sie hier angestellt? STODTMEIER: Nein, ich bin freie Mitarbeiterin. Vor allem für „El Sistema“. SMACZNY: Aber auch für andere Projekte! Wie viele Filme produzieren Sie denn pro Jahr? SMACZNY: Im Schnitt sind es 17 bis 18 Programme im Jahr. Unsere Spezialität zum einen, zum anderen aber auch unser Problem ist, dass wir meistens erst Projekte entwickeln und dann schauen, ob wir das finanzieren können. Das bedeutet, nur etwa zehn Prozent unseres Umsatzes ergeben sich aus Auftragsproduktionen, der Rest sind Projekte, die von freien Autoren an uns herangetragen werden. Zusammen entwickeln wir sie inhaltlich weiter, produzieren und finanzieren sie. Für Ihren Film „Knowledge ist the Beginning“ haben sie den Emmy Award bekommen. Hatte das Auswirkungen auf Ihre weiteren Projekte? SMACZNY: Es hat sicherlich geholfen bei der Finanzierung von „El Sistema“. „Knowledge is the Beginning“ war ein Film, der überall erfolgreich war und überallhin verkauft werden konnte. Vor diesem Hintergrund war die Akquise von Koproduktionspartnern natürlich etwas einfacher. „Knowledge is the Beginning“ wurde zum Beispiel schon von der Mitteldeutschen Medienförderung gefördert, die jetzt auch bei „El Sistema“ dabei ist. Wenn bestimmte Erfolge vorzuweisen sind, dann tut man sich leichter, bei der Filmförderung allemal. Das ist ja das Problem! In Deutschland sind die Filmförderungsrichtlinien ganz anders als zum Beispiel in Frankreich. Dort haben Sie als Produzent eine garantierte Förderung. Es gibt das „Centre National de la Cinématographie“, das ein Drittel der Produktionskosten als „aide automatique“ finanziert. Sie müssen dann allerdings eine Kofinanzierung und einen Kooperationspartner haben, also Arte, France2 oder France3 und das Geld in Frankreich ausgeben und mit französischen Kräften ar-

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beiten. Das führt unter anderem dazu, dass es in Frankreich eine reichhaltigere Szene gibt als in Deutschland. Mit Musikdokumentationen besetzen Sie ja in Deutschland einen relativ kleinen Nischenmarkt. Was sind Ihrer Meinung nach die Vor- und Nachteile? SMACZNY: Ich arbeite jetzt zwanzig Jahre als Regisseur, Produzent und Autor in diesem Markt. Man kennt die Leute und es ist ein überschaubarer Markt. Im Gegensatz zum Spielfilmmarkt, der sehr viel diversifizierter ist. Im Wesentlichen sind unsere Partner Fernsehsender, vor allem öffentlichrechtliche, die privaten Fernsehsender machen kaum anspruchsvolle Musikprogramme. In allen Sendeanstalten gibt es nur sehr kleine Programmslots und es ist nicht viel Sendezeit vorgesehen. Arte ist eine große Ausnahme und NHK in Japan ist eine zweite. Das bedeutet, die Zahl der Ansprechpartner, die es potenziell gibt, ist überschaubar. Früher gab es beim WDR und SFB noch Hauptabteilungen Musik, aber die werden immer weiter unter die Kulturabteilungen subsummiert und verlieren ihre Eigenständigkeit. Das ZDF steht mit einer eigenen Hauptabteilung noch ganz gut da. Würden Sie denn lieber Ihre Filme im ZDF sehen als Götz Alsmann mit seiner süffisanten Klassikshow? SMACZNY: (lacht) Ist das eine ernst gemeinte Frage? Ja, mit Rücksicht auf Ihren Kooperationspartner beim ZDF! SMACZNY: Ich sage mal so: Es wäre schön, wenn die Hauptprogramme ARD und ZDF ein bisschen mehr Sendeplätze für Dokumentarfilme in dem Bereich einräumen würden. Nicht nur im Musikbereich, sondern für Filme wie „El Sistema“, der Musik zwar als einen Schwerpunkt hat, aber auch den ganzen soziokulturellen und politischen Kontext mit in Betracht zieht. Sie meinten vorhin, wenn ein Film erfolgreich läuft, sei es einfacher, für den nächsten Film mehr Gelder aufzutreiben. Richtet sich die Themensuche denn auch danach, welche Filme sich am Ende gut verkaufen? SMACZNY: Nein, jeder im Team bringt Themenvorschläge ein. Entweder die eigenen oder diejenigen, welche von Dritten an uns herangetragen werden. Bei so einem kleinen Markt ist man ja relativ gut vernetzt. Man prüft die Themen zunächst ganz spontan und subjektiv danach, was man persönlich mit ihnen anfangen kann. In einem zweiten Schritt kommt dann die

