Kleine Schriften. Bd. 1. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters [1] 3110089688, 9783110089684

Herausgegeben von Volker Mertens. "Suche nach uns selbst" sei die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literat

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Kleine Schriften. Bd. 1. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters [1]
 3110089688, 9783110089684

Table of contents :
Geleitwort v
I. Literaturgeschichte
Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung (1982) 3
II. Dichtung des Hochmittelalters
Hartmanns 'Armer Heinrich'. Erzählmodell und theologische Implikation (1971) 23
Wolfram von Eschenbach heute (1975) 38
Drei Voten zu Wolframs 'Willehalm' (1974) 49
Der 'Lanzelet' Ulrichs von Zatzikhofen. Modell oder Kompilation? (1975) 63
Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' in der Sicht eines Theologen. Eine Rezension (1978) 72
Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem (1968) 86
Das Tagelied Heinrichs von Morungen (1944) 103
Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus (1974) 107
III. Dichtung des Spätmittelalters
'Moriz von Craûn'. Eine höfische Thesenerzählung aus Frankreich (1970) 129
Der ursprüngliche Versbestand von Wernhers 'Helmbrecht' (1967) 145
Zur Motivik und Interpretation der 'Frauentreue' (1973) 157
Kaufringers Erzählung von der 'Unschuldigen Mörderin'(1981) 170
Heinrich Wittenwilers 'Ring'(1978) 185
Verständnisperspektiven von Heldendichtung im Spätmittelalter und heute (1979) 200
Versuch einer Begriffsbestimmung von 'städtischer Literatur' im deutschen Spätmittelalter (1980) 214
IV. Dichtung in der mittelalterlichen Romania
Rigaut de Barbezieux und der Gral (1968) 237
Joachitische Spiritualität im Werke Roberts von Boron (1969) 245
Der Gralsheld in der 'Queste del Saint Graal' (1970) 274
Lancelot - Wandlungen einer ritterlichen Idealgestalt (1982) 298
Dantes 'Göttliche Komödie' und das Franziskanertum (1966) 310
Dichterliebe im europäischen Minnesang (1979) 324

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Kurt Ruh Kleine Schriften I

Kurt Ruh

Kleine Schriften Band I Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters

Herausgegeben von Volker Mertens

w DE

_G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1984

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen Bibliothek

Ruh, Kurt: Kleine Schriften / Kurt Ruh. - Berlin ; New York : de Gruyter NE: Ruh, Kurt: [Sammlung] Bd. 1. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. 1984. ISBN 3-11-008968-8

© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Geleitwort unde merke wa ich ie spreche ein wort ezn lige e iz gespreche herzen bi

"Suche nach uns selbst" sei die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur - das sagt Kurt Ruh in seiner programmatischen Rezension von Max Wehrlis Literaturgeschichte im Jahr 1982. Diese Position, die Literatur als Literatur ernst nimmt und literarische Erfahrung als potentiell existentielle begreift, bildet das Fundament, auf dem der wissenschaftliche Erstling, der Tagelied-Aufsatz aus dem Jahr 1944, ebenso baut wie die jüngsten Arbeiten aus dem Gesamtzeitraum von 38 Jahren: 42 Beiträge legen Herausgeber und Verlag als "Kleine Schriften" in zwei Bänden vor. Die Gegenstände umfassen nicht nur sämtliche Gattungen des hohen und späten Mittelalters - höfische Epik und Lyrik, Märe und Novelle, das weite Feld der geistliche Prosa, jüngst ist auch die bislang eher gemiedene Heldendichtung dazugekommen - sondern auch Themen aus dem Gebiet des Nachbarfachs, der Romanistik: neben der Trobadorlyrik die "große" Epik, "Lancelot" und die "Divina comedia". Die nationalsprachliche Literatur im europäischen Kontext und damit in ihren Abhängigkeiten und in ihren Besonderheiten zu sehen, ist für Kurt Ruh immer eine Selbstverständlichkeit gewesen - in seinen Veröffentlichungen so gut wie in seiner Lehre. Der geistlichen Prosaforschung gilt fast die Hälfte der hier versammelten Arbeiten. Wolfgang Stammler nennt man gern den Begründer dieses Fachgebiets; Kurt Ruh ist mehr als nur sein Fortsetzer - ihn den Vollender zu nennen, würde auf seinen Widerspruch stoßen: als der vielseitigste und gründlichste Kenner weiß er selbst am besten, was noch alles zu leisten ist. Er hat wie niemand sonst diesen Forschungsgegenstand mit seinen eigenen Beiträgen und den vielfältigen Anregungen, die er seinen Schülern vermittelt hat und noch vermittelt, in der germanistischen Wissenschaft vertreten und ihm einen festen Platz gesichert: den Vater der geistlichen Prosaforschung darf man ihn wahrhaft nennen. "Prosa" erscheint dabei fast schon wieder zu eng, denn er hat sich auch immer wieder mit den gebundenen Formen, Liedern und Reimgebeten, beschäftigt. Die Breite der Methoden entspricht der Vielfalt der Gegenstände: programmatisch-grundsätzliche Beiträge zu Text- und Überlieferungskritik, Texteditionen und quellenkundliche Darstellungen, typologische

VI

Geleitwort

und strukturalistische Untersuchungen (wie "Neidharts Lieder"), weit ausgreifende Interpretationen - Kurt Ruh hat als Interpret immer wieder die Auseinandersetzung mit den "klassischen" Werken der Blütezeit in verschiedenen Ansätzen und Fragestellungen gesucht - und oft ihre besonders fruchtbare Verbindung geübt. Die Anlässe der hier versammelten Beiträge sind unterschiedlicher Art: vom wissenschaftlichen Aufsatz über die programmatische Rezension zu öffentlichen Vorträgen vor Fach- und Laienpublikum ("Wolfram von Eschenbach heute", "Lancelot"): in letzteren (aber nicht nur dort) wird das Ziel besonders deutlich, die "Suche nach uns selbst" im Medium der Literatur zu vermitteln an eine breite Rezipientenschicht. Die Hörer von Kurt Ruhs Vorlesungen und vor allem die engeren Schüler erkennen darin den engagierten (und hoch erfolgreichen) Hochschullehrer - denn das war Kurt Ruh und das ist er mit Herz und Verstand. Ganz besonders deutlich wird das in seinen beiden Bänden "Höfische Epik": sie sind der selten gewordene Fall eines Lehrbuchs für Studenten, das ebenso persönlich geprägt, wie frei von hochgestochenen Prätentionen ist - Literaturgeschichte ist ihm vor allem Geschichte der Literatur und kein Spezialfall der Sozial- oder gar der Heilsgeschichte. In welchem Maße sich Kurt Ruh in seiner undogmatischen Art die Offenheit für die Erkenntnismöglichkeiten anderer, speziell sozialhistorischer Ansätze bewahrt hat, weiß wohl niemand besser als der Herausgeber selbst. Die einzelnen Beiträge entsprechen (abgesehen von geringfügigen Änderungen des Autors im Wortlaut und einer maßvollen technischen Vereinheitlichung) in Form und Forschungsstand der Erstveröffentlichung: sie zeigen damit den Weg des Faches, speziell der Prosaforschung, auf - es sind "Wege der Forschung", die heute noch begangen werden, und darin erweist sich die Aktualität der Themen und Fragestellungen - sie neuer Realisierung bereitzustellen, ist eigentliches Ziel dieser Ausgabe. Die Vielfalt der Gegenstände, die Breite und Stringenz der Methoden geben ein Bild von der Literaturgeschichte des Mittelalters, das über dem Einzelnen als potentiell Ganzes aufscheint. So sind diese Bände auch der Abglanz dessen, was Kurt Ruh gelehrt und seinen Schülern vermittelt hat. In diesem Sinn legt der Herausgeber die "Kleinen Schriften" als die würdigste Hommage an den verehrten Lehrer ihm zum 70. Geburtstag am 5.5.1984 vor. Berlin, im Juni 1983

Volker Mertens

Inhalt Geleitwort

V

I. Literaturgeschichte Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung (1982)

3

II. Dichtung des Hochmittelalters Hartmanns 'Armer Heinrich'. Erzählmodell und theologische Implikation (1971)

23

Wolfram von Eschenbach heute (1975)

38

Drei Voten zu Wolframs 'Willehalm' (1974) Der 'Lanzelet' Ulrichs von Zatzikhofen. Modell oder Kompilation? (1975) Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' in der Sicht eines Theologen. Eine Rezension (1978)

49

Mittelhochdeutsche

Spruchdichtung als

63 72

gattungsgeschichtliches

Problem (1968)

86

Das Tagelied Heinrichs von Morungen (1944)

103

Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus (1974)

107

III. Dichtung des Spätmittelalters 'Moriz von Craün.' Eine höfische Thesenerzählung aus Frankreich (1970)

129

Der ursprüngliche Versbestand von Wernhers 'Helmbrecht' (1967)

145

Zur Motivik und Interpretation der 'Frauentreue' (1973)

157

Kaufringers Erzählung von der'Unschuldigen Mörderin'(1981) . .

170

Heinrich Wittenwilers'Ring'(1978)

185

Verständnisperspektiven von Heldendichtung im Spätmittelalter und heute (1979) 200 Versuch einer Begriffsbestimmung von 'städtischer Literatur' im deutschen Spätmittelalter (1980) 214

VIII

Inhalt

IV. Dichtung in der mittelalterlichen Romania Rigaut de Barbezieux und der Gral (1968) Joachitische Spiritualität im Werke Roberts von Boron (1969) . . . . Der Gralsheld in der 'Queste del Saint GraaP (1970) Lancelot - Wandlungen einer ritterlichen Idealgestalt (1982) Dantes 'Göttliche Komödie' und das Franziskanertum (1966) . . . . Dichterliebe im europäischen Minnesang (1979)

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I. Literaturgeschichte

Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung Zu

MAX WEHRLIS

Darstellung der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit*

[Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 111 (1982), S. 227-243]

I Die deutsche Literatur als Buchkultur ist heute, im späten 20. Jahrhundert, 1200 Jahre alt. Noch älter ist die englische Literatur, jünger die französische und beträchtlich jünger die italienische: Diese Altersunterschiede dürften umgekehrt proportional mit der Nähe zur lateinischen Schriftkultur zusammenhängen, aus der sich volkssprachliche Literatur zunächst als christliches Missionsschrifttum ausgliederte oder durch die sie sich, als mündliche Dichtung, zur Schrift fand. Von den 1 2 0 0 Jahren deutscher Literatur hat MAX W E H R L I im vorliegenden Band 800 Jahre zur Darstellung gebracht. Der Verfasser nennt dies im Vorwort ein "anmaßendes Wagnis", "teilweise entschuldigt nur durch eine gewisse Einheitlichkeit der Auswahl, der Wertung und des Darstellungsstils" (S. 5). Tatsache ist, daß bisher jede groß angelegte Geschichte der alt- und mittelhochdeutschen Literatur (also schon ohne das Aftergewicht des 16. Jahrhunderts) spätestens vom 14. Jahrhundert an kapitulierte, sei dies durch Verzicht auf Weiterführung oder durch Beschränkung auf die nach Gattungen und Chronologie geordnete Ausbreitung eines Zettelkastens (EHRISMANN). WEHRLI hat beim Übergang ins 14. Jahrhundert noch den vollen Atem und widmet den verbleibenden drei Jahrhunderten nicht weniger als etwa die Hälfte der ganzen Darstellung. Schon das ist ein Ereignis und zeigt die "ars regia einer aufs Ganze gehenden Synthese" an. Das Zitat stammt aus einem weiter unten zu nennenden Beitrag WEHRLIS (S. 413) und meint Anspruch und Geltung der Literaturgeschichte großen Zuschnitts "von den romantischen Anfängen bis tief in unser Jahrhundert hinein". | Die Aufteilung literaturwissenschaftlicher Handbücher in einzelne Sparten, die Spezialisten anvertraut werden, ist inzwischen (fast) die * MAX WEHRLI, Geschichte der deutschen Literatur. Vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1.) Philipp Reclam jun., Stuttgart 1980. 1238 S.

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Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung

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Regel geworden. Das jüngste Beispiel nach B. BOESCHS 'Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen' (1946) und H. O. BURGERS 'Annalen' (1952) ist das 'Neue Handbuch der Literaturwissenschaft', das mit den bereits erschienenen Bänden 'Europäisches Hochmittelalter' (1981), 'Europäisches Spätmittelalter' (1978) und - teilweise - 'Renaissance und Barock' (1972) mit WEHRLIS Werk parallel läuft. Das alte 'Handbuch' des Athenaion Verlags hatte für diesen Komplex (und darüber hinaus) nur zwei Verfasser, J. SCHWIETERING und G. MÜLLER, und da kann man nun Verlust und Gewinn der Literaturgeschichte eines Kollektivs unmittelbar ablesen. Freilich geht es im 'Neuen Handbuch' um "europäische", nicht mehr nur um deutsche Literatur, jene wurde indes zur Hauptsache einzig in der Addition verwirklicht, was heißt, daß die Vorteile der Zusammenschau nur sehr partiell wahrgenommen wurden - wohl aus personellen Gründen: Die Planer-Konzeption scheiterte an den bescheideneren Möglichkeiten der Autoren. Im Hochmittelalterband ist einzig 'Minnedidaktik' "europäisch" angelegt, im Spätmittelalterband 'Allegorische, didaktische und satirische Literatur' und 'Geistliche Prosa'. Etwas mehr wäre schon möglich gewesen: z.B. eine ganzheitliche Darstellung des mittelalterlichen Spiels (das in vier Beiträge mit drei Autoren aufgegliedert ist); sie hätte verhindert, mehrfach dasselbe zu sagen, und es ermöglicht, die jeweiligen nationalen Besonderheiten schärfer herauszustellen. Da wurde die Chance des Wagnisses (das M. WEHRLI mit 800 Jahren deutscher Literatur auf sich genommen hat) vergeben. Diese Hinweise sollen verdeutlichen, daß es (noch) keine Prinzipienfrage sein kann, große literaturgeschichtliche Komplexe unter Spezialisten zu verteilen oder einem einzigen anzuvertrauen, es ist vielmehr eine Frage der Pragmatik oder des Glücksfalls. Wenn die ersten 800 Jahre deutscher Literatur von einem Verfasser mit gleichbleibender Souveränität dargestellt werden, so ist es der Glücksfall, der Regie führt, eben der Glücksfall MAX WEHRLI, nun doch wohl heute der einzige, der solches ohne Uberbeanspruchung der "zweiten Hand" und durchgängig aus eigener, gewachsener Schau und mit überlegenem Urteil wagen durfte. WEHRLI hat im Rahmen seines Werks auf Programm und Theorie einer Literaturgeschichtsschreibung verzichtet. Er darf darauf vertrauen, daß die Frage, ob sie "sinnvoll und möglich" (S. 6) ist, durch die Darstellung selbst gültig beantwortet wird. Dieser Verzicht auf Theorie unterscheidet WEHRLIS Buch prägnant von K. BERTAUS 'Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter' (1972/ 73). Hier wird der Leser in einer 38seitigen "Einleitung: Weltreich und Heilsgeschichte" umfassend und unmißverständlich in die (wesentlich von Walter Benjamin | bestimmte) Geschichtskonzeption eingeführt, der sich der Autor bei der Betrachtung von Literatur verpflichtet weiß.

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Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung

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Das hat den Vorteil, daß der Leser genau weiß, woran er ist und worüber er sich, je nach Standpunkt, freuen kann oder ärgern muß, den Nachteil fehlender Offenheit und den der Fremdbestimmung des Phänomens 'Literatur', der eine ihr eigene Geschichte abgesprochen wird. Zum Glück pflegt BERTAU (wie ihm gerade WEHRLI mehrfach attestiert) seine Theorie zu vergessen, wo ihn Dichtung als solche engagiert und er seinen ungewöhnlich feinen ästhetischen Sinn nicht mehr mit dem auferlegten materialistischen Begriffssystem verleugnen kann. Diesem Umstand verdanken wir u. a. unvergeßliche Wolfram-Kapitel. Aber natürlich betreibt auch WEHRLI Literaturgeschichte nicht nur in "naiver" Praxis. In zwei Beiträgen hat er Literaturgeschichte zum Gegenstand seiner Reflexion gemacht, den ersten, wie es scheint, im Hinblick auf sein dringlich gewordenes literaturhistorisches Vorhaben, den zweiten auf die bereits fortgeschrittene Darstellung: 'Literatur als Geschichte' (1970) und 'Literaturgeschichtsschreibung heute' (1979)1. Mit einigen Hinweisen sei daran erinnert. Im Jahre 1970 war unser "krisenhaft und zwiespältig" gewordenes "Verhältnis zur Welt der Geschichte" nicht zu übersehen, und WEHRLI nimmt es zum Ausgangspunkt. Nicht "in Abwehr" oder in Resignation, sondern eher, um es gleichsam listig zu unterlaufen mit der unwiderlegbaren anthropologischen Feststellung, daß "das historische Interesse zu einem vollen Menschendasein gehört" (S. 5). Daraus entspringen als humane Manifestationen "Neugier und Vergnügen an der abenteuerlichen Begegnung mit Fremdem und zugleich Eigenem" (ebd.). Speziell auf den Literaturgeschichtsschreiber bezogen heißt dies: "Eine Literaturgeschichte zu schreiben, bereitet Vergnügen" (Literaturgeschichtsschreibung, S. 415). Die solchermaßen bekannte Subjektivität heißt aber auch, daß es "nur Geschichte von einer Gegenwart aus gibt" (Lit. als Gesch., S. 5), was WEHRLI am Schluß seines Vorworts wiederum aufgreift: es sei das "Wagnis jedes literarhistorischen Verstehens", "lebendigen Gegenwartsbezug zu verwirklichen und zugleich den Gegensatz ganz aus sich selbst in seiner geschichtlichen Bedingtheit zu sehen" (S. 7). - Im späteren Beitrag wird zunächst das 'Glück und Elend' des Literaturgeschichtsschreibers geschildert, wie es nur derjenige kann, der die einschlägigen Erfahrungen gemacht hat. Wichtig in unserem Zusammenhang sind indes vor allem die methodologischen Überlegungen zum Problem der Auswahl und zum Prinzip der Verknüpfung. Bei der Auswahl stellt sich die Frage der "historischen Relevanz": Was "Geschichte machte" gehört sicher zum Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung, und zwar 1

Literatur als Geschichte. Festrede des Rektors Professor Dr. MAX WEHRLI, Zürich 1970; Literaturgeschichtsschreibung heute. Einige Reflexionen, in: D.HUSCHENBETT u.a. (Hgg.), Medium Aevum deutsch, Tübingen 1979, S. 413—427. Das Zitat S. 227 stammt aus dem zweitgenannten Beitrag, S. 413.

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Ars Regia der Literaturgeschichtsschreibung

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völlig unabhängig vom ästhetischen | Rang. Dazu tritt der 'Kanon', die Reihe der Autoren und Werke, der die Literaturhistoriker auf Grund ihrer künstlerischen und (vielfach) ideellen Werte Dauer zugesprochen haben. WEHRLI sieht den Kanon als notwendig an, jedenfalls in dem Sinne, daß sich Literaturgeschichtsschreibung mit ihm auseinanderzusetzen hat. Es sei nun "gerade die verzweifelte Aufgabe des Geschichtsschreibers, beide Auswahlkriterien zur Deckung zu bringen: das unmittelbar faszinierende Werk zu historisieren und zu relativieren und umgekehrt den bloßen Stellenwert mit Substanz zu füllen und zum aktuellen autonomen Wert zu machen" (S. 424 f.). Das zweite Problem, dasjenige der Verknüpfung, führt zunächst zur schlichten und doch heute so notwendigen Feststellung, daß "Literaturgeschichte" "Geschichte der Literatur" ist - und nicht ein Ableger von Sozialgeschichte - , aber auch nicht nur als "Ansammlung von Texten" zu gelten hat. Sie wird vielmehr als "System" in Anspruch genommen, zwar nicht mehr im geschichtsmythischen Sinne eines A. W. Schlegel, der hier den 'Genius' am Werke sieht, aber doch als Ordnung geschichtlichen Werdens und geschichtlichen Zusammenhangs. Man könnte die historische Konsistenz von Literatur noch präziser fassen. Sie ist nachzuweisen zumal im Bereich der Gattungen und Texttypen - der Artusroman ist ein besonders schönes und unbestrittenes Beispiel - , der Formgeschichte (der Dichtungsformen sowohl wie der poetischen Regeln und Konventionen) und im Rahmen moderner Überlieferungsgeschichte (die ihrerseits nicht zuletzt die Texttypen konstituiert). Zum letzterwähnten Aspekt seien einige Bemerkungen erlaubt. Daß berühmte Sammelhandschriften, etwa die Vorauer und Millstätter für die frühmhd. Literatur, die Liederbücher für Minnesang und Spruchdichtung und die 'Heldenbücher' für die epischen Vorzeitund Frühzeitgeschichten, nicht nur ein Ordnungssystem von Sammlern, sondern literaturgeschichtliche Konsistenz dokumentieren, weiß man schon längst. Es gilt dies aber grundsätzlich von der Handschrift schlechthin als dem einheitlichen Transporteur aller mittelalterlichen Texte bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts: mit den Daten, die sie über die bloßen Texte hinaus vermittelt, Daten zu deren Verbreitung in Raum und Zeit, deren Leserschaft (Uberlieferungsgeschichte schließt Sozialgeschichte, nach der man heute schreit, und zu deren Ableger man Literatur, zu der es allem Anschein nach kein unbefangenes Verhältnis mehr gibt, gerne degradieren möchte: Literatur als 'Sozialgeste'), konstituiert sie in unwiderlegbarer Weise Geschichte. Der Literaturgeschichtsschreiber braucht so die Geschichtlichkeit keineswegs aus der politischen Geschichte abzuleiten (was immer noch als zweiter Weg sinnvoll bleiben kann), die Literatur vermag sie aus sich selbst heraus zu bezeugen. Es muß so auch erlaubt sein, Literatur sola litteratura geschichtlich darzustellen. Was der Literaturhistoriker selbst, im notwendigen Aneig-

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nungsprozeß, aus Eigenem und seinem Zeitbewußtsein verknüpfend und deutend in diese Geschichte einbringt, das hat nicht nur der Sachwalter | von Literatur, sondern jeder, der Geschichte schreibt, zu verantworten. Daß die Geschichte der Literatur methodisch ein Spezialfall ist, wie man es uns seit längerem und in peinlichen Formen der Penetranz weismachen will, erlaube ich mir mit Entschiedenheit abzulehnen. Ich schreibe dies, weil ich mich in diesem Punkte mit MAX WEHRLI einig weiß. Das gilt auch - horribile dictu - für die nationale Literaturgeschichte. Daß deutsche Literaturwissenschaftler sie denunzieren, ist zwar zeitgeschichtlich verständlich - Vertreter anderer Literaturen dachten nie daran, ihre nationale Literatur als 'Geschichte' grundsätzlich in Frage zu stellen - , darf aber nicht festgeschrieben und somit zum Dogma werden. WEHRLI ruft liebenswürdig-ironisch in Erinnerung, daß "banalerweise es doch zuerst eine bestimmte Sprachgemeinschaft [sei], von der eine Literatur getragen ist" ('Lit. als Gesch.', S. 10). Im "Vorwort" heißt es dann sehr entschieden: "An einer Voraussetzung wird allerdings festgehalten: daß nämlich eine richtig verstandene deutsche Literaturgeschichte gerade auch für das Mittelalter und die frühe Neuzeit sinnvoll und möglich sei" (S. 6). Das ist nicht nur pro domo gesagt, sondern zur Situation der deutschen Literaturgeschichtsschreibung.

