Kleine Schriften: Eine Auswahl aus den Jahren 1970-1999 in zwei Bänden. Bd 1: 1970-1988. Bd 2: 1988-1999 9783110808117, 9783110156652

Die von Matthias Kammerer und Werner Wolski herausgegebenen Kleinen Schriften in zwei Bänden (Band 1: 1970-1987, Band 2:

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Kleine Schriften: Eine Auswahl aus den Jahren 1970-1999 in zwei Bänden. Bd 1: 1970-1988. Bd 2: 1988-1999
 9783110808117, 9783110156652

Table of contents :
Zur Einführung
Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. Kombinierte Methoden zur Strukturierung der Lexik [1970]
Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik [1972]
Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie [1976]
Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1977]
Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch [1979]
Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte [1979]
Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge [1979]
Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1981]
Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1982]
Was ist eigentlich ein Lemma? Ein Beitrag zur Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung [1983]
Zur Geschichte des deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul [1983]
Nachdenken über wissenschaftliche Rezensionen. Anregungen zur linguistischen Erforschung einer wenig erforschten Textsorte [1983]
Aufgaben eines bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuches heute [1984]
Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. Ein Beitrag zur empirischen Erforschung der Benutzung einsprachiger Wörterbücher [1985]
Metalexicography. A Data Bank for Contemporary German [1986]
Bedeutungswörterbücher oder sogenannte Indices in der Autorenlexikographie? Die Eröffnung einer Kontroverse [1986]
Dialekt und Standardsprache im Dialektwörterbuch und im standardsprachlichen Wörterbuch [1986]
Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher. Zugleich ein Versuch zur Unterscheidung von Normen und Regeln [1986]
Der frühe Wörterbuchstil Jacob Grimms [1986]
Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung [1987]
Vorüberlegungen zur Wörterbuchtypologie: Teil I [1988]
Was eigentlich ist Fachlexikographie? Mit Hinweisen zum Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen [1988]
Wörterbuchartikel als Text [1988]
Printed Dictionaries and Their Parts as Texts. An Overview of More Recent Research as an Introduction [1990[91]]
Kritische Lanze für Fackel-Redensartenwörterbuch. Bericht und Diskussion zu einem Workshop in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 14.2.1994 [1993[94]]
Zur Unterscheidung von semantischen und enzyklopädischen Daten in Fachwörterbüchern [1994]
Lexikographische Texte in einsprachigen Lernerwörterbüchern. Kritische Überlegungen anläßlich des Erscheinens von Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache [1995]
Über die Mediostrukturen bei gedruckten Wörterbüchern [1996]
Das Konzept der semiintegrierten Mikrostrukturen. Ein Beitrag zur Theorie zweisprachiger Printwörterbücher [1996]
Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft [1996]
Über primäre, von Substantiven „regierte“ Präpositionen in Präpositionalattributkonstruktionen [1996]
Deutsch-Usbekisches Wörterbuch. Einblicke in die Wörterbucharbeit an der Staatlichen Usbekischen Weltsprachen-Universität in Taschkent [1996]
Über die gesellschaftliche Verantwortung der wissenschaftlichen Lexikographie [1997]
Altes und Neues zur Makrostruktur alphabetischer Printwörterbücher [1998]
Lexikographische Textverdichtung. Entwurf zu einer vollständigen Konzeption [1998]
Neuartige Mogelpackungen: Gute Printwörterbücher und dazu miserable CD-ROM-Versionen. Diskutiert am Beispiel des Lexikons der Infektionskrankheiten des Menschen [1998[99]]
Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf? [1999]
Literatur
Wörterbücher
Sonstige Literatur
Namenregister
Sachregister

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Herbert Ernst Wiegand Kleine Schriften Band 1

Herbert Ernst Wiegand

Kleine Schriften Eine Auswahl aus den Jahren 1970 bis 1999 in zwei Bänden Band 1: 1970-1988 Herausgegeben von Matthias Kammerer und Werner Wolski

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2000 Walter de Gruyter · Berlin · New York

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CIP-Einheitsaufnahme

Wiegand, Herbert Ernst: Kleine Schriften : eine Auswahl aus den Jahren 1970 bis 1999 in zwei Bänden / Herbert Ernst Wiegand. Hrsg. von Matthias Kammerer und Werner Wolski. — Berlin ; New York : de Gruyter ISBN 3-11-015665-2 Bd. 1. 1970-1988. - 2 0 0 0

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druckvorlage: Matthias Kammerer, Karlsruhe Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhalt BAND Ι Matthias Kammerer / Werner Wolski: Zur Einführung

IX

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. Kombinierte Methoden zur Strukturierung der Lexik [1970] Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik [1972]

1 99

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie [1976].... 125 Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1977] 174 Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch [1979]

237

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte [1979]

264

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge [1979]

292

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1981]

335

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie [1982]

433

Was ist eigentlich ein Lemma? Ein Beitrag zur Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung [1983] ....458 Zur Geschichte des deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul [1983]

512

Nachdenken über wissenschaftliche Rezensionen. Anregungen zur linguistischen Erforschung einer wenig erforschten Textsorte [1983]

528

Aufgaben eines bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuches heute [1984]

545

Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. Ein Beitrag zur empirischen Erforschung der Benutzung einsprachiger Wörterbücher [1985]

560

Metalexicography. A Data Bank for Contemporary German [1986]

619

VI

Inhalt

Bedeutungswörterbücher oder sogenannte Indices in der Autorenlexikographie? Die Eröffnung einer Kontroverse [1986]

635

Dialekt und Standardsprache im Dialektwörterbuch und im standardsprachlichen Wörterbuch [1986]

642

Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher. Zugleich ein Versuch zur Unterscheidung von Normen und Regeln [1986]

665

Der frühe Wörterbuchstil Jacob Grimms [1986]

684

Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung [1987]

704

Vorüberlegungen zur Wörterbuchtypologie: Teil I [1988]

749

Was eigentlich ist Mit Hinweisen zumFachlexikographie? Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen [1988]

830

BAND II Wörterbuchartikel als Text [1988]

877

Printed Dictionaries and Their Parts as Texts. An Overview of More Recent Research as an Introduction [1990[91]]

951

Kritische Lanze für Fackel-Redensartenwörterbuch. Bericht und Diskussion zu einem Workshop in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 14.2.1994 [1993[94]] ...1063 Zur Unterscheidung von semantischen und enzyklopädischen Daten in Fachwörterbüchern [1994]

1106

Lexikographische Texte in einsprachigen Lernerwörterbüchern. Kritische Überlegungen anläßlich des Erscheinens von Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache [1995]

1128

Über die Mediostrukturen bei gedruckten Wörterbüchern [1996]

1163

Das Konzept der semiintegrierten Mikrostrukturen. Ein Beitrag zur Theorie zweisprachiger Printwörterbücher [1996]

1193

Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft [1996]

1278

Über primäre, von Substantiven „regierte" Präpositionen in Präpositionalattributkonstruktionen [1996]

1311

Inhalt

VII

Deutsch-Usbekisches Wörterbuch. Einblicke in die Wörterbucharbeit an der Staatlichen Usbekischen WeltsprachenUniversität in Taschkent [1996]

1339

Über die gesellschaftliche Verantwortung der wissenschaftlichen Lexikographie [1997]

1410

Altes und Neues zur Makrostruktur alphabetischer Printwörterbücher [1998]

1428

Lexikographische Textverdichtung. Entwurf zu einer vollständigen Konzeption [1998]

1454

Neuartige Mogelpackungen: Gute Printwörterbücher und dazu miserable CD-ROM-Versionen. Diskutiert am Beispiel des Lexikons der Infektionskrankheiten des Menschen [1998[99]]

1490

Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf? [1999]

1507

Literatur Wörterbücher Sonstige Literatur

1553 1553 1575

Namenregister

1663

Sachregister

1687

Zur Einführung Die hier in Auswahl publizierten Kleinen Schriften von Herbert Ernst Wiegand umfassen einen Zeitraum von dreißig Jahren: Nach dem Erscheinungstermin datieren sie zwar aus den Jahren 1970 bis 1999; der erste Beitrag war jedoch im Herbst 1969 abgeschlossen. Von den Arbeiten vor allem seit Mitte der 80er Jahre sind zahlreiche gleichzeitig entstanden, so daß sich in den Literaturangaben vorliegender Schriften inhaltliche Bezüge nicht nur zu den hier ausgewählten Arbeiten ergeben, sondern auch zu solchen Veröffentlichungen, die in den beiden Bänden nicht berücksichtigt werden konnten. Dazu sei ergänzend auf den im Herbst 1999 erscheinenden Band verschiedener ins Englische übersetzten Arbeiten Herbert Ernst Wiegands mit dem Titel Semantics and Lexicography. Selected Studies (1976-1996), edited by Antje Immken and Werner Wolski, verwiesen und auf die dortige „Introduction" von Werner Wolski (vgl. das Literaturverzeichnis im 2. Bd.). Vermissen wird man u.a. in den Kleinen Schriften z.B. Beiträge, wie Nachdenken über Wörterbücher. Aktuelle Probleme (1977) und Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition (1985). Diese weithin rezipierten Aufsätze (und etliche mehr) mußten aus Umfangsgründen hinter anderen zurücktreten; die beiden genannten sind aber in dem zuvor genannten Sammelband in englischer Übersetzung enthalten. Ansonsten wurde für die Auswahl der Beiträge folgendermaßen verfahren: Aufgenommen sind keine Handbuchartikel aus den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK), weil hier deutlich über 600 Seiten hätten Berücksichtigung finden müssen. So enthalten die Kleinen Schriften nicht den aspektreichen und instruktiven Artikel Prinzipien und Methoden historischer Lexikographie (Wiegand 1984; HSK 2.1: Sprachgeschichte), der eine ausführliche Darstellung metalexikographischer Forschungsgebiete und die Definition wesentlicher lexikographischer Prinzipien umfaßt, in dem u.a. das Zusammenwirken lexikographischer Prinzipien und Methoden im Hinblick auf die Beschreibung von Wortbedeutungsgeschichte erläutert und der politisch-soziale Wortschatz in bedeutungsgeschichtlichen Wörterbüchern ausführlich untersucht wird und der weiterhin erstmalig die Präsentation einer Typologie von Autorenwörterbüchern und ihnen zuzuordnender Textsegmenttypen beinhaltet. Ebenso werden nicht die grundlegenden Beiträge aus dem Handbuch Wörterbücher berücksichtigt; dies sind - neben dem Artikel Die deutsche Lexikographie der Gegenwart (Wiegand 1990; aus HSK 5.2) - die Beiträge aus HSK 5.1, mit denen ein theoretisches Fundament gelegt wird, an das trotz verschiede-

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Matthias Kammerer / Werner Wolski

ner späterer Modifikationen auch heute noch angeschlossen werden kann: Der gegenwärtige Status der Lexikographie und ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen (Wiegand 1989a), Aspekte der Makrostruktur im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch: alphabetische Anordnungsformen und ihre Probleme (Wiegand 1989b), Der Begriff der Mikrostruktur: Geschichte, Probleme, Perspektiven (Wiegand 1989c), Arten von Mikrostrukturen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch (Wiegand 1989d), Die lexikographische Definition im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch (Wiegand 1989e). Des weiteren sind keine Arbeiten aufgenommen, die zusammen mit Koautor(inn)en verfaßt worden sind. Herbert Ernst Wiegand hat seit 1967 etwa 80 kleinere und größere Beiträge (Aufsätze, Berichte, Lexikonartikel, Bibliographien, Vorwörter u.a.m.) gemeinsam mit anderen veröffentlicht, so z.B.: Zur wissenschaftlichen Einordnung und linguistischen Beurteilung des deutschen Wortatlas (Wiegand/Harras 1971), Arbeitsbibliographie zur Semantik in der Sprachphilosophie, Logik, Linguistik und Psycholinguistik [...] (Wiegand/Wolski 1975), Lexikalische Semantik (Wiegand/Wolski 1980), Das Konzept der Isoglosse. Methodische und terminologische Probleme (Händler/Wiegand 1982), Wörterbuchbenutzungsforschung. Ein kritischer Bericht (Ripfel/Wiegand 1988), Component Parts and Structures of General Monolingual Dictionaries: A Survey (Hausmann/Wiegand 1989; HSK 5.1), Framebasierte Wörterbuchartikel. Zur Systematisierung der lexikographischen Präsentation des Bedeutungswissens zu Substantiven (Konerding/Wiegand 1994[95]), Datendistributionsstrukturen, Makro- und Mikrostrukturen in neueren Fachwörterbüchern (Bergenholtz/Tarp/ Wiegand 1998), Über die textuelle Rahmenstruktur von Printwörterbüchern. Präzisierungen und weiterführende Überlegungen (Kammerer/Wiegand 1998 [99]) und Gemischt-semiintegrierte Mikrostrukturen für deutsch-spanische Printwörterbücher (Meyer/Wiegand 1999). Einige von diesen, aber auch andere Beiträge, die mit Koautor(inn)en entstanden sind, werden in nachfolgendem Überblick en passant angesprochen. Die von uns ausgewählten und hier zusammengestellten Arbeiten Wiegands sind chronologisch geordnet. Für die kurze Vorstellung der Kleinen Schriften wird nachfolgend allerdings nicht so verfahren, daß die Beiträge in der Reihenfolge betrachtet werden, wie sie hier (entsprechend dem Inhaltsverzeichnis) aufgeführt sind. Vielmehr wird die chronologische Abfolge durchbrochen und versucht, charakteristische Skizzen der Arbeiten nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu geben. Damit wird nicht nur eine individuelle Entwicklung aufgezeigt und werden nicht nur persönliche Vorlieben der Behandlung eines zunehmend bevorzugten Gegenstandsbereichs widergespiegelt, sondern es fällt zugleich ein Licht auf die Rezeption der sich seit den 70er Jahren überstürzenden Errungenschaften sprachwissenschaftlicher Argumentationshinsichten, hier insbesondere in den Subdisziplinen Pragmatik und Textlinguistik: Daran haben auch viele Theoretiker(innen) Anteil, die anderen wissenschaftlichen Gegenständen ver-

Zur Einführung

XI

pflichtet waren und sind als Herbert Ernst Wiegand, die aber in gleicher Weise ein unermüdliches Bestreben um Erweiterung ihres Erkenntnisstands vereint. Mit der Veröffentlichung der Kleinen Schriften wird in keiner Weise das Ziel der Huldigung einer Person und deren wissenschaftlicher Leistungen verfolgt; ein solches Ansinnen läge dem Autor der hier versammelten Beiträge im übrigen auch vollkommen fern. Unabhängig von der Person, mit der zweifellos wesentliche Forschritte besonders im Bereich der Wörterbuchforschung resp. Metalexikographie verbunden werden, sind es vor allem sachliche Gründe, die dazu Anlaß geben, verschiedene Beiträge des Autors in den beiden vorliegenden Bänden zu vereinen. Wer auch immer heute - z.B. im Rahmen eines Dissertations· oder Habilitationsvorhabens - mit der neueren Wörterbuchforschung befaßt ist, oder wo auch immer ein größeres Sprach- oder Fachwörterbuch geplant wird: Es sind verschiedene Schriften Herbert Ernst Wiegands, die zu Rate gezogen werden; auf die dort entwickelte Redeweise über sprachliche Gegenstände wird man unweigerlich stoßen, weiterhin auf die für den Gegenstandsbereich der Lexikographie eingeführte Terminologie, auf Details der texttheoretischen und handlungstheoretischen Grundlegung der Metalexikographie mit der als zentral hervorgehobenen Wörterbuchbenutzungsforschung, auf immer wieder vorgebrachte Argumente gegen merkmalsemantische Ansätze und vor allem gegen die lexikographische „Definition". Dreh- und Angelpunkt der Forschungen Wiegands zur Lexikographie ist die theoretische Optimierung des Zusammenhangs zweier Praxisbereiche und ihr Ineinandergreifen: der Lexikographie als (insbesondere) wissenschaftliche Praxis, und der durch diese ermöglichten kulturellen Praxis der Wörterbuchbenutzung. Dem Bemühen, die lexikographischen Prozesse lehrbar zu machen, wird in verschiedenen Arbeiten Wiegands Ausdruck gegeben (vgl. z.B. ausführlich dazu Wiegand 1997). Wie sehr die metalexikographischen Überlegungen Wiegands von Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung aufgegriffen und diskutiert werden, belegen z.B. die Beiträge in dem von Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr herausgegebenen Band Linguistische Theorie und lexikographische Praxis. Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996 (Konerding/Lehr 1997). Wer sich orientieren will, hat zwar einen wesentlichen Bezugspunkt in den oben genannten Artikeln der Bände des internationalen Handbuchs Wörterbücher (HSK 5.1 u. 5.2); Orientierungsmöglichkeiten bietet auch der mittlerweile erschienene erste Teilband des Buchs von Herbert Ernst Wiegand mit dem Titel Wörterbuchforschung. Untersuchungen zur Wörterbuchbenutzung, zur Theorie, Geschichte, Kritik und Automatisierung der Lexikographie (Wiegand 1998); aber die anderen Schriften des Autors sind verstreut in verschiedenen Sammelbänden und Zeitschriften erschienen, so daß es z.T. schwierig ist, einen Überblick über die Bandbreite der Argumentationen (insbesondere auch zu unerwarteten Themen mit theoretischen sowie praktisch ausgerichteten Details) zu erlangen. Gerade denen, die bestrebt sind, auch den Zusammenhang mit Forschungstraditionen der 70er Jahre (z.B. Merkmalsemantik oder Definitionstheorien) in genaue-

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Matthias Kammerer / Werner Wolski

rer Darstellung verfolgen zu können, denen auch an Einsichten in die Ausgangspunkte der nach und nach systematisch entwickelten Wörterbuchforschung in der von Wiegand entwickelten Form gelegen ist, an Einsichten in den Weg hin zu dem, was zwischenzeitlich erreicht wurde, die daneben aber auch einen Einblick in Weiterentwicklungen der letzten Jahre sowie in verschiedene Desiderata des Forschungsfelds erhalten möchten, können die hier versammelten Beiträge ein hilfreicher und geordneter Bezugspunkt sein. In diesem Sinne versteht sich die getroffene Auswahl der Kleinen Schriften als Angebot, den Entwicklungsgang der neueren Wörterbuchforschung genauer nachvollziehen zu können, als dies unter Rückgriff auf den einen oder anderen (gegebenenfalls zufällig herausgegriffenen und zur Kenntnis genommenen) Beitrag möglich wäre. Gleichzeitig wird - am Beispiel einer individuellen und über viele Jahre hinweg kontinuierlich verfolgten Aneignung jeweils aktueller linguistischer Argumentationen - sehr deutlich, wie reichhaltig sich die theoretischen Ansätze der Linguistik in poststrukturalistischer Zeit entwickelt haben. Einblicke in diese Entwicklungen werden durch die Vorgehensweise des Autors ermöglicht, sich in kritischer Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen und auch kontroversen Theorien ausführlich argumentativ den jeweils behandelten Gegenständen zu nähern, die Plausibilität der gewonnenen Einsichten anhand von Beispielen zu veranschaulichen, gegebenenfalls aber auch eigene Auffassungen selbstkritisch und explizit zu revidieren, wenn dafür in den umfänglich zur Kenntnis genommenen Arbeiten anderer Wissenschaftler(innen) überzeugende Argumente vorgetragen werden. Dem entsprechend nehmen einige Beiträge annähernd den Umfang einer Monographie an, und die (im zweiten Band zu einem Literaturverzeichnis zusammengefaßten) Literaturverweise sind in den hier versammelten Arbeiten - wie in weiteren Schriften des Autors - oft sehr ausführlich. Mit der Organisation der beiden Bände waren aufwendige Redigierungsaufgaben verbunden. Nur ein Beitrag konnte teilweise eingescannt werden; die anderen waren für die Druckvorlage neu zu erstellen. Hier ist Frau Quoos, der langjährigen Sekretärin Wiegands, zu danken, die mit der mühsamen Aufgabe betraut war, die zahlreichen Beiträge in den Computer einzugeben. Trotz aller Sorgfalt bei der Erstellung der Vorlagen konnte es nicht ausbleiben, daß sich nunmehr - über die in den Originalbeiträgen offenbar werdenden Fehler hinaus zahlreiche neue Fehler eingeschlichen haben, was langwierige Korrekturarbeiten nach sich zog. Bei den Korrekturen ist nach der Maxime verfahren worden, im Hinblick auf die einmal gewählten Formulierungen - außer in gravierenden Einzelfällen sprachlicher Abweichungen und Druckfehlern - die Originaltreue unbedingt zu wahren; korrigierende Eingriffe sind im wesentlichen auf Aspekte der Orthographie und auf den kontrollierten Einsatz von Kursivauszeichnungen beschränkt geblieben. Als sinnvoll und nützlich erschien es, den Bänden nicht nur ein Namenregister, sondern auch ein Sachregister anzufügen. Die Literaturverzeichnisse der

Zur Einführung

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einzelnen Beiträge sind zu einem generellen Literaturverzeichnis zusammengefaßt worden. Dazu war die Vereinheitlichung der in den Beiträgen jeweils unterschiedlich mit „a", „b", „c" usw. bezeichneten Literaturangaben nötig. Des weiteren wurden, zum Zwecke der Kenntlichmachung der hier versammelten Beiträge, entsprechende Literaturmarken durchgängig (bei Vorkommen im laufenden Text, in Fußnoten und auch im Literaturverzeichnis) mit einem Asterisk „*" versehen. An den Anfang sind zwei Beiträge gestellt, denen angesichts späterer handlungssemantischer und textlinguistischer Argumentationen des Autors im wesentlichen nur ein wissenschaftshistorischer Wert zukommt: Insbesondere der umfangreiche Beitrag Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. Kombinierte Methoden zur Strukturierung der Lexik (1970) führt vor Augen, auf welcher Folie zu Beginn der 70er Jahre - hier, wie auch bei anderen Theoretikern die theoretische Auseinandersetzung zu Bedeutungsfragen geführt wurde: Langue/Parole-Differenzierungen, Bezugnahme auf Karl Bühler, „Intentionalität des Sprachzeichens" (vgl. S. 3), Spezifikationen zu Zeichenmodellen (Dreiecks- und Trapezmodelle), „Außereinzelsprachlichkeit" (vgl. S. 18), „Inhaltsform" und „Ausdrucksform", „Inhaltssubstanz" und „Ausdruckssubstanz" (vgl. S. 30ff.), Auseinandersetzungen mit Sem, Noem, Plerem, Signem unter der Annahme, daß Semsummen im Sprachsystem vorhanden sind, u.a.m. Hier ist nahezu das gesamte strukturalistische terminologische Inventar unter Berücksichtigung der wesentlichen Arbeiten jener Jahre ausgebreitet. Da das strukturalistische Programm gründlich und mit außerordentlicher Konsequenz verfolgt wird, führt dies nahezu zwangsläufig zu einer Vermehrung der ohnehin außergewöhnlichen (teils eigenartig anmutenden) Terminologie, was in verschiedenen terminologischen Prägungen seinen Ausdruck findet, die zusammen mit anderen „Junglexikologen" der Marburger Assistentenzeit Wiegands ersonnen wurden und womit terminologische Extremwerte erreicht werden: „Semasem-Sem-Kollektionen", „metametasprachliche Modelle", „polyheteroseme Plereme" (vgl. S. 59) u.a.m. Aus heutiger Sicht betrachtet, mußte dieses - fortgeschrittene - Stadium wohl erst erreicht werden, und sollte es als vorteilhaft erachtet werden, daß ein solcher Extrempunkt damals erreicht worden ist, damit von entsprechenden Prämissen nach vorgeführtem rigorosem Durchdenken eines solchen Ansatzes - um so begründeter abgerückt werden konnte! Dazu ist zweierlei zu bemerken: Zum einen wäre es verfehlt, sich der Illusion hinzugeben, eine theoretische Umorientierung sei in späteren Jahren bei dem überwiegenden Teil der Theoretiker(innen) erfolgt, und die früheren strukturalistischen Konzepte seien heute völlig außer Mode geraten. Dem wirkt schon das entgegen, was sich als „Trägheit der Rezeption" bezeichnen läßt: Denn es gibt - auch - das Festhalten an einmal liebgewonnenen theoretischen Positionen bei denen, deren Werdegang sie einmal bestimmt haben. Zudem finden sich genügend Beispiele dafür, daß - durch selektive Wahrnehmung von Theorie(fragmente)n oder wie auch immer sonst bedingt - mehr als hinlänglich kritisierte Konzepte gleichwohl bei verschiedenen „Nachgebore-

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Matthias Kammerer / Werner Wolski

nen" im Wissenschaftsbetrieb ihre Wiederauferstehung erleben, wofür sich angesichts einer kaum übersehbaren Flut von Veröffentlichen heterogener theoretischer Orientierung sowie (notwendiger) taktischer Manöver im Rahmen von Qualifikationsgängen ein gewisses Verständis aufbringen läßt. Zum anderen besitzen die merkmaltheoretischen Analysen - hier, wie in den Untersuchungen vieler anderer Autoren auch - durchaus ihre Überzeugungskraft, schon weil handfeste Analyseergebnisse erzielt worden sind, denen seinerzeit überzeugende Konzepte eines andersartigen Typs nicht entgegengesetzt werden konnten und weil bei Veranschlagung operationalisierter Analyseschritte für merkmaltheoretische Ansätze deren Lehrbarkeit sichergestellt war. Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik (1972) ist einer der für das Funkkolleg Sprache verfaßten Artikel des Autors. Der Beitrag steht exemplarisch für die Vorgehensweise der strukturalistischen resp. strukturellen Wortsemantik in einer ihrer Ausprägungsformen der Merkmalsemantik. Hier werden en miniature die Vorzüge und die später (in Arbeiten Wiegands und in denen vieler anderer Autoren) immer wieder heftig kritisierten Probleme des Ansatzes sichtbar: Erreichung einer praxisnahen Griffigkeit durch plausible Präsentation von Analyseschritten einerseits, systemlinguistische Ausrichtung und Annahme der Berechenbarkeit von Bedeutungen (Wohlbestimmtheit) andererseits, welcher Eindruck qua Einführung mengentheoretischer und prädikatenlogischer Notationen verstärkt wird. Durch beides zeichnen sich (weitgehend) auch die von heutigen Theoretiker(inne)n durchgeführten Wortfeldanalysen bzw. Untersuchungen zu lexikalischen Paradigmen aus. Wenngleich seinerzeit die Bezugnahme auf kognitionstheoretische Ansätze keine Rolle spielte und auch nicht spielen konnte, fallen bei genauerer Lektüre dennoch einige Zwischentöne auf, die ein nicht einmal heute allenthalben verbreitetes Problembewußtsein erkennen lassen: Während z.B. in zahlreichen (hier unbenannt bleibenden), vor allem auf die inner- und außeruniversitäre Ausbildungspraxis bezogenen, kommunikationstheoretischen und didaktischen Arbeiten auch heute immer noch an längst überholt geglaubte nachrichtentheoretische „Kommunikationsmodelle" angeschlossen wird („Nachricht", „Botschaft", „Übertragung", „Enkodieren", „Dekodieren" usw.), findet man in dem kurzen Beitrag aus 1972 bereits kritische Bemerkungen wie diese: Inhalte werden nicht „übertragen", „Signalketten transportieren keine Informationen durch den Kanal", „Bei jeder semantischen Analyse ist Hermeneutik nötig" oder: Inhalte werden nicht „mechanisch" bereitgestellt (vgl. ebd. S. 101). Aber ehe eine Abkehr von engen systemlinguistischen Auffassungen, von den ihnen assoziierten Kommunikationsmodellen, vor allem aber von den seinerzeit immer noch weithin dominierenden Spielarten der Merkmalsemantik konsequent im Sinne der Gewinnung einer neuen Position (und nicht nur ex negativo) vollzogen werden konnte, bedurfte es einer Erarbeitungsphase, in der unterschiedliche Anregungen - insbesondere von Seiten der sich deutlicher zu Wort melden-

Zur Einführung

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den Pragmalinguistik und Textlinguistik - aufgenommen wurden; diese Phase läßt sich zeitlich recht genau als Mitte der 70er Jahre angeben. Den wesentlichen Einschnitt hin zu einer handlungssemantischen Neuorientierung, wie sie in späteren Arbeiten Wiegands zunehmend Profil gewinnt, markiert der in mehrere Sprachen übersetzte Aufsatz Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie (1976). Hier sind zentrale bedeutungstheoretische Fragestellungen mit solchen der Lexikographie verbunden, wobei zur sprachlichen Bewältigung der nun in anderer Sicht sich darstellenden Gegenstände eine neue Redeweise gewählt und teils explizit eigens eingeführt wird, so z.B. „Wörterbucheintrag der Form ,Lemma' Wort" (vgl. S. 127), „lexikalischen Paraphrasen" als „verkürzte Regelformulierungen" und als „Erläuterung des regelgerechten Wortgebrauchs" (vgl. S. 132). In aller Deutlichkeit wird bereits hier (vgl. die späteren Arbeiten Wiegands dazu, in denen darauf ausführlicher eingegangen wird) empfohlen, von dem Begriff der „lexikographischen Definition" bzw. dem der „Wörterbuch-Definition" Abstand zu nehmen (vgl. ebd. S. 141). Was die bedeutungstheoretische Orientierung angeht, so werden mit der Bezugnahme auf „usuelle" und „nichtusuelle Texte" (vgl. S. 161) sowie auf „alltägliche Dialoge" (vgl. S. 166) erste Grundlagen für den später weiterentwickelten bedeutungstheoretischen Ansatz gelegt. Daß die Wahl einer Redeweise über sprachliche Gegenstände, die ihrerseits nur sprachlich (qua Formulierung von Texten mit ausgewählter bzw. ausgesuchter Wortwahl und im engeren Sinne der Terminologie) zugänglich und vermittelbar sind, mehr ist und mehr sein kann als sozusagen ein bloßer Wechsel des terminologischen Registers (z.B. Reformulierung strukturalistischer Theoreme), sondern daß daraus etwas für die Erschließung neuer Forschungsfelder resultiert, zeigen in dieser frühen Arbeit die ersten Hinweise auf Defizite im Bereich der Wörterbuchforschung: Es fehlt eine „empirisch fundierte Soziologie des Wörterbuchbenutzers" (vgl. ebd. S. 129). Hieran schließen spätere Überlegungen und Untersuchungen zu der - neben anderen Forschungsfeldern der Metalexikographie - als zentral eingeschätzten „Wörterbuchbenutzungsforschung" öfter an. Erst im Zuge der Weiterentwicklung des handlungssemantischen Ansatzes, der sodann auch texttheoretisch fundiert wird, und in der damit in Verbindung stehenden Beschäftigung mit sprechakttheoretischen Details (Kommunikationskonflikte, metakommunikative Sprechakte etc.) werden die Grundlagen zu einer gezielteren Behandlung von Fragen der Wörterbuchbenutzung gelegt. Des weiteren können als thematische Schwerpunkte, nach denen sich die Arbeiten aus dem Zeitraum 1977 bis 1999 für den vorliegenden Überblick ordnen lassen, gelten: -

praktisch-lexikologische Untersuchungen zu Lemmazeichen unterschiedlichen Typs

-

Beiträge, in denen handlungs- und textlinguistische Aspekte weiter ausgeformt werden, unter anderem im Hinblick auf Fragen der Wörterbuchbenutzung und andere metalexikographische Details

XVI -

-

Matthias Kammerer / Werner Wolski

Untersuchungen zum Verhältnis von Sprach- und Fachlexikographie, in denen Fragen der sog. „lexikographischen Definition" und des Verhältnisses von Sprach- und Sachwissen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Beiträge zur Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung im engeren Sinne (Ausbildung der metalexikographischen Terminologie, Strukturen im Wörterbuch) Fragen der Wörterbuchtypologie sowie Detailfragen zu und am Beispiel von Wörterbüchern unterschiedlichen Typs.

Wie bereits betont, werden in dem Beitrag aus dem Jahr 1976 (neben den dort angesprochenen, im engeren Sinne metalexikographischen Aspekten: Wörterbuchdefinition und, Benutzungsforschung) Grundlagen für eine eigenwillige und mittlerweile weithin zur Kenntnis genommene bedeutungstheoretische Auffassung gelegt. Diese kann in der später ausgeformten Fassung am besten als „handlungssemantisch" bezeichnet werden. Sie erschöpft sich nicht, wie dies in verschiedenen Versionen der im Kontext der Wittgenstein-Exegese stehenden gebrauchstheoretischen Ansätzen der Fall ist, in der theoretischen Negation strukturalistischer Theoreme, sondern zielt auf die konkrete Beschreibung von Sprachausschnitten, und hier insbesondere auf die Nutzbarmachung von Ergebnissen der linguistischen Theoriebildung zum Zwecke der Erreichung einer angemesseneren lexikographischen Kommentierungspraxis im Sinne des Programms der praktischen Lexikologie. Der erste Aufsatz, der im Untertitel den Zusatz „Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie" trägt, ist Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen (1977). Praktisch-lexikologische Untersuchungen bestehen darin, Lehren aus der bisherigen lexikographischen Praxis für eine bessere lexikographische Praxis zu ziehen, indem unter Berücksichtigung plausibler linguistischer Erklärungs- und Beschreibungsansätze möglichst präzise Vorschläge für lexikographische Texte präsentiert werden. Damit ist der Anspruch verbunden, für die sprachtheoretische Seite (hier insbesondere die Lexikologie) auch konkurrierende Ansätze neueren Datums zur Kenntnis zu nehmen und im Hinblick auf ihre theoretische Tragfähigkeit und Plausibilität zu überprüfen, und nicht nur nach theoretischen Voreingenommenheiten zu urteilen. Dies findet seinen Ausdruck darin, daß in der Darstellung argumentierend und verschiedene Positionen gegeneinander abwägend vorgegangen wird, um dem Gegenüber den Mitvollzug der verwickelten Argumentationshinsichten zu ermöglichen, nicht aber in einem apodiktischen Theoriestart. Das Konzept der praktischen Lexikologie ist darauf angelegt, die „klaffende Lücke" (vgl. den Nachtrag 1981 zum Beitrag Wiegand 1977, S. 374) zwischen Wortschatzforschung und lexikographischer Praxis zu schließen. Im Hinblick auf verschiedene Einführungen in die Lexikologie - selbst solchen aus den 90er Jahren! - muß es von hieraus als um so bedauerlicher angesehen werden, daß Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis (Ist die Lexikologie eine Theorie? Ist sie eine Praxis? Ist sie Theorie und Praxis zugleich? Ist vielleicht auch die Lexikographie eine Theorie?) ganz unzulänglich beantwortet werden und daß in

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keiner einzigen bekannt gewordenen Arbeit solchen Typs (auf Titelangaben muß an dieser Stelle verzichtet werden; vgl. dazu ausführlich Wolski 1999a und 1999b) einigermaßen tragfähige Vorstellungen zur Beziehung von Lexikologie und Lexikographie entwickelt worden sind, wo doch zur Klärung auf die gerade genannte und auf die verschiedenen Nachfolgearbeiten hätte zurückgegriffen werden können. Auch von hieraus sind genügend sachliche Gründe gegeben, ältere und neuere Beiträge zu diesem Komplex in den vorliegenden Bänden nochmals zu publizieren. Für die Ausarbeitung des Programms der praktischen Lexikologie stellt sich ein Problem als wirklich gravierend dar, nämlich daß die Arbeiten zu Lemmazeichen unterschiedlichen Typs - trotz detaillierter Vorschläge für die lexikographische Praxis - nicht auf einer ausgearbeiteten Theorie der Benutzungsforschung fußen können, nämlich auf einer Typologie von Kommunikationssituationen, in denen Wörterbücher benutzt werden. Nicht nur bereits für die Auswahl von Lemmazeichen ist die begründete Bezugnahme darauf bedeutsam, sondern auch für die Formulierungspraxis der Lexikographen generell. Dieses Defizit wird in dem Beitrag Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen (1977) - wie schon in dem Beitrag zur Synonymie aus dem gleichen Jahr - nochmals, hier aber vor dem Hintergrund damaliger Pläne zu einem interdisziplinären Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache wesentlich eindringlicher angesprochen. In dem Beitrag Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern (1981) finden die bedeutungstheoretischen Überlegungen vorausgehender Arbeiten mit der Bezugnahme auf „usuelle Texte" und erstmals auch auf „usuelle Benennungskontexte" ihre Fortsetzung. Differenziert wird zwischen einem „Wissen I" (Beherrschen der semantischen Bezugsregeln) und einem „Wissen II" (Beherrschung der pragmatischen Regeln für die kommunikativ angemessene Verwendung von Ausdrücken; vgl. ebd. S. 362f.); in Überwindung der merkmalsemantischen Redeweise von „denotativen" und „konnotativen" Merkmalen wird die handlungssemantische Redeweise von der „geteilten Verbindlichkeit" entsprechender Regeltypen eingeführt (vgl. S. 372). Die Kritik an der bis dahin vorherrschenden „Kommentarsprache" (so der hier geprägte Ausdruck; vgl. S. 373) für pragmatische Markierungen mündet in einer Typologie pragmatischer Kommentierungen für die lexikographische Praxis, und zwar zu Lemmazeichen unterschiedlichen Typs. Wie in anderen Beiträgen Wiegands auch, beinhaltet Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern die Behandlung von Themen, auf die vom Titel aus nicht geschlossen werden kann; so finden sich hier längere Passagen zu Fragen der Phraseologie resp. Idiomatik. Neben einigen, für die vorliegenden Bände nicht berücksichtigten Untersuchungen, muß der Beitrag Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern (1982) als die wohl bemerkenswerteste Arbeit zur praktischen Lexikologie angesehen werden, auch wenn die Ausführungen dazu aufgrund damaliger Publikationsgegebenheiten recht gedrängt ausfallen. Hier

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wird das Programm der praktischen Lexikologie - bei aller Kürze der Darstellung - dennoch am ausführlichsten vorgestellt; vor allem ist von Interesse, daß über die sonst ausschließlich berücksichtigten nennlexikalischen Ausdrücke hinausgegangen wird und sich Anschlußmöglichkeiten für die Behandlung nichtpropositionaler lexikalischer Ausdrucksmittel bieten, weshalb von anderer Seite in Arbeiten insbesondere zu den Partikeln nicht von ungefähr auch auf diesen Beitrag Bezug genommen worden ist (vgl. z.B. Wolski 1986). Aus dem Zeitraum Mitte der 80er Jahre sei an dieser Stelle auf den hier aufgenommenen Beitrag Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher. Zugleich ein Versuch zur Unterscheidung von Normen und Regeln (1986) hingewiesen. Er läßt sich in die vorgesehene Abfolge, in der die hier versammelten Beiträge kurz vorgestellt werden, kaum einordnen. Hier wird aber in einer, bei dem Autor nur in selteneren Fällen auftretenden, aufgelockerten Wissenschaftsprosa und (wie übrigens auch sonst meist) anhand ansprechender Beispiele eine durchaus nicht unbedeutende Detailfrage aus der Linguistik und Lexikographie gleichermaßen behandelt. Welche Rolle Normen und Normsetzungsinstanzen für die „Orthographie als präskriptives Element" (vgl. S. 680) spielen (können), hat gerade die Ende der 90er Jahre heftig geführte und schließlich zur Ruhe gekommene Rechtschreibdiskussion gezeigt. Ein Bezug zu dem nachfolgend vorgestellten Beitrag (und auch zu anderen) ist durchaus darin zu sehen, daß die Entwicklung eines handlungstheoretischen Rahmens für die Wörterbuchforschung die Beschäftigung mit zahlreichen Detailfragen nötig macht, so hier die Unterscheidung zwischen Regeln und Normen. Neben verschiedenen zwischenzeitlich erschienenen Arbeiten, die in den vorliegenden Bänden keine Berücksichtigung finden können, ist der handlungssemantische Ansatz am ausführlichsten in dem Beitrag Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung (1987) dargelegt; die mit diesem Ansatz verbundene textlinguistische Ausrichtung der Wörterbuchforschung wird zuerst ausführlich in Wörterbuchartikel als Text (1988) thematisiert. Beiden Arbeiten kommt ein wesentlicher Stellenwert insofern zu, als die dort entwickelten Konzepte in Nachfolgearbeiten weiter ausgearbeitet werden: in Arbeiten zur Fachlexikographie und in solchen, die verschiedenen strukturellen Organisationsformen von Wörterbüchern gewidmet sind, zusammenhängend vor allem aber im ersten Teilband des Buches von Herbert Ernst Wiegand (Wörterbuchforschung·, Wiegand 1999, Kap. 3.). In dem Beitrag Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung (1987) wird ein Theorierahmen für die Wörterbuchbenutzungsforschung entwickelt, die neben der Wörterbuchkritik, der Geschichte der Lexikographie und Wörterbuchforschung sowie der allgemeinen Theorie der Lexikographie ein mehr oder weniger eigenständiges metalexikographisches Forschungsgebiet ist. Die Publikation steht im Zusammenhang mit der Einrichtung des Forschungsschwerpunkts Lexikographie an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg, hier des Teilprojekts „Empirische Wörterbuchbenut-

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zungsforschung". Der Beitrag ist in dem 1983/1984 gegründeten internationalen Jahrbuch Lexicographica erschienen, das als Publikationsorgan mit drei Veröffentlichungssprachen in Verbindung mit der Dictionary Society of North America (DSNA) und der European Association for Lexicography (EURALEX) wesentlich die nationale und internationale Wörterbuchforschung repräsentiert und dessen erster Band 1985 erschienen ist. Als eine der Vorarbeiten zu dem Beitrag ist anzusehen: Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. Ein Beitrag zur empirischen Erforschung der Benutzung einsprachiger Wörterbücher (1985), wo der forschungslogische Rahmen erläutert wird, in dem entsprechende Versuche stehen. Neben der Klärung zahlreicher terminologischer Fragen (kundiger, potentieller etc. Wörterbuchbenutzer, Benutzungsart, Suchfragen etc.) werden die ausgewerteten Protokolle präsentiert und Typen von Wörterbuchbenutzungssituationen systematisiert. Hingewiesen wird in dem Beitrag auch darauf, daß der Gedanke, man müsse genauere empirische Kenntnisse über Benutzer und Benutzung haben, um Wörterbücher benutzergerechter einrichten zu können, auf das Jahr 1974 zurückgeht. Erste Hinweise auf ein entsprechendes Defizit enthält, wie bereits angesprochen, der Beitrag Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie (1976); die Diskussion zu Fragen der Wörterbuchbenutzung hat aber erst nach dem Erscheinen von Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen (1977) eingesetzt. Von den in den vorliegenden Bänden nicht berücksichtigten Arbeiten ist an dieser Stelle auch der spätere Beitrag Wörterbuchbenutzungsforschung. Ein kritischer Bericht (Ripfel/Wiegand 1988) zu nennen. In der Arbeit Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung (1987) wird nunmehr - auf der Basis der genannten und anderer Vorarbeiten - der Gegenstandsbereich der Benutzungsforschung, der als Menge einzelner Handlungen gegeben ist, genauer strukturiert, indem zahlreiche Definitionen eingeführt und relevante Handlungstypen unterschieden und in Übersichten dargestellt werden. Auch unabhängig von der Beschäftigung mit metalexikographischen Fragestellungen ist der dort entwickelte handlungstheoretische Rahmen von Interesse: Das in dem Beitrag behandelte Frosch-Beispiel, mit dem Wiegand die linguistische Beispielliteratur bereichert hat und das von anderer Seite öfters rezipiert worden ist, verdeutlicht drastisch, daß Aktivitäten erst durch Zuordnung zu einem Handlungstyp und qua entsprechender Interpretation als so und so bestimmte Handlungen gelten können. Wer diesbezügliche Ausführungen einigermaßen ausführlich zur Kenntnis nimmt, dürfte ein für allemal vor theoretisch unbedarften Redeweisen des Typs „Sprache ist Handeln" bzw. „Sprechen ist Handeln" sicher sein. Ebenso, wie dieser Beitrag, schließen die Ausführungen in dem zeitlich viel später liegenden Aufsatz Über primäre, von Substantiven , regierte ' Präpositionen in Präpositionalattributkonstruktionen (1996) an die Untersuchung aus Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen (1985) an, wo von den

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ca. 3000 ausgewerteten Fragen von Nicht-Muttersprachlern 280 zu dort so bezeichneten regierten Präpositionen waren. Der Beitrag steht im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer Wörterbuchgrammatik für ein deutsch-türkmenisches und ein deutsch-usbekisches Wörterbuch. Wie schon im Hinblick auf Arbeiten zur praktischen Lexikologie angesprochen, ist für die Vorgehensweise Wiegands kennzeichnend, daß die Behandlung der jeweiligen Thematiken eine eingehende Auseinandersetzung mit neueren linguistischen bzw. metalexikographischen Arbeiten beinhaltet, so z.B. die kritische Sichtung grammatiktheoretischer Ansätze zu diesem Komplex. Möglichkeiten einer ausführlichen lexikographischen Präsentation theoriedeterminierten linguistischen Wissens aus dem in dem Beitrag behandelten Bereich werden vor allem in Spezialwörterbüchern gesehen. Aus dem Zeitraum der späten 80er Jahre kommt, wie bereits erwähnt, neben dem Beitrag Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Wörterbuchbenutzungsforschung demjenigen mit dem Titel Wörterbuchartikel als Text (1988) eine Schlüsselstellung zu. Anschließend an die früher geleistete Strukturierung der Allgemeinen Theorie der Lexikographie (mit „Texttheorie für lexikographische Texte" als eine der Komponenten der Teiltheorie „Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung"; vgl. z.B. Wiegand 1983a) wird hier aufgezeigt, daß lexikographische Teiltexte „als funktionale Teilganze in größerem Zusammenhang" (vgl. ebd. S. 950) verstanden werden müssen und daß mithin nicht nur - wie in einer metalexikographischen Theoriebildung, die von isolierten sprachlichen Einheiten her denkt - Struktur und Inhalt einzelner Angaben in den Blick geraten dürfen. Behandelt werden in dem Beitrag verschiedene Strukturen lexikographischer Texte von standardisierten Wörterbüchern (Mikrostruktur, Zugriffsstruktur, Hyperstruktur u.a.m.). Die textlinguistischen Ausführungen sind auch über die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden metalexikographischen Fragestellungen hinaus von Interesse: Neben der anschaulichen Strukturdarstellung funktionaler Textsegmente am Beispiel eines Exemplars der Textsorte Brief sind hier insbesondere die Erläuterungen zum Verhältnis von Kohärenz und Kohäsion zu nennen. An diesen Beitrag schließt der 1991 erschienene Beitrag in englischer Sprache mit dem Titel Printed Dictionaries and Their Parts as Texts unmittelbar an; seiner damaligen Funktion gemäß führt er in den „Thematic Part" des 6. Bandes (1990) von Lexicographica ein, welcher der gleichen Thematik gewidmet ist. Allerdings wird hier - über den früheren Beitrag hinausgehend - sehr differenziert auf die Vorgeschichte der textuellen Betrachtung von Wörterbüchern eingegangen. Auch werden textuelle Strukturen von Wörterbüchern sehr ausführlich auf dem Stand der zwischenzeitlich entwickelten graphentheoretischen Darstellungsweise und der Notationsformen für die vielfältigen Textsegmente behandelt. Darüber hinaus sei an dieser Stelle auf den in den Kleinen Schriften (aus Umfangsgründen) nicht berücksichtigten, aus dem gleichen Zeitraum stammenden Beitrag hingewiesen: Über die Strukturen der Artikeltexte im frühneu-

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hochdeutschen Wörterbuch. Zugleich ein Versuch zur Weiterentwicklung einer Theorie lexikographischer Texte (1991). Aus dem Umkreis der Arbeiten zu Fragen der Textverdichtung (vgl. auch Textual Condensation in Printed Dictionaries. A Theoretical Draff, 1996) ist hier ausschließlich der neueste Beitrag ausgewählt worden: Lexikographische Textverdichtung. Entwurf zu einer vollständigen Konzeption (1998). Nach der Erläuterung verschiedener Grundbegriffe wird ein mehrstufiges Modell lexikographischer Textverdichtung entwickelt, das aber nicht nur - wie schon die hier nicht berücksichtigten Vorgängerarbeiten dazu - aus metalexikographischer Perspektive als weiterführend betrachtet werden muß, sondern auch für die Textlinguistik generell, in der es bisher zu Fragen der Textverdichtung keine tragfähigen Ansätze gab. Indem empirische Untersuchungen dazu gefordert werden, wie sich die lexikographische Textverdichtung auf die Benutzung auswirkt und wo die Grenzen zwischen benutzerfreundlicher und benutzerunfreundlicher Textverdichtung verlaufen, zeigt sich einmal mehr, daß der Benutzungsforschung - von ersten frühen Arbeiten dazu bis heute - ein wesentlicher Stellenwert in den Argumentationen Wiegands zukommt. Abgesehen von der ständigen Weiterentwicklung der metalexikographischen Theoriebildung im engeren Sinne und der Untersuchung von Wörterbüchern unterschiedlichen Typs, worauf erst gesondert am Ende dieses Überblicks eingegangen werden soll, kommt den Arbeiten zur Fachlexikographie durchaus eigenständiges Gewicht zu. Als zentraler Beitrag zu diesem Komplex muß gelten: Was eigentlich ist Fachlexikographie? Mit Hinweisen zum Verhältnis von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen (1988). Dem Beitrag gehen verschiedene (anschließend kurz vorgestellte) Arbeiten voraus, die als Vorarbeiten dazu anzusehen sind; ihm folgen verschiedene Beiträge, die auch im Kontext der in den 90er Jahren verstärkt einsetzenden Fachsprachenforschung stehen. In dem Beitrag mit der bewußt formulierten problematischen Was-ist-Frage wird versucht, die als „Wildwuchsgebiet" (vgl. ebd. S. 830) bezeichnete Fachlexikographie zu strukturieren. Hierzu stehen nunmehr verschiedene theoretische Voraussetzungen zur Verfügung, die in anderen Arbeiten entwickelt worden sind (zu genuinen Zwecken von Wörterbüchern, zur Handlungs- und Texttheorie u.a.m.). Nachschlagewerke werden nach verschiedenen Typologiekriterien klassifiziert und die Lexikographie nach dem Kriterium „Handlungsziel des Lexikographen" (vgl. ebd. S. 849) in die Sprach-, die Sach- und die Allbuchlexikographie eingeteilt. Nach den genuinen Zwecken werden fachliches Sprach-, fachliches Sach- und fachliches Allbuch unterschieden. Zudem wird das seinerzeit in Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern (1981) so gefaßte „Wissen I" nun im Rahmen einer Einteilung unterschiedlicher Wissensarten sprechender als „gegenstandskonstitutives Bedeutungswissen" (vgl. ebd. S. 871) bezeichnet und genauer charakterisiert. Neben der hier nicht aufgenommenen Arbeit mit dem Titel Fachsprachen im einsprachigen Wörterbuch. Kritik, Provokationen und praktisch-pragmatische

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Vorschläge (1977; enthalten in Wiegand 1999b) können zu den frühen Vorgängerarbeiten drei der in den hier vorliegenden Bänden versammelten Schriften gerechnet werden: In Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch (1979) werden anhand authentischer Beispiele (Diskurs unter Sprachwissenschaftlern) Typen von Kommunikationskonflikten unterschieden, die insbesondere durch die Verwendung von Fachausdrücken bedingt sind. - In dem Beitrag Bemerkung zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte (1979) ist zwar ein Bezug zur Fachsprachenforschung nicht gegeben; behandelt werden aber auch in ihm Fragen im Umkreis von Kommunikationskonflikten- und Störungen, weshalb er hier eingereiht wird. Der Beitrag fällt, wie der zuvor genannte, in die Phase der Auseinandersetzung mit Gesprächsanalyse und Sprechakttheorie. - Die dritte an dieser Stelle zu nennende Arbeit, nämlich Definition und Terminologienormung Kritik und Vorschläge (1979), beinhaltet eine Auseinandersetzung mit Schriften Wüsters und anderer Theoretikern zur Sprachnormung insbesondere technischer Fachsprachen. Problematisiert wird der in Definitionslehren hervortretende Definitionsbegriff und vor allem auch die „Begriffs"-Redeweise, der diejenige von „sprachlichen Ausdrücken" und ihren unterschiedlichen Verwendungsweisen (als „Erwähnung" und als „Gebrauch"; vgl. ebd. S. 320) entgegengestellt wird. Speziell zu Fragen der Definition schließen sich die später veröffentlichten und bereits genannten Arbeiten an: Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition (1985) sowie z.B. auch Die lexikographische Definition im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch (1989). - Der vierte Beitrag schließlich könnte im Rahmen des vorliegenden Überblicks ebensogut den textlinguistischen Arbeiten zugeordnet werden: Nachdenken über wissenschaftliche Rezensionen. Anregungen zur linguistischen Erforschung einer wenig erforschten Textsorte (1983). Er steht aber insofern durchaus in dem vorliegenden Zusammenhang der von Wiegand seit 1979 stärker verfolgten Fachsprachenforschung, als daß die Ausführungen explizit darauf zielen, für ein „vernachlässigtes Forschungsgebiet" (vgl. ebd. S. 530), nämlich der mündlichen und schriftlichen Sprachkommunikation unter Fachwissenschaftlern, eine Lücke zu schließen. Unter anderem wird auf implizite und explizite Wertäußerungen in Rezensionen eingegangen und eine ad-hoc-Typologie der Gründe für Rezensionen vorgestellt. Als Nachfolgearbeiten zu dem programmatischen Beitrag Was eigentlich ist Fachlexikographie? (1988) können zwei Arbeiten angesehen werden, die hier aufgenommen sind; sie liegen beide in den 90er Jahren: In der Arbeit mit dem Titel Zur Unterscheidung von semantischen und enzyklopädischen Daten in Fachwörterbüchern (1994) wird im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Handbuch „Fachsprachen" (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1 und 14.2) explizit an die frühere „Expedition" in das „Wildwuchsgebiet mit Namen Fachlexikographie" (vgl. ebd. S. 1106) angeschlossen. Im Lichte neuerer Ergebnisse des Nachdenkens über Fachwörterbücher werden verschiedene Definitionen eingeführt (genuiner Zweck eines Fachwörterbuchs,, Fachwissen u.a.m.); auch wird die 1988 getroffene Unterscheidung

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von Fachwissensarten nochmals genauer veranschaulicht. Der Beitrag beinhaltet zudem (im Vergleich zu dem Beitrag aus 1988) eine Präzisierung der Dreiteilung in fachliche Sprachwörterbücher, fachliche Sachwörterbücher und fachliche Allbücher, die im Kontrast zu der gängigen Zweiteilung in semantische und enzyklopädische Daten (und daran orientierte Einteilung von Wörterbüchern) vorgenommen worden ist; aufgezeigt wird, daß den drei Typen von Wörterbüchern „Mengen von Klassen von Angaben mit gleichem genuinen Zweck" (ebd. S. 1126) zugeordnet werden können. Der Beitrag mit dem Titel Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft (1996) schließlich ist den Problemfeldern von system- und textbezogener Nominations-, Umbenennungs- sowie Gebrauchsänderungs-Handlungen gewidmet. Bezugnehmend auf das schon früher entwickelte handlungssemantische Konzept der „usuellen Benennungskontexte", werden hier Unterschiede zwischen fachlicher Kommunikation (insbesondere in den Wissenschaften) und der alltagssprachlichen Verständigungspraxis herausgearbeitet. Nahezu anhand sämtlicher, seit Mitte der 80er Jahre erschienenen Beiträge, die in dem vorliegenden Überblick bisher angesprochen wurden, läßt sich die rapide Entwicklung der metalexikographischen Theoriebildung in den zugehörigen Forschungsfeldern deutlich ablesen. Zahlreiche Details, die von Herbert Ernst Wiegand in kritischer Auseinandersetzung mit der überkommenen Metalexikographie (mit der aufgrund anders gearteter sprachtheoretischer Grundorientierung dort verwendeten, teils wenig anschlußfähigen Terminologiebildung) entwickelt wurden, müssen an dieser Stelle unbeachtet bleiben; sie werden in verschiedenen Arbeiten behandelt, die nicht in die Kleinen Schriften aufgenommen werden konnten. Neben bereits genannten wichtigen Artikeln aus den Handbüchern Wörterbücher und Sprachgeschichte (1. und 2. Aufl.) sind dies: Beiträge in verschiedenen Bänden von Lexicographica Series Maior, in den von Herbert Ernst Wiegand eingeleiteten und herausgegebenen Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie (I-VI, 1, und VI, 2: 1981-1988) und anderen Veröffentlichungsorten mehr. Vieles davon ist immerhin anhand der Literaturangaben in den hier versammelten Kleinen Schriften erschließbar. Auch ist darauf hinzuweisen, daß über die unter http://www.uni-heidelberg.de/institute/fak9/gs/ sprache2 erreichbare Homepage des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik in Heidelberg Aufschluß über frühere und neuere sowie neueste Publikationen und Projekte zu erhalten ist. Dazu zählt u.a. ein zehnsprachiges Wörterbuch zur Lexikographie, das in Zusammenarbeit mit bekannten Wörterbuchforschern konzipiert wird. Unter den hier nochmals in den Bänden der Kleinen Schriften publizierten Beiträgen kommt demjenigen mit dem Titel Was ist eigentlich ein Lemma? Ein Beitrag zur Theorie der lexikographischen Sprachbeschreibung (1983) ein zentraler Stellenwert zu, wie bereits betont. Hier werden überkommene Lemmakonzeptionen diskutiert, die auf unterschiedlichen zeichentheoretischen Auffassungen beruhen, und fünf verschiedene Verwendungsweisen der im Wörterbuch be-

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schriebenen Sprache unterschieden. Hingewiesen sei auch für diesen Beitrag auf gleichsam versteckt behandelte Thematiken, hier zur Rolle der Anführungszeichen und zu „erwähnten Zeichen" mit „sprachreflexiver Referenz" (vgl. ebd. S. 483). Die Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen dient dazu, unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zum Status des Lemmas durchzuspielen, um die eigene Position mit einer Vielzahl neu eingebrachter Termini um so begründeter vortragen zu können. Bemerkenswert ist der „Lemma"-Aufsatz besonders unter dem Aspekt, daß im Anhang gleich 52 metalexikographische Termini (von alphabetisches Nest bis Wörterbucheintrag) in einem wissenschaftlich tragfähigen Sinne des Ausdrucks Definition definiert sind. Dazu wird hier ein Definitionsnetz (mit wenigen Undefiniert bleibenden gemeinsprachlichen Ausdrücken und andernorts definierten Termini) vorgeführt, wo man doch sonst in Geisteswissenschaften überwiegend gewohnt ist, daß mit dem Ausdruck Definition ähnlich lax umgegangen wird wie in jenem Schlager von Udo Jürgens, in dem auf die Frage „Wie definierst du Glück?" geantwortet wird: „Die Sonne, die Sonne und du, gehör'n dazu". Erst viele Jahre später (vgl. z.B. die nachfolgend angesprochenen Arbeiten aus den 90er Jahren) erreicht die Theorie lexikographischer Texte und damit diese Version von Metalexikographie einen „voralgorithmischen", aber „inzwischen computativ getesteten" Explizitheitsgrad, von dem leicht zu einer „Teilcomputerisierung lexikographischer Prozesse" übergegangen werden kann, wie in dem weiter unten vorgestellten Beitrag mit dem Titel Kritische Lanze für FackelRedensartenwörterbuch (1993/94, dort S. 1090) festgehalten wird. Aber auch schon in dem bisher an dieser Stelle übergangenen Beitrag Metalexicography. A Data Bank for Contemporary German (1986) werden Fragen der Computerisierung lexikographischer Prozesse angesprochen. Dort wird die Geschichte der Lexikographie in die „vor-elektronische" Zeit und in die „elektronische" (die letzten 30 Jahre) eingeteilt, wo Computeranwendungen vor allem im Bereich der Erstellung von Formwörterbüchern zu einer Fülle von Indices und Konkordanzen geführt haben. Hingegen befindet sich eine Computerunterstützung für die Beschreibung der Bedeutung lexikalischer Einheiten erst in der Anfangsphase. Deshalb wird es für wichtig gehalten, die Konzeption einer lexikographischen Datenbank des gegenwärtigen Standarddeutsch (im Zusammenhang mit den damaligen Diskussionen zu einem interdisziplinären Wörterbuch des Deutschen) zu reflektieren. Dazu werden anschaulich die von einem Konstrukt-Lexikographen „Leco" der vor-elektronischen Zeit durchzuführenden lexikographischen Tätigkeiten denjenigen der elektronischen Zeit gegenübergestellt. Aufgrund der gewählten Abfolge, in der hier eine Übersicht über die beiden Bände gegeben wird, ist nunmehr ein großer zeitlicher Sprung zu machen in die 90er Jahre: Der Beitrag Über die Mediostrukturen bei gedruckten Wörterbüchern (1996) führt deutlich vor Augen, welchen Stand die Systematische Wörterbuchforschung seit dem frühen Aufsatz Was ist eigentlich ein Lemma? (1983) zwischenzeitlich erreicht hat. Ausgehend davon, daß Wörterbücher „Textsortenträ-

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ger" sind, deren Texte, Textteile und Textsegmente in bestimmten Beziehungen zueinander stehen, wurden insbesondere Ordnungsstrukturen (Makrostrukturen, Zugriffsstrukturen und Textkonstituentenstrukturen) von gedruckten Wörterbüchern genau differenziert und exakt untersucht, was in umfängliche Strukturdarstellungen mündet. In dem Aufsatz, der auf einen Vortrag zurückgeht, wird die inzwischen ebenfalls ausgearbeitete Theorie der Mediostrukturen als Teil einer Allgemeinen Theorie der Lexikographie dargestellt. Wesentlich komplexer noch ist der umfangreiche Aufsatz Das Konzept der semiintegrierten Mikrostrukturen. Ein Beitrag zur Theorie zweisprachiger Printwörterbücher (1996). Obwohl er Rekapitulationen enthält, setzt ein Verständnis - aufgrund der Vielfalt der präsentierten terminologischen Details - einen hohen Grad der Einarbeitung in die Metalexikographie voraus. Exemplarisch werden hier, in kritischer Auseinandersetzung unter anderem mit dem traditionellen Aktiv-Passiv-Prinzip für zweisprachige Wörterbücher, Alternativen zu der als „praxisfern" (vgl. ebd. S. 1276) bezeichneten Forderung entwickelt, zu jedem Sprachenpaar seien vier zweisprachige Wörterbücher je unterschiedlichen Typs erforderlich. Wie in der Einleitung zu dem Beitrag aus 1996 erläutert, hat die Beschäftigung Wiegands mit der zweisprachigen Lexikographie mit seinem Aufenthalt in Shanghai (im Herbst 1986) beim „Großen deutsch-chinesischen Wörterbuch", zu dem ein „metalexikographisches Tagebuch" mit dem Titel Shanghai bei Nacht (Wiegand 1988) publiziert wurde, zunächst beiläufig eingesetzt; für die weitere Beschäftigung damit sind maßgebend geworden: die Mitarbeit bei der Vorbereitung des deutsch-ungarischen Handwörterbuchs in Budapest, die Erarbeitung der Konzeption für das deutsch-türkmenische Wörterbuch, Vorbereitungsarbeiten für ein deutsch-usbekisches Wörterbuch (sh. dazu den hier aufgenommen, weiter unten angesprochenen Beitrag) sowie ein großes deutschfinnisches Wörterbuch und neuerdings ein deutsch-koreanisches. Darauf gehen mehrere, in den Kleinen Schriften nicht berücksichtigte Publikationen zurück, die hier aber genannt seien: Konzeption für das Große Deutsch-Chinesische Wörterbuch (Pan Zaiping/Wiegand 1987), Über die Musterartikel für das Große Deutsch-Chinesische Wörterbuch. Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie zweisprachiger lexikographischer Texte (Pan Zaiping/Wiegand 1995), DeutschUngarisches Wörterbuch. Überlegungen im Anschluß an ein Kolloquium in Budapest 1.-2. April 1993 (1994), Deutsch-Ungarisches Wörterbuch. Weitere „schwierige " Überlegungen im Anschluß an ein zweites Kolloquium in Budapest 10.-14. Januar 1994 (1994), Deutsch-Türkmenisches Wörterbuch. Einblicke in die Wörterbucharbeit an der Turkmenischen Staatlichen MagtymgulyUniversität in Aschghabat (1995), Ein neues deutsch-finnisches Wörterbuch wird geplant. Überlegungen im Anschluß an einen Arbeitsaufenthalt in Helsinki, 22.26.4.1995 ( 1995). Die in vielen Bereichen mittlerweile ausgearbeitete Systematische Wörterbuchforschung, die ihren Anfang mit der Entwicklung einer grundlegenden Terminologie für teils überhaupt nicht bezeichnete und damit vorher nicht verfügba-

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re theoretische Gegenstände nahm, ist bei aller angestrebten Kontinuität (aufgrund weiterreichender Einsichten und die Beachtung berechtigter Kritik) hinsichtlich verschiedener Details modifiziert worden. Dazu wird insbesondere in dem Beitrag Altes und Neues zur Makrostruktur alphabetischer Printwörterbücher (1998) Stellung genommen. Hier finden sich unter anderem präzisere Definitionen früher eingeführter Termini, wie Gruppierung, Artikelnest und glattalphabetische Makrostrukturen, aber auch terminologische Erweiterungen im Bereich texttopologischer Strukturen, was in dem Beitrag Über Suchbereiche, Suchzonen und ihre textuellen Strukturen in Printwörterbüchern (Wiegand 2000) weiter ausgearbeitet wird. Der letzte Großbereich, zu dem sich im Rahmen des vorliegenden Überblicks verschiedene Arbeiten thematisch zusammenordnen lassen, ist der der Behandlung von Spezialwörterbüchern unterschiedlichen Typs. In diesen Beiträgen werden die entsprechenden Wörterbücher bzw. Wörterbuchvorhaben nicht nur auf dem jeweils erreichten Stand der metalexikographischen Theoriebildung analysiert, wozu zunehmend formalere Darstellungsmittel gewählt werden; die Beiträge beinhalten vielmehr öfters auch Ausführungen zur Wörterbuchtypologie sowie zu sprachtheoretischen Details, die angesichts der behandelten Thematik eigentlich nicht erwartbar, aber erkenntniserweiternd sind. Letzteres gilt insbesondere für den nahezu die Länge einer Monographie erreichenden Beitrag, der der nachfolgenden Übersicht vorangestellt sei: Vorüberlegungen zur Wörterbuchtypologie: Teil I (1988). In ihm geht es nicht nur um eine nach unterschiedlichen Typologiekriterien durchgeführte Klassifikation von Wörterbücher, sondern hier finden sich gleichzeitig auch wesentliche theoretische Grundlagen des Klassifizierens und Typologisierens ausführlich dargestellt, wozu Prädikaten-, Klassen- sowie Merkmal- bzw. Eigenschafts-Redeweisen zueinander - z.T. nicht ohne ironische Untertöne - in Beziehung gesetzt werden. Im Rahmen der Ausführungen wird darüber hinaus (und mit nachvollziehbaren Illustrationen versehen) auf klassifikatorische, komparative und metrische Prädikate eingegangen sowie auf sog. Typusprädikate, polythetische Klassen u.a.m. Es sind dies wissenschaftstheoretische Grundlagen, deren Zurkenntnisnahme nicht nur für bedeutungstheoretische Ansätze, wie Versionen der Merkmalsemantik oder die seit den 80er Jahren zunehmend propagierte Prototypen- und/oder Stereotypensemantik, sondern für wissenschaftliches Arbeiten generell von Belang ist. Es handelt sich um Wörterbücher sehr unterschiedlichen Typs, auf die Wiegand in mehreren Beiträgen gesondert eingegangen ist: Im Zusammenhang mit der Neubearbeitung des Wörterbuchs von Hermann Paul stehen Zur Geschichte des deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul (1983) sowie Aufgaben eines bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuches heute (1984). Im ersten Beitrag werden im Hinblick auf das vornehmlich wortbedeutungsgeschichtliche Wörterbuch von Hermann Paul Fragen des Benutzerkreises, der Wörterbuchbasis, des Lemmabestands, der mikrostrukturellen Eigenschaften u.a.m. behandelt. Bereits hier findet

Zur Einführung

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sich eine erste Bezugnahme auf die Textverdichtung, wozu eigenständige Ausführungen späteren Jahren vorbehalten sind; Folgerungen für die Neubearbeitung werden in Thesen zusammengefaßt. - Der zweite Beitrag umfaßt die Sichtung eines Untertyps der bedeutungsgeschichtlichen Wörterbücher (Heyne, Weigand, Paul, Trübner). In ihm geht es zentral nicht um Fragen des Aufbaus von Artikeln der geplanten Neubearbeitung des Wörterbuches von Hermann Paul, sondern um die Bestimmung der Aufgabenbereiche, die das Wörterbuch für nichtwissenschaftliche und wissenschaftliche Benutzer sowie für die Wörterbuchmacher haben kann. Unter den hier versammelten Beiträgen kann für die später weiterverfolgte Behandlung von Fragen der Autorenlexikographie, die ein Zweig der Textlexikographie ist, an den Aufsatz Bedeutungswörterbücher oder sogenannte Indices in der Autorenlexikographie? Die Eröffnung einer Kontroverse (1986) angeschlossen werden: In dem kurzen Beitrag, der auf einen im Rahmen des Germanisten-Kongresses in Göttingen (1985) gehaltenen Vortrag zurückgeht, werden nach dem Typologiekriterium „Realisierung von lexikographischen Datentypen" (vgl. ebd. S. 636) innerhalb der Autorenlexikographie Formwörterbücher (Indices und Konkordanzen) und Bedeutungswörterbücher unterschieden. Gegen die Verselbständigung von Formwörterbüchern wird für den Ausbau von Autoren-Bedeutungswörterbüchern plädiert, in denen Bedeutungsangaben ein obligatorisches Textsegment sind; vgl. dazu auch die Ausführungen in dem hier nicht aufgenommenen Artikel Prinzipien und Methoden historischer Lexikographie (1984). Wesentlich erweiterte Ausführungen zum Status der Textlexikographie beinhaltet der Beitrag Kritische Lanze für Fackel-Redensartenwörterbuch (1993/ 1994); Publikationsanlaß ist die Teilnahme Wiegands an einem Kolloquium zu dem an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1992 begonnenen Projekt des Zeitschriftenwörterbuchs zur „Fackel" (erschienen zwischen 1899 und 1939, herausgegeben von Karl Kraus). Die Probeartikel werden im Lichte der Theorie lexikographischer Texte diskutiert und in Strukturbildern dargestellt. Hingewiesen sei auf die textlinguistischen Ausführungen des Beitrags, die im Zusammenhang mit der Behandlung von Textausschnittsbildungen für das Wörterbuch stehen und später in dem hier nicht berücksichtigten Beitrag Historische Lexikographie (1998; in der 2. Aufl. des HSK-Bands „Sprachgeschichte") generalisiert werden. Die nachfolgend noch angesprochen Arbeiten sind jeweils Wörterbüchern ganz unterschiedlichen Typs gewidmet: Im gleichen Jahr erschienen sind Dialekt und Standardsprache im Dialektwörterbuch und im standardsprachlichen Wörterbuch (1986) und Der frühe Wörterbuchstil Jacob Grimms (1986). - Der erste Beitrag umfaßt, im Hinblick auf die deutsche Sprachsituation, Ausführungen zur Standardsprache und ihrer Herausbildung sowie zum Verhältnis von Dialekt und Standardsprache im Dialektwörterbuch. Dazu wird schrittweise eine Typologie von Varietätenwörterbüchern entwickelt und anhand der Gegebenheiten ver-

XXVIII

Matthias Kammerer / Werner Wolski

schiedener Wörterbücher überprüft. - In dem zweiten Beitrag geht Wiegand von der bisher kaum genauer untersuchten Redeweise vom Wörterbuchstil bzw. auch dem Stil von Lexikographen aus und gibt, unter Berücksichtigung der neueren Stilistikdiskussion, eine handlungstheoretische Definition des Terminus Stil. Da eine genauere Bestimmung des Ausdrucks Wörterbuchstil detaillierte Strukturkenntnisse von Wörterbuchartikeln voraussetzt, wird eine Analyse von Wörterbuchartikeln (aus der 1. Lieferung) des Grimmschen Wörterbuchs angeschlossen; erst dies ermöglicht abschließend Aussagen zu Besonderheiten des frühen Wörterbuchstils von J. Grimm. Aus der Menge der hier nicht berücksichtigten Arbeiten Wiegands wird die gleiche Thematik behandelt in: Wörterbuchstile: Das Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm und seine Neubearbeitung im Vergleich (1989) sowie Dictionary styles: a comparison between the dictionary of Jacob Grimm and Wilhelm Grimm and the revised edition (1989). Der Beitrag Lexikographische Texte in einsprachigen Lernerwörterbüchern. Kritische Überlegungen anläßlich des Erscheinens von Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (1995) verfolgt das Ziel, dieses allgemeine einsprachige Lernerwörterbuch darauf hin zu befragen und diesbezüglich Anregungen zu geben, welche Möglichkeiten der Gestaltung lexikographischer Texte in ihm grundsätzlich gegeben und wie sie zu nutzen sind. Untersucht werden zahlreiche Details der textuellen Rahmen- und Binnenstruktur des Wörterbuchs, woraus Hypothesen für die lexikographische Textgestaltung von Wörterbüchern dieses Typs abgeleitet werden, um unter Benutzungsaspekten möglichst effektiv sein zu können. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die zusammen mit Matthias Kammerer publizierte Auswahlbibliographie Pädagogische Lexikographie und Wörterbücher in pädagogischen Kontexten im 20. Jahrhundert. Eine ausgewählte Bibliographie (Kammerer/Wiegand 1998). W i e bereits bei der Vorstellung des Beitrags mit dem Titel Das Konzept der semiintegrierten Mikrostrukturen (1996) angesprochen, ist die Beschäftigung Wiegands mit der zweisprachigen Lexikographie im Zusammenhang mit seiner beratenden Tätigkeit an verschiedenen internationalen Wörterbuchprojekten zu sehen. So kam auch die Einladung an die Staatliche Usbekische WeltsprachenUniversität (April 1996) aufgrund der früheren Mitarbeit am Deutsch-Türkmenischen Wörterbuch zustande. Theoriebezogene Einblicke in die vorbereitenden Arbeiten für das Deutsch-Usbekische Wörterbuch vermittelt der Beitrag: Deutsch-Usbekisches Wörterbuch. Einblicke in die Wörterbucharbeit an der Staatlichen Usbekischen Weltsprachenuniversität in Taschkent (1996). Auf dem Hintergrund und mit Mitteln der erarbeiteten Theorie lexikographischer Texte werden verschiedene Probeartikel vorgestellt; dazu kann hier auf das im gleichen Zeitraum (vgl. den genannten, ebenfalls 1996 erschienenen Beitrag zu den semiintegrierten Mikrostrukturen) entwickelte Konzept der semiintegrierten und gemischt-semiintegrierten Mikrostrukturen zurückgegriffen werden. Im Rahmen der Vorstellung der verschiedenen, in den vorliegenden Bänden versammelten Beiträge ist ein Aspekt bisher nicht angesprochen worden, näm-

Zur Einführung

XXIX

lieh daß Herbert Ernst Wiegand sich etwa seit 1996 verstärkt auch mit den Problemen elektronischer Wörterbücher befaßt hat. Die Auseinandersetzung damit ist repräsentiert durch den Beitrag: Neuartige Mogelpackungen: Gute Printwörterbücher und dazu miserable CD-ROM-Versionen. Diskutiert am Beispiel des Lexikons der Infektionskrankheiten des Menschen (1999). Außer auf die Wörterbuchform der Printversion wird auf Zugriffsmöglichkeiten und -probleme der CD-ROM-Version eingegangen. Ausgehend von der Forderung, daß auch bei der Hypertextualisierung eines Printwörterbuches die Frage nach den gegebenen Benutzungssituationen nicht außer Acht gelassen werden darf, zeigt sich in dem untersuchtem Fall, daß die CD-ROM-Version gravierend hinter der Printversion zurückbleibt. Nach der Vorstellung von 35 der hier versammelten Schriften werden bewußt zwei Beiträge an das Ende des Überblicks gestellt: Über die gesellschaftliche Verantwortung der wissenschaftlichen Lexikographie (1997) sowie Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf? (1999). Der erste Beitrag ist derjenige Vortrag, den Herbert Ernst Wiegand am 29. August 1996 anläßlich seiner Ehrenpromotion im Rahmen der Einweihungsfeierlichkeiten für die Neubauten der Wirtschaftsuniversität in Arhus gehalten hat. Der zweite Beitrag gilt ebenfalls einem besonderen Anlaß, nämlich dem 250jährigen Jubiläum des de Gruyter-Verlages, dem Herbert Ernst Wiegand in seiner Eigenschaft als Mitherausgeber der Handbuchreihe HS Κ und Autor über viele Jahre hinweg in besonderer Weise verbunden ist und zu dessen Jubiläum er einen Sammelband mit dem Titel Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart organisiert hat. In dem ersten Beitrag wird mit Stichwörtern, wie lexikographische Verantwortung und Verantwortlichkeit der Lexikographen, ein übergreifendes Thema vor jenem Hintergrund neu und eigenwillig perspektiviert, was die Lexikographie im Sinne der hier vorgestellten Variante der Metalexikographie ausmacht: Die Lexikographie ist eine Praxis, die darauf ausgerichtet ist, daß Wörterbücher als möglichst effektiv nutzbare Gebrauchsgegenstände entstehen; die im Rahmen lexikographischer Prozesse auszuführenden lexikographischen Tätigkeiten (von der Planung bis zur Erstellung des jeweiligen Endprodukts) müssen metalexikographisch so ausführlich reflektiert werden, daß deren Lehrbarkeit ermöglicht wird - ein Anliegen, das auch schon in früheren Arbeiten wiederholt formuliert wurde. Betont wird, daß Lexikographen für den Nutzungswert ihrer Wörterbücher verantwortlich sind und daß Qualitätsstandards eingefordert werden sollten, was als Aufgabe der Wörterbuchkritik betrachtet wird; im einzelnen werden in dem Beitrag - relativ zu den für jeweilige Textsegmente von Wörterbuchartikeln berücksichtigten Gegenständen - gleich mehrere Aspekte lexikographischer Verantwortlichkeit unterschieden. Mit dem zweiten Beitrag schließt sich ein Argumentationskreis zu grundlegenden bedeutungstheoretischen Orientierungen, die nicht nur das Wirken Herbert Ernst Wiegands seit den 70er Jahren bestimmt haben, sondern auch zahlrei-

XXX

Matthias Kammerer / Werner Wolski

chen anderen Sprachwissenschaftler(inne)n über Jahrzehnte hinweg als Argumentationsfolie gedient hat: Es geht um den Stellenwert der im Hinblick auf bedeutungstheoretische Fragestellungen immer wieder als anregend angesehenen, gleichwohl aber eher als künstlerisch denn als wissenschaftlich einzuschätzenden Darlegungen des späten Ludwig Wittgenstein. Wiegand unterzieht sich der Mühe, die Originalarbeiten Wittgensteins dem Wortlaut nach genau zu sichten, aber auch den Wortlaut älterer und allerneuester sprachwissenschaftlicher und nicht zuletzt sprachphilosophischer Schriften über Ludwig Wittgenstein (einschließlich der in ihnen zum Ausdruck gebrachten bzw. zum Ausdruck kommmenden Zwischentöne) daraufhin zu befragen, was sich für eine theoretisch befriedigende und zugleich praxisnahe (auch im Hinblick auf lexikographische Kommentierungshinsichten plausible) Behandlung von Bedeutungsproblemen ableiten läßt. Dem von Wiegand seit 1985 entwickelten Konzept der „usuellen Benennungskonzepte" kommt dabei die Rolle einer Einordnungsinstanz sowohl für die „realistischen" wie für die in dem Beitrag so bezeichneten „nichtrealistischen" (vgl. Abschn. 2.1) Bedeutungsauffassungen zu. Mit seinem Anschluß an Dialogsituationen ermöglicht das Konzept nicht nur eine sprachwirklichkeitsnahe Bewältigung der im Hinblick auf Alltagssprache und Wissenschaftssprache seit Jahrzehnten diskutierten Bedeutungsfragen, sondern hat mittlerweile seine Bewährungsprobe auch am Beispiel dichterischer Sprachkreationen überstanden (vgl. im Literaturverzeichnis: Wolski 1999). Daß der vorgetragene handlungssemantische Ansatz nicht nur zwanglos an neuere Konzeptionen aus der Sprachphilosophie und den kognitiven Wissenschaften, einschließlich der kognitiven Psychologie (Frames, Skripts, Szenarios, Prototypen, Stereotypen u.a.m.; vgl. z.B. Konerding/Wiegand 1995: Framebasierte Wörterbuchartikel) anschließbar ist, sondern diese hinsichtlich seiner Erklärungs-Reichweite umgreift, kommt in den in den vorliegenden Bänden versammelten Beiträgen nur am Rande zum Ausdruck. Mit Erweiterungen des bislang von Wiegand entwickelten bedeutungstheoretischen und für die Metalexikographie bedeutsamen Ansatzes ist künftig zu rechnen; einen Schlußpunkt im Bemühen um eine glaubwürdige Orientierung in Sachen Bedeutung und lexikographische Kommentierungspraxis gibt es nicht. Matthias Kammerer Werner Wolski

Heidelberg im September 1999 Paderborn im September 1999

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. Kombinierte Methoden zur Strukturierung der Lexik aus: Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384.

1

Einleitung1

Die innerhalb der linguistischen Semantik mögliche Distinktion von Onomasiologie und Semasiologie2 kann man - sieht man von den Details in ausgearbeiteten Kommunikationsmodellen ab - interpretieren als partielle metametasprachli-

1

2

Diese Arbeit, die in einem der nächsten Hefte der Germanistischen Linguistik fortgesetzt wird, schließt an den Aufsatz an, den mein Kollege, Dr. Helmut Henne, und ich unter dem Titel „Geometrische Modelle und das Problem der Bedeutung" in: ZDL 36. 1969, 129-173 publiziert haben. Leider konnte Henne diesmal wegen Habilitationsabsichten nicht als Autor mitwirken. Für viele anregende und korrigierende Gespräche möchte ich ihm hier ausdrücklich meinen Dank aussprechen. Er hat mir auch großzügig Einsicht in Teile des Manuskriptes seiner Habilitationsschrift „Lexikographie und Semantik. Wörterbücher der Goethezeit" gewährt. Im einzelnen werde ich darauf verweisen. Wertvolle Hinweise gaben mir meine Kollegen Dr. Hans-Peter Althaus, Dr. Wolfgang Putschke und Dr. Werner Veith sowie meine Kollegin Dr. Gisela Harras und meine ehemalige Kollegin Dr. Uta Gosewitz, jetzt GoetheInstitut. Vielfache bibliographische Hinweise verdanke ich Herrn Dr. Erhard Barth vom Institut für mitteleuropäische Volksforschung. Schließlich bedanke ich mich bei allen Mitarbeitern des Forschungsinstituts für deutsche Sprache und des Instituts für germanische Sprachen und Literaturen, die sich bereitwillig als Informanten bei den onomasiologischen und semasiologischen Testversuchen zur Verfügung gestellt haben. (Dazu vgl. Teil II der Arbeit.) Linguistische Semantik wird hier also wie bei Heger (1964, 486, Anm. 1) als Oberbegriff für Semasiologie und Onomasiologie gebraucht. Vgl. auch Söll (1966, 94) und Baldinger (1969, 244 f.). Oftmals wird Semantik auch mit Semasiologie gleichgesetzt; vgl. Reichmann (1969, 8). Sowinski (1970, 86) will unter Semasiologie im engeren Sinne „[...] die wortgeschichtliche Erforschung von Bedeutungsänderungen (-Interferenzen) [...]" verstehen. Zur Ausweitung des Begriffs Semantik in verschiedenen Nachbarwissenschaften und zu metasemantischen Fragestellungen vgl. Schmidt (1969, 1 ff.). Daß der Terminus Semantik im Rahmen einer geschlossenen Theorie einen anderen Begriff bezeichnet, ist natürlich sinnvoll. Mötsch (1968, 51, Anm. 31) führt aus: „Es ist zu beachten, daß der präsystematische Begriff Semantik durch die Explikation im Rahmen einer Theorie verändert wird. Deshalb ist es möglich, daß Fakten, die präsystematisch zur Semantik gerechnet werden, in der systematischen Darstellung als syntaktische Fakten behandelt werden und umgekehrt."

2

Germanistische Linguistik 3. 1970, 2 4 3 - 3 8 4

che (= metalinguistische) 3 Analogie zur Unterscheidung in eine spezifische Situation des Senders (= Sprechers und Schreibers) einerseits und Empfängers (= Hörers und Lesers) andererseits.4 Um einige differenzierte Aussagen über diese partielle Analogie zu ermöglichen, wird zunächst kurz auf den Zeichencharakter und die Zeichenfunktion der Sprache eingegangen. (1) Semantische Komponente der Kommunikationsfunktion Eine der Hauptkomponenten der Kommunikationsfunktion der Sprache ist die semantische Komponente. Diese läßt sich als aus mindestens drei Teilkomponenten zusammengesetzt begreifen. Die drei Teilkomponenten werden mit Bühler Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion genannt.5 Die Darstellungsfunktion 6 (= Symbolfunktion) ist dominant.7 Dominanz meint, daß die wesentliche Leistung der menschlichen Sprache die Darstellung von Denotaten (= Sachen oder Sachverhalte) ist, die entweder im Wahrnehmungsraum des Sprachbenutzers präsent oder nicht präsent sind. Daß sich die drei genannten Bühler'sehen Funktionen linguistisch unterscheiden lassen, heißt nicht, daß sie in der Sprache getrennt und für sich auftreten. Bisher wurde bewußt und undifferenziert nur von Sprache gesprochen. Differenziert man hier z.B. in langue und parole oder weitergehend in Sprachkompetenz, Sprachsystem, Diskurs und Sprachnorm, 8 stellt sich die Frage, auf welchen Teilbereich der Sprache die drei Bühler'sehen Funktionen zu beziehen sind. Wunderlich trifft wohl zumindest partiell das Richtige, wenn er ausführt: „Bühlers sprachliche Funktionen sind eher Funktionen von Äußerungen in der parole. Erst nach hinlänglicher Abstraktion erhält man aus Äußerungen die Sätze

3

Heger (1964, 493) spricht von einer zweiten metasprachlichen Ebene. Vgl. auch Heger (1969, 164ff.). Eine Darstellung über den Zusammenhang der verschiedenen Ebenen im Rahmen einer Theorie findet sich bei Henne (1970). Vgl. auch Leinfellner (1967, 96 ff.).

4

Sender und Empfänger werden hier unter dem Oberbegriff Sprachbenutzer zusammengefaßt. Kühlwein (1967, 28) schreibt: „Geht man von der Primärfunktion der Sprache als eines Kommunikationsmediums aus, so gibt die onomasiologische Fragestellung den Blick auf den Sprecher, die semasiologische den auf den Hörer frei."

5

Bühler (1965, 28 f.), Schmidt (1969, 150) setzt als Oberbegriff für die drei Bühler'sehen Funktionen die kommunikative Funktion der Sprache an. Zu Bühler vgl. Baldinger (1968, 4 9 f . ) ; Ungeheuer (1967, 2 0 6 7 - 2 0 8 6 ) ; Wunderlich (1969, 5 2 - 6 2 ) ; Hörmann (1967, 20ff.).

6

In diesem Beitrag werden die Termini Darstellungsfunktion, Darstellungswert und darstellungsfunktional bevorzugt, da der Terminus Symbol sehr unterschiedlich gebraucht wird, und es sich m.E. nicht empfiehlt, ihn im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Terminus Zeichen zu gebrauchen.

7

Vgl. das Vorwort von Kainz zu Bühler (1965, XIV f.). Kainz unterscheidet hier die sogenannten vier I-Funktionen (interjektive, imperative, indikativ-informierende, interrogative). Für die hiesigen Zwecke reicht jedoch die Bühler'sche Dreiteilung aus. Zur Kritik vgl. Wunderlich (1969, 55 f.). Eine andere Erweiterung des Organonmodells findet sich bei Jakobson (1966, 350ff.). Zu den Sprachfunktionen vgl. auch Mounin (1967, 396ff.).

8

Dazu vgl. Henne/Wiegand ( 1969, 132 ff.).

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

3

auf der Ebene der langue. In der langue kommen möglicherweise Sätze vor, die tatsächlich gar nichts kundgeben, sondern nur darstellen".9 Wenn diese Interpretation stimmt, dann scheint es mir unvertretbar, in dieser Arbeit, die sich auf die beiden virtuellen Teilbereiche der Sprache, insbesondere auf das Sprachsystem, bezieht, die Darstellungsfunktion der Sprache in den Vordergrund zu stellen. Die Beschränkung auf die Darstellungsfunktion von Sprachsystemzeichen bedingt darüber hinaus die Ausschaltung aller konkreten situativen Gegebenheiten. Es sei ausdrücklich betont, daß diese bewußte Beschränkung der Forschungsperspektive nicht als eine Unterschätzung der Ausdrucks- und Appellfunktion verstanden werden darf. (2) Zeichencharakter der Sprache Die kommunikative Funktion, also auch die Darstellungsfunktion der Sprache als eine ihrer Teilkomponenten, setzt den Zeichencharakter der Sprachzeichen voraus. 10 Konstitutiv für diesen ist die Intentionalität der Sprachzeichen, also ihr Gerichtetsein, ihr Hindeuten auf etwas anderes, das nicht mit ihnen selbst oder einem Teil von ihnen identisch ist.11 Diesen Sachverhalt, der für jedes Sprachzeichen konstitutiv ist, faßt das klassische, zeichentheoretische Postulat bekanntlich in den Satz: Aliquid stat pro aliquo. Er benennt eine nicht umkehrbare Stellvertretungsrelation. 1 Auf die Sprache bezogen besagt diese: Ein Sprachzeichen steht und funktioniert stellvertretend für etwas, das nicht mit ihm selbst oder einem Teil von ihm identisch ist. Die conditio sine qua non für diesen zeichenhaften Charakter sowie das Funktionieren als Zeichen ist, daß das Sprachzeichen sinnlich manifest werden kann, und zwar entweder in oraler oder skribaler Realisierung durch die Sprachbenutzer. 13

9 Wunderlich (1969, 56). 10 Luther (1970, 15ff.) stellt die Anwendbarkeit des Zeichenbegriffs auf die Sprache prinzipiell in Frage. Die beigebrachten Argumente scheinen mir jedoch teils unrichtig, teils nicht ausreichend und erfüllen ihre Zwecke nicht. Um nur einiges herauszugreifen: Luther (1970, 16) „scheint [...] die Heranziehung des Begriffs ,Zeichen' zur Definition des Phänomens Sprache grundsätzlich fragwürdig zu sein: Zunächst sollte die Vieldeutigkeit [...] dieses Wortes davor warnen, ihn zur Kennzeichnung der Klanggestalt oder Lautung der Wörter zu verwenden, denn das mit ihm Bezeichnete ist weit rätselhafter als das, was durch ihn in seinem Wesen bestimmt werden soll." Daß das hoch- und schriftsprachliche Wort Zeichen „vieldeutig" ist, steht außer Zweifel. Doch die Polysemie dieses Wortes ist kein Argument gegen seinen Gebrauch im Rahmen einer linguistischen Metasprache. Hier wird das Wort Zeichen zum Terminus und damit gemäß der zugehörigen Nominaldefinition monosem. Im übrigen haben alle von Luther (1970, 16 ff.) beigebrachten Belege für verschiedene Zeichentypen ein tertium comparationis, nämlich daß sie als sinnlich wahrnehmbare Phänomene stellvertretend für etwas anders stehen können und diese Relation nicht umkehrbar ist. Das gilt auch für das Sprachzeichen. Dazu vgl. Gauger (1970, 53 ff.). Zur Zeichenfunktion vgl. auch Hörmann (1967, 1-20). 11 Gauger ( 1969, 10) und Gauger ( 1970, 63 f.). 12 Dazu vgl. Bühler (1965, 40ff.). 13 Dazu vgl. Jongen (1969,11).