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wirtschaftliche Komponente hinzu. Findet man das Geld oder nicht? Manchmal ist man dann schon in der Situation, sich mit einem Projekt inhaltlich sehr verbunden zu fühlen und es dann nicht zu Ende führen zu können, weil sich kein Geld findet. STODTMEIER: Bei der Themensuche ist auch immer ein wenig Zeitgeist erforderlich. Welches Thema ist gesellschaftlich gerade spannend und warum? Was finden Sie denn gerade spannend? SMACZNY: Ein Programm, das erlaubt, über die Musik einen größeren Kontext aufzuzeigen – das finden wir spannend. Wir arbeiten zum Beispiel gerade an einer Idee in Südafrika, die sich im Wesentlichen mit Chormusik beschäftigt. Darüber hinaus versucht sie zu untersuchen, wie Gesang in Südafrika als Transportmittel für bestimmte Messages dient. STODTMEIER: Wenn man mit öffentlichen Sendern zusammenarbeitet, ist zu beachten, dass die Sender einen Kulturauftrag haben und auch nach dem Zeitgeist schauen. Man muss ein Thema in ein Konzept einbetten und begründen, warum es gesellschaftlich relevant ist, genau jetzt dieses Thema aufzuarbeiten. Das erwarten die Sender. Bestimmte Themen allerdings sind einfach schon gesendet oder werden erst in nächster Zukunft aktuell, zum Beispiel Jubiläen oder Ähnliches. SMACZNY: Wenn die Themen im Konzept der Sendeanstalten nicht drin sind oder in dem, was diese als Zeitgeist bezeichnen, dann landet man damit nicht. Sie sind demnach schon recht abhängig von den Sendeanstalten. SMACZNY: Ja, natürlich. Könnten Sie denn ein Projekt auch allein finanzieren? STODTMEIER: Nein, nicht in der Größenordnung! SMACZNY: Aber auch nicht kleiner! Sie kriegen ja kein Geld von der Filmförderung, wenn Sie nicht schon einen Finanzierungspartner wie die Öffentlich-Rechtlichen haben. Es sind im Prinzip immer Restfinanzierungen. Sehen Sie dahingehend Verbesserungsbedarf oder finden Sie das System wie es ist ganz gut? SMACZNY: Gut für unseren speziellen Bereich ist es nicht. Das Problem ist, dass die Vergabe in den Gremien nur schwer zu beurteilen ist. Nach wel-