II Wenn WEHRLI selbst das Prinzip der Auswahl und Verknüpfung methodisch in den Vordergrund gestellt hat, so liegt es nahe, seine 'Geschichte der Deutschen Literatur' zuerst unter diesen Gesichtspunkten zu befragen. Das Auswahlprinzip sei vorangestellt. "Bis ums Jahr 1220" d.h. bis zum Ende der sog. "Staufischen Klassik", so sagt WEHRLI, "ist alles Erhaltene wichtig, selbst Glossen und Glaubensbekenntnisse" ('Literaturgeschichtsschreibung', S. 422). Er hält sich auch - mit seinen Vorgängern - an diesen Grundsatz, und wenn doch gelegentlich eine Lücke zu konstatieren ist, so die Leipzigerund Oberaltaicher Predigtbücher des 12.Jahrhunderts oder die (fragmentarische) Albanus-Verslegende aus derselben Zeit, so wohl nur deshalb, weil der Verfasser (glücklicherweise) den Ehrgeiz nicht hat, Prinzipien aufs Jota zu erfüllen. Die Probleme beginnen mit der Zeit darnach, und sie wachsen mit der Zeit analog zur anschwellenden literarischen Produktion. Auswahl heißt hier zweierlei: Auswahl im ganzen Bereich dessen, was als 'Schrifttum' anzusprechen ist, und Auswahl als Auslese aus der Breite und Fülle von Texten einzelner Gattungen und Typen. Der erstgenannte Auswahl-Fall ist der interessantere, denn er betrifft den zugrunde gelegten Literatur-

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begriff. Das 'Verfasserlexikon' der 'Deutschen Literatur des Mittelalters' versteht unter "Literatur" alle "geordneten" Texte, d.h. neben den "Reimwerken" die ganze Breite der Gebrauchsprosa mit (populärwissenschaftlichen Texten, religiöser Erbauungsliteratur, Welt- und Naturgeschichten, Memoiren und Tagebü- | ehern, und dies mit guten Gründen, die hier nicht wiederholt werden sollen 2 . Aber auch H U G O KUHN, der nicht an die Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines Autoren und Texte isolierenden Lexikons dachte, sondern an Literaturgeschichte, hat (fast) die gesamte Schriftlichkeit im deutschen Mittelalter als 'Literatur' in Anspruch genommen 3 . W E H R L I spricht diesen erweiterten Literaturbegriff unter dem Stichwort "Fachliteratur" im 'Vorwort' an. "Viel weniger als bei der neueren Literatur ist Literaturgeschichte Dichtungsgeschichte, viel mehr ist die dichterische Potenz schon in Wort- und Begriffsbildung, in den angewandten Formen, in kollektiven Leistungen und Wirkungen zu suchen" (S. 5). Das ist ein Votum für den erweiterten Literaturbegriff (der nochmals S. 818 f. und S. 1170 angesprochen wird), und die Ausführung holt es in bedeutsamen Kapiteln ein ("Geistliche Prosa", S. 609-661; "Geistliche Literatur", S. 665-691; "Neue Prosa", S. 817-899; im Rahmen des 16Jahrhunderts: "Reformation", S. 969-1026, darunter "Die Bibel der Geschichte und der Natur" mit Sebastian Franck und Paracelsus; "Chronik und Selbstbiographie", S. 1027-1052). Uber das zweite Auswahlprinzip, das ich Auslese nannte, hat sich W E H R L I in 'Literaturgeschichtsschreibung' geäußert (s. o.). Im notwendigen "Zwiespalt zwischen der individuellen Qualität eines literarischen Werks und seinem historischen Stellenwert" (Vorwort S. 5 f.) entscheidet sich WEHRLI, für den die qualitative Wertung unverzichtbar ist (was ihm die 'Modernen' übel nehmen werden), für die individuelle Qualität. Sie ist jedenfalls als das entscheidende Ausleseprinzip, aber auch konkret an den ausführlichen und sorgfältigen Würdigungen zu erkennen, die W E H R L I Werken zuteil werden läßt, deren literarischer Stellenwert bei hoher Qualität gering ist. Die Verknüpfung ist weitgehend, jedenfalls in den bekannteren Sparten der Literatur, durch die Konvention der Literaturgeschichtsschreibung vorgegeben: ein Leitfaden der Chronologie, gebrochen durch das Nebeneinander der Gattungen und Typen. Dieses Prinzip hatte das BuRGER'sche Sammelwerk 'Annalen' durch synchronische Querschnitte und BERTAU durch Zusammenschau von Literatur und geschichtlichem Ereignis, Dichtung und Kunst oder auf Grund eines oft kryptischen Tertium comparationis (Hildebrandslied und Einhards Karl-Vita mit 2 3

Siehe jetzt Vorwort zu Bd. III, 1981. HUGO KUHN, Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen 1980, bes. S.90ff.

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'problematischer Identität' als Bindeglied) durchbrochen oder in Frage gestellt. W E H R L I scheut sich nicht, ihm (weitgehend) zu folgen, er beansprucht in der Stofforganisation keine Originalität4. | Immerhin gibt es unter den sehr großen Darstellungsblöcken zwischen "Die ritterlich-höfische Dichtung der Stauferzeit" und "Spätmittelalter" den Komplex "Wandlungen vom Hoch- zum Spätmittelalter", im wesentlichen das 13. Jahrhundert, und das ist nicht nur ein Etikett, um die drei Jahrhunderte 'Spätmittelalter' zu untergliedern, sondern der gelungene Versuch, das erste Jahrhundert nach der staufischen 'Klassik' als eine literaturgeschichtliche Einheit sui generis zu begreifen. Auch ist das 16. Jahrhundert nicht einfach zum Mittelalter geschlagen worden, weil M. W E H R L I über die Kompetenz einer solchen Darstellung verfügt, sondern aus wohlerwogenen Gründen epochaler Einheit: "Wenn irgendwann in der deutschen Literaturgeschichte nicht nur ein Stilwandel, sondern ein eigentlicher Stilwechsel und damit trotz aller zeitlichen Auffächerung eine klare Epochengrenze, ja eine grundsätzliche Zäsur festzustellen ist, dann zwischen dem '16. Jahrhundert' und der Barockzeit" (S. 1149). Dieser Satz hat keinen Alibicharakter sondern erfährt in der Darstellung selbst wiederholt und überzeugend seine Konkretisierung. So fehlt es dem epochalen Gefüge der 800 Jahre WEHRLischer Literaturgeschichte keineswegs an Profilierungen. Auch kleinräumig sind leise Neuakzentuierungen nicht zu übersehen. Ich vermerke nur das von W E H R L I geschätzte Zwillingsmodell der Gegenüberstellung von verschiedenem Verwandtem: 'Heliand' und Otfrieds 'Christ', Williram und 'St. Trudperter Hohelied' (dieses ist hundert Jahre jünger, aber ein Nachfolgewerk), Alexanderlied und Rolandslied, 'Lanzelet' und 'Wigalois', Heinrich von Veldeke und Fenis von Neuenburg als Minnesänger und andere Paare bis hin zu Sebastian Franck und Paracelsus. Die eigentliche Konsistenz der darzustellenden Autorenvielzahl und Textmasse über ihren wie immer gearteten geschichtlichen Zusammenhang hinaus bewirkt nun freilich der Literaturhistoriker selbst. Das gilt für jede Literaturgeschichte, die nicht nur Repetitorium sein will, und auf diesem subjektiven Faktor beruht ja auch die spezifische Qualität einer literaturgeschichtlichen Darstellung. Im besonderen sind es der Interpretationshorizont, der eingesetzt wird, das aus dem Gegenwartsbezug gewonnene Erkenntnisinteresse am "Fremden" und "Andern" historischer Gegenstände sowie das Urteil, das auf dem jeweiligen geschichtlichen Stellenwert wie auf der ästhetischen Faszination (wozu auch das gehört, was wir literarischen 'Geschmack' nennen) beruht. Auf * Das hat ihm mutmaßlich das verantwortungslose (das Wort ist nicht zu stark) Verdikt von C.LECOUTEUX (Etudes Germaniques 36 [1981] 238 f. zugezogen ("il [WEHRLI] n'apporte aucune nouveaute").

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dieses Urteil hebt W E H R L I mit Entschiedenheit ab: "Ein Verzicht auf Wertung [ist] unmöglich" (Literaturgeschichtsschreibung, S. 423)5. Der folgende Gang durch W E H R L I S Buch (der Eilmärsche und Abkürzungen nicht scheuen darf) soll etwas von dem verdeutlichen, was dieses dem Leser an Perspektiven, Einsichten und Urteil zu vermitteln vermag. | III

Schon der Introitus deutscher Literatur, die althochdeutsche Literatur ("Von der Völkerwanderung bis zum Ende der Ottonen"), die ein knappes Hundert Seiten in Anspruch nimmt, ist das Muster einer ausgewogenen, in sich konsistenten und zugleich perspektivenreichen Darstellung. Es sind in diesem Bereiche mit einer beschränkten Anzahl von Texten weder sachlich noch methodisch größere Bodengewinne zu erwarten, obschon Einzelforschung durchaus nicht zu ihrem Ende gekommen ist (Otfried von Weißenburg z.B. erlebte in den letzten Jahrzehnten eine eigentliche Forschungsblüte). Die Darstellung lebt hier von ihrer Eigensubstanz: der Profilierung, der Dichte, der Formulierung. W E H R L I thematisiert vor allem die literarische Geburt der Volkssprache. Er weiß natürlich um die 'Entbindung' des deutschen Worts aus dem Latein in missionarischer oder didaktischer Absicht und stellt diesen Vorgang auch dar, weigert sich indes, diesen Prozeß als "eine Entwicklung vom Stammeln zur freien Rede" zu verstehen. "Auch die von 'Regeln unbezwungene' althochdeutsche Sprache war immer souveränen Ausdrucks fähig - ein Volk ist keine Schulklasse und seine Sprache in jedem Moment der Geschichte gottunmittelbar" (S.45). Letzteres ist ein Theologumenon, das gerade die Literatur des Beginns zu bewähren vermag. Die Berufung des angelsächsischen Stallknechts Caedmon zum Lobredner Gottes in der Volkssprache, "der sprachlichen Knechtsgestalt", was deren Heiligung bedeutet, ist für W E H R L I "eine Art literaturhistorischer Gründungslegende" (S. 61) und von vorzeichenhafter Bedeutung. Otfrieds 'Evangelienbuch' ist sodann "Gründerwerk der deutschen Literaturgeschichte" (S. 76), der Endreim "Zeichen der endgültigen Taufe der einheimischen germanischen Formensprache" (S. 9 0 ) . Sodann führt W E H R L I den Leser in einen Bewegungsprozeß hinein, der die Denkmälerkarte alten Stils um eine Dimension bereichert. So markiert das 'Ludwigslied' den Durchbruch vom heidnischen zum "christlichen Heldenlied". "Es ist somit sozusagen die älteste Chanson de geste" (S. 95): soviel ich sehe, eine neue und zwingende Zuordnung, die Brücken über Jahrhunderte und zu anderen Sprachen schlägt. 5

Zum Problem der Wertung s. jetzt H . FROMM, Von der Verantwortung des Philologen, D V j S 55 (1981) 543-566, bes. S . 5 5 7 f f .

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Die Literatur der "salischen und frühen staufischen Zeit" (S. 117-233) wird mit einer präzis-reichhaltigen Charakterisierung der neuen, "romanischen" Frömmigkeit (S. 117-121) eingeleitet. Es gilt sodann eine sehr große Zahl von geistlichen Dichtungen vorzustellen, und dieser Durchgang wirkt nun doch von der Sache her etwas ermüdend, obschon die Charakterisierung nirgends flach wird und auch kräftige Akzente nicht fehlen ('Ezzolied', Heinrich von Melk). Im Bereich der "Geschichtsdichtung und Legende" (S. 176-202) leuchtet in W E H R L I S Darstellung das 'Annolied' wie eine Perle (S. 180-185). Die bedeutende lateinische Erzählkunst der Zeit mußte einer Auswahl unterworfen werden. W E H R L I trifft sie so, daß er aufnimmt, was "für den | Aufbau einer volkssprachlichen Erzählkunst wichtig wird und vor allem, was durch eine gewisse Grundsätzlichkeit der ideellen Haltung und durch die Tendenz zur anspruchsvolleren Großform einen konstruktiven Beitrag zur besonderen Formenwelt des Mittelalters liefert" (S. 203). Das betrifft die Tierepik und den "ersten Roman", den 'Ruodlieb'. Mit Recht bewundert W E H R L I rückhaltlos die 'Ecbasis captivi' und den 'Ysengrimus' des Nivardus aus Gent. Es ist auch sachlich nicht unrichtig, daß diesen Meisterwerken gegenüber die volkssprachlichen Tierdichtungen, der 'Roman de Renard' wie 'Reinhart Fuchs', "einen Abstieg bedeuten" (S.211). Ich verstehe nur nicht recht, warum der Verfasser hier so dezidiert wertet, was er sonst beim Prozeß volkssprachlicher Ausformungen unterlägt. Man wird dem 'Reinhart Fuchs' bestimmt nicht gerecht, wenn man ihn als "recht rohes Werk" (S.213) bezeichnet. Dieses Urteil ist um so erstaunlicher, als W E H R L I die durchaus analoge formale Rückständigkeit des deutschen Rolandsliedes gegenüber der 'Chanson de Roland' positiv als "Simplizität, Wucht und Klarheit im Sprachstil, in der Idee, im Aufbau" (S. 198) zu würdigen versteht. Das 'Reinhart Fuchs'-Verdikt ist die Eierschale einer früheren Stellungnahme im Aufsatz 'Vom Sinn des mittelalterlichen Tierepos' v.J. 1957', wo das älteste deutsche Tierepos als "primitiv und grob in Erfindung, Erzählweise und Verskunst" (S. 112) bezeichnet wird. Dem entspricht nun freilich W E H R LIS Charakteristik (S. 211-213) kaum mehr, wenn auch Reserviertheit nicht zu übersehen ist.

Etwas von solcher Reserviertheit, die in unzureichender Qualität ihren Grund haben dürfte, haftet auch der Vorstellung der "Legendenromane" 'Oswald', 'Orendel' und 'Salomon und Markolf' an (S. 228-232). Ich kann sie übrigens verstehen, indes nicht, daß sie sich auch auf den 'Graf Rudolf ausdehnt, der sehr knapp und etwas lieblos behandelt wird (S.232f.). Ich verzichte auf eine besondere Würdigung und Akzentuierung der anschließenden Darstellung der "ritterlichhöfischen Dichtung der Stauferzeit" (S. 237-412): Die Grundzüge der Interpretation hat der Verfas' Nachdruck in: M. WEHRLI, S. 113-125 (zit.).

Formen

mittelalterlicher

Erzählung,

Zürich

1969,

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ser in zahlreichen Einzelbeiträgen, die wichtigsten zum 'ParzivaP und zum 'Tristan', vorgelegt, und meine eigene Darstellung (der höfischen Epik) erzeugt nun doch eine leise Befangenheit des Rezensenten, obschon er sich in entscheidenden Punkten mit W E H R L I im Einklang sehen darf. Doch sei an dessen Grundverständnis der "klassischen" Phase deutscher Literatur des Mittelalters erinnert: Es geht in ihr "keineswegs um eine Synthese von Gegensätzen oder gar um irgendeinen Kompromiß, vielmehr um die Durchdringung eines neuen Weltbereichs durch den alten, nie angetasteten Glauben, oder doch um den Versuch, das menschliche Ich auch in seiner neuen Weltlichkeit als Gottes Geschöpf zu verstehen" (S.241). Als Höhepunkt empfinde ich die ganz aus dem Vollen und Tiefen, üz kezzels gründe geschöpfte 'Parzival'-Interpretation; in dieser Knappheit (S. 300-314) gibt es nichts Vergleichbares. Hervorhebung verdient auch das facettenreiche Kapitel über die „weltliche Lyrik" (S. 326-391), das auch nicht die übliche "Angst" vor Walther erkennen läßt, wie es überhaupt immer wieder souveräne Unbefangenheit ist, die es W E H R L I | erlaubt, modischen oder doch zeitbedingten Aversionen der Literaturwissenschaft aus dem Wege zu gehen. Überrascht hat mich das Festhalten an der ebenen Minne (S. 382). Ich vertrete die Ansicht, daß ebene werben, hapax legomenon in 'Aller werdekeit ein füegerinne'

(46, 32)

im Sinne Walthers kein terminus technicus ist, sondern eine ad hoc verwendete Metapher in der Bedeutung 'ruhig, gelassen werben', was von der ansgesprochenen Frau Mäze launig-ironisch erfleht wird, das es aber bei wahrer Liebe, die immer versert, sei sie 'nieder' oder 'hoch' (Begriffe, die bei dieser Gelegenheit im Sinne allgemein anerkannter Spielregeln definiert werden), nicht geben kann. W o immer herzliebe

waltet, hier auf 'Hohe

Minne bezogen, ist Maze nicht mehr zuständig, und weil es ein ebene werben nicht gibt, kann es auch keine "ebene Minne" geben.

