Klaus Michael Grüber – Homo Viator: Archivalien und neue Texte [1 ed.] 9783737013000, 9783847113003

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Klaus Michael Grüber – Homo Viator: Archivalien und neue Texte [1 ed.]
 9783737013000, 9783847113003

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Manuscripta theatralia Schriftenreihe zu raren Dokumenten und Archivalien im Fokus kulturhistorischer Grundlagenforschung

Band 3

Herausgegeben von Andreas Brandtner, Martina Cuba, Friedemann Kreuder und Birgit Peter

Klaus Dermutz / Friedemann Kreuder (Hg.)

Klaus Michael Grüber – Homo Viator Archivalien und neue Texte

Mit 76 Abbildungen

V&R unipress Mainz University Press Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Mainz University Press und der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Mit freundlicher Unterstützung der Stadt Wien und von Schwarze Maske e. V. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Klaus Michael Grüber während der Proben zu Sophokles’ »Ödipus in Kolonos«, Burgtheater, Wien 2003, Foto: Ruth Walz. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2510-3997 ISBN 978-3-7370-1300-0

Für Jochen Kreuder und Gerhard Dermutz Paul Julian Dermutz

Klaus Michael Grüber unter einem Weihrauchbaum in der Türkei, 1979.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Abschied und Gedenken Martin Grüber Ansprache in der Trauerfeier für Klaus Michael Grüber am 25. Juni 2008 in Lorient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedemann Kreuder Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Dermutz Klaus Michael Grüber – Homo Viator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Der traumatisierte Raum« Dorothee Roos Neckarelz und das Neckartal als Ort von »Passagen«. Zum frühen Erfahrungshintergrund von Klaus Michael Grüber . . . . . . . . . . . . .

55

Otto Grüber Mein Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Otto Grüber Weihnachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kläre Grüber Erinnerungen der Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Michael Grüber Entwurf für eine Dankesrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Klaus Michael Grüber Die heiße Asche der Erinnerung

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Michael Grüber: Deutschaufsätze (1959) Aufsatz von Klaus Michael Grüber 15. Mai 1959 Georg Heym-Gedicht »Der Gott der Stadt« . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 6. Juni 1959 Theodor Heuss »Der Einzelne muss vor dem Staat, der Staat aber auch vor dem Einzelnen geschützt werden.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Aufsatz von Klaus Michael Grüber 24. September 1959 Käthe Kollwitz’ Lithographie »Brot!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Aufsatz von Klaus Michael Grüber 01. Oktober 1959 Georg Büchners »Woyzeck« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Der popkulturelle Raum Clara-Franziska Petry Klaus Michael Grüber als europäischer Beatnik. Tendenzen in Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Grübers Anfänge in Bremen Rudolf Mast In der Talentschmiede. Grüber in Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Klaus Michael Grüber Das Ende des Märchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Berichte und Protokolle Bernard von Brentanos »Rudi« (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Jean Racines »Bérénice« (1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 William Shakespeares »König Lear« (1985)

. . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Otto Sander »Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde« (2011) . . . . . . . . . . 169

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Inhalt

Gustav Rueb Der Pfeil im Zentrum. Probenbericht zu »Iphigenie auf Tauris« (1998) . . 171

Film Klaus Michael Grüber Entwurf einer Bewerbung an der Filmhochschule in Łódz´ . . . . . . . . . 199 Klaus Michael Grüber Kreuzfahrt. Drehbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Konrad Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste 22. 10. 2000 Thomas Langhoff Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Ellen Hammer Dankesrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Gespräche und Werkanalysen Gespräch mit Friedemann Kreuder »Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Gespräch mit Klaus Michael Grüber »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis« . . . . . . . . . . . . 255 Gespräch mit Klaus Michael Grüber »Die zwei, drei Frägelein, die wir haben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Klaus Dermutz Brief an Klaus Michael Grüber

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Constanze Schuler Wege ins Offene – Die nicht mehr realisierten Projekte Klaus Michael Grübers: Luci mie traditrici / Die tödliche Blume (Salzburg) und Die Griechische Passion (Zürich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Ellen Hammer Der kämpfende Ästhet. Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

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Inhalt

Peter Stein Briefe an Klaus Michael Grüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Gespräch mit Anselm Kiefer »Grüber hatte einen intuitiven Zugang zu Bildern« . . . . . . . . . . . . . 335 Gérald Musch Im Kerdavid-Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Gespräch mit Markus Hinterhäuser »Aufgehobensein in einer fernen Nähe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Anhang Karsten Weber Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Liste der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Verzeichnis der Inszenierungen Dank

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Fotonachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Vorwort der Herausgeber

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das sein Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Friedrich Nietzsche, »Der Wanderer«, in: Menschliches, allzu Menschliches (1878)

Bei der Durchsicht der Unterlagen des Klaus Michael Grüber-Archivs in der Berliner Akademie der Künste wurden wir einmal mehr zu einer Deutung von Grübers Theater- und Operninszenierungen als theatralen Formen der Repräsentation des Vergangenen angeregt, bei denen die Konterkarierung einförmiger, monologischer Geschichtsvorstellungen im Zentrum steht.1 Anstelle eines panoptischen Betrachterblicks wird eine Zuschau-Situation disponiert, die als anti-panoptischer Blick-in-der-Passage bezeichnet werden kann. Aus Michel de Certeaus Essay Gehen in der Stadt ist eine historiographische Dimension dieser Blickweise ableitbar: De Certeau ergreift hier die Partei der Fußgänger, welche einen Raum durchqueren und ihn so ständig neuvermessen: »Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten. […] Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum.«2 Fußgänger können auf ihrem Weg bestimmte Teile einer Stadt verschwinden lassen und andere hervorheben. Die Stadt des Fußgängers ist ein Set räumlicher Praktiken im Gegensatz zur panoptischen Stadt des Voyeurs, welche von hoch oben als eine abstrakte geometrische Konstruktion wahrgenommen wird. Diese Unterscheidung lässt sich auf zwei verschiedene Inszenierungstypen der Sicht auf Theater-Räume übertragen: die panoptische Sicht, welche alle (Bühnen-) Elemente unter einem Konzept begreift, und die Sicht des Wanderers, welche ein 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Kreuder, Friedemann (2002): Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin. 2 De Certeau, Michel (1988): Ästhetik des Handelns, aus d. Franz. v. Ronald Voullié. Berlin, 188.

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Vorwort der Herausgeber

herumwanderndes Theater, das in den klaren Text des geplanten und leicht lesbaren eindringt, konstituiert. De Certeau behauptet, die panoptische Sichtweise begünstige Konstruktionen von »Geschichten« – und abstrahiert man seine These: von »Geschichte« – im Sinne einer Oberfläche, eines »transparenten Texts«, der die tatsächliche Komplexität von Ereignissen lesbar macht, ihre undurchsichtige Mobilität gerinnen lässt. Wohingegen der imaginäre Gedächtnisraum der Fußgänger, der Wandersmänner (Silesius) – bei analoger Abstraktion von De Certeaus Text – eine vielfältige, unregelmäßige Geschichte jenseits jeglichen Über-blicks präfiguriert, welche sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen ständig neu formiert. Dem anti-panoptischen Blick des De Certeauschen Fußgängers entspricht ganz besonders der »umherschweifende« Blick des Zuschauers von inzwischen so legendären Grüber-Inszenierungen wie etwa Bleiche Mutter, zarte Schwester, Winterreise oder Rudi, welcher ebenfalls zu keinem Zeitpunkt der Aufführung alle Ereignisse im Environment zu erfassen vermag. Aber auch den auf den ersten Blick stärker panoptisch ausgerichteten Theaterarbeiten Grübers schreiben sich In-Szene-Setzungen von historischem Material ein, die in ihrem spezifischen Modus die Verwandlung von Geschichte(n) in ein vielfältiges, unregelmäßiges Etwas jenseits jeglichen Über-blicks begünstigen. Häufig auf den ersten Blick als solche nicht erkennbar, sind sie als inszenierte Zuschau-Weisen jeglicher Vorstellung von Geschichte als einer Oberfläche, eines transparenten Texts entgegengesetzt – so beispielsweise die Schluss-Szene seiner Aufführung von Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria, wo er die Bildwerte der sich am Ende in die Arme nehmenden Odysseus und Penelope mit solchen aus den persönlichen Lebenserinnerungen an die Wiedervereinigung seiner Mutter mit dem – als Pfarrer seines Heimatdorfes – spät aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vater verschränkt. Ein anderes Beispiel wäre seine Ödipus in Kolonos-Inszenierung gemeinsam mit Anselm Kiefer, wo die antikisierende Bühnen-Rauminstallation zugleich zahlreiche Assoziationen von Spuren deutscher Kriegsschuld evoziert. Solch eine Dramaturgie der Schichtung auf Inszenierungsebene lässt sich bezüglich ihres strukturellen Aufbaus wie auch potentieller Rezeptionsweisen in Anlehnung an ein narratives Prinzip Prousts in seiner Recherche du temps perdu (1913–1927) beschreiben. Dieses trägt verlorengegangener zuverlässiger persönlicher Verfügungsfähigkeit über (lineare, logisch-kausale Darstellung von) Gedanken-Material, welches in zeitlicher Sukzession erlebt wurde, mittels einander überlagernder, sich aufschichtender Erinnerungsbilder Rechnung. Besagtem narrativen Prinzip korrespondiert aber auch die ›Reihung‹ ent-chronologisierten Gedanken-Materials, wie die US-amerikanische psychologische Forschung sie vor allem für den Bereich traumatischer und vorbewusster Erfahrungen beschrieben hat, die ebenfalls als unzusammenhängende Bilder auf-

Vorwort der Herausgeber

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tauchen3: durch eine Erfahrung, deren Exzess das psychophysische Fassungsvermögen übersteigt, wird anschließend die Möglichkeit einer integralen Selbstkonstitution zerschlagen. Das Trauma stabilisiert eine Erfahrung, die dem Bewusstsein nicht zugänglich ist und sich im Schatten – in der ›Krypta‹ – dieses Bewusstseins als eine latente Präsenz festsetzt. Das Trauma entzieht somit eine Erfahrung der sprachlichen und deutenden Bearbeitung, ist geradezu die Unmöglichkeit der Narration. Traumatisierte Menschen erleben und artikulieren ihre Erinnerung in Form flüchtiger Bild-, Gefühls-, Geräusch- und sonstiger körperlicher Eindrücke, welche ihnen selbst an Stellen des Leibes und der Seele lokalisiert erscheinen, die ihrer willkürlichen Erinnerung unzugänglich sind und – wenn sie auftauchen – unter keinem der standardisierten Vertextungsmuster des Diskurses begriffen werden können. Sie bleiben »fragments without meaning«, »an asynchronous mass of firing images«, die nicht »re-membered« werden können, die »encrypted« bleiben. Von daher lässt sich die Visualität von Grübers Theaterarbeiten zwischen 1967 und 2006 mit dem Konzept eines ›traumatisierten Raums‹ übereindenken, wie es Anselm Kiefer bei seiner Zusammenarbeit mit Grüber an der Inszenierung von Ödipus in Kolonos formulierte und zugleich in vielen anderen seiner Arbeiten virulent ist: Ich habe viel über den leeren Raum geschrieben, über den leeren Raum der Kindheit. Damit meine ich nicht so sehr die Tatsache, dass es keine Zerstreuungen wie Radio und Kino und so weiter gab, sondern das begriffslose Sehen, die absichtslose Wahrnehmung. Man kann das analog zum Beginn der Welt sehen, wo alles noch Immaterielle sich nicht manifestiert habende Energie ist. So bilden sich im Laufe der Entwicklung Begriffe, Bilder, Kristallisationspunkte, wie in einer sich immer mehr ausbreitenden, ausgeleerten Flüssigkeit. Und diese Kristallisationspunkte, diese Gerinnungen, bleiben immer in einem Bezug zu diesem ersten leeren Raum, Vergangenheit und Zukunft stehen in einer vielfältigen Beziehung zueinander. Je weiter ich in die eine Richtung, in die Vergangenheit, schreite, desto weiter komme ich in der anderen, der Zukunft vorwärts. Ein bis ins Unendliche sich weitender Spagat.4

Klaus Michael Grüber wurde am 4. 6. 1941 in Neckarelz geboren und starb am 22. 6. 2008 auf der Atlantikinsel Belle-Île. Im Kindesalter kam Grüber mit dem Leid des Zweiten Weltkrieges in Berührung. Er schrieb in einem Text für das Programmheft der Cenerentola-Inszenierung von der »heißen Asche der Erinnerung« und bezog sich auf jene Erlebnisse und Erfahrungen, die er in seiner 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Culbertson, Roberta (1995): »Embodied Memory, Transcendence, and Telling: Recounting Trauma, Re-establishing the Self«. In: New Literary History, vol. 26, 169–195; Kolk, Bessel A. van der/Hart, Onno van der (1989): »Pierre Janet and the Breakdown of Adaption in Psychological Trauma«. In: American Journal of Psychiatry, vol. 146, no. 12 (December, 1530–1540). 4 Kiefer, Anselm (2010): Die Kunst geht knapp nicht unter. Anselm Kiefer im Gespräch mit Klaus Dermutz. Frankfurt/Main, 18.

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Vorwort der Herausgeber

Kindheit in Neckarelz gemacht hat. Martin Grüber, der älteste Bruder, hat in seiner Traueransprache 2008 an diese frühen Erfahrungen erinnert. Klaus Michael Grüber wird daher in dem Beitrag von Klaus Dermutz als homo viator gesehen. Grüber selbst sah das lebenslange, ungeborgene und auch heillose Unterwegssein als conditio humana. Den Schauspielerinnen und Schauspielern, mit denen er 1977 Winterreise erarbeitete, sagte er während der Proben: »Nichts bedroht die Ordnung, alle Arten von Ordnung, mehr als die Beweglichkeit, die Schnelligkeit und die Hartnäckigkeit des Reisenden.« Nicht nur in dieser Theaterarbeit mit dem Ensemble der »alten« Berliner Schaubühne, sondern auch in vielen späteren anderen war das Durchschreiten – das Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten – lebens/geschichtlicher traumatisierter Räume eine szenische Konzeptmetapher: sei es für die Reisenden seiner ersten Faust-Inszenierung in der Pariser Salpêtrière, für Bernhard Minetti als Darsteller des elegisch seiner letzten Liebeschance entgegen stapfenden Protagonisten seiner zweiten, seinen ganz physischer Erlösungstat in der zwischenmenschlichen Berührung mit der Vater-Figur Amfortas zustrebenden Parsifal oder auch seinen im Sein zum Tode hin wandelnden Ödipus. Auch wenn Klaus Michael Grüber – als Wandersmann oder auch homme de passage, als den der Berliner Filmemacher Christoph Rüter ihn einmal so treffend porträtierte – mithin selbst zum Protagonisten dieses hier vorgelegten dritten Bandes der Reihe manuscripta theatralia erhoben wird, so war er zeitlebens selbstredend keiner, der von Flucht und Migration im eigentlichen Sinne der thematischen Klammer sämtlicher Bände dieser Reihe existenziell betroffen war. Nichtsdestoweniger fühlte er sich – wohl wissend nie jemals für sie zeugen zu können, dies zeigen schon allein die von ihm höchst sensibel gewählten abständigen Formen schauspielerischer Repräsentation des KZ-Überlebenden wie auch Kosovo-Flüchtlings in Bleiche Mutter, zarte Schwester – den in seinen Inszenierungen immer wieder auftauchenden Immigranten, Flüchtlingen, Heimatlosen »an der großen Strasse«, »dunklen Gestalten des Volkes«, nicht sesshaften Clochards jedoch offenbar nahe. In Leos Carax’ Film Les amants du Pont-Neuf (1991) spielte er einen Pariser Clochard namens »Hans«, en passant Rückert/Mahlers »Ich bin der Welt abhanden gekommen« pfeifend, mit nicht mehr zu überbietender körperlicher Beglaubigung seiner Rolle. Weit davon entfernt, die Wanderschaft solcher Verlorenen in seiner Kunst, wie auch seinem Leben für die Ideologie einer Christus-Nachfolge in Dienst zu nehmen, transponierte und transformierte er vielmehr deren Lebensprinzip in dasjenige eines homo viator unter den Vorzeichen des kommenden Gottes Hölderlins und Heideggers: das Durchschreiten des historisch in die Gegenwart hineinragenden, seienden traumatisierten Raumes wird so zu einem Wiedereintreten in gegebene neue Seins-Zusammenhänge gewandelt. Am Ende seiner Parsifal-Inszenierung – nachdem die gleichnamige Hauptfigur »zahllose Nöte,