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chen Kriterien wird ein Projekt gefördert und nach welchen nicht? Die Gremien der Filmförderung verstehen sich nicht als künstlerische sondern als wirtschaftliche Förderanstalten. Deren Aufgabe ist es nicht, künstlerisches Potenzial zu fördern, auch wenn das oftmals mit einhergeht, sondern Wirtschaftsförderung. Mit Projekten, die keinen großen potenziellen Zuschauerkreis haben wie in unserem kleinen Segment, hat man natürlich einen schweren Stand. Wie sieht es denn mit den neuen Formaten aus, zum Beispiel dem InternetLivestreaming der Berliner Philharmoniker? Alles wird mitgeschnitten, aufgezeichnet und online zum Download bereitgestellt. Sehen Sie diesen Markt als Konkurrenz? SMACZNY: Das ist ein riesiges Thema! Es ist eine Konkurrenz insofern, dass viel Programm auf den Markt kommt. Auf einen Markt, der nicht unendlich viel Programm aufnehmen kann. Allerdings ist das Internet als Medium nicht unbedingt ein Markt, der das, was dafür kreiert wird, automatisch an den Fernseh- und DVD-Markt weiterreicht. Es ist nur ein anderes Medium. In dem Moment, wo diese ganzen Produktionen mit einem technisch-künstlerischen Niveau in den klassischen Markt und den DVD-Markt reinkämen, der ja ganz anders finanziert ist, wäre das ohne Zweifel ein Problem! Haben Sie davor Angst? SMACZNY: Angst? Es kommt sowieso, man muss sich dann halt irgendwie anpassen. Ich glaube nicht, dass es qualitativ an etwas heranreichen kann, was man jetzt mit einem weitaus größeren Aufwand an künstlerischtechnischem Personal macht, mit Kameraleuten, Lichtdesignern und so fort! In diesem Falle reden wir ja von etwas, wo fest installierte Kameras etwas dokumentieren ohne es zusätzlich visuell zu gestalten. Im Vergleich: Deren Produktionsfirmen bestehen aus Regieteams mit jeweils einem Regisseur, einem Assistenten und einem Cutter. STODTMEIER: Wenn wir eine Produktion aufnehmen, dann sind da noch zusätzlich acht Kameramänner! SMACZNY: Die Frage ist für mich eher, wie sich die öffentlich-rechtlichen Sender mittel- bis langfristig mit Musik als Teil ihres Sendeauftrags verhalten. Und wie lange wir noch von einem Fernsehmarkt sprechen, so wie er sich heute darstellt. Das wird in zehn Jahren auch anders sein. Aber so lan-

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ge wir noch einen Fernsehmarkt haben, der durch Gebührengelder finanziert ist, so lange noch wirklich substanziell Geld in Produktionen gesteckt wird, geht es um die Frage: Wie viel Platz räumt man diesen Programmen auf den Kanälen ein? Wie wird sich Ihrer Meinung nach der Dokumentarfilmmarkt in Zukunft entwickeln? Was wünschen Sie sich? SMACZNY: Der Markt für Dokumentarfilme wird eher zunehmen. Dass der Dokumentarfilm anstelle des Abendfilms wieder auf den Hauptprogrammen landet, ist eine Tendenz, die in Großbritannien anfing und jetzt in Frankreich, Deutschland und auch in Fernost beobachtet werden kann. Ob es finanzierungstechnisch leichter wird, ist eine andere Frage. Da bin ich skeptisch. Oftmals stößt man bei den Sendeanstalten auf ein gewisses Unverständnis, wenn man ein Dokumentarfilmbudget entwickelt und eine Finanzierung beantragt. Man meint, Dokumentarfilm wäre per se billig, was er natürlich nicht unbedingt ist. Im Vergleich zu Low-Budget-Dokumentarfilmen kommen im Musikbereich zum Beispiel noch unendlich viele Rechtskosten hinzu, unabhängig vom technischen und personellen Aufwand, der da noch zu Buche schlägt. STODTMEIER: In der Filmförderung ist auch schon etwas abzusehen, zum Beispiel seitens der EU-Förderung für Dokumentarfilme. Sie schalten erst sehr spät die Aufrufe, sodass man sich nur einen Monat vorher bewerben kann. Da müssen dann wirtschaftliche Auflagen erfüllt werden, die ein kleiner Dokumentarfilmer nicht so schnell erfüllen kann. Das können sich nur große Produktionsfirmen leisten, die dann auch bei kleineren Projekten im Hintergrund stehen. Der Trend geht also weg von semiprofessioneller Kamera und „jeder macht mal einen Film“. Bei Dokumentarfilmfestivals wiederum sind ja solche Filme voll gefragt mit persönlichen Geschichten und Einzelkämpfern. Zwei Tendenzen also, die eigentlich gegeneinander laufen. SMACZNY: Ich denke auch, dass es als ganz freier, selbständiger Filmemacher ohne den einen oder anderen guten Draht zu einem Produzenten sicher sehr schwierig ist. An die nötigen Mittel zu kommen, ist für jemanden, der sich als kreativer Filmemacher versteht und der einfach mal ein Initialprojekt machen will, ein großes Problem.