Ein gutes Beispiel für W E H R L I S immer wieder zu beobachtende Zurückhaltung gegenüber forcierten Interpretationsansätzen ist das Nibelungenlied. Er meint, daß G. W E B E R mit seiner These, der Nibelungendichter übe nicht nur Kritik an altem Heldentum, sondern bringe "im Bilde der alten Helden seine Kritik und Desillusion gegenüber dem zeitgenössischen Rittertum" an, "die Dinge wohl auf den Kopf" stelle (S. 403), distanziert sich aber auch mit Entschiedenheit von DE B O O R S "höfischem Heldenroman" (ebda.). Er findet sich zur Würdigung des Kunstwerks zurück, der Handlungsführung, der Personenkonstellation, er hebt die "epische Gerechtigkeit" hervor, "die jedem Helden den ihm angemessenen Gegner und seinen richtigen Platz in der Liturgie des Verderbens anweist" (S.401). Für sich genommen ist W E H R L I S Gang durch die höfische Klassik ein Meisterstück der Ausgewogenheit und eines aus Eigenem "gewachsenen" Perspektivenreichtums, - und doch emfindet ihn der Leser nicht als Mitte und Höhepunkt des Buches. Das Erstaunliche an dieser

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Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist vielmehr die Tatsache, daß nach Wolfram und Gottfried, nach Walther und nach der 'Kudrun' keine Atemnot der Darstellung festzustellen ist, vielmehr fortdauerndes gespanntes Engagement, ungetrübter Blick auf das was "steht" und das was sich "bewegt", unbeirrbares Urteil für Qualität und Stellenwert. Zum erstenmal darf der Leser das literarische deutsche Spätmittelalter als dynamischen Eigenprozeß erleben. Es wurde bereits darauf hingewiesen (S. 2 3 3 ) , das W E H R L I der höfischen Klassik eine epochale Ubergangsphase, "Wandlungen vom Hochzum Spätmittelalter" (S. 4 1 5 - 6 6 1 ) folgen läßt, die als Einheit sui generis verstanden sein will. Die Darstellung selbst, deren Umfang denjenigen der 'Klassik' übertrifft, rechtfertigt diese Ausgliederung: Neidhart mit seinem Gegenmodell zum Minnesang, die "Historisierung" der Erzählung, zuerst durch Rudolf von Ems, der neue Formwille etwa bei Konrad von Würzburg oder im 'Jüngeren Titurel', der Übergang vom lateinischen zum deutschen Spiel, die geistliche Prosa neuen Rangs (Mechthild von Magdeburg, Berthold von Regensburg, | David von Augsburg), neue Gattungen, die ins literarische Leben treten: Mären und Bispel. W E H R L I hebt immer wieder hervor, wie im fortschreitenden 1 3 . Jahrhundert neue Verbindlichkeiten von problematisch gewordenen Vorstellungsmustern gesucht werden. Das gilt von Rudolf von Ems: Es geht in seiner Kunst "um lere, um warheit, d. h. um faktische Verbindlichkeit in moralischer und religiöser Hinsicht" (S. 484) - deshalb der immer stärkere Zug zur Geschichte hin: am Ende steht nach dem 'Alexander' die 'Weltchronik'. In dieselbe Richtung weist der erste Durchbruch erzählender Prosa im 'Lancelot': der heilsgeschichtliche Rahmen ritterlichhöfischer Aventiure gewinnt an warheit in der Form der historie. Im 'Frauendienst' versucht Ulrich von Lichtenstein "krisenhaft gewordenen Minnesang in der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit persönlich zu bestätigen" (S.431), d.h. durch (fiktionalen) Einsatz seiner 'Vita' zu beglaubigen. Besonders eindrucksvoll arbeitet Kapitel IV 4 (S. 4 9 0 - 5 0 7 ) den "neuen Form willen der literarischen Hochgotik" in Konrads von Würzburg Erzählungen, im 'Jüngeren Titurel' und im 'Lancelot' heraus. Es trifft hier jede Aussage in die Mitte, und jede Attribuierung profiliert. Auch die Sachinformation ist ungemein dicht und verrät souveräne Verarbeitung auch der Spezialliteratur. Diskutieren könnte man WEHRLIS Aussage zu Konrads 'Engelhard', daß weder der "erschlichene Sieg im Gottesurteil noch die Tötung der eigenen K i n d e r . . . dem Dichter zum Problem" geworden sind (S. 492). Das ist nur richtig mit differenzierendem K o m mentar, und dieser müßte etwa so lauten: Der zweite Fall mußte - und durfte - nicht problematisiert werden, da er als sehr bekanntes legendäres Geschehen ('Amicus und Amelius') festgeschrieben, das Heilungswunder vorprogrammiert war (WEHRLI in ande-

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rem Zusammenhang, S.566: "Die Legende . . . problematisiert ihren Stoff nicht"). Man müßte nun aber auch den ersten Fall "legendär" lesen, in dem Sinne, daß eine durchaus transzendente triuwe das Geschehen steuert, die rehtiu wärbeit, wie Konrad sagt, welche die formaljuridische Wahrheit aufzuheben in der Lage ist.

Im Kapitel "Vor- und Frühgeschichte des Dramas" (S. 580-608) hält sich W E H R L I angenehm frei von den eindimensionalen Kategorien gegenwärtiger Forschung, die ζ. B. die weltlichen Szenen und Unflätigkeiten nur heilspädagogisch erklären will; er weiß, daß es Lesedramen gibt (S. 580), und nicht nur in der Gestalt der Uberlieferung, weiß aber auch, daß in Byzanz spätrömische, ja griechische Dramatik fortlebte, die im Abendland untergegangen ist (S. 583). Er findet es aber auch bedenkenswert, daß es kein höfisches Drama gegeben hat (S. 580). Gegenüber diesen und anderen herausragenden Kapiteln fällt das III., "Sittenlehre: didaktische Dichtung" (S. 445-464) etwas ab. Es ist vor allem nicht gut disponiert. Thomasins von Zerklaere 'Welscher gast' v.J. 1215/16 steht zwischen Seifried Helbling (von ca. 1283 bis 1299) und Freidanks 'Bescheidenheit' (vor 1233), der dann der 'Renner' Hugos von Trimberg folgt, "an dem er noch 1313 gearbeitet hat" (S.462). Voran gehen der Winsbeke (um 1210/1220), die 'Disticha Catonis' (erste mhd. Fassung um 1250) und Konrads | von Haslau 'Jüngling' (um 1280). Da schlägt die Chronologie unziemliche Purzelbäume, auch wenn sich WEHRLI, wie eigentlich anzunehmen ist, Gedanken über die Reihung der Texte gemacht haben mag (Kleinformen - Großformen?). Vor allem hätte man den Winsbeke, Freidank und Thomasin der "staufischen Klassik" nicht entziehen dürfen: Jede Epoche hat ihre eigene Sittenlehre, und außerdem ist der 'Welsche gast' durch die Walther-Polemik unmittelbar mit diesem verbunden. Wie ebenfalls Thomasins Werk beweist, ist "umfangreichere Lehrdichtung" keineswegs "gerade auch für spätere und späte Phasen der Entwicklung bezeichnend" (S. 455). Die Ubergangsepoche findet ihren Abschluß mit einem unfangreichen Kapitel "Geistliche Prosa: Seelsorge, mystische Frömmigkeit, Spekulation" (S. 609-661). Es gehört zu den Überraschungen von W E H R L I S Literaturgeschichte, ist es doch geschrieben, als stamme es aus der Feder eines Spezialisten. Zum erstenmal in einer literaturgeschichtlichen Darstellung erhält diese herausragende Prosa einer von lateinischen Mustern befreiten aszetischen und mystischen Spiritualität den Stellenwert, der ihr zukommt. Meister Eckhart werden zwölf Seiten zugedacht (S. 630-642, so viel wie dem Nibelungenlied, mehr als Gottfrieds 'Tristan', fast so viel wie dem 'ParzivaP), Heinrich Seuse neun Seiten (S. 647-656: eine "ehrliche" Auseinandersetzung des Literaturwissenschaftlers und Protestanten W E H R L I mit dem 'urkatholischen' Diener der ewigen Weisheit). Nicht wohl begründet finde ich den Entschluß WEHRLIS, die drei großen Dominikanermystiker (von denen Tauler und Seuse bis 1361 bzw. 1366 lebten) mit den im dritten

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Viertel des 13. Jahrhunderts wirkenden Franziskanern und der Mechthild zu verbinden. Es gibt keine direkten Beziehungen Eckharts zu den süddeutschen Franziskanern, auch nicht zur Magdeburger Begine (die Beginenmystik vermittelte sich ihm vielmehr über die französische als häretisch verurteilte und 1310 verbrannte Mystikerin Marguerite Porete 7 ). Umgekehrt wird in der vorliegenden Anordnung die unbestrittene Kontinuität mystischen Schrifttums von Tauler und Seuse zu den Gottesfreunden und zur mystisch-aszetischen Literatur der 2. Hälfte des H.Jahrhunderts durch eine Epochenzäsur getrennt. WEHRLIS andeutende Begründung dieser Disposition durch den (vorsichtig verwendeten) Begriff der Gotik (S. 419) halte ich für unzureichend.

Piece de resistance einer Darstellung der deutschen Literatur des Mittelalters ist das 14. und 15.Jahrhundert. WEHRLI meistert es (S. 665-899) in einer Weise, die Bewunderung abnötigt. Es werden hier nicht nur Schneisen durch das Dickicht von unzähligen Texten geschlagen, sondern das Zeitalter als Ganzes repräsentativ vorgestellt. Der Fortschritt gegenüber der vorangehenden Literaturgeschichtsschreibung ist hier am auffallendsten, obschon gerade GÜNTHER MÜLLERS Gang durch das Spätmittelalter im alten 'Handbuch der Literaturwissenschaft' v. J. 1930 als herausragende Leistung zu gelten hat und auch die Darstellung in H. BURGERS 'Annalen der deutschen Literatur' v.J. | 1962 Respekt verdient. Sicher war in den letzten Jahrzehnten die Spätmittelalterforschung besonders intensiv. Grundlegende Arbeiten entstanden über Märendichtung, Minnereden, Fabel, meisterliche Liedkunst, die Spieltraditionen, die deutsche Hagiographie, die geistliche Prosa, vielfach begleitet von Ausgaben. Diese neue Grundlagenforschung muß selbstverständlich bei jeder Gesamtdarstellung zu Buche schlagen, aber nun doch nur bei ausdauerndem Willen, sich ä fond auf die Fülle der Erscheinungen einzulassen, und der Fähigkeit, vieles zusammenzusehen. Beides hat WEHRLI bei seinem kraftvollen Versuch, die Literatur zweier Jahrhunderte, die unter dem Verdikt von Qualitäts- und Formverlust stehen, sine ira et studio vorzuführen, unter Beweis gestellt. WEHRLI setzt gleich dort ein, wo er sein Bild der Ubergangszeit abgeschlossen hat: mit der geistlichen Prosaliteratur. Es gelingt ihm, in diesem Zusammenhang die oberrheinischen Gottesfreunde erstaunlich sicher in ihrem Wollen und ihrer Bedeutung zu charakterisieren (S. 666-670); hier begegnen wir sonst nur Verlegenheit oder Negation, dazu dem leisen Mißbehagen, nach einem Jahrhundert nicht über das Fazit von H.DENIFLE hinausgekommen zu sein. WEHRLI schätzt die Idee einer "geheimen Bruderschaft" richtig ein, wenn er schreibt, sie gehöre "zu einer literarischen Tradition: von den Gralsrittern über

7

Siehe K.RUH, Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen, in: Philosophische Perspektiven. Ein Jahrbuch, hrsg. von R. BERLINGER und E. FINK, Bd. 14 (1982) 323-334, jetzt in: K.R., Kleine Schriften, Bd. II, Berlin/New York 1983, S. 327-336.

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Eberlins von Günzburg 'Bundesgenossen' bis zu den Rosenkreuzern und Goethes Gesellschaft vom Turm" (S. 669). Kapitel II, "Didaktik, Satire, Parodie", findet seinen Höhepunkt und Abschluß in den Seiten, die Heinrich Wittenwilers 'Ring' gewidmet sind (S. 722-729) und in erster Linie auf eigenem Textverständnis beruhen. Das gilt auch weitgehend für die bedeutenden Vertreter der lyrischen Kunst in Kapitel III, den Mönch von Salzburg, Hugo von Monfort, Oswald von Wolkenstein und Heinrich von Laufenberg (S. 741-756). Im letzten Abschnitt des Kapitels "Spiel" (IV.) geht WEHRLI auf die "Frage der 'Moralität'" ein. Er sieht Ansätze zu solchen Spielen, u. a. im Lübecker "Fasnachtsspiel" 'Henselyn' (S. 801 f.). Schade, daß die von H.J.LINKE neu entdeckte 'Erfurter Moralität' (2Verfasserlexikon II [1980] 576-582), ein imposantes Großdrama (vielleicht - gegen LINKE ein Lesedrama) mit ca. 18 000 Versen, WEHRLI nicht mehr erreichen konnte. Im Kapitel "Die Verserzählung" (V.) kann WEHRLI wie gelegentlich auch sonst nicht verleugnen, daß er ein "Feind von allem Rohen" ist. Kaufringer erzählt nach seinem Geschmack "grobe, wüste Geschichten" (S. 803). Es dürfte nun doch nicht übersehen werden, wie sie erzählt werden. Vor allem ist Kaufringer ein unerreichter Meister der komischen Replik, die im Schwank vom "Zurückgegebenen Minnelohn", der übrigens auch stofflich weder "grob" noch "wüst" ist, geradezu raffinierte Formen annimmt. Die sehr weitreichende Anthropomorphisierung im 'Reinke de vos' veranlaßt WEHRLI zur richtigen Feststellung, daß sich durch sie "die Tierdichtung im Grunde selber auf[hebt]" (S. 811). Nur übersieht er, daß diese Angleichung des Tieres an den Menschen bereits im 'Roman de | Renard' weit gediehen ist und - man erlaube mir eine weitere Glosse zum 'Reinhart Fuchs' - es zu den großen Eigenleistungen Heinrichs gehört, diese Züge seiner Vorlage beseitigt zu haben.

Im großen Schlußkapitel VI, "Neue Prosa", erhält zunächst die Schweizer Chronistik die Schilderung eines Kenners und Liebhabers

(S. 828-831). D i e 'Ackermann von Böhmen'-Charakteristik (S. 839-849)

übertrifft meiner Ansicht nach in der Zusammenschau die auch nicht gerade defizitäre Spezialforschung. Die "Anfänge des Prosaromans" (S. 849-870) werden, wie WEHRLI klar herausstellt, "von der sozialen Elite geschaffen und getragen", aber durch Buchdruck und Trivialisierung zur "Volksliteratur" (S. 851). Die eindrucksvollste Einzeldarstellung kommt hier dem 'Fortunatus' als "literatursoziologischem Musterfall" (S. 870) zu.

Die S. 851 vorgestellte "entstehungsgeschichtliche" Ordnung mit 1) "deutscher Prosa nach französischer Prosa- oder Versvorlage" (Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, Thürings von Ringoltingen 'Melusine' u. a.), 2) deutschen "Prosaauflösungen" ('Tristan und Isolde', 'Wilhelm von Österreich', 'Wigoleis'), 3) deutschen Originalwerken ('Fortunatus') ist unvollständig. Voran gehen nämlich alte Stoffe nach lateinischen Vorlagen (Trojaromane, Alexanderromane, 'Herzog Ernst'). Diese übersieht WEHRLI zwar nicht ganz, verpackt sie indes, wie ich meine, unsachgemäß, wenn die Bücher vom Trojanerkrieg, mit

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Hans Mairs von Nördlingen i.J. 1392 verfaßten Bearbeitung der 'Historia destructionis Troiae' des Guido de Columnis an der Spitze, der "frühhumanistischen Ubersetzungsprosa" zugeordnet werden (S. 874-876) und 'Herzog Ernst F seine Stelle nach den "Prosaauflösungen" erhält (S. 864).

Zwei herausragende Persönlichkeiten bilden den Abschluß: Albrecht von Eyb (S. 891-896) und Geiler von Kaisersberg, "ein Prediger" (S. 896-899). Die Albrecht-von-Eyb-Charakteristik gehört zu den Cimelien von WEHRLIS Buch. Einige kleine Unaufmerksamkeiten zum Spätmittelalter-Teil seien zu erwähnen erlaubt: S. 666 wird Heinrich von Nördlingen richtig "Weltpriester" genannt, dann aber kann er nicht "in Missionen seines Ordens" auf Reisen gewesen sein. - S. 734: Heinrich von Neustadt hat in 'Gottes Zukunft' nicht des Alanus von Lille 'Anticlaudianus' benutzt, sondern das 'Compendium Anticlaudiani' (so richtig, wenn auch nicht präzis S. 560 "Teilbearbeitung" des 'Anticlaudianus'); s. P. OCHSENBEIN, Das Compendium Anticlaudiani. Eine neuentdeckte Vorlage Heinrichs von Neustadt, ZfdA 98 (1969) 81-109. S. 853: Huge Scheppel darf nicht nur "Enkel eines Metzgers" genannt werden - das ist er mütterlicherseits - , er ist immerhin Sohn eines Landedelmannes. - S. 862f.: Die "Melusinenprosa nach Couldrette" in der Basler Hs. Ο I 18 ist keineswegs "unabhängig von Thüring" das Werk "des Basler Ratsherrn Nikolaus Meyer", sondern dieser ist schlichter Kopist der 'Melusine' Thürings. In der Ausgabe von KARIN SCHNEIDER v.J. 1958 ist es die Handschrift Β (S. 8). - S. 864: Fuetrers 'Prosa-Lanzelot' ist nicht "ungedruckt" geblieben: s. A. PETER, Ulrich Fuetrers 'Prosaroman von Lanzelot' (StLV 175), 1885.

Das "Sechzehnte Jahrhundert" (S. 903-1167) ist in WEHRLIS Darstellung keine bloße Verlängerung des Mittelalters, obschon der Verfasser ich wies bereits darauf hin - die eigentliche "Epochengrenze" zwischen dem 16. Jahrhundert und der Barockzeit zieht (S. 1149). Eindrucksvoll werden dem Leser die Neuansätze bewußt, wie sie ein durch Humanismus, Reformation und Gegenreformation verändertes Welt- und Menschenbild bedingt. Bewußt wird aber auch, daß es die lateinische Dichtung ist, der das qualitative Primat | zukommt und die den deutschen Barock vorbereitet, während die deutsche Literatur "letzten Endes vulgär gewordenes Spätmittelalter darstellt" 8 ; bewußt werden zusätzlich auf der darstellenden Ebene die besonderen Schwierigkeiten einer Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts. Literatur ist im Ablauf mächtiger geistiger, religiöser und sozialer Bewegungen nur ein Teilaspekt, ihre Darstellung aber müßte eine Ganzheit erstreben. WEHRLI löst das Problem so, daß er "etwa Luther, Paracelsus, Aventin, Franck primär in ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung" faßt und deren "theologische, naturwissenschaftliche oder historische Aussage . . . immer wieder auf

" M. WEHRLI, Deutsche und lateinische Dichtung im 16. und 17.Jahrhundert, in: Das Erbe der Antike, hrsg. von W. RÜEGG (Erasmus Bibliothek), Zürich-Stuttgart 1963, S. 135-151, I.e. S. 137.

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diesen literarisch-sprachlichen Aspekt" bezieht (S. 906). Er hält dieses Prinzip vorzüglich durch. Das Humanismus-Renaissance-Kapitel (S. 907-968), das die Ernte der seit dem Krieg erneuerten Humanismusforschung voll einbringt, thematisiert zentral den pädagogischen Impetus der humanistischen Bewegung, die "aus dem Gespräch, der Rede pro und contra, dem Scherz, der Satire, dem Lob, auch der Verleumdung" und damit "aus der Sprache als dem Organ des Miteinanderseins und Menschseins" lebt (S. 940). Im Gang durch die reformatorische Literatur (S. 969-1026) handhabt W E H R L I die geschickte Regie, zuvor "die ersten Kampfjahre in der Breite der populären Tagesliteratur mit ihren vereinfachten und zugleich vermischten Argumenten zu verfolgen, bevor man ins Innere des Zyklons tritt" (S.970). Eberlin von Günzburg (S. 972-975) und der Karsthans (S. 975-978) gewinnen in diesem Vorfeld kräftig Profil. Bei ihnen und dann epochal bei Luther wird Volkssprache "wie eine neu entdeckte Waffe gehandhabt ..., großartig und oft auch grauenhaft" (S. 970). Einen neuen Höhepunkt bilden Sebastian Franck und Paracelsus, zusammengesehen unter dem Stichwort "Die Bibel der Geschichte und der Natur" (S. 1017). Schon im Rahmen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung waren die schönsten Seiten der eidgenössischen Chronik gewidmet. Das wiederholt sich im 16.Jahrhundert (IV. "Chronik und Selbstbiographie", S. 1027-1052). Sicher hat an solcher Gewichtung der Zürcher Max W E H R L I seinen persönlichen Anteil, entscheidend bleiben aber doch der einzigartige Anteil und die hohe Qualität der jungen schweizerischen Historiographie und Selbstbiographie (Johannes Stumpf, Gilg Tschudi; Thomas und Felix Platter). Im übrigen fällt es nirgendwo als in W E H R L I S letztem Jahrhundert schwerer, Höhe- und Glanzpunkte auszumachen, weil hier der Verfasser eine erstaunlich gleichbleibende und ausgeglichene Kompetenz einzusetzen vermag. Er wird der "sozialen Dienstleistung" des Hans Sachs im Rahmen "einer sehr engen, aber stofflich zugleich uferlosen Welt" (S. 1065) ebenso gerecht wie den neuen sozialen Bedingungen des Volkslieds (S. 1077-1082) und den Funktionen der neulateinischen Lyrik (S. 1082-1088) oder dem "zwischen Magie als abenteu- | erlichem Versuch und Magie als dämonischer Versuchung" (S. 1144) angesiedelten 'Volksbuch vom Doktor Faust'. Und doch muß man das sorgfältig durchgegliederte Kapitel "Drama" (VII.) (S. 1091-1128) besonders hervorheben. Hier wird, wenn ich richtig sehe, nicht nur ein facettenreiches Bild eines reichen Bestands geboten, sondern es sind hochinteressante Entwicklungslinien, Verflechtungen und Ausgliederungen von lateinischer und deutscher Dichtung aufgezeigt. Am Ende stehen Person und Werk Johann Fischarts (S. 1156-1167), dem W E H R L I , wenn auch leicht widerstrebend, eine ganz am literari-

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sehen Sachbefund orientierte Würdigung zuteil werden läßt. Der rein sprachliche Prozeß steht nochmals wie im ersten Kapitel, als die Volkssprache ins Leben trat, im Vordergrund, eine Sprache, die sich selbst generiert, so aber auch zu ihrem "wie auch immer genialen Ende" (S. 1167) kommt.