Vorwort der Herausgeber

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Kämpfe und Streite« durchgangen hat – hüllten zwei langsam herabsinkende transparente Leinwände die Szene in ein gleichsam überirdisches Licht. Als Nachlassverwalter hat Martin Grüber uns für diese Publikation Unterlagen aus dem Privatarchiv zur Verfügung gestellt. Zusammen mit denjenigen aus dem Klaus Michael Grüber-Archiv der Berliner Akademie der Künste versammeln sie – auch im Sinne neuer Grundlagenforschung für zukünftige wissenschaftliche und künstlerische Fortschreibung – in Gestalt unterschiedlichster Lebenszeugnisse sowie Text- und Bilddokumente, ergänzt durch Beiträge von künstlerischen wie privaten Weggefährten, zahlreiche »Erinnerungssplitter«, die sich in möglichen heuristischen Perspektiven auf Grübers Theaterarbeiten wie die vielen verschiedenfarbigen Steinchen eines Kaleidoskops zwar zusammenfinden, jedoch wie »fragments without meaning« mit jeder Drehung des Okulars im Zylinder des Apparats nie zu einem eindeutigen Ganzen zusammenfügen lassen: seien es allererst die Unterlagen, in denen sowohl die Mutter Kläre als auch der Vater Otto über jene Traumatisierungen schrieb, die sie während des NS-Regimes zu erleiden hatten. Der Pfarrer Otto Grüber lernte nicht nur das Leid des Krieges kennen, sondern erfuhr in der Kriegsgefangenschaft am eigenen Körper die Misshandlungen durch einen Schläger, der mit einer Stahlrute auf seinen Rücken und den der Mitgefangenen eindrosch. Oder sei es auch der Beitrag der Germanistin Dorothee Roos, Neckarelz und das Neckartal als Ort von »Passagen«, mit seiner Darstellung der wirtschaftlichen und politischen Realitäten, die das Alltagsleben von Neckarelz und Umgebung während der NS-Zeit bestimmten. Ferner zählen hierunter die Deutschaufsätze von Klaus Michael Grüber – so wurden Ende der 1950er Jahren die Klassenarbeiten in der BRD genannt. Der junge Grüber erörtert am Ende seiner Gymnasialzeit Georg Heyms 1910 publiziertes Gedicht Der Gott der Stadt und reflektiert eine Überlegung des Politikers Theodor Heuss: »Der Einzelne muss vor dem Staat, der Staat aber auch vor dem Einzelnen geschützt werden.« Außerdem interpretiert er Käthe Kollwitz’ 1924 entstandene Lithographie Brot! und Georg Büchners Woyzeck. Um im Vorwort nur auf die letztgenannte Klassenarbeit einzugehen: für Grüber wächst das Stück »über den Willen der sozialen Anklage hinaus zur Darstellung der Einsamkeit des Menschen. Woyzeck wird zum Sinnbild für das hoffnungslose Ausgeliefertsein des Menschen an Mächte, die ihn von innen und außen bedrohen.« Nach der Ausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart geht Grüber auf Empfehlung des Theaterhistorikers und Kritikers Siegfried Melchinger nach Mailand, wo er am Piccolo Teatro mehrere Jahre als Assistent von Giorgio Strehler die Gesetze des Handwerks kennenlernt. Der Intendant des Bremer Theaters holt Grüber nach ersten Inszenierungen in Freiburg, Zürich und am Piccolo Teatro für vier Arbeiten nach Bremen. Der Theaterwissenschaftler Rudolf Mast stellt Grübers legendäre Bremer Inszenierungen – William Shakespeares Sturm, Alban Bergs Wozzeck, Chotjewitz’ Weltmeisterschaft im Klas-

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Vorwort der Herausgeber

senkampf und Samuel Becketts Das letzte Band in den Zusammenhang jener Jahre, als am Bremer Theater unter der Intendanz Kurt Hübners mit Arbeiten von Rainer Werner Fassbinder, Peter Stein und Peter Zadek Theatergeschichte geschrieben wurde. Grüber war von der Studienzeit an vom Film fasziniert. Nach der Ausbildung an der Stuttgarter Hochschule für Musik wollte er an der Filmhochschule in Łódz´, ein Studium zum Filmregisseur absolvieren. Er wurde nicht angenommen. Bevor er 1981 für RAI III die Fernsehproduktion Fermata Etna realisierte, schrieb er 1979 das Drehbuch Kreuzfahrt, das hier erstmals publiziert wird. Gespräche mit Grüber geben einen Einblick in die Prägungen durch das Elternhaus und reflektieren in Selbstauskünften den künstlerischen Werdegang von den Anfängen an Giorgio Strehlers Piccolo Teatro in Mailand bis zur Parsifal-Inszenierung 1998 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel. Die Herausgeber danken Martin Grüber als Nachlassverwalter für die Erlaubnis, wesentliche Unterlagen aus dem Klaus Michael Grüber-Archiv zu publizieren und für seine Unterstützung während all der Phasen an dieser Monographie. Martin Grüber danken wir auch sehr herzlich, dass er seine Traueransprache zur Verfügung gestellt hat. Wir haben uns intensiv bemüht, von der Schaubühne die Erlaubnis für die Publikation der Probenprotokolle zu »An der großen Straße« (1984), »Affaire Rue de Lourcine« (1988) »Amphitryon« (1991) und »Splendid’s« (1994) zu bekommen. Schaubühnen-Direktor Friedrich Barner hat uns dafür nicht die Rechte eingeräumt. Wer sich dafür interessiert: Die drei erst genannten Protokolle sind bereits 1993 in dem Buch von Georges Banu und Marc Blezinger herausgegebenen Buch »Klaus Michael Grüber … il faut que le le théâtre passe à travers les larmes…« auf Französisch erschienen sind. Das Probenprotokoll zu »An der großen Straße« ist außerdem in dem Band »Klaus Michael Grüber« 2011 ein weiteres Mal auf Französisch veröffentlicht worden. Gustav Rueb danken wir für die Publikation seines informativen Probenberichts zu »Iphigenie auf Tauris« (1998). Ein herzlicher Dank gilt auch den Autorinnen Clara Franziska Petry und Constanze Schuler für ihre Beiträge, die weltanschauliche Konstanten von Grübers Leben und Arbeit beleuchten. Clara Franziska Petry entdeckt Grüber als Vertreter der Beatnik-Generation insbesondere in seinen Anfängen neu, Constanze Schuler deutet Grübers letzte Arbeit, Salvatore Sciarrinos Kammeroper Luci mie traditrici, die der Regisseur aufgrund einer Krebserkrankung für die Salzburger Festspiele nicht mehr zu Ende führen konnte. Die Künstlerin Rebecca Horn, die für die Bühne verantwortlich zeichnete, übernahm die Regie. Am Ende des Buches stehen drei Briefe von Peter Stein an Klaus Michael Grüber sowie ein kurzer Text Steins unter dem Eindruck von Grübers Tod. Stein spricht darin aus, wie sehr er Grüber für seine Arbeit und Freundschaft danke,

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Vorwort der Herausgeber

wie sehr er sich ihm nahe fühlt und wie sehr er sich durch seine Bereitschaft, Ödön von Horváths Stück Don Juan kommt aus dem Krieg als Parallelproduktion zum integralen Faust am Damm des Leinekanals am Rande von Hannover zu inszenieren, getragen fühlt, in einer Welt, in der die eigene Arbeit harter Kritik ausgesetzt ist. Beschlossen wird der Band mit Erinnerungen von Anselm Kiefer und Markus Hinterhäuser über ihre Zusammenarbeit und Begegnungen mit Klaus Michael Grüber und von zwei Texten Ellen Hammers – der Dankesrede zur Verleihung des Konrad-Wolf-Preises an Grüber sowie des Nachrufs auf seinen künstlerischen Kollaborateur Eduardo Arroyo – als Stimmen derjenigen Person, die sich in jahrzehntelanger Regie-Mitarbeit wie keine zweite entschlossen hatte zu jener voraussetzungslosen Annahme seiner Person (»Je ne discute pas«), der sich alle hier diskutierten Theaterarbeiten verdanken.

Faust: Bernhard Minetti (Faust), Freie Volksbühne, Berlin, 1982.

Klaus Dermutz und Friedemann Kreuder Berlin und Mainz, November 2020

Abschied und Gedenken

Martin Grüber

Ansprache in der Trauerfeier für Klaus Michael Grüber am 25. Juni 2008 in Lorient

Liebe Freunde von Klaus, Chers amis de Klaus, Mesdames, Messieurs. Wir sind zusammengekommen um Abschied zu nehmen von Klaus Michael Grüber, der am Abend des 22. Juni gestorben ist. Ich möchte, als sein ältester Bruder, auch im Namen seiner Lebensgefährtin Marie Collin und meiner Geschwister Margret und Peter, Ihnen für Ihre Anteilnahme herzlich danken.

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Martin Grüber

I. Sie wissen, dass Klaus 1941 geboren ist, in einem Dorf in Süddeutschland, wo unser Vater evangelischer Pfarrer war. Klaus war ein intelligenter und aufgeweckter Junge, aber nicht das, was man gewöhnlich ein Wunderkind nennt. Er fiel auf durch eine erstaunliche Einfühlungsgabe, ein starkes Mitgefühl für alles, was lebte – das hat ihm manchmal auch den Spott seiner Altersgenossen eingetragen – und eine unersättliche Neugier. Stundenlang konnte er durch das Dorf streifen, um den Leuten bei der Arbeit und bei ihren täglichen Verrichtungen zuzusehen.

II. Kurz nach Kriegsende – Klaus war gerade vier Jahre alt – kamen große Trecks entwurzelter Menschen durch unser Dorf: Flüchtlinge, Deportierte, befreite Häftlinge aus den Konzentrationslagern. Sie hatten die Städte verlassen und waren über Land gezogen in der Hoffnung dort etwas zu essen und vielleicht vorübergehend eine Unterkunft zu finden. Und unser Dorf lag zufällig am Schnittpunkt wichtiger Verkehrswege. Viele der Unglücklichen suchten Zuflucht im Pfarrhaus, wo man ihnen zwar auch nicht sagen konnte, wie es weiterging, wo aber wenigstens ein Teller mit warmer Suppe für sie bereitstand. Klaus hat diese Menschen oft ein stückweit auf ihrem Weg begleitet, sehr zum Ärger unserer Mutter, die sich verständlicherweise Sorgen machte. Niemand konnte sein Verhalten so richtig verstehen; denn sie hatten einander ja nichts zu sagen, die Elendsgestalten und das Kind.

III. Oder doch? Später, viel später waren sie wieder da. Im »Faust Salpetrière« tauchten sie auf, die Verlorenen, die Ratlosen, immer noch auf der Wanderschaft, immer noch in ihren langen, steifen Mänteln und mit dem schäbigen Koffer in der Hand. Und sie kamen auch in späteren Inszenierungen immer wieder auf die Bühne zurück, wenn auch in anderer Gestalt, viele von uns werden sich daran erinnern. Mitgefühl. Auch in den Komödien, wenn wir einen Abend lang über die Figuren auf der Bühne lachen konnten, war am Ende unser Mitgefühl gefordert. Wer von denen, die den Berliner »Amphitryon« gesehen haben, könnte jemals das herzzerreißende »Ach!« vergessen, mit dem die getäuschte und jeder Sicherheit beraubte Alkmene (Jutta Lampe) das Stück beschloss?

Ansprache in der Trauerfeier für Klaus Michael Grüber am 25. Juni 2008 in Lorient

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IV. Auch wenn in unserer Familie Literatur und Musik in hohem Ansehen standen, war das Erstaunen groß, als Klaus nach seinem Abitur erklärte, er wolle die Schauspielschule besuchen. Unser Vater hatte immer gehofft, wenigstens sein jüngster Sohn würde sich für ein Theologiestudium entscheiden. Aber die Bestimmtheit, mit der Klaus seinen Wunsch vorgetragen hatte, ließ keine weitere Diskussion zu. Die Eltern haben das nicht nur akzeptiert, sondern ihn trotz bescheidener eigener Mittel jahrelang in jeder Weise unterstützt.

V. Ich will hier nicht versuchen, seinen Lebensweg nachzuzeichnen. und schon gar nicht kann es meine Aufgabe sein, seine künstlerischen Leistungen und seine Bedeutung für das europäische Theater zu würdigen. Aber ich möchte mir doch den Hinweis erlauben, dass er sich immer entschieden als europäischen Künstler verstanden hat. Nicht nur, weil er auf vielen europäischen Bühnen zuhause war, auch nicht nur, weil er in Italien – bei Giorgio Strehler – das Regiehandwerk erlernt und über dreißig Jahre in Frankreich gelebt hat, sondern in einem tieferen Sinn: für ihn war Europa ein geistiger Raum. Den hat er immer neu vermessen wollen und sich deshalb fast sein ganzes Leben lang mit griechischer Philosophie, mit den Mythen und Literaturen europäischer Völker, mit italienischen, deutschen, russischen Musiktraditionen beschäftigt. Die in der politischen Realität zunehmende Tendenz einer Reduzierung der europäischen Idee auf eine bloß ökonomische Zweckgemeinschaft hat ihn zutiefst empört. Fast sein halbes Leben hat er in Frankreich verbracht, einem Land, dessen Kultur er sehr bewunderte, dessen Menschen er liebte und dem er – wie er immer sagte – viel zu verdanken hatte. Und Frankreich hat ihn freundlich aufgenommen und ihm hohe Ehrungen zuteil werden lassen.

VI. Seit Sommer letzten Jahres wusste er um seine schwere Krankheit und wenig später war ihm auch klar, dass es keine Heilung gab. Klaus hat dieses Schicksal angenommen und sich mit Mut und großer Gelassenheit auf seine letzte Wanderschaft vorbereitet. Er blieb der, der er vorher war. Er behielt seine Großzügigkeit, seinen Humor, sein waches Interesse an allem, was um ihn herum und in der Welt vorging. Er freute sich bis zuletzt an seinem Haus, seinem Garten, an der Insel, die ihm zur Heimat geworden war, vor allem aber an der Gegenwart von

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Martin Grüber

Menschen, die ihm besonders nahestanden. Die vielen Freunde und Kollegen, die gekommen waren um Abschied zu nehmen, staunten über die heitere Ruhe, die von ihm ausging. Keine Bitterkeit, keine Klage, nur manchmal die Furcht, er könnte zuletzt doch seine Fähigkeit verlieren, über sich selbst zu bestimmen. Oft sagte er, er habe ein reiches und erfülltes Leben gehabt. Und so war es wohl – trotz aller Niederlagen und Verletzungen, die er auch hinzunehmen hatte. Um es in einem Satz zu sagen: Er hat uns gezeigt, dass man als Sterbender ein glückliches Leben führen kann. Am Samstagabend saß er noch dabei, als die anderen zu Abend aßen und unterhielt sich mit ihnen. Dann ging er auf sein Zimmer und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachte. Am darauffolgenden Abend mussten wir seinen Tod feststellen.

VII. Wir haben ihn verloren und wir sind darüber unendlich traurig. Aber wir sind auch dankbar dafür, dass wir ihn gehabt haben und dass er uns sehr sehr viel gegeben hat. Einen Dank an Lebende will ich anschließen. Sie haben Klaus während der ganzen Zeit seiner Krankheit begleitet. Ich meine vor allem Marie, seine Lebensgefährtin, die Klaus mit Wärme und Hingabe und mit großer Geduld umsorgt hat und ich meine Ursula und Hartmut Rühl, beide erfahrene und hochkompetente Ärzte, die Klaus immer wieder beraten und betreut haben. Professor Rühl, ein enger Freund von Klaus, war in den letzten Wochen ununterbrochen in seiner Nähe und hat ihm nicht nur medizinischen Beistand geleistet, sondern mit ihm auch viele Gespräche über Krankheit, Leben und Tod geführt. Einen schöneren Freundschaftsdienst kann ich mir nicht vorstellen. Vor allem diese drei Menschen haben dafür gesorgt, dass Klaus die letzte Etappe seiner Wanderschaft in einer Atmosphäre von Vertrauen, von Liebe und Freundschaft zu Ende gehen konnte. Zuletzt danke ich Ihnen, meine Damen und Herren, nochmals für Ihre Anteilnahme und für Ihre Aufmerksamkeit.

Verabschiedung von Klaus Michael Grüber am Ufer des Atlantiks in Pointe du Skeul, dem südlichsten Punkt von Belle-Île, in der Nähe Locmaria.

Bruder Peter wirft die Urne mit der Asche von Klaus Michael Grüber ins Meer.

Die Geschwister Martin Grüber, Peter Grüber und Margret Lausmann-Grüber nach der Verabschiedung ihres Bruders Klaus Michael.

Friedemann Kreuder

Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt1

Angesichts eines Stückes, das so stark vom Affekt der Trauer überschattet ist wie Hamlet, sei es mir erlaubt, meine Ausführungen mit einer Geschichte zu beginnen, die mein am 20. Juni 2008 in Saarbrücken verstorbener akademischer Lehrer Rudolf Münz mir Ende der 1990er Jahre erzählte, um mir seinen von einer skeptisch-nüchternen Lebenshaltung gesättigten Theaterbegriff nahe zu bringen – sie war Dreh- und Angelpunkt zur Erklärung der von ihm entwickelten historiographischen Methodik des Theatralitätsgefüges, für die er seinerzeit im Fach Theaterwissenschaft längst berühmt war. Die Geschichte geht zurück auf Forschungen der italienischen Theaterwissenschaftlerin Delia Gambelli, in denen sie die Erfindung und Entwicklung der berühmtesten Maske der Commedia dell’Arte bis zu einem ihrer historisch legendären Darsteller verfolgt. Und um eben diesen Darsteller Domenico Giuseppe Biancolelli geht es: Er war seit 1660 der tänzerisch-artistisch brillante Akteur in der Maske des Arlecchino in der Truppe der Comici Italiani des Kardinals Mazarin in Paris, des später in der Theatergeschichte so bezeichneten Ancien Théâtre Italien, und so talentiert, dass er bereits mit zwanzig Jahren als der beste Comico Italiens galt. Gut 28 Jahre lang hält er sich, populär als Arlequin Dominique, auf den französischen Bühnen, dann wird ein unglückseliges Ereignis Ursache seines frühen Todes. Wie die Gebrüder Parfaict als zeitgenössische Chronisten, die die Aufzeichnungen von Thomas Gueulette in ihrer Histoire de l’Ancien Théâtre Italien (1753) veröffentlichen, zu berichten wissen,2 hatte der Tanzmeister Ludwigs des XIV. und Choreograph seiner Ballette, Monsieur de Beauchamp, ein ganz einzigartiges Entrée vor seiner Majestät getanzt, dessen Einfallsreichtum von der gesamten 1 Der Text wurde ursprünglich als Eröffnungsvortrag der Hamlet-Tagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 2008 in Mainz gehalten und unter dem gleichnamigen Titel »Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt« erstmals publiziert in: Friedemann Kreuder/Michael Bachmann (Hg.): Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968. Bielefeld: transcript, 2009, 123–137. 2 Parfaict, Fr. u. Cl., Histoire de l’Ancien Théâtre Italien, Paris 1753, 58–63 u. 65–68. Vgl. die spannende Aufarbeitung dieses Dokuments in Gambelli 1972, 17–68.