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Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384

Nach den bisher gemachten Aussagen gilt die Intentionalität auch für die Sprachzeichen des gesamten virtuellen Bereichs, also für die Sprachkompetenz und das Sprachsystem. Die linguistische Interpretation der Aussage aliquid stat pro aliquo ist abhängig vom Inhalt des Theorems über die interne Struktur des Sprachzeichens, das man zugrunde legt. (21) Unilaterales Sprachzeichen Vertritt man einen uni- oder monolateralen Zeichenbegriff und versteht also als Sprachzeichen im virtuellen Bereich eine nach den phonemischen Regeln eines bestimmten Sprachsystems programmierte Sprachlautfolge, ergeben sich bereits mehrere Möglichkeiten, den Satz aliquid stat pro aliquo zu interpretieren. Im Folgenden werden einige dieser Möglichkeiten nur genannt, ohne daß die sprachtheoretischen, denkpsychologischen, logischen und philosophischen Implikationen oder die eventuellen Vor- oder Nachteile der einzelnen Möglichkeiten diskutiert werden: (211) Das unilaterale Sprachzeichen (SZ) steht für das Denotat (De). SZ aliquid Skizze 1:

De stat pro

aliquo

Unilaterales Sprachzeichen und Denotat

(212) Das unilaterale Sprachzeichen steht für eine Klasse von Denotaten, für das Designat (Des). sz aliquid Skizze 2:

•i Des stat pro

aliquo

Unilaterales Sprachzeichen und Designat

(213) Das unilaterale Sprachzeichen steht für eine nicht klassenhafte Vorstellung (V). SZ aliquid Skizze 3:

stat pro

aliquo

Unilaterales Sprachzeichen und Vorstellung

(214) Das unilaterale Sprachzeichen steht für ein Denotat mittels einer Vorstellung, die zwar als adäquater Partner des Sprachzeichens verstanden, nicht aber als Teil des Sprachzeichens aufgefaßt wird.

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

Skizze 4:

SZ

•ί ν Î--

DE

aliquid

stat pro

aliquo

Unilaterales Sprachzeichen, Vorstellung und Denotat

Diese vierte Interpretation unter (214) ist zugleich die erste Möglichkeit, den scholastischen Satz voces significant res mediantibus conceptibus zu verstehen. Diese vierte Interpretationsmöglichkeit unterscheidet sich von den drei zuerst genannten wesentlich dadurch, daß zwischen die Ebene der Sprache (aliquid) und die der durch sie vertretenen Größen (aliquo) eine dritte Ebene tritt, die das stare pro materiell ermöglicht, weil die Größen dieser Ebene (V) selbst intentional sind, während in den drei vorher genannten Fällen die Intentionalität wohl als Relation zwischen Größen zweier Ebenen verstanden werden muß. Das Gemeinsame aller vier genannten Interpretationsmöglichkeiten, das sich aus der unilateralen Auffassung notwendig ergibt, besteht also darin, daß die nicht umkehrbare Stellvertretungsrelation die S p r a c h z e i c h e n g r e n z e in Richtung auf etwas anderes t r a n s z e n d i e r t , das nicht mit dem Sprachzeichen oder einem Teil von ihm identisch ist. (22) Bilaterales Sprachzeichen Vertritt man eine bilaterale Auffassung vom Sprachzeichen - und das ist in dieser Arbeit der Fall - und versteht also als Sprachzeichen ein Inhalts- und Ausdrucksseite in sich vereinigendes Phänomen, werden die Verhältnisse komplexer, und die Interpretationen des Satzes aliquid stat pro aliquo verändern sich erheblich. Einige Interpretationsmöglichkeiten seien nachfolgend kurz erläutert. (221) Die Ausdrucksseite (A) des Sprachzeichens steht für seine Inhaltsseite (I). aliquid stat pro aliquo Skizze 5:

Bilaterales Sprachzeichen: Ausdrucks- steht für Inhaltsseite

Diese Interpretation findet sich z.B. neuerdings bei Jongen. Bei ihm steht die Ausdrucksseite des Sprachzeichens als aliquid (= „Zeichenform" in Jongens Terminologie) für die Inhaltsseite des gleichen Sprachzeichens („Zeichenbedeutung" in Jongens Terminologie) als dem aliquo.u Hier liegt also offensichtlich eine s p r a c h z e i c h e n i m m a n e n t e Interpretation des Satzes aliquid stat pro aliquo vor. Ob eine solche Interpretation für den Phonologen ausreicht, kann hier nicht entschieden werden. Für eine semantische, insbesondere die onomasiologische Fragestellung ist sie wohl kaum ausreichend, 14 Vgl. Jongen (1969, 9ff.).

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Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384

weil es keinerlei denotative oder designative Relationen gibt, die die Sprachzeichengrenze transzendieren, eine Intentionalität also nicht gewährleistet ist. In einer paradigmatischen Semantik muß man sich also an eine der anderen Interpretationsmöglichkeiten halten. (222) Die Ausdrucksseite des Sprachzeichens steht mittels seiner Inhaltsseite für ein Denotat. A

aliquid

I

—•! stat pro

Skizze 6:

De

;

aliquo

Bilaterales Sprachzeichen: Ausdrucks- steht mittels Inhaltsseite für Denotat

Das scheint mir die zweite Möglichkeit der Interpretation für den Satz zu sein: voces significant res mediantibus conceptibus. Die dritte, vermittelnde Ebene zwischen der als aliquid verstandenen Ausdrucksseite und dem aliquo wird nun als Teil des Sprachzeichens, als dessen Inhaltsseite verstanden. (223) Die Ausdrucksseite des Sprachzeichens steht mittels seiner Inhaltsseite für ein Designat. A

aliquid

I

Des stat pro

Skizze 7:

i

aliquo

Bilaterales Sprachzeichen: Ausdrucks- steht mittels Inhaltsseite für Designat

Zwischen dieser und der vorhergehenden Interpretationsmöglichkeit unter (222) besteht ein relevanter Unterschied, weil die vertretene Größe (aliquo) einmal als Denotat, und zum anderen als Designat verstanden wird. Das impliziert: Im ersteren Fall kann die Stellvertretungsrelation, indem sie die Sprachzeichengrenze transzendiert, auch die Grenze des Bewußtseins in Richtung auf das Denotat transzendieren, und zwar dann, wenn das Denotat eine konkrete Sache ist. Das Designat ist eine Klasse von Denotaten, ein extensional definierter Begriff. Dieser läßt sich sinnvoll wohl nur im Bewußtsein des Sprachbenutzers lokalisieren. Daraus folgt: Im zweiten Fall transzendiert die Stellvertretungsrelation nur die Sprachzeichengrenze in Richtung auf etwas anderes, das im Bewußtsein zu lokalisieren ist, das aber selbst durch seinen Status und seine Definition eine Beziehung zum Bereich außerhalb des Bewußtseins haben kann, die aber selbst nicht als eine stare pro zu verstehen ist.

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

7

(224) Das bilaterale Sprachzeichen steht für das Designat. A aliquid

stat pro

I Skizze 8:

-kl •-•i

Des

aliquo

Bilaterales Sprachzeichen steht für Designat15

Diese Interpretation ist eine Variation der Interpretationsmöglichkeit unter (223). Der instrumentale Charakter (mediantibus conceptibus) der Inhaltsseite des Sprachzeichens, der in der zweiten Interpretationsmöglichkeit des Satzes voces significant res mediantibus conceptibus gegeben ist, wird hier bewußt aufgegeben. Das stare pro wird allein durch das g a n z e b i l a t e r a l e S p r a c h z e i c h e n gewährleistet, weil zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, eine Interdependenzrelation (A

-Synplerem (Derivatem, Kompositem, Flektem) quantitative Unterschiede

Synmonem

Semsumme SemasemSemSumme Synsemem Noem-SemSumme Substanzsumme

SemKollektion SemasemSemKollektion Noem-SemKollektion Substanzkollektion

Semasem Noem Skizze 23: Zweite Synopse der Termini (Ri +n )

Sem

Substanzelemente

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

55

2.3.4 Metametasprachliche Modelle Nach den vorangehenden Versuchen, verschiedene Begriffe und Termini zu erklären, sollen einige der bis jetzt gebotenen metametasprachlichen Modelle kritisch betrachtet werden. Metametasprachliche geometrische Modelle (in Hegers Terminologie: Modelle auf der zweiten metasprachlichen Ebene) sind Modelle, die nicht mehr nur objektsprachliche Gegebenheiten geometrisch und damit abstrakt repräsentieren, wie z.B. das „basic triangle" von Ogden/Richards, sondern die bestimmte linguistische Fragestellungen, Operationsschritte und Operationszusammenhänge verdeutlichen wollen. Solche metametasprachlichen Modelle sind in den verschiedensten linguistischen Teildisziplinen möglich. Hier geht es ausschließlich um die metametasprachlichen Modelle im Bereich der synchronischen Onomasiologie und komplementären Semasiologie. Diese haben den Zweck, methodologische (= metamethodische) verbal und formalisiert ausgedrückte Überlegungen über onomasiologische und komplementär-semasiologische Methoden graphisch zu verdeutlichen; d.h. sie sind ein darstellungstechnisches Hilfsmittel im Zusammenhang vor allem mit methodologischen Überlegungen, stehen also in einem metametasprachlichen Kontext. Nach meiner Meinung haben sie einen fachdidaktischen Wert. Sie erfüllen ihre genannten Zwecke allerdings nur, wenn die relevanten Gesichtspunkte, vor allem die Termini, die Reihenfolge der Operationsschritte und Operationen, im Modell selbst explizit repräsentiert sind. Für den Aufbau solcher metasprachlicher Modelle gibt es mindestens zwei Möglichkeiten: (1)Da sich linguistische Methoden auf objektsprachliche Strukturen beziehen, kann es zweckmäßig sein, metametasprachliche Modelle aus eventuell existenten metasprachlichen, die die Struktur der Objektsprache geometrisch repräsentieren, und aus metametasprachlichen Elementen, die z.B. die Form von Pfeilen und Zahlen haben können, aufzubauen. Diesen Weg sind Henne/Wiegand gegangen. 189 (2) Eine zweite Möglichkeit besteht darin, metasprachliche Modelle reflektiert auf der metametasprachlichen Ebene anzuwenden und sich bei den methodologischen Erwägungen auf dieses Modell zu beziehen. Diesen Weg ist Heger (1964) und (1969) gegangen. Beide Modelle sollen nun kurz betrachtet werden.

189 Vgl. Henne/Wiegand (1969, 156).

56

Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384

2.3.4.1 Präzisierung des metametasprachlichen Modells von Henne/Wiegand Auf der Basis der erläuterten Begriffe und Termini und unter Berücksichtigung ihres Stellenwertes innerhalb onomasiologischer und semasiologischer Fragestellungen lassen sich die Termini und die Operationsanweisungen für die einzelnen Operationsschritte im metasprachlichen Modell von Henne/Wiegand, das aus darstellungstechnischen Gründen in zwei Teildiagrammen geboten wurde, 190 präzisieren. Bei diesem Versuch werden zunächst nur die signifikativen Minimaleinheiten auf Rang Ri berücksichtigt. 191 2.3.4.1.1 Metametasprachliches Teilmodell für den Rang Rj und onomasiologische Operation ONOMASIOLOGIE Begriff Noem

Noem-SemKollektion(en)

Semem(e)

Plerem(e)

3.

Informant

Monem(e) Ô Skizze 24: Darstellung der onomasiologischen Operationsschritte (Erster Teil eines metametasprachlichen Modells)

190 Vgl. Henne/Wiegand (1969, 158, Skizze 19, u. 163, Skizze 20). Baldinger (1969, 13) hat in metametasprachlichen Teildiagrammen zu Hegers Trapez von 1964 nur die Operationsrichtung von Onomasiologie und Semasiologie angedeutet. Vgl. dazu Henne/Wiegand (1969, 157 ff.). 191 Die nachfolgenden Ausführungen sind das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Henne. Die Modelle in Skizze 24 und 25 stehen in Übereinstimmung mit Henne (1970).

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

57

Dieses metametasprachliche Teilmodell versucht, die onomasiologischen Operationsschritte durch Pfeile und Zahlen zu veranschaulichen. Das Ziel der onomasiologischen Operation, die nachfolgend beschrieben wird, besteht darin, die Plereme eines oder mehrerer Sprachsysteme systematisch zu eruieren, die einen definierten Begriff bezeichnen, ihn also als Noem enthalten. Die onomasiologische Operation, die das genannte Ziel erreichen kann, besteht nach diesem Teilmodell aus drei Operationsschritten, die sukzessiv vorzunehmen sind. (1) Der 1. Operationsschritt gehört in den logischen Operationsbereich.192 Er besteht in der Auswahl und Definition eines Begriffes. Hier kann man z.B. partielle Begriffspyramiden aufstellen und dabei nach dem bekannten Grundsatz verfahren: „definitio fit per genus proximum et differentiam specificarti"}91 (2) Der 2. Operationsschritt besteht in der Zuordnung des ausgewählten Begriffs zu einer NoemSem-Kollektion oder zu mehreren, in der bzw. denen der Begriff als Noem enthalten ist. (3) Der 3. Operationsschritt besteht in der Identifikation eines oder mehrerer Plereme, die diese Noem-Sem-Kollektion enthalten. Der 2. und 3. Operationsschritt sind aufgrund der objektsprachlichen Struktur untrennbar miteinander verbunden. Es ist deswegen auch kaum entscheidbar, ob der 2. Operationsschritt vor dem 3. vorgenommen wird, oder ob das zeitliche Verhältnis umgekehrt ist. Deswegen besteht auch die Möglichkeit, den 2. und 3. Operationsschritt als nur einen komplexen Operationsschritt zu verstehen.

Daß in dieser Phase der onomasiologischen Operation bereits von Noem-SemKollektionen gesprochen wird und nicht nur von Substanzkollektionen, ist insofern ein Vorgriff auf die sich anschließende komplementär-semasiologische Operation, als mittels der onomasiologischen Operation ja nur feststellbar ist, daß die paradigmainterne Substanzkollektion den Begriff als Noem enthält, während ja das oder die Seme noch nicht identifizierbar sind. Da aber die paradigmainternen Substanzkollektionen der eruierten Plereme sich nur durch Seme unterscheiden können und da das Modell nur ein Teilmodell ist, zu dem auch das Teilmodell gehört, das die komplementär-semasiologischen Operationen enthält (vgl. Skizze 25), scheint es mir vertretbar, bereits jetzt von Noem-Sem-Kollektionen zu sprechen. Für das systematische Auffinden der gesuchten Plereme, die einem oder mehreren Sprachsystemen angehören, sind verschiedene Verfahren denkbar: (1) direkte Befragung mehrerer Informanten (2) indirekte Befragung mehrerer Informanten (3) Benutzung eines oder mehrerer Wörterbücher (4) Kombination der drei genannten Verfahren.

Ist der gewählte Begriff als Noem in der Noem-Sem-Kollektion von mindestens zwei Pieremen enthalten, dann erhält man - je nach der Anlage der onomasiologischen Untersuchung - entweder ein systemimmanentes oder systemtranszendentes onomasiologisches Paradigma.

192 Vgl. auch Skizze 13. 193 Menne (1966, 28).

58

Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384

2.3.4.1.2 Metametasprachliches Teilmodell für den Rang Ri und komplementär-semasiologische Operation SEMASIOLOGIE

4.

Sem(e) Noem-SemKollektion(en) und andere SubstanzKollektionen

Substanzsumme oder Noem-SemSumme

Semem(e)

Plerem(e) Kontext / Kommutation Monem(e)Ô Skizze 25: Darstellung der komplementär-semasiologischen Operation (Zweiter Teil eines metametasprachlichen Modells)

Das bewußt eingeschränkte Ziel der komplementär-semasiologischen Operation, die an die erläuterte onomasiologische anschließt, besteht darin, die paradigmainternen Noem-Sem-Kollektionen aller Plereme des onomasiologischen Paradigmas zu strukturieren. Dazu müssen die konstanten Seme ermittelt werden. Danach läßt sich die Semdistribution innerhalb des onomasiologischen Paradigmas erkennen. Die komplementär-semasiologische Operation, die das geannte Ziel erreichen kann, besteht nach dem metametasprachlichen Teilmodell in Skizze 25 aus vier Operationsschritten, die sukzessive vorzunehmen sind.194 ( 1 ) Der 1. semasiologische Operationsschritt besteht in der Auswahl eines Pierems, das Element des onomasiologischen Paradigmas ist. Mit den restlichen Sprachzeichen des Paradigmas sind inhaltlich vergleichbare Plereme für die notwendigen Plerem-Kommutationsproben gegeben. (2) Der 2. semasiologische Operationsschritt hat das Ziel festzustellen, ob das Plerem eine oder mehrere Substanzkollektionen hat und welche dieser Substanzkollektionen die paradigmainterne Noem-Sem-Kollektion ist. Dieses Ziel kann durch Plerem-Kommutationsproben erreicht werden. (3) Der 3. semasiologische Operationsschritt führt zur Darstellung der Substanzsumme als einer disjunkten Kombination der paradigmaexternen Substanzkollektionen und der paradigmain-

194 Vgl. dazu: HenneAViegand (1969, 163ff.). Die nachfolgenden Ausführungen zu den semasiologischen Operationen versuchen Präzisierungen zu geben. Es muß in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, daß es auch noch andere semasiologische Operationen gibt. Eine autonom-semasiologische Operation beschreibt Henne (1970). Betrachtet man nicht nur die Darstellungsfunktion der Sprache, sondern auch die Symptom- und Signalfunktion und damit alle konnotativen Bedingungen, werden die semasiologischen Operationen wesentlich komplexer.

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

59

ternen Noem-Sem-Kollektion. Nur für die paradigmainternen monosemen Plereme ist damit auch die Noem-Sem-Summe in ihrer Struktur vollständig ermittelt. (4) Der 4. semasiologische Operationsschritt hat die Eruierung der Seme der paradigmaintemen Noem-Sem-Kollektionen zum Ziel und somit deren vollständige Strukturierung im Rahmen der Darstellungsfunktion. Dieses Ziel kann durch Kommutationsproben erreicht werden, deren kontextueller Rahmen durch die Ergebnisse des 2. und 3. semasiologischen Operationsschrittes eingegrenzt und festgelegt ist.

Die beschriebene komplementär-semasiologische Operation ist somit nicht geeignet, die ganze Substanzsumme polysemer oder polyheterosemer Plereme zu strukturieren. Ein operationaler Zugriff zu den systemimmanenten oder systemtranszendenten paradigmaexternen Substanzkollektionen ist nur einer autonomsemasiologischen Operation möglich, deren Beschreibung nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, der es um die Kooperation von Onomasiologie und Semasiologie geht. Die komplementär-semasiologische Operation ist aber immerhin in der Lage, die Frage, ob ein Plerem polysem oder polyheterosem ist, mit einem Ja oder Nein zu beantworten und darüber hinaus im Falle einer positiven Antwort die Anzahl der nichtstrukturierbaren Substanzkollektionen anzugeben. Der Vorteil der beschriebenen Methodenkombination besteht nach diesen Ausführungen vor allem darin, daß die zuerst vorgenommene onomasiologische Operation dem komplementär-semasiologischen Verfahren eine Menge inhaltlich vergleichbarer Plereme vorgibt, da alle paradigmainternen Noem-SemKollektionen der Plereme des onomasiologischen Paradigmas das gleiche Noem enthalten. Somit wird das inhaltliche Vorwissen, das für erfolgreiche Kommutationsproben notwendig ist, systematisiert und nachprüfbar gemacht. Es sei hier nur die m.E. methodisch relevante Beobachtung angemerkt, daß viele strukturell semantisch vorgehende Untersuchungen nicht ausreichend reflektieren, daß sie bei ihren semasiologischen Operationen häufig unbewußt onomasiologische Ansätze und Zwischenschritte machen und damit im hiesigen Sinne methodenkombinatorisch operieren. Ein Beispiel dafür findet sich bei Baumgärtner. 195 In dem Stadium seiner Untersuchung, in dem es ihm darauf ankommt, die „Feldstrukturierung an einer Verbmenge" 196 explizit vorzuführen, steht gewissermaßen „plötzlich" ein in bestimmter Hinsicht inhaltlich homogenes Sprachmaterial seiner Untersuchung zur Verfügung. Dessen Homogenität besteht darin, daß es sich ausschließlich um sogenannte Verben der Fortbewegung, also z.B. um spazieren, gehen, schlendern, fahren, reiten, laufen usw. handelt. Semantisch ist ihnen gemeinsam, daß sie - in der Terminologie Baumgärtners - bestimmte obere Komponenten gemeinsam haben. Die obersten Komponenten „Vorgang" und „Fortbewegung" haben notorisch die Auswahl der semantisch vergleichbaren Verbmenge bestimmt. Das bedeutet aber, daß sich Baumgärtners Analyse bei der Gewinnung semantisch vergleichbarer Sígneme auf zumindest einen Ausschnitt eines systemimmanenten 195 Baumgärtner (1965/66, 174ff.). 196 Baumgärtner (1965/66, 174).

60

Germanistische Linguistik 3. 1970, 2 4 3 - 3 8 4

oder systemtranszendenten onomasiologischen Paradigmas bezieht, das durch die analysierten Sígneme, die das Noem enthalten, konstituiert wird. Auch Heringer verfährt so bei der Uminterpretation von Pottiers siègeBeispiel. 197 So ist der die Analyse einleitende Satz bezeichnend: „Zu untersuchen sind die Plereme Stuhl, Sessel, Hocker, Bank, Sofa [.. .]". 198 Über die inhaltlichen Vorkenntnisse, die diese in bestimmter Hinsicht homogene Pleremzusammenstellung erlaubt, wird nichts ausgesagt. Sie besteht darin, daß alle ausgewählten Plereme ein gemeinsames Noem haben, nämlich (bei Heringer: Sem 4 = S 4 ); und das bedeutet demnach, daß sie ein onomasiologisches Paradigma oder einen Ausschnitt aus einem solchen konstituieren. Die Beispiele zeigen, daß in einem bestimmten Stadium die semasiologische Analyse auf onomasiologische Vorentscheidungen oder Zwischenschritte angewiesen sein kann und daß auch strukturell semantische Arbeiten methodisch dann nicht genügend reflektiert sind, wenn sie sich ihrer onomasiologischen Implikationen nicht bewußt sind. In vielen semantischen Analysen ist Semantik nichts anderes als die nicht explizit gemacht Kooperation von Onomasiologie und Semasiologie. 2.3.4.2 Zur Anwendbarkeit von Hegers Modell auf der metametasprachlichen Ebene In der terminologischen Legende zu Hegers Trapez tritt das Sem als Modellparameter nicht auf. Es wird zwar richtig gesagt, daß das Sem in den gleichen Relationen zu den beiden anderen Begriffen, die innerhalb der Inhaltssubstanz unterschieden werden, steht wie das Noem, und damit ist der Stellenwert des Sems durchaus eindeutig umschrieben; streng genommen aber ist das Trapez von 1969 auf der zweiten metasprachlichen Ebene für komplementär-semasiologische und für autonom-semasiologische Analysen nicht ausreichend, da das Sem nicht in der terminologischen Legende erscheint. 2.3.4.3 Metametasprachliches Modell für die Ränge Ri +n Innerhalb der Terminologiediskussion 199 war bereits die Frage aufgetaucht, ob die Katena explizit in einem metametasprachlichen Modell repräsentiert werden oder ob sie nur über die Definition ranghöherer Sígneme in das Modell eingehen soll. Die Entscheidung dieser Frage scheint mir abhängig zu sein von dem Ergebnis einer Überprüfung der Frage, ob für die explizite Aufnahme der Katena ins Modell überzeugende operationale Argumente geltend gemacht werden können oder nicht.

197 Heringer (1968a, 227). 198 Heringer (1968a, 227). 199 Vgl. oben unter 2.3.2.1.2.

61

Synchronische Onomasiologie und Semasiologie

(1) Aus onomasiologischer Perspektive lassen sich solche Argumente kaum finden. Zwar kann es für die Onomasiologie durchaus von Interesse sein, welche begrifflichen Bereiche durch Plereme und welche durch Synplereme bezeichnet werden, es existiert aber keine onomasiologische Operation, die z.B. in der Lage wäre, die Rolle der Katena bei der Bildung von Synpleremen aus Plerem zu erfassen; d.h. es gibt keinen spezifischen onomasiologischen Operationsschritt, der sich auf die Katena richtet. In ein onomasiologisches Teilmodell muß also die Katena nicht explizit aufgenommen werden. (2) Aus semasiologischer Perspektive erscheint der Sachverhalt in einem anderen Licht. Semasiologische Operationsschritte, die sich auf die Katena richten, sind durchaus vorstellbar, so z.B. in einer die Inhaltsseite ausreichend berücksichtigenden Wortbildungslehre. Sie sind aber kein Teil der komplementär-semasiologischen Operation, wie sie hier beschrieben wurde. D.h.: Auch in einem komplementär-semasiologischen Teilmodell kann auf die Katena verzichtet werden.

Daraus ergibt sich, daß die metametasprachlichen Teilmodelle für die Ränge Ri+n sich von denen für den Rang Ri prinzipiell nicht unterscheiden. Lediglich die Legenden sind terminologisch zu ändern. Nimmt man das onomasiologische und komplementär-semasiologische Teilmodell (vgl. Skizze 24 und 25) zusammen, ergibt sich folgendes Modell für die Ränge Ri+n. ONOMASIOLOGIE Begriff Noem Sem(e)

4.

f NSK λ SUK 2.

SUS V NSS 3.

Synsemem(e)

SEMASIOLOGIE

/fN Kontext / Kommutation

1.

Synplerem(e)

Synmonem(e) Ò Skizze 26: Metametasprachliches Teilmodell für die Ränge R, plementär-semasiologische Operationen

Informant

onomasiologische und kom-

Ein vollständiges metametasprachliches Modell zur Analyse des darstellungsfunktionalen Teiles der Systembedeutung von Einheiten aller Ränge, das auch die metasprachlichen Elemente enthält, kann nach den bisherigen Ausführungen folgendermaßen aussehen:

62

Germanistische Linguistik 3. 1970, 243-384 2.

ONOMASIOLOGIE

Begriff Noem Sem(e)

4.

NSK λ SUK 2.

SUS ν NSS 3.

zuordnen sollen. Es sind demnach ganz bestimmte syntagmatische Beziehungen, die uns die Entscheidung ermöglichen, welcher von mehreren möglichen Inhalten einem Ausdruck zugeordnet werden kann und welcher nicht. Anhand unseres Beispiels können wir diesen Sachverhalt so formulieren: Nur nach (1), nicht nach (2) können wir A den Inhalt I(i) zuordnen. Nur nach (2), nicht nach (1) können wir A den Inhalt I(2) zuordnen. Weder nach (1) noch nach (2) können wir A die Inhalte I(u und I(2) zugleich zuordnen. Für die Satzmenge {(1), (2)} gilt daher: Entweder steht A mit I(u oder mit 1(2) in der Beziehung der Solidarität, aber nicht mit I(d und I(2) zugleich. Für das Lexikon zu dieser Satzmenge gilt daher folgende Beschreibung: Die beiden lexikalischen Inhalte I(d und 1(2) stehen im Hinblick auf ihre Solidaritätsbeziehung in einem Syntagma in einer sich ausschließenden Entweder-OderBeziehung (exklusive Disjunktion). Graphisch läßt sich dies so verdeutlichen:

Aufgabe

2

Bitte zeigen Sie aufgrund von Sätzen, daß die Ausdrücke Bank, Leitung, Strauß, Hahn, Stift, Schale, Ball, lesen, einladen und grün im Lexikon des gegenwärtigen Standarddeutsch als polysem beschrieben werden können. (Ein Beispiel für den Ausdruck Futter sind die Sätze (1) Er holt das Futter für die Kühe und (2) Er trennt das Futter aus der Jacke.) Bank (1)

(2) Leitung

(1) (2) Strauß (1) (2) Hahn

(1) (2)

Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik

109

Stift (1) (2) Schale (1) (2) Ball (1) (2) lesen

(1)

(2) einladen

(1)

(2)

grün (1)

(2) Definition 2: Lexikalische Polysemie liegt dann vor, wenn im Lexikon eines bestimmten Systems einem Ausdruck mindestens zwei voneinander verschiedene Inhalte zugeordnet werden können, die im Hinblick auf die jeweilige Solidaritätsbeziehung in einem Syntagma in einer sich ausschließenden Entweder-Oder-Beziehung stehen können. Ergänzung Die Entweder-Oder-Beziehung, in der die mit einem Ausdruck solidarischen Inhalte stehen, kann auch durchbrochen werden, z.B. in einem Wortspiel. Nehmen wir z.B. die Sätze (4) Er redet Kohl und (5) Er ißt gerne Kohl. Mit dem Ausdruck Kohl ist nach (4) ein anderer Inhalt solidarisch als nach (5). Mit Kohl ist entweder Inhalt^) oder Inhalt^) solidarisch. Diese Entweder-OderBeziehung ist in dem folgenden Wortspiel aufgehoben: Den Kohl, der hier gedruckt steht, wird niemand essen wollen. Hier sind sowohl Inhalt (4) als auch Inhalt (5) mit Kohl solidarisch. 2 Aufgabe 3 (a) Wie kann man die Mehrdeutigkeit von Sätzen wie: Der Absatz ist zu niedrig erklären?

(b) Wieviele voneinander verschiedene Inhalte können Sie dem Ausdruck Schloß zuordnen?

(c) Aufgrund welcher Verfahren sind Sie zu dieser Antwort gekommen?

2.2.3 Mehrere Ausdrücke - ein Inhalt: Mehrere Sprachzeichen Wir wenden uns nun der 2. Zuordnungsbeziehung zwischen Ausdruck und Inhalt zu. Sie lautete:

2

Das Beispiele stammt von K. Heger, Monem, Wort und Satz, S. 37 f.

110

Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. 1972a, 2 6 - 4 4

(b) Mehreren voneinander verschiedenen Ausdrücken kann ein lexikalischer Inhalt zugeordnet werden.

Um zu ermitteln, welchen voneinander verschiedenen Ausdrücken ein und derselbe Inhalt zugeordnet werden kann, machen wir eine semantische Substitutionsprobe. Wir müssen also feststellen, durch welche Ausdrücke ein Ausdruck in einem Satz substituiert werden kann, ohne daß der begriffliche Inhalt des Satzes sich verändert. Wir gehen von folgenden Sätzen aus: (6) Sie wartet auf den Fahrstuhl. (7) In diesem Hochhaus ist der Lift (8) Der Aufzug hält im 3. Stock.

kaputt.

Auf der Basis unserer Sprachkenntnis können wir feststellen, daß in allen Sätzen die Ausdrücke Fahrstuhl, Lift und Aufzug gegeneinander semantisch substituiert werden können, also ohne daß der begriffliche Inhalt von (6), (7) und (8) sich ändert. Daraus schließen wir, daß für diese Sätze gilt: Wir können den drei verschiedenen Ausdrücken A(6) bis Α (8) ein und denselben begrifflichen Inhalt (I) zuordnen. Wir setzen nun fest, daß Ausdrücke wie: Fahrstuhl, Lift und Aufzug als Ausdrücke drei voneinander verschiedene Sprachzeichen (SZ) beschrieben werden, die ein und denselben begrifflichen Inhalt haben. Definition 3: Können wir mehreren Ausdrücken ein und denselben Inhalt zuordnen, so sprechen wir von synonymen Ausdrücken.

Graphisch läßt sich das so verdeutlichen: ein SZ

ein SZ

ein SZ

Hinweis Auf die lexikalische Synonymie gehen wir in Studieneinheit 3 noch einmal ein. Aufgabe

4

Ordnen Sie bitte diejenigen Ausdrücke zu Gruppen, denen Sie ein und denselben Inhalt zuordnen, und die damit als synonyme Ausdrücke bewertet sind. (a) Einige Resultate in der Bundesliga sehen nach Bestechung aus. (b) Renate ist ledig. (c) Die Privatstation im Krankenhaus sollte abgeschafft werden. (d) Er hat gestern gute Ergebnisse erzielt.

Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik (e) (f) (g) (h)

111

Bei diesem Metzger ist das Fleisch teuer. Unverheiratet wird Albrecht sterben. Der Fleischer besitzt einen Mercedes. Von seinem Fenster aus sieht er das Hospital.

2.2.4 Semantische Deskriptoren und begriffliche Inhaltselemente Bisher haben wir die lexikalischen Inhalte im Hinblick auf ihre Beziehung zu den Ausdrücken betrachtet. Wir wenden uns jetzt den Elementen und der Struktur der Inhalte zu. Rückverweis Schon in der Studieneinheit 1/3 wurde bei der Erläuterung der semantischen Kodierung angenommen, daß Inhalte als .Bündel' von Inhaltselementen aufgefaßt werden können. Die Inhaltselemente wurden als semantische Merkmale bezeichnet. So wurde z.B. dem Ausdruck Junggeselle ein Inhalt zugeordnet, der als ein Bündel von vier Inhaltselementen aufgefaßt wurde. Diese Elemente wurden mit den Wörtern .Mensch', .männlich', .erwachsen' und .unverheiratet' beschrieben.

Wir betrachten im folgenden diese Inhaltselemente und die Wörter, die sie beschreiben, etwas genauer. 2.2.4.1 Semantische Deskriptoren Man kann z.B. den begrifflichen Inhalt zu dem Ausdruck Mann mit den Wörtern (Mensch), (männlich) und (erwachsen) beschreiben. Solche Wörter, mit denen wir Inhalte beschreiben, sind - verkürzt ausgedrückt - Sprache über Objektsprache (vgl. Studieneinheit 1/7). Wir nennen sie semantische Deskriptoren. Die runden Klammern fassen wir als eine Schreibkonvention auf, die den metasprachlichen Status dieser Wörter anzeigt. Deskriptoren dienen dazu, den inhaltlichen Unterschied und das inhaltlich Gemeinsame von Wörtern zu beschreiben. Ihr Auffinden setzt die Sprachkenntnis des Analysesubjekts voraus. Deskriptoren können durch kompetente Informanten empirisch überprüft werden (vgl. den Abschnitt 2.1.3). Definition 4: Ein semantischer Deskriptor ist ein Element der semantischen Metasprache, mit dem das Gemeinsame und das Unterschiedliche von Inhalten beschrieben werden kann. Wir geben ein einfaches Beispiel für die Beschreibung von lexikalischen Inhalten mit semantischen Deskriptoren. Wir gehen von folgenden Ausdrücken aus: Bach, Fluß, Strom, Rinnsal, Kanal, See, Tümpel, Teich. Wir betrachten nun diejenigen Inhalte, die wir diesen Ausdrücken zuordnen, wenn wir in dem allgemeinen Kontext: In dem X ist das Wasser schmutzig für X entweder Bach oder Fluß oder ... usw. semantisch substituieren.

112

Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. 1972a, 26-44

Auf der Basis unserer Sprachkenntnis können wir nun sagen, daß die Inhalte, die wir den acht Ausdrücken zuordnen können, etwas gemeinsam haben. Das wird noch deutlicher, wenn wir dieser Gruppe von Ausdrücken folgende Ausdrücke gegenüberstellen: Klo, Eimer, Glas und Topf. Auch diese zweite Gruppe von Ausdrücken kann für X substituiert werden. Das Gemeinsame der Inhalte von Bach, Fluß usw., das wir als ein gemeinsames Inhaltselement auffassen, können wir mit dem Deskriptor (Gewässer) beschreiben. Als nächstes müssen wir nun versuchen, auch die inhaltlichen Unterschiede zu beschreiben. Wir greifen zu diesem Zweck aus allen möglichen Paaren, die aus dieser Gruppe von Ausdrücken gebildet werden können, einige heraus: Bach/See: Der Unterschied der zugehörigen Inhalte läßt sich mit den Deskriptoren (fließend) und (stehend) beschreiben. Die beiden Deskriptoren sind für die Beschreibung brauchbar, denn sie erfassen auch einen Unterschied der Inhalte zu den Paaren: Fluß/See, Strom/See, Rinnsal/See, Kanal/See. Weiterhin können wir in jedem dieser Paare See durch Tümpel oder durch Teich ersetzen, und auch dann beschreiben die beiden Deskriptoren die Unterschiede der zugehörigen Inhalte. Bach/Kanal: Der Unterschied der zugehörigen Inhalte läßt sich mit den Deskriptoren (natürlich entstanden) und (vom Menschen angelegt) erfassen; die beiden Deskriptoren lassen sich zu der Form (natürlich) und (künstlich) vereinfachen. Sie unterscheiden auch die Inhalte folgender Paare: Fluß/Kanal, Strom/Kanal, Rinnsall Kanal, See/Kanal, Tümpel/Kanal. Auch wenn in jedem dieser Paare Kanal durch Teich ersetzt wird, unterscheiden diese Deskriptoren die zugehörigen Inhalte. Da wir hier keine Vollständigkeit anstreben, können wir die Beschreibung abbrechen und in einer Tabelle zusammenfassen. Ausdr iicke Deskriptoren (Gewässer) (fließend)

Bach

Fluß

Strom

Rinnsal

Kanal

See

Tümpel

Teich

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X X

X

X

X

X

X

X

X

X

(stehend) (natürlich) (künstlich)

X

X

Die Kreuze in den Spalten der Tabelle zeigen an, daß der Deskriptor ein Inhaltselement des jeweiligen Inhalts beschreibt. Die Tabelle macht deutlich, daß die vorgenommene semantische Beschreibung mittels Deskriptoren noch sehr lückenhaft ist; das zeigt sich darin, daß die lexikalischen Inhalte zu Bach, Fluß, Strom, Rinnsal, die zu Kanal und Teich sowie die zu See und Tümpel noch nicht mittels Deskriptoren unterschieden werden. 3 Die semantische Beschreibung von Lexikoneinheiten mittels semantischer Deskriptoren ist erst dann hinreichend, wenn alle unterscheidbaren Inhalte so beschrieben sind, daß keine identischen Mengen von Deskriptoren auftreten (zur Identität von Mengen vgl. Studieneinheit 1). Hinweis In der Sendung haben wir ein weiters Beispiel mit den Ausdrücken Hahn, Henne, Hengst, Stute, Bulle, Kuh, Fohlen, Küken und Kalb behandelt. 4

3 4

Das Beispiel wird weiter ausgeführt bei F. Hundsnurscher, Neuere Methoden der Semantik. Eine Einführung anhand deutscher Beispiele, S. 41 ff. Vgl. Kap. IV/2 der Fischer-Taschenbuchausgabe, Bd. 2, S. 28.

Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik

113

2.2.4.2 Begriffliche Inhaltselemente Die Beschreibungsmöglichkeit mit Deskriptoren legt die Annahme nahe, daß Inhalte aus Elementen bestehen, die durch Beziehungen miteinander verbunden sind. Deshalb haben wir den jeweils mit einem Deskriptor beschriebenen Teil eines Inhalts als ein .Element' aufgefaßt. In der Sendung haben wir am Beispiel von Schimmel schrittweise entwickelt, aus welchen begrifflichen Inhaltselementen der Inhalt besteht, den wir in dem allgemeinen Kontext Sie reitet den Schimmel dem Ausdruck Schimmel zuordnen.5

Das Ergebnis war: Dem Ausdruck Schimmel können wir einen Inhalt zuordnen, der vier Inhaltselemente Ei, E 2 , E 3 und E 4 hat. Um diese vier Inhaltselemente als solche zu charakterisieren, haben wir die Schreibkonvention: einfache Anführungszeichen benutzt, also z.B. Ei = .Lebewesen'. Die Anführungszeichen sollen anzeigen, daß hier die Inhaltselemente als objektsprachliche Größen gemeint sind, die in der Kommunikation selbst eine Rolle spielen. Begriffliche Inhaltselemente sind also Einheiten, die in der Sprachkommunikation selbst eine Rolle spielen. Wollen wir dagegen betonen, daß wir diese objektsprachlichen Größen beschreiben, benutzen wir die Schreibkonvention für Deskriptoren, also z.B. (Lebewesen). Graphisch läßt sich das so schematisieren: Sie reitet den

Objektsprache

semantische Beschreibung ,

Metasprache

Wie ist nun das Verhältnis von Inhaltselementen und semantischen Deskriptoren zu verstehen? Ein Analysesubjekt, das bei der semantischen Analyse von Äußerungen bzw. Ausdrücken ausgeht, muß zunächst den als Dekodierung beschriebenen Prozeß durchlaufen. So muß es u.a. den Ausdrücken begriffliche Inhalte zuordnen, die aus begrifflichen Inhaltselementen bestehen, und damit Sprachzeichen rekonstruieren. Will das Analysesubjekt nun aber die Inhalte oder Inhaltselemente für die Zwecke der semantischen Beschreibung sprachlich bereitstellen, muß es 5

Vgl. Kap. IV/2 der Fischer-Taschenbuchausgabe, Bd. 2, S. 29 f.

114

Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. 1972a, 26-44

sprachliche Äußerungen über die Inhalte machen; dazu muß es erneut einen Kode und seine Sprachkenntnis benutzen. So ist es z.B. nicht möglich, daß die begrifflichen Inhaltselemente von Schimmel einfach mit (1), (α), ( O ) beschrieben werden, weil damit nichts über den Inhalt von Schimmel ausgesagt wird. Will das Analysesubjekt den Inhalt von Schimmel nicht einfach mit (Schimmel) beschreiben, dann muß es andere sprachliche Ausdrücke einfuhren, aus denen der Inhalt von Schimmel gefolgert werden kann, z.B. weißes Pferd. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, daß aus solchen in Klammern gesetzten Ausdrücken wie (weiß) und (Pferd), die wir Deskriptoren genannt haben, der Inhalt von Schimmel gefolgert werden kann und damit beschrieben ist.

Deskriptoren funktionieren also nur deshalb als Beschreibungseinheiten für Inhaltselemente, weil aus ihnen die zu beschreibenden begrifflichen Inhalte als aus begrifflichen Inhaltselementen bestehend rekonstruiert werden können. Wenn dieser Zusammenhang klar ist, kann die Unterscheidung von Inhaltselementen und Deskriptoren im Begriff des semantischen Merkmals aufgehoben werden. D.h.: Wir können semantische Merkmale als Inhaltselemente auffassen, die einerseits in der Sprachkommunikation selbst funktionieren und die andererseits in einer festgelegten Notierungsform in das Inventar der semantischen Beschreibungssprache aufgenommen werden. Definition 5: Semantische Merkmale sind begriffliche Inhaltselemente, zu denen eine in die semantische Metasprache eingeführte Notierungsform vorliegt.

Die semantischen Merkmale setzen wir zur Unterscheidung von Ausdrücken in runde Klammern, also z.B. (weiß). 2.2.5 Kategoriale und relationale Merkmale Man kann u.a. zwei Arten von semantischen Merkmalen unterscheiden: die kategorialen und die relationalen. Diese Unterscheidung soll im folgenden an Beispielen erläutert werden. Definition 6: Kategoriale schaften repräsentieren.

Merkmale

werden als begriffliche Elemente aufgefaßt, die Eigen-

Die Wortgruppe Mann, Frau, Junge, Mädchen kann mit semantischen Merkmalen (Mensch), (männlich), (weiblich) und (erwachsen) beschrieben werden. Diese semantischen Merkmale repräsentieren Eigenschaften. Definition 7: Relationale

Merkmale sind Merkmale, die Beziehungen repräsentieren.

Für die Beschreibung der Verwandtschaftsbezeichnungen Vater, Mutter, Sohn, Tochter z.B. reicht die Verwendung der kategorialen Merkmale (Mensch), (männlich) und (weiblich) nicht aus. Neben Merkmalen, die Eigenschaften erfassen, benötigen wir solche, die Beziehungen erfassen wie z.B. (Elternteil eines Kindes).

Einige Grundbegriffe der lexikalischen Semantik

115

2.2.6 Exkurs: Zur Gewinnung von semantischen Merkmalen In der Sendung zeigten wir anhand von Testsätzen, daß Inhalte als Mengen von Inhaltselementen aufgefaßt werden können. 6 Wir stellten weiter fest, daß diese Testsätze uns auf zugrundeliegende begrifflich-logische Strukturen hinweisen können (daher die Bezeichnung Testsätze) und daß sie auf die allgemeine Relation χ ist y zurückgeführt werden können. 7 Hier knüpfen wir an. Wir gehen zunächst von einer endlichen Menge Mi aus und legen fest, daß auf alle Elemente von Mi das Prädikat Pi = ,ist ein Schimmel' zutrifft. Wir definieren also: Mi = {χ I χ ist ein Schimmel}. (Lies: Die Menge aller x, so daß χ ein Schimmel ist; kurz: die Menge aller Schimmel.) Wir definieren weiter eine Menge M2 = {χ I χ ist ein Rappe}. Mi und M2 haben kein gemeinsames Element. Wir sagen: Mi und M2 sind disjunkt (elementenfremd). Schließlich definieren wir M3 = {χ I χ ist ein Pferd}. Über die Beziehungen von Mi, M 2 und M3 können wir u.a. aussagen: Mi ist echt in M3 enthalten (M| wird von M3 strikt inkludiert; formal: Mi S2. Was soll aber heißen, ob es möglich bzw. nicht möglich ist? Nehmen wir folgendes Beispiel: BEISPIEL Nr. 4 Ich führe nun nacheinander zwei Behauptungsakte aus, indem ich die Sätze (14) und (15) schriftlich äußere: (14) „John zeichnet ein Quadrat. " (15) „John zeichnet kein Viereck."

(15) ist die verneinte grammatische Entsprechung - Lyons würde sagen die explizite Verneinung - von (14a) John zeichnet ein Viereck.

(14) setzen wir nun für S\ und (14a) für S2 ein. Dann zeigt das Beispiel, daß es möglich, weil im Beispiel geschehen, ist, einen Satz Sj explizit zu behaupten und zugleich einen anderen Satz S2 explizit zu verneinen, und daß trotzdem der Satz Si, hier also (14), den Satz S2 (14a) impliziert, obwohl das nach Lyons nur der Fall sein soll, wenn das, was im Beispiel Nr. 4 geschehen ist, nicht möglich ist. Zu dem zweiten Satz unter (c) ist zu bemerken: Eine solche Übersetzungstheorie gibt es nicht. Bei der Übersetzung von Ausdrücken einer natürlichen Sprache in welche logische Sprache auch immer, gibt es zahlreiche Schritte, die mehr oder weniger willkürlich sind. Vgl. Dazu z.B. Thiel (1965, 140ff.) und grundsätzlich Kambartel (1968, 149ff.); Mates (1965, 112) führt - nachdem er allerdings nur einige Schwierigkeiten erwähnt hat - aus: „Alle diese Schwierigkeiten lassen die Aufgabe, zur Symbolisierung von Aussagen der natürlichen Sprache präzise und praktisch verwendbare Regeln anzugeben, hoffnungslos erscheinen. Zumindest in den komplizierteren Fällen können wir nur den nichtssagend klingenden Rat geben: man frage sich nach dem Sinn der Aussage der natürlichen Sprache und versuche dann, eine Aussage von L [hier eine prädikatenlogische Sprache erster Stufe ohne Identität] zu finden, die relativ zu der vorliegenden Interpretation so weit wie möglich denselben Sinn hat." 64 Lyons (1971, 455 f.).

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie

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Lyons muß demnach etwas anderes gemeint haben. Eventuell klärt sich, was er gemeint hat, wenn wir das „without contradiction" aus dem darauf folgenden Satz [7], das terminologisch so unverbindlich als „ohne Widersprüchlichkeit" übersetzt ist,65 auch auf den Satz [6] beziehen. Dann ist es offensichtlich nicht möglich, „ohne Widersprüchlichkeit" (14) und (15) zu behaupten; aber diese Feststellung gilt eben auch nur dann, wenn wenigstens eine der oben genannten Voraussetzungen (a), (b), (c) explizit angegeben wird. Der Satz [6] bei Lyons müßte daher korrekt z.B. bei der Voraussetzung (b) so heißen: Man sagt, daß ein Behauptungssatz S¡ einen anderen Behauptungssatz S2 impliziert (wobei „Si", „S2" hier und nachfolgend Variablen für Namen von Behauptungssätzen aus e i n e r natürlichen Sprache L sind), wenn Sprecher von L darin übereinstimmen, daß es nicht möglich ist, wenn S1 und S2 auf ein und dasselbe Referenzobjekt in der gleichen Situation bezogen werden, Si explizit zu behaupten und S2 ohne inhaltlichen Widerspruch zu Si explizit zu verneinen. Oder: ... daß es nicht möglich ist, daß die Proposition von S\ und die von S2 zusammen wahr sind. Welche von diesen drei Möglichkeiten gewählt wird, hängt von den Details des „framework" ab, innerhalb dessen diese Explikationen zu denken sind. Unter den Voraussetzungen (a) oder (c) kann ein entsprechender Satz gemäß diesen Voraussetzungen formuliert werden. Nun scheint nach Lyons wenigstens folgendes festzustehen: Si impliziert S2 besagt das gleich wie S 2 folgt analytisch aus S t . 6 6 Zunächst müssen wir nun klären, was nach Lyons „analytisch" heißen soll. Lyons schreibt: „Eine analytische Feststellung ist eine, die .notwendig' wahr ist; ihre Wahrheit ist festgelegt (I) durch den Sinn ihrer konstituierenden Elemente und (II) durch die syntaktischen Regeln der Sprache. U m ein Standardbeispiel zu nehmen: Der Satz Alle Junggesellen sind unverheiratet kann als analytisch in dem Sinne betrachtet werden, daß Junggeselle und unverheiratet derart semantisch miteinander in Beziehung gesetzt sind, daß die Wahrheit des Satzes feststeht."67

Diese Bestimmung ist relativ zum derzeitigen Stand der Diskussion zum Begriff der Analytizität bzw. zum Begriffspaar analytisch vs. synthetisch zwar überholt, und zwar u.a. deswegen, weil unklar ist, was das von Lyons bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzte „.notwendig"' eigentlich heißen soll. 68 Es scheint mir aber realistisch zu sein, wenn Lyons davon ausgeht, daß die Lösung derjenigen Fragen, die von einer präzisen Unterscheidung von kontingenter Wahrheit einerseits und notwendiger Wahrheit andererseits abhängen, bei einer semanti-

65 Schnelle (1973, 256) gibt „without contradiction" als „ohne Widerspruch" wieder, um dann verschiedene Arten von Widerspruch gegeneinander abzuwägen. 66 Ich bin nicht der Meinung, daß die Lyons'sche Definition etwas mit der materialen Implikation zu tun hat. Anderer Auffassung ist Wunderlich (1974, 301). 67 Lyons (1971, 455). 68 Die wichtigste neuere Literatur zur Analytizität - soweit sie für Linguisten wichtig ist - findet sich bei Wiegand/Wolski (1975).

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sehen Analyse natürlicher Sprachen nicht unbedingt vorausgesetzt werden müssen. Lyons schreibt daher: „Was der Linguist benötigt, ist ein pragmatisches Konzept der Analytizität - ein Konzept, welches in der Theorie die in der Sprachgemeinschaft stillschweigend vorausgesetzten Kenntnisse und Annahmen anerkennt und andererseits von einer Wertung innerhalb eines anderen Bezugssystems, von dem man annimmt, daß es absolut oder linguistisch und kulturell neutral ist, absieht."69

„Notwendig wahr" ist daher hier aufzufassen als wahr relativ zum regelgerechten Gebrauch einer natürlichen Sprache L (in eingeschränkten Kontexten) und damit relativ zu allgemeinen Kenntnissen und Annahmen, die in diesem regelgerechten Sprachgebrauch ausgedrückt werden. Damit ist auch der Ausdruck „without contradiction" nicht notwendigerweise als „ohne logischen Widerspruch" zu verstehen. Vielmehr handelt es sich eher um einen Widerspruch relativ zu einer Anzahl in einer Sprachgesellschaft bezüglich einer Welt anerkannter Wahrheiten, die beim Sprechen über diese Welt vorausgesetzt werden. 70 Wenn Lyons sagt S\ z> S2, dann ist dies offenbar aufzufassen als „Aus 51 folgt semantisch analytisch S2"· Es handelt sich also um die Relation des Einschlusses (entailment), die so definiert werden kann: S\ schließt S2 genau dann ein, wenn Sprecher darin übereinstimmen, daß - in ein und derselben Situation - die Wahrheit von S2 notwendig aus der Wahrheit von Si und die Falschheit von Si notwendig aus der Falschheit von S2 folgt. 71 Wenn nun Sprecher darin übereinstimmen, daß man einen Satz S 2 in der gleichen Situation nicht ohne Widerspruch explizit verneinen kann, dann offenbar deswegen, weil für sie die Wahrheit von S2 aus der Wahrheit von Si (und die Falschheit von Si aus der von S2) folgt und damit S\ S2 einschließt. Wenden wir diese Bestimmung auf unsere Sätze (14), (14a) und (15) an, dann ergibt sich: (14) 3 (14a), d.h. aus (14) folgt semantisch analytisch (14a), da (15) nicht ohne Widerspruch explizit verneint werden kann; wenn (14) wahr ist, dann auch (14a), und wenn (14a) falsch ist, dann auch (14). Sprecher des Deutschen werden sich leicht darüber einig sein, daß die gegebene Beurteilung gültig ist: Faschisten, Anarchisten, Jusos, Kommunisten, Konservative, kurz alle, die mit ihrer Sprachkenntnis auch wissen, daß alle Quadrate Vielecke sind, werden hier in ihrem Urteil übereinstimmen. Sie alle verfügen über eine semantische Ähnlichkeitsbeziehung der Wörter Quadrat und Viereck, die sich theoretisch als lexikalische Hyponymie, in der Quadrat zu Viereck steht, rekonstruieren läßt. Für sie alle ist der Satz 69 Lyons (1971, 455). 70 Vgl. Schnelle (1973, 257) und Wiegand (1974b, 686). 71 Die Übersetzung von entailment mit Einschluß nach Stammerjohann (1975, 103). Die hier gegebene Definition der analytischen Implikation (= entailment = Einschluß) ist übrigens insofern für linguistische Zwecke nicht sehr gut brauchbar, da die Präsuppositionsrelation von der Implikation nicht hinreichend getrennt werden kann. Das gelingt erst, wenn man die Definition durch einen Zusatz wie Keller (1975, 32f., Anm. 2) erweitert.

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Alle Quadrate sind Vierecke

analytisch. Die soeben behandelten Beispielsätze scheinen nahezulegen, daß sich über Implikationsbeziehungen von Sätzen relativ leicht Konsens erzielen läßt. Das ist jedoch nicht der Fall, wie folgende Beispielsätze zeigen: (17) (18)

Hans ist kommunistisch. Hans ist totalitär.

Hier wird man sich streiten, ob (18) aus (17) semantisch analytisch folgt, da eben manche Sprecher des Deutschen behaupten, daß Kommunisten genau so wie Faschisten totalitär sind, demnach die sog. Totalitarismusthese vertreten, andere Sprecher dies aber gerade bestreiten. 72 Wenn schon bei der unilateralen Implikation die Übereinstimmung in der Beurteilung nicht zu erzielen ist, dann ist zu erwarten, daß dies auch bei der bilateralen Implikation oder Äquivalenz der Fall ist. Nehmen wir folgende Beispielsätze: (19) (20)

Peter ist ein Peter ist ein

Polizeispitzel. Polizeiinformant.

Impliziert nun (19) (20) und umgekehrt (20) (19)? Folgt daraus, daß es wahr ist, daß Peter ein Polizeiinformant ist, auch, daß es wahr ist, daß Peter ein Polizeispitzel ist? Offensichtlich hängt das davon ab, wie diejenigen, die darüber urteilen sollen, zu Peter, zur Polizei etc. stehen. Ob also die Wörter Polizeispitzel und Polizeiinformant lexikalisch synonym sind, ob (19) und (20) intensionale Paraphrasen voneinander sind, kann auf diesem Wege keineswegs mit Sicherheit entschieden werden, da man sich bereits über die Äquivalenz von (19) und (20) streiten kann. Daß der Begriff der Implikation und der der Äquivalenz, angewandt auf Sätze der natürlichen Sprache, solche Diskussionen nicht ausschließen und damit das nicht leisten, was sie relativ zu logischen Sprachen leisten, hängt damit zusammen, daß natürliche Sprachen - im Unterschied zu logischen - keine vollständig interpretierten Sprachen sind, sondern allenfalls als hinsichtlich ihrer möglichen

72 Man kann natürlich an dieser Stelle eine ganze Reihe von Hilfskonstruktionen aufbauen, um diese Argumentation zu unterbinden: so könnte man z.B. sagen, daß der Streit über die Folgebeziehung dadurch entsteht, daß die Streitenden - obwohl sie alle Deutsch sprechen - dennoch verschiedene Sprachen sprechen, wenn es um Ideologie geht. Damit kommt man zum Begriff der Ideologiesprache und damit zur Frage der Sprachen in einer Sprache. Vgl. dazu Pankoke (1966) und Rossipal (1973). Schließlich gelangt man dann zu der Frage bzw. dem Sachverhalt, daß Implikationsbeziehungen kotextspezifisch sind und damit Bedeutungsrelationen auch. Das bedeutet z.B.: Für manche Sprechergruppen der deutschen Sprachgesellschaft steht kommunistisch zu totalitär in der lexikalischen Hyponymie, für anderer dagegen nicht. Behauptungen sind daher - wenigstens für manche Wortschatzbereiche - nicht von vornherein als ideologiefrei zu betrachten.

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Interpretationen beschränkte Sprachen aufzufassen sind. 73 Oder anders gesagt: Sätze logischer Sprachen sind formal und relativ analytisch, 74 und daher sind Sätze logischer Sprachen aufgrund ihrer logischen Form und relativ zu semantischen Festsetzungen (z.B. Wahrheitswerttabellen, Interpretationen) vollständig analysierbar. Sätze natürlicher Sprache sind allenfalls semantisch analytisch, d.h. nicht relativ zu semantischen Festsetzungen, sondern nur relativ zur Sprachkenntnis und -beherrschung und insbesondere zur Regelbeherrschung von Menschen analysierbar. Damit kann dieser Exkurs abgebrochen werden. Die Anwendung eines relativ schillernden Implikationsbegriffs zur Definition von Bedeutungsrelationen, in denen Ausdrücke einer natürlichen Sprache zueinander stehen, stellt - wenigstens im Falle der Synonymie - insofern theoretisch keinen nennenswerten Fortschritt dar, als die Beurteilung der Bedeutungsgleichheit von Sätzen lediglich auf die Beurteilung von Implikationsbeziehungen verschoben wird, ohne daß der Beurteiler bei der Beurteilung von Implikationsbeziehungen über sicherere theoretische Kriterien verfügt. 75 2.3.2.4 Die Rolle der Sprachintuition bei der Erstellung lexikalischer Paraphrasen Damit ist für das Verständnis von Wörterbucheinträgen, insbesondere für das von lexikalischen Paraphrasen und das der Synonymierelation klar: Welche Quasi-Experimente mit Sprache oder Sprachtests wir auch immer machen: Eine im strengen Sinne theoretische oder gar formale Entscheidung über die Bedeutungsgleichheit zweier oder mehrerer Wörter oder sonstiger sprachlicher Ausdrücke oder überhaupt über das Vorliegen von Bedeutungsrelationen liefern sie nicht, da sie nicht automatisch, d.h. subjektunabhängig funktionieren. Damit sind wir auf die Sprachintuition, auf die intuitiven Erkenntnisse von Sprechern verwiesen.

73 Vgl. dazu Schnelle (1973, 257). 74 Zu den verschiedenen Analytizitätsbegriffen vgl. Frey (1970, 41 ff.). 75 Über „sichere" Kriterien verfügt der Beurteiler nur dann, wenn es z.B. darum geht, die lexikalischen Relationen innerhalb bestimmter Wortschatzbereiche zu beurteilen, etwa solche, auf die ich mich in Wiegand (1974a-c) beschränkt habe. D.h. zugleich: Das Verfahren, lexikalische Bedeutungsrelationen zwischen Wörtern über die Implikationsbeziehungen von Sätzen zu konstituieren, funktioniert nur in bestimmten Kotexten. Oder anders ausgedrückt: Bei der Beurteilung von Implikationsbeziehungen werden sich die Sprecher nur einigen können, wenn die in den Sätzen verwendeten deskriptiven Ausdrücke aus bestimmten Wortschatzbereichen stammen. In diesem Fall können sie sich allerdings meistens auch gleich darüber einigen, ob die in Frage kommenden Wörter oder Sätze bedeutungsgleich sind oder nicht. Das soll natürlich nicht heißen, daß Implikationsbeziehungen überhaupt nicht geeignet sind, Bedeutungsrelationen festzustellen. Solange die Ko- und Kontextfrage nicht geklärt ist, muß mit einer ganzen Reihe von provisos gearbeitet werden. Ein Begriff wie eingeschränkter Kontext im Sinne von Lyons (eine Art mißglückte Analogie zu logiksprachlichen Texten über einen bestimmten universe of discourse) hilft in dieser Frage nicht weiter.

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Was Searle über deren Rolle in der linguistic philosophy sagt, gilt gleichermaßen für die Lexikographie: „Aber alle sprachphilosophischen Arbeiten, die ich kenne, selbst die Arbeiten der am extremsten behaviouristischen und empiristischen Autoren, vertrauen ebenfalls auf die intuitiven Erkenntnisse des Sprechers. Etwas anderes ist auch kaum vorstellbar. Denn die Forderung, meine intuitive Einsicht zu rechtfertigen, daß Junggeselle' unverheirateter Mann bedeutet, müßte konsequenterweise auch die Forderung einschließen, meine intuitive Einsicht zu rechtfertigen, daß Junggeselle in dem einen Falle dasselbe bedeutet wie in einem anderen. Solche intuitiven Einsichten lassen sich in der Tat rechtfertigen, aber nur, indem auf andere intuitive Einsichten zurückgegriffen wird."76

Die Beurteilung von semantischen Ähnlichkeitsbeziehungen, die Entscheidung zwischen verschiedenen Beurteilungen, die Rekonstruktion von Bedeutungsbeziehungen als Bedeutungsrelationen innerhalb eines theoretischen Konzepts ist unter Kontrolle am belegten Sprachgebrauch - abhängig von der Sprechsituation, Sprach- und damit Weltkenntnis sowie der Weltauffassung des Lexikographen. Das kodifizierte Ergebnis einer solchen Entscheidung ist der Wörterbucheintrag, insbesondere derjenige Teil, den wir lexikalische Paraphrase nennen und als verkürztes, behauptendes Urteil über Bedeutungsbeziehungen aufgefaßt haben. Geurteilt wird über den regelgerechten Sprachgebrauch (innerhalb bestimmter Kon- und Kotexte) in einer vorausgesetzten, inhomogenen Sprachgesellschaft. Wörterbücher können die Welt- und Sprachkenntnis eines Wörterbuchbenutzers erweitern. Sie teilen Erfahrungen u.a. über sprachliche Bedeutungsbeziehungen sprachlich mit; d.h.: Sie können den bereits spracherfahrenen Wörterbuchbenutzer in ihm persönlich neue, aber von vielen anderen bereits gekannte sprachliche Erfahrungszusammenhänge einspielen, insbesondere in konventionalisierte und sprachnormgerechte Gebrauchsweisen der Wörter. Man kann diesen Sachverhalt - bei aller Vorsicht - vielleicht auch so ausdrücken: Da Wörterbucheinträge den Benutzer nur in bereits prinzipiell bekannte sprachliche Erfahrungszusammenhänge einspielen können, sind zwar die lexikalischen Paraphrasen in Wörterbucheinträgen nicht als verkürzte Urteile a posteriori zu qualifizieren; sie können aber für den einzelnen Wörterbuchbenutzer den gleichen Effekt haben wie solche, d.h. die sprachliche Erfahrung von Einzelnen durch eine umfassendere sprachliche Erfahrung erweitern. Die Schreibakte der Lexikographen können auf jeden Fall als sprachliche Akte aufgefaßt werden, die u.a. unter der Intention ausgeführt werden, die Spracherfahrung einzelner Wörterbuchbenutzer zu erweitern. 2.3.2.5 Zur Wahrheit lexikalischer Paraphrasen Damit sind wir wieder bei der Frage der Wahrheit, die bereits in Abschnitt 2.2. angesprochen wurde. Denn eine „wirkliche" Erweiterung der Spracherfahrung, d.h. eine, die den Regeln entspricht, ist nur dann möglich, wenn die Wörter76 Searle (1971, 29).

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bucheinträge „stimmen", d.h., wenn mit .Veterinär' Tierarzt etwas behauptet ist, das der Fall ist, oder wenn (10) wahr ist! Damit taucht nun die Frage auf: Behaupten die Lexikographen, daß die lexikalische Paraphrase .Veterinär' Tierarzt für alle Fälle „stimmt"? Oder behaupten sie sogar etwa, daß der Wörterbuchbenutzer den Sprachgebrauch anhand des Wörterbuches z.B. als „richtig" oder „falsch" beurteilen soll? Oder anders ausgedrückt: Können Wörterbucheinträge, insbesondere die der Form ,Lemma' Wort als Bedeutungsvorschrift aufgefaßt werden, die eventuell beim Übergang zu einer formalen Sprache als Bedeutungspostulat (im Sinne R. Carnaps) zu rekonstruieren wäre?7 Ich möchte diese letzte Frage verneinen; denn Carnaps Begriffsbildung bezieht sich expressis verbis auf logische Sprachen und kann nicht, ohne daß Aporien entstehen auf natürliche übertragen werden.78 Beim Umgang mit Konstruktsprachen sind genaue Vorschriften über die Bedeutungsbeziehungen von konstruktsprachlichen Ausdrücken sicherlich unbedingt erforderlich. Dazu ein elementares Beispiel: BEISPIEL Nr. 5 Nehmen wir an: wir verfugen über eine künstliche Sprache, die als Ausdrücke für die Größerbeziehung, in der natürliche Zahlen zueinander stehen können, folgende zwei Ausdrücke hat: α > β und G {α,β). Dann muß - um die formale und relative Analytizität zu gewährleisten - die Bedeutungsbeziehung zwischen diesen beiden Ausdrücken in einer Bedeutungsvorschrift explizit formuliert werden. Man setzt dann folgendes fest: α > /? G (α,β), wobei der Doppelpfeil „ e s " als „ist intensional isomorph" (im Sinne Carnaps) zu lesen ist.79

Eine solche Bedeutungsvorschrift hat nun den Zweck, als verbindliche Berufsinstanz zu gelten; d.h. beim Gebrauch und der Analyse dieser Kunstsprache muß 77 Vgl. Carnap (1956, 222íf.). Wunderlich (1974, 205) führt aus: „Beim Übergang zu einer konstruierten Sprache können die zwischen je zwei Ausdrücken bestehenden Sinnrelationen z.B. in Form von Bedeutungspostulaten wiedergegeben werden; dies bedeutet, daß hier keine Bedeutungsanal y se mehr geleistet werden soll, sondern daß eine bestimmte Bedeutungsrelation f i x i e r t werden soll und damit als Beschränkung zu gelten hat für alle Interpretationen, bei denen einer der in Relation stehenden Ausdrücke eine Rolle spielt." Diesen Ausführungen kann man prinzipiell zustimmen; zugleich sind sie aber gut geeignet zu verdeutlichen, was der Unterschied einer lexikographischen Kodifikation, einem Wörterbuch im „traditionellen" Sinne und einem Lexikon innerhalb irgendeiner „formalen" Grammatik ist. Auch in einem Wörterbuch werden in den Wörterbucheinträgen Bedeutungsrelationen (= Sinnrelationen) formuliert und damit gibt es Beschränkungen zwischen den Ausdrücken in verschiedenen Wörterbucheinträgen. Aber diese Beschränkungen haben nicht stets zu gelten. Würde man z.B. die verschiedenen Sinnrelationen zwischen je zwei Ausdrücken, die in einem Wörterbuch behauptet sind, in einem Lexikon als Bedeutungspostulate formulieren, dann ist das eben mehr als eine bloße Übersetzung in eine konstruierte Sprache. Der Geltungsanspruch ändert sich; d.h. auch: Ein Wörterbuchbenutzer hat Erwartungen an ein Wörterbuch und ein Lexikon hat Erwartungen an den Lexikonbenutzer! Man könnte sich allerhand politische lehrreiche Anekdoten zu dieser - freilich (bewußt) überspitzten - Formulierung einfallen lassen. 78 Vgl. dazu auch Stetter (1974, 140ff.). 79 Zu diesem Beispiel und weiteren damit zusammenhängenden Fragen vgl. Thiel (1965, 138ff.). Zur intensionalen Isomorphie vgl. Carnap (1956).

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man sich stets auf diese Bedeutungsvorschrift berufen. Sie verneint strikt für alle konstruktsprachlichen Vorkommen einen Bedeutungsunterschied der beiden Ausdrücke. Wörterbucheinträge in Wörterbüchern, die natürliche Sprachen kodifizieren, lassen sich dagegen nicht als verbindliche Berufungsinstanzen auffassen, relativ zu denen Benutzer stets semantisch korrekt und in allen Fällen stets gleich Texte analysieren und verstehen können. Ein Wörterbucheintrag der Form ,Lemma' Wort kann daher auch nicht so verstanden werden, daß er von vornherein strikt jeden möglichen Bedeutungsunterschied in Texten verneint. Die Aufgabe des Lexikographen bzw. seine Schreibakte können auch nicht so aufgefaßt werden: Es wird mit ihnen ein System von Bedeutungsbeschränkungen für alle Fälle festgesetzt. Daher lassen sich Wörterbucheinträge auch nicht als Bedeutungspostulate rekonstruieren.80 Aus diesen Überlegungen ergeben sich nun wenigstens die folgenden drei Feststellungen. (1) Die „Wahrheit der Wörterbucheinträge" ist nicht für jeden, sondern nur für bestimmte Sprachgebräuche gegeben. (2) Der Synonymiebegriff muß kon- und ko textspezifisch sein, d.h. die Synonymierelation ist mehr als zweistellig. (3) Eine Auffassung der Synonymie als Bedeutungsgleichheit erscheint - im Rahmen der Lexikographie - als problematisch.

Damit ist die Richtung der weiteren Argumente angedeutet. 2.3.2.6 Dritte Lesart: Synonymie als Gleichheit von Gebrauchsregeln Wenn Lexikographen in ihren Wörterbucheinträgen über den regelgerechten Sprachgebrauch urteilen, dann muß jetzt gefragt werden, was es eigentlich heißen soll, daß das Wort Tierarzt dem Wörterbuchbenutzer etwas über den Gebrauch81 des als Lemma angesetzten Wortes Veterinär sagt. Gehen wir einmal im Anschluß an Wittgenstein davon aus, daß die Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes die Regeln seines Gebrauchs in derjenigen Sprache sind, zu der dieser Ausdruck gehört.82 Dann ergibt sich für unseren Wörterbucheintrag zunächst einmal folgende, allerdings noch sehr allgemeine dritte Lesart:83 Das Wort Veterinär folgt den gleichen Gebrauchsregeln wie das Wort Tierarzt.

Diese Lesart soll sich von der vorhergehenden nur dadurch unterscheiden, daß explizit auf eine bestimmte Bedeutungsauffassung Bezug genommen wird; es

80 Vgl. dazu Anm. 77. 81 Der Begriff „Gebrauch" ist m.E. bisher nicht sehr klar herausgearbeitet worden. Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in Heringer (1974a). Vgl. auch Lewandowski (1973, Bd. I, 218f.). 82 Zu den entsprechenden Textstellen bei Wittgenstein vgl. Anm. 16. 83 Zur nachfolgenden Behandlung des Beispiels wurde ich durch Keller (1975, 26 ff.) angeregt.

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wird aber weiterhin eine zweistellige Relation ausgedrückt. Sie besagt - aufgefaßt als lexikographische Behauptung - , daß Sprecher des Deutschen uneingeschränkt beim regelgerechten Gebrauch des Wortes Tierarzt den gleichen sprachlichen Regeln folgen wie beim Gebrauch von Veterinär. Ein Verständnis des so aufgefaßten Wörterbucheintrages hängt demnach auch davon ab, ob überhaupt und wenn, wie wir verstehen, was der Begriff „einer Regel folgen" besagt. 84 2.3.2.7

Vierte Lesart: Synonymie als Gleichheit von Bezugsregeln relativ zu Referenzbereichen

Fragen wir nun kurz, ob die Gleichheit der Gebrauchsregeln etwas mit der Gleichheit der Extensionen der Wörter Veterinär und Tierarzt zu tun hat. Der Begriff der Extension spielt u.a. im Zusammenhang der semantischen Interpretation von logischen Sprachen eine wichtige Rolle und ist hier stets dann relativ genau definierbar, wenn man sich über ontologische Fragen geeinigt und insbesondere über den Begriff der Identität einen Konsens hergestellt hat. 85 So kann z.B. innerhalb eines festgesetzten „universe of discourse", einem Bereich von stets als identisch identifizierbaren Entitäten, der die Bedeutungen (im Sinne G. Freges) liefert, die Extensionen einer Prädikatskonstanten mittels einer Interpretationsfunktion eindeutig festgesetzt werden. Der semantisch korrekte Gebrauch dieser Prädikatskonstanten ist dann eine Funktion ihrer festgesetzten Extension. Zwei verschiedene Prädikatskonstanten derselben formalen Sprache werden dann semantisch gleich gebraucht, wenn ihre Extensionen identisch sind. In natürlichen Sprachen ist aber manches totaliter aliter. Mit natürlichen Sprachen können Menschen prinzipiell über alles reden. Eingegrenzte Bereiche anzugeben, über die geredet werden soll oder darf, hieße, eben eine natürliche auf eine bereichsspezifische Sprache zu reduzieren; solche semantischen Reduktionen können z.B. zu Fachsprachen führen. Mit natürlichen Sprachen kann man in einem Zug über ganz verschiedene Bereiche reden: eben noch über die wirkliche Welt, dann über Glaubenswelten, fiktive Welten etc. Dies heißt zugleich, daß die Extension z.B. eines Prädikats der natürlichen Sprache nicht in der gleichen Weise konstant ist; eine Konstanz ist allenfalls ko- und kontextspezifisch feststellbar, d.h. natürlichsprachliche Prädikate können als variable Konstante 87 auf84 Auf die Diskussion dieses Begriffs kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Dummett (1959). Interessante Bemerkungen dazu neuerdings bei Habermas (1975). 85 Zum Begriff der Extension vgl. z.B. Kubczak (1975), Immler (1973). 86 Vgl. dazu z.B. Mates (1965). 87 Essler (1972, 36 f.) führt aus: „Nicht alle Ausdrücke der Alltagssprache werden stets (oder fast stets) in ein und derselben Weise gedeutet, nicht alle werden konstant interpretiert (oder vergleichsweise konstant interpretiert); [...] Die Alltagssprache enthält daher Ausdrücke, die nicht von vornherein für einen bestimmten Gegenstand, für eine bestimmte Eigenschaft usw. stehen, deren Interpretation je nach Kontext und Situation beliebig festgelegt werden kann, die variabel interpretiert werden. Beispiele für derartige variabel interpretierte Ausdrücke

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gefaßt werden. Der semantisch korrekte Gebrauch eines natürlichsprachlichen Prädikats ist daher keine Funktion nur einer festgesetzten Extension. Zwei Beispiele sollen nun illustrieren, was gemeint ist. BEISPIEL Nr. 6 Der Graf von Monte Christo sagt: Jch habe vergangene Nacht von einem Land geträumt, in dem Veterinäre keine Tierärzte sind."

Relativ zur (oder: in der) Traumwelt des Grafen sind die Extensionen von Veterinär und Tierarzt nicht gleich, sondern disjunkt; deshalb ist z.B. die Existenzaussage Es gibt einen Veterinär, der kein Tierarzt ist in der Traumwelt des Grafen gültig, während die gleiche Existenzaussage hinsichtlich der realen Welt, in der wir leben, wahrscheinlich kaum als gültig erwiesen werden kann. In einer sprachlichen Wiedergabe seines Traumes z.B. kann dann der Graf mit den Worten Veterinär und Tierarzt ganz anders referieren. Man wird in einem solchen Falle aber einerseits nicht argumentieren, daß der Graf die beiden Wörter semantisch nicht regelgerecht gebraucht, wenn bekannt ist, daß er über einen Traum spricht; andererseits aber wird man nicht sagen wollen, daß der Wörterbucheintrag ,Veterinär' Tierarzt semantisch inkorrekt sei. Die kurze Betrachtung des Beispiels Nr. 6 gibt uns demnach einen weiteren Hinweis darauf, daß eine lexikalische Paraphrase in einem Wörterbucheintrag r e l a t i v zu ... geschrieben wird und demnach kein lexikographisches Urteil über jeden beliebigen Gebrauch des Lemmas darstellt. BEISPIEL Nr. 7 Man kann gute Gründe dafür angeben, daß die Wörter Pisse, Urin und Harn die gleiche Extension haben. Was wird man aber zu folgendem Sprachgebrauch sagen? Der Chefarzt eines Krankenhauses ruft seiner Laborantin in der Gegenwart seiner Privatpatientin zu: ,Jst die Pisse der gnädigen Frau schon untersucht?"

sind „das Ding", „der Gegenstand", „das Objekt" usw., wie sie in „Das Ding ist rot" und „Der Gegenstand ist schwerer als jener Tisch" verwendet werden. [...] Dieser Vorzug der Alltagssprachen wird in die Modellsprachen übernommen. Die deskriptiven Ausdrücke werden deshalb in Konstanten und Variablen unterschieden, je nachdem, ob sie für konstante Interpretationen oder für variable (für wechselnde) Interpretationen vorgesehen sind. Die Festlegung des Vokabulars ist hierbei von der Art, daß stets eindeutig entschieden werden kann, ob ein deskriptiver Ausdruck eine Konstante oder eine Variable ist, im Gegensatz zu den Wörterverzeichnissen der Alltagssprachen, bei denen das nicht immer ohne Willkürakte möglich ist." Worauf Essler hier aber nicht eingeht, sind eben die interessanteren Vorzüge der Alltagssprache. Sehen wir einmal davon ab, was die Redeweise „[...] ohne Willkürakte [...]" besagen soll: Es scheint mir klar zu sein, daß es ein besonderer Vorzug der Alltagssprache ist, daß gerade nicht stets entschieden werden kann, ob es sich um eine Konstante oder eine Variable handelt. Die meisten Wörter der natürlichen Sprache sind lexikalisch polysem, oder anders ausgedrückt: sie unterliegen auch in usuellen Kotexten unterschiedlichen Bezugsregeln. Im Wörterbuch erscheinen sie daher als variable Konstante. Ein gutes Beispiel ist der Wörterbucheintrag für Magazin (vgl. Anm. 9). Auch in Texten sind häufig viele deskriptive Ausdrücke nicht wie Konstanten behandelt, sogar dann nicht, wenn man nur die Darstellungsfunktion und usuelle Texte berücksichtigt.

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Offensichtlich hat der Arzt die Gebrauchsregeln des Wortes Urin auf das Wort Pisse angewendet. Man sollte ihm den „Wahrig" empfehlen, denn der warnt seine Benutzer vor solchem Gebrauch, indem er hinter das Lemma ,Pisse' den zusätzlichen Gebrauchshinweis [vulgär] setzt.88 Dieses Beispiel zeigt nun, daß - auch ohne daß Traumwelten bemüht werden müssen - die Gebrauchsregeln zwar in einem Zusammenhang mit der Extension von sprachlichen Ausdrücken gesehen werden müssen, nicht aber als Funktion nur der Extension aufgefaßt werden können. Wir lassen den Begriff der Extension nun beiseite und sprechen statt dessen von Referenzbereichen, Referenzobjekten, Referenz- und Prädikationsregeln und fassen letztere als zwei untereinander disjunkte Subklassen der semantischen Gebrauchsregeln auf. An zwei Beispielsätzen sei erläutert, was mit der Unterscheidung von Referenz- und Prädikationsregeln gemeint ist.89 (21) (22)

Der Veterinär hustet. Herr Müller ist ein Veterinär.

Wird (21) geäußert, ist Veterinär referierend gebraucht, d.h. es wird identifizierend auf ein Referenzobjekt verwiesen. Wird (22) geäußert, ist Veterinär prädizierend gebraucht, d.h. intensional ausgedrückt: Herrn Müller wird die Eigenschaft zugesprochen, ein Veterinär zu sein; oder extensional formuliert: Herr Müller wird als Veterinär klassifiziert. Um nachfolgend einfacher reden zu können, benutze ich für Referenz- und Prädikationsregeln als übergeordneten Ausdruck Bezugsregeln. Nach diesen Zwischenüberlegungen können wir nun die dritte Lesart unseres Wörterbucheintrages derart zu einer vierten umformulieren, daß eine dreistellige Relation ausgedrückt wird, so daß sie lautet: Das Wort Veterinär folgt relativ zu dem Referenzbereich „Realität, in der wir leben", den gleichen Bezugsregeln wie das Wort Tierarzt. Diese Behauptung über den Gebrauch unserer beiden Wörter kann an zahlreichen Beispielen überprüft werden. Hier nun das folgende: BEISPIEL Nr. 8 Paul hat einen Furunkel am Hals, wird von seinem Hausarzt, also einem Humanmediziner, behandelt, und dieser tut ihm dabei schrecklich weh. Paul ruft: ,Au, Sie sind ja der reinste Tierarzt!" (oder auch: „AM, Sie Tierarzt!") Paul hätte aber auch äußern können: „AM, Sie sind ja der reinste Veterinär!" (oder auch: „AU, Sie Veterinär!"). Er hätte dann das gleiche gemeint.

Beispiele, in denen Sprecher die beiden Wörter derart verwenden, sind demnach - so scheint es - nicht in der Lage, unsere Behauptung zu falsifizieren.

88 Eine systematische Analyse solcher Gebrauchshinweise in einsprachigen Wörterbüchern fehlt noch. Bemerkungen dazu bei Rossipal (1973). 89 Vgl. dazu Keller (1975). In Wiegand (1973, 84) habe ich „Referenzregel" wie hier „Bezugsregel" verwendet. Angesichts eines guten Dutzend verschiedener Referenzbegriffe ist das wenig zweckmäßig.

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2.3.2.8 Unterscheidung von usuellen und nichtusuellen Kotexten Anhand des Beispiels Nr. 8 läßt sich eine Unterscheidung einführen, von der ich glaube, daß sie für Lexikographen sehr nützlich ist, und die wir später noch benötigen. Wir können zwischen usuellen und nichtusuellen Kotexten unterscheiden, indem wir die Unterscheidung von sagen und meinen im Sinne von H. P. Grice aufgreifen, ohne auf Einzelheiten einzugehen.90 Gehen wir davon aus, daß ein sprachlicher Ausdruck etwas bedeutet und ein Sprecher S diesen Ausdruck A verwendet, um jemandem etwas zu sagen, und gehen wir weiter davon aus, daß S, indem er A sagt, etwas meint, dann ist das, was S sagt, nicht notwendig identisch mit dem, was er meint. Nichtusuelle Kotexte91 sind nun solche, mit denen jemand etwas anderes sagt als er meint. Das Beispiel Nr. 8 ist in diesem Sinne ein nichtusueller Kotext, denn Paul sagt hier etwas anderes als er meint. Er sagt von seinem Hausarzt zwar, er sei ein Tierarzt, aber er meint offensichtlich nicht, daß sein Hausarzt zur Klasse der Tierärzte zu rechnen ist, vielmehr meint er etwa: „Sie sind aber ganz schön grob". Oder anders ausgedrückt: Paul implikatiert (als Übers, des Grice' sehen implicate * imply)92 die Proposition, daß der Mediziner ganz schön grob ist, weil er sie ausdrückt, ohne sie („wörtlich") zu sagen. - Das Beispiel Nr. 8 zeigt überdies, daß es nichtusuelle Kotexte gibt, in denen „Synonyme" wie Veterinär und Tierarzt austauschbar sind, ohne daß sich die Bedeutung ändert. Usuelle Kotexte dagegen sind solche, mit denen jemand sagt, was er meint. Dazu folgendes Beispiel BEISPIEL Nr. 9 Nehmen wir an: Herr Müller ist Tierarzt und hat Herrn Schmitt angerufen. Dann kann Herr Schmitt zu seiner Frau sagen: ,JDer Tierarzt Müller hat eben angerufen". Dies ist ein usueller Kotext. Herr Schmitt hat gesagt, was er gemeint hat. Er hätte aber dasselbe gemeint, wenn er gesagt hätte: ,J)er Veterinär Müller hat eben angerufen." Auch hier sind demnach Tierarzt und Veterinär austauschbar.

Aus diesen beiden Beispielen scheint nun zu folgen, daß wir unsere letzte Lesart für den Wörterbucheintrag nicht durch eine Kotextangabe spezifizieren müssen. Wir kommen jedoch auf diesen Punkt sogleich zurück.

90 Vgl. dazu Grice (1957, 1968 u. 1969). 91 Mit den Ausdrücken Text, Kotext, Kontext bin ich bisher liberal umgegangen. Nur einige Bemerkungen zum Gebrauch in diesem Beitrag. Ein Kotext ist eine Klasse von sprachlichen Texten. Für ein Element aus dieser Klasse, also einen bestimmten Text, sage ich hier im allgemeinen ebenfalls Kotext, um damit anzudeuten, daß es mir in der Argumentation um die Klasse geht. Natürlich ist klar, daß niemand eine Klasse von Texten äußert, wenn er eine Äußerung macht. Die Unterscheidung Ko- vs. Kontext bezieht sich - wie in der neueren Literatur geläufig - auf den Unterschied sprachlich vs. nichtsprachlich. 92 Die Übersetzung von implicate nach Keller (1975, 24).

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2.3.2.9 Fünfte Lesart: Synonymie als Gleichheit von Bezugsregeln relativ zu Referenzbereichen und in usuellen Kotexten Wir fragen daher nun: Sind Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Wort - auch wenn das vom Lexikographen nicht explizit gesagt ist - nicht doch nur relativ zu bestimmten Kotexten behauptet? Um dieser Frage nachzugehen, wenden wir uns nun den folgenden zwei Beispielen zu: BEISPIEL Nr. 10 Peter wird gefragt: „Wie war's denn im Krankenhaus?" Er antwortet: Eigentlich recht erfreulich; das Essen und auch die Pflege waren prima, aber: Ein Krankenhaus ist eben ein Krankenhaus." Hätte Peter auch gleichbedeutend antworten können: „Ein Krankenhaus ist eben ein Hospital"?

Ich habe hier absichtlich eine Frage formuliert, weil ich mir nicht so sicher bin, ob die beiden (geäußerten) Sätze als bedeutungsgleich zu beurteilen sind oder nicht. Ich neige intuitiv dazu, dies eher zu verneinen und kann dafür folgende Gründe angeben: Es geht offensichtlich Peter nicht darum, die Identität eines Krankenhauses mit sich selbst zu behaupten. Denn diese Identität war ja im vorliegenden Kon- und Kotext gar nicht fraglich. Die Frage war vielmehr: „Wie war's denn im Krankenhaus?" Es führt hier wohl auch nicht weiter, wenn wir annehmen, daß Peter einen Satz äußern wollte, der aus logischen Gründen gültig ist, auch wenn er es ist. Wir müssen daher den Schluß ziehen, daß Peter etwas anderes gesagt hat als er gemeint hat, es sich also bei dem fraglichen Satz um einen nichtusuellen Kotext handelt, in dem - im Unterschied zum Beispiel Nr. 8 die „Synonyme" Krankenhaus und Hospital nicht austauschbar sind. Was aber hat nun Peter gemeint? Wahrscheinlich etwa folgendes: Relativ zu möglichen Verhältnissen in Krankenhäusern war sein Krankenhausaufenthalt eigentlich recht erfreulich, weil nämlich z.B. das Essen und die Pflege gut waren. Relativ zu möglichen Verhältnissen außerhalb von Krankenhäusern was es aber dann doch nicht so erfreulich. Denn: Ein Krankenhaus ist eben ein Krankenhaus. Eine solche intuitive Analyse des Gemeinten, die sich systematisieren ließe, sagt demnach, daß Peter seinen Gesprächspartner zu einem Vergleich auf der Basis von dessen Kenntnissen veranlassen will, und zwar indem er selbst einen unausgesprochenen und daher impliziten Vergleich macht. Hätte er aber dasselbe kommunikativ erreichen und meinen können, wenn er gesagt hätte: „Ein Krankenhaus ist eben ein Hospital"? Ich glaube nicht! 93 Denn er hätte mit diesem Satz wohl die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners

93 Noch schwieriger scheint mir eine Beurteilung zu sein, wenn die Antwort gelautet hätte: ,£in Hospital ist eben ein Krankenhaus". Das muß m.E. damit zusammenhängen, daß hier das durchsichtigere Wort Krankenhaus prädizierend gebraucht ist, und diese Durchsichtigkeit [Haus für Kranke] eher den Blick auf das Gemeinte freigibt. Ich habe den Eindruck, daß bei der Beurteilung der Bedeutungsgleichheit der drei in Frage kommenden Sätze das Prädikat den Ausschlag gibt. Zum Begriff der Durchsichtigkeit vgl. Gauger (1971).

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie

163

mehr auf die Frage gelenkt, welcher Unterschied denn eigentlich zwischen Krankenhäusern und Hospitalen besteht, also genau auf die Frage der Identität, demnach auf etwas, was gar nicht fraglich war, und was er wohl daher nicht gemeint hat. Folgendes Beispiel hat wieder direkten Bezug auf unseren Wörterbucheintrag. BEISPIEL Nr. 11 Tierarzt Schreiber verabschiedet sich von Marianne mit den Worten: ,Machen Sie's gut! Und übrigens: Gegen Ihre Grippe hilft nur so eine richtige Pferdekur!" Marianne antwortet daraufhin lachend: ,J)anke für den Tip. Ein Tierarzt bleibt eben ein Tierarzt!" Wir können entsprechend fragen: Hätte Marianne auch gleichbedeutend antworten können: „Ein Tierarzt bleibt eben ein Veterinär" oder: „£ϊη Veterinär bleibt eben ein Tierarzt"?