IV

In einem "Epilog" (S. 1168-1173) faßt WEHRLI sein 'Bild' vom Mittelalter und dessen Literatur zusammen, und da es ihm gelungen ist, dem Leser dieses 'Bild' in reicher Ausfaltung und Differenzierung zu vermitteln, umschreibt er zugleich Fazit und Gewinn seines Buches. Wir können so WEHRLI mit WEHRLI auf den Nenner bringen: "Für das europäische Mittelalter gilt die einmalige Situation einer jugendlichen Epoche, in der vorgeschichtlich-barbarische Völker (Germanen, Kelten) im Auseinandersetzungsprozeß mit der sinkenden, aber getauften Hochkultur der Antike zum Aufbau eines eigenen Welt- und Kultursystems kommen. Es ist überschaubar in der Einheit seiner offiziellen Latinität, seiner Kirchen- und Reichsidee, weitgespannt zwischen vitalem Dasein und jenseitigem Heilsziel, allenthalben aber lebendig aufbrechend in die nationalen, regionalen, sozialen Formen seiner jungen und neuen Kulturen, Sprachen und Literaturen. Vom Standpunkt europäischer Neuzeit aus bestaunen wir das Mittelalter als unsere eigene Jugend, die uns doch so fremd geworden ist. Gerade in dieser Zwiespältigkeit kann das Mittelalter zum Modellfall werden. Es bietet dem Betrachter ein abgetanes, überschaubares Ganzes, zeigt Werden und Wandel eines verhältnismäßig geschlossenen Geschichtskörpers und erlaubt ein exemplarisches GeschiehtsVerständnis" (S. 1169). Was die Literatur im Besonderen betrifft, so sieht sie WEHRLI in einem spezifischen Mit- und Ineinander von Statik und Innovation. "Doch ist diese Statik" (d.h. die "Geschlossenheit des kulturellen mittelalterlichen Kosmos wenigstens der Idee nach") "zusammenzusehen mit der Tatsache, daß sich in eben diesem Mittelalter dennoch die großen Innovationen vollzogen, die für die europäischen Nationalliteraturen grundlegend wurden und uns noch heute | bezaubern" (S. 1170 f.). Im einzelnen erinnert WEHRLI an den Aventiure-Roman, die Liebeslyrik und die deutsche Prosa der Mystiker. Aus dem "paradoxen Zusammengehen von kühner Neuerung und geschlossener Statik" versteht sich dann auch "mittelalterliche Literaturgeschichte" als "ein Ablauf schöpferischer Akte, in denen immer wieder Offenheit, Geheimnis, Bewegung sich melden" (S. 1171). WEHRLIS Geschichte der Literatur des deutschen Mittelalters 'erfüllt' das Wollen der Literaturgeschichtsschreibung als "ars regia einer aufs

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Ganze gehenden Synthese" seit den Tagen der Romantik, die im Mittelalter ein Zeitalter ohnegleichen sah. Sie hat die Exaktheit und den Informationswert der Handbücher sowie das persönliche Fluidum und Urteil des Liebhabers: eine ideale Verbindung. Sie repräsentiert zugleich den 'reinen' Typus einer Literaturgeschichte, die das Historische nicht an politischen, kulturellen oder sozialen Fremddaten aufhängt, sondern aus dem literarischen Prozeß selbst herleitet. Sie gewinnt Aktualität, indem sie als Suche nach uns selbst verstanden wird. Man vergißt so gern das harte Wort von R E N E W E L L E K von der Abschaffung der Literaturgeschichte'. Diese erscheint hier vielmehr als "faszinierendes Ganzes, das als entstehendes und bewegtes Literatursystem gewürdigt werden will" ( W E H R L I , S. 1193).

® Von W. HAUG ZU Beginn seiner Besprechung von WEHRLIS Buch zitiert (Neue Zürcher Zeitung, J g . 1981, N r . 73, S.67).

II. Dichtung des Hochmittelalters

Hartmanns 'Armer Heinrich' Erzählmodell und theologische Implikation [Medixvalia Litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971. S. 315-329]

Hochverehrter Herr de Boor, Sie hatten in einem liebenswürdigen Brief zu meiner 'Höfischen Epik Γ (1967) bedauert, daß ich Hartmanns Legenden nur beiläufig behandelt habe. Dies und Ihre freundliche Unterstellung, daß ich "auch dazu Eigenes zu sagen" hätte, ermutigt mich, Ihnen einen Entwurf zum 'Armen Heinrich' vorzulegen, den ich schon lange in mir herumtrage, auch wiederholt vorgetragen habe, zu dessen Publikation ich mich jedoch nie entschließen konnte. Wenn ich in 'Höfische Epik' schrieb: "Die methodische Aufgabe bestünde darin, die dem Mädchen zugehörige Opferlegende und die Heilsgeschichte des Armen Heinrich auseinanderzuhalten, um sie einander wieder zuzuordnen" (S. 110), so war dies ein Wegweiser, aber noch kein Weg. Diesen glaube ich nunmehr gefunden zu haben, und ich gestatte mir, ihn unter Ihrem kritischen Auge zu begehen. Seit den Beiträgen A. SCHIROKAUERS (ZfdA 83, 1951/52, S. 59-78; GRM 33, 1951/52, S. 262-268), der zum ersten Mal im AH eine einheitliche theologische Konzeption zu erkennen glaubte, bemüht sich die Forschung mit wachsendem Engagement um ein besseres Verständnis der Dichtung. Ich zähle in diesen letzten zwei Jahrzehnten drei Dutzend Publikationen und kann mich für Vollständigkeit keineswegs verbürgen. Das heißt augenscheinlich, daß man mit den Problemen, die uns Hartmanns Geschichte vom aussätzigen Heinrich und von der opferfreudigen Pächterstochter stellt, nicht zu Rande kommt. Die alten Fragen "Strafe oder Prüfung", die "Schuld" Heinrichs und (vielfach) des Mädchens, die Fragwürdigkeit der Opfertat, die Relevanz theologischer Vorstellungen und Wertungen werden immer wieder neu erwogen bzw. modifiziert. Ansatz wird gegen Ansatz, die eine Stelle gegen eine andere ausgespielt. Aber man tritt am Ort. In einer solchen Forschungssituation tut man gut daran, die bisherigen Bemühungen um ein "Grundverständnis" auszuklammern - freilich ohne zu übersehen, wie viel man ihnen verdankt und wie unentbehrlich sie für die | Findung eines neuen Ansatzes sind. Ich werde so, und zusätzlich aus Gründen der Ökonomie, auf kritische Auseinandersetzung mit der AH-Literatur, von wenigen sachbedingten Ausnahmen

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Hartmanns 'Armer Heinrich'

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abgesehen, verzichten; eine bloße Nennung erübrigt sich im Hinblick auf die vortrefflich aufgearbeitete Bibliographie bei SPARNAAY II (1938), WAPNEWSKI ( 2 1964) u n d CORMEAU (1966).

Den hermeneutischen Zirkel betrete ich mit der Position des schlichten Lesers, der eine Geschichte vernehmen will. Ich setze damit voraus, daß Hartmann vorrangig eine Geschichte erzählen, nicht mittels der Geschichte religiös-ethische Probleme entwickeln und lösen wollte. Die nicht zu leugnenden theologischen Implikationen, die die Forschung so sehr beschäftigt und beunruhigt haben, wären darnach sekundärer und partieller Natur: Interpretationshilfen des Erzählers. Die zweite Voraussetzung besteht in der Annahme, daß dieser Geschichte ein bestimmtes und in sich stimmiges Erzählmodell zugrunde liegt, dem eine Art überindividueller Verbindlichkeit zukommt. Beide Voraussetzungen sind nur durch die Analyse selbst zu rechtfertigen. Mit dem Erzählmodell des AH beschäftige ich mich in einem ersten Teil. Das Modell wird - ich möchte meinen: in überraschender Weise die Interpretationsschwierigkeiten für den Erzähler und damit auch für uns freilegen. Der zweite Teil befaßt sich mit diesen Schwierigkeiten und versucht, sie vom Erzählmodell her zu lösen.

I Die mittelalterliche Aussatzlegende mit der Thematik "Heilung vom Aussatz durch das Blut unschuldiger Kinder oder reiner Jungfrauen" hat verschiedene Ausformungen erhalten. Die wichtigsten literarischen Gestaltungen bieten die Silvesterlegende, die Amicus- und Ameliusgeschichte und endlich eine Episode in der 'Queste del Saint Graal' aus der Lancelot-Gral-Trilogie. Silvesterlegende und 'Amicus und Amelius' sind in mehreren Fassungen bekannt; die 'Queste'-Episode ist singulär überliefert, aber als Erzählmodell bestimmt keine Erfindung des 'Queste'Autors. Silvesterlegende Deutsche Kaiserchronik. Hrsg. von E D W . SCHRÖDER (MGH, Deutsche Chroniken I , 1), Hannover 1892, v. 7806-7957. Der Trierer Silvester. Hrsg. von C. KRAUS (MGH, Deutsche Chroniken, I, 2), Hannover 1895. 1

Den selben Text, auf den Α . E . SCHÖNBAUCH zuerst aufmerksam machte ( W S B 88, bietet I. REIFENSTEIN in der oben genannten Neuauflage des 'Engelhard' als Anhang, S. 2 4 1 - 2 4 9 . 1 8 7 8 , S. 8 5 0 ) ,

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Konrad von Würzburg, Silvester. Hrsg. von P. GEREKE ( A T B 19), Halle/Saale 1925, v. 855-1862. | Das Passional. Hrsg. von FR. K. KÖPKE (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 32), Quedlinburg/ Leipzig 1852, Nr. 6, S.65, 15-69, 85. Dazu in zahlreichen lateinischen und volkssprachlichen Legendarien (Jacobus de Voragine, 'Legenda aurea', Hermann von Fritslar, 'Das Heiligenleben'). Amicus und Amelius FR. J . MONE: Die Sage von Amelius und Amicus, Anz. f. Kunde d. dt. Vorzeit 5, 1836, Sp. 145-167 [lat. Fassung 'Vita Amici et Amelii carissimorum' Sp. 145-160; altfranz. Prosa Sp. 161-167], Amis et Amiles. Hrsg. von K. HOFFMANN, Erlangen 1882 2 . H . ROSENFELD: Eine neuentdeckte deutsche Amicus- und Amelius-Verslegende des 13. Jahrhunderts, P B B (Tüb.) 90, 1968, S. 4 3 - 5 6 . Konrad von Würzburg, Engelhard. Hrsg. von P. GEREKE, 2. neubearbeitete Aufl. von I. REIFENSTEIN ( A T B 17), Tübingen 1963, v. 5135-6432. Andreas Kurzmann, Amicus und Amelius. Verslegende in Salzburg, Univ. Bibl. Cod. Μ I 138 (olim V I J 271) v . J . 1443 (noch ungedruckt). Amis und Amiloun. Ed. by Mac EDW. LEACH (Early English Text Society, Original Series, N r . 203), Oxford 1937 (Nachdruck 1960). J a c o b von Maerlant, Amijs ende Amelis (aus dem 'Spieghel Historiael'). Hrsg. von J . J . M A K (Zwolse Drukken 13), Zwolle 1954 [in Synopse mit der lat. Fassung aus dem 'Speculum Historiale' des Vincenz von Beauvais]. Prosafassungen bei W. STAMMLER: Spätlese des Mittelalters I (TdspM 16), Berlin 1963, S. 2 7 - 3 4 ' und im 'Großen Seelentrost'. Hrsg. von MARGARETE SCHMITT (Ndd. Stud. 5), Köln/Graz 1959, S. 229-233; md. in der AH-Ausgabe von W. WACKERNAGEL - E. STADLER, Basel 1911, S. 181-187. Vollständigstes Verzeichnis der Fassungen bei LEACH, S.IXff. La Queste del Saint Graal Roman du XIII® siecle, ed. par. ALB. PAUPHILET (Les Classiques F r a n c i s du Moyen Äge 33), Paris 1965, p.236, 29-243, 19. Mhd. Fassung im 'Lancelot III'. Hrsg. von R. KLUGE, D T M 63, 1974. Ich stütze mich vorzüglich auf die ältesten Textfassungen. Den A H zitiere ich nach der Ausgabe von E. GIERACH, Heidelberg 1925 2 .

In der Silvesterlegende ist Kaiser Konstantin der vom Aussatz befallene Kranke. Der Aussatz kommt von Gott (Kch. 7812 f. von gote ez bechom: der cunich siechen began1), ein Zug, der zum mittelalterlichen Verständnis der Krankheit gehört und für alle christlichen Aussatzerzählungen konstitutiv ist, und er | dient einer höheren Zweckbestimmung: Bekehrung zum Christentum und damit Beginn des Heiligen Römischen

2

Ausführlicher im Tr. Silv. 43 ff.: uon sinen gnaden began:

/daz

dem gewaldigen

set/ den wec zu dem

man /ze grozer selicheite

paradise.

iz quam/daz

der herre

quam, /her

wart dir mite

siechen gewi-

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H a r t m a n n s ' A r m e r Heinrich'

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Reiches. Als Heilmittel wird von den Ärzten das Blut unschuldiger Kinder empfohlen, ein heidnisch-magisches Blutopfer. Dieses Opfer ist unfreiwillig. Der Jammer der betroffenen Mütter bewegt den Kranken zum Verzicht auf das grausame Blutopfer. Es sei besser, er allein sterbe, als daß so viele Kinder um seinetwillen (von minen sculden, Kch. 7839) ihr Leben verlören. Der Verzicht ermöglicht den Gnadenakt Gottes: die Heilung, die im Vollzug der Taufe erfolgt. Das Blutbad ist ersetzt durch das bat (Tr. Silv. 150) der Taufe. Diese Geschichte läßt sich thematisieren als "Heilsgeschichte eines Kranken". Die Opfer, die kleinen Kinder, fallen kaum in den Blick, es sei denn unter dem Aspekt der klagenden Mütter3. Es wird auch nicht darüber reflektiert, ob das Opfer als solches moralisch gut oder verwerflich ist, auch nicht, ob es wirklich Heilung zu bringen vermag4. Das magische Blutopfer wird schlichtweg als Faktum genommen. Entscheidend ist allein, daß der Kaiser darauf verzichtet. In der Freundschaftssage von Amicus und Amelius wird Amicus vom Aussatz befallen. Diese Krankheit wird von Gott verhängt5, bedarf aber keiner besonderen Motivierung6: die miselsuht genügt als bloßes Faktum, da sie der Bewährung eines anderen Menschen zu dienen hat, nicht dem Heil des Kranken. Heilung soll nach himmlischer Botschaft, die keinem kritischen Zweifel unterliegt, das Blut der beiden Knaben des Freundes Amelius bringen: Ein Freundesopfer aus Treue. Amelius tut das Unerhörte und bewirkt dadurch die | Heilung des Freundes. Damit niemand zu weinen hat und auch allfällige theologisch-sittliche Beden-

5

Mit drastisch-emotionaler T ö n u n g bei Konrad v o n Würzburg, v. 9 5 8 ff.

4

Mit Ausnahme Pass. 6 6 , 86 ff. w o , entsprechend der Vorlage, der 'Legenda aurea' (GRAESSE, N r . 12, n. 2, S. 72), v o m Kranken, freilich nur beiläufig, leise Zweifel am Erfolg des Blutopfers geäußert werden: religiös-kritischer Zusatz entsprechend den moralisierend-belehrenden Tendenzen kirchlicher Legendare. D a z u gehört in der selben Tradition die Motivierung des Aussatzes Konstantins als Strafe Gottes für des Kaisers Christenverfolgung (Pass. 6 5 , 4 2 ff., GRAESSE N r . 12, n. 2, S . 7 1 , aber auch Konrad v. W ü r z b u r g , Silv. 890 f.). Bei der im Mittelalter allgemeinen Auffassung, daß Aussatz Sündezeichen ist, lag diese sekundäre Begründung auf der Hand. Siehe auch unten, A n m . 19.

5

MONE, Sp. 1 5 3 ; 1 6 5 ; Spec. Hist., MAK, S. 5 4 ; STAMMLER, S . 3 1 , Z . 151 f.; Seelentrost, SCHMITT, S. 2 3 1 , 1 3 f . ; SCHÖNBACH, S . 5 4 , Γ " \ N i c h t explizit bei J a c o b van Maerlant, siehe MAK c. L X I X , V. I f f . ( S . 5 5 ) , und im 'Engelhard', siehe v. 5 1 4 4 f . ; in 'Amis et Amiles' Botschaft eines Engels, siehe HOFMANN, V. 1806 ff. ROSENFELDS Fragment überliefert den Ausbruch der Krankheit nicht.

' Das will nicht heißen, daß eine solche in allen Fassungen fehlt. Sie wird sogar durch den U m s t a n d nahegelegt, daß Amelius im ersten Teil der Erzählung eine Treuetat Stellvertretung in einem Gottesgerichtskampf -

-

für den Freund vollbringt, die in

ethisch-religiöser Beziehung durchaus problematisch ist und als solche unmittelbaren Anlaß gab, den Aussatz als Strafe aufzufassen; siehe LEACH, S.

LXII.

[319]

Hartmanns 'Armer Heinrich'

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ken beschwichtigt werden, erweckt Gott die getöteten Knaben wiederum zum Leben. Im Gegensatz zum Silvester-Modell der Aussatzlegende ist hier die Opfertat thematisiert. Es handelt sich, um auch dazu ein charakterisierendes Stichwort zu geben, um das "Hohelied eines Opferbereiten". Die 'Queste'-Episode repräsentiert den gleichen Typus in reinerer Form. Vom Aussatz befallen ist eine Schloßherrin, die als Person kein Interesse beansprucht; ihre Krankheit kommt von Gott (239, 15), bleibt jedoch wie diejenige des Amicus unmotiviert7. Die Opferwillige ist Percevals Schwester. Sie stellt im Gesamtwerk den Anteil der Frau am Erlösungswerk der Gralsuche dar, ist Führerin der drei auserwählten Gralsucher Galaad, Perceval und Bohort und hat als solche eine Funktion, die derjenigen der Beatrice in Dantes 'Göttlicher Komödie' entspricht. Ihre Opfertat geschieht aus lauterer Caritas, und zwar, was ihren Wert erhöht, für einen beliebigen, durch keine persönliche Bindung an die Opferbringende ausgezeichneten, mutmaßlich sogar schuldbeladenen Menschen. Das Blut von Percevals Schwester führt auch hier wie im 'Amicus und Amelius' zur Heilung der Aussätzigen, aber auch zum Tode der Opferwilligen. Eine Korrektur auf Grund theologischmoralischer Überlegungen erfolgt dadurch, daß die Burg der Aussätzigen von einem himmlichen Blitzstrahl getroffen und eingeäschert wird. 'Amicus und Amelius' und die 'Queste'-Episode sind Variationen des selben Erzählmodells, das die selbstlose Tat eines Opferwilligen zum Thema hat. Die Unterschiede sind durch den verschiedenen Zusammenhang gegeben: In der Freundschaftsgeschichte leistet Amelius sein freiwilliges Opfer aus Freundestreue, in der 'Queste' mit ihren durchgängigen Analogien zur christlichen Heils- und Erlösungsgeschichte ist es reine Caritas, die Percevals Schwester zum Lebensopfer für einen andern, ihr durchaus fremden Menschen bewegt. Beide Male bringt das Blutopfer Heilung: Es kann keinen Zweifel geben, daß der "Geist der Erzählung" an die Heilkraft unschuldigen bzw. jungfräulichen Blutes glaubt. Daß der Tod des Opferwilligen zu den Möglichkeiten christlichmittelalterlicher Erzählthematik gehörte - was im Rahmen der AHForschung zumeist bestritten wurde - , macht zumal die 'Queste'Episode evident; sie ist aus diesem Grunde von besonderem methodi-

7

Daß die Episode außerhalb der 'Queste', als Αventüre Balaains, des Ritters mit den zwei Schwertern, im 'Merlin' (G. PARIS/J. ULRICH II, S. 13-19) eine Vorgeschichte hat, spielt keine Rolle. Dieser Vorspann dient der zyklischen Einheit der Lancelot-GraalVulgatafassung und ist mit Sicherheit erst nachträglich, auf die 'Queste' hin, erfunden worden (siehe PARIS/ULRICH II, S. 19: Hinweis auf Percevals Schwester in der grant queste dou graal).

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sehen Wert8. Der Aussatz als | solcher unterliegt in diesem Erzähltypus keinen Implikationen. Es ist zwar selbstverständlich, daß er von Gott verhängt ist, aber der Bezug zum Betroffenen bleibt grundsätzlich offen. Dies ist durchaus folgerichtig, da das Schicksal der Kranken überhaupt nicht thematisch ist'; die Schloßherrin ist nur da, damit eine Opfertat ohnegleichen sich vollziehen kann. Das führt noch einmal, zum Zwecke vergleichender Charakteristik, zur Silvesterlegende zurück. In ihr sind die Kinder, die ihr Blut vergießen sollen, bloßes Objekt; Subjekt ist der Kranke, und thematisch wird einzig dessen Geschichte. Zur Sinngebung der Erzählung ist entscheidend, warum der Kaiser vom Aussatz befallen wird: um seines und der Christenheit Heiles willen. Zum Heil bedarf es der Mitwirkung des Menschen. Sie besteht im Verzicht auf das Opfer, in der Ergebenheit ins Los der Krankheit. Diese Leistung wiederum ermöglicht die Gnadentat Gottes: die Gesundung. Resultat: Zwei feste, in sich gut gefügte und stimmige Erzählmodelle bietet das Mittelalter zum Thema "Heilung vom Aussatz durch Blutopfer". Wozu stellt sich der 'Arme Heinrich'? SPARNAAY (II, S. 5 ) meinte, der AH stehe "in der Gruppe der Aussatzsagen isoliert da". Das ist die halbe Wahrheit. Isolation heißt nämlich: Es liegt ein Mischtypus vor, die Integration zweier, der oben beschriebenen Modelle. Der AH ist 1. die Heilsgeschichte des kranken Armen Heinrich. Zu höherem Zwecke, nämlich zu seinem wahren Heil, wird er von der Krankheit befallen; er verzichtet, aus bärmde, auf das Opfer im Augenblick, wo es vollzogen werden soll, er wird geheilt durch göttlichen Gnadenakt. Soweit hat der AH Teil am Modell der Silvesterlegende. Zugleich aber ist Hartmanns Erzählung 2. Hohes Lied des opferbereiten Pächtermädchens. Dieses Opfer ist freiwillig ein Caritasopfer wie dasjenige der Schwester Percevals. Diesen Befund möge das nachstehende Schema veranschaulichen. Erzählmodell des 'Armen Heinrich Krankheit

Opfer

I Amicus und Amelius Queste II Silvester

von Gott zu höherem Zweck

unfreiwillig

Opferung Opfer angenommen und vollzogen Verzicht auf das Opfer

Heilung durch das Opfer durch Gnade Gottes

* kursiv: AH | 8

Es ist auch nicht zu übersehen, daß das Blutopfermotiv aus Caritas mit vollzogenem Opfer wegen seiner Nähe zum Opfertod Christi spiritueller Deutung entgegen kam.