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Hofgesellschaft bewundert wurde. Während eines Divertissements, das die Comédiens Italiens an eines ihrer Stücke, das vor dem König aufgeführt wurde, anfügten, machte Dominique, der ein ausgezeichneter Tänzer war, auf unglaublich komische Weise Beauchamps Tanz nach. Der König schien so viel Gefallen an diesem Entrée zu finden, dass Dominique damit weitermachte, solange er nur konnte. Er erhitzte sich dabei aber so sehr, dass er sich einen schweren Katarrh zuzog, der sich zu einer Lungenentzündung auswuchs. Er hatte nämlich keine Möglichkeit nach der Aufführung des besagten Stückes seine Kleidung zu wechseln, weil er seine Darbietung beim Divertissement sofort anschließend ausführen musste. Am dreißigsten Tage irgendeines Monats in einem nicht näher bestimmten Jahre des 17. Jahrhunderts erscheint einem gewissen Charles Cotolendi in Paris nun die Maske des Arlequin aus der Anderwelt, und zwar in der Form, wie sie der große Schauspieler Domenico Biancolelli zu seinen Lebzeiten verkörperte, um sich darüber zu beschweren, dass sein Freund Cotolendi Unterhaltungen mit Biancolelli veröffentlicht hatte. Arlequin Biancolelli offenbart im anschließenden Zwiegespräch voller Skepsis gegenüber seinem eigenen Tun, dass er nicht selbst angesehen und beliebt gewesen sei, sondern nur durch die Bühne, die für ihn jedoch ein »übler Ort« sei, und durch die Maske. Die andere Welt, in der Domenicos Maske nebst den anderen Masken jetzt weile, sei die bessere Welt, weil ohne Schein, Trug, List und Verstellung. Domenico-Arlequins Kummer sei leichter geworden, weil dort, wo sich die Masken aufhalten, »jeder so erscheint, wie er wirklich ist, ohne seine Gefühle verbergen zu müssen«. Cotolendis Meinung, dass sie dann dort eigentlich Theater von perfekter Schönheit aufführen können müssten, wird überraschend widerlegt: »Ihr Sterblichen, entgegnete Harlequin, die ihr nur den Schein sehen wollt, gebt euch mit Theater zufrieden, aber wir, die wir in der Wahrheit leben, brauchen keine Komödien mehr«. Und Arlequin Dominique berichtet von Begegnungen mit Geistesgrößen seiner Zeit, Corneille z. B. »plaudert mit den Helden seiner Tragödien und die Helden bewundern seinen Geist und danken ihm immer wieder für die großen Gefühle, die er ihnen verliehen hat«. Diese Facta sind in einer der merkwürdigsten Schriften enthalten, die je über Theater geschrieben worden sind, eben in der unter dem Verfasser Charles Cotolendi laufenden Arliquiniana ou les bons mots, les histoires plaisantes et agréables. Recueillies des conversations d’Arlequin aus dem Jahre 1694.3

3 Die Geschichte ist inzwischen nachzulesen in Münz 2002, 327–424, v. a. 396f. Münz stützt sich hier auf eine Trouvaille in der Leipziger Magisterarbeit von Anni-Britta Jahn von 2001 (Quellen und Quellenstudien zu Theaterformen in Dresden bis 1800) sowie auf eine Übersetzung und Analysen in der Magisterarbeit Silke Maaßens am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Mainz von 1998.

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Für Münz war diese Episode essentiell für das Verständnis der Schlüsselproblematik der Commedia dell’Arte, der schauspielerischen Masken-Praxis mit dem Ziel, gesellschaftliche Masken als außengeleitete Darstellung internalisierter sozialer Rollen von Akteuren des alltäglichen Lebens als solche zu entlarven. Ihre – gesellschaftlich aufgrund ihres despektierlichen Berufsstands ja so nicht gegebene – Autorität zu diesem Akt der Sichtbarmachung der Selbstinszenierung einzelner im Lebenstheater leiteten die Akteure der Commedia von Erfahrungen her, die sie im Aldilà gemacht haben wollen – einer phantastischen, häufig mit den Verkehrungen und Ausschweifungen des Karnevals verbundenen Gegen-, präziser aber noch: parallelen Welt zur wirklichen Welt, häufig die Hölle oder das Totenreich. Diese Erfahrungen sollen ihren Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Alltag in einer Weise befremdet haben, dass sie von nun an gar nicht mehr anders konnten, als dessen üblicher Weise in der Lebensdarstellung der einzelnen kaschierten Brüche augenfällig werden zu lassen. Dass besagte Autorität mit den rein theatralen Mitteln der von ihnen inszenierten Anderweltreise evident gemacht wurde, gesellschaftlich gesehen also vollkommen hinfällig war, versteht sich von selbst. Es handelte sich eben um eine genuin theatrale Anderwelt, ein Aldilà teatrale als darstellerisches Prinzip zum Zweck des künstlerischen Ausdrucks einer lebensmäßigen Skepsis gegenüber der unvermeidlichen Theaterhaftigkeit von Gesellschaften, aber auch der effektiven gesellschaftlichen Reichweite des schauspielerisch-künstlerischen Metiers. Klaus Michael Grüber, im Gegensatz zu Münz’ Nähe und menschlicher Wärme der unerreichbare künstlerische Vater meiner wissenschaftlichen Arbeit und objet de désir meines ersten Buches, am selben Wochenende wie Münz, am 22. Juni 2008 auf der Belle-Île-en-Mer in der Bretagne gestorben, in der Schule der Commedia durch seine langjährige Regieausbildung bei Giorgio Strehler am Piccolo Teatro di Milano erprobt und durch erste Inszenierungen von Goldoni in Freiburg und Zürich Ende der 1960er Jahre bekannt geworden,4 könnte dieses Prinzip im Sinn gehabt haben, als er bei seiner Inszenierung von Shakespeares Hamlet an der Berliner Schaubühne 1982 den Hamlet-Darsteller Bruno Ganz von einem in völligem Schwarz liegenden Streifen der Vorbühne aus agieren ließ. Im Folgenden möchte ich die Aufführung im Lichte dieser Jahrhunderte alten italienischen Darstellungstradition interpretieren und diese Facette der bisherigen Diskussion von Grübers Inszenierung nachträglich hinzufügen. Ich plädiere auf diese Weise für ein Schreiben über Aufführungen aus dem Bewusstsein der Tiefe des historischen Raums zum Zweck der Erforschung der Präsenz des Vergangenen in gegenwärtiger Theaterkunst, von Stephen Greenblatt mit Blick auf Shakespeare treffend als Gegenwärtigkeit von Formen »sozialer Energie« um4 Zum Theater Klaus Michael Grübers siehe Carstensen 1988, Banu/Blezinger 1993, Kreuder 2002 und Dermutz 2008.

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schrieben,5 wie sie Rudolf Münz’ Denken über Theater und Klaus Michael Grübers Schaffensprozess gleichermaßen beseelt hat. Als Raum für die Aufführung diente erst- und zugleich letztmalig in der Geschichte der Schaubühne die nackte Beton-Apsis des seinerzeit neu errichteten Mendelsohnbaus am Lehniner Platz, an den das Theater von seiner ersten Spielstätte am Halleschen Ufer hin umgezogen war. Neun Meter hoch, einundzwanzig Meter breit an der Basis, in der Tiefe siebzehn Meter, schien der Raum die Akteure als übermenschlich riesiger, kalter, ferner Ort zu erdrücken.6 Die einzigen Hinzufügungen des Bühnenbildners Gilles Aillaud waren blaue, sternenhimmelartige Lichter in der Gitterrostdecke und ein Renaissance-Ornament in blassen Farben auf dem Bühnenboden, Holbeins Gemälde Die beiden Gesandten (1533) entlehnt. Es war nie ganz hell in diesem Raum, in das Dämmerlicht wurden immer wieder Lichtbahnen geschnitten, die von links oder rechts einfielen, durch drei übereinander angeordnete rechteckige Einschnitte, die Fenster im Beton, oder es wurden Lichtquadrate gebildet – etwa am linken unteren Zugang, wo als einziges Raum-Requisit ein kleiner Spiegel auf dem Beton hing und wo die familiären Szenen zwischen Polonius und seinen Kindern stattfanden oder am unteren Eingang in der Mitte hinten, der überwiegend dem Königspaar für seine raschen, zeremoniellen Auftritte vorbehalten war, in dessen Rahmen eingefasst es stand, im Gespräch mit Polonius oder Ophelia. Grüber markierte den dunklen Vorderstreifen der so überwiegend durch Lichteinfälle hervorgebrachten Bühnenräumlichkeit als Ort des Kontaktes mit dem Numinosen, als Totenreich, oder besser: als Ort des Todesbewusstseins, von dem aus Hamlets skeptischer Blick auf die kurzfristig ins Licht gerückten Mitglieder der Hofgesellschaft fiel, indem Grüber Hamlets Unterredung mit dem Geist und Gertruds Erzählung über Ophelias Tod hier stattfinden ließ; auch der Totengräber, der Ophelias Grab schaufelt, verrichtete hier seinen Dienst, ließ den Ort so ebenfalls zur szenischen Metapher im Sinne eines Aldilà teatrale werden – bedeutete die Stelle doch einzig im Kontext der Totengräber-Szene die mit dem Tod verbundene Lokalität des Grabes. Die Erkenntnis, dass der Ort vielmehr als Dispositiv für die Bewegungsdynamik eines anderweltlich befremdeten Blicks fungierte, dem sich die Theaterhaftigkeit der Hofgesellschaft entäußerte, stellte sich auch über den gestischen Verweisungsbezug der »Mausefallen«-Szene her: Vor dem Auftritt der Schauspieler vor dem Hof stellten Bedienstete an der Grenze zwischen Apsis und Vorbühne eine Reihe Fackel-Lampen auf, deren lebendiges Licht die Vorgänge dahinter flackernd beleuchtete. Für diese Szene war außerdem ein Hubpodium in der Mitte hinten um ungefähr vierzig Zentimeter hochgefahren, Hamlet stand am Rand. Ein Bein auf das erhöhte Podium 5 Greenblatt 1993, 15. 6 Vgl. hierzu und zum Folgenden Rischbieter: 1983, 10–12.

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gestützt – auf dem das erwartungsvoll platzierte höfische Publikum später unfreiwillig in die Rolle von Akteuren gerät – kündigte er die Pantomime an, sinn(en)fälliger Ausdruck des Akteurs Bruno Ganz für die Ab-Ständigkeit seiner Figur. Abständigkeit, Wegrücken, Befremden des Blicks, bewusstes Sehen theatraler Vorgänge, auch im Sinne des skeptisch-nüchternen Einschätzens und Zeigens der realen Reichweite des eigenen Metiers, war auch eines der Grundprinzipien von Grübers Theaterarbeit, das er in Verlängerung der Perspektive des Akteurs der Hauptfigur in seiner Berliner Hamlet-Inszenierung um seine eigene Optik als Regisseur besonders offensiv realisierte, indem er neben der nackten BetonApsis der Schaubühne als funktionalen Raum zur Kunst-Ausübung auch die Bühnenmaschinerie und Lichttechnik dieses Theaters in langwierigen und/oder effektvollen Prozessen mehr oder weniger offen ausstellte. So ist die Bodenfläche des Mendelsohnbaus in Segmente unterteilt, deren jedes als Hubpodium (ich erwähnte eben den signifikanten Einsatz dieser Bühnentechnik) ausgebildet ist. In der Apsis folgen ihre Formen der Krümmung. Zweimal wurden diese Segment-Podien nun im Laufe der Inszenierung bis zur Höhe der mittleren TürenEinschnitte hochgefahren: eines ganz rechts, auf dem Hamlet sich mit seiner Mutter unterredet und wo er den sie belauschenden Polonius ersticht; für die Szene am Meer, wo Hamlet Fortinbras’ durchmarschierendes Heer sieht, fuhr dann der ganze an der Apsiswand angrenzende Halbring von Podien hoch. Die mächtigen Scheren, die die Podien hochstemmten, wurden extra beleuchtet, das starke Summen der Elektromotoren, die die Scheren antrieben, war exponierter Bestandteil des Klangraums der Inszenierung. Zweimal wurde auch der metallene Vorhang von oben herabgelassen, der die Apsis von der Vorderbühne trennt. Das erste Mal für das Gespräch Hamlets mit seinem Vater. Der erschien zuerst im vierten, obersten, kleineren Fenster hinten in der Mitte, nur ein Brustbild, Hamlet winkend. Als er dort verschwand, begann der Metallvorhang unter der donnernden Musik von Henri Purcells King Arthur herabzusinken, war noch im Sinken, als der Geist vorn links auf der Vorderbühne erschien. Der Kritiker Benjamin Henrichs erinnert sich an die blitzenden Lichteffekte auf der spiegelnden Rüstung: Langsam senkt sich der Eiserne Vorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum. Aus der Höhe, fällt ein schmaler Scheinwerferstrahl auf die mächtige Wand, sein Licht bricht sich auf ihrer gewellten Oberfläche. Eine heisere, hämmernde Schlachtmusik ertönt. Das Theater bereitet einen magischen Augenblick vor: Auftreten wird ein Gespenst, der Geist von Hamlets Vater. Der Außerirdische kommt nicht mit der Flugmaschine, er entsteigt nicht Nebeldämpfen. Von der Seite schleppt sich ein Schauspieler (Jochen Tovote), eingepanzert in eine schwere Ritterrüstung, langsam auf die Vorderbühne. Erst wenn er seinen Platz vor dem Eisernen Vorhang erreicht hat, verwandelt er sich in eine geisterhafte Erscheinung: funkelnd spiegelt sich das Licht in seiner silberglänzenden

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Rüstung, tausend Lichter und Schatten fliegen durch das dunkle Theater. Nach seinem glanzvollen Auftritt aber hat das Gespenst wieder einen mühevollen Abgang; auf schweren Beinen, so wie es gekommen war, geht es von der Bühne.7

Solch bewusstes Ausstellen der theatralen Mittel fand nicht zuletzt seine konsequente Entsprechung in einer nahezu ungekürzten Aufführung von Shakespeares Drama, die gut sechs Stunden lang währte und den gesprochenen Text genau wie Bühnenhaus und Maschinerie wie ein Ready-made in eine Gesamtkomposition aus Raum, Bewegung und Klang integrierte. Was als zynischselbstreflexive Befriedigung sämtlicher Werktreue- und Vollständigkeitsphantasien des konservativen Publikumssegments anmuten konnte, war allerdings vielmehr Ausdruck von Grübers eigener lebensmäßiger Erschöpfung. Wie sehr er in dieser Hinsicht seine eigene Überforderung als Regisseur durch das väterliche Gesetz der deutschen Bildungstradition im Lichte der Drucksituation der Hauptfigur des Stücks, das er gerade inszenierte, angesichts des vom Vater verordneten Racheaktes reflektierte, geht aus einem Probenbericht des Fortinbras-Darstellers Peter Simonischek hervor, den Grüber auf dessen erster Probe mit einem äußerst ungewöhnlichen, für Grübers Theaterinstinkt jedoch typischen Subtext konfrontierte: Je ne sais plus très bien quand j’ai vu Grüber pour la première fois, mais notre première répétition a eu lieu à Salzbourg. J’y jouais le Tasso et Grüber mettait en scène Hamlet avec Bruno Ganz, Edith Clever, Peter Fitz, Jutta Lampe, Udo Samel. J’avais exprimé le désir de faire partie de la production de Grüber, malgré certains problèmes de tournage durant l’été, car Fortinbras est un personnage qui apparaît tout à la fin de la pièce. Grüber y a consenti, et j’ai rejoint l’équipe trois semaines avant la première. Moidele Bickel m’avait confectionné une armure superbe. J’assistais à la première répétition en armure de chevalier, une très belle perruque bouclée sur la tête. Et puis, il y eut des difficultés et des problèmes de mise en scène: c’est logique, la pièce est énorme. Une blague géniale d’Udo Samel date d’ailleurs de cette époque: Edith Clever attendait souvent longtemps en coulisses parce que Grüber répétait avec Jutta Lampe. Udo est entré sur scène et a dit: «Bientôt nous pourrons manger, Edith bout déjà.» A mon tour, j’ai attendu. Pour rien ce jour-là parce que Grüber avait quitté les répétitions vers une heure et demie. Le lendemain, alors qu’il avait déjà pris congé de nous, Grüber, vêtu de son manteau, est réapparu soudain. Il se tenait au-dessus de nous, à l’endroit exact où se trouvait normalement Hamlet durant le défilé. Il m’a dit: «Peter?» – «Oui.» – «Peter, tu es génial. Tu es tellement génial. Regarde-moi. Je suis Hamlet, je suis Hamlet, je ne sais rien faire, je …». Il était dans un état qui me troublait. Je n’ai pas compris ce qu’il voulait de moi. Il disait sans arrêt: «Je suis Hamlet, je suis Hamlet» et s’agenouillait. Je ne comprenais pas ce qui se passait et je ne connaissais pas assez bien Grüber pour savoir s’il était ivre ou s’il perdait la tête. Entre-temps, j’ai appris que cela ne lui arrive jamais, moi tout au moins ne l’ai jamais vu ainsi. Je pensais: «Pourquoi suis-je génial? Je n’ai pas encore dit un mot. J’ai seulement mis l’armure, alors c’est elle qui est géniale.» Puis je me suis dit: «Lâche prise, 7 Henrichs 1982.