Der Austausch der beiden Wörter ergibt auch in diesem Beispiel - nach meiner intuitiven Beurteilung - bedeutungsverschiedene Kotexte. Zur Interpretation des Beispiels nur eine Bemerkung. Auffallend ist, daß die beiden (möglichen) Antworten, in denen das durchsichtige Wort Tierarzt prädizierend gebraucht wird, intuitiv eher als gleichbedeutend beurteilt werden. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, daß mit oder in der Durchsichtigkeit des Wortes Tierarzt wenigstens ein Teil desjenigen, was Marianne gemeint, aber nicht gesagt hat, zum Ausdruck kommt, nämlich, daß Tierarzt Schreiber - sei sein Tip nun ironisch, ernst oder sonstwie aufzufassen - sich mit seiner Äußerung eben als Arzt für Tiere (und nicht einer für Menschen) erweist. 94 Es scheint mir nun möglich, aus diesen Beispielen - auch wenn ihre Analyse keineswegs hinreichend ist - zu folgen, daß es zumindest sicherer ist, die vierte Lesart des Wörterbucheintrages doch um eine Kotextspezifik zu ergänzen, so daß sie eine vierstellige Relation zum Ausdruck bringt und lautet: Das Wort Veterinär folgt relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben", wenn es in usuellen Kotexten steht, den gleichen Bezugsregeln wie das Wort Tierarzt. Für Lexikographen muß übrigens gelten, daß sie die lexikalischen Paraphrasen der Lemmata in einsprachigen Wörterbüchern nur hinsichtlich usueller Kotexte formulieren. Alles andere wäre eine Überforderung möglicher Praxis. 95 Das zeigt deutlich folgendes Beispiel: BEISPIEL Nr. 12 Matthias sitzt mit seinem Vater bei den Mathematikhausaufgaben. Matthias ist unkonzentriert, kaut auf seinem Bleistift herum und der Vater ist nervös, weil der Sohn nun schon zum dritten

94 Wie sich solche Beobachtungen generalisieren und erklären lassen, übersehe ich allerdings noch nicht genau. 95 Die Unterscheidung usuelle vs. nichtusuelle Kotexte kann m.E. auch für die Behandlung von Redewendungen in einsprachigen Wörterbüchern von Nutzen sein. So steht bei Wahrig unter dem Lemma ,Tier' ... u.a. „sie ist ein .gutes Tier' sie ist gutmütig und ein bißchen dumm". Vergleicht man diese lexikalische Paraphrase mit der für ,Tier' (vgl. das Beispiel Nr. 14), dann sieht man leicht, daß die gegebene Unterscheidung bei der Analyse hilfreich sein kann.

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Mal die Element- mit der Teilmengenbeziehung verwechselt. Er fahrt Matthias an: nun nimm doch endlich diesen Kaugummi aus dem Mund undpaß besser auf!"96

,Jierrgott,

2.3.2.10 Synonymie und Bedeutungsgleichheit Bisher haben wir den Relationsausdruck ist synonym mit verstanden als „ist bedeutungsgleich mit". Diese Interpretation haben wir bisher unbefragt gelassen, wollen daher jetzt fragen, ob sie überhaupt gerechtfertigt ist. Wir hatten ja u.a. schon im letzten Abschnitt bemerkt, daß eine Austauschbarkeit, ohne die Bedeutung zu ändern, in gewissen nichtusuellen Kotexten nicht möglich erscheint; d.h.: Es gibt Fälle, in denen die Wörter Veterinär und Tierarzt unserem starken Gleichheitskriterium nicht genügen. Die Frage ist nun, ob es weitere überzeugende und generalisierbare Fälle gibt. Betrachten wir daraufhin folgende Sätze: (23) (24) (25)

Tierärzte sind Tierärzte. Veterinäre sind Tierärzte. Tierärzte sind Veterinäre.

Satz (23) hat mit dem fraglichen Satz in Beispiel Nr. 11 gemeinsam, daß Tierarzt sowohl referierend als auch prädizierend gebraucht wird. Die Ersetzung führt zu den Sätzen (24) und (25), die eventuell untereinander, nicht aber jeder für sich mit (23) bedeutungsgleich sind. Denn (23) ist als Identitätsaussage aus logischen Gründen gültig, d.h. tautologisch oder a priori wahr und vermittelt niemandem eine neue (empirische) Erkenntnis oder Erfahrung. (24) und (25) dagegen sind aus (sprach-) empirischen Gründen gültig, d.h. können als Identitätsaussagen erst erkannt werden, wenn man etwas über die Bedeutungsbeziehung von Veterinär zu Tierarzt weiß, können außerdem einzelnen eine für diese neue Erkenntnis vermitteln und daher wie synthetische Urteile a posteriori wirken. 97 Bei der Beurteilung der Beispiele Nr. 10 und 11 waren wir nicht ganz sicher; als Falsifikation der Gleichheitsauffassung wollen wir sie daher nicht ohne weiteres gelten lassen. Für die Sätze (23), (24) und (25) kann nun aber argumentiert werden, daß das Gleichheitskriterium modifiziert werden muß, und zwar wie folgt: Kommt in einem Kotext ein Wort mehr als einmal vor, dann ist es in allen seinen Vorkommen zu ersetzen. Mit dieser Zusatzbedingung erhält man das folgende Satzpaar: (23) (26)

Tierärzte sind Tierärzte. Veterinäre sind Veterinäre.

Nun sind (23) und (26) bedeutungsgleich. Lassen wir die Zusatzbedingung auch für die Substitution in den fraglichen Sätzen unserer Beispiele Nr. 10 und 11 zu, entstehen auch hier nur jeweils bedeutungsgleiche Sätze. Unser Vorgehen zeigt im übrigen nun deutlich, daß die Auffassung, welche Ausdrücke synonym sind

96 Beispiel nach Wiegand (1973, 84). 97 Unter synthetischen Urteilen a posteriori von Erfahrung erweitern.

verstehe ich hier solche, die Erfahrung aufgrund

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie

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oder nicht - wenn Austauschbarkeit als Rahmenkriterium herangezogen wird von den einzelnen Austauschbedingungen abhängt. Werden diese geändert, ändert sich auch die Extension des Begriffes der (substitutiven) Synonymie. 98 So ergibt sich hier erst nach der Einführung der Zusatzbedingung deutlich, daß Veterinär und Tierarzt als bedeutungsgleich aufzufassen sind. Wir können aber weitere Beispiele finden, die zeigen, daß die Auffassung der Synonymität als Bedeutungsgleichheit problematisch ist, z.B. folgende Sätze: (27) (28)

Tierarzt beginnt mit dem Buchstaben T. Veterinär beginnt mit dem Buchstaben T.

Offensichtlich sind (27) und (28) nicht bedeutungsgleich. Gegen diese Beispielsätze, in denen sowohl Tierarzt als auch Veterinär weder referierend noch prädizierend gebraucht werden, wird man auf der Basis der Unterscheidung zwischen dem Gebrauch (use) und der Erwähnung (mention) eines sprachlichen Ausdrukkes oder unter Hinweis auf die Begriffe Objekt- vs. Metasprache opponieren. Es scheint mir jedoch keine stichhaltigen Argumente auf der Basis dieser Unterscheidungen gegen Sätze (27) und (28) als Beispiele gegen die Auffassung der Synonymität als Bedeutungsgleichheit zu geben. Wollten wir nämlich z.B. unser Gleichheitskriterium - gerade schon einmal in Analogie zu einer Variablenersetzungsvorschrift in formalen Sprachen verändert - jetzt auch noch um die weitere Bedingung verschärfen, daß Kotexte wie (27) und (28), in denen also die fraglichen Wörter Veterinär und Tierarzt erwähnt werden, auszuschließen sind, dann hätten wir allerdings ein Gleichheitskriterium konstituiert, das von vornherein natürlichen Sprachen und ihrer Verwendung in alltäglichen Kommunikationssituationen nicht angemessen wäre. Denn diese sind semantisch geschlossen und besitzen die Eigenschaft der Selbstreflexivität," die soweit ausgeprägt ist, daß wir keineswegs nur - wie in (27) und (28) mit den eigens dafür vorgesehenen Ausdrücken wie beispielsweise Sprache, Wort, Satz, und Buchstabe auf sie Bezug nehmen können, wie folgendes Beispiel zeigt:

98 Neben dem sprachtheoretischen Ansatz ist es daher das Kriterium der Austauschbarkeit, (das freilich nicht unabhängig von diesem Ansatz ist, aber auch nicht vollständig determiniert), das bzw. dessen unterschiedliche Fassung die Ursache dafür ist, daß die Anzahl der Synonymiedefinitionen so umfangreich ist. 99 Ausdruck der semantischen Geschlossenheit (im Sinne Tarskis; daß manche die Lexik einer Einzelsprache als sog. offenes System im Unterschied zu einem geschlossenen System der Phonologie auffassen, steht dazu nicht im Widerspruch) innerhalb der einsprachigen Wörterbücher ist der sog. lexikographische Zirkel; aus diesem kommt man auch nicht heraus, wenn man die Bedeutungserklärungen der Lemmata in den Status der Metasprache erhebt. Im Gegenteil: Eine der interessantesten Besonderheiten der lexikographischen Praxis besteht gerade darin, daß die „Bedeutungserklärung", unter Ausnutzung der Eigenschaft der Selbstreflexivität, im einsprachigen alphabetischen Wörterbuch in der g l e i c h e n S p r a c h e erfolgt; anderenfalls könnten lexikalische Paraphrasen ihre Aufgabe nicht erfüllen.

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BEISPIEL Nr. 13 Thomas kommt mit Vaters Wagen aus der Werkstatt. Es ergibt sich folgender Dialog: Thomas: „Du, auf der Rechnung steht: ,4 Reifen entspeikt - 76 DM'." Vater: ,Ja, sauteuer!" Thomas: Vater:

,ßabei

Thomas: Vater: Thomas: Vater: Thomas: Vater: Thomas: Vater:

„Was heißt hier ,Na und? '. Das ist doch falsch!" „Wieso eigentlich?" ,Ja, weil das Englisch ist!" ,J-!ast du denn nicht verstanden, was gemeint ist?" ,J)umme Frage, natürlich!" ,Ja, dann ist doch das falsche ,ei' nicht so wichtig." ,JDas hab ' ich doch auch gar nicht gemeint." ,Ja, was denn sonst?"

Thomas:

,J)as ist doch klar. Teure Rechnungen können die machen, aber richtig schreiben können sie nicht. Typisch!" ,Ach so, jetzt verstehe ich. Für dich ist das ,ei' ein Vergehen, so 'ne Art Wertmaßstab für den Meister."

Vater:

schreiben und?"

die,entspeikt'

mit ,ei'."

In alltäglichen Dialogen erwähnen wir ständig sprachliche Ausdrücke unserer Sprache. Es scheint mir daher nicht angemessen zu sein zu argumentieren, die Dialogpartner wechselten, wenn sie Ausdrücke erwähnen, in eine anderer Sprache über. Wir müssen daher Kotexte wie (27) und (28) zulassen. Denn es wäre eine nicht angemessene Orientierung an den Bedingungen formaler Sprachen, Kotexte mit der Erwähnung von sprachlichen Ausdrücken dann nicht zuzulassen, wenn es darum geht, ein semantisches Gleichheitskriterium für verwendete Ausdrücke aus natürlichen Sprachen zu konstituieren. Aus diesen Überlegungen ergibt sich: Beispiele wie (27) und (28) sind zwar nicht geeignet, unsere fünfte Lesart erneut zu verändern, da in ihnen sowohl Veterinär als auch Tierarzt weder referierend noch prädizierend gebraucht werden; sie legen aber doch die Folgerung nahe, ein Verständnis wenigstens des zweistelligen Relationsausdruckes ist synonym mit als „ist bedeutungsgleich mit" abzulehnen. 2.3.3

Sechste Lesart: Synonymie als Ähnlichkeit von Gebrauchsregeln bei Gleichheit von Bezugsregeln

Unsere fünfte Lesart für Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Wort drückt durch die Berücksichtigung einer Kotextspezifik und eines, auf einen bestimmten Referenzbereich spezifizierten Sachbezuges eine vierstellige Relation aus. Die Gleichheit der Bezugsregeln ist damit nicht auf alle, sondern auf bestimmte Verwendungen bzw. bestimmte Verwendungsmöglichkeiten hin ausgesagt. Das bedeutet: Es handelt sich um eine Auffassung von beschränkter Bedeutungsgleichheit. In einer Behauptung wie Veterinär ist synonym mit Tierarzt mit zweistelligem Prädikat kann dieses - in unserem Argumentationsrahmen - nur als „ist bedeutungsähnlich mit" aufgefaßt werden. Die Beschränkung der Gleichheit führt zur Auffassung der Ähnlichkeit und diese - da ein Begriff von Ähnlichkeit

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie

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nur definiert werden kann, wenn im Definiens der Begriff der Gleichheit erneut auftaucht - zur erneuten Behauptung einer Gleichheit, und zwar der von Bezugsregeln hinsichtlich usueller Kotexte und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben". Die Frage ist nun, ob die damit ausgedrückte Beschränkung der absoluten Gleichheit hinreichend ist, oder anders ausgedrückt, ob in der Behauptung Veterinär ist synonym mit Tierarzt in usuellen Kotexten und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben" ist synonym mit als „ist bedeutungsgleich mit" verstanden werden kann. Diese Frage ist zu verneinen. Denn in unserem Argumentationsrahmen hieße das, daß die Bedeutungsgleichheit zweier Ausdrücke mit der Gleichheit ihrer Bezugsregeln identifiziert werden müßte. Daraus ergäbe sich dann, daß die Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes seine Bezugsregeln in derjenigen Sprache wären, zu der dieser Ausdruck gehört. Nun hatten wir aber die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks als seine Gebrauchsregeln aufgefaßt und die Bezugsregeln als eine Subklasse der Gebrauchsregeln. Daraus entstehen nun eine Reihe von Fragen, z.B. folgende: Sind hinsichtlich usueller Kotexte und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben" alle Gebrauchsregeln von Veterinär und Tierarzt gleich? Folgen die beiden Wörter stets den gleichen stilistischen Regeln? Werden sie von allen Berufsgruppen gleich gebraucht? Diese Fragen können verneint werden, weil es zahlreiche Stil-, sozial, areal und wertungsbedingte Unterschiede im Gebrauch von Veterinär und Tierarzt gibt, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. 100 Das bedeutet: Es kann auch in usuellen Kotexten und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben" nicht von gleichem Gebrauch schlechthin gesprochen werden. Daher sei eine letzte Lesart unseres Wörterbucheintrages ,Veterinär' Tierarzt vorgeschlagen: Die Wörter Veterinär und Tierarzt folgen, wenn sie in usuellen Kotexten gebraucht werden, ähnlichen Gebrauchs- aber gleichen Bezugsregeln. Wir können daher folgenden - auf die einsprachige Lexikographie zugeschnittenen - Synonymiebegriff definieren: Zwei Wörter A und Β einer Sprache L sind lexikalisch synonym genau dann, wenn hinsichtlich usueller Kotexte und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben" die Gebrauchsregeln derart ähnlich sind, daß die Bezugsregeln gleich sind. 10 '

100 Vgl. dazu folgende Literatur: Schmaltz (1904), Hobstetter (1911), Reichelt (1965), Kuntze (1967), Widdra (1967). 101 Auch Müller (1965, 92) begreift Wortsynonymie als Bedeutungsähnlichkeit und ko(n)textrelativen Begriff; er definiert: „Unter einem Synonym verstehen wir ein Wort, das in einem bestimmten kontextualen Zusammenhang trotz gewisser inhaltlicher und stilistischer Nuancen für ein anderes stehen, d.h. mit ihm ausgetauscht werden kann. Diese Austauschbarkeit besteht jedoch nicht im Hinblick auf völlige inhaltliche Identität, sondern nur im Hinblick auf den festen Bezugspunkt im Text". - Auch Gauger (1961, 173) faßt Synonymie als Bedeutungsähnlichkeit. - In Wiegand (*1970, 340) habe ich - ausgehend von und in Auseinander-

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In diesem Fall kann A für Β und Β für A als lexikalische Paraphrase stehen. Ein Wörterbuchbenutzer, der Sprecher von L ist, kann dann aus A den regelgerechten Gebrauch von Β (und umgekehrt den von A aus B) für usuelle Kotexte und relativ zum Referenzbereich „Realität, in der wir leben" folgern. 2.3.4 Bedeutungserklärungen aus einem Wort und Regelformulierungen Wenn wir die Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes als seine Gebrauchsregeln aufgefaßt haben, müssen wir aus diesem Ansatz folgende Konsequenz ziehen: Wenn die Bedeutung des Lemmas .Veterinär' Gebrauchsregeln sein sollen und wenn Tierarzt eine Bedeutungserklärung oder lexikalische Paraphrase für ,Veterinär' sein soll, die funktioniert, dann muß Tierarzt e r s t e n s eine - zumindest verkürzte - Regelformulierung oder z w e i t e n s ein gleichwertig funktionierender Ersatz für eine solche sein.102 Betrachten wir zunächst die erste Möglichkeit! Dann ergibt sich für Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Wort, ausgedrückt als Satzform: y formuliert die Gebrauchsregeln für x, wobei die Ausdrükke, die für * eingesetzt werden können, keiner speziellen „Regelformulierungssprache" angehören, 103 sondern der gleichen Sprache wie die Lemmata. Nun läßt sich ein Wort wie z.B. Tierarzt nur schwer als Verkürzung etwa folgender vollständiger Regelformulierung auffassen: Wenn du, Wörterbuchbenutzer, mit dem Wort Veterinär regelhaft referieren und prädizieren willst, dann mußt du es in usuellen Kotexten und relativ zum Referenzbereich „Realität ..." wie das Wort Tierarzt gebrauchen. Schon der eben als „vollständige Regelformulierung" bezeichnete Wenn-dann-Satz formuliert oder beschreibt ja nicht direkt eine Re-

setzung mit Heger - folgende Synonymiedefinition gegeben: „Synonymie liegt vor, wenn (1) onomasiologisch nachgewiesen werden kann, daß zwei oder mehrere lexikalische Sígneme ein- und desselben Sprachsystems ein- und dasselbe Noem enthalten und wenn (2) komplementär semasiologisch nachgewiesen werden kann, daß dieselben lexikalischen Sígneme untereinander darstellungsfunktional in freier Distribution und somit symptom- und/oder signalfunktional in Opposition stehen." Diese Definition steht zu der hier gegebenen keineswegs im Widerspruch; sie ist lediglich in einem anderen theoretischen Rahmen gegeben und legt mehr Wert auf Systematisierungsmöglichkeiten intuitiver Urteile über die Synonymie. Der Begriff ist allerdings nicht kotextrelativ. Dafür ist er sprachsystemspezifisch, d.h. in beiden Definitionen wird von der Notwendigkeit ausgegangen, Synonymie relativ zu ... zu definieren. Synonymie wird in beiden Definitionen als Bedeutungsähnlichkeit aufgefaßt. - Im übrigen kann man wohl Welte (1974, Bd. II, 510) in folgender Ansicht zustimmen: „Die Existenz einer [...] Synonymie im Sinne einer ,Bedeutungsgleichheit' ist (für das System einer natürlichen Sprache) weiterhin umstritten und wird heute im allgemeinen als widerlegt betrachtet". 102 Auf die zweite Möglichkeit hat mich Keller mündlich aufmerksam gemacht. Vgl. auch Keller (1975, 29). 103 Eine spezielle Regelformulierungssprache kann man z.B. in einem fachsprachlichen Wörterbuch einführen.

Synonymie und ihre Bedeutung in der einsprachigen Lexikographie

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gel, 104 sondern nur indirekt, indem er auf ein anderes Wort und dessen Gebrauch verweist. Es scheint mir daher zweckmäßiger, für die zweite Möglichkeit zu plädieren und die lexikalische Paraphrase Tierarzt als funktionierenden Ersatz für eine Regelformulierung aufzufassen. Mit ihr wird der Wörterbuchbenutzer vom Lexikographen aufgefordert, von dem als bekannt vorausgesetzten referierenden und prädizierenden Gebrauch der Wortes Tierarzt auf den Gebrauch des Wortes Veterinär - nach unserer Darstellung - in usuellen Kotexten und relativ zum Referenzbereich „Realität..." zu schließen. So gesehen können also Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Wort nicht nur als Behauptungen über die Bedeutungsrelationen, sondern auch als Aufforderungen zum regelgerechten Sprachgebrauch aufgefaßt werden.

3

Analyse der lexikographischen Praxis II. Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Syntagma und ,Lemma' Satz

Die bisher vertretenen Auffassungen lassen sich auch auf Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Syntagma und ,Lemma' Satz ausweiten. Dazu folgen nun einige Bemerkungen. 105 3.1

Die Austauschbarkeit salva veritate in Testsätzen und die Identifikation der Referenzobjekte für die Lemmata

Wir gehen von folgendem Wörterbucheintrag aus: BEISPIEL Nr. 14 ,Tier' Lebewesen, das sich von organischen Stoffen nährt und sich bewegen und auf Reize reagieren kann.

Ich brauche wohl nicht explizit darauf einzugehen, daß in den allermeisten Fällen eine Austauschbarkeit zwischen einem Lemma und dem bedeutungserklärenden Syntagma oder Satz, derart, daß bedeutungsgleiche Kotexte entstehen, nicht möglich ist.106 Es ist jedoch eine Austauschbarkeit salva veritate, d.h. derart möglich, daß logisch äquivalente Sätze z.B. folgender Form entstehen: (29) (30)

Jedes ζ ist ein x. Jedes ζ ist ein y.

104 Regel beschreiben bzw. Regelbeschreibung und Regel formulieren bzw. Regelformulierung verwende ich in diesem Beitrag bedeutungsgleich; (das ist kein Widerspruch zu dem WelteZitat in Anm. 101, da es sich hier ja nicht um natürliche, sondern um Fachsprache handelt). 105 Ich rede hier von „Bemerkungen", da das folgende aus Platzgründen weniger ausgearbeitet ist als der Teil I. 106 Vgl. z.B. Lyons (1971, 461 f.). Es handelt sich also im folgenden nicht mehr um substitutive Synonymie.

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Dabei sind: „z" eine Variable für (nicht näher spezifizierte) sprachliche Ausdrücke, „x" eine für Lemmata und „y" eine für lexikalische Paraphrasen. Angewandt auf unser Beispiel Nr. 14 ergibt sich zunächst: (31) (32)

Jedes ζ ist ein Tier. Jedes ζ ist ein Lebewesen, das sich von organischen Stoffen nährt und sich bewegen und auf Reize reagieren kann.

Dabei gilt nun, daß die Satzformen (29) und (30) stets Sätze liefern, die in der alltäglichen Kommunikation gebraucht werden können, während die Satzformen (31) und (32) Sätze liefern, die als oder in Texten in Funktion kaum - es sei denn als lexikalische Paraphrase - auftreten. 107 Sätze der Form (32) nenne ich daher Testsätze. Diese sind für den Lexikographen, nicht für den Wörterbuchbenutzer von Bedeutung. Aus (31) und (32) entstehen z.B. folgende Sätze: (33) (34)

Jede Maus ist ein Tier. Jede Maus ist ein Lebewesen, das sich von organischen Stoffen nährt und sich und auf Reize reagieren kann.

bewegen

Für (33) und (34) gilt nun nicht nur, daß (33) genau dann wahr ist, wenn (34) wahr ist und umgekehrt, sondern darüber hinaus, daß sowohl (33) als auch (34) genau dasjenige Referenzobjekt bzw. diejenige Klasse oder Teilklasse von Referenzobjekten identifizieren, auf die jemand in usuellen Kotexten das Wort Tier referierend oder prädizierend anwenden kann, wenn er über den Referenzbereich „Realität..." spricht. 3.2

Lexikalische Paraphrasen der Form Syntagma oder Satz als verkürzte Regelformulierungen

Zu fragen ist nun, wie Wörterbucheinträge der Form ,Lemma' Syntagma oder ,Lemma' Satz verstanden werden können. Für das Beispiel Nr. 14 kann folgende Lesart vorgeschlagen werden: Wenn χ ein Gegenstand aus dem Referenzbereich „Realität ..." und ein Lebewesen ist und wenn χ sich von organischen Stoffen nährt und wenn χ sich bewegen kann und wenn χ auf Reize reagieren kann, dann ist in usuellen Kotexten das Wort Tier auf diesen Gegenstand regelhaft referierend und prädizierend beziehbar. 108

107 In dem Moment, in dem ein Wörterbuchbenutzer lexikalische Paraphrasen liest, um die Bedeutung eines Lemmas zu erfahren, ist ein Wörterbucheintrag auch ein Text in Funktion. 108 In einem anderen sprachtheoretischen Rahmen würde man sagen: Tier hat das Merkmal (eventuell das Noem, das Sem) >LebewesenLebewesenSeitengewehr

Die Hinweise für die Benutzung müssen nun folgendermaßen ergänzt werden: (viii)

Das Zeichen => vor einer eckigen Klammer [ ] besagt, daß das in der eckigen Klammer recte gesetzte Wort den nächsthöheren Oberbegriff zu dem Wort ausgedrückt, das unmittelbar vorher mit dem Rechtspfeil markiert ist (oder: ein Superonym zu dem Wort ist, das ...)

Mit \VbE4 ist wiederum die Generalisierungssituation abgedeckt. Durch den doppelten Rechtspfeil ist \VbE4 für den Wörterbuchbenutzer mit WbEi verknüpft, das bedeutet, daß die Verweisung über zwei oder mehrere Stufen einer lexikalischen Hierarchie ohne weiteren Aufwand möglich ist. D.h.: Der in \VbE4 abgebildete Strang einer lexikalischen Teilhierarchie (Th3), nämlich:

Stoßwaffe

=*-Th,

3. Stufe A

2. Stufe

LEMMA:

,Bajonett'

der lexikal. Teilhierarchie

1. Stufe

ist mit Thi und dadurch mit Th2 verknüpft, so daß ein Wörterbuchbenutzer, der bei ,Bajonett' nachschlägt, systematisch weitergeleitet wird und so in die Struktur der lexikalischen Hierarchie Einblick erhält. Wir folgen nun der Zeichenfolge «—[ ] in WbEi, bezogen auf Dolch, mithin « - [ , Dolch, ]. Im Wahrig-DW (1968) steht beim Lemma ,Dolch' folgende sog. Bedeutungserklärung: kurze, meist zweischneidige Stichwaffe und folgende Ergänzung dazu: [... vielleicht beeinflußt von lat. dolo „Stockdegen, Stilett"]. 34 Damit ist zugleich klar, daß Th, in der oben abgebildeten Form nicht vollständig korrekt ist, denn Bajonett ist nun nach WbE 4 ein lexikalisches Hyponym zu Seitengewehr und muß somit in Thj eine Hierarchiestufe niedriger angesetzt werden. Man erkennt daran, daß das vorgeschlagene Verfahren erlaubt, bei der sukzessiven Ausarbeitung von WbE¡ zu Lemmata eines Wortschatzbereiches bereits gemachte lexikalische Paraphrasen systematisch zu korrigieren, so daß die lexikalisch-semantische Struktur eines Wortschatzbereiches möglichst genau abgebildet werden kann. Dabei entsteht - im Falle eines interdisziplinären Wörterbuches - stets die Problematik, welche und wieviele fachsprachliche Wörter berücksichtigt werden sollen, denn die verschiedenen Fachsprachen bilden sehr häufig zu standardsprachlichen Wörtern lexikalische Hyponyme, weil sie bestimmte Gegenstandsbereiche begrifflich weitergehend differenzieren. Ein gutes Beispiel ist die Terminologie zum Begriff der Säge; vgl. dazu DIN 2331.

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

191

Umformuliert sieht der Eintrag so aus: WbE s :,Dolch' kurze, meist zweischneidige

—»Stichwaffe | «—[Stilett, ...].

\VbE5 bildet folgenden Strang einer dreistufigen lexikalischen Teilhierarchie (Tht) in lexikographischer Anordnung ab: I Stichwaffe

•Th,

t Su/H LEMMA:

,Dolch'

t Su/H i Stilett

TI14 ist für den Wörterbuchbenutzer mit Thi durch —•Stichwaffe sowie mit Th2 und Th3 verknüpft. Ich breche hier ab. Es dürfte exemplarisch deutlich geworden sein, daß das vorgeschlagene System in der Lage ist, dem Wörterbuchbenutzer die lexikalischsemantische Struktur im Bereich aller in das Wörterbuch aufgenommenen Waffenbezeichnungen zugänglich zu machen, und zwar nicht zufällig, sondern explizit und systematisch und darüber hinaus, daß die Benutzungssituationen der Generalisierung, der Spezifizierung und der Nuancierung stets abgedeckt sind. Fragen wir nun: Können bei Lemmata, die im Wörterbuch als lexikalisch polysem ausgewiesen sind, im Rahmen des vorgeschlagenen Verfahrens prinzipielle Probleme auftreten? Im Wahrig-DW (1968) findet man folgenden Eintrag: .Gewehr' Handfeuerwaffe mit langem Lauf ζ Jägerspr.> Hauer (des Keilers);

.Gewehr' wird demnach als zweifach polysem angegeben. Demgemäß gibt es zwei lexikalische Paraphrasen zum Lemma .Gewehr'. Die sog. Bedeutungserklärung zum fachsprachlichen Gebrauch von ,Gewehr' ist erstens ziemlich unvollständig, und zweitens wird sie einfach durch ein fachsprachliches Synonym gegeben, nämlich Hauer, was die runde Klammer aussagt, wird nirgends hinreichend erläutert; sie scheint auch überflüssig zu sein, denn Hauer hat nur der Keiler. Ich schreibe nun diesen Eintrag so um: WbE 6 :.Gewehr' —•Handfeuerwaffe =>[Schußwaffe] mit langem unterer Eckzahn des Keilers | « Hauer « Waffe.

Lauf | «—[Karabiner,

...].

Für die „Hinweise zur Benutzung" ergibt sich die Notwendigkeit, daß der Skopus aller in der Zeichenerklärung eingeführten Zeichen für den Fall, daß fachsprachliche Bedeutungen auftreten (oder: für den fachsprachlichen Gebrauch)

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klargestellt werden muß. Am Beispiel von WbEö erläutert, bedeutet das, daß für das Zeichen „»" festgelegt sein muß: der Skopus von „»" reicht bis zur spitzen Klammer < >, in der hier Jägerspr. steht. Damit wird sichergestellt, daß die lexikalische Synonymie nur gilt für .Gewehr' , d.h. für einen spezifischen Gebrauch von ,Gewehr' in der Jägersprache und für Hauer und Waffe, die ja ihrerseits unter dem Skopus des Eintrages stehen. Es macht keinerlei Schwierigkeiten, dies auf alle Α-Sprache, d.h. auf alle Einträge , wobei „A" über allen in das Wörterbuch aufgenommenen Fachsprachen läuft, sowie auf alle anderen erklärten Zeichen verallgemeinert in einer leicht verständlichen Benutzungsangabe zu verdeutlichen. Wir folgen nun . . . » Hauer in WbEö. Im Wahrig-DW (1968) findet man unter dem Lemma ,Hauer' folgendes: unterer Eckzahn des Keilers\ Winzer = Häuer. Unter dem Lemma ,Häuer' steht die sog. Bedeutungserklärung: Bergmann, der vor Ort arbeitet [zu hauen].

Ich schreibe dies so um: WbE 7 :,Hauer' « Waffe « Gewehr; —»Bergmann, der vor Ort arbeitet Häuer « Winzer.

| »

Wir folgen nun « Waffe in WbE 7 . Im Wahrig-DW (1968) finden wir unter dem Lemma ,Waffe' nach folgendes: Klaue (bei Luchs u. Wildkatze); Kralle (der Raubvögel); Eckzahn (des Keilers).

Hier nun steht wieder (Eckzahn des Keilers); nebenbei bemerkt ist das nun falsch, denn die oberen Eckzähne des Keilers werden in der Jägersprache Haderer genannt. Wiederum umgeschrieben, ergibt sich der folgende Eintrag: WbE8: .Waffe' [...] Klaue beim Luchs u. der Wildkatze; Kralle der Raubvögel » Gewehr » Hauer.

|

Durch WbEfi, WbE 7 und WbEs wird nun folgende lexikalisch-semantische Struktur in lexikographischer Anordnung explizit abgebildet, die die lexikalischsemantische Ineinanderschachtelung von fach-, regional- und standardsprachlichem Wortschatz ausschnittweise und relativ deutlich zeigt und dem Wörterbuchbenutzer ausdrücklich zugänglich gemacht ist:

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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(Standardspr.)

(Jägerspr.) Waffe

Waffe P/U P/U

[Klaue bei Luchs u. Wildkatze] * [Kralle der Raubvögel]

H/Su Schußwaffe H/Su

Sy

Handfeuerwaffe ± H/Su Gewehr ±

Gewehr

H/Su

Sy

nr Hauer

Winzer Sy Häuer

Karabiner (oberdt.)

Bergmann H/Su

(Bgb.)

Hauer t

Ergänzt man diese schematische Strukturabbildung durch die in den Wörterbucheinträgen WbEj bis WbEj in lexikographischer Anordnung ausgedrückten lexikalisch-semantischen Strukturen, ergibt sich folgende schematische Darstellung eines Teils der in unserem „Mini-Wörterbuch" aus 8 Wörterbucheinträgen abgebildeten Strukturen:

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Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12. 1977, 59-149

Wir vergleichen nun die nachfolgend aufgeführten lexikalischen Paraphrasen aus WbEi bis WbEg, und zwar: -

.Stoßwaffe': Waffe zum Stechen, die stoßend geführt wird .Waffe': Gerät zum Kämpfen .Bajonett': an der Seite getragenes auf den Gewehrlauf aufsteckbares .Dolch': kurze, meist zweischneidige Stichwaffe

Seitengewehr

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von W ö r t e r b u c h e i n t r ä g e n

-

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.Gewehr': Handfeuerwaffe mit langem Lauf ,Hauer': Bergmann, der vor Ort arbeitet

Es handelt sich in allen Fällen um Wörterbucheinträge der Form: ,SubstantivLemma' Syntagma.35 Jede lexikalische Paraphrase ist ein Syntagma, in dem das (oder: ein) lexikalische(s) Superonym zum Lemma vorkommt. Jede lexikalische Paraphrase ist so formuliert, daß der Wörterbuchbenutzer mit dem jeweiligen Lemma in usuellen Texten, relativ zum Referenzbereich „Realität, für die das Wörterbuch konzipiert ist", regelgerecht referieren und prädizieren kann bzw. eine in einem Text vorgenommene Referenz oder Prädikation erkennen kann. 36 Jedes Lemma und jedes Syntagma stehen in der Relation der lexikographischen Synonymie, die nicht mit der Relation der lexikalischen Synonymie verwechselt werden darf. 37 Von welcher syntaktischen Form die Syntagma-Paraphrasen sind, spielt dabei eine zunächst untergeordnete Rolle. Man sollte für ein Wörterbuch alle möglichen, d.h. syntaktisch regelgerecht geformten Paraphrasen zulassen, damit dem Wörterbuchbenutzer, der unter semantisch-pragmatischem Interesse ein einsprachiges Wörterbuch benutzt, zugleich am sprachlichen Beispiel möglichst viele syntaktische Strukturen begegnen, und er sie eventuell lernen kann. Aufgrund dieser Überlegungen möchte ich in einer vierten These folgendes behaupten: 4. T H E S E : Wenigstens alle Substantiv-, Adjektiv- und Verb-Lemmata, die in lexikalischen Hierarchien stehen, lassen sich mit dem vorgeschlagenen Paraphrasentyp lexikographisch erläutern und mit dem exemplarisch vorgeschlagenen Verfahren für Typen von Wörterbucheinträgen in ihren semantischen Beziehungen systematisch darstellen. Zugleich werden damit die Typen von Benutzungssituationen, die Generalisierung, Spezifizierung und Nuancierung genannt wurden, vollständig abgedeckt.

Damit sind nun einige Vorschläge zu einem Konzept gemacht, wie es in der 2. These gefordert wurde. Es sei hier nur erwähnt, daß sich auch für Lemmata, die nicht in lexikalischen Hierarchien stehen, verschiedene Typen von Wörterbucheinträgen entwickeln lassen.38 Ausdrücklich und mit Nachdruck sei festgestellt, daß sich bestimmte Wörter nicht dazu eignen, einfach lexikalisch paraphrasiert zu werden; beispielsweise solche Wörter wie: Freiheit, Gerechtigkeit, Faschismus, Kapitalismus, Bürger, Revolution, Radikalenerlaß etc. Sollen solche Wörter nicht vorder-

35 Zu dieser T e r m i n o l o g i e vgl. W i e g a n d (*1976, 1 6 1 , A n m . 9). 36 Zu dieser Terminologie vgl. unten Abschnitt 6. 37 Dazu vgl. W i e g a n d (*1976, 158ff.). 38 M a n kann z.B. u.a. die partitive Relation (Teil-von-Rel.) berücksichtigen, wenn es u m solche Wörter geht wie beispielsweise Kopf, Ohr, Auge, Mund, Lippe u.a. oder Arm, Hand, Finger, Daumen. In der T a t paraphrasieren alle aufgeführten W ö r t e r b ü c h e r implizit unter Berücksichtigung dieser Relation. Beispiele: Im Köster-LdS steht: .Finger' [ . . . ] eines der fünf beweglichen Glieder der Hand [...]. - Im M a c k e n s e n - 4 D W steht: .Finger' [ . . . ] Greifglied der Hand [...]. - Im W a h r i g - D W (1968) findet sich: . D a u m e n ' [ . . . ] stärkster Finger der Hand [ . . . ] oder: .Lippe' [...] fleischiger Rand des menschlichen Mundes [...].

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Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12. 1977, 5 9 - 1 4 9

gründig, einseitig und implizit ideologisch erläutert werden, muß textdokumentativ und historisch erläuternd verfahren werden.39 Das bedeutet zugleich: Man muß endlich davon abgehen, daß alle Lemmata in einem einsprachigen Wörterbuch stur - und ohne lexikographisches Verantwortungsbewußtsein - nach dem gleichen Schema behandelt werden. Prüfen wir nun, ob das oben anhand von WbEi bis WbEg vorgeschlagene Verfahren auch der in der 3. These aufgestellten Forderung nach Integration von semasiologischen und onomasiologischen Verfahren und Darstellungsweisen wenigstens ansatzweise gerecht werden kann. Um dies nachfolgend - notwendigerweise verkürzt - zu zeigen, bediene ich mich der Terminologie der neueren, strukturell orientierten Semasiologie/Onomasiologie.40 Betrachten wir zunächst das semasiologische Prinzip: Lexikologische Operationen, die von der Signifikantenstruktur einzelsprachlicher Sígneme ausgehen, um zu einer nachvollziehbaren kompetenzgestützten Beschreibung der internsemantischen Struktur des zugehörigen Signifikats zu kommen, heißen autonom semasiologisch. Sie konstituieren operational semasiologische Paradigmen, innerhalb derer verschiedene semantische Relationen wie Polysemie, Homonymie, Multisemie und einige mehr konstatiert werden können. In dem im hier vorliegenden Beitrag vorgeschlagenen Verfahren zeigt sich die Konstitution eines semasiologischen Paradigmas implizit einfach in zweierlei: erstens in der Anzahl der lexikalischen Paraphrasen und zweitens in deren sprachlicher Formulierung. Ich gebe ein einfaches Beispiel. Im Wahrig-DW (1968) finden sich folgende zwei Einträge: .Futter1 ' Nahrung der Tiere, bes. der Haustiere (Grünr, Mast-, V o g e l s , ) ; ,Futter 2 ' dünne Stoffeinlage, innere Stoffschicht in Kleidungsstücken (Mantel v, Seiden-?, Pelzr); innere Schicht, Auskleidung eines Behälters = Füllung (z.B. einer Tür) Vorrichtung zum Einspannen, Festhalten von Werkstücken in Maschinen (Spann?-)

Ich schreibe diese Einträge so um: WbE 9 : .Futter' —•Nahrung der Tiere', «— [Grün-:-, Mast-?, Vogel-?, ...], in Kleidungsstücken innen angebrachter —»Bezug; «^Mantel·?, Seiden-r, Pelz-?, ...]; in Behältern innen angebrachter -*Bezug\ ~ Auskleidung 1) vorkommen, für die die folgenden Bedingungen gelten: a) Sie müssen zur Anzahl derjenigen Prädikate gehören, die auf denjenigen Gegenstand zutreffen, auf den mit χ semantisch regelgerecht Bezug genommen werden kann. b) Sie müssen aus der Anzahl der auf den Gegenstand zutreffenden Prädikate derart ausgewählt sein, daß der Fragende aus Y die Bedeutung von χ relativ zum vorliegenden Text erschließen kann. 2. Fall:. Fragetyp·. Was heißt (bedeutet) ein x? Hierbei ist „x" eine Variable für einen erwähnten sprachlichen Ausdruck, dessen Bedeutung in einem vorliegenden Text dem Frager unbekannt ist. Antworttyp·, χ heißt (bedeutet), daß Y. Hierbei ist „x" eine Variable für einen erwähnten sprachlichen Ausdruck, dessen Bedeutung dem Frager in einem vorliegenden Text unbekannt, dem Antwortenden dagegen bekannt ist. Y ist eine Variable für ein syntaktisch regelgerechtes Syntagma, in dem η Prädikate (n > 1) vorkommen, für die folgende Bedingungen gelten: a) und b) wie oben.

Wir haben damit anhand eines Beispiel einen bestimmten Zusammenhang herausgestellt, von dem ich glaube, daß er für die einsprachige Lexikographie von Interesse ist. Die Behandlung des Beispiels zeigt nämlich, daß die Gesprächspartner weit davon entfernt sind, zwischen sprachlichen Ausdrücken, deren Be-

so Ein Beispiel sagt natürlich zu wenig aus und erlaubt keine Verallgemeinerungen; es ist aber nur eins aus einer größeren Sammlung solcher Beispiele für Gespräche, in denen Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke fraglich werden. Aus dieser Sammlung geht im übrigen hervor, daß es einige weitere Fragetypen mit der grammatischen Kategorie, zu der der erfragte Ausdruck gezählt werden kann, in einem theoretisch interessanten Zusammenhang stehen. 51 Den Bereich der Variablen „x" muß ich offen lassen, denn es ist mir derzeit noch nicht ausreichend klar, nach welchen syntaktischen Typen von Ausdrücken mit diesem Fragetyp gefragt werden kann. Nach Substantiven, Adjektiven, Verben sicherlich! Je nach syntaktischer Struktur und Position, in der diese auftreten, gibt es erhebliche Unterschiede (und bei der Sammlung des Materials erhebliche Überraschungen).

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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deutung fraglich ist, und den in Frage kommenden Gegenständen eine strikte Trennungslinie zu ziehen. Nach meinen Beobachtungen werden in Gesprächen, in denen über die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gesprochen wird, Sprache und Welt nicht strikt getrennt. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, daß z.B. A und Β nicht in der Lage wären, zwischen dem Wort weben und dem Weben jederzeit eine deutliche Unterscheidung zu treffen. Ich kenne A und Β genau und weiß, daß sie das können! Wer aber z.B. zwischen dem Wort Stuhl und Stühlen nicht ernsthaft unterscheiden kann, ist krank, denn er gehört - wie die Schizophrenieforschung gezeigt hat - zu einer bestimmten Klasse von Schizophrenen. 2 Es besteht aber keine Notwendigkeit, das, was man deutlich unterscheiden kann, auch strikt zu trennen.53 Was anhand des 7. Beispiels gesagt wurde, ist nun m.E. auch relevant, wenn es darum geht, dem Wörterbuchbenutzer z.B. die Bedeutung eines Lemmas zu erläutern. Auch bei dieser lexikographischen Tätigkeit ist eine strikte Trennung zwischen Wort und Gegenstand weder stets möglich noch überhaupt wünschenswert. Wenn stets über etwas sprachlich kommuniziert wird, dann will der Wörterbuchbenutzer auch erfahren, worauf mit einem Lemma Bezug genommen werden kann. Dies gilt wenigstens für die Lemmata, die zu bestimmten Wortklassen gehören. Daher ist es m.E. zu einseitig, wenn die Bedeutungserläuterungen in einsprachigen Wörterbüchern lediglich als lexikographische Definitionen aufgefaßt werden, 54 in denen die Bedeutung(en) des Lemmas oder das Lemma definiert werden, ganz abgesehen davon, daß der Terminus Definition einen unangemessenen Anspruch wenigstens suggeriert, auch dann, wenn von diesen Definitionen zusätzlich das Prädikat lexikographisch prädiziert wird. Durch den Ausdruck Definition geraten die sprachlichen Handlungen der Lexikographen, die sie beim Erstellen von Bedeutungserläuterungen ausführen, in einen wissenschaftlichen Kontext, der nicht nur - wie unten gezeigt wird - auf diese Handlungen in nicht vertretbarer Weise einwirkt, sondern auch kaum zu ihnen paßt. Lexikographen sind keine Definitionsmaschinen, wenigstens dann nicht, wenn sie einsprachige Wörterbücher einer Standardsprache schreiben, und Wörterbücher sind keine „Definitionsspeicher". 55 Wörterbücher sind vielmehr die Ergebnisse zahlreicher Schreibakte von Lexikographen. In den Wörterbüchern werden - in traditionell verkürzter Form - Aussagen (Behauptungen, Feststellungen) über die kodifizierte Sprache und stets auch über Gegenstände - in dem oben angesprochenen Sinn - gemacht. Es werden Aufforderungen gegeben, die Sprache in einer bestimmten Weise zu gebrauchen, indem Gebrauchsregeln formuliert 52 Vgl. z.B. Nöth (1976, 5f.). 53 Ich habe allerdings den Eindruck, daß es in einigen neueren Sprachtheorien gerade darum geht, zwischen Sprache und Welt strikt zu trennen. Das führt u.a. auch dazu, daß die zugehörige Semantik meistens eigentlich nur eine Art Faktenverdoppelung ist. 54 Literatur zur lexikographischen Definition bei Wiegand/Wolski (1976, 5.22.17.4.). 55 Vgl. Anm. 5.

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werden, Vorschläge gemacht, Vergleiche gezogen, andere Wörter gezeigt, die genau so gebraucht werden und manches andere mehr. Alles dies geschieht auf der gleichen Sprachstufe. Es führt zu kaum übersehbaren und unnötigen theoretischen Komplikationen, wenn man die Bedeutungserklärungen als metasprachliche Paraphrasen 56 auffaßt, ganz abgesehen davon, daß man dann voraussetzen muß, daß die Wörterbuchbenutzer die benutzte sog. Metasprache kennen müssen, wenn sie die semantischen Erläuterungen verstehen sollen. Es ist auch wenig zweckmäßig von Bedeutungs-Erklärung zu sprechen. Zwar ist nichts dagegen einzuwenden, wenn in der alltäglichen Kommunikation davon gesprochen wird, daß einer einem anderen die Bedeutung eines Wortes erklärt. Im wissenschaftlichen Kontext rückt der Ausdruck Bedeutungserklärung die lexikalischen Paraphrasen in die Nähe des bzw. der wissenschaftlichen Erklärungsbegriffe. Keine Paraphrase ist aber im Sinne irgendeines dieser Erklärungsbegriffe eine Erklärung. Ähnliches gilt für den Ausdruck Bedeutungsbeschreibung. Durch ihn kann suggeriert werden, Paraphrasen seien stets rein deskriptiv oder gar „objektiv" ohne präskriptive oder intuitive Komponenten, oder nicht von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben. Ich spreche daher von Bedeutungserläuterungen, Bedeutung erläutern etc. Der Lexikograph erläutert dem Wörterbuchbenutzer die Bedeutung z.B. eines Lemmas relativ zu einer bestimmten Textklasse und bezüglich der Welt, die im Wörterbuch vorausgesetzt ist, und das von einem bestimmten Standpunkt aus. Wie in den bisherigen Ausführungen bereits angeklungen, ist es für die einsprachige Lexikographie m.E. am zweckmäßigsten, wenn sie davon ausgeht, daß Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes die Regeln seines Gebrauchs (nicht: der Gebrauch) in derjenigen Sprache sind, zu der dieser Ausdruck gehört. Dann lassen sich die meisten Bedeutungserläuterungen als Regelformulierungen 57 für den jeweils erläuterten sprachlichen Ausdruck, z.B. für ein Lemma, auffassen. Dabei wird in diesen Regelformulierungen stets dann auf das Bezug genommen, worüber mit dem erläuternden sprachlichen Ausdruck in bestimmten Texten regelgerecht Bezug genommen werden kann, wenn es sich bei dem erläuterten Ausdruck um einen solchen handelt, mit dem überhaupt Bezug genommen werden kann. Damit wird einsichtig, daß die Lexikographen wie Β im 7. Beispiel verfahren, nämlich: Indem sie die Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes erläutern, d.h. die semantischen Regeln des Gebrauchs formulieren, nehmen sie Bezug auf das, worauf sich der Wörterbuchbenutzer mit dem erläuterten sprachlichen Ausdruck regelgerecht beziehen kann, d.h.: Sie nennen ausgewählte Beschaffenheiten des Gegenstandes. Ich möchte dies nun an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Man betrachte folgende Aussagen:

56 Diese Ansicht vertritt Henne (1972, 114ff.). 57 Zum Begriff der Regelformulierung vgl. Keller (1974).

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen (1) (2) (3) (4) (5)

Ein Ein Ein Ein Ein

Rappe Rappe Rappe Rappe Rappe

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ist ein schwarzes Pferd. ist ein Tier mit vier Beinen. ist ein Säugetier. ist ein Rappe. hat Nüstern.

Wir stellen zwei Fragen: Haben solche Aussagen etwas mit lexikalischen Paraphrasen zu tun? Warum ist (1) einer brauchbaren lexikalischen Paraphrase am ähnlichsten und nicht z.B. (5)? In fast allen Wörterbüchern findet man folgenden Eintrag: ,Rappe' schwarzes Pferd. Nun ist es naheliegend, den Eintrag als eine Verkürzung von (1) aufzufassen, eine Verkürzung gemäß der lexikographischen Formulierungstraditionen. (1) läßt sich auffassen als (la) Jeder Rappe ist ein schwarzes Pferd, mithin als Allaussage. Daher kann der Wörterbucheintrag so aufgefaßt werden: Jedem Rappen werden zwei Eigenschaften zugesprochen, erstens, daß er ein Pferd ist und zweitens, daß er schwarz ist. Das bedeutet: In der lexikographischen Paraphrase liegen zwei Prädikationen über Rappen vor, die in dem komplexen Prädikat schwarzes Pferd zusammengefaßt sind. Obwohl die lexikographische Paraphrase etwas über Rappen sagt, ist sie natürlich nicht gemacht, um nur etwas über Rappen zu sagen, sondern deswegen, um die lexikalische Bedeutung des Lemmas ,Rappe' dem Wörterbuchbenutzer zu erläutern. Genau dies wird mit der Paraphrase auch erreicht, und zwar dadurch, daß aus der Anzahl von Eigenschaften, die Rappen mit Anspruch auf Gültigkeit zugesprochen werden können, diejenigen genannt werden, die es dem Wörterbuchbenutzer ermöglichen, die semantischen Regeln des Gebrauchs des Lemmas zu erschließen. Die lexikalische Paraphrase ist damit die Formulierung der Bezugsregeln (= Referenz- und Prädikationsregeln), insofern sie zum Ausdruck bringt: Immer wenn ein Gegenstand χ die Eigenschaft hat, ein Pferd zu sein und wenn χ zugleich die Eigenschaft hat, schwarz zu sein, dann kannst du, Wörterbuchbenutzer, mit dem Wort Rappe auf χ Bezug nehmen (und zwar entweder auf χ mit Rappe referieren oder von χ Rappe prädizieren). Hätte der Eintrag gelautet: ,Rappe' Säugetier, dann ließe sich der regelgerechte Gebrauch von Rappe nicht erschließen, obwohl Rappen Säugetiere sind. Es könnte dann vorkommen, daß der Wörterbuchbenutzer mit Rappe z.B. auf Löwen Bezug nimmt. Darüber hinaus wird in dem Eintrag ,Rappe' schwarzes Pferd über die lexikalisch semantische Struktur des Wortschatzes eine Behauptung gemacht. Behauptet wird u.a., daß bestimmte Bedeutungsrelationen vorliegen, nämlich, daß Rappe - so wie es paraphrasiert ist - ein lexikalisches Hyponym zu Pferd ist, und umgekehrt Pferd ein lexikalisches Superonym zu Rappe. Für den Wörterbuchbenutzer heißt das: Wenn er auf einen Gegenstand y mit Rappe regelgerecht Bezug nimmt, dann kann er, wenn er generalisieren will, auch mit Pferd auf dieses χ regelgerecht Bezug nehmen. Und wenn er auf einen Gegenstand mit Pferd regelgerecht Bezug genommen hat, dann kann er, wenn er spezifizieren will,

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dann mit Rappe auf χ regelgerecht Bezug nehmen, wenn dies auch mit schwarz regelgerecht möglich ist. Sehen wir uns folgendes Beispiel an: 8. Beispiel Der Vater von Matthias tritt aus der Haustür. Auf dem Hof steht sein schwarzhaariger Sohn Matthias und hat sich mit Schnüren vor einen Leiterwagen gespannt. Er sieht seinen Vater und ruft ihm zu: „Guck mal, Papa, ich spiel' Pferd." Der Vater ruft zurück: „Prima! Trab mal an mir vorbei, du Rappe!" 58

Man sieht: Unsere obigen Ausführungen treffen auf das 8. Beispiel nicht zu. Denn hier wird von einem Gegenstand x, der ein Junge ist, prädiziert, daß er ein Rappe ist, obwohl er kein schwarzes Pferd ist. Das Beispiel zeigt nun, daß alle lexikalischen Paraphrasen relativ zu einer bestimmten Klasse von Texten formuliert werden, nämlich der der usuellen Texte. Das sind solche, in denen einer sagt, was er meint, wobei sagen und meinen im Sinne von Grice gebraucht sind, 59 mithin: Wenn ein sprachlicher Ausdruck A etwas bedeutet und wenn ein Sprecher S A gebraucht, um jemandem etwas zu sagen, und wenn S, indem er A sagt, etwas meint, dann ist das, was er sagt, nicht notwendig identisch mit dem, was er meint. Nichtusuelle Texte sind dagegen solche, in denen jemand etwas anders sagt als er meint. Das 8. Beispiel enthält einen nichtusuellen Text. Der Vater bezieht sich auf Matthias mit „du Rappe", d.h.: Er sagt (wörtlich), daß Matthias ein Rappe ist, aber er meint nicht, daß Matthias zur Pferdeklasse der Rappen gehört, mithin ein schwarzes Pferd ist. Der Vater durchbricht hier die usuellen Bezugsregeln für Rappe (= die Bezugsregeln für Rappe relativ zu usuellen Texten), weil die Situation das erlaubt, ohne daß Mißverständnisse möglich sind. Diese nichtusuellen Text können vom Wörterbuchschreiber nicht berücksichtigt werden; relativ zu ihnen kann ein Lemma zwar paraphrasiert werden, eine solche lexikalische Paraphrase wäre aber keine Bedeutungserläuterung, d.h. keine Formulierung der Regel des Gebrauchs, sondern eine eines situationsspezifischen Gebrauchs. Betrachten wir ein weiteres Beispiel: 9. Beispiel A: (1) „Wie macht sich denn der Neue in eurer Klasse?" B: (2) „Wie man's nimmt. Er ist so 'ne Art Hecht im Karpfenteich."

Der zweite Satz in (2) ist ein nichtusueller Text. Denn Β sagt zwar u.a., daß der Neue ein Hecht im Karpfenteich ist, aber er meint wohl nicht, daß der Neue ein Fisch ist, der im Karpfenteich herumschwimmt, sondern etwa, daß der Neue anders ist als die anderen in der Klasse und für Aufregung, Bewegung etc. sorgt.

58 Vgl. Wiegand (1973, 83 ff.). 59 Vgl. dazu Grice; zum Begriff to say u.a. Grice (1968b); zum Begriff to mean: Grice (1957, 1968a, 1969).

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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Die Redeweise von Β ist nicht ausschließlich durch die Situation bedingt, denn Β gebraucht die Redewendung Hecht im Karpfenteich sein so, wie sie auch in anderen Gesprächen gebraucht wird. Solche Texte, in denen Redewendungen gebraucht werden, können vom Lexikographen berücksichtigt werden, obwohl in ihnen etwas anderes gesagt wird als gemeint ist, denn das, was gemeint ist, ist die Bedeutung der Redewendung, d.h. eine Redewendung kann als lexikalisierte Einheit gelten und ist nicht nur relativ zu spezifischen Situationen paraphrasierbar. Damit haben wir das Minimum eines theoretischen Rahmens skizziert, innerhalb dessen wir nun praktisch argumentieren können.

6

Fachsprachen im einsprachigen Wörterbuch: Kritik und Vorschläge

Im folgenden gehe ich von dem Befund aus, daß in allen modernen, einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen neben den standardsprachlichen Gebrauchsweisen auch fachsprachliche in einem Wörterbuchartikel „erklärt" werden. 60 Wir kennen dazu bereits einige Beispiele; ich erinnere an die Lemmata .Futter' und 60 Das Ausmaß der Berücksichtigung von Fachwortschätzen ist allerdings in den verschiedenen Wörterbüchern sehr unterschiedlich. Mit Abstand am ausführlichsten werden sie im DudenGWB (man beachte die Bandzahl!) berücksichtigt; insgesamt 184 „Fach- und Sondersprachen" (16f.) werden dort - von Akustik bis Zoologie - alphabetisch aufgelistet. Häufig fehlen allerdings fachsprachliche Bedeutungen zu aufgenommenen Lemmata, obwohl sie zu den berücksichtigten Fachsprachen gehören. - Wahrig gibt diese - für den Benutzer durchaus wissenswerte - Information nicht; welche Fachsprachen im Wahrig-DW (1968) berücksichtigt sind, muß der Benutzer extrapolieren. Im übrigen spiegelt sich in den verschiedenen Benutzerhinweisen die unterschiedliche Auffassung der Forschung darüber, was eine Fachsprache ist. Im Wahrig-DW (1968) ist z.B. die Jägersprache ein Jargon oder eine Sondersprache (22). Im Duden-GWB zählt diese zu den Fachsprachen etc. - Mackensen- 4 DW und Köster-LdS berücksichtigen den fachsprachlichen Gebrauch der Lemmata sehr viel weniger. Wie unterschiedlich Wörterbücher bezüglich der Fachsprachen vorgehen, zeigt ein Vergleich einiger Wörterbuchartikel zum Lemma ,Auge': Wahrig-DW (1968): , , , , , , , = 7 fachspr. Bedeutungen. Duden-GWB: unter 2. (bei Pflanzen, bes. bei Kartoffeln, Rebe, Obstbaum) Keim, Knospenansatz. Dies wird nicht als gekennzeichnet wie im Wahrig-DW (1968). WDG: Bot. (Ansatz der) Knospe, aber auch: Rundf. das magische Auge (Elektronenröhre, die die Stärke des Empfangs sichtbar macht) = 2 fachspr. Bedeutungen. Diese beiden führt Duden-GWB auch auf, aber nicht als Fachsprache. Das gleiche gilt für Wahrig-DW (1968) und Köster-LdS. Letzterer gibt keine fachspr. Bedeutungen an. Mackensen- 4 DW: Mehrere fachspr. Bedeutungen werden angegeben, aber als solche nicht gekennzeichnet. Was bei Wahrig-DW (1968) ist, ist im Paul- 6 DW „uneigentlicher" Gebrauch. Man sieht: Dies ist natürlich eine ziemlich unbefriedigende Situation. - Man kann gespannt sein, was sich die Bad Homburger Wörterbuch-Planer (vgl. Henne/Weinrich 1976), denen es ja um ein interdisziplinäres Wörterbuch geht, zu diesem Problemkomplex einfallen lassen.

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,Gewehr'. In semasiologischer Perspektive wird durch diese lexikographische Praxis eine lexikalisch-semantische „Ineinanderschichtung" von verschiedenen Fachwortschätzen und standardsprachlichem Wortschatz - allerdings nur mehr oder weniger atomistisch - abgebildet. Wir gehen nun zunächst zu einer partiellen Kritik dieser Praxis über, nehmen die Beispiele aus Wahrigs „Deutschem Wörterbuch" und beginnen unsere „Tour de Wahrig" mit dem ersten Teil des Wörterbuchartikels für das Lemma ,Auge'. Dieser lautet: , A u g e ' 1 Sehorgan des Menschen u. der Tiere\ r u h e n d e Knospe, Knospenansatz ( „ s c h l a f e n d e s " Auge; PfropfV); Kuppelöffnung; Punkt, Figur, Zahl (auf W ü r f e l n , Dominosteinen, Spielkarten); (auf der Suppe, Soße) schwimmender Fetttropfen ( F e t t - ) ; kreisrunde, farbige Zeichnung in den Schwanzfedern des Pfaus ( P f a u e n ^ ) ; Projektionszentrum bei perspektivischen Darstellungen·, Zentrum eines Tiefdruckgebietes·, Einfiillöffnung am Mühlstein; Verdickung am Bohrungsende\ Öffnung an den Litzen des Webgeschirrs, durch die Kettfäden gezogen werden [...]

Wir wenden uns zunächst dem botanischen Gebrauch von ,Auge' zu und fragen nach der Angabe in den spitzen Klammern, also nach . Wahrig erläutert solche Angaben in seinen „Hinweisen für die Benutzung" unter dem Abschnitt „ Angaben zum Stil". Er schreibt: „ Im Unterschied zum Jargon gibt es noch die Fachsprachen, die durch den Hinweis auf ein Fachgebiet gekennzeichnet sind; z.B. = Architektur, Bauwesen; = Mathematik; = Grammatik usw." Demnach ist zu verstehen als: Fachsprache der Botanik; und dieser Hinweis auf ein spezifisches Fachgebiet und dessen Sprache wird aufgefaßt als eine lexikographische Angabe zum Stil. Diese Auffassung halte ich für zu einseitig und möchte ein differenzierteres Verständnis vorschlagen, ohne dabei alle Fragen behandeln zu können, die in diesem Zusammenhang auftreten. Zunächst ist wohl klar, daß die zweite Lemmaparaphrase eine andere Bedeutung des Lemmas ,Auge' erläutert als die erste. Es können daher folgende Fragen gestellt werden: Ist eine semantische Angabe zu dieser anderen Bedeutung? Wie verhält sich zur sog. Bedeutungserklärung, die kursiv gesetzt ist? Im Lichte der strukturellen Semantik, die mit verschiedenen Klassen von semantischen Merkmalen arbeitet, kann man z.B. sagen: Eine Bedeutung des Lemmas ,Auge' ist hinsichtlich der botanischen Fachsprache semantisch positiv markiert, d.h. Auge hat in einer seiner Bedeutungen das Merkmal (+ botanisch). In der Terminologie der strukturellen Semasiologie/Onomasiologie kann man feststellen, daß es sich hier um ein systemtranszendentes semasiologisches Paradigma handelt, in dem die semantische Relation der systemtranszendenten Polysemie (oder: Homonymie) konstatiert werden kann, insofern Auge ein semasiologisches Paradigma bildet, das die Grenze von Standard- und botanischer Fachsprache überschreitet. Beide Auffassungen beziehen sich jedoch auf synchroni-

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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sehe Sprachsysteme und erschweren den methodischen Anschluß an den Gebrauch der Wörter in Texten, um den es aber bei der Wörterbuchbenutzung meistens geht. An den soeben - allerdings verkürzt - skizzierten Auffassungen der strukturellen Semantik bzw. Semasiologie/Onomasiologie ist jedoch m.E. zutreffend, daß sie die Angabe semantisch interpretieren. Ich fasse hier als Text- und/oder Stilspezifik zu einer standardsprachlichen Regelformulierung für eine semantische Bezugsregel auf. 61 Sehen wir uns nun die zweite Lemmaparaphrase an, nämlich: ruhende Knospe, Knospenansatz· Die Tatsache, daß ruhende recte, d.h. nach Wahrig in Grundschrift gesetzt ist, stimmt mit den Erläuterungen der metakommunikativen Funktion der verschiedenen Schrifttypen durch Wahrig nicht überein. 62 Danach müßte ruhende kursiv gesetzt sein und somit - in Wahrigs Terminologie - zur „Bedeutungserklärung" gehören. 63 Es handelt sich daher wahrscheinlich um einen Druckfehler. Vergleicht man den kursiv gesetzten Teil der zweiten Lemmaparaphrase, korrigiert also ruhende Knospe, Knospenansatz mit der ersten Lemmaparaphrase, also mit Sehorgan des Menschen und der Tiere, sieht man, daß die beiden verschieden gebaut sind: die zweite besteht aus einem Syntagma und einem Substantiv, die durch ein Komma getrennt sind, die erste nur aus einem Syntagma. Die Frage ist nun, wie das zu verstehen ist. Hat das Lemma unter der Angabe zwei Bedeutungen oder nur eine? Will man diese Frage als Wörterbuchbenutzer entscheiden, so muß man offensichtlich wissen, ob eine ruhende Knospe etwas anderes ist als ein Knospenansatz; oder anders ausgedrückt: Man muß wissen, ob das Syntagma ruhende Knospe und das Wort Knospe semantisch gleich oder wesentlich unterschieden gebraucht werden. Nehmen wir an, ein Benutzer weiß das nicht. Dann liegt es nahe, unter den Lemmata ,Knospe' und ,Knospenansatz' nachzusehen. Ein Lemma ,Knospenansatz' findet sich aber nicht. Dadurch entsteht ein Problem, auf das ich gleich zu sprechen komme. Nun sind aber ein Knospenansatz und eine ruhende Knospe in der Tat etwas sehr Verschiedenes. Daher muß angenommen werden, daß Auge wenigstens zwei Bedeutungen in der botanischen Fachsprache hat. Es handelt sich also bei ruhende Knospe, Knospenansatz um zwei Lemmaparaphrasen, nämlich ruhende Knospe und Knospenansatz. Natürlich ist die Fassung im Wahrig-DW (1968) ökonomischer; nur muß dann in den „Hinweisen für die Benut61 Vgl. dazu: Abschnitt 5. 62 Vgl. Wahrig-DW (1968, 21/22). 63 Im übrigen hält Wahrig Worterklärung und Bedeutungserklärung in den „Hinweisen für die Benutzung" nicht systematisch auseinander. Nur ein Beispiel: es heißt (21): „In diesem Wörterbuch sind folgende Schriften verwendet: [ . . . ] Kursivdruck für die Bedeutungserklärungen", später aber: „Hier [bei den Begriffen aus der Biologie] wurden in allen Fällen, in denen dies sinnvoll erschien, die wissenschaftlichen Namen von Pflanzen und zum Teil auch von Krankheiten und Körperteilen und -funktionen in die Worterklärung einbezogen, und zwar stehen sie dort am Ende hinter einem Doppelpunkt; z.B. .Elster ... pica pica"·, - pica pica ist kursiv gesetzt, gehört also zur Bedeutungserklärung. Offensichtlich also: Worterklärung = Bedeutungserklärung. An anderen Stellen ist dies aber wieder anders.

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zung" die Funktion des Kommas in sog. Bedeutungserklärungen genau erläutert werden. Es läßt sich leicht zeigen, daß das Komma in den sog. Bedeutungserklärungen des Wahrig-DW (1968) ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt, was die Benutzung diese Wörterbuches erschwert und sich außerdem leicht ändern ließe.64 Betrachten wir das Verhältnis des Lemmas ,Auge' zu ruhende Knospe, Knospenansatz, dann ergibt sich folgendes: Zunächst sieht man, daß hier keine Hyponymierelation und somit auch keine Superonymierelation vorliegt. Es liegen vielmehr zwei Übersetzungsrelationen vor, und diese sind spezielle Arten von Synonymierelationen. 65 Der Wörterbuchbenutzer wird aufgefordert, ,Auge' , d.h. Auge im bot. Gebrauch, entweder wie standardsprachlich ruhende Knospe oder wie Knospenansatz semantisch zu gebrauchen, d.h.: Es werden ihm zwei standardsprachliche Ausdrücke gezeigt, die den gleichen semantischen Bezugsregeln wie Auge folgen. Ich hatte soeben darauf hingewiesen, daß das Wort Knospenansatz, das in der Lemmaparaphrase verwendet wird, selbst nicht als Lemma angesetzt ist und damit auch semantisch nicht „erklärt" wird. Da Knospenansatz ein Determinativkompositum ist und zu den durchsichtigen Wörtern gehört,66 weiß sicherlich wenigstens ein Teil der kompetenten Benutzer, daß es sich auffassen läßt als „Ansatz zu einer Knospe" und daher offensichtlich Knospe anders verwendet werden muß. Unangenehmer für den Wörterbuchbenutzer wird jedoch schon folgender Teil des Wörterbuchartikels: Öffnung an den Litzen des Webgeschirrs,

durch die die Kettfäden gezogen

werden

In diesem Syntagma finden sich drei Substantive, die man kennen muß, wenn man verstehen will, wie Weber das Wort Auge semantisch gebrauchen. Nehmen wir an: Ein Wörterbuchbenutzer - nennen wir ihn A - kennt die Fachsprache der 64 Das gleiche gilt übrigens für die unkontrollierte Verwendung von und und oder (= u., o.) in den sog. Bedeutungserklärungen. 65 Diese Frage werde ich an anderer Stelle zusammenhängend behandeln; hier nur einige kurze Bemerkungen dazu. Unter der Voraussetzung, daß ,Auge' zum Fachwortschatz der Botanik gehört und Knospe zur Standardsprache, stehen ,Auge' und Knospe zueinander in einer Übersetzungsrelation, deren Eigenschaften man genau angeben kann. Diese Relation kann als Synonymierelation behandelt werden, muß aber von der Synonymierelation, in der z.B. die standardsprachlichen Wörter Resultat und Ergebnis zueinander stehen, unterschieden werden. Beide müssen von der Relation der lexikographischen Synonymie unterschieden werden, die eine Erläuterungsrelation ist. Resultat und Ergebnis stehen dagegen nicht in einer Erläuterungsrelation zueinander. Bei den Erläuterungsrelationen lassen sich wiederum verschiedene Arten unterscheiden; z.B. kann der standardsprachliche Gebrauch eines Lemmas standardsprachlich erläutert werden oder der fachsprachliche Gebrauch eines Lemmas standardsprachlich. 66 Den Terminus durchsichtiges Wort gebrauche ich hier wie Gauger (1971). Die Durchsichtigkeit der Wörter läßt sich - nebenbei bemerkt - gut ausnutzen, um einen besonderen Paraphrasentyp zu entwickeln.

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Weberei nicht und schlägt deswegen im Wahrig-DW (1968) nach. Bei ,Litze' findet er folgendes: ,Litze ' [... ] Draht zur Führung der Kettfäden

an Jacquardmaschinen

;[...]

Nur aufgrund der Tatsache, daß Kettfäden in der zitierten Lemmaparaphrase ebenfalls vorkommt, kann A vermuten, daß hier die in Frage kommende Bedeutung von ,Litze' paraphrasiert werden soll. Es fehlt also hier die Angabe . Nun hat A bei der Rezeption der Lemmaparaphrase erneut Schwierigkeiten, nämlich mit dem Wort Jacquardmaschinen, schlägt wiederum nach und findet folgendes: Jacquardmaschine' Zusatzgerät

an Webstühlen,

das jede

zwei Platinen steuert u. somit das Weben von Mustern

Harnischschnur

abwechselnd

mit

ermöglicht.

Wieder treten Schwierigkeiten bei der Rezeption des Wörterbuchtextes auf, und zwar durch die Wörter Harnischschnur und Platini en?). Das Wort Harnischschnur kann A nun allerdings nicht finden. Harnischschnur ist ein Determinativkompositum, und A kann daher eventuell wissen, daß Harnischschnur ein Hyponym zu Schnur sein kann; oder anders ausgedrückt: Er weiß oder kann vermuten, daß eine Harnischschnur eine besondere Schnur sein muß. Also sieht er gewissermaßen probeweise - unter .Harnisch' nach und ist überrascht, denn er findet hier folgendes: .Hämisch' [ . . . ] bei Jacquardmaschinen det-,

die Schnüre, die die Platinen

mit den Litzen

verbin-

Man bemerkt sogleich, daß in der Paraphrase von Jacquardmaschine' nach Wahrigs eigenen - in den „Hinweisen für die Benutzung" erläuterten Verweisungsvorschriften für Synonyme hinter Harnischschnur hätte stehen müssen (= Harnisch).67 Weiterhin sieht nun A, daß auch in der .Harnisch'-Paraphrase das ihm unbekannte Wort Platinen vorkommt. Er findet sodann ein Lemma .Platin', die gesuchte Bedeutung aber wird nicht „erklärt". Hier gibt A also zunächst auf und entsinnt sich, daß es ihm ja eigentlich um den Gebrauch des Wortes Auge in der Fachsprache der Weberei ging. Er kehrt zur sog. Bedeutungserklärung des Lemmas .Auge' zurück und schlägt zunächst unter .Kettfaden' nach. Dort findet er u.a. die Lemmaparaphrase Garn für die Kette eines Webstuhls. Was ist aber die Kette eines Webstuhls? Unter dem Lemma .Kette1 ' findet A die Paraphrase Gesamtheit der Kettfäden. Schließlich schlägt A noch unter Webgeschirr nach, weil auch dieses Wort in der Paraphrase von ,Auge' vorkommt. Ein Stichwort ,Webgeschirr' gibt es aber nicht. A gibt nach diesen nicht geringen Nachschlagemühen auf. -

67 Vgl. Wahrig-DW (1968, 25/26). Wenn Sie dieser Aufforderung nachkommen, werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß das, was unter „6. Synonymie" steht, nicht verständlich ist. Die Behandlung der Synonyme im Wahrig-DW (1968) ist ein Rückschritt innerhalb der deutschen Lexikographie.

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Fragen wir zunächst: Was ist hier geschehen? In der Kommunikation mit dem Wörterbuchbenutzer ist das Wörterbuch ein Partner, der sich nicht ausreichend verständlich machen kann, oder anders ausgedrückt: Das Wörterbuch selbst schafft für den Benutzer wortsemantisch bedingte Störungen der Wörterbuchtext-Rezeption. Wahrig schreibt zu diesem Problem in den „Hinweisen für die Benutzung": „Bei den Worterklärungen wurde Wert darauf gelegt, daß das Wörterbuch ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet, d.h. also, daß Wörter, die zum Zwecke einer Erklärung verwendet werden, an anderer Stelle selbst verzeichnet oder erklärt sind. Das hier vertretene Ideal konnte allerdings nur angestrebt werden, in einigen Fällen war es nicht zu erreichen, ohne den Sinn dieses Werkes zu gefährden und den Umfang übermäßig zu erweitern."

Wahrig spricht hier von einigen Fällen. Es sind Tausende! Sie treten vor allem dann auf, wenn es sich um den fachsprachlichen Gebrauch der Lemmata handelt. Wir haben soeben ein Beispiel aus der Fachsprache der Weberei behandelt. Nur aus Platzgründen bin ich nicht in der Lage, Hunderte ähnlicher Beispiele aus allen berücksichtigten Fachsprachen aus den wichtigsten Wörterbüchern der Gegenwart vorzuführen. Aufgrund dieses Materials möchte ich jedoch die allgemeine These wagen: 5. THESE: Die Behandlung der Fachsprachen Gegenwart ist kommunikationshinderlich.

in den meisten einsprachigen

Wörterbüchern

der

Ich werde nun versuchen diese These zu begründen, um dann zu weiteren praktischen Vorschlägen zu kommen. Wir haben ja gesehen, daß es nicht gelungen ist, den Gebrauch des Wortes Auge in der Weberei zu erschließen. Selbst wenn die Stichwörter ,Webgeschirr' und ,Platin(en)' im Wahrig-DW (1968) aufgenommen wären, hätte ein Wörterbuchbenutzer, der nichts von der Weberei versteht, auf keinen Fall den fachsprachlichen Gebrauch von Auge herausfinden können. Bevor wir fragen, woran das eigentlich liegen mag, fragen wir, was A eigentlich durch sein eifriges Nachschlagen gewonnen hat! Nun: A hat ein bestimmtes Wissen über bestimmte Sachen und Wörter erworben. Aber dieses Wissen ist m.E. ziemlich wertlos, und zwar deswegen, weil es von A in keinen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden und allenfalls eine oberflächliche Textrezeption ermöglichen kann. Es ist zusammenhangloses Einzelwissen, typisches „Halbwissen". Die Zusammenhanglosigkeit dieses Wissens über bestimmte Sachen, die ihrerseits selbst nur durch ihren Form-, Konstruktions- und Funktionszusammenhang sowie durch ihren Zweck für Menschen begriffen werden können, geht im Gefolge mit der Unmöglichkeit, die unbekannten Bedeutungen der Wörter zu erlernen, obwohl A zahlreiche sog. Bedeutungserklärungen studiert hat. Den fachsprachlichen Gebrauch, insbesondere den von Substantiven, aber auch den von Wörtern anderer Wortklassen, mit denen man sich auf Sachen oder

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Sachverhalte beziehen kann, kann man nur erlernen, wenn zugleich ein bestimmtes Fachwissen zusammenhängend vermittelt wird. Es ist nun keineswegs so, daß sich aus den soeben gemachten Feststellungen lediglich theoretische Konzepte oder allgemeine Forderungen ableiten lassen, die in der lexikographischen Praxis nicht verwirklicht werden können. Eine lexikographische Realisierung der nachfolgenden Vorschläge setzt jedoch voraus, daß eine ganze Reihe von Auffassungen, die bisher in der einsprachigen Lexikographie eine zentrale Rolle gespielt haben, aufgegeben werden. Dies sind wenigstens die folgenden: (1) Es muß von einem andere Sprachbegriff ausgegangen werden, einem, der - wie oben angedeutet - zwischen Sprache und Welt nicht strikt trennt. (2) Damit im Zusammenhang muß - wie oben angemerkt - von einer anderen Auffassung zum Status und der Funktion der sog. Bedeutungserklärungen oder lexikographischen Definitionen ausgegangen werden. (3) Die stupide Alternative von einerseits alphabetisch-semasiologischen und andererseits begrifflich-onomasiologischen Wörterbüchern muß aufgegeben werden zugunsten eines integrierten Wörterbuchtyps. Die Permanenz und Phantasielosigkeit, mit der diese Alternative in der wissenschaftlichen Lexikographie seit Jahrzehnten diskutiert wird, ist kein Beweis dafür, daß diese überhaupt sinnvoll ist. Damit zusammenhängend muß die Ansicht aufgegeben werden, Enzyklopädische Lexika oder auch sog. Sachwörterbücher seien etwas grundsätzlich Verschiedenes wie einsprachige Wörterbücher und es gäbe zwischen beiden eine scharfe Trennungslinie. Im Bereich verschiedener Wortklassen, besonders in dem der Substantive, gibt es hier vielmehr weitgehende Überschneidungsbereiche, und das hängt wiederum damit zusammen, daß man sich einerseits die Sachen, die Sachverhalte und damit die Welt nicht ohne Sprache aneignen kann, und daß andererseits die Wörter nicht ohne Sach- und Weltkenntnis und deren sprachlicher Vermittlung lexikographisch erläutert werden können.

Ich mache nun einige praktische Vorschläge zur Berücksichtigung von Fachsprachen in einsprachigen Wörterbüchern auf der Basis anderer Auffassungen. Dabei geht es vornehmlich um die Semantik von Fachsprachen. Die Fachsprachenforschung hat herausgearbeitet, daß es unterschiedliche Typen von Fachsprachen gibt. 68 Daher ist von vornherein zu vermuten, daß diese verschiedenen Typen lexikographisch unterschiedlich behandelt werden müssen. Da es mir um praktische Vorschläge geht, berücksichtige ich hier nicht die äußerst wichtige Frage, welche Fachsprachen in einem einsprachigen Wörterbuch kodifiziert werden sollten. 69 Eine Entscheidung darüber setze ich hier als getroffen voraus und stelle die konkrete Frage: Wie kann man eine handwerklichtechnische Fachsprache vom Typ „Webersprache/Sprache der Textilverarbeitung" in einem alphabetisch angeordneten Wörterbuch so berücksichtigen, daß man die fachsprachlichen Bedeutungen von Wörtern der Standardsprache und

68 Einen Zugang zu diesen Fragen bekommt man z.B.: über Bausch/Schewe/Spiegel (1976). 69 Dies ist eine Frage, die wohl kaum ohne Corpusanalysen entschieden werden kann. Das gleiche scheint mir für die Frage zu gelten: Welche Wörter aus einem Fachwortschatz werden berücksichtigt?

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die Bedeutungen wichtiger Termini als Laie so erläutert bekommt, daß man die Wörter semantisch regelgerecht gebrauchen kann? Ich gehe wiederum vom ersten Teil der Wörterbuchartikels ,Auge' aus. Hinter dem Lemma kommt nach den grammatischen Angaben die Lemmaparaphrase zur standardsprachlichen Bedeutung von ,Auge'. Alle Paraphrasen zu den fachsprachlichen Bedeutungen von ,Auge' werden weggelassen. Statt dessen wird in alphabetischer Reihenfolge folgendes eingetragen: WbE 10 : ,Auge' [...] t î t t t t t [...].

Mit diesem Teil des Wörterbucheintrages erfährt ein Benutzer - aufgrund entsprechender Erklärungen in den „Hinweisen für die Benutzung" - : Das Wort Auge wird in den angegebenen sieben Fachsprachen semantisch anders gebraucht. Es stellt sich die Frage: Für welche Benutzungssituation und für welchen Benutzerkreis ist diese lexikographische Information brauchbar? Zunächst wohl für alle wortsemantisch bedingten Störungen der Textrezeption. Beispielsweise kann ein Leser das Wort Auge in der ihm nicht geläufigen botanischen Verwendung in einem ansonsten standardsprachlichen Text finden. Dann kann er zunächst unter dem Lemma ,Auge' nachsehen. Vermutet er, aufgrund von Textindizien, eine botanische Verwendung, folgt er dem Verweisungspfeil t bei . Hat er eine solche Vermutung nicht, muß er schrittweise den anderen Verweisungspfeilen folgen; es ist damit zu rechnen, daß diese nicht bei allen Lemmata so zahlreich sind. Wohin nun der Benutzer verwiesen wird, werde ich sogleich ausführen. Vorher noch eine kurze Bemerkung zu einem spezifischen Benutzerkreis, der aufgrund dieses Eintrages etwas erfahren kann: Es sind alle Benutzer, die sich für Sprache besonders interessieren, wie z.B. Philologen, Sprachwissenschaftler etc. Sie können erschließen, daß das Wort Auge und damit der zugehörige Alltagsbegriff des Auges bei der Aneignung der Umwelt in fachspezifischer Perspektive eine vielfältige Rolle gespielt haben muß, d.h. zugleich, daß es ein sprachgeschichtlich und benennungsmotivisch interessantes Wort sein muß. Sie erfahren überdies etwas über die semantische „Ineinanderschichtung" von Standard- und Fachsprachen. Wie beim Stichwort ,Auge\ so wird auch bei allen anderen standardsprachlichen Lemmata verfahren, deren fachsprachliche Bedeutungen im Wörterbuch lexikographisch erläutert werden sollen, d.h. auch bei diesen werden alle sog. Bedeutungserklärungen zum fachsprachlichen Gebrauch gelöscht. Bei Wörtern, die nur fachsprachlich gebraucht werden, z.B. im Falle von Kettfaden, wird folgendermaßen verfahren: Es wird keine Lemmaparaphrase gegeben. Der Eintrag lautet einfach: WbE,,: ,Kettfaden' t.

Bei Wörtern wie weben, Weberei, Webarbeit u.a., die sowohl in der Webersprache als auch in der Standardsprache gebraucht werden, wird dagegen eine Be-

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deutungserläuterung gegeben. 70 Hinter die in Frage kommende Lemmaparaphrase wird t eingetragen. Auf die Wiedergabe der zugehörigen Wörterbucheinträge WbEi2 bis WbEis verzichte ich hier. Wohin führt nun der Verweisungspfeil hinter den Angaben in spitzen Klammern, also z.B. der hinter ? Er leitet den Wörterbuchbenutzer zu einem Lemma ,WEBEREI', das graphisch, z.B. durch Versalien, gegenüber den anderen Lemmata ausgezeichnet ist, und hinter dem normalen Lemma ,Weberei' steht. Hinter dem Versalien-Lemma wird folgendes eingetragen: WbE 1 6 : .WEBEREI': Fachsprache der Weberei [...].

Es folgt ein zusammenhängender Artikel, in dem die Fachwörter der Weberei lexikographisch erläutert werden. Die zentrale Frage ist nun: Wie wird in diesem Artikel verfahren? Bevor ich zu dieser Frage Vorschläge mache, möchte ich kurz auf folgende Frage eingehen: Wie erlernt man einen Fachwortschatz? Psycholinguistische Detailantworten zu dieser Frage möchte ich nicht geben, sondern lediglich einige allgemeine Bemerkungen machen. Einen Fachwortschatz oder zusammenhängende Ausschnitte aus ihm lernt man m.E. kaum durch das relativ zusammenhanglose Studium von sog. Bedeutungserklärungen, die dem alphabetischen Anordnungsprinzip unterworfen sind. Selbst Fachwörterbücher, deren Lemmata alphabetisch geordnet sind, sind weitgehend immer schon für Fachleute geschrieben; sie setzen immer schon Fachwissen und damit wenigstens eine Teilbeherrschung der zugehörigen Fachsprache voraus. Der Wörterbuchartikel „Die Fachsprache der Weberei" kann mithin auf keinen Fall nur ein kleines alphabetisches Fachwörterbuch im einsprachigen Wörterbuch sein. Dies allerdings braucht noch keineswegs zu heißen, daß überhaupt keine lexikographischen Bedeutungserläuterungen gegeben werden. Im allgemeinen lernt man einen Fachwortschatz, indem man sich mit den Gegenständen, den Methoden, den Ergebnissen, den Zielen, den Problemen und der Geschichte des entsprechenden Faches begrifflich-geistig, d.h. vor allem im Umgang mit Fachtexten und in der Diskussion mit Fachkollegen, auseinandersetzt, sowie praktisch-kooperativ, d.h. dadurch, daß man mit den Gegenständen usw. praktisch handelnd umgeht, wobei diese auch stets sprachlich vermittelt werden. Dieser Lernprozeß hat stets eine selbsttätig-rezeptive, selbsttätig-kritische und selbsttätig-produktive Komponente; in ihm sind praktisches und kommunikatives Handeln eng miteinander verflochten. Indem man so handelnd Fachwissen erwirbt, lernt man Fachwortschatz, und indem man Fachwortschatz erlernt, macht

70 Hier kann natürlich wiederum der Fall eintreten, daß lexikalische Polysemie vorliegt. Dies wirft aber keine prinzipiellen Praktikabilitäts-Probleme hinsichtlich des vorgeschlagenen Verfahrens auf, denn selbstverständlich kann z.B. beim Lemma ,weben' auch der Gebrauch berücksichtigt werden, der in folgendem Satz vorliegt: Die Stute sollte verkauft werden, weil sie webte; dazu vgl. das 7. Beispiel.

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man sich Fachwissen für die fachliche Kommunikation verfügbar, in der wiederum der Fachwortschatz und damit das Fachwissen erweitert werden kann. Wenn meine allgemeinen Bemerkungen zum Erwerb von Fachwortschatz oder Ausschnitten aus ihm zutreffen, dann sind daraus lexikographische Konsequenzen zu ziehen. Praktisch - und so sollten diese zunächst behandelt werden führt dies sogleich zu der Frage zurück: Was steht in dem Wörterbuchartikel „Fachsprache der Weberei"? Ein solcher Artikel muß m.E. gänzlich jenseits der Vorstellungen geschrieben werden, die in der üblichen Spracharchivierungslexikographie bisher entwickelt wurden. Modelle für solche Artikel stellen dringende Forschungsaufgaben für Lexikologen/Lexikographen dar, die mit Phantasie ausgestattet und überdies bereit sind, kooperativ mit Fachleuten vor Ort zusammenzuarbeiten. Für die nachfolgenden Vorschläge, die freilich noch kein zusammenhängendes Muster für einen solchen Artikel darstellen, reicht Exzerpieren von Fachliteratur alleine nicht mehr aus, was natürlich nicht heißen soll, daß darauf gänzlich verzichtet werden kann. Am Anfang des Artikels kann eine kurze Geschichte der Weberei stehen, zusammen mit Literaturverweisen. Diese Artikeleinleitung (1) muß so geschrieben sein, daß die soziale Stellung dieses Handwerkes, seine geschichtlich-soziale Entwicklung bis hin zur Integration in die moderne Textilindustrie und somit kommunikative Verzahnung mit anderen Lebensbereichen sichtbar wird. Sodann führt der Artikel in den Fachwortschatz ein, und zwar - wie gleich folgt - am Beispiel. Die Weberei und damit auch ihr Wortschatz hat eine relativ lange und überdies interessante Geschichte. Die historische Dimension des Wortschatzes sollte daher berücksichtigt werden. Wie weit man hier gehen kann, hängt von den Zielen des jeweiligen Wörterbuchs ab. Will man z.B. die Terminologie des Webstuhls einführen, sollte man beim Handwebstuhl anfangen. Ich zeige nun zunächst, wie in diesem Fall nicht verfahren werden sollte. Im Duden-Schülerlexikon von 1969 findet man folgenden Lexikoneintrag: „,Webstuhl' m, eine Arbeitsmaschine zur Herstellung von Textilgeweben aus sich rechtwinklig kreuzenden Fäden. Die Kettfäden verlaufen parallel zueinander, die Schußfäden verlaufen quer dazu, u. zwar abwechselnd über und unter den Kettfäden. Die Kettfäden werden beim W. abwechselnd teilweise nach oben u. unten bewegt. Sie bilden dabei ein Fach, durch das das Schiffchen mit dem Schußfaden hindurchgeschleudert wird."

Diesem Lexikoneintrag ist folgende Abbildung beigegeben: 71

71 Welche Art von Lexikon das Duden-Schülerlexikon (1969) ist, wird in der „Anleitung zur Benutzung des Buches" (7 f.) völlig offen gelassen. Liest man die Abschnitte: 1. Stichwort, 2. Betonung und Aussprache und 3. Herkunft der Wörter, hat man den Eindruck es handele sich um ein Wörterbuch. In den Lexikonartikeln selbst wird aber nicht wie in einem einsprachigen Wörterbuch verfahren, sondern etwa so wie im „Kleinen Brockhaus". Es wird z.B. nirgends gesagt, daß es sich bei den Lexikonartikeln um Sachartikel handelt. Daß es um die „Sachen" geht, wird nur indirekt deutlich, z.B. dadurch, daß bestimmte Wortklassen wie

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j£h

Hanàwbtluhl Zunächst findet man im ersten Satz hinter dem Lemma etwas, was WörterbuchLexikographen eine Bedeutungserklärung nennen würden. In einem Lexikon wie diesem, dem es um die Sachen, d.h. hier um den Webstuhl geht, heißt das - witzigerweise - Sachbeschreibung. In dem zitierten Lexikoneintrag folgt dann eine statische, relativ abstrakte Form- und Funktionsbeschreibung, die nicht ausreichend zu der graphischen Abbildung vermittelt: z.B. findet sich im Artikeltext das Wort Schiffchen, nicht aber in der Abbildung. Nur mit technischen Vorkenntnissen kann man aus der Abbildung rekonstruieren, wie ein Handwebstuhl funktioniert. Den in der Legende zu der Abbildung eingeführten Fachwortschatz lernt man nur schlecht, etwa so, daß man irgendwelche zusammenhanglosen Sätze bilden kann, in denen die Fachwörter vorkommen. Einen zusammenhängenden Fachtext kann man allerdings erst produzieren, wenn man weiß, wie der Handwebstuhl funktioniert. Das Konzept dieses Lexikonartikels ist daher für unsere Zwecke wenig geeignet. Wenn wir uns den anschließend folgenden Ausschnitt aus einem Lexikonartikel aus Meyers Konversationslexikon von 1897 ansehen,72 dann bemerken wir schon beim ersten Lesen, daß hier ein Artikel vorliegt, aus dem man Teile des Fachwortschatzes, indem man die Sache schrittweise kennenlernt, schon eher lernen kann. Ich bin zwar nicht der Meinung, daß Artikel dieser Art ein direktes Vorbild für Artikel in einsprachigen Wörterbüchern darstellen. Ich meine jedoch, daß man einen solchen Artikel unter semantisch-pragmatischen Gesichtspunkten umschreiben bzw. aus ihm lernen kann.

z.B. Verben und Präpositionen bei den Stichwörtern nicht berücksichtigt sind; Adjektive sind dagegen teilweise als Stichwörter angesetzt. 72 Meyers-'KL.