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STODTMEIER: Auch für junge Produktionsfirmen – man muss für fast alle Filmfördergremien zwei Jahre am Markt sein, um überhaupt den Antrag stellen zu dürfen! Es heißt, der Filmmarkt sei heute relativ übersättigt an professionell ausgebildeten Filmleuten. Die Absolventenzahlen der Filmhochschulen nehmen zu und ein Studiengang nach dem nächsten wird in dem Bereich gegründet. Ist es vor diesem Hintergrund heute schwieriger für junge Filmleute, an einen Job zu kommen? STODTMEIER: Ich komme ja nicht von der Filmhochschule und bin eher über Umwege und günstigen Zufall in die Branche gekommen. Aber ich habe Freunde an der HFF Potsdam und natürlich wird mir da oft die Frage gestellt: Wie ist das möglich, gleich mit einem 90-Minuten-Film zu starten? Alle haben ja erst einmal kleine Formate und fangen anders an. SMACZNY: Im ganzen Team hier ist kein einziger, der einen Abschluss an der Filmhochschule gemacht hat. Das sind alles Quereinsteiger im klassischen Sinne. Auch ein Großteil der Freien, gerade im technischkünstlerischen Bereich, aber auch freie Autoren und Regisseure, sind Quereinsteiger. Was verbindet, ist eher der musikalische Hintergrund und das grundsätzliche Interesse daran. Wie sehen Sie sich und Ihre Arbeit denn persönlich? Würden Sie sich als Künstler bezeichnen oder eher als eine Art Historiker, der Sachen in Form von Dokumentationen aufzeichnet? STODTMEIER: Schwere Frage! Also, als Künstler würde ich mich nicht definieren. Als Teamworker hat mir die Co-Regie großen Spaß gemacht, allein hätte ich das auf keinen Fall hingekriegt. Nur inhaltlich zu arbeiten, wäre nicht mein Ding, lieber arbeite ich konzeptionell und pragmatisch als Producer, da komme ich auch von der Ausbildung her. SMACZNY: Ich verstehe mich wie Maria nicht als Künstler per Definition, sondern ich verstehe mich zum einen als Pragmatiker, wenn es um meine Produzententätigkeit geht, und zum anderen als Kreativen, wenn es um meine Tätigkeit als Regisseur geht. Mit meinem Künstlerbegriff könnte ich das auch nicht vereinbaren, weil ich auch in gewissen Zwängen stecke.