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arrête, écoute-le, peut-être veut-il te faire comprendre quelque chose.» Et brusquement, j’ai senti la détresse de Grüber qui était au-dessus de moi et j’ai compris: je ne sers qu’à paraître genial et à donner mes ordres. Oui, Fortinbras commande ce qu’il y a à faire. Il est pour ainsi dire le crochet pour le monologue d’Hamlet. Grüber n’avait plus besoin de me dire grand chose du personnage. A ce moment, il ne m’avait rien expliqué avec des mots. Grüber n’explique pas théoriquement, c’est ce que j’apprécie le plus chez lui. Il m’a mis tellement en situation que je la ressentais vraiment. J’ai compris: là-haut, il y a un faible, un indécis et Fortinbras apparaît pour lui présenter un miroir: Hamlet devrait s’emparer de la vie par un geste décisif et faire de la politique. Grüber était sur le point de quitter les répétitions pour rentrer chez lui alors qu’il aurait dû continuer à travailler. Il a établi un parallèle entre son état d’épuisement et l’état d’Hamlet dans la pièce à ce moment-là. Il n’arrêtait pas dire: «Tu es tellement génial.» C’est probablement la pensée d’Hamlet quand il voit Fortinbras. Ce fut une grande expérience pour moi.8

Bruno Ganz erinnert sich im Sommer-Heft von Theater heute 2008, das in großen Teilen Grüber gewidmet ist, in einem dort abgedruckten Gespräch mit Klaus Dermutz vom 24. April 2006 in Bochum daran, dass es [i]n den schwersten Phasen seines Alkoholismus bei Hamlet […] Probendispositionen [gab], wo Klaus vierzehn Tage lang mit Jutta Lampe probierte, wie sie eine Laute halten, spielen und dazu singen sollte. Das waren vierzehn Tage von insgesamt sechs Wochen, und ich spielte Hamlet und kam vierzehn Tage nicht dran.9

Ganz hatte 1988, fünf Jahre nach der Produktion, gegenüber Uwe B. Carstensen von Grübers konsequenter Verweigerung der Inszenierung einer wie auch immer gearteten Interpretation und einer dahingehenden Strichfassung berichtet: Da war der Raum in seiner Brutalität mit dreißig Metern Beton ringsherum, und die streng zeitgenössischen Kostüme gingen gegen diesen Beton an. Zur Begründung der vollen Textlänge – ich habe keine Veranlassung, daran herumzumäkeln – sagte er: »Ein Strich ist eine Entscheidung im Sinne einer Interpretation! Wenn ich etwas herausnehme, dann habe ich bestimmte Facetten des Stückes herausoperiert. Und das ist ein interpretatorischer Eingriff. Ich bin nicht in der Lage und willens, an diesem Stück irgendetwas zu interpretieren, weil ich da schlicht überfordert bin, also konsequenterweise kann ich keinen Strich machen!« Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Das leuchtet mir völlig ein. Mir gefällt diese Haltung. Man kann aus praktischen Gründen sehr viel dagegen vorbringen, man kann sagen, es würde gar kein Theater mehr geben, wenn man sich – gerade bei Shakespeare-Stücken – so verhielte. Man hätte auch ans Publikum zu denken. Das ist mir alles plausibel, aber es ist für mich ein sekundärer Standpunkt. Ich finde es wunderbar, wenn es Leute gibt, die solche klaren, sauberen Haltungen einnehmen.10

8 Banu/Blezinger 1993, 95f. 9 Dermutz 2008, 39 (Bruno Ganz im Gespräch mit Klaus Dermutz). 10 Carstensen 1988, 99f.

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Wie in dieser Äußerung Bruno Ganz’ bereits angedeutet, fand Grübers ästhetische Entscheidung zum gegenüber dem eigenen Metier skeptisch-nüchtern distanzierten Ausstellen der Theatermittel inklusive des Textes in nahezu voller Länge und zu deren Integration in eine bewegungs- und klang-räumliche Gesamtkomposition ihre Vollendung in hochartifiziellen Kostümen aus der Entstehungszeit des Stückes, aus der feinsten höfischen Sphäre der Renaissance, angeregt von den Bildern Holbeins und Cranachs. Das Königspaar goldstrotzend, Polonius wie ein Hofgelehrter, die Höflinge in kurzen, gepumpten Kniehosen. Nur Hamlet wich ab, er trat in schmucklosem Schwarz auf. Als sein Darsteller Bruno Ganz an der Rampe, völlig im Dunkeln, den berühmten »Sein oder Nicht-Sein«-Monolog sprach, so Benjamin Henrichs, bewegte er sich an der Grenze zwischen Licht und Nacht, Sein und Nichtsein, Theater und Nicht-mehrTheater – wie die Aufführung selber: »Die Aufführung wagt sich vor bis in die äußersten Grenzbezirke des Theaters, doch erreicht dabei auch die Grenzen ihrer Kraft; gerät zuletzt in einen Zustand fast auswegloser Erschöpfung.«11 Grüber hatte Hamlet offenbar aus der aus dem Todesbewusstsein der Hauptfigur resultierenden Perspektive inszeniert, auch Hamlets damit zusammenhängende Skepsis gegenüber allem Theatralen, seinen Drang nach dem Offenlegen der Mittel zur theatralen Vortäuschung und zum Entlarven gesellschaftlicher Maskerade in weiterer Verlängerung der Optik der Hauptfigur zur Maßgabe seiner ästhetischen Entscheidungen gemacht, Hamlets Überforderung durch und Erschöpfung an dieser Aufgabe wie eine Lichtbrechung an der Optik seiner eigenen Biographie reflektiert und offenbar, durch die Art seiner bewegungs- und klang-räumlichen Komposition in der Inszenierung, auch verstanden, diese für die Zuschauer miterlebbar zu machen – Aldilà teatrale à la Grüber. In dieser Erschöpfung an und im Material des berühmten Shakespeare-Dramas brach sich in der Biografie Grübers wie in einem Prisma die Erschöpfung einer ganzen Generation von Theaterkünstlern. Für Grüber war die Inszenierung des Hamlet 1982 eine wesentliche Station seiner Rückkehr auf die Bühne eines funktionalen Theatergebäudes. Wie für viele Vertreter seiner Generation waren zu Beginn seiner Karriere Ende der 1960er Jahre die konventionellen Staatstheaterbauten, die den Zweiten Weltkrieg überdauert hatten, als bürgerliche Bildungsstätten der Vatergeneration kontaminiert von deren Kultur des Beschweigens der latenten Kontinuität nazistischer Traumata in der deutschen Gesellschaft, die zu einem wesentlichen Teil das Lebensgefühl eines Unbehagens der Jungen ausmachte, gerade auch gegenüber dem Theaterbetrieb, der mit Intendanten wie Gustaf Gründgens, Jürgen Fehling oder Karl-Heinz Stroux Künstler mit verdächtiger Biografie inthronisierte. Schon die Gründung der Berliner Schaubühne in einem ehemaligen Feuersozietätsgebäude 1970 zeugt von 11 Henrichs 1982.

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einem solchen prekären Verhältnis zu den »väterlichen Häusern« der amtierenden Intendantengeneration; für seine legendären Schaubühnen-Inszenierungen der 1970er Jahre war Grüber jedoch selbst dieser neu gegründete, historisch unvorbelastete und nicht zuletzt mit seiner unkonventionellen Nebenspielstätte in einem ehemaligen Berliner Kinosaal in der Cuvrystrasse in vieler Hinsicht innovative Theaterbau zu eng geworden für die Verwirklichung seiner szenischen Phantasie.

Winterreise im Olympiastadion: Willem Menne (Hürdenläufer), Berlin, 1977.

So hatte Grüber in einigen winterkalten Nächten zwischen dem 1. und 13. Dezember 1977 mit dem Ensemble der Schaubühne eine Performance mit dem Titel Winterreise im Berliner Olympiastadion von 1936 aufgeführt; Textfragmente aus Hölderlins Briefroman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1799) verklangen, von den Schauspielern geschrien oder über Stadionlautsprecher in das riesige graue Betonoval übertragen, in dem monumentalen Raum. Bildkünstlerische Überschreibungen des kooperierenden Malers Antonio Recalcati evozierten assoziative Verkettungen der Bundesrepublik der späten Siebziger mit dem totalitären Nazi-Deutschland und anderen zeitgenössischen Unterdrücker-

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Staaten. Eine Dramaturgie der Schichtung auf Text- wie auch Inszenierungsebene löste jegliche lineare, logisch-kausale Darstellung mittels einander überlagernder, sich aufschichtender Erinnerungsbilder auf. Nach einem Prinzip der »Reihung« ent-chronologisierten Gedanken-Materials strukturierten Grüber und Recalcati die Inszenierung der »Geschichte(n)« um Hyperion nach dem Modell eines undurchschaubaren »Ge-Schichtes« – sie wurde so zu einem alternativen Medium der rezeptiven Gedächtnis-Inszenierung, die Einsicht in die Unübersichtlichkeit und Viel-Schichtigkeit des Vergangenen förderte. Zwei Jahre später, 1979, richteten Grüber und Recalcati in den Ruinen des alten Berliner Hotels Esplanade am Potsdamer Platz eine Installation ein, die unter dem Titel Rudi eine der Berliner Novellen Bernard von Brentanos aus dem Jahre 1934 thematisch werden ließ. Das Hotel, welches damals im Westsektor der Stadt gelegen und vom Potsdamer Platz durch die Mauer abgeschnitten war, diente zugleich als Darstell- und Zuschauraum. Die Zuschauer konnten verschiedene Einzelinstallationen durchlaufen, die für sie an der Fassade und in den verschiedenen Sälen des Hotels vorbereitet waren, oder für sich allein in irgendeinem der Räume stehend oder sitzend innehalten und einem Darsteller zuhören (Paul Burian), der in einem entlegenen Raum mit monotoner Stimme vereinzelte Fragmente aus Brentanos Novelle vorlas. Diese Textfragmente wurden über Lautsprecher zeitversetzt in die verschiedenen Säle übertragen. Beide Aufführungen, Winterreise und Rudi, hegten an hinsichtlich ihrer historischen Belastung offen ausgestellten Orten historisch spannungsgeladenes Material zu revolutionären Bewegungen des 18. Jahrhunderts und der Weimarer Republik ein und konnten schon allein aufgrund ihrer eigensinnigen fragmentarischen Gestalt als Orte eines möglichen, instabilen Gedächtnisses heftige Debatten evozieren. Nach einer Pause von zwei Jahren nach der Installation Rudi kehrte Grüber nach Inszenierungen von Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (1981) und Faust (1982) an Kurt Hübners Freier Volksbühne mit einem ebenso geschichtsträchtigen Stoff an die inzwischen an den Lehniner Platz umgezogene Berliner Schaubühne und – wie auch in den beiden Inszenierungen zuvor – in einen funktionalen Bühnenraum zurück. Und nun dies! Die Schauspieler rezitierten Shakespeares Text in der romantischen Übertragung Schlegels, durchmischt mit Wendungen aus der Prosa-Übersetzung des Schlegel-Vorgängers Eschenburg, in nahezu voller Länge. Der Kritiker Arthur Holmberg assoziierte ihren fast zeremoniellen Vortragston mit purem Manierismus: To emphasize the artificiality and hypocrisy of the court, Grüber exaggerated vocal patterns and movements to a brittle mannerism. Ophelia, usually bent over a lute at right angles, whined in a Pierrot Lunaire Sprechstimme. Edith Clever’s Gertrude became the ultimate hieroglyph of power. Her rich gowns, heavy jewels, and stiff poses came straight from the brush of Hans Holbein. Elegant, distant, impassive, she spoke with a

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stilted Prussian accent and resumed in her own person everything that was beautiful and rotten in Denmark.12

Sechs Personen suchen einen Autor: Angela Winkler (Die Stieftochter), Freie Volksbühne, Berlin, 1981.

Die kulturhistorischen und politischen Fluchtlinien der Ästhetik von Grübers Inszenierung bedenkend verwies Andreas Höfele die Aufführung nachträglich sicher mit einiger Berechtigung in die Sackgasse eines im deutschen Regietheater um sich greifenden Postmodernismus. Indem er sich in der Frühjahrsausgabe von Shakespeare Quarterly 1992 zugleich von Fehldeutungen der Inszenierung als Rückkehr zu einer lang vergessenen Reverenz gegenüber der Integrität und Entität des literarischen Kunstwerks des Autors oder auch als ästhetisches Pendant zur neo-konservativen Tendenz der neuen christdemokratischen Regierung dezidiert absetzte, führte er die Spielweise der Aufführung auf ein geistes- und mentalitätsgeschichtlich bedingtes Erlahmen einer unwiederbringlich verlorenen Tradition zurück: For in spite of the fact that Grüber had his actors speak the whole uncut Shakespeare text in the traditional Schlegel/Tieck translation – thereby blowing up the performance to an unprecedented six hours – the result was not a return to the familiar but something quite different, something like a slow-motion replay of the splendors of a tradition now irrevocably lost. Grüber celebrated Hamlet as in a museum. Everything was steeped in beauty and sadness. Bruno Ganz as Hamlet wore a doublet that another famous Hamlet

12 Holmberg 1983, 51.

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had worn onstage before him: Joseph Kainz, the late nineteenth-century virtuoso, mad King Ludwig’s favourite actor. His movements and gestures, like those of the other actors, were exquisitely graceful. Many a precious pose put he audience in mind of medieval or Renaissance paintings, or of eighteenth- and nineteenth-century Hamlet illustrations.13

Diese Tendenz zur Erschöpfung im historischen Material, evident in dessen musealem Ausstellen unter bewusster Verweigerung des im deutschen Theater der Vorjahre gängigen dialektischen Zugriffs, korrespondierte – wie Höfeles Aufsatz weiter transparent entwickelt – einer Dramaturgie der Ausdünnung der dramatischen Spannungen Shakespeares bis hin zum degrée zéro völliger DeDramatisierung,14 die ganz unter den Vorzeichen der Hoffnungslosigkeit der Realitätseinschätzung einer ganzen Künstler-Intellektuellengeneration stand: Life itself had fled before the play even started. The actors moved and spoke their lines with a peculiar, sometimes almost trance-like lack of expression – undead rather than alive, not like actors but (as one critic put it) more like archeologists »cautiously holding the text like some precious find up to the light.« Revenge, love, ambition – none of these motives seemed to stir up much energy in characters who appeared to be united in morning rather than divided by enmity. Hamlet and Ophelia, Gertrude and Claudius moved solemnly through the whole length of the tragedy, detached from its vital impulses. The audience too was kept at a distance from a play bound up like no other (except, perhaps, Goethe’s Faust) with two centuries of German soul-searching – a play steeped in history, a play, one might even say, that is history.15

Höfele ordnete solchen indifferenten Umgang mit dem geschichtlich hochaufgeladenen Material schließlich einer neuen Bewegung im deutschen Theater zu, die er, John Barth weiter denkend, äußerst treffend als »theater of exhaustion«16 bezeichnete. Nun ist es keinesfalls strittig, die von Grüber inspirierten schauspielerischen Verfahren zum Ausdruck von Abständigkeit bei der Repräsentation des Vergangenen auf ein prekäres Verhältnis zu jeder geschichtsphilosophischen Hoffnung am Ende der Großen Erzählungen zu beziehen. Dem zeitgenössischen Intellektuellenbewusstsein von der Posthistoire wendete sich jede Geschichte – dem Zeitgeist als lebendige, in die Gegenwart hineinreichende Tradition schlicht nicht mehr länger vorstellbar – in eine nicht mehr zu »schulternde« Bürde. Gemäß der Shakespeare-Rezeption seit dem 18. Jahrhundert brach sich das Konzept einer Fortschrittsgeschichte – das Shakespeares Text genuin sicher nicht geschuldet ist – gleichsam prismatisch in der Geschichte um Hamlet, ihren 13 Höfele 1992, 82. 14 Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmanns historisierende Einordnung der Grüberschen Theaterkunst ins Paradigma des postdramatischen Theaters in Lehmann 1999, 125. 15 Höfele 1992, 82. 16 Siehe hierzu Höfele 1992, 82, sowie Barth 1967, 29–34.

