Hellenika. Gesammelte Kleine Schriften
 3511090865

Table of contents :
Erste Abhandlung: Untersuchungen zum Sokratesprozeß: 5-65. Zweite Abhandlung: Protagoras als Gesetzgeber von Thurii: 66-82. Dritte Abhandlung: Die sozialphilosophischen Lehren des Protagoras: 83-107. Vierte Abhandlung: Dunkle Pindarverse: 108-124. Fünfte Abhandlung: Heraklits Rechtsphilosophie: 125-159.

Citation preview

ADOLF

MENZEL

HELLENIKA GESAMMELTE

KLEINE

SCHRIFTEN

NEUDRUCK DER AUSGABE BADEN BEI WIEN 1938

1979 SCIENTIA

VERLAG

AALEN

VORWORT Im Zusammenhang mit seinen Arbeiten auf dem Gebiete der Staatslehre und Soziologie nahm der Verfasser die Gelegenheit wahr, Unter-

suchungen über einzelne Themen der griechischen Altertumswissenschaft

anzustellen.

Sie sind

zum

Teile bereits

verdffentlicht,

aber

nicht leicht zugénglich, da die Sonderabdriicke dieser Aufsitze schon Jängst vergriffen sind. Es wurde deshalb der Wunsch ausgesprochen, eine Sammlung derselben neu herauszugeben. Indem diesem Wunsche

Rechnung getragen wird, erfolgte eine Erginzung, bzw. Umarbeitung. Dariiber ist das Nötige in den Vorbemerkungen zu den einzelnen Abhandlungen angegeben. Ad.

Lizenzausgabe mit freündlicher Genehmigung des Verlags Rudolf M. Rohrer, Baden bei Wien

ISBN 3.511.09086.5. Gesamtherstellung: fotokop wilhelm weihert KG, Kleyerstr. 12, Darmstadt

Printed in Germany

Menzel

ERSTE

INHALTSVERZEICHNIS

UNTERSUCHUNGEN

Seite

Erste Abhandlung: Untersuchungen zum Sokratesprozeß

. . - ...

5

. . . . . «

66

Zweite Abhandlung: Protagoras 815 Gesetzgeber von Tharii Dritte Abhandlung: Die sozialphilosophischen Lehren des Protagoras . . Vierte Abhandlung: Dunkle Pindarverse

83

. . . . . .«

. o κ κ κ τ τ Σ 108

. ..

. . . . . . . . 125

Fiinfte Abhandlung: Heraklits Rechtsphilosophie

ABHANDLUNG

ZUM

SOKRATESPROZESS

Inhaltsisbersicht: I, Zur Kritik der Quellen. 11. Der Wortlaut der Anklage. 1Π. Interpretation der Klageschrift. IV. Der Asebicbegriff. V. Die Rechtsgrundlage der Anklage. VI, Das Verhaltnis der Anklage zur Amnestiegesetzgebung. VIL. Die Begrindung der Anklage. VIIL Die Personlichkeit und die Motive der Anklager. IX. Verhandlung und Usteil. X. Ergebnisse. Widerlegung der Poblmannschen Auffassung. XI. Die seitherige Literatur zum Sokratesproze. Vorbemerkung Anfang Januai 1901 hielt ich auf Einladung der internationalen Vereinigung fiir Rechtswissenschaft in Berlin einen Vortrag tiber den SokratesprozeB, wobei die juristischen Gesichtspunkte im Vordergrund standen. Näher ausgefiihrt wurde das Thema in der Abhandlung ,.Untersuchungen zum Sokratesprozesse’, welche in den

Sitzungsberichten der Wiener Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 145 II (1902), Aufnahme gefunden hat. Sie wird im folgenden mit einigen Kiirzungen wieder abgedruckt. Uber die Wirkung, welche sie ausgeiibt hat und über die seither erschienene Literatur berichtet der neue Abschnitt XT dieser Schrift

in aller Kiirze. 1. Zur Kritik der Quellen . Gesichertes Wissen in bezug auf den Sokratesprozeß besitzen wir nur hinsichtlich der Anklageschrift und des Ausganges der Verhandlung. Die Begründung der Anklage in der öffentlichen Sitzung ist uns nicht überliefert und kann nur auf indirektem Wege rekonstruijert werden. Die Verteidigungsrede des Sokrates ist uns in literarischer Verarbeitung erhalten; wie weit hier ein realer Vorgang geschildert ist, muß sorgfiltig gepriift werden. Die sonstigen Vorgénge bei der Gerichtsverhandlung sind liickenhaft und zum Teile widersprechend dargestellt, so namentlich die Verhandlung über das Maß der Strafe. Uber die Personlichkeit der Ankliger ist — abgesehen von Anytos — nichts Sicheres iiberliefert ; sie und ihre Motive erscheinen uns nur in der gewiß nicht unparteiischen Darstellung der sokratischen Schule. Es

sind

im

wesentlichen

drei

Schriften,

aus

welchen

wir

unser

Wissen über den SokratesprozeB schopfen: Platons Apologie, Xeno-

5

en Namen überlieferte Apolophons Memorabilien und die unter dess verschieden, je nachdem man, gie. Die Bewertung dieser Werke ist — wie dies

rarischen oder wie dies gewöhnlich geschieht, einen lite anlegt. Um einen juristisch-kritischen Maßstab

hier versucht wird — digung gleich hier festzustellen, das Ergebnis dieser letzteren Wiir ons einen sehr begrenzten Wert kann man sagen, daß die Apologie Plat esses besitzt, Xenophons Memofür die Erkenntnis des Sokratesproz dessen Apologie des Sokrates rabilien nahezu wertlos sind, hingegen

höchst beachtenswert erscheint.

den Charakter und die KompoDie weitschichtige Literatur über drei Hauptmeinungen hervorsition der Platonischen Apologie 148t n des Sokrates, reine Erfindung treten: getreue Wiedergabe der Rede endlich Mischung von Wahrheit Platons, also literarische Fiktion, t gegenwärtig nur noch wenige und Dichtung. Die erste Ansicht finde Vertreter,

die

zweite

ist sehr

verbreitet,

neuestens

besonders

von

die dritte Ansicht wurde von Schanz, Déring und Jogl vertreten, er hat fiir die Apologie den AusTh. Gomperz erfolgreich verfochten; Es wird natiirlich sehr darauf druck „stilisierte Wahrheit'* geprigt. ‘Wahrheit und Dichtung geankommen, wie die Grenzlinie zwischen vom Standpunkte juristischer zogen wird. Da bin ich nun allerdings isierung‘“ etwas weiter auszuKritik geneigt, den Bereich der „Stil n ist. Treffend hebt er (Griech. dehnen, als dies bei Gomperz geschehe Zeugenaussagen stattfanden; Denker IL, 81) hervor, daB zweifellos bedenklicher ist aber die Art, die Apologie schweigt hierüber. Viel Anklage behandelt. Er kämpft wie Sokrates bei Plato die offizielle ihr nicht enthalten ist, nämlich gegen eine Beschuldigung, welche in uch, die wirkliche Anklage Atheismus, und macht gar keinen Vers widerlegen. Vergeblich sucht (Einfiihrung neuer gottlicher Dinge) zu achen; die Polemik hat einen man die Anfithrung irgend welcher Tats dieser

Details will ich an rein dialektischen Charakter. Auf weitere n.die Anklage

negative, gege Stelle nicht eingehen. Jedenfalls hat der einen geringen historischen gerichtete Teil der Platonischen Apologie

Wert.

her den Lebenslauf, Ganz anders der positive Teil, welc

die Wirk-

dert. Hier konnte Plato samkeit und die Mission von Sokrates schil weil dieser Abschnitt der von der Wahrheit nicht abweichen, erstens, essualitiefer im Gedichtnisse haftete als das proz Rede naturgemäß

Teil der Verteidigung für die Nach sche Detail ; zweitens, weil dieser

6

g:l‘::hἝπὼ ὀἓ;εκπᾶεπ Wert besaB. Ich gehe hier in der Annahme der

c schichtlichkeit sogar weiter wie Gom] perz, welcher diei dem Solcix;htes 1111ζ ]ἓεζι Ιἕ[)πῃἀΙ gelegte Rolle eines Tugendpredigers für unhistz

erklärt. Das letzte Stadium des sokratischen Wirk . immerhin . n diesen dies Charakter besessen h: aben, wenn auch b urspriingli deapemogn die Begriffswissenschaft dominierte und daher in der Κοπἷἕἓ;ΐξὡ krates ausschließlich als Sophist erscheint. " Ο)ἕ:πξἷ);οπε M?mora?';)flien beginnen bekanntlich mit den Worten: E‘,r" χἓ

s'habe

1511 mich

gewundert,

durch

was

in aller

Welt

fiir

5 Bm e die Ankläger des Sokrates den Athenern eingeredet haben dia e{‘v den Tod ‚von Staats wegen verdient habe.‘“ Als Xenophol; 4 ne;gk ortte schxäeb‚ %aren ihm offenbar die Vorgänge des Prozesses annt, nur den Wortlaut der Anklageschrift schei i schafft t zu haben, ι Ν da er sie gleich glei darauf richtig ichtig zzitiert. ὶ UmUn80 en -

staunlicher ist es, 488 Xenophon im weiteren Verlaufe auch d.iseo 1::-

gulx)nen;e zu kennen scheint, welche die Ankliger bei Gericht vorgeelblanc ἆ Ι:;Ι)Θπ sollen. Er bti\_'ngt eine ausführliche Polemik gegen die-

selben Re,de,n Q;rfiäl.flz'gmn szc: dieselbe wirklich gegen die gerichtR moab morabilien

ger richten wiirde, e ne

ichti wichtige

Quelle fur‘dm ür die

so hitten wir K i Kenntnis

des

i o e MeSokratespro-

er‘:iliem déxrch die Forschungen von Cobet! und Hirzel? ist vollig o :;;l;fi;lß "ἓξ;ἷ] Ρεπι von Xenophon zitierten „xathyopos‘‘ nicht e äger, sondern ein lit i

der Gegner des Sokrates zu verstehen ist, ; i itder ἄ Rhet Rhen nämlich e ξς;ἓὲιΐἃἷξἱζξἳτἷξ, welcher in der Form einer Anklagerede zi?;n‘llilclg rozesse gegeniiber den zahlreich: i Sokrates S eine Streitschrif Ἔ publiziert izi et ot o hat. s Dieselbe ist d em Anyte

;)rlx.l g;ndMurfi gelegt. Sc? konnte der von Athen lange abwesende ἓζπἓΐ Publika?; Zmung sein, daß er es in dem Schriftstücke mit einer

Ν

l\zn er w‘fr‘khchen Anklagerede zu tun habe. Doch ist diese er Memorabilien wahrscheinlich erst spiiter eingeschoben wm'f o eurspriinglich den; ΑΠΝΙ εοlag dem n Verf: erfasser, wiei der Zusammenhang ergibt,

Zu den bereits von anderen geltend gemachten Argumenten, » Nove_;e lectiones Ὦ Rhein, Museum

1858, S, 662 ff. 1887, 230 £f,

welche

diesen Sachverhalt in überzeugender Weise rechtfertigen*, kann ich noch ein juristisches Beweisstück hinzufügen. Es ist unmöglich, daß in der wirklichen Begründung der Anklage dem Sokrates die Erziehung des Alkibiades und des Kritias vorgeworfen wurde, weil, wie wir sehen werden, eine solche Beschuldigung mit der Amnestie von 403 v. Chr. unvereinbar gewesen wäre, und weil diese Amnestie zur Zeit des Sokratesprozesses (399) noch sehr strenge gehandhabt worden ist. Dennoch spielt gerade dieser Vorwurf bei Polykrates und demgemäß auch bei Xenophon eine wichtige Roile. Auch die übrigen Gründe der Anklage, namentlich soweit sie einen politischen Charakter haben, sind sicherlich Erfindungen späterer Zeit, von welchen weder die Apologie Platons noch die den Namen des Xenophon tragende Apologie etwas weiß. Hat doch schon der Redner Lysias an der Schrift des Polykrates getadelt, daß sie dem Anytos den Hinweis auf Alkibiades in den Mund lege, welcher doch mit Anytos befreundet war und daher unmöglich als Exempel schlechter Erziehungsresultate erwihnt werden kann, Uberhaupt ergibt sich aus den Bemerkungen von Isokrates im ,,Lob des Busiris”, daß ε5 sich bei Polykrates nur um ein rhetorisches Kunstwerk handelt, nicht um einen

Versuch, die wirkliche Anklage zu rekonstruieren®

Es erscheint mir daher ganz unzulissig, den Angaben der Memo-

rabilien über die Begriindung der Anklage gegen Sokrates irgend

einen historischen Wert beizumessen, wie dies bei der Behandlung des Sokratesprozesses nicht nur friiher oft geschah, z. Β. in Forchhammers Schrift?, sondern merkwiirdigerweise auch jetzt noch praktiziert wird, z. Β. bei Pohlmann®. Erst am Schlusse der Memorabilien (IV, 8) finden sich wieder Angabén über den SokratesprozeB, welche auf personliche Erkundigung

Wir kommen nun zu der uns unter dem Namen des Xenophon iiberlieferten Apologie des Sokrates. Die Echtheit dieser kleinen Schrift ist bestritten. Neuerdings haben sich viele Stimmen für dieselbe erhoben?;

andererseits hat kein Geringerer

als U. v. Wilamo-

witz-Moellendorf das Werkchen fiir eine plumpe Filschung erkldrt?. Für mich als Juristen steht die literarische Frage, ob Xenophon wirk-

lich der Verfasser desselben ist, erst in zweiter Linie. Der entschei- dende Gesichtspunkt ist vielmehr die Selbstindigkeit und der historische Wert dieser Apologie. Dieser Gesichtspunkt steht mit der Autorschaft des Xenophon in keinem notwendigen Zusammenhange®. Trotz mancher Anklinge an Platons Apologie und Phidon, sowie an das letzte Kapitel der Memorabilien, zeigt unsere Apolegie in vielen Punkten eine Selbstindigkeit, welche es unmöglich macht, in derselben eine bloße Kompilation aus spiterer Zeit zu erblicken. Diese Selbstandigkeit tritt besonders in prozessualischen Angaben hervor. Es wurden Entlastungszeugen erwahnt, aber auch Zeugenaussagen, welche fiir Sokrates ungiinstig waren; davon ist sonst nirgends die Rede. Es wird — im Gegensatze zu Platons Apologie — berichtet, daß Sokrates die Stellung eines Strafantrages verweigert hat. Wir erfahren, worin die Anklage hauptsichlich einen Verderb der Jugend erblickte. Die Art, wie Sokrates den Vorwurf religiöser Neuerung zu widerlegen sucht, ist eigenartig, ebenso seine Verteidigung gegen die Beschuldigung des Jugendverderbs; auch in der Art, wie der delphische Orakelspruch zitiert wird, in der Motivierung der Todesverach-

zurückgeführt werden und daher zu beachten sind; sie betreffen je-

tung des Sokrates zeigt Damit ist natiirlich noch Sachverhalt bringe. Die unser Schriftchen in den

%) Vgl. Schanz in der Einleitung zus Apologie Platons, 5. 22 1f. Jotl, Sokrates

“Snv.leit .da.her die Ausführungen v. Wilamowitz’ gegen die Selbständigkeit und Glaubwürdigkeit der Apologie gerichtet sind, haben

doch nur ein nebensichliches Moment, die Griinde der mangelnden Vorbereitung des Sokrates und seiner Todesverachtung.

1, 19; Doring, Die Lehre des Sokrates, S. 105 , 2) Vgl. BlaB, Attische Beredsamkeit, 2. Aufl. Τ, 245.

%) Die Athener und Sokrates, 1837, bes. S. 40 #f., wo gezeigt wird, daß die fünf

Anklagepunkte von Xenophon nicht widerlegt worden seien. 4) Sokrates und sein Volk, 1899, S. 100. Merkwiirdig wäre es, daB sich Xeno-

phon gerade über die gerichtliche Anklagerede genau informiert hitte, dagegen gar nicht über die Verteidigungsrede; hier gibt er durchwegs eigene Argumente.

8

keit besitzt.

sich die Selbstindigkeit unserer Apologie. nicht gesagt, daB sic auch iiberall den wahren spätere Darstellung wird jedoch zeigen, daß meisten Punkten eine innere Glaubwiirdig-

%) Vgl. Schanz a. a. O., S. 76ff.; Jo&l, Sokrates I, 479. % In Hermes 1897, S. 99 ff, %) Anders Wetzel in: Neue Jahresberichte für klass, Philologie 1000, S. 389. Dochist schon einer der ersten Sätze, daß mit der Echtheit der Apologie auch über ihre Glaubwürdigkeit entschieden sei, unrichtig. Sie könnte von Xenophon herrühren und dennoch historisch wertlos sein und umgekehrt.

sie mich keineswegs überzeugt. Die Übereinstimmung mit. Einzelheiten der Platonischen Apologie und der Memorabilien erklärt einfach daraus, daß eben der wirkliche Sachverhalt oder eine meinsame Erkenntnisquelle vorliegt. Speziell ist es die Person Hermogenes, welcher sowohl im Schlußkapitel der Memorabilien im Anfang unserer Apologie als Gewährsmann zitiert wird. Daß krates auch nach unserer Apologie noch nach dem Todesurteile

sich gedes als Soeine

Rede hält, hat nichts Auffallendes; das attische Prozeßrecht stand

dem nicht im Wege*. Die Erwähnung der φίλοι σοναγορεύογτες im $ 22

beweist

keineswegs

eine Fälschung,

da es sich hier nicht

um

Für-

sprecher im technischen Sinne®, sondern um Entlastungszeugen han-

delt, die ja auch in Platons Apologie angedeutet werden. Die sonstigen, mehr literarischen Argumente, welche v. Wilamowitz vorbringt, kann ich um 80 eher übergehen, als sie bereits von Wetzel® entkriftet worden sind. Was der letztgenannte Schriftsteller über die Autorschaft unserer Apologie vorbringt, ist freilich wenig überzeugend. Als Beweis, daß Xenophon der Verfasser sei, führt er an, daß er sich bei Abfassung gewisser Teile der Memorabilien an die Apologie angelehnt hat. Man

kann sich doch auch an eine fremde

nahmen

es in diesem

Punkte

Schrift anlehnen; die Alten

nicht sehr genau;

überdies könnte

Informationsquelle

die Übereinstimmung auf eine gemeinsame

ja

zu-

rückzuführen sein. Viel bedenklicher ist aber die Art, wie Wetzel die zahlreichen Abweichungen

der Memorabilien

von der Apologie

zu

erklären versucht. Dieselben seien auf den Einfluß der Platonischen

Apologie

zurückzuführen,

die dem

Xenophon

geworden sei; aus ihr habe er entnommen,

inzwischen

bekannt

daß andere Dinge in der

Verhandlung gegen Sokrates vorgekommen seien, Allein es wäre höchst sonderbar, wenn jemand, der auf Grund eines Ohrenzeugen (Hermogenes) den wahren Sachverhalt kennen gelernt hat, sich durch eine literarisch-fiktive Arbeit — das ist nach Wetzel Platons Apologie. — beeinflussen lieBe; soll doch Xenophon (Wetzel, S. 395) sogar gegen seine bessere Uberzeugung die betreffenden Ausfithrungen in den Memorabilien geschrieben haben!

1) Vgl. vorläufig Meier-Schoemann-Lipsius, S, 957, Note 550. %) Diese hieBen συνήγοροι Meier-Schoemann-Lipsius, Note 443. %) a. . O., 8. 4004, Vgl auch die Äußerung von Gomperz in den Verhandlungen des 43, Philologentages zu Köln (Bericht, S. 74). 10

Entscheidend spricht jedoch gegen die Hypothese von Wetzel der Umstand, daß den Memorabilien die wirklichen ProzeBvorginge unbekannt sind. Man kann eine Schrift nicht damit beginnen, daß man

sich über ein Ereignis wundert, wenn man den Hergang und die Kausalreihen genau kennt. Führt doch die Apologie den tragischen Ausgang mit scharfer Betonung auf die GroBsprecherei (μεγαληγορία) des

Sokrates und diese wieder auf den Wunsch zu sterben zurlick. Es ist daher ganz ausgeschlossen, daß Xenophon erst die Apologie und dann die Memorabilien verfaBt hat ; nur das letzte Kapitel derselben könnte

der Apologie nachgefolgt sein. _Wie immer man zur Frage der Autorschaft der Apologie Stellung nimmt, ihr Wert für die Kenntnis des Sokratesprozesses ist jedenfalls ein sehr bedeutender. 11. Der Wortlaut der Klageschrift Bis vor kurzer Zeit wurde der Wortlaut der Anklage, wie sie uns Diog. Laért. I1, 40 iiberliefert, als authentisch angenommen. Berichtet uns doch Diogenes, daB Favorinos, der Zeitgenosse und Freund Plutarchs, die Klageschrift im Metroon, dem Staatsarchiv von Athen,

gelesen und unserem Autor mitgeteilt habe. Sie lautet: τάδε ἐγράψατο καὶ ἀντωμόσατο Μέλητος Μελήτου Πιτθεύς Σωκράτει. Σωφρονίσκου Ἀλωπεκχῆθεν. ἀδικεῖ Σωχράτης, οὖς μὲν ἡ πόλις νομέζει θεοὺς οὐ νομίζῶν, ἕτερα δὲ καινὰ δαι-

μόνια εἰσηγούμενος - ἀδικεῖ δὲ καὶ τοὺς νέους διαφθείρων" τίμημα θάνατος. Protokolliert und beschworen wurde folgende Anklage des Meletos, Sohn des Meletos aus Pitthos, gegen Sokrates, Sohn des Sophroniskos aus Alopeke: ,,Sokrates begeht ein Verbrechen, indem er die Gétter, welche der Staat verehrt, nicht verehrt, dagegen andere neue gottliche Dinge einfithrt; er begeht ein Verbrechen, indem er die Jugend verdirbt. Strafantrag der Tod.“ Wie schon Meier-Schoemann-Lipsius (Attischer ProzeB, S. 803) richtig bemerkten, haben wir es hier nicht mit der urspriinglichen K.!ageschrift (γραφή) zu tun, welche beim Vorstand des Gerichtes über-

reicht wird und das Verfahren eröffnet, sondern mit der durch die Voruntersuchung (Anakrisis) festgestellte Anklage. Sie entspricht also mehr der Anklageschrift im modernen Strafprozesse,

Für den Prozeß entscheidend war natürlich nur diese in der Vor1

untersuchung richtiggestellte und beschworene Klageschrift; sie wurde daher mit den übrigen Prozeßakten im Archive aufbewahrt, während die ursprüngliche Anzeige gegenstandslos wurde. Vom Standpunkte des griechischen Strafprozesses ergibt sich daher absolut kein Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Favorinos-

berichtes. Im Gegenteile! Wenn die Sokrates-Anklage im Metroon

wirklich noch vorhanden war, so konnte es nur die protokollierte und beschworene Klageschrift sein. In neuerer Zeit hat jedoch Schanz in seiner Einleitung zu Platos Apologie, insbesondere S. 13-ff. gegenüber der bisher herrschenden Ansicht von der Authentizitit der Diogenesstelle Widerspruch erhoben. Nach Schanz ist der Favorinosbericht ein Schwindel; ja noch mehr: auch Xenophon und Plato bringen angeblich nicht die wirkliche Anklage; dieselbe kénne den Jugendverderb gar nicht enthalten haben. Schanz versucht selbst die Klageschrift zu rekonstruieren.

Mit den Ausfithrungen von Schanz, welche unseres Wissens bisher nicht kritisch gepriift wurden, miissen wir uns im folgenden auseinandersetzen. Tst doch dic Feststellung des echten Wortlautes der Anklage eine der wichtigsten Grundlagen für die Beurteilung des Sokratesprozesses.

Xenophon

bringt

(Mem.

I,

1, 1) die -Klageformel

in folgender

Fassung:

ἀδικεῖ Σωχράτης οὖς μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ γομιίζων, ἕτερα δὲ καινὰ δαιμόνια εἰσφέρων. ἀδυκεῖ δὲ καὶ τοὺς νέους διαφθείρων. Der Unterschied von dem bei Diog. La&rt, vorkommenden Wort-

laute liegt also in dem Fehlen der Einleitungsklausel und im Worte εἰσφέρων an Stelle von εἰσηγούμενος, welches jedoch nahezu dieselbe Bedeutung hat. Sonst stimmen beide Fassungen durchaus fiberein. Xenophon leitet nun seinen Bericht über die Anklage mit den Worten

ein:

ἡ μὲν γὰρ γραφὴ κατ᾽ αὐτοῦ τοιάδε τις ἦν.

Er sagt: die Klage lautet ungefähr so. Da nun Favorinos bei Diog. Laért. genau dieselben Worte (von der oben bemerkten un-

wesentlichen Differenz abgesehen) als authentischen Wortlaut bringt, so besteht nach Schanz ein Widerspruch. Entweder habe Xenophon gelogen oder Favorinos. Letzteres sei der Fall; Favorinos habe die

12

Klageformel

nicht

aus dem

Staatsarchive

von Athen,

sondern

aus

Xenophon entnommen. Die Logik, die diesem Dilemma zu Grunde liegt, ist jedoch höchst merkwiirdig. Wenn von zwei bei Gericht vernommenen Zeugen der Eine sagt, die Entfernung betrage ungefihr eine Viertelstunde, der Andere hingegen, sie sei genau 15 Minuten, so wird ein verstindiger Richter

hierin

schwerlich

einen

Widerspruch

erblicken,

sicherlich

nicht annehmen, daB einer von beiden gelogen habe. Schanz verwech-

selt subjektive GewiBheit und objektive Wahrheit. Xenophon

war bekanntlich

zur Zeit

des

Sokratesprozesses

von

Athen abwesend und konnte sich nur auf indirektern Wege Kenntnis

der Vorginge verschaffen. Daraus erklirt sich die vorsichtige Redewendung.

DaB

aber deshalb

nicht den wirklichen

Wortlaut

die von ihm

reproduzierte

Formel

der Anklage enthalte, ist eine Argu-

mentation, die mir unversténdlich erscheint. Schanz begniigt sich nun allerdings nicht mit dieser, wie ich glaube, völlig miBglickten logischen Evolution. Er bemiiht sich nachzuweisen, daß die Anklage gar nicht so gelautet haben könne, wie sie bei Diog. Laért. und Xen. Mem. formuliert sei. Er konstruiert sich einen Begriff der ἀσέβεια, in welchem der Jugendverderb keinen Platz hat. ,,Das διαφθείρειν ist nur eine Folgerung. Wir haben also eine Klageformel, welche juristisch unhaltbar ist.‘“ (S. 14.) Ich werde aber in dem Abschnitte iiber den Begriff der Asebie den Nachweis fithren,

daB die Schanz’schen Bemerkungen schon in methodischer Hinsicht volltkommen verfehlt sind. Ich muB aber schon hier dem Erstaunen Ausdruck geben über die Kiihnheit, mit welcher sich Schanz iiber alle Quellenbelege des klassischen Altertums hinwegsetzt, indem er den Jugendverderb aus der Anklage gegen Sokrates streicht. Ist ihm nie der Gedanke gekommen, daB das Altertum in diesem Punkte

doch vielleicht besser informiert war 818 ein déutscher Gelehrter am Schlusse des 19. Jahrhunderts?

Nach Schanz soll der SchluBpassus der Anklage nicht gelautet haben ἀδικεῖ δὲ καὶ τοὺς νέους διαφθείρων, sondern καὶ ταὐτά ταῦτα τοὺς véaug

διδάσχων.

Es handelt sich nach Schanz gar nicht um einen selb-

ständigen Tatbestand (Jugendverderb), sondern um eine Manifestation der TIrreligiositit. Indem Sokrates die Jugend Gottloses lehrt,

macht er sich der Asebie schuldig. Ganz abgesehen davon, daB Sokrates stets geleugnet hat, Unter-

13

den richt zu erteilen, findet sich keine einzige Quellenstelle, welche

Ausdruck διδάσχων aufweist. Aber auch der indirekte Beweis für diese

Fassung der Anklage ist Schanz durchaus miBlungen. Er beruft sich zunächst auf Platos Euthyphron 1—3, wo der Jugendverderb in unI6sbaren Zusammenhang mit der ἀσέβεια gebracht werde. Dieser Dialog spielt sich in der Zeit ab, welche

zwischen. der von

Meletos eingereichten Klage und der Prozeßverhandlung liegt. Sokrates kennt nur die Schriftklage, nicht ihre Begründung. Trotzdem sagt er von Meletos: „Jener weiß nämlich, wie er behauptet, auf welche Weise die jungen Leute verderbt werden und wer ihre VerAusderber sind.* Wie käme Sokrates zu dem διαφθείρειν, wenn er den EuthyIm hätte? men entnom Meletos druck nicht der γραφή des phron fragt Sokrates geradezu: ,, Aber sage mir doch, was machs_t du denn, daB er sagt (φησί), du verderbest die jungen Leute?" Dles«?s φησὶ διαφθείρειν τοὺς γέους des Meletos kann sich nicht etwa auf d_te Anklagerede in der Schwurgerichtsverhandlung beziehen, die erst in Aussicht steht, sondern nur auf die Schriftklage. Wenn nun auch Sokrates auf die oben angefiihrte Frage des Euthyphron antwortet: Gbtter ,.Er sagt nämlich, ich erdichte Götter, und als einen, der neue

erdichtet, an die alten aber nicht glaubt, hat er mich eben deswegen, wie er sagt, angeklagt”, so beweist dies nichts für die Ansicht von

Schanz. Diese Worte enthalten keine ernste Auskunft iiber den In-

halt der Anklage, sondern eine Ironisierung derselben. Ist doch ir} der wirklichen Anklage, wie sie selbst Schanz formuliert, weder von einem

Erdichten

(ποιητὴν εἶναι θεῶν),

noch

überhaupt

von

neuen

Gottern,

sondern von Daimonien die Rede.

Schanz beruft sich ferner auf Platos Apologie, insbesondere 26b,

welche Stelle er als ,,vollig entscheidend* erkldrt fiir den offiziellen Wortlaut der Anklage. Merkwiirdig ist allerdings, daß die Platonische Apologie, welche nach Schanz eine Fiktion, eine Dichtung Platos

sein soll, hier den Wert einer Erkenntnisquelle besitzen soll; merk-

wiirdig ist auch, daB die von Schanz so sehr geschitzte Xen.ophor_l— tische Apologie in dieser Frage gar nicht zu Rate gezogen wird; sie ist 4llerdings fiir die Schanz’sche Lehre recht unbequem. Allein auch Platos Apologie bietet nicht die geringste Stiitze. Hier zitiert Sokrates (24b) die Klageschrift beildufig (z0s ὧδε): Σωχράτη φησὶν ἀδοιεῖν τούς e νέους διαφθείροντα nal θεοὺς 05g %) πόλις γομίζει οὗ γομέζοντα, ἕτερα δὲ δαιμόνια καινά,“΄ So wenig fehlt hier der Jugendver14

derb, daß er sogar an die Spitze der Anklage gestellt wird. Sokrates erblickt in dem διαφθείρειν eine ganz selbständige Beschuldigung, welche er allgemein faßt und zunächst (24 b—26 b) ohne Riicksicht auf die Irreligiositit zu widerlegen versucht. Und da sollte in der

offiziellen Anklage nur von der Lehre irreligiöser Dinge die Rede gewesen sein?

Schanz zitiert nun folgende Stelle (26 b): ,,Dennoch aber sage uns nun, Meletos, auf welche Weise behauptest du, daB ich die jungen

Leute verderbe ? Otfenbar doch nach der Klage, welche du eingereicht, indem ich sie lehre, an die Götter etc. Meinst

du nicht, daß ich sie

durch diese Lehre verderbe? — Allerdings ist das durchaus meine Meinung." Auch diese Stelle beweist durchaus nicht die Richtigkeit der Schanz’schen Hypothese. Wire schon in der offiziellen Klageschrift nur die Irreligiositit und ihre Verbreitung in der Jugend erwihnt, so hitte Sokrates es gewiß nicht nötig gehabt, erst den Meletos zu befragen,

auf welche Weise er die jungen Leute verderbe.

Indem

Meletos zugibt, daß der Verderb durch irreligiöse Lehren erfolge, sagt

er durchaus nicht, daß Sokrates nur auf diese Weise und nicht durch andere Einwirkung den Verderb der Jugend herbeifithre. Ubrigens haben in Platos Apologie gerade die Dispute zwischen Sokrates und Meletos sicherlich am wenigsten den Wert historischer Berichterstattung. Wie aber Schanz, der die ganze Apologie fiir eine freie Dichtung erklirt, sich gerade auf die bedenklichsten .Stellen des Werkes berufen will, um seine Hypothese zu stiitzen, ist unverstindlich. Es ist dies um 80 unverstindlicher, als Schanz an einer anderen Stelle

seiner Einleitung (S. 71) die Darstellung Platos als unnatiirlich bezeichnet und ihr (S. 82) die Anklageformel, wie sie Xenophons Apologie enthilt, entgegenstellt. Wie lautet nun aber hier die Anklage? ‚ö6 obg μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς 0 νομίζοι ἕτερα, δὲ καινὰ δαιμόνια εἰσφέροι καὶ τοὺς νέους διαφθείροι" " (Xen. Ap. 10), also ganz übereinstimmend mit Xen. Mem. und Diog. Laért.

Die Authentizitét des Favorinosberichtes wird aber nicht bloß durch diese Ubereinstimmung mit Xenophon, sondern auch durch die Einleitungsklausel erwiesen : τάδε ἐγράψατο χαὶ ἀντωμόσατο Μέλητος Μελήτου Πιτθεὺς Σωχράτει Σωφρονίσχου Ἀλωπεκῆθεν. Diese Angaben über Abstammung und Heimat der Parteien können nicht abgeschrieben sein, weil sie weder bei Platonoch bei Xenophon vorkommen; ihr archi-

15

, .da.ß sich valischer Ursprung ist naheliegend. Schanz meint freilich die Kl.age— ohne , Favorinos dieses Material leicht verschaffen konnte schrift wirklich gesehen zu haben;

den Vaternamen des Meletf)s könne

welqhe einer erner einfach fingiert haben. Das sind Einstreuungen, ein plausibles sten Widerlegung nicht würdig erscheinen. Irgend war Schanz Motiv fiir den „Schwindel‘“ des Favorinos anzugeben, nicht in der Lage.

i

111. Interprelation der Klageschrifi Die

Bedeutung

der Einleitungsklausel

in der

uns

durch

Diog.

dahin} präzisiert, daß Laört. überlieferten Anklage wurde schon oben

die erfolgte Prosie unter genauer Bezeichnung der Prozeßparteien ge fests?tellt. Ge{%.nkla enen erhob der tokollierung und Beschwörung tlich neben bekann ch obglei s, nannt ist nur der Hauptkläger Meleto Lykon aufund s Anyto ihm in der öffentlichen Verhandlung noch o.mmen vo.llk icht treten; ihre Nichtnennung in der Klageschrift entspr

in der den Grundsitzen des attischen Prozesses. Auch fi?det sich SoEinleitungsklausel weder eine Bezeichnung des pehktes. dessen

Gesetzeskrates beschuldigt wird (ἀσέβεια), noch eine Beziehung auf

.gene .Fa_sstellen. Schanz nimmt allerdings in die von ihm vorges'f;hla

ὡ hinein sung der Anklage die Beschuldigung »»ἀσεβείας " ευεἁπἦοκ}ι r?angelhierin auch und deutet damit an, daß die Diogenes-Formel ft entesc.hn Anklag haft sei; das ist jedoch ganz irrig. Die griechische wegs; keines hielt eine solche allgemeine Bezeichnung des Verbrecl{ens Ia5§en. man darf sich hier durch moderne Analogie nicht beeinflussen gen unseri der neben uns welche , chrift Hat doch die einzige Klages gegen los Thessa dgs elie Eisang die ch wortlich überliefert ist, ndmli BenenAlkibiades (Meier-Schoemann-Lipsius, S. 805). keine solche ειλεν εἰσήγγ . . . 22): nung des Delikts; sie lautet einfach (Plut. Alcib.

.

geht ein Verbrechen) findet sich zum zweiten Male erst wieder bei der Beschuldigung des Jugendverderbs. Die erste Beschuldigung lautet: dölxe? Σωκράτης οὖς piv 4 πόλις γομέζε: θεοὺς οὐ νομίζων Allgemein wird hier das Verbum νομίζειν mit ,,glauben iibersetzt. ,,Sokrates glaubt nicht an die Gétter, an welche

der Staat glaubt. Ich halte diese Ubersetzung fiir unzutrefiend. Der Staat (oder die Stadt) ist schon nach griechischer Auffassung eine Abstraktion, eine juristische Person. Eine solche kann durch ihre Organe handeln,

aber nicht

denken

oder glauben.

Der

Staat

kanp

Altire errichten, Opfer bringen lassen etc., aber er hegt keine Vorstellungen. Νομέζειν bedeutet also in Verbindung mit πόλις keineswegs

„glauben“‘, sondern ,,verehren’; es bezieht sich auf den äußeren Kultus, nicht auf die innere Religion.

Ist dies richtig, dann kann das-

selbe Wort fiir Sokrates keinen anderen Sinn haben. Es wird ihm also nicht vorgeworfen, daß er an die Staatsgdtter nicht glaube, sondern daß er sie nicht verehre. Unsere Ubersetzung steht überdies im Einklange mit der urspriinglichen Bedeutung des Wortes νομίζειν als sich der Sitte (vépos) gemäß benehmen; im Sinne von ,,meinen, glauben" wird unser Wort erst viel spiter gebraucht. Bei Herodot — Belege

sind

wohl

überflüssig



bedeutet

νομίζειν θεόν

geradezu:

cinen Gott nach der von der Sitte geheiligten und vom Staate gesetz-

lich anerkannten Weise verehren. Unsere Auffassung steht allein im Einklange mit dem Wesen der griechischen Religion, die ihren Schwerpunkt nicht im Glauben, sondern im Kultus findet, demzufolge auch mit dem richtigen Begriffe der Irreligiositét (Asebie), wie an anderer Stelle gezeigt wird. Unsere Auffassung ist aber auch geeignet, auf den Sinn der zweiten Be-

schuldigung das hellste Licht zu werfen, wie wir alsbald sehen werden. Vorher möchte ich aber aufkliren, wie die hier bekimpfte

falsche

Wir wenden uns nunmehr der eigentlichen Anklage zu. Was in der

Deutung des νομέζειν entstehen konnte. Die Platonische Apologie hat sie verschuldet. Hier legt Plato dem Sokrates Ausfithrungen in den Mund, welche allerdings den Anschein wecken, als

: innerer Zusammenhang eingehend gewürdigt worden. wird: oben geerh Ankla Es sind drei Tatbestände, wegen welcher die die Nichtverehrung der Staatsgotter, die Einführung and_erer neuer göttlicher Dinge und der Jugendverderb. Jedoch sind die beiden ersten Delikte zu einer Einheit zusammengefaBt; das Wort ἀδικεῖ (er be-

daB er die Existenz der Staatsgotter (im weiteren Verlaufe sogar die Gotter tiberhaupt) nicht anerkenne. Hier heißt es (Ap. 27 b): Ἔστιν ὅστις ἀνθρώπων, & Μέλητε, ἀνθρῴπεια μὲν νομίζει πράγματ᾽ εἶναι, ἀνθρώπους 3¢ 00 νομίζει etc. Hier kann νορίζει natürlich nicht so viel bedeuten als „in hergebrachter Weise verehren“‘, sondern lediglich „„glauben‘‘, Men-

ἀδικεῖν περὶ τὼ θεώ,

‚ ist hocljxst Literatur bisher zur Erläuterung derselben geleistet W\lfde e, noch ihr mangelhaft. Weder ist der Sinn der einzelnen Tatbeständ

16

handle es sich um den Glauben,

?

als werde Sokrates beschuldigt,

17

hrten Pferde schen und menschliche Dinge, sowie die weiter angefü Hier handelt ung. Verehr einer e und Flötenspieler sind nicht. Objekt dieser Dinge. nz Existe der von es sich in der Tat um eine Vorstellung

Wenn

Sokrates wirklich in dieser Weise gegen die Anklage bei

unglaubGericht polemisiert haben sollte — mir erscheint es hochst austiick wiirdig — so hat er 65 eben — um ein dialektisches Kunsts gesehr nicht zuführen — mit dem wahren Sinne der Beschuldigung angeblichen nau genommen. Hat er doch an anderen Stellen seiner der Anaute Wortl klaren dem mit Verteidigungsrede sich sogar n gegebe Beleg ein alsbald wird klage in Widerspruch gesetzt! Dafiir

werden. Vorerst muß aber betont werden, daß in der dem Xeno-

epunktes phon zugeschriebenen Apologie der Sinn des ersten Anklag ᾽ vollkommen richtig erfaBt erscheint. Hier wird,

nachdem

Sokrates

den Wortlaut

der Anklage

erzählt

sich, wie hat (p. 10), von ihm sogleich (p. 11) bemerkt: Er wundere Meletos behaupten

kann,

daß er die Staatsgötter nicht verehre, da

und man ihn doch an Festtagen auf öffentlichen Altären opfern sah

Meletos ihn auch hätte sehen können. In seiner Schlußrede betont

Sokrates (daselbst p. 24), daB der Beweis nicht erbracht sei, er habe oren anderen Göttern als den Staatsgöttern geopfert, bei ihnen geschw oder ihnen sonst Verehrung erwiesen. das Sokrates kommt also hier gar nicht auf den Gedanken, daB t erblick Er konne. en bedeut n* glaube οὗ νομίζων der Anklage ,micht ten pilich Kultus seine er daB in diesen Worten die Beschuldigung, gegeniiber den Staatsgottern nicht erfiille; dagegen richtet sich seine Verteidigung. Es ist nur dem dominierenden Einflusse der als Kunstwerk einzig lich dastehenden Apologie Platons zuzuschreiben, daß diese sprach οὐ des g Deutun e echend entspr Asebie richtige und dem Wesen der bisher en”) verehr Weise n γομίζειν (als ,,nicht in der hergebrachte völlig verkannt wurde. Wir wenden uns nunmehr der Erklärung des zweiten Tatbestandes ist 4150 zu: ἕτερα δὲ χαινὰ δαιμόγια εἰσφέρων oder εἰσηγούμενος. Hier

3) Ich vermute, daß in der überreichten Klageschrift εἰσφέρων stand, in der protokollierten Klageschrift hingegen εἰσηγούμενος, Die erstere war öffentlich angedaß schlagen, die letztere nur in den Akten des Archivs. So ist zu erklären, Von bringt. dung Redewen diese La&rt. Diog. bei Favorinos jene, Xenophon εἰσητόομαι stammt der bei der Anklage gegen Phryne gebrauchte Ausdruck slor18

schon gar nicht von einem Glauben die Rede, sondern von der Einführung eines Kultus; es wird dem Sokrates nicht vorgeworfen, daß er anderes Dämonisches, wie wir es vorläufig nennen wollen, glaube,

sondern daß er es einführe. Dieses wichtige Wort 148t Sokrates Platons Apologie einfach weg. Hier wird vielmehr das νομέζειν (_ersten Tatbestandes auch auf die ἕτερα καινὰ δαιμόγια bezogen. Das ;efloch nicht nur willkiirlich, sondern sinnlos, wenn man νομίζειν

in des ist in

seiner wahren Bedeutung nimmt. Es hieBe dann, daB Sokratesneues

Dämonisches in der hergebrachten

Weise verehre!

Und nun kommen wir zu der schwierigsten Stelle in der Anklageformel, Was bedeutet ,, δαιμόνια " Daß hierin eine Anspielung auf das bertihmte , δαιμόνιον “ des Sokrates gelegen war, ist nicht zu bezweifeln; sowohl Plato in Euthyphr. 3 b als Xenoph. Ap. 12 heben dies ausdriicklich hervor. Allein es kommt uns hier nicht darauf an festzustellen, was das Sokrates’sche Ddmonion wirklich war — es gibt dartiber eine weitschichtige Literatur — und ob die Ankliger dasselbe richtig erfaBt oder miBverstanden haben. Das käme in Betracht, wenn es sich um die Begriindung oder Widerlegung der Anklage handeln wiirde. Wir wollen aber hier nur den Wortsinn der Klageschrift ermitteln. Die herrschende Meinung übersetzt die Worte „Erepa καινὰ

δαιμόνια'“ mit

„andere

mit θεούς, Warum

neue Gottheiten®,

hat aber die Anklage

identifiziert nicht

also δαιμόνια

diesen letzteren Aus-

druck gewählt, der jedes Mißverständnis ausschlieBt? Es ist jeden-

falls sehr auffailend,

daß in der Apologie

Platons der Ausdruck

ömp.éw.m adjektivisch aufgefaßt wird. Sokrates konstatiert hier, da.ß die Kläger jedenfalls zugeben, er glaube an neue dämonischc; Dinge (πράγματα) ; daher müsse man annehmen, daß er auch an Dämonen, also Götter oder Göttersöhne glaube; der Vorwurf des Atheis-

mus ist daher hinfällig. Diese ganze Argumentation ist vermutlich eine Erfindung Platons; sie zeigt aber jedenfalls, daß die Sx6wanicht ohne weiteres als „Gottheiten‘ aufgefaßt werden müssen. .Von noch größferem Gewichte scheint mir Xenoph, Ap. 12, wo sich Sokrz&tes. let_i_lglich gegen den Vorwurf verteidigt, daß er eine neue Mantik einführt, nicht aber, daß er neue Gottheiten vorschlage?.

χήτριαγ. (Cornutus, Ars rhetor, 215=:Rh etor, Graee. rec, Sprengel-Hammer I2 yg oo %) Vgl anch Xenoph. Mem. I, 1, 3—5. 2%

19

Ist doch diese Apologie, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, für die

geleitet. Hier wird also wieder Oetz'‘; das Wort ist adjektivisch Ebenso finden sich in Xenoph. δαιμόγια, Im ὃ 12 wendet sich, wie

und das Wort adjektivisch auffaBt. Er schadet sich jedoch durch die

tes nur gegen den Vorwurf der Einfithrung einer neuen Mantik; im $ 24 erklärt er hingegen: es habe nicht bewiesen werden können, daß er (Sokrates) andere Götter verehre-(vopifwy ἄλλους θεούς) als Zeus, Hera und die anderen Staatsgdtter. Auch hier zeigt sich, daB die »»καινὰ δαιμόγια " der Anklageschrift beide Bedeutungen insich schlieBen. Daß tbrigens die ,,ddmonischen Dinge‘‘ der Anklageschrift mit den Dämonen im engeren Sinne, den Halbgöttern oder Schutzgeistern

Erkenntnis des Sokratesprozesses entschieden wertvoll. So hat denn in der Tat M. Wetzel! nicht ganz Untecht, wenn er gegen die herrschende Ansicht über den Sinn von τὰ δαιμόνια auftrit.t

Übertreibung eines guten Gedankens, besonders aber durch die widerspruchsvolle* und hyperkritische® Art seiner Argumentation®. Die Ubertreibung liegt nämlich darin, daß die δαιμόνια aussc hließlich in adjektivischem Sinne gemeint wären. Ich bin vielmehr der Ansicht,

daß

sich die Anklage

absichtlich

druckes bedient hat, um in der Begründung Spielraum zu erlangen.

eines

zweideutigen

Aus-

einen möglichst freien

Der erste Tatbestand der Anklage, das οὗ νομέζειν der Staatsgötter, 1äßt auch wirklich einen doppelten Gegensatz zu: Einführung neuer Gottheiten oder Einführung einer neuen Art der Verehrung von xiicht Staatsgöttern (Kultusneuerung). In beiden Fällen verehrt man die Staatsgotter in der hergebrachten Weise; auf beide F‘a.ll.e paßt der Ausdruck ,elogépewy ἕτερα χαινγὰ δαιμόνια““. Die Richtigkeit meiner Auffassung wird durch die Quellen vollkommen bestätigt.

In Platons Euthyphron faßt Sokrates den Sinn der Anklage zunächst dahin auf, daB er ein Erdichter neuer Gottheiten sei (ποιητὴν εἶναι θεῶν) ; er nimmt also die καινὰ δαιμόνια im substantivischen Si‘nne, dann aber sagt Euthyphron: Ich verstehe, lieber Sokrates, weil du ) nämlich sagst, daß dir fortwahrend das gottliche Zeichen (τὸ δαιμόνιον Neuel_'er einen als dich gegen daher hat ) zu Teil werde. Er (Meletos in den göttlichen Dingen (καινοτομοῦντος περὶ T θεῖα) diese Klage ein-

1) Gymnasial-Programm, Braunsberg 1899: „Haben die Ankläger des Sokrates wirklich behauptet, daß er neue Gottheiten einführe" %) 8. 15 heißt es, daß in der Anklage implicite enthalten war, Sokrates glaube an neue Götter. Auf S. 17 hingegen: „Neu war bei Sokrates nur die Art des Vorzeichens; zu der Vermutung, daß dies von einem neuen Gotte komme, lag . " gar kein Grund vor.“ %) S, 4, „Xenophon hat die Nachwelt über das Daimovion irregeführt“; S, 16; Anm. 62¢ , Zwar haben nach meiner Annzhme auch Plato und Xenophon das Sokratische δαιμόνιον mifiverstanden etc.“ Ὁ Das Hauptargument, die wahre Bedentung des γομίζειν als in hergebrachter Art verehren, hat sich Wetzel entgehen lassen; er iibersetzt das Wort, wie alle Bisherigen, mit „glauben“. 20

nicht

das Mindeste

‚‚r& Saupévi’ gleichgestellt dem „‚t& verstanden. Apol. beide Bedeutungen der χαινὰ schon oben erwihnt wurde, Sokra-

zu tun haben,

bedarf

keiner

Ausfilhrung?.

Die

Annahme von Didmonen, als einer Art von Mittelwesen zwischen Gott und

Mensch,

lag

Sokrates

vollkommen

fern.

Auch

wire

ihre

Ver-

ehrung nicht im Widerspruch mit dem Kultus der Staatsgbtter gestanden. Die Ausfiihrung in Platons Apologie 27 d iiber den Begriff

der δαίμονες ist daher ausschlieBlich Platons geistiges Eigentum. Wir kommen schlieBlich zum dritten Tatbestande der Anklage: τοὺς νέους διαφθείρων. Der Jugendverderb ist ein recht unbestimmter Vorwurf.

Der Ausdruck ist offenbar absichtlich farblos gewihlt, um

der Begriindung der Anklage einen méglichst

weiten Spielraum zu

gewihren. Es handelt sich, wie schon 488 wiederholte ἀδιχεῖ andeutet,

um einen besonderen Verbrechenstatbestand. Ob derselbe noch unter den Begriff der Asebie fällt oder doch wenigstens mit thr Verwandtschaft

besitzt,

untersucht

wird bei der Darstellung

der rechtlichen

Grundlage

werden.

IV. Der Asebie-Begriff Da uns der Wortlaut der attischen Gesetze iiber das Religionsverbrechen nicht erhalten ist, kénnen wir nur auf indirektem Wege zu einer klaren Vorstellung über das Delikt der Asebie gelangen. Als

Hilfsmittel dienen uns: die Feststellung des Charakters der griechischen Religion, gelegentliche AuBerungen griechischer Autoren über die ,,Gottlosigkeit™, namentlich aber die Betrachtung der iiberliefer-

ten Asebie-Prozesse. In ersterer Hinsicht kann ich mich kurz fassen. Die griechische Religion hat im Gegensatze zu den monotheistischen Bekenntnissén, Ὦ Dariiber s. Wetzel a. a. O., 8.. 7—I1.

21

Bekanntlich beschäftigt sich Platons Dialog Euthyphron mit dem Begriffe der Frömmigkeit, ohne zu einem rechten Ergebnisse zu gelangen. Charakteristisch für die — ich möchte sagen — offizielle Bedeutung der Asebie sind hier viel weniger die Äußerungen Sokrates’, als die seines Mit-Unterredners Euthyphron. Hier wird einmal die Frommigkeit als die richtige Behandlung der Götter bezeichnet (12¢), ein anderesmal (14 b) als fromm derjenige genannt, der den Göttern das leistet, was ihnen angenehm ist, insbesondere Gebete und Opfer; dies sichere sowohl die Privatexistenzen als das gemeine Wohl der Staaten; das Entgegengesetzte sei gottlos, was ja auch alles umstiirzt und vernichtet. In diesen AuBerungen spiegelt sich sicher die herrschende Auffassung der griechischen Polis. Daß ein Sokrates sich

insbesondere dem Christentum, weder einen exklusiven noch einen dogmatischen Charakter. Sie gibt sich nicht als den allein wahren

Glauben, sie stellt überhaupt keine Glaubenssätze auf; ihr Wesen besteht vielmehr im Kultus der Staatsgötter!, Der Staat und seine Biirger sind verpflichtet, den Göttern das zu leisten, was ihnen rechtlich gebührt. Wer dies tut, ist εὐσεβῆς, wer sich dagegen vergeht, macht sich einer ἀσέβεια schuldig. Er gefährdet damit das ‘Wohl des

Staates, da er den Zorn der Götter erweckt. So ist also die Asebie

schlieBlich nicht so sehr ein Verbrechen gegen die Religion als ein . solches gegen den Staat. Diese letatere SchluBfolgerung ist allerdings bisher nicht gezogen worden. $o konnte es geschehen, daB Ernst Renan in den Asebie-

von ihr nicht befriedigt zeigte, ist freilich zu begreifent.

Prozessen eine Analogie der Ketzerverfolgungen des Mittelalters, in

Dieselbe Richtung haben die Ausfihrungen Xenophons iiber den Begriff des Frommen und Gottlosen in den Memorabilien IV 6, 2—4. Das Wesen der Frémmigkeit wird hier in das Wissen von den festbestimmten Normen der Gétterverehrung gesetzt; Niheres bei K. Jo&l, Der echte und der xenophontische Sokrates I, 90 ff.

dem Archon Basileus, welcher jene Prozesse einzuleiten hatte, eine

Art GroB-Inquisitor erblicken wollte. Selbst ein so großer Kenner

des griechischen Geisteslebens, wie es Grote ist, unterlag der Gefahr

dieser falschen Anwendung christlicher Religionsbegriife; spricht er

doch von Hiresie und Heterodoxie, welche auch den Athenern

nicht

Bemerkenswert ist endlich noch die Definition der Asebie in der

unbekannt geblieben sei. Aber ebenso falsch ist das entgegengesetzte Extrem, nimlich die Bebauptung, daB Griechenland und speziell Athen die religiöse Freiheit im modernen Sinne faktisch besessen habe und daB die Verfolgung irreligidser Lehren?® nur gelegentliche Eruptionen des Fanatismus gewesen seien.