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Was bedeutet für Sie denn freies Künstlertum in Deutschland? SMACZNY: Als Filmemacher wirklich unabhängig von allen möglichen Zwängen arbeiten zu können. Eine Situation, in die man in Deutschland nur sehr schwer kommen kann. Ein Freund von mir zum Beispiel ist Maler. Wie der als Künstler agiert und wie wir agieren, da sind allein schon die Vorgaben so unglaublich gegensätzlich. Er erfüllt die Idee, die ich von Künstlern habe. Er arbeitet für sich allein. Er arbeitet auf ein nicht zweckgebundenes Ziel hin. Er arbeitet auch ohne kommerziellen Zwang. Natürlich muss er hoffen, dass irgendjemand kaufen will. Aber diese Grundvoraussetzungen für einen Künstler erfüllt ein Maler und ein Schriftsteller, ein Komponist schon wieder weniger, weil er nur dann Musiker sein kann, wenn er einen Auftrag von einem Orchester bekommt oder wenn er die Chance hat, bei dem einen oder anderen Festival zu agieren. Bei uns ist es erst einmal Teamwork und wenn es eine interessante Konstellation von Kreativen ist, kommt am Schluss vielleicht ein Kunstwerk heraus. Aber dann ist das Kunstwerk ja nicht von einer Person kreiert. Da ist der Cutter ein wesentliches Element, der Ton, die Kameraleute. Sich in diesem Fall als Künstler zu definieren, würde bedeuten, ich habe den Alleinanspruch auf das Resultat. Was muss ein erfolgreicher Filmemacher heutzutage können? STODTMEIER: Man muss sich anpassen an die jeweilige Situation und flexibel sein. Ich arbeite gern kreativ und verorte mich immer wieder neu. Eine Art Kulturauftrag ist mir total wichtig, auch wenn man jetzt in der Privatwirtschaft gelandet ist. Dass man die Institutionen, die für uns zuständig sind, mit Sachen beliefert, hinter denen man steht. Bildungspolitischer Anspruch – da komm ich her. SMACZNY: Er muss ein Teamworker sein, ohne allzu großes Ego. Mit einem sehr guten Gespür fürs Geschichtenerzählen und einer Überzeugungskraft in Finanzierungsdingen. Denn ein freier Filmemacher, der zu uns mit einer Projektidee kommt, muss jemandem seine Idee verkaufen können! Er steckt dann in einer Rolle, in der wir sonst gegenüber Arte oder anderen Sendern sind. Derjenige muss den Film schon vor dem inneren Auge seiner Gesprächspartner aufscheinen lassen.

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Was für Geschichten überzeugen Sie denn? Was schauen Sie eigentlich in ihrer Freizeit? SMACZNY: Ich persönlich gucke relativ wenig TV, muss ich sagen. Wenn, dann ab und zu Dokumentarfilme und Musikprogramme. STODTMEIER: Ich bin auch eher Kinogänger. SMACZNY: (schmunzelt) Darf man eigentlich gar keinem erzählen, wenn man in diesem Bereich arbeitet. STODTMEIER: Ist genauso wie mit der Musik. Hörst du viel Musik zu Hause? Also Klassik? SMACZNY: Hmmm, ja schon. STODTMEIER: Ja? Ich eher nicht so.

Anhang

Künstler

Michael Arlt ist Jazzgitarrist und Musikdozent. Paul Brodowsky ist Autor, Dramatiker und Literaturwissenschaftler. Mira Cichocki ist Malerin. Dirk Cieslak ist Schauspieler und Theaterregisseur. Shaheen Dill-Riaz ist Regisseur und Dokumentarfilmautor. Thomas Frickel ist Regisseur, Filmproduzent und Dokumentarfilmautor. Jan-Christoph Glaser ist Filmregisseur und Cutter. Hacky Hackbarth ist Filmregisseur, Kameramann, Cutter und Medienpädagoge. Sarah Haffner ist Malerin und Autorin. Lutz Hübner ist Dramatiker, Schauspieler und Theaterregisseur. Tatyana Khodorenko ist Puppenspielerin und -bildnerin. Jan Linders ist Regisseur, Dramaturg und Schauspieldirektor. Carsten Ludwig ist Filmregisseur und Drehbuchautor.

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Hildegard Plattner ist Regisseurin, Dramaturgin und Theaterpädagogin. Florian Poser ist Jazzmusiker (Vibraphon und Marimba) und Komponist. Axel Ranisch ist Filmregisseur, Drehbuchautor, Kamermann, Cutter und Medienpädagoge. Charlotte Roos ist Autorin, Dramatikerin und Theaterregisseurin. Franziska Rutz ist bildende Künstlerin und Kunstpädagogin. Bernd Sahling ist Filmregisseur und Drehbuchautor. Christiane Schütze ist Autorin und Journalistin. Stefanie Seeländer ist Kabarettistin, Sängerin und Schauspielerin. Angelika Sieburg ist Schauspielerin, Regisseurin und Theaterwissenschaftlerin. Paul Smaczny ist Filmregisseur, -produzent und Dokumentarfilmautor. Maria Stodtmeier ist Filmregisseurin und Dokumentarfilmautorin. Anja Tuckermann ist Autorin, Dramatikerin und Journalistin. John von Düffel ist Autor, Dramatiker, Dramaturg Journalist und Theaterwissenschaftler.