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Fig. 1 zeigt den e i n l a c h e n W e b s t o l i l in schomati- der Schütze austretende Gurn g abwickelt. Ztirl'.rleiehscher Datstellung. A A ist der Kcttenbaum mit dem terung ihrer Bewegung laufen die Schncllschiitzcn sehr häufig auf Rollen r r (Iiollschiitzen). Rutschgewicht C u n d Das R i c t b l u t t (Fig. 4) wird aus den Langstähcu Mi 15 Β der Z c u g b a u m . und den Qucrstiitzcn c (Frösche) mit den Itieten :i in Zwischen A u n d Β ist d e r Weise hergestellt, d a ß man die letztem zwischen die Kette ausgespannt, die Doppclstäbc b bringt u n d diese mit Draht oder welche von einigen Lci•Spnuiistub

Holl.

Kiclblatt

Kettmifiifteii

Leisto

Schutz«

Zwirn u m w i c k e l t , so dali die liiete durch die Zwirn- oder D r a h t w i n d u n g e n in vollkommen gleichen Abstanden festgehalten werden. sten (Filzruten) D D geteilt gehalten w i r d , um abgeDie W e b l a d e (Fig. 5) mit der l'eitsehe rissene F ä d e n schnell a u f f i n d e n und wieder zusanimen- bestellt aus dem Liulenklutz K, dessen Oberfläche die bildet und das Itietliiatt H a u f n i m m t , knnten zu k ö n n e n . In E IC sieht man die Schäfte, Sehutzenbuhn welche d u r c h S c h n ü r e z u s a m m e n h ä n g e n , die über den Schwingen S u n d tieni l'riigcl 1*, dessen Spitzen Hollen II LI laufen u n d an die Tritte I I , I I angebunden sind. Vor dem Kictblutt F F bewegt sieh die Schütze S in dem F a c h hin und h e r , so dalj hier das Tritte

Querschnitt. Flg. 5. Gewebe e n t s t e h t , welches d u r c h den S p a n n s t a b G G in der Breite gespannt gehalten und auf den Zeugbuum Β Β aufgewickelt wird. Die W c b e r s c l i ü t z c n (Sciiijfchen, Fig. 2 uml Jj sind Behälter aus 3» IIulz oder Kisen, tlie an beiden Kmlcu spitz imslaufcn und im Innern eine mit Garn bewickelte, um eine Achse b (Seele) d r e h b a r e Spille u oder einen zum Aufstecken von Kötzern s geeigneten Dorn (Id Iragen und von H a n d (Handschutze) oder mittels einer sogen, l'eitsehe (SchnellschiUze) abwechselnd von links und rechts durch das F a c h geschleudert werden, wobei s i c h d a s a u s

Ansicht. Weblade.

Ζ auf dem Webstuhlgestell aufrollen. An jedem E n d e des Klotzes Κ befindet sieh ein Schützenkasten L z u r A u f n a h m e eines Treibers T , d e r längs desselben g e f ü h r t wird. Die Treiber (Vögel) T , die Schnüre Β u n d d e r Handgriff I I bilden zusammen die Peitsche, welche in der Weise gcluuulhaht w i r d , daü d e r Weber mitels des Griffes I I abwechselnd tien linken

l'V- II.

Spnnust.ib.

oder rechten Treiber gegen die in den Kasten geflogene Schütze schnellt. Ein gewöhnlicher Spannstal) (Fig. 6) besteht aus zwei durch eine S c h n u r v e r b u n d e n e n Holzstäbcn a, b, welche auf die Breite des Gewebes eingestellt, mit

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Im Unterschied zu dem Text im Duden-Schülerlexikon (1969) braucht man ein dynamisch orientiertes Konzept, das zugleich kommunikativ orientiert ist. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Die wirksamste und reizvollste scheint mir folgende zu sein: Man erzählt systematisch (1), wie zwei Handwerker einen Webstuhl zusammenbauen. In dieser lexikographischen Erzählung (2) 73 können diese Handwerker sich auch selbst äußern. Dabei wird schrittweise der Fachwortschatz eingeführt. In oder hinter diesem Text steht z.B. eine Abbildung mit Fachwortlegende ähnlich der im Duden-Schülerlexikon (1969), oder auch mehrere, an denen man den Zusammenbau des Webstuhls visuell verfolgen kann. Ich bin nicht in der Lage, einen vollständigen Artikeltext hier wiederzugeben, in dem der Zusammenbau eines Handwebstuhls erläutert wird. Wie solche Texte beschaffen sein können, wird m.E. bereits an folgendem Textausschnitt deutlich: Nachdem Β und C das Webstuhlgestell auf diese Weise zusammengebaut haben, schieben sie einen runden Holzbalken (den ,Kett-' oder .Kettenbaum') in die dafür vorgesehenen runden Löcher an den beiden linken senkrechten Balken, und zwar so, daß sich der Kettenbaum drehen läßt. Sodann schieben sie einen anderen walzenförmigen Holzbalken, auf dem das fertige Gewebe (das ,Zeug', die ,Ware') beim Weben aufgewickelt wird, in die runden Löcher an den beiden rechten Balken. Β fragt: „Dreht sich der B a u m ? " C nickt und beginnt mit dem Zusammenbau der Pedale t . Diese heißt,Tritte' und dient dazu, den betriebsfertigen Webstuhl mit beiden Füßen in Gang zu bringen (vgl. Fig. 1).

Ich erläutere nun den Text, den man sicherlich erheblich besser schreiben kann. Der Text selbst wird kursiv, mithin wie die Bedeutungserläuterungen zu den standardsprachlichen Lemmata im Wörterbuch gesetzt, denn er ist die zusammenhängende Bedeutungserläuterung des Fachwortschatzes! Die Ausdrücke in runden Klammern werden wie alle Lemmata gesetzt. Der Text wird in der im Wörterbuch kodifizierten Standardsprache formuliert, die damit zugleich zusätzlich eingeübt wird. Bei einem Wort wie Pedal kann auf das Lemma außerhalb dieses Wörterbuchartikels verwiesen werden. Das bedeutet: Im Falle schwierigerer oder unbekannterer Wörter, die eventuell zu einer Störung der Artikelrezeption führen können, wird die Möglichkeit wortsemantisch bedingter Rezeptionsstörungen von vornherein wenigstens mitbedacht, d.h.: Alle in einem solchen Text gebrauchten standardsprachlichen Wörter müssen im Wörterbuch selbst als Lemma angesetzt und semantisch erläutert sein. In dem Text werden die bereits eingeführten Fachwörter anschließend selbst regelgerecht gebraucht, z.B. Webstuhlgestell, Kettbaum. In den Dialogpassagen können besondere fachsprachliche Ausdrucksweisen und die üblichen werkstattsprachlichen Verkürzungen berück-

73 Unter einer „lexikographischen Erzählung" verstehe ich einen Text, der in der Absicht verfaßt ist, Wörterbuchbenutzern Wörter eines bestimmten Wortschatzes semantisch derart zu erläutern, daß der Benutzer dadurch in die Lage versetzt wird, die Bedeutung der Wörter zusammenhängend zu erlernen, wodurch er zugleich ein bestimmtes zusammenhängendes Wissen erwerben kann.

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sichtigt werden, wie hier z.B. statt Kettbaum einfach Baum.14 Der Text arbeitet mit den Mitteln der Ostension durch Querverweise in die zugehörigen Abbildungen. Wie die Tritte zusammengebaut wird, braucht z.B. im Text nicht erläutert zu werden, weil es jeder im Bild sehen kann. Man braucht nicht alle Fachwörter in Klammern einzuführen. Man kann auch solche Formulierungen benutzen wie: Dies heißt A, man nennt dies A, mit A bezeichnet man, man nennt diesen Teil A, dieser wird A genannt, man spricht von A etc. Eine andere Möglichkeit, den Fachwortschatz des Handwebstuhls einzuführen, besteht darin, einen Dialog zu schreiben, in dem ein Fachmann (F) einem Laien (L) einen Webstuhl erklärt, der in Form einer graphischen Abbildung dem Wörterbuchartikel beigegeben wird. Ein kurzes Beispiel: L: „Wozu dienen eigentlich diese doppelten Leisten, die da (D) durch die Kettfaden laufen?" F: „Diese Leisten heißen .Fitzruten'. Man kann sie in der Kette hin- und herschieben, um gerissene Fäden besser aufzufinden."

In diesem Beispiel gelten die Ausdrücke Kettfäden und Kette als vorher eingeführt. Ich breche hier ab. Es ist natürlich klar, daß nicht jeder Fachwortschatz oder bestimmte Teile aus ihm so eingeführt werden können. Ich meine aber, daß es für jede Art von Fachwortschatz geeignete Möglichkeiten gibt, die alle erfolgversprechender sind, als das stupide, dem Alphabet unterworfene Verfahren, die Bedeutung isolierter Lemmata zu „erklären". Ich gehe jetzt zum nächsten Teil des Artikels „Fachsprache der Weberei" über. Hier kann man geeignete Textausschnitte (3) abdrucken, in der die eingeführten Wortschatzelemente authentisch benutzt sind. Schließlich kann man in einem vorletzten Teil des Artikels ein kleines alphabetisch geordnetes Fachwörterbuch für Laien anlegen, in dem kurze Lemmaparaphrasen gegeben werden (4). Diese sind dann - vor dem Hintergrund des Artikels WEBEREI 1 im Sachzusammenhang sprachlich vollständig zu verstehen. 75 Im letzten Teil kann dann Literatur genannt und auf gründliche Fachwörterbücher verwiesen werden. Diese Verweisung kann man allerdings auch etwas interessanter gestalten. In das kleine Fachwörterbuch schreibt man ein paar interessante Lemmata, die man semantisch nicht paraphrasiert; das bedeutet: Man schafft bewußt eine fachwortsemantisch bedingte Störung bei der Wörterbuchtextrezeption. Diese ausgewählten Lemmata versieht man mit einem indizierten Fragezeichen. Der Index dieses Fragezeichens verweist auf das geeignete Wörterbuch im entsprechend durchnumerierten Literaturverzeichnis am Schluß des

74 Zum Begriff der Werkstattsprache vgl. z.B. von Hahn (1973) und die dort verzeichnete Literatur. 75 Dadurch wird auf den Benutzer Rücksicht genommen, der z.B. Teile des Fachwortschatzes bereits kennt und nur ein bestimmtes Wort sucht; er braucht nicht den ganzen Artikel zu lesen.

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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gesamten Wörterbuchartikels (5). Die so angesprochenen Wörterbücher der Fachsprache fungieren damit als Satellitenwörterbücher zu diesem einsprachigen Wörterbuch. Die gemachten Vorschläge zur Berücksichtigung von handwerklich-technischen Fachsprachen im einsprachigen Wörterbuch fasse ich nachfolgend kurz in einem einfachen Schema zusammen, in dem die Doppelpfeile das Verweisungssystem graphisch markieren.

EINSPRACHIGES WÖRTERBUCH ,Auge' [...] (Weberei) t [...] = = ^ = .Kettbaum'(Weberei) t ,Pedal' Bedeutungserläuterung .Webarbeit' Λ ,weben' I Bedeutungserläuterung ,Weber' Γ t .Weberei' J .WEBEREI' Fachsprache der Weberei - φ (1) Artikeleinleitung, Literatur f(2) Einführung des Fachwortschatzes; lexikographische Erzählung "(3) Authentische fachsprachliche Textausschnitte (4) Fachwörterbuch im einsprachigen""] Wörterbuch (5) Wörterbuchliteratur

WbE.o WbEn n^WbE,, WbE, 2 WbE|3 WbEn WbE,5 WbE 16 ;

7

histor. u. sprachwissenschaftl. Texte

Satellitenwörterbuch

Benutzerinteressen, Wortschatzbereiche und Bedeutungserläuterungen: Kritik und Vorschläge

In der lexikalischen Semantik arbeitet man seit längerer Zeit mit Begriffen wie Sinnbezirk, Wortfeld, semantisches Feld, lexikalische Hierarchie, lexikalisches Paradigma, onomasiologisches Paradigma, lexikalisch-semantische Gruppe, Sachgruppe, sprachlicher Thesaurus und zahlreichen anderen. 76 Dies geschieht nicht nur aus theoretischen, sondern nicht zuletzt aus beschreibungspraktischen Gründen. Abgesehen von den zahlreichen Detailunterschieden, ist den genannten Begriffen gemeinsam, daß sie in durchaus ähnlicher Weise versuchen, die Sprach- und damit Welterfahrung zu berücksichtigen, daß im Wortschatz von Einzelsprachen zahlreiche Wörter nicht untereinander beziehungslos angehäuft sind, sondern sich unter lexikalisch-semantischen Gesichtspunkten zu Gruppen zusammenfassen lassen. Da es mir nachfolgend nicht auf die jeweiligen theoretischen Zusammenhänge, in denen die genannten Begriffe stehen, auch nicht auf 76 Literatur dazu: Wiegand/Wolski (1976).

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methodische Spezialitäten ankommt, spreche ich - terminologisch bewußt unverbindlich - von Wortschatzbereichen. Ich gebe einige Beispiele für Wortschatzbereiche: (1) Der Wortschatzbereich derjenigen Modaladverbien, mittels derer Sprecher ihre Einstellung zu einem Sachverhalt ausdrücken können. Zu diesem gehören u.a.: absichtlich, ausnahmsweise, bedauerlicherweise, begreiflicherweise, bekanntlich, bemerkenswerterweise, beispielsweise, bestimmt, dankenswerterweise, dummerweise, erfahrungsgemäß, erwartungsgemäß, fälschlicherweise, fraglos, freilich, freundlicherweise, gewiß, gewißlich, glücklicherweise, hoffentlich, irrtümlich, irrtümlicherweise, möglicherweise, natürlich, naturgemäß, notwendigerweise, offenbar, offensichtlich, plangemäß, planmäßig, richtigerweise, selbstverständlich, selbstverständlicherweise, sicher, sicherlich, tatsächlich, üblicherweise, unbegreiflicherweise, unerwartet, unerwünscht, verabredungsgemäß, vermutlich, versehentlich, vielleicht, wahrscheinlich, willentlich, wirklich, wunschgemäß, zufälligerweise, zugegebenermaßen, zweifellos, zweifelsohne. (2) Der Wortschatzbereich derjenigen Verben, mittels derer Sprecher auf den Vorgang der Fortbewegung Bezug nehmen können. Zu diesen gehören u.a.: gehen, fahren, schwimmen, fliegen, laufen, eilen, rennen, stolzieren, schreiten, rasen, hasten, schweben, gleiten, latschen, stolpern, taumeln, watscheln, humpeln, schleichen, sich schlängeln, schlendern, bummeln, schlurfen, tippeln, trippeln, stelzen, flitzen, tänzeln, hinken, trotten, stiefeln, wandeln, fliehen, fegen, kriechen, robben, krabbeln, spurten, huschen, wetzen, sprinten, promenieren, marschieren, kraulen, reiten, traben, galoppieren, radeln, rollen, kutschieren, (3) Der Wortschatzbereich der evaluativen Adjektive, mittels derer Sprecher Bewertungen relativ zu bestimmten normativen Systemen zum Ausdruck bringen können. Zu diesem gehören u.a.: gut, positiv, wertvoll, angenehm, selbstlos, edel, liebevoll, hilfreich, herzlich, tadellos, toll, fehlerlos, einwandfrei, heilsam, schön, stark, brauchbar, nützlich, freundlich, gesund, voll, fröhlich. (4) Der Wortschatzbereich der Substantive, mittels derer ein Sprecher auf Gewässer Bezug nehmen kann. Zu diesen gehören u.a.: Strom, Fluß, Bach, Rinnsal, Kanal, Graben, Meer, See, Tümpel, Pfütze, Teich, Weiher, Bekken. (5) Der Wortschatzbereich derjenigen Adjektive, mittels derer Sprecher auf Beschaffenheiten des Raums und/oder auf die raumbezogenen Beschaffenheiten von Gegenständen Bezug nehmen können. Zu diesen gehören u.a.: hoch, niedrig, lang, breit, eng, weit, riesig, winzig, dünn, schmal, groß, klein, kurz, dick. (6) Der Wortschatzbereich der Substantive, mittels derer Sprecher auf die Bezahlung einer Leistung Bezug nehmen können. Zu diesen gehören u.a.: Vergütung, Entgelt, Einkommen, Bezahlung, Bezüge, Sold, Lohn, Gehalt, Gage, Honorar, Lohnung, Entlohnung, Pension. (7) Der Wortschatzbereich der Verben, mittels derer Sprecher auf den Sachverhalt Bezug nehmen können, daß ein Leben aufhört. Zu diesem gehören u.a.: sterben, fallen, eingehen, verenden, erliegen, umkommen, zugrundegehen, erfrieren, verhungern, verdursten, verbluten, ersticken, verbrennen, verscheiden, erlöschen, verröcheln, abkratzen, verrecken, heimgehen, hinübergehen.

Ich meine nun, daß in einem brauchbaren einsprachigen Wörterbuch diejenigen Lemmata, die zu einem Wortschatzbereich gehören, nach den gleichen Prinzipien semantisch erläutert werden sollten. Die theoretischen Probleme, die mit den verschiedenen Konzepten für solche Wortschatzbereiche gestellt sind, sind in-

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von W ö r t e r b u c h e i n t r ä g e n

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zwischen relativ gut bekannt; nicht alle Probleme müssen sich aber in der lexikographischen Praxis in Schwierigkeiten bei der Erarbeitung von Wörterbuchartikeln ausdrücken. Im folgenden behandele ich einige Fragen, von denen ich glaube, daß sie und eine Auseinandersetzung mit ihnen für die lexikographische Praxis bedeutsam sind, und zwar im Hinblick nur auf diese Praxis. Beginnen wir mit einem Wort aus dem Wortschatzbereich (7). Im WahrigDW (1968) findet sich folgender Eintrag: .sterben' [...] aus

dem Leben scheiden,

zu leben

aufhören',

Daß hier in der sog. Bedeutungserklärung zwei Syntagmen als lexikalische Paraphrasen stehen, die sich nicht wesentlich unterscheiden, ist nicht einzusehen. Es scheint vielmehr auszureichen, wenn es heißt: WbEn: ,sterben' zu

leben aufhören |

Ich halte diese lexikalische Paraphrase für den Gebrauch von sterben in usuellen Texten für ausreichend und außerdem für praktisch relativ unproblematisch. Letzteres scheint einfach daher zu rühren, daß wir wissen oder zu wissen glauben: Alle Lebewesen sterben. Anders ausgedrückt - mit Blick auf den Wörterbuchbenutzer - heißt dies: Mit der lexikalischen Paraphrase in WbEn wird vom Lexikographen kein spezielles Benutzerinteresse bedient, und zwar weder das eines bestimmten Einzelnen nach das irgendeiner sozialen Gruppe. Indem ich diesen letzten Textabschnitt geäußert habe, habe ich aber implizit in stillschweigender Übereinstimmung mit dem Wörterbuchschreiber - zugleich für eine bestimmte Auffassung vom Tod plädiert! Was damit gemeint ist, wird unmittelbar einsichtig, wenn man den folgenden Wörterbucheintrag mit WbEn vergleicht: WbE|g: .sterben' vom

diesseitigen

in das jenseitige

Leben

übergehen.

Der Vergleich von WbEn und WbE ) 8 macht plausibel, daß selbst eine lexikalische Paraphrase wie zu leben aufhören nur scheinbar generelle Gültigkeit beanspruchen kann und keineswegs frei von Interpretationen oder gar in irgendeinem strengeren Sinn einfach deskriptiv ist, weil nämlich implizit eine bestimmte Auffassung vom Tode und vom Leben zugrunde liegt, die natürlich nicht jeder Wörterbuchbenutzer mit dem Wörterbuchschreiber und mir teilen muß; in WbEn liegt offensichtlich die Auffassung zugrunde, daß das Leben durch das Sterben aufhört, während in WbEig - unter der Voraussetzung, daß von zwei Arten von Leben, einem diesseitigen und einem jenseitigen, ausgegangen wird das Sterben als ein Übergehen von einem zum anderen, damit der Tod als Übergang und nicht als Aufhören aufgefaßt wird. Nach dem Wahrig-DW (1968) ist die letztere Auffassung nicht zugelassen bzw. nicht berücksichtigt, denn konsequenterweise finden sich u.a. die folgenden Wörterbucheinträge: , T o d ' [...] Sterben, Aufhören aller Lebensvorgänge

[...]

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Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12. 1977, 5 9 - 1 4 9

,Leben' [ . . . ] Daseinsform

von Menschen,

Tieren, Pflanzen

[...]

Es tauchen anhand dieser Praxis zahlreiche Fragen auf; statt vieler nur eine: Wie läßt sich rechtfertigen, daß die glaubensbedingte Polysemie von z.B. sterben und Tod nicht, die Jägersprache aber relativ ausführlich und damit die systemtranszendente Polysemie solcher Wörter wie Gewehr, Hauer, Waffe etc. berücksichtigt wird? Ich komme auf diese Frage noch zurück. Zunächst nur diese Feststellung: M.E. muß sich die Lexikographie - und zwar expliziter und systematischer als das bisher geschehen ist - des Problems bewußt werden, daß mit der Mehrzahl der sog. Bedeutungserklärungen stets auch implizit eine Auffassung von der Welt vertreten, wenigstens aber eine Interpretation gegeben wird. Nicht alle lexikalischen Paraphrasen sind allerdings in der gleichen Weise problematisch. Nehmen wir folgendes Beispiel: W b E i 9 : , A u g e ' —•Organ zum Sehen bei Menschen

und Tieren « Sehorgan [ . . . ]

Die meisten Menschen können mit ihren Augen u.a. auch sehen. Sie benutzen das Wort Auge häufig, um in usuellen Texten auf das Auge als das Sehorgan von Menschen und Tieren Bezug zu nehmen. Man kann auch sagen: Sie haben einen Alltagsbegriff von Auge, der gerade in der Paraphrase ausgedrückt wird, und zwar so, daß sich das Auge von anderen Sinnesorganen ausreichend unterscheiden läßt bzw. der semantische Gebrauch von Auge von dem z.B. von Ohr und Nase. Die lexikalische Paraphrase von ,Auge' ist so gesehen unproblematisch. Besondere Benutzerinteressen werden nicht berücksichtigt. Entsprechend unproblematische Paraphrasen lassen sich für zahlreiche Wörter aus den oben aufgeführten Wortschatzbereichen geben, z.B. für gehen, Fluß, möglicherweise. Nun besteht allerdings die Neigung, aufgrund solcher - hinsichtlich der lexikographischen Praxis relativ unproblematischer Fälle - vorschnell induktive Verallgemeinerungen vorzunehmen. Für Wahrig z.B. ist die sog. Bedeutungserklärung zum Lemma ,Auge', nämlich Sehorgan des Menschen und der Tiere, eine Bedeutungserklärung in der sog. Nullstelle, d.h. ein, „in einem nicht durch weitere sprachliche Elemente bestimmten Kontext". 77 Daß man die lexikalische Bedeutung eines Lemmas lexikographisch in einer so definierten „Nullstelle" „erklären" kann, halte ich für einen Irrtum. Man erläutert die Bedeutung vielmehr relativ zu allen usuellen Texten, d.h. relativ zur Klasse dieser Texte, mithin relativ zum usuellen Kontext. Diese semantische Erläuterung ist deswegen in Fällen wie ,Auge' in Form einer lexikalischen Paraphrase so relativ problemlos möglich, weil jeder, der das Wörterbuch benutzt - um es ganz überspitzt zu formulieren - indem er liest, mit seinen Augen sieht. -

77 W a h r i g - D W ( 1 9 6 8 , 23).

Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen

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Betrachten wir nun aber einen anderen, relativ klar abgegrenzten Wortschatzbereich: den der Fischbezeichnungen. 40 Einträge zu Fischbezeichnungen im Wahrig-DW (1968) habe ich überprüft.78 Hier eine Auswahl: .Forelle' [...] mit den Lachsen verwandter, sehr schmackhafter Raubfisch: Salmo trutta [...] ,Forellenbarsch' Art der Barsche: Micropterus salmoides [...] .Hecht' [...] räuberisch lebender Fisch des Siißwassers: Esox [...] .Hering' in allen Meeren vorkommende, bis zu 30 cm lange Fischart, mit vielen orti Abarten und Rassen, die z.T. nur zum Laichen in Küstennähe kommen, z.T. dauernd dort bleiben: Clupea harendus [...] .Heringskönig' [...] bis zu 60 cm langer, 8 kg schwerer Fisch mit hochrückigem u. seitl. stark zusammengepreßtem Körper, Petersfisch, Sonnenfisch, Martinsfisch: Zeus faber [...] .Kabeljau' 1,5 m langer u. bis 50 kg schwerer Nutzfisch: Gadus morrhua [...] .Lachs' Raubfisch der nordeurop. Meere: wandert zur Laichzeit in bestimmte Flüsse empor, Salm, Edellachs: Salmo saler [...] .Scholle' [...] Plattfisch der europ. Meere: Goldbutt: Pleuronectes platesse [...] .Thunfisch' großer Fisch warmer Meere mit schmackhaftem Fleisch: Thunnus thynnus; Angehöriger der Barschfische: Thunnoidei [...]

In den „Hinweisen für die Benutzung" findet man eine aufschlußreiche Passage; sie lautet: „Die Erklärungen zu Wörtern und Redewendungen sind so einfach wie möglich gehalten. In keinem Fall ist es der Sinn dieser kursiv gedruckten Hinweise, eine fachwissenschaftliche Definition zu ersetzen. Zwar beruhen die Worterklärungen zu fachwissenschaftlichen Begriffen auf d e m Material der von mehreren hundert Wissenschaftlern und Fachmitarbeitern des Lexikon-Instituts Bertelsmann gelieferten Beiträge. Alle diese Artikel wurden aber zur Verwendung im Wörterbuch verkürzt und so bearbeitet, daß es dem Benutzer möglich ist, unbekannte Wörter auf Grund seiner bisherigen Kenntnis der Muttersprache in das System des Wortschatzes einzuordnen." 7 9

Den Beispielen für Fischbezeichnungen, die offenbar zum Teil wie „fachwissenschaftliche Begriffe" bearbeitet wurden, merkt man diese Genesis deutlich an: von Zoologen oder Biologen verfaßt, von Mitarbeitern verkürzt, aber nach welchen Prinzipien? Nach welchen Dimensionen werden die FischbezeichnungsLemmata semantisch paraphrasiert? Offensichtlich nach sehr unterschiedlichen: Größe, Länge, Gewicht, Geschmack des Fleisches, Verwandtschaft, Verwandtschaftsgrad, Wasserart, Wassertemperatur, Lebensweise, Verbreitungsgebiet, Form, Nutzen, Artzugehörigkeit, Familienzugehörigkeit, Platz in einem zoologischen Ordnungssystem, Wanderwege und zahlreiche andere. Einheitlich ist nur

78 Es handelt sich um folgende Lemmata: .Forelle', .Forellenbarsch', .Hecht', .Hering', .Heringskönig', .Kabeljau', .Lachs', .Scholle', .Thunfisch', .Stör', .Zander', ,Aal', .Karpfen', .Schleie', .Bitterling', .Kaulbarsch', .Gründling', ,Barbe', ,Hai', .Wels', .Sterlet', .Rochen', .Huchen', .Stint', .Elritze', .Goldfisch', .Dorsch', .Sardelle', ,Schmetterlingsfisch', ,Tarpon', .Rotbarsch', .Blicke', .Köhler', ,Alse', .Piranha', .Renke', ,Mondfisch', .Saibling', , L u m b ' , .Ukelei'. 79 W a h r i g - D W (1968, 24).

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die Angabe des zoologischen lat. Namens; dieser ist kursiv gesetzt, gehört mithin zur sog. Bedeutungserklärung, was m.E. absurd ist. Fragen wir nun - anhand einiger Beispiele - ob etwa in der Anwendung der verschiedenen Klassifizierungsdimensionen, 80 die - nebenbei bemerkt - nicht unabhängig voneinander sind, irgendeine Systematik erkennbar wird. Ich spreche nun einfach über Fische, weil sich so einfacher reden läßt und weil es sich bei den sog. Bedeutungserklärungen ohnehin um lustige Fischbeschreibungen handelt. Thunfische sind schmackhaft, Forellen sogar sehr schmackhaft, Hechte, Lachse, Schollen und der Kabeljau sowie Heringe nicht, bzw. bei diesen wird die Geschmackbewertung dem Wörterbuchbenutzer überlassen. Warum wird der Lachs als Wanderfisch gekennzeichnet, nicht aber z.B. auch die Forelle, die ebenfalls wandert? 81 Jeder Fisch lebt - wie ich zu wissen glaube - im Wasser. Warum wird nur bei einigen die Wasserart und -temperatur angegeben, bei anderen dagegen nicht? Warum gibt man beim Kabeljau Größe und Gewicht an, nicht aber z.B. auch beim Thunfisch? Warum ist der Kabeljau ein Nutzfisch, nicht aber z.B. der Hering auch? Warum werden einige Fische als groß bewertet, während bei anderen die Länge sogar in Maßzahlen ausgedrückt wird? Wie hat man eigentlich aus den ungefähr 25 000 Arten von Fischen und unter den 34 Ordnungen und 418 Familien, die man nach Grzimeks Tierleben kennt, ausgewählt? 82 Ich breche hier ab. Man kann auf der Basis der 40 geprüften Einträge zu Fischbezeichnungen allerdings seitenlang weiterfragen. Statt dessen sei gefragt: Kann die einsprachige Lexikographie aus dem hier aufgewiesenen, offensichtlichen Dilemma einen sprachwissenschaftlich vertretbaren und praktisch sinnvollen Ausweg finden? Man muß das prüfen; ich halte das für durchaus möglich. Voraussetzung ist aber, daß Lexikographen genau wissen, was sie mit ihren einsprachigen Wörterbüchern eigentlich wollen. Man muß bezweifeln, ob Wahrig und sein Stab dies sehr genau gewußt haben, denn für andere Wortschatzbereiche läßt sich der gleiche lexikographische Unfug nachweisen. Ich hatte argumentiert, daß die hervorzuhebende Eigenschaft von Augen für die meisten, die das Wort Auge gebrauchen, darin besteht, daß man mit ihnen sehen kann, und daß wahrscheinlich aus diesem Grunde eine lexikalische Paraphrase formuliert werden kann, die als relativ unproblematisch anzusehen ist. Was nun aber ist für uns oder sogar für die meisten der Sprachteilhaber, die die Fischbezeichnungen gebrauchen, die hervorzuhebende Eigenschaft an z.B. Heringen, Lachsen, Hechten, Forellen etc.?

80 Hiermit ist das gemeint, was aus der Klassifikationstheorie als Unterteilungsgesichtspunkt bekannt ist. In der Semantik spricht man u.a. von semantischer Dimension. 81 Soll vielleicht der Benutzer aus der Verwandtschaft zwischen Lachs und Forelle schließen, daß auch Forellen wandern? 82 Grzimek-Tl (45 ff.).

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Ich meine nun, daß diese Frage nicht mit der gleichen praxisbezogenen Sicherheit beantwortet werden kann, wie im Falle von Auge; das aber heißt zugleich, daß man nicht nach den gleichen Paraphrasierungsprinzipien wie beim Lemma ,Auge' lexikographisch verfahren kann. Es ist daher kaum möglich, in einem einsprachigen Wörterbuch z.B. das Lemma ,Hecht' wie das Lemma ,Auge' zu paraphrasieren, indem man an der Biologie und Zoologie orientierte halbwissenschaftliche Definitionen als sog. Bedeutungserklärungen einträgt, die nach zahlreichen Gesichtspunkten willkürlich erstellt sind. Angler, Köche, Hausfrauen, Fischhändler, Sammler, Zoologen, Biologen, Fischzüchter etc.: alle haben unterschiedlich gewichtete Interessen an Lachsen, Hechten, Forellen etc. Sie haben daher auch ein verschiedenes Wissen von diesen Fischarten und können daher diese Wörter unterschiedlich gebrauchen, was natürlich keineswegs heißt, daß sie über individuelle oder private Bedeutungen verfügen. Die Bedeutung der Fischbezeichnungen ist aber aus den genannten Gründen - im Unterschied zu der von ,Auge* - nicht ohne weiters auf einen einQ-J

heitlichen lexikographischen Nenner zu bringen. Das einzige, was alle oder die meisten sicherlich wissen, und wenn sie es nicht wissen beim Nachschlagen in einem einsprachigen Wörterbuch unbedingt erfahren sollten, ist, daß ein Lachs ein Fisch ist, oder - sprachwissenschaftlich ausgedrückt - daß Lachs ein lexikalisches Hyponym x-ten Grades zu Fisch ist. Es ergibt sich also: \VbE20: ,Lachs' Fisch

Das bedeutet wenigstens: In usuellen Texten bezieht man sich mit dem Wort Lachs auf einen Fisch. Ob außerdem noch weitere Informationen zum semantischen Gebrauch von Lachs gegeben werden, und wenn solche eingetragen werden, dann welche, ist a u s s c h l i e ß l i c h eine Frage, welche Benutzerinteressen man bevorzugt bedienen will; oder anders gesagt: Es hängt von den Zielen, die mit einem Wörterbuch erreicht werden sollen, ab. Dazu ist eine prinzipielle Vorentscheidung beim Schreiben eines Wörterbuches nötig, und diese muß in den „Hinweisen für die Benutzung" für jeden Wörterbuchbenutzer verständlich und in ausdrücklicher Form ausgesprochen werden. Im Wahrig-DW (1968) z.B. ist das nicht der Fall. Hier wird s t i l l s c h w e i g e n d - unter dem überall durchschimmernden Motto „Interessant für jeden" 84 - der durchschnittliche deutsche Bildungsbürger bevorzugt bedient, der normalerweise über eine biologische oder zoologische Halb- als Teil einer sog. Allgemeinbildung verfügt. Diesem wird dann zugemutet, schlechte und weitgehend willkürliche Sachbeschreibungen als sog. Bedeutungs-

83 Theoretisch wurde dieses Problem u.a. als distinguisher-Problem behandelt. Es ist nicht lösbar im Rahmen irgendeiner strukturell oder generativ orientierten Semantik. 84 Vgl. z.B. Wahrig-DW (1968), Vorwort: „DAS GROSSE DEUTSCHE WÖRTERBUCH will jedem an der deutschen Sprache Interessierten ein Instrument in die Hand geben, das es ihm ermöglicht, mit unserer Sprache sinnvoll umzugehen."

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erklärungen aufzufassen. Das ist nicht nur äußerst gedankenlos, sondern m.E. auch lexikographisch kaum zu verantworten. Sehen wir uns nun einmal ein paar sog. Bedeutungserklärungen oder sog. lexikographische Definitionen zum Lemma .Fisch' an. Im Sanders-WDS steht: ,Fisch' [...] eine Klasse von Wassertieren, mit rothem, kalten Blut, die durch die Kiemen atmen und sich mittels Flossen bewegen [...]

Im Wahrig-DW (1968) lesen wir: ,Fisch' [...] Im Wasser lebendes Wirbeltier mit paarig angeordneten Brust- und sen, unpaarigen Rücken- und Schwanzflossen, Kiemenatmung u. mit Schuppen Haut[...}

Bauchflosbedeckter

Im Macksen-DtW heißt es: ,Fisch' [...] kaltblütiges, im Wasser lebendes Wirbeltier mit Kiemenatmung [...]

Im Köster-LdS findet sich: ,Fisch' [...] mit Flossen ausgestattetes [spindel- od. torpedoförmiges] beltier, das im Wasser lebt und durch Kiemen atmet [...]

wechselwarmes

Wir-

Wir vergleichen nun die zitierten „Bedeutungserklärungen" mit folgendem wissenschaftlichen Text aus Grzimeks Tierleben, der unter der Randüberschrift steht: „Was ist ein Fisch?" und lautet: „FISCHE (Überklasse Pisces) sind Wirbeltiere, die dem Leben im Wasser angepaßt sind. Sie besitzen als Flossen ausgebildete Gliedmaßen; ihre Haut ist in den meisten Fällen mit Schuppen bekleidet, kann jedoch auch Hautzähne oder Knochenschilder tragen beziehungsweise ganz unbeschuppt sein. Die Atmung erfolgt gewöhnlich durch Kiemen. Fische sind wechselwarm; ihr Herz besteht nur aus Vorkammern und Kammer, es führt lediglich venöses Blut. Damit ist der Begriff »Fisch« scharf umschrieben, seitdem die früher zu den Fischen gerechneten Kieferlosen [...] als besondere Überklasse der Wirbeltiere betrachtet werden." 85

Man erkennt nun sehr deutlich, daß alle vier „Bedeutungserklärungen" sich mehr oder weniger schlecht an der Def. eines wissenschaftlichen Begriffes »Fisch« orientieren 6 und von den Merkmalen des zoologischen Begriffes - je nach Ge-

85 Grzimek-Tl (4. Bd., 45). Man kann auch folgenden Text zum Vergleich heranziehen: „,Fische' (Pisces), seit dem Silur (vor etwa 450 Millionen Jahren) bekannte, mit etwa 25000 Arten in Süß- und Meeresgewässern weltweit verbreitete Überklasse 0,01 bis 15 m langer Wirbeltiere, wechselwarme, fast stets durch (innere) Kiemen atmende Tiere mit meist langgestrecktem Körper, dessen Oberfläche im allgemeinen von (unter einer dünnen, sehr schleimdrüsenreichen Epidermis liegenden) Schuppen oder Knochenplatten bedeckt ist; [flossenförmige] Extremitäten sind die paarigen Flossen ( Î Brustflossen, t Bauchflossen), daneben kommen unpaarige Flossen ohne Extremitätennatur vor ( t Rückenflossen, t Afterflosse, tFettflosse, tSchwanzflosse) [...]" (Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 8: Enz.-Fiz. Mit Sonderbeiträgen von [...]. Mannheim [usw.] 1973). 86 Auch Sanders-WDS orientiert sich an einem wissenschaftlichen Begriff von Fisch. Nur war um 1850 dieser anders als heute. Das erkennt man u.a. daran, daß das Superonym Wasser-

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schmack - einige weggelassen sind; z.B. »wechselwarm« bei Wahrig, anderes ist hier einfach falsch: So muß ein Benutzer aus der sog. Bedeutungserklärung schließen, daß jeder Fisch eine mit Schuppen bedeckte Haut hat, was aber nicht der Fall ist.87 Die sog. Bedeutungserklärungen sind mithin offensichtlich pseudooder halbwissenschaftliche Definitionen; relativ zu einer wissenschaftlichen Definition finden sich einige Zusätze und/oder Streichungen. Die Frage ist daher, ob durch diese Streichungen bzw. Zusätze aus der halbwissenschaftlichen Definition eine „Bedeutungserklärung" wird. Diese Frage ist keineswegs ironisch gemeint, denn die Sprachgeschichte zeigt, daß wissenschaftliche Begriffsbildungen durchaus auf die lexikalische Bedeutung und den semantischen Gebrauch standardsprachlicher Wörter eingewirkt haben. Inwieweit der oder ein wissenschaftlicher Begriff von Fisch eine Rolle spielt, kann ich nicht beantworten, und das Problem ist, ob dies überhaupt beantwortet werden kann. Was ich aber aufgrund von Hunderten von sog. Bedeutungserklärungen, 88 die genauso aufgebaut sind wie die zitierten zum Lemma ,Fisch' - feststellen möchte, ist folgendes: Solche „Bedeutungserklärungen" sind nicht deskriptiv in dem Sinne, daß sie die standardsprachliche Bedeutung von Fisch lediglich „beschreiben". Sie sind vielmehr stets auch präskriptiv oder normativ in dem Sinne, daß sie sich partiell an einem wissenschaftlichen Begriff von Fisch und damit auch am wissenschaftlichen Gebrauch orientieren. Es handelt sich daher bei solchen Bedeutungserklärungen um punktuelle Sprachlenkung durch lexikalische Kodifikation im Sinne einer bzw. in Anlehnung an eine Wissenschaft. Wissenschaftliche Fachsprache und damit wissenschaftliche Weltauffassung kommt dadurch - gewissermaßen durch die Hintertür - und für den Benutzer unkontrollierbar ins einsprachige Wörterbuch. In diesem Punkt stehen die modernen Wörterbücher der deutschen Sprache in einer schlechten lexikographischen Tradition. Nehmen wir an: ein einsprachiges Wörterbuch des gegenwärtigen Standarddeutsch hat u.a. folgende Zwecke formuliert: 1) Die Bedeutung der Stichwörter soll erläutert werden, indem der semantische Gebrauch des Stichwortes gezeigt wird.

thier in der „Bedeutungserklärung" steht und nicht Wirbeltier wie in den neueren Wörterbüchern. 87 Besonders lustig ist folgende Mackensen-Paraphrase: „Kaltblütiges, im Wasser lebendes Wirbeltier", denn „kaltblütig" ist hier für einen Benutzer, der nicht weiß, was kaltblütig im zoologischen Sinne ist - trotz der syntaktischen Beziehung zu Wirbeltier - nicht desambiguiert, sondern mehrfach ambig: Dialog: A: „Der Hai hat die schöne Nackte aber wirklich kaltblütig abgemurkst". Mackensen-Leser B: „Kein Wunder, der ist ja auch ein Wirbeltier". 88 Vgl. z.B. folgende Lemmata im Wahrig-DW (1968): .Funktion', .Komplex', .Licht', .Relation', .Kalkül'. - In Ffrage kommen alle Lemmata, die einerseits standardsprachlich gebraucht werden - man könnte auch sagen: die zur Sprache der Gebildeten gehören - und andererseits einen oder mehrere bestimmte wissenschaftliche Begriffe ausdrücken.

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2) Bei Stichwörtern, zu denen es einen wissenschaftlichen Begriff gibt, (auf den man sich auch in standardsprachlichen Texten mit diesem Stichwort bezieht), wird eine wissenschaftliche Begriffsdefinition mitgegeben. In diesem Wörterbuch ist das bei Stichwörtern aus folgenden Wortschatzbereichen der Fall: Zoologie, Biologie, ... 8 9

Um diesen beiden Zwecken gerecht zu werden, kann ein Wörterbuchartikel zum Lemma ,Fisch' etwa wie folgt aussehen: 90 WbE 2 i: ,Fisch' 1. —•Tier, das im Wasser lebt \ *— Forelle, Aal, Hecht, Hai, Karpfen, Hering, Zander u.a. [...] - e angeln, fangen, fischen, füttern, züchten; a. sich wie ein ~ im Wasser fühlen sich sehr wohl fühlen \ die - e füttern sich bei Seekrankheit ubergeben | b. munter wie ein - im Wasser sein gesund sein | kalt wie ein sein gefühllos sein; frigide sein | « Blut wie ein - haben « -rblut haben; stumm wie ein sein gar nichts sagen | kleine - e Kleinigkeiten; kleine Hindernisse; leicht zu erledigende Dinge I faule - e dumme Ausreden; verdächtige Dinge | nasser ~ ungeklärter Kriminalfall I großer ~ guter Fang „Der verhaftete Spion H. war für den Nachrichtendienst ein großer Fisch" (Frankf. Rund. 17.7.74) | nach faulen ~en riechen übel riechen; stinken \ einen goldenen - im Netz haben einen guten Fang gemacht haben; jemanden erobert haben „Mit Uta hatte er einen goldenen Fisch im Netz" (Ludwig Erich, 19) ] wie ein auf dem Trockenen sein völlig hilflos sein | 2. Fisch = Pisces: *wechselwarmes Wirbeltier, das im Wasser lebt und durch Kiemen atmet. Die Gliedmaßen sind als Flossen «—[Bauche, Brustr, Rücken-r, Schwanz-, ...] ausgebildet; die Haut ist mit Schuppen, Hautzähnen, *Knochenschildern bedeckt, seltener unbeschuppt [Def. nach Grzimek-Tl, Bd. 4, 45] „Der Fisch hat seinen Platz im Ordnungssystem mehrmals gewechselt" (Brehm, 74) 3. —*Speise =>[Nahrung] für Menschen | mit Verb L+ auth' c. mit Adj. JBeisP·

fachlit. fachspr. Wörterb.

2. Zool. Def. [Quellenang.] 3. —»zweite lexP •HH.-Reihe] Beisp. für semK in usT¡ Redewendungen zu 3.+P a., b., c., ... 4. bis n. lexP zu fachspr. : Bedeutung

8

Benutzungssituationen Gen in WBer A = Spez in WBer A -

andere Lemmata superonymes hyponyme

Nuanc in WBer A

Term: Gen in WBer Β = Spez in WBer Β :

event, kein Lemma (*) superonymes hyponyme

verschiedene

Schlußbemerkungen

Ich habe versucht, einige „Neue Wege der Wörterbucharbeit" anhand praktischer Vorschläge zu zeigen. Dabei habe ich mich auf einige semantisch-pragmatische Aspekte beschränken müssen. Daher möchte ich abschließend ausdrücklich darauf hinweisen, daß diese Beschränkung ihre Tücken insofern hat, als Syntax und Semantik nicht vollständig unabhängig voneinander behandelt werden können, und zwar auch nicht bei der Wörterbucharbeit.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch aus: Fachsprache und Gemeinsprache. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1978. Hrsg. v. Wolfgang Mentrup. Düsseldorf 1979 (Sprache der Gegenwart 46), 25-58. „ Und das Streben, eine reine, gefühllose Erkenntnissprache zu schaffen, ist ebenso begreiflich, wie es aussichtslos ist. " (Karl Otto Erdmann) „Die Biene ist in ihrer sozialrelevanten Struktur als sozialökonomisches Phänomen zur Suplementation der spätkapitalistischen Gesellschaft mit einer frustrationshemmenden Substanz namens Honig darzustellen. Dabei muß auf ihre Funktion zur Repression unterpriviligierter Schichten, sogenannter Imker, durch gesellschaftlich nicht erzwungene Infizierung toxischer Substanzen und die Bewältigung der dadurch entstehenden Konflikte eingegangen werden. " (Vorschlag für den Biologieunterricht an Hessischen Schulen, um darzustellen, daß Bienen uns mit Honig versorgen und stechen können)

1

Drei Thesen als Vorbemerkung

Ich möchte in diesem Beitrag1 für folgende Thesen plädieren: ( l ) D i e Fachsprachenforschung sollte sich, im stärkeren Maße als dies bisher geschehen ist, mit dem F a c h s p r a c h e n g e b r a u c h in typisierbaren Interaktionszusammenhängen befassen. 2 1

2

Der Wortlaut des Vortrages wurde in dieser schriftlichen Fassung weitgehend beibehalten. Anm. wurden ergänzt, das umfangreiche Handout nur teilweise eingearbeitet; dadurch wurden Umformulierungen und Textergänzungen notwendig. Diese „These" ist das Ergebnis meiner Einschätzung der neueren Fachsprachenforschung. Zwar ist neuerdings deutlich geworden, daß Fachsprachenforschung nicht vornehmlich aus der Erforschung von Fachwortschätzen, spezifischen Wortbildungsmustern und -mittein, syntaktischen Besonderheiten in bestimmten Textsorten sowie statistischen Untersuchungen bestehen kann, vgl. u.a. Möhn (1977, 67ff.); der Forschungsbericht von Bergmann/Zapf (1965) zeigt jedoch ex negativo, daß z.B. die Erforschung des G e b r a u c h s von Fachsprachen

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(2) Ein weitgehend vernachlässigtes Forschungsgebiet ist die mündliche und schriftliche wissenschaftliche Sprachkommunikation unter Fachwissenschaftlern. Die Fachsprachenforschung sollte sich intensiver als bisher mit der fachinternen und fächerübergreifenden sprachlichen Kommunikation unter Wissenschaftlern befassen. 3 (3) Ich gehe a posteriori davon aus, daß nicht nur die sprachliche Kommunikation zwischen Fachleuten und Laien sowie die interfachliche Kommunikation, sondern auch die fachinterne fachsprachliche Kommunikation nicht in dem Sinne zuverlässig funktioniert, daß die jeweils angestrebten Kommunikationsziele stets sicher erreicht werden können; ich setze damit voraus, daß Kommunikationskonflikte durch Fachsprachengebrauch in den verschiedenen fachspezifischen Kommunikationsbereichen oder Handlungsräumen auftreten können. Falls diese Voraussetzung richtig ist und falls man die institutionellen Bedingungen und das Funktionieren der Kommunikation im Fach studieren will, halte ich es für eine erfolgversprechende Forschungsstrategie, zunächst fachsprachlich bedingte Konflikte in einem Kommunikationsbereich zu studieren, den man aus eigener Erfahrung einigermaßen kennt. 4

These ( 1 ) spricht sich für eine Pragmatisierung dafür geeigneter Fragestellungen innerhalb der Fachsprachenforschung aus. Mit These (2) wird ein Hinweis auf ein brach liegendes, aber m.E. fruchtbares Forschungsfeld gegeben. Die These (3) enthält einen allgemeinen methodologischen Vorschlag, wie man die ersten Furchen in das unbestellte Feld ziehen kann. Insgesamt möchte ich mit meinen nachfolgenden Ausführungen lediglich versuchen, exemplarisch darauf hinzuweisen, daß die herkömmlichen Forschungsinteressen innerhalb der Fachsprachenforschung erweitert werden sollten, und zwar in Richtung auf die Erforschung des Fachsprachengebrauchs.

2

Zwei Verstehensebenen für bestimmte Fachausdrücke?

Die Beschäftigung mit Kommunikationskonflikten im Bereich wissenschaftlicher Kommunikation macht nachdenklich. Sollte jemand die Vorstellung vom

3

4

im Industriebetrieb noch gänzlich in den Anfängen steckt. Die Arbeit von H. Schönfeld u. J. Donath: Sprache im sozialistischen Industriegebiet. Untersuchungen zum Wortschatz bei sozialen Gruppen. Berlin-Ost 1978 (Sprache und Gesellschaft) war mir leider nicht zugänglich. Es gibt relativ zahlreiche Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung von wissenschaftlichen Fachsprachen. Davon kann man sich durch einen Blick in die einschlägigen Bibliographien (z.B. Barth 1971) oder die Einführungs- bzw. Übersichtsbücher (z.B. Hoffmann 1976, Fluck 1976, Drozd/Seibicke 1973) überzeugen. - Untersuchungen zum G e b r a u c h von wissenschaftlichen Fachsprachen z.B. in Kolloquien, Projektgruppen, im Rezensionswesen, in Zeitschriftendiskussionen, in öffentlichen wissenschaftlichen Tagungen, im Gutachterwesen, in Projektanträgen usw. liegen kaum vor. Es gibt lediglich einige Arbeiten zum Argumentationsstil, z.B. Geier et al. (1977). - In verschiedenen Arbeiten zur Sprache in der Jurisprudenz finden sich ebenfalls Hinweise zum Gebrauch der juristischen Fachsprache. Diese Arbeiten sind zum Teil erschließbar über folgende Materialsammlung: Ladnar/von Plottnitz (Hrsg.) (1976). Daher nehme ich die Beispiele überwiegend aus der linguistischen Fachsprache bzw. aus Diskussionen zwischen Sprachwissenschaftlern. Zu dem in (3) bezogenen Standpunkt vgl. Ungeheuer im Vorwort zu Richter/Weidmann (1975).

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

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rational und überwiegend sachlich argumentierenden Wissenschaftler haben, der möglichst ökonomisch eine weitgehend präzise, fachspezifische Zwecksprache 5 diszipliniert verwendet, um Erkenntnis zu gewinnen oder anderen mitzuteilen, der wird diese bei der Beschäftigung mit Kommunikationskonflikten erheblich korrigieren müssen. Spätestens beim Nachdenken über die möglichen Ursachen und Konsequenzen von Kommunikationskonflikten treten im Gefolge weiterreichender Fragen, die ich kommunikationsethische nennen möchte, auch Fragen auf wie z.B. diese: Wie lassen sich Kommunikationskonflikte von vornherein, d.h. prinzipiell und prophylaktisch vermeiden? Durch Kritik der oder einer Wissenschaftssprache? Durch Kritik bestimmter Sprachgebräuche bestimmter Wissenschaftler oder wissenschaftlicher Schulen? Durch allgemeine oder spezielle sprachtherapeutische Vorschläge? Durch Diskurs? Die Geschichte der wissenschaftlichen Sprachkritik und auch deren Kapitel „Kritik der Wissenschaftssprache und des wissenschaftlichen Sprechens und Schreibens" ist noch nicht geschrieben. Soweit ich diese Geschichte kenne, neige ich dazu, die Frage eher negativ zu beantworten; d.h.: Ich sehe keine Möglichkeit für ein wissenschaftlich begründbares, allgemein anwendbares Rezeptbuch zur sicheren Vermeidung von Kommunikationskonflikten, auch nicht für den Bereich der wissenschaftlichen Kommunikation. 6 Ich bin aber dennoch optimistisch genug anzunehmen, daß Kenntnisse der institutionellen, der kommunikatorinternen, der sprachbedingten und situationsspezifischen Ursachen, der unterschiedlichen Strukturvarianten, der verschiedenen Typen sowie der individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Kommunikationskonflikten dazu beitragen können, diese - im konkreten Fall ihres Auftretens - wenigstens als solche zu erkennen, so daß man sie von sozialen und Meinungskonflikten unterscheiden und intrakommunikativ beherrschen und gegebenenfalls im Nachhinein mit verbalen Mitteln in wechselseitigen hermeneutischen Verständigungsbemühungen diskutant aufklären kann derart, daß die jeweils angestrebten kommunikativen Ziele erreicht werden können. In den Vorbemerkungen hatte ich betont, daß ich versuchen möchte, für eine Erweiterung der Forschungsinteressen innerhalb der Fachsprachenforschung zu plädieren. Wenn man sich mit Kommunikationskonflikten beschäftigt hat, dann schätzt man einen solchen Versuch angesichts eines relativ heterogenen Großauditoriums ziemlich skeptisch ein. Er kann m.E. allenfalls dann gelingen, wenn ich mit der komplexen Sprechhandlung, mit der ich vor einigen Minuten begonnen habe, nämlich mit der Sprechhandlung nach dem Muster ,einen wissen5 6

Der Ausdruck Zwecksprache ist in der Terminologieforschung gebräuchlich; vgl. Wüster (1970). Bekannte Bemühungen in dieser Richtung können allenfalls Teilerfolge verbuchen und sind selbst in verschiedenen Hinsichten konfliktträchtig. Dies gilt z.B. für Konstruktionen von speziellen Sprachen und für die Terminologienormung. Auch besonders explizites wissenschaftliches Sprechen kann unter Umständen gerade zur Kommunikationsverweigerung führen.

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schaftlichen Vortrag halten', nach Ende des Vortrages zumindest derart erfolgreich war, daß wenigstens einige der hier Anwesenden wenigstens den inhaltlichen Kern meiner Ausführungen akzeptiert haben. Diesen zweiten Grad des Erfolgreichseins, nämlich akzeptiert zu werden, kann man allerdings nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt anstreben bzw. erreichen. Die wichtigste Bedingung, die erfüllt sein muß, ist die Verstehensbedingung; dies heißt: Strebt ein Vortragender an, daß seine Ausführungen akzeptiert werden, muß er zunächst dafür Sorge tragen, sprachlich verstanden zu werden. Ohne weitere Rechtfertigung und auch ohne Begründung, die nur aufgrund einer eingehenden Analyse des kommunikationslogischen Dilemmas gegeben werden könnte, in dem sich jeder Vortragende angesichts eines so unterschiedlich zusammengesetzten Publikums befindet, werde ich weitgehend auf die Verwendung sehr spezieller Fachausdrücke, die aus elaborierten theoretischen Zusammenhängen stammen und die gerade bei der Erforschung von Kommunikationskonflikten benutzt werden (!), verzichten. 7 Dies bedeutet zugleich, daß sehr spezielle Sachverhalte nicht zur (Fach-)Sprache kommen werden, ein Verzicht, der mit meiner Absicht, das gegebene Thema hier zu behandeln, nicht kollidiert. Ganz ohne die Verwendung von Fachausdrücken wird es indessen dennoch nicht gehen. Denn auf die - durch den Gebrauch von Fachausdrücken keineswegs stets, aber doch häufig - erreichbare kommunikative Ökonomie, die u.a. dadurch ermöglicht wird, daß der je geäußerte Fachausdruck vorausgesetztes Fachwissens der Zuhörer aktivierend in Anspruch nimmt, kann nicht gänzlich verzichtet werden. Um jedoch Kommunikationskonflikte, die durch den Gebrauch von wissenschaftssprachlichen Ausdrücken entstehen könnten, von vornherein weitgehend selbst zu vermeiden, möchte ich auch nachfolgend so vorgehen, wie bisher bereits geschehen, und zwar folgendermaßen: Ich werde eine Reihe von Fachausdrücken, die zum Teil durch Definitionsketten 8 untereinander verbunden sind, so verwenden, daß sie auf zwei unterschiedlichen Verstehensebenen sprachlich verstanden werden können. Was ich mit der - durchaus metaphorischen Redeweise von den ,Verstehensebenen' meine, möchte ich nun an einem einfachen Beispiel erläutern, das aus fünf authentischen Textausschnitten besteht. BEISPIEL Nr. 1 In nicht-wissenschaftlicher Rede sind folgende Satzäußerungen belegt: (1) D i e Ausführungen Genschers zur Terrorismusbekämpfung können von den S P D - L i n k e n auf keinen Fall a k z e p t i e r t werden. [Hess. Rundfunk, polit. Kommentar.] (2) Der Verlauf des SPD-Parteitages hat deutlich gemacht, daß Brandt mit seinem Grundsatzreferat e r f o l g r e i c h war. [Hess. Rundfunk, polit. Kommentar.] (3) Ihre Darstellung des Unfallhergangs habe ich nicht in allen Einzelheiten v e r s t a n d e n , und muß daher F o l g e n d e s fragen. [Rechtsanwalt z u m Unfallgegner.] In e i n e m wissenschaftlichen Text findet man folgende Textausschnitte:

7

Vgl. z.B. Richter/Weidmann ( 1 9 7 5 ) und Backhausen (o.J.).

8

Zum Ausdruck Definitionskette

vgl. Savigny ( 1 9 7 0 ) und Wiegand (*1979a).

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

241

(4) „Der Begriff des E r f o l g re i c h s e i n s bezieht sich auf die Konsequenzen von Sprechakten in der weiteren Entwicklung der Interaktionssituation. E r f o l g r e i c h s e i n ist ein Prädikat für bestimmte Sprechakte. [...] Bei den Sprechakten, die eine neue Interaktionsbedingung einführen, gehören zum vollen Erfolg drei Elemente: 1. Der Adressat erkennt (gemäß der Intention des Sprechers), daß der Sprecher eine bestimmte Einstellung ausdrückt: Is E h cps — E h cps ρ 2. Der Adressat übernimmt (gemäß der Intention des Sprechers) eine korrespondierende Einstellung: Is ΦΗ Ρ — · Erfüllt 0 H / S A Diese drei Arten (oder Grade) des Erfolgreichseins lassen sich abkürzend mit den Begriffen V e r s t e h e n , A k z e p t i e r e n und E r f ü l l e n kennzeichnen." [Wunderlich 1976, 115f.]. (5) „Er [mein Versuch] kann m.E. allenfalls dann gelingen, wenn ich mit der komplexen Sprechhandlung [...] nach Ende des Vortrages derart e r f o l g r e i c h w a r , daß wenigstens einige der hier Anwesenden wenigstens den inhaltlichen Kern meiner Ausführungen a k z e p t i e r t haben. Diesen zweiten Grad des E r f o l g r e i c h s e i n s , nämlich a k z e p t i e r t zu werden, kann man allerdings nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt anstreben bzw. erreichen. Die wichtigste Bedingung, die erfüllt sein muß, ist die Verstehensbedingung; dies heißt: Strebt ein Vortragender an, daß seine Ausführungen a k z e p t i e r t werden, muß er zunächst dafür Sorge tragen, sprachlich v e r s t a n d e n zu werden" [vgl. im Text oben].

In den Textausschnitten (1) bis (5) geht es mir um die gesperrt gedruckten Ausdrücke akzeptieren, erfolgreich sein und verstehen bzw. um ihre kotextbedingten grammatisch regelgerechten Modifikationen. Dichotomisch unterscheide ich zwischen zwei Verwendungsweisen von sprachlichen Ausdrücken: In (1) bis (3) liegen nichtwissenschaftliche Verwendungen der fraglichen Ausdrücke vor; in (4) dagegen liegen wissenschaftliche Verwendungen vor. Letzteres besagt, daß in (4) die fraglichen Ausdrücke relativ zu nominalen Festsetzungsdefinitionen verwendet sind. 9 In solchen Definitionen erscheinen die nicht-wissenschaftlichen Ausdrücke im Definiendum und werden terminologisiert. 10 Schließt die definitorische Bedeutungskonstitution an den nicht-wissenschaftlichen Gebrauch der in den Definienda stehenden Ausdrücke an, dann werden durch den Akt des Definierens solche wissenschaftlichen Fachausdrücke geschaffen, die an die nichtwissenschaftliche Spracherfahrung und damit an die Alltagskenntnisse der Sprachsubjekte tendenziell angeschlossen sind. Dadurch bleibt das nicht-wissenschaftliche, u.a. durch die Sprachpraxis erworbene und vermittelte Alltagswissen als Verstehensbasis auch für das Verstehen von verwendeten Fachausdrücken in Geltung. Diese Art der definitorischen Terminologisierung, die prinzipiell auf die meisten nicht-wissenschaftlichen Ausdrücke angewandt werden kann, verwirklicht konkret - ohne Rekurs auf philosophischen Schwulst und ohne den

9

Zu nominalen Festsetzungsdefinitionen vgl. Wiegand (*1979a) und die dort verzeichnete Literatur. 10 Zur Terminologisierung vgl. Drozd/Seibicke (1973, 147ff.).

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Kontext „transzendentaler Träumereien" 11 - die Einsicht, daß die Bedingung der Möglichkeit für wissenschaftliche Erkenntnis und Erfahrung qua Wissenschaftssprache - wenigstens in den Sozialwissenschaften - häufig die je erlernte nichtwissenschaftliche Sprache ist. In (4) sind die fraglichen Ausdrücke als Fachausdrücke verwendet, in (1) bis (3) dagegen nicht. Ich fasse daher die Ausdrücke, deren Verwendung in (4) vorliegen, als Terminologisierungen derjenigen Ausdrücke auf, deren Verwendung in (1) bis (3) vorliegen. Da die Ausdrücke in (1) bis (3) anders verwendet sind als in (4), spielen sie - so möchte ich unterstellen - auch jeweils eine andere Rolle beim Zustandekommen des Textverstehens. Wenn ein Textrezipient die Ausdrücke kennt und wenn alle weiteren Verstehensvoraussetzungen gegeben sind, konstituiert sich das Textverstehen auf zwei verschiedenen Verstehensebenen: als Ergebnis einer Rezeption von (1) bis (3) wird ein nicht-wissenschaftlicher, entsprechend bei (4) ein wissenschaftlicher Sachverhalt verstanden. 12 Ist nun ein beliebiger Ausdruck A, z.B. akzeptieren, der in einer nicht-wissenschaftlichen Sprache einen geregelten Gebrauch und damit wenigstens eine relativ bestimmte, praktisch eingespielte Bedeutung hat, in der oben erläuterten Art mittels einer Nominaldefinition terminologisiert und damit auch als wissenschaftlicher Fachausdruck definitionsgerecht verwendbar, dann ergibt sich für die Textrezipienten, seien sie nun Zuhörer oder Leser, prinzipiell die Möglichkeit, auf der einen oder der anderen Verstehensebene Verstehen zu erreichen. Auf welcher Verstehensebene die jeweiligen Verstehensbemühungen ablaufen, ist dabei vor allem abhängig vom je aktivierbaren Vorwissen der Textrezipienten. Wer mithin z.B. die neuere wissenschaftliche Diskussion um die Fachausdrücke akzeptieren, erfolgreich sein und verstehen kennt, 13 versteht den Textausschnitt (5) auf der Folie seines individuellen Wissensraumes 14 anders als einer, der die erwähnte Diskussion und die gegebenen Definitionen zufällig gerade nicht kennt. M.E. ist der von mir geäußerte Textausschnitt (5) auf beiden Verstehensebenen zu verstehen. Ich halte dies für einen Vorteil und meine, daß in bestimmten kommunikativen Situationen, beispielsweise wenn jemand einen Vortrag vor einem - hinsichtlich der je individuellen Wissensräume als heterogen eingeschätzten - Großauditorium hält, die Einstellung, die sich manchmal in solchen relativ gedankenlosen Redefloskeln zeigt wie z.B. wie Sie ja alle wissen ... oder uns ist ja allen bekannt, daß ... dann nicht unbedingt die angemessene ist, wenn vom Vortragenden Wert darauf gelegt wird, daß die sprachlichen Ausführungen verstanden werden.

11 Vgl. dazu Albert (1975). 12 Mit Keller (1977a) (und der dort zu dieser Frage angegebenen Literatur) gehe ich davon aus, daß Verstehen nicht ein Prozeß, sondern das Ergebnis eines Prozesses ist. 13 Zu dieser Diskussion vgl. u.a. Wunderlich (1976, 110ff.) und die dort verzeichnete Literatur und Wunderlich (1972, 22 ff.) sowie Maas (1972, 2 9 6 ff.). 14 Zum Ausdruck Wissensraum vgl. Rehbein (1977, 35 ff.).

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

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Die gerade anhand des Beispiels Nr. 1 erläuterte Strategie, sowohl die terminologische als auch die nicht-terminologische Verwendungsweise eines Ausdruckes als Sprecher zu berücksichtigen, in der Absicht, daß zwei Verstehensebenen im Adressatenkreis eröffnet werden, ist erstens sicherlich nur für bestimmte Textsorten und damit für bestimmte Situationen adäquat und zweitens aus verschiedenen Gründen problematisch. So wäre beispielsweise zu fragen, ob dieses Vorgehen nicht gerade Kommunikationskonflikte schafft. Dann aber wäre gleichzeitig zu fragen, welche andere Vorgehensweise unter den gegebenen Bedingungen keine Kommunikationskonflikte schaffen würde. Nicht unmittelbar bezogen auf die in diesem Handlungsraum 15 gegebenen Bedingungen möchte ich jedoch noch folgende generelleren Bemerkungen zum methodischen Rahmen für Untersuchungen des Sprachgebrauchs machen. Es scheint mir unumgänglich zu sein, daß empirisch oder quasi-empirisch 16 ausgelegte Untersuchungen des Sprachgebrauchs an dasjenige Erfahrungswissen anschließen, das im nicht-wissenschaftlichen Sprechen über den Sprachgebrauch bereits immer schon ausgedrückt wird bzw. werden kann. Dies bedeutet u.a.: Die sprachwissenschaftliche Analyse des Sprachgebrauchs expliziert mehr oder weniger isolierte, klar-konfuse Alltagskonzepte und überführt sie in geordnete theoretische Konzepte, die nach der Analyse als Erklärungsbasis dienen können. 17 Dies heißt zugleich, daß solche theoretischen Ausdrücke, die zur Untersuchung des Sprachgebrauchs benötigt werden, insbesondere auch solche Grundprädikate wie z.B. Handlung, Bedeutung, Verstehen und andere, aber auch solche Ausdrücke eines anderen Typs wie z.B. Kommunikationskonflikt, die in nichtwissenschaftlicher Rede nicht allgemein geläufig sind, keineswegs beliebig gewählt und auch nicht x-beliebig expliziert oder theorieintern definiert werden können. - Eine Analyse des Alltagskonzeptes ,Verstehen' z.B. kann daher an eine semantisch/pragmatische Analyse der Verwendung des sprachlichen Ausdrucks verstehen und eventuell an die seiner Feldnachbarin anschließen, um danach ein theoretisches Konzept zu erarbeiten. Mit der angedeuteten Vorgehensweise kann ein wissenschaftlicher Begriff des Verstehens an den Alltagsbegriff angeschlossen werden; 18 dadurch wird auch jener, von mir exemplarisch erläu15 Zum Ausdruck Handlungsraum vgl. Rehbein (1977, 12ff.) 16 Quasi-empirisch können Untersuchungen heißen, die mit Beispiele arbeiten, die der sprachkompetente Untersuchende selbst regelgerecht bildet. Vgl. dazu u.a. Rehbein (1977, 4, 7, 10.) 17 Ähnliche methodische Ansicht bei Rehbein (1977, 3 ff.). - Vgl. dazu auch meine Bemerkungen zur hermeneutischen Position im Abschnitt 4. 18 Hier wären dann diejenigen Verwendungsweisen von besonderem Interesse, die sich auf das Verstehen von sprachlichen Äußerungen beziehen. Eine semantische Untersuchung zum Gebrauch des Ausdruckes verstehen in nichtwissenschaftlichen Texten ist mir nicht bekannt. Nach den mir vorliegenden Belegen könnte eine solche Untersuchung wahrscheinlich erstens zeigen, daß im nichtwissenschaftlichen Gebrauch feinere semantische Unterscheidungen und Nuancierungen vorliegen als im wissenschaftlichen und philosophischen Sprachgebrauch, und zweitens, daß insbesondere prominente Hermeneuten die vielfache Polysemie dieses Ausdruckes nicht hinreichend berücksichtigt haben.

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terte, Einsatz zweier Verwendungsweisen des sprachlichen Ausdruckes verstehen möglich. - Theoretische Begriffe, die wie angedeutet etabliert werden, verweisen stets noch auf ihren Entdeckungszusammenhang; sie sind verankert in der erworbenen Spracherfahrung und -kenntnis sowie im Sprecherbewußtsein gerade auch des Analysesubjektes; sie verweisen die Erfahrung nicht konventionalistisch in den Verifikations- bzw. Falsifikationsbereich und damit in den Begründungszusammenhang der Theorie. 19

3

Zum Gebrauch des Ausdruckes

Kommunikationskonflikt

Ich möchte in diesem dritten Abschnitt versuchen zu erläutern, wie ich hier den Ausdruck Kommunikationskonflikt verwenden will. Als Ergebnis dieses Versuches werden wir noch nicht einmal über einen sog. klassifikatorischen Begriff 20

(im strengen Sinne) verfügen. Das Ziel meiner nachfolgenden Erläuterungen ist lediglich, erstens die angestrebte Verwendung dieses Ausdruckes wenigstens partiell zu rechtfertigen und zweitens eine gewisse semantische Stabilität für die Verwendung von Kommunikationskonflikt sicherzustellen, die gerade so flexibel (y instabil und Φ vage!) ist, daß einerseits eine Anzahl von Beispielen problemlos als Fälle von Kommunikationskonflikten identifiziert werden können, daß aber andererseits eine Anzahl von Beispielen nicht von vornherein nicht als Kommunikationskonflikt zählt und damit aus dem Blickfeld gerät, nur weil der Gebrauch des Ausdrucks bereits festgelegt wurde. Der erste Schritt meiner Erläuterungen soll einfach darin bestehen, daß ich eine Reihe von authentischen Beispielen aus Diskussionen unter Sprachwissenschaftlern gebe, in denen Personen in verschiedenen kommunikativen Rollen, nämlich als Diskussionsredner (DR), als Diskussionsleiter (DL), als Zwischenrufer (ZR) und als Referent (R) mit sprachlichen Äußerungen auf Ausschnitte der Kommunikation Bezug nehmen, die eventuell als sprachlicher Ausdruck von Kommunikationskonflikten gelten können. Ich habe bewußt mehrere Beispiele hinzugenommen, die m.E. nicht zu den klaren Fällen gehören; d.h. man wird im Falle der Analyse fragen müssen, ob es sich nicht um solche Konflikte handelt, die nur kommunikativ indiziert bzw. ausgetragen werden, nicht aber selbst durch die Kommunikation bedingt sind. 21 19 Vgl. dazu Jäger (1978) sowie meine Bemerkungen zur hermeneutischen Position in Abschnitt 4. 20 Zu den klassifikatorischen Begriffen vgl. v. Kutschera (1972, 16ff.); ich meine allerdings, daß es zu weniger unangenehmen Konsequenzen führt, wenn man von klassifikatorischen Ausdrücken bzw. Fachausdrücken spricht; es sei denn, man gibt nachvollziehbare Regeln für den Gebrauch des Ausdruckes Begriff an. Vgl. dazu Wiegand (*1979a) und die dort verzeichnete Literatur. 21 Die Grenze zwischen Kommunikationskonflikten und Meinungskonflikten z.B. ist derzeit m.E. keineswegs klar abzustecken.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

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BEISPIEL Nr. 2 - 3 4 2. ZR: „Lauter bitte! Hier hört man Sie nicht." 3. DL: „ Wir schließen am besten die Fenster; der Bagger ist offensichtlich lauter als der Referent. " 4. R: „Entschuldigen Sie bitte! Ich wurde hier am Tonband gerade abgelenkt. Können Sie Ihre Frage bitte wiederholen ? " 5. R: „Ich dachte, diese Angelegenheit sei bereits geklärt und verstehe eigentlich nicht, wieso Sie jetzt erneut nach dem theoretischen Status der semantischen Merkmale fragen. " 6. R: „Ich verstehe nicht so recht, was Ihr Einwand zur Sache beitragen soll. " 7. DR: „Könnten Sie mal erläutern, wie Sie den Ausdruck generieren gebraucht haben? Offensichtlich doch nicht im Sinne Chomskys, oder? " 8. DL: „ Gestatten Sie mir die Bemerkung - auch mit Rücksicht auf die lange Rednerliste: Ich habe den Eindruck, daß einige hier permanent aneinander vorbeireden. " 9. DR: „Ich muß gestehen, daß ich mich hier völlig mißverstanden fühle. " 10. DR: „Ich mache jetzt den Vorschlag, daß wir hier zum nächsten Diskussionspunkt übergehen, denn diese fruchtlosen Haarspaltereien führen ja doch nur zu Streitereien. Die Herren können das ja vielleicht nachher beim Bier aushandeln. " 11. DR: „Ich bin ja bei den Linguisten hier nur Gast und kann daher sachlich nichts beitragen. Als Literaturwissenschaftler kann ich mir aber die Bemerkung nicht verkneifen..., oder vielleicht ist es besser, wenn ich es als Frage formuliere: Verstehen Sie denn Ihr Fachchinesisch?" 12. R: „Ihre Ausführungen zeigen mir, daß Sie meine dritte These nicht richtig interpretiert haben. Das kann natürlich auch an der Formulierung liegen; ich gebe gerne zu, daß diese etwas komplex bzw. komprimiert geraten ist. " 13. DL: „Das war ein bißchen viel auf einmal! Können Sie vielleicht Ihren Beitrag auf einen kurzen Nenner bringen? 14. DR: „Was meinen Sie denn mit Praxeogramm?" 15. DR: „Wenn wir in dieser heiklen Frage weiterkommen wollen, müssen wir wohl oder übel erst einmal festlegen, was hier unter Bedeutung verstanden werden soll. " 16. DR: „Ihre schönen Formeln an der Tafel, verehrter Herr Kollege, sind für mich Böhmische Dörfer. Sie müssen sich schon die Mühe machen, dies Zeugs zu übersetzen. " 17. DR: „Ich habe den Eindruck, daß wir uns hier deswegen so schwer tun, weil jeder unter Transformation etwas anderes versteht. " 18. R: „Die Richtung Ihrer Frage ist mir eigentlich nicht ganz klar. " 19. R: „Ich danke Ihnen für Ihren ausführlichen Diskussionsbeitrag, habe aber nicht den Eindruck, daß Sie mich nach etwas gefragt haben. " 20. DR: „Sollte das eine empirische Feststellung, eine Hypothese oder gar eine Definition sein?" 22. R: „ Gegen welchen Punkt meiner Ausführungen haben Sie eigentlich argumentiert? " 23. R: „Ihre Fragen zeigen mir, daß ich mich präzisieren muß. " 24. DR: „Mir ist eigentlich nicht ganz klar geworden, in welchem Sinne Sie von Eigennamen reden. " 25. DR: „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Sie in einem zentralen Punkt richtig verstanden habe. Verwenden Sie die Termini Signifikationsrelation und Referenzrelation synonym oder nicht? Wenn nicht: wo liegt der Unterschied? 26. R: „Lieber Herr X, wir kennen uns schon so lange und haben ja auch schon öfters gerade über diesen Punkt diskutiert, daß ich Ihnen zu Ihrer Frage zum Status von Traumwelten nur sagen kann: Entweder haben Sie vorhin geträumt, oder Sie wollen mich ärgern. "

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R:

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DR|

29.

DR 2 DR:

30.

DR:

31. 32.

ZR: DL: DL: DRX R:

33.

R:

34.

DR:

„Auf Ihre Frage kann ich nur mit einer Gegenfrage antworten: Sind wir eigentlich im Proseminar oder in einer wissenschaftlichen Diskussion ? " „Schließlich müssen wir doch davon ausgehen, daß jedes sprachliche Zeichen aus einem signifiant und einem signifié besteht. " „Das brauchen Sie doch mir nicht zu sagen!" „Ihre Ausführungen haben mich vollkommen uberzeugt. Ich darf Sie auf meinen Aufsatz „X" hinweisen, in dem ich bereits vor 9 Jahren genau die gleiche Etymologie entwickelt habe. " „Dem jungen Kollegen auf einer der hinteren Bänke möchte ich zu seinem letzten Beitrag noch sagen: Mit Ironie sind noch keine wissenschaftlichen Probleme gelöst worden. " „Mit tierischem Ernst und Dogmatismus aber auch nicht! " „ Sie haben nicht das Wort. Außerdem wollen wir hier sachlich diskutieren! " „Herr Kollege X, Sie waren angesprochen. Wollen Sie dazu Stellung nehmen?" „Ich glaube nicht, daß sich das lohnt. " „Ich bedanke mich für die Belehrung. Es ist schön, daß wir so gebildete Leute unter uns haben, die es immer wieder fertig bringen, uns von den eigentlichen Problemen so charmant abzulenken. " „ Um allen Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen, möchte ich einleitend folgendes klarstellen: Ich werde strikt zwischen Normen und Regeln unterscheiden. Für mich sind Normen lediglich diejenigen Regeln, die vorgeschrieben werden. " „ Wenn Sie glauben, ich hätte die Richtung Ihrer Kritik nicht verstanden, dann irren Sie sich. Ich verstehe nur Sie nicht, wenn ich daran denke, was gerade Sie vor ein paar Minuten dazu gesagt haben. "

Für einen teilnehmenden Beobachter, der wissenschaftliche Diskussionen unter dem Aspekt ihrer Konfliktträchtigkeit untersuchen will, sind solche Textstellen, wie die Beispiele Nr. 2 bis Nr. 34, mögliche Ansatzpunkte für eine Untersuchung. Ich will sie Konfliktindikatoren nennen. Eine erste Aufgabe wird sein, diese in irgendeiner Weise zu ordnen. Eine solche Ordnung ist dann brauchbar, wenn sie ihren Zweck erfüllt; um sie herzustellen, benötigt man wenigstens ein zweckgerechtes Ordnungskriterium. In einem zweiten Schritt meiner Erläuterungen zur Verwendung des Ausdrukkes Kommunikationskonflikt will ich versuchen, ein vorläufiges Kriterium dadurch zu bestimmen, daß ich ein vorläufiges Interpretament für Kommunikationskonflikt angebe. 22 Einerseits kann man einen theoretisch isolierten Ausdruck wie Kommunikationskonflikt nicht einfach definieren, andererseits scheint mir eine theoriebezogene Definition, die prinzipiell entgegen der nichtwissenschaftlichen Verwendung des zu definierenden Ausdruckes vorgenommen wird, ein inhaltlich nicht sehr interessantes Ergebnis eines wissenschaftsdogmatischen Willküraktes zu sein. Der Gebrauch der Ausdrücke Konflikt und Kommunikation ist bildungssprachlich bereits mehr oder weniger eingespielt. Mithin kann über

22 Zu bestimmten Typen von Kommunikationskonflikten gehören bestimmte Typen von Konfliktindikatoren. Daher könnte man die Beispiele Nr. 2 bis Nr. 34 systematisch ordnen, was ich hier jedoch unterlassen will, weil dazu erheblich detailliertere Ausführungen notwendig wären.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

247

die Semantik der beiden Ausdrücke keineswegs beliebig verfügt werden, und daher ist auch das Kompositum Kommunikationskonflikt bereits semantisch motiviert. - Wortbildungsmäßig entspricht er Ausdrücken wie Generationenkonflikt, Rollenkonflikt, Proporzkonflikt, Klassenkonflikt, Interessenkonflikt u.a. Untersucht man die Verwendung dieser Komposita nicht etwa in fachwissenschaftlichen, sondern in nicht-wissenschaftlichen, insbesondere in bildungssprachlichen Texten und nimmt den Ausdruck Konflikt sowie solche Fügungen wie bewaffneter Konflikt, tragischer Konflikt, sozialer Konflikt u.a. hinzu, dann erhält man etwa folgendes vorläufiges Interpretament: 23 Der Ausdruck Konflikt, die Komposita vom gezeigten Typ sowie die erwähnten Fügungen werden verwendet, um auf Zustände oder Prozesse Bezug zu nehmen, die dann auftreten, wenn wenigstens zwei miteinander nicht verträgliche Verhaltens- oder Handlungstendenzen bzw. -ziele gemeinsam in einem Interaktionszusammenhang vorkommen und wenn auf die dadurch gegebene Konstellation in irgendeiner Weise reagiert wird. - Alle Komposita vom Typ X-KONFLIKT stehen zum Ausdruck Konflikt in der lexikalisch-semantischen Relation der Unterordnung, d.h.: sie sind Hyponyme zu Konflikt. Will man mithin nicht von vornherein mehr oder weniger willkürliche definitorische Festsetzungen treffen, die den Ausdruck Kommunikationskonflikt möglicherweise semantisch weitgehend von seinen Feldnachbarn isolieren, dann sollte man das gerade erwähnte feldkonstitutive Interpretament für Konflikt und Komposita vom Typ X-KONFLIKT bei einer eventuellen Terminologisierung von Kommunikationskonflikt möglichst berücksichtigen. Man hat so auch die Möglichkeit - im Sinne der Erläuterungen im Abschnitt 2 - Kommunikationskonflikt so zu verwenden, daß er auf zwei Verstehensebenen verstanden werden kann. Ich werde daher - unter Berücksichtigung des Interpretamentes für den Ausdruck Konflikt den dazu hyponymen Ausdruck Kommunikationskonflikt verwenden, um auf Prozesse Bezug zu nehmen, die dann auftreten, wenn zwei nicht verträgliche kommunikative Ziele bzw. kommunikative Absichten in einem Interaktionszusammenhang vorkommen (und miteinander erkennbar kollidieren) und wenn auf die dadurch gegebene Konstellation in irgendeiner Weise kommunikativ reagiert wird. In einem dritten Schritt meiner Erläuterungen zur Verwendung von Kommunikationskonflikt möchte ich das soeben gegebene Interpretament für Kommunikationskonflikt anhand einer partiellen Analyse eines Beispiels konkretisieren und etwas präzisieren. BEISPIEL Nr. 3 5

Objektiv-äußere Gegebenheiten des Handlungsraums: großer Vortragssaal; DR, sitzt ganz hinten, DR 2 ganz vorne.

23 Meine Belege für diese Ausdrücke stammen aus der „Zeit", dem „Zeitmagazin", dem „Spiegel" sowie aus der Dudenkartei. Auch habe ich mehrere einsprachige Wörterbücher und Fachwörterbücher zum Vergleich eingesehen.

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Fachsprache und Gemeinsprache. [...] Düsseldorf 1979, 25-58

DR| und DRi konstituieren, indem sie beginnen, miteinander zu diskutieren, einen Interaktions24 räum. Textausschnitt: Beginn der Diskussion DR]:

(1)

DRi: DR|:

(2) (3)

„Ich möchte Herrn XDR2 fragen, ob er den Begriff des Diaphonems im Sinne des Phonologie-Grafen bzw. -Papstes versteht. " „Ich habe Sie eben akustisch nicht verstanden." „Ich habe Sie eben gefragt, ob Sie den Begriff des Diaphonems im Sinne von Trubetzkoy verstehen. "

Es handelt sich um ein sehr einfaches Beispiel, das lediglich in einer einfachen Verschriftlichung vorliegt, was für den hier gegebenen Zweck m.E. kein Handicap darstellt. Selbst wenn man nur eine eingeschränkte Analyse dieses Textausschnittes anstrebt, muß man erstens eine ganze Reihe von methodischen Voraussetzungen machen, die zusammen genommen eine methodische Position markieren (sollten). Zu dieser möchte ich nur eine kurze Bemerkung machen. Diese Position kann m.E. nur eine hermeneutische sein; das soll hier wenigstens heißen: Bevor ein Analysator beginnen kann, den vor seinen Erkenntnisapparat gebrachten Text im Lichte theoretischer Begrifflichkeit und relativ zu gesetzten Untersuchungszwecken zu analysieren, muß der Text auf einer nicht-wissenschaftlichen Verstehensebene mehr oder weniger, im günstigsten Fall möglichst weitgehend, verstanden sein. Dieses letztere Verstehen ist ein solches vom extrakommunikativen Standpunkt aus; verglichen mit dem angestrebten wissenschaftlichen, d.h. theoriebezogenen Verstehen ist es als Vor-Verstehen charakterisierbar und darf nicht mit dem Verstehen verwechselt werden, das die Kommunizierenden selbst (hier DR|, DR 2 ) intrakommunikativ erreichen. Es muß einerseits stets eine Differenz, das heißt ein Mehr oder Weniger, in Kauf genommen werden; andererseits aber kann auch hier mit der Regelhaftigkeit und der Verbindlichkeit der je verwendeten Sprache gerechnet und damit auch eine gewisse Gleichartigkeit der Welterfahrung unterstellt werden. Das an die vorgängige sprachliche Praxis und Welterfahrung anknüpfende Vor-Verstehen kann in der Analysetätigkeit des Analysators nicht säuberlich vom wissenschaftlichen Verstehen getrennt werden, insbesondere dann nicht, wenn es um Fragen geht, die auch den Sinn des Textes betreffen. Das Vor-Verstehen geht, unter Umständen kontrollierbar, in das wissenschaftliche Verstehen ein; ein Sachverhalt, angesichts dessen Sozialwissenschaftler manchmal zu dem Glauben neigen, sie befänden sich, weil sie vergleichend auf die sog. Naturwissenschaftler schielen, in einem permanenten Rechtfertigungszwang. Ich bin dagegen umgekehrt der Meinung, daß, falls Naturwissenschaftler behaupten, sie hätten es meistens mit nichtvorverstandenen Gegenständen zu tun, ihrerseits zu rechtfertigen haben, wie sie zu dieser Behauptung kommen. - Zweitens benötigt man - auch zur Analyse eines so einfachen Beispiels wie Nr. 35 - einen theoretischen Rahmen, in dem die verwendeten Fachausdrücke wenigstens als vorläufig definierte gelten. Ein sol-

24 Zum Ausdruck Interaktionsraum

vgl. Rehbein (1977, 12, 21 ff. u. 186ff.).