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Hartmanns ' A r m e r Heinrich'

[321]

Es ist nicht zu entscheiden, ob Hartmann es war, der die Typen verbunden hat, oder ob er das neue Modell bereits einer Quelle verdankt. Daß er über eine Quelle verfügte, steht fest, sofern wir den Dichter nicht Lügen strafen wollen: er erzählt uns ein rede die er geschriben vant (17). Wir vermögen jedoch nichts Bestimmtes über diese rede auszusagen, da die bekannte und öfter diskutierte Exempelgeschichte vom Albertus (Henricus) Pauper nicht mit Stringenz als Quelle Hartmanns zu erweisen ist; wahrscheinlicher ist, daß das erbauliche Exempel auf den AH zurückgeht10. Diese nicht zu beseitigende Unsicherheit verbietet es, irgendwelche Interpretationsbasis von der Quelle her zu gewinnen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde mußte der typologische Ansatz versucht werden. Hier ist es unerheblich, ob Hartmann die von uns herangezogenen Erzählungen gekannt hat oder nicht11. Wichtig ist einzig die Existenz von Erzählmodellen, die sich im AH nachweisen lassen. Was ergibt sich aus dem Bisherigen? Der AH darf nicht, wie zumeist geschehen, einseitig als Geschichte des Edelfreien Heinrich verstanden werden. Hartmanns gemischter Typus als solcher sagt aus, daß die Krankheits- und Heilsgeschichte Heinrichs die Erzählung von einem opferwilligen Mädchen mit umfaßt. Dies ist so sinnfällig, daß es kaum eines Beweises bedarf: Die Schwergewichte der Erzählung gelten dem Mädchen zu gleichen Teilen wie dem Armen Heinrich. Auch die Komposition ist präzis daraufhin angelegt. Ich brauche hier nur auf das Kompositionsschema F O U R Q U E T S hinzuweisen, das auf rein formalen Kriterien beruht und unser Modell in perfekter Weise bestätigt12. F O U R Explizit liegt sie v o r in der Exempelgeschichte, die J . KLAPPER: Die Legende v o m A r m e n Heinrich. Progr. Breslau 1914, S. 35, mitteilt und die verkürzt in den Gesta R o m a n o r u m (OESTERLEY, Kap. 230, App. 34, S. 6 3 3 ) wiederkehrt. ' In 'Amicus und Amelius' nur indirekt durch die Vorgeschichte. 10

Dies befinde ich nach wiederholter Prüfung der Texte und der einschlägigen Literatur. Das Exempel steht bei J.KLAPPER: Erzählungen des Mittelalters, Breslau 1914 ( W o r t und Brauch 12), S. 2 3 3 f. (übersetzt S. 2 2 f.). Z u r Diskussion: J. KLAPPER: Die Legende v o m A r m e n Heinrich. P r o g r . Breslau 1 9 1 4 ; C . v. KRAUS: Drei Märlein in der Parzivalhs. G und das Exempel v o m A r m e n Heinrich. I n : Festgabe für Samuel Singer, Tübingen 1930, S. 1 - 1 9 ; SPARNAAY II, S . 5 f f .

11

Die 'Queste' kann er ohnehin nicht gekannt haben - sie ist über ein Vierteljahrhundert jünger als der A H

die Silvesterlegende hingegen dürfte H a r t m a n n geläufig gewesen

sein. 12

JEAN FOURQUET: Z u m Aufbau des 'Armen Heinrich', W i r k . W o r t , Sonderheft 3 (Brinkmann-Festgabe), S. 1 9 - 2 3 .

1961,

S. 1 2 - 2 4 ;

ähnlich

Etudes

A u c h , wie ich nachträglich feststelle, H . R U P P

Dichtungen des Mittelalters.

Germaniques

16

( U b e r den Bau

(1961), epischer

In: Festschrift für Friedrich Maurer, Stuttgart

1963,

S. 3 7 2 f.) gelangt, unabhängig von FOURQUET, zum selben Resultat und zieht daraus den Schluß: " D e m Mädchen k o m m t in Hartmanns Dichtung größere Bedeutung zu, als es in

30

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[321/322/323]

QUET war vom Ergebnis seiner formalen Analyse, die von der | Proportionalität der Abschnitte ausgeht, sichtlich überrascht: Er spricht von "eigenartiger Komposition", die erkennen lasse, daß hier eine Geschichte in die andere eingeschoben sei (S. 13). Er zog auch die richtigen Schlüsse: Der AH sei laut Aussage der Komposition nach den Bedürfnissen des Erzählstoffes gestaltet, keineswegs nach inhärenten "Ideen", etwa Stufen der Läuterung Heinrichs (S. 19). Genau zum selben Ergebnis führt der gänzlich andere Ansatz des Erzählmodells. Nur gestattet er viel sichere Schlüsse, als sie FOURQUET von nur formalen Proportionen aus möglich schienen. Die Heilsgeschichte Heinrichs und, darin eingeschlossen, die Erzählung von dem opferwilligen Pächtermädchen, diese Integration zweier Modelle führt zur Frage, wie Hartmann verfährt, wo der eine Typus den andern ablöst. Präzis in diesen Nähten des Modells sind nämlich so gut wie alle Interpretationsschwierigkeiten angesiedelt. Schon diese Einsicht allein scheint mir ein nicht unerheblicher Gewinn zu sein: sie fordert geradezu auf, die Lösungen vom Erzählmodell anzustreben. Was sind dies für Interpretationsschwierigkeiten?

II

Ich konzentriere mich auf vier Fragen, die als eigentliche Cruces der Forschung zu bezeichnen sind13: 1. 2. 3. 4.

die Annahme des Opfers, das Blutopfermotiv, der Verzicht auf das Opfer und das Verständnis der Krankheit.

1. Die stärkste Antinomie, welche die Integration der beiden Erzähltypen mit sich brachte, ist diejenige zwischen der Annahme des Opfers durch den Kranken (gemäß Modell I) und dem Verzicht auf das Opfer (gemäß Modell II), handelt es sich doch um das jeweilige Hauptkonstituens der beiden Typen. Das eine scheint das andere auszuschließen. Die Verbindung ist erzähltechnisch nur möglich in zeitlicher Folge: zuerst Annahme, dann Verzicht. Das aber | zieht Erweiterungen der Motivierung nach sich. Verzicht ist eine Korrektur der Annahme. Dieser den meisten Interpretationen zum Ausdruck kommt. Es hatnicht nur die Funktion, die Bekehrung Heinrichs herauszufordern, es ist vielmehr die echte Gegenfigur zu Heinrich" (S. 373). 13

Den Schluß mit seiner Ambivalenz zwischen sozialer Wirklichkeit und ethisch-religiöser Relevanz in der ständischen Mißheirat klammere ich aus. E r liegt außerhalb des Modells und ist unabhängig von der Aussatzlegende zu lösen.

[323/324]

Hartmanns 'Armer Heinrich'

31

Umstand führte die Forschung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, die Opferannahme als Fehlleistung des Kranken, ja als dessen eigentliche Schuld zu bewerten. Das Modell erweist diese Interpretation jedoch als irrig. Die Annahme ermöglicht ja überhaupt erst Geschichte und Leistung des Mädchens. Wenn sich Hartmann entschlossen hat worüber nach der vorangegangenen Analye kein Zweifel mehr bestehen kann - , dem Mädchen überhaupt eine aktive Rolle zuzuweisen, dann mußte ihr Opfer durch den Kranken angenommen werden. Die Motivierung dieser Annahme aber kann wiederum nur in Haltung und Leistung des Mädchens gesucht werden. Hartmann hat alles getan, um dies deutlich zu machen: a) durch den Charakter der Freiwilligkeit als formaler Voraussetzung der Wirkung des Opfers, b) durch die güete als inneres Movens. Zu a): der Arzt betont den freien Willensentscheid nicht nur von allem Anfang an gegenüber Heinrich (226 f.), sondern wiederholt ihn mit größtem Nachdruck vor der Opferszene (kint, hdstu dich / disses willen selbe bedaht/ od bistu üf die rede bräht/von bete ode dins herren drof 1064 ff.), ja er nimmt das Mädchen unter vier Augen geradezu ins Verhör ([er] wiste si besunder I und beswuor si vil verre/ob ir iht ir herre/die rede bate üz erdröt. 1072 ff.). - Zur Freiwilligkeit tritt die Beharrlichkeit des Willens. Hartmann hat es der Pächterstochter wahrlich nicht leicht gemacht. Sie hat ihren Entschluß zu verteidigen und zu erkämpfen, und dies vor allen beteiligten Personen: vor den Eltern, vor Heinrich, vor dem Arzt. Dies ist ihr eigentliches Drama, ihre Leistung, welche die Opferung selbst, zu der es ja nicht kommen wird, zu ersetzen hat. Der Modellerzählung I konnte die Opferleistung genügen; da Hartmann aber auf den Verzicht - und damit Modell II - zustrebt, bedurfte es, wenn das Caritasopfer des Mädchens nicht verkümmern sollte, einer neuen Leistung! Die Bewährung des Willens zur Tat in allen Anfechtungen hatte die Tat selbst zu ersetzen. Diese Motivkette ist somit durch das neue Integrationsmodell bedingt. Zu b): güete ist Wesenskern des Mädchens (305, 322, 349), Antrieb zum Opferentschluß und Grund der Beharrlichkeit bis zum Tod (464ff.; 522). Sie ist zu verstehen als Analogon zu gotes güete: diu reine gotes güete, / von der doch daz gemüete / ouch dem jungen kinde kam / daz ez den tot gerne nam (1037 ff.). Entschluß und Tat des Mädchens sind so fraglos guot; der Erzähler zweifelt so wenig daran wie die beteiligten Personen (Heinrich: din wille ist reine unde guot, 938). Ist aber die Opfertat des Mädchens der Intention nach eine echte Liebestat, so bleibt ihre Annahme durch den Kranken ohne jede Fragwürdigkeit. | Von Heinrich aus gesehen, erfolgt bezeichnenderweise keine Begründung der Opferannahme. Der Kranke zögert, gewiß (931 ff.), er formu-

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liert Zweifel, aber diese sind auf die Opfertat selbst und das Mädchen bezogen, nicht auf die sittliche Bedeutung seines Entscheids. Kein Gedanke daran, daß er mit der Annahme einer sozusagen teuflischen Versuchung erliegen könnte. Ich schließe: Die Opferannahme bleibt in der Darstellung Hartmanns ohne jegliche theologisch-ethische Implikation. Nur hinweisen kann ich darauf, daß die Echtheit des Entschlusses und der Tat des Mädchens sich auch aus der Angleichung an Motivik und Sprache der Hagiographie ergibt (Himmelssehnsucht, Bräutigam-Allegorie, contemptus mundi). Entsprechend der Herkunft und Gesittung der Pächterstochter greift der Erzähler, und innerhalb des Gesamtwerks nur hier, in den Bereich der allegorisierenden, erbaulichen Aszetik14. Auch diese Partien waren dem Mißverständnis der Forschung ausgesetzt, indem man Legenden- bzw. Religionskritik Hartmanns herauslesen wollte - und damit Kritik des Mädchens, das bis zu einer "hysterica" verfälscht wurde. Die legendär-aszetische Sprache ist vielmehr Sprache des Mädchens: sie spiegelt jene kindlich-überspannte Glaubenswelt, nicht um sie der Kritik zu unterstellen, sondern um darzutun, daß der Opferbereiten güete Partizipation der gotes güete ist (1037ff.!). 2. Vom Modell aus gesehen, ist der Glaube an die Heilkraft "reinen", hier: jungfräulichen Blutes Voraussetzung der Aussatzerzählung schlechthin. Das will nicht heißen, daß wir Hartmann diesen Glauben unterstellen müssen. Wenn der Erzähler beim Verzicht Heinrichs einen leisen Zweifel formuliert (und ouch da zuo niene weist lob dich des kindes tot ernert, 1252 f. und schon 945 ff.), so deutet er seine Distanz an, freilich ganz am Rande und nur durch den Mund des Kranken15. Den Verlauf der Erzählung und dessen Geist berührt diese Distanzierung nicht im geringsten. Diese Geschichte "lebt" davon, daß das Blutopfer als tatsächliches Heilmittel genommen wird; noch der moderne Leser glaubt, sofern er sich der Erzählung hingibt und sich nicht kritisch vom Geschehen absetzt, an die Heilkraft des jungfräulichen Blutes. Es müßte auch als ein für mittelalterliches Denken völlig fremdes Paradox bezeichnet werden, wenn des Mädchens unerschütterlicher und reiner Glaube gemäß theologischer Einsicht ein übler Aberglaube wäre. Solche theologischen Kriterien bringt Hartmann | gerade nicht ins Spiel, obschon sie ihm bestimmt nicht fremd waren. Er hat also auch das Blutopfermotiv keinen theologisch-ethischen Implikationen unterworfen.

14

Siehe Α. E. SCHÖNBACH: Über Hartmann von Aue, Graz 1894, S. 145ff.; dazu SPARNAAY II, S. 13.

15

Der Zweifel des Armen Heinrichs 1252 f. ist der Zweifel des Verzichtenden und mithin, im Nachherein, die frühere Stelle ein Versuch des Kranken, das Mädchen von seinem Entschluß abzubringen.

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Hartmanns 'Armer Heinrich'

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3. Der Verzicht Heinrichs auf das Opfer ist, wie bereits festgestellt wurde, das eigentliche Konstituens des II. Modells. Da die Opferannahme vorangegangen ist, bedurfte es zum Verzicht einer besonderen Motivation, d. h. eines besonderen Anstoßes für den Kranken. An dieser Nahtstelle erweist sich die Integration der Modelle ein andermal als "schöpferisch", und es ist kaum daran zu zweifeln, daß wir Hartmann für die Ausgestaltung der Sinnesänderung Heinrichs in Anspruch nehmen dürfen. Jener Anstoß ist eine Konfrontation: Heinrich sieht durch den Türspalt das Mädchen auf dem Operationstisch nacket und gebunden. / ir lip der was vil wünneclich. / nu sach er si an unde sich (132 ff.). Konfrontation zwischen der Schönheit des Mädchens und seiner eigenen Häßlichkeit, und das heißt auf der Sinnebene: zwischen Reinheit, güete, Charisma und Beflecktheit, Gnadenlosigkeit, Sündenzeichen. Dieser Kontrast führt zum Entschluß, zum Sinneswandel, zum niuwen muot (1235) in der Sprache Hartmanns: swaz dir got hat beschert /daz la allez geschehen. / ichn wil des kindes tot niht sehen (1254 ff.). Soweit besteht kaum eine Interpretationsschwierigkeit. Sie ist erst mit dem Motiv der Nacktheit gegeben. Dieses scheint höchst ungewöhnlich, zumal wir durch G.Eis wissen, daß es der medizinischen Praxis des Mittelalters völlig widersprach, Patienten zu entkleiden. Aufgedeckt wurde immer nur die zu behandelnde Stelle16. Wenn aber Hartmann die medizinische Wirklichkeit, die er kennen mußte, bewußt ignoriert hat (so wie später die Standesminderung durch die Heirat eines Freiherrn mit einer Freibäuerin), wäre dem Motiv ein besonderer Aussagewert zuzuschreiben. Aber welcher? Hier bedürfte es, da die "magische" Nacktheit, für die Eis plädiert, die Schönheit (ir Up der was vil wünneclich, 1233) unberücksichtigt läßt, der Einsicht in die religiöse Bedeutung der Nacktheit. Ich wage vorderhand nur zu sagen, daß nackte Schönheit die Unschuld und Reinheit des Kindes meint; nackte Schönheit ist auch Schönheit vor dem Sündenfall. Aus diesem Grunde mag Hartmann auch so stark die fehlende Scham des Mädchens betont haben. - Aber das will kein letztes, sondern ein vorläufiges Wort sein. 4. Der A H beginnt mit der Geschichte Heinrichs und damit im Rahmen des II. Modells. Dazu paßt das Bild Hiobs: als auch Jobe geschach, / dem edeln und dem riehen, / der vil jtsmerlichen / dem miste wart ze teile/mitten in sinem heile (128 ff.). Hiob bedeutete dem Mittelalter Dulder, er ist der Mensch, den Gott auf seine | Glaubensstärke hin prüft. Auf Hiob bezogen, ist Heinrichs Aussatz als Prüfung zu verstehen. Aber voran geht das Absalom-Gleichnis: sin hochmuot wart verkeret / in ein leben gar geneiget. /an im wart erzeiget!als ouch an Absalone, / " G. Eis: Salemitanisches und Unsalernitanisches im 'Armen Heinrich' des Hartmann von Aue, FuF 31 (1957), S. 77-81.

34

H a r t m a n n s ' A r m e r Heinrich'

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daz diu üppige krone / werltlicher süeze / vellet under füeze / ab ir besten werdekeit (82 ff.). Sinnbild menschlicher Hinfälligkeit, des plötzlichen Sturzes vom Glanz des Lebens in die Tiefe. Dies steht im Text, und der Blick auf das biblische Absalombild und dessen literarischen und exegetischen Gebrauch17 legt es zunächst nahe, diesen jähen Sturz als Strafe Gottes zu deuten. Jedoch ist Absalom, wie die von FECHTER beigebrachten Stellen zeigen, alles andere als ein fester Vergleichstypus: dominant ist nur seine Schönheit, und dieser Aspekt findet sich auch in Hartmanns 'Erec' (2817). Zusätzliche und im sinne des Erzählers gar notwendige Assoziationen brauchen wir dem Hörer nicht zuzumuten18. Wenn man es getan hat, so in Verbindung mit dem vielzitierten Selbstverständnis Heinrichs (380 ff.). Hier faßt der Kranke den Aussatz als räche Gottes für sein Weltleben auf. Der Erzähler selbst bestätigt diese Aussage jedoch an keiner Stelle, ja er widerspricht ihr ausdrücklich durch die einführende laudatio Heinrichs. Es handelt sich demnach um eine durch Leid und Depression bedingte Selbstanklage, wobei nur das Sündenbewußtsein zählt, nicht die Sünde selbst, Daseinsschuld, nicht ein formulierbares Vergehen gegen Gottes Gebot19. Ein solches hat weder im Erzählmodell einen Anhalt noch in Hartmanns Vorstellungswelt. Hingegen ist es für die Menschen dieses Dichters bezeichnend, daß sie immer bereit sind, sich Schuld zuzusprechen, die weit über das hinaus- | geht, was allenfalls gesellschaftlich oder moraltheologisch als Schuld zu fixieren wäre. Das Bejahen der Schuld aber ist die Chance der Wendung und Wandlung. Heinrichs Selbstverständnis entspricht aber

17

Siehe W . FECHTER: Absalom als Vergleichs- und Beispielfigur im mhd. Schrifttum, P B B

18

E s ist auch nicht zu übersehen, daß die Bildaussage im Blick auf Heinrich, nicht auf

( T ü b . ) 83 ( 1 9 6 1 / 6 2 ) , S. 3 0 2 - 3 1 6 . A b s a l o m gemacht wird. Das Bild könnte durchaus ohne

als ouch an Absalone

stehen.

D i e interpretatorische Ambivalenz hängt an diesem einen Vers! - Ich widerstehe der Verlockung, auf Grund der neuentdeckten Ε - F r a g m e n t e (H.ROSENFELD: Ein neu aufgefundenes Fragment von Hartmanns ' A r m e n Heinrich' aus Benediktbeuern, Z f d A 9 8 [ 1 9 6 9 ] , S. 4 0 - 6 4 ) mit dem Herausgeber (S. 61 und 64) die Absalomstelle auf textkritischen W e g e zu eliminieren. Z u m Überfluß hat L . WOLFF ( Z f d A 99 [1970], S. 180 f.) den in Ε fehlenden Absalomvergleich mit besten Gründen als Textverlust der Uberlieferung nachgewiesen. " I m übrigen war der Aussatz als Bild für Sünde

(lepra spintualis)

eine derart verbreitete

zumal durch die Predigt vermittelte Vorstellung, daß der v o m Aussatz befallene Mensch zwangsläufig an

räche

Gottes denken mußte. Dies tut auch der über seine Krankheit

reflektierende Dietrich im 'Engelhard' ( 5 3 7 5 ) , wobei freilich z u berücksichtigen ist, daß K o n r a d von W ü r z b u r g den A H kannte: man vgl. besonders 5 2 9 ff. - Aussatz = Sünde v o r allem in Bußpredigten über M t 8, 1 ff. und L k 17, 11 ff., u . a . in zeitlicher N ä h e H a r t m a n n s bei Α . E . SCHÖNBACH: Altdt. Pred. I, S. 128, 3 9 f f . , 129, 1 7 f f . ; II 39, 2 9 f f . ; III, 3 7 , 2 5 ff., 151, 3 9 ff. D a z u H a r t m a n n selbst, wie schon längst beobachtet (SPARNAAY II, S . 4 , A n m . 1) Greg. 3 5 1 2 ff.