Aus dem

Wesen

dem Aristoteles zugeschriebenen Abhandlung περὶ ἀρετῶν xod κακιῶν ; hier heiBt es Kap. 7: ἀσέβεια μὲν % περὶ θεοὺς πλημμέλεια καὶ περὲ δαίμονας

καὶ περὶ τοὺς χατοιχομένους Xal περὲ γονεῖς καὶ περὶ πατρίδα. Hier ist der Begriff in einem weiteren Sinne genommen, indem auch die Verletzung

der griechischen Religion folgt vielmehr, daß

der Eltern

dogmatische Abweichungen nicht beachtet, ein Bekenntniszwang nicht geiibt, wohl aber alles geahndet werden konnte, was als Beleidigung der Staatsgdtter und eben dadurch als Gefihrdung des sffentlichen Wohles anzusehen war. Dieser zunächst abstrakt ge-

Betrachten

1) Vgl. darüber Bouché-Leclercq, Legons histoire grecque, 1900, Cap. 1 und 2, 113, S, 157 £f. ahnlich ausgesprochen.

Bd. 2 und Schoemann,

Griechische Altert.

᾿

2) Ich meine damit Lehren, welche mit dem Kultus der Staatsgdtter unverträglich sind. Daß der Staat jedem Biirger das Recht der freien Religionsiibung gewähre, ist ein mit dem Wesen der griechischen Polis, dis zugleich einen Kultverband darstellt, unvertriglicher Gedanke.

22

subsumiert wird.

o

|:

wir

nun

die Falle

der

Asebie-Anklagen,

welche

uns

iiberliefert sind (Meier-Schoemann-Lipsius, S. 370 ff.), 50 zeigt es sich, daß die weit iberwiegende Mehrheit derselben geradezu Angriffe auf den Kultus zum Gegenstande hat. Tempelraub und Gräberschändung, Entweihung der Mysterien durch Teilnahme Unbefugter oder Mitteilung an solche, Beschädigung oder Vernichtung der heiligen Öl-

tung der uns iiberlieferten Asebie-Anklagen. Doch vorber noch einige Bemerkungen iiber literarische Definitionen der Asebie.

hard, Griechische Kulturgeschichte,

darunter

Dieser Zusammenhang ist nicht ohne Bedeutung; er zeigt, in welchem Sinne der ,,Jugendverderb® mit der Asebie nach griechischer Auffassung in Verbindung gebracht werden konnte.

wonnene Begriff erhilt seine volle Bestätigung durch die Betrach-

‘bes. S.32, 56. Er bringt iibrigens nichts Neues. Schon vor ihm haben sich Burk-

und des Vaterlandes

5 5

| ΠἹ i

bäume, Abweichungen von den rituellen Vorschriften durch Priester,

MiBbrauch des Kultus zur Zauberei, Vornahme ungeziemender Handlungen an heiligen Orten, endlich auch die Verhthnung der Staatsgotter und des Kultus. Die Verehrung fremder Gotter ist an sich kein

1) Siehe Gomperz, Bd, 2, S, 280 ,

23

t, wenn Religionsverbrechen ; den Fremden ist sie ohneweiters gestatte

Bürgern dann, dieser Kultus nichts Unsittliches enthält ; den eigenea

Priesterin wenn damit der Staatsreligion kein Eintrag geschieht. Die n Gotte Ninos wird jedoch angeklagt, weil sie nicht nur dem fremde ποιούσης τοῖς Sabaziosopferte,sondernauch Liebestrinkemachte (φίλτρα daß sie γέοις). Die Anklage gegen Phryne stützte sich nicht nur darauf, dabei in ibrem den thrakischen Gott Isodaetes einfithrte, sondern auch , die PrieTheoris altete. veranst Hause unsittliche Zusammenkiinfte

angeklagt. sterineinesfremden Gottes,wurde zugleich 815 Giftmischerin ber freier gegenii In allen diesen Fillen ist von einer Intoleranz davon zu Forschung oder Lehre keine Rede; ebenso ist keine Spur d für politische entdecken, daB die Asebie-Anklage ein bloBer Vorwan

Asebie-AnVerfolgung gewesen sei. Wie steht es nun aber mit den ? klagen gegen Dichter und Denker in einer Von Aschylos wird berichtet, daß er angeklagt wurde, weil wurde. t erblick en Mysteri dramatischen Szene eine Profanierung der es habe; gewußt Ἐξ gelang ihm nachzuweisen, daB er davon nichts werden zu erfolgte ein Freispruch. Euripides war in Gefahr angeklagt

nicht wegen einer Stelle über die Heiligkeit des Eides; es kam jedoch

seinen zum Prozesse. Aristophanes blieb unangefochten, obgleich er in keine hierin man te erblick r Offenba erte. Kombdien die Gotter karriki Chaafte scherzh der da otter, Gefahr für die Verehrung der Staatsg oAnaxag gt: angekla rakter offen lag. Von den Philosophen wurden Stilpon. und ras, Diagoras, Protagoras, Aristoteles, Theophrast

der unten Den Ausgangspunkt der Anklage gegen Anaxagoras bildete Auf Grund ausführlich zu besprechende VolksbeschiuB des Diopeithes.

Sohn desselben erstatteten die Denunziation (Eisangelie) Thukydides,

des Melesias, und der bekannte demokratische Fithrer Kleon. Der

BegrünProzeB fand vor dem gewdhnlichen Schwurgerichte statt. Die abliegen g Ausgan den dung der Anklage ist nicht überliefert; über oras Anaxag weichende Berichte vor. Nach der einen Version wurde zu auf Befiirwortung des Perikles freigesprochen, nach einer zweiten erging einer Geldstrafe von 5 Talenten verurteilt, nach einer dritten 1 entzog Flucht die durch oras Anaxag ein Todesurteil, dem sich

1) Plut, Pericl. 32; Diog. Laért, II, 1214, Um diesclbe Zeit wurde Aspasia, Lehren die Freundin des Perikles, von Hermippos angeklagt, daß sic sich zu den schuldig Kuppelel der sich m außerde und bekenne h des Anaxagoras öffentlic mache; Plut. L . 24

.Diagoras soll durch Gottesleugnung, Geringschätzung des Gottesdienstes und namentlich der Mysterien öffentliches Ärgernis veranlaßt haben; er entzog sich durch die Flucht der drohenden AsebieA.nklage‘. Protagoras wurde im Jahre 411 v. Chr. von Pythodoros, einem Mitgliede des herrschenden aristokratischen Kollegiums de; Vierhundert,

der Asebie

angeklagt

und

verbannt,

angeblich

wegen

de'r Einleitungsworte einer philosophischen Schrift : ,,von den Göttern wisse er weder ob sie seien, noch ob sie nicht seien‘‘2. Aristoteles soll wegen eines Gedichtes auf den Hermias verfolgt worden sein und Athen verlassen haben; hier wird bemerkt, daß politische Motive die

Verfolgung herbeiführten?. Aus demselben Motive soll Theophrast ?ngeklagt worden sein ; welche Gottlosigkeit ihm vorgeworfen wurde ist nicht bekannt *. Stilpon endlich ist.wegen eines Scherzes über die’ Göttin Athene angeklagt und ausgewiesen worden®. Diese Übersicht lehrt uns folgendes:

1. Die zuerst von L. Schmidt, Die Ethik der alten Griechen II, 25 auige§tellte Behauptung, daB bei der Verfolgung der Philosophen’die Rel_lgmn nur den Vorwand abgab, das eigentliche Motiv aber ein politisches war, ist unzutreffend. Ein solcher Sachverhalt ist nur bei Ari?toteles nachweisbar. Bei der Verfolgung des Anaxagoras können

politische Motive mitgewirkt haben; entscheidend war jedoch seine

Leugnung der Mantik. Bei Diagoras steht es fest, daß jedes politische Motiv fehlte. In der uns unter dem Namen des Lysias itberlieferten Anklagerede gegen Andokides heiBt es, daB Diagoras gegen Opferhandlungen und Feste durch das Wort gefrevelt habe; auch hat er von der Teilnahme an Mysterien abgeraten®. Ebenso fehlt im Falle des Protagoras jede Spur eines politischen Motivs?. Die Ansicht von Schmidt beruht anf einer Verkennung des tiefreligiösen Sinnes, 3 welcher dem athenischen Volk e auch zur Zeiti dı Ν

hochsten Kulturbliite innewohnte 8.

1} Welcker

im

Rhein.

Museum

für

Ν

Philologie

I,

640 f.

%) Meier-Schoemann-Lipsius, Note 480. Meier, Op. I, 2221.

3} Aristoteles’

Hinneigung

%) „Nochmals

muß

%) Diog. Laert. V, 37, %) Diog. Laert. IL, 116,

zu Macedonien.

Meier-Schoemann-Lipsius,

%) L. Schmidt, 1. c. Π Gomperz 1, 353,

'

Note

492

hier der Asebie

oder Gottlosigkeit g’ed‚a‚c‚ht werden; der Ruf Gefahr, nicht nur weil der Zorn der Gotter B;strafimg sondern weil das Volk mit seiner Religion auch seine Kultur bedroht glaubte.” Burckhard, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 2, S. 212.

derselben brachte immer der Gottlosen verlangte,

25

'

nicht verf.olgt.. Hier 9. Der theoretische Atheismus wird regelmäßig . Es ist ]edac_h bilden zu hme scheint der Fall Protagoras eine Ausna sondern die nung, sleug Gotte möglich, daß nicht bloß die theoretische „de_r Satzes des en Angriffe auf den Kultus, welche als Konseque?z herbe_x g\fng die Verfol Mensch ist das Maß aller Dinge‘‘ auftraten, die auf fe e A{\gnf geführt haben. In allen übrigen Fällen sind direkt Gotter und des der g ottun Versp die Staatsreligion, insbesonders .

Itus, das Substrat der Anklage.

chhtefn und DenK‘?& In keinem einzigen Falle der Verfolgung von zu einem Todes— ehen kern kam es — vom Sokrates-Prozesse abges

Ase‘t?xe-Anklage als urteile. Wir konnen daraus schlieBen, daB die ng so tragischen Ausga solche ohne besondere Zwischenursachen einen keineswegs mit sich führte.

.

V. Die Rechtsgrundlage der Anklage

Begriff der Asebie Wenn wir nun den im vorstehenden entwickelten in der Anklage beauf den Tatbestand anwenden, dessen Sokrates erste .(Doppel—)' Tatschuldigt wird, so ergibt sich folgendes: Der Verbindung mit der in er sgött bestand — Nichtverehrung der Staat ohne Zwang unter sich Einfilhrung neuer gottlicher Dinge — 148t

ger und daher das Asebie-Verbrechen subsumieren. Sokrates war Atl:xet

_ in be'zug auf nicht der Begiinstigung teilhaftig, welche die Praxxs ich ?st es eine ganz den Kultus den Fremden gewährte. Selbstverstandl Auberhaupt eine andere Frage, ob der Vorwurf religiöser Neuerung bloß um die 51_ch es lt hande Hier tatsächliche Grundlage hatte. bung d.et Er!xe' die stand Tatbe Frage, ob der als richtig angenommene grieiven posit defs Anklage rechtfertigt. Diese Frage muB auf Grund , wie nkte, htspu chischen Strafrechtes bejaht werden. Allgemeine Gesic em fre%h Leh.r etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und die in dieser kénnen, wie an anderer Stelle niher gezeigt werden wird, Frage keine Rolle spielen. ?n Ιι-ξζι:ξ; S%hwieriger ist die juristische Beu;tei!n}ngr d.e: zweit

chuldigung, des

Jugendverderbes.

ist

nur ein &

erbes d.urch 1;;;1 bekilfiät‚gwelche{ εἰξε Verurteilung wegen Jugendverd

m athenische Geschworene enthalten soll. Suidas berichtet i‘n seine

oph}an griechischen Lexikon (sub v. Prodikos), daß gegen den Phdos

im Prodikos von Keos ein solches Urteil erflossen sei®. Welcker hat 1} ὡς διαφθείρων τοὺς γέους.᾿“

26

Rhein. Museum für Phil. I, 616 diese Angabe

bekämpft; es habe sich

um einen Selbstmord des Prodikos gehandelt, Völlig überzeugend sind die Ausführungen Welckers keineswegs. Allein, wenn man auch die Notiz des Suidas für eine unverbürgte Angabe hält, so viel beweist sie sicher, daß der Jugendverderb nach attischer Auffassung nicht nur eine unmoralische, sondern eine kriminelle Handlung war. Wäre dem anders, so hätten doch auch die Apologeten des Sokrates

geltend gemacht, daß man ihn einer Handlung beschuldigt hat, die gar nicht strafbar ist. Das wird nirgends gesagt ; es wird nur die Tatsache des Jugendverderbes in Abrede gestellt, beziehungsweise eine darauf gerichtete Absicht. . ‘Was hat nun aber der Jugendverderb mit der Asebie zu tun? Bildet er etwa nur einen Spezialfall dieses Deliktes? Volle Klarheit wird in dieser Frage bei der Diirftigkeit der Quellen kaum zu erreichen sein. Ich halte es fiir wahrscheinlich, daß mit der Asebie im eigentlichen Sinne

andere

welche

zwar

Delikte

nicht

in Konnexitdt

Verletzungen

der

gebracht

Religion,

werden

aber

konnten,

der

öffent-

lichen Sittlichkeit zum Inhalte haben. Als Beweis dienen mir zwei Fälle der Asebie-Anklage. Aspasia wurde nach Plut. Pericl, 32 in derselben Anklage der Gottlosigkeit und der Kuppelei beschuldigt ; Phryne wurde angeklagt, weil sie einen neuen Gott einfithre und in

ihrem

Hause

unsittliche

Zusammenkiinfte

veranstalte.

In einem

weiteren Sinne lag auch in solchen Handlungen ,,Gottlosigkeit*, es waren Angriffe auf den unter géttlichem Schutze stehenden Fami-

lienverband. Unter diesen Gesichtspunkt fällt nun auch der Jugendverderb. Bei der Untersuchung der Anklagebegriindung werden wir sehen, daB es in erster

Linie

die Lockerung

des Familienverbandes

war,

dessen

Sokrates beschuldigt wurde. So erscheint denn auch der zweite Teil der Anklageschrift keineswegs als juristisch haltlos, wobei ich natiirlich die Frage der tatsichlichen Begriindung ganz auBer Betracht lasse. Bei Pohlmann, Sokrates und sein Volk, S. 122, heiBt es: ,,Allein man sollte doch bei Beurteilung dieser Klage nicht iibersehen, daß der Rechtszustand, auf den sie sich stiitzt, erst seit einigen Jahr-

zehnten bestand. Erst seit dem Volksbeschlusse des Diopeithes konnte in Athen Unglaube gegeniiber der Volksreligion Gegenstand einer Sffentlichen Klage werden; auch dann ist keineswegs eine irgendwie

27

Es liegt also absolut kein Grund vor, fiir die Aktion des Diopeithes

konsequente Verfolgung eingetreten. War doch das eigentliche trei-

ein politisches Motiv als entscheidend hervortreten zu lassen. Moglich ist ja, daB sich ihm Politiker angeschlossen haben, um damit

bende Motiv jencs Volksbeschlusses nicht einmal ein spezifisch reli-

givses, sondern ein wesentlich politisches!‘“ Ein Quellenbeleg wird von Pohlmann nicht gegeben; gemeint ist offenbar der Bericht bei

dem herrschenden Staatsmanne eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Allein sowoh! Diopeithes selbst als die große Masse, welche ihm folgte,

Plutarch, Perikles 32".

waren von religidsen Motiven geleitet. Dem Volke galt die Mantik

Darnach hitte also die Anklage gegen Sokrates ihre rechtliche Grundlage ausschlieBlich in einem Gelegenheitsgesetze oder richtiger in einem Volksbeschlusse, welcher politischen Motiven, der Opposition gegen

Perikles,

entsprungen

ist. Ohne

dieses

Psephisma

als eine heilige Sache, und die Freigeisterei der vornehmen Kreise vermochte das Ansehen, welches der bertihmte Chresmologe genof, keineswegs zu schwichen. ‘Was berichtet nun Plutarch? Er sagt: ,,Diopeithes machte nun ein Dekret (φήφισμα), daB jene, welche das Gottliche nicht verehren (τοὺς τὰ θεῖα μὴ νομίζοντας) oder von den Himmelserscheinungen Unterricht erteilten (λόγους mepl τῶν μεταρσίων διδάσχοντας), angegeben, denunziert werden (εἰσαγγέλλεσθαι), wodurch er den Perikles des Anaxagoras wegen in Verdacht zu bringen suchte.” Die letzten Worte bilden den Ausdruck einer subjektiven Meinung des Plutarch von

des

Diopeithes hitte Sokrates niemals angeklagt werden können; natur-

gemäß müßten auch hier nicht religiose, sondern politische Beweg-

griinde ausschlaggebend gewesen sein. Fir die richtige Beurteilung des Sokrates-Prozesses erscheint es mir wichtig, diese Ansicht Pöhlmanns einer ernsten Prüfung zu unterziehen. Es wird sich herausstellen, daß sie einer solchen Priifung nicht Stand halt. Ich bin in der Lage zu zeigen, daß Pöhlmann den Diopeithes-BeschluB nicht richtig aufgefaBt hat, daß derselbe aber jedenfalls, wie immer man ihn auffaBt, zu der Anklage gegen Sokrates nicht die geringste rechtliche Beziehung hat.

zweifelhaftem Werte. Das Dekret selbst aber enthilt nicht die Einfithrung eines neuen Verbrechens. Es wird nicht gesagt, daB von nun an die Nichtverehrung der religiösen Dinge oder der Unterricht in der Astronomie und Meteorologie strafbar werden soll. Sondern es wird nur die Zuldssigkeit einer bestimmten auBerordentlichen ProzeBart, der

Diopeithes, welcher den gleich zu erwéhnenden Volksbeschlu8 provozierte, wurde zweifellos nicht von politischen, sondern von religiösen Motiven geleitet. Diopeithes war ein gewerbsmiBiger Wahrsager und als solcher ein religiöser Fanatiker ; er galt den ., Intellek-~ tuellen

Athens als ein halbverriickter

Mensch;

man

vergleiche die

Seitenhiebe von Aristophanes, Vögel v. 988, Wespen 380, Ritter 1085. Diopeithes war naturgemäß ein geschworener Feind der freigeistigen Bewegung und namentlich des von Perikles geschitaten Naturphilosophen Anaxagoras. Denn dessen genetisch-physikalische Erklirung des Weltalls richtete sich nicht so sehr gegen die Gottesidee, welcher er in seiner Lehre vom Nus Stiitze lich, als gegen alle Mantik und ‘Wahrsagerei, insbesondere aus den Gestirnen. Dadurch fiihlte sich Diopeithes nicht nur in seinen religiosen Gefithlen verletzt, sondern in seinen materiellen Interessen und im sozialen Ansehen gefdhrdet. 1) Dieselbe Ansicht vertrat schon vor Pöhlmann der Art. Asebie in Paulys Real-

enzyklopadie, 2. Aufl, I, 1530, darnach sei gegen den Gottesleugner erst im Jabre 432 v. Chr. eine Strafe festgesetzt worden, unter Berufung auf Plut. Dem., richtig Per. Cap. 32.

28

Eisangelie,

Ἢ ] i

statuiert.

N

Die regelmäßige ProzeBart war auch bei Staatsverbrechen die Schriftklage (γραφή), um mich eines modernen Ausdruckes zu bedienen, die Privatanklage. Eine unserer Staatsanwaltschaft entsprechende Institution gab es im attischen Prozesse nicht. Nur fiir einige besonders schwere Fälle wurde der Rat oder das Volk berechtigt, auf

Grund einer Denunziation die Anklage zu erheben. Die Entscheidung stand auch in diesem Falle regelm48ig dem Gerichte, ausnahmsweise der Volksversammlung selbst zu; dieses Verfahren hieB Eisangelie. Diopeithes hat es durchgesetzt, 448 fiir den von ihm beschriebenen Fall der Asebie dieses auflerordentliche Verfahren Platz greifen konne. Er wollte damit die Erhebung der Anklage erleichtern und ihr zugleich ein größeres Gewicht verlethen. Erleichtert wurde sie, weil der Denunziant ein viel geringeres Risiko trug 415 der

Privatkliger. Dem letzteren konnte ein MiBerfolg sehr upangenehme Folgen bringen ; bei der Eisangelie hingegen wird die Verantwortung 29

Ein größeres Gewicht für die Anklage auf Rat oder Volk überwälzt. der großen Staatsorgane erhält die Anklage naturgemäß, wenn eines den Angeklagten. wurde sich mit ihr identifizierte; die Situation für unter der Pression der dadurch sehr bedenklich, eine Verurteilung öffentlichen Meinung höchst wahrscheinlich. Diopeithes vollkommen, Jetzt verstehen wir das Psephisma des

ein neues Verbrechen ohne annehmen zu miissen, daB durch dasselbe s Erachtens s&fhon eingefiihrt wurde. Eine solche Annahme ist meine fe Gesetze __c‚b e g.rlf deshalb unzulässig, weil sie mit dem attischen hen

e Doktrin .zwmc unvereinbar ist. Wie die moderne konstitutionell

50 hat man in A{hen Gesetz und Verordnung scharf unterscheidet, welche in ruhigen zwischen νόμος und ψήφισμα Grenzen gezogen?, unter besonderen KauZeiten festgehalten wurden. Nomos war ein e gekommener abstraktelen und in erschwerenden Formen zu Stand

eine ganz andere Fassung. Von einem Unterrichte περὶ τῶν μεταρσίων

ist keine Rede. Dazu kommt, daß zur Zeit des Sokrates-Prozesses es geradezu unzuldssig war, sich zur Begriindung einer Kriminalanklage auf ein bloBes Psephisma

zu berufen;

es herrschte,

wie an anderer

Stelle gezeigt wird, das rechtsstaatliche Prinzip in volister Strenge. Auch ein attisches Spezialgesetz, welches die Einfithrung fremder Kulte mit dem Tode bestraft habe, wird erwihnt bei Josephos c. Apion II, 37. Diese Notiz wird von L. Schmidt, Ethik der alten Grie-

chen (I, 507), ernst genommen, hingegen von schichte II, 9), als eine tendenzidse Erfindung erklirt. Meines Erachtens liegt hier ein bloBes Die Einfiihrung eines fremden Kultus konnte

Beloch (Griech. Gedes Juden Josephos Mißverständnis vor. in der Tat zu einer

Asebie-Anklage fiihren, wie der Fall der Phryne zeigt. Es handelt sich aber hier nicht um ein Spezialgesetz, sondern um die Anwendung des allgemeinen Asebie-Begriffes. Auch irrte Josephos darin, daß die Todesstrafe obligatorisch gewesen sei. Endlich hat auch der uns in

hluB, wel_cher entter Rechtssatz; Psephisma ein einfacher ‘Voiksbesc — wie unsere oder te regel weder nur eine konkrete Angelegenheit aufstellte, Regel akte heutige Rechtsverordnung — auch eine abstr chtes. zesre aber nur innerhalb der Schranken des geltenden Geset

C.I.A. II, Nr. 168 iiberlieferte Volksbeschluß mit der SokratesAnklage schon aus dem Grunde nichts zu tun, weil er aus spiterer Zeit stammt. Ich kann es also dahingestellt lassen, ob er wirklich,

ein b_loßes. ein Grenzgebiet bildete, wo man zuweile.n

herigen Genehmigung des Volkes abhéngig mache, bei sonstiger Todesstrafe.

von Verbrechen Ἐξ ist nun kein Zweifel, daB die Normierung die Fes.tsctzung gen hinge jn Athen dem Gesetze vorbehalten war, daß des Prozesses

it der Elsangehf l?el Psephisma wirken leß, so speziell die Zuldssighe ellung der Demokrahe" im einzelnen Staatsverbrechen. Mit der Herst geren Auffassung zuruc’k. Jahre 403 kehrte man in Athen zu der stren g der γόμος εἱσσΐγγελ]:ιπρς, Unter dem Archontat des Eukleides ergin für die Z.ulässtgkexfi der in welchem die Fälle genau bezeichnet waren fibexl'leferten Fa'llen Eisangelie?. Unter diesen uns von Hypereides normn_erte Fall nicht kommt der im Volksbeschlusse des Diopeithes Eisang?he mehr wegen mehr vor. Es gibt also von nun an keine des naturwissenschaftlichen Nichtverchrung der Staatsgbtter oder

Unterrichtes.

, daß durch dies?n Vo.lks— " Aber selbst wenn jemand annehmen wollte

wurde, daß er sich nicht beschluB ein neues Verbrechen eingeführt diese Ann‘ahm.e dennoch zt bloB auf den Prozeß bezogen habe, besit Hat doch hier die Anklage für den Sokrates-ProzeB keine Bedeutung.

ἢ Vgl statt Aller Arist. Eth. Nic. V, 1137b. 314. %) Vgl Meier-Schoemann-Lipsius, S. 3121f., bes. 30

wie manche meinen, die Einfithrung fremder Kulte von einer vor-

VI.

Verhilinis der Anklage zur Amnesliegeselzgebung

Für das Verstindnis des Sokrates-Prozesses, sowohl nach der juristischen als nach der kulturgeschichtlichen Seite, erscheint von héch-

ster Bedeutung die Berticksichtigung der inneren verfassungsmaiBigen

und sozialen Zustinde in dem in Betracht kommenden Zeitraume von 403—399 v. Chr. Dieselben sind in den bisherigen Arbeiten iiber unseren Kriminalproze8 entweder gar nicht oder nur sehr oberfläch-

lich in Betracht gezogen worden. Dieser Mangel trigt die Hauptschuld an einer Reihe von ungenauen oder geradezu falschen Urteilen tiber das tragische Ereignis. Man spricht von einer wiederhergesteliten Demokratie,

der Sokrates zum

Opfer fiel, von einem

Racheakt

der

wieder zur Herrschaft gelangten Volksmasse. In Wirklichkeit wurde die

alte

unbeschrinkte

Demokratie

nicht

wiederhergestelit,

die

leitenden Staatsminner waren keine radikalen Demokraten, Es trat eine Epoche ein, welche man

als eine rechtsstaatliche

bezeich-

31

hkeit ; eine Verfolgung nen kann. Es herrschte ein Geist der Versöhnlic Insbesonderc konnte politischer Gegner war gesetzlich ausgeschlossen. 403.gerichtlich belangt niemand wegen Handlungen aus der Zeit vor echen handeln. Daß werden, mochte es sich sogar um gemeine Verbr Sokrates-Prozesses herrdieser Zustand jedenfalls noch zur Zeit des schend

war, beweist

namentlich

der in demselben

Jahre

(399) ver-

handelte ProzeB gegen Andokides®. setzgebung mit ihren Indem ich nun daran gehe, die Amnestiege Konsequenzen,

zu skizzieren, soweit es für unseren Zweck nötig ist,

Literatur vorausschicken. möchte ich einiges über die Quellen und bei Kenoph. Hell. IL, 4, Zu den schon oft verwerteten Notizen der Bericht von Ari38-—43 und Andok. de mysterils ist nenestens

men. Eine wissenstoteles, Staat der Athener, Kap. 39-—41 gekom che

namentlich eine kritis schafiliche Bearbeitung dieses Berichtes, Xenophon, Andokides, Vergleichung mit den zitierten Notizen von bei Plutarch und Diedor, sowie mit den entsprechenden Mitteilungen Selbst ν. Wilamowitz, ist leider bisher nicht geschrieben worden. oteles und Athen" welcher in seinem hervorragenden Werke , Arist hiedensten Richtungen die Bedeutung der Ἀθ. πολιτεία nach den versc eine Analyse dieser 121) S. 1, untersucht, unterläßt absichtlich (Bd.

n Literatur ist noch Partie der Schrift 465 Aristoteles®. Aus der dltere e Ge-

Grote, Griechisch immer die Darstellung unserer Epoche bei werke von Curtius schichte, die gelungenste. Die neueren Geschichts eingehend; wertvoll und Beloch behandeln das Thema nicht genug sind immerhin

Belochs

Ausfithrungen

in der

Schrift

,,Die attische

wobei jedoch natürlich Politik seit Perikles”, S. 119 ff. und 342 f., ommene Belehrung ugek hinz er* die erst durch den ,,Staat der Athen atur nicht ganz Liter der fehlt. So ist denn der gegenwirtige Stand teilweise ihre gt, befriedigend und die folgende Darstellung genoti eigenen Wege zu gehen. welche unter dem Drucke Die Schreckensherrschaft der ,,Dreifig", dros eingesetzt waren, des siegreichen spartanischen Feldherrn Lysan wachsende Erbitterung. bewirkte in der athenischen Biirgerschaft eine Dadurch gewannen

die ausgewanderten Demokraten

I, 300 £f. 1) Naheres bei BlaB, Attische Beredsamkeit %} Doch

kommen

fiir die Amnestieperiode in Betracht

Mut, besetzten

die Ausfilhrungen

über

und , Lysias gegen Eratosthenes‘“ die „väterliche Verfassung*, Bd. 2, S. 103 ι 11, 218 £

32

mit einer kleinen Schar die Grenzfestung

Phyle, schit

i

de_r Oligarchen zurück, bemächtigten ειἔ!ι deys Peirii\.::g Ξἕἓξἶζἔ ξ'ἵ; ΗΙΗ.Θ der ihnen günstig gesinnten Fraktion der attischen Biirger schlieBlich auch die Stadt in jhre Hand gebracht, wenn nicht Spaf’ta f«mf Begehren der Oligarchen eingegriffen hitte. Dieser Eingriff war jedoch, nachdem das spartanische Heer die Demokraten in einem Treffen besiegt hatte, versohnlicher Tendenz. Unter Intervention des spartanischen Konigs Pausanias kam ein Friedensvertrag zu Stande vvv;lclzler den‘ Demokraten die Rückkehr in die Stadt ermoglichte, De;

M ;ζζ, ἷν;ξπΐ;ΐἷζἑζΐὶἳεᾶοκπωεπϊεε ist uns nunmehr durch AristoEs ist zunächst ein vélkerrechtlicher Ve

i

iegs-

fithrender Parteien, ordnet jedoch zugleich die st ; ;r:sg rze“;et:etrl i{ ζἷΐπ Verhältnisse von Athen und einem neu geschaffenen, selbständigen

Staate, nämlich Eleusis. Er statuiert, um mich eines ;nodemen Ausdmck?s zu bedienen, ein Optionsrecht in bezug auf diese beiden G:ememwesen. Dieser Vertrag bietet ferner ein interessantes Beispiel eines 'Expr({priationsrechtes‚ indem die Hausbesitzer von Elfeusxs gex'xötxgt werden, ihr Eigentum den einwandernden (oligarCh‘ls{:?l gesinnten) Athenern gegen angemessenen Preis abzutreten. Endlich enthilt der Friedensvertrag eine unbedingte Amnesti :

unter Statuierung gewisser Ausnahmen.

Ν

„Dieser durch Eide bekräftigte Vertrag bedurfte jedoch der Durchit}hrung durch Gesetze und administrative Maßregeln. So schließt sich de?nn an ihn eine Neuordnung nach drei Richtungen: da‘l}. :;ne'li:arst':eill:ng der Verfassung, wobei wir jedoch sehen werden sich nicht um eine ei i infii : schränkten Demokratie handä?ef?me Wiedereinführung der unbedef. veäxgeafign;iit;te; für gerichtliche Verfolgungen wegen Handlungen

3. eine Revision und Kodifikation der Gesetze. Als Verfassungsinderung war es nach Aristoteles (πολιτεία, cap. 41) PN 1 fü die skodifikation die Gesetze totale als fiinftel, die nestie zweite?. die elfte, als Amnestie

2 ζξι. g M.bSta.hl im Rhein, Museum für Phil. 1891, 8. 250 £ e Bestrebungen in bezug auf eine allgemeine Gesetzesrevisi das Jahr ) 411 zurück; ; die letzte (dritt €) Gesetzeskodifikati (ikation orfolgte handert Jahre später unter Demetrios von Phaleron, Hikation erfolgte hundert 3

33

Unter dem Archontate des Eukleides (403) wurde diese so weit verzweigte Gesetzgebung begonnen und in zwei Jahren, als_ Xenai.mf Ve{eml— die wurde Zeit tos Archon war (401), vollendet. In derselben gung mit dem Zweigstaate Eleusis vollzogen, nachdem d%e_Heeriuhrer worden der daselbst angesiedelten Oligarchengemeinde beseitigt

waren.

Zur Charakteristik dieser hochinteressanten

Epoche

der Heliasten wurde die Klausel hinzugefiigt: ,,Ich will mich nicht

an vergangenes Unrecht erinnern; auch will ich nicht anstiften, daB andere sich daran erinnern ; im Gegenteile, ich will meine Stimme den

bestehenden Gesetzen gemäß abgeben.”

der inneren

Geschichte Athens kann ich keinen besseren Ausdruck als ., Rechtsstaat”

anwenden;

die Analogien

mit

modernen

Bestrebungen

sind

klarkaum von der Hand zu weisen. Das wird die folgende Ubersicht machen. Gebrauch . Keine Behorde darf von ungeschriebenen Gesetzen Rat?s machen“‘ (Andok. de myst. 85). „„Ein Beschlu8 des Volkes oder sig Unzulés ., 87). (ibid. Gesetz“ ein als soll niemals mehr Kraft haben

bezieht, sonist ein Gesetz, das sich nicht auf alle athenischen Biirger

ens dern nur auf einen einzelnen Menschen, auBer es hatten wenigst eset_z} Spezialg 6000 Biirger in geheimer Abstimmung (fiir ein solches im gestimmt‘“ (Andok. L. c.). „Urteile und Schiedsspriiche hab?n demokratischen

Staate bindende

Kraft““

(xvplag εἶναι, 1. c.). ,,Die Ge-

setze gelten vom Archontat des Eukleides angefangen’ (ibidl). D}lrch diesen letzten Satz wurde die schon im Friedensvertrage stipulerte zum Ammestie für alle aus fritherer Zeit stammenden Handlungen

juristischen Ausdruck gebracht.

)

39:,,Die In diesem Friedensvertrage hieß es nach Aristoteles, Kap.

Gesetze Mordklage bleibt nach Satzung der Viter bestehen, wie es im t oder heißt, wenn einer einen anderen mit eigener Hand erschlig £ödlich verletzt usw.; doch darf für das Vergangene keiner gerichtlich verfolgt werden,

ausgenommen

die DreiBig, die Zehnerkommis-

sion, die Elfmanner und die Hilfsregierung im Peiraieus und auch diese nur so lange sie nicht Rechenschaft abgelegt haben.‘“ Diese Ausnahmen wurden durch die Vereinigung mit Eleusis beseitigt, die Amnestie ist nunmehr (401) eine vollstandige und nur auf jene nicht anwendbar, welche in der Verbannung blieben. Zur Sicherung der Amnestie wurde in die Eidesformel der Ratsherren und der Geschworenen ein besonderer Zusatz aufgenommen. Die Mitglieder des Rates verpflichteten sich, von nun an keine A}n— klage anzunchmen und keine Verhaftung zu verfiigen, die auf eine Tatsache vor dem Archontate des Eukleides gegriindet sei; dem Eide 34

Ein zweites Schutzmittel zur Sicherung der Amnestie lag in einem auf Antrag des Archinos (eines der Fiihrer der siegreichen Demokra-~ ten) erlassenen Gesetze, wonach jedem Angeklagten eine besondere Exzeption (Paragraphe) gewdhrt wird, um geltend zu machen, daß die Klage sich auf Handlungen aus der Zeit vor Eukleides stiitze®. Es waren

nicht

bloB

Strafklagen,

sondern

auch

zivilrechtliche

Er-

satzklagen dieser Art untersagt. Noch bevor dieser Rechtsschutz gewährt war, hatte fibrigens Archinos, wie wir jetzt aus Aristoteles (cap. 40) erfahren, wegen des Bruches der beschworenen

Amnestie

ein Exempel

statuiert.

, Nach

dem Tode jenes Menschen (den Archinos verurteilen lieB) rithrte niemals? jemand die alten Dinge vor Gericht wieder auf, sondern auf durchaus loyale und staatskluge Weise stellten sich die einzelnen nicht minder wie die Gesamtheit zu den Schicksalsfiigungen der Vergangenheit 4,“ Nun komme ich zur Frage der Verfassung Athens nach Beseitigung der oligarchischen Gewaltherrschaft.

In dieser Beziehung steht fest,

daß nach dem Einzuge des Demos zunächst eine provisorische Regierung von 20 Männern eingesetzt wurde müt der Aufgabe, die MaBregeln zur Durchführung der Restauration zu treffen. Das Prinzip der Demokratie

wurde

von

keiner

Seite angefochten;

das Ausmaß

der Volksherrschaft scheint jedoch noch Gegenstand der Diskussion gewesen zu sein. Genauer sind wir über diese Vorgänge nicht unter-

richtet. Selbst Aristoteles 4Bt uns hier im Stich, indem er nur das Endergebnis, die Wiederherstellung der unbeschränkten Demokratie

berichtet. Er ist hier ungenau, denn es wird sich zeigen, daß zwar die Versuche einer direkten Einschränkung der Volksherrschaft ohne Er-

Ἢ Andok. 1. . 91. Grote bemerkt dazu (Deutsche Ausgabe IV, 541), daß diese Klausel wahrscheinlich nach zwanzig Jahren wieder in Vergessenheit geriet, Das mag sein; zur Zeit des Sokrates-Prozesses (399) stand sie sicherlich in voller Geltung, %) Isocr. . Kallim. (or. XVIID); dazu Blaß 11, 213. %) Das ist wohl eine Ubertreibung, wie der Prozeß gegen Andokides beweist. %) Ich gebe die Ubersetzung nach Kaibel und KieBling. 3+

35

folg blieben, aber doch wichtige Hemmnisse einer Massenherrschaft

zur Geltung kamen und noch durch etwa 15 Jahre aufrecht blieben. Sie bestanden jedenfalls noch zur Zeit des Sokrates-Prozesses. Da nur der Biirger politische Rechte besitzt, so ist die Ausbreitung

des Biirgerrechtes von entscheidender Bedeutung für die praktische Geltung des demokratischen Prinzips. Von jeher drehte sich in Athen

der Kampf der politischen Parteien um die Voraussetzungen der Er-

langung des Biirgerrechtes. Wir finden nun auch bald nach dem Abschlusse des Bitrgerkrieges drei verschiedene Antrége iiber diese Frage N in Verhandlung.

Kein Geringerer als Thrasybulos, der siegreiche Fithrer der Emigranten, wollte das Biirgerrecht nicht nur in dem fritheren Umfange

wiederherstellen, sondern es als Belohnung allen verlichen wissen,

welche an der Befreiung Athens von den oligarchischen Gewalthabern mitgewirkt hatten, worunter sich auch Sklaven befanden. Dieser An-

trag muBte

die GemaBigten mit starkem MiBtrauen

erfiillen; Archi-

derer‘‘, sagt E. Szanto?,

,,wenn nicht mehr beiderseits, sondern nur

einerseits biirgerliche Abkunft gefordert wird.‘“ Aber noch in einem anderen wichtigen Punkte siegte die Mittelpartei. Die unter der Oligarchenherrschaft aufgehobenen Taggelder fiir den Besuch der Volksversammlung und die Funktion der Geschworenen wurden zundchst nicht wieder eingefiihrt. Der Sold der Ekklesiasten wurde erst wieder durch einen Antrag des Agyrrhios?, der Sold der Heliasten in einer uns nicht bekannten Weise wieder eingefiihrt. Zur Zeciltl des Sokrates-Prozesses bestanden diese Taggelder jedenfalls noch nicht. Ich brauche wohl nicht näher auszufithren, welchen gewaltigen Einfluß der Mangel der Diäten auf die tatsichliche Gestaltung der

Demokratie in Athen ausgeiibt hat. ,,Die Menge geringer Leute”, sagt mit

Recht

Curtius®,

,die

vom

Taglohn

lebten,

blieb fort und

gingen der Arbeit nach. Auch dem Treiben unredlicher Volksredner

wurde gesteuert, indem die Gesetze itbersichtlich und klar waren.”

nos selbst, der Genosse und Mitarbeiter Thrasybuls, brachte diesen Antrag za Fall*, der mehr einer hochherzigen Eingebung als ernster politischer Erwégung entsprungen war.

l?innen zwei Jahren nach der Herstellung der Verfassung war nämlich auch das gewaltige Werk der Kodifikation vollendet, welches auf Grund eines von Tisamenos beantragten Volksbeschlusses in Angriff genommen war %. ‘Wenn noch kurz darauf hingewiesen wird, daB auch die Finanzen

wissen?, keineswegs oligarchisch gesinnt, sondern ein Anhänger der Mittelpartei war. Nach diesem Antrage sollte kiinftig das volle Bür-

daB die Form der Gesetzgebung und der &ffentlichen Urkunden neu geregelt, daB das jonische Alphabet nunmehr auch offiziell eingeführt

Das Gegenstiick dieses ultraradikalen Vorschiages bildete der Antrag des Phormisios, der übrigens, wie wir jetzt durch Aristoteles

gerrecht an den Besitz von Grund und Boden gekniipft sein. Der Vor-

schlag wurde verworfen; Lysias verfaßte eine Rede gegen ihn, wovon

uns ein Bruchstiick erhalten ist®. Zur Annahme gelangte schlieBlich

der Antrag des Aristophon, wonach nur jene das attische Vollbiirger-

recht erlangten,

welche beiderseits von Biirgern abstammten,

wäh-

rend bisher — seit Perikles — auch die Halbbürtigen den Vollgenuß

der politischen Rechte hatten. Dieses Gesetz solite jedoch nach einem Zusatzantrage des Nikomenes keine rückwirkende Kraft haben?. Diesér neue Rechtszustand bedeutete immerhin eine wichtige Einschrinkung der Massenherrschaft.

,,Freilich wird der

Staat ein an-

1) Arist. mo. A9. 40. Ὦ) Thid. 34.

5) Näheres bei Grote, S. 538.

1) Athen. XIII, 38; Näheres bei Hermann-Thumser, 1L, S. 447.

36

Athens

inshesondere

neue

Finanzbehorden

eingefithrt,

wurde, so erbalten wir ein Bild von den inneren Zustinden Athens in den ersten Jahren nach dem Friedensschlusse, auf welches die landläuf_ige Schilderung der athenischen Demokratie absolut nicht paßt®. Es ist ja richtig, daß diese Epoche innerer Sammlung, weiser MaBi-

gung und strenger Gesetzmäßigkeit nicht von langer Dauer war, da8 etwa

15 Jahre

nach dem

Friedensschlusse

die fritheren

Ubelstinde

wieder hervortreten und namentlich die groBe Masse wieder die HerrὮ 3) %) 4) {I.

Das griechische Biirgerrecht, S. 4. Siehe jetzt Arist. moA. Ἀθ. 41, 3. Griech. Geschichte, 6. Aufl. III, 47, 48. Die nahere Darstellung dieser dritten MaBregel staatlicher Regeneration Amnestie, 2. Verfassung) ist für unsere Zwecke entbehrlich.

‘! Das

Griech, Staatsaltertimer

reformiert,

erkennt

selbst Jul.

Schwarcz,

Die Demokratie

I, 388 ff. an,

der sonst

em.schari_er Tadler der athenischen Volksherrschaft ist. Er gibt unserer Zeitperiode einen besonderen

Namen:

die Demokratie

des Tisamenos.

37

wieder Einfluß

aufgetaucht wiren. Aber auch die ganze Situation Athens zur Zeit

erlangen, die Reichen bedrückt werden usw.* Allein es ist doch festzustellen gewesen, daß der athenische Staat zur Zeit des Sokrates-

des Sokrates-Prozesses, wie sie frither geschildert wurde, stimmt nicht

schaft an sich reißt, die Redner

und

Sykophanten

Prozesses einen ganz anderen Charakter besitzt, und daß daher die landläufige Beurteilung der Vorgänge jeder geschichtlichen Basis entbehrt.

VII. Die Begriindung der Anklage Eine der bedauerlichsten Liicken in unserer Kenntnis des SokratesProzesses ist darin gelegen,

daß uns die Reden

der Ankldger,

ihr

Tatsachen- und Beweismaterial nicht direkt überliefert sind. Manche

Forscher, z. Β. Doring, glauben infolge dessen iiberhaupt auf eine

Beurteilung des tragischen Ereignisses verzichten zu miissen. Diese Resignation scheint mir nicht notwendig. Nach dernegativen Seite 148t sich das Material der Anklage auf Grund der vorhergehenden Ausführungen (VI) mit einiger Sicherheit begrenzen; aber auch zur Ermittlung des positiven Inhalts fehlt es nicht an allen Anhalts-

mit einer Aufrollung der alten Gegensitze der demokratischen und aristokratischen Richtung. Fiir einen politischen ProzeB gab es viel dankbarere Objekte als der durchaus unpolitische Sonderling Sokrates, wenn man die alten Parteiungen wieder beleben wollte. Das lag aber den leitenden Staatsménnern Athens durchaus fern. Uberdies war der Hauptankliger — Anytos — gar kein ausgesprochener Demokrat, sondern ein Anhinger der Mittelpartei; siehe unten VIII. Endlich waren auch die Geschworenen auf ein Feldgeschrei: Tod dem Aristokraten! durchaus nicht gestimmt ; die Proletarier waren infolge des mangelnden Richtersoldes in den Bänken der Heliasten gewiß

nicht vorherrschend. Die hier bekdmpfte Meinung über den politischen Charakter der Anklagebegriindung ist durch das Pamphlet des Polykrates erzeugt worden, welches, wie wir sahen (oben Nr. I), zunichst in Xenophons

Memorabilien und spiter in der Apologie des spatgriechischen Rhe-

punkten.

tors Libanios beniitzt wird!, Hier finden wir die oben beriihrten An-

In ersterer Beziehung möchte ich behaupten, daß Tatsachen, welche sich vor dem Archontat des Eukleides (403) zugetragen haben, also insbesondere die angebliche Erziehung des Alkibiades und Kritias durch Sokrates, von den Kldgern infolge der Amnestiegesetze ignoriert werden muBten. Ich halte es fiir ausgeschlossen, dal der geistige Fiihrer der Anklage, Anytos, eine solche Fundierung derselben geduldet hitte, da er selbst einer der eifrigsten Verfechter der

klagen wegen Erziehung von Kritias und Alkibiades usw. Die Schrift des Polykrates ist jedenfalls erst mehrere Jahre nach dem Prozesse

Amnestie

gewesen und,

wie wir

sehen werden

(VIII), ihrer Durch-

filhrung schwere personliche Opfer gebracht hat. Zweitens aber sind auch alle angeblichen Vorwiirfe politischer Natur — die Verbreitung antidemokratischer Gesinnung, Auslegung von Dichterstellen im oligarchischen Sinne — nur Erfindung spiterer Zeit; die wirkliche Rede der Ankliger kann solche Dinge nicht enthalten haben. ‘Als Beweis dient mir hiefiir vor allem, daß weder Platons noch Xenophons Apologie auch nur eine Andeutung davon enthalten. Wie

man auch über den historischen Wert dieser beiden Schriften denken mag, erscheint es ausgeschlossen, daß sie die politischen Fragen mit Stillschweigen iibergangen hétten, wenn sie wirklich im Prozesse 1) Hermann-Thumser,

38

a. a. O., S. 745 ff.

verfaßt?;

um

diese

Zeit

könnte

immerhin

schon

die

versöhnliche

Gesinnung und die Festhaltung der Amnestie in Athen nicht mehr 580 starke Wurzel gehabt haben wie in den ersten Jahren nach dem Friedensschlusse. So konnte es Polykrates wagen, ein rhetorisches Machwerk?® zu verfassen, das derartige Dinge enthilt. Und wenn mehrere Jahrzehnte spiter der Redner Aeschines (Timarch. 173) das Urteil der athenischen Geschworenen gegen Sokrates damit begriindet,

daB dieser

ein Lehrer

des Kritias gewesen sei, so beweist

dies

nur, daß sich spiter eine solche Meinung im Publikem, vielleicht unter der Einwirkung der Schrift von Polykrates, gebildet hat. Der richtige Weg, um einiges über den positiven Inhalt der Klagereden zu ermitteln, scheint mir nun der zu sein, aus der Art, wie sich

Sokrates verteidigt hat, auf die Art des Angriffes zu schlieBen. Hitte Ὦ Auf Grund dieser beiden Quellen versucht Schanz mit Erfolg eine Rekonstruktion der Schrift des Polykrates; Einleitung zur Apologie, S. 36 ff. *} Schon wegen der Erwähnung

des Wiederaufbanes der

langen Mauern durch

Konon. %) Von Lysias getadelt; siehe oben Nr. I.

39

sich Sokrates einer ausgearbeiteten Verteidigungsrede bedient oder sich doch sorgfiltig vorbereitet, so wiirde dieses Hilfsmittel allerdings unanwendbar sein. Allein das Gegenteil steht fest2, Ist aber die Rede improvisiert, so muB sie vom Pladoyer der Gegner doch einigermaBen

beeinflußt sein. Hiebei diirfen wir uns aber nicht darauf beschranken,

den ziemlich diirftigen polemischen Teil der Verteidigungsrede in Betracht zu ziehen. Wir miissen auch den gerade in Platons Apologie gewiB im Geiste Sokrates’ dargestellten positiven Teil seiner Rechtfertigung in der Richtung priifen, ob hierin nicht cine indirekte Ant-

eingehend

ertrtert

(Xenoph.

Mem.

I, 2, 49 ff.).

Sokrates

bewirke,

daB die Jinglinge ihm mehr gehorchen als den Eltern; sie diinken sich weiser zu sein 815 diese und glauben daher -— da nur das höhere Wissen entscheide — auf die Viter geringschitzig herabsehen zu

kénnen (Libanios, p. 35). Wie sehr gerade eine solche Einwirkung als Typus des Jugendverderbs aufgefaBt wurde, zeigt eine interessante Stelle in Xenoph. Kyrop. III, 1, 38—40.

wort auf gewisse Vorwiirfe zu finden sei. Wenn sich hiebei eine Uber-

„Als sie aber nach Beendigung des Mahles aus dem Zelte gingen, frag?e Kyros: Sage mir, Tigranes, wo ist denn jener Mann, der mit uns jagte, und den du mir sehr zu bewundern schienst ? Hat denn den

Gottheiten sein, welche

brechens willen? Er sagte, er verderbe mich (διαφθείρειν αὐτὸν ἔφη ἐμέ) ... Darauf sagte Kyros: Schade um den Mann. Der Armenier aber sagte: Es töten ja auch nicht, Kyros, diejenigen, welche fremde Männer im Umgange mit ihren Weibern treffen, dieselben aus dem Grunde, weil sie ihre Weiber leichtfertiger machen, sondern, weil sie glauben, jene rauben die Liebe zu ihnen; deswegen behandeln sie dieselben als Feinde. Auch ich war neidisch auf jenen, weil es mir schien, daß er diesem meinen Sohne größere Achtung vor sich als

einstimmung mit einzelnen Beschuldigungen ergeben sollte, die von Polykrates stammen, 80 lige hierin eine wichtige Unterstiitzung. Denn bei allem MiBtrauen gegen jenes Pamphlet ist doch nicht ansunehmen, daB alle Vorwiirfe desselben willkiirliche Erfindungen seien. Auf diesem Wege gelange ich zu folgenden Ergebnissen. Der Vorwurf religiöser Neuerung wurde zweifellos damit begriindet, daB Sokrates sich bekanntermaBen auf eine gottliche Stimme berufe, welche ihm die Zukunft prophezeie. Die attische Staatsreligion sei damit nicht vertriglich.

Es miiBten fremde

sich dem Sokrates offenbaren. Mindestens mache seine Lehre jede Mantik iiberfliissig. Feldherren und Staatsménner lassen vor jeder wichtigen Aktion den Willen der Götter erforschen durch Opfertiere, Vogelflug und sonst in althergebrachter Weise. Sokrates aber verbreitet die Lehre, daB ihm unmittelbar — für sich und seine Freunde — eine untriigliche Auskunft über die Zukunft zuteil werde, indem er in seinem Innern eine gottliche Stimme vernehme. Es ist wahrscheinlich, daB von den Kligern im Anschlusse hieran behauptet wurde, daB Sokrates auch die Mythen kritisiert und statt von einzelnen Gottern in seinen Gesprichen nur von der Gottheit im allgemeinen gehandelt habe. Der Schwerpunkt dieses Teiles der AnKlagerede lag jedenfalls im Daimonion. Der Jugendverderb wurde zweifellos zunichst mit der Verbreitung dieser Abweichungen von der Staatsreligion bei den jungen Leutent begriindet. Das zweite Argument bildete wohl die Erschiitterung der véterlichen Autorität. Darauf weist die Stelle in Xenoph. Apol. 20 deutlich hin; in der Schrift des Polykrates war offenbar dieser Punkt 1) 8011 doch das Daimonion Sokrates davon abgebalten haben. Xen. Mem. IV, 8.

40

nicht, erwiderte er, mein Vater hinrichten lassen? Um welches Ver-

vor mir beibringe (μᾶλλον θαυμάζειν ἢ ἐμέ).““ Ein weiterer Vorwurf der Anklage scheint sich auf die Erziehung

zur Untätigkeit bezogen zu haben. Bei Libanios! ist er ausdrücklich

erwähnt, Platons Apologie 148t ihn erschlieBen. Denn hier wird wiederholt betont, daß die Erforschung des wahren Wissens und Sorge für die Seele viel wichtiger sei als der Erwerb materieller Giiter. Damit sucht Sokrates zu rechtfertigen, daß er selbst sich um sein Haus-

wesen nicht bekiimmert habe, daB aber auch die Jiinglinge, welche ihm folgen, sich keinem wertlosen Miissiggange hingeben; sie erstreben das hochste Gut: Tugend und wahres Wissen. ‘Wahrscheinlich ist auch zur Begriindung des Jugendverderbs darauf hingewiesen worden, daB sich Sokrates vom Staatsleben fernhalte und auf die Jiinglinge in diesem Sinne einwirke, ein solches Verhalten

aber }iem Öffentlichen Leben die besten Krifte entziehe. Libanios

ve.rte1.di‘gt Sokrates gegen diesen Vorwurf damit, daß es verdienstlich

sei, die jungen Leute, ehe sie die nötigen Kenntnisse haben, von der Staatslaufbahn zuriickzuhalten. Auch aus Platons Apologie geht her-

*) p. 431 ἀργοῦς, φησίν, ποιεῖ Σωκράτης.

41

unbekannter Mann bezeichnet wird. Es lohnt nicht die Mühe, auf die mehr oder minder gewagten Vermutungen näher einzugehen!.

vor, daß ein solcher Vorwurf gemacht wurde. Sucht doch Sokrates seine Zurückhaltung vom Staatsleben ausführlich zu rechtfertigen. Daß er aber auch auf die Jünger in dieser Richtung einwirke, begründet er in derselben Weise wie die Geringschätzung de? Gelderwerbes. Auch die öffentlichen Ehren hätten nur einen geringeren Wert gegenüber dem Besitze wahrer Tugend und Weisheit (Ap. 29 e).

Anytos aber war zur Zeit des Sokrates Stratege. Er bekleidete dieses hohe Amt zusammen mit Thrasybulos und Archinos von 403/2 bis 397/6 v. Chr.? Die Strategie ist das wichtigste Staatsamt der athenischen Republik. Nicht durchs Los, sondern durch Wahl bestellt, ist sie der Ausdruck des besonderen Vertrauens; der Stratege konnte allein unter den Beamten im Rate reden und Antrige stellen.