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

249

eher Bezugsrahmen ist gegeben. Er kann (und braucht) hier nicht erst entwickelt zu werden. 2 5 Seine Konturen können aus der Analyse selbst erschlossen werden; wo das nicht möglich ist, setze ich auf Evidenz. Ich versuche zunächst vor allem anhand des Beispiels Nr. 35 und zum Teil unter Bezugnahme auf die Beispielgruppe Nr. 2 bis Nr. 34 folgende erste Frage zu beantworten: Was soll - in dem vorgeschlagenen Interpretament f ü r den Ausdruck Kommunikationskonflikt - heißen, daß zwei nicht verträgliche k o m m u n i kative Ziele bzw. kommunikative Absichten in einem Interaktionszusammenhang erkennbar miteinander kollidieren? Das Beispiel Nr. 35 ist ein sprachlicher Ausschnitt aus einer öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion. Eine solche Diskussion ist eine spezifische F o r m des Gesprächs. 2 6 (1), (2) und (3) sind Gesprächsschritte. Jeder Gesprächsschritt besteht hier aus gerade einer Satzäußerung. Per Interpretation kann hier jeder Satzäußerung gerade eine Sprechhandlung zugeordnet werden. - A posteriori nehme ich an, daß in einem Zwei-Personen-Gespräch wenigstens ein Gesprächsteilnehmer ein kommunikatives Gesprächsziel erreichen will. Solche Gesprächsziele müssen vor oder zu Gesprächsbeginn keineswegs immer klar konturiert sein; sie können sich im Gesprächsverlauf erst herausbilden bzw. modifizieren. Wer ein Gesprächsziel erreichen will, muß Sprechhandlungen vollziehen. Eine Sprechhandlung ist kategorial durch ihr kommunikatives Ziel bestimmbar. Das kommunikative Ziel einer Sprechhandlung kann Unterziel auf dem W e g e zur Erreichung des Gesprächsziels sein. Welches kommunikative Ziel ein Gesprächsteilnehmer mit dem Vollzug einer Sprechhandlung auch immer erreichen will, er muß simultan stets die kommunikative Absicht haben, daß er - j e nach gegebenem Fall - vom jeweils Angesprochenen und/oder von den Zuhörern sprachlich verstanden wird. Die kommunikative Absicht, Sprachverstehen 2 7 zu 25 Ich verweise vor allem auf Ungeheuer (1972) und (1977); den hier entwickelten Ansichten zur Kommunikation stimme ich in den meisten Punkten zu, wenn ich z.T. auch andere Ausdrücke verwende. Dafür habe ich Gründe, die ich hier nicht en detail darlegen kann; sie hängen jedoch damit zusammen, daß ich den Gebrauch z.B. der Ausdrücke: Verstehen, Sprachverstehen, Verständnis, Verständigung u.a. gerne im Anschluß an ihren nichtwissenschaftlichen Gebrauch in anderer Weise auseinanderhalten möchte. 26 Im Folgenden werde ich einige Fachausdrücke, die im Rahmen der sog. Gesprächsanalyse üblich sind, verwenden. Es handelt sich z.B. um die Ausdrücke Gespräch, Gesprächsverlauf, Gesprächseröffnung, Gesprächsbereitschaft, Gesprächszustand, Gesprächsziel, Gesprächsschrittsequenz und einige andere. Diese sind hier so verwendet, daß sie auch ohne die Bereitstellung möglicher Definitionen ausreichend verstanden werden können. Wer zu einem intensiveren Verständnis vordringen möchte, kann sich folgender Arbeiten und der dort verzeichneten Literatur mit Nutzen bedienen: Berens et al. (1976); Schank/Schoenthal (1976); Kallmeyer/Schütze (1976); Wunderlich (1976, 2 9 3 - 3 9 5 ) ; Henne (1977b); Henne/Rehbock (1979). 27 Den Ausdruck Sprachverstehen möchte ich hier nicht eingehender erläutern, nur ergänzend auf folgendes hinweisen. In einem Gespräch liegt vollständiges Sprachverstehen erst dann vor, wenn ein Angesprochener wenigstens Hörverstehen, propositionales Verstehen, illokutionäres Verstehen, kollokutionäres Verstehen und gesprächsstrategisches Verstehen erreicht

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Fachsprache und Gemeinsprache. [...] Düsseldorf 1979, 2 5 - 5 8

erreichen, ist kommunikationslogisch - und kommunikationslogisch ist für mich nicht das gleiche wie manipulationslogisch - eine notwendige Bedingung, um kommunikative Ziele erreichen zu können. - Ich gehe weiterhin a posteriori davon aus, daß - wenigstens im Falle der face-to-face-communication - der j e angesprochene Gesprächsteilnehmer gesprächsbereit ist und daher seinerseits die kommunikative Absicht hat, das sprachlich zu verstehen, was der Gesprächsteilnehmer geäußert hat. Dies bedeutet: Ich berücksichtige hier Fälle von Kommunikationsverweigerungen nicht. Ein Fall von expliziter Kommunikationsverweigerung liegt im Beispiel Nr. 31 vor. Mit dem gesprächseröffnenden Gesprächsschritt (1) hat DRi - sog. Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit vorausgesetzt - wenigstens das kommunikative Ziel verfolgt, vom angesprochenen DR2 auf seine gestellte Frage eine Antwort zu bek o m m e n . Wenn DRi dieses kommunikative Ziel hatte, muß - gemäß erläuterter A n n a h m e - weiterhin unterstellt werden, daß DRi simultan die kommunikative Absicht hatte, daß seine Äußerung ( 1 ) von DR2 als Frage nach etwas verstanden wird. Wie jedoch der Gesprächsschritt (2) zeigt, konnte DRi diese seine Absicht nicht verwirklichen, mithin sein kommunikatives Ziel nicht erreichen. Oder anders ausgedrückt: Der mit dem Gesprächsschritt (2) beginnende, f ü r den Analysator wahrnehmbare Teil der kommunikativen Nachgeschichte der in (1) ausgedrückten Sprechhandlung zeigt, daß diese verbale Fragehandlung im konstituierten Interaktionsraum und nur in diesem und nicht etwa im gesamten Handlungsraum nicht erfolgreich war. Man sollte aber bei dieser überwiegend sprecherorientierten Interpretation nicht stehen bleiben! Denn unter der ebenfalls bereits genannten Annahme, daß der Angesprochene, hier mithin DR2, (auch deswegen, weil er damit rechnen muß, selbst verpflichtet zu sein, die kommunikative Rolle des Sprechers zu übernehmen), die kommunikative Absicht hat, die vom Gesprächspartner gemachte Äußerung zu verstehen, zeigt (2), daß DR 2 das kommunikative Ziel von DRi nicht erschließen konnte, da er (1) akustisch nicht voll verstanden hat und mithin seine kommunikative Absicht, (1) sprachlich zu verstehen, nicht verwirklichen konnte. Dies bedeutet demnach: Auch der kognitive Prozeß, den DR2 in der kommunikativen Rolle des angesprochenen Hörers in Gang gesetzt hat, war auf der ersten Ebene nicht erfolgreich. 2 8 hat. Entsprechend dieser analytischen Dekomposition von Sprachverstehen lassen sich auch verschiedene Typen von Sprachverstehenskonflikten angeben. - Wenn ein A den Β und ein Β den A sprachlich verstanden hat, heißt dies aber noch keineswegs, daß z.B. am Ende einer Gesprächsschrittsequenz Verständigung zwischen A und Β erreicht ist. Schon im nicht-wissenschaftlichen Sprechen macht man hier erheblich feinere Unterschiede S o sagt man z.B. Hinz und Kunz konnten sich nicht verständigen o d e r . . . Eine Verständigung zwischen Ludwig und Erich ist nicht zustande gekommen. Wer diese Sätze äußert, meint aber nicht notwendigerweise, daß sich die beiden sprachlich nicht verstanden haben. - Zum Ausdruck kollokutionär bzw. kollokutionärer Akt vgl. Keller (1977). 28 Dies heißt, daß der Adressat vollständiges Sprachverstehen (vgl. Anm. 27) nicht erreichen konnte. Das Prädikat erfolgreich sein (auf der ersten Ebene) verwende ich im Anschluß an Wunderlich (1976, 115 ff.). Im Unterschied zu Wunderlich bin ich jedoch der Meinung, daß

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

251

Bezogen auf das oben angegebene Interpretament für den Ausdruck Kommunikationskonflikt kann man nun zunächst folgendes feststellen: Es verträgt sich nicht miteinander, daß einer der Gesprächsteilnehmer in der kommunikativen Rolle des Sprechers, hier DRi, ein kommunikatives Ziel hat, hier eine Antwort auf eine Frage zu bekommen, und daß ein anderer Gesprächsteilnehmer in der kommunikativen Rolle des angesprochenen Hörers, hier DR2, die kommunikative Absicht hat, zum Erreichen eines Sprecherzieles einen kognitiven Prozeß in Gang zu setzen, der zum Verstehen einer Äußerung des anderen, hier des Gesprächsschrittes (1), führen soll, in der Verwirklichung seiner Verstehensabsicht jedoch gehindert wird, derart, daß er Sprach verstehen nicht erreichen kann. Verkürzt und generalisiert heißt das, als Antwort auf die erste gestellte Frage: Das kommunikative Ziel des Sprechers kollidiert erkennbar mit der kommunikativen Absicht des Hörers. Beide sind in ihrem kommunikativen Wollen gleichermaßen geschädigt, nicht etwa nur der Sprecher. Liegt eine solche Konstellation in einem Interaktionsraum vor, oder anders ausgedrückt: ist ein konstituierter Interaktionsprozeß innerhalb eines Zeitintervalls derart strukturiert, spreche ich von einem a k u t e n K o m m u n i k a t i o n s k o n f l i k t . Akut sollen diejenigen Kommunikationskonflikte heißen, die von den Beteiligten unmittelbar, nachdem sie bemerkt wurden, verbal thematisiert werden, so daß für die Gesprächsteilnehmer und den Analysator ein sprachlicher Konfliktindikator gegeben ist. Einen Untertyp der akuten Kommunikationskonflitke bilden die S p r a c h v e r s t e h e n s k o n f l i k t e ; im Beispiel Nr. 35, aber auch in den Beispielen Nr. 14, 17, 25 u.a. liegen Fälle vor, die zu diesem Typ gehören. Gerade wenn Sprachverstehenskonflikte vorliegen bzw. insbesondere dann, wenn man den Typ der Sprachverstehenskonflikte, der seinerseits in eine Reihe von Untertypen differenziert werden kann, untersucht, wird deutlich, daß beide Gesprächsteilnehmer wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Eine vollzogene Sprechhandlung kann daher nur dann auf der ersten Ebene unmittelbar erfolgreich sein, wenn der noch während ihres Vollzugs einsetzende kognitive Prozeß des Angesprochenen wenigstens zum Verstehen der Sprechhandlung führt. Die koordinierten Aktivitäten der beiden Partner lassen sich daher auch als konstitutive Teile einer übergeordneten Gemeinschaftshandlung auffassen, deren Ziel die koagierenden Individuen nur gemeinsam erreichen können. 29 Bezogen auf das vorgeschlagene Interpretament für den generischen Ausdruck Kommunikationskonflikt sei nun noch eine zweite Frage gestellt: Was soll heißen, daß in irgendeiner Weise kommunikativ reagiert wird? DR2 reagiert, indem er (2) Ich habe Sie eben akustisch nicht verstanden äußert, kommunikativ auf den ersten Gesprächsschritt. Falls (2) vom Angesprochenen, und übrigens auch von einem teilnehmenden Beobachter, richtig verstanden worden ist, gilt

zum vollständigen Sprachverstehen mehr gehört als das Erkennen des Adressaten, daß der Sprecher eine bestimmte (propositionale) Einstellung ausdrückt. 29 Dazu vgl. Ungeheuer (1972).

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Fachsprache und Gemeinsprache. [ . . . ] Düsseldorf 1979, 2 5 - 5 8

(2) als Konfliktindikator, und zwar hier als einer, der die Konfliktursache selbst benennt, was keineswegs von allen Typen von Konfliktindikatoren gesagt werden kann. (2) ist eine Äußerung, die eine Aufforderung ausdrückt, nämlich die, (1) wenigstens sinngemäß zu wiederholen. (3) zeigt, daß (2) von DR t als gerade die Aufforderung verstanden worden ist. - (2) ist eine konfliktindizierende Äußerung, die eine kontrakonfliktäre 30 Sprechhandlung ausdrückt, und zwar eine Aufforderungshandlung mit dem metakommunikativen Ziel, die Beseitigung des aufgetretenen Sprachverstehenskonfliktes einzuleiten. Dies geschieht dadurch, daß DR2 mit (2) in den gegebenen Interaktionsraum wenigstens eine neue Interaktionsbedingung einführt. 31 Sie besteht darin, daß dem Angesprochenen D R j die Verpflichtung auferlegt wird, seine Äußerung (1) wenigstens sinngemäß zu wiederholen. Die Redeweise von „kommunikativ reagieren" im Interpretament zu Kommunikationskonflikt ist mithin nicht so zu verstehen, daß die konfliktindizierenden Äußerungen reaktive Sprechhandlungen ausdrücken. Dies kann auch der Fall sein. Häufiger ist jedoch - nach meinen Beobachtungen - daß kontrakonfliktäre Sprechhandlungen initiativ sind, d.h. durch Einführung wenigstens einer neuen Interaktionsbedingung eine eingebettete Handlungssequenz eröffnen. 3 2 Dies ist auch im Beispiel Nr. 35 der Fall. Mit der in (2) ausgedrückten kontrakonfliktären Aufforderung eröffnet DR2 eine eingebettete metakommunikative Handlungssequenz. Mit (2) spricht DR2 ü b e r die von ihm nicht vollständig verstandene Äußerung (1). Das Faktum, daß mit (2) gesprächsintern ü b e r eine Äußerung desjenigen Gesprächs gesprochen wird, zu der (2) selbst gehört, ist aber nur eine notwendige Bedingung dafür, daß man mit guten Gründen von Metakommunikation eines bestimmten Typs sprechen kann. Die nachfolgenden hinreichenden Bedingungen charakterisieren gerade diesen Typ. Das Sprechen-über muß das auf diejenige Kommunikation, in die es eingebettet ist, bezogene Ziel haben, Sprachverstehenskonflikte entweder prophylaktisch zu verhindern oder im Nachhinein - wie im Beispiel Nr. 35 - zu beseitigen. Bei diesem Typ handelt es sich um kooperativ angelegte Metakommunikation. 33 Diese ist um den kommunikativen Erfolg der übergeordneten Gemeinschaftshandlung bemüht. Damit ist angedeutet, daß die Redeweise „in irgendeiner Weise kommunikativ reagieren" ganz bewußt möglichst allgemein verstanden werden und z.B. auch initiative und metakommunikative Sprechakte einbegreifen soll. Damit möchte ich die exemplarischen Erläuterungen zur Verwendung des Ausdruckes Kommunikationskonflikt abbrechen.

30 Den Ausdruck kontrakonfliktär übernehme ich von Backhausen (o.J.) bzw. von Ungeheuer in Richter/Weidmann (1975). 31 Zur V e r w e n d u n g des Ausdruckes Interaktionsbedingung vgl. Wunderlich (1976, 89ff.). 32 Zur Unterscheidung von reaktiven und initiativen Sprechakten vgl. Wunderlich (1976, 76 ff.). 33 Zu diesem Typ von Metakommunikation vgl. Wiegand (*1979b); dort ausführliche Literatur zur Metakommunikation.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

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Die bisher versuchte Analyse des Beispiels Nr. 35 ist noch sehr grob; daher noch einige Bemerkungen dazu. Wenn auch die mit (1) vollzogene Sprechhandlung als solche nicht unmittelbar erfolgreich war, so kann dennoch nicht gesagt werden, daß DRi mit (1) die Gesprächsöffnung nicht gelungen ist, denn mit (2) gibt DR2 kooperativ zu verstehen, daß er gesprächsbereit ist. Wie (3), einfach deswegen, weil (3) vollzogen wurde, zeigt, geht auch DRi davon aus, daß er sich mit DR 2 bereits im Gesprächszustand befindet. Hier zeigt sich nun, daß die korrekte Anwendung des Prädikats nicht erfolgreich sein (auf der ersten, der Verstehensebene) auf Sprechakte keineswegs schon besagt, daß ein Gesprächsschritt kommunikativ vollständig erfolglos vollzogen wurde. (2) zeigt außerdem, daß DR2 (1) zumindest soweit verstanden haben muß, daß er erschließen konnte, daß er von DRi angesprochen wurde, d.h. DR2 muß wenigstens seinen - im Text als XDR2 wiedergegebenen - Namen verstanden haben. Weiterhin ist bemerkenswert, wie DRi (3) verglichen mit (1) formuliert. Er ersetzt nämlich des Phonologie-Grafen bzw. -Papstes in (1) in (3) durch von Trubetzkoy. An diese Ersetzung in (3) kann freilich keine intersubjektiv verifizierbare interpretatorische Aussage, wohl aber eine - wie mir scheint fruchtbare - interpretatorische Vermutung folgenden Inhalts angeschlossen werden: DRi unterstellt, daß DR 2 eventuell deswegen Sprachverstehen nicht voll erreichen konnte, weil er nicht erschließen konnte, wer mit Phonologie-Graf in (1) gemeint war, daß mithin (2) nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern von DR 2 verwendet wurde, um erstens Zeit zu gewinnen und um zweitens eben dies als eine der Voraussetzungen zur Beantwortung der Frage herauszubekommen. Nach meiner Erfahrung wird in Diskussionen unter Wissenschaftlern der geläufige Satz Ich habe Sie (eben) akustisch nicht verstanden gesprächsstrategisch durchaus so verwendet. - Trotz dieser Überlegungen möchte ich aber dabei bleiben, den im Beispiel Nr. 35 indizierten akuten Kommunikationskonflikt als Sprachverstehenskonflikt, bedingt durch partielle Kanalstörung, aufzufassen.

4

Kommunikationskonflikte und die Verwendung von Fachausdrücken

Im Folgenden muß ich eine ganze Reihe verschiedener Typen von Kommunikationskonflikten ausschließen, und zwar z.B. diese: (1) alle Typen von kanalbedingten Störungen, (2) alle Typen, die syntaktisch bedingt sind, und zwar sowohl solche, die durch abweichende als auch solche, die durch zu komplizierte Textkonstruktion zustande kommen, (3) alle Typen, die durch akut gestörte oder durch nachlassende Aufmerksamkeit im Interaktionsoder Handlungsraum zustande kommen können, (4) alle Typen, die durch unterschiedliche Interpunktion des Gesprächsverlaufes entstehen können, (5) alle Typen, die durch implizite oder explizite Partnerbewertungen bzw. Selbst- und Partnereinschätzungen sich entwickeln können,

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Fachsprache und Gemeinsprache. [...] Düsseldorf 1979, 25-58

(6) alle gesprächsstrategisch bedingten Typen, eingeschlossen solche, die durch Nichtbeachtung von Konversationsmaximen zustande kommen. 34

Weiterhin gehe ich nicht näher auf die zahlreichen Typen von Kommunikationskonflikten ein, die von den beteiligten Kommunikationspartnern nicht sprachlich indiziert werden. Fälle, die zu diesem Typ gehören, lassen sich als teilnehmender Beobachter nicht analysieren. Um solche gesprächsintern nicht verbalisierten Konflikte zu studieren, muß man - um hinreichend gesicherte Ergebnisse erzielen zu können - die Kommunikationsteilnehmer im Nachhinein z.B. gezielt befragen. Solche Untersuchungen sind schon gemacht worden, und zwar besonders hinsichtlich der Sprachkommunikation zwischen Laien und Fachwissenschaftlern. Ich nenne nur eine Untersuchung, und zwar die von Dubach und von von Rechenberg, durchgeführt in der Medizinischen Universitäts-Polyklinik in Basel. 35 88 Patienten wurde die Diagnose ausführlich erklärt. Nach kurzer Zeit dazu befragt, hatten nur noch 76 ein sog. Krankheitsverständnis, und zwar entlang einer Bewertungsskala: 5 5 % ein gutes, 2 6 % ein mittelmäßiges und 19% ein schlechtes. 5 Patienten hatten den Namen ihrer Krankheit vergessen, 3 gaben eine total andere Diagnose an, 5 erklärten - trotz gegenteiliger Arztaussagen - , sie seien völlig gesund. Es gab zahlreiche, geradezu unglaubliche Kommunikationskonflikte; nur ein schönes Beispiel: Bei einer Patientin diagnostizierte der Arzt funktionelle Bauchbeschwerden. Nach ihrer Krankheit befragt, gab diese Patientin an, der Arzt habe ihr erklärt, sie leide unter Heuschnupfen! Ein Test ergab, daß einer der diagnostizierenden Ärzte in 68 Fällen angab, er sei vollkommen davon überzeugt, daß der Patient seine Erklärungen vollständig verstanden hätte. Der Gegentest ergab jedoch, daß dies nur in 29 Fällen zutraf. Ein weiterer Test, der die Patienten nach den Gründen der Kommunikationskonflikte befragte, ergab hochsignifikant: Es sind die medizinischen Fachausdrücke, die die Hauptursache für die Sprachverstehenskonflikte sind. Dies entspricht auch den Ergebnissen von Untersuchungen aus anderen Kommunikationsbereichen, in denen Laien mit Fachleuten kommunizieren. Meine Beobachtungen zur Verwendung von wissenschaftssprachlichen Ausdrücken in den Sozialwissenschaften haben bisher ergeben, daß auch in fachinternen und in der interfachlichen Sprachkommunikation die V e r w e n d u n g von Fachausdrücken (nicht die Fachausdrücke!) der häufigste kommunikative Störfaktor ist. 36 Aus diesem Grund werde ich nachfolgend auf Sprachverstehenskonflikte eingehen, die durch verwendete Fachausdrücke entstehen können. Es handelt sich allerdings nur um Übersichtsbemerkungen. 34 Für alle hier aufgelisteten Typen finden sich in den Beispielen Nr. 2 bis Nr. 34 Konfliktindikatoren. 35 Vgl. Dubach/von Rechenberg (1977). 36 Das hängt z.B. damit zusammen, daß bei der Verwendung von Fachausdrücken keineswegs nur deren Referenz- oder Prädikationsfunktion eine kommunikative Rolle spielt. Wer einen bestimmten Fachausdruck F verwendet, gibt u.U. damit bereits implizit zu erkennen, welche wissenschaftliche Position er vertritt, und bereits dies kann eine Bewertung des Gesprächspartners bedeuten, die u.U. den weiteren Gesprächsverlauf beeinflussen kann.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

255

Bisher habe ich den Ausdruck Fachausdruck generisch verwendet, um unspezifisch auf alle Arten von sprachlichen Fachausdrücken Bezug nehmen zu können, die in irgendeinem Fach fachspezifisch verwendet werden. Alle Ausdrücke der folgenden Liste sind Fachausdrücke. LISTE VON FACHAUSDRÜCKEN Aus der Linguistik: Phonologisch determiniertes Allomorph, distinktives Merkmal, Hyponymierelation, Basisregel, kontextsensitive Subkategorisierungsregel, strikte Subkategorisierungsregel, Regelformulierungen, grammatische Regularitäten, privative Opposition, Systemlinguist, taxonomischer Strukturalismus, nordamerikanischer Deskriptivismus, Apokoinu, Apokope, Transformation, Konjunktion, Palindrom, Parisyllabum, Bedeutung, Wort, performatives Verb, Sprache, Langue, Eparole, assertiertes Präsuppositionsgefüge, analytischer Satz, Chomsky-Adjunktion, Riickwärtspronominalisierung, IC-Analyse, Jota-Operator, 3-Quantor, P-Marker, Strichpunkt, Lautverschiebung, Isolex, Wurzel, Stamm, Graph, Graphem, Distingem, Kompetenz, System, Struktur, dominieren, Knoten, Professionalismus, Halbterminus, Jargonisierung, formalisieren, generieren, empirisch, Pragmatisierung, Personenfokusierung, Gesprächsakt. Aus anderen Fachgebieten: DLG-Futter, T-Träger, X-Naht, Nebelwerfer, Einsteinium, Newtonsche Ringe, Engländer, Nortonschwinge, Pak, Schwarzwälder Füchse, Fixkosten, naßschleifen, Lizenzgeber, Punktschweißen, Glühlampe, Leuchte, Flop, esox lucius, bakterielle Dysenterie, autophysische Orientierung, Hexe, Rechner, Teilmantelgeschoß, Lunte, krankschießen, REFA-Lehrgang, desiderium naturale, Polylemma, Immanenzpositivismus, Brucin, Mikrofarad, M-5-Methode.

Ich habe mich bemüht, diese Liste so zusammenzustellen, daß möglichst viele Arten von Fachausdrücken darin vorkommen. Über einer solchen Liste kann man verschiedene Typologien aufstellen. Diese fallen - je nach gerade gewähltem Typologiekriterium - anders aus. Mögliche Kriterien sind z.B. die folgenden: 1) 2) 3) 4) 5)

Konstitution der Bedeutung des Fachausdruckes, Gebildetheit der Formseite des Fachausdruckes, Zugehörigkeit zu einer sog. Fachsprachenschicht im Sinne der sog. vertikalen Gliederung, Semantische Motivation, Fachausdrucksbildung als Möglichkeit der Erweiterung von Fachausdrucksinventaren.

Diese Kriterien (1) bis (5) haben alle etwas mit der Bedeutung von Fachausdrükken zu tun.37 Stellt man diese Typologien auf, dann kann man feststellen, daß jede semantische Eigenschaft bzw. Eigenschaftsgruppe, die einen bestimmten Fachausdruckstyp konstituiert, zu einem anderen Typ von Sprachverstehenskonflikten führen kann. Solche Kommunikationskonflikte werde ich - der Kürze halber - fachsemantisch bedingte Sprachverstehenskonflikte nennen.

37 Die mir bekannten Typologien von Fachausdrücken sind m.E. ziemlich heterogen, da sie meistens ganz verschiedene Kriterien verwenden. Vgl. z.B. Schmidt (1969a, 20); Fluck (1976, 47ff.). Die Diskussion bei H o f f m a n n (1976, 259) ist zwar sehr breit angelegt, aber auch hier wird nicht ausreichend berücksichtigt, daß man nicht zugleich alle Eigenschaften von Fachausdrücken berücksichtigen kann, wenn man Klassifizierungen anstrebt.

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Fachsprache und Gemeinsprache. [ . . . ] Düsseldorf 1979, 2 5 - 5 8

Im Folgenden kann ich nur einige Fälle behandeln anhand einer Typologie nach dem Kriterium (1). Dazu gebe ich zunächst eine intensionale Festsetzungsdefinition des Ausdruckes Fachausdruck. Ein Fachausdruck ist jeder sprachliche Ausdruck, der innerhalb eines Faches für die Sprecher der Fachsprache, zu der dieser Fachausdruck gehört, wenigstens eine Bedeutung hat, die er für Personen, die diese Fachsprache oder einen bestimmten Ausschnitt aus ihr nicht beherrschen, nicht hat. - Die Liste von Fachausdrücken ist ein Ausschnitt der Extension dieser Definition. Danach kann ein Fachausdruck innerhalb eines Faches erstens mehrere Bedeutungen haben, z.B. die sprachwissenschaftlichen Fachausdrücke Transformation, Konjunktion, Kompetenz. Zweitens kann ein Fachausdruck in verschiedenen Fächern verschiedene Bedeutungen haben, z.B. dominieren in der Linguistik und Biologie. Die Formulierung Bedeutung haben in der Definition soll hier aufgefaßt werden als ,einen bestimmten semantischen Gebrauch in einer Fachsprache' haben. Eine Typologie von Fachausdrücken nach (1) hat folgende Form: TYPOLOGIE VON FACHAUSDRÜCKEN Fachausdrücke

definierte Fachausdrücke

nicht definierte, pragmatisch

(Termini)

eingespielte Fachausdrücke

Untertypen, j e nach Fach-

nicht-normierte

normierte

sprache verschieden

Zunächst einige Bemerkungen zu den fachsemantisch bedingten Sprachverstehenskonflikten, die durch die Verwendung nicht-normierter definierter Fachausdrücke entstehen können. Einen Fachausdruck dieses Typs fachsemantisch korrekt zu verwenden, heißt, ihn gemäß einer semantischen Festsetzungsdefinition referierend oder prädizierend zu verwenden. 38 - Denken wir uns irgendein fachinternes Gespräch zwischen zwei Wissenschaftlern über eine Problemlage ihres Faches mit dem Ziel, das Problem möglichst zu klären! Wer will, kann sich in seiner Phantasie durch die nachfolgenden Gesprächsausschnitte leiten lassen, denen einige Erläuterungen beigegeben sind. BEISPIEL Nr. 3 6 F = Fachausdruck, um den es geht 1. Gesprächsausschnitt: A:

(1)

„Wir haben jetzt, stellung

Die

im Anschluß

Aussage

38 D a z u vgl. W i e g a n d (*1979a).

an Mates,

A ist analytisch.

sieben

mögliche

Übersetzungen

Jetzt käme es darauf

für die

an zu prüfen,

Festwelche

257

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

der Übersetzungen dem Begriff des grammatischen Satzes (F) im Sinne Wittgensteins am nächsten kommt. " B: (2) „Ich kenne zwar den Begriff des grammatischen Satzes aus der TG, nicht aber im Sinne Wittgensteins. " [Es folgt eine längere Dialogpartie] 2. Gesprächsausschnitt: A: (1) „Die Frage der lediglich heuristischen Geschlossenheit eines Paradigmas stellt sich natürlich im Falle der Grammeme (F) nicht, denn ... B: (2) „Kurze Zwischenfrage: Sind Grammeme grammatische Morpheme?"

A:

(3)

„Ja, ungefähr! Es sind die kleinsten Sígneme, d.h. diejenigen Moneme, die - bezogen auf ein Sprachstudium - in einem geschlossenen Paradigma stehen. "

3. Gesprächsausschnitt: A: (1) „Seitdem Hans im Stab ist, kommt er fast jeden Abend später aus dem Dienst; er muß meistens noch zu einem Β r i efi ng(F), wie er das nennt. " B: (2) „Was ist denn das?" A: (3) „Eine kurze Lagebesprechung, die manchmal aber doch länger dauert. "

Verwendung eines definierten Fachausdruckes

kontrakonfliktäre Frage mit hypothetischer Vermutung zu möglicher Semantisierung konfliktlösende Feststellung als Definition

Ί I

1 l '

Verwendung druckes

} } 1

( {

eines

Aus-

Kontrakonfliktäre Frage Konfliktlösende Paraphrase

Kennt ein Adressat eine definitionsgemäße Verwendung eines Fachausdruckes F nicht, dann kann dies u.a. heißen, daß er die Definition, relativ zu der der Äußerer F verwendet hat, nicht kennt und daher nicht erschließen kann, was der Äußerer gesagt und gemeint hat. Kurz: Er weiß nicht, wovon die Rede war. - Dies bedeutet dann, daß der Äußerer und der Adressat bezüglich des fraglichen Fachausdruckes F nicht über das gleiche Sprachvermögen verfügen, was zugleich heißt, daß sie über den gerade verhandelten Sachverhalt kein gemeinsames Fachwissen haben. Der Adressat weiß nicht, was der Fachausdruck F definitionsgemäß zu wissen gibt; relativ zum Äußerer hat er eine individuelle Lücke im Fachausdruck-Inventar und damit eine Fachwissenslücke. 39 Hat ein Äußerer einen Fachausdruck F verwendet, den der Adressat nicht kennt, und hat dieser Adressat die kommunikative Absicht zu verstehen, dann ergeben sich für den Adressaten eine Reihe von Möglichkeiten, seine Verstehensabsicht zu verwirklichen. Diese Möglichkeiten können durch Bedingungen, die auf der Ebene der situationeilen und/oder institutionellen Pragmatik zu formulieren sind - und die ich hier beiseite lassen muß - mehr oder weniger stark 39 Der Zusammenhang von Fachwissen und der Beherrschung einer Fachsprache bzw. der Kenntnis von Fachausdrücken ist sicherlich kompliziert; mir k o m m t es hier nur darauf an, daß er besteht.

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eingeschränkt werden. Auf jeden Fall muß der Adressat dem Äußerer sprachlich zu erkennen geben, daß er den fraglichen Fachausdruck F nicht kennt, und dies heißt immer auch, daß er eine Fachwissenslücke zu erkennen geben muß. Der Adressat, der F nicht kennt, hat zahlreiche Möglichkeiten, aufgetretene Sprachverstehenskonflikte zu beseitigen. Durch den Vollzug verschiedener kontrakonfliktärer Sprechhandlungen z.B. kann er ein metakommunikatives Interludium initiieren, das zur Behebung des akuten Konfliktes führen kann. Nachfolgend gebe ich, mehr oder weniger schematisiert, einige Möglichkeiten für konfliktbenennende Äußerungen an, die initiative, kontrakonfliktäre Sprechhandlungen ausdrücken. ( 1 ) Fragen stellen: Wie gebrauchen Sie Fi Was heißt Fl Was bedeutet Fl Was ist ein Fl Was meinen Sie denn mit Fl Wie ist F definiert? Können Sie mir erklären, was Sie unter F verstehen? Ein solcher Fall liegt im Beispiel Nr. 14 vor. (2) Aufforderungen/Bitten äußern: Sie müssen mir zunächst erläutern, was Sie unter F verstehen! Würden Sie bitte mal näher erläutern, was Sie unter dem Begriff F verstehen. Solche Aufforderungen finden sich in den Beispielen Nr. 17 und Nr. 24. (3) Vorwürfe äußern: Sie wissen doch genau, daß ich von Tagmemik nichts verstehe und mithin F mir nicht geläufig ist. Als Vorwurf (mit anschließender Aufforderung) läßt sich das Beispiel Nr. 16 auffassen. Mußt Du eigentlich laufend Fs aus der Logik benutzen? (4) Bedauern ausdrücken: Es tut mir leid! Mit dem Terminus F kann ich wenig anfangen. (5) Fragend/vermutend Hypothesen zur möglichen Semantisierung von F anbieten. Hierher gehören die Beispiele Nr. 7, Nr. 25 und Nr. 36, (2).

Je nachdem, von welcher Art der fragliche Fachausdruck F ist, verläuft die auf den akuten Konflikt bezogene, eingebettete metakommunikative Handlungssequenz unterschiedlich. Vergleicht man z.B. wortsemantisch bedingte Sprachverstehenskonflikte in nichtwissenschaftlichen Gesprächen - ein Fall liegt im Beispiel Nr. 36, (3) vor - mit solchen, die durch nicht-normierte Termini in wissenschaftlichen Gesprächen zustande kommen, kann man bestimmte Unterschiede feststellen. Nach meinen Beobachtungen gelingt in nichtwissenschaftlichen Gesprächen die Konfliktlösung häufig bereits mit der- oder denjenigen Sprechhandlungen, die unmittelbar nach nur einem Sprecherwechsel auf die konfliktindizierenden Äußerungen folgen. Dies heißt auch: Der Anschluß an vorhandenes Wissen gelingt häufig in einem Gesprächsschritt. Dies gilt auch für solche Fachausdrücke, die nicht definiert sind, und die ich in der Typologie hinsichtlich ihrer Beziehung als pragmatisch eingespielt gekennzeichnet habe. Ist F jedoch ein zentraler Terminus eines theoretischen Konzeptes - wie etwa im Gesprächsausschnitt (1) im Beispiel Nr. 36 - , d.h. ein Fachausdruck, der seinerseits nur hinreichend erklärt werden kann, indem andere Termini der Theorie zur Erklärung herangezogen werden müssen, dann führt dies häufig zu neuen Kommunikationskonflikten.

Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch

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In einem konzentrierten Fachgespräch zwischen zwei Fachkollegen wird es eventuell gelingen, auch in einem solchen Fall zum ursprünglichen Gesprächsziel zurückzukehren, indem man von bestimmten gesprächssteuernden Verfahrensweisen Gebrauch macht, die z.B. in folgenden mehr oder weniger festen Redewendungen angedeutet sind: den Exkurs abbrechen, den roten Faden wieder aufnehmen, ein Problem ausklammern, einer Sache nicht weiter nachgehen, zum Ausgangspunkt zurückkehren u.a. Sehr anders und zum Teil komplexer strukturiert sind solche semantisch bedingten Kommunikationskonflikte, die in der fachinternen Kommunikation durch die Verwendung solcher Fachausdrücke entstehen, die entweder mehrdeutig sind, d.h. im Fach mehrere, beispielsweise schulspezifische Gebrauchsweisen haben, oder im Verlauf der Fachgeschichte zahlreiche ähnliche Definitionen gefunden haben und durch solcherart disziplininterner Terminologieverschiebung einen mehr oder weniger instabilen Gebrauch haben, der sich in zahlreichen nuancenreichen, stets klärungsbedürftigen Verwendungen zeigt. M.E. sind das solche Fachausdrücke wie Langue, Transfer, Intention, Hörverstehen, Bedeutung, Wort, Wortklasse, Behauptung, gelingen von Sprechakten u.a. Während z.B. im Falle von Transformation eine typisch konfliktprophylaktische Wendung wie: Ich gebrauche F (hier also Transformation) im Sinne von Harris, ihre kommunikative Funktion unter bestimmten Bedingungen noch erfüllen kann, ist dies im Falle von Langue in der Wendung: Ich gebrauche Langue im Sinne von Saussure kaum der Fall, was mit der Kommunikationsgeschichte des Ausdrucks Langue zusammenhängt. Semantisch bedingte Kommunikationskonflikte, die durch Unkenntnis eines Fachausdruckes oder einer nicht geläufigen Verwendungsweise eines Fachausdruckes zustande kommen, treten nicht nur in der mündlichen Fachkommunikation sondern auch in Fachlektüresituationen auf, z.B. öfters bei der Einarbeitung in ein neues Teilgebiet. Häufig reichen dann zum Erreichen des Textverstehens einerseits die sprachgebundenen Fachkenntnisse des Lesers nicht aus, und andererseits auch nicht diejenigen Verfahren und indirekten Hilfen in wissenschaftlichen Texten, die eigens zur prophylaktischen Verstehenssicherung bzw. Lösung eventuell auftretender akuter Sprachverstehenskonflikte bei der Textlektüre vom Autor angewandt bzw. mitgegeben werden. Verfahren, die nicht ausschließlich, aber stets auch der unmittelbaren Verstehenssicherung dienen, und die sich vor allem auf die Semantik von Fachausdrücken beziehen, sind z.B.: Explizite Festsetzungsdefinitionen oder Ketten von solchen, Abbildungen wie Diagramme etc., Vermeidung von nicht explizit gemachter terminologischer Synonymie und zahlreiche andere. Man darf - nebenbei bemerkt - solche Verfahren nicht z.B. mit korrekter Argumentation, stringenter Beweisführung und ähnlichem auf eine Ebene stellen. Eine korrekte Argumentation kann eben auch dann vom Leser nicht nachvollzogen werden, wenn sie mit Fachausdrücken operiert, die der Leser nicht kennt. Indirekte Hilfen für eventuelle Konflikte bei der Textlektüre, die durch die Semantik von Fachausdrücken entstehen, sind z.B.: Texttranszendie-

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rende Verweise auf eine Definition bei oder in X, expliziter Ausschluß von eventuell naheliegenden Semantisierungsmöglichkeiten für einen Fachausdruck, textinterne Verweise, Literaturverweise, Vorwortpassagen u.a. Trotz dieser und zahlreicher anderer Möglichkeiten, die einem Textautor zur Verfügung stehen, kommt es dennoch häufig vor, daß einem Fachtextleser die Semantisierung eines fraglichen Fachausdruckes nicht oder nur zu vage gelingt, so daß das weitere Textverstehen gefährdet ist. Es liegt dann ein kommunikativer Konflikt vor, und der Leser befindet sich in einer Fragesituation, in der er verschiedene Fragehandlungen ausführen kann. U.a. kann er zu einem Fachwörterbuch greifen. Mit diesem Griff nach dem Fachwörterbuch wird aus der Fragesituation eine Fachwörterbuch-Benutzungssituation. Eine solche Situation gebe ich im folgenden Beispiel wieder. BEISPIEL Nr. 37 Ein Leser L liest einen fachwissenschaftlichen Text, in dem folgender Ausschnitt Τ vorkommt: T: Die phonologisch determinierten Allomorphe chenunterricht bestimmte Schwierigkeiten.

(- F) machen erfahrungsgemäß im Fremdspra-

L stolpert über den Fachausdruck F. L weiß zwar, was Allomorphe sind, und er weiß auch, was determiniert und was phonologisch heißt. Was jedoch F genau bedeutet bzw. was phonologisch determinierte Allomorphe genau sind, weiß er nicht. Die Semantisierung von F gelingt ihm nur ungefähr. Aus der Kenntnis der drei Wörter, aus denen F besteht, weiß L zwar, daß phonologisch determinierte Allomorphe solche sein müssen, die irgendwie phonologisch determiniert sind. Die Unterklasse derjenigen Allomorphe, die so bestimmt sind, ist jedoch für L leer, d.h. L kann F nicht auf ein Element dieser Unterklasse beziehen. L schlägt in einem Fachwörterbuch nach (Abraham: Terminologie zur neueren Linguistik). Dort findet er: ALLOMORPH, phonologisch determinierte: Phonemisch verschiedene Allomorphe, deren Vorkommen von der phonologischen Umgebung abhängig ist: z.B. „bad-e/-e", „wett-ef-e" [also nach Dental] gegenüber „lieb-i-e" [nach anderen als Dental], Demnach entweder et oder t als Präterialmorphem. nach Funkkolleg 3, 1971: 92. Nach der Lektüre dieses Fachwörterbuchartikels ist der fachsemantisch bedingte Sprachverstehenskonflikt beseitigt und L's individuelle Wissenslücke geschlossen.

Damit dürfte wenigstens plausibel sein, daß Fachwörterbücher zwar nicht nur, aber doch auch als Bücher zu sehen sind, die gerade dazu gemacht werden, um Kommunikationskonflikte, insbesondere solche, die bei der Textlektüre entstehen, lösen zu helfen. Die je konsultierten Fachwörterbuchartikel werden bei ihrer Lektüre - und das ist der günstigste Fall - zu kontrakonfliktären, konfliktlösenden Texten in Funktion. Sie können auch neue Kommunikationskonflikte schaffen. Erarbeitet man eine möglichst detaillierte Typologie von Fachwörterbuchbenutzungssituationen, dann ergibt sich dadurch m.E. die Möglichkeit, die Struk-

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tur von Fachwörterbuchartikeln relativ zu verschiedenen Klassen von Fachlemmata besser zu gestalten als das m.E. bisher der Fall ist. 40 Nicht nur die Fachwörterbücher und die fachsprachliche Lexikographie ist im Zusammenhang mit der Verhinderung bzw. Beseitigung von akuten Kommunikationskonflikten zu sehen, sondern auch die verschiedenen Institutionen, die sich mit der Sprachnormierung, insbesondere der Terminologienormung befassen, wie z.B. das „Deutsche Institut für Normung". Man kann durchaus sagen, daß das oberste Ziel jeder Terminologiearbeit und der sich daran anschließenden Terminologienormung die prophylaktische Verhinderung von fachsprachlich bedingten Kommunikationskonflikten ist. Dabei gilt, daß diese Normierungshandlungen nicht um der Kommunikation willen vollzogen, sondern zweckrational begründet werden, d.h., sie geschehen im Dienste der Rationalisierung und Effektivierung volkswirtschaftlicher Prozesse. Mithin ist die Terminologienormung eine institutionalisierte Vorwegnahme derjenigen hermeneutischen Arbeit, die die Kommunikationspartner in der fachbezogenen Sprachkommunikation stets dann leisten müssen, wenn die jeweilige Verwendung von Fachausdrücken nicht eindeutig ist, 41 zu Sprachverstehenskonflikten auf der propositionalen Ebene geführt hat oder wenn der Gebrauch von Fachausdrücken zur Diskussion steht. Im allgemeinen will die Terminologienormung lediglich sicherstellen, daß die jeweiligen propositionalen Akte, die durch solche Äußerungen vollzogen werden, in denen normierte Fachausdrücke referierend und/oder prädizierend verwendet werden, wenigstens in den jeweiligen fachinternen, möglichst jedoch auch in interfachlichen Handlungsbereichen, für die beteiligten Kommunikationspartner eindeutig sind. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Es soll z.B. verhindert werden, daß A, der bei Β eine Freispannsäge bestellt hat, von Β eine Strecksäge geliefert bekommt, oder, daß Β erst telephonisch oder schriftlich zurückfragen muß, welcher Typ von Handsäge denn eigentlich bestellt sei: Denn solche konfliktträchtige Kommunikation ist unwirtschaftlich und ineffektiv. - Insbesondere für den Bereich der technischen Fachsprache ist die Terminologienormung heute wohl unentbehrlich. Für den Bereich der Sprachwissenschaften, und zwar auch für die sog. angewandten Bereiche - mit Ausnahme vielleicht spezieller Programmierungssprachen - , ist Terminologienormung jedoch prinzipiell abzulehnen. Man kann zwar die Bezeichnung für 150 verschiedene Schraubenarten getrost normen. Den Schrauben tut das nicht weh, und die Benutzer der normierten Schraubenbezeichnungen sind nur dann betroffen, wenn die Normung den bereits eingespielten Sprachgebrauch zu wenig berücksichtigt hat. Sozialwissenschaftliche Fachausdrücke aber zusammen mit ihren Definitionen konstituieren in vielen Fällen erst den wissenschaftlichen Gegenstand. Normung hieße hier auf möglichen Erkenntnisgewinn oder -Zuwachs weitgehend verzichten, da jede Re-

40 Mit diesen Fragen habe ich mich - anhand einsprachiger Wörterbücher - in Wiegand ( 1 9 7 7 a ) befaßt. 41 Vgl. dazu auch Bausch (1976).

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flexion auf den fachbezogenen Sprachgebrauch und damit auch das Nachdenken über manche wissenschaftlichen Gegenstände letztlich mit einem Hinweis auf die Norm enden muß. Eine gewisse Erleichterung, die man vielleicht in bestimmten angewandten Bereichen, z.B. im Grammatikunterricht, zunächst bei der Erkenntnisvermittlung und der Vermittlung von Fachwissen möglicherweise hätte, würde nach kurzer Zeit zu unüberbrückbaren Gräben, nämlich zu fachsprachlichen Barrieren und damit Wissensunterschieden zwischen denen führen, die stupide normgerechte Erkenntnis vermitteln, und denen, die, z.B. im Bereich der Forschung, sich an die Normierungen nicht halten. - Terminologienormung ist in der Sprachwissenschaft kein brauchbares Mittel, um fachsprachlich bedingte Kommunikationskonflikte von vornherein zu verhindern. Hier scheint mir nun auch der Ort zu sein, um einige Bemerkungen zur Einschätzung von fachsprachlich bedingten Kommunikationskonflikten im fachinternen Handlungsbereich einzuflechten, und ich bitte, das einschränkende Prädikat fachintern ausdrücklich zu beachten. Es ist keineswegs so, daß Kommunikationskonflikte lediglich als Ereignisse zu gelten haben, die es ständig ängstlich zu verhindern gilt. Mit der Art mancher sozialwissenschaftlicher Gegenstände, ihrem so und so Gegebensein durch einen gerade so und so definierten Fachausdruck hängt es zusammen, daß Kommunikationskonflikte, insbesondere solche, die akut werden, häufig den Anstoß zu weiterem Nachdenken, zu fruchtbaren Diskussionen und zur Erkenntniserweiterung sind. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die pragmatischen Bedingungen derart sind, daß z.B. Wissenslücken sanktionslos gezeigt werden können, Metakommunikation nicht mehr oder weniger tabuisiert ist, die soziale Schutzfunktion der Kommunikationskonflikte nicht zu häufig in Anspruch genommen werden muß und daher lieber latente Kommunikationskonflikte in Kauf genommen werden, weil zu fürchten ist, daß aus akuten kommunikativen Konflikten Meinungskonflikte entstehen können, die man - schon darin eingespielt - lieber vertuscht bzw. die einer der beteiligten Kommunikationspartner - und hier wäre der schöne Ausdruck Kommunikationspartner ein Euphemismus und besser durch Kommunikations unterworfener zu ersetzen - meiden muß, weil er sich solche möglichen Meinungskonflikte aufgrund seiner Stellung im Wissenschaftsbereich oder wegen seiner Beziehungen zu den geschätzten Partnern deswegen nicht leisten kann, weil eventuelle Sanktionen kaum einzuschätzen sind. - Hier wäre nun der Punkt, wo man zu denjenigen Kommunikationskonflikten übergehen müßte, die situativ bzw. institutionell bedingt und empirisch-pragmatisch zu analysieren wären. Dabei käme es nicht nur darauf an, solche Konflikte zu studieren, die z.B. durch Verletzung des kommunikativen Kooperationsprinzips und der sog. Konversationsmaximen 4 2 zustande kommen, sondern auch solche, die mit den institutionellen Bedingungen von wissenschaftlicher Tätigkeit überhaupt zu tun haben. Dabei wäre wohl davon auszugehen, daß wissenschaftliches Sprechen - insbe-

42 Vgl. Grice( 1975).

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sondere auch auf öffentlichen Großtagungen - etwa Sprechen nach dem Muster ,einen wissenschaftlichen Vortag halten' oder nach dem Muster ,einen Diskussionsbeitrag leisten' meistens in dem guten Glauben geschieht, vornehmlich auf den gerade verhandelten wissenschaftlichen Gegenstand bezogen zu sein, selten aber nur auf diesen allein bezogen ist! Daher sind auch Tagungen nicht nur Stätten der wissenschaftlichen Kooperation, des sachlichen Informationsaustausches, der Erkenntnisvermittlung und -gewinnung und der kooperativen Wahrheitsfindung, sondern Tagungen sind stets auch Jahrmärkte der wissenschaftlichen Eitelkeit, was besondere Typen von Kommunikationskonflikten zu Folge haben kann, die auf der Beziehungsebene 4 3 von Fachkommunikation liegen.

5

Schlußbemerkung

Ich habe mich bemüht, das gegebene Thema - entgegen dem Trend, der in der Literatur zur Erforschung von Kommunikationskonflikten zu beobachten ist - in informeller Weise zu behandeln. Ich hoffe daher, daß meine Ausführungen so waren, daß möglichst wenig Textpartien so verstanden worden sind wie folgendes Zitat aus der Zürcher Zeitung vermutlich verstanden werden wird: „Das Kreuzworträtsel, das in der Nummer von heute erscheinen sollte, stand statt dessen in der von gestern, zusammen mit der Lösung des Rätsels, das gestern hätte erscheinen sollen. Das Rätsel, das für gestern vorgesehen war, steht daher in der Nummer von heute, zugleich mit der Lösung des Rätsels vom Montag. Das Rätsel für heute und die Lösung, die gestern hätte erscheinen sollen, bringen wir morgen."

43 Die sog. Beziehungsebene von Kommunikation ist erstens nicht metakommunikativ und zweitens läßt sie sich von der Inhaltsebene keineswegs strikt trennen. Vgl. z.B. die Diskussion bei Boetticher/Sitta (1978, 42ff.) und Wiegand (*1979b).

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte aus: Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1978. Hrsg. v. Inger Rosengren. Lund 1979 (Lunder germanistische Forschungen 48), 214-244.

1

Vorbemerkung1

Mit den zahlreichen, sehr verschiedenen Auffassungen von Metakommunikation werde ich mich nachfolgend nicht auseinandersetzen.2 Zur Debatte steht lediglich ein linguistisches Konzept von Metakommunikation, das einer fortgeschriebenen Sprechakttheorie verpflichtet ist und das - nach meiner Einschätzung innerhalb der sprachwissenschaftlichen Diskussion diejenigen Ansätze und Ergebnisse enthält, die sowohl am weitesten fortgeschritten, als auch mit dem relativ höchsten Grad an Explizitheit formuliert sind. Dieses Konzept wird greifbar in den beiden folgenden Definitionen Meyer-Hermanns: „In einem metakommunikativen Sprechakt ist das (sind die) Objekt(e), auf das (die) sich der Sprecher in den Referenzakten bezieht, und dem (denen) er in den Prädikationsakten Eigenschaften zuschreibt, eine (mehrere) Sprechhandlung(en) bzw. ein Teilaspekt (Teilaspekte) einer Sprechhandlung (von Sprechhandlungen), welche - zu einem Zeitpunkt t¡ vor oder nach der Äußerung des metakommunikativen Sprechakts produziert - derselben kommunikativen Interaktionseinheit angehört (angehören) wie der metakommunikative Sprechakt." 3 „In einem metakommunikativen Sprechakt ist das Objekt, auf das referiert wird und über das prädiziert wird, eine verbalkommunikative Interaktion(ssequenz) oder der Teil(aspekt) einer solchen, welche - dem metakommunikativen Sprechakt vorausgehend oder nachfolgend - derselben kommunikativen Interaktionseinheit angehört wie der metakommunikative Sprechakt." 4

1

2 3 4

Die Fassung dieses Beitrags weicht von der Kolloquiumsvorlage ab. Für zahlreiche weiterführende und kritische Hinweise danke ich Christel Lauterbach. Für Kritik und Vorschläge zur „Langfassung" dieses Beitrags danke ich den Teilnehmern am Kolloquium der linguistischen Abteilung am Germanistischen Institut in Heidelberg. Werner Wolski danke ich für die Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts und für zahlreiche Hinweise. Wichtige Verbesserungsvorschläge von K. Mudersbach konnte ich leider nicht mehr einarbeiten. Vgl. dazu Wiegand (1979c). Meyer-Hermann (1976a, 184). Meyer-Hermann ( 1978, 128).

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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Die beiden Definitionen unterscheiden sich im Definiens. Doch dieser Unterschied ist nicht derart, daß es sich um zwei prinzipiell verschiedene Definitionen handelt. In der zweiten wird lediglich darauf abgehoben, daß das, worüber geredet wird, das Metakommunikandum bzw. Metakommunikatum, 5 keine isolierten Sprechhandlungen sind.6 Ich werde im 2. Abschnitt mit Bezug auf die erste Definition folgende Fragen stellen: 1) Ist die Definition anwendbar? 2) Welche Voraussetzungen werden mit dieser Definition implizit gemacht? 3) Welchen Zwecken kann die Definition dienen?

Bei der Behandlung dieser Fragen werden sich einige Probleme stellen. Ich werde im 3. Abschnitt versuchen zu zeigen, daß einige dieser Probleme sich nicht stellen müssen und daß einige andere eventuell gelöst werden können. Dazu werde ich den Ansatz zu einem anderen Konzept formulieren.

2

Einige Schwierigkeiten bei der Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

Den Ausdruck metakommunikativer Sprechakt verwende ich nachfolgend im Sinne der ersten Definition. Ich frage: Ist anhand von Textbeispielen Τι, T2, ... bestimmbar, ob ein metakommunikativer Sprechakt vollzogen wurde oder nicht? Damit frage ich - gemäß 1) - , ob die Definition anwendbar ist.7 Es ist klar, daß eine solche Entweder-Oder-Entscheidung nicht automatisch funktioniert, sondern nur aufgrund eines vor-gängigen Textverständnisses. Auf der Basis eines Textverständnisses TV, das in extrakommunikativer Perspektive 8 gewonnen wurde, kann eine Interpretation In relativ zu einem theoretischen Ansatz Thx formuliert werden. Es ist möglich, daß es zu einem Text T m mehrere kohärente

5

Die beiden Termini im Sinne von Meyer-Hermann (1976a, 139); Metakommunikatum = vorangegangene Sprechhandlung(en), Metakommunikandum = nachfolgende Sprechhandlung(en), ü b e r die kommuniziert wird.

6

Die Ausdrücke Sprechakt und Sprechhandlung werden in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet. Meyer-Hermann verwendet sie nicht synonym. Für ihn ist der Sprechakt der verbale Teil einer Sprechhandlung, d.h. die Definitionen beziehen sich auf verbale Metakommunikation über die verbalen und/oder non-verbalen Teile einer Sprechhandlung. Da ich mich mit den Definitionen auseinandersetze, werde ich den Ausdruck Sprechhandlung hier wie Meyer-Hermann verwenden, obwohl mir nicht recht einleuchten will, warum z.B. eine illustrierende Geste zur Sprechhand\ung zählen soll. Zum Ausdruck Sprechakt vgl. Anm. 57.

7

Die Definition ist klassifikatorisch angelegt. Wenn sie in einem strengen Sinne anwendbar sein soll, muß sie zu einem klassifikatorischen „ B e g r i f f führen; dies heißt hier: Sie muß die Grundmenge der Sprechakte wenigstens in zwei disjunkte Klassen zerlegen.

8

Den Ausdruck extrakommunikativ

verwende ich wie Ungeheuer (1972a).

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Interpretationen Ii, I2, ... gibt.9 Sind zu einem Text T m mehrere kohärente Interpretationen Ii, I2 formuliert, und wird unter Ij einem Äußerungsresultat AR¡ vom Analysator Aq ein metakommunikativer Sprechakt Ha¡, unter I2 dagegen ein nicht-metakommunikativer Haj zugeordnet, dann gelte die Definition als anwendbar. Gibt es jedoch Fälle oder gar eine Klasse von Fällen, in denen unter mehreren Interpretationen In nicht definitiv entschieden werden kann, ob ein metakommunikativer Sprechakt vorliegt oder nicht, dann ist die Definition nicht anwendbar. Gegeben sei folgendes authentisches Beispiel:10 Beispiel Nr. 1 (T,) Der zwölfjährige Matthias sagt zu seinem gleichaltrigen Freund Bobby: (1) (a) „Schade, daß Du zu meinem Geburtstag nicht da warst; (b) ich hab nämlich einen tollen Kajak bekommen." Bobby fragt daraufhin: (2) „Was ist denn ein Kajak?" Matthias gibt ihm folgende Erläuterung: (3) „Ein kleines Paddelboot. Oben hat es ein enges Loch für nur einen Sitz; das Wasser kann dann nicht so schnell rein."

Gefragt wird: Wurde mit (2) ein metakommunikativer Sprechakt vollzogen? Oder anders gefragt: Unter welchen Interpretationen In von Ti kann dem Äußerungsresultat ÄR2 von Aq ein metakommunikativer Sprechakt Ha 2 zugeordnet werden?" Ich gebe zunächst eine Interpretation //. Mit (2) drückt Bobby eine Frage aus. Aus ihr geht hervor, daß er nicht weiß, was ein Kajak ist. Daß Bobby diese Wissenslücke hat, erfährt er dadurch, daß Matthias in (lb) das Wort Kajak regelgerecht verwendet. Somit erfährt Bobby auch, daß er das verwendete Wort Kajak nicht kennt. 12 Man kann daher sagen: Bobby weiß nicht, was das Wort Kajak bedeutet, und zwar in dem Sinne, daß er nicht weiß, was das Wort Kajak zu wissen gibt.13 Mit (2) indiziert Bobby, daß er (lb) nicht vollständig verstanden hat. Der Anlaß dafür, daß er propositionales Verstehen 14 nicht erreichen konnte, ist die regelgerechte Verwendung eines Wortes, das ihm, dem Angesprochenen, unbekannt ist. Die Frageäußerung Bob-

9

Ich vertrete die Auffassung, daß nicht irgendein Text als solcher kohärent heißen kann, sondern daß vielmehr ein Text T m nur unter einer Interpretation In als kohärent bewertet werden kann; d.h. kohärent ist ein Interpretationsprädikat.

10 Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer einfachen Verschriftlichung einer Tonbandaufnahme. Unter anderen Aspekten habe ich Tj in Wiegand (*1976, 121 ff.) analysiert. Vgl. auch Wiegand (1979c). 11 Zu dieser Sprechweise vgl. den 3. Abschnitt. 12 Man muß hier wahrscheinlich expliziter reden und u.a. die Argumente in Keller (1976a, 193 f.) berücksichtigen; vgl. dazu Wiegand (1979c). 13 Das, was ein Wort, wenn es zu den absoluten Allgemeinnamen zählt, zu wissen gibt, ist gerade das, was ein Sprecher, der die Sprache kennt, wenigstens wissen muß, wenn er dieses Wort in Benennungssituationen regelrecht referierend und/oder prädizierend verwenden will. 14 Zum Ausdruck propositionales Verstehen vgl. Abschnitt 3.

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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bys enthält zunächst keine Indikatoren, daß Bobby mit (2) direkt sprachbezüglich nach dem ihm unbekannten Wort, nach der Bedeutung oder dem Gebrauch oder einer kotextspezifischen Verwendungsweise dieses Wortes fragt. In diesem Falle hätte er etwa so fragen müssen: 15 (2 ') (2") (2'")

Was heißt denn Kajak! Was bedeutet denn das Wort Kajak? Was meinst du denn mit Kajak!

Wonach aber fragt Bobby? Worauf bezieht er sich mit (2)? Man kann nicht ohne weiteres sprachlich realisierte Indikatoren dafür angeben, daß sich Bobby mit (2) überhaupt direkt auf (lb) bezieht, und zwar weder dafür, daß er sich auf das einmalige phonetisch realisierte Äußerungsresultat ÄR(ib) bezieht, noch dafür, daß er sich auf die mit (lb) im Zeitraum t(ib) vor der Äußerung (2) vollzogene Sprechhandlung oder auf einen Teilaspekt dieser Sprechhandlung bezieht. 16 Daher kann festgestellt werden: Dem Äußerungsresultat ÄR aus Ti kann unter Ii kein metakommunikativer Sprechakt zugeordnet werden. Ich versuche eine Interpretation hIi legt nahe, daß Bobby sich mit (2) nicht auf (lb) bezieht. Nach meinem vorgängigen Textverständnis als Analysator Aq bezieht sich aber Bobby mit (2) nicht auf nichts. Daher sollte h die Frage beantworten: Worauf bezieht er sich mit (2), wenn er sich nicht auf (lb) bezieht? Da er sich nicht auf (la) bezieht, bleibt nur die naheliegende, offensichtlich einfache Antwort: Bobby bezieht sich mit (2) auf ein Etwas, von dem er nach der Äußerung von (1) wenigstens wissen kann, daß es Matthias zum Geburtstag bekommen hat und daß er dieses toll findet. Was einer zum Geburtstag bekommen hat, muß (in der Welt dieses Gesprächs) - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - irgend ein Etwas sein, auf das das Prädikat ist ein Gegenstand zutrifft. Das bedeutet: Es kann angenommen werden, daß Bobby mit der Äußerung von (2) nach einem (irgendeinem) Gegenstand fragt; 17 von diesem Gegenstand kann weiterhin angenommen werden, daß auf ihn das Prädikat ist nichtsprachlich zutrifft. Denn nichts in Ti spricht dafür, daß Matthias einen sog. sprachlichen Gegenstand zum Geburtstag 15 Vgl. dazu Wiegand (*1976, 122ff.). 16 Ich verwende hier und nachfolgend indizierte Variablen für Interaktions- oder Gesprächszeiträume; „t„" ist eine Variable für den Zeitpunkt, von dem ab das Äußerungsresultat n, das von einer Person A in der Sprecherrolle als A s produziert wurde, von einer Person Β in der Hörerrolle als B h wahrgenommen wird, bis zu dem Zeitpunkt, in dem das nächste Äußerungsresultat n+1, das von Β als B s produziert wird, von A als A H wahrgenommen wird. Das bedeutet: Die Wahrnehmungsprozesse sowie die kognitiven Prozesse des Β als B H , die zum Sprachverstehen und zu einem weiterreichenden Verstehen anhand von η (und anhand von anderen Faktoren) führen können, sowie die physischen Aktivitäten und mentalen Prozesse des Β als Bs, die zum Äußern von n+1 führen, liegen innerhalb von „t„". Für differenziertere Interaktions- und Gesprächsanalysen sind freilich differenziertere Unterscheidungen nötig; tn muß segmentiert werden, was hier aber nicht notwendig ist. Vgl. dazu Wiegand (1979c). 17 Eine weitere Interpretation ergibt sich, wenn man davon ausgeht, daß mit (2) nach einer Klasse von Gegenständen gefragt wird; vgl. dazu Wiegand (1979c).

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bekommen hat. Mithin gilt: Auch unter h kann ÄR ta und t„ < tb) vollzogen hat, und kann Aq als Teil von In 1 ) zeigen, daß H¡ auf einen Kommunikationsgegenstand G u bezogen ist, auf den nach TH X das Prädikat P 0 ist ein Interaktionsteil (einer IEk) zutrifft, und kann Aq als Teil von In 2) zeigen, daß H¡ vollzogen wurde, um eines der (nachfolgend formulierten) Ziele a) bis i) zu erreichen oder deren Erreichen mit H¡ interaktionell vorzubereiten, dann heiße H¡ eine interaktionsreflexive Handlung,43

Als Kandidaten für eine Liste L G von Kommunikationsgegenständen G u kommen alle Kommunikationsgegenstände G u in Frage, auf die nach THX das Prädikat Ρ ist ein Interaktionsteil (in einer IEk) zutrifft. Eine Theorie THX, nach der die Extension von Ρ angegeben werden könnte, ist mir nicht bekannt. Versuche mit bestimmten Theorien THi, TH 2 , ... haben aber ergeben, 44 daß man im Lichte dieser Theorien (Zitatende ohne Zitat) als A q vor den einfachsten Interaktionsbeispielen häufig im Dämmerlicht und manchmal gar im Dunkeln steht, bzw. daß man ziemlich uninteressante Ergebnisse erhält. Ich bin daher der Auffassung, daß gerade die Untersuchung interaktionsreflexiver Handlungen dazu beitragen kann, wenigstens einen brauchbaren „Vor-Begriff" von dem zu bekommen, was Interaktion heißen kann. 45

41 D i e Terminologie ist hier äußerst heterogen. Ungeheuer ( 1 9 7 2 ) spricht von Zwecken, Keller ( 1 9 7 6 ) und (1977a) von intendierter Folge. Von kommunikativer Funktion sprechen zahlreiche Autoren. 42 Ausschnitte aus solchen Fallstudien in Wiegand (1979c). 43 Warum ich hier nicht von metakommunikativen Handlungen spreche, habe ich in Wiegand ( 1 9 7 9 c ) dargelegt. Es gibt dafür m.E. wichtige Gründe, und zwar sowohl wissenschaftshistorische als auch systematische. 44 z.B. Bühler, Grice, Bales. 45 Schon Betten (o.J.) hat hinsichtlich der Sprechakttheorie ähnlich argumentiert.

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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Einige Ziele, die Aq - im formulierten Rahmen - feststellen kann, lassen sich folgendermaßen formulieren:46 H¡ wurde von IT¡ während t„ vollzogen, um a) eine während (t„ < t m ) > ta von IT¡ festgestellte (und damit akute) Sprachverstehensstörung eines bestimmten Typs TY(x) während (t„ > t m ) < t b interaktioneil (d.h. mit Hilfe von IT,) zu beheben, b) die Interaktion während (tn > t m ) < t b entweder routinemäßig oder mit Gründen auf den kommunikativen Erfolg und mithin im oder-Fall auf vermutete, d.h. nicht festgestellte (und damit latente), Kommunikationsstörungen hin zu überprüfen, c) zu versuchen, erwartbare Kommunikationsstörungen oder Kommunikationskonflikte, die in der Sicht von IT¡ während (t„ > t m ) < tb auftreten können, zu vermeiden, d) dem ITj zu bestätigen, daß Kommunikationsstörungen oder -konflikte während (t n < t m ) > ta ausgeblieben sind, e) einen akuten Kommunikationskonflikt absichtlich zu schaffen, und zwar als Voraussetzung, um während (tn < tm) > ta entweder nur von IT¡ oder von IT¡ und ITj zwar erkannte, aber nicht verbal thematisierte Kommunikationskonflikte während (tn > t m ) < t b zu thematisieren und eventuell zu lösen, f) akute Kommunikationsstörungen und/oder -konflikte absichtlich zu schaffen, und zwar als Voraussetzung dafür, daß die während (t„ < t m ) > ta abgelaufene, von IT, und/oder ITj reflexionslos als funktionierend aufgefaßte, Interaktion während (t„ > t m ) < t b hinsichtlich bestimmter Verständigungsziele zu problematisieren, g) akute Kommunikationsstörungen absichtlich zu schaffen, und zwar als Voraussetzung dafür, daß die Verwendung eines oder mehrerer Ausdrücke während (tn < t m ) > ta zum Zeitraum (t„ > t m ) < t b problematisiert und die Ausdrücke eventuell anders verwendet werden, h) akute oder latente Kommunikationsstörungen und/oder -konflikte absichtlich zu schaffen, damit eine Verständigung mit ITj während (tn > tm) < t b grundsätzlich verhindert wird, i) latente Beziehungskonflikte, die entweder durch die Interaktion während (t„ < t m ) > ta geschaffen oder bereits vor ta bestanden und während (t„ < t m ) > ta manifestiert wurden, zu thematisieren, damit sie während (t„ > t m ) < t b verhandelt werden.

Alle in a) bis i) formulierten Ziele für interaktionsreflexive Handlungen werden von Interaktanten dann verfolgt, wenn der kommunikative Erfolg der Interaktanten in irgendeiner Hinsicht unter der Interaktionsinterpretation wenigstens eines Interaktanten als gefährdet gilt bzw. wenn es einem oder mehreren Interaktanten darum geht, den kommunikativen Erfolg eines oder mehrerer Interaktanten zu verhindern. In den Zielformulierungen ist u.a. von Sprachverstehensstörungen, Kommunikationsstörungen und -konflikten sowie vom kommunikativen Erfolg die Rede. Damit ist ein „Zusammenhang" behauptet zwischen diesen Größen und interaktionsreflexiven Handlungen. Zu diesem „Zusammenhang" folgen nun einige sehr allgemeine Bemerkungen. Bei der Untersuchung interaktionsreflexiver Handlungen kann man m.E. erstens a posteriori und mit Ungeheuer, Richter/Weidmann, Backhausen, Zaefferer47 u.a. davon ausgehen, daß menschliche (Sprach)Kommunikation nicht in

46 Beispiele für einige der nachfolgenden Ziele bei Wiegand (1979c). 47 Vgl. Ungeheuer in Richter/Weidmann (1975, IX-XIV), sowie Zaefferer (1976) u. Backhausen (O.J., 3 f.).

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dem Sinne zuverlässig funktioniert, daß die jeweils angestrebten Ziele stets sicher, problemlos und störungsfrei erreicht werden, und zwar vor allem deswegen, weil Menschen, wenn sie miteinander kommunizieren, niemals vollkommene Voraussicht auf alle Faktoren der jeweils gegebenen bzw. zu schaffenden Interaktionssituation haben. Menschen kommunizieren aber auch miteinander, ohne daß eine vorgängige Evaluierung aller Faktoren möglich und notwendig ist, die die beabsichtigte Kommunikation beeinflussen. Kommunizieren ist daher häufig ein risikoreiches Geschäft. Man kann m.E. zweitens davon ausgehen, daß Menschen im gesteuerten und ungesteuerten Spracherwerbsprozeß und während der Entwicklung ihrer Interaktionskompetenz - und das heißt innerhalb bestimmter Handlungsbereiche und mithin zusammen mit der Aneignung bestimmter Inhalte - auch die Unzuverlässigkeit der Kommunikationsbeziehungen unmittelbar erfahren und daß sie im Zusammenhang damit - neben anderen Verhaltens- und Handlungsmustern auch sprachliche Fähigkeiten und routinisierte Techniken entwickeln, mit Kommunikationsstörungen und -konflikten - mehr oder weniger erfolgreich - umzugehen. Diese Fähig- und Fertigkeiten lassen sich jedoch auf gar keinen Fall als eine Menge von gewissermaßen „leeren" Mustern, Verfahren, Prozeduren, Taktiken und Strategien angemessen begreifen; sie werden in je spezifischen Handlungsbereichen erlernt und sind nicht auf alle anderen „transferierbar". Zu diesen Fähigkeiten gehört auch die, interaktionsreflexive Handlungen vollziehen und verstehen zu können. Man muß m.E. drittens davon ausgehen, daß Menschen meistens, wenn sie miteinander kommunizieren, irgendwelche relativ bestimmte Ziele 48 erreichen wollen, d.h. kommunikativ erfolgreich49 sein wollen, wobei sie meistens auf ihre(n) Kommunikationspartner angewiesen sind. Auf der Basis dieser drei Annahmen kann man m.E. viertens von folgender Überlegung ausgehen: Wenn miteinander kommunizierende Menschen kommunikativ erfolgreich sein wollen und wenn sie gelernt haben, daß dieses Kommunizieren häufig risikoreich ist und daher der kommunikative Erfolg gefährdet sein oder gar ausbleiben kann, und wenn sie die Fähigkeit zum interaktionsreflexiven Handeln 50 entwickelt haben, wozu auch gehört, daß sie einschätzen gelernt haben, unter welchen Umständen sie von dieser Fähigkeit Gebrauch machen können und unter welchen nicht, dann werden sie von ihr vor allem dann Gebrauch machen, wenn sie Gründe für die Annahme haben oder zu haben glauben, daß dieser kommunikative Erfolg in irgendeiner Weise gefährdet oder nicht eingetreten ist bzw. nicht eintreten soll.

48 D i e Ziele können sich während der Kommunikation auch erst deutlich herausbilden, oder Unterziele zu weiterreichenden Zielen sein. 49 Zu diesem Ausdruck vgl. weiter unten. 50 Ob man eine solche Fähigkeit von der Fähigkeit, einfach spontan zu handeln, sehr deutlich unterscheiden kann, ist eine komplexe Frage, zu der ich hier nichts sagen kann.

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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Einerseits ist das Wissen um die je eigene Fähigkeit zu interaktionsreflexivem Handeln und die in der je eigenen kommunikativen Erfahrung gründende und daher gerechtfertigte Unterstellung, ja die Gewißheit, daß der oder die jeweiligen Kommunikationspartner diese Fähigkeit auch haben und gegebenenfalls davon Gebrauch machen können, um den meistens nur gemeinsam zu erreichenden kommunikativen Erfolg zu garantieren, eine der wichtigsten Bedingungen dafür, daß Menschen das risikoreiche Unternehmen des Miteinander-Kommunizierens überhaupt beginnen, d.h. z.B. anfangen, miteinander zu reden.51 Denn aus der Erfahrung wissen sie, und können je nach Biographie mehr oder weniger stark darauf vertrauen, daß - je nach Handlungsbereich und damit wohl auch je nach Interaktionstyp und -situation unterschiedlich - wenigstens die folgenden Möglichkeiten gegeben sind: -

-

-

man kann seine sprachlichen Äußerungen und die des Partners in verschiedener Weise korrigieren man kann seine Formulierungen - noch während man sie produziert und auch im Nachhinein - in verschiedenen Hinsichten modifizieren, z.B. präzisieren und den Partner zur Präzisierung auffordern man kann nach dem Sinn von sprachlichen Äußerungen, nach in ihnen verwendeten unbekannten oder nicht vollständig bekannten Ausdrücken fragen man kann nach spezifischen Verwendungsweisen von Ausdrücken fragen und nach solchen Ausdrücken, die man selbst gerade nicht parat hat, aber dennoch verwenden möchte man kann nach dem jeweils Gemeinten fragen und, wenn danach gefragt wird, antworten; in Zweifelsfällen kann man nachfragen, Rückfragen zu Äußerungen oder verwendeten Ausdrücken stellen und auf solche antworten man kann unbefragt oder befragt Erläuterungen zu Äußerungen, zu kommunikativen Handlungen oder Teilen von diesen geben man kann sich bewußt unpräzise, unbestimmt, ausdrücken - in der Hoffnung auf präzisierende Partnerhilfen, z.B. Semantisierungshilfen oder Korrekturen etc. des anderen man kann in einem Gesprächsschritt einen Ausdruck verwenden und sich zugleich von dieser Verwendungsweise distanzieren man kann Ankündigungen, Vorweginterpretationen zu geplanten Äußerungen machen man kann sich für Gesagtes entschuldigen, sich für etwas Gesagtes rechtfertigen, sich wechselseitig bestätigen man kann Sprachverwendungen des Anderen oder in Gegenwart von Anderen bestimmte Sprachgebräuche kritisieren, problematisieren oder begrüßen man kann qua Illokution eingeführte Interaktionsbedingungen probeweise akzeptieren, akzeptieren, nicht akzeptieren man kann qua Kollokution zum Ausdruck gebrachte Selbsteinschätzungen im Nachhinein korrigieren, uminterpretieren, sowie Einschätzungen im Nachhinein korrigieren, uminterpretieren, sowie Einschätzungen des Partners zurücknehmen, abschwächen, und Einschätzungen

51 Es sei darauf hingewiesen, daß gerade mit interaktionsreflexiven Handlungen negative Kommunikationserfahrungen verbunden sein können; dies insbesondere dann, wenn über Beziehungen kommuniziert wird. Gerade, wenn Beziehungskonflikte thematisiert werden, ist interaktionsreflexives Handeln seinerseits risikoreich. Vgl. dazu auch Lauterbach (1978) sowie Wiegand (1979c).

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durch den Partner akzeptieren oder nicht akzeptieren sowie Einschätzungen der Gesprächssituation korrigieren, vervollständigen

und manches andere mehr.52 Andererseits wird von der Fähigkeit zum interaktionsreflexiven Handeln wenn die Kommunikation erst einmal begonnen wurde - wahrscheinlich nur dann Gebrauch gemacht, wenn es in irgendeiner Weise um den gefährdeten kommunikativen Erfolg der Teilnehmer innerhalb der gerade begonnenen Kommunikation geht. Ich versuche nun, den behaupteten „Zusammenhang" anhand von Beispielen zu konkretisieren, in denen es um das a)-Ziel geht. 53 Dabei wird es notwendig sein, den Gebrauch folgender Ausdrücke informell zu charakterisieren: Sprachverstehen, Sprachverstehensstörung, kommunikativ erfolgreich sein, interaktionsreflexiver Sprechakt.54 Um nicht bestimmte Nebenprobleme behandeln zu müssen, variiere ich Ti wie folgt: 55 Beispiel Nr. 4 (T 4 ) t,: IT,: (1) Zu meinem Geburtstag habe ich einen Kajak bekommen. t 2 : IT 2 : (2) Was ist denn ein Kajak? t 3 : I T p (3) Ein kleines Paddelboot. Oben hat es ein enges Loch für nur einen Sitz; das Wasser kann dann nicht so schnell rein. t 4 : IT 2 : (4) Hast du es schon mal ausprobiert?

Ich beginne mit dem Versuch, den Ausdruck kommunikativ erfolgreich sein zu erläutern. Nach meiner Einschätzung finden sich die differenziertesten und am explizitesten vorgetragenen Darlegungen zum „Begriff des Erfolgreichseins bei Wunderlich (W.). Daher setze ich mich zunächst mit den Ausführungen W.s auseinander. W. schreibt: „[1] Der Begriff des Erfolgreichseins bezieht sich auf die Konsequenzen von Sprechakten in der weiteren Entwicklung der Interaktionssituation. Erfolgreichsein ist ein Prädikat für bestimmte Sprechakte. Ob ein Sprechakt erfolgreich ist oder nicht, erweist sich erst nach seiner Realisierung. [...] Bei den Sprechakten, die eine neue Interaktionsbedingung einführen, gehören zum vollen Erfolg drei Elemente: 1. Der Adressat erkennt (gemäß der Intention des Sprechers), daß der Sprecher eine bestimmte Einstellung ausdrückt: [...] 2. Der Adressat übernimmt (gemäß der Intention des Sprechers) eine korrespondierende Einstellung: [...] 3. Der Adressat oder der Sprecher selbst (je nach Art des Sprechaktes) erfüllt die eingeführte Interaktionsbedingung (Obligation): [...] Diese drei Arten (oder Grade) des Erfolgreichseins lassen sich abkürzend mit den Begriffen Verstehen, Akzeptieren und Erfüllen kennzeichnen. [...]" 5 6 52 53 54 55

Zu Selbst- und Partner Einschätzungen vgl. Lauterbach (1978) sowie Holly (1976) u. (1977). Vgl. oben die Zielformulierungen. Interaktionsreflexive Sprechakte sind eine Species der interaktionsreflexiven Handlungen. Damit ist T 4 kein authentisches Beispiel mehr, was aber für die hier verfolgten Zwecke nicht von Bedeutung ist. 56 Wunderlich (1976, 115 f.).

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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Ich frage zunächst, um [1] möglichst genau zu verstehen: Wie verwendet W. den Ausdruck Sprechakt? Oder anders ausgedrückt: Was versteht W. unter einem Sprechakt?57 Unter der Abschnittsüberschrift „Die Grundbegriffe: Äußerung und Sprechakt" führt W. aus: „[2] Ich will strikt zwischen Äußerungsakten und Sprechakten unterscheiden. Unter einem Äußerungsakt verstehe ich lediglich sie physische Aktivität einer Person, bei der sie phonische oder graphische Ereignisse produziert. Ein Sprechakt ist hingegen die Interpretation einer solchen Aktivität relativ zu einem bestimmten Handlungssystem und zur sozialen Situation, in die Äußerer und Wahrnehmer eingeschlossen sind. [...] [3] [...] „der Äußerer S vollzieht in der sozialen Situation Sit(C), relativ zu dem raumzeitlichen Kontext C, einen Sprechakt σ vom Typ j, dessen Resultat das an ein Auditorium Η adressierte Sprechaktprodukt r ist". [...] [4] Ein Äußerungsakt wie auch ein Sprechakt sind also einmalige Ereignisse; ihr Verhältnis zueinander ist, daß der Äußerungsakt den Sprechakt realisiert bzw. der Sprechakt das ist, was den Zweck des Äußerungsaktes ausmacht." 58

Zu den „Thesen zur Sprachwissenschaft" heißt es: „[5] Die jeweilige Wirklichkeit wird in den Sprechakten in Form eines propositionalen Gehalts oder eines nominalen Elements (das z.B. Ereignisse, Handlungen, Individuen o.ä. repräsentiert) thematisiert; dabei sind die propositionalen Gehalte oft in sprachspezifischer Weise komplex; auf bestimmte Elemente der Wirklichkeit wird referiert, Prädikationen dieser Elemente werden präsupponiert oder ausgesagt. Die Illokution eines Sprechakts drückt aus, in welcher interaktionalen Funktion diese Wirklichkeit im Sprechakt thematisiert wird. Die verschiedenen Arten von Sprechakten lassen sich also durch ihre Illokutionen unterscheiden." 59

Ich habe nun einige Schwierigkeiten, zu verstehen (wobei hier verstehen nicht wie in [1] 1. verwendet ist!), ob und in welcher Weise die Verwendung des Ausdrucks Sprechakt in [2] bis [5] mit den Verwendungen dieses Ausdrucks in [1] kompatibel sind. [2] verstehe ich sehr schlecht bzw. z.T. überhaupt nicht. Angenommen, a) der „Wahrnehmer" solle derjenige sein, der eine physische Aktivität des „Äußerers", den Äußerungsakt relativ zu [...], als Sprechakt interpretiert. Das wird m.E. kaum gehen, denn der Wahrnehmer kann allenfalls bestimmte Teile der physischen Aktivität (z.B. bestimmte Bewegungen der Lippen oder des Adamsapfels) wahrnehmen. Sollte der Wahrnehmer in [2] gemeint sein, dann muß m.E. wenig57 Wunderlich hat seine Terminologie in seinen verschiedenen Arbeiten weiterentwickelt. Dies scheint mir besonders für die Ausdrücke Sprechakt und Sprechhandlung zu gelten. So heißt es z.B. in Wunderlich (1974, 385): „Unter Sprechhandlung wird im folgenden jener Aspekt verstanden, den Austin und Searle als illokutionären Akt bestimmt haben." In Wunderlich (1974) ist Sprechakt systematisch vermieden und taucht im Sachregister nicht auf. Es hat natürlich keinen Sinn, frühere Auffassungen heranzuziehen, denn jeder Autor hat m.E. das gute Recht, seine Terminologie zu verändern. Wenn dies aber sogar innerhalb eines Buches bzw. Beitrages geschieht, entstehen m.E. für den Leser Schwierigkeiten - wenigstens habe ich solche mit dem Ausdruck Sprechakt in Wunderlich (1976). 58 Wunderlich (1976, 52 f.). 59 Wunderlich (1976, 26)

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stens dies berücksichtigt werden: Noch während der Äußerer den Äußerungsakt vollzieht, sind bereits Teile des Äußerungsresultates (W. sagt: Äußerungsereignis) produziert. Ist das Äußerungsereignis ein Schallgebilde, dann beginnt die Interpretation - da der Wahrnehmer keine Ohren-Lider hat - bereits während des Vollzugs des Äußerungsaktes. 60 Man könnte mithin allenfalls sagen, daß ein Wahrnehmer den jeweils wahrnehmbaren Teilen von Äußerungsakten und dem Resultat dieser Akte qua oder als Interpretation einen Sprechakt zuordnet. 61 Angenommen, b) der Wahrnehmer sei ein Analysator Aq. Falls A q eine ablaufende Interaktion „beobachtet", gilt für ihn mutatis mutandis das, was für den Wahrnehmer gilt. Falls Aq einen Text T m interpretiert, und zwar auch dann, wenn T m eine mehrzellige Interaktionspartitur ist, dann hat er es m.E. nicht mit Äußerungsakten zu tun. In [1] steht: „Erfolgreichsein ist ein Prädikat für bestimmte Sprechakte". Daher kann man nun unter Berücksichtigung von [2] sagen: Erfolgreichsein ist ein Prädikat für Interpretationen von Äußerungsakten relativ zu [...]. Dieser Formulierung könnte ich dann einen gewissen Sinn abgewinnen, wenn statt Äußerungsakt Äußerungsereignis stehen würde. Sieht man davon einmal ab, dann verstehe ich in [1] nun dies: Wenn der Adressat erkennt, daß der Sprecher eine bestimmte (propositionale) Einstellung 62 ausdrückt, dann hat er, gemäß [1], verstanden. Was hat er verstanden? Da das, was er verstanden hat, nicht seine eigene Interpretation des Äußerungsaktes sein kann, muß dies der Sprechakt oder ein Teil von diesem sein, den der Äußerer gemäß [3] vollzogen hat. Nun gehört aber nach [5] der propositionale Gehalt zum Sprechakt, d.h. Sprechakte sind nicht mit Illokutionen identisch, vielmehr werden verschiedene Sprechakte durch Illokution unterschieden. Daher ergibt sich nun folgendes: Entweder alle Formulierungen in [1] beziehen sich auf Sprechakte, dann scheinen mir [1] l . - [ l ] 3. unverständlich zu sein. Oder aber [1] l . - [ l ] 3. beziehen sich auf die Illokution, was m.E. gemeint sein muß, dann aber ist das Prädikat Erfolgreichsein kein Prädikat für Sprechakte, sondern ein Prädikat für Illokutionen und bezieht sich auf deren Konsequenzen (vgl. [1]). Damit gehört auch das, was W. in [1] Verstehen nennt, zu den Konsequenzen von Sprechakten (Illokutionen). Ich will nun in zwei Schritten zu zeigen versuchen, daß diese Auffassung problematisch ist:

60 Diese weitgehende Simultaneität ist ein äußerst wichtiger Punkt; ohne sie wären z.B. Rückmeldungsphänomene auf den verschiedensten Kanälen nicht möglich. 61 Aber auch diese Redeweise führt nicht weit. Angenommen: A sitzt am Schreibtisch und die Zimmertür ist zu. Β klopft draußen an. A als A s : (1) „Kommen Sie herein". - Β betritt das Zimmer. Hat hier Β als B H etwa durch die Tür geschaut und dem Äußerungsakt ÄA ta und t„ < tb) in der kommunikativen Rolle des Sprechers As produziert hat, z.B. zuordnen: ISi : IS2'. IS 3 :

einen propositionalen Gehalt p, einen illokutiven Akt i, einen kollokutiven Akt 77 k.

Wenn Aq AR¡ aus VGk p, i und k zuordnen kann, kann Aq ÄRj einen vollständigen Sprechakt Ha, zuordnen. Wenn sich im Nachtext von AR¡ keine für A q erkennbaren Indizien finden, dann darf Aq aussagen: BH hat entweder während t„ oder während (tn > tm) < tb vollständiges Sprachverstehen SV erreicht und damit

74 75 76 77

Vgl. I 3 v o n T , . Vgl. Keller (1977a, 12). Vgl. dazu auch Wiegand (*1979a). Kollokutiver Akt im Sinne von Keller (1977). Kellers Konzept ist m.E. der erste Versuch, das Wie des Sprechens im sprechakttheoretischen Rahmen zu berücksichtigen. Das Konzept ist m.E. ausbaufähig. Bemerkungen dazu bei Wiegand (1979c).

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ein Teilverstehen.n SV läßt sich - unter analytischen Aspekten - wie folgt zerlegen: Β in der kommunikativen Rolle des von As angesprochenen Hörers B H hat SV erreicht, mithin Ha¡ vollständig verstanden, wenn Bh 1 ) d i e Struktur von ρ erschließen konnte (propositionales Verstehen: S V ( p ) ) , 7 9 2 ) a ) erkannt hat, daß A s - g e m ä ß der Absicht von A s - eine bestimmte propositionale Einstellung ausgedrückt hat, oder (anders a u s g e d r ü c k t ) b ) erkannt hat, w e l c h e Interaktionsbedingung 8 0 eingeführt wurde (dies, falls Ha, vom initiativen T y p war; wenn nicht, muß b) sinngemäß anders formuliert w e r d e n ) (illokutives Verstehen:: S V ( i ) ) , 3 ) d i e von A s zum A u s d r u c k gebrachte Haltung erkannt hat 81 (kollokatives Verstehen: S V ( k ) ) .

Hat B H SV erreicht, dann und nur dann hat Ha, gerade ein Ergebnis E¡! Dies heißt: Aq kann aussagen: a ) Hai ist gerade a l s Ha¡ zustande g e k o m m e n , oder b ) A s hat Ha¡ vollzogen.

Wenn A q anhand des jeweiligen Nachtextes feststellen konnte, daß E¡ eingetreten ist, kann Aq die In-Aussage machen: Ha¡ war auf der ersten Ebene erfolgreich. Die „erste Ebene" ist die der sprachlichen Konventionen.82 Das Prädikat Pi: ist auf der ersten Ebene erfolgreich wird von Sprechakten Ha¡ prädiziert, und zwar von Aq aus extrakommunikativer Perspektive. Immer dann, wenn Aq Pi(Ha¡) mit In-Griinden für zutreffend hält, dann kann A q aussagen: As und BH waren auf der ersten Ebene kommunikativ erfolgreich. Das Prädikat P2: ist auf der ersten Ebene kommunikativ erfolgreich wird von dem geordneten Paar (As, B h ) prädiziert.83 Dabei kann es nötig sein, den Gesprächszeitraum anzugeben, für den P2 (und auch alle weiteren Prädikate) gelten sollen. Angenommen nun, unter In hat Bh Sprachverstehen SV nicht vollständig erreicht, sondern nur SV(i): Dann hat Ha¡ kein Ergebnis E¡; mithin ist Ha, als Ha¡ nicht zustande gekommen, sondern eventuell Haj. Da E¡ nicht eingetreten ist, kann in diesem Fall nicht über Ha¡ prädiziert werden, sondern gegebenenfalls über Haj, was ich mir hier schenke. Das bedeutet: Wenn Aq mit In-Gründen Pi(Ha¡) für nicht zutreffend hält, kann Aq von (As, BH) folgendes Prädikat P3 prädizieren: ist auf der ersten Ebene partiell kommunikativ erfolgreich. Wenn A q SV(p) oder SV(i) oder SV(k) einsetzt oder eine der folgenden ««¿/-Phrasen: SV(p) und SV(i), SV(p) und SV(k), SV(i) und

78 A u f weitere A s p e k t e des Verstehens kann ich hier nicht eingehen. 79 Das propositionale Verstehen läßt sich analytisch weiter untergliedern; v g l . dazu W i e g a n d (1979c). 80 Interaktionsbedingung i m Sinne von W u n d e r l i c h ( 1 9 7 6 , 8 9 ff.). 81 Zum Ausdruck bringen im Sinne von Keller ( 1 9 7 7 ) . 82 In Anlehnung an Keller ( 1 9 7 7 a ) . 83 W a r u m das Paar w i e vorgenommen und nicht e t w a anders geordnet ist ((B H , A s ) ) hat Gründe, deren Erläuterung den vorliegenden R a h m e n sprengen würde. - P j zeigt, daß A s und B H , w e n n A und Β miteinander kommunizieren, aufeinander a n g e w i e s e n sind. Der kommunikativ e Erfolg ist das Ergebnis koagierender Individuen.

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

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SV(k). Damit ist Pi erläutert und P2 als Subprädikat des generischen Prädikats P: ist kommunikativ erfolgreich informell charakterisiert. Wir können nun sagen: Wenn Aq unter In Pi und P 2 nicht derart prädizieren kann, daß er Pi(Ha¡) und PiiAs, BH) für zutreffend hält, und wenn A q mit InGründen P3 von (As, BH) prädizieren kann, dann liegt eine Sprachverstehensstörung von irgendeinem Typ T Y ( x ) vor. Geht SFi durch Einsetzen von SV(p) für ein X in einen Satz über, den Aq für zutreffend hält, dann hat Aq eine Sprachverstehensstörung vom Typ TY(p) festgestellt; 84 d.h.: Aq hat anhand des Nachtextes von Ä R j festgestellt, daß Bs denjenigen propositionalen Gehalt ρ AR¡ nicht zuordnen konnte, den er als Aq ÄR, zuordnen konnte, mithin, daß Bs die Struktur des propositionalen Gehalts ρ nicht erschließen konnte. Hat A q beispielsweise ausgesagt, daß eine Sprachverstehensstörung vom Typ T Y ( p ) vorliegt, dann kann Aq dies - je nach T m - in sehr verschiedener Weise begründen - z.B. nach SF2: Denn ÄRj, produziert von As, im Nachtext von ÄR„ produziert von Bs, zeigt, daß Bs einen in AR¡ verwendeten Ausdruck X nicht kennt. Aq kann jedoch weitere Interpretationsaussagen machen. Dazu werden weitere Subprädikate von Ρ benötigt. Aufgrund des Nachtextes von Ä R j kann A q feststellen: Β in der kommunikativen Rolle des von As angesprochenen Hörers hat Hai vollständig akzeptiert,85 wenn - gemäß der Absicht von As 1) a) B h eine korrespondierende propositionale Einstellung übernommen hat, oder (anders ausgedrückt): b) B h die eingeführte Interaktionsbedingung gelten läßt (dies falls Ha¡ vom initiativen Typ war; wenn nicht, muß b) sinngemäß anders formuliert werden), (illokutives Akzeptieren·. Ak(i)), 2) B h die zum Ausdruck gebrachte illokutive Haltung entweder gelten läßt oder eine korrespondierende Haltung übernimmt, (kollokutives Akzeptieren: AK(k)). 86

Wenn A q mit ¡„-Gründen feststellen konnte, daß Bh illokutiv und kollokutiv akzeptiert hat, dann kann Aq von (As, B H ) das Prädikat P 4 : ist auf der zweiten Ebene kommunikativ erfolgreich prädizieren. Die „zweite Ebene" ist - im Unterschied zur ersten - keine der sprachlichen Konventionen. Dennoch ist sie eine von Konventionen, nämlich z.B. solchen der Höflichkeit, 87 der sozialen Stabilität, der institutionellen Ordnung oder des rituellen Gleichgewichts im Sinne Goffmans. 88 Feststellungen - wie man sie in der Literatur öfters findet 89 - daß Bh nicht akzeptiert hat, halte ich für langweilig. Aq muß versuchen anzugeben,

84 TY(p) kann spezifiziert werden; vgl. dazu Wiegand (1979c). Was ich hier Sprachverstehensstörung nenne, habe ich in Wiegand (*1979) Sprachverstehenskonflikte genannt. Diskussionen in Heidelberg haben mir jedoch gezeigt, daß dies wahrscheinlich mißverständlich ist. 85 Zum Ausdruck Akzeptieren vgl. u.a. Wunderlich (1976, 116 f.) sowie die dort genannte Literatur. 86 Näheres dazu bei Wiegand (1979c). 87 Vgl. Keller (1977a, 16). 88 Vgl. u.a. Goffman (1971) u. (1974). 89 Z.B. bei Wunderlich (1972, 22ff.) oder bei Maas/Wunderlich (1972).