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Intrigen und dramatischen Vorgängen, die Grüber mit Hilfe aller gegeben theatralen Mittel von Spielweise der Akteure und räumlichem Arrangement in der Aufführung als dialektisch sinnerschöpfte Gesten im Rahmen einer offen gelegten Mechanik in wirklichkeitsfremder Schönheit erstarrter Abläufe ausstellte. Grüber übersetzte damit in theatrale Situationen und Haltungen, was bereits Arnold Gehlen aus anthropologischer Optik als Weltanschauung beschrieb, für die die Ideengeschichte an ein Ende gekommen sei und alle Möglichkeiten genuiner Veränderung erschöpft sind, weil die industrielle Zivilisation sich in einen puren Mechanismus verwandelt hat, der sich unaufhörlich selbst reproduziert, ohne jede Chance, aus dem Zirkel der Wiederholung auszubrechen. In einem Aufsatz, der im Titel die Frage »Ende der Geschichte?« trägt, bezog sich Gehlen in diesem Zusammenhang auf den 1877 verstorbenen französischen Mathematiker und Volkswirtschaftler Cournot: Dieser lehrte einen Endzustand, in dem die Geschichte sozusagen stillsteht, da sie angesichts des regelmäßigen Funktionierens der Räder der Verwaltung und der Industrie nur noch störende Wirkung habe. Der dann eintretende zukünftige soziale Zustand der Weltverwaltung, die mit ihren Störungen selbst fertig wird, dieser Zustand sei prinzipiell nicht zum Tode verurteilt, man könne ihn sich in beliebig erstreckten Zeiträumen vorstellen. […] So viele Reiche sind gestorben, die sich ewig glaubten, der Strom der Geschichte hat sie verschlungen, aber nach dem Ende der Geschichte kann ja dann jene Unaufhörlichkeit eintreten.17

Grübers distanzierende Inszenierungsverfahren mochten aber auch – und dies ist meine These, die ich als Nachtrag der hier dargestellten früheren Diskussion der Aufführung hinzufügen möchte – jene Lebensperspektive für die Zuschauer nach- und miterlebbar machen, in der »das ausgelöschte Jenseits […] dem schlecht Entzauberten einzig Kälte herüber [schickt], […] seinen Abstand vom Realen, sinnvoll zu Realisierenden auch noch kosmisch [verstärkt].«18 Ernst Bloch schreibt in Das Prinzip Hoffnung diese Mentalität dem neumittelalterlichen Menschen des Manierismus zu, bei dem sich »keine Befreiung durch den in der bürgerlichen Ratio keimenden Materialismus, sondern umgekehrt ein religiöses Entsetzen vor der eigenen Irreligion«19 zeige. Bloch assoziiert mit einer solchen Welthaltung die beständige Kopräsenz des »Todeserlebniss[es] dicht neben dem Leben«20, die zu einer »Übertreibung des Bewußtseins-Abstands« führe, die er anhand des für sie prototypischen dramatischen Charakters des Shakespeareschen Hamlet erklärt:

17 18 19 20

Gehlen 1975, 126. Bloch 1979, 1208. Bloch 1979, 1208. Bloch 1979, 1207.

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So aber lebt die Angst immer neu, überhaupt nicht da sein zu können. Die äußere Not reicht dafür mehr als aus, feinere Sorgen des Bestehens wirken auf sie als Hohn. Nicht aber gründlichere, diese bleiben im schattenhaften Leben selber und auf lange begründet. Menschen dieser Art kommen, obwohl durchdringend eigen und eigentümlich, aus dem Schatten des Nicht-Da gar nicht heraus. Ihre Unruhe ist keine ausfahrende, sondern eine zerstreute, handlungslose. Hamlet gibt dafür das gedichtete Beispiel, er ist, obwohl durchaus Wille, allen Ausfahrenden die innerliche Gegenerscheinung. Der Wille, seinen Mann und sein Jetzt zu stellen, bleibt hier verschlossen, das Gewissen treibt ihn zur Handlung, das einsame Grübeln verhindert sie. Er ist so sehr sein eigener Gefangener, daß auch der Auftrag der Rache, sofern er mit einer Tat verknüpft ist, die Abstands-Existenz nicht durchbricht. Hamlet ist überfüllt mit Bewusstsein im Sinne eines Abstands, eines Mediums, das weder zu sich noch zu den Dingen kommen lässt.21

Hamlets Charakter trägt damit die Stigmata einer Zeit, die »aus den Fugen ist«, einer Zeit des »bürgerlich-neufeudal gemischte[n] und gespannte[n]« Übergangs. Seine Philosophie entspricht laut Bloch »weitgehend den Stimmungen der Nacht, ja des Nichts, die den Manierismus erfüllten, als den zerrissenen Lebensund Kunststil nach der Renaissance, mitten im Barock.«22 Vor dem Todesbewusstsein aber könne es »keine sinnvoll bleibende Ausfahrt und keine Aktion«23 mehr geben. Unter einer derart verwandelten Wahrnehmungsweise von Welt werden schließlich alle Männer Schufte, alle Frauen Dirnen, ist jede Erscheinung Lüge und der Rest Schweigen. In der Hoffnungslosigkeit seiner Realitätseinschätzung in einer vergleichbar übergänglichen Zeit erachtete Grüber diese Wahrnehmungsweise des Helden des von ihm inszenierten Stückes wie einen gemeinsamen historischen »Nenner« der in der eigenen Zeitgenossenschaft wahrgenommenen »Brüche« und verlängerte sie durch theaterkünstlerische Verfahren um mögliche Zuschauerperspektiven. Der Kritiker Peter Iden schrieb: Die Wirkung [der Aufführung] begründet sich weniger aus einer situativen Lebhaftigkeit […] als aus einer durchgängigen Stimmung der Trauer. Es ist Trauer angesichts der Unzulänglichkeit allen Handelns und aus dem Bewusstsein der die Figuren vereinsamenden Ohnmacht in einer Welt, die vom Tod umstellt ist. […] Hoch über der Szene schimmern bläuliche Sterne, sehr von fern – in dem weitläufigen Raum unter diesem Himmel spüren die Menschen eine große Kälte, sie ist in ihnen, sie liegt auf ihren Bewegungen und auf ihren Beziehungen zueinander – sie macht sie sehr einsam. […] Es gibt in der Aufführung keine Gesellschaft, keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen, um jeden ist ein Hof des Alleinseins. Wenn mehrere zusammen sind, spürt man bald das Zwanghafte, Konstruierte der Situation: Gesellschaft, sagt die Auffüh-

21 Bloch 1979, 1206f. 22 Bloch 1979, 1207. 23 Bloch 1979, 1207f.

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rung, das ist immer nur ein Arrangement, provisorisch und unzulänglich, unsere wirkliche Lage bloß dürftig überspielend. Eine Illusion, rasch zerfallend.24

Grübers Vision der Szenen von Shakespeares Hamlet entstammte jenem Bewusstseinsraum, in dem alle Debatten ihr Ende finden und alle Masken schweigen.25 Adieu, Klaus Michael Grüber. Adieu, Rudolf Münz. Adieu – und au revoir im Aldilà.

Hamlet: Bruno Ganz (Hamlet), Schaubühne, Berlin, 1982.

Literaturverzeichnis Bruno Ganz im Gespräch mit Klaus Dermutz: »›Klaus ist ein schöner Mensch‹. Der Schauspieler Bruno Ganz über den Künstler und Menschen Klaus Michael Grüber – im Gespräch mit Klaus Dermutz«. In: Theater heute, H. 8/9 (2008), S. 38–41. Banu, Georges/Blezinger, Mark (Hg.) (1993): Klaus Michael Grüber …Il faut que le théâtre passe à travers les larmes… Paris. Barth, John: The Literature of Exhaustion. In: Atlantic Monthly, 220, (August 1967), S. 29– 34. Bloch, Ernst (1979): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a.M. Carstensen, Uwe B. (1988): Klaus Michael Grüber. Frankfurt a.M. 24 Iden 1984, 129 u. 134f. 25 Vgl. hierzu die Probenberichte von langjährigen Schauspielern Grübers auf einer von Georges Banu in Paris organisierten Veranstaltung in Banu/Blezinger 1993. Siehe hierzu auch Lehmann 1999, 126.

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Friedemann Kreuder

Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin. Gambelli, Delia (1972): Arlecchino: dalla »preistoria« al Biancolelli. In Biblioteca Teatrale, 5, S. 17–68. Gehlen, Arnold: Ende der Geschichte? In: Gehlen, Arnold (1975): Einblicke. Frankfurt a.M., S. 115–133. Greenblatt, Stephen (1993): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, aus d. Amerik. v. Robin Cackett. Frankfurt a.M. Henrichs, Benjamin: Hamlet – ein deutsches Requiem. In: Die Zeit, 17. 12. 1982. Höfele, Andreas (1992): A Theater of Exhaustion? ›Posthistoire‹ in Recent German Shakespeare Productions. In: Shakespeare Quarterly, Vol. 43, No. 1 (Spring), S. 80–86. Holmberg, Arthur (1983): Hamlet – William Shakespeare – Directed by Klaus Michael Grüber – Schaubühne am Lehniner Platz (Berlin). In: Performing Arts Journal, Vol. 7, No. 2, S. 49–52. Iden, Peter (1984): Theater als Widerspruch. München. Jahn, Anni-Britta (2001): Quellen und Quellenstudien zu Theaterformen in Dresden bis 1800. Magisterarbeit Leipzig (unveröffentlicht). Kreuder, Friedemann (2002): Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. Münz, Rudolf (2002): Sind ›die großen Erzählungen‹ im Theater zu Ende?. In: Baumbach, Gerda (Hg.): Theaterkunst & Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie. Köln, Weimar, Wien, S. 327–424. Parfaict, Fr. u. Cl. (1753): Histoire de l’Ancien Théâtre Italien. Paris. Rischbieter, Henning (1983): Hamlet an der Schaubühne oder: Renaissance und Beton. In: Theater heute, H. 2, S. 10–12.

Klaus Dermutz

Klaus Michael Grüber – Homo Viator

Wir sind in Neckarelz zusammengekommen in Erinnerung an Klaus Michael Grüber, der uns mit seinen Theater- und Operninszenierungen einen künstlerischen Reichtum sondergleichen gegeben hat – uns allen, die wir uns seiner Kunst nahe fühlten und fühlen, nicht nur durch seine Arbeit, sondern auch durch seine Persönlichkeit andere Welten und Wege eröffnet hat. Ich danke Frau Christine Funk, Herrn Michael Keilbach und Herrn Karsten Weber sehr für diese Einladung. Die Erinnerung kehrt zurück an Grübers Geburtsort, an den wir uns zehn Jahre nach dessen Tod eingefunden haben, und die Erinnerung kehrt zurück an das Jahr und den Tag seiner Geburt. Am 4. Juni 1941 erblickte Klaus Michael Grüber hier das Licht der Welt. Das Unternehmen Barbarossa, der Überfall auf die Sowjetunion, begann am 22. Juni 1941. Die Nazis überzogen mit ihrer Rassenlehre und mit ihrem Vernichtungskrieg die Welt. Martin Grüber, der älteste Bruder, hat Professor Friedemann Kreuder, der heute leider nicht hier sein kann, und mir für die Publikation des Nachlasses von Klaus Michael Grüber, der sich in der Berliner Akademie der Künste befindet, erschütternde Dokumente zur Verfügung gestellt, aus denen hervorgeht, welch grausamer und schrecklicher Gewalt der Vater Otto Grüber, ein evangelischer Pfarrer, während des Krieges und in der Kriegsgefangenschaft ausgesetzt war. Die Mutter musste weitgehend allein auf sich gestellt vier Kinder durch den Krieg und die Nachkriegszeit bringen. Otto Grüber war wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime sehr früh eingezogen worden. Martin Grüber hat in seiner Traueransprache am 25. Juni 2008 von dem Leid gesprochen, das Klaus Michael Grüber als Kind gesehen und erfahren hat, er hat davon gesprochen, welche Empfindungen das Leid der Flüchtlinge in dem jüngsten Bruder freigesetzt hat. Klaus Michael Grüber hat in seiner 40-jährigen Arbeit immer wieder Erfahrungen der Wanderschaft thematisiert und sie in seine vom »traumatisierten Raum« (Judith Kasper) geprägte Weltsicht transformiert, in »Faust Salpêtrière«

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(1975), in der »Winterreise im Olympiastadion« (1977) und in der Uraufführung von Jorge Semprúns »Bleiche Mutter, zarte Schwester« (1995), um in diesem Zusammenhang nur diese Inszenierungen zu nennen.

Faust-Salpêtrière: Ensembleszene mit Gérard Lorin (Faust), Chapelle Saint Louis, Hôpital de la Salpêtrière, Paris 1975.

Die Literaturwissenschaftlerin Judith Kasper legt in ihrer 2016 erschienenen Studie »Der traumatisierte Raum, Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante« dar, das Trauma lasse sich im psychoanalytischen Diskurs »nicht auf ein gewaltvolles geschichtliches Ereignis reduzieren, wenngleich es meistens mit solchen verbunden ist«: »Das Trauma, da es immer erst in seiner Nachträglichkeit gefasst wird, hat keine ›exakte Zeitstelle‹, es existiert nur im Modus der Sequenzen, in denen es (sich) wiederholend insistiert.«1 Der polnische Theaterregisseur Tadeusz Kantor spricht in den Erläuterungen zu seinem »Theater des Todes« von »photographischen Gedächtnisplatten«. Die sich ins Gedächtnis eingegrabenen Bilder kehren wieder und verschwinden im Pulsschlag der Erinnerung. Das Ausgesetztsein auf der lebenslangen Wanderschaft ist der Kern von Grübers Theater gewesen. Anton Tschechows Stück »An der großen Straße«, Anfang Februar 1984 in der Probebühne der Cuvrystraße aufgeführt, ist für Grüber selbst, »weil wenig ideologisch oder theoretisch ausgerichtet, eine ein1 Kasper, Judith (2016): Der traumatisierte Raum, Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin, 10.

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drucksvolle Darstellung der Welt von Reisenden, die in ihrem provisorischen Aufenthalt erfasst werden; eine Welt der Ausgestoßenen, Diskriminierten, eines heruntergekommenen Reichen, eine Welt der Wodkasäufer, der Pilger, die ein unruhiger Geist durch die Steppe treibt, und die nichts aufhalten kann. Ist es ein Zufall, wenn diese unzähligen Wege – zufällig – den Weg eines zerlumpten Deutschen kreuzen? Eines Deutschen, dessen halluzinierender Blick an den Ufern der Garonne das schon immer erträumte griechische Leben zu erkennen glaubte? Ist es ein Zufall, wenn dieser arme Narr von Hölderlin im Wirtshaus an einer Kreuzung ein Glas trank, bevor er auf die lange unbewegliche Reise von beinahe vierzig Jahren ging, die man anmaßend seine Krankheit nennt?« In einer Zeit, in der weltweit knapp 70 Millionen auf der Flucht sind und Menschen dem Tod durch Ertrinken preisgegeben werden, sei an Grübers Inszenierung von Sophokles’ Stück »Ödipus in Kolonos« erinnert, 2003 am Burgtheater erarbeitet, die Bühne und die Kostüme schuf der Maler Anselm Kiefer. Am Ende seines Irrwegs erhält Ödipus ein Zeichen. Es donnert und blitzt. Aus dem Himmel fällt Staub und Asche, der heilige Hain wird in eine Wolke gehüllt, die die Personen wie in eine irreale Ferne rückt. Von Ödipus ist die Last der Wanderschaft abgefallen. Ein scheues Lachen verwandelt sein Antlitz. Ödipus breitet die Arme aus, als würde er ein Geschenk empfangen. Der Augenblick des Abschieds ist gekommen. Die Mühsal des Lebens fällt von seinem Körper ab. Die Schmerzen sind ausgestanden. Der Hain ist ein Ort an der äußersten Grenze des Lebens. Im herabgefallenen Staub hinterlässt Ödipus seine letzte Spur auf Erden. Es sind Abdrücke eines Lebens, das im Begriff ist, in die Verwitterung der Natur überzugehen. Ein ausgesetztes Leben verwandelt sich im Angesicht des Todes in ein lichtes Loslassen. Der alte, gebrechliche und hinfällige Körper, so das zentrale Paradoxon von Grübers Interpretation, wird zum heiligen Körper. In dieser Dimension wird Ödipus, der Bettler, zum eigentlichen Regenten und Friedensbringer von Athen. Von den Göttern wird Ödipus als einer der ihren aufgenommen. Aus Ödipus’ Körper strömt eine Heiterkeit, die den Töchtern Antigone und Ismene Trost sein könnte. Ödipus ist eine Janus-Figur, er verharrt für einen Augenblick im Niemandsland zwischen Leben und Tod. An einer den Sterblichen unbekannten Stelle hat sich die letzte Verwandlung des unglückseligen Ödipus vollzogen, den Athenern zum Frieden. Nach einer Abendprobe habe ich den Maler Anselm Kiefer gefragt, welche Ideen ihn für die Erarbeitung von »Ödipus in Kolonos« leiteten. Er antwortete, die Asche ist »ein wunderbares Medium, es ist das letzte Medium. Nach der Asche kommt zunächst einmal keine Verformung mehr. Wenn die Aschenteilchen herunterkommen, sind sie wie Atomteilchen, die das Licht einfangen. Es fiel andauernd Asche herab, ein schmales Rinnsal, das immer beleuchtet war. Man wusste nicht, ob die Lichtfunken gesammelt werden, nach oben steigen oder von oben kommen. Das ist ein Gedanke der Gnosis, dass die Lichtfunken in der Erde

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gefangen sind, und man sie am Ende der Welt befreien muss. Ein Ende ist immer ein Anfang. Am Beginn der Zusammenarbeit mit Grüber haben wir folgende Sichtweise des Ödipus ins Auge gefasst. Ödipus ist ein Sadhu, ein indischer Wandermönch, der nur mit Asche bekleidet ist. Die Asche deckt also nicht nur zu, sondern leuchtet auch. Ödipus wandelt sich von einem ausgestoßenen Kriminellen in eine Lichtgestalt. Er ist durchs Feuer gegangen. Er ist Asche. Er ist am Ende völlig ausgebrannt, von Demütigungen, Schuldzuweisungen. Ödipus wurde überall ausgestoßen. Er wandelt sich zum Heilsbringer, zur Lichtgestalt. Das Kleid, das ich für Ödipus gemacht habe, ist so starr und fest, dass es ihn gar nicht mehr braucht. Ödipus geht unter. Sein Licht bleibt. Ödipus hat eine Schuld auf sich genommen, die nicht bei ihm liegt, sondern in der Konstruktion der Welt. Er wird ganz überpersönlich. Es geht gar nicht mehr um die Person des Ödipus als Mensch, sondern er wird ganz zur Idee.«

Der Pol: Bruno Ganz (Captain Scott), Schaubühne, Berlin 1996.