So können wir denn zusammenfassend sagen, daß die Anklage wegen des Jugendverderbs wahrscheinlich mit vier Beschuldigungen begründet wurde: Verbreitung religiöser Neuerungen, Antastung der elterlichen Autorität, Ablenkung von nützlicher wirtschaftlicher und von politischer Titigkeit. Damit stimmt vollständig die Anytos-

So erkldrt

politischer Macht

fluß bewogen wird, entgegen dem viterlichen Willen den Eintritt in die Lederfabrik des Anytos aufzugeben und den Umgang des Sokrates aufzusuchen. Noch wichtiger aber ist es, daß die Tendenzen der leitenden Kreise Athens? seit dem Friedensschlusse hauptsichlich gerichtet waren: 1. auf Wiederbelebung des religisen Sinnes, 2. 'auf Festigung der Familienbande, 3. auf wirtschaitliche Regeneration, 4. auf, Belebung des alten Biirgersinnes. So kann man sagen, daß gerade jene Vorwiirfe dem Geiste der Zeit entsprachen.

Fihrern

%) Siche das nachste Kapitel. 42

Demagogen.

Zur Zeit der aus-

unter

Anwendung

von

Mitteln

zweifelhafter Qualität,

zu-

Anytos war jedoch schon lange vor dieser Zeit in hervorragenden Stellungen titig; wir finden ihn auch noch 15 Jahre nach dem Prozesse in einer ausgesprochenen Vertrauensstellung. Er ist demnach einer der verdientesten Staatsminner Athens, und diese langjährige Tatigkeit im öffentlichen Leben bildet die beste Widerlegung der kleinlichen Verleumdungen, welche die sokratische Tradition dem

Manne zuteil werden lieB. Da erscheint zuerst die Geschichte von einer Bestechung der Richter durch Anytos. Im peloponnesischen Kriege hatte dieser als Stratege den Auftrag erhalten (Herbst 409), mit einer Flotte nach Pylos zu gehen, um diese von den Laceddmoniern belagerte Festung zu befreien. Die Expedition miBlang; wegen widriger Winde konnte die Flotte nicht ihr Ziel erreichen, und Pylos muBte sich dem Feinde er-

alle anderen Notizen sind spiteren

') Siche Hermann,

die Personlichkeit des Meletos

ist zweifelhaft ; es ist nicht sicher, daB er mit dem tragischen Dichter gleichen Namens identisch ist, da er in Platons Euthyphron als junger

und

weilen den EinfluB der Strategen zu durchkreuzen®. Zur Zeit des Sokrates-Prozesses war jedoch, wie frither gezeigt wurde, schwerlich Platz fiir Rhetoren und Demagogen; um so bedeutungsvoller war damals die Stellung der Strategen.

Unter den drei Ankligern des Sokrates, Meletos, Anytos und Lykon war Anytos zweifellos die fithrende Personlichkeit. Dies ergibt sich nicht nur aus seinet Äußeren Stellung in Athen, sondern auch aus dem Umstande, daB Polykrates seine fingierte Anklagerede dem Any” tos in den Mund legte und Libanios in seiner Apologie des Sokrates gegen Anytos kimpft. Auch Platons Apologie läßt die Bedeutung des Letzteren erkennen, indem sie an vier Stellen (18 b, 29 o 30 b, 31 a) ,,von Anytos und Genossen" und ,,dem Anytos folgen‘* Sokrates reden läßt. Er ist auch der einzige unter den Klidgern, über dessen Person wir eine sichere Uberlieferung besitzen. Von Lykon wissen Auch

die Rhetoren

gesprochenen Massenherrschaft gelang es diesen unverantwortlichen

VIII. Die Persinlichkeil und die Motive der Ankldger

und verdichtigen Ursprungs.

von Einflu8, von Themistokles

bis Thrasybulos, die Grundlage ihrer Macht in der Strategie besaBen, 80 besonders Perikles; bei ihm fillt der politische Sturz mit dem Verluste der Strategie zusammen?®. Mit den Strategen konkurrierten an

Anekdote, nämlich die Notiz, daß dessen Sohn durch Sokrates’ Ein-

wir nur, daB er ein Redner war;

es sich, daß alle Manner

De Socratis accusatoribus, Schane, a. a. O., S. 16 ££.

% Siehe die Zusamamenstellung der Strategenlisten bei Beloch, Attische Politile

i ἰ

seit Perikles, S. 295, %) Hermann-Thumser,

Griech.

Staatsaltertiimer

IL,

S. 644 ff.

%) Uber diesen Gegensatz handelt sehr instruktiv Gilbert, Beitrage zur inneren Geschichte Athens, I. Abschnitt. 43

geben. Anytos wurde deshalb angeklagt, aber von den Geschworenen freigesprochen. Es entstand das Gerücht, daB er den Freispruch durch Bestechung erreicht hatte?, es soll der erste Fall einer Bestechung

. Lysander setzte die Regierung der Dreißig in Athen ein, und das kam so. Eine der Friedensbedingungen war die, daß die Athener fort-

eines Gerichtshofes gewesen sein. Die Unrichtigkeit dieser Version,

Bestimmung faßten die verschiedenen Parteien verschieden auf, indem die Demokraten die demokratische Verfassung zu halten such-

welche leider selbst bei Arist. πολ. A6., cap. 27 zu finden ist, hat v. Wilamowitz (Aristoteles und Athen I, 118) nachgewiesen; er zeigt,

daß die ganze Geschichte schon aus chronologischen Gründen nicht wahr

sein kann.

Es wäre

auch

kaum

denkbar,

daß

Anytos

hätte

später je wieder eine hervorragende politische Rolle spielen können, wenn die Bestechungsgeschichte sich wirklich zugetragen hätte.

Noch mehr tragen die Geschichten vom Ende

des Anytos den

Stempel der Erfindung an sich. Es 5011 nach der sokratischen Tradition ein recht trauriges gewesen sein® Er sei als Urheber des ungerechten Urteiles gegen Sokrates verbannt, sogar gesteinigt worden. Die mildeste Version bringt Xenoph. Apol., wonach das Andenken des Anytos noch nach seinem Tode geschmiht werde® Demgegenüber steht die nackte Tatsache, daB Anytos im Jahre 384, also 15 Jahre nach dem Prozesse, das Amt eines Archon bekleidete, wie sich aus der 22. Rede des Lysias ergibt! Von Wichtigkeit fiir die Beurteilung des Sokrates-Prozesses erscheint es mir, die politische Stellung des Anytos niher zu charakterisieren. Da gewährt uns nun die neuaufgefundene Schrift ,,vom Staat der Athener* eine iiberraschende, so viel ich sehe, bisher nicht

beachtete Aufklirung. Die herrschende Meinung stellt Anytos mit Thrasybulos in bezug auf ihre politische Gesinnung auf eine Linie. Lag es doch ziemlich nahe, die Schulter an Schuiter kämpfenderf Emigrantenführer als reine Demokraten der aristokratischen Partei entgegenzustellen. Allein zwischen diesen beiden extremen Parteien gab ε5 in Athen eine Mittelpartei; einer ihrer Führer war nun gerade unser Anytos. Im cap. 34 erzihlt nämlich Aristoteles folgendes*:

ἢ Diodor XIII, 84. %) Unter den Neueren in seinem unglaublich %) Namlich wegen der Recht nimmt Wetzel,

) Ε Ν Ξ hat nur E. v. Lasaulx diese Märchen ernst genommen unkritischen Buche: Des Sokrates Leben und Tod, 1857. Schande, die ihm sein mißratener Sohn bereitet hat. Mit Jahrb., S. 400 an, daß dieser Satz (§ 31) den Zusammen-

hang stört und daher ein späterer Zusatz ist. Die Glaubwürdigkeit der Apologie

wird dadurch nicht berührt.

*) Ich gebe die Übersetzung nach Kaibel und Kießling.

44

an nach der Verfassung ihrer Väter leben sollten. Diese allgemeine ten, während von den Vornehmen die, welche sich auf ihre Klubs stützten,

und

die Emigranten,

welche nach

dem

Frieden

zurück-

gekehrt waren, eine Oligarchie wünschten, und wieder andere, die zwar keinem Klub angehörten, aber doch hinter keinem zurückstehen

zu müssen glaubten, dem Wortlaut gemäß, die Verfassung der Väter (wie sie Solon gegeben) herstellen wollten. Zu den letzteren gehörten Archinos,

Anytos,

Kleitophon,

Phormisios

und

viele andere,

die

Seele der Partei aber war Theramenes. Da jedoch Lysandros sich zu den Oligarchen schlug, ließ sich das Volk einschüchtern und stimmte auf Antrag des Drakontides von Aphidnai für die Olig-

archie.'“ Daß Anytos mit Theramenes befreundet war, leuchtet schon aus Xenoph. Hell. IT, 3, 42 hervor. Nun wissen wir, daß es nicht nur eine

persönliche Beziehung, sondern eine Gemeinschaft der Gesinnung war. Vielleicht gab es auch in dieser Partei der Gemäßigten manche Schattierungen; jedenfalls gehörte Anytos nicht zu den Anhéngern der reinen

Volksherrschaft.

Wenn

daher

wirklich

Sokrates

an den

Auswiichsen der Demokratie, insbesondere an der Beamtenauslosung Kritik geübt hitte!, so wire dies im Einklange mit der politischen Gesinnung seines Hauptankligers gewesen! Hat doch ein Freund und Gesinnungsgenosse desselben, Phormisios, den Mut gehabt zu beantragen, das attische Biirgerrecht solle nur den Grundbesitzern zustehen. Gegeniiber einem solchen Angriffe auf die Demokratie erscheinen die angeblichen tadelnden Bemerkungen von Sokrates geradezn harmlos. Uber des Anytos’ Verhalten zur Amnestie von 403 besitzen wir zwei Zeugnisse. In der 18. Rede des Isokrates, welche im Jahre 399, also zur Zeit des Sokrates-Prozesses, gehalten wurde?, wird im $ 23

von Anytos hervorgehoben, daB er sowohl als Thrasybulos trotz ihrer

1) Die beziiglichen Nachrichten in Xenoph, Memorab, sind, wie jetzt Jogl, Der echte und der Xenophontische Sokrates, wahrscheinlich gemacht hat, von zweifelhaftem historischen Werte. %) Blaß, Att. Beredsamkeit I12, S, 213 . 45

großen Machtstellung wegen der schweren Beschädigungen, welche sie zur Zeit der Oligarchie der Dreißig erlitten, keine Anklage ein-

Anklage kommt oder nicht; fiir oder gegen das Dasein einer straibaren Handlung ist damit nichts bewiesen. Endlich ist nicht zu über-

bringen, indem sie an der Amnestie festhalten ; die Räuber

sehen,

sind da,

werden aber nicht verfolgt. Ferner ergibt sich aus der Rede des Andokides über die Mysterien $ 150, daß Anytos auf Seite des Rhetors stand, welcher wegen angeblicher Entheiligung der Mysterien verfolgt war; auch dieser Prozeß fällt in das Jahr 3991

Erscheint es demnach vollkommen ausgeschlossen, daß politische Gegnerschaft oder Privatrache bei Anytos ein Motiv abgegeben haben um die Verfolgung gegen Sokrates einzuleiten, so kann man sich der Annahme

nicht verschließen, daß er im Glauben

war, durch

diesen

daB ja die Wirksamkeit

des Sokrates von Anbeginn

Zeit des Prozesses moglicherweise einen verschiedenen

bis zur

Inhalt und

Umfang besessen hat. Es ist mindestens denkbar, daB sein Lehren und Wirken gerade in den letzten Jahren ein solches war, daB erst jetzt die Idee entstand, Sokrates begehe damit eine strafbare Hand-

lung.

Aber nicht nur Sokrates, auch die äußeren Verhiltnisse konnten sich geändert haben. Was eine GroBmacht --- das war Athen vor der Niederlage — ruhig dulden konnte, muBte anders beurteilt werden,

Akt wichtige öffentliche Interessen zu wahren. Ob dieser Glaube objektiv begründet war, das haben wir zunächst nicht zu untersuchen.

als es militirisch und dkonomisch vernichtet war. Und damit kom-

Wir befinden uns in dieser Beziehung in voller Übereinstimmung mit

keit nach bewußt oder unbewuBt Anklage abgegeben haben.

Beloch,

welcher

(Griech.

Geschichte

II,

16) bemerkt:

,,Anytos

war

persénlich ein durchaus achtungswerter Charakter, der offenbar aufrichtig von der Gefihrlichkeit der sokratischen Lehre tiberzeugt war." ‘Wie konnte nun aber im Kopfe des Anytos, wir kénnen auch sagen in den leitenden

Kreisen

Athens,

diese Idee entstehen

und

Wurzel

fassen, nachdem doch Sokrates bereits das 70. Lebensjahr erreicht hatte, ohne daß eine Verfolgung? stattgefunden hitte?

Diese Nichtverfolgung wird häufig als Argument beniitzt, um die Ungerechtigkeit der Anklage a priori zu deduzieren. In einem modernen Staate mit der Einrichtung der Staatsanwaltschaft wire es in der Tat nicht von der Hand zu weisen, daB aus der Unterlassung der Anklage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den Mangel eines strafbaren offentlichen Deliktes zu schlieBen sei. Zwingend ist diese SchluBfolgerung bekanntlich nicht, da die Staatsanwaltschaft ministeriellen Auftrigen unterworfen ist. Allein bei dem im attischen Prozesse herrschenden System der Popularklage ist eine solche SchiuBfolgerung geradezu bedenklich. Es sind Opportunititsriicksichten, welche darliber entscheiden, ob es zur Erhebung einer dffentlichen

1y Uber die maBuolle Gesinnung des Anytos vel. auch die Notiz bei Lysias XIII, 78, betreffend sein Verhalten im Freiheitskampfe bei Phyle. Wenn daher Anytos in Platons Menon als eine leidenschaftliche Natur geschildert wird, so dirfte

das nicht ganz unparteiisch sein.

%) Von der Kollision des Sokrates mit der Regierung der DreiBig kénnen wir wohl absehen, handelte es sich doch hier um ein gesetzwidriges Verbot zu lehren,

nicht um die Einleitung eines. Prozesses.

46

men wir auf jene Momente

zu sprechen, welche aller Wahrscheinlich-

die Motive

fiir die Erhebung der

Vor allem 1äßt sich feststellen, daß die im athenischen Volke niemals erloschenenreligiosen Gefiihle infolge der schweren Schicksalsschlige einen méichtigen Aufschwung genommen haben. Die erste Handlung des riickgekehrten Demos war, nach der Akropolis hinaufzuziehen und der Schutzgéttin der Stadt feierlich zu opfern®. Thrasybul und seine Genossen erhielten 815 Belohnung 1000 Drachmen zu einem gemeinschaftlichen Opfer und einem Weihgeschenke? Die Idee der Kultgemeinschaft, das charakteristische Merkmal der griechischen

Polis,

trat

wieder

schirfer hervor,

als Athen

zum

Stadt-

staate herabgesunken war. Daraus erklärt sich weiter eine groBere Empfindlichkeit gegen fremde Kulte und gegen angebliche oder wirkliche Angriffe auf die Staatsreligion. Will man das eine „reaktionäre

Zeitströmung‘‘ nennen?, 50 ist dagegen nichts einzuwenden im Sinne

einer keine Kritik involvierenden historischen Charakteristik.

Die im Athen des 5. Jahrhunderts ziemlich weit verbreitete kosmopolitische, mindestens panhellenische Gesinnung muBte gleichfalls infolge des Unterganges der Machtstellung Athens cinem engen Stadtpatriotismus Platz machen, waren doch der Kolonialbesitz und der Seehandel völlig vernichtet und der Traum einer Einigung Griechenlands unter Athens Fiihrung fiir immer zerstort.

%) Xenoph. Hell. II, 4, 40.

%) Aeschin. Ktesiph. c, 62. % Beloch, Gricch, Geschichte 11, 17. 47

Die wirtschaftliche und finanzielle

Katastrophe?

mußte

in den

Köpfen der leitenden Staatsmänner es als die wichtigste Aufgabe erscheinen lassen, die Landwirtschaft, das Gewerbe und den Handel

als wieder zu heben. Okonomische Betätigung erschien ihnen zugleich , erfiillen jene gegen en MiBtrau patriotische Tat und muBte sie mit als ion Produkt n geistige der welche die Erwerbstitigkeit gegeniiber minderwertig darzustellen suchten. Was hatte dem athenischen Staate welcher die hohe Geisteskultur geniitzt? Es hatte ein Staat gesiegt, sich

in dieser

Richtung

mit

Athen

absolut

nicht

messen

konnte.

g Diese und ähnliche Gedanken konnten leicht eine Geringschitzun der Wissenschatt, insbesondere der Philosophie mit sich bringen. Wie dieser nahe lag es auch da, in dem Manne, welcher auf die Jugend in abit Tatigke her politisc Weise einwirkt, sie von dkonomischer oder he Autorihilt, kosmopolitische Gesinnungen verbreitet, die elterlic en? tät erschiittert, einen ,,Verderber der Jugend‘“ zu erblick

1X. Verhandlung und Urleil

welche

dieser ablehnte.

Da weder

Xenophon

dieser noch Plato davon etwas erwihnen, ist die Geschichtlichkeit

das wurde Mitteilung bezweifelt worden®. Sie ist aber jedenfalls — olitibisher iibersehen -— ein starkes Argument gegen einen parteip begeisterter schen Charakter des Sokrates-Prozesses. Lysias war ein die oligDemokrat und von einem sehr berechtigten Hasse gegen er für Sokrates archische Partei erfüllt®. Ἐ ist kaum zu denken, daß

sich um die Verin uneigenntitziger Weise eingetreten wäre, wenn 65

durch folgung eines Aristokraten- oder doch eines Oligarchenerziehers die herrschende Demokratie gehandelt hatte.

Gesch. 1L, 191, 1) Näheres darüber bei Beloch, Attische Politik, S, 112£. und Griech. gegeniiber dem Angriffe %) Diese Version entstand vielleicht dadurch, daß Lysias

Att. des Polykrates eine Verteidigung des Sokrates geschrieben hat; vgl. Blab,

Beredsamkeit I, 341. seinen Ὦ Vgl. dessen Rede gegen Eratosthenes. Lysias hatte durch die erDreißig Sache die für opferte Bruder und sein Vermögen verloren. Den Rest desselben der Demokratie.

48

sprochen worden. Hier ist nur einiges nachzutragen. Ein Passus aus der Rede des Anytos wird in Platons Apol. 29 c wiedergegeben. Darnach hat Anytos behauptet, daß Sokrates entweder gar nicht hier hitte erscheinen sollen oder, nachdem er erschienen, durchaus zum Tode verurteilt werden miisse, indem er (Anytos) zu den Richtern sagte: Wenn Sokrates davonkommen sollte, dann wiirden Euere Söhne sich erst dessen befleissigen, was Sokrates lehrt, und dadurch alle durchans verderbt werden. Diese Mitteilung Platons erscheint durchaus glaubwiirdig. Sie zeigt, daB die Anklage in erster Linie nicht das Ziel hatte, Vergeltung fiir ein Verbrechen herbeizufiihren, sondern die Lehrtitigkeit des Sokrates fiir die Zukunft zu beseitigen. Er hitte sich, meint Anytos, dem

Gerichte gar nicht stellen miissen, d. h. er konnte Athen einfach verlassen. Der Kläger läßt durchblicken, daß ihm das eigentlich lieber gewesen wire. Nunmehr miisse er deshalb verurteilt werden,

Die Anklage gegen Sokrates wurde bei dem für die Asebie-Anklagen acht. sustindigen Gerichtsvorstand, dem Archon Basileus, eingebr Uber die von diesem gefiihrte Voruntersuchung ist uns nichts überRedner liefert. Bei Diog. Laért. IL, 40, findet sich die Notiz, daB der igungsVerteid beitete ausgear ll Lysias dem Sokrates eine kunstvo rede angeboten habe,

Die Verhandlung erfolgte vor dem gewöhnlichen Schwurgerichte. Der vermutliche Inhalt der Anklagereden ist bereits oben (VII) be-

weil die

Freisprechung einen Triumph seiner Sache bedeuten wiirde. Sonst sind uns in bezug auf die Ankliger nur noch einige AuBerungen des Meletos iiberliefert, welche

auf Fragen des Sokrates ab-

gegeben sein sollen, nach Xenoph. Apol. eine Antwort iiber die Art des Jugendverderbs, nach Plat. Apol. ein formlicher Dialog (24d bis 27 e} über Jugendverderb und Atheismus. Die Platonische Darstellung tragt hier, wie schon oben gezeigt wurde, mehr kiinstlerischen Riicksichten als historischer Genauigkeit Rechnung. Wenn nämlich auch Meletos in der Vertretung der Anklage nicht gerade geschickt gewesen sein mag, solche Blößen, wie sie Platon schildert, hat er sich

doch schwerlich gegeben; namentlich ist es kaum anzunehmen, daß er mit seiner eigenen Klageschrift in Widerspruch geraten sei. Daß die Kläger in der Verhandlung einen Zeugenbeweis versucht haben,

ist nicht zu bezweifeln;

ohne

einen solchen wiren

die

Behauptungen über die Religionsneuerung und den Jugendverderb durch Sokrates ginzlich haltlos gewesen. Aus der Xenophontischen Apologie konnen wir entnehmen, daB in der Tat fiir Sokrates unglinstige Aussagen abgegeben wurden. Er beginnt seine letzte Rede

mit den Worten: ,, Ἀλλ᾽, & ἄνδρες, τοὺς μὲν διδάσκοντας τοὺς μάρτυρας, ὡς χρὴ ἐπιορχοῦντας χαταψευδομαρτυρεῖν ἐμοῦ — χαὶ τοὺς πειθομένους τούτοις ἀνάγχη ἐστὶ πολλὴν ἑαυτοῖς συνειδέγαι ἀσέβειαν καὶ ἀδικίαν.“ Wir müssen

4

49

durchaus nicht mit Sokrates annehmen, daß es gedungene falsche

Zeugen waren, welche die Behauptungen der Kläger bestätigten. Oft genügen mißverstandene oder einzelne aus dem Zuse‚mmenl}ange gerissene Worte, um eine Rede oder Schrift mit einigem Schein gls antireligiös

oder

unsittlich

zu charakterisieren;

es ist nicht ?öhg.

daB geradezu Erdichtetes unterschoben wird. Bei der Art, wie Sokrates in der breiten Offentlichkeit wirkte, lag dies besonders nahe. Wir kommen nun zur Verteidigung. Beide Apologien stimmen darin {iberein, daB Sokrates dreimal das Wort ergriffen hat; es wird

berichtet über die eigentliche Verteidigungsrede, über die Erklarung nach

dem

Schuldspruche,

betreffend

die

Strafe,

und

endlich . über

eine Ansprache an die Richter nach der Zuerkennung der Todesstrafe.

Die letzte Rede fällt aus dem Rahmen der eigentlichen ProzeBverhandlung heraus. Dennoch legt absolut kein Grund vor, die Tat-

sache einer dritten Rede zu bezweifeln. Nach attischem Prozesse blieb der Verurteilte bis zur Abholung durch die Vollstreckungsorgane —

die Eilfmanner — an der Gerichtsstitte unter der Bewachung fier Justizsoldaten (Skythen). Niemand hinderte den Verurteilten, diese

Zwischenzeit zu einer Rede zu beniitzen®; ob die Richter noch ver-

bleiben, hing natiirlich von ihrem Belieben ab. Jedenfalls ist die Er-

wihnung dieser SchluBrede kein Argument für den fiktiven Charakter der Platonischen, auch nicht fiir die Unechtheit der Xenophon~

tischen Apologie. Auch Sokrates hat sich ohne Zweifel auf Zeugen berufen. In P!atons Apol. 21 a zitiert er den Sohn seines Freundes Chairephon hinsichtlich des Orakelspruches von Delphi; in Xenoph. Apol. 22 werden

die Reden der dem Sokrates beistehenden Freunde erwihnt. Auch

diese Notiz bezieht slch, wie schon oben (Nr. I) gezeigt wurde, auf Zeugenaussagen?®, Ferner fordert er nach Plato, Apol. 34 a, den Meletos auf, noch nachtriiglich Zeugen über den angeblichen Jugendverderb zu fithren, und zwar die Angehdrigen der Jiinglinge. ,, Allein ἂἷιvon werdet ihr ganz das Gegenteil finden, ihr Männer, alle mir beizustehen (βοηθεῖν) bereit, dem Verderber, dem, fler ihren Angehorigen Boses tat, wie Meletos und Anytos sagen.‘“ Esist sehr wa}.\rscheinlich, daß diese Aussagen wirklich erfolgt sind; damit ergibt

1) Meier-Schoemann-Lipsius, S. 957, Note 550.

s

2) Es handelt sich nicht um Sachwalter (Advokaten), trotz des dhnlich klingenden Ausdruckes τῶν συναγορευόντων φίλων.

50

sich eine völlige Übereinstimmung der beiden Apologien hinsichtlich dieser Frage. Volle Übereinstimmung herrscht ferner in der allgemeinen Charakteristik der Art, wie sich Sokrates verteidigt hat. Er hat in selbstbewußtem Tone gesprochen, er hat nichts getan, die Richter mild zu stimmen, er hat sie im Gegenteil öfters gereizt, so daß lärmende Unterbrechungen seiner Rede sowohl bei Plato als bei Xenophon konstatiert wurden. Ja die den Namen des letzteren tragende Apologie stellt sich geradezu die Aufgabe, die μεγαληγορία des Sokrates, die eine von

allen Seiten konstatierte Tatsache war, zu motivieren. In der Tat besteht in bezug auf den stolzen Ton der Rede kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Apologien. Plato sucht allerdings das Verletzende zu mildern, das in der Berufung auf das delphische Orakel (es gibt keinen weiseren Mann als Sokrates) gelegen ist; allein der Antrag auf lebenslängliche Speisung im Pryta-

neion übertrifft wohl an Selbstbewußtsein alles Selbstlob der Xenophontischen Apologie. Auch in der Rechtfertigung dieses Tones be-

steht kein wesentlicher Unterschied: das BewuBtsein eines untadelhaften Lebens,

Zustimmung

Todesverachtung;

des gottlichen Zeichens

bei Xenophon

kommt

noch

hinzu

(Daimonion), der Gedanke,

daß ein leichter und rascher Tod iiber die Gebrechen des Alters hinausfiihre. Trotzdem gehen jene zu weit, welche auf Grund dieser Angaben meinen, Sokrates wollte sterben, seine Verteidigung sei absichtlich selbstmorderisch gewesen. Das Richtige ist wohl, daB er entweder

einen

Triumph

erleben oder rithmlich sterben wollte; fiir

ein Kompromiß war er nicht zu haben. In einem Punkte ist die Motivierung, welche Sokrates seiner stolzen Haltung gibt, entschieden unrichtig. Nach Plat. Apol. 34 ς bis 35 d unterläßt

er es, auf das Gemüt

der Richter einzuwirken,

weil

dies sowohl unwiirdig als ungesetzlich wäre; es hieBe die Richter von ibrem Eide abwendig machen. Allein die Richter um Gnade zu bitten

galt nach attischem ProzeBrechte nicht als ungesetzlich; selbst der Vorsitzende des Gerichtshofes machte oft davon Gebrauch?. Man

darf nämlich nicht übersehen, da8 das attische Schwurgericht das souverine Volk reprisentierte. Das Recht der Begnadigung stand dem Volksgerichte zu. Von diesem Gesichtspunkte aus durfte ein Gerichtshof zwar niemals einen Unschuldigen verurteilen; %) Meier-Schoemann-Lipsius,

*

S, 934, Note 402.

é\\m%

5

2

sl

er konnte aber einen Schuldigen freisprechen, sei es wegen seiner Verdienste um den Staat, seines sonstigen Lebenswandels oder einfach aus Mitleid. Ein Versuch des Angekiagten, eine solche Begnadiigm?g wie in zu erlangen, war daher ebensowenig etwas Gesetzwidriges

einem modernen Staate ein an das Staatsoberhaupt gerichtetes Ge-

gerade dieser Teil seiner ist (Pl. 20 e, 21, Xenoph. Differenzen, die zwischen halt des Orakelspruches

Rede, wie aus beiden Apologien ersichtlich 15), sehr ungiinstig gewirkt zu haben. Die Plato und Xenophon in bezug auf den Inbestehen, kénnen hier unerdrtert bleiben,

Ἐξ handelt sich nur um einen kurzen Uberblick über den Inhalt und

such um Begnadigung®. Dies diirfte zur allgemeinen Charakteristik der Verteidigung d?s Sokrates geniigen. Was nun den Inhalt derselben betrifft, so ist ein negativer und ein positiver Teil za unterscheiden: Widerlegu‘ng der Anklage und Darlegung eines gottgefalligen, verdienstvollen erker.xs.

die Wirkung der Verteidigung. Viel stirker war die Position des Philosophen gegeniiber der Beschuldigung des Jugendverderbs. Die logische Deduktion bei Plato, daB man sich doch selbst schaden wollte, wenn man die Mitbiirger schlecht macht, ist zwar nicht ganz wirkungsvoll, wohl aber die Berufung auf die Dankbarkeit seiner Jinger und ihrer Angehérigen,

Teil in Platos Apologie in ergreifender Schönheit dargestellt. Dem οὗ νομίζειν der Klageschrift stellt Sokrates die Behauptung gegenüber (Xenoph. Apol. 11), daß er sich an den öffentlichen Opflern für die Staatsgötter beteiligt habe. Sein Daimonion sei unverfänglich;

fung des Luxus, der UnmiBigkeit, der Unbescheidenheit etc. (Xenoph. Apol. 17---19). Nur ein Zugestindnis macht hier (ibid. 20) Sokrates. Auf die Behauptung des Meletos, daB er bei den Jünglingen bewirke, ihm mehr zu gehorchen als den Eltern, gibt er dies fiir richtig zu,

zweite Der erste Teil ist bei Xenophon einfacher und wirksamer, der

daß Gott die Zukunft vorher weiß und sie, wenn er will, vorher an-

deutet, das glauben alle; ob dies durch Vögel,

Begegnungen . dgl.

keinen oder wie bei Sokrates durch eine innere Stimme erfolge; mache habe dafür auch lüge, Unterschied. „Daß ich über die Gottheit nicht

ich einen Beweis; vielen meiner Freunde habe ich schon die Ratschläge der Gottheit mitgeteilt, und niemals hat sich gezeigt, da.ß ich gelogen hätte.‘“ Nach diesen Worten verzeichnet die Apologie Lärm bei den Richtern. In der Tat ist auch diese Verteidigung gegen die Religionsneuerung nicht unbedenklich, Plato fühlte, daß hier der schwache Punkt in der Position des Sokrates lag, und geht mit einer dialektischen Evolution über die religiöse Frage hinweg; erst nachträglich, bei der Darstellung des Lebensganges von Sokrates, wird eine kurze, harmlose Erklärung des Daimonion versucht (31 ἀ): Als einer Art der indirekten Widerlegung der Asebie-Anklage hat

Sokrates zweifellos einen zu seinen Gunsten ergangenen Spruch des

Orakels von Delphi verwertet. Daß ein solcher Spruch erfolgt ist und

auf Sokrates selbst eine tiefe Wirkung übte, ist nicht zu bezweifeln. unmög.Er glaubte wohl durch dessen Zitierung zu beweisen, daß er Dailich die Staatsreligion antasten könne, daß insbesondere sein

monion die Mantik nicht bedrohe.

Auf die Richter

scheint jedoch

anzu1) Ich gebe übrigens zu, daß Sokrates (bei Plato) einen höheren MaBstab unsittlich

legen berechtigt war, wonach

die Begnadigung eines Schuldigen als

auf das eigene zum

Muster dienende

Leben,

auf die stete Bekämp-

soweit es sich um die Erziehung handelt, denn hierin sei er Fachmann,

Scheinbar steht hiemit Platons Darstellung im vollsten Gegensatze. Nach Platon hatte Sokrates energisch in Abrede gestellt, ein Jugenderzieher zu sein (19 d—20 c); allein genau genommen leugnet er doch nur, daraus einen Beruf zu machen;

er gibt zu, daß ihm die Jiing-

linge, welche am meisten Muße haben, folgen (23 c), angeblich aus Freude zu horen, wie die Menschen untersucht werden. Die tatsichliche Heranziehung der Jugend wird also auch hier nicht geleugnet. Dem Vorwurfe der Erziehung zur Untitigkeit stellt Platons Apologie den Satz entgegen, daB die Sorge für das Heil der Seele, wozu Sokrates stets ermahne, wichtiger sei als Gelderwerb und bffentliche

Ehren. Die Fernhaltung von den Staatsgeschiften motiviert er zunächst nur für seine eigene Person; er läßt aber doch durchblicken, daß diese Griinde fiir ein reines Privatleben auch fiir andere Geltung besitzen. Damit diirfte der polemische Teil der Verteidigung im wesentlichen wiedergegeben sein. Bevor

ich auf den positiven

Teil derselben

eingehe,

möchte

ich

noch einer Streitfrage gedenken, ob nimlich die in Platons Apologie vorkommenden

Ausfilbrungen

über

die

alten

Anklagen,

insbe-

sondere der Komödiendichter, von Sokrates moglicherweise gemacht wurden oder ausschlieBlich eine Erfindung Platons darstellen. Schanz vertritt (Einleitung S. 72) die letatere Meinung, da doch kein An-

erscheint.

52

53

widerlegenden Anschulgeklagter vernünftigerweise die Zahl der zu (LI, 63) findet hingegen digungen ohne Not vermehren wird. Gomperz uldigung Geist und sachin dieser Formulierung einer alten Ansch als Jurist dieser letzteren walterische Geschicklichkeit. Ich kann mich Mittel der Verteidirtes bewäh Auffassung voll anschließen, Es ist ein ung hinzustellen. eumd gung einen Angeklagten als Opfer der Verl unwahr zu erweials ‘Wenn es gelingt, verbreitete Beschuldigungen

leicht zu widerlegende sen, so werden dadurch auch andere nicht 80

Beschuldigungen verdichtig gemacht. Sokrates iiber die Eine andere Frage ist die, ob die Meinung des begrindet war. ltiv obje n Nachwirkung der alten Verleamdunge Aufführung gen einzi und Das möchte ich bezweifeln, Seit der ersten rer Ereigschwe voll Jahre der ,,Wolken" des Aristophanes waren 23 unseres katur ene Karri nisse vergangen; die in dieser Kombdie gegeb er. Athen htnisse der Philosophen haftete schwerlich mehr im Gedic t glaub vergessen und Der Getroffene selbst hat sie natürlich nicht nicht besteht. Ebenso An einen Zusammenhang, der in Wirklichkeit

ge auf personliche Feindschaft halte ich die Zurückführung der Ankla Sokrates bei Plato vertritt, verletzter Bevolkerungsklassen, wie sie

jemand für schuldlos für eine rein subjektive Auffassung. Wenn sich dem Gesichtswinkel der hilt, so kann ihm eine Anklage Jeicht unter

‘Bosheit und Rache erscheinen.

der Verteidigung ist in Der Ausgangspunkt des positiven Teiles n Orakels. Nach Xeno‘beiden Apologien der Ausspruch des delphische anderen Menschen im den er phon folgerte Sokrates daraus, daß s habe (§ 15); durch vorau Besitze von Tugend und Weisheit etwas Ausspruch bestätigt (§16) seinen Lebenswandel werde dieser gottliche weise und tugendhaft er sei mit Erfolg bestrebt auch seine Mitbiirger ung gebiihre (§ 17). Unzu machen, wofiir ihm Lob und Anerkenn in Platons Apologie; endlich geschmackvoller ist diese Darlegung : gleiche. das Ergebnis ist jedoch im wesentlichen das Hier bildet der Orakelspruch

„‚Niemand

ist weiser als Sokrates”

fortgesetzten Menschenzunächst nur den Ausgangspunkt einer Spruches enthiillt: Niepriifung. Dadurch habe sich als Sinn jenes nd

sich dessen bewuBt, wihre mand weiB was Rechtes; Sokrates ist zu wissen. Man hat diese sich die Menschen sonst einbilden, etwas

. ‘Wenn Sokrates nicht Darlegung bei Plato als unglaubhaft bezeichnet ruch von Delphi nicht Aussp schon berithmt gewesen wäre, hitte der 54

El:lg;:te:dlzzngenl; Al\llei(x:\h nicht für die Weisheitsforschung überhaupt en Fergaog,rakelΤΎΝΗ nach Plato den Ausgangspunkt, P! ,‘sondern nur für ü

ΎΝ

Ν

68

konnte schon vorher Begriffsforschung be-

spl;—m ;Wätend'[‘lei}f der Rede gibt aber der platonische Sokrates dem uche les des d delphischen Gottes eine neue, 3 iiberra: schende D : lS/ICfl—n‘Aates 1'5?i ein gottgesandter Mahner und Prediger Die;e ςζΐἶἓῃὡϊ ission wird inῃ ξ so vielen Variatione Var :* Σ betont, , daß ini Ν ihr der Schwerptunk; (iler positiven Vel:texdxgung erblickt werden mu8. Die herrl‘::}f— 15' e}:l tellen der Apologie sind Ausfliisse dieses Gedankens einer gottlichen Sen_dung‚ der gegenüber ein Leben vollArmut und Anfeindun: ja sellbst ein ungerechter Tod nicht in die Wagschale falle. Habı " es hier mit einer Erfindung Platons zu tun? i .

Ich muB das auf ) das entschiede nste bestreite i n. Es ist kaı dtenken, daß Plato die Art der Verteidigung in einem der wese::l]ic;: s er;‚ Punkte ve}"schoben hätte. Details der Polemik konnten leicht xzr:v ὰ ᾗ}ἓθὃἷθῃ}ἓιἓ geraten; der Grundton der Verteidigung haftete ifellos im Gedéchtnisse der Hérer. Diesen missiond i Rede des 5 Sokrates konnte Plat o um 80 ; weniger wenigr erfinde erfinden, n,alals e ihm j e

Zug zweifellos unsym pathisch 1 war ; er paBt nicht i

rech s

des groBen Dialektikers. , Was hind, ert uns aber anzunehmen Aunchmen. , daß das daß L 1 hohe Alter und die drohende Verurteil rteilung im i Gemüte des " Soki o jene 3 Stimmung zur Reife brachten, 3 zu welcht elcher er zeitleben itlobens s g Ai

A]ns:;;:ze besessen hat ?_Der mystische Zug, welcher in dem Da.ixsäxjrsj

ξ :;e be:;lllagé iu?nll:te sich unter dem Eindrucke einer entscheidenden enheit leicht verdicht rdich en und die Gestalt einer r gottlichen göttli Sen-

iun?' az.mehmen.

Damit

stimmt sehr gut, daß Sokratis nache:ei;:n

pzucixez g’l&jf ¢, Xenoph. 30) prophetisch in die Zukunft blickt.

α ch

da. ,

rates . sich ς 418 steten Mahner und Ti ugendpredis

Eez?tihx'qet,}st }(elne Erf}ndung Platons. Die protreptisfhe Sl:aite ἕ;ἷ Ηιζ , :ἑιξἰζειζ Ρῃἓξθἓ Philosophen niemals ganz gefehlt. In der vollen e an die Begriffsforschung liegt schon von selbst ei i sierendes Element, erende , die Zuriickstellun, g der anderen e mect menschlien ch ξζιἕἕὶςεΐἓζ, πεἷπεῃϊἰιὡ der Betätigung im Wirtschajtlicher?icndlpo?in

N en b Leben. In der feierlich elerl en $Stunde, , wo Sokrates es dieBilan dieBi z sei ς Wirkens zieht, ersghemt ihm diese protreptische Richtung alse Ἔ;ξ Ὦ Vgl. Apol. 28, 30 , 30c, 31a, 33¢, 37.

55

'

noch schärfer Entscheidende. Die Apologie Xenophons drückt dies ($ 21). beruf aus; nach ihr ist die παιδεία geradezu der Lebens

er Majoritat Das Verdikt der Geschworenen ergab einen mit gering Annahme® beschlossenen Schuldspruch, nach der wahrscheinlichsten für ,»nicht sc}‘xulwurden 280 Stimmen fiir „schuldig‘‘, 220 Stimmen Apol. ‘36) iiber Pl. (nach sich rte dig" abgegeben; Sokrates wunde

einem Andiese geringe Mehrheit. Nunmehr erhielt er d?s Wort zu

trage über das StrafausmaB.

Er war berechtigt, dem Antrage, der

Todesstrafe, in der Klageschrift gestellt war, namlich auf

defl Vor-

begr\imäen. schlag einer milderen Strafe entgegenzustellen und zu den „„schätzDas Asebie-Verbrechen gehörte nämlich regelmäßig zu

Male baren“ Delikten; es war die Strafe im Gesetze nicht ein für z:lle

gen der festgesetzt. Der Gerichtshof hatte dann zwischen den Anträ Parteien durch Abstimmung zu entscheiden. ndlung Das Verhalten des Sokrates in diesem Abschnitte der Verha darieder} versch ist nun in unseren beiden Apologien wesentlich u.ng cha’cz gestellt. Nach Xenoph. Apol. 23 hat Sokrates, zur Stra{s er sich aufgefordert, eine solche mit der Motivierung abgelehnt?, daB er zusol_l 36—38 Apol. Pl. Nach . wiirde demit schuldig bekennen Pryim ng Speisu che längli lebens die erst eine Belohnung, nämlich es heißt fühle, ig schuld nicht taneion beantragt haben. Da er sich

nnung, weiter, könne er sich doch nicht selbst etwas Übles, Verba

nof:h am Gefängnis oder Geldstrafe zufügen. Schließlich könnte er e er besitz chesten eine Geldstrafe ertragen, eine Mine Silber, mehr ra.fe Gf:ldst nicht. Da jedoch hier cinige Freunde ihm zorufen, eine rgen, so verbii dafiir sich sie indem agen, von 30 Minen zu beantr

stelle er diesen Antrag. Volle

Ubereinstimmung

besteht

daB

Sokrates

zu-

1) Naheres bei Koechly, Vortrige, den

Freunden

S. 370

verbot er, für ihn einzutreten.

an 3) Für diese Version von Xenoph. Apol. treten ein Schanz, Lincke, Wetzel;

der Geschichtlichkeit

56

der Platonischen

Darstellung

hält fest Gomperz

11, 80.

vorzieht,

bleibt der Eindruck,

daB

der Gegenantrag

nur

widerwillig in letzter Minute gestellt wird. Das Ergebnis der Abstimmung war nunmehr das Todesurteil ; dasselbe wurde angeblich mit größerer Mehrheit? beschlossen als der Schuldspruch. Die Rede, welche hierauf Sokrates nach beiden Apologien noch gehalten haben soll, kann unerdrtert bleiben; für die Beurteilung des Prozesses ist sie nicht relevant.

Welche Motive bei der Mehrheit der Geschworenen für den Schuldspruch entschieden, dariiber 148t sich nur eine Vermutung anstellen. Es zwingt uns jedoch nichts dazu, von dem Normalbilde zwiespaltiger Richterspriiche abzuweichen, nimlich von der einfachen Tatsache, daß die Meinungen über die Schuld geteilt waren. Die Minoritét hielt

entweder das Asebie-Verbrechen auf diesen Fall nicht anwendbar, oder es schien ihr der Tatbestand durch die Zeugenaussagen nicht geniigend erwiesen. DaB die Majoritdt gegen ihre bessere Uberzeugung ihr ,,Schuldig” sprach, ist eine unerweisliche Behauptung. Aber auch das ist moglich, daB alle Richter Sokrates fiir schuldig hielten,

die Minderheit aber mit Riicksicht auf das hohe Alter und den edlen Charakter eine Begnadigung wiinschte. Man hat ferner gesagt: Wenn wirklich sich die Richter durch das selbstbewuBte Auftreten und die stolze Sprache reizen lieBen, wenn sie ihn sonst freigesprochen hétten, so beweist dies am klarsten die Ungerechtigkeit des Urteiles. Ein echter Richter diirfe sich eben dadurch nicht beeinfiussen lassen ; er hat nur nach Gesetz und Recht

zu entscheiden. Auch das ist nicht ganz zutreffend. Die Ankliger behaupteten, Sokrates macht die jungen Leute eingebildet ; sie folgen seinem Rate mehr

also dartiber,

annächst einen Strafantrag zu stellen sich weigerte, und daB die muß n übrige wesenden Freunde sich zu Opfern bereit erklärten. Im ger man sich für die eine oder andere Darstellung entscheiden. Wfird.i und konsequenter ist jedenfalls die Version, daß Sokr?.tes bei sefner passiven Haltung verblieb?. Aber auch wenn man die Platonische %) Auch

Version

als den Eltern,

da er ihnen

als Autoritit

erscheine.

Die Art,

wie sich Sokrates verteidigte, konnte manchem zweifelnden Richter 815 eine Bestitigung dieser Anschuldigung erscheinen, insbesondere

seine Berufung auf das delphische Orakel und die gottliche Mission. Die μεγαληγορία war also eine Bekriftigung der klégerischen Behauptung: Sokrates ist ein gefdhrlicher Mensch. Nicht deshalb, weil die stolze Rede die Richter reizte, sondern weil sie geeignet war, die Anklage zu unterstiitzen, hat sie einen wesentlichen Anteil am Ausgange des Prozesses. Bei aller Bewunderung fiir die Haltung des Ὦ Nach Diog. Laért. Τ, 41 sollen achtzig Richter nachträglich sich der Majo-

rität angeschlossen haben.

57

großen Mannes kann man ihn also von einer Schuld — im Sinne der Kausalität — nicht freisprechen. Wenn

er nun

gar,

wie es wahrscheinlich

ist, die

Stellung

eines

Gegenantrages in bezug auf die Strafe unterließ, so konnte, nachdem einmal der Schuldspruch gefällt war, ein anderes Urteil als die Todesstrafe nach dem attischen Prozeßrechte nicht erfolgen; die

Geschworenen mußten

sich in diesem Falle an den Antrag der

Kläger halten.

X. Ergebnisse, Widerlegung der Pöhlmannschen Auffassung Bevor ich die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchungen zusammenfasse, möchte ich noch einen allgemeinen Gesichtspunkt sprechen, welcher für die Beurteilung des Sokrates-Prozesses jeher ausgiebige Verwendung fand. Es ist seine Beziehung Rechte der Meinungs- und Lehrfreiheit. Selbst Grote, sonst den Richtern mildernde Umstände zuzusprechen geneigt

bevon zum der ist,

erblickt in dem Urteile der athenischen Geschworenen eine beklagenswerte Verletzung dieses Grundrechtes; noch schärfer lauten natürlich die Urteile jener Schriftsteller, welche die athenische Demokratie in den schwärzesten Farben malen. Da wäre doch vor allem zu erwägen,

daß das Prozeßmaterial

die

Anwendung jenes allgemeinen. Gesichtspunktes nur teilweise möglich macht. Der Ausgangspunkt für die Anklage ist das Daimonion des Sokrates, also gerade der irrationale Teil seiner Persönlichkeit ; mit der Wahrheitsforschung und strengen Wissenschaft hat dieser mystische Zug nichts zu tun. Aber auch die göttliche Mission, welche sich Sokrates zuschreibt, den Auftrag, dahin zu wirken, daß

in erster Linie für die Tugend und das Heil der Seele gesorgt werde, seine Rolle als Mahner und Prediger sind Dinge, die über Forschung und Lehre hinausgehen; eine solche Propaganda in der breiten Of-

fentlichkeit mit ganz bestimmter Tendenz fallt selbst nach moderner Auffassung schwerlich noch unter den Gesichtspunkt der freien MeinungsiuBerung. Ubrigens hat dieses ,,Recht’* auch im heutigen Kulturstaate seine Grenze im positiven Strafrechte. Eine Meinungsäußerung, welche den Tatbestand eines Deliktes bildet, ist nicht mehr frei. Wenn daher das, was Sokrates getan, wirklich unter den Begriff der ,,Asebie” subsumiert

58

werden konnte,

dann ist es vollkom-

men irrelevant, ob wir darin nur eine Ausiibung der Gedanken- und

Lehrfreiheit erblicken. Dazu kommt

noch, daB ein solches „Recht“

des Individuums der

griechischen Staatsauffassung vollkommen fremd ist. Mag es auch, wie Jellinek* in tiberzeugender Weise dargelegt hat, eine arge Ubertreibung sein zu behaupten, daB der griechische Biirger keine freie Sphire gegenitber dem Staate besaB, daB er der ,,Polis” in allen Richtungen unterworfen war, so steht doch fest, daB diese Freiheit nur eine faktische, keine rechtliche gewesen ist, daB sie mindestens nicht als subjektives

Recht gegeniiber dem

Staate empfunden wor-

den ist. In der Tat werden wir in der antiken Literatur fiber den

Sokrates-ProzeB vergeblich diesen modernen Gesichtspunkt aufsuchen. Weder bei Plato noch bei Xenophon findet sich eine Spur des Gedankens, daß die Anklage schon deshalb haltlos sei, weil sie

in die Geistes- und Lehrfreiheit eingreife. Die Verteidigung geht im ‘Wesentlichen dahin,

daß

Sokrates

die Staatsreligion

nicht

antaste,

die Jugend nicht verderbe, daß er im Gegenteile eine höchst niitz-

liche Titigkeit entfalte.

Als Ergebnisse unserer Untersuchung diirften sich folgende Sitze formulieren lassen: I. Der tragische Ausgang des Sokrates-Prozesses 148t sich micht

auf eine einfache Formel zuriickfithren. Wir haben es mit einer komplizierten Kausalreihe zu tun. ᾿ 1. Die Erhebung der Anklage hat ihren Grund in den besonderen Zuständen Athens infolge der volligen Niederlage, im Siege des Dorismus über die jonisch-attische Kultur. III. Wir haben keinen Grund, an dem guten Glauben der Ankläger zu zweifeln. HaB, Rache oder politischei Gegensatz haben dabei keine entscheidende Rolle gespielt. IV. Die Erhebung der Anklage allein muBte jedoch keineswegs mit Notwendigkeit zu einer Verurteilung, das Schuldverdikt durchaus nicht zu einem Todesurteil führen. An diesem Ausgange hat das

Verhalten des Sokrates einen wesentlichen Anteil, namentlich sein

Verhalten V. Ob

dem

bei der Verhandlung über das StrafausmaB. das Schuldverdikt

materiell gerecht

Stande unserer Quellen nicht mit

1) Allgemeine

Staatslehre,

war,

kénnen

wir bei

Sicherheit entscheiden.

Es

S. 264--284.

59

scheint, daß der erste Teil der Anklage (Religionsneuerung) durch die vorgebrachten Tatsachen eher gerechtfertigt wurde als der zweite Teil (Jugendverderb). Wir haben keinen Grund, an dem guten Glauben der Richter,

welche

das „„Schuldig‘

So liegt denn allenfalls ein Justizirrtum,

aussprachen,

zu zweifeln.

aber kein Justizmord

vor.

Da gerade das Letztere in der sehr anregenden Schrift von Pöhlmann

,,Sokrates und sein Volk'

wurde, erscheint es notwendig,

ausfithrlich zu beweisen versucht

diese Abhandlung kritisch zu wiir-

en.

-

ὼἷἳεὡ Pöhlmann ist der Sokrates-Prozeß ein massenpsychologischer Vorgang von typischer Bedeutung. Die Vollkultur erzeugt auf der

einen Seite freie Persönlichkeiten, Individualitäten, auf.der anderen Seite steigert sie die Macht der Volksmassen, welche den Einzelnen ihrem nivellierenden Einflusse unterwerfen wollen. Indem der Ein-

zelne mit den Ansichten

und Empfindungen der Masse in Wider-

spruch gerit, entstehen schwere Konflikte; sie enden mit der Unterdriickung der geistig und sittlich freien Individualitit durch den Herdengeist, durch die brutale Macht der großen Masse. Diese Zeichnung entbehrt jedoch, soweit der Sokrates-ProzeB

Betracht kommt, sonen,

welche

zu

vollkommen dem

in

der historischen Realitdt. Jene Per-

Prozesse

den

AnstoB

gaben,

waren

keine

Hinterménner der Masse. Aber auch die Richter waren damals nicht

der „Pöbel‘, welcher sonst die Geschworenenbinke besetzte. Die ganze

Schilderung

der

Demokratie,

wie

sie

Pöhlmann

unter

Be-

niitzung der Karrikaturen von Aristophanes bietet, paBt nicht auf die Zeit des Prozesses. Die Verbandlung zeigt keine Spur einer Leidenschaft, einer sich iiber die Gesetze stellenden brutalen Vergewaltigung, wie sie etwa der ProzeB gegen die Feldherren der Arginusenschlacht aufweist. Am meisten spricht die Zwiespaltigkeit des Verdiktes gegen die Pshlmannsche Konstruktion. Mit Recht verwendeter diese Tat-

sache, daß Sokrates nur mit geringer Majoritit verurteilt wurde, gegen die Hegelschen Ubertreibungen, gegen die Konstruktion vom Urteil des ,,Volksgeistes Athens®, des athenischen Staates gegen das

ihn bedrohende Individuum. Allein er übersieht, daB dadurch auch seine eigene Lehre unhaitbar erscheint. War die ,,Massenpsyche'* gespalten oder reprisentierte gerade nur die Majoritit des Gerichts-

60

hofes das dumpfe Empfinden des Pöbels? Ein wirkliches Massenempfinden reiBt alles unaufhaltsam mit sich fort. Wie stände die Sache, wenn sich Sokrates etwas geschickter verteidigt, eine weniger stolze Sprache geführt und infolge dessen noch dreiBig Geschworene fiir sich gewonnen hitte? Dann hitte es sich auf einmal gezeigt, daß das ,,groBe Tier”, Volk genannt, die freie

Individualitit duldet, oder daB Sokrates iiberhaupt mit dem Empfinden der Masse niemals in Konflikt geraten ist. Aber auch rein theoretisch genommen — vom Falle Sokrates abgesehen — ist Pohlmanns Massenpsychologie sehr cinseitig. Die

Geschichte zeigt, daß sich der große Haufe eben so oft freundlich als feindlich zu den gerade die iber den und HaB verfolgen. den großen Minnern psyche als der von

iiberragenden Individualititen stellt, daB oft Massen stehenden Personen dieselben mit Neid Das Bediirfnis zu verehren, emporzublicken zu ist ein ebenso realer Bestandteil der MassenPöhlmann einseitig betonte Nivellierungstrieb.