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warum Bh nicht akzeptiert hat, d.h. eine zweite Interpretationsebene in I n einführen, auf der Aussagen relativ zu z.B. sozialpsychologischen oder soziologischen Theorien gemacht werden können. 90 Angenommen, Aq hat unter In festgestellt, daß Bh illokutiv, nicht aber kollokutiv, akzeptiert hat. Dann kann A q von (As, Bh) ein Prädikat P5: ist auf der zweiten Ebene partiell kommunikativ erfolgreich prädizieren. - Ein Anwendungsfall für P 5 läßt sich an folgendem authentischen Beispiel demonstrieren: Beispiel Nr. 6 (T 6 ) Vater (V) und Sohn (S) sitzen am Küchentisch. t| : V s : (1) Hol doch endlich das Bier rauf. Ich hab dir das vorhin schon einmal gesagt. t2: S H : [indem er sich langsam erhebt]: (2) Ich hols ja schon. Aber bitte könntest du ja ruhig sagen. S verläßt die Küche und schlägt die Tür zu. Kurz darauf kommt er zurück und stellt zwei Flaschen Bier auf den Tisch. 13: V s : (3) Hast du den Öffner mitgebracht? t4: S H : (4) Ich sollte Bier holen.

Ich kann Tö hier nicht vollständig interpretieren, sondern nur behaupten (!): Aq kann feststellen: Aus (2) kann geschlossen werden, daß Sh (1) illokutiv akzeptiert hat, S H aber die mit (1) von Vs zum Ausdruck gebrachte Haltung nicht akzeptiert: mithin hat er kollokutiv nicht akzeptiert. Daher kann Aq aussagen: Für t2 gilt P5(VS, SH). Schließlich läßt sich noch ein Prädikat Pô: ist auf der dritten Ebene kommunikativ erfolgreich einführen. Aufgrund des Nachtextes von AR¡ kann A von (A s , B h ) dann P 6 prädizieren, wenn entweder Bh oder As, was davon abhängt, von welchem Typ Ha¡ ist, die mit Ha¡ qua illokutivem Akt eingeführte Interaktionsbedingung erfüllt. Wir sehen uns nun T4 an! Es folgt eine - hinsichtlich der einzelnen Interpretationsschritte - sehr stark geraffte Interpretation I4 von T 4 . Aq kann folgende Interpretationsaussagen machen: 1) 2) 3) 4)

P 3 (IT„IT 2 ). Denn IT 2 konnte SV(p) nicht erreichen. Es liegt eine - von IT2 erkannte (!) - Sprachverstehensstörung vom Typ TY(p) vor. Denn IT 2 kennt die Bedeutung von Kajak nicht, wobei Kajak ein Teil von ÁR (1) ist.

Es wird keine Schwierigkeiten machen, ÄR(3) zu interpretieren. Da ich hier keine weiteren Interpretationskategorien (z.B. aus der sog. Gesprächsanalyse) einführen oder gar diskutieren will, sage ich einfach: Aq kann den sog. Gesprächsschritt 91 GS(3) in gerade drei Äußerungsresultate segmentieren, nämlich: ÄR t m ) < tb eine Antwort, die F(p) erfüllt, und mithin gilt für (t„ > tm) < tb Pó(As, Bh). Ein solches Vorgehen zerlegt jedoch einen Text lediglich in sog. Sprechaktsequenzen, wobei die Sequenzierungen über die jeweils geltenden Interaktionsbedingungen erfolgt. Dadurch entsteht dann eine Interpretation, die leicht den Eindruck vermittelt, A und Β verfolgten und erreichten Ziele Zi, Z2, ... sukzessiv und gewissermaßen additiv. 93 Wenden wir uns daher wieder T4 zu und fragen: Welches Ziel verfolgt ITj mit Hai? Oben war gesagt worden: Wenn Β als Bh vollständiges Sprachverstehen SV erreicht habe, sei dies nur ein Teilverstehen. Zwar kann Aq, falls im Nachtext von ÄR(4) nichts dagegen spricht, davon ausgehen, daß IT2 während t3, d.h. im Nachhinein, (1) völlig sprachlich verstanden, mithin SV erreicht hat (vgl. I3 von Ti); Aq muß aber davon ausgehen, daß IT 2 bis einschließlich t4 nicht erschließen konnte, weswegen (warum, wozu) IT] (1) geäußert hat. Erst wenn Aq anhand von T4, und zwar anhand des Nachtextes von ÄR(4), darlegen könnte, daß IT2 diese Gründe erschlossen hat, könnte Aq feststellen, daß IT2 vollständiges Verstehen

92 Zu den Bedingungen gehört wenigstens, daß er wissen muß, was ein Kajak ist. 93 Dies müßte freilich näher ausgeführt werden, wozu hier der Raum fehlt.

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von (1) während (t4 > tm) < tb erreicht hat. Über diese Ziele, die ITi mit Hai verfolgte, kann Aq daher keine Aussagen machen, die sich aus T4 begründen ließen. Im Falle von Sprechakten Ha¡, die auf einen Kommunikationsgegenstand Gu bezogen sind, auf den Po: ist ein Interaktionsteil zutrifft, sind die Chancen von Aq, kohärente Zielformulierungen als Interpretationsaussagen machen zu können, meist günstiger, weil Schlüsse auf die Ziele aus dem Vor- und/oder Nachtext möglich sind. Solche Zielformulierungen können z.B. von der einfachen Form • 94 sein: SF 3 :

Λ5 hat während

t„ Ha¡ (oder HaF,) vollzogen,

um während (t„ > tm) < tb Zc zu

erreichen.

Dabei tritt natürlich sofort das Problem auf, daß sich «m-zw-Formulierungen von folgender Form einstellen können: SF 4 :

[...], um X¡ zu erreichen,

um Z2 zu erreichen,

um Z3 zu erreichen,

...

Gefragt sei nun anhand von T 4 nach dem Ziel, das IT2 mit Ha2 erreichen wollte bzw. erreicht hat. Es ergibt sich: a) IT2 hat während t2 Ha 2 vollzogen, um während (t 2 > tm) < tb eine Antwort zu bekommen, die Ha 2 erfüllt.

Die Formulierung a) ist jedoch unbefriedigend. Denn damit ist das Ziel durchaus nicht charakterisiert. Formulieren wir weiterhin: b) IT 2 hat während t 2 Ha 2 vollzogen, um während (t 2 > t m ) < tb eine Ha 2 erfüllende Antwort zu bekommen, um, falls und indem er die erwartete Antwort sprachlich verstehen wird, (1) vollständig zu verstehen.

Die Formulierung b) ist nach SF4. In Formulierungen nach SF4 erscheint das Ziel - um es einfacher auszudrücken - unter dem letzten um zw,96 daher sind Formulierungen nach SF4 unter In in solche nach SF3 kürzbar. Mithin kann festgestellt werden: c) IT 2 hat während t 2 Ha 2 vollzogen, um während (t 2 > tm) < tb S V von (1 ) zu erreichen.

c) ist aber gerade eine Formulierung des a)-Ziels anhand von T 4 . Ha2 ist somit ein interaktionsreflexiver Sprechakt, eine Frage nach der Bedeutung von Kajak. (3) aus Ti ließe sich unter I3 als Regelformulierung für Kajak auffassen. Entsprechendes gilt für (3) aus T 4 unter I4. Nach 7) aus I4 gilt, daß ITi die Sprachverstehensstörung vom Typ TY(p) erkannt hat und damit auch erschließen kann, daß IT2 mit Ha2 das a)-Ziel verfolgt. Mit HaF3 verfolgt ITi daher das Ziel, zur Erreichung des a)-Ziels beizutragen, um während (t3 > tm) < tb dasjenige Ziel zu erreichen, das er mit Hai versucht hatte zu erreichen und über das - wie wir gesehen haben - Aq keine Interpretationsaussagen machen kann. HaF 3 ist eine interaktionsreflexive Sprechaktfolge. Das Textstück (2) bis (3) kann somit unter I4 als 94 Sie können auch von anderer Form sein. U m dies darzulegen, wären aber weitere Kategorien notwendig, die hier nicht eingeführt sind. 95 Das indem soll hier die Gleichzeitigkeit ausdrücken; denkbar wäre auch ein 96 Dieses „letzte um-zu" wird von Text T m unter I„ festgelegt.

nachdem.

Bemerkungen zur Bestimmung metakommunikativer Sprechakte

291

interaktionsreflexive Sequenz charakterisiert werden, die gerade dazu und nur dazu dient, in gemeinsamen Bemühungen von IT2 und IT( das a)-Ziel zu erreichen. Aq kann nun sagen - falls aus dem Nachtext von ÄR (4) nichts dagegen spricht - , daß IT2 und ITi während der Sequenz kommunikativ erfolgreich waren. Für die Dauer der Sequenz kann daher festgestellt werden: 10)

P(IT2, ITO.

Damit ist der Gebrauch der Ausdrücke Sprachverstehen, Sprachverstehensstörung, kommunikativ erfolgreich sein und interaktionsreflexiver Sprechakt informell charakterisiert, womit diese Ausdrücke als vorläufige, wenn auch noch sehr grobe, Analysekategorien zur Verfügung stehen.

4

Schlußbemerkung

Die hier angestellten Untersuchungen erlauben keineswegs schon starke Verallgemeinerungen. Über den Zusammenhang von akuten Sprachverstehensstörungen und interaktionsreflexiven Handlungen kann allerdings gesagt werden: Fast immer, wenn akute, d.h. von den Interaktionsteilnehmern bemerkte Sprachverstehensstörungen auftreten, beginnt mit der störungsindizierenden Äußerung eine interaktionsreflexive Sequenz, die die Interaktionsteilnehmer kommunikativ erfolgreich abschließen müssen, wenn der vorher begonnene thematische Prozeß fortgesetzt werden soll. Dies gilt für die meisten Interaktionstypen mit Ausnahme stark ritualisierter Typen. Sollen interaktionsreflexive Handlungen untersucht werden, mittels derer Ziele von der Form b) bis i) erreicht werden sollen, muß das hier eingeführte Analyseinstrumentarium erweitert, verfeinert und systematisiert werden. 97 Der Zweck der Untersuchung interaktionsreflexiver Handlungen besteht m.E. nicht darin, Taxonomien aufzustellen; er besteht vielmehr darin, die Verfahrensweisen zu studieren, die die Interaktionsteilnehmer anwenden, um mit Kommunikationsstörungen und -konflikten der verschiedensten Art mehr oder weniger erfolgreich umzugehen. Dabei hat man auch eine gute Chance, einige theoretische Einsichten zur Kategorie des Verstehens zu gewinnen, ohne in transzendentale Träumereien zu verfallen oder Horizonte zu verschmelzen.

97 Versuche dazu bei Wiegand (1979c).

Definition und Terminologienormung Kritik und Vorschläge aus: Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. Gedenkschrift für Univ.Prof. Dr. Eugen Wüster. Hrsg. v. Helmut Felber, Friedrich Lang, Gernot Wersig. München [usw.] 1979, 101-148. „In der Tragödie der Philosophie fehlt auch nicht die intrigante Figur: der Begriff. Als wir noch Gymnasiasten waren, rieselten uns Schauer der Ehrfurcht den Rücken herab, wenn der Rektor von der Erhabenheit der Begriffe sprach. Als wir Studenten wurden begannen die Meinungen sich zu teilen. Bei den einen wuchs die Ehrfurcht vor diesen höchsten Produkten der Vernunft, andere wagten die freche Frage, ob da nicht eigentlich Blech geschmiedet werde. Im allgemeinen hat der Begriff die Erhabenheit seines Wesens bis heute zu behaupten gewußt und ist besonders als gelehrtes Mäntelchen beliebt. " (R. Gätschenberger, 1932) „Jede Terminologiearbeit (E. Wüster, 1974)

1

geht von BEGRIFFEN aus. "

Definitionslehren

Definitionen sind Texte oder Textstücke, und zwar auch die zahlreichen - z.B. in Definitionslehren vorfindbaren - Charakterisierungen oder Definitionen von Definition sowie die von Komposita und/oder sonstigen Ausdrücken, die Hyponyme zu Definition sind, z.B. Real-, Nominal-, Gebrauchs-, Kontext-, Begriffs-, Wesens-, Feststellungs-, Festsetzungs- und Hinweisdefinition1 sowie semanti-

1

Hinweis- oder ostensive Definitionen liegen vor, wenn jemand eine mündliche Äußerung macht, die wenigstens aus einem Zeichen - meistens aus einem Prädikat - besteht und relativ gleichzeitig eine konvenierte Zeiggeste derart ausführt, daß der Bezug der Äußerung hergestellt werden kann. Welche Schwierigkeiten dabei auftreten können, deutet Wittgenstein, PU 6ff., an. Zu diesem Definitionstyp vgl. auch Kotarbinski (1960) und Robinson (1972, § 6, 117-126). - Daß Definitionen Texte sind, gilt für Hinweisdefinitionen nur eingeschränkt: Sie

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

293

sehe, analytische, bedingte, operationale, stipulative, induktive, rekursive und implizite Definition} Auch wissenschaftliche Texte stehen in einem kommunikativen Zusammenhang: Sie werden unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen mit bestimmten Absichten geäußert. Werden sie rezipiert, sind sie schon historisch. Dies gilt auch für diejenigen wissenschaftlichen Texte, in denen über Definitionen geschrieben wird und z.B. die Ausdrücke Definition, Kausaldefinition oder genetische Definition definiert, Definitionen klassifiziert oder Definitionsregeln aufgestellt werden. Wenn es auch selbstverständlich zu sein scheint, es sei dennoch ausdrücklich darauf hingewiesen: Weil auch Definitionslehren als Texte in kommunikativen und historischen Zusammenhängen stehen, ergibt sich: Weder in bestimmten Einzelwissenschaften noch in der Philosophie oder Wissen-

können nicht ohne Texte gegeben werden. - Nach meiner Auffassung können auch bestimmte Zuordnungen von Abbildungen von Gegenständen zu sprachlichen Ausdrücken in Texten als schriftliche Hinweisdefinitionen aufgefaßt werden. Als Zeiggesten dienen in diesem Fall bestimmte Zuordnungszeichen oder konvenierte Anordnungen im zweidimensionalen Raum. So läßt sich z.B. das gesamte Blatt 1 der DIN-Norm 918 v. Nov. 1924 „Schrauben und Muttern. Benennungen" als eine geordnete Aufzählung von schriftlichen Hinweisdefinitionen angemessen interpretieren. Man findet in der genannten Form z.B. folgendes: Grundformen der Schrauben

-

Kopfschraube

Holzschraube

2

Jeder, der lesen gelernt hat, weiß: Die Abbildungen sollen solche von Grundformen der Schrauben sein. Daß er die Überschrift auf die Abbildung bezieht, zeigt ihm die Anordnung. Sie ersetzt eine Zeiggeste. Noch deutlicher wird das, wenn man sich klar macht: Es wird offensichtlich mit guten Gründen vorausgesetzt, daß ein Benutzer der Norm die 1. Abbildung nicht dem Ausdruck Holzschraube und die 2. Abbildung dem Ausdruck Kopfschraube zuordnet, d.h. die Anordnung kann als Entsprechung der Zeiggeste aufgefaßt werden. Zeile 1 kann daher wie folgt gelesen werden: Dies ist die Grundform einer Kopfschraube oder Dies ist eine Kopfschraube. - Will man die gegebenen Hinweise semiotisch und wahrnehmungstheoretisch fundieren, wird das äußerst komplex und muß hier unterbleiben. Verdeutlicht werden sollte hier nur das: Hinweisdefinitionen sind für Terminologen kein unwichtiger Gegenstand! In der Diskussion um DIN 2330 werden sie allerdings nicht berücksichtigt. Mönke (1977, 8) zählt 71 solcher Ausdrücke auf. Die Liste kann leicht ergänzt werden, u.a. durch Kontextdefinition, lexikographische Definition, Festsetzungsdefinition u.a.; dies gilt vor allem dann, wenn man Bezeichnungen für Definitionsarten berücksichtigt, die nicht mit Definition gebildet sind, z.B. Explikation, Exposition und Deklaration im Sinne Kants, die er in KrV, Β (Kant 1975) als Definitionen im weiteren Sinne auffaßt.

294

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

schaftstheorie richtet sich der wissenschaftliche Gebrauch z.B. von Definition, Realdefinition etc. nach je gerade einer Definition dieser Ausdrücke. 3 Wer also über Definitionen reden will, oder wer definieren will, oder wer jemandem erklären will, wie man definiert oder wer normative Vorschriften aufstellen will, wie zu definieren ist, kann das - mit Aussicht auf systematischen Erfolg seiner Bemühungen - nur relativ zu irgendeiner Definitionslehre, sei es, daß er sich einer bestimmten explizit und mit Gründen anschließt oder diese oder jene mit Gründen modifiziert, oder sei es, daß er selbst eine Definitionslehre wenigstens ausschnittsweise - begründet.

2

Terminologische Grundsatznormung

Dies war auch den Terminologen mehr oder weniger klar. Zumindest aber bemerkte man in der Praxis der Terminologienormung allmählich, daß man Grundsätze für die Normierungsarbeit benötigt. 4 Daher lag es nahe, diese in einer sog. Verständigungsnorm festzulegen. 5 Wer Terminologiearbeit betreiben will, muß häufig Definitionen geben. Mithin war es zweckmäßig, in einer terminologischen Grundsatznorm 6 u.a. auch darzulegen, was man unter einer Definition versteht, wie man Definitionen klassifiziert und welche Grundsätze man beim Definieren berücksichtigen sollte. Im Deutschen Normenausschuß (DNA), dem heutigen Deutschen Institut für Normung e.V. (DIN), wurde daher eine entsprechende Norm erarbeitet. Im Jahre 1950 begann der Ausschuß Normungstechnik im DNA (ANT) mit der Arbeit. Der Unterausschuß „Terminologie" knüpfte an die Arbeiten des internationalen Komitees ISA 37 „Terminologie" an. Im März 1953 wurde der erste NormEntwurf DIN 2330 veröffentlicht. Im September 1957 erschien dann DIN 2330 3

Wie unterschiedlich die Auffassungen sind, zeigt bereits der Übersichtsartikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie; vgl. Nobis (1972) u. Gabriel (1972). Menne (1973) gibt eine weitgehend homogenisierte Übersicht. Sehr aufschlußreich ist ein Vergleich mit dem Handbuchartikel von Abelson (1967); und wieder anders ist die einführende Übersicht von Eley (1974). - Bereits 1931 beginnt Dubislav, ein Vertreter des logischen Empirismus, seine Definitionslehre so: „Darüber, was eine ,Definition' sei, herrscht nicht nur unter den Logikern Streit, sondern auch die Mathematiker, Physiker und Juristen, um von anderen zu schweigen, sind sich darüber nicht einig." (Dubislav 1931, § 1, 1).

4

Vgl. dazu Wüster (1955, 54ff.) und DIN 2330 v. Juli 1961, 14; dort heißt es z.B.: „Bei den Arbeiten der Terminologie-Normung sind meist grundsätzliche Überlegungen erforderlich [ . . . ] Vor allem müssen bestimmte Regeln und Grundsätze beachtet werden, wenn im Einzelfall eine Lösung gefunden werden soll [...]".

5

Der Ausdruck Verständigungsnorm ist, soweit ich informiert bin, nicht genormt. Er wird z.T. synonym gebraucht mit Begriffsnorm\ vgl. z.B. den Artikel „Normung" in Meyers Enzyklopädischem Lexikon. Unter einer terminologischen Grundsatznorm verstehe ich solche Verständigungsnormen, in denen die Terminologie der Terminologielehre genormt wird. DIN 2 3 3 0 ist ein Beispiel. Auch Schewe und Spiegel (1976) sprechen von terminologischer Grundsatznormung.

6

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

295

als Vornorm und schließlich im Juli 1961 als Norm unter dem Titel „Begriffe und Benennungen. Allgemeine Grundsätze". 7 Einige Jahre später nahm der Arbeitsausschuß I des DIN-Fachnormenausschusses „Terminologie" weitgehende Überarbeitungen vor, deren Ergebnis als Vornorm DIN 2330 im November 1974 publiziert wurde. Eine Alternativfassung legte Dahlberg (1976) vor. Im folgenden werde ich - als Beitrag zur Allgemeinen Terminologielehre 8 nach einer kurzen historischen Skizze den Definitions-„Begriff ' der drei zuletzt publizierten Texte (also: Norm vom Juli 1961, Vornorm vom November 1974 und Dahlbergs Fassung von 1976) kritisch analysieren und sodann eine andere Auffassung vorschlagen, da sie ein besseres Verständnis dessen erlaubt, was Terminologen tun, wenn sie etwas definieren.

3

Vorgeschichte von DIN 2330

3.1

Aufgabe der Sprachnormung

Die nicht geschriebene Frühgeschichte der, insbesondere auf die Technik bezogenen, (Industrie-) Normung ist mit dem in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Industrialisierungsprozeß verzahnt. 9 Normung ist zunächst keine Anwendung von Wissenschaft, sondern zweckrationale Praxis, Teil der Rationalisierung und geschieht im Zeichen der Effektivierung einer Volkswirtschaft. Sach- und Sprachnormen sind von vornherein eng aufeinander bezogen, ja wechselseitig voneinander abhängig, und zwar mit Notwendigkeit. Denn nach den Bestimmungen von Ausfiihrungs- oder Sachnormen kann nur dann sicher gehandelt werden, wenn die Sprache dieser Normen bestimmte Bedingungen erfüllt. 10 Die wichtigste Bedingung ist dabei die, daß wenigstens die zentralen Fachausdrücke eindeutig gebraucht werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn diese definiert sind und wenn unter verschiedenen Definitionen eine als die verbindliche anerkannt wird, so daß die Kommunikationspartner - wenigstens innerhalb eines Handlungsbereiches - relativ zu verbindlichen Festsetzungen reden können. Die Sprachnormung hat mithin den Zweck, prophylaktisch Verständigungsstörungen auf der propositionalen Ebene zu verhindern, weil diese den effektiven Ablauf volkswirtschaftlicher Prozesse ganz erheblich behindern." 7

Vgl. dazu D I N 2 3 3 0 v. Juli 1961, Erläuterungen.

8

Den Ausdruck Allgemeine Terminologielehre verwende ich im Sinne Wüsters, der ihn synonym verwendet mit terminologischer Grundsatzlehre\ vgl. Wüster (1974, 61 ff.). Zu alternativen Ausdrücken vgl. Drozd/Seibicke (1973, 63ff.) u. Drozd (1975, lOff.). Bemerkungen zu dieser Frühgeschichte bei Wüster (1970, 144 f f ) ; Matschoß et al. (1926) u. Helmich (1927); zum Industrialisierungsprozeß vgl. Henning (1973).

9

10 Dies hat Wüster deutlich gesehen; vgl. z.B. Wüster (1970, 1 f.). 11 Mit der zunehmenden Normung von Teilen von Fachsprachen, die sich hauptsächlich auf die Bezeichnungs- oder Darstellungsfunktion von sprachlichen Ausdrücken bezieht, werden je-

296

3.2

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

Verbands- und Landesnormung

Die historischen Vorläufer der modernen technikbezogenen Industrienormung sind die betriebsinternen Vorschriften zur Herstellung von Produkten, die sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert finden und in denen sich bereits weitgehende Sprachregelungen nachweisen lassen.12 Ansätze zu einer überbetrieblichen Normung von technischen Fachsprachen finden sich in Deutschland spätestens in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. 1846 begannen - um nur ein frühes Beispiel zu nennen - die Verhandlungen über einheitliche Spurweiten, Kupplungen und Bremsen. 13 1856 wird der Verein deutscher Ingenieure (VDI) gegründet; bereits 1860 beginnen hier Ingenieure, sich mit Fragen der überbetrieblichen Ausführungsnormen (= Sachnormen) und mit solchen der Normung der Sprache zu beschäftigen. Auch der Verband deutscher Elektrotechniker (VDE) spielt bei der Entfaltung der Normungstätigkeiten eine wichtige Rolle. Die Träger der überbetrieblichen Normung sind in Deutschland zunächst die zahlreichen technischwissenschaftlichen Vereine. 14 Die Erzeuger, die Verbraucher sowie der Handel und die Behörden beteiligen sich. Angenommene Fachnormen sind das Ergebnis freiwilliger Zusammenarbeit der genannten Gruppen nach selbstgegebenen organisatorischen Vorschriften. 1907 wird der Ausschuß für Einheiten und Formelgrößen (AEF) von zehn wissenschaftlichen und Ingenieurvereinen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gegründet. Schließlich entsteht 1917 der Normenausschuß der deutschen Industrie (NDI). Dieser ist eine Normenvereinigung, der jeder beitreten kann. Er wird 1926 in „Deutscher Normenausschuß" (DNA) umbenannt und trägt diesen Namen bis 1975. Mit der Gründung des NDI ist der Schritt von der Verbands- zur Landesnormung vollzogen. 3.3

1870-1925

In der - hier lediglich durch ein paar markante Daten und Namen umrissenen historischen Frühphase der Normung in Deutschland erschienen, in sehr verschiedenen Publikationsformen, zahlreiche - um nicht zu sagen - zahllose Publikationen, in denen die Ergebnisse der Normierungspraxis zugänglich gemacht wurden. 15 Diese sog. Normveröffentlichungen wurden bis etwa 1930 folgender-

12 13 14 15

doch nicht nur Verständigungsschwierigkeiten auf der propositionalen Ebene vorbeugend verhindert, sondern es werden zugleich Bedingungen dafür geschaffen, daß Verständigungsprobleme auf der Beziehungsebene der Kommunikationspartner entstehen, und zwar besonders in der fachübergreifenden Kommunikation. Dieser Fragenbereich ist bisher wenig untersucht worden. In der Fachsprachenforschung finden sich dazu zahlreiche Hinweise, z.B. bei Möhn (1968, 343 f.). Vgl. Wüster (1970, 145). Eine Übersicht über diese Vereinigungen gibt Boeck (1930). Ein Teil der Titel ist zugänglich über Wüster (1970). Es fehlt jedoch eine gründliche Bibliographie der Normveröffentlichungen in Deutschland von ca. 1850 bis zur Gegenwart.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

297

maßen unterschieden: 16 Ausführungs- oder Sachnormen; Begriffsnormen, die manchmal auch Bedeutungsnormen genannt wurden; gemischte Normen, in denen Benennungen, non-verbale Zeichen, einzelne Begriffe oder partielle Begriffssysteme sowie Sachen genormt wurden; technische Normen, die zum Teil Maß-, zum Teil Qualitäts- oder Gütenormen sind; Liefernormen und schließlich die verschiedenen Arten technischer (Norm-) Lexika. - Die etwa im Zeitraum von 1870 bis 1925 erschienenen Normveröffentlichungen der genannten Art sind Ausdruck und Ergebnis einer mehr oder weniger selbstverständlichen Praxis, die sich gewisse, zweckrational orientierte Prinzipien ihres Handelns selber schuf. Theoretische Probleme traten - wenigstens im Teilbereich der Normung technischer Fachausdrücke - zunächst kaum auf oder wurden als theoretische Probleme nicht wahrgenommen. Konkrete Probleme, die im Zusammenhang mit dem Definieren auftauchten, wurden praktisch-pragmatisch gelöst. Dem Vereinheitlichungsproblem, das in verschiedenen Formen stets erneut auftauchte, wurde durch organisatorische Maßnahmen entgegengetreten; wenn es notwendig wurde, griff der Staat hier auf dem Wege der Gesetzgebung oder durch Verordnungen unterstützend ein. - Die alltägliche Normungsarbeit, auch die Terminologienormung, wurde vor allem von Technikern ausgeführt. Diese hatten während ihrer Ausbildung auch gelernt, etwas zu definieren, und auf diesem Wege wirkten sich verschiedene wissenschaftliche Auffassungen von der Definition in der Terminologienormung aus. Das Studium der Normveröffentlichungen aus dem genannten Zeitraum erlaubt die Feststellung, daß die Definitionspraxis recht unterschiedlich war. Manchmal wurden Sachen, ein anderes Mal Begriffe und seltener auch Bezeichnungen oder Benennungen definiert. 17 Die Definitionen sind von unterschiedlicher Form und Struktur. Eine Systematik läßt sich jedoch nicht erkennen; die unterschiedlichen Definitionsarten sind weder systematisch bestimmten Definitionszwecken zugeordnet, noch verteilen sie sich regelmäßig auf die verschiedenen Typen von Normen. Mit den Ausdrücken Benennung, Be-

16 In der Gegenwart sind teilweise andere Unterscheidungen üblich, nämlich: Verständigungs-, Sortierungs-, Typen-, Stoff-, Güte-, Prüf-, Liefer-, Dienstleistungs- und Sicherheitsnormen; eine brauchbare Typologie oder Klassifikation der Verständigungsnormen konnte ich nicht finden. 17 Diese unterschiedliche Definitionspraxis hat aber keineswegs verhindert, daß die verschiedenen Normen zum größten Teil ihren Zweck erfüllt haben, ein Gesichtspunkt, dem in der Diskussion um DIN 2 3 3 0 zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Es ist nämlich für den Normbenutzer gleichgültig, ob eine Definition lautet: (a) „Passung ist die allgemeine Bezeichnung für die Beziehung zwischen zusammengefügten Teilen, soweit sie S p i e l oder Ü b e r m a ß betrifft" (nach DIN 775, Blatt 1), oder (b) Passung ist die Beziehung zwischen zusammengefügten Teilen, soweit ..., oder (c) Passung heißt die Beziehung ... oder (d) Passung: Beziehung zwischen ..., oder (e) Der Fachausdruck Passung wird verwendet, um die Beziehung ... zu bezeichnen, u.a. Möglichkeiten. Zuordnungen wie z.B.: (a) ist eine Nominaldefinition und (b) ist eine Realdefinition sind für den Benutzer ohne Interesse, und daher hat der „Definitionstheoretiker", der in Grundsatznormen vorschreiben will, wie zu definieren ist, zunächst darüber nachzudenken, wieso dies eigentlich so ist!

298

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

griffsmerkmal, Begriffssystem, Merkmal, Eigenschaft und Definition wird recht unbekümmert umgegangen; ihr Gebrauch ist unterschiedlich, ja teilweise undurchsichtig. - Um diese Feststellung zu belegen, kann man Hunderte von Beispielen geben. 18 Ich muß mich hier mit der partiellen Analyse nur eines Beispiels begnügen. Die Erläuterung des Beispiels soll verdeutlichen, warum etwa ab 1925 in der Terminologienormung zunehmend Grundsatzfragen auftauchen. 19 3.4

DINORM 17 „Passungen"

Die DINORM 17 v. 16. Okt. 1919 wird unter dem Titel „Passungen. Grundbegriffe für Einheitsbohrung" geführt. Der Untertitel ist eine sehr eigenwillige präpositionale Fügung, die z.B. in der Dudenkartei in dieser Form nicht belegt ist. 20 Auch in den einschlägigen Wörterbüchern finden sich dafür keine entsprechenden Beispiele. Üblicherweise sagt man z.B.: (1) (2) (3)

A hat einen Begriff VON etwas oder jemandem. A kennt die Grundbegriffe DER Mathematik. A kann mit dem Begriff DER Gerechtigkeit wenig

anfangen.

Konkatenationen von Begriff mit der Präposition für sind z.B. folgendermaßen möglich: (4) (5) (6)

A verfügt nicht Uber die notwendigen Begriffe FÜR die (oder ZUR) Lösung dieser linguistischen Frage. , Morphem ' ist ein anderer Begriff FÜR ,Monem '. , Vorstellung ' und,Bewußtseinsinhalt ' sind Begriffe FÜR mentalistische Psychologen.

Sagt aber jemand: A hat Begriffe FÜR X, wobei X ein sprachlicher Ausdruck ist, der sich nicht auf eine Tätigkeit oder einen Begriff oder eine Person (bzw. jeweils mehrere) bezieht, sondern auf irgendeine andere nichtsprachliche Entität, 18 Ich nenne hier nur noch einige frühe DIN-Normen, um diese Behauptung wenigstens andeutungsweise zu belegen: DIN 1340 v. April 1972; DIN 1321 v. Oktober 1925; DIN 1305 v. Juli 1925; DIN 199 v. Oktober 1923; DIN 200 v. März 1954; DIN 775 v. Juli 1923; DIN 1602 v. Juni 1924; DIN 1690 v. April 1923; DIN 1705 v. April 1928. - Bei W. H. U. Schewe, Institut für Normung, bedanke ich mich herzlich für die Beschaffung dieser und zahlreicher anderer Unterlagen. 19 Daß dies der Fall ist, zeigt nicht nur ein Studium der Ausschußprotokolle, sondern schlägt sich auch in zahlreichen Publikationen nieder; insbesondere auch in Wüsters Diss, von 1931. - Der Weg der Terminologienormung von der Praxis über die praktischen Schwierigkeiten zur Reflexion der Praxis und damit zur angewandten Wissenschaft ist ein lehrreiches Beispiel für den Entstehungsprozeß einer Wissenschaft. Kaum eine Wissenschaft ist jemals so entstanden, wie Dorner (1965, 103) sich dies vorstellt: „Als erste und vordringlichste Aufgabe einer jeden Wissenschaft wird sich die Notwendigkeit ergeben, einen festen und gesicherten Ansatzpunkt zu finden, auf dem das Gebäude der Wissenschaft errichtet werden kann." Ein Schema, das der Wissenschaftsgeschichte eher gerecht wird, gibt Wunderlich (1976b, 2) in These 1. Es müßte hier nur noch die Phase der Praxis vorgeschaltet werden, denn Wissenschaft fällt nicht vom Himmel! 20 Bei dem Leiter der Dudenredaktion, Herrn Prof. Dr. G. Drosdowski, bedanke ich mich herzlich für die Kopien der Kartei.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

299

dann ist dies ein Indiz dafür, daß dieser Sprecher das Wort Begriff oder Komposita wie Grundbegriff, Oberbegriff etc. in semantischer Hinsicht wie z.B. die Ausdrücke Wort, Bezeichnung, Benennung und sprachlicher Ausdruck gebraucht. Denn ein Satz wie: (7)

A kennt Begriffe FÜR

Nadelbäume.

erlaubt die Lesart: (Τ)

A kennt Wörter (Bezeichnungen, bäume.

Benennungen,

sprachliche

Ausdrücke

etc.) FÜR

Nadel-

oder - falls (7) in wissenschaftlichem Zusammenhang geäußert wird - die Lesart: (7 ")

A kennt Fachwörter

(Termini, Fachausdrücke

etc.) FÜR

Nadelbäume.

Wer den Ausdruck Begriff wie in (7) gebraucht, muß dann auch folgende Redeweise zulassen: (8)

Der Begriff FÜR Hund ist ,Hund'

und setzt sich aus vier Graphemen

zusammen.

oder (9)

Der Begriff FÜR Begriff ist .Begriff',

mithin ein Wort der deutschen

Sprache.

Die erste Definition in der DINORM 17, Blatt 1 lautet folgendermaßen: „ P a s s u n g bezeichnet allgemein das körperliche Verhältnis zweier zusammengefügter Teile, gekennzeichnet durch das Spiel bzw. Übermaß."

Das Definiendum (= Dm) dieser Definition ist „ P a s s u n g " ; der Definitor (= Dr) lautet „bezeichnet allgemein"·, der Rest stellt das Definiens (= Ds) dar.21 Nach dem Untertitel der Norm ist P a s s u n g ein Grundbegriff für Einheitsbohrung. Dieser bezeichnet laut Definition etwas, d.h.: In der Definition wird eine zweistellige Bezeichnungsrelation (Rß(x,y)) des Inhalts „Begriff (= B) bezeichnet etwas (= O)", mithin die Relation Rß(B, O), konstituiert. Die Konkretisierung des Etwas im Nachbereich der Relation kann offensichtlich nur im Definiens gesucht werden. Dort stehen aber regelrecht gebrauchte sprachliche Ausdrücke. Augenscheinlich bezeichnet aber P a s s u n g nicht diese Ausdrücke, sondern wohl eher dasjenige, was diese bezeichnen. Nach diesen Bemerkungen gibt es bereits zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten; ich nenne nur die hier interessanten: (a) Dm und Ds gelten als Begriffe. Dann gibt es gerade einen Typ von Bezeichnungsrelation, nämlich R B (BJ, 0¡). In diesem Fall wäre die Definition so zu lesen: Der Begriff „ P a s s u n g " bezeichnet allgemein gerade das, was der Begriff „das körperliche Verhältnis ..." bezeichnet. Eine solche Interpretation hat aber zahlreiche Schwierigkeiten; ich nenne nur zwei:

21 Die Unterscheidung Definiendum, Definitor und Definiens übernehme ich aus der herkömmlichen Definitionslehre aristotelischer Provenienz. Alle drei Termini sind m.E. nur als Prädikate für sprachliche Ausdrücke aus natürlichen oder künstlichen Sprachen aufzufassen, nicht als Prädikate für nichtsprachliche Entitäten; dazu vgl. weiter unten. Zu den Termini vgl. z.B. Klaus (1975, 248ff.).

300

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

(i) Von Sprache ist nicht die Rede. Von sprachlichen Ausdrücken (A k ) könnte in diesem Zusammenhang nur dann gesprochen werden, wenn man gemäß der Lesart (V) oder (7") verfahrt, und dies verlangt wenigstens die explizite Einführung einer Synonymierelation, in der der Ausdruck Begriff zu dem Ausdruck sprachlicher Ausdruck steht. Terminologienormung will aber Synonymie gerade verhindern! (ii) Ds wird als gerade ein Begriff aufgefaßt. Dies aber führt notwendig zu theoretischen Aporien. Die Interpretation (a) ist daher nichts wert. (b) Dm gilt als Begriff und Ds gilt als sprachlicher Ausdruck. Dann gibt es zwei Typen von Bezeichnungsrelationen, nämlich RBI(Bj, 0¡) und RB2(Ak, Oj). Nach dieser Auffassung kann man dann z.B. sagen: (10) Der Begriff „Baum" und der sprachliche Ausdruck ,Baum' bezeichnen

Baum.

Eine solche Redeweise ist aber - unter zeichentheoretischen Gesichtspunkten - nicht gerade erhellend, solange nicht angegeben ist, in welcher Beziehung sprachliche Ausdrücke und Begriffe zueinander stehen sollen. Daher führt auch die Interpretation (b) nicht weiter. (c) Sowohl Dm als auch Ds gelten als sprachliche Ausdrücke. Dann gibt es einen Typ von Bezeichnungsrelation, nämlich RB3(Ak, Oj). Die Definition wäre dann folgendermaßen zu lesen: Der sprachliche Ausdruck P a s s u n g bezeichnet allgemein gerade das, was der sprachliche Ausdruck das körperliche Verhältnis ... bezeichnet. Diese Interpretation scheint - wenigstens in zeichentheoretischer Perspektive - angemessener zu sein als (a) und (b). Aber auch hier gibt es zahlreiche Probleme; ich nenne nur zwei: (i) Von Begriffen ist nicht die Rede, d.h. hier zunächst: Diese Auffassung paßt nicht zum Untertitel „Grundbegriffe für ...", und in einer Norm soll es - so wird stets behauptet - ja darum gehen, sog. fachwissenschaftliche Begriffe zu normen. (11) Will man also dennoch von Begriffen reden, muß man auch bei dieser Interpretation angeben, in welcher Beziehung Begriffe zu Ausdrücken stehen. Die zweite Definition in der DINORM 17, Blatt 1 lautet: „ S p i e l (S) ist der freie Raum zwischen Bohrung und Welle". Der auffälligste Unterschied zwischen dieser zweiten und der ersten Definition zeigt sich im Definitor, da gilt: Dr¡ = „bezeichnet allgemein", Dr 2 = „ist" und mithin Dr! Φ Dr2. Dabei können wir feststellen: Die beiden Definitionen sind hinsichtlich der sprachlichen Ausdrücke, die wir zur Klasse der Definitoren zählen, verschieden. In unserem Argumentationszusammenhang kann diese Feststellung als relativ unproblematisch gelten, da sie zumindest plausibel ist. Jede erheblich weitergehende Feststellung muß weitergehende definitionstheoretische Voraussetzungen machen; nehmen wir z.B. folgende: Jede der beiden Definitionen gehört zu einem anderen Definitionstyp. Soll diese Feststellung mit Gründen getroffen sein, dann muß angegeben werden, welche Typen das sind. Dies aber geht nur relativ zu einer Definitionslehre, denn z.B. die Feststellung: Die erste Definition ist eine Nominal-, die zweite eine Realdefinition, ist als isolierte nicht interpretierbar, da es wenigstens zwei Dutzend unterschiedliche Definitionen von Realdefinition gibt und auch zahlreiche von Nominaldefinition,22 Wir lassen daher solche gelehrten leeren Unterscheidungen hier zunächst beiseite und sehen uns die zweite Definition im Kontext der Norm etwas näher an.

22 Vgl. die im Lit.-Verz. angegebene Literatur zur Definition. Die dargebotenen Auffassungen von sog. Realdefinitionen sind m.E. teilweise recht konfus. Die Unterschiede in den Definitionen von Realdefinitionen sind erheblich größer als die in denen von Nominaldefinitionen. Auffallend ist dies: Die meisten Definitionsiehren machen die Unterscheidung; wenige Definitionslehren befassen sich mit möglichen Zusammenhängen von beiden. Gerade das letztere ist aber eine wichtige Frage.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

301

Bekanntlich muß mit dem Ausdruck sein und seinen flektierten Formen vorsichtig umgegangen werden. 23 Einfache Beispiele zeigen das bereits: (11) (12) (13) (14) (15)

Gott ist. 10 ist das Fünffache von 2. 8 ist eine gerade Zahl. Jedes Vielfache von 2 ist eine gerade Zahl. London ist die Hauptstadt von England.

Ist ist wie folgt paraphrasiert: In (11) mit existiert, in (12) mit ist gleich, in (13) mit ist ein Element von, in (14) ist eine Teilmenge von und in (15) mit ist identisch mit. Für Dr2 kommt offensichtlich nur eine Paraphrase mittels ist identisch mit in Frage. Da Dm2 „Spiel(S)" ein Grundbegriff für Einheitsbohrung ist, ist nun die zweite Definition folgendermaßen zu lesen: Der Grundbegriff „Spiel(S)" ist der freie Raum zwischen Bohrung und Welle und paraphrasiert so: Der Grundbegriff „Spiel(S)" ist identisch mit dem freien Raum zwischen Bohrung und Welle. Beide Lesarten sind offensichtlich unbrauchbar. Eine brauchbare Lesart wäre die folgende: Der sprachliche Ausdruck Spiel ist identisch mit dem sprachlichen Ausdruck freier Raum zwischen Bohrung und Welle, und zwar hinsichtlich des bezeichneten Gegenstandes, insofern beide Ausdrücke ein und dasselbe bezeichnen. 24 Diese Lesart, die freilich auch zahlreiche theoretische Probleme aufwirft, ist aber im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich, denn nach dem Untertitel der Norm geht es ja nicht um sprachliche Ausdrücke, sondern um Begriffe. - Die Erläuterungen anhand nur eines Beispiels sollten bereits folgendes verdeutlicht haben: Betrachtet man Normveröffentlichungen unter sprach-, zeichen- und definitionstheoretischen Gesichtspunkten, tauchen eine Reihe von Fragen auf, z.B. die folgenden: -

Wie wird der Ausdruck Begriff gebraucht?

-

Was ist ein Begriff? Können Begriffe bezeichnen? Wie unterscheidet sich eine Benennung von einem Begriff, speziell einem Fachbegriff? In welcher Beziehung stehen sprachliche Ausdrücke zu Begriffen? Was wird definiert? Sprachliche Ausdrücke? Begriffe? Beides zusammen?

Hätten wir weitere Beispiele untersucht, wären u.a. noch folgende Fragen aufgetaucht: -

Sind Begriffe Vorstellungen, Denkeinheiten etc.? Wie lassen sich Begriffe zergliedern und wie in Beziehung zueinander setzen? Wie sind Merkmale von Begriffen von Eigenschaften von Gegenständen unterschieden? Welche Definitionen sollen gewählt werden?

23 Man sollte daher auch - wenn es um den Definitor geht - nicht v o m „Existenzverb s e i n " sprechen wie z.B. Mönke, 10. 24 Man könnte natürlich hier in eine Auseinandersetzung mit Frege eintreten. Dies scheint mir aber im vorliegenden Rahmen unnötig zu sein.

302

3.5

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

Grundproblematik der Terminologienormung

Diese und andere Fragen transzendieren die alltägliche Normungspraxis. Sie können vom „Normungs-Techniker", im schönen Doppelsinn dieses Ausdruckes, weder durch eine alternative, zweckgerechtere Praxis noch durch Organisation gelöst werden. Sie eröffnen eine erste Reflexionsebene, von der aus man über die Praxis nachdenken kann, in der Hoffnung, sie zu optimieren, d.h.: Die zweckrationale Grundhaltung bleibt auf dieser ersten Reflexionsebene noch erhalten. 25 Ist diese Reflexionsebene erst einmal eröffnet, sind die Voraussetzungen für die Entstehung einer wissenschaftlich begründeten Normen- und damit auch Terminologielehre gegeben. Um 1925 beginnt dann auch dieser Entwicklungsprozeß von der Praxis der Terminologienormung zur Terminologielehre mit wissenschaftlichem Anspruch. Die genaue historische Rekonstruktion dieses Prozesses muß ich mir hier versagen. 26 Es ist jedoch zweifelsfrei, daß Wüsters Dissertation sowie auch seine späteren Arbeiten auf dem Wege von der Praxis zur Lehre eine 27 entscheidende Rolle gespielt haben. 3.6

Einfluß Wüsters

Wüsters Dissertation „Internationale Sprachnormung in Technik" von 1931 ist auch heute noch ein Standardwerk; 28 es gibt drei Auflagen, eine Kurzfassung, Ubersetzungen und zahlreiche, glänzende Rezensionen. Das enzyklopädische Sachwissen, die terminologische Fachkenntnis, das spezialisierte Detailwissen, die Quellenkenntnis und Belesenheit des Autors sind bewunderungswürdig. Wüster hat als erster versucht, eine umfassende Übersicht über die internationale Normungstätigkeit zu geben, brauchbare Klassifikationen aufgestellt, sachverständige Ordnungen entworfen, weitreichende Fragen gestellt, zukunftsweisende Vorschläge gemacht und zahlreiche Probleme und fruchtbare Fragestellungen überhaupt erst gezeigt. Er hat jedoch auch - insbesondere mit seiner u.a. an Ste-

25 Auf einer höheren Reflexionsebene müßte z.B. einmal darüber nachgedacht werden, welche Bereiche der Wissenschaftssprache z.B. einer Normung gerade entzogen werden müssen, damit sie ihren Zielen dienen können! 26 Dies ist m.E. eine lohnende Aufgabe, die u.a. dem Selbstverständnis der Termionologielehre dienlich sein kann. 27 Vorläufer von Wüster in dieser Hinsicht ist u.a. Porstmann. 28 Vgl. Wüster (1970). Wenn ich richtig sehe, ist auch die Arbeit des Ausschusses ISO/TC 37 „Terminologie" von dieser Diss, beeinflußt und D I N 2330 von den ISO-Empfehlungen. Vgl. Wüster (1969, 9) und Dahlberg (1976, 82). Schon Dorner (1965, 112) hat bemerkt, daß das Wörterbuch des genannten Ausschusses für die Erklärung dessen, was unter einem Begriff zu verstehen ist, fast eine halbe Seite benötigt. Die Erklärung ist aber dennoch ziemlich konfus. 29 Auszüge aus einigen Besprechungen sind in Wüster (1970, 506 f.) abgedruckt; bei der Kurzfassung handelt es sich um Wüster (1934). Die russische Übersetzung erscheint bereits 1931; vgl. dazu Wüster (1969, 9).

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

303

che, Paul, Marty und Weisgerber anschließenden Sprachauffassung 30 - einige schwerwiegende Probleme geschaffen, mit denen man - was wir noch sehen werden - , besonders in der terminologischen Grundsatznormung, bis heute nicht fertig geworden ist. Diese letztlich sprachtheoretischen Probleme hängen mit denjenigen Fragen zusammen, die wir anhand unserer Beispielanalyse gestellt haben.31 Ich möchte dies einfach anhand einiger Zitate aus Wüsters Arbeiten verdeutlichen, die ich mit einigen erläuternden Überleitungen nachfolgend zusammenstelle. Für Wüster ist die Fachsprache des Ingenieurs als Zwecksprache lediglich ein Mittel zur Mitteilung von Wahrheiten und Tatsachen. 32 Damit diese Funktion gesichert ist, sind sog. Begriffsfestlegungen nötig. „Begriffe können aber nur dadurch festgelegt werden, daß den definierten Begriffsumfängen ein Zeichen zugeordnet wird; die bequemsten Zeichen sind die Benennungen." 33 Wüster kritisiert an der Arbeit des AEF, daß hier nur die „Benennungen an sich" philologisch behandelt worden wären, nicht aber die „zugrunde liegende Begriffsabgrenzung": „[...] eine klare Vorstellung von dem Zusammenhang zwischen Begriff und Begriffszeichen [ist] durchaus noch nicht Gemeingut der Ingenieure". 34 In einem weitläufigen Kapitel befaßt sich Wüster mit der Sprachbeschaffenheit. Hier heißt es zu dieser Frage u.a.: „Die Zweck-Sprache ist ein System von Lautzeichen (sprachlichen Bezeichnungen), denen Vorstellungen ( B e g r i f f e , B e d e u t u n g e n ) zugeordnet sind. Sprachliche Mitteilungen gliedern sich in Sätze. Der Satz ist der Ausdruck eines logischen Urteils, d.h. er besteht aus einem Subjekt und aus einem Prädikat. Das Subjekt ist eine Vorstellung, von der etwas ausgesagt wird; das Prädikat ist eine Vorstellung, die von dem Subjekt ausgesagt wird. Beispielsweise ist in dem Satz alle Taschenlampen werden durch Trockenelemente gespeist, der Teil alle Taschenlampen Subjekt und der Rest Prädikat. Die kleinste Lautgruppe, der noch eine eigene Vorstellung zugeordnet werden kann, heiße W o r t e l e m e n t . So besteht das Subjekt des Beispielsatzes aus den Wortelementen all, e, Tasch, en, Lamp, en. Unter B e g r i f f werde nun im folgenden jede Vorstellung verstanden, die nicht Subjekt und Prädikat zugleich enthält. Es ist dabei gleichgültig, ob der Begriff durch ein einziges Wortelement oder durch mehrere ausgedrückt ist. Begriffe ersterer Art sollen E l e m e n t a r b e g r i f f e genannt werden, Begriffe letzterer Art zusammengesetzte Begriffe oder B e g r i f f s v e r b i n d u n g e n . Diese Namen beziehen sich lediglich auf die Form der sprachliche Bezeichnung, haben also nichts mit der psychologischen Zusammengesetztheit des Begriffes zu tun. Nach dieser Bezeichnungsweise kann sogar ein und derselbe Begriff zusammengesetzt sein oder nicht: Radio ist dasselbe wie drahtlose Télégraphié und Telephonie, und Taschenlampe heißt auf englisch auch torch."15

30 Auf diese Autoren wird von Wüster in seinen verschiedenen Arbeiten, wenn es um sprachtheoretische Fragen geht, öfters Bezug genommen. Vgl. z.B. Wüster (1970, 11, 14); Wüster (1974, 106); Wüster (1959, 60, 202ff.); Wüster (1959, 615); weiterhin zitiert Wüster öfters die Arbeiten von Gabelentz, Jespersen, Erdmann, Darmesteter, Saussure und Humboldt. 31 Vgl. Abschnitt 3.3. 32 Vgl. Wüster (1970, 1); der Terminus Zwecksprache ist von Steche übernommen. 33 Wüster (1970, 1 f.). 34 Wüster (1970, 2). 35 Wüster (1970, 11).

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Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

1955 heißt es: „Für den Terminologen ist die Sprache ein System von Benennungen (etwas Wahrnehmbares), durch welche ein System von Begriffen (etwas nur Gedachtes) symbolisiert wird." 36

1959 führt Wüster aus: „Der Begriff, wie er in der klassischen Logik und in der Psychologie etwa definiert wird, ist die gedankliche Zusammenfassung (conceptus) individueller Gegenstände - materieller oder immaterieller auf Grund gemeinsamer Merkmale. Die lexikalischen Bedeutungen eines Wortes sind nichts anderes als die mit diesem Wort assoziierten Begriffe. Eine solche Betrachtungsweise steht nicht im Gegensatz zu der sprachwissenschaftlichen Gepflogenheit, lieber von der Bedeutung oder vom Inhalt zu sprechen als vom Begriff; sie ergänzt sie." 37

1969 nimmt Wüster auf seinen sprachtheoretisch am gründlichsten durchgearbeiteten Aufsatz „Das Worten der Welt" folgendermaßen Bezug. Er gibt zunächst folgende Abbildung wieder, die er „vierteiliges Wortmodell" nennt:

Dann gibt er folgende Erläuterung: „Die obere Hälfte des Schaubildes entspricht dem Sprachsystem. In ihm ist jeweils einem Begriff - d.h. einer „Bedeutung" - ein anderer Begriff (und zwar ein Lautbegriff oder ein Schriftbildbegriff) als Zeichen („Bezeichnung") bleibend zugeordnet. (Von Synonymen oder Homonymen wird dabei zur Vereinfachung abgesehen.) Das ganze Sprachsystem bleibt also im Reich der Begriffe. Die untere Hälfte des Schaubildes stellt die wahrnehmbare Wirklichkeit dar. In ihr entsprechen jedem Begriff viele individuelle Vertreter („Realisierungen" sagt man). Keiner davon ist dem anderen vollständig gleich. Unter den Bedeutungsbegriff „Mensch" z.B. fallen gegenwärtig mehrere Milliarden Einzelmenschen. Ebenso wird ein bestimmter Zeichenbegriff (z.B. die deutsche Lautform „Mensch") beim Sprechen durch immer wieder neue individuelle Laut- bzw. Schreibvarianten realisiert, die sich allerdings nur geringfügig unterscheiden." 38

Schließlich führt Wüster 1974 aus: 36 Wüster (1955, 54). 37 Wüster (1959, 615). 38 Wüster (1969, 4); vgl. auch Wüster (1959/60, 188).

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

305

„Jede Terminologiearbeit geht von BEGRIFFEN aus. Sie zielt auf scharfe Abgrenzung zwischen den Begriffen. Das Reich der Begriffe wird in der Terminologie als unabhängig vom Reich der Benennungen angesehen. Daher sprechen die Terminologen von ,Begriffen', wo die meisten Sprachwissenschaftler in Bezug auf die Gemeinsprache von ,Wortinhalten' sprechen. [...] Es gibt einen Umstand, der es den Terminologen leichter macht, mit dem Ausdruck .Begriff auszukommen: Für sie erschöpft sich die Bedeutung einer Benennung in der SACHbedeutung, auch .Begriffsbedeutung' genannt. Die .Mitbedeutungen' fallen in der Regel fort. Zur Erläuterung: Seit Karl Otto Erdmann, um 1900, werden drei Arten von Mitbedeutungen unterschieden, die man etwa folgendermaßen nennen kann: ,Sinnformanklang', ,Begleitgefühl' und .Bedeutungssphäre'." 3 9

Ich möchte nun diese Zitate aus einigen Arbeiten Wüsters nicht im Detail analysieren, sondern zusammenfassend nur folgendes feststellen: Wüster vertritt eine realistische „Vorstellungstheorie" der sprachlichen Bedeutung, 40 die nicht eindeutig einer bestimmten Tradition von Bedeutungstheorien zuzuordnen, vielmehr eklektizistisch ist. Die lexikalische Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist eine Vorstellung. Eine Vorstellung ist ein Begriff. Dieser ist eine gedankliche Zusammenfassung individueller Gegenstände aufgrund gemeinsamer Merkmale der Gegenstände. Die Vorstellung = der Begriff = die Bedeutung besteht bzw. bestehen aus Teilen; für den Terminologen ist nur ein Teil, die Sachbedeutung = Begriffsbedeutung, von Interesse. Begriffe sind Bezeichnungen, Benennungen, Zeichen oder Teilen von solchen per Assoziation zugeordnet. Das Reich der Begriffe ist trotzdem - für den Terminologen - von dem der Benennungen unabhängig. Auch die Zeichen sind ihrerseits wieder Begriffe, entweder Laut- oder Schriftbildbegriffe. Daher ist die Begriffsbedeutung als Bedeutungsbegriff entweder dem Laut- oder Schriftbildbegriff assoziativ zugeordnet. - Man sieht: Wüster hat auf dem Wege zur Terminologielehre eine besondere Art von Begriffsproblem geschaffen. Eine „besonders intrigante Figur"41 möchte man mit Gätschenberger sagen, und wir werden nun sehen, welche Rolle diese Figur in der Auseinandersetzung um die Norm 2330 spielt.

39 Wüster (1974, 67 f.). 40 Das Prädikat realistisch gebrauche ich hier wie Kutschera (1975, 31 ff.); dort heißt es z.B.: „Die letztere Bezeichnung [realistisch] erklärt sich daraus, daß diese Theorien [...] einen Begriffsrealismus voraussetzen. Sie fassen die Bedeutung als konventionelle Beziehung zwischen Zeichen und konkreten oder begrifflichen Entitäten auf, die unabhängig von den sprachlichen Zeichen gegeben sind" (32); obwohl öfters das Gegenteil behauptet wird (vgl. Anm. 62), ließe sich herausarbeiten, daß in der gesamten Diskussion um DIN 2330 nur die verschiedenen realistischen Varianten eine Rolle gespielt haben. Dies ist im übrigen der „tiefere Grund", warum in der gesamten Normdiskussion ständig Schwierigkeiten mit dem Begriff des Begriffs auftauchen. Dabei ist besonders auffällig, daß niemand diejenige Begriffstheorie bemüht hat, die sich unter den realistischen Theorien bisher als die stabilste erwiesen hat, nämlich die logisch fundierte Freges, aber selbst diese hat ja ihre Schwierigkeiten, nämlich spätestens dann, wenn es um die Bedeutung von Prädikaten geht; man vgl. u.a. dazu: Tugendhat (1976), bes. Anhang zur 11. Vorlesung, 190ff. 41 Vgl. das Motto zu diesem Beitrag. Vgl. weiter Gätschenberger (1977, 20): Hier werden fünf Hauptbedeutungen des Wortes Begriff dargelegt: eine nützliche Lektüre für Terminologen!

306

4 4.1

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

DIN 2330 (1961) Grundproblematik

In der DIN-Norm 2330 vom Juli 1961, S. 6 heißt es: [1] „Definition (Begriffsbestimmung) im weitesten Sinne ist die Beschreibung eines Begriffes durch bekannte Begriffe". Das ist etwas merkwürdig. Denn auf S. 2 heißt es unter der Überschrift [2] „Wesen des Begriffes": „Ein Begriff ist eine Denkeinheit, in der Eigenschaften und Zusammenhänge von Gegenständen erfaßt sind." Mithin ist eine Definition als Begriffsbestimmung eine Beschreibung einer Denkeinheit durch bekannte Denkeinheiten. Hier liegt mithin wenigstens ein etwas eigenwilliger Gebrauch des Ausdrucks Beschreibung vor, denn man sagt ja wohl kaum: (16)

Er gibt eine Beschreibung

durch

Denkeinheiten.

Man sieht bereits: Hier liegt eine gleiche, unzureichende Unterscheidung zwischen sprachlichen Ausdrücken und Begriffen vor, die wir schon in der DINNORM 17 vorfanden. 42 Wenn eine „Wesensbestimmung" des Begriffes wie in [2] lautet, kann [1] allenfalls so lauten [1]: Definition im weitesten Sinne ist die Beschreibung eines Begriffes durch bekannte SPRACHLICHE AUSDRÜCKE. [ Π wäre dann besser verständlich, aber immer noch relativ nichtssagend, denn dann wäre die Beschreibung ( 17)

Schraube

ist ein Gegenstand

aus

Metall.

eine Definition im weitesten Sinne. Kurz: es ist unzweckmäßig, Definitionen als Beschreibungen einzuführen. - Die erste „Regel für Definition" lautet, S. 6: „[3] Die Definition muß in W o r t e gefaßt werden, deren Bedeutung als b e k a n n t vorausgesetzt werden kann; denn man kann nichts Unbekanntes durch Unbekanntes erklären." 43 Man erkennt: [3] widerspricht [1], es sei denn, man ist bereit, stillschweigend eine synonyme Verwendung von Wort und Begriff zuzugestehen, was aber nicht möglich ist, weil Wörter (nicht: Worte) Benennungen sind und diese im Abschnitt „6. Benennungen", S. 6ff. von Begriffen unterschieden werden. 44 Außerdem ist [3] unsinnig. Denn eine Definition, die „in W o r t e gefaßt" ist, „deren Bedeutung als b e k a n n t vorausgesetzt werden kann", braucht gar nicht gegeben zu werden. In [3] ist offensichtlich gemeint, daß als Definitor und als Definiens einer expliziten Definition als bekannt vorausgesetzte Wörter

42 Auch Dorner (1965, 109) bringt zahlreiche Beispiele für die geradezu unglaubliche Verwirrung, die das Reden von Begriffen stiften kann, gestiftet hat oder keineswegs notwendigerweise stiften muß. Weitere Beispiele finden sich in Sprache und Praxis (1973, 71 ff.). 43 A u f die in den verschiedenen Fassungen von DIN 2 3 3 0 aufgestellten Definitionsregeln kann ich nicht näher eingehen. 44 Auch auf die Ansichten über Benennungen, die sich in den verschiedenen Fassungen finden, kann ich hier nicht eingehen.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

307

gebraucht werden sollen.45 Dies zeigt das Beispiel, das auf [3] folgt, nämlich: „[4] Wenn man sagt: ,Eine Honmaschine ist eine Maschine, auf der Werkstücke gehont werden', so fehlt die Erklärung des Begriffes ,honen', da dieser beim Leser nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann". Da „Eine Honmaschine" Teil der Definition ist, nämlich das Definiendum, kann eine Definition nicht nur in als bekannt vorausgesetzten Wörtern gefaßt werden. - In [2] heißt es, daß in Begriffen als Denkeinheiten Eigenschaften und Zusammenhänge von Gegenständen erfaßt sind. Danach heißt es, S. 2: [6] „Die Eigenschaften oder Zusammenhänge werden Merkmale des Begriffes genannt". Aus [2] und [6] ergibt sich: Gegenstände haben Eigenschaften. Gegenstände stehen in Zusammenhängen. Begriffe erfassen die Eigenschaften und Zusammenhänge. Diese bleiben aber, auch wenn sie von Begriffen erfaßt werden, solche von Gegenständen. Trotzdem werden sie in [6] Merkmale des Begriffes genannt, d.h.: Eigenschaften von Gegenständen sind Merkmale von Begriffen. [6] könnte allenfalls heißen [61: Diejenigen Eigenschaften und Zusammenhänge von Gegenständen, die in einem Begriff erfaßt sind, werden als Teile des Begriffsinhaltes aufgefaßt und als solche Merkmale genannt. Diese Formulierung wäre etwas verständlicher, allerdings bestände die Verpflichtung u.a. darzulegen, wie die Beziehung z.B. von Eigenschaft und Merkmal inhaltlich zu charakterisieren ist.46 - Weiter heißt es S. 2: „[7] Unter dem Inhalt eines Begriffes versteht man die Gesamtheit seiner Merkmale; er wird durch eine Definition (Begriffsbestimmung) festgestellt oder festgelegt". Nun kann man zwar unter bestimmten Voraussetzungen den Inhalt eines Begriffes als die Gesamtheit seiner Merkmale verstehen. Nur: eine Definition als Begriffsbestimmung legt oder stellt nicht den Begriffsinhalt als Gesamtheit seiner Merkmale fest. Solche Definitionen wären nämlich so lang wie Romane. Alle Beispiele für Inhaltsdefinitionen in der Norm 2330 widersprechen daher auch der Feststellung in [7]. Ja der Normtext widerspricht sich explizit selbst. Denn unmittelbar nach [7] steht: „[8] Die technisch wichtigen Merkmale des Begriffes ,Glühlampe' sind folgende." Dann werden vier sog. Merkmale aufgezählt, die im

45 Es ist auch gar nicht zu verstehen, warum weder in DIN 2330 von 1961 noch in DIN 2330 von 1974 die Termini Definiendum, Defìnitor und Deflniens eingeführt werden. Erst Dahlberg hat gesehen, daß diese zum Rüstzeug eines Terminologen gehören; vgl. Dahlberg (1976, 101). 46 Keiner der drei hier behandelten Texte kommt der Verpflichtung nach, wenigstens plausibel zu charakterisieren, was der Unterschied von Merkmalen und Eigenschaften ist. Bestimmungen wie: Eigenschaften von Gegenständen entsprechen auf der Ebene des Begriffs Merkmale, sind solange nichts wert, solange nicht gesagt werden kann, was hier entsprechen heißen soll. Auch solche Feststellungen wie: Merkmale stehen für Eigenschaften von Gegenständen (vgl. z.B. Dahlberg 1976, 88 f.) sind aus dem nämlichen Grunde nicht interpretierbar. In DIN 2330 von 1961 gibt es nicht weniger als 19 Merkmalarten. Diese heterogene Bevölkerung des Reichs der Begriffe ist aber in dieser Form völlig überflüssig, da sie sich alle als Prädikate auffassen lassen, wobei Prädikate selbst als sprachliche Ausdrücke aufzufassen sind.

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Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

Definiens einer Definition von Glühlampen auftauchen.47 In einer Definition werden demnach bestimmte Merkmale herausgegriffen, und zwar die, die für den vorliegenden Zweck der Definition als wichtig angesehen werden. - Unter der Überschrift „Wesen der Definition" liest man folgendes: „[9] Durch eine Definition wird der Begriffsinhalt festgelegt. Eine Definition geht im allgemeinen von einem bekannten Oberbegriff aus und nennt die einschränkenden Merkmale, die den in Frage stehenden Begriff kennzeichnen und von anderen Begriffen derselben Reihe unterscheiden". [9] widerspricht [7], Davon, daß Definitionen den Inhalt eines Begriffes feststellen (vgl. [7]), ist nun nicht mehr die Rede. 48 [9] ist offensichtlich eine aus dem philosophischen Kontext gerissene Fassung bekannter scholastischer Definitionsprinzipien. Dabei wird u.a. unterschlagen, unter welchen Gesichtspunkten man welchen Oberbegriff auswählen soll. - Besonders konfus in DIN 2330 ist das Geplauder von den Merkmalen. Dazu nur ein Beispiel: Merkmale sind Teile des Begriffes und können ihn definieren. Offensichtlich sind Herkunftsmerkmale, nach der Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Merkmale. Von den Herkunftsmerkmalen wird auf S. 4 gesagt: „[10] Herkunftsmerkmale können sein: Hersteller, Verfahren, Erfinder, Herkunftsland sowie h i s t o r i s c h e , k u l t u r e l l e , s o z i o l o g i s c h e M e r k m a l e " . Hersteller sind damit Teil z.B. des Begriffes „Tisch". - Wie man sieht, sind terminologische Grundsatznormen keineswegs trockene Texte; sie können auch ganz lustig sein.

47 Fahrlässig ist in allen behandelten Texten auch der Umgang mit Diakritika wie Anführungszeichen und Unterstreichungen. Manchmal stehen die sog. Begriffe in Anführungszeichen, z.B.: „Für die Verbindung von Begriffen (,Gliedbegriffen', .Gliedern') [...]" (DIN 2330 v. 1961, 3), manchmal auch nicht; letzteres ist immer dann der Fall, wenn Begriffe in Spalten, Zeilen etc. geordnet werden; vgl. z.B. DIN 2330 v. 1961, 2, 3, 4, 5; das gleiche gilt für Merkmale: Sie stehen manchmal in Anführungszeichen, manchmal nicht. Eine Regel für diesen Wechsel ist nicht erkennbar. Schließlich gilt dann auch noch, daß Wörter manchmal unterstrichen werden, manchmal in Anführungszeichen stehen; „Das Wort .kracken' ist eine Umformung des englischen Wortes ,to crack'" (DIN 2330 v. 1961, 7). Endlich werden die Anführungszeichen dann auch noch wie üblich im Text verwendet. - Wer mit einer gestuften Ontologie - wie alle Fassungen dieser Normen - arbeitet, ist gezwungen, den Gebrauch seiner Diakritika sorgfaltig einzuführen und in jeder Verwendung konstant zu halten, da sonst das größte Durcheinander deswegen entstehen kann, weil alle Stufen der vorausgesetzten Ontologie stets nur durch die im Text gebrauchten Ausdrücke gegeben sind. Es kann andernfalls leicht passieren, daß nicht nur der Leser, sondern auch der Verfasser die Stufen verwechselt, wie z.B. hier: „Der Begriff ,Eckventil' ist richtig, weil das Ventil seinem Aufbau nach nur an einer Ecke verwendbar ist." (DIN 2330 v. 1961, 5). Gemeint ist natürlich, daß die Benennung als Kompositum „richtig" gebildet ist! 48 Es ist auch nicht zu verstehen, warum der für die Terminologienormung wichtige Unterschied zwischen feststellen und festlegenl-setzen nicht erläutert wird. Vgl. dazu unten.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

4.2

309

Kritik

Bis zur Veröffentlichung von DIN 2330 im Juli 1961 hatte man in den zuständigen Gremien ausgiebig diskutiert. Diese Diskussion erstreckte sich über rund zehn Jahre; ihr schriftlich festgehaltener Teil füllt mehrere Leitzordner. Dafür verantwortlich ist vor allem unser Intrigant, der Begriff: Die Auseinandersetzung der beteiligten Normungsfachleute und Wissenschaftler 49 ist der mißglückte Versuch, die abendländische Geschichte des Begriffes „Begriff in einer „Wesensbestimmung" des Begriffs zusammenzufassen, die für die Praxis der Sprachnormung brauchbar sein soll. Besonders bemerkenswert ist, daß keiner der Beteiligten ernsthaft die Frage gestellt hat, ob man bei der Terminologiearbeit nicht ohne einen Begriff des Begriffes auskommen kann. Die erste Phase der Auseinandersetzung endet daher mit einer Kapitulation, eingestanden in den Erläuterungen zu DIN 2330, S. 14, wo es heißt: „Für die N e u a u s g a b e galt es nun, die Alternativ-Vorschläge über die Definition des Begriffes „ B e g r i f f durch e i n e Lösung zu ersetzen. Die Versuche, zu einer allgemeingültigen, auch sprachphilosophisch nicht angreifbaren Definition zu gelangen, haben aber - vornehmlich wegen der verschiedenen Lehrauffassungen - nicht zu der wünschenswerten Übereinstimmung der Meinungen geführt. Auch während der Abschlußberatungen im zuständigen Ausschuß konnte trotz eifrigen Bemühens keine befriedigendere Lösung gefunden werden, als daß man darauf verzichten mußte, den Begriff „Begriff' exakt zu definieren. In einer Hinsicht ist diese Tatsache natürlich bedauerlich; denn es handelt sich ja um den Zentralbegriff dieser Norm und der gesamten Terminologie-Arbeit. Gerade für den Praktiker, von dem nach den Grundsätzen von D I N 2 3 3 0 erwartet wird, daß er möglichst exakte Definitionen gibt, wäre es wünschenswert gewesen, diesen Zentralbegriff hierin zu finden. Andererseits mußte aber befürchtet werden, daß eine wirklich exakte, allen Bedürfnissen gerecht werdende Definition für den nicht sprachkundigen Praktiker zu wissenschaftlich und somit zu schwierig wäre; denn gerade hierfür dürfte das Ideal knappster Kürze - wie z.B. in einer mathematischen Formel auf keinen Fall gelten."

5

DIN 2330(1974)

Nach rund 13 Jahren erscheint im November 1974 DIN 2330 erneut, und zwar als Vornorm. Die langwierigen Diskussionen, deren wichtigste schriftliche Teile mir vorliegen, 50 haben nicht dazu geführt, daß diejenigen Termini, die uns hier interessieren, angemessener definiert werden. Im Gegenteil: Was nun über das Wesen von Begriffen ausgeführt wird, ist noch problematischer. Der Abschnitt „Begriffe und Sprache" ist verwirrend, und was über Definitionen gesagt wird, ist in sich teilweise widersprüchlich; allerdings findet man im Abschnitt „Definitionen" S. 6ff.) auch erhebliche Verbesserungen. Nur auf einige Punkte kann ich 49 Über die Beteiligung von Wissenschaftlern muß man sagen: Es wurde zu wenig auf die spezifischen Bedürfnisse der Terminologienormung Rücksicht genommen. 50 Die hier geäußerte Kritik unterscheidet sich in den meisten Punkten von den kritischen Stellungnahmen in diesen zahlreichen Schriftstücken.

310

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

nachfolgend hinweisen. 51 - Unter „Wesen des Begriffes", S. 2 heißt es „[11] Die gedankliche Zusammenfassung von individuellen Gegenständen führt zu Denkeinheiten, die als ,Begriffe* bezeichnet werden". Unter der Überschrift „Begriff der Definition", S. 6 liest man: „[12] Die Definition ist die Festlegung eines Begriffes durch Herstellung von Beziehungen zu anderen (bekannten oder bereits definierten) Begriffen mit dem Zweck der Abgrenzung von anderen Begriffen". In [12] geht es offensichtlich darum, dem Normbenutzer die Denkeinheit der Definition sprachlich zu vermitteln. Nach [11] geschieht dies in [12] aber nach einem außergewöhnlichen Verfahren; denn nach der in [11] ausgedrückten Auffassung von der Begriffsbildung ist diese Absicht mit [12] gar nicht zu erreichen! [12] müßte nämlich dann in einer Aufzählung von individuellen Gegenständen bestehen; hier wären dies dann je einzelne Definitionen, und der Normbenutzer müßte sich aus der Menge der aufgezählten Definitionsbeispiele den Begriff der Definition als Denkeinheit bilden. Man stelle sich überhaupt einmal Terminologienormung vor, wenn diese Auffassung der Bildung von Begriffen zuträfe! [11] ist absurd, [12] ist brauchbar, allerdings mit der Einschränkung, daß DIN 2330 (Vornorm) keine brauchbare Einführung des Begriffs „Begriff gibt. - Es werden drei Arten von Definitionen unterschieden: Inhaltsdefinition, Umfangsdefinition und Relationsdefinition. Zur Inhalts- und Umfangsdefinition wird mehr oder weniger das gesagt, was in traditionellen Definitionslehrern opinio communis ist. Ein spezifisches Produkt dieser Norm scheint mir aber die Relationsdefinition zu sein. 2 Es heißt auf S. 6: „[13]: Eine Relationsdefinition gibt an, in welcher Beziehung ein zu definierender Begriff zu anderen definierten oder bekannten Begriffen steht. Grundsätzlich können alle Begriffsverbindungen dazu benutzt werden; so sind z.B. die Inhaltsdefinition (nach Abschnitt 4.2.1b) und die Umfangsdefinition (nach Abschnitt 4.2.2b) Relationsdefinitionen, die auf der hierarchischen Beziehung beruhen. Relationsdefinitionen werden häufig mit Inhalts- und Umfangsdefinitionen gekoppelt." Vergleicht man [12] mit [13], Satz 1 ergibt sich: Jede Definition ist eine Relationsdefinition, d.h.: Dann gäbe es aber nicht drei, sondern nur zwei Arten von Definitionen. Dies ist aber nicht die Auffassung der Norm, wie die Verweisungen in [13] zeigen. Danach ist eine Inhaltsdefinition (nach 4.2.l.a) genau dann keine Relationsdefinition, wenn die Angabe der Merkmale, die den Inhalt eines Begriffs kennzeichnen, durch Aufzählung aller Merkmale geschieht. Als Beispiel wird gegeben: „[14] Eine Glühlampe kann definiert werden als ,materieller lichtaussendender Gegenstand, bei dem feste Stoffe durch Ström-

st Die am gründlichsten bearbeiteten Teile in allen drei hier behandelten Fassungen sind die über die Begriffsverbindungen. Hier hat man an die traditionelle Logik angeknüpft, und wenn man z.B. über hierarchische Beziehungen Aussagen macht, sind diese nicht notwendigerweise davon beeinflußt, wie der Begriff als Begriff eingeführt ist. Auch auf die Teile über Begriffsbeziehungen gehe ich nicht ein. 52 Diesen Terminus konnte ich - so wie er hier gebraucht wird - in der Literatur nicht finden. Nur bei Mönke, 8 ist er genannt.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

311

wärme so hoch erhitzt werden, daß sie Licht aussenden'." Ersetzt man im Definiens materieller lichtaussendender Gegenstand durch Lampe, dann wird die Inhaltsdefinition zur Relationsdefinition, und zwar mit der Begründung, daß „Lampe" ein Oberbegriff zu „Glühlampe" ist, mithin eine hierarchische Beziehung besteht. Es ist aber nicht einzusehen, wieso „Glühlampe" nicht in einer hierarchischen Beziehung zu „Gegenstand" stehen soll. Dieser Fall ist nach den Erläuterungen der hierarchischen Beziehungen auf S. 3 auch keineswegs ausgeschlossen. Damit ist aber gezeigt, daß auch [14] eine sog. Relationsdefinition ist, d.h. jede Inhaltsdefinition ist eine Relationsdefinition. Da das gleiche auch für den ausgeschlossenen Fall von Umfangsdefinition leicht gezeigt werden kann, sind alle Definitionen, die in dieser Vornorm unterschieden werden, Relationsdefinitionen, und die ganze Definitionstypologie führt den Normbenutzer in die Irre. - Zusammenfassend möchte ich sagen: Auch in der Vornorm v. Nov. 1974 wird kein brauchbarer Begriff des „Begriffes" eingeführt. Dies wirkt sich negativ auf den Definitions-„Begriff aus. Die Einteilung der Definitionen ist widersprüchlich und überdies nicht so, daß sie die Praxis der Normung ausreichend reflektiert.

6

Alternative Dahlberg

Den vorläufigen Abschluß in der Auseinandersetzung um DIN 2330 bildet die in der Zeitschrift Muttersprache zur Diskussion gestellte Alternativfassung Dahlbergs. 53 Die Fassung stellt einen erheblichen Fortschritt dar. Dies gilt u.a. auch besonders für den Abschnitt über die Definitionen. Nur die ausschnittsweise vorgetragene Begriffstheorie will mir nicht recht einleuchten. Auch sehe ich nicht ein, warum in Verständigungsnormen der Stil zunehmend narrativer wird. 54 Warum müssen denn in einer solchen Norm Sätze wie dieser stehen: „[15] Seitdem der Mensch denken und sprechen kann, hat er die Dinge seiner Umwelt und seiner Gedanken bezeichnet, hat ihnen Namen gegeben und gegenüber seinen Mitmenschen sein eigenes Handeln und Empfinden in solchen sprachlichen Formen ausgedrückt, die von ihnen verstanden und in sukzessiver Konvention akzeptiert werden konnten" (S. 84)? 55 - Nachdem im Anschluß an Diemers Versuche zur Gegenstandslehre 56 als Grundbegriffe der des individuellen und der

53 Vgl. Dahlberg (1976). 54 Dies deutet sich bereits in der Vornorm von 1974, 2 an. Entweder werden relativ zusammenhanglose Details mitgeteilt, oder zu weitgehende Generalisierungen vorgenommen. Beides dient nicht der angestrebten Verständigung. 55 Man kann solche Generalisierungen wohl nicht so ganz ernst nehmen. Immerhin stimmt die hier ausgedrückte Etiketten-Theorie von Sprache mit der Auffassung von der nachträglichen Fixierung eines Begriffs durch das „Hilfsmittel" Sprache recht gut überein (vgl. 88). Vgl. auch Anm. 63. 56 Vgl. Dahlberg (1976, Anm. 5).

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des allgemeinen Gegenstandes eingeführt sind, geht Dahlberg dazu über, eine „analytische Begriffstheorie" (S. 83) vorzustellen. Was hier „analytisch" heißt, wird nicht explizit erläutert. Wenn ich die Verfasserin richtig verstanden habe, dann soll analytisch ausdrücken, daß man Begriffe durch Analyse von zutreffenden Aussagen über diejenigen Gegenstände gewinnt, die unter die Begriffe fallen. Es heißt: „[16] N u r a u f g r u n d von A u s s a g e n ü b e r G e g e n s t ä n d e g e l a n g t m a n zu d e n B e g r i f f e n d e r G e g e n s t ä n d e ; j e d e e i n z e l n e z u t r e f f e n d e A u s s a g e ü b e r e i n e n G e g e n s t a n d er g i b t d a b ei ein B e g r i f f s e l e m e n t s e i n e s B e g r i f f s . " (S. 87). Zunächst ist [16] nicht auf wissenschaftliche Begriffe eingeschränkt; 57 daher ist das „Nur" in [16], Satz 1 eine unangemessene Übertreibung. Ein Hammer (bzw. Hämmer) ist nach Dahlberg ein allgemeiner Gegenstand. Zu dem zugehörigen Allgemeinbegriff kann man aber auch anders gelangen als „nur aufgrund von Aussagen" über Hämmer, z.B. so: Ein Vater schlägt einen Nagel mit einem Hammer in ein Brett und drückt ihn seinem zusehenden vierjährigen Sohn, der Hämmer noch nicht kennt, mit den Worten in die Hand: „Komm, versuch's auch mal." Der Sohn versucht es; aber es gelingt nicht. Der Vater korrigiert: „Du mußt den Hammer weiter hinten anfassen." Nun geht es besser, aber immer noch schwer. „Weiter ausholen!", korrigiert der Vater usw. In einer solchen Lernsituation können auch Aussagen über den oder die Hämmer geäußert werden; aber es geht auch ausschließlich mit Aufforderungen, Hinweisen und Korrekturen, die nicht mittels Aussagesätzen gegeben werden müssen. Kurz: Bestimmte Allgemeinbegriffe kann man in kommunikativen Handlungssituationen lernen. - In [16], Satz 2 wird nun ein interessantes Verfahren mitgeteilt: Jede zutreffende Aussage über einen Gegenstand, die offensichtlich in einem Aussagesatz einer Sprache vorliegen muß, ergibt ein Begriffselement des Begriffes des Gegenstandes. Man kommt also von bestimmten sprachlichen Äußerungen zu Begriffen. Wie dies geht, wird an zwei Beispielen erläutert; das zweite lautet so: „[17] Begriffselemente des Allgemeinbegriffs "Eiche" sind z.B. -

„ist eine Baumart,

-

gehört zur Gattung der Buchengewächse, hat eine eiförmige Frucht, hat charakteristisch gelappte Blätter,

-

hat dauerhaftes Holz" (S. 87).

Wie kommt man also von dem sprachlichen Ausdruck Eiche zu dem zugehörigen Allgemeinbegriff? Ganz einfach! Man setzt den Ausdruck Eiche in diese(s) Zeichen „" "", 5 8 D.h.: Man verfährt nach folgender Vorschrift: Immer wenn du von einem Allgemeinnamen (= Benennung, vgl. S. 88) zu einem Allgemeinbegriff kommen willst, dann setze den Allgemeinnamen zwischen die diakritischen 57 Daß in den verschiedenen Fassungen von DIN 2 3 3 0 nicht ausdrücklich zwischen nichtwissenschaftlichen oder alltäglichen Begriffen einerseits und wiss. Begriffen andererseits unterschieden wird, läßt z.B. ein präzises Reden über Begriffsbildung nicht zu. 58 Selbstverständlich könnten hier auch andere Diakritika verwendet werden; das Verfahren würde sich dadurch nicht ändern.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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Zeichen " "! Hat man nach dieser Vorschrift den Allgemeinbegriff erst einmal dinghaft gemacht, dann erklärt man andere sprachliche Ausdrücke wie z.B. „ - ist eine Baumart' zu Begriffselementen, wobei bei Dahlberg noch die systemimmanente Fahrlässigkeit vorliegt, daß für diese Begriffselemente nicht weitere diakritische Zeichen eingeführt werden. 59 Nach der oben formulierten Vorschrift hat man nun zwei Sprachen, eine für Gegenstände, eine andere, die „ " "-Sprache", für Begriffe. Fragt man nun nach dem Grund dieses Vorgehens, findet man nirgends eine brauchbare Antwort. Die einzige Erklärung lautet: Man will eben über Begriffe reden, Begriffe definieren, Begriffe haben, denn die Terminologienormung hat es eben mit Begriffen zu tun! Dahlberg wendet sich mit guten Gründen gegen die Auffassung des Begriffs als Denkeinheit im Rahmen einer Norm (vgl. S. 86). Statt dessen gibt sie folgende Definition von Begriffsbildung und Begriff: „[18] Begriffsbildung = df àie Sammlung und Zusammenfassung zutreffender Aussagen über einen gegebenen Gegenstand. Zur Fixierung des Ergebnisses der Zusammenfassung wird ein Hilfsmittel benötigt, eine Markierung. Dies kann ein Name oder ein sonstiges Zeichen sein. Mithin können wir Begriffe wie folgt definieren: Begriff = df die durch eine Bezeichnung fixierte Zusammenfassung (Synthese) zutreffender Aussagen über einen gegebenen Gegenstand." (S. 88)

Was soll man hier als eine „Zusammenfassung (Synthese) zutreffender Aussagen" verstehen? Zunächst kann mit Zusammenfassung die Handlung des Zusammenfassens von etwas gemeint sein. In der 1. Definition scheint aber eher das Ergebnis einer solchen Handlung gemeint zu sein, da vorher „Sammlung" steht. Für diese Interpretation spricht folgende Feststellung „[19] Durch eine Summe (eine Menge) von zutreffenden Einzelaussagen über einen allgemeinen Gegenstand wird ein Allgemeinbegriff gewonnen" (S. 87). Die Sammlung führt mithin zu einer Menge von Einzelaussagen = Aussagen. Was aber ist hier unter einer Aussage zu verstehen? 60 Schreiben wir einmal folgendes hin: (18)

Eine Eiche ist ein Baum.

Ist das, was hinter (18) steht, eine Aussage? Die einmalige schriftliche Äußerung eines Aussagesatzes? Oder ein Aussagesatz, in dem eine Aussage ausgedrückt ist? Eine eindeutige Antwort ist aufgrund des Textes nicht möglich. Falls, was oben hinter (18) als einmaliges Gebilde steht, eine Aussage wäre, die zutrifft, dann kann eine „Zusammenfassung zutreffender Aussagen" nur ein sprachliches 59 Vgl. dazu auch Anm. 47. 60 Zwischen Aussage, Einzelaussage und Satzaussage wird nicht hinreichend unterschieden. S o heißt es: „Durch jede einzelne Aussage - im Sinne von Satzaussage - wird eine Eigenschaft eines Gegenstandes festgestellt, die auf der Ebene des Begriffs .Merkmal ' genannt wird." (89). Was aber ist eine Satzaussage? Etwa ein Prädikat im Sinne puristischer Schulgrammatiken? Oder ein ausgesagter Satz? Man kann doch nicht einfach so tun, als erläutere sich ein solcher Ausdruck von selbst! Hier liegt mithin wieder jener für eine Verständigungsnorm unangemessene narrative Stil vor.

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Gebilde sein, z.B. eine bestimmte abzählbare Liste von Aussagen, die dann allerdings keine Summe (vgl. [19]) wäre. Daß die Begriffsbildung mit der Aufstellung einer solchen Liste abgeschlossen ist, kann wohl nicht gemeint sein; ein Indiz dafür ist folgende Feststellung: „Ein Begriff ist die Synthese einer möglichen Anzahl von Merkmalen zu einer Einheit." 61 Falls (18) nicht als einmaliges Gebilde, sondern als Repräsentant einer Klasse, mithin als Aussagesatz, aufgefaßt wird, der eine zutreffende Aussage ausdrückt, dann kann die „Zusammenfassung" nicht das Ergebnis einer Auflistung von Aussagesätzen sein, sondern offensichtlich nur eine irgendwie zu beschreibende „kognitive Verarbeitung", „geistige Verarbeitung", „geistige Zusammenfassung" etc. der in diesen Aussagesätzen ausgedrückten Propositionen (= Aussagen), die ja aus dem, was auf dem Papier steht, rekonstruiert werden müssen. Dann entsteht der Begriff im Kopf des Sammlers, und die analytische Begriffstheorie ist eine psychologische. 62 Was nun auch immer diese Zusammenfassung sein soll: Um das Ergebnis der Zusammenfassung zu fixieren, wird ein Hilfsmittel benötigt, eine Markierung, und dies nun kann ein Name oder eine Benennung sein (vgl. [18]). Damit ergibt sich folgendes: Um zu den Begriffselementen zu gelangen, geht man von der Sprache aus. Dann faßt man irgend etwas zusammen. Nach den Definitionen in [18] sind das zutreffende Aussagen. Was Aussagen sein sollen, bleibt unklar; daher ist auch nicht bestimmbar, was zusammengefaßt wird. Folgt man nicht den Definitionen, sondern dem restlichen Text, dann scheint es ohnehin so zu sein, daß die Begriffselemente, die vorher irgendwie aus zutreffenden Aussagen gewonnen werden, zusammengefaßt werden. Was Zusammenfassen heißt, bleibt unverständlich. Sprache scheint bei dieser geheimnisvollen Tätigkeit keine Rolle zu spielen. Erst wenn ein Ergebnis vorliegt, taucht man aus dem Reich der Begriffe wieder auf: Das Ergebnis der Zusammenfassung wird dann durch Sprache markiert. 63 - Es ist klar, daß eine solche unklare Auffassung von Begriff zu kei-

61 Dahlberg (1974, 14). 62 Ganz erstaunlich ist aber, daß Dahlberg ihre analytische Begriffstheorie, die ja auch in Dahlberg (1974) vorgetragen wird, als nominalistisch versteht! Hier heißt es: „In dem auch heute noch nicht ausgestandenen sog. Universalienstreit, in dem es schon im Mittelalter um die Frage ging, ob Begriffe, speziell Allgemeinbegriffe, Realität haben oder nicht, möchten wir uns daher auf die Seite der Nominalisten schlagen, die da sagen, wir erkennen nur an, daß für Gegenstände und ihre Zusammenfassungen auf Stufen der Abstraktion Namen stehen können, wir könnten auch sagen, Wörter, Ausdrücke, Benennungen, Terme, also Elemente einer Sprache, Zeichen. Diese Namen sind entweder Konvention, haben also mehr oder weniger festgelegte Bedeutungen (durch Tradition, Anerkennung, Vereinbarung, Normung) oder aber Ausdrücke subjektiven Wissens, das noch der intersubjektiven Anerkennung bedarf." (13) Der wissenschaftshistorische Eigenname Nominalist wird zwar sehr unterschiedlich gebraucht. Ich kenne aber keinen Nominalisten, der diese Ausführungen als nominalistisch akzeptieren würde. 63 D i e Rolle der Sprache ist hier erheblich unterschätzt. Auch nach Dahlberg (1974, 15) ist Sprache nur ein Hilfsmittel, um bereits gegebene Inhalte des Denkens ausdrücken oder be-

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ner klaren Auffassung von Begriffsmerkmalen führen kann. Eine Analyse des „Begriffes" des Begriffsmerkmals möchte ich dem Leser allerdings nicht mehr zumuten, statt dessen nur noch folgendes Zitat zum Nachdenken geben: „[10] Wenn z.B. folgende Aussagen Eigenschaften des Gegenstandes Zeitschrift' sind ... ist ein Dokument ... enthält Aufsätze ... erscheint periodisch

dann sagen wir, diese .Eigenschaften' sind (einige der) Merkmale des Begriffs .Zeitschrift'." 64 - Zu dem Abschnitt über „Begriffsdefinitionen" (S. 99ff.), der mit Abstand die angemessensten Formulierungen über Definitionen in der gesamten Auseinandersetzung um DIN 2330 bietet, kann allgemein folgendes gesagt werden: Man lasse überall, wo vom Begriff die Rede ist, den Ausdruck Begriff entweder einfach weg oder ersetze ihn durch andere Ausdrücke, und zwar entweder durch sprachlicher Ausdruck oder solche, die zum Ausdruck sprachlicher Ausdruck hyponym sind; ein Beispiel nach der „Weglaßprobe": Statt „[20] Durch eine Begriffsdefinition wird eine Bedeutungsgleichung hergestellt [...]" (S. 99) einfach: Durch eine Definition ... Ein Beispiel für die „Ersetzungsprobe": Statt: „[21]. Begriffsdefinitionen sind einerseits Bedeutungsabgrenzungen (Inhaltsabgrenzungen) des Begriffes eines Gegenstands und andererseits Bedeutungsfestsetzungen (von Benennung und Inhalt) des Begriffs eines Gegenstandes" (S. 99) kann man folgendes schreiben: Definitionen sind einerseits Abgrenzungen der Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken und andererseits Bedeutungsfestsetzungen für sprachliche Ausdrücke. Kurz: Man entlasse unseren Intriganten, den Begriff, der bisher verhindert hat, daß eine brauchbare Norm DIN 2330 entstanden ist. Damit sind meine kritischen Bemerkungen abgeschlossen, und ich gehe zu den Vorschlägen über. 65

zeichnen zu können. Ich glaube nicht, daß man in d i e s e r Frage z.B. an den Ausführungen der Sprachinhaltsforschung ohne weiteres vorbeigehen kann. Vgl. z.B. Gipper (1977). 64 Dahlberg (1974, 14). 65 Die nachfolgenden Vorschläge wollen keine Alternativfassung eines Abschnittes „Definitionen" in einer Verständigungsnorm sein. Sie verfolgen vielmehr den mehr grundsätzlichen Zweck, Terminologen mit Auffassungen von Definitionen bekannt zu machen, die in der Diskussion um DIN 2 3 3 0 bisher keine Rolle gespielt haben. Die Vorschläge schließen an diejenigen Überlegungen von Definitionen an, die der Sprachauffassung der .ordinary language philosophy' verpflichtet sind. Das sind u.a. folgende Arbeiten: Abelson (1957) und (1967), Ryle/Findlay (1961), Savigny (1970), Robinson (1972), Scriven (1954), Tugendhat (1976), Wittgenstein (1971). - Auch sind die Vorschläge nicht soweit ausgearbeitet, daß jeweils den verschiedenen sprachtheoretischen bzw. sprachphilosphischen Fragen, die gestellt werden könnten, nachgegangen wird. Ich rede also in meinen Vorschlägen so genau, wie es mir für den genannten Zweck gerade nötig erscheint, nicht aber so genau, wie es theoretisch möglich ist.