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Hartmanns 'Armer Heinrich'

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auch den Reden der Freunde Hiobs, die das Unglück Hiobs nur als verdientes Unglück und somit als gerechte Strafe Gottes zu verstehen vermögen. Das führt zur Hiobfigur zurück. Sie steht, im Gegensatz zum Absalomvergleich, nicht isoliert, sondern ist in die ganze Geschichte Heinrichs integriert20 - bis zum Schluß in der Verdoppelung bzw. Mehrung des Besitzstandes: er wart richer vil dan el des guotes und der eren (1430 f.). Mit der Dominanz der Hiobfigur ist aber das Verständnis der Krankheit Heinrichs als Prüfung, jedenfalls final und nicht kausal, gesichert. Gott verhängt den Aussatz, um Heinrich zu seinem wahren Heil zu führen: daz er si (hier ist die Pächterstochter, vom Ende her sinnvoll, mit eingeschlossen21) versuochte (1362). Mit der Hiobgestalt sind wir auf den interpretierenden Hartmann gestoßen. Alle großen höfischen Erzähler interpretieren - schon weil sie ihre Stoffe übernommen haben und sie interpretieren u. a. mit theologischen Vorstellungen. Das gilt nicht zuletzt für Hartmann. Die Hiobtheologie dient der Sinngebung der Geschichte des Armen Heinrichs, macht diese zu einer Heilsgeschichte. Inwiefern? Der Sturz vom Glück und Glanz in die Not und Einsamkeit der Krankheit und der Weg wiederum zurück in den Stand des Gesegneten: diese Lebenskurve, bezogen auf Hiob, macht aus der Krankheits- eine Heilsgeschichte. In der Silvesterlegende ergibt sich der Heilscharakter von Konstantins Krankheit und Genesung aus dem weltgeschichtlichen Zusammenhang. Die Genesung vollzieht sich durch die Taufe des Kaisers, und diese Taufe bedeutet die Christianisierung des Römischen Reiches. Hartmann bedurfte für seinen Heinrich, der außerhalb des Weltgeschehens steht, sich jedoch - wenn auch für uns nicht mehr deutlich erkennbar - in eine Sippengeschichte einordnet, eines besonderen Bezugspunktes, um die Aussatzgeschichte eines schwäbischen Ritters als Heilsgeschehen auszuweisen: der Hiobanalogie 22 . Sie ist jedoch nicht die einzige theologische Implikation. Eine weitere war bereits mit Heinrichs Schuldbekenntnis angesprochen, dessen eigentlicher Aussagewert sich jedoch erst in der Zusammenschau mit Heinrichs Verzicht er- | gibt. Der Verzicht heißt, auf Heinrich bezogen, Bejahung des Leidens: swaz dir got hat beschert/daz lä allez geschehen (1254 f.). Schuldbejahung und Leidbejahung sind die Etappen des inneren Weges Heinrichs. Die Leidbejahung, die im Verzicht auf das Opfer 20 21

22

Zusammenstellung der Parallelen bei KRAUS [Anm. 10], S. 7 ff. Ihre Bewährung im versuochert wird im Zusammenhang als triuwe bestimmt, wie diejenige Heinrichs als bärmde (1366). Ich bin so entschieden der Meinung, daß Hartmann die Hiobanalogien keineswegs seiner Quelle verdankt, wie KRAUS [Anm. 10], S. 10 ff. mit Gründen zu erweisen suchte, die keine Stringenz in Anspruch nehmen dürfen.

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geschieht, war im Schema vorgegeben, ja dessen eigentliches Konstituens. Die Schuldbejahung ist Hartmanns Eigenleistung. Sie dient dazu, die Leidbejahung vorzubereiten, diese nicht unvermittelt als erste personale Entscheidung erscheinen zu lassen. Für Hartmann lag nichts näher, als die vorlaufende Stufe der Einsicht als Schuldbekenntnis zu fassen. Es bedeutet das existentielle Bewußtsein einer Schuld im Sinne aller Hartmannschen Menschen, Erecs und Iweins und des guoten sündxre Gregorius. Auf das 'daß' der Schuldbejahung kommt es an, nicht auf das Faktum einer objektiven Schuld. Es ergibt sich: Die viel und widersprüchlich beurteilten theologischethischen Implikationen im A H beziehen sich einzig auf die Geschichte Heinrichs, und sie gehören dem interpretierenden Erzähler an. Nicht berührt davon ist das Erzählmodell als solches. Aus der Beschäftigung mit den Erzählmodellen der Aussatzlegende ist mir deutlich geworden, daß die Typen I und II zwar geradlinige, aber doch nur exempelhaft-erbauliche Geschichte ermöglichen; erst die Verbindung beider Modelle, wie sie im A H vorliegt, schafft fruchtbare erzählerische Spannung. Diese liegt vor allem in der dem gemischten Modell eigenen Ambivalenz von Opferannahme und Verzicht, und sie k o m m t Heinrich wie dem Mädchen zugute: beide gewinnen Raum für einen persönlichen Weg und für personale Verantwortung. Konkret: Entscheidend für die Pächterstochter, die nicht mehr durch die Opferleistung zu "bestehen" vermag, wird der Weg vom ersten Entschluß bis z u m Opfertisch in Salerno, und Heinrichs Verzicht setzt eine Wandlung, ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, voraus. Erzählerische Spannung entsteht auch dadurch, daß beide zusammen verschiedenen Zielen entgegengehen, sie dem Opfer, er dem Verzicht, und daß diese Ziele dann doch, durch cordis speculator (1357), in eines zusammenfallen. Wenn, wie ich meine, in der Verbindung beider Modelle der entscheidende künstlerische Akt liegt, so läßt sich vielleicht doch etwas Zusätzliches zur Diskussion des 'Albertus (Henricus) Pauper'-Exemplums sagen: Es scheint ausgeschlossen, daß wir dessen Autor die Modellverbindung zu verdanken haben, ausgeschlossen, weil er die Chance dieser Kontamination auch nicht im Ansatz wahrgenommen hat. Vielmehr ist man geneigt, Hartmann eine solche künstlerische Tat zuzutrauen. Aber wer darf sich anmaßen, dessen rede als eines der beiden Grundmodelle zu bestimmen? Ich halte die wichtigsten Ergebnisse in 4 Punkten fest: | 1. D e m A H liegt ein Erzählmodell zugrunde, das sich als Integration zweier verschiedener Typen der Aussatzlegende darstellt (siehe Schema S. 28). 2. Dieses Modell erweist sich in allen Teilen als für Hartmanns Erzählung konstitutiv. Eine Bestätigung darf in F O U R Q U E T S Kompositionsschema gesehen werden.

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3. Die Einsicht in das Modell legt die Interpretationsprobleme frei, die sich ζ. T. schon Hartmann (je nach dem Stande seiner Vorlage) und dann der modernen Forschung stellten, und führt sie einer Lösung entgegen. 4. Vor allem ermöglicht das Modell eine klare Begrenzung der theologischen Implikationen, die Hartmann zur Sinngebung der Geschichte vorgenommen hat.

Wolfram von Eschenbach heute Öffentlicher Vortrag* [Wolfram-Studien III, hg. von Werner Schröder, Berlin 1975, S. 9-19]

Das Thema dieses Vortrage ist Ausdruck der Verlegenheit. Als ich von den Schweinfurter Gönnern, ohne die dieses Kolloquium nie hätte stattfinden können, gebeten wurde, am Rande des Symposions einen öffentlichen Vortrag zu halten, da glaubte ich, ohne Bezug zur Gegenwart nicht über Wolfram sprechen zu dürfen - und das Thema wurde formuliert, allgemein und nicht sehr originell, ohne daß dieser Bezug mir schon in konkreter Thematisierung vor Augen stand. Nähere Beschäftigung mit dem Gegenstand war dann, wie regelhaft, dazu angetan, diesen noch weiter zu problematisieren. 'Wolfram heute' - dasselbe gilt für Walther von der Vogelweide, Gottfried von Straßburg, das Nibelungenlied heute - impliziert zunächst, daß Wolfram den Menschen (nicht nur den mediävistischen Fachgelehrten) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch etwas zu sagen habe und daß es sich infolgedessen lohne, ihm als Leser und Zuhörer zu begegnen. Aber gerade dieses 'etwas zu sagen haben' ist dem Mißtrauen ausgesetzt, schmeckt nach Apologie. Was soll die Kunde aus dem fernen, wenn auch im Allgemeinbewußtsein nicht mehr schlichtweg 'dunklen' Mittelalter? Was sollen mittelalterliche und höfische Ideale, die man heute als Ideologie verdächtigt? Seither gab es andere und nicht schlechtere. Hier in der Tat scheint der Bezug zum Heute problematisch. Aber es gibt andere, verborgenere Schichten der mittelalterlichen Existenz, als sie die genannten Allgemeinbegriffe aufzudecken vermögen, und sie stellen Fragen, zu denen wir uns erst allmählich gefunden haben. Daß wir sie aber ζ. B. erst heute, oder doch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Fragen begreifen, beweist, daß es Fragen für uns sind. Das heißt zugleich - und ich sage hier gar nichts Neues - ,

* Der Wortlaut des Vortrage wurde beibehalten; manches in meinen Ausführungen rechtfertigt sich nur durch den speziellen Anlaß und die Öffentlichkeit. Hinzugefügt sind nur die Textnachweise und wenige Fußnoten. Die Wolfram-Zitate beziehen sich auf die LACHMANNSCHE Ausgabe, die Chrestien-Zitate auf die Edition von WILLIAM ROACH (Textes litteraires frangais), Geneve/Lille 1956.

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daß jede Generation ein literarisches Werk der Vergangenheit anders begreift. Das je andere Bewußtsein sendet verschiedene, sozusagen hermeneu tische Röntgenstrahlen aus, die ein Kunstwerk der Vergangenheit zwar keineswegs verändern, jedoch anders durchleuchten. | So möchte ich Ihnen nicht in apologetischem Eifer nahelegen, was und wie Großes und Unvergängliches uns Wolfram mit seinem Werk über die Jahrhunderte hinweg 'noch zu sagen hat' (obschon auch dieses zutrifft und auszusprechen nicht ganz verächtlich ist), sondern ich suche zu zeigen, wie wir als Menschen von heute die Welt Wolframs zu sehen vermögen. Dabei ist nicht zu vermeiden, daß ich mein persönliches Verständnis (das natürlich keineswegs singulär ist, sondern sich schlicht in die Wolfram-Forschung einfügt) mit 'uns' und meinen Bewußtseinsstand mit dem 'heute' identifiziere. Zugleich habe ich mit dieser Wendung zum Subjekt des Literaturbetrachters zum Ausdruck gebracht, daß 'Wolfram heute' 'Wolframverständnis heute' heißt - und somit auch als öffentliche Rechtfertigung betrachtet werden kann, warum wir uns hier, in diesem Schweinfurter Kolloquium, mit Wolfram beschäftigen. Das kann nur am Beispiel geschehen und in der Verbindlichkeit der Wissenschaftlichkeit, die hier nur in ihren äußeren Formen, im Fachspezifischen sozusagen, zurücktreten soll. Ich will damit sagen, daß ich keine 'Gedanken' vortrage, die ich mir über Wolfram mache, sondern das wissenschaftliche Instrumentarium der heutigen Wolfram-Forschung in Anspruch nehme bzw. voraussetze, um die Perspektive 'heute' zu gewinnen. Thematisch bietet sich für dieses Vorhaben Verschiedenes an. Da ist das Leid der Altersdichtung 'Willehalm', das Christen und' Heiden umschließt - dies im Zeitalter der Kreuzzüge und in einer Dichtung, die auch eine Kreuzzugsdichtung ist! - , und der Versuch, dieses Leid zu verstehen, nicht durch naheliegende Theodizee, sondern indem man es trägt. Weiterhin, in derselben Dichtung, wie Liebe, diejenige zwischen Willehalm und der getauften Heidin Gyburg, Liebe, an deren humanem und spirituellem Wert nicht zu zweifeln ist, zu einem Völkerschlachten führt, das Wolfram mort nennt. Wunderbar offene, gleichsam unbefangene Fragen eines Menschen, der die von der Zeit und der Kirche gebotenen Lösungen hinterfragte - der Modeterminus ist hier zutreffend. Ich will mich indes, um der Konzentration und der Geschlossenheit willen, auf einen einzigen Gegenstand beschränken: Parzivals ersten Besuch auf der Gralsburg. Zuerst muß ich informieren, damit wir über den Gegenstand wie über die Prämissen des angesprochenen Verständnisses verfügen. Im 5. Buch der 'ParzivaP-Dichtung erzählt Wolfram, wie der junge Held, sein Weib Condwiramurs und seine neue Herrschaft verlassend, zur Gralsburg kommt. Er ist den ganzen Tag ohne Begleiter durch

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wegloses und menschenleeres Gelände geritten, als ihm gegen Abend an einem See ein königlich gekleideter Fischer, der mit Begleitern in einem Nachen angelt, den Weg zur | einzigen Herberge im nahen Gebirge weist, zur Gralsburg. Dort geschehen, bereits zu Beginn des Buches vom Autor angekündigt, groziu wunder (224,3): der königliche Fischer selbst, schwer leidend, ist sein Gastherr, der Gralskönig Anfortas; die Burg ist von märchenhafter Pracht, doch über allen zahlreichen Bewohnern, volc von drizec landen (231,25), liegt tiefe, wenn auch verhaltene Trauer. Sie schlägt indes in laute Klage um, als ein Knappe einen Speer, der immer blutet, in den Rittersaal trägt. Beim anschließenden Nachtmahl wird der Gral, von einer jungfräulichen Königin getragen, in prozessionsartigem Zeremoniell vorgeführt. Er ist wünsch von pardis (235,21), das 'Herrlichste aus dem Paradies', erden Wunsches überwal (235,24), ein Kleinod, das über alles irdische Wünschen hinausgeht, und spendet jedem alle nur erdenkliche Speise und Trank nach Wahl. Angesichts all dieser Wunder bleibt der Gast stumm. Er fragt nicht nach dem Leiden des Burgherrn, nicht nach dem blutenden Speer, nicht nach dem Gral. Es scheinen indes diese Fragen zu sein, die von ihm erwartet werden, sie hätten großes Heil bewirkt: die Genesung des Burgherrn und neue Herrschaft. Parzival hat versagt und alles verloren. Er verläßt am anderen Morgen unter Schimpfworten eines Torwächters die Burg, wird von seiner Cousine Sigune beklagt und verwünscht, wenig später vor dem Forum der Artusritterschaft von der Gralsbotin der untriuwe bezichtigt und verflucht. Ein Sturz ohnegleichen. Ein rätselhafter Vorgang, und rätselhaft nicht nur für uns, sondern für Wolfram selbst und für Chrestien de Troyes, der ihn als erster, weniger als 20 Jahre vor dem Eschenbacher, in französischer Sprache erzählt hat1. Denn - und das ist unbestritten - Chrestien hat offensichtlich diese Szenen nicht erdichtet, um damit ein bestimmtes, rational oder psychologisch aufzulösendes Geschehen in enigmatischer Gestalt darzustellen: er hat den Erzählvorgang nicht im Detail, aber in seinen konstitutiven Zügen übernommen (er beruft sich im Prolog, v. 66 f., auf einen livre, was nicht als Fiktion abzutun ist) und sucht ihn selbst zu deuten: z.T. im unmittelbaren Kontext und dann besonders in der späteren Einsiedler-Szene. Dasselbe trifft für Wolfram zu, der seinerseits die Erzählung von Chrestien hat: weite Partien des 9. Buches - Parzivals Einkehr bei Trevrizent - dienen der Interpretation der Gralsszene, d. h. der Frage, 1

Zur Begründung der Priorität des 'Conte du Graal' gegenüber Roberts von Boron 'Roman de l'Estoire dou Gral' s. K. RUH, Joachitische Spiritualität im Werke Roberts von Boron, in: Typologia Literarum, Fs. Max Wehrli, Zürich u. Freiburg i. Br. 1969 (S. 167-196), S. 187ff. Jetzt in: K.R., Kleine Schriften, Bd.I, Berlin/New York 1984, S. 245-273; dazu ERICH KÖHLER, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, Tübingen 2 1970, Anhang S.272.

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warum Parzival versagt hat. Chrestien und Wolfram bieten dabei Theologie auf, zeitgemäße Mittel zur Lösung dunkler Schuldfragen. Diese theologisch-rationalen Erklärungen stehen in unserem Zusammenhang nicht zur Diskussion. Ich wollte mit meinen Hinweisen nur deutlich machen, | daß die mittelalterlichen Gestalter des Stoffes dem Geschehen grundsätzlich nicht anders gegenüberstanden als wir: als Fragende, als Betroffene. Das berechtigt, den Vorgang selbst zu befragen - unter Absehung von den rationalen Lösungen, die Chrestien und Wolfram als Interpreten geboten haben. Das ist die eine, freilich die wichtigste meiner methodischen Prämissen - wenn Sie wollen: die Interpretierbarkeit einer Substruktur. Substruktur insofern, als hinter die Interpretationsebene des mittelalterlichen Werkgestalters zurückgegangen wird. Unsere Frage gilt nun weiter nicht dem Objekt der erwarteten und versäumten Frage, d. h. nicht dem blutenden Speer und dem Gral, auch nicht dem schwer leidenden Gralskönig, und warum er leidet. Nicht daß dies für Chrestien und Wolfram nicht von höchster Bedeutung wäre, und zumal der Gral hat die Phantasie des mittelalterlichen Menschen und der modernen Forschung angeregt und erregt wie keine anderen Mirabilia des Mittelalters. Aber ich meine, das Frageobjekt konnte wechseln, vielleicht ist es für das Modell der Erzählung nicht einmal konstitutiv. Entscheidend scheint mir für dieses Erzählmodell der Umstand, daß angesichts von geheimnisvollen Gegenständen oder nothaften Konstellationen - ein "Hauch des Verwunschenen" 2 liegt über der Wolframschen, noch mehr über der Chrestienschen Gralsburg - eine Frage erforderlich ist, die Unheil wendet, eine Erlösungsfrage. Mit dieser Verlegung der Akzentuierung vom Gral, dem wichtigsten Objekt der Frage, zum Fragenden (und seinem bestimmten Habitus, wie wir sogleich sehen werden) setze ich voraus, daß die Parzivalgeschichte und die Gralsmaterie (bzw. ein anderes erstrebenswertes Objekt) ursprunghaft zusammengehören - was umstritten ist3. Dies ist meine zweite Prämisse. Ich meine, eine Gralsgeschichte ohne einen Gralshelden (der kein beliebiger sein kann) ist nicht möglich. Doch will ich diese Frage

2 3

J. BUMKE, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945, München 1970, S.294. Gegen eine ursprunghafte Zusammengehörigkeit von Parzival und Gral äußern sich, unter verschiedenen Voraussetzungen, WENDELIN FOERSTER, Kristan von Troyes, Wörterbuch zu seinen sämtlichen Werken, Halle 1914, S. 155"''ff.; WILHELM KELLERMANN, Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman, Halle 1936, S.226; ALEXANDER MICHA, Les romans du Graal, in: Lumiere du Graal, Paris 1951, S. 114; JEAN FRAPPIER, Chretien de Troyes. L'homme et l'oeuvre, Paris 1957, S. 171; JEAN MARX, Nouvelle recherche sur la litterature arthurienne, Paris 1965, S. 113 ff., bes. S . 121.

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nicht diskutieren. Ich setze sie im angedeuteten Sinne als entschieden voraus. Zur erwarteten Frage ist nur ein Berufener fähig, sie kann diesem auch nicht nahegelegt werden (ez w), eine (mögliche) Konfliktsituation (->->), in der Regel zwischen Sänger und Gesellschaft, abgeschwächt zwischen Gesellschaft und frowe, insofern sich die huote auch gegen die Wünsche der Dame richtet. F

S

G (R)

In Neidharts Sommerliedern verändert sich dieses Minnesang-Regelsystem folgendermaßen:

20

Genauer: niedriger als die Dame.