Um seine Auffassung vom Sokrates-Prozesse zu stiitzen, ist Pöhlmann gendtigt, demselben einen politischen Charakter beizulegen. Ich habe die Unhaltbarkeit dieser These schon wiederholt dargelegt. Es ist rein erfunden, daB die Anklage gestimmt war auf

„Tod dem Aristokraten, Tod dem Volksfeind*. Es ist unrichtig, daß die demokratische Empfindlichkeit zur Zeit des Prozesses eine sehr gesteigerte war. Der besondere Charakter der inneren Zustinde Athens in den Jahren nach der Amnestie wird von Pöhlmann gar nicht beachtet, die in Xenophons Memorabilien reproduzierte Polykrates-

Anklage wird von ihm kritiklos verwendet. Auch daB Sokrates verhaßt war, daß in der Anklage

die beleidigten Volksklassen Rache

nehmen wollen, wird unbedenklich als historisches Faktum genommen, weil es so in Platons Apologie zu lesen ist. Einen ,,Beitrag zur Geschichte der Lehrfreiheit” nennt Pshlmann seine Schrift. In der Verurteilung des Sokrates erblickt er eine

schwere Verletzung der Denk- und Lehrfreiheit, wie sie in Athen glicklicherweise nur vereinzelt vorgekommen sei. Es wurde bereits früher dargelegt, daß auch dieser Gesichtspunkt fiir den SokratesprozeB nur mit Vorsicht verwendet werden darf. Jedenfalls ist es völlig grundlos, jeden, der über den ,,Justizmord‘’ milder denkt, als einen Gegner der Geistesfreiheit zu stigmatisieren. Die betreffende Polemik gegen Gomperz erscheint daher auch völlig verfehlt.

61

Gomperz zwischen

spricht nämlich von einem vollberechtigten

dem

Rechte

der großen

Persönlichkeit,

neue

Konflikte Bahnen

zu

eröffnen, und dem Rechte des Gemeinwesens, sich zu behaupten und auflösenden Tendenzen entgegenzutreten. Pöhlmann meint nun, daß diese zwei Rechte sich gegenseitig aufheben. Er übersieht, daB es sich bei jener Formulierung von Gomperz offenbar um eine ethische ‘Wiirdigung der Frage handelt; es soll gesagt werden: Beide haben von ihrem Standpunkte aus recht, sowohl der Staat als das sich ihm

entgegenstellende große Individuum handeln im guten Glauben. Welches der beiden sich entgegenstellenden Interessen das objektiv wertvollere ist, dariiber 148t sich schwerlich fiir alle Zeiten und alle Volker eine gleichartige Losung finden. Pöhlmann glaubt allerdings, daß die Betdtigung der frefen Individualitat unbedingt niitzlich sei, daB insbesondere freie Forschung und Lehre niemals die Interessen des Staates bedrohen kénne. So einfach liegt

dies Problem nicht. Ich kann dies an diesem Orte nicht naher ausfithren; nur ein Moment mdchte ich noch andeuten. Auf dem Gebiet

der

sozialen

Erscheinungen



Recht,

Religion,

Sittlichkeit,

Staatsverfassung — gibt es schwerlich eine reine Wahrheitsforschung, eine Wissenschaft mit objektiven Ergebnissen. Wenn daher Pöhlmann sagt (S. 117): Das sokratische Denken ist wissenschaft-

liches Denken und kennt als solches nur Ein Ziel und Ein leitendes Motiv: die Wahrheit — so möchte ich zu bedenken geben, daB jeder

religiöse oder soziale Reformator der ,,Wahrheit” zu dienen glaubt. Gibt es aber auf dem Gebiete der sozialen Erscheinungen wirklich ein rein wissenschaftliches Denken? Im zweiten und dritten Kapitel seiner Schrift versucht Pöhlmann nachzuweisen, daß des Sokrates Tatigkeit keine aufldsende Tendenz hatte, schon deshalb, weil es nichts mehr aufzulésen gab, und daß

Staatsleben in einer gemäßigten, von Gesetzen beherrschten Republik diirfte kaum als gerechtfertigt erschienen sein.

XI. Die seitherige Literalur über den Sokratesprozeß Seit 1902 hat das Schrifttum über die Gestalt und das Werk von Sokrates manchen wertvollen Zuwachs erfahren, so vor allem durch das Buch von Heinrich Maier (1913), aber gerade über das Thema des Prozesses sind kaum neue Gesichtspunkte entwickelt worden. In bezug auf die juristischen Grundlagen der Anklage und Verurteilung diirfte meine Abhandlung von 1902 noch immer als maßgebend anzusehen sein. Uber sie duBerte sich zunächst der amerikanische Philologe Robert J. Bonner in seiner Schrift ,,The legal Setting of Platons Apology‘‘ (1908): ,,Menzel in his admirable monograph ,Untersuchungen zum SokratesprozeB’ has done more along this line than any previous scholar. Owing to his legal training his conclusions regarding technical matters cannot be lightly rejected.” Auch die im Jahre 1918 publizierte ausgezeichnete Monographie des griechischen Gelehrten Βιζουχίδης, Ἢ δίκη τοῦ Σωχράτους" schlieBt sich in allen wesentlichen

Punkten

meiner

Auffassung an,

vielfach mit

neuen Argumenten. Jedenfalls ist dieses Buch als die griindlichste Untersuchung iiber den SokratesprozeB zu bezeichnen. Von gelegentlichen AuBerungen zu diesem Thema seien im folgenden noch einige hervorgehoben. Ed. Meyer hat sich in seiner Geschichte des Altertums Bd. 5 $ 852 (1902) für den Wert der Apologie des Xenophon und fiir die Echtheit des Favorinusberichtes iiber den Wortlaut der Anklage ausgesprochen sowie den Richtern den guten Glauben zugebilligt, wie dies in meiner Abhandlung behauptet wurde. Heinrich Maier (,,Sokrates, sein Werk und seine

geschichtliche Stellung", 1913) widmet der ,,Katastrophe' ein gan-

auch sein kosmopolitischer Zug in seinem Wesen dem athenischen Volke nicht fremd gewesen sei, hauptsichlich infolge der kolonialen und maritimen Entwicklung. Allein mit dem Verluste aller auswirtigen Besitzungen und der Vernichtung des Sechandels: ver-

zes Kapitel (S. 463 1f.), worin es unter anderem heißt: ,,DaB die Verurteilung ein Willkiirakt ohne gesetzliche Grundlage gewesen sei, kann man wirklich nicht sagen. Bis in die jiingste Zeit hat die Auffassung die Oberhand behalten, daB die Verurteilung ein Justizmord

schwand dieser Charakterzug, der alte, enge Polis-Patriotismus erwachte, die religivse Reaktion empfand wieder die schrankenlose

gewesen

subjektive Reflexion als ein Ubel: so konnte in der Tat Sokrates den leitenden Staatsminnern als ein Mann mit auflésender Tendenz, als ein schlechter Patriot erscheinen. Auch die Zurtickhaltung vom

langen. Wenn eines sicher ist, so ist es das, daB die politische Geg-

62

sei. Der unbefangene

Historiker,

der die ganze

Situation

objektiv wiirdigt, wird, glaube ich, zu einem anderen Ergebnis generschaft an der Anklage keinen Anteil hat.” Dann schildert Maier, meist im Anschluß an meine Abhandlung, die Motive der Anklage,

63

ihre

rechtliche

Grundlage,

den

Verlauf

des

Prozesses,

insbes.

die

(vielleicht absichtlich) ungeschickte Verteidigung des Sokrates, der entweder triumphieren oder als Märtyrer sterben wollte. Maier betont jedoch — und darin stimme ich ihm durchaus zu —,

daB das tragische Ereignis nicht bloB vom rechtlichen Gesichtspunkte aus beurteilt werden diirfe. „Gewiß hat Sokrates das geltende Recht verletzt, aber gab es fiir ihn einen anderen Weg? Neue

Kulturtendenzen setzen sich stets nur im Kampfe mit der bestehenden Lebensordnung durch. Es kann daher

auch Fille geben, wo

Belebung der Religion und des alten Biirgersinnes, durch Festigung der Familienbande und wirtschaftliche Erneuerung. Gerade diese Interessen sind es, welchen das Wirken des Sokrates entgegenzustehen schien und deren Verletzung das Motiv der Anklage gebil-

det hat.“ Was nun die Beurteilung der Quellen anlangt, welche fiir die Rekonstraktion des Sokratesprozesses in Betracht kommen, so hat die von mir vertretene Ansicht, 448 die Apologie von Platon, so hoch auch ihr Kunstwert sein mag, fiir die Ermittlung der geschichtlichen

die Durchbrechung der bestehenden Rechtsordnung fiir menschliche

Vorginge nur wenig Bedeutung besitzt, hingegen die unter dem

Individuen zur sittlichen Pflicht wird. Die Absicht des Sokrates war

Namen

es, die Moral seines Volkes auf eine hohere Stufe emporzuheben. Da aber die alte Moral mit ihrem religiésen Hintergrund zugleich rechtlich geschiitzt war, ja mit den Grundlagen des Staatslebens unlés-

dient, immer mehr an Boden gewonnen.

bar

zusammenhing,

so war

das sittliche

Wirken

des

Sokrates

zu-

gleich ein Kampf gegen die bestehende Rechisordnung. Er hat diesen Kampf durch sein ganzes Leben mit Nachdruck gefithrt. Die letzte Kraftprobe war die Gerichtsverhandlung, in der er duBerlich unter-

von Xenophon iiberlieferte Apologie grofie Beachtung verSelbst Wilamowitz,

der,

wie frither gezeigt wurde, die letztgenannte Schrift als ein Falsifikat ‘bezeichnet hatte, scheint spiter (Platon II, S. 50) diese These nicht mehr aufrecht zu erhalten. Seither hat H, v. Arnim in einer überaus griindlichen Abhandlung ,,Xenophons Memorabilien und Apologie des Sokrates (Mitteilungen der dénischen Akademie der Wis-

legen ist. Ἐξ ist die Tragik der Geschichte, daß in solchen Krisen

senschaften, hist.-phil. Abteilung, Bd. 8, 1923) es sehr wahrscheinlich gemacht, daß Xenophon sie verfaBt hat, und zwar noch vor

nicht

der Apologie

eben

haben,

selten

die

der stirkeren

Ausfithrung

Individualititen,

Gegenwart

sei nur bemerkt,

daß

die

die

unterliegen.””

Zukunft

Zu

für

dieser

sich

schénen

Vollkommen

und

vor

den

eigenen

Denkwirdigkeiten

über den Inhalt der Anklage,

an den

Grundauffassung

Verlauf der Verhandlung, namentlich über die Verteidigung des Sokrates ausfithrt, bildet eine wichtige Erginzung meiner AkademieAbhandlung von 1902, die er nicht zu kennen scheint. Er bringt eine ausfithrliche Analyse der Xenophon-Apologie, um die Glaub-

in seiner Neubearbeitung der

wiirdigkeit der darin enthaltenen Angaben, besonders iiber die Groß-

es mir

zweifelhaft

erscheint,

ob

gerade Sokrates mit seiner auf das Wissen gerichteten Morallehre die Zukunft fiir sich hatte. angeschlossen hat sich an

des Sokrates-Prozesses Bonhöffer

Platons

Sokrates. Auch was dabei Arnim

meine

Geschichte der antiken Philosophie von Windelband in dem Handbuch der klass. Altertumswissenschaft von Iwan Miiller (1912),

sprecherei des

S.

aus

fassen, welche die inzwischen erschienenen Schriften, darunter auch

in den SokratesprozeB gebracht A. Menzel. Er hat vor allem daranf hingewiesen, daß die Erneuerung der Demokratie nach 403 nicht eine Riickkehr zur frilheren ziigellosen Volksherrschaft bedeutete, daB also der Gegensatz zwischen Demokratie und Aristokratie viel

Platons Apologie und das Pamphlet des Polykrates beriicksichtigt. Arnim vertritt auch im Gegensatze zu der herrschenden Meinung,

100:

,,Am

meisten

Licht

hat

vom

juridischen

Standpunkt

von seiner Schirfe verloren hatte. Um so stirker trat der andere Gegensatz hervor, ndmlich zwischen der den allgemeinen menschlichen Fragen zugewandten Philosophie und den praktisch-konservativen Bestrebungen der leitenden Kreise, deren Hauptvertreter Anytos

64

war.

Den

niedergeworfenen

Staat

wieder

aufzurichten,

durch

sah

sich

insbes.

Sokrates,

Xenophon

von

Heinrich

nachzuweisen.

veranlaBt,

Majer,

eine

Erst

eigene

die Ansicht,

in den Memorabilien ,,Schutzschrift'’

daB

die in den

abzu-

Memora-

bilien enthaltenen Sokratesgespriche keine freie Erfindung bedeuten, sondern zum groBen Teile auf Grund von Mitteilungen einstiger Schiiler abgefaßt sind. Wie immer es sich damit verhalten möge, 80 bleibt von dieser Annahme Arnims vollig unberührt seine überzeugende Ausfihrung über den Quellenwert der unter dem Namen von Xenophon iiberlieferten Apologie.

5

65

ZWEITE

PROTAGORAS Unter diesem suchung in den Wissenschaften Hauptergebnisse

ALS

Allein es verdient dennoch die auf Herakleides gestiitzte Mitteilung

ABHANDLUNG

GESETZGEBER

VON

THURII

Titel veroffentlichte ich im Jahre 1910 eine Unter,, Abhandlungen der kúnigl., Sachs, Gesellschaft der in Leipzig” (Philol.-hist. Klasse, Bd. 62), deren in wesentlich gekiirzter Gestalt im folgenden wieder-

gegeben werden. Hiebei werden unter 1. die Argumente zusammengestellt, welche dartun sollen, daB der bertihmte Sophist tatsáchlich

in Thurii als Gesetzgeber tátig war. Unter II wird die Verfassungs-

geschichte dieser Kolonie behandelt, wobei einzelne Stellen in der »Politik” des Aristoteles eine neue Beleuchtung erfahren.. Abschnitt

III erórtert speziell die Institution der S ymbulen. Dieser Beitrag zur griechischen Verfassungsgeschichte diirfte auch dann von Wert sein, wenn man sich der Hypothese von der Autorschaft des Protagoras nicht anschlieBen

sollte.

I Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet die Notiz bei Laért. Diog. TX, 50: Uputayópas — Af8nptens xadd grow Hpaxieióne 6 Hovrixos ¿v tofg mepl véjuov 8 nal Govpícig vépous ypddar galy abtóv. Der Biograph der griechischen Philosophen bringt demnach zwej Mitteilungen úber Protagoras: einmal, daB Abdera seine Vaterstadt war,

dann,

daB

er die Gesetze

von

Thurii

niedergeschrieben

habe.

Fúr beide Angaben zitiert er als Quelle ein Werk des Pontikers Herakleides ,,von den Gesetzen. Die erstere Angabe, die tiber die Heimat des Sophisten, wird auch von anderen gewichtigen Gewáhrsmánnern, vor allen von Plato?, bestátigt; sie ist daher niemals ernstlich in Zweifel gezogen worden”. Anders steht es mit der Nachricht tiber die Beteiligung von Protagoras an der Gesetzgebung der etwa um 443 gegriindeten Pflanzstadt Thurii. Diese Nachricht steht vereinzelt; es scheinen ihr sogar andere Berichte zu widersprechen*.

1) Plato, Protag. 309C, Staat X 600C. * Vl Vitringa, de Protagorae vita et philosophia p. 141f. *) Nach Diodor XII, 11 soli Thurii die Gesetze des Charondas erhalten bei Athen. XI, 508 A erscheint Zaleukos als Gesetzgeber. Vgl. daritber Hofmann, Beitráge zur griechischen und rómischen Rechtsgeschichte S, Fir die Richtigkeit der Notiz des Laértius haben sich jedoch ohne

haben; Franz 93, 94. náhere

Begrindung, erklart Rud. Hirzel, Themis und Dike $. 382, Ed. Meyer, Gésch. d. Altert. IV, $ 308. 66

vollen Glauben. Wenn man von der Autorschaft jener Notiz gánzlich absieht, kommt zunáchst zur Erwágung, ob eine historische Wahrscheinlichkeit dafiir besteht, daB bei der Grindung von Thurii unser Sophist fir die Gesetzesredaktion herangezogen worden sei. War es nicht einfacher, eines der in Unteritalien geltenden Stadtrechte, etwa das

von Katana oder Lokri zu rezipieren? Wenn es sich bei der Schaffung von Thurii wirklich nur um eine der tiblichen Stadtgriindungen gehandelt hátte, wirde es in der Tat mehr Wahrscheinlichkeit haben,

daB die Gesetze des Charondas oder Zaleukos von der neuen Pflanzstadt angenommen worden wiren. Allein der Fall war doch von den gewthnlichen Kolonisationen ganz verschieden. Es handelte sich um ein Kolonialunternehmen im gré8ten Stile, welches, von Athen ausgehend, unter Beteiligung aller griechischen Staaten ins Werk gesetzt werden sollte. Perikles nahm sich der Sache mit dem gróBten Eifer an; er suchte damit fúr Athen einen wichtigen Stitzpunkt in Westgriechenland zu erreichen, zugleich aber den pan-

hellenischen Gedanken zu verwirklichen. Wenn sich nun auch Sparta offiziell nicht beteiligte, so kamen doch ausdem Peloponnes zahlreiche Teilnehmer; auch Mittelgriechenland stellte eine ansehnliche Kolonistenschar!, Die Fithrung aber lag in den Hánden hervorragender Athener, unter welchen der Seher und Exeget Lampon, ein persónlicher Freund des Perikles, die wichtigste Rolle spielte. Der athenische Einflu8 auf die Verfassung der neugegrindeten Kolonie tritt in den beiden uns von Diodor (XIT. 11, 2 und 3) iiberlieferten Nachrichten hervor, daB námlich die Biirgerschaft, wie in Athen, in zehn

Phylen gegliedert wurde und daB eine demokratische Verfassung zur Geltung kam. Unter diesen Umstánden war es wohl

ausgeschlossen, da8 die neu-

geschaffene Stadt Thurii die alten Gesetze des Charondas oder Zaleukos einfach rezipiert hátte. Denn wenn dieselben auch mehr das Zivil- und Strafrecht zum Gegenstand haben, als die Verfassung, so tragen sie doch einen hóchst konservativen Charakter an sich. So berichtet uns Diodor (XII, 15, 2), daB nach den Gesetzen des Charondas jeder, der eine gesetzliche Neuerung einfiihren wollte, seinen 1) S. die Darstellung bei Busolt, griech. Gesch. III, S. 518 ff,

s

67

Hals in eine Schlinge legen muBte, bis sich das Volk tiber Annahme oder Ablehnung des Antrags entschieden habe?, ferner (XII, 17, 4) daB, wenn jemandem ein Auge ausgeschlagen wurde, der Táter die gleiche Strafe erleiden sollte; also die Talion in rohester Form. Es

ten hat, wenn auch vielleicht in Ankniipfung an áltere westgriechische

Stadtrechte,

so wire

nunmehr

zu erwágen,

ob irgend

welche

Bedenken gegen die Nachricht geltend gemacht werden kónnten, daB gerade Protagoras mit jener Aufgabe betraut worden sei. Man

ist einfach undenkbar, daB in einer unter Patronanz von Perikles

hat darauf hingewiesen, daBí Protagoras ein ,,Fremder” gewesen sei

gegriindeten Kolonie solche Sátze zur Geltung gelangt sind. Auch die privatrechtlichen Vorschriften des Charondas mit ihrem MiBtrauen gegen den Kreditverkehr? pañten durchaus nicht auf eine lebhafte Handelsstadt in der Mitte des 5. Jahrhunderts.

und daB er von den Spáteren, insbesondere von Aristoteles unter den berithmten Gesetzgebern nicht erwáhnt werde. Allein bei der Neugriindung einer Stadt kann man doch von Einheimischen im Gegensatze zu Fremden iberbaupt nicht sprechen; der Fall war iibrigens

Wir miissen uns jedoch in dieser Frage nicht mit bloBen Vermutungen begniigen. Wir kénnen den direkten Beweis dafiir erbringen, daB

es eine besondere Gesetzgebung der Stadt Thurii gegeben hat, verschieden von den alten Satzungen des Charondas und Zaleukos, eine

Gesetzgebung, welche durch ihre Originalitát eine gewisse Berithmtheit erlangt hat. In dem Rechtslexikon von Theophrast, aus welchem uns Stobáus 44, 22 ein groBes Fragment ,,mep! cupfiohalwv* erhalten hat, wird an zwei Stellen der Gesetze Thuriis gedacht, und zwar bei

der Darstellung der Formalitáten des Kaufes von Liegenschaften und bei der Behandlung der Arrha. Diese zitierten Gesetze , Qouproí” und ,é ol Gouplwy” werden aber ausdriicklich unterschieden von den Gesetzen des Xapúvdac. Bei der anerkannten Genauigkeit und Sachkunde des Theophrast muB daher jeder Zweifel dariiber schwinden, daB sich Thurii auf diesem Gebiete besondere Gesetze gegeben hat. Wenn nun weiter erwogen wird, daB Diodor etwa 400 Jahre, Athenñus etwa 500 Jahre nach der Griindung von Thurii gelebt

haben, so erscheinen die abweichenden Notizen dieser beiden Schriftsteller, die sich tiberdies nicht durch besondere Zuverlássigkeit

aus-

zeichnen, vóllig bedeutungslos*.

Steht nun fest, daB Thurii eine selbstándige Gesetzgebung erhal-

in den griechischen Staaten kein seltener, daB ein Auswártiger zum Gesetzgeber berufen worden ist !. Ferner beweist aber das Stillschweigen des Aristoteles gar nichts; seine Darstellung (Pol. IL, 12) iber berihmte Gesetzgeber ist so lickenhaft und ungenau, dafi die Echt-

heit dieser Partie der politischen Lehrvortráge schon dfters angezweifelt wurde? Dazu kommt noch, daB die Gesetze Thuriis háufigen Veránderungen unterlagen; schwere innere Krisen und wechselvolle AuBere Schicksale dieser Kolonie waren kaum geeignet den Namen ihres ersten Gesetzgebers der Nachwelt einzuprágen. Wesentlich unterstitzt wird die Nachricht von der gesetzgeberischen Tátigkeit des Protagoras in Thurii durch die Tatsache, daB der groBe Sophist mit dem leitenden Staatsmanne der Athener in freundschaftlichen Beziehungen stand. Aus zwei Stellen bei Plutarch® 148t sich ein inniger personlicher Verkehr der beiden Mánner

erschlieBen. Bui dem Einflusse nun, welchen Perikles auf die Griin- dung von Thurii ausgetibt hat, ist es recht wahrscheinlich, daB er den ‘von ihm hochgeschátzten Sophisten als Legislator empfohlen hat. Da es nun auch feststeht, daB sich Protagoras lange Zeit in Sizilien und Unteritalien aufgehalten hat %, so besteht gegen die innere Glaub-

. wiirdigkeit jener Notiz des Laértius kein ernstes Bedenken.

mach von Zaleukos aufgestellt worden.

Bisher wurde aber noch immer davon Abstand genommen, den Anutor jener Nachricht náher in Betracht zu ziehen. Laértius zitiert als Quelle derselben das Werk des Pontikers Herakleides ,,von den

Gesetzen des Charondas der Kaufvertrag Zug um Zug erfillt werden muBte; ein Klagerecht wird, falls kreditiert wurde, nicht gewábrt. 3) Gegen die Mitteilung von Diodor, daf sich die Thurier ihren Mitbúrger Charondas zum Gesetzgeber gewáhlt haben, kann úberdies einfach darauf verwiesen werden, daf Charondas zur Zeit der Grimdung Thuriis bereits dreiBig Jahre verstorben war; vel. Th. Miller, de rebus Thuriorum p. 43.

1) So gab 2. B. der Korinther Philolaos Gesetze fúr die Thebaner, Aristoteles Polit. 11, 12, 12742 321 %) Vel. Susemihl, Arist. Pol. I 5. 258 Note 9 u. besonders v. Wilamowitz, Aristoteles u. Athen I, S. 67. 3) Perikles e. 36 und Consol. ad Apoll, ¢. 33. 4 Plato, Hippias maj, 282 D.

1) Nach Demosthenes e. Timocrat. p. 744 galt dieser Satz in Lokri, wire dem-

% Theophrast (fragm. 97 Wimmer) bei Stob. 44, 22 berichtet, daf nach den

68

69

ndsten‘Schfiler PlaGesetzen”. Dieser Autor ist einer der hervorrage Akademie anvertraut tos, der ihm fiir eine Zeit sogar die Leitung der dierechts- und staatshat?. Unter seinen zahlreichen Werken missen en genossen haben. wissenschaftlichen Schriften besonderes Anseh des Lobes fir Hera» Worte Speziell Cicero findet hier nicht genug Lehrex} des Pontikers Kleides?, wenn er auch gegen die theosophischen hat das Werk wvon de:'k starke Bedenken duBert. Noch Plutarch g beniitzt und zitiert. Gesetzen' in seiner Lebensbeschreibung fleiBi en, wenn er uns sagt, Ein solcher Autor verdient den volisten Glaub

is abgefafit hat. daB es Protagoras war, der die Gesetze Thuri II Nunmehr

soll der Versuch gemacht

,,Bavploug vépaug rpdpar*

festzustellen.

werden,

die Bedeutung

Nach dem

jenes

Spr'achgebrauch‘e,

vor Augfan tritt, werden d%e der uns in der Politik des Aristote les

bezeichnet, wogegen die eigentlichen Verfassungsgesetze mit moXreía dementspfechend wergewohnlichen Gesetze véno: genannt werden; welche eine neue _Ver— den auch die Gesetzgeber in solche geschieden, *. Falls man diesen fassung schufen und gewóhnliche Legislatoren als maBgebend an50 IX, L. D. Sprachgebrauch fiir die Stelle des an der Redaktion goras Prota sehen wiirde, so wire anzunehmen, daB sondern

nur an dler

der Verfassung von Thurii nicht beteiligt

war,

Einschlu8 der Verfassungsgesetze bezogen,

so konnte thot:?goras als

echt, ProzeB). Wu'_d Abfassung der Justizgesetze (Privatrecht, Strafr te Gesetzgebung mit hingegen der Ausdruck ,.vópor* auf die gesam

schen Emndxtl‘mger; der Urheber gewisser, uns iiberlieferten, politi unseres Sophisten von Thurii angesehen werden®. Die Staatslehre

1) Gomperz, griech. Denker TII, S. 10 £f., 398.

% Tuscul. V, 3, 8 (.doctus imprimis"), de legg. II 6, 14. %) De nat. deor. 1, 13, 34; dazu Kriesche, Forschungen S. 325 ££

n bei Otto VoB, de Heraciidis Pon4) Zusammenstellung der betreffenden Stelle

tici vita et scriptis 180p.6

46,47-



-

kommen 5) Vgl. vorláutig Pol. T1, 1273b; 1274b; wir

darauf weiter unten zu

ras auch Protagooras hat Protag SinneSinne hat i ) So anscheinend Hirzel, Dike S. 582: ,,InEinediesem #N jedoch wird ndung Begri nihere a)]s politischer Gesetzgeber gewirkt." nicht gegeben. )

70

"

Politik", Bd. 111, S. 208 £f. S. dartiber meine Abhandlung in der ¡Zeitschrift fiir

wirde dann vielleicht vom Standpunkte der praktischen Politik eine interessante Beleuchtung erfahren.

Es spricht eine groBe Wabrscheinlichkeit dafiir, daB sich die gesetzgeberische Tátigkeit unseres Sophisten in erster Linie auf die Gestaltung der Verfassung bezogen hat. Wihrend námlich fir die Justizgesetzgebung bereits vortreffliche Unterlagen in den Stadtrechten von Lokri, Rhegion und anderen unteritalischen Kolonien gegeben waren, fehlte durchaus eine nachbarliche Konstitution, an welche die zu schaffende demokratische Verfassung von Thurii hátte ankntipfen kónnen; ringsherum gab es nur aristokratische oder von Tyrannen beherrschte Gemeinwesen. Perikles aber muBte das gróBte Gewicht darauf legen, daB in der neuen Kolonie die Volksherrschaft gesichert werde; dies nicht etwa aus theoretischer Liebhaberei, sondern aus dem praktischen Grunde, weil nur unter dieser Voraussetzung Thurii als Stútzpunkt der attischen Politik in Westgriechenland behauptet werden konnte. Ist es doch bekannt, daB die Gegner-

schaft zwischen den beiden fúhrenden Staaten von Hellas sich nicht zuletzt in dem aristokratischen und dem demokratischen Verfassungs-

prinzipe ausgedriickt hat; der Abfall von Athen und die Beseitigung der Volksherrschaft waren meist zusammenfallende Ereignisse. Wenn daher Protagoras, wie es wahrscheinlich ist, auf Empfehlung des Perikles, mit der Ausarbeitung der Gesetze von Thurii betraut wurde, so hatte er dabei offenbar die Mission, eine Verfassung nach

dem Muster Athens zu entwerfen. Damit

stimmt vollkommen die

Nachricht des Diodor?, daB Thurii eine demokratische Verfassung angenommen und sogar die attische Einteilung in zehn Phylen rezipiert hat? Wir sind jedoch in der Lage, festzustellen, daB unser Sophist sich auf eine bloSe Kopie nicht beschránkt hat, sondern bemiht war, durch originelle Zutaten den Bau der demokratischen Verfassung in Thurii zu sichern, Zutaten,

welche in Athen

entbehrlich

waren, aber durch die exponierte Lage der Kolonie gerechtfertigt erscheinen. Dies 148t sich, allerdings nur indirekt, aus Mitteilungen von

Aristoteles erschlieBen.

An 2wei Stellen der Politik behandelt Aristoteles die Verfassungs-

) XI 11, 3. %) E. Szanto, Die griechischen Phylen, S. 26. 71

geschichte von Thurii!, Zuerst (V, 6, 1307 a, 27 ff.) berichtet er úiber eine politische und soziale Revolution, durch welche die Vorherrschaft der Vornehmen beseitigt und ibr tibermáfiger Grundbesitz

an

das

Volk

iibertragen

wurde.

Bald

darauf

(V, 8,

1307 b,

7 ff.) schildert er die Umwandlung der herrschenden demokratischen Verfassung in eine militárische Oligarchie. Da es Aristoteles hierbei

Wohl

aber paBt diese Bezeichnung

auf den Rechtszustand,

welcher

vor der an der zweiten Stelle (1307 b, 8 ff.) geschilderten Wandlung gegeben war. Mithin wáre die historische Abfolge: Demokratie, militárische Oligarchie, Aristokratie des Grundbesitzes, gemáBigte Demokratie. Zu welcher Zeit diese Verfassungsánderungen vor sich gegangen sind, 148t sich nicht mit Sicherheit feststellen. Eduard Meyer

die historische

nimmt an, daB die demokratische Verfassung Thuriis nur von kurzer

Verwertung seiner Notizen von jeher groBe Schwierigkeiten gemacht.

Dauer gewesen und schon um 434, 3, also 10 Jahre nach der Griindung, zugleich mit dem Sturze der athenischen Partei beseitigt worden sei. Ich glaube jedoch, daB dieses Ereignis zwanzig Jahre spáter, nach dem ungliicklichen Ausgang der sizilischen Expedition, eingetreten ist; stand doch Thurii, wie uns Thukydides berichtet, noch 414 auf Seite Athens. Es kónnen daher unmóglich schon 434 ,,die letzten Anhinger Athens die Stadt verlassen haben”. Fir unsere Untersuchung ist iibrigens diese chronologische Streitfrage nicht von entscheidender Bedeutung. Uns handelt es sich darum, den eigentimlichen Charakter der urspriinglichen demokratischen Ver-

unterlá8t,

chronologische

Daten

anzugeben,

so hat

Dies umsomehr, als der sonst fúr die Geschichte Unteritaliens und Siziliens maBgebende Autor, Diodor, tiber jene Ereignisse der inneren Geschichte Thuriis schweigt, wihrend er tiber die duBeren Konflikte

dieser Kolonie,

insbesondere

tiber die Kriege

mit

Nachbarstidten

ausftibrlich berichtet. Zunáchst

muB

betont

werden,

daf es vollkommen

verfehlt wire,

aus der Stellung der beiden aristotelischen Mitteilungen einen Schlu3 auf die Zeitfolge der geschilderten Verfassungswandlungen zu ziehen. Jene Mitteilungen dienen námlich nur dazu, um politische Lehrsátze

zu illustrieren. In der ersten Stelle handelt es sich fir Aristoteles darum, ein Beispiel dafúr zu geben, wie sich die Aristokratie in eine Demo-

kratie umwandelt,

wenn

die Vornehmen

das Prinzip der relativen

Gleichheit verletzen und die Armeren Klassen wirtschaftlich unter-

driicken. An der zweiten Stelle soil — ebenfalls an dem Beispiele Thuriis — gezeigt werden, wie gefáhrlich es ist, ein scheinbar nebensáchliches Stiick der Verfassung zu opfern, indem alsbald andere Teile der Verfassung beseitigt werden und schlieBlich ihr ganzer Bau zusammensinkt. Es waren also theoretische Gesichtspunkte dafiir maBgebend, da8 iiber die Verfassungsánderungen in Thurii gerade in jener Reihenfolge berichtet wird, wie sie in der ,,Politik" vorliegt. In der Tat kann dariber kaum ein Zweifel bestehen, daB die geschichtliche Reihenfolge gerade die umgekebrte gewesen ist. Wenn

námlich Aristoteles an der ersten Stelle davon berichtet (1306 a, 27), daBin Thurii ein hoher Census fiir die Erlangung von Staatsimtern bestand, so kann das unmáglich die urspriingliche Verfassung gewesen sein, welche Diodor als , roMreupa Enpoxpatmóv” bezeichnet. 1) Vgl. zum folgenden Busolt, Griech. Geschichte III, S. 533, Note 4, Pappritz, Thurii, S. 51, Susemihl, Anm. 1602—1606 zu Aristot. Polit., Gilbert, Griech, Staatsaltertimer, TI 2. Aufl. S. 244, Note 1, 344. Note 2.

72

fassung von Thurii herauszuheben, wofiir uns eben jener Bericht-von Aristoteles die Unterlage

bildet. Er lautet:

cuvéfin 32 totite ual ¿m v Boupivy nolizcias. vópov ¿0v otpatnyely, yevópevol ves moAepnol TY vemTÉPOYV [6y ppoupav] edboxipobvtec, natappovicavtes TV v vopttovtec pebles aataayfostv, TODTOV TOv vépay et o’ ¿Estvar uvey@s Todg adrOLS orparmyetv, ópúvtes dy

yap bvros Bk mévre 2al TAh T TAÑDEL tols mpdypaor Xal Emeyeloncay mpútoy, oy adrobE YEIpo-

tovicovTa ToodUNas, ol B Enl todtO Teraypévor TV doyóvioy, ol xaXobpevor 1 ) So Meyer, Gesch. d. Altertums IV, $ 435. Derselbe erblickt námlich in der von Diodor XIT, 35 berichteten Entscheidung des delphischen Orakels tiber die Frage, wer als Griinder der Stadt zu gelten habe, emen Bruch mit Athen. In-

dem jedoch das Orakel weder die Anspriiche der Peloponnesier noch jene der Athener anerkannte,

sondern Apollo selbst als Oikist hinstellte, nahm

es im

Parteikampfe eine vermittelnde Stellung ein, DaB Herodot, ein ausgesprochener

Parteigánger Athens, Thurii schon 440 verlieB (Meyer, $ 399), beweist gar nichts; dafiir kónnen die verschiedensten Griinde mafigebend gewesen sein. Vom Redner

Lysias wissen wir jedenfalls, da8 er bis 411 in Thurii geweilt hat. Dic Stellen bei Thukydides, welche die enge Verbindung mit Athen bezeugen,

VII 33, 35, 57. Danach haben Heeresmusterung gehalten und sich daher die demokratische Schwankungen, in Thurii bis

sind VI 104,

die athenischen Feldherren im Gebiete von Thurii steliten die Thurier sogar Hilfstruppen. Es diirfte Verfassung, wenn auch vielleicht mit gew¡ssen 413 gehalten haben.

73

abpBoviat, éppricavee; TO Tpdtov EvaviioSabar cuveneiciany Eralapfdvovtes TOBTOv wvfisavtag Tdv vópov ddoety Thy ANAN moXirelav, Botepoy 8¢ fouddpevor Xey EAAoV mvoupévoy odxén TEOy Enolouy odBEv, ¿IZ peréficley Y) tdfig Tása vij¢ makelag elg Eovactelay T Emyeronodvrios vewtepítery. Was zunáchst den Text betrifft, so werden die eingeklammerten Worte ,,tú ypoupúy, welche sich in der Tat in einigen Handschriften nicht finden, von Susemihl und Pappritz gestrichen; wie ich glaube, mit Unrecht. Es wirde námlich dann heiBen, daB einige kriegstiichtige und bei der Menge (dem Volke) beliebte jiingere Mánner diejenigen Leute verachteten, welche die Gescháfte fúbrten. Es

wáre aber sonderbar, daB Mánner, welche die aus dem Volke erlosten

kónne. Eine Anderung dieser Vorschrift konnte es ermóglichen, daB

dieselben Offiziere ununterbrochen zu Strategen gewáhlt werden, wodurch sie die Leitung des Staates in die Hand bekámen. Die Symbulen (von denen alsbald die Rede sein wird) widersetzten sich zwar anfangs dieser Gesetzesinderung, gaben aber schlieBlich in der Hoffnung nach, daB die Neuerer sich damit zufrieden geben und die úbrige Verfassung unangetastet lassen werden. Als jedoch spáter auch andere Bestimmungen der Verfassung angefochten wurden, bemiihten sich die Symbulen vergeblich, dies zu hindern; die ganze bestehende Verfassung ging in ein oligarchisches Regiment jener Mánner iiber, von welchen die Neuerung ausgegangen war, d. h. der Truppenfiihrer.

oder gewihlten Staatsorgane gering schátzen, bei demselben Volke

HT

beliebt gewesen seien; der Demos hátte sich ja dann selbst ins Gesicht geschlagen. Dagegen hat es einen guten Sinn, wenn von Aristoteles berichtet wird, daB jene jiingeren Offiziere bei der Mehrheit der Wachtruppen, zapú T6 TMDE TÓV ppovpúv, beliebt gewesen sind!.

Mit Rúcksicht auf die stets drohenden Einfálle ráuberischer Vólkerschaften und die háufigen Konflikte mit benachbarten Stádten Unteritaliens waren die Thurier genótigt, ein kleines stehendes Heer zu halten. DaB diese époupol nicht gerade demokratisch gesinnt waren,

ist selbstverstándlich, Finden wir doch auch in der anderen Stelle tiber die Verfassungskámpfe in Thurii (Arist. Pol. 1307 a, 27 ff.) diese Besatzungstruppen als Stitze der oligarchischen Partei hervorgehoben; sie werden von dem kriegsgetibten Volke iiberwiltigt und damit wird die Demokratie wieder hergestellt (5fjpog yopvaodels ¿v T6

ToAéy T@Y ppoupdv Eyéveto xpeítrmv).

!

Von den Offizieren dieser Mannschaft ging auch der erste Angriff

auf die demokratische Verfassung aus. Es wurde jedoch nicht ein Staatsstreich versucht, sondern der verfassungsmáBige Weg eingeschlagen; offenbar fúblten sich die Fiihrer der Truppen nicht stark genug fiir einen Gewaltakt. Thr Augenmerk war zunáchst darauf gerichtet, eine Bestimmung der Verfassung zu beseitigen, welche ihren ehrgeizigen Bestrebungen besonders hinderlich war, Es bestand námlich in Thurii, so berichtet uns Aristoteles, ein Gesetz, daB innerhalb

fúnf Jahren niemand von neuem die Wiirde eines Strategen erlangen %) DaB

der Demos

ihnen schlieBlich nachgab,

war nicht die Folge ihrer Be-

liebtheit, sondern ihrer Macht, welche dem Volke und seinen Organen Furcht einfióBte: man denke an die griechische Offiziersliga unserer Tage.

74

Der

Ausdruck

,,sónBov2a”

zur Bezeichnung

eines staatlichen Or-

ganes findet sich nur noch in Sparta. Hier wurden die den Feldherren bisweilen zur Kontrolle beigegebenen Kommissire Symbulen genannt!. Es handelt sich hier nicht um eine stándige Einrichtung, sondern um fallweise bestellte, auBerordentliche Funktionáre?. Schon ein fliichtiger Blick auf die aristotelische Notiz belehrt uns, daB die

Institution der aónfoulo: in der Verfassung von Thurii nicht die geringste Verwandtschaft mit den gleichnamigen spartanischen Abgesandten

besitzen.

Es handelt

sich vielmehr

um

ein

Staatsorgan,

welches in den ProzeB der Gesetzgebung entscheidend eingreifen konnte. Gegen den Willen der Symbulen konnte in Thurii ein bestehendes Gesetz nicht aufgehoben oder abgeindert werden. So viel 148t sich aus der Darstellung von Aristoteles mit Sicherheit ableiten. Schwieriger ist es freilich, den staatsrechtlichen Charakter der Sym-

bulen im einzelnen náher zu charakterisieren. Um so gróBer ist der Anreiz, in dieser Richtung eine Untersuchung anzustellen. Bevor darauf eingegangen wird, mógen einige Bemerkungen den Gebrauch des Wortes cópfouXor bei Plato vorausgeschickt den. Es 148t sich námlich feststellen, daB jenes Wort bei ihm bloB in der allgemeinen Bedeutung von ,,-Ratgeber verwendet

iiber wernicht wird,

1) Uber solche Fálle berichtet Thukydides II, 85, ITI, 69, V, 63. Wenn ein Feldherr unglicklich operierte oder sich ohne Not mit dem Gegner in Vertragsver-

handlungen einliefi, wurden ihm abpfonior beigegeben.

?) Erst um 418 scheinen sie sich zu einer stándigen Behórde ausgebildet zu haben,

74 einer Art von Kriegsrat.

75

| i |

sondern schon eine politische Fárbung, eine Beziehung zur demokra-

fen. Schon nach einem Gesetze Solons! konnte kein Gegenstand auf

tischen Verfassung besitzt. Sehr charakteristisch erscheint in dieser Beziehung Protagoras p. 319 b, ¢, d. Hier werden die Redner und Antragsteller in der Volksversammlung als Symbulen bezeichnet. Handelt es sich um Beschliisse tiber technische Fragen, so werden gewohnheitsmáBig nur Sachverstándige als ,,Ratgeber” zugelassen. In den eigentlich politischen Fragen lassen aber die Athener, wie Sokrates bemerkt, jeden Biirger als Sym-

die Tagesordnung

bulen zu, als ob die politische Tichtigkeit allen von Natur innewohne.

In der sich darin schlieBenden

bekannten

Rede! sucht Protagoras

es zu rechtfertigen, daB die Athener, wenn es sich um Beschliisse tiber

die Steatsverwaltung handelt, alle Biirger gleich behandeln (Prot. 323 a). Auch im Dialog Theiitet werden diejenigen, welche als Redner die Volksbeschliisse herbeifithren, mit dem Worte ,Eopfovka’ bezeichnet (p. 172 a), gleichbedeutend mit den ,,weisen und guten Rednern, welche bewirken, da3 den Staaten das Gute anstatt des Schlech-

ten gerecht zu sein scheine Im

Sinne

Platos

sind

(Theátet p. 167 c).

nun freilich die ,,Ratgeber”

jene

Redner,

welche die Beschliisse der Volksversammlung fa ktisch beeinflussen, wáhrend die Symbulen in Thurii offenbar eine juristische Funk-

tion in dem legislativen Prozesse ausgeiibt haben. Allein trotz dieser erheblichen Differenz kann aus der Gleichheit der Bezeichnung doch wohl der SchluB gezogen werden, daB die aúpfouXot, tiber welche Aristoteles berichtet,

Ekklesia

Funktionáre waren,

zu verhandelnden

welche

Gesetzesantrag

úber einen in der

ein Votum

abzugeben

hatten. Tm attischen Staatsrechte bestehen nun drei Institutionen, welche als Analogie fúr diese Tátigkeit der Symbulen herangezogen werden kónnen : Der Rat der Fiinfhundert als vorberatender Kérper,

die Behórde der Nomophylakes und

jene der Thesmotheten.

Eine

kurze Betrachtung dieser Einrichtungen dúrfte sich fiir das Verstándnis der aristotelischen Stelle als niitzlich erweisen. . Es ist bekanntlich eine wichtige Aufgabe der attischen flov)y, úber die Gegenstinde, welche der BeschluBfassung der Volksversammlung

zu unterziehen sind, eine Vorentscheidung, das pofoóXeupo, zu tref1) S. dariiber meine

oben

S. 70, Note

7 zitierte Abhandlung.

Es wird spáter

gezeigt werden, daB Protagoras mit dieser demokratischen Lehre keineswegs in Widerspruch geraten ist, wenn er die Verfassung von Thurii etwas abweichend vom athenischen Vorbilde gestaltet haben sollte.

76

der Ekklesia gestellt werden,

tiber welchen

nicht

das Ratsgutachten vorlag und Aristoteles berichtet das Gleiche als geltendes Recht*. So lautet denn auch die Sanktionsformel der Volksbeschliisse vor Euklid: #8oe «7 B0vX7 xal T6 Eápy*. Dabei konnte aber der Rat sich auch auf die formale Einbegleitung eines Gesetzesantrags beschránken, ohne einen meritorischen Antrag zu stellen; iiberhaupt

war der materielle Inhalt der Ratsentscheidung ftir das Volk nicht bindend; sie konnte, wie sich aus den Inschriften ergibt, ganz oder teilweise abgeándert werden*. Das Probuleuma war also nur ein formales Erfordernis ftir die Behandlung eines Antrags in der Volksversammlung. Ja es konnte der Rat von der Ekklesia direkt beanftragt werden,

sein

Gutachten

zu erstatten3.

Es

ist daher

unzutreffend,

wenn Perrot von einem Vetorechte der attischen BovAñ spricht*; ebensowenig kann das Institut der sogenannten Vorsanktion” in der modernen Monarchie als Analogie herangezogen werden. Die Funktion, welche nach Aristoteles die Symbulen in Thurii be-

saBen, war eine tiefer greifende. Ohne ihre Zustimmung konnte ein bestehendes Gesetz nicht aufgehoben werden. Sie kúnnen schon deshalb nicht mit dem,,Rate”

als eine

zusammenfallen, weil sie von Aristoteles

Regierungsbehórde

solchen Beamtencharakter

,, Zpyovrec”

besaBen

bezeichnet

werden.

Einen

in der Tat die attischen ,,Gesetzes-

wachter”. Leider sind wir tiber die Stellung dieser Nomophylakes nur sehr ungenau unterrichtet *. Eingeftbrt wurden sic um die Mitte des fiinften Jahrhunderts gelegentlich der demokratischen Reform der Verfassung durch Ephialtes. Die Nomophylakes' tibernahmen

1) Plutarch, Solon c. 19. %) Staat der Athener, c. 45, 4. %) S, dartiber Hartel, Studien z. att. Staatsrecht, S. 226, und fur die anderen griechischen Staaten Swoboda, Criechische Volksbeschlisse, S. 36, 59, 74. %) Hermann-Thumser, Staatsaltertiimer, II, S. 481. %) Hartel a. a. O., S. 183 1f. 5) ,Si le Sénat et les Thesmothétes ne se croyaient pas tenus d'interposer leur veto ... Von einem Vetorechte kann man doch nur sprechen, wenn ein bereits gefaBter BeschluB entkraftet wird. %) D. i. die Ermichtigung zur Einbringung eines Gesetzentwarfes, %) Vgl. dartiber Perrot a. a. O., p. 169 ., Hermann-Thumser, S. 518, Note 5, Ed. Meyer, Bd. I, $ 318 A und Bd. 5, Vorrede, Lipsius, Das attische Recht, 1S. 35, 77

…Í._1 p

cinen Teil der kontrollierenden Funktionen des Areopags; náheres ist uns iiber die Kompetenz derselben nicht bekannt. Am Ende des fúnften Jahrhunderts wurden die ,Gesetzeswáchter abgeschafft*; wieerst die Verfassungsreform des Demetrios von Phaleron enthált

der diese Institution. Nach Philochoros? hatten die Gesetzeswáchter

saBen dafir zu sorgen, daB die Magistrate die Gesetze einhalten; sie

im Rate und in der Volksversammlung an der Seite der Proédren mit

zuder Befugnis, Beschliisse 24 verhindern, welche dem Staatswohle

widerlaufen. Ob auch schon die álteren Nomophylakes des fiinften Jahrhunderts eine so wichtige Funktion besaBen, 14Bt sich nicht bestimmen; auffallend ist es jedenfalls, daB Aristoteles sie mit keinem Worte erwáhnt; Demosthenes enthált gleichfalls keine Andeutung

attischen Redner1 1áSt sich schlieBen, daB das Gutachten der Thesmotheten vorliegen muBte, bevor eine Gesetzesrevision angenommen werden konnte?. Zur Zeit des Perikles diirfte ibr EinfluB jedenfalls bedeutend

gewesen

sein.

Da nun nach Aristoteles die Symbulen in Thurii die gleiche Funk-

tion besaBen, wie die Thesmotheten in Athen, so haben wir es hier offenbar mit einer Rezeption des attischen Staatsrechtes zu tun. Wesentlich gestiitzt wird diese Annahme dadurch, daB die cúpBouXor als doyovrec? bezeichnet werden (Arist. Pol. 1307 b, 14) und zwar als solche Archonten, welche fúr jene Aufgabe (Xúewv tbv vópov) bestellt waren (3wl todtw terayuévo:). Da nun auch die Thesmotheten ein Kollegium von Archonten bedeuten, und zwar der sechs letzten,

die

so dirfte ein Zweifel iiber die Identitát kaum bestehen bleiben. Wenn

Nomophylakes zur Zeit der Griindung von Thurii (443) staatsrechtliche Bedeutung besessen haben konnen. Etwas genauer sind wir tiber die Thesmotheten* unterrichtet. Nach Aristoteles (Staat der Athener, cap. 8) wurden die sechs letzten Archonten unter demNamen der Thesmotheten erst spáter cingeftibrt, nachdem in der áltesten Zeit die drei ersten Archonten (Konig, Kriegsoberster und Archon im engeren Sinne) allein die Regierung geftibrt haben. Die Thesmotheten hatten die alten Rechtssatzungen

daher die Symbulen von Oncken als ,, Ratsherren” bezeichnet wer-

tiber diese

Institution.

Dies

schlieBt

aber

keineswegs

aus,

daB

aufzuschreiben und ftir den Gebrauch vor Gericht aufzubewahren.

Ausfithrlich werden sodann im 59. Kapitel ibre Funktionen in dem zur Zeit des Aristoteles geltenden Rechte geschildert. Dabei sind allerdings in erster Linie die umfassenden richterlichen Funktionen

der Thesmotheten aufgezúhlt*. Es finden sich jedoch auch Andeutun-

gen úber ihren EinfluB auf die Gesetzgebung, indem ihnen die In-

struktion der Klagen, betreffend die Gesetzwidrigkeit oder die Un-

zweckmiBigkeit eines Gesetzesantrages (ypapds Tapavépwy xel vópov iy Encrhbeav delvo) zugewiesen erscheint. Aus einzelnen Stellen der

1) Das geht aus einem Papyrusblatt hervor, welches B. Keil 1901 unter dem $.170. Titel , Anonymus Argentinensis” herausgegeben und kommentiert hat, bes. Nomophyder g Einsetzun der von Notiz jene da an, allerdings nimmt Meyer lakes unter der Herrschaft der 30 Tyrannen handle. Dafi die Oligarchen Gesctzeswichter eingesetzt haben, ist jedoch wenig wahrscheinlich. ) Zitiert im Lex, Rhet. Dobr. 674; s. Grote, Griech. Gesch., 2. dentsche Ausgabe, III, $. 286, Lipsius, S. 36, Note 114, 5 Vel. im aligemeinen Hirzel, Themis, S. 340 £f. 4) S. daríiber J. H. Lipsius, Das attische Recht, T, S. 63 ff. 78

den *%, so ist das unzutreffend. Freilich erhebt sich nunmehr die Frage, warum mit der Sache nicht auch der Name rezipiert wurde, weshalb

also die attischen Thesmotheten in der Verfassung von Thurii anders benannt warden. Ich glaube dafir folgende Erklirung geben zu kón-

nen. Nirgends auBer in Athen werden die Gesetze als $eopoí bezeichnet ; sowohl die Gesetze des Lykurg als die des Zaleukos und Charondas heiBen vópot5. Indem nun das Institut der Thesmotheten * an den nur aus der attischen Geschichte verstándlichen Ausdruck ,, Veopol* ankniipít, mufte es bei seiner Verpflanzung in eine andere Verfassung

seinen Namen, fúr den auBerhalb Athens das Verstindnis fehlte, ablegen. Warum gerade die Bezeichnung ,,Symbulen” gewihlt wurde, 1) Demosth.

XXIV

20, Aeschin.

e. Ctesiph.

38.

%) So sagt demn auch Perrot p. 157 úber die Thesmotheten: ,,II est probable, que lorsqu'une proposition leur paraissait trop manifestement contraire & tout Vesprit de la législation Athénienne et aux intéréts de l'État, ils avaient le droit de refuser leurs assentiments et d'arréter ainsi au début toute Vaffaire.“ Spiter driickt sich Perrot dahin aus, daB die Thesmotheten ebenso wie die fouy ein

Vetorecht gegen Gesetzesantráge besessen haben. 3) DaB dieser Ausdruck im technischen Sinne zu nehmen ist, ergibt sich daraus, dafl Aristoteles in seiner Politik auch an anderen Stellen die,, Archonten”

nicht in der aligemeinen Bedeutung von Beamten, sondern als hichste Regierungsorgane gebraucht,

so

1301 b, 25 (5 ¿pyov)

und

1306a

(épyovu pscidiy).

4) Die Staatslehre des Aristoteles II, S. 243. %) Hirzel,

Dike

S. 345.

%) ,,Drakon und Solon haben ihre historische Aufgabe als Thesmotheten gelóst “

(Hirzel, S. 348.)

7%

14Bt sich natiirlich schwer feststellen. Wenn man erwágt, daB dieselben die Aufgabe hatten, das Volk in bezug auf die Anderung der Gesetzgebung zu beraten, so hat diese Nomenklatur nichts Auffálliges. Wie wir oben auf Grund einer Stelle aus Platos Protagoras gesehen haben, wurden die Redner und Antragsteller in der athenischen Volks-

versammlung als cónfoulo bezeichnet. Warum sollten nicht jene wichtigen Beamten diesen Namen erhalten, deren Aufgabe es war, durch ihr Votum die Verhandlung von Gesetzesantrágen in der Ekklesia einzuleiten? Sie waren gleichsam die privilegierten Ratgeber .

des Volkes.