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Interessen der Terminologienormung

Definitionen sind Texte, die zur Erreichung bestimmter Ziele formuliert werden. Dabei wird von bestimmten Interessen ausgegangen. 66 Wer Vorschläge für Terminologen machen will, die sich auf Definitionen beziehen, sollte mithin zunächst so fragen: Erste Frage: Mit welchen Zielen und ausgehend von welchen Interessen betreiben Terminologen Terminologienormung? Das oberste Ziel jeder Terminologienormung ist die prophylaktische Verhinderung von sprachlichen Verständigungsstörungen einer bestimmten Art innerhalb ausgewählter Fachgebiete; mithin ist Terminologienormung eine institutionalisierte Vorwegnahme derjenigen hermeneutischen Arbeit, die die Kommunikationspartner in der fachbezogenen Sprachkommunikation stets dann leisten müssen, wenn die jeweilige Verwendung bestimmter sprachlicher Ausdrücke, z.B. die einer bestimmten Benennung, nicht eindeutig ist.67 Die Verständigungsstörungen sollen nicht um der Verständigung willen verhindert werden, sondern die Terminologienormung geschieht im pragmatischen Interesse des möglichst störungsfreien Ablaufes von volkswirtschaftlichen Prozessen der verschiedensten Art. Die Verständigungsstörungen, die verhindert werden sollen, liegen nicht auf der Beziehungsebene der Kommunikation, 68 sondern sind ausschließlich solche, die die propositionale Ebene betreffen. Dies heißt: Es soll sichergestellt werden, daß die jeweiligen propositionalen Akte, 69 die durch solche Äußerungen vollzogen werden, in denen g e n o r m t e F a c h a u s d r ü c k e referierend und/oder prädizierend verwendet werden, wenigstens in fachinternen, möglichst jedoch auch in interfachlichen Handlungsbereichen für die beteiligten Kommunikationspartner eindeutig sind. Man will also z.B. verhindern, daß A, der eine Freispannsäge bestellt hat, von Β eine Strecksäge geliefert bekommt, 70 oder daß Β erst telephonisch oder schriftlich zurückfragen muß, welcher Typ von Handsäge denn eigentlich bestellt sei. Man kann eine ganze Typologie von Verständigungsstörungen erarbeiten, die durch die Verwendung von Fachausdrücken derart zustande kommen, daß jeweils ein ganz bestimmter Aspekt des propositionalen Aktes aus einem präzis angebbaren Grund vom Empfänger nicht nachvollzogen werden kann. Damit ist das Hauptziel der Terminologiearbeit und -normung charakterisiert.

66 Zum Verhältnis von Definitionen und Interesse vgl. Gabriel (1972); für den hier vorliegenden Zusammenhang vor allem 6 3 - 6 8 u. 83 ff. 67 Zu dieser Auffassung vgl. auch Bausch (1976). 68 Daß jede Sprachkommunikation eine „Inhaltsebene" und eine „Beziehungsebene" hat, haben Watzlawick et al. richtig gesehen. Im einzelnen ist jedoch ihre Darstellung sehr widersprüchlich. Insbesondere ist es falsch, die Beziehungsebene in Analogie zum Ausdruck Metasprache bzw. zur sog. Metainformation von Rechnern zu entwickeln. 69 Ich verwende hier propositionaler Akt wie Searle (1971, 43ff. u. 121 ff.). 70 Vgl. zu den Fachausdrücken Freispannsäge und Strecksäge z.B. D I N 2339, Entwurf vom Oktober 1973, 5.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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Alle anderen Ziele sind Unterziele dieses Ziels und lassen sich aus diesem schrittweise entwickeln. 71

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Bedingungen der Terminologiearbeit

Zweite Frage: Welches sind die wichtigsten, die Sprache(n) und ihren Gebrauch betreffenden Bedingungen, die beachtet werden müssen, um dieses Hauptziel zu erreichen? Es sind im Grunde nur zwei: (i) Es muß irgendeine Gemeinsprache (= Nicht-Fachsprache) benutzt werden, 72 um die Normen sprachlich zu vermitteln. Diese Bedingung muß erfüllt sein, damit die Normveröffentlichungen vom Normbenutzer verstanden werden können; denn dieser wird sich weigern, eine spezielle „(Konstrukt-) Sprache der Normung" erst zu lernen, um danach die Normen verstehen zu können; (ii) Es muß bzw. müssen die bereits benutzte(n) Fachsprache(n) weitgehend berücksichtigt werden. Denn die Fachleute eines Fachgebietes werden sich weigern, eine Terminologienorm anzuerkennen, die versucht, ihnen einen völlig anderen Fachsprachengebrauch vorzuschreiben, d.h.: Wird die Bedingung (ii) nicht erfüllt, besteht die Gefahr, daß die Norm nicht durchgesetzt werden kann und zurückgezogen werden muß. 73 Wegen (i) muß ein Terminologe gute Kenntnisse der verwendeten Gemeinsprache haben sowie Kenntnisse darüber, welche Ergebnisse insbesondere der Sprachwissenschaft zweckentsprechend angewandt werden können. Wegen (ii) muß er sich die Fachsprache des in Frage kommenden Gebietes systematisch erarbeiten, und dazu benötigt er weitgehende Fachkenntnisse. Fachsprachenbeherrschung und -kenntnis und fachliche Sachkenntnisse gehören zusammen.

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Erfüllung der Bedingungen

Dritte Frage: Wie kann die Bedingung (ii) erfüllt werden? Die Antwort muß lauten: Durch systematische Terminologiearbeit. Aus welchen Handlungen und 71 Dies gilt auch für das Aufstellen von Abstraktionssystemen wie Abstraktionsleitern, monodimensionalen und polydimensionalen Abstraktionsreihen, monohierarchischen und polyhierarchischen Abstraktionssystemen, Bestandssystemen etc. Zu diesen sog. Begriffssystemen vgl. z.B. DIN 2331, Entwurf vom Februar 1974, 2ff. Im Grunde sind alle diese sog. Begriffssysteme semantische (Teil-)Ordnungen von Fachausdrücken, die sich durch Definitionsketten konstituieren lassen. 72 Der Fachausdruck Gemeinsprache ist nur im Zusammenhang mit solchen Fachausdrücken wie Dialekt, Fachsprache etc. zu definieren. Die Problematik ist angedeutet bei Hofmann (1976). 73 In der Geschichte der Terminologienormung in Deutschland gibt es dafür zahlreiche Beispiele, die zeigen, daß gegen die Geschichtlichkeit auch der Fachsprachen und damit gegen Sprachgewohnheiten von Fachleuten entweder gar nicht oder nur behutsam genormt werden kann.

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geordneten Handlungsfolgen eine solche Terminologiearbeit besteht, hat z.B. Wersig zusammengestellt 74 und braucht hier nicht in extensio ausgeführt zu werden. Im Rahmen unseres Themas muß nur das folgende festgestellt werden: Als erstes ist der bereits gegebene Sprachgebrauch, insbesondere die jeweiligen Verwendungen und der sich daraus ergebende Gebrauch der fachsprachlichen Ausdrücke eines Faches oder Teilfaches etc. f e s t z u s t e l l e n . Dann ist die lexikalisch-semantische Ordnung der bereits so und so gebrauchten Fachausdrücke herauszuarbeiten. Hat man diese eruiert, ist festzustellen, welche Teile dieser Ordnung ein Hindernis dafür sind, um das genannte Hauptziel der Terminologienormung zu erreichen. Dies bedeutet u.a. vor allem: (i) Man muß - mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch in Nachbarfächern und auf sprachliche und sachliche Entwicklungstendenzen des jeweiligen Fachgebietes - Synonyme, Polyseme, Homonyme etc. gezielt beseitigen; (ii) man muß sprachliche Benennungen, deren Form Anlaß zu Verständigungsstörungen sein können, durch Benennungen ersetzen, bei denen dies nicht der Fall ist und die nach Prinzipien zur Bildung von Benennungen gebildet sind; (iii) man muß veraltete Benennungen durch neue ersetzen; (iv) man muß Benennungslücken entweder durch Neubildungen oder durch bereits bekannte Benennungen schließen. Erst wenn nach dieser Folge von Handlungen, die zur angewandten Sprachwissenschaft zu zählen sind, entweder nur eine Ordnung oder mehrere aufeinander bezogene semantisch geordnete (Teil-) Systeme von Fachausdrücken als sachlich bereits begründete oder begründbar vorliegt bzw. vorliegen, kann genormt werden.

10 Berücksichtigung der Definitionspraxis Vierte Frage: Welche Rolle spielen Definitionen in der Terminologiearbeit und bei der Terminologienormung? Präzisiert: Wann definiert der Terminologie was mit welchen Definitionsarten? Letzterer Fragesatz drückt wenigstens drei Fragen aus. Zunächst gehe ich kurz auf die nach dem Was ein - auch um dabei einige benötigte Unterscheidungen zu verdeutlichen - und stelle fest: T e r m i n o l o g e n d e f i n i e r e n s p r a c h l i c h e A u s d r ü c k e . Da noch nicht gesagt ist, wie definiert werden kann bzw. in der terminologischen Arbeit definiert werden sollte, kann sprachlicher Ausdruck hier nicht definiert werden. Ich zeige daher nur exemplarisch, wie ich den sprachlichen Ausdruck sprachlicher Ausdruck benutze. Man nehme die nachfolgenden schriftlichen S atz Verwendungen als solche von mir zur Kenntnis: (19) (20) (21)

„Er trägt einen Tisch. " „Der TISCH wurde verkauft. " „Dieser Tisch gefällt mir nicht. "

74 Dazu vgl. Wersig (1976, 43). Dies ist eine der brauchbarsten Arbeiten zur Terminologiearbeit, wenn man von dem Reden über Begriffe absieht.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

(21 ") (21")

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„ Dieser Tisch gefällt mir nicht. " „ Dieser TISCH gefällt mir nicht. "

Ich sage nun: Tisch (und dasjenige, was direkt links von „(" und direkt rechts „:" steht) in (19), (20), (21), (21 *) und (21") sind sechs voneinander verschiedene V e r w e n d u n g e n g e r a d e e i n e s sprachlichen Ausdrucks, und auch (21), (21") und (21") sind drei voneinander verschiedene Verwendungen gerade eines sprachlichen Ausdruckes. 75 Verfügt man über eine Definition z.B. der linguistischen, sprachreflexiven Ausdrücke Benennung und Satz, dann kann man relativ zu diesen Definitionen z.B. sagen: In (19) gibt es gerade eine Verwendung der Benennung Tisch; oder: (21) und (21") sind zwei voneinander verschiedene Verwendungen gerade eines Satzes. 76 Mithin ist k e i n e Verwendung irgendeines sprachlichen Ausdruckes ein sprachlicher Ausdruck. Die Verwendung eines sprachlichen Ausdruckes ist etwas einmaliges, sinnlich Wahrnehmbares. Einen sprachlichen Ausdruck kann man z.B. als Äquivalenzklasse aller seiner Verwendungen konstituieren. - Terminologen sind meistens nicht an der je vorliegenden Verwendung sprachlicher Ausdrücke, sondern an den sprachlichen Ausdrücken interessiert; z.B. definieren sie nicht eine Verwendung eines Fachausdruckes, sondern den Fachausdruck, und zwar zu dem Zwecke, daß jede Verwendung des Fachausdruckes eine definitionsgemäße Verwendung ist. Wenn jemand einen Fachausdruck definieren will, dann muß er ihn z.B. nennen oder hinschreiben, und damit liegt gerade eine Verwendung des Fachausdruckes vor, d.h.: Wir benötigen eine Sprechweise, die nicht für Verwendungen, sondern für Ausdrücke gilt. Diese stellt man einfach (wenn nötig definitorisch) dadurch sicher, daß man die Fachausdrücke wie z.B. Name, Benennung, Wort, Prädikat, Satz, Quantor etc. selbst stets nur so verwendet (!), daß jede referierende und/oder prädizierende Verwendung dieser Fachausdrücke als eine solche zu gelten hat, in der derjenige verwendete sprachliche Ausdruck, auf den referiert oder von dem etwas prädiziert wird, als Repräsentant seiner Klasse, d.h. des sprachlichen Ausdruk-

75 Statt Verwendung kann man z.B. auch Vorkommen sagen. B e i m Umgang mit dem Ausdruck Verwendung muß man - wegen dessen Akt-Objekt-Ambiguität - vorsichtig sein. Ich beziehe in diesem Beitrag Verwendung manchmal auch auf den Akt des Verwendens, wenn der Text Verwechslungen (hoffentlich) ausschließt. Im folgenden kommt es gar nicht auf die hier gewählte Terminologie an, sondern darauf, daß die Unterscheidungen deutlich werden, die etwa der type-token Unterscheidung entsprechen. Man kann das „Verhältnis" von Verwendung eines sprachlichen Ausdruckes und sprachlichem Ausdruck auch durch eine Definition durch Abstraktion einführen. Zur Def. durch Abstraktion vgl. Kutschera (1972, II, 476) sowie Wiegand (1973, 7 4 ff.) und die dort verzeichnete Literatur. 76 Dies liegt einfach daran, daß die Verwendung eines sprachlichen Ausdruckes ein einmaliges physikalisches Gebilde, z.B. ein Schallphänomen, ist. - In einem Text wie: „Der Begriff .Werkzeugmaschine' wird durch Hinzufügen der Merkmale .Schleifen', .Bohren' und .Fräsen' aufgeteilt in die Unterbegriffe .Schleifmaschine', .Bohrmaschine' und .Fräsmaschine'" (DIN 2331 v. Febr. 1976, 3) sind daher die in Anführungsstrichen stehenden Ausdrücke einfach als erwähnte sprachliche Ausdrücke aufzufassen, auch wenn sie Begriffe, Unierbegriffe und ( B e g r i f f s - ) M e r k m a l e heißen.

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kes, zählt. Wenn dies klargestellt ist, kann man verschiedene V e r w e n d u n g s w e i s e n von sprachlichen Ausdrücken unterscheiden; ich zeige nachfolgend nur zwei in vier S ä t z e n . (22)

, R a p p e ' hat zwei

(23) (24) (25)

Dieser Rappe hat schlechte Gänge. Der sprachliche Ausdruck,Rappe ' ist ein Ein Rappe ist ein schwarzes Pferd.

Silben. Prädikat.

Die Verwendungsweise von Rappe in (22) und (24) heißt E r w ä h n u n g eines sprachlichen Ausdruckes. Man kann nur einen sprachlichen Ausdruck erw ä h n e n , nicht aber die Verwendung eines sprachlichen Ausdruckes. Man kann einen sprachlichen Ausdruck nur innerhalb der oder als Bezugsgegenstand der Verwendung eines anderen sprachlichen Ausdruckes erwähnen. Gilt jedoch die gerade genannte Festsetzung für die Verwendung der sprachreflexiven Fachausdrücke Satz, Prädikat etc., dann kann auch gesagt werden: In einem sprachlichen Ausdruck (z.B. einem Satz) Y ist ein anderer sprachlicher Ausdruck ,X' (z.B. ein Prädikat) erwähnt. - Die Verwendungsweise von Rappe in (23) und (25) heißt G e b r a u c h eines sprachlichen Ausdruckes. 77 Falls Rappe als Prädikat gilt, kann man daher z.B. sagen: In (22) und (24) ist das Prädikat Rappe e r w ä h n t , in (23) und (25) ist es g e b r a u c h t ; oder in (20) ist Tisch gebraucht verwendet; oder falls z.B. (22) nicht als Satz, sondern als Satzverwendung zählt - in (22) ist Rappe erwähnt verwendet. - Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden verschiedenen Verwendungsweisen läßt sich - bezogen auf sprachliche Ausdrücke - so charakterisieren: Ein e r w ä h n t e r sprachlicher Ausdruck ,X' ist Bezugsgegenstand eines g e b r a u c h t e n sprachlichen Ausdruckes Y, wobei mit Y etwas über ,X' gesagt wird. Sei (22) Y; dann wird mit (22),.Rappe' hat zwei Silben etwas über ,X', also ,Rappe', gesagt, nämlich, daß Rappe zwei Silben hat. Man kann in verschiedener Weise etwas in einer Sprache und etwas ü b e r eine Sprache äußern. Für die Terminologienormung ist besonders folgende Unterscheidung wichtig: Feststellungen in einer Sprache können von Feststellungen ü b e r eine Sprache getrennt werden.78 Nehmen wir folgende feststellenden Sätze zur Kenntnis: (26) (27)

Die Addition ist bezüglich der Menge der ganzen Zahlen abgeschlossen. , Exponent' und, Hochzahl' werden in der Algebra synonym verwendet.

(26) drückt eine Feststellung i η der Sprache der Mathematik aus; (27) drückt eine Feststellung ü b e r die Sprache der Mathematik aus; in feststellenden Sätzen

77 Zur Unterscheidung von Erwähnung und Gebrauch vgl. z.B. Searle (1971, 116ff.). Auf die zahlreichen komplexen semiotischen Detailfragen bei der Unterscheidung von use und mention kommt es hier nicht an. Spezialuntersuchungen dazu wurden in das Lit.-Verzeichnis nicht aufgenommen. - Es ist im übrigen darauf zu achten, daß der Ausdruck Gebrauch unterschiedlich verwendet wird. Ob er in Opposition zu Erwähnung oder anders verwendet ist, ist jedoch in jedem einzelnen Fall einfach zu entscheiden. 78 Vgl. dazu Savigny (1970, 12 ff.).

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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(= Aussagesätzen) über eine Sprache können erwähnte und/oder Teile von erwähnten sprachlichen Ausdrücken auftreten. Feststellende Sätze, die Feststellungen ü b e r die Sprache ausdrücken und in denen etwas festgestellt wird, was festgestellt wurde, sind empirisch; dies soll hier heißen, daß sie entweder stimmen (= richtig sind) oder nicht stimmen (= nicht richtig sind). 79 Ob eine dieser beiden Bewertungen gilt, kann prinzipiell nachgewiesen werden. Wenn nachgewiesen werden soll, ob z.B. (27) stimmt oder nicht, muß eine theorieorientierte Voraussetzung gemacht und eine Verfahrensweise akzeptiert werden. Erstere besteht wenigstens darin, daß der Ausdruck synonym in (27) relativ zu einer Definition von Synonymität benutzt ist, weil sonst die Verfahrensweise, nämlich Belege für synonyme Verwendungen von Exponent und Hochzahl vorzulegen, nicht funktionieren kann. 80 - Damit sind einige Unterscheidungen vorgenommen, die uns erlauben, auf die beiden weiteren Komponenten der vierten Frage einzugehen.

11 Sprachverwendung Wir hatten gesehen: In der Terminologiearbeit muß festgestellt werden, wie Fachausdrücke im jeweiligen Fachgebiet verwendet werden. Dazu gibt es zahlreiche gängige Verfahren, auf die ich hier nicht eingehen kann. Im Unterschied zur Feststellung des Gebrauches eines nichtfachlichen Ausdruckes, wie z.B. gut, gehen, Hans im Glück, Fasching und Vater, ist die Feststellung des Gebrauches eines Fachausdruckes im Fach r e l a t i v e i n f a c h e r . Denn für die Terminologiearbeit ist nur von Interesse, worauf die Fachausdrücke, wenn sie von Fachleuten verwendet werden, bezogen werden. Kaum von Interesse z.B. sind die scherzhaften, ironischen und metaphorischen Verwendungsweisen oder, ob z.B. mit einer vorliegenden Verwendung von Fachausdrücken angegeben, imponiert etc. werden soll. Je nachdem, in welcher Theoriesprache man reden will, kommt es mithin auf die Darstellungsfunktion, die Bezeichnungsrelation, die Namensrelation und die Charakterisierungsfunktion 81 an - oder, wie ich sagen werde: Es kommt darauf an festzustellen, wie die Fachleute die Fachausdrücke referierend oder prädizierend verwenden. 82 In einer Satzverwendung wie

79 Ich vermeide hier bewußt die Prädikate wahr, falsch bzw. für wahr halten etc., weil mit deren Verwendung hier weitergehende Erläuterungsverpflichtungen entstehen. 80 Dies ist deswegen der Fall, weil ansonsten darüber gestritten werden kann, ob die Belege synonym sind oder nicht; und auch deswegen, weil man ohne zu wissen, was das Prädikat synonym zu wissen geben soll, kaum Synonyme finden kann. Zur Synonymie vgl. Wiegand (M976). 81 Zu dem Ausdruck Charakterisierungsfunktion vgl. Tugendhat (1976, 10. Vorl. ff.). Das Prädikat in einem einfachen prädikativen Satz steht nicht für etwas, sondern charakterisiert dasjenige, wofür der singulare Ausdruck steht. 82 Ich gebrauche hier referieren und prädizieren naiv im Sinne Searles, weil das für die hier verfolgten Zwecke ausreicht.

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(28)

„Die Thrombose

Karls konnte geheilt werden. "

ist der medizinische Fachausdruck Thrombose referierend verwendet. In (29)

„Karl hat

Thrombose."

ist Thrombose prädizierend verwendet. Aus (28) und (29) kann jedoch noch nicht hinreichend festgestellt werden, worauf Fachleute mit Thrombose z.B. referieren. Dazu werden zutreffende Sätze ü b e r Thrombose benötigt, z.B. solche wie (30)

Thrombose

ist eine Blutpfropfbildung

infolge intravaskulärer,

intravitaler

Blutgerinnung.

(30) drückt eine richtige Feststellung über den medizinischen Fachausdruck Thrombose aus. Daß es sich um eine Feststellung ü b e r die Sprache handelt, erkennt man daran, daß (30) z.B. wie folgt übersetzt werden kann, ohne daß sich die Bewertung ist richtig ändert: (30')

Unter Thrombose versteht man eine ...

(30") Mit .Thrombose' bezeichnet (benennt) man eine ... (30'") .Thrombose' heißt soviel wie ,Blutstropfenbildung . . . '

Man sieht: (30) läßt sich mithin derart übersetzen, daß Thrombose vom gebrauchten zum erwähnten Ausdruck wird. Dies ist das Kriterium dafür, daß auch (30) eine Feststellung über die medizinische Fachsprache ist. Der folgende Satz drückt dagegen eine Feststellung i η der Fachsprache der Medizin aus: (31)

Eine Thrombose entsteht durch Veränderungen der Gefäßwand und/oder durch rung der Blutströmung und/oder durch Veränderung der Blutzusammensetzung.

Verände-

(31 ) kann nicht nach den gleichen Regeln wie (30) derart übersetzt werden, daß der Fachausdruck Thrombose erwähnt wird. Das Ziel systematischer Terminologiearbeit ist nun einfach folgendes: Es muß für jeden bereits gegebenen Fachausdruck des gerade bearbeiteten Gebietes wenigstens eine zutreffende Feststellung ü b e r den Fachausdruck getroffen werden, aus der e i n d e u t i g hervorgeht, worauf der Ausdruck in der Fachsprache bezogen wird. Ein Text, in dem eine solche Feststellung ausgedrückt ist, heißt Feststellungsdefinition (= Dil).83 In einer expliziten Dil folgt auf ein Dm ein Dr und auf diesen ein Ds; z.B. Dili: Ein Parallelprogramm (= Dm) / ist (= Dr) / ein Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten (= Ds). Dili kann z.B. so übersetzt werden, und zwar ohne daß sich die Bewertung ist richtig verändert: 83 Feststellungsdefinitionen werden in verschiedenen Definitionslehren behandelt. Vgl. z.B. Sprache und Praxis (74 ff.); bei Robinson heißen die Dil „lexical definition"; vgl. Robinson (1972, 35 ff.)· Tamás (1964, 64) nennt die Dil natürliche Nominaldefinitionen. Dubislav (1931, 17 ff.) spricht von Definition als Feststellung der Bedeutung. Ich gehe hier nur auf die s e m a n t i s c h e n F e s t s t e l l u n g s d e f i n i t i o n e n f ü r f a c h s p r a c h l i c h e P r ä d i k a t e (nicht für Namen) ein. D.h.: Ich behandele hier nur Feststellungsdefinitionen, die den tatsächlichen Gebrauch von Fachausdrücken in semantischer Hinsicht feststellen. Da ich hier auf andere Feststellungsdefinitionen (z.B. syntaktische) nicht eingehen kann, spreche ich der Kürze halber von Feststellungsdefinitionen.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge Dil,':

Parallelogramm

323

(= Dm) / heißt (= Dr) / ein ... (= Ds),

oder z.B. so: Dll|':

Parallelogramm

(= Dm) / heißt soviel wie (= Dr) / ein Viereck ... (= Ds),

oder z.B. so: Dil ¡": Parallelogramm (= Dm) / : (= Dr) / Viereck m i t . . . (= Ds).

Dili bis Dll¡"sind lediglich a u s d e r S i c h t d e s T e r m i n o l o g e n Feststellungsdefinitionen über den planimetrischen Fachausdruck Parallelogramm,84 Wir sehen uns nun Dili bis Dili" etwas genauer an und fragen: Wieso legen die gegebenen Feststellungsdefinitionen eindeutig fest, worauf der planimetrische Ausdruck Parallelogramm zutrifft? Nach Dili bis D11J" gilt folgendes: Wenn auf einen planimetrischen Gegenstand G das einfache Prädikat (ist ein) Viereck zutrifft, dann trifft auf G auch das Prädikat (ist ein) Parallelogramm zu. 85 Nun gilt Entsprechendes aber auch z.B. für folgenden Satz, der die grammatische Form einer Feststellungsdefinition hat: (32)

Ein Parallelogramm

ist eine planimetrische

Figur.

(32) kann jedoch nicht z.B. in (32')

Parallelogramm

heißt soviel wie planimetrische

Figur.

übersetzt werden, ohne daß die Bewertung ist richtig in die ist nicht richtig übergeht. (33) (34)

Ein Rhombus ist ein Parallelogramm. Ein Parallelogramm ist ein Polygon.

Dies heißt: (32) bis (34) sind im Unterschied zu Dili bis Dll¡" keine Feststellungsdefinitionen, sondern drücken lediglich je eine richtige Feststellung über den Ausdruck Parallelogramm bzw. Rhombus aus. Im Unterschied zu (32) gilt z.B. für Dili: Die Testsatzform Jedes Wort ist ein Y geht in einem richtigen 84 Die hier und später gegebenen Feststellungsdefinitionen haben Beispielcharakter. Ob sie aus der Sicht von Fachleuten der Planimetrie die bestmöglichen sind, kann ich nicht beurteilen. 85 Die runden Klammern sollen anzeigen, daß sich sowohl z.B. ist ein Viereck als auch Viereck als Prädikat auffassen läßt. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Fall hat weitgehende philosophische Folgen. Z.B. handelt man sich mit einer Entscheidung für den zweiten Fall das berüchtigte Kopula-Problem ein. - Zur Redeweise, daß ein Prädikat zutrifft oder nicht zutrifft, oder auch zu der, daß man ein Prädikat einem Gegenstand zu- oder absprechen kann, vgl. die Arbeiten aus der sog. Methodischen Philosophie, z.B. Lorenzen (1974), aber auch Kamlah/Lorenzen (1967). - Man kann auch das genannte komplexe Prädikat in singulare Prädikate auflösen und mit Prädikaten 2. Stufe arbeiten. Dies ist aber für den vorliegenden Erläuterungszusammenhang überflüssig. - Im übrigen kann man auch - gerade wenn es sich um planimetrische Gegenstände handelt - Definitionen als Konstruktionsvorschriften formulieren. 86 Unter einer Satzform verstehe ich hier Gebilde, die die grammatische Form eines Aussagesatzes haben und wenigstens eine Variable enthalten.

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Testsatz (= Ts) über sowohl, wenn für X Dn und für Y Ds, als auch wenn für X Ds und Y Dm eingesetzt werden: Tsi : Ts2:

Jedes Parallelogramm ist ein Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten. Jedes Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten ist ein Parallelogramm.

Ts, und Ts2 sind richtig. Wenn Dm und Ds derart vertauschbar sind, wollen wir sagen: Die Testsatzbedingung ist erfüllt.87 Wir können daher jetzt so verallgemeinern: Für alle Feststellungsdefinitionen gilt: Wenn die im Definiens (= D s ) enthaltenen Prädikate (Ps„) auf einen Gegenstand G zutreffen und wenn auch das im Definiendum (= D m ) enthaltene Prädikat (Pm) auf diesen Gegenstand zutrifft, und wenn zusätzlich die Testsatzbedingung erfüllt ist, dann liegt eine richtige Feststellungsdefinition vor.88 Aus einer richtigen Feststellungsdefinition für einen Fachmann geht eindeutig hervor, wie dieser Fachausdruck referierende und/ oder prädizierend in gegebenen Fachtexten verwendet wird. - Auch für Feststellungsdefinitionen für Fachausdrücke gilt, daß die Prädikate im Definiens selbst definiert sein müssen. Beispielsweise muß Viereck aus dem Ds von Dili selbst definiert sein, z.B. so: DII2:

Viereck: Vieleck mit vier Ecken.

Man sieht: Nun muß auch z.B. Vieleck definiert werden; nehmen wir an so: DII3·.

Vieleck: In einer Ebene liegendes, von geradlinigen

Strecken begrenztes

Flächenstück.

Nun muß z.B. Flächenstück definiert werden usw. Nehmen wir nun z.B. noch folgende Feststellungsdefinition : Dll 0 :

Rhombus: Parallelogramm

mit vier gleichlangen

Seiten.

Dann haben wir eine K e t t e (= KO von vier Dil, 89 nämlich K,: Dll 0 , Dil,, Dll 2 , DII3. In jeder Kette von Feststellungsdefinitionen tritt in einem Definiens einer Definition wenigstens ein Prädikat (Ps) auf, das nicht definiert ist.90 Nehmen wir an, solche Ps wie Seite, parallel, gleichlang, gradlinig, Ecke etc. seien ebenfalls definiert, dann bleibt Flächenstück als in Ki nicht definiertes Prädikat übrig.91 -

87 Man kann auch sagen: Parallelogramm und Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten sind lexikographisch synonym\ dann aber muß man die Verwendung des Ausdruckes lexikographisch synonym definitorisch einführen, was ich hier nicht machen kann; vgl. dazu z.B. Wiegand (*1976). 88 Dies heißt auch: Eine Dil konstituiert eine Synonymierelation, in der das D m zum Ds steht. Vgl. dazu u.a. auch Stegmüller (1967). 89 Für solche Definitionsketten gelten bestimmte Vorschriften; vgl. dazu Savigny (1970, 335). 90 Dieses Prädikat kann man Grundprädikat nennen; es muß, wie z.B. Flächenstück, allgemein verständlich sein. Wie man dazu kommt, solche Grundprädikate richtig verwenden zu können, ist eine der schwierigsten erkenntnisanthropologischen Fragen, deren Beantwortung z.B. nicht in einer Normveröffentlichung versucht werden sollte. 91 Man kann selbstverständlich die Definitionskette expandieren, dann bleibt ein anderes Prädikat als Undefiniertes übrig.

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Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

Mit einer Definitionskette, die aus richtigen Dil besteht, ist zugleich die lexikalisch-semantische Ordnung derjenigen Prädikate (Pm) gegeben, die im Definiendum stehen.92 So läßt sich Ki als folgende fünfstufige lexikalische Teilhierarchie von planimetrischen Fachausdrücken darstellen: Ç

(Flächenstück)

UNTERSCHEIDENDE PRÄDIKATE

DlljÇ Vieleck

in einer Ebene, von gradlinigen

Strecken

begrenzt

Dll2Λ Vie reck Dil, -! ι f

Parallelogramm

mit vier Ecken mit zwei parallelen

Gegenseiten

DlloRhombus

mit vier gleichlangen

Seiten

In einer solchen Abbildung der durch Ki begründeten Hierarchie lassen sich nun lexikalisch-semantische Relationen einfach erkennen, in denen die Fachausdrükke zueinander stehen. Z.B. kann man feststellen: Der Fachausdruck Rhombus steht zum Fachausdruck Parallelogramm in der Relation der einfachen Unterordnung und umgekehrt der Fachausdruck Parallelogramm zu Rhombus in der der einfachen Überordnung. 93 Man kann daher folgende Sprechweise einführen: Parallelogramm ist Rhombus einfach übergeordnet, oder auch - falls man die Sprechweise auf die zweidimensionale Abbildung von Hierarchien gründen will - Parallelogramm ist zu Rhombus der nächsthöhere Fachausdruck etc. 94 Die unterscheidenden Prädikate unterscheiden nicht etwa die Fachausdrücke als solche voneinander, vielmehr erlauben sie, diejenigen planimetrischen Gegenstände voneinander zu unterscheiden, über die mit den Fachausdrücken Rhombus, Parallelogramm usw. definitionsgemäß und d.h. zugleich fachlich richtig und eindeutig gesprochen/geschrieben werden kann. - Was hier an einem einfachen Beispiel gezeigt wurde, kann durchaus verallgemeinert werden. Sämtliche Arten von semantischen Ordnungen, denen bereits benutzte Fachausdrücke unterworfen sind, d.h. auch nicht-hierarchische, lassen sich durch Ketten von Feststellungsdefinitionen herausarbeiten. 95

92 In der üblichen Redeweise der entsprechenden DIN-Normen würde man etwa sagen: Durch Begriffsdefinitionen wird der definierte Begriff zu anderen Begriffen in Relation gesetzt und so als Teil eines Begriffssystems definiert. Hier dagegen wird davon ausgegangen, daß Fachausdrücke (= Termini) definiert, dadurch semantisch relationiert werden, so daß eine lexikalisch-semantische Ordnung von Termini gegeben ist. 93 Solche Relationen können auch ohne sog. Merkmale systematisch eingeführt werden, z.B. über Implikations-Beziehungen von Sätzen. 94 Wenn man will, kann man vom erst-, zweit-, dritthöheren Fachausdruck sprechen, oder die Terminologie relativ begründen, so daß es in Hierarchien nur unter- und übergeordnete Fachausdrücke gibt. 95 So z.B. die sog. Bestandssysteme über die partitive Relation.

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12 Zweckmäßigkeit Wir hatten gesehen, daß die gegebenen Feststellungsdefinitionen lediglich aus der Sicht des Terminologen, wenn er Terminologiearbeit betreibt, als Feststellungsdefinitionen zu gelten haben. Aus der Sicht der Fachleute der Planimetrie können die gleichen Definitionen unter Umständen als F e s t s e t z u n g s d e f i n i t i o n e n gelten.96 Dies heißt: Der Terminologe hat f e s t g e s t e 111, was in der Planimetrie für die planimetrischen Fachausdrücke f e s t g e s e t z t worden ist. Wir hatten die Feststellungen in einer Sprache von den ü b e r eine Sprache unterschieden. Von diesen beiden lassen sich die Festsetzungen f ü r eine Sprache unterscheiden. Während Feststellungen ü b e r eine Sprache feststellen, wie ein Ausdruck tatsächlich verwendet wurde oder wird, wird in einer Festsetzung f ü r eine Sprache festgesetzt, wie ein Ausdruck ab dem Zeitpunkt der Festsetzung verwendet werden soll. Festsetzungen für eine Sprache können nicht als richtig oder nicht richtig bewertet werden, sondern danach, ob sie - relativ zum jeweiligen Zweck - zweckmäßig oder unzweckmäßig sind.97 Alle Definitionen von Benennungen in DIN-Normen sind Festsetzungsdefinitionen. Ob solche Definitionen zweckmäßig sind, entscheidet keineswegs der bzw. die Terminologen allein, sondern dieses wird sich in der Praxis der in Frage kommenden Fachleute herausstellen. Ob die Festsetzungen zweckmäßig waren, kann - nach einer gewissen Zeit - f e s t g e s t e l l t werden, indem empirisch überprüft wird, ob der Gebrauch der Fachausdrücke im jeweiligen Fach oder Teilfach etc. den Festsetzungen folgt. - Explizite Festsetzungsdefinitionen (= Dtz) können analog zu den Feststellungsdefinitionen charakterisiert werden. Sie sind ebenfalls Texte der Form Dm / Dr / Ds. Im Ds wird festgesetzt, worüber mit Pm gesprochen/geschrieben werden soll. In einer Kette von Dtz gibt es in einem Ds wenigstens einen (Fach-) Ausdruck, für dessen Gebrauch keine Festsetzung erfolgt. 98 Eine Kette von Dtz setzt eine semantische Ordnung für Fachausdrücke fest, derart, daß semantische Relationen, in der die Fachausdrücke dieser Ordnung stehen, definiert werden können. - Festsetzungs- und Feststellungsdefinitionen sind die beiden wichtigsten Definitionsarten für den Terminologen. 99 Beides sind Nominaldefinitio96 Analog zu den Feststellungsdefinitionen gehe ich nachfolgend nur kurz auf die s e m a n t i s c h e η Festsetzungsdefinitionen für Prädikate, die Fachausdrücke sind, ein. Zu den Festsetzungsdefinitionen vgl. z.B. Stegmüller (1967, 335 ff.) sowie die in Anm. 83 genannte Literatur. 97 Allerdings gilt dies nur, solange lediglich zweckrationale Gesichtspunkte geltend gemacht werden. Auf der nächsthöheren Reflexionsebene treten hier ethische Fragen auf. 98 Hier spätestens zeigt sich, daß jedes Fachwissen an nichtfachliches Wissen anschließen muß und jede Fachsprache an Nichtfachsprache, und zwar auch auf der Ebene der lexikalisierten Einheiten. 99 W i e schon in Anm. 1 angedeutet, scheinen mir auch hingeschriebene (bzw. gezeichnete etc.) Hinweisdefinitionen wichtig zu sein. Diese lassen sich auch als einerseits festsetzende und andererseits feststellende Zuordnungsdefinitionen auffassen; z.B. wird eine bestimmte, zweidimensionale Abbildung irgendeines Gegenstandes χ (z.B. einer Holzschraube, vgl. Anm. 1)

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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nen. 100 Jede richtige Definition, in der der Definitor ist (oder sind) auftritt, läßt sich als Nominaldefinition verstehen, da ist stets in den Definitor heißt soviel wie übersetzt werden kann und damit die im Dm und Ds auftretenden Ausdrücke zu erwähnten Ausdrücken werden. Sowohl Feststellungs- als auch Festsetzungsdefinitionen können in verschiedene Arten untergliedert werden. 101 Darauf kann ich jedoch hier nicht eingehen.

13 Bedeutung Von Begriffen war bisher in meinen Vorschlägen (7-11) nicht die Rede. Es dürfte aber deutlich geworden sein, daß man auch ohne die Rede vom Begriff und ohne einen Begriff des Begriffs in der Lage ist, sprachliche Fachausdrücke (= Termini) zu definieren. 102 Auch von der B e d e u t u n g eines sprachlichen Ausdruckes war bisher nicht die Rede in dem Sinne, daß über die Bedeutung von z.B. Fachausdrücken mittels des Ausdruckes Bedeutung geschrieben wurde. Ge-

einer Benennung y (z.B. Holzschraube) zugeordnet; auch dadurch kann - in einfachen Fällen - der referierende und/oder prädizierende Gebrauch gesichert werden. - Will man Dil und Dtz subklassifizieren, kann man dies z.B. nach Klassen von sprachlichen Ausdrücken machen, z.B. wird eine Festsetzungsdefinition für Namen anders formuliert werden als eine für Prädikate usw. Hier beginnen die Fragen, die für die Definitionspraxis der Terminologen wichtig sind; ihre Behandlung gehört daher in eine zukünftige Norm DIN 2330. Weitere wichtige Fragen sind: Welche Definitionen sind in semantischen Nominaldefinitionen zugelassen für welchen Definitionszweck? Wie sind die Definitoren untereinander relationiert? Mönke 10ff. hat z.B. 18 sprachliche Ausdrücke ermittelt, die alle in Definitionen von Normveröffentlichungen vorkommen; daher hält er sie alle für Definitoren. Auf solche F e s t s t e l l u n g e n ü b e r d i e S p r a c h e in N o r m e n müssen aber F e s t s e t z u n g e n f ü r d i e S p r a c h e d e r T e r m i n o l o g e n folgen. Dann könnte es sein, daß von diesen 18 nur einige Definitor heißen. Weiter müssen Regeln für die grammatische Form der Definienda angegeben werden, z.B. muß ein Definiendum atomar sein, oder es sind Fragen zu klären wie diese: Falls ein Definiendum aus einem Substantiv besteht, das kein Name ist, wie steht es als Definiendum? Im Nominativ Singularis? Im Nominativ Pluralis? Mit, ohne oder mit welchem Artikel? 100 Realdefinitionen benötigen Terminologen nicht. Sie benötigen aber einiges, was in der traditionellen Auffassung von Definitionen manchmal Realdefinition heißt, allerdings manchmal auch ganz anders. Manchmal sind sog. Realdefinitionen nichts weiter als semantische Feststellungsdefinitionen, denen eine Bedeutungsanalyse vorausgeht. Manchmal sind sog. Realdefinitionen einfach empirische Analysen. Manchmal wird darunter auch eine Begriffsexplikation im Sinne Carnaps verstanden. Die Carnap'sche Terminologie ist aber völlig überflüssig. Denn sog. Begriffsexplikationen sind weiter nichts als semantische Festsetzungsdefinitionen, die das Definiens einer bereits getroffenen semantischen Feststellungsdefinition für bestimmte Zwecke modifizieren. Zu Realdefinitionen vgl. Stegmüller (1967, 336ff.). Zu Begriffsexplikationen vgl. Hanna (1968). 101 Z.B. sollten die spezifischen festsetzenden Zuordnungsdefinitionen ausgegliedert werden, mittels derer Meßsysteme konstituiert werden. 102 Genau das haben die Ingenieure und Terminologen bereits immer getan, als es die Norm DIN 2330 noch nicht gab!

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nau davon wird jetzt die Rede sein, und zwar so, daß die Bedeutung nicht zum neuen Intriganten wird oder zu einer Rückkehr des alten Intriganten namens Begriff in sprachwissenschaftlicher Maske. Es wird daher nicht gefragt: Was ist die Bedeutung? Vielmehr wird gefragt: Wie ist die Bedeutung eines gegebenen Fachausdruckes? Wittgenstein schreibt: „Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt."103 In Analogie dazu sage ich: Die Bedeutung eines Fachausdruckes ist das, was die Erklärung der Bedeutung (dieses Fachausdruckes) erklärt. Dabei ist der Ausdruck Erklärung (und entsprechend erklären) in bestimmten Sinne zu verstehen. 104 Gemeint ist nicht das Erklären aus Gründen, das Erklären warum, das man dem Verstehen entgegengesetzt hat, vielmehr das Erklären-wie oder Erklären-was, das - im Falle des Erklärens eines sprachlichen Ausdruckes - gerade das Verstehen vermittelt.105 Jemandem die Bedeutung eines Fachausdruckes erklären, heißt jemanden zeigen, wie man diesen Fachausdruck versteht, zu verstehen hat, verstehen soll. E i n e Möglichkeit, jemandem die Bedeutung eines bereits im Gebrauch befindlichen Fachausdrukkes zu erklären, ist, ihm die richtige Feststellungsdefinition dieses Fachausdrukkes zu geben, denn die Feststellungsdefinition zeigt gerade das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt. Was zeigt eine Feststellungsdefinition? Wie man den Definiendum-Ausdruck richtig verwendet, und zwar dadurch, daß sie auf die Bedeutung der Definiens-Ausdrücke rekurriert.106 - Feststellungsdefinitionen werden gegeben, damit jemand, der die Bedeutung eines Fachausdrucks noch nicht

103 Vgl. Wittgenstein (1971, § 560); welche Rolle dieser § im Zusammenhang mit dem § 43 für die Semantik spielt, hat m.E. am überzeugendsten Tugendhat (1976) gezeigt. Die Anwendung der Wittgenstein-II-Bedeutungsauffassung auf Fachausdrücke wurde bisher m.W. nicht versucht. Bei Fachausdrücken vereinfacht sich die Anwendung insofern, als hier die Einführungssituation, d.h. der Definitionsakt (als Sprech- oder Schreibakt), mit den Verwendungssituationen des definierten Fachausdruckes häufig übereinstimmt oder wenigstens tendenziell übereinstimmen soll. Das letztere ist gerade das Ziel der Terminologienormung! Daß dies bei schon gebrauchten Fachsprachen für viele (z.B. linguistische) Fachausdrücke tatsächlich gilt, ist Ausdruck der Entwicklung der Fächer und der Historizität von Fachsprachen. Man kann daher auch sagen: Terminologienormung ist der Versuch, die Historizität von Fachsprachen auf der lexikalischen Ebene einzuschränken. Hier liegen auch die Gründe, warum Normen überholt sind und überarbeitet werden müssen. Bei dieser Betrachtung kommt dann eine der prinzipiell problematischen Seiten der Terminologienormung in den Blick! Man kann nämlich mit guten Gründen - wenigstens im Falle einiger Sozialwissenschaften - den Standpunkt vertreten, daß Verständigungsstörungen auf der propositionalen Ebene fruchtbare Diskussion in Gang setzen können. 104 Ich folge hier Tugendhat (1976, 186 ff.). 105 Dieses Erklären-wie oder -was habe ich anderenorts, um es auch sprachlich von dem Erklären-warum deutlich abzusetzen, Erläutern genannt und daher von B e d e u t u n g s e r l ä u t e r u n g gesprochen; vgl. u.a. Wiegand (*1976) und (1977a). 106 Dies ist gerade das, was in der Sprechweise der Terminologen gemeint ist, wenn sie etwa davon reden, in einer Definition werde ein Begriff zu anderen in Beziehung gesetzt bzw. ein Begriff stehe in einem Begriffssystem.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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kennt, erfährt, wie er bereits verwendet wird. Wenn A den Β sprachbezüglich 107 fragt: „ [ 1 ] Was heißt (bedeutet) Parallelogramm!", dann kann Β sprachbezüglich z.B. mit Dili'antworten, mithin so: „Parallelogramm heißt soviel wie Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten." A erfährt die Bedeutung des planimetrischen, erwähnten Fachausdruckes Parallelogramm aus Dll¡' genau dann, wenn er die im Ds von Dll¡' erwähnt verwendeten Fachausdrücke bereits richtig referierend und/oder prädizierend verwenden kann; 108 anderenfalls muß er weiterfragen. Β kann dann z.B. eine Definition aus Ki (= Dllo, Dili, DII2, DII3) oder aus einer anderen Definitionskette Κ geben usw. Dies heißt: Die Erklärung der Bedeutung eines Fachausdruckes X verweist auf die Erklärung der Bedeutung(en) eines oder der Fachausdrücke Χι, X2, ..., die zu der Erklärung der Bedeutung von X verwendet wurden. 109 Dies heißt: Eine Feststellungsdefinition eines Fachausdruckes steht in einer (geordneten) Kette von Feststellungsdefinitionen; und dies heißt: die fachsprachlichen Definienda stehen in einer lexikalisch-semantischen Ordnung, und dies heißt: die definierten Termini bilden ein Terminologie(teil)system. Die definierte Bedeutung eines Fachausdruckes zu kennen, heißt daher, ihn definitionsgemäß referierend und/oder prädizierend verwenden zu können. Und dies heißt, daß man den betreffenden Fachgegenstand, in unserem Beispiel ein Parallelogramm, stets identifizieren und von anderen planimetrischen Fachgegenständen sicher unterscheiden kann, weil man weiß, daß man nur dann auf einen planimetrischen Gegenstand G mit Parallelogramm richtig (= definitionsgemäß) Bezug nehmen kann, wenn das komplexe Prädikat Viereck mit zwei parallelen Gegenseiten auf G zutrifft. - Wir hatten gesehen: Feststellungsdefinitionen drücken eine Feststellung ü b e r einen Fachausdruck aus, mithin eine über diejenige Fachsprache, zu der der Definiendum-Ausdruck gehört, und können als solche entweder richtig oder nicht richtig sein. Sie zielen nicht auf je einzelne Verwendungen des Fachausdruckes; d.h.: Sie berücksichtigen z.B. nicht eventuell nicht richtige Verwendungen, sondern sie versuchen, d i e fachlich richtige Verwendung festzustellen; 110 sie zielen mithin auf die Sprachgewohnheit der Fachleute, den Fachausdruck so und so und nicht anders referierend und/oder prädizierend zu verwenden; sie wollen feststellen, was im Fach Sprachbrauch ist - oder anders ausgedrückt: Sie versuchen, den regelgerechten G e b r a u c h des Fachausdruckes auf der propositionalen Ebene anzugeben. Wir können daher auch sagen: Richtige Feststellungsdefinitionen für Fachausdrücke formulieren

107 Über den Zusammenhang von sprach- und sachbezüglichen Fragen im Falle von bestimmten Ausdrücken, z.B. einfachen absoluten Prädikaten, vgl. Wiegand (*1976, 121 ff.) und Wiegand (1977a, 65 ff.). 108 Vorausgesetzt ist darüber hinaus, daß A die deutsche Gegenwartssprache, d.h. z.B. hier die ebenfalls verwendete Syntax der Gemeinsprache beherrscht. 109 Dies gilt mutatis mutandis auch für nichtfachsprachliche Ausdrücke; in der Lexikographie heißt das mißverständlicherweise lexikographischer Zirkel. 110 Bei der vorangehenden Analyse der Verwendungen von Fachausdrücken können aber gerade die nicht richtigen Verwendungen eine wichtige Rolle spielen.

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Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

die Referenz- und Prädikationsregeln für die Verwendung des Fachausdruckes gemäß dem Gebrauch dieses Fachausdruckes im Fach, oder kurz: Sie sind Regelformulierungen bestimmter Regeln des Gebrauchs des Fachausdruckes. 111 Wer daher die Regelformulierung richtig versteht, lernt die genannten Regeln des Gebrauchs und kann daher, wenn er den Fachausdruck verwendet, diesen Regeln folgen, was sich darin zeigt, daß er ihn fachlich richtig referierend und/oder prädizierend verwenden kann; zeigt sich gerade dies in den Verwendungen, dann kann man sagen: Er kennt die Bedeutung des Fachausdruckes soweit, daß er mit Äußerungen propositionale Akte korrekt vollziehen kann. - Wenn richtige Feststellungsdefinitionen als Was- oder Wie-Erklärungen Regelformulierungen der genannten Art sind, dann lassen sie sich auch in bestimmter Weise lesen bzw. in eine bestimmte Form umschreiben. Als Beispiel diene eine Lesart von Dllo: Stets wenn auf einen planimetrischen Gegenstand G das planimetrische Prädikat ist ein Parallelogramm zutrifft und wenn auf G zugleich das komplexe planimetrische Prädikat hat vier gleichlange Seiten zutrifft, dann k a n n in der Fachsprache der Planimetrie der Fachausdruck Rhombus verwendet werden, um (auf G mit Rhombus zu referieren oder) von G ist ein Rhombus zu prädizieren. 112 - Im Unterschied zu den semantischen Feststellungsdefinitionen formulieren die semantischen Festsetzungsdefinitionen nicht bestimmte Regeln des Gebrauchs eines Fachausdruckes. Sie drücken vielmehr bestimmte Festsetzungen aus, die zweckmäßig oder unzweckmäßig sein können; d.h.: Sie formulieren, wie ein Fachausdruck als Teil einer Fachsprache im Fach verwendet werden soll. Sie sind V o r s c h r i f t e n f o r m u l i e r u n g e n und formulieren die Vorschrift(en), nach der der Fachausdruck referierend und/oder prädizierend verwendet werden soll. Das Ziel, das in der Terminologienormung mittels genormter Festsetzungsdefinitionen erreicht werden soll, ist es daher, daß möglichst jede fachinterne Verwendung des definierten Fachausdruckes der formulierten Vorschrift gemäß ist. Kurz: Die Terminologienormung hat gerade dann ihr Normungsziel erreicht, wenn die gegebenen Vorschriften für die Verwendung der Fachausdrücke, durch Berücksichtigung der Norm, im Fach allmählich zu Regeln des Gebrauchs dieser Fachausdrücke werden. 113 111 Zum Terminus Regelformulierung vgl. Keller (1974, lOff.). - Ob man die ganze Feststellungsdefinition oder nur das Definiens als die Regelformulierung auffassen soll, ist in verschiedener Hinsicht eine diffizile Frage. Auf jeden Fall muß der Ausdruck, für den eine Regel formuliert werden soll, entweder als erwähnter oder gebrauchter Ausdruck in der Regelformulierung oder in ihrem Kontext auftreten. Wahrscheinlich ist daher die erstere Lösung besser. Diesbezüglich ist Wiegand (1977a, 68) letzter Absatz, mißverständlich. 112 D i e s e Lesart kann sprachlich erheblich verkürzt werden, wenn weitere Termini eingeführt sind, worauf ich hier verzichtet habe. Die runde Klammer in der Lesart soll nur darauf hinweisen, daß es eine ungeklärte Streitfrage ist, ob man mit Prädikaten überhaupt referieren kann. Wer dies verneint, kann den Teil in der Klammer streichen. 113 Dies ist nur eine andere Formulierung für das gleiche bereits genannte oberste Ziel der Terminologienormung.

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

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Sei DtZi eine genormte Festsetzungsdefinition. DtZ|:

Stimmzeichen: Leibgebundenes Zeichen, dessen Zeichenkörper mittels menschlicher Sprechorgane erzeugt wird." 4

Dann ist die Lesart von Dtzi (verkürzt) so: Stets wenn der Fachausdruck Stimmzeichen normgerecht (= gemäß Dtzi) verwendet wird, um auf ein X Bezug zu nehmen, dann m ü s s e n alle Prädikate aus dem Ds von Dtzi auf X zutreffen. Der wichtigste Unterschied zwischen solchen Lesarten von Feststellungsdefinitionen einerseits und Festsetzungsdefinitionen andererseits besteht in dem „Kannverwenden" und „Muß-verwenden". -

14 Begriff Daran, daß man sprachliche Ausdrücke und nicht Begriffe definiert, werden sich Terminologen nicht gerne gewöhnen wollen: In zu vielen DIN-Normen wird schon immer vom Begriff gesprochen. Einen fruchtbaren Boden für meine begriffslosen Vorschläge (6-11) sehe ich daher nicht. - Wir überlegen daher abschließend kurz, ob man nicht auch den sprachlichen Ausdruck (!) Begriff so einführen kann, daß die im Kritikteil (3-5) gezeigten Schwierigkeiten vermieden werden. Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Wege. An einen beschreitbaren will ich jetzt einen Wegweiser stellen, dem Terminologen einmal versuchsweise folgen sollten. Die verschiedenen Wege, die in unserer Frage nach Rom führen, haben eines gemeinsam: Der Begriff als Wesen, Idee, Wesenheit, Vorstellung, Denkeinheit, Urteilsteil, Zusammenfassung von etwas, Widerspiegelung von etwas etc. wird uns auf diesen Wegen nicht begegnen, auch nicht in Rom; und was jenseits von R o m ist, scheint mir nicht Gegenstand einer Normveröffentlichung zu sein.115 - Die Einführung des sprachlichen Ausdruckes Begriff kann sich an sprachlichen Ausdrücken orientieren, insbesondere an denen, die als Prädikate von z.B. den Namen unterschieden werden, in der Sprechweise von DIN 2330 also an den Gegenstandsbenennungen;" 6 ich beziehe mich im folgenden nur auf fachsprachliche Prädikate und spreche der Kürze halber von Fachausdrücken (= Termini). Ich hatte bereits erwähnt, daß man einen sprachlichen Ausdruck, mithin auch einen Fachausdruck, als die Äquivalenzklasse aus vorliegenden Verwendungen dieses Fachausdruckes definieren kann. In einer gegebenen Menge M von Verwendungen eines Fachausdruckes läßt sich eine Äquivalenzrelation definieren, die hier eine Ähnlichkeitsrelation sein muß, und

114 DtZi ist nach der 4. Norm-Vorlage DIN 2338 v. Jan. 1978 formuliert. 115 Nachfolgend lehne ich mich an Lorenzen (1974, 2 4 - 5 9 u.75ff.) an, allerdings mit erheblichen Modifikationen. Meine Darstellung ist außerdem erheblich verkürzt. Außerdem ist die Anm. 65, letzter Satz zu berücksichtigen. - Als weitere Literatur kann Tugendhat (1976, insbes. 176-196) sowie Kamlah/Lorenzen (1967) herangezogen werden. 116 Vgl. DIN 2330 vom Nov. 1974, 3.

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Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [ . . . ] München 1979a, 1 0 1 - 1 4 8

die M in Äquivalenzklassen zerlegt; eine davon heißt Fachausdruck. Der Übergang von M zu Äquivalenzklassen heißt Abstraktion,117 Was ist hier nun mit Übergang von ... gemeint? Häufig wird z.B. gesagt: Ein Absehen von bestimmten Eigenschaften der Elemente aus M. Diese Sprechweise hat einen Nachteil: Sie gibt Anlaß, das „Absehen von" psychologisch aufzufassen. Sie führt außerdem zu der Schwierigkeit, eine Definition von Eigenschaft vorauszusetzen. Eine solche Definition macht aber bekanntlich außergewöhnliche Schwierigkeiten. 118 Es ist daher angemessener zu sagen: Der Übergang von ..., d.h. die Abstraktion besteht darin, daß eine (od. ggf. mehrere) Klasse(n) von Prädikaten, die den Elementen aus M zu- oder abgesprochen werden können, der Äquivalenzklasse weder zu- noch abgesprochen werden können, ohne daß unverständliche Prädikationen gemacht werden. Wenn es bei der Abstraktion von den Verwendungen von Fachausdrücken zu Fachausdrücken gerade darauf ankommt, auf das je einmalig Wahrnehmbare keine (Rück-)Sicht zu nehmen, dann können Prädikate wie ist laut, war leise, wurde gestern gekrönt, dauerte 2 Sekunden Fachausdrücken weder zu- noch abgesprochen werden. Das Ziel der Abstraktion besteht mithin darin, solche Prädikate als nicht anwendungsfähig auszuschließen. Es ist also unverständlich, wenn man sagt:" 9 (35)

Der Fachausdruck,

Quadrat ' ist laut.

Dies ist aber nicht der Fall, wenn man sagt: (36)

Der Fachausdruck

,Rhombus'

besteht

aus sieben

Graphemen

in der erkennbaren

Rei-

henfolge.

Dies erklärt sich dadurch, daß von der Abstraktion die Anzahl und die Reihenfolgen der Graphe von schriftlichen Verwendungen gerade nicht, die Lautstärke von mündlichen Verwendungen dagegen gerade betroffen ist. 120 (36) zeigt, daß man über die F o r m von Fachausdrücken Feststellungen treffen kann. Daher kann man feststellen: (37)

Die Form der Fachausdrücke

,Rhombus'

und .Quadrat'

ist

unterschiedlich.

(37) drückt dann eine vergleichende Feststellung über die beiden Graphemketten aus, in der eine bestimmte Anzahl von Graphemen linear anders angeordnet ist. Nun sind jedoch auch Feststellungen möglich, die weder etwas über Verwendungen von Fachausdrücken, noch über die Form der Fachausdrücke als Ergebnis der Abstraktion, sondern ausschließlich etwas über die Regeln zur Verwendung der Fachausdrücke feststellen, wozu es meistens notwendig ist, die Fach-

117 Einzelheiten dazu bei Wiegand (1973, 69ff.). In diesem Beitrag habe ich allerdings eine realistische Auffassung vertreten, die ich derzeit - ich g l a u b e , aufgrund von weitergehenden Einsichten - weniger schätze. 118 Vgl. dazu z.B. Tugendhat (1976). 119 Ich behaupte nicht, daß (35) sinnlos ist. Sondern unverständlich zur Definition von Fachausdruck unverständlich. 120 Grapheme werden hier als Klassen von Graphen aufgefaßt.

soll lediglich heißen: relativ

333

Definition und Terminologienormung - Kritik und Vorschläge

ausdrücke selbst erwähnt oder gebraucht zu verwenden. Solche Feststellungen sind in folgenden Sätzen ausgedrückt: (38) (39)

In der Planimetrie gilt für die Fachausdrücke , Polygon' und ,Vie reck' dieselbe Festsetzungsdefinition. ,Rhombus' und .Raute' werden in der Planimetrie nach denselben Regeln referierend und/ oder prädizierend verwendet.

Wenn z.B. (39) richtig ist, dann müssen Rhombus

und Raute im Definiendum

von Dllo vertauschbar sein, ohne daß (39) als Feststellung über die planimetrische Fachsprache falsch wird. Dies ist in (39) der Fall. Mithin definiert (39) zwei Fachausdrücke: d.h. für Rhombus

und Raute formuliert (39) dieselben Regeln

des Gebrauchs. Nun kann der sprachliche Ausdruck Begriff folgendermaßen eingeführt werden: Wenn für zwei Fachausdrücke Fi und F2 die gleiche Definition (Dil oder Dtz), die in einer Definitionskette steht, gilt (d.h.: wenn Fi und F 2 definitorisch gleichwertig sind), stellen Fi und F 2 denselben Fachbegriff dar. W i r d (Fach-)Begriff

so eingeführt, dann ist dies eine methodisch durchsichtig ge-

machte façon de parier, d.h. nichts weiter als eine E r w e i t e r u n g d e r

Rede-

m ö g l i c h k e i t e n über einen Ausschnitt aus der Semantik von Fachausdrücken, die jederzeit systematisch auf die Redeweise, daß Fachausdrücke definitionsgemäß verwendet werden, zurückgeführt werden kann. W i r können jetzt feststellen: (40)

,Rhombus ' und,Raute ' stellen denselben Begriff dar.

Denn in K i gilt sowohl für den Fachausdruck Rhombus als auch für Raute Dllo, d.h. Rhombus

und Raute sind in der Fachsprache der Planimetrie definitorisch

gleichwertig. Eine entsprechende Begründung können wir für die in (31) ausgedrückte Feststellung geben: (41)

, Polygon ' und, Viereck ' stellen denselben Begriff dar.

Da Terminologen - wie ihr bisheriger Sprachgebrauch zeigt - lieber ü b e r Begriffe als über etwas anderes reden, deute ich noch kurz an, w i e dieses Reden über Begriffe ohne die in der Diskussion um D I N 2330 aufgetretenen Schwierigkeiten eingeführt werden kann. Man führt Prädikate über Prädikate (Prädikatsprädikate), mithin t e r m i n o l o g i s c h e F a c h a u s d r ü c k e , ein, die sich auf die in der Terminologiearbeit allein interessanten semantischen Regeln beziehen lassen, nämlich die Regeln für die referierende und prädizierend Verwendung von Fachausdrücken in j e untersuchten Fachsprachen. Zur Klasse dieser terminologischen Fachausdrücke ( K l i ) zählen dann alle terminologischen Fachausdrücke, die hinsichtlich der Form der Fachausdrücke, über die gesprochen wird, invariant sind, d.h. auf alle definitorisch gleichwertigen Fachausdrücke bezogen werden können. Zu K l i gehören dann beispielsweise: (ist) konträr, (ist) untergeordnet, (42) (43)

(ist)

Ubergeordnet,

etc. Nun kann man z.B. folgende Feststellungen treffen:

Der Begriff,Rhombus ' ist dem Begriff,Parallelogramm ' untergeordnet. Der Begriff .Parallelogramm' ist dem Begriff .Viereck' untergeordnet.

334

Terminologie als angewandte Sprachwissenschaft. [...] München 1979a, 101-148

Man sieht: (ist) untergeordnet ist hinsichtlich der Form der jeweils erwähnten Fachausdrücke invariant. Dies gilt nun nicht nur für e i n e lexikalisch-semantische Hierarchie von Fachausdrücken, sondern für alle, die mittels Definitionsketten der erläuterten Art gebildet werden. (42) und (43) sind ohne weiteres übersetzbar in die eingeführte Sprache für den für Terminologen relevanten Ausschnitt aus der Semantik der Fachausdrücke, d.h. in eine auf bestimmte Verwendungsregeln für Fachausdrücke gegründete andere Terminologie, in der für den Ausdruck Begriff (als Verkürzung für Fachbegriff) Festsetzungen für die Sprache der Terminologen getroffen wurden. - Neben Kli benötigen Terminologen eine zweite Klasse Kl2 von terminologischen Fachausdrücken, zu der diejenigen terminologischen Fachausdrücke zu zählen sind, die sich auf die Form der jeweils behandelten Fachausdrücke beziehen (lassen). Zu KI2 gehören z.B.: (ist) ein Kompositum, (ist) ein Wortelement, (ist) ein Flexionselement, (ist) eine Abkürzung etc. Damit ist im Prinzip angedeutet, wie Terminologen eine terminologische Fachsprache aufbauen können.

15 Zusammenfassung Zusammengefaßt beinhalten meine Vorschläge für eine Verständigungsnorm à la DIN 2330 dies: Es ist n i c h t von Begriffen und damit von irgendeinem Begriff des Begriffs auszugehen. Der Begriff des Begriffs ist weder ontologisch, noch (denk-)psychologisch, noch konzeptualistisch, überhaupt nicht realistisch einzuführen. Exemplarisch und definitorisch einzuführen ist vielmehr eine Terminologie, die sowohl auf die Form der Fachausdrücke als auch auf die genannten Regeln für die Verwendung von Fachausdrücken angewandt werden kann. Feststellungs- und Festsetzungsdefinitionen sind als Regelformulierungen bzw. als Vorschriftenformulierungen für die referierende und/oder prädizierende Verwendung von Fachausdrücken einzuführen und als Teile von Definitionsketten aufzufassen, die ein semantisches (Teil-)System von Fachausdrücken begründen. Schließlich kann dann der sprachliche Ausdruck Begriff als Verkürzung von Fachbegriff als spezifisch terminologische façon de parier, gegründet auf der Terminologie über sprachliche Ausdrücke und ihre Verwendungsregeln, eingeführt werden, dies nur, um an die bisherige Sprechweise der Terminologen anzuknüpfen und diese zugleich zu begründen. Dies heißt: Der Begriff des Begriffs wird eingeführt, indem angegeben wird, wie der Ausdruck Begriff in der Fachsprache der Terminologen verwendet werden soll. - Im pointierten Gegensatz zu der Feststellung im zweiten Motto dieses Beitrages „Jede Terminologiearbeit geht von Begriffen aus" möchte ich an den Schluß eine Aufforderung stellen: Terminologen sollten darüber nachdenken, ob es für ihre Ziele nicht angemessener ist, von sprachlichen Ausdrücken auszugehen.

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie

*

aus: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim. New York 1981 (Germanistische Linguistik 3-4/1979), 139-271.

1

Was sind pragmatische Informationen in einem Wörterbuch?

In neueren Arbeiten zur germanistischen Lexikographie werden die Ausdrücke Pragmatik und pragmatisch unterschiedlich verwendet. Henne versteht unter Wörterbuchpragmatik oder unter Pragmatik der Lexikographie alle Überlegungen und Tätigkeiten, die zur Entstehung eines Wörterbuches führen und die unter folgenden zusammenhängenden Fragen stehen: Wer? Was? Wann? Für wen? Zu welchem Zweck? 1 Kubczak-Loudèche versteht unter dem Problem der lexikographischen Pragmatik „die Frage, für wen und zu welchem Zweck man ein Wörterbuch macht".2 Sowohl Henne als auch Kubczak-Loudèche beziehen mithin die Ausdrücke Pragmatik der Lexikographie bzw. lexikographische Pragmatik auf den Prozeß der Wörterbuchschreibung und auf die Theorie und Methode dieses Prozesses. Bei Henne ist jedoch die Extension des fraglichen Ausdrucks weiter, denn Kubczak-Loudèche berücksichtigt nur die Fragen: Für wen? und: zu welchem Zweck? - Müller verwendet Pragmatik der Lexikographie so,

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1

2

Vortrag, gehalten am 24. 9. 1980 während des Kolloquiums „Sprachgeschichte" in Heidelberg. Unter dem Eindruck der Diskussion wurde der Vortrag umgegliedert und erweitert. Einige Akzente wurden anders gesetzt. Ich danke allen Diskussionsteilnehmern: (D. Cherubim, K. Gärtner, H. Henne, K. J. Mattheier, E. Oksaar, P. von Polenz, O. Reichmann, B. SchliebenLange, H. Steger, G. Stötzel, E. Stutz). Ich danke außerdem den Teilnehmern des Linguistischen Kolloquiums am Germanistischen Seminar der Univ. Heidelberg. Die Anregungen der Kolloquiumsdiskussion - insbesondere auch den weiterführenden schriftlichen Nachtrag zur Diskussion von R. Wimmer - werde ich bei einer späteren Gelegenheit berücksichtigen, wenn ich Teile dieses Beitrages im Rahmen einer größeren Abhandlung verwerte. Henne (1976, 99f.); vgl. auch Henne (1977a, 8ff.). Mentrup nennt in einem Exposé zu einem Band „Vorstudien zu einem Handbuch der schweren Wörter" diese fünf Fragen die „pragmatischen W-Fragen". Kubczak-Loudèche (1978, 96).

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Germanistische Linguistik 3-4/1979, 139-271

daß Pragmatik durch Praxis ohne Sinnänderung ersetzbar ist.3 1976 formulierte ich folgenden Aufsatztitel: „Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen f...]". 4 Der Bindestrichausdruck semantischpragmatisch wurde im Text nicht explizit erläutert. Entsprechendes gilt für den Ausdruck praktisch-pragmatisch.5 Gemeint war - besonders mit dem ersten Ausdruck - etwa dies: Wörterbuchtexte werden in konkreten Wörterbuchbenutzungssituationen zum sprachlichen Medium einer spezifischen Art von interaktionsloser Kommunikation zwischen dem Lexikographen und dem Wörterbuchbenutzer und haben bestimmte Funktionen zu erfüllen. Wenn der Lexikograph weiß, was der potentielle Benutzer erwartet bzw. überhaupt erwarten kann, d.h.: wenn er vor dem oder beim Abfassen der Wörterbuchartikel über eine Typologie von Wörterbuchbenutzungssituationen verfügt, 6 so daß er möglichst genau unterschiedliche Typen von Benutzungssituationen differenzieren und antizipieren kann, dann ist zu erwarten, daß er seine lexikographischen Informationen gezielter geben kann. Dies gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für alle Arten von semantischen Informationen im Wörterbuchartikel; diese können dann, bezogen auf semantisch bestimmte Typen von Wörterbuchbenutzungssituationen gegeben werden, 7 und d.h.: der Lexikograph orientiert sich „pragmatisch" an möglichen kommunikativen Situationen, in denen sein Wörterbuch benutzt werden wird, und durch diese Orientierung bekommen bestimmte Wörterbucheinträge, z.B. die zur Semantik des Lemmas, einen „pragmatischen" Aspekt. Man sieht: Es liegt hier eine relativ schillernde, nicht hinreichend präzisierte Verwendung des Ausdruckes pragmatisch vor, die sich mit der bei Henne und KubczakLoudèche in unbestimmter Weise überschneidet. 8 Damit ist angedeutet, daß und wie unterschiedlich in neueren Arbeiten zur Lexikographie die Ausdrücke pragmatisch und Pragmatik verwendet werden, wenn sie auf die Lexikographie oder auf lexikographische Gegenstände bezogen werden. Daher ist nicht von vornherein und ohne weitere Erläuterungen klar, was

3 4 5 6

7

8

Müller (1980, 38). Vgl. Wiegand (*1977). Vgl. den Untertitel in Wiegand (1977b). Eine solche Typologie habe ich in Wiegand (1977a) entworfen; diese Typologie ist nur ein Ausschnitt und kann weiter ausgearbeitet werden. Lang (1982) hat zurecht bemerkt: „Bezüglich der Konjunktionen, der Funktionswörter überhaupt, hat Wiegands idealer Nutzer freilich keine Bedürfnisse." Zu den meisten lexikographischen Informationsklassen (z.B. etymologische Angaben, grammatische Angaben etc.) läßt sich eine Typologie von Benutzungssituationen entwerfen. Zu Informationsklassen in Wörterbüchern vgl. Wahrig (1977). Wahrig greift hier eine wichtige Frage auf; seine Ausführungen sind jedoch wenig mehr als eine Beispielzusammenstellung. In Wiegand (1977a, 62) habe ich geschrieben, daß man eine „Pragmatik des Wörterbuchs" benötigt, „die untersucht, was passiert, wenn Wörterbuchartikel während ihrer Lektüre zu Texten in Funktionen werden." Solche Untersuchungen haben sicherlich etwas mit Pragmatik zu tun; aber v i e l l e i c h t ist es günstiger, von pragmatisch orientierter Wörterbuchdidaktik zu sprechen. Vgl. Anm. 16. Zu vielleicht vgl. Wiegand (*1982).

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

337

unter pragmatische Informationen in einem Wörterbuch verstanden wird bzw. verstanden werden könnte/soll/sollte. Die Frage „Was sind pragmatische Informationen in einem Wörterbuch?" läßt sich übersetzen in die Frage „Was versteht man unter dem Ausdruck pragmatische Informationen in einem Wörterbuch?". Aber auch in dieser Form läßt sich die Frage nicht ohne weiteres beantworten, da der fragliche Ausdruck bisher in der Wissenschaft nicht gemäß einer Festsetzungsdefinition verwendet wird; daher gibt es keinen stabilisierten Gebrauch, weswegen man weder seine Intension noch seine Extension mittels einer kompetenzgestützten, empirischen Analyse wissenschaftlicher Texte ermitteln und z.B. in der Form einer Feststellungsdefinition mitteilen kann.9 Ich versuche daher, in den nachfolgenden Abschnitten schrittweise einen Vorschlag zu entwikkeln, wie man den fraglichen Ausdruck verwenden k ö n n t e . Der Vorschlag richtet sich an Sprachwissenschaftler, die sich für lexikographische Probleme interessieren, sowie an praktizierende Lexikographen, die über ihre Praxis nachdenken möchten. Der Zweck des Vorschlags besteht darin, bestimmte lexikographische Informationen anders als bisher üblich und in einer möglichst einheitlichen Perspektive zu sehen. Bestimmte Phänomene anders zu sehen, heißt manchmal auch, sie anders zu benennen bzw. anders zu beschreiben. Dies hat allerdings nur dann einen Erkenntniswert, wenn dadurch neue Fragestellungen eröffnet oder wenigstens ein fruchtbarer Bezug zu Fragestellungen in benachbarten Forschungsgebieten hergestellt wird, so daß andere Lösungswege sichtbar werden.

2 2.1

Zur Entwicklung der Fragestellung Auffällige Wörterbucheinträge in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache

Wenn man in einer sprachwissenschaftlichen Wörterbuchbenutzungssituation 10 ein Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache mit folgender Frage benutzt: Wie lassen sich bestimmte Wörterbucheinträge,11 also Textteile von Wörterbuchartikeln, und ihre Relationen zueinander unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten genauer verstehen?, stößt man auf Wörterbucheinträge, die in folgendem Sinn als „ a u f f ä l l i g " charakterisiert werden können: 9 Zu dieser Argumentation vgl. Wiegand (*1979a, 123ff.). 10 Eine Untersuchung der s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e n Wörterbuchbenutzungssituationen (vgl. Wiegand 1977a, 80 f.) ist nicht ganz uninteressant. Sie führt nämlich zu bemerkenswerten Einsichten z.B. über die Rolle der deutschen Wörterbücher in der Germanistik. π Den Ausdruck Wörterbucheintrag oder die verkürzte Form Eintrag verwende ich hier ohne spezifische Definition. Man benötigt einen Ausdruck, um auf solche Teile von Wörterbuchartikeln Bezug nehmen zu können, die gerade von Interesse sind. D.h.: Wörterbucheinträge sind keine fixen Größen und nicht mit den „entries" in einem sog. Lexikon als Modellkomponente irgendeiner Grammatik bzw. Grammatiktheorie zu verwechseln.

338

Germanistische Linguistik 3-4/1979, 139-271

(i) Es finden sich Wörterbucheinträge, die in den Vorwörtern, Benutzungshinweisen, Vorberichten, Vorreden etc. 12 überhaupt nicht erläutert werden. (ii) Es finden sich Wörterbucheinträge, die in den unter (i) genannten Wörterbuchteilen zwar erläutert sind, man ist aber „erstaunt", warum sie gerade so und nicht anders erklärt werden.

In dem als Beispiel Nr. [1] wiedergegebenen Wörterbuchartikel aus dem DudenGWB 13 sind alle (von mir) unterstrichenen Wörterbucheinträge entweder im Sinne von (i) oder (ii) auffällig. [1]

Aas [a:sl. d a « -es. -c u. Äser f e i n ; mhd.. ahd. äs. verw. mi» tessen, e i t l . - Fuller (Lodebpeise]: 1.

v

Nachfolgend versuche ich darzulegen, aus welchen Gründen und zu welchen Zwecken es - insbesondere für die lexikographische Praxis - vorteilhaft ist, die meisten der Wörterbucheinträge (a) bis (o) in [1] generalisierend unter einer einheitlichen Perspektive als p r a g m a t i s c h e I n f o r m a t i o n e n im W ö r t e r b u c h zu begreifen, so daß man sodann differenzierend verschiedene Typen von pragmatischen Informationen unterscheiden kann. 2.2

Versuch, eine einheitliche Perspektive zu gewinnen

Was eine Theorie der Sprachpragmatik zu erklären hat, ist kontrovers; eine Diskussion verschiedener Standpunkte wäre uferlos. Die folgenden, freilich sehr allgemeinen Formulierungen (i) sind das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen. (i) Wenn es zutrifft, daß die Interpretation bzw. die Produktion einer sprachlichen Äußerung (z.B. einer Wort-, Satz- oder Textäußerung) nicht nur durch die grammatischen und semantischen Regeln des Sprachsystems determiniert werden, dann hat eine Theorie der Sprachpragmatik folgende komplexe Frage zu beantworten: Welche Informationen (oder: Kenntnisse) bestimmen - über die Beherrschung der grammatischen und semantischen Regeln des Sprachsystems hinaus - in welcher Weise die Interpretation bzw. die Produktion einer sprachlichen 12 Für diese Wörterbuchteile verwende ich als generischen Ausdruck Wörterbucheinleitung oder kurz Einleitung. 13 Hier und nachfolgend verwende ich fur die Wörterbücher Abkürzungen oder einfach die Namen der Lexikographen. Die vollständigen Titel finden sich im Literaturverzeichnis. Die meistens halbfett gesetzten Lemmata sowie die häufig viertelfett gesetzten sog. Leitwörter im Artikeltext gebe ich durch Kursive in einfachen Anführungszeichen wieder, z.B.: ,Αas'.

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

339

Äußerung in Bezug auf eine kommunikative Situation? Informationen, die hier in Frage kommen, sind z.B.: -

Informationen (oder Kenntnisse) über die Welt, über die kommuniziert wird, die nicht aus der Sprachkenntnis herrühren und nicht aus dem Sprachgebrauch in der Situation stammen, in der kommuniziert wird (= enzyklopädische Informationen)

-

Informationen (oder Kenntnisse), die aus der Situation stammen, in der kommuniziert wird (= situationsspezifische Informationen) Informationen (oder Kenntnisse), die durch die Textsorte gegeben sind, zu der die Textäußerungen gehören (= textsortenspezifische Informationen).

-

Die gegebene Liste von möglichen Informationstypen ist offen und soll lediglich illustrativen Charakter haben; es handelt sich also nicht um einen Klassifikationsversuch. Alle Informationen, die die Interpretation bzw. die Produktion einer sprachlichen Äußerung - über die grammatischen und semantischen Regeln hinaus - determinieren, werde ich nachfolgend zur Klasse der pragmatischen Informationen zählen. Untersucht man nun innerhalb des soeben skizzierten Denkrahmens einsprachige, alphabetische Wörterbücher 14 auf pragmatische Informationen, ist es zweckmäßig, zunächst zwei Arten von Fragestellungen zu unterscheiden. Die e r s t e kann folgendermaßen eingeführt werden: Gegeben sei eine konkrete Wörterbuchbenutzungssituation, d.h. beispielsweise: eine bestimmte Person, Sprecher der Sprache L, schlägt mit einer bestimmten Frage zu einer lexikalischen Einheit aus L in einem Exemplar eines alphabetischen, einsprachigen, vorwiegend in der Sprache L geschriebenen Wörterbuches nach. Durch die in dieser Situation vollzogenen Leseakte wird der konsultierte Wörterbuchartikel oder ausgewählte Teile des Artikels zum Medium der Kommunikation zwischen dem Benutzer und dem Lexikographen. Die Fragestellung lautet dann: Welche pragmatischen Informationen determinieren in welcher Weise die in den Leseakten zu vollziehende Interpretation des Wörterbuchtextes? Oder anders ausgedrückt: Vorausgesetzt, der Wörterbuchbenutzer beherrscht die Grammatik und Semantik von L:15 Welche Kenntnisse bestimmen - über die durch die Grammatik und Semantik von L gegebenen Interpretationsbedingungen hinaus - in welcher Weise die in den Leseakten zu vollziehende Interpretation des Wörterbuchtextes?

14 Ich bitte zu beachten, daß hier eine Einschränkung des Themas auf e i n s p r a c h i g e a l p h a b e t i s c h g e o r d n e t e Wörterbücher vorliegt. Die nachfolgenden zwei Arten von Fragestellungen sind z.B. für Synonymiken oder begrifflich geordnete, also onomasiologische Wörterbücher, anders zu formulieren. 15 Diese Voraussetzung ist keineswegs merkwürdig. Denn eine Sprache b e h e r r s c h e n oder die Grammatik und Semantik einer Sprache beherrschen, heißt nicht, alle Wörter oder gar alle Bedeutungen aller Wörter einer Sprache zu k e n n e n . Gerade dies ist einer der Gründe dafür, daß einsprachige Wörterbücher der Sprache L auch von Personen benutzt werden, die L beherrschen. Vgl. auch Wiegand (1977a).

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Germanistische Linguistik 3 - 4 / 1 9 7 9 , 139-271

Ad-hoc-Antworten einer bestimmten Art auf diese Fragen wären z.B.: Kenntnisse, die aus einer früheren Praxis der Wörterbuchbenutzung stammen, und/oder Kenntnisse, die aus dem Unterricht über die Bedeutung, über Typen, Aufbau und Zweck von Wörterbüchern stammen, und/oder Kenntnisse, die aus dem Studium des Vorwortes stammen, können die vom Benutzer zu vollziehende Interpretation des Wörterbuchtextes mitbestimmen. Verfolgte man - in systematischer Absicht - die e r s t e Fragestellung in der durch die ad-hoc-Antworten angedeuteten Richtung, käme man zu einer Lehre der Wörterbuchbenutzung - oder anders ausgedrückt: zu einer W ö r t e r b u c h d i d a k t i k . 1 6 Wenigstens aber wären Einsichten darüber zu erwarten, was in die Benutzungshinweise eines Wörterbuches gehört. Solche Einsichten wären durchaus nützlich, denn seit dem 17. Jh. sind die allermeisten Wörterbucheinleitungen der nhd. Wörterbücher ein merkwürdiges Gemisch von Rechtfertigungen, Eigenreklame, Anspielungen, Bezugnahmen und Angriffe auf andere Wörterbücher, sprachwissenschaftlichen Belehrungen und nur wenigen brauchbaren Benutzungshinweisen. Eine Ausnahme hiervon ist z.B. das Vorwort von Görner. Antworten einer anderen Art auf die erste Fragestellung können z.B. von folgender Struktur sein: Kenntnisse, die aus der Lektüre eines Artikelstückes stammen, das zur lexikographischen Informationsklasse K¡ gehört, können die Interpretationen eines anderen Artikeltextstückes des gleichen Artikels, das zur lexikographischen Informationsklasse K¡ gehört, mitbestimmen. Beispielsweise können Kenntnisse, die aus der Lektüre der Bedeutungserläuterung stammen, die Interpretation der nachfolgenden lexikographischen Beispiele mitbestimmen und umgekehrt. Oder es können Kenntnisse, die aus der Lektüre der etymologischen Angaben stammen, die Interpretation der Bedeutungserläuterung mitbestimmen. Oder es kann zu Interpretationsschwierigkeiten kommen durch den Versuch, die Gebrauchsangaben zum Lemma mit dem lexikographischen Beispiel zum gleichen Lemma zu vereinbaren. Verfolgte man - in systematischer Absicht - die erste Fragestellung in der zuletzt angedeuteten Richtung, käme man zu genaueren Kenntnissen über die textsortenspezifischen Eigenschaften (z.B.: spezifische Monosemierungstechniken, Bevorzugung bestimmter syntaktischer Muster in den Bedeutungserläuterungen relativ zu bestimmten Lemmatypen u.a.) von Wörterbuchartikeln als einer Untersorte einer Textsorte, die man z.B. „Instruktionstext zur Sprache" nennen könnte. 17

16 Für die Germanistik gilt: Wörterbuchdidaktik ist eines ihrer vernachlässigten Stiefkinder. Neben einigen dilettantischen Versuchen in neueren Sprachlehrbüchern und einigen kleineren Aufsätzen, z.B. Garnerus (1969), Küster (1976) und Menzel (1977), kenne ich nur das kleine Bändchen von Jungmann/Schmidt (o.J.), das für die ersten Klassen der Grundschule bestimmt ist. In der Romanistik z.B. ist die Lage anders; vgl. z.B. Hausmann (1977) sowie die dort verzeichnete Literatur. 17 Zu dieser Textsorte gehören z.B. auch Schulgrammatiken und Sprachlehrbücher.

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

341

Die z w e i t e Art von Fragestellung kann durch folgende Frage eingeführt werden: Welche lexikographischen Informationen in Wörterbucheinleitungen und Wörterbuchartikeln sind pragmatische Informationen in dem Sinne, daß sie dem Wörterbuchbenutzer Kenntnisse vermitteln können, die über die Grammatik und Semantik des als Lemma angesetzten lexikalisierten Sprachzeichens (bzw. der sog. Leitwörter und Redewendungen) hinausgehen und etwas dazu beitragen, (i) daß der Wörterbuchbenutzer eine pragmatisch angemessene Interpretation solcher mündlichen und schriftlichen Äußerungen vollziehen kann, in denen das Lemma (bzw. das Leitwort oder die Redewendung) als Ausdrücke - vor der Benutzung des Wörterbuches - verwendet wurden, und/oder (ii) daß der Wörterbuchbenutzer pragmatisch angemessen solche mündlichen und schriftlichen Äußerungen produzieren kann, in denen das Lemma (bzw. das Leitwort oder die Redewendung) als Ausdrücke - nach der Benutzung des Wörterbuches - verwendet werden. 18 Auf diese zweite Art zu fragen, möchte ich nachfolgend anhand „auffälliger" Wörterbucheinträge näher eingehen und einige Antworten geben.

3

Pragmatische Kommentare in neuhochdeutschen Wörterbüchern

In der angegebenen einheitlichen Perspektive und unter der zweiten Fragestellung lassen sich - exemplarisch gezeigt am Duden-GWB - folgende „auffällige" Wörterbucheinträge (vgl. unter 2.1 (i), (ii)) als p r a g m a t i s c h e K o m m e n t a r e auffassen (vgl. [1]): -

die Angaben in runden Klammern zur Stilschicht (oder: zur umgangssprachlichen Ausdrucksweise): (e) und (o) = (derb); (n) = (salopp) 19 die Gebrauchsangaben in runden Klammern: (c) = (abwertend); (f) = (verächtlich); (i) = (als Schimpfwort) die recte gesetzten Kommentare zu den Beispielen: (k) = mitleidig; (1) = mit dem Unterton widerstrebender Anerkennung die Belegstellenangaben in runden Klammern: (b) = (Matth. 24, 28); (d) = (Fallada, Jeder 356) bestimmte Teile in den lexikographischen Beispielen.

Insbesondere die Angaben zur Stilschicht und die Gebrauchsangaben haben in 20 der nhd. Lexikographie eine lange Tradition, deren Kenntnis zum Verständnis

18 Die unökonomische Aufzählung der Ausdrücke Lemma, Leitwort und Redewendung ist deswegen notwendig, weil ein genetischer Terminus für alle Einheiten, die in einem Wörterbuch lexikographisch beschrieben werden, fehlt. 19 In dem Textstück unter dem Spiegelstrich werden die Angaben „(derb)" und „(salopp)" - wie eben gerade - erwähnt (oder: zitiert im Sinne von to mention). Ich müßte sie daher - da sie nur im Wörterbuchartikel selbst gebraucht werden (im Sinne von to use) - im Text dieses Beitrages stets diakritisch besonders auszeichnen, z.B. mit Anführungszeichen. Ich unterlasse es aber, da die runden Klammern ihre Erkennbarkeit gewährleisten.