114

Neidharts Lieder

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1. Der soziale Status von S und F ist vertauscht. 2. Die Minnerelation ist vertauscht. 3. Die Position der Gesellschaft mit huote-Funktion (R) kommt der Mutter zu (mit gelegentlichem Funktionsaustausch von F und G). 4. Die Konfliktsituation bleibt unverbindlich. S

F

G (Mutter [h])

Mit diesem geänderten Schema sind verschiedene Implikationen verbunden. Zu 1: Der niedrige soziale Status (Bauernstand) von F (bzw. der Mutter im Falle des Rollenwechsels) bedingt naturhaft-sinnliche Minne; primär wird sie durch Natursignale aufgewiesen. Keineswegs ist damit jedoch eine Pervertierung | der Minnedame verbunden21. Diese Möglichkeit erfordert einen anderen Ansatz (siehe zu 2). Zu 2: Die Vertauschung der Minnerelation führt zum Wegfall des Dienst-Lohn-Verhältnisses und damit einer der wichtigsten Bestimmungen hoher Minne. Die Möglichkeit der direkten Parodie ist so entscheidend eingeschränkt. Das verraten Neidharts Winterlieder, die nur den sozialen Status der Minnepartner vertauschen, nicht aber die Minnerelation: erst dieser Ansatz ermöglicht eine Karikatur der Minneherrin. Im Rahmen der Sommerlieder ist es Nr. 7, das deutlich macht, wie umgekehrt - die Beibehaltung des sozialen Standes der Minnepartner den parodistischen Ansatz provoziert. Hier ist es eine frowe, die Merze, also einen Bauernburschen, begehrt, womit eine derart kompromittierende Situation geschaffen ist, daß sie Neidhart mit der Identifizierung von frowe und tochter gleich wieder aufhebt. Zu 3: Die Konkretisierung der gesellschaftlichen Funktion der huote in der Person der Mutter war gleichfalls nicht dazu angetan, parodistische Wirkung zu erzeugen, ist doch die Äwoie-Aufgabe der Mutter gegenüber der Tochter durch die reale Institution der Familie vorgegeben. Erst der - seltene! - Rollenwechsel von Mutter und Tochter schafft ein parodistisches Verhältnis. Zu 4: "Unverbindlich" ist die Konfliktsituation zwischen Mutter und Tochter, weil sie einen Naturzustand anzeigt. Die durch dieses Verhältnis evozierte Komik beruht allein auf den derben Formen der Auseinandersetzung (Schläge 7 V; 16 VII; Kampf um die Feiertagsattribute in der Truhe [17 V/VI; 19 V; 21 V-VII], erw/-Motiv in 8). 21

So auch J. G O H E E N [Anm. 13], S. 360, gegen

GAIER

[Anm. 7].

Neidharts Lieder

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115

Dazu noch einige ergänzende Bemerkungen zu den Positionen des Minneschemas: Sie alle sind personal besetzt: Sänger, Mädchen, Mutter, alle in ausgesprochener Rollenfunktion. Die frowen-Rolle faltet sich gelegentlich in zwei Trägerinnen aus, nämlich in den Gespielinnen-Liedern, und diese Aufteilung kann die Rolle durch Doppelung steigern (10, 14, 25, 26) oder eine Konkurrenzsituation herbeiführen (20). Aufmerksamkeit verdient der Umstand daß sich außerhalb der durch das Minneschema gesetzten Positionen kein Personal ansiedelt. Merze in SL 7 als Objekt des Minnebegehrens bleibt ein einmaliges Experiment. Ebenso einmalig ist SL 22 mit Engelmar als Rivalen des Sängers; dieses Lied, das den Spiegelraub episiert, ist Vorklang der Winterlieder und mußte ohnehin für die Typusbeschreibung entfallen. Die funktional wichtigste Rolle ist dem Sänger gegeben. Sie verlangt eine besondere Beschreibung, schon weil sie mit dem Minneschema nicht abzudecken ist. | D. Die Sängerrolle Im Minnesang ist der Sänger identisch mit dem Liebenden. Die Vertauschung der Minnerelation bewirkt auch hier neue Konstellationen. 1. Als Minneziel der Mädchen (und gelegentlich der Mutter) und damit in der Rolle der Minnedame von einst verhält sich der Sänger passiv. Er erscheint fast ausschließlich in der Perspektive der Liebhaberinnen. Seine Vorzüge liegen in seinem adeligen Stand und den damit verbundenen höfischen Qualitäten (siehe besonders 20 VII; 23 VII; 25 III-V im Kontrast zum bäuerlichen Liebhaber bzw. man), in seinem Singen und Aufspielen (6 II 3; 14 VII 3 f.; 16 V 2, letztere Stelle in negativer Apostrophierung durch die warnende Mutter, ebenso 18 II 7; 26 VI 5 f.), in seinen Tanzkünsten (6 II 4 f.; 18 IV 7; V 5; 20 IV/V; 21 VII 4f.; 24 IV 5ff.). Das sind Qualitäten, die einem Liebhaber wohl anstehen wie der Minnedame Schönheit und tugende, aber noch nichts über seine Minne besagen. Diese wird zwar generell vorausgesetzt, aber nur in Ausnahmefällen konkretisiert: derst mir holt (14 VII 5), er küßte mit einer Wurzel im Munde (15 VII 2)22, er bittet um einen Tanz (16 VI 4 f.), er macht Geschenke (18 III), er trägt die Geliebte auf sein Bett (20 VII, im Potentialis), er wünscht sie sich nach Riuwental (24 V 4). In den Augen der warnenden Tochter ist der Sänger ein gefährlicher Galan (er pjliget niht staeter minne 1 II 2); die Mutter warnt vor seinen Nachstellungen (16 V 5). Dies alles ist perspektivebedingt.

22

Siehe dazu

WIESSNER,

Kommentar S. 37.

116

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Der Sänger selbst wünscht sich ein Mädchen als vrouwe nach Riuwental (13 VII 4f.): ein Scherz, da sie mit der meisterinne schlecht zusammenspielen würde (VII 6 ff.); eine ich mir ze träte nam (20 VIII 4) steht in einem schon mehrfach apostrophierten Ausnahmelied; min liep (5 III 3) wird vom Mädchen gesagt, das der Sänger nur ins Bild bringt. 2. Dominant ist in den Sängerstrophen die Sängerfunktion. Der Sänger bringt vreude durch Frühlingspreis und Gesang (Nr. 4), vielfach durch direkte Aufforderung (4, 5, 8, 9, 13-16, 19, 20, 24, 26), aber auch durch Frühlingspreis als solchen (2, 3, 23, 25). Als vreude-Bringer sieht sich Neidhart in unveränderter Minnesängerfunktion. 3. Das ergibt ein Auseinandertreten von Sänger und Liebhaber. Als Liebhaber in der Perspektive erotisierter Mädchen (und Alten) ist der Riuwentaler ein ritterlicher Galan, dem die Dorfmädchen zufliegen und der sich bewundern läßt, als Sänger Freudenbringer in alter Minnesangfunktion. Es ist diese Entzweiung um so bemerkenswerter, als sich das lyrische Ich als Liebhaber negativ, als Sänger positiv darstellt, also in Wertungen polarisiert. Was die Gesellschaft Morungens, Reinmars und Walthers Minneliedern nicht abnehmen wollte, die Echtheit des Minnebekenntnisses in gesellschaftlicher Rolle, was die Sänger selbst als Problem empfanden, daß nämlich Minneleid der vröude der Gesellschaft | dienen soll: diese im Minnesang angelegte, aber nothaft zusammengehaltene Antinomie ist bei Neidhart als Sänger-Liebhaber-Polarisierung strukturell geworden. Das wird doch wohl heißen: fragwürdig geworden ist 'Minne', nicht die Kunst. II. Winterlieder Unberücksichtigt bleiben nur WL 21, dessen Echtheit zweifelhaft ist23, und 37 als eine Reihung von Einzelstrophen. Differenzierungen ergeben sich aus der Beschreibung selbst. A. Natureingang 1. Er fehlt einzig in WL 4. 2. Er wird vom Sänger formuliert, nur in 7 ein wip (I 2)". 3. Häufig erscheint er in reduzierter Form (nicht mehr als 4 Verse): 9, 10, 15-18, 23, 27, 28. Ungewöhnlich ausführlich, über drei Strophen hinweg, ist die Winterthematik in 25 entfaltet25. 23

24 25

Siehe E. WIESSNER, Kritische Beiträge zur Textgestalt der Lieder Neidharts, ZfdA 61 (1924), S. 166. In Str. II greift der Sänger selbst die Winterthematik auf. Siehe dazu PETER BRÜNDL, unde bringe den wehsei. als ich wan, durch ir liebe ze grabe. Eine Studie zur Rolle des Sängers im Minnesang von Kaiser Heinrich bis Neidhart von Reuental, DVjS 44 (1970), S. 409-432, hier 423 ff.

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4. Motivisch wird der winterliche Natureingang mehrheitlich mit der Negation von Sommerzeichen bestritten (28 Fälle). Eigentliche Winterzeichen erscheinen in der Regel nur als attributive Zuordnungen: kalter Winter 3 I 2; 11 I 7; 15 III 2 ; 24 I 2; küeler Winter 27 I 2; scharpfer Winter 28 11/3; trüebe tage 2 I 5/7; 6 I 8; 111 2; 13 I 6; 1711; 36 12; rife 3 I 6; 6 I 6; 7 II 3; 19 II 2; 25 II 8; kalter rife 30 I 5; der leide rifen kalt 12 I 7; sne 25 III 3; rife undsne 1 I 7; 201 5; is 3 11; is undanehanc25 II 13; winderraeze schrd 25 III 14; kalte winde 1 I 4; 25 II 1; süre winde mit ungevüegem schaden 1116; winderlange swaere zit 30 I 2; Winter ist hie mit einer ungevüegen kraft 34 I 4; mit unsenftikeit 34 I 7. Nur der Eröffnungsvers in Nr. 3, Kint, bereitet iuch der sliten üf daz is, zeigt eine winterliche Tätigkeit an, aber kaum Winterfreuden, da gleich mit dem folgenden Vers eine eindrucksvolle Winterklage anhebt. 5. Die Funktion wird nirgends explizit, ergibt sich indes generell aus dem antithetischen Bezug zum sommerlichen Natureingang, speziell aus dem Sprachcharakter der Winterzeichen als negierten Sommerzeichen. Der Sänger klagt, die vreude, und mit ihr minne, ist ihm genommen; der Winter ist unser freuden widerstrit (20 I 4). Zu 4: Der frühe Minnesang hatte das Wintermotiv überwiegend als Lob der Winternacht, die lange Liebesfreude gewährt, ausgeformt: MF 6, 9ff. (anonym | [Niune]); 16, 15 ff. (Burggraf v. Regensburg); 35, 16f.; 39, 35 ff. u. 40, 3 ff. (Ps.-Dietmar), später Walther 117, 36 ff. Auf Neidhart hin weisen nur (seltene) negierte Sommerzeichen: MF 18,17 ff. (Burggraf v. Rietenburg); 37, 18ff.; 37, 30ff. (Ps.-Dietmar), und Ansätze zur Wintermotivik bei Walther in 39, 1 und 75, 25; einen spezifischen Wintereingang hat nur Veldeke MF 64, 26 (Het hebben di kalde nechte gedän / dat di louvere ane der linden / winterlike vale stän). Dieser Traditionsbestand erlaubt die Aussage, daß Neidhart den Wintereingang mehr in Analogie zum Sommereingang als in der Aufnahme früherer Ansätze geschaffen hat. Die anthropomorphe Ausrichtung der Wintermotive ist verbal weniger ausgeprägt als in den Sommerlied-Eingängen (was mit der Statik der winterlichen Motivik zusammenhängen könnte). Nichtsdestoweniger ist sie konstitutiv, da die Winterzeichen nicht nur Anlaß menschlicher Klage sind, sondern diese selbst26. Zu 5: Mit überraschender Deutlichkeit wird in WL 1, II die Sängerrolle der Sommerlieder aufgegriffen: Tanzet, lachet, weset vrö! daz zimt wol den jungen disen winder lanc. iu ze stiuwer gibe ich so 26

Vgl. HUGO KUHN, Minnesangs Wende, Tübingen 2 1967, S. 74 f.

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hiwer von miner Zungen einen niuwen sane, daz ir äne swaeren muot vreude mugt erbiten. Engelmär, din Stube ist guot: kiiele ist an der liten. der winder schaden tuot. Dieses Lied ist nicht einmal singular, sondern repräsentiert einen Sondertypus offenbar früher Winterlieder, der die Nrn. 1-10 umfaßt27. Die vreude ist hier nur vom Anger und von der Linde in die Stube verlagert, der Sänger spielt auf (1 II 4ff.; 4 III), er organisiert und läßt Mädchen aufbieten (2 Vff.; 3 Iff.; 4 III; 5 IV), er ist als Liebhaber erfolgreich (5, 7, 8, 9) oder nicht engagiert (1-3). Hier markiert der winterliche Natureingang erst ein verändertes Szenarium, noch nicht Klage und Anti-Minnesang. B. Thematik 1. Das Szenarium ist in der Regel nur angedeutet, in wenigen Liedern konkretisiert, am ausführlichsten in WL 4, dem einzigen Lied ohne Natureingang. Die bloße Konnotation der meisten Ortlichkeiten ist um so erstaunlicher, | als hier kein literarisches Vorwissen gegeben war. Doch ist, wie die häufigen Verweise28 oder 'Leitmotive' wie Friederuns Spiegel verraten, mit zyklischem Vortrag zu rechnen, der einen eigenen Verständnishorizont aufbaute und damit im Fortgang weitgehende Reduktionen ermöglichte. Sicher ist, daß Neidhart Genrehaftes nicht anstrebte, anders wäre die Reduktion gerade im Bereich des Milieus nicht verständlich. Eigentlicher Ort winterlicher Lustbarkeiten und Auseinandersetzungen ist die Bauernstube. Genannt und in die Anschauung gebracht wird sie indes nur in 1-4 und 18; dazu treten als Tanzort Hademuots Meierhof (5 IV) und der Hausflur (vletze) in 7 III29. 2. An szenischen Elementen bietet die Tanzsituation das meiste: Vorbereitung und Aufgebot 2, 3; ausführliche Tanzszene 4 II/III; 7 (Mutter als huote), 17 (Kirmesepisode), 18 (Ringraub: Sommererinnerung), 19, 25, 26, 27 (Kränzetausch, Schleier- und Kranzraub), 30, 31 (Ärmel abgezerrt), 33 (Dörper tritt einem Mädchen aufs Kleid), 34 (Verweis darauf). - Würfelspiel in der Stube findet in 2 und 10 statt. Siehe J. GOHEEN [Anm. 13], S. 363 ff., die diese Gruppe sehr deutlich von den übrigen W L abhebt. 2« Siehe BERTAU [Anm. 5], S . 8 4 f .

17

29

Sonderfälle: Hecke (8), Kirmes (17), Anger (18) und Straße (24) als Sommererinnerungen.

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Werbe- und Minneszenen des Sängers sind selten: 5 (Rübengräberin: in der Erinnerung), 7 (mit Überlistung der Mutter), 8 (Flachsschwingerin), 9 (erfolgloser Griffelraub; Heueinbringen: in der Erinnerung). In der Regel ist nicht der Sänger, sondern die Dörperschaft aktiv und erfolgreich mit rünen und derbem Zugriff. - Streit unter Dörpern: 1, 3, 11 (nur angedeutet), 14, 24 (Ingwer-Streit), 31 (Verweis auf 24). Rache am Riuwentaler 17, 34 (Verweis auf 17). Alles Szenische bleibt episodisch, ausgenommen im pastourellenhaften W L 8 (Flachsschwingerin). 3. Eigentliche Thematik ist, jedenfalls ab 11, die Klage: als 'zitierte', aber auf ein Bauernmädchen bezogene und damit parodierte Minneklage, aber auch, mit zunehmendem Ernst in den späten Liedern, als Gesellschafts- und Zeitklage30. Dieses monologiche Element ist in eigentümlicher Weise mit der Inszenierung der Dörper-Welt verbunden, die grell, vital, bedrohlich in Erscheinung tritt und des Sängers Abwehr, Spott und Angst evoziert. Die Sprachform ist hier Bericht, Apostrophe und puppenspielhaftes Aufzeigen und Herbeizitieren, Rede und Gespräch sind Ausnahmeformen, bezüglich der 'Dame' fehlen sie schlechthin. C. Die Rolle des Sängers 1. Als Liebhaber ist der Sänger nur innerhalb der frühen Gruppe 1-10 erfolgreich (5, 7, 8, 9, ohne Engagement 1-3). 2. Er wirbt mit Gesang: 11 II; 12 III; 15 III; 16 I; 17 I/II; 19 II; 22 1/ I I ; | 23 I; 24 II; 25 IV; 26 I; 27 II; 31 II; 32 I, in dieser Rolle ist er immer

erfolglos: Swaz ich ir gestrige, deist gehärphet in der mül (23 II 1).

In frühen Liedern spielt er auf ohne Werbung: 1, 2 V, 4 (hovetänzel III 12 als Konkurrenz zum ndewanzen II 5). 3. Gründe für den Mißerfolg des Sängers sind: - Widerstand und Gleichgültigkeit der 'Dame': 9; 14 III; 16 I/II; 17 I/II; 19 II; 22 I/II; 23 I; 24 II; 25 IV; 26 I; 31 II; 32 I/II; 35; 36; - Dörperkonkurrenz: 4 VII; 5 V; 6; 10-27, 31-34, 35 V; - huote 2 III; 7; 8 III (Muhme): immer nur partiell und vorläufig und gegen den Werber, nicht den Sänger gerichtet. - Nur beiläufig Mißerfolg wegen Alter 34 IV. 4. Die Reaktion des Sängers auf den Mißerfolg: - er droht: 6 III/V; 10 III, VI; 11 II; 12 II; 14 IV; 17 III; 18 IV; 27 VI; 31 IV; 32 VI; 36 IV (mit dem Kaiser!); - er resigniert: 4 VII; 14 IV 13f.; 15 III; 25 VI/VII; - er klagt: 12 IV; 14 VI; 16 II; 23 IV; 26 IV/VI; - er gibt den Gesang auf: 15 I; 17 II. 50

Siehe BERTAU [Anm. 5], S. 76-97.

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In der Regel wirbt der Sänger mit Gesang, und dies durchwegs erfolglos31. Dies in Analogie zur Minneklage der Minnesänger. Ebenso entspricht die Gleichgültigkeit der Dame dem Minneklageschema, während dort die Rivalen nur gelegentlich Spielverderber sind32. Das heißt, daß das Schema bei Neidhart (siehe unten S. 165) nach der Rivalenmotivation hin verzerrt ist. Dementsprechend wird auch die Reaktion auf den Mißerfolg durch Konkurrenz (Drohung, Resignation, Klage) übergewichtig.

D. Die Rolle der vrouwe Keine vrouwe-Rolle kennen WL 1, 3, 29 (Fürst Friedrich-Preis/Hildemar-Strophen). Sonderfälle sind: min vrouwe = Werltsüeze in 28 IV 1; V 1/VII 5; = Werlt in 30 IV 1. 1. Die vrouwe ist grundsätzlich namenlos - wie die Dame des Minnesangs. Ausnahme in 4 (VI 4 Ave) und 14 (IV 11; VI 14 Elsemuot); Vriderün ist ein Spezialfall. 2. Der sozialen Herkunft nach ist die vrouwe immer ein Bauernmädchen. Dies ergibt sich indes fast immer nur aus dem Kontext bäuerlichen Milieus. Nur in frühen Liedern erfolgt unmittelbare Kennzeichnung des Standes: sie gräbt Rüben (5 und 6), sie schwingt Flachs (8), sie trägt Heu ein und hat die vüezel... zeschrunden (9); in 4 charakterisiert sie sich durch ihre Rede: Sine an, guldin huon! ich gibe dir weize (11) wie in 8 (II 10; III 7 ff.) und 9 (III 4 ff.). | 3. Dem werbenden Sänger gegenüber verhält sich die vrouwe, dem Minnesangschema entsprechend, passiv-ablehnend. Willig zeigt sie sich nur in den frühen Liedern 5, 7, 8 und 9, und hier immer verbunden mit aktiver, wenn auch nur scheinbarer oder hinhaltender Abwehr33. Das Verhalten gegenüber den Dörpern ist zwar nicht aktiv, aber nachgiebig. Werbung mit rünen und Handgreiflichkeiten weist sie nicht zurück. 4. In den Augen und im Munde des Sängers erscheint die vrouwe als Idealgestalt des Minnesangs. Direkte Kontrastierungen zu bäuerlicher Tätigkeit und Rede kommen nur in den unter 2. genannten Fällen vor. Dem entspricht auch die Seltenheit einer unmittelbaren terminologischen Oppositon höfisch-dörperisch. Das stärkste Beispiel steht in 20 III

31

Lohnversprechen für Gesang kündet die 'Dame' in 4 1 an: 'Sine an, guldin huon! ich gibe dir wetze'. Aber der Lohn wird nicht eingeholt.

32 33

Vgl. Fridrich von Husen M F 50, 2 3 f f . ; Reinmar M F 167, 2 6 f f . ; Walther 117, 22ff. In 9 ist die Zuneigung mit einer Sommererinnerung verbunden; der gegenwärtige Mißerfolg des Sängers ist durch dessen Fehlverhalten (Griffelraub) bedingt, das den zorn (IV 2) der vrouwe

herausforderte.

121

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9: miner ougen wünne greif er an den fiidenol". Diesen Beobachtungen ist zu entnehmen, daß Neidhart den in der vrouwen-Rolle der Dorfmädchen angelegten Kontrast nicht, d. h. nur ausnahmsweise, in unmittelbare Situations- und Sprachkomik ausformte. Auf parodistische Effekte und schallendes Gelächter ging er im Rahmen der Frauenrolle nicht aus.