Bedeutet also diese Einrichtung keine wesentliche Abweichung von dem athenischen Vorbilde der demokratischen Verfassung, so

liegt allerdings eine Eigentiimlichkeit der Konstitution von Thurii in dem von Aristoteles tiberlieferten Gesetze, dafi ein Stratege erst nach fiinf Jahren wieder wihlbar sei. In Athen konnten die Feldherren immer wieder gewáblt werden; Perikles bildet das typische historische Beispiel. Ist es auf den ersten Blick nicht merkwirdig, daB die unter der Patronanz des groBen Staatsmannes gegriindete Kolonie jene verfassungsmáBige Schranke aufstellte? Die Erklárung ist nicht schwierig. Dem national einheitlichen, demokratisch gesinnten

Volke

von

Athen

drohte

keine

Gefahr

eines

Umsturzes,

wenn

auch sein Vertrauensmann immer wieder mit der Feldherrnwiirde bekleidet wurde. Militárdiktatur dagegen bildete ches vermutlich

In Westgriechenland war ein giinstiger Boden fiir und Oligarchie. Eine verfassungsmáBige Schutzwehr eben das Verbot der Wiederwahl der Strategen, welProtagoras bei der Abfassung der Konstitution von

Thurii aufgestellt hatte; hier konnte er vollkommen bewuBt von dem athenischen

Muster

abweichen,

gerade im

Interesse der Erhaltung

des Gleichheitsstaates. Wie Recht er hatte, beweist gerade die Erzáhlung des Aristoteles. Neben den eigentlichen Verfassungsgesetzen besaB Thurii eine Vorschrift von eminent sozialem Charakter ; der in einer Hand vereinigte Grundbesitz durfte cin gewisses Máximum nicht tiberschreitén. Aristoteles berichtet námlich, daB ,,die Vornehmen widerdasGesetz

den ganzen Grundbesitz an sich gerissen hátten“, daB aber mit dem Siege des Volkes

tiber die Oligarchen

,,diese genótigt

wurden

alles

Land herauszugeben, welches sie zuviel besaBen“. (Pol. 1307 a, 30—35.) Obwohl nun dieses Agrargesetz erst bei der zweiten Ver80

fassungswandlung erwábnt wird — bei der Umwandlung der Aristokratie in eine Demokratie — soist doch nicht zu bezweifeln, daB jenes

gegen den Latifundienbesitz gerichtete Verbot bereits in der ersten, demokratischen Verfassung Thuriis enthalten war. Haben doch die Oligarchen gewiB kein Interesse daran gehabt, eine solche Beschránkung einzufithren. Sie scheinen aber eine ausdriickliche Aufhebung jenes Gesetzes nicht bewerkstelligt zu haben; sonst kénnte Aristoteles nicht berichten, daB die Anháufung des Grundbesitzes mapú tbv vépov erfolgt sei; dies setzt wohl eine fortdauernde Geltung voraus. Die herrschenden Aristokraten fithlten sich offenbar máchtig genug,

um das Gesetz faktisch aufier Kraft zu setzen. Als soziale Schutzwehr der Demokratie hatte demnach schon die erste Verfassung von Thurii die Vorschrift enthalten, daB der Grundbesitz ein gewisses MaB nicht tiberschreiten dirfe. Ich vermute, daB

Protagoras diese Anordnung der Verfassung Solons entnommeñ hat. Bei Aristoteles (Pol. I, 7, 4, 1266b) ist námlich zu lesen : 8w pdv obv Eyet tvú, Dvequy elc viy moherniy xoweviay 3 *Ac odafas ópaXórae, al BV TáXar tuvec gaivoytan deyvwnbres, alov aal ZóXwv Evopodérnaev. Wir erfahren dabei freilich nicht, in welcher Weise das HóchstmaB

des zulássigen Grundbesitzes fixiert wurde, ob der iibersteigende Realbesitz expropriiert wurde oder nur eine Frist zum freien Verkaufe desselben vom Gesetze angeordnet war. Jedenfalls billigt der Stagirite diese und áhnliche auf Erhaltung eines mittleren Grundbesitzes gerichteten Staatsgesetze. Er sagt an einer anderen Stelle (Pol. VII, 2, 4, 1319 a): ,,... dazu sind gewisse Gesetze zweckmiBig, wie sie voralters bestanden, welche verordneten, daB entweder tiberhaupt nicht erlaubt sein solle, tber ein gewisses MaB hinaus Grundbesitz zu haben oder doch innerhalb einer gewissen Náhe der Stadt oder ihres Weich-

bildes oder, wie dies in alter Zeit in vielen Staaten Gesetz war, es verboten, die urspringlich den Familien zugelosten Gúter zu verkaufen” usw. DaB tibrigens das von Aristoteles angezogene Gesetz Solons zur Zeit der groBen Redner in Athen schon in Vergessenheit geraten war, sehen wir aus Demosth.

XXIIT,

208, p. 689. Zur Zeit der Griindung

von Thurii mag jedoch die Erinnerung daran noch lebendig gewesen sein, so daB es nichts Auffálliges hat, wenn es in der Verfassung der

neuen Kolonie wieder auftaucht. Eine gróBere Selbstindigkeit scheint die Privatrechtsgesetz6

81

DRITTE

allerdings nur tiber gebung von Thurii besessen u haben. Wir sind einige Fragen

des Kaufkontraktes

náher unterrichtet,

welche

rke von Stobáus dem Berichte des Theophrast in dem Sammelwe Mag aLECh mancl}es . haben ren (44, 22) eine eigenartige Regelung erfab n sein, so mxst omme den Handelsgewohnheiten Unteritaliens entn men, sich hier Protagoras, wenn er, wie wir anneh

DIE

níích

die Gesetze redi-

giert hat, als schopferischen Geist*.

der Wissenschaíten, 1) Náheres in meiner Abhandlung (kgl. sichs. Gesellschaft N Bd. 62, S. 217 ff.).

ABHANDLUNG

SOZIALPHILOSOPHISCHEN PROTAGORAS:

LEHREN

DES

Inbaltsbcrsicht: 1. Einleitung. TI Urgeschichtslehre. III Staatslehre. IV. Ethik und Rechtslehre. V. Strafrechtstheorie und Sozialpadagogil. 1. Einleitung Seine Berithmtheit hat der groBe Sophist eigentlich weniger durch seine sozialphilosophischen Lehren erlangt, als vielmehr durch den bekannten Ausspruch, daB der Mensch das MaB aller Dinge sei, der Seienden, wie sie sind, der Nichtseienden, Satz ist uns von verschiedenen antiken

wie sie nicht sind. Dieser Autoren, vor allem von

Platon in authentischer Fassung tiberliefert?. Er war in einer Schrift des Protagoras enthalten, welche den Titel ,, Wahrheit“ (22í9ea) gefithrt hat. Sie ist freilich nicht erhalten; wir wissen daber auch nicht, welche Erliuterungen des MaBsatzes darin etwa vorgekommen sind. Schon bald nach dem Tode des Sophisten scheint dariiber UngewiBheit geherrscht zu haben, wie sich aus Platons Dialog , Theátet“ ergibt. Jedenfalls handelte es sich um eine eigenartige Theorie der Erkenntnis; ob sie mit der Theorie menbing, wie dies Platon andeutet, ist unsicher.

Heraklits znsamDamit haben wir

uns hier nicht zu bescháftigen. Nur eine Streitfrage móge in Kiirze erwihnt werden. Was bedeutet in jenem

Satze der Ausdruck

,,Mensch'?

In dieser

Richtung stehen sich in der Literatur zwei Auffassungen gegeniiber. Die herrschende nimmt an, daB der Einzelmensch gemeint sei, nicht der Mensch in abstracto; es gibt nur ein individuelles Wissen von der AuBenwelt. Demzufolge wáre Protagoras der Begriinder einer subjektivistischen, im Grunde skeptischen Erkenntnislehre. So scheint es auch Platon im Dialog ,, Theátet “ anzunehmen. Dies wird

1) Zum Teile schon behandelt in dem Aufsaize ,,Protagoras als der álteste Theoretiker der Demokratie in der ,Zeitschrift fúr Politik" Bd. IT (1910) und in der ,Osterreichischen Zeitschrift fir Strafrecht” Bd. 1 (1910). 2) vy xpmILdvoy párpov Avdpunos, «y pav vi dc Eowy, Wy 08 b Evrav dg obx Eoto."t Bestritten ist dabei, ob das Wortchen dg mit ,daB" oder mit ,,wie" wiederzugeben ist, da es beides bedeuten kanu, Das letztere dúrfte vorzuziehen sein, da es nicht nur auf die Existenz, sondern auch auf die Eigenschaften der Dinge ankommt. 82

6*

83

jedoch von einzelnen Gelehrten, besonders von Th. Gomperz al.s‘ ein

ist jedoch ganz falsch, daraus zu folgern, daB es keine Weisheit gibt

hinihm die Dinge erscheínen, so sind sie fr thn wirklich; dartiber

verschieden, mag man sie auch alle als wabr bezcichnen. Es gibt bessere und schlechtere Wahrnehmungen und Meinungen. Der Weise bewirkt, daB jeglichem an Stelle des Schlechten das Gute erscheint

MiBverstindnis bezeichnet. Sie lehren, daf in jenem MaBsatze md'ft der Einzelmensch gemeint sei, sondern der Mensch als Genus. W¡e

aus kónnen wir nichts wissen. Danach wire Protagoras ein Vorginger der kritischen Erkenntnislehre von Kant. Ich halte diese Gegentiberstellung einer generellen und einer indi~ viduellen Interpretation des MaBsatzes fiir verfehlt. Nach meiner Ansicht hat Protagoras allerdings zunichst den cinzelnen Menschen im Auge gehabt; der Mensch in abstracto kann nicht sehen, héren oder urteilen. Allein diese Bezichung auf den Einzelmenschen fithrt durchaus nicht zu cinem trostlosen Subjektivismus. Es handelt sich eben darum, die besonderen Eindriicke zu vergleichen und kritisch zu ordnen. Die Erfabrung des Einzelnen bildet nur den Ausgangspunkt der Wissenschaft. Protagoras hat diesen Gesichtspunkt auch in seiner ihm von Platon in den Mund gelegten Verteidig\.lflgs‘ rede angedeutet, von welcher ich alsbald eine Hauptstelle zitieren werde.

Vorher

sei nur darauf hingewiesen,

daB kein Geringerer

als

Goethe das bertihmte Diktum des Protagoras in einem mebr ob-

jektiven

Sinne aufgefaBt hat. Er bemerkte in einem Gespráche

mit

Riemer vom 2. August 1807: ,, Wir mógen an der Natur beobachten,

MaB und messen und wágen, wie wir wollen, es ist doch nur unser k Ausdruc Der * Gewicht; der Mensch ist das Maf aller Dinge.” in ensch , Wir” deutet darauf hin, daB nicht ein beliebiger Einzelm

Betracht gezogen wird, sondern die aus der Vergleichung der menschlichen Meinungen sich ergebende, praktisch wertvolle Auffz?.ssung;

menschlich bleibt sie aber trotzdem noch immer. Hóren wir nunmehr die Rede unseres Sophisten (,,Theátet” p. 166 ££.). . Meine Behauptung ist es, daB jeder seine ihm eíg_entiímlichep Wahrnehmungen hat. Wenn sie stattfinden, erfolgt diese Ergchek will, so nung fúr ihn allein, oder wenn man das ein Sein nennen

es. ist es fúr den, dem es erscheint. Das ist der Sinn meines MaBsatz

tausendfach Deshalb behaupte ich, daB jeder sich von dem anderen

ist und erdadurch unterscheidet, daB fúr den einen etwas anderes

und daB alle Erscheinungen gleich gut sind. Ihr Wert ist durchaus

und ist, geradeso wie der Arzt einen besseren kbrperlichen Zustand herbeifithrt. So kann auch erzielt werden, daB einer, der infolge schlechter Seelenverfassung auch schlechte Vorstellungen besitzt, durch gute Beschaffenheit der Seele auch ihr entsprechende gute Vorstellungen erlangt; nur aus Unkenntnis werden wahr bezeichnet, wihrend ich sie nur besser nenne;

sind alle Vorstellungen.* Mit diesen Ausfiihrungen erweist sich Protagoras als Vorgánger jener, besonders in England und Amerika verbreiteten philosophischen

mus

Schule,

welche

bezeichnet.

sich als

Einer ihrer

oder

Humanis-

Professor

F. C.

S.

Sophisten

als den ersten

weisen,

Vertreter dieser Weltanschauung

derzufolge die Niitzlichkeit und Fruchtbarkeit

kenntnis den MaBstab

fir die Wahrheit

abgebe.

hinzu-

einer Er-

In der philologi-

schen Literatur úber den Dialog ,, Theñtet” fehlt freilich jeder Hinweis auf diesen Zusammenhang. Hier, namentlich in der Schrift

von Stoelzel ,,Platons Erkenntnistheorie, eine Analyse des Dialogs Theútet“ (1908) erscheint Protagoras als der oberfláchliche Sophist, der von Platon schlagend widerlegt wird. Es sei nur ein Verlegenheitstrick, wenn der Versuch gemacht wird, zwischen der Wahrheit und der Giite einer Vorstellung zu unterscheiden. Dagegen sagt F.C.S. Schiller, daB

die Lehre von Protagoras als ,,One of the

greatest monuments of Greek genius” bezeichnet werden miisse. Er geht so weit zu behaupten (Plato or Protagoras, 1907), daB die Erkenntnislehre unseres Sophisten der platonischen Ideenlehre tiberlegen sei. Wie immer man sich dazu stellen mag — davon soll hier nicht weiter die Rede sein —, hat sich Protagoras jedenfalls als ein origineller Denker erwiesen, indem er den WertmaBstab an Stelle des gewóhnlichen Wahrheitsbegriffes in den Vordergrund riickte. Fiir ibn ist, wie

stellung oder eines Urteils von

84

Hauptvertreter,

in Oxford, hat es auch nicht unterlassen, auf den groBen

S. 37, wo auch 1) Vgl. meine Schrift ,,Goethe und die griechische Philqsophie" weitere

Pragmatismus

Schiller

scheint als fiir den anderen. Was man exlebt, ist immer wahr. Es Parallelen angefiibrt sind.

dieselben als wahr an sich

sich dabei um

Schiller hervorhebt,

die Praktikabilitát

einer Vor-

entscheidender Bedeutung.

eine reine Erfindung

Platons handelt,

DaB es

erscheint aus-

85

seiner Schiiler waren geschlossen. Die Schriften von Protagoras und 2u

gs ,Theátet“ noch viel zur Zeit der Verdifentlichung des Dialo bung fremder Ansichten auf sehr bekannt, als daB eine Unterschie

Erfolg bátte rechnen kónnen. ten Merkwiirdig ist es nun, daB in dieser zitier

,,Verteidigings-

begriff zum Gegenrede* unseres Sophisten, welche den ‘Wahrheits und

Staat, das Recht stande hat, sich Bemerkungen finden, die den cingehend bescháfspiter uns die Sittlichkeit betreffen. Sie werden rigen Literatur bishe in der tigen; dies ist um so notwendiger, als sie dem. Homomit hang wenig beachtet worden sind. Ihr Zusammen

klar. Handelt es sich Mensura-Satz ist freilich nicht ohne weiteres iduell

tagoras entnommen sind, kann wohl jetzt als die herrschende Meinung a_ngesehen werden!. Sie wird insbesondere vertreten von E Zeller in seiner Geschichte der griechischen Philosophie (5. Aufl I. S. 1120) und P. Natorp ,,Forschungen zur Sozialpádagogil e I, S. & ff. Ich selbst habe in meiner Abhandlung von 1910 diese Aufí fas?ung durch neue Argumente zu stiitzen versucht. Seither hat Wilamowitz in semem groBen Platon-Werke (I, S. 80) sich in folgender Weise geduflert: ,, Platon hat dem Protagoras eine Rede

in r.len Mund gelegt, die wir berechtigt sind als einen Ausdruck der etvlusch-politischen Gedanken aufzufassen, die er vortrug, Gedanken die d'en Athenern willkommen sein muBten.” Auch Heinrich Maiel"

und den von ihm ausgehen-

hat in seinem Werke iiber Sokrates die Echtheit des ProtagorasMyt}{us anerkannt und ebenso wie ich daraus gefolgert, daB unser Sophist Demokrat und Rechtspositivist war, der die Existenz eines Naturrechts im Gegensatz zu Hippias in Abrede gestellt hat (S. 214,

von Platon entwickelt nehmen, daB Protagoras bereits den spiter Mensch im groBen sei; Gedanken gehegt habe, wonach der Staat ein auf den Staat nicht so dann wire die Anwendung des MaBsatzes her Staat festsetzt, auffallend, Er wiirde hier bedenten: Was jeglic

J. Mewaldt in seiner vortrefflichen Schrift , Fundament des Staa'tes“ (1929) sich folgendermaBen áufert: ,,Es kann wohl dem

, doch bei diesem Satze um den Menschen

oder abstrakt auffassen.

Beim Staat

mag man ihn indiv

des Individuums noch den Normen kommt aber weder das Wissen alls kinnte man anAllenf das Allgemein-Menschliche in Betracht. en

chtere Normen. ist fúr ihn wahr, aber es gibt hessere und schle

Das

Lehre, die unser Sophist ist, wie wir sehen werden, in der Tat die

tigt. vortrágt. Damit erschiene dic Analogie gerechtfer en unseres SoWahrend so in Platons ,,Theátet“ die Soziallebr

sichtbar werden, da phisten gleichsam nur auf einem Nebengeleise

Erkenntnis bildet, erweist das Hauptthema doch die Theorie der in Platons gleichnasich der beriihmte , Mythus” des Protagoras

die Herausarbeitung migem Dialog als eine Quelle ersten Ranges fiir

. Der Schwerseiner Theorie tiber den Staat, die Moral und das Recht punkt liegt hier, wie sich

zeigen wird, in der Rechtfertigung der andere

Demokratie;

doch

sind auch

Urgeschichte

und

die Begriindung

Themen

des

wie

Strafrechts

feststellen

zu kénnen,

daB nunmehr 'aucl;

schlichten, unvoreingenommenen Urteile kein Zweifel darin kommen, daB hier Platon, wenn auch als nachschaffender Kiinstler, dem

angesehenen Sophisten nur solche Gedanken zuschreibt,

der Tat eigentiimlich gewesen sind.”

die íl;m in

-

-

A\{s welchen der zahlreichen, bei Diogenes Laértius angefiihrten Schriften des Protagoras diese Gedanken entnommen sind, ist schwer zu bestimmen, bildet tibrigens eine nebensáchliche Fra,geº. Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daB neben dem groBen Mythus m:ch noch an einer anderen Stelle des Dialogs sich eine zusammenha.ngfande Ausfithrung unseres Sophisten findet (Kap. 21) tiber die Begriffe von ,,niitzlich und ,,gut”. Hier wird die Relativitát der-

selben unter Anfihrung zahlreicher Beispiele dargelegt. Diese von

in markanten

f¿at:í)n slcherlicl‘:‘, atllch nicht erfundene Erórterung entspricht durchs der ganzen Weltanschauw i i als Relativismus bezeichnetuigt‘.mn Frotagoras, die man mit Recht

Leser ist ein so ein Vorurteil gegen den ,,Sophisten” getriibten verstieg, daB der ng uptu Beha deutender, daB Grote sich zu der das Altertum uns die Mythus eine der wertvollsten Schriften sei, dung PlaErfin úberliefert hat!. DaB es sich dabei nicht um eine Schriften des Protons handelt, sondern die Hauptgedanken aus

86

Ich freue mich

die menschliche

en, nicht durch Zigen behandelt. Der Eindruck auf einen unbefangen be-

1) W. Grote, Plato 11, S. 79 £f.

234).

1) Eine Ausnahme scheint nur H. . Dicls za bi ilden, wenn er inin seinem sei Sammelverlo ,Fregmente werke Fragments der Vorsokratiker den Mythus ythus des d Protagoras nur als ,, Imii %) Es kámen y in Betracht die Schriften úber d len Staat, úber diei erste Ges geselischaftlicher Verháltnisse und die niederschlagenden Reden. _s 87

11. Urgeschichislehre

us des Protagoras entie besondere Bedeutung der im Myth der menschlich'en Ku_ltur habe hafi:ig:?fheorie von der Entstehung vom Jahre 1910 hingewiesen. A}s ich bereits in meiner Abhandiung

Merkmale

charakteristische

ich damals hervorge:hoben .dm

habe

ufolge die Mensr.:hhextsentvnckdarin enthaltene Auffassung, derz ist, unsl ferner c_he von unserem lung in aufsteigender Linie erfolgt rsche¡dung zwischen der tecl}Sophisten wohl zuerst gelehrte Unte wofiir man in der Gegenwart¿dxe nischen und der ethischen Kultur, e Ausdriicke

,,Zivilisation”

Kennzeichnung

und

der Theorie

,, Kultur

i. e. S..“

verwendft.. Dies

des Protagoras b¡_ldete patiirlich

an

doch wurde ihre Bede:utung b1§sich noch keine neue Entdeckung; t und durch Verglelchung mit her noch nicht ausreichend gewirdig schichtsle]nren in das _rechte anderen antiken und modernen Urge Literatur diesem von i entLicht gestellt. Seither wird in der Rechnung getragen, so insbesonwickelten Gesichtspunkte vielfach rten Schrift von Waldef¡lºnar Graf dere in der im Jahre 1924 publizie urentstehungflehren . Im f.;iUxkull-Gyllenband ,,Griechische Kult em Thema gew1d.meten Aus{ genden sollen zunáchst meine dies tze Zusá und dann durch einzelve rungen von 1910 wiedergegeben !

ergánzt werden. des .,,Myt.hus“, welcher_dle Vorerst sei bemerkt, daB jener Teil nach_ aus einer Urgeschichte

behandelt,

aller

Wabrscheinlichkeit

wurde, welche den_Tm_al gifuhrt Schrift des Protagoras entnommen - (mepl

werkskunst leistete ihnen zum Unterhalt hinreichende Hilfe, zum Kriege aber gegen die wilden Tiere reichte sie nicht aus, denn die Staatskunst, von der die des Krieges ein Teil ist, besaBen sie noch

nicht. Sie trachteten also danach sich zu sammeln und sich durch Griindung

von

Stádten

zu erretten.

Hatten

sie sich nun

vereinigt,

dann figten sie einander Schaden zu, weil sie der Staatskunst ent-

bebrten, so daB sie sich wieder zerstreuten und umkamen. ,,Besorgt nun um unser Geschlecht, da3 es etwa gar untergehen múchte, schickte Zeus den Hermes ab, um zu den Menschen sitt-

liche Empfindung und Rechtsgeftihl zu bringen, damit durch sie die Ordnung der Staaten! und Freundschaft? kniipfende Bande entstinden. Es fragte nun Hermes den Zeus, auf welche Weise er den

Menschen Rechtsgeftibl und sittliche Empfindung geben solle. Soll ich, so wie die Kiinste verteilt sind, so auch diese verteilen? Jene sind folgendermaBen verteilt: Einer, der im Besitze der Heilkunst ist, erscheint fir viele Unkundige hinreichend, und so auch die an-

deren Kiinstler. Soll ich nun auch Rechtsgefithl und sittliche Empfindung ebenso unter die Menschen versetzen oder soll ich sie unter

alle verteilen? Unter alle, erwiderte Zeus, und alle sollen daran teilhaben; denn es wiirden keine Staaten entstehen, wenn nur wenige an ihnen, wie an anderen Kiinsten, Teil hátten. Auch gib ein Gesetz

in meinem Namen, den, der am Sittlichkeits- und Rechtsgefiihl teilzunehmen nicht vermag, zu vernichten wie einen búsen Schaden

des Staates.“ (Prot. p. 322 A—D.) Die letzterwáhnten

Sátze des Mythus haben schon Beziehungen

zur Staatslehre und zur Strafrechtstheorie und sollen vorláufig auBer

llschaftlicher Verháltnisse hat ,,Uber die erste Gestaltung gese t. TX, 35).. Der. ers.te Tel! des g v dpxf rmtaotácews nach Diog. Laér ge, allerdlflgs in einer eigenMythus behandelt die Prometheussa náher eingegangen vfrerde¡¡. artigen Gestalt; darauf soll hier nicht

Betracht bleiben. Wir bescháftigen uns zunáchst nur mit der Kulturentstehungslehre. Die Originalitát des Protagoras ist nun darin gelegen, daB er den Gedanken eines goldenen Zeitalters im Anfange der menschlichen Geschichte, welche bisher vorherrschend war,

ward, hat er auch

Dialogen

gottlicher Vorziige t'exlhaftxg Dann heiBit es: ,Da nun der Mensch hdpfen an zuerst als das einzige unter allen Gesf

- Gótter-geglaubt,

auch

Altáre

und

Gistterbildfe;

aufzurlcbten

ver-

Worte mit Kunst zusammensucht, dann bald darauf Tone und Schuhe, Lagetgecken und die geordnet, dann Wohnungen, Kleider, el erfunden. der Erde entwachsenden Nahrungsmitt ausgeriistet

wohnten

die

Menschen

anf;angs' zerstre.ut,

So nun n sie durch d¡.e wxld'en Tiere Stgdte aber gab es nicht. Daher kame ácher waren als diese; die Handum, weil sie in jeder Beziehung schw

durchaus ablehnt. Selbst Platon hat dieser Idee noch in verschiedenen gehuldigt,

so in ,,Timaios”,

, Kritias”

und

,,Politikos*.

1) ,,TóXewv xógpor' ist oft unrichtig tibersetzt worden, so von Schleiermacher mit

,,Schmuck der Stádte"; Kosmos bedeutet aber hier nicht Zierat, sondern das ordnende Prinzip. %), Beopct qirlas avvarewrol bezieht sich auf die neben dem Staate bestehenden Assoziationen. In diesem weiteren Sinne wird die ,,Philia" spiter auch von Aristoteles gebraucht in seiner Nik. Ethik, wie ich dies in meiner ,,Griechischen

Soziologie náher dargelegt habe.

89

88

Zeitius reden von einem goldenen Noch Theophrast und Poseidon as agor Prot bei . Hingegen erscheint alter mit spáterer Degeneration lich Sitt t, ein Leben ohne Rech der Naturzustand der Menschen als se tnis ichtlich der technischen Kenn keit und Staat, wenn auch hins gion und handen waren. Selbst die Reli bereits Errungenschaften vor aussind also nach Protagoras nicht die Sprache existierten bereits, Under nd sta -Zu ein Es war aber schlieBlich sozialen Ursprungs.

nden Menschen sowohl von den sicherheit, in dem die zerstreut lebe Feinden stets bedroht waren. wilden Tieren als von menschlichen einigung zum gemein-

hen einer Ver Es fehlte auch nicht an Versuc rnngen hatten jedoch keinen daue samen Schutze; diese Vereinigu den Bestand. nun zur eigentlichen Kultur wird Die entscheidende Wandlung Mendie an iy d ng von albóc-un von Protagoras mit der Verleihu n . Diese beiden Errungenschafte acht gebr schen in Zusammenhang und g dun fin ng mit ,sittlicher Emp sind in der obigen Ubersetzu n den; eine Rechtfertigung derselbe Rechtsgefibl wiedergegeben wor an daB Zunichst ist hervorzuheben, wird spáter versucht werden. von es — Verleihung jener Gaben Stelle des mythologischen Gewand rationelle Deutung geboten istSeite des obersten Gottes — cine erBeginn seiner Erzáhlung sich Hat doch Protagoras gleich bei es sch ogi hol myt ¢in en auch ohne botig gemacht, seine Hauptlehr Erst Sinne miifte man also sagen: em Gewand vorzutragen. In dies tsRech und liche Empfindung als in der Seele der Menschen sitt pKnii indung von Staaten und die gefiihl aufkeimten, gelang die Gri hen en. Wodurch diese psychologisc fung von dauernden Freundschaft en, dar-

de herbeigeftibrt wurd Grundlagen fúr die dauernden Verbán Auskunft. Vielleicht nun freilich der Sophist keine

tiber gibt uns ethibringen, daB der Ursprung der wollte er damit zum Ausdruck teEnts jhre sei. Jedenfalls bildet schen Getiible etwas rátselhaftes den t, áll ng des Staates zusamment hung, welche mit dem Urspru zum Erst jetzt wird der Mensch Beginn-der eigentlichen. Kultur. in lden”, fiir welche schon damals wahren Menschen; die sog. ,Wi den t zu haben scheinen, sind in Griechenland manche geschwárm t

die Argsten Verbrecher. Staa Augen des Protagoras schlimmer als die hóchsten Bliiten der Kultur. und Sittlichkeit erscheinen ihm als chenige, welcher dir als der Ungere ,,So glaube auch jetzt, daB derj aufen r Gesetzen und Mensch teste erscheint von denen, die unte

90

gewa,f:hsen sind, gerecht ist und ein Meister in dieser Sache,

wenn

man ihn mit Menschen vergleichen sollte, die weder Bildung ixaben

noch Ferichtsh{ife, noch Gesetze und auch keinen Zwang, der 51'; fo_rtw.ahrend nótigt, sich der Tugend zu befleiBigen, sonder;m Wilde wie die sind, welche voriges Jahr der Dichter Pherekrates am Bak: chosfeste auf die Búbne gebracht hat.” Schárfer

konnte

wohl der Abstand

von

des sog. Naturzustandes

dem Zustande einer staatlichen und sittlichen Kultur nicht zum Ausdruck gebracht werden, als dies hier von Seite des Protagoras g‘eschehen ist. Worin besteht nun die entscheidende Wandlung?

h(?gt in dem

Aufkommen

eines neuen

BewuBtseins,

Sie

welchesv mit

Aidos und Dike bezeichnet wird. Da8 mit dem ersteren Worte unge?áhr dasselbe gemeint ist, was im Deutschen mit Gewissen bezeichnet wird, hat Leopold Schmidt ,,Die Ethik der alten Griechen”

,,sittI‘, S. 210, úberzeugend nachgewiesen; Aidos kann daher mit licher Empfindung” tibersetzt werden. Dann darf aber auclll' der Ausdruck

oder

,,Dike” nicht, wie das vielfach geschieht, mit Recht

Gerechtigkeit tibersetzt werden; vielmehr bedeutet er in diesem Zusammenhange das Rechtsgefúhl. Neuerdings hat sich Johannes

Mewaldt in seiner oben zitierten-Schrift ,,Fundament des Staates"

(1931) mit diesem Thema bescháftigt. Er hebt mit Recht hervor: daB Protagoras keineswegs eine Vereinbarung unter den Menscher: 'ftls Grundlage der Staatsordnung angenommen hat, wie dies etwa

in d?m neuzeitlichen Naturrechte der Fall war. Staatenbildend erscheinen auch ihm jene beiden besonderen und grundiegenden Eigenschaften des Menschen, albúg und Síxn. Er verstebt jedoch unter

dem ersteren Ausdrucke die Scheu var dem Unrechttun, unter dem I:etzteren das positive Eintreten ftir das Recht. Demgegen;iber móchte

ich doch daran festhalten, daB es sich um zwei verschiedene Eigenschaften handelt, die man als sittliche und als rechtliche Emptindung 'r')ezeichnen kann. Es ist mir unwahrscheinlich, daB der Sophist

nur die Rechtsordnung

im Auge

er tm ;i;rfxd Izi.a];oge ,,Theátet“ . e unterscheidet

gehabt

hat, schon

weil

deshalb,

die beiden Normengruppen

;charf

piter bei i der Darstellung der Ethiki noch spúl wird e Davon Redo díe

. Vorerst sei nochmals auf die Urgeschichtstheorie hingewiesen,

wie

sie Protagoras entwickelt hat. Seine Einteilung in die beideu, Abschnitte der bloB technischen und der sozialethischen Kultur hat 91

offenbar starke Wirkung ausgetibt. Sichtbar wird dies besonders in dem Fragment eines unbekannten Sophisten, d.em sog. An f)ny— mus Jamblichi (entnommen dem 20. Kap. seines Protre;_)t¡kos), das zuerst von BlaB herausgegeben wurde. Ich habe bereits vor Jahren in meiner Schrift , Kallikles (1922) d_íe Aufmerksamkeit darauf gelenkt, soweit es sich dabei um das in jenem Fragment er-

árterte Problem

handelt.

des Ubermenschen

Davo.n soll- hier

nicht weiter die Rede sein. Wobl aber sei angefithrt, was jener Aut(?r úber Kultur und Rechtsordnung vorbringt: ,,Wezm namhc.h die Menschen

von

Natur

nicht

in der Lage

waren,

ihr I:eben e{nzeln

2u fristen, wenn sie sich daher zu einander gesellten, mfiem sie der Notwendigkeit (gvdyxn) nachgebend sich zusammens'chheñen, _mag

Ll.men auch alles, was sonst zur Erhaltung des Lebens gehórt, von exten, Fer¿t¡gk igen rksmáB erfunden worden sein, ebenso die handwe die zu diesem Zwecke nótig sind, ein Zusammenleben z.Lber im gesefz-

losen Zustand fiir sie undenkbar ist — denn solc.h ein Leben wire

ihnen ein gróBerer Nachteil, als wenn sie fiir su‘in einzeln dahinlebten —: aus allen diesen zwingenden Griimfien f"tfl'l.rEl'l das Gesetz (vépog) und der Begriff des Gerechten (8fxazov) ihr konlglxches Szgpter unter den Menschen (Enfacdeóew tatg Avitpúmaic) und unn'íiighc'h kóx'men sich beide ihrer Herrschaft entáuBern, denn festgefiigt ist dieses

áltnis von der Natur,“1

111. Die Staatslehre des Protagoras Was zunáchst die Entstehung des Staates betrifft, so ist diese Frage bereits im vorhergehenden im Zusammenhange mit der Entwicklung der menschlichen Kultur geschildert worden!. Der Staat entsteht nach Protagoras gleichzeitig mit der Bildung des Rechtsgeftihls und der sittlichen Empfindung, wodurch die menschliche

Kultur in das entscheidende Stadium tritt. Wie ist nun aber der

so gebildete Staat beschaffen? Hier setzt nun die eigenartige Auffassung unseres Sophisten ein, námlich díe theoretische Begriindung der Demokratie, welche ihm als die einzig berechtigte Regierungsform erscheint. Ich habe deshalb Protagoras als den áltesten

Theoretiker der Volksherrschaft bezeichnet. Es ist nun von Inter-

esse festzsutellen, daB in unserm Dialoge eine von Sokrates aufgeworfene Frage den AnlaB geboten hat, jene Theorie zu entwickeln. »»Ich sehe, wenn wir zur Versammlung zusammengekommen sind und der Staat etwas im Bauwesen tun soll, daS da Sachverstándige wegen Aufftihrung der Gebáude herbeigeholt werden; dasselbe findet beim Schiffbau und in allen anderen Dingen statt, welche auf Kunst beruhen. Ist es aber nótig, tiber Verwaltung des Staates einen Be-

schluB zu fassen, so tritt auf und erteilt den Athenern dariiber seinen Rat ebensowohl der Zimmermann als der Schmied, Schuster, Kaufmann,

Schiffsherr,

Reiche,

Arme,

Vornehme,

Geringe,

und

Vefgt]:lvas verschieden davon ist allerdings die Urgeschichtsk?hre von

diesen macht

zialtrieb zuerkennt ; er ist von Anfang an ein staatenbllfiende_s Wesen.

sie annehmen, daB es nicht lehrbar sei. Diese Fragestellung des Sokrates ist auBerordentlich geschickt. Protagoras hat sich als Lehrer der politischen Weisheit ausgegeben und konnte daher schwer zugeben, daB sie jedem Biirger von Natur innewohne. Andererseits war er ein entschiedener Anhánger der herrschenden Demokratie, welche den Grundsatz der politischen Gleichberechtigung zum Ausdruck brachte. An diesem Prinzip muBte er festhalten, wie dies ja

Aristoteles, welcher dem Menschen gleich von I\Tatur einen SoTn einer Hinsicht stimmt er jedoch mit Protagorfxs ?berem. indem

nen— er (Politik I 1253 A. 151f.) Staat und Rechtsgefiihl in Zusarax¡ eseg n lebende allefm hang bringt: , Dem Menschen allein unter un gut von ist eigentimlich die Empfindung des Unterschiedes 'ruft n búse, recht und unrecht. Die Gemeinschaft so gearteter'Wese m aber eben erst Familie und Staat ins Leben.” Was dle? sufxstig griechischen

Kulturentstehungslehren

betrifft,

so verweise

ich auf

daB meine ,,griechische Soziologie. Jedenfalls kann man ífastsFeHelj, stárkste die t Folgezei die Urgeschichtslehre von Protagoras in der Wirkung ausgetibt hat*. j

ntersuchungen zum An. Jambl. Dissert. 1931.

470 in Bespreg ‘S’slé.\:z;z;{:;‘s‘hfi:l;r}lg hi&toriscul:‘egn Zeitschrift, Bd. 130, S.

chung m. Sch. ,Kallikles®. 92

gelernt

niemand

zu haben,

zum

Vorwurf,

sich unterfangen

Rat

daf sie, ohne es irgend wo zu

erteilen;

offenbar

weil

%) Einzelne Autoren, wie Rehm und Kaerst, haben die Meinung aufgestellt, der2ufolge Protagoras die Entstehung des Stastes auf einen Vert rag zuriickfithre.

Dagegen habe ich in meiner Abhandiung von 1910 Widerspruch erhoben. Seit-

her hat Heinrich Majer in seinem Buche iiber Sokrates 5. 237 sich in dem gleichen Sinne geñubert: ,,Der Kern des Mythus, der den mit Sicherheit auf Pro-

tagoras selbst zurtickzufúhrenden Grundgedanken enthált, weist nach ganz anderer Richtung als nach der Lehre vom Steatsvertrago hin.”

93

auch in seinem , Mythus” zum Ausdruck kam. Hat doch Hermes im Auftrage des Zeus die politische Tugend allen Menschen gleichmiBig zugeteilt. Darauf beruft sich nun auch unser Sophist mit den folgenden Worten: ,,Auf diese Art also, Sokrates, und aus dieser Ursache glauben auch die Athener, daB, wenn von der Kunst eines

Baumeisters die Rede ist, alsdann nur wenigen an der Beratung teilzunehmen gebithre. Wenn sie aber zur Beratung tiber die biirgerliche Tugend gehen, wobei alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen Jeden, weil es jedem gebúbrt an dieser Tugend Anteil zu haben, wenn tiberhaupt ein Staat

Protagoras aber erblickt in der Demokratie

den Gleichheitsstaat ;

er ist die ideale Regierungsform, weil alle Menschen von Natur gleich sind. Tn dieser Beziehung ist er ein Vorginger von J. J. Rousseau,

mit dem er auch darin dbereinstimmt, daf3 im Volksbeschlusse der allgemeine Wille zum Ausdruck kommt. Davon wird spáter noch bei der Zitierung einiger Sátze, welche dem Protagoras in Platons Dialog ,,Theátet“ zugeschrieben sind, náher die Rede sein. Hier sei nur hervorgehoben, daB er die Gleichheit der Menschen fiir jene Eigenschaften behauptet, die fiir das staatliche Leben von entschei-

interessantes Pendant zu dem im Mittelalter und in der Neuzeit so

dender Bedeutung sind, námlich sittliche Empfindung und Rechtsgeftibl. Fir die Teilnahme am politischen Leben, insbesondere fiir das Recht der freien MeinungsiuBerung bei der gemeinsamen Beratung der Staatsangelegenheiten geniige diese allgemeine VeranJagung der Staatsbiirger. Die Amahme einer solchen Befihigung wird nach Protagoras

bedeutungsvoll

Kónigtum von Gottes Gnaden. Daf es

dadurch nicht erschiittert, daB es im Staate einzelne abnorme Men-

auch andere Staatsformen gibt, hat freilich Protagoras bei seiner

hat,

schen gibt, welche der sittlichen Empfindung oder des Rechtsgefiihls entbebren. In der philologischen Literatur wurde es freilich -als krasser Widerspruch bezeichnet, wenn der Sophist behauptet, daB die ethische Veranlagung allen Menschen zuteil wurde und doch

erscheint selbstverstindlich. Ubrigens war seine Zuriickfiihrung der Demokratie auf die Idee der Gleichheit entschieden originell?, mag

einzelne existieren sollen, welche daran nicht teilhaben. Hier geniigt es wohl, darauf hinzuweisen, daB es auch blinde und taubstumme

bestehen soll.“ Die Demokratie wird demnach von Protagoras aus dem Prinzipe der Gleichheit abgeleitet, das nach dem , Mythus" sogar einen góttlichen Ursprung besitzt. Die Demokratie von Gottes Gnaden ist ein gewordenen

Erzáhlung gar nicht in Betracht gezogen; offenbar hat er nur die kulturell hochstehenden Staaten, namentlich Athen ins Auge gefafit. DaB

eine

solche

Lehre

gerade

daselbst

viel

Beifall

gefunden

uns auch heute dieser Gedanke als eine Trivialitát erscheinen. Er

Menschen gibt, ohne daB dadurch die Regel, daB die Menschen Ge-

setzt schon eine bedeutende Fáhigkeit der Abstraktion voraus. Was bei der Betrachtung der verschiedenen Staatsformen zunáchst auf-

sicht, Gehór und Sprache besitzen, aufgehoben wird. Auch ein zwei-

fiel, war die Tatsache,

daB in einigen Staaten

ein Einzelner, in an-

deren Staaten eine bevorzugte Klasse, insbesondere der Adel, in manchen Gemeinwesen endlich der groBe Haufe; das niedere Volk — das ist die urspriingliche Bedeutung von Demos — die Herrschaft innehabe. Eine solche realistische Auffassung zeigt sich zum Beispiel in dem bekannten Gespráche iiber die verschiedenen Staatsformen, das nach Herodot zwischen den persischen GroBen stattgefunden haben soll.

1) Auf dieses Verdienst von Protagoras habe ich schon vor Jahren hingewiesén. Seither hat sich J. Beloch in demselben Sinne geñuBert: ,, Protagoras hat die erste theoretische Rechtfertigung der Demokratie versucht. Es ist kein Zweifel, daB Platon hier Gedanken des Pr. wiedergibt, denn er dachte ganz anders. (Griechische Geschichte, 2. Aufl. II, S. 123.) 94

ter Widerspruch, dessen sich Protagoras angeblich schuldig gemacht hat, indem er zuerst die Tugend als Naturgabe des Menschen bezeichnet, dann aber wieder lehrt, da8 sie erst durch Erziehung ausgebildet werden miisse, besteht in Wirklichkeit nicht. Mit Unrecht

hat daher der sonst so ausgezeichnete Forscher Th. Gomperz die folgende Bemerkung gemacht (,,Griechische Denker Bd. 2, S. 252):

»In Wahrheit

wird tiber einen Grundstock

unklarer und wider-

spruchsvoller Gedanken eine glánzende Hiille gebreitet.” Es liegt vielmehr kein Widerspruch darin, daB nach Protagoras die im Keime vorhandene ethische Veranlagung einer Verstárkung und Ausbildung bedarf, welche durch die Jugenderziehung und die óffentliche Meinung herbeigefiihrt wird. Unter Hinweis auf das Beispiel der Musik wird nun im Kap. 16 des Dialogs ,, Protagoras" ausgefiihrt, daS die aligemeine Verbreitung

95

der birgerlichen Tugend gewisse Unterschiede keineswegs ausschlieBt. Es gibt Staatsbirger, welche infolge besonderer Naturanlager. oder durch sorgfáltige Erziehung ein hóheres Verstindnis fúr die Aufgaben des Staates und die Mittel zu ibrer Durchfiihrung besitzen. Protagoras nennt sie im Dialog ,,Theátet“ die weisen und guten

Redner,

welche bewirken,

daB dem

Staate

nur

das ihm

Zu-

trágliche als gerecht erscheint (p. 167 C). Es wird demnach auch fúr die Demokratie die Notwendigkeit einer Fiihrerschaft anerkannt. Doch glaubt Protagoras, da8 sich solche hervorragende Staatsmánner

von selbst durchsetzen, indem sie durch

das Vertrauen der Mit-

birger zu leitenden Stellungen gelangen. Thr Dasein steht demnach

nicht im Widerspruch mit dem Prinzipe der Rechtsgleichheit, insbesondere mit dem Grundsatze der Redefreiheit in der Volksver-

sammlung und der gleichen Zugánglichkeit aller Staatsimter. So hat unser Sophist die Theorie der Demokratie scharf umrissen und

die Zweifel zu zerstreuen versucht, welche Sokrates in der friiher

sitierten Fragestellung geltend gemacht hatte. Protagoras beruhigt sich dabei, daB die hervorragenden Staatsmánner, ,Die Weisen”,

eine faktische Herrschaft austiben und die Uberzeugungen des Volkes

lenken,

wihrend

Sokrates

und

noch

mehr

Platon ihnen gleichsam.

einen Rechtsanspruch auf die Leitung des Staates verleihen und das Volk davon ginzlich ausschlieBen wollten. Dadurch wird nun freilich das demokratische Prinzip gánzlich beseitigt, wihrend unser Sophist die Herrschaft eines groBen Staatsmannes, wie es Per ikles

war, der durch das Vertrauen des Volkes der erste Mann des Staates

wurde, als im Rahmen

der Demokratie verbleibend anschen konnte.

Nebenbei bemerkt war er auch mit jenem grofien Staatsmanne per-

sónlich befreundet, hat mit ihm wissenschaftliche Gespráche gefilhrt

und in seinem Auftrage die Verfassung der Pflanzstadt Thurii im demokratischen Sinne ausgearbeitet; vgl. oben Abh. IL. Unser Sophist macht im Dialog ,,Theátet“ die Bemerkung, daB die. Volksbeschliisse die Meinung der Staaten! zum Ausdruck

bringen. Diese Redewendung hat eine groBe Ahnlichkeit mit: der ,volonté générale

von Rousseau.

Eine weitere Ahnlichkeit besteht

darin, dafi auch der franzósische Rechtsphilosoph die Einrichtung 1) 206 máleng p. 172A. Ubrigens bat Plato selbst spáter die Gesetze als Meinung,

des Volkes bezeichnet; vgl. die Stellen bei Hirzel, ,,Themis und Dike®, S. 377 Note [.

96

eines Gesetzgebers! vorgeschlagen hat, welcher zwar kein herr-

schaftliches Amt innehat, aber die Beschliisse des Volkes vorbereitet. Das entspricht so ziemlich der von Protagoras hervorgehobenen Einrichtung der ,,guten und weisen Redner, welche das Volk vor der

BeschluBfassung zu beraten haben?. 1V. Eihik und Rechislehre In engem Zusammenhang

mit der Staatslehre steht die Theorie,

welche Protagoras tiber das Wesen der Sittlichkeit und des Rechts aufgestellt hat; handelt

es sich doch hier um

Erscheinungen,

die

gleichzeitig mit der Entstehung des Staates hervortreten, und zwar als Anlagen, welche in der menschlichen Seele gegeben sind. Wenn man freilich ausschlieBlich den ,,Mythus” in Betracht zieht, dann kónnte es scheiren, als ob der Sophist einer Instinktlehre gehuldigt hátte. Fiir den Inhalt der sittlichen Empfindung und des Rechtsgeftilles wiirde demnach eine Autonomie des Individuums bestehen. Allein diese Auffassung, welche auch zur Anerkennung eines Naturrechts fithren kónnte,

ist durchaus

unhaltbar,

Schon in der Erzáh-

lung des Dialogs , Protagoras” wird auf die Bedeutung der Umwelt und der erzieherischen Tátigkeit hingewiesen. Noch mehr wird aber der heteronome Charakter der sittlichen und rechtlichen Normen

im

Dialog

;,Theátet“

hervorgehoben;

danach

haben

die sitt-

Jichen und rechtlichen Vorschriften ihren Ursprung in Anordnungen

des Staates oder der Gesellschaft,

-

Nicht weniger als an vier Stellen wird dieser Gesichtspunkt nach-

driicklich geltend gemacht. Zunáchst heifit es mitten in der ,,Verteidigungsrede“,

aus welcher oben

zelne Sátze zitiert wurden:

(Nr. I dieser Abhandlung)

ein-

, Weise und gute Redner bewirken, daB

den Staaten das Gute statt des Schlechten gerecht zu sein scheine. Denn

zwar,

was

einem

jeden

Staate

gerecht

und

schón*

er-

1) Contrat social TT, ch. 7: ,,Celui, qui rédige les lois, 1a donc ne doit avoir aucun

droit législativ:

%) Auch Mewaldt gelangt a. a. O. 2u einem ahulichen Ergebnisse: , Nicht in der

Masse als solcher steckt die politische Brauchbarkeit, sondern nur in den ein-

zelnen Persónlichkeiten, in denen die molwuxi dpevj wirklich lebendig ist.” Doch hat Mewaldt die im Dialog ,,Theátet” enthaltenen AuBerungen

ricksichtigt.

nicht be-

%) Man beachte diese Unterscheidung zwischen Recht und Sittlichkeit, welche genau

der ,,Dike“ und ,,Aidos” im Mythus

des Protagoras

entspricht.

wird noch eine dritte Normengruppe, die der Religion, hinzugefiigt. 7

Spúter

97

ge er es dafir bált; jedoch scheint, das ist es auch fúr ihn, solan jeglichen Schlechten das Gute erder Weise bewirkt, daB anstatt n Rede heiBt es ferner: ,, Wenn scheine und sei” (p. 167 C). In derselbe in Wahrheit untersuchen, was du also mir Folge leistest, so wirst du sowohl daf sich alles bewege, wir wobl meinen, wenn wir erkláren, als auch

daB,

was

einem

jeden

scheine,

dies auch

wirklich

sei fiir

fiir den Staat“ (p. 168 B). den Einzelnen® ebensowohl wie rung des Protagoras erwihnt Dann wird (p. 172 A) folgende AuBe betreffen, wird Schónes und ,In den Dingen, welche den Staat tes, nach góttlichem Rechte Schimpfliches, Gerechtes und Ungerech ich jeder Staat fiir solches Erlaubtes und Unerlaubtes, was náml hinstellte, dies auch in Wabrhielt und als gesetzliche Bestimmung durchaus nicht ein Einzelner heit fir jeden sein, und hierin wird

als der andere sein. Aber weiser als der andere oder ein Staat weiser Ungerechten, in dem Erda, wo ich sagte, in dem Gerechten und upten Bestimmtheit Jaubten und Unerlaubten sind sie mit

zu beha

em gebe, welches von Natur sein geneigt, daB es keines unter dies ienen sei,

allgemein so ersch Wesen habe, sondern daB das, welches es so erscheine.” Sokrates dann wabr werde, so bald und lange es (p. 177 D) noch einrách kommt an einer spáteren Stelle des Gesp und seiner Schiiler zuriick, dermal auf diese Lehre des Protagoras , n fest versichern, zufolge sie in betreff des Gerechte

daB vor allem

end feststellt, dies auch gewas ein Staat als ihm gerecht erschein so lange es stehen bleibe. recht sei fiir den, welcher es hinstelle, welche schwerlich bloB als Aus diesen Auñerungen des Sophisten, en kónnen, ergibt sich zueine Erfindung Platons aufgefaBt werd von Normen unterschieden náchst, daB Protagoras drei Gruppen hat, námlich

den die sich auf die Sittlichkeit beziehen

(R

xed l-

), die von der Religion gebooypd), die Rechisnormen Giraa xal ¿bina Protagoras beruhen also tenen, bzw. verbotenen (40ta ad yh) 2. Nach

nur 1) Soweit es sich nicht um soziale Verbaltungsmafiregeln handelt; hier ist .

nicht beachtet. der Steat mabgebend. Das wurde von Zeller eine solche Dreiteilung der versich t festzustellen, daB 2) Es ist sebr interessan s im Mythus pílichtenden Normen gleichfalls bereit

des Protagoras findet, und

E): ,,Es arbeiten die WarYar bei der Schilderung der Jugenderziehung (p. 325 selbst darauf hin, daB der Vater der die Mutter, der Enabenftibrer und

:'mch die religivsen Vorschriften auf einer staatlichen Anordnung; in dieser Beziehung ist er ein Vorginger von Hobbes, Jedenfalls eri gibt sich aus den Zitaten, daB unser Sophist sowohl in bezug auf

die Ethik als hinsichtlich der Rechtstheorie dem Positivismus zugeneigt war. Der

Staat ist die einzige Quelle aller bindenden Ver-

haltungsregeln; sie haben demnach einen heteronomen Charakter; auch die Annahme eines Naturrechtes wird ausdriicklich abgelehntí

Eine andere Frage ist es freilich, ob das vom Staate als gerecht ¿f.ngeordnete auch fiir ihn heilsam oder nitzlich sei; in dieser Hin-

sicht kénnen sich die Rechtssitze wohl unterscheiden!. Es ist nun allerdings die Aufgabe der ,, weisen Redner“, dahin zu wirken, daB die beschlossenen Gesetze dem allgemeinen Nutzen dienen; íhr' bindender Charakter ist aber davon unabhángig. Mit dem s¿; von unserem Sophisten anerkannten Positivismus des Rechts und der Moral steht dic Mogliclikeit einer Reform, die Verbesserung des geltenden Normensystems durchaus nicht in Widerspruch. Dieser von mir ?chon im Jahre 1910 vertretenen Auffassung hat sich Heinrich Maier in seinem Werke tiber Sokrates S. 237 angeschlossen, indem er feststel.lte, daB Protagoras keinen Gegensatz zwischen natúrlichem und pf)sxtivem Gesetz angenommen hat. Andere Autoren glaubten allerdings dies noch

behaupten

zu kénnen,

weil es doch

einen MafBstab

dz'zfi.ir geben miisse, ob eine staatliche Norm dem allgemeinen Nutzen d¿x_ene. Allein dabei handelt es sich nicht um Gesichtspunkte, welche fir alle Zeiten und Vélker maBgebend sind, sondern um eine Wirdigung konkreter Bediirfnisse eines einzelnen Staates. Von einem

foturrecht im technischen Sinne kann hier also nicht die Rede sein. Viel schwieriger als diese mehr terminologische Frage ist jedoch Flas Problem, wie sich der Positivismus in Moral und Recht zu der

im , Mythus'* des Protagoras enthaltenen Annahme verhált,

derzu-

folge die Menschen von Natur aus sittliche Empfindung und ’Rechtsgefiihl besitzen. Sollte man daraus nicht schlieSen diirfen, daB schon

1) Die Stelle(p. 172 D) lautet: , Beim Feststellen des fúr sich Zutráglichen und

Nichtzutráglichen (b 2 3 Euoépovea % p tupeépovea) wird er (Protagoras), wenn

irgendwo, zugestehen, daf ein Ratgeber von anderen und cines Staates Meinung

terin,

von der des.- anderen hinsichtlich der Wahrheit verschieden sei, und er wird auch

v, áBuno) und ihm zeigen, das ist recht, jenes ist unrecht (auao s (8ci0v, avéaav).

zutráglich hingestellt haben mag, dies auch ihm durchaus zutráglich sein werde."

bei jeder Handlung und Rede belehren Knabe aufs beste gedeihe, indem sie ihn , dies schón, jenes

durcha?s nicht zu behanpten wagen, daB, was ein Staat seiner Meinung als sich

gottlo háfilich (uehóv, cloxpóv), dies fromm, jenes

7 98

99

der moralische

Sinn oder das Gewissen einen Fiihrer abgeben fúr

von Anfang her Fertiges; sie wichst

in und mit der Gesellschaft

wie vertrágt

heran, durch die sich immer mehr entwickelnden Verháltnisse, durch

sich der in dieser Lehre ausgedriickte Nativismus mit der ausschlieBlichen Geltung von staatlichen Normen, wie sie im Dialog ,Theátet von Protagoras behauptet wird? Mir scheint jedoch ein Widerspruch zwischen jenen beiden Lehren nicht gegeben zu sein. Jene in der Menschenbrust vorhandene Intuition stellt nur eine Anlage dar,

staatliche Autoritát, durch háusliche Zucht, durch fortgesetzte Tradition und Erziehung.” (D. Hume Works II, 252 ff.) Ganz verfehlt ist jedenfalls die Darstellung, welche Ed. Zeller in seiner Geschichte

Gesellschaft bestimmte Anweisungen fir das Verhalten der Einzelnen geben. Der moralische Sinn ist allerdings dabei hóchst wertvoll, insoferner die Befolgung jener gesellschaftlichen Normen sichert, ohne daB jedesmal der Zwangsapparat des Staates in Funktion

vismus vertreten. Jeder einzelne Mensch sei allein dariiber der Rich-

das Verhalten

der Individuen?