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Germanistische Linguistik 3 ^ / 1 9 7 9 , 139-271

ihrer Problematik und Systematik (bzw. „Unsystematik") nützlich ist. Ich gebe daher zuerst einen g r o b e n historischen Überblick und fasse dabei zunächst die beiden Arten von Angaben unter der Bezeichnung Angaben zum Stil21 zusammen. 3.1

Lexikographische Angaben zum Stil: eine historische Skizze

Die Geschichte der lexikographischen Angaben zum Stil (zur Schreib- oder Sprechart) in nhd. Wörterbüchern beginnt spätestens mit Harsdörffers Wörterbuchplan aus dem Jahre 1648. 22 Von der Mitte des 17. Jhs. bis zum neuesten größeren deutschen Wörterbuch, dem ersten Band (A-BT) des BrockhausWahrig von 1980 (BW), läßt sich diese Geschichte recht gut verfolgen, und zwar durch ein Studium der Wörterbuchprogramme, der Wörterbucheinleitungen, der Aussagen von Lexikographen über ihre Praxis und vor allem durch ein Studium der Wörterbuchartikel. Man kann in dieser Geschichte d r e i Phasen unterscheiden. 23 3.1.1 Die überwiegend normative Phase: von Harsdörffer bis in die Mitte des 19. Jhs. Die e r s t e P h a s e reicht von 1648 bis ca. 1850. Stieler, Steinbach, Frisch, Adelung und Campe haben die bekanntesten semasiologischen Wörterbücher in dieser Zeit geschrieben. Die Angaben zur Sprech- und Schreibart stehen in dieser Phase überwiegend im Dienste der lexikographischen, sprachkritischen Sprachlenkungsversuche, d.h.: Die Lexikographen wollten relativ zu jeweils unterschiedlichen (nämlich mehr oder weniger rigiden) Normvorstellungen in den Prozeß der sich herausbildenden neuhochdeutschen Gemeinsprache eingreifen. Man kann daher von der überwiegend normativen (präskriptiven oder autoritati-

20 Die Äußerung von W. Steinitz: „Diese stilistische Bewertung fehlt den deutschen lexikalischen Hilfsmitteln im großen und ganzen völlig." (zit. nach Klappenbach/Klappenbach 1978, 26) ist eine grobe Fehleinschätzung. 21 Formulierung nach Wahrig-DW (1977, 19). 22 Abgedruckt in: Krause (1855[1973], 387-391). Zur Interpretation vgl. Henne (1975, 16ff.). Ich meine hier die Feststellung: „Was gemeint ist übergehet man" (389). In der Englischen Lexikographie beginnt die Geschichte dessen, was hier Angaben zum Stil genannt wird, ebenfalls im 17. Jahrhundert. Samuel Johnson (18. Jh.) benutzt z.B. die Ausdrücke low, burlesque, lant und ludicrous. Zur Entwicklung der „labels" in der Englischen Lexikographie vgl. McDavid (1973) und Marckwardt (1973). 23 Diese Einteilung in drei Phasen ist eine grobe Periodisierung und entspricht weitgehend den Vorschlägen von Henne (1977) und Henne (1980), die sich auf die Geschichte der Lexikographie i n s g e s a m t beziehen. Eine genauere Analyse der Geschichte der lexikographischen Angaben zum Stil ergibt aber, daß sich in allen Phasen charakteristische Sonderfalle finden und daß es interessante Übergangsphasen gibt. Ein Sonderfall in der ersten Phase ist u.a.: „Das herrlich Grosse Teutsch-Italiänische Dictionarium [...]" von Kramer. Hier tritt z.B. der normative Aspekt erheblich zurück. Vgl. dazu Ising (1956).

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

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ven) Phase sprechen. 24 Wie man in dieser Epoche arbeitet, sei an zwei Beispielen erläutert. Adelung schreibt 1774 in der Vorrede der 1. Aufl. seines Wörterbuches im § 20: „Eines der vornehmsten Geschäfte schien mir die Bemerkung der Würde, nicht bloss der Wörter, sondern auch ganzer Redensarten zu seyn." Dann folgt eine Klassifizierung, die moderne Lexikographen z.B. als „Stilschichtenmodell" bezeichnen würden. Es heißt: „Ich habe zu dem Ende fünf Klassen angenommen: 1. die höhere oder erhabene Schreibart, 2. die edle, 2. die Sprache des gemeinen Lebens und vertraulichen Umgangs, 4. die niedrige, 5. die ganz pöbelhafte". Zu der letzten Klasse bemerkt er: „die ganz pöbelhafte Sprache [...] ist tief unter dem Horizonte des Sprachforschers, daher man sie hier nicht suchen darf, ausser wenn einige besondere Umstände eine Ausnahme nötig machen". 25 Die Praxis, die dieser Auffassung entspricht, kann man z.B. in folgendem Ausschnitt aus Adelungs Artikel zum Lemma Arsch' studieren: [2]

,,,Λrsch' [...] So unentbehrlich dieser Theil unsers Leibes auch in den Zänkereyen des Pöbels geworden ist, und so viele Anspielungen auf denselben auch wohl im Scherze gemacht werden: so sind sie doch alle so niedrig, daß man sie hier nicht suchen darf. Eben dieses gilt auch von den meisten der damit zusammen gesetzten Wörter. Anständigere Benennungen sind im Hochdeutschen, der After, der Hintere, das Gesäß, und in der vertraulichen Sprechart, der Steiß. Logau nennt diesen Theil ein Mahl den Sitzer, aber nur im Scherz. In dem 1483 gedruckten Buche der Natur wird er die Mistpforten genannt."

Die Redensarten mit Arsch sowie die Zusammensetzungen sind „unter dem Horizonte des Sprachforschers", eben „so niedrig", daß sie nicht behandelt werden. Gegen diese Einstellung wendet sich später Jacob Grimm (vgl. unter 3.1.2). Die lexikographische Dokumentation und Deskription enden gerade da, wo das Anstandsgefühl des gebildeten Bürgers Adelung sich meldet, das sich relativ zu den geltenden Anstands- und damit verbundenen Sprechverhaltensnormen der bürgerlichen Oberschicht herausgebildet hat. Statt der weniger anständigen Redensarten und Wortbildungen werden vier „anständigere Benennungen [...] im Hochdeutschen" genannt und damit dem Benutzer zur Verwendung empfohlen, 26 wobei ihm noch mitgeteilt wird, daß Steiß zur 3. Klasse „der vertraulichen Sprecharten" gehört. 27 Und e v e n t u e l l kann der Hinweis auf das Wort Sitzer, das Lo24 Von einer normativen Phase ohne Einschränkung zu sprechen, halte ich für zu einseitig; denn viele Wörterbucheinträge, die im Sinne von Normvorstellungen normativ sind, haben auch einen deskriptiven Aspekt. Dies gilt auch für andere Wörterbücher aus anderen Perioden. Vgl. auch Barnhart (1980). 25 Vgl. dazu auch Müller (1903, 48 ff.). 26 Bei Campe findet sich die gleiche Praxis, doch gibt er eine weitere Empfehlung: „[...] S.[iehe] für dieses pöbelhafte Wort die anständigeren: der Hintern, das Gesäß, der Steiß; und die eben so niedrigen Zusammensetzungen mit demselben in den Landschaftswörterbüchern"; After gehört - nach Campe - im Unterschied zu der Einschätzung bei Adelung nicht mehr zu den anständigen Wörtern. Es ergibt sich die Vermutung: Zwischen ca. 1790 und 1807 hat sich ein Bedeutungswandel vollzogen. 27 In der Terminologie der strukturellen Semantik kann man so interpretieren: Adelung gibt zu dem Lemma pirsch' einen Ausschnitt aus einem onomasiologischen Paradigma, und zwar die

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gau einmal „nur im Scherz" verwendet hat, als ein Vorschlag verstanden werden, daß - wenn schon einmal über diesen „Theil unseres Lebens" gescherzt werde - , auch Sitzer verwendet werden könne und nicht Arsch wie in den Scherzen des Pöbels. Man sieht: Adelung hat z w e i u n t e r s c h i e d l i c h e B e z u g s s y s t e m e , relativ zu denen er Wörter und Redensarten bewertet: (i) ein fünfschichtiges System von Schreib- und Sprecharten, und (ii) eine Anzahl von kommentierenden Prädikaten, von denen ein Beispiel nur „im Scherz" vorkommt; weitere Prädikate sind „im verächtlichen Verstände", 28 „ein niedriges Schimpfwort" 29 u. zahlreiche andere. Diese lexikographische Methode, nämlich sprachliche Ausdrücke relativ zu z w e i Bezugssystemen bewertend zu kennzeichnen, die sich z.B. auch schon bei Steinbach (1725) und Frisch nachweisen läßt, 30 findet sich in fast allen Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. Geändert haben sich nur die Systeme und die Absichten, mit denen die Bewertungen vorgenommen werden. So entsprechen z.B. (i) im Duden-GWB und im WDG die Stilschichten und (ii) im Duden-GWB die Gebrauchsangaben, 31 im Duden- 6 2 die Nuancierungen 32 und im W D G die Stilfärbungen. 33 Ein zweites Beispiel aus der ersten Phase sei anhand der Praxis Campes erläutert. Dieser führt in der Vorrede 14 Kürzungszeichen ein, deren Bedeutung er ausführlich angibt. 34 Er fügt hinzu: „Wörter, die allgemein üblich sind, und für

darstellungsfunktional synonymen Wörter After, Hintern, Gesäß, Steiß und Sitzer, die symptomfunktional in Opposition stehen. Die Symptomwerte oder Konnotationen gibt er an. In der Gegenwartssprache ist After mit Arsch darstellungsfunktional wohl nicht mehr gleich, denn zum Arsch gehören auch die Backen zum After wohl kaum. 28 Vgl. den Artikel zum Lemma Λ as' unter 3.3.2.1. 29 Vgl. den Artikel zum Lemma ,Canáille'. 30 Steinbach (1734) führt in der praefatio fünf diakritische Zeichen ein, z.B.: £ vocum plebejam, quae in scriptis non adhibitur (« Ausdruck des gemeinen Lebens, der nicht schriftsprachlich ist). Dies wäre eine Kategorie des ersten Bezugssystems. Eine des zweiten Bezugssystems findet sich unter dem Lemma ,,gekriegt' in Steinbach (1725): „vox est vulgaris, honoratiores potius utuntur vox bekommen". Näheres zu den diakritischen Zeichen bei Steinbach in Schröter (1970, 58 ff.). - Bei Frisch ist das erste Bezugssystem implizit in dem Vorbericht enthalten. Ein Beispiel für eine Bewertung relativ zum zweiten System: Unter dem Lemma A as' wird zum Beispiel „Du Raben=Aas" kommentiert: „Wird im Ernst und im Schertz gebraucht, im schlechten reden." 31 Dazu vgl. unter 3.1.3. 32 Duden- 6 2, XI. Aufgezählt werden: s c h e r z h a f t , i r o n i s c h , a b w e r t e n d , n a c h d r ü c k l i c h und v e r h ü l l e n d . 33 Vgl. WDG, 013f. und unter 3.1.3. 34 Campe. Vorrede XXff.; auch solche Kürzungszeichen, allerdings verwendet in deskriptiver Absicht, haben sich bis in die gegenwärtige Lexikographie erhalten. Mackensen-DW, VII, verwendet folgende: „ u = nicht ernsthaft gemeint; η = Ironisch, hämisch gemeint; λ = vorwiegend in gehobener Sprache (Wortschatz der „Gebildeten"); ν = vorwiegend in Alltagssprache (Slang-Wortschatz der „Nichtgebildeten"). Sprach-Brockhaus (1948, V) verwendet u.a.: 0 = scherzhafter Ausdruck; t = veralteter Ausdruck. Für die „Wissensgebiete und Sondersprachen" (VI) werden ikonische Zeichen verwendet.

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jede Schreibart passen, haben gar kein Zeichen". 35 Durch diese Feststellung sind auch diese Wörter - gewissermaßen mit einem „Null-Kürzungszeichen" - bewertet. Campe ist damit der erste Lexikograph der deutschen Sprache, der a l l e Lemmata eines Wörterbuches systematisch mit einer Bewertung in vornehmlich normativer Absicht versieht. Dieses dient nach seiner Auffassung der „ A u s b i l d u n g , R e i n i g u n g u n d F e s t i g u n g " 3 6 der deutschen Sprache. Nicht alle vor das Lemma (bzw. seltener nur vor eine Bedeutungsangabe zu einem Lemma) gesetzten Kürzungszeichen sind „Angaben zum Stil" oder „stilistische Bewertungen", wie die heutigen Lexikographen sagen würden. Einige entsprechen aber diesen Angaben, z.B. die beiden, die von Campe folgendermaßen eingeführt werden: [3]

X „Niedrige, aber deswegen noch nicht verwerfliche Wörter, weil sie in der geringem (scherzenden, spottenden, launigen) Schreibart, und in der Umgangssprache brauchbar sind; z.B. S c h n i c k s c h n a c k , von L e s s i n g ; b e s c h l a b b e r n , von G ö t h e gebraucht. X Niedrige Wörter, die ans Pöbelhafte grenzen, und deren man sich daher, sowol in der Schriftsprache, selbst in der untern, als auch in der bessern Umgangssprache, enthalten sollte; die aber dennoch in Bühnenstücken, wie im gemeinen Leben, wiewohl nur im Munde ungebildeter Personen, vorkommen; z.B. F r e ß s a c k , L a u s e k e r l , R o t z n a s e u.s.w." 37

Ein genaues Verständnis der Beschreibung der Kürzungszeichen ist ohne die Kenntnis der gesamten Sprachauffassung Campes nicht möglich; darauf kann ich hier nicht näher eingehen. 38 Daher nur eine kurze Bemerkung zur Funktion der Kürzungszeichen am Beispiel von „X". Die Bewertung eines Lemmas oder einer Bedeutung eines Lemmas als ans Pöbelhafte grenzend führt zu einer Gebrauchsempfehlung für den Wörterbuchbenutzer: Sowohl in der geschriebenen Sprache (Schriftsprache), und zwar auch in der unteren Schreibart, als auch in der gesprochenen Sprache solcher Personen, die nicht ungebildet sind (bessere Umgangssprache), soll man diese Wörter nicht verwenden, denn sie werden im Alltag und in Bühnenstücken nur von ungebildeten Personen gebraucht. Das Zeichen „X" hat mithin sowohl einen normativen Aspekt (man sollte die ^-Lemmata nicht verwenden) als auch einen deskriptiven (sie werden von bestimmten Personen in bestimmten Situationen verwendet). Wörter, die bei Campe mit „X" gekennzeichnet sind, z.B. Arsch,39 werden in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache manchmal in deskriptiver Absicht z.B. der untersten Stilschicht, die z.B. mit dem Prädikat vulgär gekennzeichnet wird, zugeordnet, z.B. im WDG und im Wahrig-DW (1977); 40 im Duden-GWB ist Arsch mit (derb) bewertet und

35 36 37 38 39 40

Campe, Vorrede XXI. Campe, Vorrede XXII f. Campe, Vorrede XXI. Hinweis dazu bei Henne (1975, 34 ff.). Andere mit „ X " markierten Wörter sind z.B.: Anplautzen, Durchseichen, Dreck, dreckig. Allerdings wird der Ausdruck vulgär im Wahrig-DW (1977) ganz anders erläutert als im WDG. Man vergleiche die beiden folgenden Zitate:

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bei Mackensen-DW hat dieses Lemma das Zeichen „v", d.h. Arsch gehört zum sog. Slang-Wortschatz der „Nichtgebildeten".41 3.1.2

Die unsystematisch-deskriptive Phase: vom ersten Band des Grimm'sehen Wörterbuches bis zur Mitte des 20. Jhs.

Die z w e i t e P h a s e in der Geschichte der lexikographischen Angaben zum Stil beginnt spätestens 1854, dem Erscheinungsjahr des 1. Bandes des Grimm'sehen Wörterbuches, und reicht bis ca. 1960. In der Vorrede schreibt J. Grimm einen Abschnitt „Anstöszige Wörter", der so etwas wie eine „deskriptive Wende" in der Geschichte der lexikographischen Angaben zum Stil darstellt. Hier einige markante Stellen: „Die spräche überhaupt in eine erhabene, edle, trauliche, niedrige und pöbelhafte zu unterscheiden taugt nicht, und Adelung hat damit vielen Wörtern falsche gewichte angehängt. [...] Das Wörterbuch, will es seines namens werth sein, ist nicht da um Wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen. [...] Das Wörterbuch ist kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen. Selbst in der Bibel gebricht es nicht an Wörtern, die bei der feinen gesellschaft verpönt sind."42 Die Praxis, die diesen Anschauungen entspricht, sieht z.B. folgendermaßen aus: [4]

, A R S C H ' [...] In einer groszen anzahl von derbkräftigen, oft sinnreichen und poetisch gewandten redensarten des volks, welche die feine weit scheu abweist, spielt dies wort eine kauptrolle; viele derselben sind so alt, auch unsrer spräche gemein mit andern, dasz sie hier nicht übergangen werden dürfen, das alterthum war natürlich und gerade heraus, heute hält man für anständig, sich nur abgezogner ausdrücke wie der after, der hintere, das gesäsz, der sitzer, die sitztheile oder gar des euphemismus der allerwertheste zu bedienen: must all die garstigen Wörter lindern, aus scheiszkerl schurk, aus arsch mach hintern. GÖTHE 56, 66,

„die Schicht v u l g ä r e r (vulg.) Wörter und Redewendungen, die als ausgesprochen grob empfunden und deshalb im allgemeinen vermieden werden (z.B. ,Fresse'). In gewissen Fällen werden sie auch in der Literatur zur scharfen Charakterisierung einer verächtlichen Einstellung verwendet (z.B. ,verrecken'). Vulgäre Wörter und Redewendungen sind nur in beschränktem U m f a n g in dieses Wörterbuch aufgenommen. O b s z ö n e Wörter, die zur vulgären Schicht gehören, sind im Wörterbuch nicht berücksichtigt." (WDG, 012.) „Zur Vulgärsprache (vulg.) rechnen wir diejenigen Wörter und Wendungen, die sich hauptsächlich auf Nahrungsmittelaufnahme und -ausscheidung sowie auf das Geschlechtliche beziehen oder Vergleiche damit eingehen und gleichzeitig einem gewissen Tabu unterliegen." (Wahrig-DW 1977, Sp. 20.) Man sieht: Das W D G verfährt, was die obszönen Wörter betrifft, normativ, der Wahrig-DW (1977) deskriptiv. 41 Vgl. Anm. 34. Ein brauchbarer Artikel zu diesem Lemma findet sich in Trübners D W . Dieser ist aber nicht synchronisch, sondern wortgeschichtlich orientiert. 42 Grimm (DWB, Vorrede XXXII f.). Im übrigen hat schon Kramer sehr ähnliche Ansichten vertreten, z.B. die, daß das Wörterbuch kein Sittenbuch sei.

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es gibt aber augenblicke, wo der rede noch immer das unverhüllte wort entschlüpfen musz, in manchen redensarten wird es noch jetzt, vordem aber viel öfter, arglos und gleichgültig ausgesprochen. [...].

Man sieht: Auch hier finden sich Bewertungen. Die „redensarten des volks" sind „derbkräftig". Die „feine weit" weist diese Redensarten scheu ab. Dies ist eine brauchbare Charakterisierung, denn sie zeigt, daß die eine Gesellschaftsgruppe sich von der anderen relativ zu anderen Sprechnormen distanziert. Eine typisch Grimm'sche Begründung für die Aufnahme dieser Redensarten ist: Sie sind alt! Daher dürfen sie „hier nicht übergangen werden". Natürlich ist das direkt gegen z.B. Adelung gesagt; man vergleiche in [2]: Die Anspielungen sind „so niedrig, daß man sie hier nicht suchen d a r f ! Man beachte auch die feine Distanzierung und leichte Abwertung in der Beschreibung „heute hält man für anständig, sich nur abgezogener ausdrücke [...] zu bedienen". Aber: „das alterthum war natürlich und gerade heraus". Arsch ist aber auch in der Grimmschen Gegenwart „das unverhüllte wort", das einem Sprecher in gewissen Augenblicken „entschlüpfen musz", und diese Augenblicke sind nicht nur Augenblicke des Volkes. Indirekt sind damit Hintern etc. als verhüllend gekennzeichnet. Im ersten Band des Grimm'sehen Wörterbuches finden sich alle Prädikate - eingearbeitet in solche Kommentare zum S p r a c h g e b r a u c h wie in [4] - , die sich in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache auch finden.43 Relativ zur e r s t e n Phase wird aber „Die spräche überhaupt" nicht festen Einteilungen unterworfen; und verglichen mit der d r i t t e n Phase - wird nicht relativ zu einem „Stilschichtenmodell" kommentiert. 44 Deswegen wird diese Vorgehensweise von mir als „unsystematisch" charakterisiert, was nicht negativ verstanden werden soll. Auch in allen anderen Wörterbüchern, die in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs., und zwar alle mit Blick auf „den Grimm" entstanden sind, finden sich - allerdings relativ selten45 (wohl unter dem Eindruck der Grimm'sehen Auffassungen) - Charakterisierungen zu den Lemmata und Redewendungen, die man heute als A n g a b e n z u m S t i l charakterisieren würde, obwohl in den Einleitungen hierzu meistens nicht ausdrücklich Stellung genommen wird. Solche Wörterbücher sind z.B. Heyne- 2 DW, Sanders-WDS, Weigand-Hirt, Trübners DW, Paul- 6 DW u.a. Auch in diesen Wörterbüchern ist die Praxis im genannten Sinne „unsystematisch". Ich gebe einige Beispiele.

43 Aufgrund der wechselhaften Geschichte des Grimmschen Wörterbuches verändert sich diese Praxis in den späteren Bänden, aber nur im Detail. 44 Vgl. unter 3.1.3. 45 Die Einschätzung „relativ selten" kommt durch einen Vergleich mit Adelung und Campe einerseits und dem WDG und Duden-GWB andererseits zustande. Innerhalb der unten genannten Wörterbücher (vgl. [5] bis [12]) ist dies durchaus unterschiedlich. Die wenigsten Angaben finden sich (wenn ich es richtig einschätze) in Weigand-Hirt. Relativ häufig finden sich Angaben zur S p r a c h s c h i c h t (vgl. V) im Sprachbrockhaus, der überhaupt in mancher Hinsicht eigenwillige lexikographische Wege geht, die z.T. recht originell sind.

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nach Heyne- 2 DW: [5] Arsch' [...] in der Schriftspr. nur in der derbsten Rede vorkommend, in gemeiner mündlicher vielfach durchschlüpfend [...] Bei L u t h e r verhüllende Umkehrung: kucke mir in den s ra [... ] nach Weigand-Hirt: [6] ,Schafskopf [... ] als Scheltwort für einen dummen Menschen [... ] [7] fummeln' [...] woran reiben [...] tasten [...] auch obszön [...] nach Trübners DW: [8] ,pissen' [...] In Deutschland ist zufallig zuerst F. P i s s e .urina' in einem nd. Wb. des 13. Jh. bezeugt. Mitteldeutschland wird z.T. von der lautmalenden Bildung erobert, während obd. Volkssprache bei dem alten derben b r u n z e n [...] bleibt. Als gemeines Wort hat man p i s s e n wohl nicht empfunden, sonst hätte es Luther nicht sechsmal in die Bibelübersetzung gestellt [...]. nach Paul- 6 DW: [9] ,saufen' [...] hatte urspr. keinen negativen Nebensinn [...]. [10] ,Steckenpferd' [...] Heute im positiven Sinne fast völlig durch Hobby ersetzt, [Steckenpferd] fast nur noch für .Marotte' 46 [11] A rsch' [...] Zsstzg [= Zusammensetzung]: In der derben Volksspr. bez. A.[rsch] als Grundwort oft nur [...] eine Person, mit verächtlichem Nebensinn, z.B.: Geiz=A.[rsch], Heul=A.[rsch] [...] [12] A a s ' [...] 1) [...] a) allgem. Fraß, Speise, Futter (mundartl., veralt.): Es fleugt kein Vogel so hoch, er sucht sein A. bei der Erde [Sprachw. zur Demütigung Stolzer ...] b) mundartl. veralt.) Schrot oder Ohs heißt das grobgemahlene Getreide, welches nur einmal in der Mühle aufgeschüttet worden [...] 2) [...] todte thierische Körper; a) veralt.: ohne Nebenbegriff: Das Todten=A.[as] zu verbrennen [...] b) gew. mit dem Nebenbegriff des Abscheus und Ekel Erregenden, der Fäulnis und Verwesung, sinnverwdt. Luder [...] c) Bez. alles Verächtlichen, gem. Schimpfw. wie Luder, zumeist für Weiber [...] d) Wie ähnliche Schimpfw., zumal verkl., als Liebkosung [...] A u c h in den B e i s p i e l e n [5] bis [12] zeigt sich, daß die beiden B e z u g s s y s t e m e , relativ zu d e n e n sprachliche Zeichen v o n den Lexikographen bewertend eingeordnet w e r d e n und die schon in der e r s t e n Phase auftreten, auch in der z w e i t e n P h a s e eine R o l l e in der lexikographischen Praxis spielen. D i e Praxis wird aber k a u m reflektiert; in den Wörterbucheinleitungen dieser Periode wird häufig gar nicht oder allenfalls beiläufig darauf e i n g e g a n g e n . Selbst ein kritischer K o p f w i e Sanders schreibt in der „Anleitung z u m Gebrauch" lediglich „ [ . . . ] nebenbei erwähnt ist das V e r a l t e t e und das M u n d a r t l i c h e " , 4 7 und B e t z geht in seiner Einführung z u m Nachdruck des S a n d e r s - W D S mit keinem Wort auf die stilistischen A n g a b e n ein. In den B e i s p i e l e n [5] bis [12] finden sich f o l g e n d e bewertende Prädikate: derbste Rede, verhüllend, Scheltwort, obszön, derb, gemeines Wort, negativer Nebensinn, im positiven Sinne, derbe Volkssprache, mit verächtlichem Ne46 Was im Paul- 6 DW z.B. als „negativer Nebensinn" oder als „im positiven Sinne" angesprochen wird, erscheint in den neueren Wörterbüchern z.B. als (abwertend), während der sog. positive Sinn sich meistens in den lexikographischen Bedeutungserläuterungen „ v e r s t e c k t " ! 47 Sanders-WDS, VII.

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bensinn, veraltet, ohne Nebenbegriff, mit dem Nebenbegriff des Abscheus und Ekel Erregenden, gemeines Schimpfen, als Liebkosung. Einige dieser Prädikate zeigen - das sei wenigstens nebenbei angemerkt - , wie Bedeutungstheorien in der Praxis der Lexikographie zur Geltung kommen. So ist natürlich der Ausdruck Nebensinn nur aus derjenigen Tradition verständlich, deren essayistischer Vermittler für die germanistische und allgemeine Sprachwissenschaft Erdmann war.48 Die bekannte Einteilung der Wortbedeutung in einen begrifflichen Inhalt, in einen Nebensinn und in einen Gefühlswert oder Stimmungsgehalt stammt allerdings aus der Philosophie bzw. Psychologie und geht auf die verschiedenen Versuche zurück, die psychischen Phänomene einzuteilen. Namen wie Mally, Meinong, Franz von Brentano, Kant u.a. wären hier zu erwähnen. Das bedeutet: Der negative Nebensinn z.B. wird von Paul als Teil der Wortbedeutung aufgefaßt, während in der d r i t t e n Phase z.B. (abwertend) als Stilfärbung des Zeichens (WDG) oder als Gebrauchsangabe für das Wort (Duden-GWB) aufgefaßt werden. Als Teil der Wortbedeutung kannte man damals auch einen positiven Nebensinn. Aber eine Stilfärbung oder Gebrauchsangabe wie z.B. (positiv bewertend) kennt man in der d r i t t e n Phase der Angaben zum Stil interessanterweise nicht (vgl. dazu 3.3.1 u. 3.3.2.3). 3.1.3 Die systematisch-deskriptive Phase: vom Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache bis heute Das WDG ist das erste Wörterbuch der deutschen Sprache, das mit deskriptiver Absicht den gesamten kodifizierten Wortschatz (ca. 100000 Wörter) stilistisch bewertet.49 Nach dem Vorbild des vierbändigen russischen Wörterbuches von 1935-1940 unter der Redaktion von Usakov hat vor allem Ruth Klappenbach nach einer Anregung von W. Steinitz ein System der Stilschichten und ein System der Stilfärbungen entworfen. 50 Dieses wird im Vorwort des WDG erklärt und hat folgende Form:

48 Vgl. Erdmann (1966, 103if.). 49 Vgl. Klappenbach/Klappenbach (1978, 26). 50 Vgl. ebd. 26. [Der restliche Inhalt dieser Anmerkung wird im Anschluß an diesen Beitrag wiedergegeben; die Hrsgg.]

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Stilschichten: 51 ', dichterisch empfangen gehoben

erhalten

normalsprachlich

bekommen 1 ;

; umgangsspr.

abieben

Fittich

Angesicht

entschlafen

Schwinge

Antlitz

sterben

Flügel

Gesicht

kriegen

salopp-umgangssprachlich

abkratzen

vulgär

krepieren verrecken

Fresse

Diese vier Stilschichten werden im einzelnen beschrieben: Die normalsprachlichen Wörter erhalten keine Kennzeichnung und sind damit auch bewertet. Zu diesen Stilschichten treten folgende elf Stilfärbungen: scherzhaft (z.B. Adamskostüm), vertraulich (z.B. Alterchen), verhüllend (z.B. abberufen werden für sterben), altertümelnd (z.B. alldieweil), gespreizt (z.B. Wendungen mit beehren), papierdeutsch (z.B. aktenkundig), übertrieben (z.B. abscheulich reich sein), abwertend (z.B. Ablaßkrämer), spöttisch (z.B. Amtsmiene), Schimpfwort (z.B. Aas) und derb (z.B. abkratzen für sterben). Einige dieser Prädikate für Stilfärbungen 52

werden genauer erklärt. Dieses doppelte System für stilistische Bewertungen ist nun in zahlreiche deutsche Wörterbücher, die nach dem 1. Bd. des WDG erschienen sind, in modifizierter Form übernommen worden, z.B. in das Duden- 6 2 oder in den Duden-

51 Vgl. WDG, Vorwort, 011 ff. In einer anderen Aufl., als der von mir benutzten, ist die letzte Spalte mit anderen Beispielen belegt, nämlich: gehoben: Konversation; normalsprachlich.· Unterhaltung, Gespräch; umgangssprachlich: Schwätzchen, Plausch\ salopp-umgangssprachlich: Palaver; vgl. Klappenbach/Klappenbach (1978, 28). 52 Lerchner (1980) schreibt in einer Rezension des WDG zu den Stilschichten und Stilfärbungen: „Die Adressatenbestimmung ist zwar zugegebenermaßen noch relativ weit entfernt von den präzisen Daten einer neuerdings zur Forderung erhobenen .Pragmatik der Lexikographie' 5 ' [5) H. Henne, Was die Valenzlexikographie bedenken sollte. Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12. 1977, S. 5-18]; aber da bisher eine empirisch fundierte Soziologie des Wörterbuchbenutzers als Voraussetzung fur die anzustrebende Typologie kommunikativer Handlungssituationen und ihnen entsprechender Wörterbucheintragungen nicht existiert, 6 ' [6) Vgl. H. E. Wiegand, Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie, Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 12. 1977, S. 62ff.] dürfte sie in grundsätzlich anderer Weise kaum möglich gewesen sein. Ganz abgesehen davon erfüllt übrigens die stilistische Wertung der Einzelwörter, die das W D G als erstes einsprachiges deutsches Wörterbuch vollständig und konsequent notiert, zwar einigermaßen undifferenziert und ausschließlich empirisch begründet, jedoch praktischen Zwecken gleichwohl genügend, p r a g m a t i s c h e A n s p r ü c h e [Hervorhebung von mir] im Rahmen des derzeit Möglichen und erweist damit ein weiteres Mal die wissenschaftliche Voraussicht seiner Begründer." (693 f.)

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GWB. Rekonstruiert man die Ausführungen in letzteren, ergibt sich folgendes „S tilschichtenmodell" : 53 Stilschichten

Erläuterungen nach Duden-GWB

Lemmabeispiele

gepflegte Ausdrucksweise; wirkt in der alltäglichen Verständigung feierlich oder gespreizt Wörter, die vorzugsweise in der Dichtung vorkommen und heute fast durchgängig veraltet sind, oder altertümelnd gebraucht werden

Antlitz, gen

bildungssprachlich (bildungsspr.)

gebildete Ausdrucksweise; Voraussetzung: gewisse Kenntnisse und gute Schulbildung; meistens Fremdwörter, die weder zur Fach- noch zur Umgangssprache gehören

Affront, eruieren

normalsprachliche Wörter ( - )

die Wörter sind nicht gekennzeichnet, bilden den überwiegenden Bestandteil des Wortschatzes und sind im Stilwert neutral

Aal, arm,

gehobene (geh.)

1.

S

dichterischef P (dichter.) J

,

rache

sich

Haupt Aar, beglänzen, Odem

Umgangssprache (ugs.)

ist üblich im alltäglichen, besonders im flitzen, familiär-vertraulichen, mündlichen Vergewieft kehr, wird in Briefen verwendet, auch in der Öffentlichkeit anzutreffen, hat Eingang in die Literatur gefunden

2 ω

(salopp)

Wörter, die einer burschikosen, z.T. recht nachlässigen Ausdrucksweise angehören

anpfeifen, leuchter,

Ü S 2

(derb)

Wörter, die einer groben und gewöhnlichen Ausdrucksweise angehören

Arsch, Fresse

(vulgär)

Wörter, die zu einer niedrigen und obszönen Ausdrucksweise, zur Gossensprache gehören

Arschloch, vögeln

cd ? £ Û. υ gc le υ

U



-fi _c ω M

.ü Mo, XI o " auch diakritisch von den anderen Kommentarausdrücken unterschieden ist, 118 gibt an, daß das lexikalisierte Sprachzeichen Aas (als Langue-Einheit) in der Markierungsdimension „Bewertung" pragmatisch markiert ist; steht unmittelbar vor den semantischen Angaben zu den drei Bezugsbereichen a), b) und c). Durch diese Position (und natürlich auf der Basis der Kenntnis der Bedeutung von bewertend) wird dem Wörterbuchbenutzer mitgeteilt, daß, wenn Aas entweder in einem Text referierend oder prädizierend verwendet ist oder bezugnehmend von ihm verwendet wird, stets zugleich der Bezugsgegenstand (aus dem Bezugsbereich a), b) oder c)) bewertet wird; anders ausgedrückt: Es wird zunächst mitgeteilt, daß Aas2 ein evaluativer Ausdruck ist, d.h.: Es wird ein Wissen II mitgeteilt, das darin besteht, daß Aas2 nur verwendet wird, wenn bestimmte kommunikative Bedingungen erfüllt sind (denn nicht jeder nimmt in jeder beliebigen Situation auf jedes beliebige X mit Aas2 Bezug). Da die pragmatische Markierung offen ist, kann zum isolierten Lemma nicht mehr gesagt werden. Es muß aber mehr pragmatische Information gegeben werden, wenn lexikographisch erreicht werden soll, daß vorliegende Verwendungen von Aas2 pragmatisch angemessen interpretiert werden sollen bzw. daß Aas2 pragmatisch angemessen verwendet wird. Dies wird mit den Kommentarausdrücken in runden Klammern „( )" versucht, z.B. (abwertend), die sich auf die Verwendung von Aas2 in usuellen Texten für Aas2 beziehen, mithin auf parole-Ausschnitte. Daher stehen diese Kommentarausdrücke als Angaben zum Gebrauch von Aas in usuellen Texten für Aas2 jeweils vor einem Äußerungs-Beispiel, 1 1 9 in dem Aas verwendet ist. Das erste Beispiel unter Zu a) ist folgendermaßen k o n s t r u i e r t : 1 2 0 Durch die Spezifizierung des Bezugsbereichs a) mit der Angabe z.B. v o n d e r N a c h b a r i n 118Es ist natürlich gleichgültig, w e l c h e Kommentarausdrücke w i e diakritisch ausgezeichnet sind. Wichtig ist nur, daß die Kommentarausdrücke, die von gleichem T y p sind, mit den gleichen Diakritika ausgezeichnet sind, und daß die, die von anderem Typ sind, diakritisch einheitlich unterschieden sind. 119Ich unterscheide Ä u ß e r u n g s b e i s p i e l e von K o l l o k a t i o n s b e i s p i e l e n . schiedliche Funktion(en).

Sie haben unter-

120 Eine Theorie des lexikographischen Beispiels gibt es bisher nicht. Hinweise dazu finden sich bei Reichmann et al. (1981). D i e s e betreffen allerdings vornehmlich den semantischen Aspekt von Beispielen. Natürlich bin ich für möglichst authentische Beispiele (im Sinne von Henne 1977a). Aber tausende von authentischen und mit Belegstellenangaben versehene Beispielen in den nhd. Wörterbüchern sind vollkommen nichtssagend (vgl. z.B. meinen Hinweis zu [81] aus dem W D G ) . N i c h t s s a g e n d e A u t h e n t i z i t ä t ist - so meine ich - kein ansprechendes Motto für den Umgang mit lexikographischen Beispielen. In manchen Fällen muß man auch einmal ein Beispiel k o n s t r u i e r e n ! Corpus-Treue ist ohne Zweifel eine der lexikographischen Tugenden; der Mut zur eigenen Kompetenz ist aber notwendig, denn sie spielt ja ohnehin bei der Corpus-Auswertung eine nicht zu unterschätzende Rolle. - Außerdem ist natürlich mein „Beispiel" ein Beispiel für ein Beispiel und steht nicht im Wörterbuch. Mehr Wissen zu den lexikographischen Beispielen ist, wie schon verschiedentlich angedeutet wurde, unbedingt notwendig.

394

Germanistische Linguistik 3 ^ / 1 9 7 9 , 139-271

ist festgelegt, daß sich das nachfolgende Beispiel auf eine Nachbarin bezieht, die (vom Wörterbuchbenutzer) als abwesend zu denken ist. Der erste Teil des Äußerungsbeispiels ist bezogen auf Handlungen dieser Nachbarin: Jeden Samstag diesen Krach mit dem Rasenmäher! Anschließend ist in der Äußerung das Handeln der Nachbarin mit dem evaluativen Adjektiv gemein negativ bewertet: Das ist doch gemein. Sodann wird unterstellt, daß die Nachbarin absichtlich jeden Samstag mit dem Rasenmäher Krach macht. Das bedeutet: Es wird in der Äußerung unterstellt, daß die Aktivitäten der Nachbarin zwar als Rasenmähen bezeichnet werden können, aber in der sprachlichen Fassung des Äußerungsbeispiels wird die Aktivität des Rasenmähers u n t e r e i n e r s p e z i f i s c h e n B e s c h r e i b u n g 1 2 1 als Handlung des Krachmachens mit dem Rasenmäher interpretiert, was offensichtlich etwas anderes ist als Rasenmähen. Erst dann wird mit diesem Aas auf die Nachbarin Bezug genommen. Der usuelle Text für Aas2, d.h.: das Äußerungsbeispiel, läßt daher nur e i n e kohärente Interpretation zu. 122 Aas ist in diesem Beispiel a b w e r t e n d v e r w e n d e t . Das Beispiel zeigt mithin gerade das, was unter 3.3.2.2 über bestimmte evaluative Ausdrücke und deren Verwendung gesagt wurde, nämlich, daß die abwertende Bezugnahme mit Aas a n h a n d einer negativ bewerteten Handlung der Nachbarin zustande kommt. Diese lexikographische Praxis wird damit m.E. einerseits der Langue und andererseits dem Sprachgebrauch, hier dem bewertenden Sprachhandeln, wenigstens annäherungsweise gerecht. Der pragmatische Kommentarausdruck (bewertend-S*) steht in (i) vor einer ausgewählten Anzahl typischer Syntagmen (Kollokationen) mit Aas, die alle von der Form sind ADJEKTIV Aas\ dabei gilt die Bedingung, daß für die Variable ADJ. entweder evaluative Adjektive eingesetzt werden können, wie z.B. süß oder gemein, oder aber - und das zeigt eine spezifische Eigenschaft von evaluativen Ausdrücken, die eine offene pragmatische Markierung haben, - eingesetzte Adjektive, die auch eine deskriptive Bedeutung haben, wie z.B. klein oder arm in den Syntagmen kleines Aas oder armes Aas, als e v a l u a t i v v e r w e n d e t interpretiert werden. Welche Bedeutungstendenz - ob positiv, negativ oder ambivalent - mit der Verbindung dieser Syntagmen zum Ausdruck gebracht ist (bzw.

121 Einer Aktivität von irgend jemandem muß qua Interpretation Intentionalität unterstellt werden, wenn diese Aktivität als eine bestimmte Handlung vom Interpreten verstanden werden soll. D.h.: Man erhält die Satzform: Der Interpret A interpretiert (etwas) χ als Handlung y. Für je k a n n (muß aber nicht) auch ein Ausdruck eingesetzt werden, mit dem man sich auf eine bestimmte Handlung ht beziehen kann (z.B. das Rasenmähen)\ fur y m u ß ein Ausdruck eingesetzt werden, mit dem man sich auf eine Handlung h 2 beziehen kann. Für das Beispiel ergibt sich: A interpretiert das Rasenmähen als Krachmachen mit dem Rasenmäher; hier wird demnach eine Handlung h, als eine Handlung h 2 interpretiert; oder: unter einer spezifischen Beschreibung gilt h 2 . Vergleiche zu dieser Auffassung u.a. Keller (1977a, 8ff.); von Wright (1974); Anscombe (1957). 122 Ich verwende kohärent und Kohärenz (*1979b, 238, Anm. 10).

als Interpretationsprädikate;

vgl. dazu Wiegand

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

395

zum Ausdruck kommt), 123 ist determiniert von den spezifischen Bedingungen der jeweiligen kommunikativen Situation, und gerade dies soll mit dem Kommentarausdruck (bewertend-S*) ausgesagt werden (vgl. auch unter 3.3.1). - Nach der Aufzählung der Kollokationen mit Aas unter Zu a) in (i) wird mittels Äußerungsbeispielen gezeigt, wie einige der aufgeführten Syntagmen mit Aas bewertend verwendet werden. Dabei heißt der Kommentarausdruck (ambivalentbewert.) soviel wie (aus extrakommunikativer Perspektive unentscheidbar) schwankend zwischen positiver und negativer Bewertung. Es gilt die Bedingung, daß (ambivalent-bewert.) nur angewendet wird, wenn beide Bewertungstendenzen im Äußerungsbeispiel zum Ausdruck gebracht sind und wenn das Syntagma mit Aas zu der Interpretation, daß beide Bewertungstendenzen zum Ausdruck gebracht sind, einen Beitrag liefert. Für das Beispiel ,JVur Hanna, das raffinierte Aas, hat der Lehrer als einzige beim Spicken nicht erwischt" unter Zu a) in (i) ist diese Bedingung erfüllt, was sich u.a. darin zeigt, daß die Interpretation sich entschieden ändert, wenn man die Apposition, das raffinierte Aas, eliminiert. 124 Das, was mit diesem Äußerungsbeispiel zum Ausdruck gebracht wird, läßt sich z.B. so interpretieren: einerseits eine gewisse Bewunderung (oder: Anerkennung) dafür (oder: für den Sachverhalt), daß Hanna, die Mitschülerin, die einzige war, die sich vom Lehrer bei Spicken nicht hat erwischen lassen; dies wäre der positive Aspekt. Andererseits aber ein gewisser Ärger (oder: Neid) darüber, daß gerade dies der Fall war; dies wäre der negative Aspekt. Eine ähnliche evaluative Ambivalenz wird in dem Äußerungsbeispiel unter Zu b) in (i) zum Ausdruck gebracht, das sich auf die Maus bezieht: Einerseits eine gewisse Bewunderung (oder: Anerkennung) der Schlauheit der Maus, andererseits auch Ärger darüber, daß sie nicht in die Falle gegangen ist. In diesen beiden Interpretationen werden nun allerdings nicht die isolierbaren Syntagmen raffiniertes Aas bzw. schlaues Aas interpretiert, sondern das g e s a m t e Äußerungsbeispiel, d.h.: Die interpretative Charakterisierung der evaluativen Ambivalenz muß als eine Eigenschaft des gesamten Äußerungsbeispiels aufgefaßt werden. - Hier läßt sich nun eine weitgehende Überlegung anschließen. Ich hatte festgestellt, daß der Kommentarausdruck (ambivalent-bewert.) zu verstehen ist wie schwankend zwischen positiver und negativer Bewertung. In diesem Augenblick ist nichts Inhaltliches darüber ausgesagt, welche Art von positiver bzw. negativer Bewertung vorliegt; daher lassen sich positiv(er) und negativ(er) als Indices von Variablen für evaluative Ausdrücke uminterpretieren, so daß sich z.B. ergibt: schwankend zwischen einer Bewertung, die mit dem Ausdruck Apos und Aneg charakterisiert werden kann.

123 Zur Unterscheidung der Prädikate (i) zum Ausdruck bringen und (ii) zum Ausdruck kommen vgl. Keller (1977, 15f.); (i) wird terminologisch verwendet, wenn man sich auf das i n t e n t i o n a l e Zum-Ausdruck-bringen einer Sprecherhaltung bezieht, und (ii), wenn es sich um ein n i c h t i n t e n t i o n a l e s Zum-Ausdruck-kommen einer Sprecherhaltung handelt, was natürlich heißt, daß (i) und (ii) Interpretationsprädikate sind. - Die beiden Prädikate finden sich übrigens bereits bei Schütz (1974). 124 Dies unterscheidet m.E. dieses Beispiel von dem Beispiel [a] in der Anm. 101.

396

Germanistische Linguistik 3-4/1979, 139-271

Den Bereich ( B p o . s ) , über dem die Variable Apos operiert, bilden evaluative Ausdrücke, die erstens in der Markierungsdimension der Bewertung positiv markiert sind und die zweitens geeignet sind, zum Ausdruck gebrachte Sprecherhaltungen, die wertend sind, zu charakterisieren. In den Bereich der Ausdrücke, die für Apa eingesetzt werden können, gehören z.B. die folgenden Ausdrücke: bewundernd, anerkennend, billigend, freundlich, lobend u.a. Entsprechend bilden den Bereich (B neg ), über dem die Variable Aneg operiert, solche evaluativen Ausdrükke, die erstens in der Markierungsdimension der Bewertung negativ markiert sind und die zweitens geeignet sind, zum Ausdruck gebrachte Sprecherhaltungen, die wertend sind, zu charakterisieren. In diesen Bereich gehören z.B.: nei1 disch, verärgert, empört, kränkend, arrogant, kritisierend, herablassend u.a. Aus den beiden Bereichen lassen sich dann Ausdrücke auswählen, die man als pragmatische Kommentarausdrücke für denjenigen Teil einer pragmatischen Kommentarsprache reservieren kann, die sich auf zum Ausdruck gebrachte Sprecherhaltungen, die keine sog. propositionalen Einstellungen sind, in l e x i k o g r a p h i s c h e n B e i s p i e l e n beziehen. Dabei ist dieser Teil der Kommentarsprache mit dem, der z.B. die Kommentarsprache (abwertend) und (ambivalentbewert.) enthält, sytematisierbar verklammert: Wird z.B. (ambivalent-bewert.) angegeben, dann muß die inhaltliche Spezifizierung aus einem Paar von Ausdrücken bestehen mit der Bedingung, daß ein Ausdruck zu B pos und der andere zu B neg gehört, so daß sich z.B. ergibt: (ambivalent-bewert.: bewundernd u. verärgert). So könnte man z.B. unter Zu a) in (i) angeben: „z.B. v o n e i n e r M i t s c h ü l e r i n (ambivalent-bewert.: bewundernd u. verärgert): Nur Hanna, das raffinierte Α., hat der Lehrer als einzige beim Spicken nicht erwischt." Ich habe dies in (i) deswegen nicht vorgeschlagen, weil solche Angaben in höherem Grade fragwürdig 126 sind als die Charakterisierung mit Kommentarausdrücken wie z.B. (ambivalent-bewert.). Außerdem scheinen hier die textsortenspezifischen Grenzen eines Gebrauchswörterbuchs in der Art des Duden-GWB überschritten zu sein. Auf die hier angedeutete Beschreibungsmöglichkeit komme ich unter 3.3.3 kurz zurück. Der Kommentarausdruck (abwertend als Schimpfwort) scheint zunächst in dem Sinne redundant zu sein, daß jedes Schimpfwort bzw. jede Verwendung eines Ausdruckes als Schimpfwort ohnehin abwertend ist; das ist aber nicht immer der Fall. Ich habe bisher die Gebrauchsangaben (Schimpfwort), (als Schimpfwort), (auch als Schimpfwort), (oft als Schimpfwort) 127 in nhd. Wörterbüchern

125 Daß zum Ausdruck gebrachte Sprecherhaltungen wertend sind (bzw. sein sollen), ist eine sehr unspezifische Redeweise, die ich aber hier nicht präzisieren kann. 126 Sie sind im höheren Grade fragwürdig, weil der Interpretationsspielraum u.U. sehr weit ist. 127 Wenn hinter diesen vier unterschiedlichen Angaben vom Typ (A), (als A), (auch als A), (oft als A), die mit unterschiedlichem A in der lexikographischen Beschreibungspraxis vorliegen, systematische Unterscheidungen verbunden sein sollen, setzt dies ein Corpus oder eine Kartei voraus, die z.B. Frequenzaussagen erlaubt, so daß erklärt werden könnte, wie z.B. oft als A zu

Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern

397

nicht näher analysiert und will dies auch hier nicht in ausführlicher Form nachholen. 128 Daher nur folgende Bemerkung: Eine Angabe, die das Wort Schimpfwort enthält, ist ohne Zweifel notwendig. Die Frage ist nur, wie sie aufzufassen ist. Von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, wie man in der lexikographischen Beschreibungspraxis mit den verschiedenen Angaben, die den Ausdruck Schimpfwort enthalten, umgeht. Zunächst muß auf den einigermaßen problematischen Sachverhalt aufmerksam gemacht werden, daß häufig allein die Charakterisierung eines Lemmas als Schimpfwort zur Folge hat, daß eine separierbare (zweite, dritte, ...) Bedeutung dieses Lemmas angesetzt wird, wie z.B. in [7]. 129 - Ein Schimpfwort scheint ein Wort zu sein, das verwendet werden kann, um etwas oder jemanden zu beschimpfen; das bedeutet etwa: Die Klasse der Schimpfwörter ist dadurch bestimmt, daß sie aus solchen Wörtern besteht, die in Äußerungen verwendet werden können, mit denen die sprachliche Handlung des Beschimpfens vollzogen wird. Diese einfache Überlegung führt aber zu einer ganzen Reihe von Fragen, z.B.: Wieso wird dann z.B. (Fragewort) nicht als Gebrauchsangabe verwendet? 130 Was ist der Grund, daß gerade die Schimpfwörter einen Namen haben, der sie hinsichtlich eines Handlungsmusters (z.B. JEMANDEN / ETWAS BESCHIMPFEN) auszeichnet? Lassen sich genuine Schimpfwörter von solchen Wörtern unterscheiden, die nur zum Schimpfen verwendet werden? Genuine Schimpfwörter könnten z.B. solche sein, die stets, wenn sie verwendet werden, diejenige sprachliche Äußerung, in der sie verwendet werden, so determinieren, daß (automatisch) mit dem Vollzug der Äußerung die Handlung des Beschimpfens vollzogen wird. M.E. gibt es genuine Schimpfwörter in diesem Sinne nicht; allerdings gibt es Schimpfwörter; aber das sind eben solche Wörter, die häufig (oft, meistens) als Schimpfwörter (d.h.: zur Beschimpfung) verwendet werden; das bedeutet aber noch nicht, daß sie stets so verwendet werden müssen ! Wenn mithin das Wort Schimpfwort als Kommentarausdruck verwendet wird, dann nicht als Kommentarausdruck für eine Markierungsdimension (also nicht

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428

Germanistische Linguistik 3-^1/1979, 139-271

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(2) (a) Gemäß Zeugenaussagen (b) Gerüchten nach (c) Entgegen seiner Ankündigung

Die Satzposition links der Klammer hat verschiedene generische Namen, z.B. Adverbial (ADV). Eine in Termen einer Satzsyntax vorgetragene vollständige K l a s s i f i k a t i o n der ADV des Deutschen liegt nicht vor. Es gibt nur verschiedene T y p o l o g i e n , z.B. die Konstruktionstypologie, von der Bartsch (1972) ausgeht. Diese hat sich als brauchbar erwiesen (vgl. auch Lang 1977, 133). Unterschieden werden: S ADV, relationale, graduierende und modale ADV. In (1) (a)-(c) liegt der Typ der S A D V vor; die ADV in (a)-(c) können - j e nach Interpretation - entweder zu den S A D V oder zu einem anderen Typ gerechnet werden. Einen brauchbaren Vorschlag zur Subkategorisierung der S A D V kenne ich nicht. Bartschs Vorschlag ist mißlungen (vgl. dazu Lang 1977; Lang/Steinitz 1976, 1978). Die Einteilung einiger Modalpartikel (= Satzadverbien) bei Clément/Thümmel in sechs Gruppen (vgl. 51, 56, 61, 65, 68, 73) ist nicht stichhaltig, da die Distributionsangaben nicht stimmen. Daß die Subkategorisierung der S A D V relativ große Schwierigkeiten macht, hängt u.a. damit zusammen, daß die lexikalische Semantik der Sadv relativ unerforscht ist. In (1) (a)-(c) ist die satzadverbiale Position durch Adverbien belegt, in (2) (a)-(c) nicht. Unter Adverbien verstehe ich unflektierbare Wörter, die sich von anderen Unflektierbaren nach satzsyntaktischen Kriterien abgrenzen lassen (vgl. Grundzüge 1981, 684ff.) und v o r n e h m l i c h als ADV vorkommen, so daß für Sadv folgende Charakteristik gelten soll: Ein Sadv ist jedes Adverb, das als ein ADV vorkommen kann, welches eine Interpretation als S A D V zuläßt. Auf jedes Adverb der Liste im Anhang trifft diese Charakteristik zu. Daß zahlreiche Adverbien dieser Liste auch in anderen Positionen vorkommen können, ist klar, hier aber nicht von Bedeutung. Sadv ist mithin ein Terminus, den ich verwende, um eine bestimmte Unterart der Wortart Adverb zu bezeichnen. Für die lexikographische Beschreibung von Sadv sind folgende Eigenschaften von Sadv bzw. S A D V von Interesse: Sadv sind nicht flektierbar, nicht durch Suffigierung steigerbar (kontrovers ist hier wahrscheinlich; vgl. Admoni 1970, 201 mit Gerstenkorn 1976, 224), z.T. lexikalisch steigerbar (z.B. ganz gewiß, sehr wahrscheinlich) und nicht durch gerade ein spezielles Ableitungssuffix aus Adjektiven oder Partizipien erzeugbar; allerdings gibt es ein Wortbildungsmuster, nach dem nur Sadv gebildet werden (Adj. l-er-l -weise). Semantisch gesehen, sind Sadv Ausdrücke für Sprechereinstellungen. - S A D V sind keine Satzglieder im traditionellen Sinn (weder erfragbar noch durch Proformen ersetzbar). S A D V sind syntaktisch wahrscheinlich am günstigsten als Satzoperatoren im kategorialgrammatischen Sinne zu interpretieren (vgl. Lang 1979, 201). Wichtig für die Lexikographie ist aus dem syntaktischen Bereich noch die sog. Nichtnegierbar-

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

435

keitsthese (von der es allerdings zahlreiche Ausnahmen gibt): nicht kann im gleichen Satz nicht unmittelbar links von SADV vorkommen, wenn nicht kontrastierender Gebrauch vorliegt (Links-Nichtnegierbarkeit). Daß die Satzsemantik für die Lexikographie wichtig ist, glaube ich nicht. Eher die Pragmatik, z.B.: Sadv können als SADV nicht performativ verwendet werden (vgl. Lang/Steinitz 1978). Mit SADV macht der Sprecher nicht Behauptungen über Behauptungen (wie Gerstenkorn 1976, 13 behauptet), sondern SADV sind Kommentare zu dem, worüber geredet wird (vgl. Lang 1979, 212f.). Sadv können auch nicht-satzadverbial verwendet werden, z.B. als selbständige Nachkommentare zu eigenen Äußerungen.

3

3.1

Lexikalisch-semantische Analyse einer Gruppe von Satzadverbien Materialausschnitt

Voruntersuchungen zur lexikalischen Semantik von Sadv der dt. Gegenwartssprache lassen mich vermuten, daß es für die Analyse günstig ist, eine Gruppe (Gi) von Sadv anhand der folgenden Bestimmung auszugliedern: Zu G] zählen alle Sadv, deren lexikalische Bedeutung einem Sprecher, der sie kennt, erlaubt, in Satzäußerungen einen äußerungsinternen Kommentar abzugeben, der - Sperrung bewußt lax formuliert - e t w a s m i t d e m G e w i ß h e i t s g r a d z u t u n h a t , mit dem das grammatische Prädikat (= PRÄD) derjenigen Bezugskonstituente auf ein Referenzobjekt zutrifft oder nicht, auf die sich das satzadverbial gebrauchte Sadv syntaktisch bezieht. Aufgrund lexikalisch-semantischer Unterschiede läßt sich Gi in drei Untergruppen aufgliedern, die ich hier nur charakterisieren will, indem ich einige Sadv aufzähle: Gi ι : sicher, bestimmt, gewiß, wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, möglicherweise, eventuell, vielleicht, schwerlich, kaum, ... G12: bekanntlich, offensichtlich, offenbar, naturgemäß, natürlich, evidentermaßen, selbstverständlich, selbstverständlicherweise, nachweislich, nachgewiesenermaßen, erfahrungsgemäß, augenscheinlich, angeblich, bekanntermaßen, anscheinend, ... Gi 3: tatsächlich, wirklich, ...

Die Analyse von G u wird in 3.3 ausschnittsweise vorgeführt. In 3.2 werden stark verkürzte Vorfeldüberlegungen angestellt. 3.2

Proposition, Sachverhalt, Einstellung

Der Begriff der Proposition wird in der Semantik benötigt (vgl. z.B. Kutschera 1975, 94ff.; Wunderlich 1976, 69ff„ Wiegand *1979, 217ff.). Er ist aber sehr unterschiedlich definiert; man kann daher Proposition nicht einfach verwenden und damit blauäugig so tun, als sei klar, was Propositionen sind. Das zeigt be-

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Wolfgang Mentrup (Hrsg.): Konzepte zur Lexikographie. 1982, 1 0 3 - 1 3 2

reits ein Vergleich willkürlich herausgegriffener Beispiele: Nach Searle (1971, 49) drücken Sätze keine Propositionen aus, sondern Sprecher, indem sie Sätze äußern. Nach Lang (1981, 295 f.) drücken gerade Sätze Propositionen aus; so drücken alle Sätze (1) und (2) nach Lang die Proposition ρ = „Peter kommt" aus. Nach Searle drückt ein Sprecher A, wenn er z.B. (1) (a) oder (1) (b) äußert auch wenn er mit Peter auf ein und dasselbe Referenzobjekt referiert - nicht die gleiche Proposition aus, denn in (1) (a) ist der Prädikatausdruck (d.h.: der Ausdruck, der prädizierend verwendet ist) kommt wahrscheinlich, in (1) (b) dagegen kommt bedauerlicherweise (vgl. Searle 1971, 38); die ausgedrückte Proposition ist aber nur gleich, wenn Referenz und Prädikation gleich sind (vgl. Searle 1971,48). Während Lang (1981 im Anschluß an Bierwisch 1980) gerade dafür argumentiert, daß die Bedeutung der SADV nicht zum propositionalen Teil der Satzbedeutungen gehört, ist nach Searle die Bedeutung der SADV ein Teil der Prädikation und damit Teil des propositionalen Teils des Sprechaktes! Aus Gründen, die lediglich durch die Zwecke dieses Beitrages bestimmt sind, werde ich mich zunächst an Searle halten, weil man von seiner Redeweise leichter zu einer anderen (wie ich hoffe einfacheren) übergehen kann, von der ich annehme, daß sie für die Lexikographie insofern brauchbar ist, als sich aus ihr ein semantisches Explikationsvokabular ausfiltern läßt, das z.B. für die lexikographischen Bedeutungserläuterungen der Sadv benötigt wird. Searles 4. Regel „für den Gebrauch eines jeden Prädikationsmittels Ρ (um Ρ von einem Gegenstand X zu prädizieren)" lautet: „Die Äußerung von Ρ gilt als Zur-Sprache-Bringen der Frage des Zutreffens oder Nichtzutreffens von Ρ auf X (in einer bestimmten illokutionären Form [...]" (Searle 1971, 194f.). Ρ ist bei Searle syntaktisch beliebig komplex. Hier ist nur eine Unterklasse P¡ von Ρ von Interesse, für die gilt: In P¡ kommt ein PRÄD und ein SADV, belegt mit einem Sadv aus GM vor, wobei alle korrekten, kon- und diskontinuierlichen syntaktischen Abfolgemöglichkeiten von PRÄD und SADV in P¡ zugelassen sind, und PRÄD in der oder als die Bezugskonstituente (im Sinne von Altmann 1978) von SADV figuriert. Für den Gebrauch von P¡, um P¡ von X zu prädizieren, läßt sich nun folgende Regelformulierung geben: Die Äußerung von P¡ gilt als Zur-Sprache-Bringen der Frage, mit welchem Gewißheitsgrad PRÄD auf X zutrifft oder nicht. Am Beispiel (1) (a) erläutert: Wenn A (1) (a) als Feststellung äußert und im Äußerungsvollzug mit Peter erfolgreich auf X, einen Peter, referiert sowie wahrscheinlich kommt (= P¡) von X prädiziert, dann gilt das Äußern von P¡ als ZurSprache-Bringen der Frage, mit welchem Gewißheitsgrad kommt (= PRÄD) auf X zutrifft, wobei die Frage des Zutreffens oder Nichtzutreffens im Falle von (affirmativen oder negativen) Feststellungen von A stets als bereits vorentschiedene zur Sprache gebracht wird. In (1) (a) können für wahrscheinlich alle anderen Sadv aus Gi.i eingesetzt werden, ohne daß sich die soeben gegebene Charakteristik ändert. Die lexika-

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

437

lisch-semantische Analyse wird also die Unterschiede im Gewißheitsgrad zu erarbeiten haben, die mit den Sadv dieser Gruppe ausgedrückt werden können. Nach Searle läßt sich sagen: Wenn A (1) (a) äußert, dann drückt A im Vollzug des propositionalen Aktes einen propositionalen Gehalt aus, den man mit daß Peter wahrscheinlich kommt nennen kann. Diesen ausgedrückten (und nennbaren) propositionalen Gehalt nenne ich Ä u ß e r u n g s i n h a l t . Jeder Äußerungsinhalt ist (nach genau angebbaren Verfahrensregeln, die sich auf die den Äußerungsinhalt nennenden Ausdrücke beziehen) in zwei semantische Komponenten dekomponierbar, den d a r g e s t e l l t e n S a c h v e r h a l t und die a u s g e d r ü c k t e S p r e c h e r e i n s t e l l u n g . Durch den dargestellten Sachverhalt identifiziert der Sprecher einen entsprechenden n i c h t - s p r a c h l i c h e n S a c h v e r h a l t als das, wovon die Rede ist, und dies geschieht stets unter einer ausgedrückten Sprechereinstellung. Während dargestellte Sachverhalte durch geäußerte Sprache gegeben sind, gilt für nichtsprachliche Sachverhalte, daß sie bestehen oder nicht. Wenn sie bestehen/bestanden haben, sind sie Tatsachen in der/einer Welt. Ob sie bestehen/bestanden haben, ist unabhängig davon, ob Sachverhalte durch geäußerte Sprache gegeben sind. Allerdings können dargestellte Sachverhalte als Tatsachen gelten (z.B. vor Gericht); d.h. aber nicht, daß ihnen tatsächlich Tatsachen in der Welt entsprechen/entsprochen haben. Wenn dem dargestellten Sachverhalt eine Tatsache entspricht, ist es wahr, nicht aber notwendigerweise der gesamte Äußerungsinhalt. Dieser ist nur dann wahr, wenn der ausgedrückten Sprechereinstellung zum Äußerungszeitraum ein kognitiver Zustand des Sprechers entspricht. Am Beispiel (1) (b) erläutert: Wenn A (1) (b) äußert, drückt er den Äußerungsinhalt aus, den ich durch Äußern von daß Peter bedauerlicherweise kommt nennen kann; damit ist - als Teil des Äußerungsinhaltes - der dargestellte Sachverhalt gegeben, daß Peter kommt; mit diesem identifiziert A den entsprechenden nichtsprachlichen Sachverhalt, und zwar im Lichte einer Sprechereinstellung, die durch das SADV ausgedrückt wird. Ob Peter (sagen wir: in der wirklichen Welt) tatsächlich kommt, ist unabhängig von dem dargestellten Sachverhalt, daß Peter kommt, auch wenn durch die sog. faktive Präsupposition von bedauerlicherweise Peters Kommen als Tatsache vorausgesetzt ist. Wenn Peter kommt, dann entspricht dem dargestellten Sachverhalt eine Tatsache (was man erst feststellen kann, wenn Peter gerade kommt oder gekommen ist), und damit ist der dargestellte Sachverhalt wahr, nicht aber der gesamte Äußerungsinhalt, denn dieser ist nur dann wahr, wenn A (1) (b) aufrichtig geäußert hat, soll heißen, wenn der mit bedauerlicherweise ausgedrückten Sprechereinstellung ein kognitiver Zustand entspricht, d.h. wenn A tatsächlich zum Äußerungszeitpunkt bedauert, daß Peter kommt (was man auf andere Weise feststellen muß). Kurz zu den Einstellungen. Daß Sprecher mit satzadverbial verwendeten Sadv Einstellungen ausdrücken, ist inzwischen eine Binsenweisheit (man vgl. z.B. Bartsch 1972; Gerstenkorn 1976; Lang 1979, 1981; Lang/Steinitz 1978; Mötsch 1979; Rosengren 1979; Pasch 1979; Grundzüge 1981). Ich habe bisher - bewußt unverbindlich - von Sprechereinstellungen gesprochen, um nämlich den in 1 i η -

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W o l f g a n g M e n t r u p (Hrsg.): Konzepte zur Lexikographie. 1982, 1 0 3 - 1 3 2

g u i s t i s c h e n Diskussionen relativ unklaren Begriff der propositionalen Einstellung zu vermeiden; dieser stammt bekanntlich von Russell (1940, 209ff.), der Ausdrücke wie z.B. »... glaubt, daß ...« Ausdrücke der propositionalen Einstellung nannte. Im Zuge der Adaption des Terminus propositionale Einstellung wurde dieser dann allerdings auch von Autoren gebraucht, die einen ganz anderen Propositionsbegriff wie Russell vertreten, was zu weitergehenden Konfusionen geführt hat, die vor allem mit der Frage zusammenhängen, worauf ausgedrückte propositionale Einstellungen (pE) zu beziehen sind (auf etwas, das zur Sprache zählt, oder auf etwas, das nicht dazugehört?). Hier seien nur ein paar der wichtigsten Unterscheidungen bewußt gemacht. (3) (a) Peter kommt. (b) Ich glaube, daß Peter kommt. (c) Peter kommt, aber ich glaube nicht, daß Peter (4) (a) Ich bedaure,

daß Peter

(b) Ich drücke hiermit mein Bedauern (c) Ich bedaure,

kommt.

kommt. darüber

aus, daß Peter

kommt.

daß Peter kommt, aber ich glaube nicht, daß Peter

kommt.

Wer (3) (a) feststellend äußert, drückt notwendigerweise die pE GLAUBEN, DASS aus. Das zeigt sich an (3) (c), einer spezifischen Belegung des Moore' sehen Paradox. Man kann sagen: Die pE GLAUBEN, DASS ist ein notwendiges Kontextelement von Feststellungen in Standardsituationen (vgl. Kummer 1979) oder: Diese Art von a u s g e d r ü c k t e r pE, die vom Sprecher nicht auf der Basis der lexikalischen Bedeutung eines äußerungsinternen Ausdrucks ausgedrückt wird (glauben kommt in (3) (a) nicht vor) ist logisch notwendig mit Sprechakttypen verknüpft (vgl. Searle 1971, 107; 1976, 4; Keller 1977, 8 f.). Wer (3) (a) äußert, drückt die pE i m p l i z i t - d i r e k t aus. Wer (3) (b) äußert, redet nicht etwa ambig (was Wunderlich 1976, 61 ff. behauptet; vgl. dazu Lang 1981, 309f.); vielmehr drückt er die pE e x p l i z i t - i n d i r e k t aus. Explizit soll sagen: aufgrund der lexikalischen Bedeutung von glauben; indirekt soll sagen: die pE ist assertiert und insofern wird etwas ü b e r sie geäußert. Wer (1) (b) äußert, drückt die pE BEDAUERN, DASS e x p l i z i t - d i r e k t aus, soll heißen: aufgrund der lexikalischen Bedeutung des Sadv, und zwar nicht so, daß er etwas über die pE äußert, sondern so, daß die pE s i c h qua Sadv z e i g t . Wer (4) (a) äußert, drückt die pE BEDAUERN, DASS e x p l i z i t - i n d i r e k t aus. Wer (4) (b) äußert, bezeugt, daß er die pE BEDAUERN, DASS hat (zum Begriff der Einstellungsbezeugung vgl. Lang/Steinitz 1978). Denn wie der Koinzidenzindikator hiermit zeigt, kann Bedauern ausdrücken (im Unterschied zu bedauern u. bedauerlicherweise) performativ gebraucht werden. Wer (1) (b) oder (4) (a) oder (4) (b) äußert, drückt natürlich stets implizit-direkt die pE GLAUBEN, DASS aus, so daß auch (4) (c) eine spezifische Belegung des Moore'schen Paradox ist. Man sieht: Mit dem Terminus propositionale Einstellung werden recht unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Ich halte es für ungeschickt zu sagen, daß mit satzadverbial gebrauchten Sadv pE ausgedrückt werden, weil das erstens zu einer theoretisch verheerenden Inflation von pE führt (vgl. den Anhang) und weil

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

439

zweitens suggeriert werden kann, daß sich Sprecher mit SADV auf propositionale Gehalte als etwas Sprachliches (z.B. als Teile von Sprechakten) beziehen, was eine absurde Vorstellung wäre, denn natürlich sind die mittels SADV ausgedrückten Einstellungen solche zu dem, worüber geredet wird. M.A. sollte man die implizit ausgedrückten pE von den explizit ausgedrückten trennen, da sie andere Eigenschaften haben. Es kann nun - als Ausgangspunkt der Analyse - festgestellt werden: Die Sadv aus Gi.i sind lexikalisierte Ausdrücke, mit denen ein Sprecher A, wenn er sie in einem korrekten Text in satzadverbialer Position äußert, explizit-direkt (seine Einstellung dazu) ausdrückt, mit welchem Gewißheitsgrad gerade derjenige nichtsprachliche Sachverhalt bestanden hat/besteht/bestehen wird, den er mit dem (aufgrund von Ausdrücken in der Bezugskonstituente von SADV) dargestellten Sachverhalt identifiziert. Wenn also A äußert: (5) Übermorgen regnet es

wahrscheinlich,

dann drückt er aus, mit welchem Gewißheitsgrad übermorgen gerade derjenige nichtsprachliche Sachverhalt bestehen wird, der mit dem zum Äußerungszeitraum dargestellten Sachverhalt, daß es regnet, identifiziert ist. 3.3

Semantische Relationen und Gewißheitsgrad-Skala

Die nachfolgende Analyse eines Feldausschnittes aus der Gruppe Gi.i hat den Zweck, Grundlagen für eine systematische Beschreibung der Semantik von Sadv in einsprachigen Wörterbüchern zu legen. Die Gruppe G u (plus/minus einiger anderer Sadv) wurde bereits von Hoberg (1973) und Gerstenkorn (1976) untersucht. Beiden Arbeiten verdanke ich Anregungen, komme aber zu anderen Ergebnissen. In allen nachfolgenden Sätzen gelte Ute als gleich interpretiert. (6) Ute schläft. (7) Ute schläft nicht. (8) Ute schläft und schläft nicht.

(6) ist affirmativ (+), (7) explizit negativ (-) und (8) explizit kontradiktorisch. (6) und (7) bilden ein explizit kontradiktorisches Satzpaar. Wenn A (6) äußert, kann er feststellen, daß der Sachverhalt besteht, daß Ute schläft, und wenn er (7) äußert, kann er feststellen, daß der entsprechende Sachverhalt nicht besteht. In (6) und (7) drückt A i m p l i z i t (d.h.: durch die syntaktische Form, Indikativ und fallende Intonation) den höchsten Gewißheitsgrad aus, den Äußerungen - ohne den Gebrauch spezifischer lexikalischer Mittel zum Ausdruck des Gewißheitsgrades - haben können. Der Gewißheitsgrad von (6) erhalte den Wert 1, so daß man (6) das Paar (1/+) zuordnen kann; mit Äußerungen, denen (1/+) zugeordnet werden kann, drückt A den Grad der p o s i t i v e n G e w i ß h e i t aus. Den gleichen Gewißheitsgrad-Wert erhält (7), so daß (7) (1/-) zugeordnet werden kann. Mit solchen Äußerungen drückt A den Grad der n e g a t i v e n G e w i ß h e i t aus. (8) erhält für den Gewißheitsgrad den Wert 0.

440

Wolfgang Mentrup (Hrsg.): Konzepte zur Lexikographie. 1982, 1 0 3 - 1 3 2

Ob dem mit dem Äußern von (6) dargestellten Sachverhalt eine Tatsache entspricht, hat nichts mit dem Gewißheitsgrad der Äußerung zu tun. (Wenn dem dargestellten Sachverhalt eine Tatsache entspricht, erhält er den Wert W und damit der mit (7) dargestellte den Wert F, was aber für die nachfolgende Analyse überflüssig ist).

Der Gewißheitsgrad von (6) und (7) kann mit lexikalischen Mitteln, z.B. mit Sadv aus GM, so e x p l i z i t ausgedrückt werden, daß der Wert 1 erhalten bleibt:

Damit ist implizit behauptet, daß bestimmt, gewiß und sicher in satzadverbialer Verwendung synonym sind, was sich mit der sog. analytischen Implikation im Sinne von Lyons zeigen läßt, die folgendermaßen eingeführt werden kann: Ein Satz S | impliziert (=>) einen Satz S2 dann, wenn Sprecher der Sprache darin übereinstimmen, daß es nicht möglich ist, S ι (explizit) zu behaupten und zugleich S 2 ohne Widerspruch zu verneinen. Ein Satz Si impliziert nicht (=£>) einen Satz S2, wenn Sprecher darin übereinstimmen, daß es nicht möglich ist, Si und zugleich S 2 ohne Widerspruch zu behaupten. (Für weitere, hier vorausgesetzte Begriffe vgl. Lyons 1975 und 1980 sowie Wiegand/Wolski 1980, 202 ff.).

Es ergibt sich: (9.1) => (9.2) => (9.3) und (9.3) => (9.2) => (9.1). Daß z.B. gilt: (9.1) => (9.2) und umgekehrt, ergibt sich aus der „Widersprüchlichkeit" von ( 10)

Ute schläft bestimmt

und Ute schläft gewiß

nicht

Ute schläft gewiß und Ute schläft bestimmt

nicht.

und der von (11)

Auf die anderen Fälle treffen mutatis-mutandis-Erläuterungen zu. Damit gelten die in (9.1-6) in gleicher syntaktischer Position stehenden Sadv als synonym (im Sinne des Lyons'schen Synonymiebegriffs). - Sind (12.1-3) affirmativ oder negativ?

Da in (12.1-3) keine Negationspartikel vorkommen, sind sie nicht explizitnegativ (-). Auf die Frageäußerung von A: (13) Was macht Ute? kann Β z.B. mit einer der Satzäußerungen (12.1-3) oder alternativ mit einer der folgenden antworten, in denen Teile enthalten sind, die mit (12.1-3) konstruktionell gleich sind: fVielleicht (14.1-6)

1

(vielleicht

1

\ Eventuell r schläft Ute, Ί eventuell \ (aber) (auch) IMöglicherweiseJ lmöglicherweiseJ

nicht.

Hinsichtlich des ausgedrückten Gewißheitsgrades, unter dem festgestellt wird, daß Ute schläft, unterscheiden sich (12.1) bis (14.6) nicht; ihr Gewißheitsgrad hat aber offensichtlich n i c h t den Wert 1. Macht man nicht zum Kriterium,

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

441

müßte man sagen: (12.1-3) sind affirmativ, (14.1-6) dagegen negativ, was semantisch gesehen - unbefriedigend ist. Auf das Äußern einer Entscheidungsfrage mit (15) Schläft Ute? kann Β z.B. eine der folgenden Antworten geben: ( 1 6 . 1 - 1 5 ) Ja / Nein / Vielleicht / Eventuell / Möglicherweise / Vielleicht, vielleicht nicht / Eventuell, eventuell (aber) (auch) nicht / Möglicherweise, (aber) (auch) nicht.

(aber) (auch) möglicherweise

Hinsichtlich des Gewißheitsgrades sind alle Antworten mit Sadv (16.3-15) gleich; sie liegen zwischen (16.1) Ja (1/+) und (16.2) Nein (1/-). Mit den neun letzten Antworten (16.6-15) drückt Β lediglich in e x p a n d i e r t e r Form aus, was er mit (16.3-5) in k o n d e n s i e r t e r Form ausdrückt. In allen Antworten auf Sadv läßt Β offen, ob der mit (15) erfragte Sachverhalt eher besteht oder eher nicht besteht, d.h. Β drückt aus, daß es für ihn unentschieden ist (oder: nicht sicher ist), ob Ute schläft oder nicht (unentschieden, ob ... ist damit als Ausdruck ein Kandidat für eine Bedeutungserläuterung; zu oè-Sâtzen vgl. Wunderlich 1976, 221 ff., zur Expansion/Kondensation Viehweger [et al.] 1977, 258). (12.1-3) und (14.1-6) sind daher weder affirmativ noch negativ, sondern hinsichtlich der Affirmation/Negation eines Sachverhaltes neutral (0). Mit dem Äußern von (12.1-3), (14.1-6) und (16.3-15) drückt Β weder positive Gewißheit (1/+) noch negative Gewißheit (1/-), sondern U n g e w i ß h e i t aus, ob der Sachverhalt besteht (oder nicht), und zwar ohne daß eine T e n d e n z entweder zum Ja (1/+) oder Nein (1/-) erkennbar ist. Äußerungen mit den Sadv vielleicht, möglicherweise und eventuell erhalten daher den Gewißheitsgrad-Wert 0,5, so daß man ihnen das Paar (0,5/0) zuordnen kann. Daß die drei Sadv im gleichen Sinne synonym sind wie sicher, gewiß und bestimmt, habe ich stillschweigend vorausgesetzt; eine Demonstration, daß diese Voraussetzung gemacht werden kann, schenke ich mir. Betrachtet man (17)

Wahrscheinlich

schläft

Ute,

ist intuitiv plausibel, daß A mit (17) eine Tendenz zu (1/+) ausdrücken kann, und (17) hinsichtlich des Gewißheitsgrades zwischen (12.1-3) und (6) oder (9.1-3) liegt. Falsch wäre es aber, wollte man (17) ebenfalls einen Zahlenwert (z.B. 0,75) zuordnen. Denn der G r a d d e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t ist mit (17) nicht ausgedrückt und auch niemals in anderen umgangssprachlichen Äußerungen, in denen wahrscheinlich als SADV gebraucht ist. Daher ist die Gewißheitsgrad-Skala, die durch die semantischen Relationen in G , , gegeben ist, auch keine relative Wahrscheinlichkeitsskala z.B. im Sinne der Wahrscheinlichkeitslogik; diese ordnet die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintritt (oder mit der eine Hypothese gilt), auf einer solchen Skala, deren Endpunkte die Werte 0 und 1 haben. Jedem Punkt der Skala kann eine reelle Zahl X (zwischen 0 und 1) zugeordnet werden. Erweist sich eine Hypothese als wahr, gilt sie als verifiziert und erhält den Wert 1 (= W). Falsifizierte Hypothesen erhalten 0 (= F). Dazwischen liegen Werte, die z.B. mit 0,1-wahrscheinlich, 0,7-wahrscheinlich bezeichnet werden. Hier wird wahrscheinlich terminologisiert verwendet.

442

Wolfgang Mentrup (Hrsg.): Konzepte zur Lexikographie. 1982, 103-132

In (17) wird wahrscheinlich aber anders, und zwar so verwendet, daß man (17) dem Intervall : » (0,5/0) (1/+) zuordnen kann. Das bedeutet: Der Gewißheitsgrad von (17) mit wahrscheinlich ist höher als der der konstruktionell gleichen Satzäußerungen (12.1-3) mit vielleicht!eventuell!möglicherweise, denen (0,5/0) zugeordnet wurde, und geringer als der von

{

Bestimmt]

Gewiß Sicher

^ schläft Ute, J

denen (1/+) zugeordnet werden kann; „ » " ist zu lesen wie im Gewißheitsgrad höher als und entsprechend „ (17'), aber nicht umgekehrt wegen der „Widersprüchlichkeit" von (19) und von (20): (19) (20)

Es ist sicher, daß Ute schläft, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Ute schläft. Es ist wahrscheinlich, daß Ute schläft, und es ist sicher, daß Ute schläft.

Als Adjektiv verwendet, ist daher sicher hyponym zu wahrscheinlich. Entsprechendes gilt für wenigstens jeweils eine Bedeutung von bestimmt und gewiß (die als Adjektive polysem sind). Beachtet man nicht, daß die jeweils zur Beurteilung anstehenden Sätze entweder explizit affirmativ oder explizit negativ sein müssen, führt das zu kontraintuitiven Ergebnissen. Der Gewißheitsgrad von (17) liegt im Intervall » (0,5/0) « (1/+). Nach (21 )

Wahrscheinlich

schläft Ute und Ute schläft sicher nicht

gilt: (17) =>(9.3); und nach (22)

Ute schläft sicher und wahrscheinlich

schläft Ute nicht

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

443

gilt: (9.3) => (17). Danach wären die Satzadverbien wahrscheinlich und sicher synonym! (17) aber impliziert nicht (9.3), noch umgekehrt. Denn wenn A (9.3) als Feststellung äußert, dann drückt er mit sicher explizit aus, daß der nichtsprachliche Sachverhalt, daß Ute schläft, mit positiver Gewißheit besteht; d.h.: auch (9.3) bekommt (1/+). Da A mit dem Äußern von (9.3) die Sprechereinstellung der positiven Gewißheit ausdrückt, kann (9.3) nicht (17) implizieren, denn mit dem Äußern von (17) wird zwar ein Gewißheitsgrad über das Bestehen des gleichen Sachverhalts ausgedrückt, dieser ist aber ein Grad, der Ungewißheit beinhaltet. Während (6) und (7) explizit kontradiktorische Sätze sind, sind (17) und (9.3) i m p l i z i t k o n t r a d i k t o r i s c h (im Sinne von Lyons); d.h.: sie negieren sich implizit, so daß die in gleicher satzadverbialer Position stehenden Sadv, wahrscheinlich und sicher, in der Relation der Inkompatibilität (= Rei. der lexikalischen Inkonymie) stehen. Wer daher (17) äußert, negiert implizit, daß der Sachverhalt, daß Ute schläft, mit Gewißheit besteht; und wer (9.3) äußert, negiert implizit, daß der Sachverhalt, daß Ute schläft, mit einem Gewißheitsgrad besteht, der Ungewißheit besagt. In der gleichen semantischen Relation steht wahrscheinlich dann auch zu den synonymen Sadv bestimmt und gewiß. Nun sei gefragt, in welchen semantischen Relationen wahrscheinlich zu den Sadv der Synonymen-Reihe möglicherweise, vielleicht, eventuell steht. Dazu sei zunächst geprüft, in welcher Relation (17a)

Ute schläft wahrscheinlich

(12.3a)

Ute schläft

und

möglicherweise

zueinander stehen. (17a) und (12.3a) können n i c h t implizit kontradiktorisch sein; denn: (i) (12.3a) bekommt ( 0 ) und kann daher (17a) nicht implizit verneinen; (ii) (17a) liegt im Intervall » (0,5/0) (1/+), hat damit eine Tendenz zu (1/+); daher kann (17a) zwar einen Satz mit (1/+) implizit verneinen, z.B. (9.3), nicht aber einen mit (0,5/0) wie (12.3a). Daher stehen wahrscheinlich und möglicherweise n i c h t in einer Inkonymie-Relation. Die Frage, ob gilt: (17a) => (12.3a) oder (12.3a) => (17a) ließe die Voraussetzung für die analytische Implikation nicht gelten, daß explizit affirmative bzw. negative Sätze vorliegen müssen. Daher kann im Rahmen der sinnrelationalen Semantik nicht klar entschieden werden, ob z.B. wahrscheinlich zu möglicherweise hyponym ist. Um diese Frage zu untersuchen, greife ich daher auf Ergebnisse von Lang (1977) zurück. Bei der semantischen Interpretation einer koordinierten Struktur ist es notwendig, daß ein „umgreifender übergeordneter Gesichtspunkt" (eine GEI = gemeinsame Einordnungsinstanz) für die Konjunktbedeutungen (KB) identifizierbar ist. Man kann verschiedene Gründe angeben, die verhindern, daß eine GEI konstituiert werden kann. Einer der Gründe ist die „semantische Inklusion", in der KBi und KB 2 stehen (vgl. Lang 1977, 106ff.). Es gibt verschiedene Typen von Inklusionen; ein Typ kommt u.a. durch die lexikalische Hyponymie zustande, z.B. wenn - bei einer bestimmten syntaktischen

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Wolfgang Mentrup (Hrsg.): Konzepte zur Lexikographie. 1982, 1 0 3 - 1 3 2

Struktur - im ersten Konjunkt das H y p o n y m und im zweiten das S u p e r o n y m vorkommt, wie in den folgenden Beispielen (23)—(25). (23) (24)

*Ute galoppiert gerade den Rappen *Ute ist leider verhungert oder

(25) (26)

*Ute hat gerade ein Quadrat *Ute schläft wahrscheinlich

und das Pferd. gestorben.

gezeichnet, und

aber kein Viereck. möglicherweise.

(26) ist eine satzinterne Koordination. Eine GEI ist nicht identifizierbar (selbst bei Uminterpretation). Daher ist (26) kaum interpretierbar und damit inakzeptabel. Der Grund für die Nichtidentifizierbarkeit einer GEI ist die semantische Inklusion der Konjunktbedeutungen, und diese kommt u.a. durch die semantische Relation zustande, in der wahrscheinlich zu möglicherweise steht, und die Frage ist, ob auch hier wie in (23)-(25) eine Hyponymie-Relation vorliegt. Wenn A z.B. (23a)

Ute galoppiert

gerade den

Rappen

feststellend äußert, stellt er implizit fest, daß Ute gerade ein Pferd galoppiert, wenn gilt, daß Rappe hyponym zu Pferd ist. Daß A etwas implizit feststellen (oder auch: sagen) kann, gelte als unstrittig. Da Sadv Einstellungsausdrücke sind, wäre daher zunächst grundsätzlich zu fragen: Gibt es auch ein implizites Ausdrücken von Einstellungen in dem Sinne, daß mit einer durch ein S A D V explizit-direkt ausgedrückten Einstellung eine andere Einstellung implizit ausgedrückt wird, und zwar aufgrund von lexikalisch-semantischen Relationen von Sadv? Diese Frage ist m.E. zu bejahen.

Wenn A (17a) feststellend äußert, drückt A mit wahrscheinlich aus, daß der Sachverhalt, daß Ute schläft, mit einem Gewißheitsgrad besteht, der Ungewißheit besagt. Für diese Redeweise gibt es allerdings zwei Interpretationen: (i) Mit wahrscheinlich drückt A einen bestimmten Grad der Ungewißheit aus; (ii) Mit wahrscheinlich drückt A einen bestimmten Grad der Gewißheit aus. Unter (i) ergibt sich: Der mit (17a) ausgedrückte Grad der U n g e w i ß h e i t ist geringer als der, den A mit dem Äußern von (12.3a) ausdrücken kann. Es kann aber nicht angenommen werden, daß mit dem Ausdrücken eines niedrigen Grades der Ungewißheit implizit ein höherer Grad der Ungewißheit ausgedrückt wird. Für den (i)-Fall ergibt sich: wahrscheinlich ist n i c h t hyponym zu möglicherweise. Unter (ii) ergibt sich: Der mit (17a) ausgedrückte Grad der G e w i ß h e i t ist höher als der, den A mit dem Äußern von (12.3a) ausdrücken kann. Es kann aber angenommen werden, daß mit dem Ausdrücken eines höheren Grades der Gewißheit implizit ein niedrigerer Grad der Gewißheit ausgedrückt wird. Für den (ii)-Fall ergibt sich daher: wahrscheinlich ist hyponym zu möglicherweise (und damit zu vielleicht und eventuell). Wegen der Beobachtung, daß Äußerungen mit wahrscheinlich nicht nur » (0,5/0) (1/+) zugeordnet werden kann, sondern daß sie auch eine Tendenz zu (1/+) aufweisen, neige ich dazu, (ii) für die geeignete Interpretation anzusehen. Daher noch ein Beispiel: Wenn A (5) äußert, drückt er mit wahrscheinlich explizit-direkt den Grad der Gewißheit aus, daß es übermorgen eher regnen als

Zur Bedeutungserklärung von Satzadverbien in einsprachigen Wörterbüchern

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nicht regnen wird, und damit drückt er implizit aus, was er explizit-direkt ausdrückt, wenn er (5a) Übermorgen regnet es vielleicht äußert, nämlich die Ungewißheit darüber, ob es übermorgen regnet oder nicht. Salopp: Wer wahrscheinlich satzadverbial verwendet, tendiert in der Ungewißheit zur positiven Gewißheit. Ich plädiere daher für Hyponymie (obwohl ich weiß, daß dies problematisch ist und die hier postulierte Hyponymie-Relation andere Eigenschaften hat als die, in der z.B. Rappe zu Pferd steht). Sätze mit Sadv aus der Synonymenreihe sicher, bestimmt, gewiß sind mit konstruktioneil gleichen Sadv aus der Synonymenreihe möglicherweise, vielleicht, eventuell implizit kontradiktorisch; daher steht jedes Sadv der ersten zu jedem der zweiten Synonymenreihe in der Relation der Inkonymie. Als letzte Sadv aus G u seien schwerlich und kaum untersucht, wobei darauf zu achten ist, daß kaum hochgradig polysem ist und nicht nur satzadverbial verwendet wird. Sind diese beiden Sadv synonym?

{ kaum

schwcrlichl

J

vor 20 Uhr

schla en

f -

Unmittelbar rechts von kaum und schwerlich kann nicht niemals in korrekten Konstruktionen vorkommen; so werden (27.1-2) durch Einfügung von nicht defekt. Diese Rechts-Nichtnegierbarkeit, die bei keinem anderen Sadv aus Gm auftritt, gilt auch für die Verwendung als Antwort auf Ε-Fragen. Auf die Frage (28) Schläft Ute? sind die Antworten (28.1) *Schwerlich nicht oder (18.2) *Kaum nicht defekt. Der Grund für die Rechts-Nichtnegierbarkeit ist, daß Äußerungen wie (27.1-2) eine starke Tendenz zur negativen Gewißheit (1/-) haben; man kann sie dem Intervall