Autoren

Uta Budzinski, Jennifer Fandrich, Judith Franke, Florian Gründel, Julia Illmer, Anna Kaitinnis, Sarah Kuschel, Grit Lukas, Inga Machel, Stefanie Mrachacz, Dagmar Neumann, Hannes Opel, Nora Otte, Mia Panther, Sebastian Polmans, Wibke Schmitt, Katharina Schröck, Fabian Schütze, Marcus Thomas, Simon Vu, Katharina Widiger und Olga Wierzenko sind Absolventen des Fachbereichs „Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation“ der Universität Hildesheim und Diplom-Kulturwissenschaftler. Nina Peters ist Magister der Theaterwissenschaften und Neueren deutschen Literatur sowie Lektorin im Suhrkamp Theater Verlag. Professor Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Inhaber des UNESCO-Chair Cultural Policy for the Arts in Development. Aron Weigl ist Diplom-Kulturwissenschaftler und Doktorand am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim.

Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Barbara Alder, Barbara den Brok Die perfekte Ausstellung Ein Praxisleitfaden zum Projektmanagement von Ausstellungen 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1489-3

Patrick S. Föhl, Patrick Glogner Kulturmanagement als Wissenschaft Überblick – Methoden – Arbeitsweisen. Einführung für Studium und Praxis Juni 2013, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1164-9

Andrea Hausmann (Hg.) Handbuch Kunstmarkt Akteure, Management und Vermittlung Februar 2014, ca. 450 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2297-3

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Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Birgit Mandel Interkulturelles Audience Development Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen (unter Mitarbeit von Melanie Redlberger) März 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2421-2

Carl Christian Müller, Michael Truckenbrodt Handbuch Urheberrecht im Museum Praxiswissen für Museen, Ausstellungen, Sammlungen und Archive August 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1291-2

Ina Ro Wie überlebe ich als Künstler? Eine Werkzeugkiste für alle, die sich selbst vermarkten wollen August 2013, ca. 150 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2304-8

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Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Felix Ackermann, Anna Boroffka, Gregor H. Lersch (Hg.) Partizipative Erinnerungsräume Dialogische Wissensbildung in Museen und Ausstellungen Mai 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2361-1

Claudia Gemmeke, Franziska Nentwig (Hg.) Die Stadt und ihr Gedächtnis Zur Zukunft der Stadtmuseen 2011, 172 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1597-5

Susanne Gesser, Martin Handschin, Angela Jannelli, Sibylle Lichtensteiger (Hg.) Das partizipative Museum Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen 2012, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1726-9

Katerina Kroucheva, Barbara Schaff (Hg.) Kafkas Gabel Überlegungen zum Ausstellen von Literatur Mai 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2258-4

Peter Leimgruber, Hartmut John Museumsshop-Management Einnahmen, Marketing und kulturelle Vermittlung wirkungsvoll steuern. Ein Praxis-Guide 2011, 348 Seiten, kart., inkl. Begleit-CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1296-7

Yvonne Leonard (Hg.) Kindermuseen Strategien und Methoden eines aktuellen Museumstyps 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2078-8

Petra Schneidewind, Martin Tröndle (Hg.) Selbstmanagement im Musikbetrieb Ein Handbuch für Kulturschaffende (2., komplett überarbeitete Auflage) 2012, 384 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1660-6

Christiane Schrübbers (Hg.) Moderieren im Museum Theorie und Praxis der dialogischen Besucherführung Mai 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2161-7

Martin Tröndle (Hg.) Das Konzert Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form (2., erweiterte Auflage) 2011, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1617-0

Gernot Wolfram (Hg.) Kulturmanagement und Europäische Kulturarbeit Tendenzen – Förderungen – Innovationen. Leitfaden für ein neues Praxisfeld 2012, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1781-8

Regina Wonisch, Thomas Hübel (Hg.) Museum und Migration Konzepte – Kontexte – Kontroversen 2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1801-3

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