Mit anderen

Worten,

welche einen konkreten Inhalt erst dadurch erbált, daB Staat und

treten miBte. Die Wahrung der kollektiven Interessen beruht daher

auf einer Verbindung der autonomen und der heteronomen Moral. Es gebiihrt demnach unserem Sophisten ein besonderer Platz in der Geschichte der Ethik, was bisher vollig unbeachtet geblieben ist. Er kann einerecits als ein Vorgánger der in der Neuzeit entwickelten nativistischen oder intuitionistischen Sittenlehre angeschen werden,

wie sie namentlich

von dem

englischen

Philosophen

Hut-

cheson ausgebildet wurde. Andererseits erscheint er auch als ein Vorginger der besonders von D. Hume ausgebildeten positivisti-

schen Moral. Uberraschend ist die Ahnlichkeit, welche einige AuBe-

rungen desselben (Treatise on human nature III, 2) mit den Lehren von Protagoras aufweisen. ,,Die Staatskunst vermag viel fiir die Ausbildung der sittlichen und rechtlichen Gefiihle, aber unmóglich kann sie den Unterschied zwischen Tugend und Laster, Recht und

Unrecht schaffen. Wáre nicht von Natur eine Grundlage dafiir gegeben, so wiirden alle Ausdriicke, die jenen Unterschied 21 bezeichnen pflegen, vollkommen unverstándlich sein. Ganz áhnlich verbalt es sich

mit

der háuslichen

Erziehung,

da diese

sich bestrebt,

den

Kindern von frúhester Jugend an die Grundsátze der Sittlichkeit und Rechtlichkeit beizubringen und ihnen die Beobachtung der ie Geselischaft aufrecht erhált, als ehrenvoll und Regeln, wel lobenswert, die Verletzung als gemein und schándlich hinzustellen; daher fassen diese Gefíihle so tiefe Wurzeln im jugendlichen Geiste, daB sie kaum noch von den urspriinglichen Anlagen unserer Natur zu unterscheiden sind. Darum ist auch namentlich die Gerechtigkeit nicht etwas von

100

auBen her willkiirlich

Gemachtes,

noch etwas

der griechischen Philosophie* Bd. I, S. 1121 von der Lehre des Pro-

tagoras gegeben hat. Danach hátte er nicht nur fiir die Theorie der Erkenntnis,

sondern

auch

fúr die Ethik

einen

extremen

Subjekti-

ter, was erlaubt und verboten ist. Nach den friiheren Zitaten aus dem Dialog ,,Theátet“ kann aber nicht der geringste Zweifel dariiber bestehen, daB nur der Staat und die allgemeine Meinung als die Quelle der rechtlichen und sittlichen Normen hingestellt wird. Welchen Sinn hátte es, daneben auch noch die subjektive Meinung des Einzelnen als mafigebend anzusehen? Wenn Zeller behauptet, daB sich im ,,Theátet“ kein Satz finde, demzufolge die Normen des

Staates einen verpflichtenden Charakter besitzen, so ist zu erwidern, daB eine solche Selbstverstándlichkeit nicht besonders ausgedriickt werden muBte. Auch Heinrich Maier hat seither (Sokrates S. 231) gegen die Lehre von Zeller Stellung genommen: , Fúr das ganze Unrecht, das die vergangene Geschichtsschreibung den Sophisten angetan

hat,

ist nichts

so

bezeichnend

als

falsch verstandenen Metros-Anthropos-Satze Ethik der Sophisten Folgerungen abgeleitet von ihnen niemals gezogen, sondern nicht genóssischen Gegnern unterschoben worden

die Art,

wie

aus

dem

des Protagoras fiir die wurden, die nicht bloB einmal von ihren zeitsind.“

Der Positivismus des Protagoras richtet seine Spitze nicht nur gegen ein ber die Staatsgemeinschaft hinausgehendes, aus der Idee der Gerechtigkeit abgeleitetes Naturrecht, sondern auch gegen jede Autonomie des einzelnen Menschen in bezug auf Recht und Sittlichkeit. Dieser strenge Objektivismus bedeutet jedoch nicht einen ginzlichen Verzicht auf jede Kritik. Es kann vielmehr nach Pro-

tagoras der Fall eintreten, daB der Staat etwas als gerecht festsetzt, was fúr ihn nicht niitzlich ist!. Dann mag eine Reform erwiinscht sein; aber so lange dieselbe nicht durchgefúbrt ist, haben die bisher geltenden Normen verpílichtende Kraft; der Einzelne darf sich 1) Vgl. die oben zitierte Stelle Theátet p. 172B.

101

den wahrúber sie nicht hinwegsetzen. Das ist der Standpunkt, sowohl dies sich wie scheinlich auch Sokrates eingenommen hat, dem aus auch als aus den Denkwiirdigkeiten des Xenophon (IV, 4) en Dialog n Dialog ,,Eriton” ergibt. Platon freilich hat in den spáter staatlichen cinen andern Standpunkt eingenommen, indem er den Normen,

welche der Tdee der Gerechtigkeit nicht entsprechen,

eine

bindende Kraft aberkannt hat.

Streitfrage, In der in der griechischen Literatur viel behandelten

g (Nomos, ob das. Gerechte auf der Natur (Physis) oder auf Satzun

re gelehrt. JeThesis) beruhe, hat demnach Protagoras das Letzte positiven doch verband er damit nicht eine Geringschitzung des ferner nicht Rechts wie die spátere Sophistik. Wenn diese Lehre worden ist, so ohne Grund als individualistisch bezcichnet

Staatsirifft dies fir Protagoras sicherlich nicht 2a; sowohl seine

noch einer, der dessen Bestrafung gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe. Und indem er dieses beabsichtigt, denkt er doch wohl, daB die Tugend angebildet werden kann; denn der Abschreckung wegen straft er ja.“ Es gibt kaum

ein Diktum,

welches

in der Geschichte

der

Straf-

rechtstheorie eine gróBere Rolle gespielt hat, als der zitierte Satz: Man straft nicht, weil gefehlt wurde, sondern damit nicht gefehit werde. Aber der Ursprung dieses Satzes ist in Vergessenheit geraten.

Seine náchste Quelle

war eine AuBerung von Seneca

in seiner

Schrift ,,de ira“. Er bringt sie jedoch nicht als eigene Entdeckung, was oft iibersehen wurde, sondern als fibersetztes Zitat aus Platon?. Allein nicht dieser, sondern Protagoras ist sein Autor, was von Seneca

nicht hervorgehoben wurde. Steht doch jener aus dem Dialog ,,Protagoras” entnommene Satz tiber das Wesen der Strafe mit den An-

Zige. Sie treten lehre als seine Ethik zeigen universalistische go gischen lpáda auch deutlicher hervor, wenn man die sozia sie im Kap. 15 Ausfithrungen unseres Sophisten beriicksichtigt, wie

sichten,

moderner tet“ enthalten sind. Sie haben bereits die Aufmerksamkeit

befleckten Seele und die Herstellung der durch die Ubeltat gestórten Harmonie bezeichnet. Die Strafe wird geradezu als eine Wohltat fúr den Verbrecher angesehen und fiir ein groBes Ungliick der Fall erachtet, in welchem der Ubeltáter der verdienten Strafe entgeht. Es ist der Standpunkt einer verfeinerten Vergeltungstheorie, wel-

Hinweisen in ,, Theádes Dialogs Protagoras, aber auch in einzelnen

Erziehungstheoretiker,

so namentlich

von P. Natorp,

erweckt.

Y. Strafrechistheorie und Socialpádagogik Gedanken Nicht minder bedeutungsvoll als die bisher dargestellten

, das Wesen des groBen Sophisten tiber die menschliche Urgeschichte

kurze, aber des Staates, der Sittlichkeit und des Rechts ist seine bis zur in markanten Sátzen entwickelte Strafrechtstheorie, welche

der Zusammenhang Gegenwart nachgewirkt hat, freilich ohue daB , Mythus (p. 324) im bisher Klar erkannt worden wáre. Die Stelle lautet:

,Denn

wenn

du bedenken

willst,

was

mit

der

Bestrafung

schon dieses dich der Unrechttuenden wohl gemeint ist, so wird d sei zu erwerben. lehren, daB alle Menschen glauben, die Tugen

Unrecht getan hat, sieht Denn. niemand, der einen bestraft, welcher

Unrecht getan hat, blo8 darauf und tut es deshalb, weil jener eben Tier nur ráchen. ein wie es miiBte sich denn einer ganz vernunftlos Wer

aber

sich vornimmt,

mit

Vernunft

einen

zu strafen,

der be-

, denn er kann ja straft nicht um des begangenen Unrechts willen sondern des Zudoch das Geschehene nicht ungeschehen machen,

weder derselbe kinftigen wegen, damit nicht ein andermal wieder 102

welche

Platon

selbst

iiber

dieses Thema

in verschiedenen

Dialogen entwickelt hat, nicht im Einklang. Er war niemals ein energischer Gegner der Vergeltungstheorie. Im Dialoge ,,Gorgias”

wird als das Ziel der Strafe die Reinigung der durch das Verbrechen

cher hier zum Ausdruck gelangt. Erst in Platons letztem Werke, im Dialog ,,Nomoi“, náhert sich der Philosoph der Anschauung von Protagoras, indem er gleichfalls die Abschreckung und Besserung als Strafzwecke in Betracht zieht (ITI, 934 a). . Zur Zeit, als Protagoras seine Ansichten tiber Wesen und Zweck der Strafe entwickelt hat, ist die Vergeltungstheorie jedenfalls herrschend gewesen, nicht nur in den Volkskreisen, sondern auch bei den leitenden Staatsminnern und Philosophen. Es ist bekannt, daB die Schule der Pythagorier die Talion als die allein gerechte Strafe gelebrt hat und den Begriff der Gerechtigkeit geradezu auf die mathematische Gleichheit zuriickzufiihren versuchte. Protagoras scheint nun der erste gewesen zu sein, welcher der Idee der Wiedervergeltung den Fehdehandschuh hingeworfen hat. Es sind zwei Ge1 Nam: ut _Pls.to ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur,

revocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur.

103

sichtspunkte in der oben zitierten Stelle des ,, Mythus“, welche gegen den Vergeltungsgedanken vorgebracht werden. Zunáchst wendet Protagoras ein, daB die Vergeltung dem Rachetriebe entspringe, daher etwas Tierisches, Unverniinftiges sei. Das zweite Argument richtet sich gegen jene Begriindung des Vergeltungsgedankens, welche darauf

hinaufliuft,

daB

durch

die

Strafe

die

Ubeltat

vernichtet,

gleichsam aus der Welt geschafft werde. Dagegen wendet Protagoras ein, daB man das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, daB daher die Strafe eine andere Begriindung finden miisse; diese

liege nicht in der Beziehung zur vergangenen Tat, sondern in der Ricksicht auf die Zukunft.

Gestraft wird, sagt er, damit nicht wie-

der Unrecht tue, der Ubeltáter selbst noch ein anderer, der diesen bestraft geschen hat; der Abschreckung wegen Danach kénnte es scheinen, als ob unser Sophist kungstheorie als die einzige Grundlage des Strafrechts Allein es wird sich sogleich zeigen, daB er auch den tiven Strafrechtstheorien eine Berechtigung zuerkannt vor

allem

von

der

Besserungstheorie;

auf

wird gestraft. die Abschrekgelehrt hátte. anderen relahat. Dies gilt

die beziehen

sich

folgende Sátze der Protagoras-Rede: ,,Wer der Tugend nicht teilhaftig ist, muB belehrt und bestraft werden, sei er Knabe, Mann oder Weib, bis er durch die Bestrafung besser geworden ist“.(p. 325a). An einer anderen Stelle (325 d) heiBt es, daB die Erziehung die Aufgabe hat, ein verbogenes Holz geradezurichten, und daB auch der Staat, indem er Strafen androht und ausfiihrt, nicht anders handelt

wie ein Schulmeister; die Bestrafung heiBt daher auch schen, weil sie gleichsam geraderichtet, ,,Richtung”. Zusammenhange mit dem Besserungszwecke steht nach die Sicherung der Gesellschaft gegen unverbesserliche ,, Wer

auf Bestrafung und Belehrung

nicht

im GriechiIm engsten Protagoras Verbrecher :

achtet, muB als ein Un-

heilbarer aus dem Staate getrieben oder getdtet werden (325 A). Die Reprobationslehre oder die allgemeine Entristung tiber

das Verbrechen als Rechtfertigung der Strafe wird in der modernen Strafrechtstheorie von manchen angesehenen Kriminalisten - vertreten. Auch dieser Gedanke wird bereits bei Protagoras scharf hervorgehoben:

,,Bei den

sich von Natur

Ubeln

oder durch

námlich,

welche

Zufall haben,

die Menschen

gerát niemand

unter

in Zorn

- daB es durch Anstrengung, Ubung und Unterricht den Menschen zuteil werde, wenn jemand das nicht hat, sondern das diesem entgegengesetzte Bose, dariiber entstehen wohl die Erziirnungen, Bestrafungen und Zurechtweisungen” (323 ¢, d). Es hat sich also gezeigt, daB die verschiedensten, erst in der Neuzeit zur Ausbildung gelangten Strafrechtstheorien bereits bei Protagoras angedeutet erscheinen: die Vergeltungstheorie, die Abschreckungstheorie, die Besserungstheorie, die Sicherungstheorie und die Lehre von der Entriistung als Grund der Strafe. DaB sich Protagoras nicht bloB mit der allgemeinen Theorie der Strafe

bescháftigt

hat,

sondern

auch

bestrebt

war,

an

konkrete

Kriminalfálle juristische Untersuchungen anzukniipfen, ergibt sich aus einer Notiz in Plutarchs Biographie des Perikles, Kap. 37: ,,Als námlich Jemand im sog. Finfkampfe unabsichtlich den Epitimos aus Pharsalus durch einen Wurf getótet hatte, so hat.er (Perikles) den ganzen Tag damit verschwendet, daB er mit Protagoras disputierte, ob es am richtigsten und verninftigsten sei, den WurfspieB

oder den Werfenden oder den Kampfordner als Urheber dieses Ungliicksfalles anzusehen.”* Dieser Bericht, welcher háufig miBverstanden

wurde,

ist meines

Erachtens in folgender Weise aufzufassen. Der konkrete Fall, die unabsichtliche Tótung des Epitimos im [Kampfspiele, bildete den Ausgangspunkt einer Diskussion zwischen Perikles und Protagoras, bei welcher absichtlich das positive attische Strafrecht ignoriert und eine Entscheidung des Falles auf Grund verniinftiger Erwágung, also de lege ferenda, gesucht wurde. War doch nach den Gesetzen Athens die Entscheidung nicht zweifelhaft; eine positive Vorschrift, welche noch aus der Zeit Drakons stammte, hatte Tótungen im Kampfspiele ausdriicklich fiir straflos erklárt. Davon waren aber die beiden Unterredner nicht befriedigt, sondern suchten aus allgemeinen Gesichtspunkten eine verniinftige Entscheidung abzuleiten. Unter diesen Gesichtspunkten scheint nicht so sehr der Gedanke des Verschuldens der beteiligten Personen als vielmehr das Problem der Kausalitát vorgeherrscht zu haben. Es werden drei Moglichkeiten erwogen. Zunáchst, daB der Wurfspief die einzige Ursache des Ungliicksfalles bildet, also niemand

fiir den

oder weist zurecht oder bestraft diejenigen, di¢ dieselben an sich

verantwortlich

In der Kausalreihe weiter

haben, sondern hat Mitleid. Das Gute hingegen, wovon sie glauben,

zurtickzugehen,

104

gemacht wire

werden

unbillig,

kónne. da

der Wurf

nicht

Tod aus

des Epitimos der Willens-

105

spháre eines Menschen hervorgegangen sei. Die zweite Móglichkeit,

seine soziologischen SchluBfolgerungen zu ziehen. Er sieht sich nicht dazu veranlaBt, Reformen vorzuschlagen, eine ideale Pádagogik zu entwerfen, wie dies spáter Plato und Aristoteles in umfassender Weise getan haben. Protagoras stellt jedoch fest, daB die Jugenderzichung sozial bedingt und von vorhinein auf die Heranbildung guter Búrger gerichtet ist. Spáter wird dieses Werk fortgesetzt durch den EinfluB der óffentlichen Meinung und die staatliche Gesetzgebung (p. 326 B). Er hat dabei immer den Volksstaat im Auge, so daB auch seine Pádagogik einen demokratischen Charakterzug an sich trigt. DaB trotzdem die allgemeine Erziehung gewisse Unterschiede, die auf der Anlage beruhen, nicht zu beseitigen vermag, wird zugestanden und an dem Beispiel der Musik zu erkláren versucht (Kap. 16).

welche nach Plutarch in der Diskussion behandelt wurde, 14Bt den

Urheber des ungliicklichen Wurfes verantwortlich erscheinen, denn er hat den Speer, wenn auch unabsichtlich, in Bewegung gesetzt. Dic dritte Alternative faBt den Ordner des Kampíspieles ins Auge, welcher durch Unterlassung von SchutzmaBregeln den Tod verur-

sacht hat.

Merkwiirdigerweise besitzen wir aus der Feder

des griechischen

Redners Antiphon, welcher zur Zeit des Perikles in Athen lebte, eine Darstellung úber einen #hnlichen Rechtsfall, und zwar in'der

sog. zweiten Tetralogie des genannten Autors. Der Unterschied liegt nur darin, daB sich hier der ungliickliche Speerwurf nicht bei einem

Kampfspiel von Erwachsenen, sondern in der Ubungsschule eines Gymnasiums ereignet hat. Der Vater des getóteten Enaben klagt den Speerwerfer, welcher gleichfalis im jugendlichen Alter steht, wegen unabsichtlicher Tótung. Der Anklage folgt eine Verteidigungsrede, hierauf eine Replik und eine Duplik. Diese ProzeBreden sind natiirlich frei erfunden; es handelt sich um Musterbeispiele fúr den gerichtlichen Gebrauch. Im , Mythus des Protagoras wird neben der Theorie der Strafe auch das Erziehungswesen behandelt (Kap. 15), gleichfalls von sozialen Gesichtspunkten aus. Ist doch die Lehrbarkeit der Tugend das Hauptthema des ganzen Dialogs, der freilich im spáteren Verlaufe sich zu einem wenig fruchtbaren Wortgefecht gestaltet, was

Auch in der ,, Verteidigungsrede” des Dialogs ,, Theitet” wird von

Protagoras die hohe Bedeutung des Erziehungswesens betont. Der

Weisheitslehrer, heiBt es daselbst, vermag die Seele des Zóglings so H

umzuwandeln,

daB

er statt

schlechter

Wahrnehmungen

und

Mei-

nungen gute und heilsame erhált. Protagoras vergleicht den Erzicher mit

einem Arzt, der durch

und

mit einem

Landwirt,

die Heilmittel den

welcher

Kórper umgestaltet,

die Pflanzen

veredelt

(p. 167).

Sokrates am Schlusse selbst feststellen mu8. Davon soll hier nicht

weiter die Rede sein, da wir es nur mit den im ,,Mythus” enthaltenen Soziallehren zu tun haben. Soweit nun die Erziehungslehre in Betracht kommt,

kann wohl festgestellt werden,

daB Protagoras

zuerst den Grundgedanken einer Sozialpidagogik angedeutet hat. Das hat auch ein Hauptvertreter dieser modernen Wissenschaft, P. Natorp (Sozialpádagogik, 4. Aufl., S. 229), anerkannt: ,,Eine úberraschende Analogie tut sich auf zwischen der Schule und der sozialen Ordnung: Der Ausspruch von Geboten und Verboten, denen nachzuhandeln jedem in die Organisation Eintretenden zur Pflicht gemacht wird, die schon Protagoras klug mit den Vorschriften eines

Schreiblehrers verglich.“

.

Dabei begntigt sich unser Sophist, das sei betont, mit einer Schil-

derung des wirklichen 106

griechischen Erziehungssystems, um

daraus

107

VIERTE ABHANDLUNG DUNKLE

vépoc & πάντων Bacıkebe

θνατῶν τε καὶ ἀθανάτων

PINDARVERSE*

ἄγει δικαιῶν τὸ βιαιότατον ὑπερτάτᾳ χειρί. τεχμαίρομαι

Inhaltsübersicht: 1. Textfragen. II. Die Hypothese von Wilamowitz, ILL, Über einige bisherige Versuche zur Erklärung der Pindarverse. 1V. Eigene Auffassung. V. Die Pindarzitate in Platons Dialog „Nomoi‘‘, VI. Nachwirkung der Pindarverse. Vorbemerkung Es bildet in der griechischen Dichtung keine Seltenheit, daB rechtsphilosophische Probleme behandelt werden, wie etwa der Gegensatz zwischen geschriebenem Recht und Naturrecht oder zwischen Recht und Gewalt. In dieser Beziehung erweisen sich vor allem die griechischen Dramen als fruchtbar; es sei nur hingewiesen auf die ,,Schutzflehenden® von Aischylos, die „Antigone‘“ von Sophokles und die , Phoinissen** des Euripides. Ubrigens hat schon Solon in einem Gedichte (fr. 36 v. 30} sich gerithmt, Recht und Gewalt vereinigt zu haben.

Er kennt also bereits diesen Gegensatz,

ἔργοιοιν Ἡρακλέοο" ἐπεὶ Ταρυόνα fac Κυχλωπίων Erl προθύρων Edpuchéoc

ἀναιτήταο τε καὶ ἀπριάτας Elacey, Wie es sich nun auch immer mit dieser vielfach gebilligten Rekonstruktion verhalten mag, von entscheidender Bedeutung sind doch nur die fünf ersten Verse. Die oben gegebene Übersetzung schließt sich möglichst eng an den Wortlaut des Textes an und vermeidet es, den verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung zu prijudizieren. Es entbehren denn die meisten der bisherigen Verdeutschungen der

Genauigkeit, besonders, soweit der dritte Vers in Betracht kommt. So übersetzt z. Β, 0. Apelt

Das Gesetz, das Konig ist über Alle,

der auch im Mittel-

Sterbliche wie Unsterbliche,

punkte eines Fragments des groBen Lyrikers Pindar steht. Davon

Des Herakles Taten.

*, Texlfragen In Platons Dialog ,,Gorgias' (p. 484B) sind in einer Rede, welche dem Kallikles in den Mund gelegt wird, fiinf Verse aus einem Gedichte Pindars angefiihrt. Nach der Schilderung des die Fesseln der Konvention sprengenden Machtmenschen fihrt Kallikles fort : ,,Aunch Pindar,

glaube ich, bringt meine Ansicht zum Ausdruck in dem Liede, wo er sagt: „Das Gesetz, der Konig aller, der Sterblichen und der Unsterblichen und eben davon sagt er, „es macht das Gewalttitigste

Hier fehlt gerade der entscheidende Gedanke, die Rechtfertigung der Gewalttat; wie kann man auch sagen, daB das Gesetz selbst die Ge-

walttat veriibt? Auch die Ubersetzung von Wilamowitz I S. 218) ist unbefriedigend: Gesetz Allkönig

als wire es das von Natur Gerechte, daß die Rinder und aller sonstiger Besitz der Geringeren und Schwécheren den Besseren und Stér-

keren gehörten.‘“ Nach der Rekonstruktion von Bergk hitte das Gedicht gelautet: 1) Nach einem im Verein „Eranos Vindobonensis” gehaltenen Vortrag.

(Platon

Der Menschen und Gétter Du zwingst das Recht

Mit gewaltiger Faust, Ich seh’s an Herakles’ Taten.

ich sehe es an der Tat des Herakles,

der ungekauft ...“ So ungefihr heißt es, denn ich weiß das Gedicht nicht auswendig ; aber er sagt, daB Herakles die Rinder des Geryones, ohne sie gekauft oder zum Geschenk erhalten zu haben, weggetrieben,

108

:

Vollführt ohne Scheu die größte Gewalttat ΜῈ machtvoller Hand; das bezeugen

8011 im folgenden die Rede sein.

zu Recht mit michtiger Hand;

(Gorgias S. 92):

Diese Wiedergabe der Pindarverse berubt auf der Meinung, daß Platon infolge eines Gedéchtnisfehlers einen unrichtigen Text zitiert hat,

nämlich

βιαίων τὸ δικοκότατον statt δικαιῶν τὸ βιαιότατον ; eine un-

haltbare Annahme Aber

von Wilamowitz,

auch Deuschle

hat den

wie ich später zeigen werde.

Sinn nicht getroffen, wenn er über-

setzt: Das Gesetz führt herbei heiligend alle Gewalt mit mächtiger Hand. 109

dies namentlich

die Lesart δικαιῶν τὸ βιαιότατον, welche auch der Oxforder Ausgabe des Dialogs zugrunde gelegt wurde. Merkwiirdigerweise behauptet nun Wilamowitz (Platon II S, 95 f.), daB im ,,Gorgias" die falsche Lesart wirklich enthalten war. Auf diese Hypothese und ihre Begriindung komme ich alsbald zu sprechen. Vorher sei nur darauf hingewiesen, daß die richtige Lesart auch einen besseren Sinn ergibt.

Böckh behauptet hat. Der Dichter hätte darnach geschrieben: Nach

Es wire sonderbar, wenn der Dichter behauptet hätte, es gebe ein

der Natur macht das Gesetz, der König Aller, das Gewalttitigste zu

allgemeines Gesetz, demzufolge das Hingegen 148t sich eine Regel wohl waltakt zum Recht gestaltet wird. pretation der Pindarverse noch die

Daß das Gesetz alle Gewalt heiligt, davon steht nichts bei Pindar. Ich sehe von weiteren Beispielen an Fehlübersetzungen ab und wende mich nunmehr den Textfragen zu. Hier sind eigentlich nur zwei Probleme aufgetaucht. Das erste betrifft die Frage, ob den zitierten Versen Pindars die Worte

„xat& güay‘““ vorausgegangen

sind,

wie

Recht mit michtiger Hand. Böckh beruft sich zur Unterstiitzung dieser Hypothese darauf, daB im Dialog ,,Gorgias" spiter (p. 488 B) von

Sokrates

an Kallikles die Frage gestellt wird:

,,Wie verhält es

sich mit der naturgemaBen Gerechtigkeit nach deiner und des Pindars Meinung?“ Damit kann aber bloß eine Auslegung der Verse wiedergegeben sein, ohne daB sich Pindar wirklich des Ausdrucks κατὰ φύσιν bedient hitte. Dasselbe ist anzunehmen, wenn im Dialog ο Nomoi* (p. 690 B) Pindar zitiert wird als Beleg fiir die Ansicht, daB dem Stérkeren die Herrschaft gebiihre, wasder Natur gemaB sei. Davon wird noch spiter die Rede sein. Wiren wirklich die Worte | κατὰ φύσιν" im Anfang des Gedichtes gestanden, so hétte sich Kal-

Gerechteste vergewaltigt werde. begreifen; nach welcher ein GeDavon wird unten bei der InterRede sein.

Τ. Die Hypothese von Wilamowitz Nach Wilamowitz habe Platon infolge eines Gedichtnisfehlers im Dialog ,,Gorgias’* die unrichtige Lesart des dritten Pindarverses wirklich gebracht. Das 5011 sich aus der gegen Polykrates gerichteten „Apologie des Sokrates'* des Libanios ergeben. Trotzdem habe Platon noch in seinem Alterswerke „Nomoi‘“ aus VergeBlichkeit an jener falschen Lesart ,,das Recht vergewaltigen* festgehalten. ,,Es ist ge-

likles dies kaum entgehen lassen; wiirde es doch fiir seine Interpretation vom Naturgesetz des Stirkeren cine wesentliche Stiitze

wiß befremdend”, sagt Wilamowitz, ,,daB Platon als Greis den Pindar

gebildet haben. Seine Zitation beginnt jedoch mit Νόμος, Wobei er die

geben hatte, im Geddchtnis hat und so vom Neuen verwendet, ohne

Verse wortlich anfiihrt. Erst spater bemerkt er, daB ihm die Fortsetzung des Gedichtes aus dem Gedächtnis entfallen ist. Dazu kommt folgende Erwägung. Selbst wenn dem Dichter bereits die Antithese Nomos-Physis bekannt gewesen wäre, was mir nicht sehr wahrscheinlich diinkt, hätte ε5 keinen rechten Sinn gehabt, von einer lex secundum naturam zu sprechen, da ja.dann Nomos und Physis keine

nachzuschlagen. Vielen Philologen werden sich die Haare sträuben,

Gegensitze bilden wiirden. Man miiBte denn annehmen, daß Pindar ein Naturgesetz im Auge habe, was mir doch ein Anachronismus zu

sein scheint. Die zweite Textfrage betrifft den dritten Vers des Pindargedichtes. In einigen Handschriften des ,,Gorgias” findet sich an Stelle von

δικαιῶν τὸ βιαιότατον die Variante βιαίων τὸ δικαιότατον. Allein die erste Lesart ist sicher die richtige. Sie wird durch das vom Rhetor Aristeides gebrachte Zitat der Pindarverse und durch den Wortlaut in Platons „Nomoi“ (p. 714 E), wo alle Handschriften so lauten, bestätigt. Ubrigens hat der vorziigliche Codex Vindobonensis des ,,Gorgias™

110

in der Fassung und sogar in der Auslegung, die er im ,Gorgias‘ ge-

denen eine Anfithrung aus dem Gedichtnisse unverzeihlich erscheint. Platons Verschulden ist aber noch größer ; er hat seinen Irrtum nicht berichtigt, obgleich er ihm aufgestoflen ist, nimlich durch Polykrates; dadurch wird die Sache wirklich merkwürdig.‘“ Fiir eine solche Annahme, wie sie Wilamowitz vortrigt, miiBten doch zwingende Griinde vorliegen; ich kann sie nicht finden. Zunichst seien einige Bemerkungen über Polykrates und Libanios vorausgeschickt. Ein Gegner von Sokrates und seiner Schule, namens Polykrates, hat gegeniiber den verschiedenen Apologien 465 verurteilten Philosophen, etwa um 390 v. Chr. ein Pamphlet publiziert, mit der Tendenz, die Verurteilung von Sokrates als durchaus gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Dabei wurde die Form einer Anklagerede gewählt, die dem Anytos in den Mund gelegt wird. Diese Schrift ist uns nicht erhalten, doch kann ihr wesentlicher Inhalt aus den Entgegnungen rekonstruiert werden, welche von Seite der Anhéinger des Sokrates 111

rechtigkeit durchsetzen; Sokrates hätte dann diesen Sinn verdreht, wenn er angeblich lehrte, daß nach Pindar Gewalt vor Recht geht. Wilamowitz muß zugeben, daß sich im Dialog „Nomoi“ (p. 714 E)

verfaBt wurden, Dazu gehört vielleicht schon die Apologie Platons, sicher die ,,Schutzschrift'* in den Memorabilien Xenophons. Am ausfiihrlichsten hat sich jedoch ein im 4. Jahrhundert n. Chr. lebender Sophist namens Libanios in seiner ,,Apologie des Sokrates' mit der Widerlegung jener von Polykrates verfaBten Anklage beschaftigt,

die richtige Lesart vorfindet; er hilft sich damit, anzunehmen,

ein Leser der ,,Nomoi'* nachtréglich den richtigen Pindartext hinein-~ gesetzt habe!

weshalb ihr Inhalt daraus erschlossen werden kann. Darin wird unter anderem dem Sokrates seinen Gesprichen Dichterstellen gefilscht ausgelegt habe, wodurch der Anklagepunkt rechtfertigt erscheine. Angefiihrt werden

vorgeworfen, daB er in oder mindestens falsch des Jugendverderbs geZitate von Homer und

111. Uber einige bisherige Versuche zur Erklärung der Pindarverse Man kann zwei Gruppen unterscheiden, ndmlich solche Autoren,

welche entschieden in Abrede stellen, daB Pindar in seinem Gedicht ein Recht des Stirkeren im Auge gehabt habe, und jene Schriftsteller, die eine soiche Deutung mit gewissen Einschrinkungen als moglich erachten. Aus der ersteren Gruppe sei als besonders charakteristisch cine Ausfilhrung von F, D immler hervorgehoben. Er sagt (Prolegomena zu Platons Staat 1891):,,Es ist schwer verstindlich, wie man die Pindarinterpretation von Kallikles hat als authentisch auffassen konnen. Der fromme Dichter soll Herakles als Vertreter des Faustrechts feiern, der gerade der Herrschaft der rohen Gewalt ein Ende

Hesiod, aber auch der Pindarvers iiber Recht und Gewalt. Libanios

gibt ihn in der Form wieder: ὑπερτάτῃ χειρὶ βιάζεται τὸ δίκαιον ", So sei es bei Polykrates zu lesen. Allein dieser habe eine Umstellung des Verses vorgenommen, wenn er Sokrates zumutete, das Pindarzitat gebraucht zu haben, um die Jiinglinge zu Gewalttitigkeiten zu ermuntern. Wilamowitz ist nun, wie oben bemerkt wurde, allerdings der Ansicht, daB die Umstellung nicht von Polykrates herriihrt, sondern daß die falsche Fassung aus Platons Dialog ,,Gorgias” entnom-

bereitet hat! Wie der Gedanke bei Pindar im einzelnen ausgefithrt

men worden ist. Diese Annahme wiirde jedoch voraussetzen, daB Platons Dialog der Anklageschrift des Polykrates vorausgegangen ist; das ist jedoch nicht sicher. Die herrschende Meinung nimmt im Gegenteil an, daß der ,,Gorgias" eine Antwort auf Polykrates enthalte® Muß denn überhaupt dieser Autor die falsche Lesart gerade aus dem ,,Gorgias" entnommen haben? Es kénnen ihm ja auch Berichte von Schiilern des Sokrates vorgelegen sein, wie dies vermutlich bei anderen Dichterzitaten wahrscheinlich war. Ubrigens handelt es sich beim Pindarzitat gar nicht um eine Ansicht des Sokrates, sondern des Kallikles, des Vertreters der Herrenmoral, dem ja Sokrates entgegentritt. Polykrates konnte

auch die Ansicht gehegt

haben,

daß die Lesart

war, 148t sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, da dem schéngeistigen

Junker im rechten Moment sein Gedächtnis im Stich 148t ; aber sicher war der Nomos, den Herakles vertrat, die göttliche Gerechtigkeit. Freilich kaufte er dem Geryones die Rinder nicht ab, aber daß dieser sie auch nicht gekauft hatte, darauf kam es an; er hatte βιαιότατον

begangen, das Herakles zum Rechte führte,‘“ Diese Auslegung erscheint mir unhaltbar. Von der Art, wie Geryones einst in den Besitz der Rinderherde gelangt war, ist mit keinem Worte die Rede. Es ist daher eine willkiirliche Annahme, daß sich das βιαιότατον auf eine Handlung des Geryones bezieht und nicht auf die Tat des Herakles. Wenn man sich auf den Rechtsstandpunkt stelit,

,,das

wire es iibrigens noch zweifelhaft,

Gerechteste vergewaltigen” richtig sei, aber Sokrates sie falsch aus-

gelegt habe. Das Wort βιάζειν bedeutet némlich nicht bloB vergewal1) Einzelne

Handschriften

lauten:

βισιῶν τὸ δικιαιότατον.

Markowski,

de Libanio

Socratis defensore

(1910). Letzterer

zeigt,

daB

Platon

an mehreren Stellen des „Gorgias“ auf einzelne Vorwiirfe des Polykrates antwortet, 80 insbes. hinsichtlich der Verdienste der athenischen

112

Staatsminner.

S

tigen, sondern auch erzwingen. Dann wiirde es also bedeuten: die Ge2) Vgl. Gercke, Einleitung zum ,,Gorgias” S, XXIII, H. Maier, Sokrates S. 132,

daß

ob es gestattet ist, einen Räuber

wieder zu berauben. Verfehlt ist auch Diimmlers Hinweis auf Platons „Gesetze‘“ (p. 714 E), da hier der höheren Macht eine gewisse Berechtigung zuerkannt wird. Auch spricht das Pindarfragment 81, worin der Dichter Bedenken gegen den Rinderraub des Herakles duBert, gegen jene Interpretation; davon wird noch unten die Rede sein. So nimmt

denn

die herrschende

Meinung

mit Grund

an, daB in

dem Rinderraub des Herakles prima facie ein Gewaltakt gegeben sei, 8

113

den der Dichter zu rechtfertigen versucht. Ed. Meyer behauptet (Geschichte des Altertums IV S. 453), daß der Nomos bei Pindar das höhere Sittengesetz bedeute, auf welches gestützt sich Herakles

als freier Recke über die konventionelle Sitte hinwegsetzen durfte. Leider ist dabei unklar gelassen, worin dieser höhere Nomos eigentlich besteht. Sollte damit gemeint sein, daB nach des Dichters Auffassung einem

Helden alles erlaubt sei, wozu er die Kraft besitzt, so wiirde

dies bedeuten, daß die von Kallikles gegebene Auslegung Pindars richtig ist. Wie man aber dann von einem hoheren Sittengesetz sprechen kann, ist schwer einzusehen. Wilamowitz (Platon I S. 218) faßt das Wort ,,Nomos' als Meinung, Annahme auf. Er sagt: , Pindar schlieBt, daB der Nomos, d. h. wie es die Menschen gelten lassen, bei Géttern und Menschen über die Qualität einer menschlichen Handlung entscheidet; er macht vergewaltigend mit überlegener Faust Recht und das hält er dann fiir volles Recht.” Die sonstigen Bemerkungen von Wilamowitz beziehen sich auf eine Textfrage und wurden schon oben behandelt. Die Erklirung des ,,Nomos® als Meinung ist sicherlich sprachlich zulässig (vopiCw), 148t aber die Frage offen, welchen Inhalt diese Meinung besitzt, insbesonders ob sie sich

nur auf den Einzelfall bezieht oder ob sie einen abstrakten Inhalt hat. Im letzteren Falle wirde doch ein Recht des Stirkeren anerkannt sein.

In der Tat haben einzelne Schriftsteller der Meinung Ausdruck ge-

geben, daß dies die Ansicht Pindars sei, daher Kallikles mit vollem Rechte dessen Autorität angerufen habe. So vor allem Thompson in seiner vorzüglichen Ausgabe des ‚„,Gorgias‘“ (p. 171). Er gibt folgende Paraphrase der Pindarverse: Das ist ein Naturgesetz, das Gesetz des Stärkeren (The law of a stronger), dem alles unterliegt, im Himmel wie auf Erden, welches alle positiven gesetzlichen Anordnungen niederreißt, Handlungen der Gewalt rechtfertigt, welche

durch menschliche Gesetze verpönt sind. Durch dieses Naturgesetz werden manche sonst unentschuldbaren Unternehmungen des Herakles gerechtfertigt, so insbesonders jene, wonach er sich der Rinder des Geryones bemächtigt hat, ohne

sie bezahlt

zu haben und ohne

daß

sie ihm überlassen worden sind. Thompson stützt sich für diese Auslegung darauf, daß Platon selbst nicht nur im „Gorgias‘“, sondern auch noch im Dialog „‚Nomoi“,

p. 690 c, die Pindarverse so auffaBt.

Ich glaube jedoch, daß Platon hier nur über eine fremde Meinung berichtet.

Aber

selbst,

wenn

er sich ihr angeschlossen

hätte,

wäre

damit deren Richtigkeit noch nicht erwiesen: Platon hätte sich ja auch über den Sinn des Gedichtes einer unrichtigen Ansicht befleißigen können. Die Hauptsache ist aber, daß Thompson den Wider-

spruch gar nicht aufzuklären versucht, welcher in der Annahme eines Faustrechtes und der frommen Denkungsart Pindars gelegen ist.

Wenig befriedigend ist auch die zuerst von Böckh vertretene Ansicht, daß Nomos als lex fatalis aufzufassen sei, als Ausspruch des über Menschen und Gotter waltenden Schicksals. Abgesehen von sprachlichen Bedenken — wird doch Schicksal gewthnlich mit Moira oder Tyche bezeichnet — scheint mir mit dieser Auslegung nicht viel gewonnen zu sein; es fehlt ihr eine besondere Beziehung auf das Verhiltnis von Macht und Recht. Mit der Interpretation von Nomos als Sitte oder Gewohnheit 1, die an sich gewiß zulässig ist, wird auch kaum

zur Qual der modernen Exklarer den Raub der Rinder durch Herakles zu rechtfertigen sucht. Er selbst verzichtet allerdings darauf, eine Erklirung zu geben. Er verweist nur einmal auf Verse von Solon, in

rechtes im Sinne Pindars zu ermitteln. Die Erklärung von Nomos als

waltsame Bruch des positiven Rechts, von dem Pindar handelt.

viel erreicht, da 65 sich darum handelt, den Inhalt dieses Gewohnheits-

Naturgesetz, die auch zuweilen versucht wurde, miiBte dahin führen,

den Standpunkt des Kallikles zu rechtfertigen, der in den Pindar-

versen eine Stiitze seiner Machttheorie erblickt. 1) So besonders Croisst (La poisie de Pindare p. 174). Er iibersetzt die Verse so: ,,La coutume, reine des hommes et de dieux, justifie L'empire de la force, qui méne toute chose de sa puissante main. J'en juge par l’exemple d’Hercule.‘*

114

So stehen wir hier in der Tat vor einem ungelösten Rätsel, und Hirzel sagt nicht mit Unrecht

welchen

sich

dieser rithmt,

(Themis,

Gewalt

und

Dike,

Recht

S. 183), daß Pindar

vereinigt

zu haben

(S. 133, Note 3); ähnlich sei der Gedanke Pindars gewesen. Allein Solon meinte offenbar, daß er dem Nomos, den er schuf, auch die nötige Macht verlichen habe; das ist etwas ganz anderes als der ge-

1V. Eigene Zunächst allgemeinen handelt und

Auffassung sei festgestellt, daß es sich in den Pindarversen um einen Ausspruch über das Verhiltnis von Recht und Gewalt daß dieser Ausspruch motiviert wird mit der Betrach-

tung eines konkreten Falles, der allerdings der Sage angehort, näm8

115

lich des Rinderraubes, welcher von Herakles an dem Riesen Geryones vorgenommen wurde. Der Dichter stellt fest, daB die Wegfithrung erfolgte, ohne daß ein Kauf oder eine Schenkung vorlag. Der Mangel eines Rechtstitels ließ also jene Tat als einen Gewaltakt erscheinen. Ob dieses Beispiel gliicklich gewählt war, um daraus einen generellen Satz abzuleiten, muB allerdings bezweifelt werden. Es braucht kein Gewicht darauf gelegt zu werden, daB es sich. um einen Mythus handelte. Selbst wenn der Rinderraub geschichtlich erwiesen wäre, wiirde er sich schwerlich dazu eignen, um daraus eine SchiuBfolgerung über das Verhiltnis von Recht und Gewalt absuleiten. Ἐξ kommt Pindar gar nicht in den Sinn, daß zwischen Herakles und Geryones keine Rechtsgemeinschaft, kein staatliches Band bestand, daB die Zeit der Heroen eine solche des Faust-u nd Fehderechts war, daB unabhingige Herren ebensowenig wie selbstindige Staaten den Regeln des Privatrechtes unterstellt werden können und daB hier nur der Kriegszustand galt. Von einem Rechtsbruch kann demnach hier nicht gut gesprochen werden. Pindar ist

freilich von dem Gedanken einer allgemeinen Rechtsordnung 80 sehr

erfiillt, daß er den Anachronismus gar nicht merkt,

ihm gewählten

der in dem von

Beispiel gelegen ist. Allenfalls könnte

dasselbe als

Basis einer moralischen Beurteilung der Gewalttat sich eignen, da

in ja eine strenge Unterscheidung zwischen Recht und Sittlichkeit ‘werden men angenom nicht nwelt der #lteren griechischen Gedanke kann, Wenn man nun von der Frage abstrahiert, ob das vom Dichter gewählte Beispiel passend erscheint, so möge nun das Hauptproblem zur Sprache kommen, nimlich welche SchiuBfolgerung Pindar wirklich gezogen hat. Ist die Deutung, welche Kallikles den Versen gen geben hat, wonach ein allgemeines Gesetz vom Rechte des Starkere Ausdiese ist Meinung besteht, wirklich zutreffend? Nach meiner legung nur zum Teile richtig. Es werden dabei namlich wichtige Momente außer Acht gelassen, welche eine Einschrénkung des Machtprinzips im Sinne Pindars ergeben. Werden sie beachtet, so besteht . kein Widerspruch mit dem sonst von dem Dichter an den Tag gebetont Mewaldt von wieder kiirzlich legten frommen Sinn, der erst

worden ist?. Ἢ In dem Bd. 54.

116

Aufsatz

,,Heroische

Weltanschauung‘

in

den

,,Wiener

Studien”,

Der Rhetor Aristeides (Or. II, 70) hat uns Verse aus einem Gedicht

von Pindar (fr. 81) fiberliefert, welche sich ebenfalls auf die Tat des Herakles beziehen. Hier heißt es: ,,Dich zwar, Geryones, lobe ich neben ihm (Herakles), aber schweigen will ich von allem, was Zeus nicht gefilit. Dennoch hattest du nicht unrecht, vor dem Rauber, der dein Gut entfiihrt, nicht ruhig zu bleiben und am Herde zu sitzen' L. Aus diesen Versen, welche vielleicht mit dem Fragment 169,

das der Dialog ,,Gorgias** bringt, irgendwie zusammenhangen, ergibt sich ein Doppeltes. Erstens hat Pindar den Raub der Rinder nicht gebilligt, vielmehr den Geryones dafiir gelobt, daß er Widerstand geleistet hat. Zweitens ist es nach Pindar der gottliche Wille, welcher in dem Siege des Herakles zum Ausdruck kommt; thm miisse män sich fiigen. Hat nun Pindar seine Ansicht ganz gewechselt, als er von dem Nomos sprach, welcher die groBte Gewalttat rechtfertigt? Dies ° wird in der Tat zuweilen behauptet. ,,Es wire nicht das erstemal, daB sich ein Dichter widersprochen hätte‘‘, sagt Croiset, la poésie de Pindare p. 234.

Ein vollkommener Widerspruch scheint mir aber nicht vorzuliegen. Man kann auf Grund der Erfahrung eine Regel feststellen, ohne sie deshalb zu billigen. Ἐξ handelt sich alse um eine Beschreibung der Wirklichkeit,

wenn

Pindar

von

einem

Siege

der

hoheren

Gewalt

spricht. Dabei wird der Dichter sicher auch noch an eine Zulassung

durch den Willen Gottes als Rechtfertigungsgrund gedacht haben, wenn er es auch im Fragment

169 nicht zum Ausdruck gebracht bat;

liegt dies doch fiir die Tat des Gottersohnes Herakles ziemlich nahe. Die Auslegung, welche Kallikles dem ,,Konig Nomos* zuteil werden 1äßt, ist daher nicht geradezu falsch, aber unvollstindig; insbesondere

hat er den Unterschied zwischen Beschreibung und Billigung der Regel außer Acht gelassen. Die Zitate in Platons Dialog ,,Nomoi® unterstiitzen diese Auffassung, wie sich im folgenden zeigen wird. Freilich wird hier das bei Pindar gegebene religiose Moment nicht

beachtet ; hatte doch Platon dafiir kaum ein besonderes Verstindnis. Die Stellung, welche er zu den alten Mythen einnimmt, ist ja bekannt.

4

2 δ᾽ ἐγὼ παρά pev αἰνέω μέν, Γηρυόνα, τὸ 35 μὴ Al φίλτερον oy πάμπαν. ob γὰρ εἰκὸς τῶν ξόντων

ἀρπαζομένων παρὰ ἐεστίῳᾳ χαϑῆσϑαι καὶ κακὸν ἔμμεν.

117

Sein Gott als Prinzip des Guten kann niemals eine Gewalttat recht-

fertigen, indem er sie geschehen 14Bt oder gar unterstützt. Das ist aber nicht der Gott der griechischen Volksreligion. V.

Das

An

Pindarzital

zwei

in Plalons Dialog

,,Nomoi

Stellen wird der Dichter ausdrficklich genannt,

hoheren Gewalt, stellt aber ihr gegeniiber 415 sechstes ,, Axioma’

p. 630 B

und 714 E; méglicherweise besteht auch in der Ausfithrung p. 890 A eine Hindeutung auf die angebliche Lehre Pindars vom Recht des Stärkeren. An der erstgenannten Stelle heiBt es: ,,Es muß notwendig

in jedem Staate Herrscher und Untertanen geben. Welches sind nun der Art und Zahl nach die giiltigen Voraussetzungen in bezng auf Herrschaft und Untertänigkeit in groBen und kleinen Staaten, ebenso

auch in den einzelnen häuslichen Gemeinschaften ? Kommt hier nicht erstens in Betracht die Stellung von Vater und Mutter? Und gilt es nicht durchwegs als eine berechtigte Forderung, daB die Eltern die

Herrschaft über die Kinder fithren? GewiB! Thr reiht sich als nichste an die, daB die Adeligen herrschen über die Unedlen, und als dritte folgt dann die, daß die Alteren zu befehlen, die Jiingeren zu gehorchen haben. Als vierte die, 448 die Sklaven gehorchen, die Herren aber be-

fehlen. Und als fünfte denke ich, daB der Stirkere herrsche, der

Schwiichere aber sich beherrschen lasse. Damit nennst du eine ganz unvermeidliche Form der Herrschaft. Ja und diejenige, die am weite-

sten Geltung hat unter allen lebenden Wesen und der Natur ge-

mäß

ist,

wie

einst

Pindar,

der

Thebaner,

sagte.

Die

schwerwiegendste Voraussetzung aber ist wohl die sechste, dergemäß der Unwissende gehorchen, der Einsichtige dagegen fithren und herrschen soll.

Und

dies, du hochweiser

nach nicht in Widerspruch

Pindar,

zwischen Beschreibung der Wirklichkeit und einer Sollordnung. Dies tritt gerade bei der Darstellung des finften Grundes der Herrschaft hervor, welcher das Machtprinzip enthilt. Der Philosoph anerkennt zwar unter Berufung auf Pindar die weitverbreitete Geltung der

diirfte meinem

Urteil

stehen mit der Natur, vielmehr ist die

Herrschaft des Gesetzes, sofern sie auf freiwilligem Gehorsam béruht,

die naturgemäße, nicht aber die auf Gewalt beruhende. Als siebente

Herrschaftsform nennen wir die auf der Gunst der Gotter und dem

die

Herrschaft der Einsichtigen über die Unwissenden. Hierin diirfte doch eher eine normative Lehre zu erblicken sein als eine soziologische Beschreibung; der Einsichtige 5011 herrschen. Merkwiirdiger-

weise verbindet Platon mit diesem Hinweis die Idee einer Gesetzesherrschaft, soweit sie auf freiwilligem Gehorsam beruht. Hier zeigt sich die Verdnderung, welcher der Grundgedanke in Platons ;,Staat”,

die Herrschaft der Philosophen, im Dialog von den Gesetzen erfahren hat. Ist doch die Herrschaft der Philosophen keineswegs von der Zustimmung der Untertanen abhingig gemacht worden. Kehren wir nach dieser Abschweifung zu dem Pindarzitat zuriick. Es wird von Platon ganz so ausgelegt, wie von Kallikles im Dialog „Gorgias‘‘,

Ἐξ sei naturgemi8,

daß

der

Stérkere herrsche

und

der

Schwichere sich beherrschen lasse. Diese Ubernahme der Interpreta-~ tion des Kallikles ist freilich auffallend. Allein Platon bekämpft ja die These vom Recht des Stärkeren,

indem er an dessen Stelle die Herr-

schaftsberechtigung der Weisen setzt ; er bezeichnet sie ausdriicklich als naturgemiB; das müßte auch der weise Pindar zugeben. Der Philosoph hatte daher keine Veranlassung, sich mit der Frage zu beschiftigen, ob Pindar das wirklich gemeint hat, was ihm Kallikles zumutet.

Auf die besprochene Stelle (Nomoi p. 690) bezieht sich nun die folgende Bemerkung zuriick, wo es heißt (p. 714 E): ,,Wir betrachteten frither die Voraussetzungen fiir die Frage, wer herrschen soll und iiber wen. Ἐξ zeigte sich namlich, 448 Eltern tiber Kinder, Altere iiber Jüngere, Adelige tiber Unedle herrschen sollen, und 80 gab es, wie

Gliick beruhende, nimlich diejenige, die wir dem Lose iiberlassen, indem wir es für gerecht erklären, daB der glitcklich Losende herrsche, der ungliicklich Losende dagegen sich bescheide und sich behetrschen

erinnerlich, noch eine ganze Reihe anderer Verhéltnisse, die einander

lasse.” Platon gibt hier eine interessante

groBte Gewalttat zum Recht erhoben werden könne, wie es scheint.“ *

Zusammenstellung

im Wege standen und eines davon war eben das uns jetzt vorliegende. Wir sprachen uns etwa dahin aus, daß nach

Pindars Ausspruch-die

schiedenen Herrschaftstiteln?, freilich ohne genaue Unterscheidung

Es folgt dann eine Polemik Platons gegen das Gewaltprinzip zu Gunsten der verniinftigen Einsicht. Unser Philosoph läßt die Staaten,

1) Vgl. dazu meine ,,Griechische Soziologie®, S. 71 .

1) „‚&yaıy δικαιοῦντα τὸ βιαιότατον ὡς φάναι."