Als ich von den Proben zur Wiederaufnahme von »Parsifal« am Théâtre Royal de la Monnaie im Vorfrühling 1998 nach Berlin zurückkehrte, fand ich bei Friedrich Nietzsche die mit »Der Wanderer« betitelte Überlegung, die mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn die Erinnerung an Klaus Michael Grüber und sein künstlerisches Schaffen zurückkehrt, in dessen Zentrum der »homo viator« steht, der Mensch auf seiner irdischen Wanderschaft.

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»Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.«

Lassen Sie mich diese Ausführungen mit einer Überlegung von Klaus Michael Grüber während der Proben zur Winterreise (1977) beschließen: »Nichts bedroht die Ordnung, alle Arten von Ordnung, mehr als die Beweglichkeit, die Schnelligkeit und die Hartnäckigkeit des Reisenden.« Dieser Text stellt die ein wenig geänderte Fassung einer Rede dar, die der Verfasser am 17. 7. 2018 in Neckarelz gehalten hat.

»Der traumatisierte Raum«1

1 Die Kapitelüberschrift ist als Verweis auf folgendes Buch zu verstehen: Kasper, Judith (2016): Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante. Berlin.

Dorothee Roos

Neckarelz und das Neckartal als Ort von »Passagen«. Zum frühen Erfahrungshintergrund von Klaus Michael Grüber

L’homme de passage – unter diesen Titel hat Christoph Rüter seinen Film1 über Klaus Michael Grüber gestellt: Klaus Dermutz2 greift im Untertitel seines Buches über Grüber die »Passagen« wieder auf – und stellt sie neben die »Transformationen«, also die Verwandlungen. Das französische Wort »passage«, abgeleitet von »passer«, ist vieldeutig. Es beschreibt ein Gehen oder Schreiten, auch ein Überschreiten, ein flüchtiges Berühren, ein Wandern von Ort zu Ort, in dem ein Element des Vergänglichen ebenso liegt wie ein Gefühl des Unbehausten, von ganz konkreter, aber auch metaphysischer Bedeutung. Gleichzeitig aber begegnet der »homme de passage« auf seiner Wanderung anderen, die ebenfalls unterwegs sind, Heimat- und Ortlosen, die ihm gleichen. Er streift sie nur, und doch erkennt und spiegelt er sich in ihnen, in ihrer Fremdheit, die paradoxer Weise ein Element von Brüderlichkeit annehmen kann. Für ein solches Lebensgefühl nach biografischen Wurzeln zu suchen ist ein heikles Unterfangen, weil die Dinge nie einfach liegen. Und doch kann man, wenn man die Geschichte des Ortes anschaut, wo Klaus Michael Grüber die ersten 10 Jahre seines Lebens verbracht hat, das badische Neckardorf Neckarelz also, einige Spuren entdecken, die frühe Berührungen Grübers mit Unbehaustheit und Fremdheit nahelegen. Und nicht nur das – die Menschen, die seine Kindheit streiften und denen er sich möglicherweise mit kindlicher Neugierde und Faszination zuwandte, konnten den Eindruck vermitteln, dass hinter der Welt der dörflichen Geborgenheit und Überschaubarkeit sich eine ganz andere Realität verbarg. In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Dorf, das an der Mündung des Odenwald-Flüsschens Elz in das liebliche Neckartal liegt, von Fremden unterschiedlichster Art geradezu geflutet und verwandelte sich dadurch in einen anderen Ort.

1 L’homme de passage. Der Regisseur Klaus Michael Grüber, Regie: Christoph Rüter, WDR/arte, 1999. 2 Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin.

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Dorothee Roos

Neckarelz, das im Jahr 1939 nach Angaben eines Heimatbuchs 1693 Einwohner zählte,3 war bis zum Beginn des Jahres 1944 von den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges relativ unberührt geblieben. Zwar wurden auch hier immer mehr Männer an die Fronten geschickt, so dass die Einwohnerschaft fast nur noch aus Frauen, Kindern und älteren Menschen bestand. Auch der evangelische Pfarrer Otto Grüber musste Soldat werden, er wurde mit Beginn des Krieges eingezogen und sollte erst spät aus der Gefangenschaft zurückkehren. Seine Frau, Kläre Grüber, blieb mit den vier Kindern allein in dem großen Pfarrhaus in der Martin-Luther-Straße, die sich zum Neckar hinabsenkt.

Neckarelz im März 1945 – heimlich gezeichnet vom französischen KZ-Häftling Jacques Barrau.

Neckarelz war eher ländlich strukturiert, an Betrieben gab es zwei Eisengießereien und viele Handwerker. Auf der anderen Neckarseite, auf der Gemarkung der Gemeinde Obrigheim, wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts der einzige Bodenschatz der Region, der in den Uferbergen in einer ca. 20 Meter mächtigen Schicht vorkommende Gips, von der Firma Portlandzement im Untertage-Abbau gewonnen. Der vom Deckgebirge abgesprengte und in einem Brechwerk zerkleinerte Gips fand als Beimischung für Beton und Zement Abnahme in der 3 Liebig, Fritz (1972): Neckarelz/Diedesheim. Zwei Dörfer am Schicksalswege unseres Volkes. Neckarelz, 213.

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Bauindustrie.4 Durch den Abbau entstanden in den Randbergen des Neckars Stollen und Galerien in einem regelmäßigen Gittermuster von Längs- und Quergängen. Sie führten nicht in die Tiefe, sondern waren horizontal befahrbar. Dieser geologische Zufall veränderte ab März 1944 das Gesicht des idyllischen Tales. Denn die Lufthoheit der Alliierten mit den immer mehr zunehmenden Bombardements von Städten und Industrieanlagen Nazideutschlands ließ plötzlich unterirdische, »bombensichere« Hohlräume zu einem kostbaren und knappen Gut werden. Der am 1. März 1944 gegründete »Jägerstab«, in dem Vertreter der beiden Rüstungsministerien, der SS und der Rüstungsindustrie saßen, beschlagnahmte kurzerhand die Gipsgrube Obrigheim. In deren Stollen sollte die größte deutsche Motorenfabrik, das Flugzeugmotorenwerk Genshagen der Daimler AG, unter die Erde verlagert werden. Dieses Projekt, das ab Mai 1944 den Tarnnamen »Goldfisch« trug, war das zweitgrößte Rüstungsverlagerungsprojekt5 des Dritten Reiches. Doch selbstverständlich wurden nicht nur Maschinen verlagert, sondern vor allem Menschen. Der Beschluss des »Jägerstabes« setzte Menschenströme in Größenordnungen von Tausenden in Bewegung, und das weit über das Ende des Dritten Reiches hinaus. Die lokalen Behörden waren in diesen Prozess eher als »Befehlsempfänger« eingebunden, doch erhofften sich manche Verantwortungsträger auch einen »Industrialisierungsschub« im strukturschwachen Raum des südlichen Odenwalds. Allerdings kamen zunächst nicht die erwarteten Arbeiter, Meister und Ingenieure ins Neckartal, sondern Menschen, mit denen man eher nicht gerechnet hatte: Fremde aus ganz Europa, die in nie gehörten Sprachen redeten und einen elenden Eindruck machten. Es handelte sich um KZ-Häftlinge aus dem Lager Dachau, die am 15. März 1944 in Neckarelz eintrafen. Sie wurden in der Volksschule von Neckarelz einquartiert, die sich damit in ein KZ-Außenlager verwandelte. Die KZ-Häftlinge mussten die Wege zur Gipsgrube ausbauen, die Stollen für große LKW befahrbar machen, die Stollengänge betonieren, Leitungen und Entlüftungsanlagen installieren und vieles andere mehr. Sie waren also »Bauhäftlinge«, die nicht in der Motorenproduktion arbeiteten. Es blieb nicht bei den anfänglich angeforderten 500 Mann, ihre Zahl verzehnfachte sich im Lauf des Jahres 1944/45, so dass in der Region insgesamt sechs Konzentrationslager entstanden, die organisatorisch dem Stammlager Natzweiler-Struthof im Elsass unterstellt waren.

4 Vgl. hierzu Cramer, Dietmar (2013): Die Geschichte von HeidelbergCement. Der Weg des süddeutschen Unternehmens zum internationalen Konzern. Heidelberg. 5 Zum Verlagerungsprojekt »Goldfisch« vgl. Markowitsch, Tobias (2018): Verlagert – demontiert – ausgeschlachtet: Goldfisch 1944–1974. Vom NS-Rüstungsbetrieb zu Maschinenfabrik Diedesheim. Heidelberg /Ubstadt/Neustadt/Basel.

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KZ-Häftling, Zeichnung von Jacques Barrau.

In Neckarelz gab es ab Juli 1944 zwei solcher KZ-Außenlager, Neckarelz I (Schule) und Neckarelz II benannt, die zusammen mehr Häftlinge zählten als das Dorf Einwohner hatte. Täglich liefen Hunderte von abgemagerten Gestalten in Fünferreihen durch das Dorf, streng bewacht von den Kapos und Wachleuten aus SS und Luftwaffe. Sie bogen in der Dorfmitte nach Süden ab zur Eisenbahnbrücke, die damals über den Neckar und via Obrigheim und Aglasterhausen nach Heidelberg führte.6 Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Märsche mit dem Gebrüll der Wachleute, welche die Häftlinge mit Schlagstöcken, Gummiknüppeln oder dem Gewehrkolben antrieben, ein tägliches Schauspiel insbesondere für die Kinder und Jugendlichen von Neckarelz bildeten. Es fand zwar eine Art Notunterricht im evangelischen Kindergarten statt, doch hatten viele auch einfach gar keine Schule – so berichtete es jedenfalls Martin Grüber, der älteste Bruder von Klaus Michael (Jahrgang 1937) im Gespräch mit der Verfasserin. Klaus Michael Grüber war 6 Zu den KZ-Außenlagern im Neckartal vgl. Markowitsch, Tobias / Zwick, Kattrin (2011): Goldfisch und Zebra. Die Geschichte des Konzentrationslagers Neckarelz, Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. St. Ingbert.

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damals erst drei Jahre alt; wahrscheinlich hatte er später keine bewusste Erinnerung mehr an die KZ-Häftlinge, doch mögen sich dennoch Spuren dieser Erlebnisse im Unterbewusstsein eingegraben haben. Außerdem blieb es ja nicht bei den KZ-Häftlingen. Ab Sommer 1944 wanderten dann die »Gefolgschaftsmitglieder« von Daimler in die Neckarregion ein, sie wurden zusammen mit den Maschinen zur nunmehr fast hergerichteten unterirdischen Fabrik gebracht, die mittlerweile auch als »Goldfisch GmbH« im Handelsregister eingetragen war. Um die Unterbringung der Arbeitskräfte kümmerten sich eigens für »Goldfisch« eingerichtete Büros in Mosbach und Obrigheim. Dennoch überforderte der Zustrom weiterer tausender Menschen die Region; alle Gasthäuser, Tanzsäle, Sporthallen und sonstigen möglichen Quartiere quollen vor Menschen förmlich über.

KZ-Häftllinge transportieren Geröll in der unterirdischen Fabrik »Goldfisch«, Zeichnung von Jacques Barrau.

Dazu kam der Umstand, dass die Belegschaft von Daimler zu zwei Dritteln aus sogenannten Fremdarbeitern bestand, weil militärische Rekrutierung in Zeiten des »Totalen Krieges« auch vor den Facharbeitern von kriegswichtigen Fabriken nicht mehr Halt machte. Ihre Arbeitsplätze wurden von Ausländern eingenommen, die in ganz Europa mit mehr oder weniger Druck angeworben, zur Arbeit gepresst oder auch ganz einfach gekidnappt worden waren. Auch sie trugen also dazu bei, dass im Neckartal »babylonische Verhältnisse« herrschten.7

7 Der Vergleich mit Babylon wurde bereits von damaligen Akteuren gezogen, vgl. das Kapitel »Les carrières de Babel« im Buch von Farelle, Roger (2000): Je suis un rescapé des bagnes du

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Maschinen und Produktionsanlagen der Flugzeugmotorenfabrik »Goldfisch«.

Der Einmarsch der Amerikaner am 1./2. April 1945 setzte dem Rüstungsprojekt und auch dem Krieg in der Region ein Ende, die vielen Fremden, aber auch die »Gefolgschaftsmitglieder«, waren wenige Tage zuvor evakuiert oder auf Todesmärsche getrieben worden. Doch bald setzte ein Rückstrom ein: in den ehemaligen Lagern waren nun »displaced persons« untergebracht, Zwangsarbeiter, die nicht sofort in ihre Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten, sowie andere Versprengte des Krieges. Doch kaum hatte sich die Situation im Frühjahr 1946 wieder etwas normalisiert, begannen erneut überfüllte Züge ins Neckartal zu rollen. Die nun kamen, waren zwar Deutsche oder Nachkommen ehemaliger deutscher Ausgewanderter, doch von dem Einheimischen kaum minder als fremd empfundene Menschen: Heimatvertriebene aus den ehemals deutsch besiedelten Landstrichen in Ungarn, Jugoslawien, Schlesien und der Tschechoslowakei. Auch sie hatten zum Teil Schweres und Schreckliches erlebt, hatten binnen Stunden ihre langjährige Heimat verlassen müssen oder waren in Lagern interniert gewesen. Sie sprachen merkwürdige Dialekte, kleideten sich anders, kochten anders und hatten meist eine andere Konfession als die Einwohner dieser eher protestantisch geprägten Region.

Neckar. Paris, 58. Das Buch geht auf eine bereits 1945 in der Zeitung »L’Aurore« veröffentlichte Artikelserie mit gleichem Titel zurück.

Neckarelz und das Neckartal als Ort von »Passagen«

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Die amerikanischen Besatzungsbehörden im von ihnen im September 1945 neu gegründeten Land Württemberg-Baden,8 lenkten und kanalisierten die Transporte von verstörten Menschen, die rasch ein Dach über dem Kopf brauchten und ernährt werden mussten. Sie steckten sie wiederum dorthin, wo einst von KZ-Häftlingen gebaute Lager noch vorhanden waren und wo weniger Hunger herrschte als in den vom Krieg verwüsteten Städten. Zwischen Februar und Oktober kamen am Bahnhof des Nachbarorts von Neckarelz, der drei Kilometer neckaraufwärts gelegenen Gemeinde Neckarzimmern, über 24.000 Heimatvertriebene an. Sie wurden vorwiegend in den Kreisen Mosbach und Buchen verteilt. Die drei eng benachbarten Orte des Elzmündungsraums, Neckarelz, Diedesheim und Obrigheim, nahmen davon über 10 % auf, also zwischen 2400 und 2500 Geflüchtete.9 Das bedeutete einen Bevölkerungszuwachs von 65 %. Diese Fremden lebten sich in einem jahrzehntelangen Prozess allmählich ein, sie fanden Arbeit und bauten nach einigen Jahren eigene Häuser. Und doch haftete ihnen lange ein Stigma an, und umgekehrt erschien vielen von ihnen das badische Neckartal als ein »lieu de passage«, ein Ort des Übergangs. Ihre Kinder gingen in Neckarelz in die Volksschule, die ein Jahr lang ein KZ gewesen war. Dort trafen sie auf die einheimischen Kinder, und man mag sich ausmalen, dass es hier mannigfache Formen der Ausgrenzung, aber auch große Anstrengungen zur Integration gegeben hat. Parallel dazu kamen die Männer aus der Region, die den Krieg überlebt hatten, zurück in die Heimat, manche früher, manche später. Klaus Michael Grübers Vater Otto Grüber gehörte mit zu den Letzten. Er war als erster badischer Pfarrer 1939 eingezogen worden – vielleicht wegen seiner bekannten NS-kritischen Haltung – und, nach Aussagen seiner Frau, von kurzen Urlauben abgesehen, achteinhalb Jahre nicht zu Hause gewesen. Als er von tschechischer, russischer und polnischer Kriegsgefangenschaft sowie Zwangsarbeit schwer gezeichnet, malariakrank und abgemagert nach Hause kam, läuteten in Neckarelz die Kirchenglocken, und alle Schulkinder wurden im Hof des Pfarrhauses versammelt. Doch Grübers Kinder, zwischen 1937 und 1941 geboren, (er)kannten ihren Vater nicht. Er blieb für sie lange Zeit ein Fremder, nur tastend und vorsichtig näherte man sich einander an.10 Wer je Klaus Michael Grübers Inszenierung der Mon-

8 Dieses Land umfasste nur den nördlichen Teil des heutigen Baden-Württembergs. 9 Rantasa, Alexander (2013): Schicksale auf DIN A 4. Die Vertriebenenlisten des Übergangslagers Neckarzimmern. In: Jung, Christian (Hg.): Zukunft mit Heimweh. Integration und Aufbauleistung der Vertriebenen im Neckar-Odenwald-Kreis. Heidelberg/Ubstadt/Neustadt/ Basel, 69. 10 Gespräch zwischen Kläre Grüber, Dr. Georg Fischer und der Verfasserin am 5. September 2000 in Karlsruhe. Dieses Gespräch diente der Vorbereitung eines »Erzählcafés« mit drei

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Dorothee Roos

teverdi-Oper »Il ritorno d’Ulisse in patria«11 angeschaut hat und diesen Hintergrund kennt, sieht die Wiederbegegnung des »homme de passage« Odysseus und seines Sohnes Telemach nach zehnjähriger Abwesenheit mit neuen Augen. Sie gehört zu den anrührendsten Szenen im Schaffen des Regisseurs Grüber, bestimmt von Trauer und Fremdheit, aber auch vorsichtiger Liebe und Hoffnung.