E. Die Dörperrolle 1. Die agierenden dörper (getelinge, sprenzelaere, dorefsprenzelf5 werden fast durchwegs mit Namen genannt. Gezählt wurden 110 Namen, öfter in langen Aufzählungen (4 IV; 14 II; 17 III; 36 IV). Fast immer agieren einige zusammen. Der einzelne ist austauschbar; nur Engelmar, der Friderun den Spiegel entrissen hat, tritt wegen dieser Sonderrolle als Individuum, aber auch als einer für alle36, hervor. 2. Dörper sind im Regelfall des Sängers Rivalen. Die Beliebigkeit dieser Rivalenrolle erweist sich in der Austauschbarkeit der 'Spieler' und, nicht selten, in deren unbestimmter Identität, die bis zum Namentabu geht: der ungenande, / des ich nennen niht entar (33 III 6 f.). Als Rivalen sind die Dörper erfolgreich, und zwar mit rünen und derben Zudringlichkeiten. Wo der Sänger auf Erfolgsbahn geht (stehe oben C 1), tritt Dörperkonkurrenz nicht in Erscheinung. Rivalität der Dörper unter sich ist beschränkt (1, 3, 11, 14, 24, 31 [Zitat aus 24]). 3. Die Dörperschaft als solche ist Herausforderung der guten Sitte und der Standesgrenzen durch pseudoritterlich-höfische Aufmachung, zumal in Haartracht und Kleidung. Gutmütig-neutral erscheinen die Dörper nur in den frühen | Liedern (1, 2, 3, 5; sie fehlen in 7, 8: der Sänger ist hier erfolgreich). Trotz der Unsicherheit der chronologischen Liedfolge wird man sagen dürfen, daß die Dörper zunehmend zum Feindbild werden. In dieser generellen Funktion bedarf es keiner expliziten Drohnungen und Aktionen gegenüber dem Sänger mehr, die bloße Zitation genügt, um solche zu inszenieren. 4. Parallel zu dieser Entwicklung ist die Festigung der Symbolbeziehung Winter-Dörper zu sehen, auf die J. G O H E E N mit Nachdruck hingewiesen hat37. Sie fehlt in der frühen Liedgruppe noch durchaus. Wie der Winter den Sommer verdrängt, so die sprenzelaere den Sänger von lieber stat (24 IV 1; 31 III 8; VII 14), genade (11 II 3), hulde (33 III 34

Vulgarismen sind überhaupt verhältnismäßig selten: rösenvarwer

triel 2 III 4; si gap mir

ze kaufen in dem kruoge (erotische Metapher) 5 III 5; oukolf 7 II 5; vüdestecke 8 III 7; drüzzelstöz 35 3

11 V 9. Auch hier überwiegen Belege in den frühen Liedern.

Belege in WIESSNERS Wörterbuch s. v.

' Vgl. u.a. 31 VII 14 er[Engelmar]it ir einer, der mich hat von lieher stat

37

[Anm. 13], S. 365 ff.

verdrängen.

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Neidharts Lieder

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3 f.) und vröuden (31 III 7f.): manege ziere, I da uns dirre kalte winter von gedrungen hat; / mich verdringent aber geiler sprenzelaere viere / von der wolgetanen (15 III 1 ff.). Gewalttätig, ungeviiege (11 I 6; 34 I 4) wie der Winter sind die Dörper (18 V 3; 26 V 3; 27 V 8; 34 V 4), vor deren Macht Sommer und Sänger zur Ohnmacht verdammt sind. Diese Symbolik erstreckt sich in den späten Liedern auch auf die Gesellschaft und das ganze Land (29 II 1 f.; 30 I/II; 34 V): Winterzeit der Welt38. F. Minneschema 1. Das traditionelle Minnesangschema ist als solches erhalten - außer dem sozialen Konstituens: die vrouwe ist, in Ubereinstimmung mit den Sommerliedern, ein Bauernmädchen im dörflichen Milieu. Zudem ist die Position der "Gesellschaft" durch Rivalen besetzt (die im Minnesang fast eine Leerstelle einnahmen3'), was einer Verstärkung der Konfliktrelation Sänger - Gesellschaft gleichkommt. Weiterhin: Stand im Minnesang die vrouwe zwischen Sänger und höfischer Gesellschaft, so jetzt zwischen Sänger und Dörperschaft. Trotz dieser | Verschiebungen dominiert im Verhältnis beider Schemata funktionell die Analogie, jedenfalls in stärkerem Maße als im Verhältnis SL und Minnesang. S ρ

_ — - g (Dörper, R)

2. Der Sänger steht allein. Er wirbt um Beistand und Solidarität seines Publikums, bzw. der Gruppe der vriunde: offensichtlich erfolglos, denn die Bitten um vriundes rat und Beistand (12 II; 2 0 I V ; 35 III; 36 III u. ö.) klingen verzagt, und oft ist er nicht sicher, ob sein Lied als solches noch Beifall findet (19 VI; 30 VII; 34 IV). Bedeuten so Habitus und Aktivität der Dörper für den Sänger Provokation und Bedrohung, für die Zuhörer bleibt es beim Spaß. 3. Der Sänger als Werber mit Gesang ist erfolglos, mit (ausnahmsweise) vulgären Methoden des rünens und Karessierens erfolgreich. Diese sind zugleich kennzeichnend für Werbung und Erfolg der dörperlichen Rivalen. Daraus ergibt sich, daß rünen und Handgreiflichkeiten als solche Minneerfolg versprechen - künde ich sanfte rünen, daz 38

J. GOHEEN [Anm. 13], S. 374. Die Strophe 34 V, in der der Spiegelraub Engelmars als Beginn und Grund des Verlustes von vreude,

zubt

und ere

bezeichnet wird, die

eigentümliche Hypostasierung des Motivs überhaupt, legen nahe, den Spiegelraub mit der gewalttätigen Herschaft des Winters zusammenzusehen. Es wäre in ein unheilsgeschichtliches episches Motiv ausgeformt, was der Machtantritt des Winters jahreszeitlich-mythisch besagt. 39

Siehe oben Anm. 32.

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vernaeme si mir gar (11 II 2) Werbung durch Gesang indes zur Erfolglosigkeit verurteilt ist: wol singen unde rünen habent ungelichen Ion (19 VI 3). Die Frage ist gestattet, ob damit eine Desillusionierung des Minnesangs angezeigt wird. Das Winterliedschema gestattet parodistische Wirkung aufgrund folgender Voraussetzungen: 1. In der Spannung zwischen dem Idealbild der vroHwe im Munde des Sängers und deren realer Existenz. Davon wird verhältnismäßig sparsam Gebrauch gemacht (siehe oben D4). 2. In der Konkretisierung der Rivalenrolle, wodurch sich auch das Ich des Sängers stärker profilieren mußte40. Was der Minnesänger aus Diskretion verschwieg, bzw. nur in Andeutungen und abstrakten Begriffen abdeckte, das tritt im WL grell und handgreiflich in Erscheinung. G. Zusammenfassendes 1. Alle WL sind mit einer Ausnahme (4) durch den winterlichen Natureingang als einheitlicher Typus angezeigt. Typusbestimmend ist weiterhin die Dörperthematik". Sie erscheint auch dort, wo ein besonders Thema aufgegriffen wird, wenngleich nur angehängt oder funktionslos: 28 (Werltsüeze-Lied), 29 (Friedrich-Preislied), 30 (Frau-Welt-Lied), 34 (Altersklage), 36 (politisches Lied). Aber gerade in dieser Bezugslosigkeit erweist sich die Dörperzitation als Gattungszeichen! Nicht immer bedingt Winterklage auch Minneklage. Diese fehlt 1-10 und in Liedern mit besonderer Thematik (28, 29, 30, 34, 36), aber auch in 18 und 20, wo sie ganz in der Dörperklage aufgeht. Fast durchgehend handelt es sich um Sängerlieder. Zum 'genre objectif' gehört, streng genommen, nur 8 (Flachsschwingerin). Partiell haben an diesem Typus teil: 1-5, 7, 17, 18, 19, 27. | 2. Als Sondertyus stellen sich die WL 1-10 heraus, wenn auch unter sich mit abweichenden Konstituenten. Gemeinsam ist ihnen: Die Minneklage fehlt, das Genrehafte ist verhältnismäßig betont, der Sänger ist mehrheitlich als Minner nicht engagiert oder dann erfolgreich, die Dörper sind noch nicht zum 'Feindbild' typisiert. 3. Der zyklische Charakter der WL42 stellt besondere Probleme der Sekundärrezeption. Ist vom ursprünglichen Publikum Neidharts ein K

Dies

hat TITZMANN [Anm. 6],

S.493

unterstrichen.

Er

spricht

sogar

von

einer

"Geschichtlichkeit des I c h " . 41 42

Sie fehlt nur in 8 (Flachsschwingerin mit Pastourellencharakter). Ich unterstelle dem Begriff des Zyklischen bei Neidhart keine künstlerische Intention, sondern nur die Rezeption der ersten Hörerschaft, die die Liedfolge in ihrer Kontinuität aufnahm, was freilich wiederum auf den Künstler zurückwirkte, ihn zu immer häufigeren Rückgriffen (Frideruns Spiegel) und Zitaten veranlaßte. - Siehe auch zum Zyklusproblem TITZMANN [ A n m . 6], S. 501.

124

Neidharts Lieder

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(allmählich sich bildender) Gesamthorizont zu erwarten, der den besonderen Stellenwert des Einzelliedes zu bestimmen vermochte, so dürfte diese Voraussetzung bei späterer Hörerschaft kaum mehr zutreffen. Jedenfalls geht aus der Neidhart-Rezeption durch Nachahmer ('Neidharte', Neidhart-Schwänke, Neidhart-Spiele) hervor, daß sich das Sänger-Ich wiederum mit seiner Gesellschaft solidarisiert: Neidhart wird zum erfolgreichen Gegenspieler der Dörperwelt. Dies bedeutet, daß gerade das persönlichste Element der WL aufgehoben wurde, ist doch Neidhart die Sängerrolle in der Isolation (zunächst schemabedingt) immer mehr zum persönlichen Problem geworden, aber auch daß das Schema selbst eine Änderung erfuhr. Angelegt war diese Abweichung in der Dominanz des Feindbildes der Dörper, das sich so als stärkstes Konstituens des Typus erwies. Der Sänger von Riuwental sah sich der Drohnung der getelinge ausgesetzt, ohne der Solidarität seiner Gesellschaft sicher zu sein, die am Auftritt und Gebaren der Dörper auf Kosten des Sängers ihren Spaß hatte. Indem Neidhart als großer Sänger der Vergangenheit43 zum Mythos wurde, war die Möglichkeit gegeben, ihm die Rolle des zwar gefährdeten, aber letzthin erfolgreichen Bauernfeindes44 zu verleihen, und als solcher vertrat er wenn nicht die Interessen, so doch die Ideologie der adeligen Gesellschaft. Diese Reintegration des isolierten Sängers in die Gesellschaft erfolgte freilich auf Kosten seiner Sängerrolle, und diese Reduktion war vollends dazu angetan, den von Neidhart geschaffenen Typus des Winterliedes in ein Schwankmodell zu verwandeln. Der vorliegende Neidhart-Beitrag will Beschreibung sein, nicht mehr45. Daß er keine aufsehenerregenden Resultate bringt, versteht sich bei der Intensität der | neueren Neidhart-Forschung von selbst. Er führte indes zu mancherlei Klärungen und Präzisierungen an der 'Basis', 43

Siehe "Zeugnisse" in der Ausgabe HAUPT/WIESSNER (1923), S. 324 ff.

44

"Bauernfeind" wird Neidhart meines Wissens zum ersten Mal im Wappenbuch des Konrad Grünenberg (spätestens 15. Jahrhundert) genannt: der Neithart der paurnveind von

45

Zeisslmaur

(zit. HAUPT/WIESSNER, S. 329).

Es mag auffallen, daß die Strophenform ausgeklammert wurde. Dies geschah nicht in Verkennung der Bedeutung der Strophik - diese markiert u. a. die wesenhafte Verschiedenheit von S L und W L sondern weil es hier nichts zu klären bzw. zu differenzieren gab. Auf die musikalische Formensprache konnte ich mich zuständigkeitshalber nicht einlassen. - Ausgeklammert habe ich auch (bis auf wenige kontextbedingte Hinweise) die Rolle der konkreten Gesellschaft, d.h. von Neidharts Publikum. Dazu wäre die Berücksichtigung der Trutzstrophen unumgänglich gewesen, die ihrerseits erst wiederum einer Abklärung bedurft hätten. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung s. besonders BURGHART WACHINGER, Die sogenannten Trutzstrophen zu den Liedern Neidharts, in: Fs. Siegfried Beyschlag (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 25), Göppingen 1970, S. 99-108; K . BERTAU, Neidharts 'bayrische Lieder' und Wolframs 'Willehalm', Z f d A 100 (1971), S.311 ff.; TITZMANN [Anm.6], S.486.

[168]

Neidharts Lieder

125

auch zu verschiedenen Korrekturen, die dem Neidhart-Verständnis förderlich sein könnten. Uber dieses hinaus scheint mir die Forderung von W O L F G A N G ISER46, Beschreibungsmuster zu erarbeiten, keineswegs überholt, wie immer man über das gesamte Studienmodell denken mag. In dieser Hinsicht ist mit meiner Typusbeschreibung auch ein didaktisches Anliegen verbunden.

44

Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell, Konstanzer Bll. für Hochschulfragen 22 (1969), S. 25-39; überarbeitet: Linguistische Berichte 2 (1969), S. 77-87 und in: Ansichten einer künftigen Germanistik, hg. von JÜRGEN KOLBE, München Ί970 (Reihe Hanser 29), S. 193-207.

III. Dichtung des Spätmittelalters

'Moriz von Craün' Eine höfische Thesenerzählung aus Frankreich [Formen mittelalterlicher Literatur, Festschrift S.Beyschlag (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 25), Göppingen 1970, S. 145-163]

Innerhalb der Geschichte der höfischen Epik und höfischen Ideologie kommt dem 'Moriz von Craün' nicht geringer Erkenntniswert zu. Der Grund liegt nicht im besonderen Rang des unbekannten Autors, sondern im Umstand, daß es sich (wie oft betont) um einen gattungsgeschichtlich und ideologisch singulären Typus handelt. Höchst unbequem ist er irgendwo zwischen Veldeke und der Märendichtung angesiedelt. Er ist aber auch kein literarischer Meteor, den es in der Geschichte des Geistes und der Formen überhaupt nicht geben dürfte. Was uns als "vereinzelt" entgegentritt, ist in der Regel nur Mangel unserer Erkenntnis oder Erkenntnismöglichkeit. Die MvC-Forschung, repräsentiert durch Studien von ROSENHAGEN (1924),

HATTO

(1938),

STACKMANN ( 1 9 4 7 ) ,

HARVEY

(1961),

BORCK

(1961)1, um nur an die wichtigsten und auf ein Gesamtverständnis hin angelegten Arbeiten zu erinnern, hinterläßt den Eindruck, die Erkenntnismöglichkeiten seien erschöpft. Sie sind es nicht. Bisher kontrovers beantwortete Fragen sind durchaus zu lösen, wobei der methodische Ansatz einzig in der systematischen 'Programmierung' des Textes und einer entsprechenden 'Datenverarbeitung' besteht. Kontrovers ist die Frage der Datierung: Frühdatierung zwischen 1 1 8 0 / 9 0 (so DE BOOR) oder Spätdatierung (ab 1 2 1 0 bis gegen 1 2 4 0 ) (so die Mehrzahl der Forscher). | Kontrovers die Frage der Gattung: Novelle (Märe), kleiner Roman oder Exempelgeschichte? Kontrovers die Frage der Ideologie: Höfisch oder antihöfisch? 1

Die ausführlichen Literaturangaben im Beiheft der Ausgabe ULRICH PRETZELS (ATB 45, Tübingen Ί966), nach der ich auch zitiere, entheben mich genauerer bibliographischer Dokumentation. Zur Ergänzung: FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Translatio artium. Uber die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, Arch. f. Kulturg e s c h . 4 7 ( 1 9 6 5 ) , S. 1 - 2 2 , b e s . S. 2 0 - 2 2 ; KARL HEINZ SCHIRMER, Stil- u n d M o t i v u n t e r -

suchungen zur mhd. Versnovelle (Hermaea, N F 26), Tübingen 1969, S. 7, 26f., 49 ff., 8 1 f., 1 4 2 ff.

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Kontrovers die Frage: Worin besteht die Eigenleistung des unbekannten rheinfränkischen Verfassers? Kein Zweifel zwar, daß dieser über eine französische Vorlage verfügte2, aber sie ist verlorengegangen. Doch kennen wir ein Fablei von 250 Versen mit demselben Thema, 'Du chevalier qui recouvra l'amour de sa dame3', aber mit anderer, ja entgegengesetzter Lösung. Offene Frage also: Was ist "französisch", was ist "deutsch" an dieser Geschichte? Konkreter: Was entnahm der deutsche Autor der Quelle X, was fügte er aus Eigenem bzw. aus deutscher literarischer Tradition hinzu? Fast keine dieser Fragen ist isoliert zu beantworten. Jede greift über sich hinaus in den Bereich anderer Probleme. So ist es an und für sich gleichgültig, bei welcher Frage man ansetzt. Doch empfiehlt es sich, das Verhältnis zur Vorlage zum Ausgangspunkt zu machen, da die Lösung anderer Fragen dadurch entscheidend vorbereitet wird. I Der MvC zählt 1784 Verse. Kaum die Hälfte davon - und dies bleibt ein einzigartiger Fall - ist erzählte Handlung, das übrige Lehre, Schilderung, Beschreibung. Der Prolog weist 262 Verse auf, und ihm folgt eine zweite Einführung, das Lob des Helden mit einer Minneabhandlung von abermals 154 Versen; macht zusammen 416 Verse. Beschreibungen von Gegenständlichem (Turnierschiff, Rüstung, Zelt, Kemenate, Bett, Frühling) erfordern 287 Verse; dazu treten vier Monologe mit 137 Versen und Reflexionen innerhalb von Gesprächen mit 80 Versen. Das ergibt ein Gesamt von 920 Versen mit lehrhaftem oder beschreibendem Charakter. Es ist dieser Komplex, den man vor allem auf das Konto der Eigenleistung des deutschen Bearbeiters gebucht hat. | Wie verhält es sich damit? Ich beschränke mich auf wenige Beispielfälle. 1. Der Prolog hat bekanntlich den geschichtlichen Gang der Ritterschaft zum Thema: Ritterschaft begann in Griechenland, zumal vor Troja, und ging verlustig nach Alexander. Dann entfaltete sich in Rom unter Cäsar vorbildliches Rittertum, das Nero pervertierte. Endlich trat Frankreich das Erbe an mit Karl, Olivier und Roland, und hier verbindet sich in der Folge als Novum Ritterschaft mit Frauendienst: sie dienent 2

Dies hat einzig GASTON PARIS, jedoch ohne stringente Gründe, in Frage gestellt. Er plädierte für eine lateinische Redaktion (Rez. zu EDWARD SCHRÖDERS Ausgabe v. J. 1894, Romania 23 [1894], S.466-474, z.St. S.472ff.). Dazu SCHRÖDER, Berlin 2 1913, S . 2 5 f f . u n d STACKMANN, S. 1 3 9 .

3

A. DE MONTAIGLON/G. RAYNAUD, Recueil general et complet des fabliaux des XIII' et XIV« siecles, Paris 1872-1890, Fablei CLI, Bd. VI, S. 138-146.

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harte schöne / den vrouwen da nach lone, / wan man lönet in da / baz danne tender anderswä (V. 259 ff.). Der Prolog gilt als im wesentlichen aus verschiedenen deutschsprachigen Quellen, zumal Veldekes 'Eneit', dem Trojanerkrieg' Herborts von Fritzlar und der 'Kaiserchronik' kompiliert4. Als besonders gesichert gilt die Benutzung der Kaiserchronik in der ausführlich behandelten histoire scandaleuse Kaiser Neros. Aber bereits STACKMANN hat als "Nebenquelle" die Vorlage der 'Legenda aurea' erkannt (S.61f.). Diese ist indes, wie ein exakter Vergleich lehrt, die einzige Quelle. 'Legenda aurea'

'Moriz von Craün'

'Kaiserchronik' (v. 4083 ff.)

(3) Tötung der Mutter aus curiositas (1800 ff.).

(2) Tötung der Mutter in Anwesenheit anderer (4105 f.). curiositas nur angedeutet (4110 f.).

(GRAESSE K a p .

LXXXXIX, 3, S. 376 f.) (1) Tötung der Mutter aus curiositas

(4) Homosexualität (2) Schwangerschaft Neros, 1. um Geburtswehen zu empfinden, 2. in Gedanken an eine gebärende Frau. Ärzte verabreichen Getränk mit Kröte

Bauch beginnt zu schwellen

Schmerzen Kröten"geburt" mittels Brechmittel (3) Brand Roms Begründung: um das Schauspiel von Troja zu genießen

(1) Homosexualität (143 f.) (2) Schwangerschaft Neros

in Gedanken an eine gebärende Frau (145 ff.) Arzt verabreicht ein pollier (Hs.!), daz ein krete / inne wuochs in sinem magen (162 f.). diu krete... /gröze Wuhsen began, wie in einem schwangeren Weibe (167 ff.). Schmerzen und Angst (171 ff.).

(4) Brand Roms (195 ff.). Begründung: 1. aus Ärger über die Römer (200 ff.), 2. um das Schauspiel vom untergehenden Troja zu genießen (218 ff.).

(3) Schwangerschaft Neros

Ärzte verabreichen ein Getränk. Ein wurm ungehüre wächst in seinem Leib (4140 ff.).

(1) Brand Roms (4087 ff.) Nero befiehlt Kämpfe im brennenden Rom, um zu sehen, wie den chuonen Trojan