118

der ver-

119

welche

auf

einer

Gewaltherrschaft

beruhen,

nicht

als

eigentliche

man

Staaten und ihre Gesetze nicht als rechtmäßig gelten. Vielmehr nennt

er eine Gesetzgebung, die nur den Interessen einer Partei dient, Parteisache und nicht Staatssache und spricht dem durch sie bestimmten sogenannten Recht jeden Anspruch auf diesen Namen ab. So bildet also bei Platon der Ausspruch Pindars, den er anscheinend ebenso auslegt wie Kallikles, den Ausgangspunkt für eine idealistische Rechts- und Staatslehre, welche in dem folgenden schönen Satze gipfelt: „Denn dem Staate, in dem das Gesetz abhängig ist von der Macht des Herrschers und nicht selbst Herr ist, dem sage.ich kühn

sein Ende voraus; demjenigen dagegen, in dem das Gesetz Herr ist über die Herrscher und die Obrigkeiten den Gesetzen untertänig sind, dem sehe ich im Geiste Heil beschieden und alles Gute, was die Götter

für Staaten bereit haben.‘“ ἘΞ gibt noch eine dritte Stelle im Dialog „‚Nomoi“, welche eventuell

als eine Anspielung auf Pindars Ausspruch aufgefaßt werden könnte. Bei der Darstellung und Bekämpfung der materialistischen Weltanschauung heißt es (p. 889 ff.): „Die Götter, das ist ihre erste Behauptung, seien Geschöpfe der Kunst, keine natürlichen Wesen, sondern durch gewisse Gesetze erst künstlich geschaffen. So seien sie denn auch bei den verschiedenen Völkern verschieden, je nachdem

sich in den einzelnen Staaten durch gegenseitige Übereinkommen der

Bürger die Gesetzgebung darüber gestaltet. Was die Sittlichkeit

annehmen,

daß Platon

hier den richtigen Text, den er früher

(p- 714E) anführte, wieder vergessen hat; heißt es doch dort nicht „das Gerechteste vergewaltigen‘‘, sondern ,,das Gewalttätigste zum Rechte führen‘‘. Wohl aber glaube ich annehmen zu können, daß die

Ausführung Platons eine Anspielung auf Verse der von Kritias verfaBten Tragodie ,,Sisyphos’ enthilt, die uns in einem Fragmente er-

᾿

halten sind?. Thr Inhalt ist im wesentlichen folgender: ,,Es gab eine Zeit, in der die Menschen 80 wie die Tiere dahinlebten, ohne Regeln,

und nur die Ubermacht hatte Geltung. Es gab keine Belohnung für die Guten und keine Strafe fiir die Bosen. Spiter, glaube ich, schufen die Menschen Gesetze, damit die Gerechtigkeit die oberste Gewalt

habe und

die UnbotmiBigkeit unterdriicke.

Von nun an traf Ver-

geltung jeden, der Ubles tat. Aber da die Gesetze nur die offenbare Gewalttat verhinderten und man im Verborgenen Schlechtes tat, hat, wic ich glaube, ein kluger und geschickter Mann sich vorgenommen, etwas zu erfinden, womit man die Sterblichen in Furcht setzen kann davor, im Geheimen etwas Schlechtes zu tun. Deshalb fithrten

sie in der Welt den Glauben an Gétter ein.” In diesen Versen des Kritias kommt das Bekenntnis zum Atheismus ebenso zum Ausdruck wie die Auffassung des Rechts als kiinstliche Schopfung. Mit dem frommen Pindar haben aber diese von Platon bekdmpften Lehren sicherlich nichts zu tun.

V1. Nachwirkung der Pindarverse

anlangt, so bestehe ein Unterschied zwischen dem, was von Natur und dem, was von Gesetzes wegen löblich sei. Und was vollends das

Auf sie wird in der Folgezeit des 6fteren bezug genommen; ja man kann sagen, daB die Redewendung vom ,,Kénig Nomos* fast zum

die Menschen dariiber im Streit und bestimmen es bald so, bald

Sprichwort geworden ist. Dabei zeigt 68 sich freilich, daß dieser Bezeichnung ein verschiedener Sinn beigelegt wird. Das tritt schon bei

Recht anlangt, so gebe ε8 von Natur gar keines, sondern ewig liegen

wieder anders; die jeweilig letzte Bestimmung bleibe dann bis auf weiteres in Geltung als eine Schopfung der Kunst und der Gesetze, nicht aber irgendwie als Wirkung der Natur. Das ist, meine Freunde,

was den jungen Leuten als geistige Kost dargereicht wird, indem sie in Prosa und Versen behauptet, das Gerechteste sei das, was einer sich durch siegreiche Gewalt zu erzwingen weiB™.” Wilamowitz meint nun, daB es sich hier um eine Anspielung auf die Pindarverse handelt. Ich halte dies nicht fiir zutreffend. Abgesehen

jenem Autor hervor, der vielleicht als einer der ersten auf das Gedicht

Pindars hingewiesen hat, nimlich bei Herodot. Er erwähnt (III 38)

den Dichter, um die Macht der Gewchnheit bei den einzelnen Völkern, besonders hinsichtlich der verschiedenen Begribnissitten dar-

zulegen, Dashat aber Pindar kaum im Auge gehabt, da er den Konig Nomos als auch fiir die Gotterwelt maBgebend erklirte. Noch weiter

davon, daB der Name des Dichters gar nicht genannt wird, müßte

entfernt sich Hippias von dem urspriinglichen Gedanken Pindars, wenn er den Nomos als einen Tyrannen bezeichnet, welcher auf die Menschen gegen die Natur eine Zwangsgewalt ausiibt.

1) φασκόντων εἴαι τὸ δικαιότατον ὅ τί τις ἂν νυιῇ, βιαζόμενορ,

1) Vgl. dazu meine Schrift , Kallikles”, S. 90 1{

120

121

In der bekannten

Stelle

des platonischen

Dialogs

„„Protagoras‘

(p. 337 C) wird dem Hippias folgende AuBerung in den Mund gelegt, an deren Echtheit zu zweifeln kein Grund vorliegt: ,,Ich bin der An-

sicht, daß ihr alle Verwandte, Angehdrige und Mitbiirger von: einander seid, nach der Natur, nicht nach dem Gesetz. Denn das Gleichartige ist dem

Gleichartigen

nach

der Natur verwandt,

das Gesetz

aber ist der Tyrann der Menschen und erzwingt vieles gegen die Natur.‘“1 Hippias behauptet, daB alle Menschen Briider sind, also Mitbiirger trotz der Trennung durch die einzeluen Staaten. Im ., Nomos", d. h. hier das positive Recht, wird dies verkannt; jede Polis behandelt jene Menschen, die ihr nicht angehoren, als Fremde.

Das sei naturwidrig und zeige — es handelt sich nur um ein Beispiel fiir viele — wie der Nomos gleich einem Tyrannen eine Zwangsherrschaft ausitbe. Ganz entgegengesetzt ist jedoch der Standpunkt eines anderen Sophisten, welcher das positive Recht feiert und ihm, offenbar in Ankniipfung an die Pindarverse, eine königliche Herrschaft iiber die Menschen zugesteht 2 Eine Nachwirkung der Pindarverse glaube ich auch in dem Ge-

schichtswerk von Thukydides sich um

das bertthmte

Gesprich

feststellen zu können. Es handelt zwischen

den Abgesandten

von

Athen und Melos (V, 89 ff.}, in welchem das Thema vom Verhéltnisse

zwischen Recht und Macht diskutiert wird® Die Hauptstelle lautet: ., Wir glauben, daB, was die Gottheit betrifft, wahrscheinlich, was die

Menschheit anlangt, ganz sicher kraft einer Naturnotwendigkeit ge-

herrscht wird, soweit die Macht reicht. Wir haben dieses Gesetz {Nomos) nicht zuerst aufgestellt, noch das Aufgestellte zuerst angewendet, sondern es schon als bestehend vorgefunden, wie es denn auch nach uns fiir alle Zukunft giltig sein wird.‘ Hier findet sich, wie bei Pindar, der Hinweis, daB jenes Gesetz nicht nur fiir die Menschen, sondern auch fiir die Götter Geltung habe; freilich mit dem Zusatze, daB dies nur wahrscheinlich, aber nicht absolut sicher sei.

Jedenfalls wird hier festgestellt, daB die hohere Gewalt Recht schafft, jedoch ohne daB dies von Thukydides ausdriicklich gebilligt wird; es handelt sich, wie bei Pindar, um eine Beschreibung der

Wirklich-

keit. Es scheint sogar, daB unser Historiker fiir die von der Uber-

macht Athens bedrohten Melier eine gewisse Sympathie besitzt, ähnlich wie Pindar in dem oben besprochenen Fragmente 81 dies gegenüber dem seiner Rinderherde beraubten Geryones zum Ausdruck

brachte. Von der Stellung, welche Platon zu den Pindarversen im Dialog „Nomoi‘

einnimmt, ist schon oben ausfithrlich gesprochen worden.

Hier seien noch einige Hinweise erwihnt, welche in anderen Dialogen über

den

,Nomos

Basileus'

enthalten

sind,

freilich ohne

daß

der

Dichter ausdriicklich genannt wird. Im ,,Symposion® (p. 196 C) werden die Gesetze als die Könige der Staaten bezeichnet ; im Dialog ., Kriton* werden sie sogar zu Gottinnen personifiziert. In zwei Brie-

fen Platons finden sich gleichfalls AuBerungen über den Herrschercharakter des Gesetzes, welches abwechselnd als Basileus und Kyrios

bezeichnet wird, so im VI. Briefe p. 323 D und im VII. p. 354 C.

Interessant ist namentlich die letztere Stelle, wo es heißt, daß durch die Verfassung Lykurgs

das Gesetz zum

Souverin

und König der

Menschen erhoben wurde; es sind also nicht die Menschen die Herrscher über die Gesetze. Die Echtheit dieses Platonbriefes wird jetzt kaum mehr bestritten. Noch eingehender hat sich Aristoteles mit dem Problem der Gesetzesherrschaft befaBt (Politik Τ p. 1281, 1286), woriiber ich an anderer Stelle eingehend berichtet habe®. Von dem stoischen Philosophen Chrysippos ist eine Definition des Gesetzes in Justinians Digesten {ibergegangen, worin wieder der ,,Nomos Basileus‘“ aufscheint: „Das Gesetz ist der Konig über menschliche und géttliche Dinge, Fürst und Herrscher über das Schone und HiBliche, Fithrer

fiir das Gerechte und Ungerechte, Gebieter über das Tun und Lassen der von der Natur zum Staate geschaffenen Menschen.” Freilich handelt es sich hier, ebensowenig wie in den vorausgegangenen Zita- ten, um das Recht des Stdrkeren, wie es Pindar angeblich gelehrt hatte. Diese letztere Auffassung ist übrigens auch in der Neuzeit als Naturgesetz, ja 815 Gottes Wille verkiindet worden. So kann man in

der ,,Restauration der Staatswissenschaften”

von L. v. Haller

1) ö 88 νόμος τόραννος ὧν τῶν ἀνδρώπων πολλὰ παρὰ τὴν φύσιν βιάζεται.

(I 8. 375) lesen: ,,Das ist also die ewige, unabinderliche Ordnung Gottes, daß der Michtige herrscht und immer herrschen wird®.

) Anonymus Jamblichi, Fr. E. (ΒΙ68):, 3) Vgl. dazu meine Schrift „Kallikles‘‘,

3} Beitrage

122

ἐμβασιλεύειν τοὺς ἀνθρώπους."““ S. 54 ff.

zur Geschichte der Staatslehre”,

S. 170 ff,

123

7 Selbst bei dem groBen englischen Publizisten Carlyle kann man diesen Gedanken finden, wenn er sagt, daB aus Macht und Erfolg auf ein zu Grunde liegendes Recht geschlossen werden miisse (Past and Present p. 164). Deshalb wurde ihm der Vorwurf gemacht, daß er das Evangelium der Gewalt gepredigt habe. Wie sehr Fr. Nietzsche geneigt war, ein Recht des Stirkeren anzuerkennen, ist ja be-

FÜNFTE ABHANDLUNG

HERAKLITS Inhaltsübersicht:

I.

Einleitung.

RECHTSPHILOSOPHIE! II.

Das

Recht

und

die Welt,

IIL, Rechts-

positivismus und „göttliches Gesetz“, TV. Verschiedene Deutungsmöglichkeiten. V. Heraklits Staats- und Soziallehre. ΨΊ, Nachwirkungen,

kannt. Bei ihm kann man einen direkten Einfluß der Gestalt des

L Einleitung

Kallikles in Platons ,,Gorgias" feststellen, welcher das Pindargedicht

Die vorsokratische Philosophie hat in der neuesten Zeit erhöhte Aufmerksamkeit erweckt, während frither die großen Klassiker unter

im Sinne der Herrenmoral ausgelegt hat; vgl. dazu meine

,.Kallikles S, 80 ff.

Schrift

den griechischen Denkern, Platon und Aristoteles, eine Art Alleinherrschaft ausgeübt haben. Zuerst war es Friedrich Nietzsche, der sich

zu den ältesten Metaphysikern, insbesondere Heraklit und Empedokles, aber auch zu den Sophisten, namentlich Protagoras, hingezogen fühlte, Mit flammender Begeisterung pries er die Geistestaten dieser Männer, denen gegenüber er in der späteren griechischen Philosophie nur eine Dekadenz erblicken wollte?. Dann war es Theodor Gomperz,

der sich zwar von dieser Einseitigkeit femhielt‚} aber

doch die Bedeutung der Vorsokratiker unter Anwendung moderner Parallelen in eine neue Beleuchtung rückte® Das Verdienstliche dieser Leistung wird dadurch nicht gemindert,

daß dabei die Rechts- und

Staatsphilosophie wenig Beachtung fand; gerade hier macht die trümmerhafte Überlieferung dem Verständnisse große Schwierigkeiten. Was die Sophisten betrifft, so hat der Schreiber dieser Zeilen

trotzdem den Versuch gewagt, zu positiven Ergebnissen zu gelangen®. Diesmal gilt die Untersuchung einem alten Denker, der von jeher den Scharfsinn der Forscher gereizt und eine fast uniibersehbare Literatur hervorgerufen

hat,

,,Herakleitos,

dem

Dunklen®.

Selbst-

verstindlich handelt es sich hier nur um seine Rechtsphilosophie, vor allem um die Auslegung seines berühmten Diktums, daB alle mensch%) Die Grundgedanken dieser Abhandlung wurden zuerst in dem ,,Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien, philosophisch-historische Klasse!; Jahr-

gang 1932, S. 157 ££. veröffentlicht. Eine nahere Ausfihrung erfolgte in dem

Absatze , Heraklits Rechtsphilosophie’ in der Zeitschrift fiir öffentliches Recht, Bd. XII, S, 177 ff,, mit Kirzungen und Erginzungen hier wieder abgedruckt.

%) Diesen Standpunkt hat iibrigens schon vorher F, A. Lange in seiner „Ge-

schichte des Materialismus' eingenommen, 3) Griechische

Denker,

1. Bd.

4) In den Schriften ,, Kallikles”, eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Rechte des Stirkeren, 1922, und Beiträge zur Geschichte der Staatsiehre, 1929,

124

125

lichen Gesetze von dem einen göttlichen ernährt werden!. Dabei müssen natürlich auch die anderen Fragmente des ephesischen Denkers, soweit sie zum Thema ,,Recht und Staat‘“ Beziehungen zeigen, herangezogen werden, insbesondere jene, welche man als soziologische Aussprüche bezeichnen könnte. Die eigentliche Philosophie Heraklits,seine Metaphysik und Erkenntnislehre, sowie seine Physik, sollen nur gestreift werden, soweit dies zum Verständnis seiner Soziallehre nötig erscheint. Gerade für diesen Zweig seiner Lehre bietet die bisherige Literatur nur wenig. Das umfangreiche und scharfsinnige Werk des jungen Lassalle über Heraklit (1859) beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Logik, Erkenntnislehre und Metaphysik, wobei seine Interpretation von Hegels Philosophie stark beeinflußt erscheint. Gerade die rechtsphilosophischen Andeutungen Heraklits werden in

das Werk

und

klits wird verschieden formuliert; bald wird auf die FluBlehre, bald auf die Theorie von der Identitit der Gegensitze, bald auf die Idee des Logos das entscheidende Gewicht gelegt. Letzterer Begriff wird jetzt allgemein als objektive Weltvernunit gedeutet, also nicht im Sinne einer sittlichen Weltordnung (Stoiker) oder eines persönlichen Gottes (friihchristliche Philosophie). Demnach wird von der herrschenden Lehre das System Heraklits als Pantheismus charakterisiert, wie er spiter von Bruno, Spinoza, in einem gewissen Sinn auch von Schelling und Hegel ausgearbeitet wurde. Dieser Hinweis dürfte fiir die Auslegung der rechtsphilosophischen und soziologischen Fragmente des Ephesiers genügen. Im Zweifel wird eine ethisierende Interpretation wohl zuriicktreten miissen gegeniiber dem Gedanken

%) Noch ein moderner Rechtsphilosoph, Trendelenburg, hat jenes Diktum zum gewählt.

%) La politique d'Héraclite d’Ephöse, 1925. ?) Er glaubt, bei Heraklit bereits den Begriff der Souveränität, die Lehre von

von einheitlichen Gesetzen in Natur- und Menschenleben? Die Annahme eines ,,Naturrechts” in ethischem Sinn lieBe sich mit einer

der Teilung der Gewalten, den Schutz der Grundrechte, ja seibst die Skonomischen Theorien von Adam Smith und Karl Marx angedeutet zu finden! Ver-

pantheistischen Weltauffassung nur schwer vereinigen, wihrend der Rechtspositivismus sehr gut in dieses System eingefiigt werden kann.

soziologischen Werken, wobei

jedoch Th. Gomperz bereits vorgearbeitet hatte. Ich lege jedoch das Schwer-

1) Uber den Zusammenhang der Weltanschauung und Staatslehre im allgemeinen

gewicht auf die Interpretation der rechtstheoretischen Ausspriiche Heraklits als Ausgangspunkt des antiken Denkens über Recht und Staat.

siehe meine Beitrige zur Geschichte der Staatslehre, Kap. 2, wo auf Heraklit bereits kurz hingewiesen wurde.

4) SiewerdennachDielszitiert, dessenUbersetzunginder Regelhier verwendet wird.

%) Gomperz, a. a. O., 1. Bd., S. 52, bemerkt über Heraklit, daß er zum ersten-

%) IX, 15. Nach einer anderen Notiz soll doch wenigstens ein besonderer Teil gewesen

gehandelt

Dinge; die Welt ist ewig und nicht geschaffen; es herrscht strenge GesetzmaBigkeit ; alle Bewegung vollzieht sich nach MaBen: in der Welt wirkt eine Vernunit (Logos), an der auch die Menschen teilhaben.” Die Rangordnung dieser Grundgedanken im System Hera-

Motto seines Werkes ,Naturrecht auf dem Grunde der Ethik_(1. Aufl. 1860)

Staate gewidmet

Staate

Feuer, das abwechselnd sich entziindet und erlischt ; jedes Ding ent-

mit jenen Fragmenten eingehend beschäftigt; jedoch führte seine unkritische Methode zu geradezu phantastischen Behauptungen®, Es besteht daher kein Bedürfnis, in der folgenden Darstellung die bisherige Literatur ausfiihrlich zu erwihnen, dies umso weniger, als gerade das von mir ebenfalls behandelte Thema der Nachwirkung herakiitischer Gedanken in der antiken Rechtsphilosophie meines Wissens noch gar nicht aufgeworfen worden ist. Der größte Teil der iiberlieferten Fragmente Heraklits (etwa 130 im ganzen) ¢ haben einen metaphysischen, physikalischen, erkenntnistheoretischen oder anthropologischen Inhalt. Wenn man freilich einer Notiz bei Diogenes Laértius® Glauben schenken könnte, hätte jedoch

dem

vom

hält in sich einen Gegensatz, der aber zugleich eine Identität bedeutet ; alles beruht auf dem Streite; der Krieg ist der König und Vater aller

lässigt. Ein neuerer französischer Autor, Pierre Bise?, hat sich zwar

des Heraklitschen Werkes

hauptsächlich

wäre die Naturphilosophie nur zur Erläuterung politischer Lehren herangezogen worden. Das klingt sehr unwahrscheinlich, schon wegen des allseits bezeugten Titels ,,von der Natur‘‘. Jedenfalls haben von den iiberlieferten Ausspriichen nur wenige das Sozialleben zum Gegenstand. DaB dieselben mit der Weltanschauung unseres Denkersin Zusammenhang stehen, muß wohl angenommen werden®. Es seien daher seine Grundansichten erwihnt, wobei eine schlagwortartige Zusammenfassung für unseren Zweck gentigen diirfte. ,,Alles fliefit; es gibt nur ein Werden und kein Sein; das Urelement der Welt ist das

dem sonst so verdienstlichen Werke von Ed. Zeller ziemlich vernach-

dienstlich sind Bises Zitate aus modernen

des Ephesiers

sein.

mal zwischen

dem

Natur-

und

Geistesleben

Fiden

spannte,

die seither

nicht

i

126

1

Ϊ

| Ὶ

Ἷ

127

II. Das Recht und die Welt

der Vergeltung zum Ausdruck?®. Die Naturordnung ist zugleich eine

In einem gewissen Sinn ist nach Heraklit das Recht schon mit der Weltordnung gegeben. ,,Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ein ewig lebendes Feuer, das sich nach Maßen entzündet und nach Maßen erlischt‘“ (Fr. 30). Der Kosmos wird von strengen Gesetzen beherrscht, insbesondere die Bewegung der Gestirne. Heraklit bedient sich bei dieser Feststellung eines mythologi-

Rechtsordnung.

schen Bildes. ,,Denn die Sonne wird ihre MaBe nicht iiberschreiten;

ansonst werden sie die Erinyen, der Dike Schergen, ausfindig machen* (Fr. 94). Diesen Gedanken, die Auffassung der Natur als Rechtsordnung, hat Heraklit von Anaximander itbernommen, aber weiter ausgebildet. Das Fragment 9 D Anaximanders lautet:,,An-

fang der Dinge ist das Unendliche. Woher sie ihr Entstehen haben, dahin geht auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; zahlen sie doch einander Strafe und BuBe fiir ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.‘“ Worin legt nun aber die Ungerechtigkeit der Naturdinge, die mit threm Untergang bestraft wird? Man hat dies, allzu tiefsinnig, darin gefunden?, daB sie iiberhaupt als Einzeldinge entstanden sind; in der individuellen Existenz, in der Loslésung vom Allgemeinen, liege ein Frevel, der mit dem Tode bestraft wird. Es wird bei dieser Deutung iibersehen, daB nach jenem Ausspruch Anaximanders

die Dinge

einander

BuBe leisten;

in dem

Unter-

Heraklit hat diesen Gedanken aufgenommen und weiter ausgestaltet, indem er die Beschrinkung auf die strafende Gerechtigkeit in der Natur fallen ließ und die organisierende Macht des Rechts im ‘Weltgesetz verwirklicht fand. Nietzsche? hat in dieser Idee geradezu den Grundgedanken der Metaphysik Heraklits erblickt. ,,Was schaue ich ? GesetzmiiBigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bah-

nen des Rechts. Hinter allen Uberschreitungen der Gesetze richten Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwirtiger, ihrem Dienste untergebenen Naturkrifte. Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wo die Ungerechtigkeit waltet da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber das Gesetz und. die Tochter des Zeus, die Dike allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße und der

Verurteilung sein.” In diesem Gedanken, hinausging,

werden: Alles Lebenist

geschehens

fremder

Dinge;

Heraklits. Er

des ewigen Kampfes, in der Metaphysik des Ephesiers eine groBe Rolle spielen. Auch sie finden bei Nietzsche begeisterte Zustimmung. „Was Heraklit geschaut und gesagt hat, ist genug fiir die spiteste Menschheit. Die Welt braucht ewig solche Wahrheiten, sie braucht

Heraklit“ ,

Kosten

der über Anaximander

die Grundkonzeption

muB aber spiter zugeben, daB daneben noch andere Ideen, wie die

gange eines Dinges liegt aber doch nicht die einem anderen gewihrte BuBe. Nach meiner Ansicht wollte mit jenem Satze ausgedriickt Raubauf

erblickt Nietzsche

Nun ist sicherlich die Lehre von der Gesetzmäßigkeit alles Weltein großer

Gedanke.

Mit

besonderem

Rudolf Hirzel* diese Leistung hervorgehoben:

Nachdrucke

der Untergang bildet die Strafe fiir diesen Frevel, indem das Vergehen wieder anderen Dingen zum Vorteil gereicht. Der ewige Kreislauf der Stoffe ,,nach der Ordnung der Zeit‘“ bringt daher die Idee

philosophische

wieder gerissen sind, und daB er umfassende Verallgemeinerungen gewonnen

er sagt, daB nach Anaximander

hat, weiche die beiden Bereiche menschlicher Erkenntnis wie mit einem unge-

sei; worin aber der Frevel besteht, wird von Hirzel verschwiegen.

heuren Bogen überwölben. ) Gomperz, a. a. O., S. 46, meint, daB Anaximander ausdriicken wollte, was Mephistopheles in Goethes Faust sagt: Alles, was besteht, ist wert, da8 es zu-

grunde gebt. Schon Lassalle, Herakleitos, 1. Bd., S. 46, meinte, daß Anaximan-

der im Bestehen eines endlichen Dinges eine Ungerechtigkeit erblickt habe, weil 88 eine Negation, das Nichtsein eines anderen Inhalts enthalte. Deshalb mache sich die Negation, die das Einzelding schon beinhalte, geltend und lasse es verschwinden!

128

Zeitgenossen

Heraklits

1) Vielleicht hat auch Hirzel, Themis,

hat

,,Mogen auch andere

ähnliche Gedanken

gehegt

S. 323, etwas Ähnliches gemeint, wenn

der Tod in der Natur die Folge eines Frevels

% Werke, 10. Bd., S. 30 £f. %) Die Verwandtschaft der beiden Denker gelangt auch in der Form ihrer

Lehren zum Ausdruck, in der Bevorzogung des Aphorismus und der paradox zugespitzten Ausspriiche, Nietzsche findet in Heraklit auch die richtige Methode des Philosophierens verwirklicht, die Intuition im Gegensatz zur reinen Empirie oder logischer Abstraktion. In Darwin erblickt Nietzsche nur eine Nachwirkung

4 8. . O, S, 394.

der Denkweise Heraklits.

haben,

immer

bleibt ihm

das Verdienst,

dem

von Andern

nur Ge-

ahnten den rechten Namen, den Namen des Gesetzes oder Nomos gegeben und dieses Geahnte damit zuerst in eine feste und greifbare Vorstellung verwandelt zu haben.‘“ Allein es darf doch bei aller Anerkennung des Verdienstes unseres Philosophen nicht übersehen werden, daß die Naturordnung ein Müssen, die Rechtsordnung aber

ein Sollen bedeutet. In der Gleichstellung beider Ordnungen wird diese Differenz

übersehen.

Heraklit

scheint

haben, indem er in dem später ausführlich

dies auch

gefühlt

zu

zu behandelnden Diktum

von dem menschlichen und göttlichen Nomos doch nur dem letzteren den Charakter der Unwiderstehlichkeit beilegt.

Wenn nun aber von der Idee der kosmischen Rechtsordnung abstrahiert und die Frage des Ursprungs der für die menschliche Gesellschaft geltenden Rechtsordnung aufgeworfen wird, so scheint es, daB sich Heraklit auch mit diesem Problem beschiftigt hat. Leider ist das sich darauf bezichende Fragment 23 nicht vollstindig erhalten und Jäßt verschiedene Deutungen zu. Es lautet: ,,Sie kennten

der Dike Namen nicht, wenn es Jenes nicht gibe. Worauf sich das Wort ,,Jenes'* (tx0rx) bezieht, ist unsicher. Ἐ haben sich dariiber hauptsichlich zwei Meinungen gebildet. Wenn es keine Freveltaten gibe, Angriffe auf Leben oder Besitz, so wire den Menschen das BewuBtsein von der Notwendigkeit einer Rechtsordnung nicht erwachsen ; die Idee der Gerechtigkeit entspringt dem Unrechthandeln. Diese negative Seite des Rechts wire demnach das Urspriingliche. Hierin liegt eine Anschauung, die auch in der Neuzeit noch vertreten worden ist, insbesondere von Schopenhauer!. Dies wire “die eine mögliche Interpretation von ,,wenn es Jenes nicht gibe*. Die zweite Erklirung

versteht

darunter

die

positiven

Gesetze;

sie

sind

das

Prius. Solange keine Normen vorhanden sind, welche ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, kann der Gedanke der Gerechtigkeit (Dike)

nicht anftauchen; sie ist demnach nur ein Reflex des ,,Nomos®. Mit Riicksicht auf die groBe Rolle, die er im Gedankensystem des Ephe-

siers auch sonst innehat, scheint mir diese Deutung des Fragments den Vorzug zu verdienen. Dafiir spricht auch die Analogie der oben erwahnten kosmischen ‚„Dike‘“. Weil es Weltgesetze gibt, die allen Naturdingen ihre MaBe vorschreiben, wire ihre Uberschreitung ein

1) Welt als Wille und Vorstellung, IV, § 62. 130

Unrecht,

das

die Erinyen

verhindern

wiirden.

Die Norm

ist auch

hier das Primire. Heraklit erscheint demnach als Begriinder einer positivrechtlichen Gerechtigkeitslehre. Inwiefern sich damit seine Behauptung von dem ,.einen. gottlichen Gesetze vertrigt, wird spiter

untersucht

werden.

Noch deutlicher gelangt der Rechtspositivismus Heraklits in dem

wichtigen Fragment 102 zum Ausdruck: ,,Bei Gott ist alles schén und gut und gerecht; die Menschen aber halten einiges fiir gerecht, anderes fiir ungerecht.‘! Darnach beruhen sowohl die ethischen Unterscheidungen (,,schon und gut™) als die rechtlichen Qualifikationen (,,gerecht und ungerecht’’) auf menschlicher Satzung. ἘΞ war also nicht, wie man bisher angenommen hat, Archelaos der erste Autor, der die Thesistheorie fiir Moral und Recht aufgestellt hat, sondern Heraklit. Er hat aber damit keineswegs eine Geringschitzung

ausgesprochen ; vielmehr erscheinen ihm jene Unterscheidungen notwendig. Allein sub specie aeternitatis — um mich eines Ausdrucks Spinozas zu bedienen — sind sie bedeutungslos. Das zitierte Fragment erscheint demnach als eine sich aus der pantheistischen Weltanschauung ergebende Folgerung?, wie sie ja auch bei Spinoza hervortritt®. Dieser sagt: „Die Natur umfaBt nicht bloB die Gesetze der menschlichen Vernunft, sondern

auch viele andere, welche sich

auf die ewige Ordnung des Alls beziehen, von dem der Mensch nur ein kleiner Teil ist. Was

uns in der Natur licherlich, verkehrt

oder

schlecht erscheint, kommt davon, daß wir die Dinge nur teilweise kennen und uns der Zusammenhang der ganzen Natur groStenteils unbekannt

ist.

Ein

Vergehen

ist nur-im

Staate

denkbar,

ebenso

Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, indem die Menschen gemeinsam feststellen,

was

gut

und

was

böse

ist.‘‘

Der Heraklitsche Ausspruch über die Relativitdt der Begriffe von Recht und Unrecht findet sich in eigenartiger Fassung wieder in der pseudohippokratischen Schrift über die Didt, welche iiberhaupt starke Einwirkungen des ephesischen Philosophen aufweist. Es heißt

%) DaB sich dic Antithese mit der ersten These nicht vollkommen deckt — „schön und gut” wird nicht wicderholt —, erscheint mir unwesentlich. %) Recht gezwungen ist die Erklärung, die Zeller jenem Satz zu geben versucht (Philosophie der Griechen, 1. Bd., 6. Aufl., S. 832). Derzufolge soll Heraklit nur die Weisheit Gottes der menschlichen Kurzsichtigkeit gegenübergestellt haben. % S, meine Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 28411 o

131

hier im Kapitel 11: „Das Gesetz haben die Menschen sich selbst auferl-gt, ohne zu wissen, über was sie Gesetze geben, aber die Natur

vor allem haben die Gétter geordnet. Was nun die Menschen. gesetzt

Weg

abzuindern,

erscheint

einleuchtend®.

Denn,

so

konservativ

auch unser Philosoph gesinnt gewesen sein mag, ist ihm sicherlich nicht

zuzumuten,

daß

er, der

Begriinder

der

Logosidee,

ver-

haben, bleibt sich nie gleich, weder im Rechten noch im Unrechten;

aber was die Gbtter gesetzt haben, ist immer recht; so groB ist der

lissig erachtet hätte. Ist ihm doch selbst von den Ephesiern einmal, wie berichtet wird, eine solche Aufgabe angeboten worden. Er hat die Abfassung eines neuen Gesetzes freilich abgelehnt, aber nicht aus prinzipieller Gegnerschaft, sondern weil er mit seinen Lands-

Unterschied.”

nebst

anderen

Dieser Ausspruch hat Goethe 80 gefesselt, daB er ihn

Sitzen aus der

Schrift

,Uber

und in „Wilhelm Meisters Wanderjahren®

die Didt*

übersetzt

unter dem Titel ,,Aus

Makariens Archiv‘“ — ohne die Quelle zu nennen — verdffentlicht hat. Seine Ubersetzung der pseudchippokratischen Schrift ist so gut, daB sie von Diels in seiner Ausgabe des ,,Herakleitos von Ephe8058 mit einigen Abänderungen verwertet werden konnte. Ich glaube sogar, daß Goethes Ubersetzung jener Stelle den Vorzug verdient: , Was nun die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein.” Vgl. dazu meine

die griechische Philosophie”

(1932),

Schrift ,,Goethe und

leuten

zerfallen

war.

Es

kann

geetzlichen Normen

eine

niinftige Reform der bestehenden

sich also bei dem

,,Kampf

als unzu-

um

das

Gesetz' nur um die Abwehr eines revolutiondren Angriffs handeln, insbesondere um den Versuch, die Verfassung umzustiirzen. Da dem ,Demos™ diese Pflicht auferlegt wird, so wird wohl in erster Linie an den Fall gedacht sein, 848 eine Tyrannis errichtet werden soll.

Dagegen sollen sich die Biirger mit aller Macht wehren. Ein solcher Staatsstreich wird von Heraklit auf eine Stufe gestellt mit dem Ver-

lust der Freiheit durch einen duBeren Feind. Denn obgleich er fiir

S. 24 ff,

die extreme Demokratie keine Sympathic hatte, mißbilligte er doch

III. Rechispositivismus und gitiliches Geselz

ebenso die Zwingherrschaft eines Einzelnen. Charakteristisch ist da-

Wir gelangen nun zur Betrachtung jener zwei Fragmente unseres Philosophen, welche seine Ansicht über die Bedeutung der Rechtsordnung am prignantesten ausdriicken. Das Fragment 44 D lautet: Das Volk (Demos) soll kämpfen fiir das Gesetz (Nomos) wie um die Mauer (der Stadt). Unter ,,Gesetz" ist dabei nicht nur das geschrie-

für die Anekdote,

bene Recht, sondern auch das Gewohnheitsrecht

zu verstehen, wel-

ches ja zur Zeit Heraklits selbst in der vorgeschrittenen Stadtkaltur einen breiten Raum eingenommen hat. Noch Perikles hat in seiner Grabrede, die ihm Thukydides in den Mund gelegt hat, an den

Athenern geriihmt, daB sie auch die ungeschriebenen Gesetze heilig halten. Einen Grund dafür, daß das Volk verpflichtet ist, fir die Rechtsordnung zu kämpfen, hat Heraklit an dieser Stelle nicht ausdriicklich hervorgehoben. Jedoch 148t er sich aus dem angefiihrten Vergleich, dem Kampf um die Mauer, indirekt ableiten. Die Existenz des Stadtstaates wird von den Gegnern des Nomos ebenso bedroht wie von den duBeren Feinden, welche die Mauern angreifen.

Wie hat sich aber Heraklit die Bedrohung des Nomos gedacht? Das ist eine Frage, die meines Wissens in der umfangreichen HeraklitLiteratur noch niemals anfgeworfen worden ist. Daß hier nicht der Versuch gemeint sein kann, die geltende Rechtsordnung auf legalem 132

bewogen

haben

derzufolge Heraklit

den Tyrannen

soll, freiwillig auf scine Herrschaft

Melankomas

zu verzichten?

- Es hat also der Gedanke des Rechtsstaates, der in der Folgezeit das griechische Denken beherrscht hat?, in dem besprochenen Fragmente Heraklits eine der ältesten Offenbarungen gefunden. Aber Heraklit ist nicht, wie es darnach scheinen konnte, reiner Positivist. Wir besitzen vielmehr ein vielzitiertes, freilich schwer

auszulegendes Fragment®, welches eine Art von Naturrecht anzuerkennen scheint. Der Ausspruch (Fr. 114 D) lautet: ,,Diejenigen, 1) Da nach seiner Lehre alles der Verdnderung

unterliegt, muß

dies auch vom

Nomos gelten. %) Clem. Strom. I. 302 Β. Ziemlich sicher ist es, daß Heraklit eine Einladung des Konigs Darius zu einem Besuch am persischen Hof abgelehnt hat. %) Vgl. das Kapitel , Gesetzesherrschaft” in meinen Beitrfigen zur Geschichte der Steatslehre, S. 157 £f. *) Den philologischen Interpreten hat der Umstand geschadet, daß ihnen die Kenntnis der Problematik des Themas ,, Naturrecht und positives Recht' nicht gelaufig ist. Die verschiedenen Möglichkeiten einer solchen Relation, je nachdem das , Naturrecht", bzw. das gottliche Recht formal oder materiell, naturalistisch oder ethisch erfaBt wird, miissen im Auge behalten werden. Vgl dazu

meine Ausfiihrungen im 5. Kapitel meines Buches der Staatslehre* (1929).

„Beiträge

zur Geschichte

133

welche mit Verstand reden wollen, müssen an dem festhalten, was allen gemeinsam

ist, so wie eine Polis an ihrem

Nomos,

und sogar

sie 501] sich mit dem bemerkt,

Gesetz wappnen.

wie irrig die herrschende

Hier zeigt sich, nebenbei

Meinung

ist, daB den

Griechen

noch fester. Denn alle menschlichen Gesetze (ἀνθρώπειοι νόμοι) werden von dem einen gottlichen (ὁπὸ évdg τοῦ ϑείου) ernährt (τρέφονται). Dieses herrscht, soweit es nur will, geniigt allem und siegt ob allem.* Schon der Ausgangspunkt dieser Ausfiihrung Heraklits ist sehr bemerkenswert, die Analogie zwischen dem.Verstand des

die Idee der Perstnlichkeit des Staates fremd gewesen sei. Wird doch von Heraklit der personifizierten Polis eine sittliche Verpflichtung auferlegt, nimlich an dem Nomos festzuhalten. Womit wird nun aber diese Pflicht begriindet? In dem Fr, 44 geschah dies unter Hinweis auf die Gefahr des Untergangs, die dem Staate droht, wenn die Feinde des Nomos obsiegen. In unserem Fr. 114 ist-die Moti-

sames (Euvöc), wie denn auch das vorhergehende Fragment 113 lautet:

vierung eine andere. Die Pilicht, an dem Staatsgesetz festzuhalten, wird nunmehr aus dessen Zusammenhang mit dem , einen géttlichen

Menschen und dem Gesetz des Staates; beides ist etwas Gemein-

Gemeinsam ist allen das Denken*, Sowie also der Einzelmensch sich im Reden und Handeln auf den Verstand stiitzen soll, der dem gemeinsamen

Denken

der Menschen

entspringt,

80 soll auch

der

Staat sich auf die Rechtsordnung stiitzen, in welcher die allgemeine

Meinung der Biirger zum Ausdruck gelangt. Diese Charakteristik des Staatsgesetzes als Gemeingeist oder Gemeinwille, wie sie von Heraklit wohl zum erstenmal vorgenommen wurde, hat in der Ge-

schichte der Rechts- und Staatslehre eine ungeheuere Bedeutung

erlangt. Zunichst war es Protagoras, der nach den in Platons Dialog „‚Theaitetos‘“ berichteten AuBerungen diese Idee aufgegriffen und das Gesetz als allgemeine Meinung der Polis bezeichnet hat® Von

da läuft eine ununterbrochene Kette von dhnlichen Gedanken bis sur

berühmten

Formel

Rousseaus

vom

Gesetz

als der

,,volonté

générale”. Heraklit bemerkt nun aber bei dem Hinweis auf die Parallele zwischen Verstand und Gesetz, daß sich der einzelne Mensch noch fester auf den Verstand stiitzen miisse als der Staat auf das Gesetz. Wie ist dies zu verstehen? Wenn der Einzelne unverstindig redet

oder handelt, dann geht er sicherlich fehl. Wenn hingegen der Staat einmal ausnahmsweise sich über das Gesetz hinwegsetzt, weil die Not des Augenblicks dies erfordert, so kann es gerechtfertigt sein. Jedenfalls bildet der Rechitsstaatsgedanke in unserem Fragment

ebenso wie in dem frither behandelten Fr. 44 die Basis der Staatslehre Heraklits. Interessant ist hier, daß dabei der ,,Demos als Träger der Gesetzesherrschaft bezeichnet wird, in unserem Fr. 114 hingegen die ,,Polis”* selbst, welche formlich personifiziert erscheint ;

1), Eovéy ἔστι πᾶσι τὸ φρονέφιν." % S, meine

Kap. 9. 134

Ausführungen

Gesetze‘“ abgeleitet. Was dieses letztere bedeutet und worin der Zusammenhang mit dem ,,menschlichen Gesetze” besteht, nämlich mit dem positiven Recht des Staates, ist nunmehr zu untersuchen. Von

-dem

,,vépog τοῦ ϑείου““

werden

in

unserem

Fragment

zwei

Eigenschaften behauptet. Er sei ein Einziges gegeniiber den verschiedenen menschlichen Gesetzen; er übt ferner eine unbedingte Herrschaft aus. Diese beiden Merkmale müßten keineswegs vereinigt sein. Man kann sich ein géttliches oder natiirliches Gesetz sehr wohl als bloBes Ideal vorstellen, eine Richtschnur für die Gesetzgeber der Einzelstaaten, ohne daß damit die verpflichtende Kraft des νόμος τοῦ ϑείου““ selbst gegenüber davon abweichenden positiven Normen behauptet wird. Es wire damit höchstens eine innere Verpflichtung der Menschen angenommen, aber keine äußere Geltung. Jeder Kenner der Naturrechtsgeschichte weiß, welche Rolle eine solche Konstruktion gespielt hat. Aber eine derartige Deutung des heraklitischen Fragments scheitert an den Worten, daB das göttliche Gesetz soweit herrscht, als es will, fiir alles geniigt und iiber alles obsiegt. Es besitzt demmach eine äußere Geltung von unwiderstehlicher Kraft. Der ,,gottliche Nomos™ wire also dann ein Naturrecht in höchster Potenz, erhaben iiber alle positivrechilichen Vorschriften. Damit vertrigt sich aber wieder schwer die Redewendung, daß sich die menschlichen Gesetze von dem einen géttlichen „nähren‘“, also

von ihm erfiillt sind. Noch weniger wire es zu begreifen, warum der Demos fiir ein als minderwertig stigmatisiertes menschliches Gesetz kämpfen solle wie um die Stadtmauer. Wenn das gbttliche Gesetz, wie Heraklit sagt, an sich schon fiir alles geniigt, wozu be-

in den Beiträgen zur Geschichte der Staatslehre,

darf es dann itberhaupt noch der menschlichen Gesetze, also der positiven staatlichen Rechtsordnungen? Sind diese aber unter sich

135

ganz verschieden, was ja offenbar ist, so können sie wiederum nicht von dem einen göttlichen Gesetze genährt oder abgeleitet sein. Bevor wir in der Untersuchung fortfahren, ist zunächst wichtig festzustellen, daß unser Fragment sich dahin ausdrückt, daß alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen‘ „‚ernährt werden‘‘.

Es wird nicht etwa ein Wunsch geäußert: es sollte 80 sein, daß sich alle menschlichen Gesetze vom göttlichen nähren. Vielmehr sagt

Heraklit, daB dies tatsichlich der Fall ist. Hält man an dem klaren Wortlaut fest, so erweisen sich die nicht seltenen Versuche als un-

haltbar, jenem Satze eine normative

Deutung zu geben, also zu

behaupten, daß die menschlichen Gesetze von den gottlichen erndhrt

werden sollten. Meines Wissens hat zuerst Lassalle! dem Fragment Heraklits diese Auslegung zuteil werden lassen®. Er beruft sich dabei auf die Worte: ‚man miisse festhalten an dem, was allen gemeinsam ist, so wie die Polis an ihrem Nomos*. Damit sei das Gesetz „dem Gemeinsamen aller*’, also dem Gesamtinteresse untergeordnet ;

erst dadurch erhalte ein positives Gesetz Bestand und Geltung! Staatsgesetze, welche dieser Bestimmung nicht entsprechen und daher auch das „eine gottliche Gesetz, das ja das allen Gemeinsame bedeutet, nicht in sich enthalten, können {iberhaupt

wirkliche Gesetze angesehen werden.

nicht als

So geistreich dieser Versuch

Lassalles erscheint, Heraklit als den Vater des echten Naturrechts erscheinen zu lassen — denn darauf kommt ja diese Deutung hinaus —, so wenig überzeugende Kraft kann ich ihm zugestehen. Denn der Ausdruck ,das allen Gemeinsame* (τῶν ξυνῶν πάντων) bezieht sich, wie das vorausgehende Fragment 113 zeigt, auf das Denken und

nicht auf den

,,Nomos*,

der nur als Analogie

Ubrigens enthilt jedes Gesctz etwas Gemeinsames, Biirger der Stadt erlassen wird.

angefithrt

wird.

da es fir- alle

Y a a O, S, 438 4, . %) Seither haben noch andere Autoren, allerdings ohne nahere Begriindung, sich

der normativen Deutung angeschlossen. So sagt Aall, Geschichte der Logosides, L. Bd., S. 7ff., daB nach Heraklit alle von den Menschen statuierten Gesetze

aus dem Universalgesetz ihre Nahrung zu suchen haben. Th. Gomperz gibt dem Ausspruch folgende Deutung :, Menschliche Satzungen und Einrichtungen müssen,

wenn sie Dauer und Bestand gewinnen sollen, der Naturordnung

entspre-

chen” (Sitzungsberichte der Wiener Akademie derWissenschaften, 1888, S.1045).

Da wire allerdings das Volk, von dem Heraklit sagt, daB es für den Nomos kämpfen soll wie fir die Stadtnauer, vor eine schwierige Aufgabe gestellt.

136

Zu den Vertretern der normativen Deutung des „Ernährtwerdens‘‘ gehdrt auch Hirzel, wenn er sich in seiner Abhandlung ,,Nomoi

agraphoi”?

folgendermaBlen

äußert:

,Was

dem

Alkidamas?

mit

Heraklit gemeinsam ist, obgleich letzterer konservativ, ersterer revolutiondr eingestellt ist, ist dies, daB beide unter dem Naturgesetze nicht schon bestimmte Gesetze der Wirklichkeit verstehen; auch Heraklit versteht unter dem gottlichen Gesetze Normen, mit denen zwar die Gesetze der Wirklichkeit iibereinstimmen sollen, die aber

nicht schon unmittelbar und durch sich selbst solche Gesetze aussprechen.” Hirzel geht aber nicht so weit wie Lassalle, der ja die positiven Gesetze, denen diese Ubereinstimmung fehit, als nach Heraklits Meinung nichtig erkldrt. Das gdttliche Gesetz ist demmach bei Hirzel nur als Ideal gedacht. Aber auch diese, ich möchte sagen gemilderte Naturrechtstheorie 148t sich mit dem Wortlaut („Ernéhrtwerden') des Fr. 114, vor allem aber mit Fr. 44 nicht in Einklang bringen. Soll das Volk fiir den Nomos auch dann kämpfen, wenn er dem Ideal gar nicht entspricht?

1V. Verschiedene Auslegungsmiglichleiten Was kann nun aber das „eine Gesetz Gottes'* bedeuten, von dem alle menschlichen Gesetze erndhrt werden? Im Folgenden wird der Versuch gemacht werden, die verschiedenen Moglichkeiten der Interpretation vor Augen zu fithren, die bisher gar nicht deutlich erkannt worden sind. Ich unterscheide eine theologische, eine ethische und eine naturalistische Deutung des ,,vépos τοῦ delov™. Am nächsten liegt wohl der Gedanke, daß damit der religiöse Ursprung und die religiése Weihe der Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht werden soliten, Daß dieser Gedanke im frühen Griechentum? eine groBe Rolle gespielt hat, ist bekannt. Der Kult der Géttin Dike, der Tochter

des Zeus, hangt mit der Auffassung des gbttlichen Ursprungs alles Rechtes zusammen®.

Diese Göttin hat ja die Aufgabe,

Rechtsver-

%) Suchsische Akademie, 20. Bd., Philos.-Hist. Klasse. ) Von ihm wird bei Aristoteles berichtet, da8 er alle Menschen als von Natur frei geboren bezeichnet hat. % Vgl. die vortreffliche Schrift von Ehrenberg,

Die Rechtsidee im alten Grie-

chentum, Schon friher hat Fustel de Coulanges in seinem bekannten Werke Ta cité antique den religiosen Charakter der Polis und ihrer Rechtsordnung

stark, vielleicht zu stark hervorgehoben. ¢ Vgl. dazu besonders Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes.

137

letzungen mit Hilfe der Erinyen zu ahnden. Selbst Heraklit bedient sich in dem frither schon erwähnten Fragment 94 dieser mythologischen Vorstellung, allerdings um das Walten der Naturgesetze 2 versinnbildlichen. Auch der Vater der sophistischen Aufklirung, Protagoras, findet sich in dem ,,Mythos”, den ihm Platon in den Mund gelegt hat, dazu bestimmt, die Entstehung des Rechtsgefiihls und der sittlichen Empfindung bei den Menschen auf eine Gabe des obersten Gottes zurfickzuftihren, dem der Staat auch gewissermafen die Legitimation verdankt, Strafen gegen Rechtsbrecher zu ver-

Urbild des menschlichen Rechts, ohne schon selbst Recht zu sein, denn das Wesen des Rechts ist es gerade, positives Recht zu sein. Die gottlichen Gebote sind die Prinzipien und Richtmale der Ge-

setze, aber nicht selbst Gesetze; sie werden dadurch zu anwendbaren

Normen, wenn ein Volk je nach der Eigentiimlichkeit seines Geistes

516 prizisiert und individualisiert. Alle Rechtsbildung enthilt demnach ein doppeltes Moment, ein gottlich-notwendiges und ein menschlich-freies; beide durchdringen sich ohne Abgrenzung. Die menschliche Ordnung

hat eine bindende

Kraft und

Heiligkeit nur darum,

hängen. 80 ist es denn begreiflich, daß von verschiedenen Seiten!

weil sie jene gottliche aufrecht zu halten dient und weil es wirklich

der Versuch gemacht worden ist, dem Ausspruche Heraklits über das gottliche Gesetz eine theologische Deutung zu geben. Diese Deutung ist sicherlich nicht unméglich, stößt aber doch auf gewisse Schwierigkeiten, welche die Vertreter dieser Auffassung

kein Recht gibt, wäre es auch das schlechteste; 485 nicht irgendwie

nicht beachtet haben. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daB eine Unterscheidung zwischen dem menschlichen und dem göttlichen

Nomos,

wie sie sich bei Heraklit

findet, der altgriechischen

Denkweise fremd ist; alles Recht ist gottlichen Ursprungs. Dabei hat jede Polis ihr besonderes, vom Stadtgott verlichenes Recht, wihrend Heraklit von dem einen gbttlichen Nomos spricht. Diesem wird ein imperativischer Charakter beigelegt, was — vom Standpunkt jener theologischen Interpretation — auch noch der Aufklärung des Sinnes bediirfte. Dennoch will ich mit diesen Hinweisen nicht behaupten, daB es sich um uniiberwindliche Schwierigkeiten handelt. Vielmehr könnte man sagen, daB Heraklit die alte religitse Lehre zwar iibernommen,

aber fortgebildet hat. Wenn

er an Stelle

der vielen Volksgdtter den einen groBen Gott gesetzt hat, so mußte auch das „göttliche Gesetz™ ein anderes Aussehen erhalten. Es nähert sich dem jus divinum der christlichen Rechtsphilosophie. Ein berühmter konservativer Rechtsphilosoph der Neuzeit, Fried-

rich Julius Stahl, hat die Theorie des gbttlichen Rechts in einer: Art umschrieben?, welche vielleicht als eine Modernisierung heraklitischer

Gedanken

aufgefaflt

werden

kann.

Er

sagt:

„Die

Gedanken

und Gebote der Weltordnung Gottes bilden den Urgrund und das

1) Voigt, Die Lehre vom jus naturale, 1. Bd., 5. 83; Eckstein, Das antike Naturrecht, S. 100, Note 3: „in dem Satze H.s spncht sich wohl noch die alte Auffassung von der Göttlichkeit des Rechtes aus“. %) Die Philosophic des Rechts, 5. Aufl, 2. Bd., S. 200 ἐξ, 138

dieselbe aufrecht hilt. Dennoch haben die Gedanken und Gebote der gottlichen Weltordnung keine rechtliche Kraft im menschlichen Gemeinleben,

solange

nicht

eine

sie zu

Gemeinschaft

menschliche

Geboten ihrer Ordnung gemacht hat. So warzelt die menschliche Ordnung in der gbttlichen, aber sie ist doch in sich selbstindig; darin besteht die Positivitit des Rechts.”” So hat Stahl, ganz wie

Heraklit, versucht, die Positivitdt des Rechts (Fr.44) mit der Annahme eines gottlichen Gesetzes (Fr. 114) zu verelmgen Einen Ubergang von der religiösen zur ethischen Naturrechtslehre ,,vépog dypugos'

stellt der Terminus

dar.

Davon

soll im Folgenden

— immer vom Gesichtspunkt des heraklitischen Fragments-aus — die Rede sein. In der griechischen Rechtsphilosophie wird der Ausdruck

,,gottliches

Gesetz”

nicht

selten in dem

Sinne

von

,unge-

schriebenes Gesetz'’ verwendet, also ein Inbegriff von Rechtsnormer, welche Geltung besitzen, ohne daB sie als Gesetze beschlossen

und kundgemacht wurden. Dieses Merkmal . trifft allerdings beim Gewohnheitsrecht zu; allein dieses ist nicht gemeint, wenn dem un-

geschriebenen Gesetz der Charakter des gottlichen beigelegt wird. Es

muB

gemeine

noch

ein

anderes

Geltung,

Moment

wihrend

hinzutreten,

das positive

nämlich

die

Gewohnheitsrecht

all-

auf

das Gebiet eines einzelnen Volkes bzw. Staates beschrinkt ist, Hat vielleicht Heraklit mit seinem ,,einen géttlichen Gesetze'

dieses un-

geschriebene universelle Recht im Auge gehabt?* Um diese Frage zu beantworten, erscheint es mir zweckmäßig, das Literarische Zeugnis vor Augen zu fithren, in welchem jener Gegenstand — das ungeschriebene Gesetz — theoretisch untersucht wird; es handelt sich %) Dies ist die Auffassung von Hirzel, Nomoi agraphoi, S. 27.

139

um das bekannte Gespräch zwischen Sokrates und Hippias in Xenophons Denkwürdigkeiten (IV, 4). Mir erscheint es dabei nebensächlich, ob der Verfasser die Ansichten jener beiden Denker richtig

des Ge-

wiedergegeben hat; wichtig ist mir, den Gedankengehalt

spräches zu charakterisieren, der sicherlich nicht auf einer bloßen Erfindung Xenophons beruht. Was für eine Naturrechtslehre ist hier zum Ausdruck gelangt und wie verhält sie sich zu anderen Anschauungen des griechischen Rechtsdenkens? Der Wortlaut der

Stelle soll uns dabei als Führer dienen: „Kennst

du aber auch,

Hippias, einige ungeschriebene Gesetze? Ja, erwiderte Hippias, solche,

die in allen. Ländern

in derselben

Weise

gelten.