Il ritorno d’Ulisse in patria: Vesselina Kasarova (Penelope), Jonas Kaufmann (Telemaco), Opernhaus Zürich, 2003.

Literaturverzeichnis Cramer, Dietmar (2013): Die Geschichte von HeidelbergCement. Der Weg des süddeutschen Unternehmens zum internationalen Konzern. Heidelberg. Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin. Farelle, Roger (2000): Je suis un rescapé des bagnes du Neckar. Edition Volets verts. Paris. Jung, Christian (Hg.) (2013): Zukunft mit Heimweh. Integration und Aufbauleistung der Vertriebenen im Neckar-Odenwald-Kreis. Heidelberg/Ubstadt/Neustadt/Basel. Liebig, Fritz (1972): Neckarelz. Diedesheim. Zwei Dörfer am Schicksalswege unseres Volkes. Neckarelz. Markowitsch, Tobias (2018): Verlagert – demontiert – ausgeschlachtet: Goldfisch 1944– 1974. Vom NS-Rüstungsbetrieb zu Maschinenfabrik Diedesheim. Heidelberg/ Ubstadt/ Neustadt/Basel. Zeitzeuginnen in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz, das dann am 10. Dezember 2000 stattgefunden hat. Vom Vorgespräch gibt es nur Protokollnotizen. 11 Claudio Monteverdi. Il ritorno d’Ulisse in patria. Orchestra La Scintilla of the Opernhaus Zürich, Regie: Klaus Michael Grüber, Musikalische Leitung : Nikolaus Harnoncourt, Arthaus Musik, 2003.

Neckarelz und das Neckartal als Ort von »Passagen«

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Markowitsch, Tobias/Zwick, Kattrin (2011): Goldfisch und Zebra. Die Geschichte des Konzentrationslagers Neckarelz, Außenkommando des KZ Natzweiler-Struthof. St. Ingbert. Claudio Monteverdi. Il ritorno d’Ulisse in patria. Orchestra La Scintilla of the Opernhaus Zürich, Regie: Klaus Michael Grüber, Musikalische Leitung: Nikolaus Harnoncourt, Arthaus Musik, 2003. L’homme de passage. Der Regisseur Klaus Michael Grüber, Regie: Christoph Rüter, WDR/ arte, 1999.

Otto Grüber

Mein Lebenslauf

Am 1. Dezember – zugleich 1. Adventssonntag – 1907 wurde ich in Mannheim als Sohn des Postschaffners Martin Grüber und dessen Ehefrau Margaretha, geb. Müller, geboren. Im Frühjahr 1914 kam ich zur Schule. Nach dreieinhalbjährigem Besuch dieser sog. Bürgerschule trat ich im Herbst 1917 in die Lessingschule (- Realgymnasium II -) ein, die ich an Ostern 1926 mit dem Reifezeugnis verließ. Bedeutsam für meine innere Entwicklung während meiner Schulzeit war meine Zugehörigkeit zum Wandervogel (»Altwandervogel«) und später zum Schülerbibelkreis (»BK«). Ich studierte Theologie an der Theologischen Schule in Bethel und an den Universitäten Marburg, Tübingen, Zürich und Heidelberg. Im Frühjahr 1930 legte ich beim Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe die erste, Ostern 1931 die zweite theologische Prüfung ab. In der Trinitatiskirche in Mannheim, in der ich getauft und im Jahre 1922 durch Kirchenrat Achtnich konfirmiert worden war (Denkspruch: Epheser 6,10), wurde ich am 22. März 1931 durch den damaligen Pfarrer und späteren Oberkirchenrat Gustav Rost unter Assistenz der Vikare Eduard Schmidt und Karl Hörner ordiniert. Nach vorübergehender Versehung des Pfarrdienstes in Schweigern bei Boxheim war ich als Vikar in Karlsruhe (Matthäuspfarrei), Mannheim (Obere Pfarrei an der Trinitatiskirche unter Pfarrer Rost) und in Baden-Baden (Weststadtvikariat und Vikariat an der Stadtkirche unter Kirchenrat D. Karl Hesselbacher) tätig. Auf 1. Oktober 1934 wurde ich vom Patronatsherrn Fürst von Leiningen als Nachfolger des als Missionsinspektor nach Basel berufenen Pfarrers Gustav Hannich zum Pfarrer in Neckarelz ernannt. Am 16. Mai 1936 verheiratete ich mich mit Kläre Popp aus Ulm a. d. D. zuletzt in Heilbronn wohnhaft. Vier Kinder, die Söhne Martin, Peter und Klaus, und die Tochter Margret hat Gott uns geschenkt. Zum Heeresdienst wurde ich im Juni 1940 eingezogen und war zuletzt als Wachtmeister bei der Flak eingesetzt. Im Heimatkriegsgebiet in Italien, in Frankreich und im Jahre 1945 auch an der östlichen Front eingesetzt, geriet ich am 10. Mai 1945 durch tschechische Partisanen in russische Gefangenschaft, wurde im Herbst 1945 von den Polen übernommen und war bis November 1948 als Kriegsgefangener in Polen (Chelm und Warschau; Eisenbahnbau und Wie-

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deraufbau). Am 5. November 1948 kehrte ich heim. Am 30. September 1951 wurde ich zum Pfarrer der Johannispfarrei in Ettlingen gewählt und am 18. November 1951 in dieses Amt eingeführt. Nach 20-jähriger Tätigkeit in Ettlingen wurde ich auf 1. Oktober 1971 in den Ruhestand versetzt und wohne seitdem in Karlsruhe.

Bericht1 (…) Es ist ja für uns persönlich ungeheuer wichtig, dass wir den Segen nicht versäumen und nicht verlieren, den Gott in die Führungen unseres Lebens gelegt hat. Wie viele Männer haben sich um diesen Segen gebracht und sind nach all den schweren Erfahrungen, die ja doch Heimsuchungen und Heimholungen waren, wieder in den Schlendrian, in die Gleichgültigkeit zurückgefallen. Es gilt hier wirklich das Wort 5 Mose 4,9: »Hüte dich und bewahre deine Seele wohl, dass du nicht vergissest der Geschichten, die deine Augen gesehen haben und lass sie nicht aus deinem Herzen kommen all dein Leben lang.« Und es ist wichtig für unser Christenleben, dass auch das Schwere und Dunkle, die Bedrängnis und die Anfechtung in den Dienst gestellt wird, so wie es Paulus im 2. Korintherbrief ausdrückt: »Gott tröstet uns in Trübsal, damit wir trösten können, die da sind in mancherlei Trübsal… Haben wir Trübsal oder Trost, so geschieht es euch zugut.« Vielleicht dass sich auch an uns das, was von dem Gesetz des großen barmherzigen Hohepriesters erfüllt, von dem der Hebräerbrief spricht: »Worin er gelitten hat und versucht ist, kann er helfen denen, die versucht werden.« Ich möchte das, was ich als Einzelner in bescheidener Form erlebte, in drei große Zusammenhänge hineinstellen. Ich möchte zuerst davon sprechen, wie ich es an mir erfahren habe, als uns Gott in diesen Jahren in besonderer Weise an die Abgründe des Todes geworfen hat. Nicht nur das die Lebensbedrohung oft täglich, ja stündlich vor uns stand – das war ja in den letzten Kriegsjahren in der der Heimat auch der Fall. Das Besondere beim Soldaten draußen und nachher in der Gefangenschaft ist, glaube ich, doch dies gewesen, dass dieses Ausgeliefertsein an die Todesmacht sich, je länger desto mehr, in der Einsamkeit vollzog, fern der Familie, der Frau und den Kindern, fern der doch irgendwie schützenden Helfern der Gemeinde mit ihren tragenden Kräften, ohne den Schutz eines besonderen Standes oder Berufes und dann immer mehr ohne persönliche Freiheit im Heeresdienst und erst recht nicht nur als wehrloser, sondern auch völlig rechtloser Gefangener im Osten, gebro1 »Bericht« wurde von den Herausgebern als Titel für den maschinengeschriebenen Text gewählt, den der Nachlassverwalter Martin Grüber für die Drucklegung zur Verfügung gestellt hat.

Mein Lebenslauf

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chen und ausgemergelt an Leib und Seele, in einer feindseligen Umgebung gequält und in harter Zwangsarbeit ausgepresst wie eine Zitrone. Diese Einsamkeit der Begegnung mit dem Tode ist wohl die erschütterndste Bedrohung des Lebens gewesen. Ich denke daran, wie ich von Februar bis April 45 als VB2 an verschiedenen Stellen des Brückenkopfs eingesetzt war, zuerst auf dem Friedhof, unmittelbar neben dem Krematorium, dann in den Dächern noch stehengebliebener Häuser und zuletzt (…) an der Neisse, immer unmittelbar an der HKL3, immer dem Beschuss der russischen Pak4 und der Schlachtflieger, der Jl2, ausgesetzt, immer unter dem Eindruck vielfältigen Sterbens ringsum und der ständigen eigenen Lebensbedrohung. Kein Wunder, dass uns (…) die Angst mehr und mehr packte. Aber ich kann nun auch das andere nicht verschweigen, dass nämlich in dieser Lage sich das Wort aus dem 138. Psalm an mir erfüllte: »Wenn ich mitten in der Angst wandle, so erquickst du mich, dass mit einem Mal in unerhörter Weise der Blick frei wurde auf den, der gesagt hat: ›In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!‹«. Ich fand in einem zerschossenen Haus in der Nähe (…) ein Brandenburgisches Gesangbuch, und da blieb ich an einem Lied hängen, das ich vorher natürlich auch schon gekannt hatte, das ich aber jetzt in der Tiefe wirklich entdeckte, das Lied eines Mannes5, der eben in dieser Stadt Guben noch während und nach dem Dreißigjährigen Krieg Rechtsanwalt und Bürgermeister gewesen war, das Lied »Jesu meine Freude« mit den Versen, in denen er der Lebensmacht Jesu Christi begegnete, die dann stärker war als die Todesangst und die Angst besiegte: Unter deinen Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei. Lass von Ungewittern rings die Welt erzittern: mir steht Jesus bei. Obs mit Nacht gleich blitzt und kracht, ob gleich Sünd und Hölle schrecken, Jesus will mich decken. Satan mag mir nahen, mich der Tod umfahen: Trotz der Furcht dazu! Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh! Gottes Macht hat mich in acht; Erd und Abgrund muss sich scheuen, ob sie mich noch dräuen! (…) Wir waren als Arbeitskommando bei der Eisenbahn auf der Strecke eingesetzt, eine schwere und lange Arbeit bei einer elenden Verpflegung: 140 g Brot und einmal 1 l sehr dünne Suppe täglich. Wir wären buchstäblich verhungert, wenn uns einzelne Bauern nicht hin und wieder etwas Brot und Kartoffeln zugesteckt hätten. Dazu warn wir vom Ungeziefer schrecklich geplagt, viele waren krank, Medikamente gab es nicht. Das Schlimmste aber waren die nächtlichen Besuche der Schläger. Die polnische Gestapo kam oft nachts an, und dann wurden wir der 2 3 4 5

VB steht für Vorgeschobener Beobachter. HKL steht für Hauptkampflinie. Pak steht für Panzerabwehrkanone. Der Autor des Kirchenliedes ist Johann Franck.

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Reihe nach ohne jeden Grund unmenschlich geschlagen. Ich werde eine Nacht nicht vergessen. In dieser Nacht waren sämtliche Bibeln, Gesangs- und Gebetsbücher, auch die katholischen Bücher, eingesammelt und verbrannt worden, meine Bücher mit besonderer Sorgfalt, darunter meine alte Taschenbibel mit vielen Eintragungen und Ausarbeitungen. Ich war damals an einer schweren Phlegmone am Gesäß erkrankt, und in dieser Nacht bekam ich auf diese hochgeschwollene und entzündete Stelle Schläge mit der Stahlrute. Ich will das nun gar nicht besonders dramatisch und noch viel weniger heroisch darstellen. Ich will nur ganz schlicht sagen, dass das nun wirklich eine Situation der äußersten Hilflosigkeit war. Ich wurde dann doch ins Spital eingeliefert, operiert, nach einigen Tagen unter furchtbaren Umständen nach Warschau verlegt, wo ich dann 7 Wochen im Krankenrevier des Zentrallagers lag. Wenn ich an jene Zeit in Chelm zurückdenke, dann war das Schrecklichste an jedem Abend, wenn wir von der Arbeit zurückkamen, die Angst: Werden sie heute Nacht wiederkommen? Neben mir lag ein Metzger aus Schlesien, ein Hüne von Gestalt, ein Mann mit starken Nerven, aber wenn es abends dunkel wurde, lag er auf der Pritsche und zitterte. Die Angst, der Geist der in der äußersten Bedrängnis auf uns zukommenden Todesmacht, hatte uns gepackt. Und was war mein Trost in dieser Zeit? Ich hatte ja nicht einmal mehr eine Bibel. Über dem Fußende unserer Pritsche stand auf einem Balken ein einfaches Holzkreuz, das mir ein Kamerad für unsere Andachten zurechtgemacht hatte, ich habe das Kreuz zusammen mit zwei Holzleuchtern jetzt nach Hause gebracht. Ich muss sagen: der Blick auf dieses Kreuz und damit auf den, der am Kreuz für uns geschlagen, verlassen und unendlich angefochten war, dieser Blick hat mir durch diese schwere, dunkle Zeit hindurchgeholfen, sodass ich an den Abgründen der Todesmacht doch nicht verzweifelte und nun im Rückblick auf diese Zeit nicht nur mit dem 119. Psalm sagen darf: »Wo dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, wäre ich vergangen in meinem Elend«, sondern auch das andere: »Gott hat mich wachsen lassen in dem Lande meines Elends.« (1.Mose 41,52) Und dann das Zweite, was ich in diesen Jahren besonders klar und scharf gesehen und erlebt habe. Gott hat uns nicht nur an die Abgründe des Todes geworfen, sondern er hat uns auch an das D ä m o n i s c h e und S a t a n i s c h e dieser Welt preisgegeben. Es hat mir damals mancher gesagt, er habe früher nicht gewusst, was es bedeutet, dass die meisten neutestamentlichen Briefe in der Gefangenschaft geschrieben sind, dass überhaupt sehr viel in der Bibel von den Gefangenen die Rede ist. Offenbar haben wir in jener Zeit hinter Stacheldraht die Anfechtung in einer Tiefe kennengelernt, dass man mit dem Neuen Testament sagen muss: Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen… Ich denke zuerst an den unheimlichen Ring von Hass und Vergeltung, der sich da um uns legte, an diese Kette von immer neuen Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten, die nicht abreißen wollte, angefangen bei dem Hohn und der Grausamkeit der

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tschechischen Partisanen, die uns auf dem Marktplatz von Clumec gefangen nahmen, uns Spießruten laufen ließen, die uns zuriefen: Heil Hitler, ihr Sieger von Europa, nun singt doch: Deutschland, Deutschland über alles…, die uns in furchtbaren Eil- und Hungermärschen nach Norden führten, am Straßenrand standen tschechische Priester und lachten darüber, wie man uns nicht einmal einen Schluck Wasser gewährte. Ich denke an jene Todesmärsche, als wir später vom Russen den Polen übergeben wurden und die polnische Miliz uns von einem Lager zum andern trieb, wo alle, die nicht mitkamen, alle, die nachts austreten mussten, erschossen wurden, angeblich weil man uns für politisch Belastete hielt. Ich denke daran, wie wir während der ganzen Gefangenschaft maßlos belogen und betrogen wurden, nicht nur von den anderen, auch von den eigenen Kameraden. Ich denke daran, wie uns in Polen beim Eisenbahnbau ein Priester von der Kathedrale in Chelm höhnisch nur mit Heil Hitler grüßte und sagte, wenn’s nach ihm ginge, bekämen wir noch weniger zu essen. Ich werde es nie vergessen, wie wir bei jenen nächtlichen Besuchen der Schläger vor und nach diesen schrecklichen Szenen singen mussten; wie oft dachten wir da an die Klage der Gefangenen zu Babel im 137. Psalm, wo es heißt: »Dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein.« (..) ein Posten, der von Herzen freundlich zu uns war (…) den Bruder in uns sah. Ich will nicht vergessen, dass das Genfer Rote Kreuz in seiner Vertretung in Warschau sich unter ungeheuren Schwierigkeiten bemühte, uns die Lage etwas zu erleichtern, und dass (…) die Kriegsgefangenenhilfe des Weltkirchenrats versuchte, mit uns in Fühlung zu kommen. Aber das waren nur von außen her kleine Zeichen dafür, dass wir im Lager in Laaban6 eine große Gemeinde hatten, rund 2000 evangelische Männer, die regelmäßig zum Gottesdienst kamen. Ich denke besonders an jenen lebendigen Abend in Laaban, bevor wir zum Arbeitseinsatz kamen: da feierten wir im inneren Kreis das Abendmahl und einer meiner Amtsbrüder sprach über den 23. Psalm. Ich habe es nie mehr vergessen und in den dunkelsten Stunden hat es mich aufgerichtet: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, den du bist bei mir. Und als wir in Schlesien eingesetzt waren, da haben wir es erlebt zusammen mit den Deutschen, die damals noch dort wohnten, aber schon Furchtbares beim Russen und beim Polen durchgemacht hatten: dass man auch mit kahlgeschorenem Kopf und dem Zeichen des Deutschen auf Rücken und Ärmel, ausgeplündert und rechtlos vor Gott eine Ehre und eine Würde, einen Frieden und eine Freude haben kann, die keiner von uns nimmt, weil unsere Namen im Himmel geschrieben sind. Es gab bei uns keine geordnete Lagerseelsorge wie im Westen, wo es mit Unterstützung des Weltkirchenrats und des Christl. Jungmänner-Weltbundes ein ausgesprochenes Ge6 Unbekannt.