Könntest

du nun wohl behaupten, daß diese die Menschen sich geben? — Wie könnten sie dies wohl, denn sie könnten ja weder alle zusammenkommen noch reden sie einerlei Sprache! — Wer hat nun wohl, meinst du, diese Gesetze gegeben? — Ich für meine Person glaube, daß die Götter diese Gesetze den Menschen gegeben haben, denn in der ganzen Welt gilt als vornehmstes Gebot, die Götter zu ehren. — Herrscht nicht auch, fragte Sokrates, überall das Gesetz, die

Eltern zu ehren? — Auch dies. — Und daß weder die Eltern mit

den Kindern noch die Kinder mit den Eltern sich geschlechtlich verbinden sollen? — Dies, Sokrates, scheint mir kein göttliches

Gesetz mehr zu sein. — Weshalb denn? — Weil ich sehe, daß man-

-

dern ihm gemiB. Die Gesetze, die iibertreten werden konnen, sind menschliche Gesetze, welche die Menschen zu ihrem eigenen Wohle machen. Es ist klar, daB Spinoza unter dem Ausdrucke ,,Gottes Gesetze‘“ nichts anderes versteht als Naturgesetze; irgend ein normativer Sinn ist damit nicht verbunden; dies entspricht durchaus seiner pantheistischen Weltanschauung?. Sokrates ist aber in dem Gesprach bei Xenophon nicht geneigt, einen so strengen Begriff des ungeschriebenen oder göttlichen Gesetzes zu postulieren. Er fährt fort: ,, Auch andere Gesetze werden viel übertreten; wer aber ein von den Gottern gegebenes Gesetz {ibertritt, muB dafiir Strafe leiden, der er auf keine Weise entrinnen kann, obwohl manche, die gegen menschliche Gesetze handelten, der Strafe entgingen, sei es weil ihre Ubertretung unentdeckt blieb oder weil sie Gewalt anwendeten®, — Und welche Strafe wire das, Sokrates, welcher Eltern, wenn sie sich mit Kindern, und Kinder,

welche sich mit Eltern geschlechtlich einlassen, nicht entrinnen kénnen. — Die allergroBte, beim Zeus, sagte Sokrates, denn welch groBeres Ubel kann den Menschen, wenn er Kinder zeugt, treffen, als wenn er schlechte Kinder zeugt?* Es folgt nun eine Auseinandersetzung über die schidlichen Folgen des Inzests; dann heißt es weiter: ,,Ist nicht auch das ein allgemein giiltiges Gesetz, daB man empfangene Wohltaten erwidere?3 — Allerdings, sagte Hippias,

er von

aber.es wird auch iibertreten. — Miissen.nun nicht auch hier die

Sokrates eines Besseren belehrt wird, in der Unverletzbarkeit ein

Ubertreter bestraft werden?‘““ — Es folgt eine Darlegung tiber die schidlichen Wirkungen der Undankbarkeit ; dann bemerkt Hippias: „Beim Zeus, Gottern sieht das alles dhnlich; denn daB die Gesetze

che es übertreten.“

Hippias erblickt also zunächst,

bevor

Merkmal des göttlichen Gesetzes; er faßt es also als Naturgesetz

auf. Da hätte er freilich schon auch dem Gebote, die Götter und

die Eltern zu ehren, die Eigenschaft eines göttlichen Gesetzes absprechen müssen; gibt es doch sicherlich einzelne Menschen, welche diese Gebote nicht erfüllen. Es fehlt dann überhaupt an einem Beispiel für ein unverletzbares Gebot. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf eine interessante Parallele aufmerksam machen, welche sich mir aus meinen Spinoza-Studien ergeben hat!. Dieser Denker sagt: ,,Gottes Gesetze sind nicht sol-

selbst die Strafen fiir die Ubertreter derselben in sich schlieBen, das-

die Natur gelegte Regeln, kraft deren alles eingerichtet und geordnet ist. Alles, was geschieht, ist nicht gegen den BeschiuB Gottes, son-

*) Hier scheint allerdings die Abgrenzung zwischen Recht und Moral zu fehlen. Die Pilicht, Wohltaten zu erwidern, kann schwerlich als eine naturrechtliche, wohl

1) Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 267. Es handelt sich um ein Zitat aus dem sog. Tractatus brevis Spinozas.

der Undankbarkeit, welche nach positivem kungen legitimieren.

cher Art, daB sie übertreten werden kénnen.

140

Sie sind von Gott in

scheint mir die Einrichtung eines besseren als menschlichen Gesetzgebers zu sein.” Es sind also die mit ,,poenae naturales” verkniipiten Gebote und Verbote,

welche

nach

Ansicht

von

Sokrates

ihnen

den

Charakter

Ὦ Sie ist allerdings erst in den späteren Schriften unseres Philosophen zum vollen Durchbruch

gelangt.

9 D. h. der Staatsgewalt mit Erfolg trotzten. aber als eine moralische

angesehen werden.

Doch

gibt es einzelne Fille

Recht zum Widerruf von Schen-

141

geschriebene Papyrusfragment entwickelt einen ähnlichen Gedanken,

für alle positiven Rechtsordnungen bilden konnten, diese sich also nur als eine ndhere Ausfithrung des gottlichen Gesetzes darstellen

indem hier den „vereinbarten‘“ Gesetzen solche der „‚Natur‘“ ent-

wiirden. Ἐξ hat zwar im Mittelalter nicht an Versuchen gefehlt, aus

von „göttlichen Gesetzen‘“ verleihen. Auch das dem Antiphon zu-

springenden Gebote und Verbote entgegengesetzt werden, deren Verletzung von

selbst

nachteilige

Folgen

herbeifiihrt,

von keinem Menschen gesehen wird‘, Ich komme

,,auch wenn

sie

auf diesen eigen-

artigen

Naturrechtsbegriff Antiphons unten näher zu sprechen’. Jedentfalls erscheint es mir verfehlt, in ihm, so wie in den oben cha-

rakterisierten

,ungeschriebenen

Gesetzen

des

Hippias

eine

nur

„formelle Naturrechtstheorie‘“ zu erblicken® Handelt es sich doch hier um inhaltlich bestimmte Normen, welche Geltung besitzen, auch wenn

sie nicht im positiven Recht, in den ,,vereinbarten Gesetzen

Ausdruck gefunden haben. Es kann auch nicht davon die Rede sein, daß

diese

‚,ungeschriebenen

Gesetze'

lediglich

dazu

-dienen,

das

positive Recht zu legitimieren, wie dies im Wesen eines bloB formellen Naturrechts gelegen ist. Vielmehr haben wir es hier mit einer materiellen Naturrechtstheorie zu tun; ob ihre Ubernahme durch Sokrates, wie dies bei Xenophon berichtet wird, der historischen Wirklichkeit entspricht, muB ich allerdings bezweifeln; davon wird

noch spiter die Rede sein. Kénnte nun Heraklit mit seinem „einen gdttlichen Gesetze' jene ,,ungeschriebenen Gesetze' gemeint haben? Dafür spricht, daB sie auch bei Xenophon als géttliche den von Menschen beschlossenen Gesetzen gegeniibergestellt werden. Auch die Charakteristik derselben im Fr. 114 (es gebietet, soweit es nur will, und genügt allem und siegt ob allem) paBt insofern, als seine Ubertretung unentrinnbar nachteilige Folgen herbeifithrt. Schwierig ist es aber, in den ungeschriebenen Gesetzen des Hippias-Gespriches jenes wichtige Merkmal des Heraklitschen ,,vépog τοῦ ϑείου““ aufzufinden: „Nähern sich doch alle ‘menschlichen Gesetze von dem einen gottlichen.” Wenigstens sind die bei Xenophon angeführten Beispicle der νόμοι ἄγραφοι (Pilicht,. die Eltern zu ehren, Wohltaten zu erwidern, den Inzest zu unterlassen) kaum darnach angetan, daß‘ sie die Basis

%) Ich habe zuerst in meiner Schrift , Kallikles®, S, 5 ff., darauf die Aufmerksamkeit gelenkt und Parallelen aus der Geschichte des neueren Naturrechts beigebracht. Zustimmend Eckstein, a. a. O.; S. 35. %) So Horvéth in seiner Abbandlung , Die Gerechtigheitslehre des Sokrates und des Platon", Zeitschr. f. öff. Recht, 10. Bd., 1930, S. 261. 142

dem Dekalog des alten Testamentes und aus Christi Gebot der Nächstenliebe die ganze staatliche Rechtsordnung abzuleiten. Allein ein jus divinam in diesem Sinn, als geoffenbartes Recht, liegt dem griechischen Denken fern, dem ephesischen Philosophen besonders fern, da seine pantheistische Einstellung, speziell seine ausdriickliche Ablehnung der Weltschöpfungslehre, eine derartige Dentung des „göttlichen Gesetzes‘ micht erméglicht. Die idealistische Deutung des ,,gbttlichen Gesetzes*, wie sie schon

in seiner Identifizierung mit den ,ungeschriebenen Gesetzen' hervortritt, erfährt eine Steigerung, wenn man annimmt, daß Heralklit mit jenem Terminus das aus der Vernunft entspringende Sittengesetz gemeint habe, Er hitte darnach bereits den Grundgedanken des Naturrechts (im ethischen Sinn) vorweggenommen, den ein moderner Philosoph in folgender Weise formuliert hat!: ,,Das Naturrecht

driickt gewissermaBen die reinen Intentionen der schaffenden Weltvernunft aus; es stellt die praktischen Verhiltnisse verniinftiger ‘Wesen zueinander so dar, wie sie sich im gottlichen Geiste vorbildlich spiegeln . . . Das positive Recht gilt, aber das Naturrecht sollte gelten . . . Es ist ein AusfluB der Rechtsidee; es verleiht allem übrigen Recht allein seinen letzten Halt und seine wahre Kraft.” Diese

Charakteristik wiirde insofern mit dem oft zitierten Fragmente 114 tibereinstimmen,

als

auch

in ihm

die souverine

Macht

des

„gött-

lichen Gesetzes’ betont wird. Selbst Kants Ableitung des Sittengesetzes und der Rechtsordnung aus der ,,praktischen Vernunft* könnte zu dem „Logos‘“ Heraklits, mit dem ja das gottliche Gesetz iibereinstimmt, in Beziehung gebracht werden. Fine solche Auslegung des heraklitischen Diktums hat offenbar A. Trendelenburg im Auge, wenn er in seinem Werk ,,Naturrecht im Grunde der Ethik*

(1. Auflage 1859) auf dem Titelblatte als Motto gewählt hat: ,,Denn alle menschlichen Gesetze werden genährt von dem einen gottlichen.‘ * Dennoch

diirfen die Bedenken

nicht verschwiegen werden,

%) Jodi, Das Wesen des Naturrechts, 1893, S. 3. %) Auch am Schluß seines Buches zitiert Trendelenburg wieder diesen Satz, um die grundsätzliche Übereinstimmung seiner idealistischen Rechtsphilosophie mit jener These zum Ausdruck zu bringen. 143

welche sich dieser Deutung entgegenstellen. Eine ethische Norm bedeutet immer ein Sollen; nach dem Wortlaut jenes Ausspruchs handelt es sich jedoch um die Aussage über das Sgin. Die Annahme einer sittlichen Weltordnung auf Grund des Pantheismus — und in ihm gipfelt Heraklits Metaphysik — ist schwer zu begriinden. Dieselbe Schwierigkeit zeigt sich ja in der Ethik und Rechtsphilosophie der Stoiker,

die, wie spiter gezeigt werden

wird,

von Heraklit

auf

das stirkste beeinfluBt wurden. Ob sein Ausspruch nicht-auch eine andere Auslegung, nämlich eine rein naturalistische, ermoglicht, soll

noch in Kiirze untersucht werden.

.

Ἐξ ist durchans denkbar, unter dem géttlichen Gesetze Heraklits ein reines Naturgesetz zu verstehen. Hirzel hat es geradezu als das besondere

Verdienst dieses Denkers bezeichnet, den Begriff des

,Nomos" auf das Naturgeschehen zur Anwendung gebracht zu haben. Er sagt!: „Nur ein einziger Philosoph; getragen von der Be-

geisterung für den Nomos, hat es gewagt, diesen mit allen den Kräf-

ten auszuriisten, die sonst der Ananke zugeteilt wurden, und 80 die Kluft zwischen Nomos und Physis, vor der die anderen zuriick-

gewichen waren, zu {iberbriicken. Der Philosoph, der auf diese Weise die Nomos-Idee seiner Zeit auf den höchsten Ausdruck brachte und

hiedurch der Zukunft den Weg gewiesen hat, war Heraklit.” Leider

hat es aber Hirzel unterlassen, niher darzulegen, welche Folgerungen sich aus einer paturalistischen Deutung des géttlichen Gesetzes er-

allzu moderne Auffassung zuzumuten. Es bleibt also, wenn man das

„göttliche Gesetz' naturalistisch deuten will, nur der zweite Weg übrig, nämlich darunter ein einzelnes bestimmtes Naturgesetz zu verstehen. Selbstverstindlich dürfte dabei nicht an ein Gesetz ge-

dacht werden,

das lediglich fiir die physische Welt Geltung hat,

z. Β. über die Bahnen der Gestirne; von einem solchen könnten doch die menschlichen Gesetze nicht „ernährt werden‘‘; Es müßte sich demnach um ein Gesetz handeln, das sowohl in der physischen als auch in der Sozialwelt Geltung besitzt, so daß sich die Gesetze des Staates nur als ein besonderer Fall des einen allgemeinen Gesetzes darstellen wiirden. Als solches hat z. Β. Spinoza das Prinzip der Selbsterhaltung, Haller das Gesetz der Macht formuliert; letzteres wird von ihm geradezu als gottlich bezeichnet. Auf die Staatsgesetze

angewendet,

wiirden

diese

Thesen

bedenten:

Das

positive

Recht entspricht dem Bediirfnis der Selbsterhaltung der Einzelnen und der Gruppen, bzw. in den Staatsgesetzen werden die den Interessen der stirkeren Macht dienenden Bediirfnisse ausgedriickt. In der Tat finden sich schon in AuBerungen griechischer Sophisten Andeutungen solcher naturalistischen Lehren. Mir scheint aber doch eine solche Auslegung

des „göttlichen

Gesetzes‘“ nicht recht

in das

Gedankensystem Heraklits zu passen. Eher möchte ich das darin enthaltene Grundgesetz vom Gegensatz und der Harmonie als ein solches bezeichnen,

das geeignet ist, auch die Basis für die Gesetz-

Ist damit die Gesamtheit aller Naturgesetze oder ein be-

gebung des Staates zu bilden. Es hat einen guten Sinn zu sagen, daß sich aus diesem die ganze Welt beherrschenden Grundgesetz

werden? Bei der ersteren Annahme konnte gemeint sein, daß alles menschliche Denken und Handeln naturgesetzlich bedingt ist, daher

alImh die menschlichen Gesetze „ernähren“. Ihre Aufgabe liegt zwar

geben.

stimmtes Gesetz gemeint, von dem die menschlichen Gesetze genährt

auch das positive Recht des Staates aus der psycho-physischen Natur einer bestimmten Menschengruppe abgeleitet werden kann. Der Gedanke wire dann ungefihr derselbe, wie ihn Montesquien als Begriff des Gesetzes formuliert hat. Trotz der Verschiedenheit der

Rechtsnormen nach Zeit und Raum erscheinen sie daher doch nicht

als willkiirliche Schopfungen, sondern als notwendige Erzeugnisse physischer und psychischer Faktoren. So originell nun auch der Denker von Ephesus sich in verschiedenen Richtungen erweist, trage ich doch Bedenken, ihm eine solche ) Themis und Dike, S. 392.

144

nicht darin, die Gegensätze

unter den Menschen

aus der Welt

zu

?cha_ffen. Dies wire, wie Heraklit an anderer Stelle sagt, unmoglich,

ja nicht einmal wiinschenswert. Wohl aber wollen die ,,Nomoi* in~ nerhalb gewisser Grenzen, nimlich soweit dies fiir das Zusammen-

leben zur Sicherung der Existenz der Polis geboten erscheint, eine

Harmonie herbeifiihren. Sie tun für den menschlichen Bereich

das, was die Weltordnung fiir den Bereich der Natur wirkt; insoferg §ch6pfen sie ihre Kraft vom gottlichen Gesetze. Darin liegt die L'egmmation der positiven Staatsgesetze aus dem Gesichtspunkt einer hoheren Ordnung;

darauf beruht die ethische Pflicht, die Nor-

men der Polis zu befolgen und sich für sie mit aller Macht einzusetzen.

10

145

80 aufgefaßt bedeutet das ,,gbttliche Gesetz‘“ sowohl die Wirklichkeit als das Ideal, ersteres als Weltordnung, letzteres als Vorbild der Sozialordnung. Man kann annehmen, daß im Geist Heraklits eine scharfe Unterscheidung dieser beiden Bedeutungen des ωνόμος Serüg‘“ gar nicht empfunden wurde. Es ist daher begreiflich, daß manche Interpreten das ‚„‚Ernährtwerden‘“ ohne Bedenken in ein

,,Erndhriwerdensollen

umgewandelt

haben,

was

freilich

dem

‘Wortlaut des Fragments nicht entspricht. Es hat sich also gezeigt, daB der hier behandelte Ausspruch Heraklits über menschliches und gottliches Recht, von dem Zeller zugesteht, daß seine Auslegung unsicher sei, verschiedener Deutung fihig ist. Die Folgezeit hat erwiesen, daß in der Tat ganz differierende Theorien sich an jenes Diktum gekniipft haben. Bevor diese Nachwirkung zur Darstellung gelangt, soll noch die mit der Rechtstheorie Heraklits in Zusammenhang stehende Staats- und Soziallehre vor Augen gefithrt werden.

V. Heraklits Staats- und Soziallehre Heraklit hat sein Staatsideal

sondern

eine

Herrschaft

der

Weisen.

Denn

„ein

Ein-

zelner wiegt zehntausend auf, wenn er der beste ist™ (Fr. 49 D) und

,,Gesetz heißt, auch dem Willen eines Einzelnen folgen Der Unverstand Heraklit

und die niedrige Gesinnung

in mehreren

Ausspriichen

gegeiBelt.

der Menge ,,Die Menge

-(Fr. 33). wird von bedenkt

nicht solche Dinge, wie sie ihr begegnen, noch nimmt sie sie wahr, wenn es ihr gelehrt wird; sie bildet es sich nur ein® (Fr. 17). Klingt dies nicht wie eine Vorahnung der Le Bonschen Massenpsychologie ? ,,Die Meisten liegen da vollgefressen wie das liebe Vieh** (Fr. 29). Auch sonst sind Vergleiche mit der Tierwelt beliebt, mit den Ochsen (Fr. 4), Siuen und Vögeln (Fr. 37). Ferner heißt es: ,,Sie verstehen es nicht,

wenige gut sind‘ (Fr. 104). Bei dieser Charakteristik des Massenmenschen

bedient

auch wenn sie es vernommen;

so sind sie wie Taube.

Dag

sich

Heraklit

des

Ausdrucks

,die

Vielen

(ol

πολλοί)“, der dann in unserer Zeit von Nietzsche übernommen wurde

(die Vielen, Alizuvielen). Besonders empört war Heraklit über die in seiner Vaterstadt bestehende Demokratie: „Recht hitten die Ephesier, wenn sie sich alle Mann für Mann aufhingten und den Unmiindigen die Stadt hinterlieSen, sie, die Hermodoros, ihren wackersten Mann aus der Stadt gejagt haben, mit den Worten: Von uns soll keiner der wackerste sein, wenn schon, dann anderswo oder

bei anderen’ (Fr. 121). Der Ostrakismos, der dieser Verbannung zugrunde lag, hat bei Heraklit eine solche Verbitterung erzeugt, daß er sich vom &ifentlichen Leben ganz zurfickzog und von nun an in der Einsamkeit blieb. Aristoteles hat freilich über die Berechtigung des Ostrakismos

zwar nicht ausdriicklich be-

schrieben; es 148t sich jedoch aus mehreren der überlieferten Fragmente unschwer rekonstruieren. Die eine Eigenschaft des besten Staates ist die Gesetzesherrschaft, die ja in frilheren Ausfithrungen schon behandelt wurde; deshalb wird die Despotie unbedingt miBbilligt. Aber der Rechtsstaat soll keine Massenherrschaft sein,

stoflen, scheinen ihnen fremd“ (Fr. 72). ,,Denn was ist ihr Sinn oder Verstand? Straßensängern glauben sie und zum Lehrer haben sie den Pöbel. Denn sie wissen nicht, daB die meisten schlecht und nur

anders

gedacht.

Er

meint,

448 ein Mann,

der an

Tugend alle Mitbiirger weit überragt, aus dem Staat entfernt werden diirfe, falls man sich nicht entschlieSen wollte, ihm die konigliche

Gewalt

zu

fibertragen?.

Mit der Ablehnung der Demokratie ist aber das Staatsideal Heraklits noch nicht positiv gekennzeichnet. Es kann jedoch nicht be-

zweifelt werden, wie er sich den wahren Staat gedacht hat, nämlich als Geistesaristokratie, als Herrschaft der Weisen. Sie allein vermogen ,,das Gemeinsame* der Menschen zu erfassen, worin die Vernunft, der Logos, zum Ausdruck gelangt. Der Weise erhebt

sich über die verginglichen Dinge; ihn lockt nicht der Sinnesgenu8, sondern

der

Ruhm

groBer

Taten.

Er ist vertraut

mit

dem

,einen

gottlichen Gesetze‘‘, von dem sich die menschlichen ernihren. Folgende Fragmente bringen diese Gedanken zum Ausdruck: ,,Es ist Pflicht, dem Gemeinsamen (ξυνός) zu folgen. Denn obschon der Logos

allen gemein

ist, leben

die

meisten

so, als ob

sie eine

eigene

Einsicht hitten” (Fr. 2). ,,Eines gibt es, was die Besten allem anderen vorziehen, den Ruhm der ewigen den verginglichen Dingen“ (Fr. 29). ,,Gar vieler Dinge kundig miissen philosophische Männer

Sprichwort bezeugt es ihnen: Anwesend sind sie abwesend‘“ (Fr. 34). „Mit dem Logos, mit dem sie doch am meisten bestdndig zu ver-

sein‘“ (Fr. 35), aber ,,Vielwisserei lehrt noch nicht Verstand haben*

kehren hitten, entzweien sie sich und die Dinge, auf die sie täglich

1) Politik,

146

10"

III,

13, p.

1204 A.

147

(Fr. 40). Vielmehr „ist es Sache der Weisheit, die Vernunft (γνώμη) zu erkennen,

welche

alles

zu

lenken

weiß‘“

(Fr. 41).

,,Keiner

von

allen, deren Worte ich vernommen, gelangte dazu zu erkennen, daß die Weisheit etwas von allem Abgesondertes ist” (Fr. 108). ,,Das Denken ist der größte Vorzug und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und nach der Natur zu handeln, auf sie hinhörend‘“ (Fr. 112); aber ,,die Natur liebt es, sich zu verstecken® (Fr. 123). In der Weisheit gelangt das Gottliche zum Ausdruck, weshalb es im Fr. 32 heißt:

,,Eines, das allein Weise, will nicht und

will doch auch wieder mit Zeus’ Namen benannt werden.‘“ So.sehr nämlich auch der Weise sich Gott nahe fühlt, erwacht seine Demut, denn ,,der weiseste Mensch

wird, gegen Gott gehalten, wie ein Affe

erscheinen’ (Fr. 83). Heraklit hat sich nicht dariiber ausgesprochen, in welcher Art die Herrschaft der Weisen herbeigefithrt und erhalten werden kann. Zwei Wege sind in Betracht zu ziehen. Freiwillige Anerkennung der Fithrerschaft unter Beibehaltung der demokratischen Verfassung oder ihre Umwandlung in eine Aristokratie bzw. in ein Konigtum. Fiir den ersteren Weg bildet die faktische ,, Vorherrschaft des besten Mannes” in der Gestalt eines Solon oder eines Perikles das geschichtliche Beispiel; theoretisch hat Protagoras diese Führerauslese angedeutet!, Der zweite Weg gelangt in Platons Politeia zum Ausdruck, in dem Vorschlag, daB die Weisen verfassungsmäßig die Herrschaft besitzen. Damit ist aber zugleich die Bedeutung des Nomos in den Hintergrund gedringt; der weise Herrscher bedarf keiner

In einem gewissen Zusammenhang mit der Rechts- und Staatslehre Heraklits stehen einige tiberlieferte AuBerungen soziologischen Tnhalts, welche in der neuesten Zeit große Aufmerksamkeit erweckt haben. Th. Gomperz bemerkte bereits?, daß die von Heraklit scharf betonten Gedanken einer GesetzmiBigkeit alles Geschehens, des ewigen Flusses und des Gegensatzes, vor dem

Stein erklirte?, 448 Herbert Spencer nur Heraklits System zu Ende

gedacht habe; er erblickt in seinen Fragmenten die Geburtsstunde der Soziologie; auch die Theorie des Klassenkampfes sei bei ihm schon angedeutet. Ein angesehener Naturforscher, J. v. Wiesner, hat ausgefithrt®, daB die moderne Evolutionstheorie bei Heraklit schon im Keime gegeben sei, und zwar nicht nur für die Entwicklung in der Natur, sondern auch in der menschlichen Gesellschaft.

Die soziologische Staatslehre von Gumplovicz und Oppenheimer® beruht im Wesen auf der schon von Heraklit angedeuteten Soziologie des Krieges. Hierher gehört vor allem sein Ausspruch: ,,Man muB wissen, daB der Krieg das Gemeinsame (ξυγόν) ist®, das Recht aus dem Streit entsteht und daB alles durch Streit und Notwendigkeit zum Leben kommt* (Fr. 80 D). Streit und Krieg sind aber bei Heraklit nicht nur als Quellen der Rechtsordnung hingestellt wori) Griechische Denker,

1. Bd.,

S. 59, 60, und in seiner Akademie-Abhandlung

Gesetze. Da nun aber Heraklit auf den Nomos ein besonderes Ge-

,Zu Heraklits Lehre‘‘, 1886.

wicht legt, ist anzunehmen, daB er sich eher für die erstere Gestalt des Staatsideals entschieden hitte, für die faktische Vorberrschaft

2) Werke, 13, Bd., S. 10. %) Einfihrung in die Soziologie,

der groBen Minner und nicht fiir die Errichtung des Idealstaates im Sinne Platons. Dagegen liegt dessen ,,zweitbester Staat® in dem Dialog „Nomoi‘ gewiB im Geist Heraklits. Es ist iibrigens wohl be-

Sozialleben

nicht haltgemacht haben; zum Teil habe er selbst diese Folgerung gezogen, zum Teil lasse sie sich unschwer aus seiner Naturlehre ableiten. Schon vorher hatte Nietzsche sich dahin geduBert?, daß Darwin nur eine Nachwirkung der Denkweise Heraklits sei, Ludwig

S. 240.

%) Bemerkungen zu Spencers Evolutionsphilosophie, Jahrbuch der philosophi-

schen Gesellschaft der Universitat Wien,

1916, S, 135 £f.

%) Vgl. dariiber meine Abhandlung , Die energetische Staatslehre, Archiv für Sozialwissenschaft,

66. Bd.,

1932,

S. 132 £f.

merkenswert, daB selbst ein so radikaler Verfechter der Demokratie,

9 Gomperz identifiziert diesen Ausdruck „Euvöv“ mit ,xowév’; der Krieg sei also

wie es Rousseau war, nicht umhin konnte, die Notwendigkeit eines besonderen ,,Gesetzgebers’ zu betonen, den die an sich souverdne

schaft erst geschaffen, sie der einigenden Zucht unterworfen und die errungene

Volksversammlung

als Autoritit

anerkennt.

1} Er sagt, daB es Aufgabe der guten und weisen Redner sei zu bewirken, daß den Staaten das ihnen wahrhaft Nützliche 818 gerecht erscheine; vgl. oben Abhandlung III.

148

nicht etwas die Menschen Spaltendes, sondern er hat die menschliche Gemein-

Stufe der Gesittung iiber immer weitere Kreise der Menschheit verbreitet (Akademie-Abhandlung,

‘8. 1015).

Gomperz

hat

auch

bereits auf die merkwiirdige

Ubereinstimmung zwischen Heraklit und P. J. Proudhon hingewiesen, dessen . Soziologie des Krieges ich in der Festschrift für Karl Griinberg nunmebr eingehend

dargestellt habe.

149

den, sie sind ihm vielmehr allgemeine Grundlagen der Entwicklung in Natur und Kultur. Das berühmte, durch eine im Jahre 1851 gemachte Entdeckung vervollständigte Fragment (53 D) lautet: „‚Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht

er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die

bekämpfenden Dingen, Einzelmenschen oder Menschengruppen vor. Das Ergebnis des Krieges hat mit der ‚‚Identität der Gegensätze‘“ nichts

zu

tun;

es bedeutet

keineswegs

,.die

schönste

Harmonie‘‘,

sondern die Vernichtung oder Beherrschung des besiegten Teils.

anderen zu Freien.‘“ Klar ist jedenfalls, daß das Institut der Skla-

V1. Nachwirkungen

vereivon Heraklit auf den Krieg zuriickgefihrt und damit gerechtfertigt wirdl. Wie der gleichfalls aus dem Krieg abgeleitete Gegen-

Seine Theorie vom Fluß aller Dinge und von der Relativitit der Begriffe scheint zundchst auf die Soziallehren der Sophisten eingewirkt zu haben. Wenigstens behauptet Platon im Dialog

satz zwischen Menschen und Göttern zu verstehen ist, bleibt dunkel. Daher ist der SchluB berechtigt, daß unser Philosoph alle Klassenbildung als Wirkung des Krieges bezeichnet hat. Dieser wird aber

nicht nur als Kausalfaktor erwähnt, sondern als wertvoll, als Forderer der Kultur angesehen ; sonst hätte er schwerlich als Vater und König bezeichnet werden konnen; der Ruhm des Kriegshelden wird in einem besonderen Fragmente gefeiert *. Interessant ist auch HeraKlits scharfe Polemik gegen Homer, der einmal den Wunsch geäuBert hatte, daB der Streit aus dem Kreise der Gdtter und Menschen verschwinden möge; dies hieBe so viel, sagt Heraklit, als den Unter-

gang der Welt herbeisehnen®. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf einen bei den Interpreten

Heraklits verbreiteten Irrtum? aufmerksam machen.

Sie identifi-

zieren nimlich seine Lehre vom Gegensatz, der zur Harmonie fithrt,

mit der Theorie des Krieges als ,,Vater und König aller Dinge”. Es handelt sich aber hier um zwei verschiedene Grundgedanken. Der eine bedeutet, daß in jedem Dinge gegensitzliche Eigenschaften vorhanden sind, die im Ergebnis eine Einheit schaffen; so entspringt z. Β. die Melodie aus der Verbindung hoher und tiefer Téne®. Hingegen liegt beim Krieg ein Gegensatz zwischen verschiedenen sich

1) Bekanntlich hat Aristoteles im ersten Buch seiner Politik diessm Problem eine ausfithrliche, viel angefochtene Untersuchung gewidmet. %) Fr. 24D. %) Aristoteles Eth. Eud., VIT, 1. 1235 A 25. %) Selbst so verdiente Forscher wie Zeller und Lassalle sind in diesen Irrtum verfallen. 5 Fr. 8: „Das auseinander Strebende vereinigt sich und aus den verschiedenen Ténen entsteht die schonste Harmonie® ; ferner Fr. 10, beruhend auf einem Bericht des Aristoteles (de mundo 396 B, 7), wo gleichialls auf die Musik, aber dann auch auf die Malerei hingewiesen wird als Beispiele einer Vereinigung des Gegensätzlichen. 150

„Theätet“

einen

der Lehre Heraklits

solchen

Zusammenhang

hinsichtlich

des

ältesten

und bedeutendsten Sophisten Protagoras; von ihm war schon oben in der dritten Abhandlung die Rede. Auch die in der spiteren Sophistik so bedeutungsvoll gewordene Unterscheidung zwischen Natur und Satzung kénnte durch einzelne Ausspriiche des Ephesiers angeregt worden sein, obwohl er eigentlich jene Unterscheidung nicht

ausdriicklich erwähnt.

Eine starke Verwandtschaft mit Heraklits

„göttlichen Gesetz‘“ zeigt Hippias nach der Darstellung in Xenophons Denkwiirdigkeiten, wenn man dem hier (IV 4) berichteten Gesprich mit Sokrates geschichtlichen Wert beilegen will. Danach gebe es, wie schon oben erwähnt wurde, ungeschriebene Gesetze, welche bei allen Vilkern gelten und ihre Sanktion in sich selbst tragen, da die Ubertretung unabwendbare Strafen herbeifiihrt. Diese Unwiderstehlichkeit der géttlichen Gesetze wurde ja auch von Heraklit betont. . Eine markante Stellung nimmt in der sophistischen Gedankenwelt die Naturrechtslehre

ein, welche

in Platons

Dialog

,,Gorgias™

dem

sonst unbekannten Kallikles in den Mund gelegt wird. Sie wird hier

nur von dem Gesichtspunkt aus erwähnt*, inwiefern eine Anregung zu dieser antidemokratischen Machttheorie von Heraklit ausgegangen sein konnte. Eine AuBerung bei Platon („Gorgias‘‘, 490 A) klingt in der Tat beinahe wortlich an das Fragment 49 an. Dieses lautet : ,, Einer gilt mir fiir zehntausend, falls er der beste ist.”” Bei Platon heißt es: „Oftmal ist ein Einsichtvoller mehr wert als zehntausend chne

Einsicht; jener muß daher herrschen und diese miissen beherrscht werden.” Auch die Verherrlichung des Krieges bei Heraklit muß einem

Vertreter

der

Machttheorie,

als welcher

stellt, höchst sympathisch gewesen sein. %) Ausfithrlich dariiber meine

Schrift

sich

Kallikles

dar-

So wird auch von ihm die

, Kallikles”

(1922).

151

Sklaverei als etwas Notwendiges angesehen, so bedauerlich auch das Schicksal der Sklaven sein mag. Das Recht des Stärkeren erscheint bei Kallikles als ein Naturgesetz

aller Lebewesen;

es hat gewisser-

maBen eine kosmische Grundlage und scheint daher theoretisch dem „göttlichen Gesetze" Heraklits verwandt zu sein. Daß dieses aber eine andere Auslegung fordert, ist oben gezeigt worden. Aber auch in den praktischen Konsequenzen ergibt sich ein wesentlicher Unterschied. Für Kallikles bildet der geniale Kraftmensch, der alle konventionellen Bindungen abstreift, das Ideal; hingegen verlangt Heraklit die Fithrung der Masse durch den Weisen, der die ‘Weltvernunft erkannt hat. Aus dem ,,Logos’* schöpft er seine Erkenntnis und gibt seinen unwissenden Mitbiirgern Gesetze zum Heile des Staates, wenn

er es nicht vorzieht, sich von der Welt zuriickzuziehen und in der Ein-

samkeit zu leben, wie dies Heraklit selbst getan hat. So mehrdeutig auch dessen „göttliches Gesetz‘“ sein mag, so unwahrscheinlich ist es, daß damit das kallikleische Naturgesetz des Stirkeren gemeint sein konnte. Denn daB vom Gesetz der Macht

,,die menschlichen Gesetze

erndhrt werden’, wird der Ephesier kaum behauptet haben. Wenn wir uns zunichst an jenes Fragment des Ephesiers halten, welches die verpflichtende Kraft des staatlichen Nomos zum Ausdruck bringt, so kann nicht der geringste Zweifel dariiber bestehen, daß Sokrates sich diesen Gedanken energisch zu eigen gemacht hat*. Damit soll natiirlich keine literarische Abhängigkeit behauptet werden; hat doch schon vorher Protagoras, wie oben gezeigt wurde, den Rechtspositivismus entschieden vertreten. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß Sokrates das zu seiner Zeit weitverbreitete Buch von Heraklit -, iiber die Natur* gekannt und — so wenig Sokrates sonst für Metaphysik und Naturphilosophie übrig hatte — die darin enthaltenen anthropologischen Sätze gebilligt haben mochte®. Man-

che AuBerungen, die ihm Platon im Dialog „„Kriton‘ in den Mund legt (wie die, daB der Staat zugrunde geht, wenn die Bürger die Gesetze und die auf Grund derselben ergangenen Urteile nicht achten, selbst wenn sie unbillig erscheinen) klingen direkt an Heraklits Mahnung an, für die Gesetze zu kimpfen wie fiir die Stadtmauern. Hera-

klits Bezichung des Nomos

auf Gott — eine freilich, wie oben dar-

gelegt wurde, mehrdeutige Redewendung — driickt sich im ,,Kriton*

in der Weise aus, daB daselbst die Gesetze als gbttliche Wesen personifiziert werden. Auch in Platons,,Apologie’ rithmt sich Sokrates seiner

Gesetzestreue. Nimmt man noch hinzu, daB er nach dem Bericht von Xenophon (Mem. IV, 4) sich dahin geduBert hat, daB ,,gesetzlich* und „gerecht‘“ identische Begriffe seien und daB er nach Platons „Gorgias‘“ (489 A B) die sophistische Unterscheidung zwischen dem „nach der Natur Gerechten’ und dem ,,nach dem Gesetze Gerechten® ausdriicklich abgelehnt hat, so ist die Beweiskette fiir die These geschlossen, daB Sokrates nur dem positiven Recht des Staates verpflichtende Kraft beigelegt und die Existenz eines Naturrechts geleugnet hat.

Recht bedeutend ist die bisher wenig beachtete Nachwirkung heraklitischer Gedanken auf die Rechts- und Staatslehre Platons. DaB er mit dem Werke des ephesischen Philosophen und den Lehren seiner Schule wohl vertraut war, ergibt schon ein fliichtiger Blick auf die Dialoge

,, Theaitetos"

und

, Kratylos"; letzterer führt ja seinen

Titel von dem Namen eines Herakliteers, der Platons Lehrer gewesen war. Da ist zunächst der Gedanke einer kosmischen Begriindung der Rechtsordnung in Betracht zu ziehen, welcher im System Heraklits, in Anlehnung an Anaximander, eine bedeutende Rolle spieit. Dartiber wirdim ,,Kratylos (p. 412 D ff.) berichtet, ohne daB freilich Heraklit ausdriicklich genannt ist. Da aber hier das Gerechte dem Zeus, dem Feuer und dem Weltdther gleichgestellt wird?, so kann über den Zu-

1) Dies ist auch die herrschende Meinung; vgl. Maier, Sokrates, 5. 409; Menzel,

sammenhang mit Heraklit oder einem seiner Anhénger kein Zweifel

Bd., Gerechtigkeitslehre des Sokrates und des Platon, Zeitschr. £. öff. Recht, 10.

obwalten. Mag sich nun auch Platon dabei nur referierend und kritisch verhalten, so hat er doch später diesen Gedanken aufgegriffen in den

,.Kallikles”, S, 65; Eckstein, Naturrecht, S, 50, Abweichend nur Horvath, Die 1930, S. 258 ff.

Ὦ Diogenes Lagrtius, IT, 22, berichtet: Der Dichter Euripides hat dem Sokrates das Buch Heraklits einmal zu lesen gegeben. Auf die Frage, was er davon hielte, ich habe Sokrates geantwortet: , Was ich verstanden habe, ist vortrefflich;

glaube, auch das, was ich nicht verstanden habe; es bedarf aber eines delischen Tauchers.“ Die Delier galten in Gricchenland als die besten Schwimmer und Taucher.

152

%) Es wird dabei das Wortspiel erwähnt: Dikaion gleich Dia—kon, das durch alles Hindurchgehende, eine der im Dialog so oft versuchten Etymologien. Wenn aun anch in den Fragmenten Heraklits davon nicht die Rede ist, so finden sich doch in ihnen ähnliche gewagte etymologische Ableitungen. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft, 1. Bd., S. 176, hat zehn derselben zusammengestellt. 153

„Gesetzen‘“ (IV, 715 E): „Gott wandelt eine ewig gleiche Bahn der Natur gemäß; seine ständige Begleiterin ist die Dike, die strenges Gericht hält über die, welche sich dem Gesetze nicht fiigen. Ihr ergeben ist jeder, der glückselig werden will, und hält fest an ihr in Demut und Bescheidenheit,

Wer

aber sich ihr nicht fügt, macht

sich jeder Ge-

meinschaft mit Gott verlustig.‘‘ Eine kosmische Begriindung des Rechts ist ferner angedeutet im Dialog ,,Gorgias (p. 507 E): „Es sagen -jedoch die Weisen?, daB Gemeinschaft und Freundschaft, Wohlverhalten, Besonnenheit und Gerechtigkeit es seien, die Himmel

und Erde, Gotter und Menschen zusammenhalten und deshalb nennen sie das Weltganze Kosmos

(Weltordnung)‘‘,

Wie Heraklit die spiter verbreitete Unterscheidung zwischen dem

von Natur und dem durch Satzung Gerechten noch nicht kennt, so hat auch

Platon diese sophistische These

stets abgelehnt, und zwar

im Dialog „Gorgias‘“ (p. 482 C) und besonders in den ,,Gesetzen'’ (889 ff.). An der letzteren Stelle wird geradezu gelehrt, daß die positiven Gesetze des Staates ein Produkt der Natur seien, zu der ja auch

der menschliche Geist gehort. Etwas anderes ist natiirlich die Frage der Bewertung der positiven Einrichtungen. DaB an ihnen des ofteren Kritik geübt wird, ist bei einem Reformator groSen Stils, wie es Platon war, selbstverstindlich; damit wird aber die verpilichtende Kraft des positiven Rechtes noch nicht in Zweifel ge-

zogen. Soviel über die gedanklichen Zusammenhénge zwischen Heraklit und Platon in der Rechtstheorie. Noch viel markanter treten sie in der Staatslehre hervor. Sowohl das Ideal einer Herrschaft der Weisen

in der ,,Politeia’

als das der Gesetzesherrschaft

in Platons

Dialog ,,Nomoi* sind andeutungsweise bereits in den oben besproche-

nen Fragmenten Heraklits sichtbar. Wie sehr beide Denker in der Kritik der Demokratie iibereinstimmen, bedarf kaum eines Nachweises. Ich erwähne nur, daß beide in jener Staatsform die Vorherr-

schaft der sinnlichen Triebe gegeniiber der Vernunft erblicken. Ein wichtiger Unterschied darf aber nicht übersehen werden. „DerWeise‘“

erscheint bei Heraklit nicht als der geborene Herrscher, welcher als „‚königlicher Staatsmann‘ der Gesetze gar nicht bedarf, um den Staat

1) Apelt bezieht diesen Ausdruck lediglich auf die Pythagoreer; es bestoht dber kein Grund dafür, nicht auch an Heraklits „göttliches Gesetz‘“ zu denken. 154

zu beglücken,

wie dies Platon besonders

lehrt hat. Der ephesische

im Dialog

,,Politikos

ge-

Philosoph verlangt vielmehr immer eine

Herrschaft der Gesetze, nur daß diese nicht von dem unwissenden Volk, sondern von einem weisen Gesetzgeber geschaffen werden. Er kann dann das zur Wahrheit machen, was Heraklit mit dem Satz ausdriickt, daB die menschlichen

Gesetze von dem

einen gottlichen

gendhrt werden. Denn der Weise erfaBt das, was Heraklit abwechselnd mit den Ausdriicken ,,das Gemeinsame" (Eovév), ,,die Vernunft* (λόγος), „den Verstand® (νοῦς) und die ,,richtige Meinung" , (γνώμη) bezeichnet. Wodurch freilich bewirkt wird, daB das Volk einem solchen Gesetzgeber Gefolgschaft leistet, hat Heraklit nicht angegeben,

aber auch Platon hat diese Frage nicht geklirt. Die

Hauptstelle,

welche

die Ansichten

von

Aristoteles

über

das

Naturrecht und sein Verhiltnis zum positiven Recht zum Ausdruck bringt, ist in der Nikomachischen Ethik (V, 10, 1134 B 16 f£.} gegeben. Sie bietet der Auslegung große Schwierigkeiten und steht {iberdies nicht völlig im Einklang mit einer dasselbe Thema streifenden Ausfithrung in der Rhetorik

(I, 10, 13—15,

ferner I, 14, 1375 A

33). So erscheint es begreiflich, daß sich zwei entgegengesetzte Auffassungen

bilden konnten;

nach

der einen

wire

Aristoteles als der

Vater des Naturrechts anzusehen, nach der anderen als Positivist und Leugner eines jus naturale. Eine Untersuchung dieses Themas ist hier nicht beabsichtigt. Es handelt sich mir lediglich um die Feststellung, inwiefern heraklitische Gedanken bei jenen Darlegungen des Stagiriten mdglicherweise eine Rolle gespielt haben. DaB er mit dem Werk des Ephesiers wohl vertraut war, ist bekannt. Manche Ausspriiche des dunklen Philosophen sind uns nur durch Aristoteles erhalten,

wobei er 65 auch an einer Polemik nicht fehlen 148t. So waren ihm auch die oben ausfiihrlich behandelten Ausspriiche Heraklits über den Nomos des Staates und das eine gottliche Gesetz sicherlich wohlbekannt.

Daß

er sie nicht ausdriicklich zitiert, darf nicht wunder-

nehmen. Solche Zitationen bilden bei den antiken Schriftstellern und insbesondere bei Aristoteles eine Ausnahme. Jedenfalls erhält man von den Ausfithrungen in der nikomachischen Ethik den Eindruck, daB Aristoteles dem Rechtspositivismus näher

steht als einer Naturrechtstheorie. Dieser Eindruck wird durch die Lektiire der ,,Politik*’ bedeutend verstirkt. Die beriihmten Untersuchungen über die Gesetzesherrschaft (II1, 10, p. 1281 B, 35 ff. und

156

p. 1286 A) stellen sich als eine Apotheose des positiven Rechts dar. In der letztgenannten Stelle der ,,Politik™ heiBt es: , Wer also dem Gesetze die Herrschaft zuweist, der weist sie, wie es scheint, allein Gott und der Vernunft zu, wer aber den Menschen, der fiigt auch noch

das Tier hinzu. Denn die Begierden sind etwas Tierisches; Zorn und Leidenschaft

verleiten oft die Herrscher,

auch wenn

sie die besten

Menschen sind. Und so ist denn das Gesetz als Vernunft ohne Leidenschaft zu bezeichnen . . . Hienach

ist es wohl klar, daB, wer Recht

und Gerechtigkeit sucht, einen Unparteiischen sucht ; das Gesetz aber ist unparteiisch. Dazu kommt, daB noch wichtiger als die geschriebenen Rechtsnormen die in Sitte und Herkommen niedergelegten sind;

auf sie sollte daher noch mehr Verla$ sein, wenn man schon sonst die

Entscheidungen zichen sollte.”

eines Menschen

den geschricbenen

Gesetzen vor-

Die wahren Herrscher im Staat sollen demnach nicht die Menschen

sein, sondern die Gesetze, sowohl die geschriebenen Rechtsnormen als das Gewohnheitsrecht. Von irgendwelchem , natiirlichen Rechte“‘ ist keine Rede. Ja, Aristoteles erblickt schon in dem positiven Recht des Staates den Ausdruck der Vernunft. Er wiirde also die Mahnung von Heraklit sicher gebilligt haben, daB das Volk für den Nomos kämpfen miisse wie um

die Mauern

der Polis, 468 sich der Staat auf die Ge-

setze stiitzen miisse wie der Einzelmensch auf die Vernunft. AristoteJes bemerkt in der zitierten Stelle sogar ausdriicklich, da8 im mensch-

lichen Nomos Gott sich offenbare®. Er schiieBt sich also auch hier an den Ausspruch Heraklits an, indem er ihn nur im Sinn eines bloB

formellen Naturrechts auslegt ; der materielle Inhalt des Rechts wird

ausschlieBlich vom staatlichen Gesetzgeber oder durch Gewohnheits-

recht bestimmt. Es war erst die Schule der Stoa, welche das „eine gottliche Gesetz‘‘ Heraklits als ein materielles Naturrechit erfaßt hat. Die Philosophie der Stoa weist eine starke Verwandtschaft mit den Lehren Heraklits auf. Die Stoiker haben sich vor allem seine Physik angeeignet, so, daB das Feuer oder der Ather der Urstoff sei, seine stufenweise Umwandlung in die Elemente und wieder die Riickwand-

lung derselben in den Urstoff, dessen Identität mit der Weltvernunit, dem Weltgesetze und der Gottheit, die Einheit und Ewigkeit

des

1), Wer also verlangt, daß die Vernunft herrsche, scheint zu verlangen, daß Gott und die Gesetze herrschen” („Politik“, p. 1287 B). 156

Weltganzen. Doch ist den Stoikern der Logos nicht eine blind wirkende Naturkraft; sie legen neben der allgemeinen Kausalitét der Naturerscheinungen auf das Prinzip der ZweckmiBigkeit der Welt besonderes Gewicht; die Lehre vom Verhéngnis oder Schicksal wird zu einer Vorsehungslehre umgebildet. Der Heraklitsche Pantheismus wird demnach zwar grundsitzlich beibehalten, er erhilt jedoch durch die Stoa eine teleologische Farbung, welche als eine Anndherung an die theistische Lehre des Aristoteles angesehen werden muB. -So ist es begreiflich, daB der Stoizismus von der christlichen Philosophie nicht

grundsitzlich

abgelehnt

wurde;

ja, gerade

ihr ,,Naturrecht”

erfreute sich in der katholischen, spiter noch mehr in der protestantischen Theologie groBen Ansehens, so daß man von einer Rezeption der stoischen Rechtsphilosophie gesprochen hat. Diese Zusammenhinge sind hier nicht weiter zu verfolgen. Es handelt sich vielmehr nur darum, zu ermitteln, ob und inwieweit heraklitische Gedanken, welche, wie oben erwihnt wurde, fiir die Physik

und Metaphysik der Stoa maBgebend waren, auch in jhrer Rechtsphilosophic nachgewirkt haben. Für diese Frage kommt vor allem die beriihmte Definition des hervorragenden Stoikers Chrysippos in Betracht, welche uns durch den romischen Juristen Marcianus iiberliefert ist und in den Pandekten Justinians (Dig. I, 2, 3) Aufnahme gefunden hat. Es heißt: ,,Das Gesetz ist der Konig über die mensch-

lichen und gottlichen Dinge‘ etc. Daraus ergibt sich zundchst, daß die Stoa die Hochschitzung des Nomos von Heraklit {ibernommen hat. Wenn das Gesetz von Chrysippos als König bezeichnet wird, 80 ist das freilich nicht heraklitisch, sondern pindarisch. Doch zeigt sich wieder darin eine Ahnlichkeit, daß durch Hinweis auf die „göttlichen Dinge der Nomos eine kosmische Firbung erhilt. Wie sich nun aber unser Stoiker das Verhaltnis zum Weltgesetz gedacht hat, ist aus seiner Definition nicht zu entnehmen. Hingegen ergibt

sich aus Fragmenten anderer Stoiker,

daß bei thnen der Gedanke

herrschend war, Weltgesetz und sittliche Norm

seien identisch. Da

nun aber die positiven Rechtsordnungen unter sich groBe Verschiedenheiten

aufweisen,

so erhielt

der verpflichtende

,,Nomos*

einen

naturrechtlichen Charakter; das Recht wurde sthisiert und dadurch mit dem Weltgesetz und der Weltvernunft in Ubereinstimmung gebracht, Der heraklitische Spruch, demzufolge alle menschlichen Gesetze von dem einen gottlichen ernährt werden, erhielt eine norma-

157

tive Auslegung in dem Gedanken einer höheren, auf das Weltgesetz die oder die Natur des Menschen zurückführenden Rechtsordnung, man

ja schon bei Heraklit

angedeutet

finden

kann,

falls man

sein

, gottliches Gesetz™ in dieser Weise auslegt. So lehren denn die Stoiker

ein ideales, aus der Weltvernunft

ableitbares Recht.

Dieses sei fiir

he den Weisen allein bindend, wihrend die groBe Masse das staatlic nicht, echt Recht auch dann befolgen mag, wenn es mit dem Naturr

übereinstimmt.

Die Gegenüberstellung des Weisen und der großen Masse ist, wie voroben gezeigt wurde, bereits in mehreren Fragmenten Heraklits

WNaturrecht der Neuzeit genommen hat, die Spuren aufzuweisen, welche die Ausspriiche Heraklits, vermittelt durch die sioisch\; Schule, hinterlassen haben. Wahrend Hobbes und Spinoza deutlich die Einwirkung der epikureischen Schule aufweisen, indem sie die Rechtsordnung rein positivistisch vom Standpunkt einer Nützlich-

keitslehre zu erklären versuchen, hat die Mehrzahl der Naturrechtslehrer den Gedanken einer hoheren, auf Gott, das Weltgesetz oder

die Natur des Menschen zuriickfithrenden Rechtsordnung, die man ja schon bei Heraklit angedeutet finden kann, falls man sein „göttliches Gesetz‘“ in dieser Weise auslegt.

gebildet. Daß aber das positive Recht der Polis für den Weisen nicht bindend wäre, ein solcher Gedanke durchaus

fern.

Wenn

man

liegt

dem ephesischen Denker

die Zeitverhiltnisse

in Betracht

zieht,

wird dieser Unterschied begreiflich, Heraklit lebte in der Bliitezeit der Epoche des griechischen Stadtstaates, wibrend dieser schon in dem gegenüber hatte eingebiiBt Bedeutung der älteren Stoa seine

Gedanken eines Weltstaates.

Damit war auch der Boden für ein

jüneigentliches „Naturrecht‘“ vorbereitet, das in der mittleren und stark Wie gelangte. geren stoischen Schule zur vollen Ausbildung von dieser Naturrechtslehre dic Philosophie Ciceros und die romische Weniger. bekannt Rechtswissenschaft beeinflut wurde, ist bekannt.

diirfte es aber sein, daß in der mittelalterlichen Natusrechtsiehre

Heraklits naheFormulierungen auftauchen, welche den Fragmenten erlassene Menschen von ,,Jedes sagt!: stehen. Thomas von Aquino

dem Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, als es sich aus

Stimmt es natiirlichen Gesetze ableitet (ex lege naturali derivatur).

mit diesem nicht überein, so ist es nicht mehr Gesetz, sondern Ge-

ist die setzes-Verderbnis (legis corruptio).‘“ Noch mehr heraklitisch gibt eine Textierung in der Naturrechtslehre des Fr. Suarez?: ,,Es ewigen diesem von sich nährt Gesetz lex acterna; alles menschliche entweder Gesetze, ist nur insoweit lex justa, als es sich daraus

Jeiten 148t oder ihm wenigstens nicht widerspricht.” Ἐς wire eine besondere Aufgabe, an der Entwicklung,

ab-

die das

hischen 4y Summa Theologiae I, II qu. 95a 2. Vgl. dazu Sauter, Die philosop 10. Bd., Recht, öff. . £ Zeitschr. Grandlagen des mittelalterlichen Naturrechtes, daRechtes, des ie Soziolog der in Staat wahre 1930, S. 337, und Winter, Der selbst, 11. Bd., 1931, S. 175, %) Vgl. Rommen, Dic Staatslehre des Franz Suarez, S, 35. 158

159