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meindeleben gab. Ich habe das oft bedauert, aber vielleicht ist es auch ein Segen, dass unsereiner genau so arbeiten musste wie die anderen und genauso Hunger hatte und genauso geschlagen wurde und dann noch in der spärlichen Freizeit in Gottesdienst und persönlicher Aussprache Gottes Wort verkündigte. Vielleicht war manches von dem, was man sagte, dadurch glaubhaftiger, weil es durch die gleiche Anfechtung hindurchgegangen war. Und immer so, dass man mit diesem Wort Gottes und mit dem Lied der Gemeinde allein blieb; ich habe immer einen Bruder gehabt, der sich mit mir fest verbunden und verantwortlich wusste. In Chelm war es ein junger Kuhhirt aus Siegerland, in Warschau ein Lehrer aus dem Rheinland. Und (…) dann wurden auf geheimen Wegen Briefe befördert, und es ist unbeschreiblich, wieviel Aufmunterung von solchen »Gefangenschaftsbriefen« ausgingen. Ich will nur einen kleinen von vielen hier anführen: »Warschau am 3.10.4[5] 7, lieber Otto, dieser Tage erfuhr ich, dass du jetzt auf der Rennbahn bist, [und da ich] die Möglichkeit habe, möchte ich Dir einen herzlichen Gruss senden. Als Du seinerzeit so schnell wegkamst, hat uns das doch recht bedrückt. Kurz danach kam ich auch mit einem großen Kommando weg zum Aufdecken von Massen[gräbern] bei Ostrov.8 So manches Mal habe ich dich im Lager bei der Arbeit vermisst, es war mit Dir nicht wie mit dem König Joram, der »hinging, ohne vermisst zu werden« (2. Chronika, 21,26). Es war mir das immer eine Erleichterung, wenn wir in kurzen Arbeitspausen uns das eine oder andere sagten. Ich möchte es Dir erbitten, dass Du dort in dem frohen Bewusstsein, zu seinem Volk und Eigentum gehören zu dürfen, ein Zeuge seist. (…) wollen wir es lernen, erhobenen Hauptes zu gehen, als (Menschen), die zielwärts schauen (Phil 3, 15). (…) mit herzlichem Verbundensein verbleibe ich, Dein Johannes.« – Die Gemeinde, die im Lager zusammenfand, war wirklich, wie man heute wieder sagt, ökumenisch, [es] waren die Katholiken genau so da wie die Kameraden aus einer Freikirche, [so] war es einfach erwiesen, dass es im Ernstfall nicht in erster Linie auf ein so oder anders geprägtes Christentum ankommt, sondern auf die Gegenwart Christi, der ja nicht zertrennt werden kann, und dass die Gemeinde (…) reicher, weiter und freier ist als jede geprägte Konfession. Diese Gemeinde reichte weiter als bis zum Stacheldraht. Wir wussten uns der Gemeinde in der Heimat verbunden. […] Und es war nun für mich ein besonderes Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, dass ich am letzten Abend der vorjährigen Kriegsgefangengebetswoche, als unsere Namen hier in der Heimatkirche verlesen wurden, überraschend aus meinem Lager zur Entlassung weggeholt wurde. (…) (…) wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn.« Und der Lehrtext lautete: »Glaubt ihr, dass ich euch solches tun kann?«

7 Jahreszahl von den Herausgebern geschätzt. 8 Unbekannt.

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Matth 9, 28.9 Und es war dann wirklich so wie damals, als die stolze Stadt Babylon überraschend fiel, obgleich sie von gewaltigen Mauern und Türmen umgeben war, und die Befreiten ihr Loblied sangen: »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden…«.10

Konfirmation von Martin Grüber durch seinen Vater Otto – mit Klaus Michael, Mutter Kläre, Margret und Peter, Neckarelz, 1951.

Es sollte in diesem kurzen schlichten Bericht nichts dargestellt werden, was auch nur von ferne an Helden oder Heilige erinnern könnte. Was war denn Trost und Halt in der Anfechtung? Ich habe es an mir und anderen gesehen: es bleibt nicht viel, wenn es wirklich ernst wird. Oft ist es nicht mehr als ein Seufzen: »ach Gott,

9 Mt 9,27–31: 27 Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrien: Du Sohn Davids, erbarme dich unser! 28 Als er aber ins Haus kam, traten die Blinden zu ihm. Und Jesus sprach zu ihnen: Glaubt ihr, dass ich das tun kann? Da sprachen sie zu ihm: Ja, Herr. 29 Da berührte er ihre Augen und sprach: Euch geschehe nach eurem Glauben! 30 Und ihre Augen wurden geöffnet. Und Jesus bedrohte sie und sprach: Seht zu, dass es niemand erfahre! 31 Aber sie gingen hinaus und verbreiteten die Kunde von ihm in diesem ganzen Lande. (Lutherbibel 2017) 10 Psalm 126: 1 Ein Wallfahrtslied. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. 2 Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Völkern: Der Herr hat Großes an ihnen getan! 3 Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. 4 Herr, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. 5 Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. 6 Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. (Lutherbibel 2017)

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verlass mich nicht, gib mir die Gnadenhände…«.11 Aber man muss wohl an die äußersten Grenzen der Hilflosigkeit gekommen sein, man muss wohl an die Abgründe des Todes und der höllischen Gewalt geführt worden sein, um es zu erfahren, wie Gott in Christus tröstet, in Seinem Wort, unter Seinem Kreuz, in Seiner Gemeinde; um es zu erfahren, was in 1. Mose 35 steht: »Gott, der mich erhört hat zur Zeit meiner Trübsal, ist mit mir gewesen auf dem Wege, den ich gezogen bin«, um dann auch fernerhin in dunklen und schweren Tagen – wie es in jenem Lied heißt, das mich in diesen Jahren treu begleitet hat – »zu wandeln als am lichten Tag damit was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End und bleiben von Dir ungetrennt!«12

11 Psalm 38, 22 : Verlass mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht ferne von mir! (Lutherbibel 2017) 12 Liedtext von All Morgen ist ganz frisch und neu: 1) All Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag. / 2) O Gott, du schöner Morgenstern, gib uns, was wir von dir begehrn: Zünd deine Lichter in uns an, laß uns an Gnad kein Mangel han. 3) Treib aus, o Licht, all Finsternis, behüt uns, Herr, vor Ärgernis, vor Blindheit und vor aller Schand / und reich uns Tag und Nacht dein Hand, 4) zu wandeln als am lichten Tag, damit, was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End / und bleiben von dir ungetrennt. (Im Evangelischen Gesangbuch (3. Auflage 2001, Nr. 440)

Otto Grüber

Weihnachten1

Dreimal habe ich die Weihnachten in polnischer Kriegsgefangenschaft erlebt. Und da mich Gottes Güte jetzt kurz vor der Weihnachtszeit heimgeführt hat, denke ich viel an meine Kameraden, die entgegen allen Versprechungen und Erwartungen auch diesmal wieder Weihnachten hinter Stacheldraht feiern müssen. Und wenn ich hier einige Weihnachtserinnerungen aus den vergangenen schweren Jahren berichten soll, dann spüre ich, wie schwer das aus mancherlei Gründen ist und wie das eigentlich nur Sinn haben kann, dass wir alle uns mahnen lassen, in herzlicher Fürbitte derer zu gedenken, die auch dieses Weihnachtsfest in weiter Ferne ohne ihre Lieben verbringen müssen, und dass wir heimgekehrten Männer uns aufs Neue rufen lassen zu Lob und Dank für Gottes große Liebe, die uns in jenen Jahren trotz allem nicht verlassen und uns, die wir oft von einem Tag zum anderen nicht wussten, ob wir ihn noch erleben würden, nun doch die Heimkehr gnädig geschenkt hat. Weihnachten 1945. Ich lag im polnischen Spital der niederschlesischen Kleinstadt Seidenberg, jetzt Zawidow. Da ich soweit wiederhergestellt war, konnte ich in der Stadtkirche einen Gottesdienst halten. Da war nun die Gemeinde, die zuerst bei den Russen und dann bei den Polen Schweres erlebt hatte und der das Schwerste noch bevorstand. Da waren meine Kameraden vom Arbeitskommando am Bahnhof; unter Bewachung waren sie zum Gottesdienst gekommen. Auch wir hatten schon manches hinter uns. Von den Tschechen gefangen genommen, dann den Russen übergeben, später von Polen übernommen, hatten wir schon den Hunger und den Hass kennengelernt. Und jetzt an Weihnachten packte uns das Heimweh übermächtig. – Aber nun waren wir in der Kirche. Ein deutscher Arzt spielte die Orgel, der Kirchenchor sang im Wechsel mit der ganzen Gemeinde die alten Weihnachtslieder und die Weihnachtsbotschaft erklang in unerhörter Wirklichkeitsnähe: »Es wird nicht dunkel bleiben 1 Der Titel »Weihnachten« wurde von den Herausgebern gewählt. Die Quelle dieses Textes konnte nicht eruiert werden. Wahrscheinlich erschien Otto Grübers Text im »Evangelischen Gemeindeblatt« in Neckarelz kurz vor Weihnachten 1948.

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Otto Grüber

über denen, die in Angst sind … Das Volk, das im Finstern wandelt, steht ein großes Licht und über die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell!« Es haben mir viele nachher gesagt, so hätten sie noch nie das Wunder der Weihnacht gespürt.

Häftlingszeichnung: Weihnachtswünsche für eine Neckarelzer Familie, Zeichner unbekannt.

Ein Jahr später. Wir sind schon lange tief in Polen. Nicht weit vom Bug. Die großartige Kathedrale von Chelm steht täglich vor unseren Augen, aber was sich bei uns immer wieder abspielt, steht in schreiendem Gegensatz zu allem, was Menschlichkeit und Christentum heißt. Wir werden vom Hunger geplagt, vom Ungeziefer gepeinigt, die Arbeit auf der Eisenbahnstrecke ist nicht leicht und am schlimmsten sind die nächtlichen Besuche der Schläger, vor denen auch den stärksten unter uns graut. – Aber auch hier wird es Weihnachten und am Heiligen Abend steht in unserer Baracke trotz allem ein Tannenbaum mit ein paar Lichtern und unser Chor singt vierstimmig: »Es ist ein Ros’ entsprungen…« und

Weihnachten

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»Nun singet und seid froh…«, zwei Kameraden sprechen besinnliche Verse und ich lese das Weihnachtsevangelium (…). (…) wie in die Einsamkeit unserer Gefangenschaft, in unsere Enttäuschung und Verzweiflung die Verkündigung der großen Freude kommt: Euch ist heute der Heiland geboren! Heiliger Abend 1947. Wir hausen in Pferdeställen der Warschauer Rennbahn. Schwer ist die Arbeit auf den Baustellen und unmenschlich lange die Arbeitszeit. Im Nachbarstall wohnen wie wir in den Pferdeboxen zweihundert internierte volksdeutsche Frauen und Mädchen. Kahlköpfig waren sie zu uns gekommen und auch sonst hatten sie viel erlitten. Jetzt mussten sie mit uns auf den Baustellen schwerste Männerarbeit verrichten. – (…) Wir merkten, dass der wohl dem Wunder der Weihnacht am nächsten steht, der im tiefsten Elend keinen Ausweg mehr sieht. Denn dort in der Weihnachtsgeschichte ist ja auch keine Spur von Sicherheit, nichts von Gemütlichkeit und Behaglichkeit. Da ist kein Raum in der Herberge, das ist der Stall und die Krippe, da ist Entbehrung und Armut, da ist (…) Feindschaft der Welt und die Verfolgung (…), schon über der Krippe steht der (…) Schatten des Kreuzes. Vielleicht muss man selbst an die äußersten Grenzen der Hilflosigkeit geführt worden sein, um zu erfahren, wie groß die Liebe Gottes in Christus ist (…), wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken (…).

Kläre Grüber

Erinnerungen der Mutter1

Otto hatte sich in der Bekennenden Kirche sehr engagiert und sich mit seinen Predigten so unbeliebt gemacht, dass man ihm Abhörer in den Gottesdienst gesetzt hat, die dann der Gestapo berichten mussten. Im »Deutschen Christ« war dann die Drohung zu lesen: »Lassen Sie den jungen Mann nur weiterhetzen.« Er wurde dann auch als erster Pfarrer im Bezirk eingezogen. Es folgten noch mehrere. Erst waren es harmlosere Plätze wie Wiener Neustadt bei der Flak. Zum Glück kam nie ein Flugzeug, das von ihnen abgeschossen werden sollte. Als es dann gen Osten ging, konnte ich ihn nochmal vorher in Darmstadt besuchen, wo ich zwei Tage in einem freundlichen Pfarrhaus aufgenommen wurde. Als er in Wien war, bekam er – nachdem er bei einer Übung den Arm gebrochen hatte – Kurzurlaub. Er konnte mit dem Fronturlauberzug Wien – Paris fahren, der bei Bedarf eine Minute in Neckarelz hielt. Auf dem Rückweg Paris – Wien – hielt er dann in der Nacht gegen zwei Uhr. Der Zug war überfüllt. Er sprang bei der nächsten Türe auf das Trittbrett, den Arm in Gips, in der gesunden Hand den Koffer und die Türklinke, die nicht aufging, und der Zug fuhr weiter in die Nacht hinein. Bald haben dann die an die Tür gedrängten Soldaten Platz gemacht und ihn hineingeholt, aber das habe ich nicht mehr gesehen. Am 4. Dezember 1944 um die Zeit des Abendessens gab’s Fliegeralarm. Da es sehr ernst aussah, ging ich mit den Kindern nicht in den Keller, sondern in den Bunker beim Gemeindehaus. Im Radio war zu hören, schwere Verbände seien im Anflug auf Süddeutschland, man konnte sie auch schon hören. Kurz darauf waren in Richtung Heilbronn schon »Christbäume« am Himmel zu sehen. 1 Der Titel wurde während der Herausgebertätigkeit für Kläre Grübers Lebenserinnerungen gewählt, er findet sich nicht in den Unterlagen, die Martin Grüber aus seinem Privatarchiv zur Verfügung gestellt hat. »Die Aufzeichnungen der Mutter umfassen ihre Kindheits- und Jugendjahre, die Jahre in Neckarelz und Ettlingen, spätere Reisen mit ihrem Mann und Freunden, nächtliche Träume usw. Sie hatte vor, ein Buch zu schreiben mit dem Titel Der getragene Esel (nach einer Geschichte von Johann Peter Hebel). Moral: man kann es nicht allen Leuten bzw. niemandem recht machen).« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 17. 3. 2018. Der Titel von Johann Peter Hebels Kalendergeschichte lautet »Seltsamer Spazierritt«.

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Brief des katholischen Pfarrers Walter Kuhn zur Geburt von Klaus Michael Grüber vom 12. Juni 1941.

(Markierungen für die Flugzeuge, wo sie ihre Bomben abwerfen sollten.) Als wir nach der Entwarnung aus dem Bunker kamen, war der Himmel im Süden rötlich hell erleuchtet, wir ahnten Schlimmes. Ich fürchtete für Heilbronn, sagte aber zu den Kindern nichts vor dem Schlafengehen. An solchen Abenden zog man sich nicht ganz aus, man wusste ja nicht, wann man 4 verschlafene Kinder schnell

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wieder anziehen und in den Bunker schaffen musste. Am nächsten Morgen war gar nichts zu erfahren, kein Telefon, kein Zug – nichts ging mehr, nur die Angst blieb. Vom Nachbar Frei wusste ich, dass er zwei Mal die Woche für eine Eisengießerei nach Heilbronn fahren musste. Den bat ich, doch in die Oststraße zu fahren und zu sehen, ob dort alles in Ordnung wäre. Er versprach es, aber sichtlich ungern. Da er am nächsten Tag nicht kam, um mir zu berichten, ging ich zu ihm. Die ausweichende Antwort – das Haus sei weg, über die Bewohner habe er nichts erfahren können, er habe niemanden auf den Trümmern gesehen. Das Telegramm, das Hilde mir geschickt hat, kam an Silvester in Mosbach und an Neujahr bei mir an. – Einige Tage nach dem Angriff kam dann endlich Hilde von irgendwelchen Fahrzeugen mitgenommen – bei uns an und erzählte noch sehr geschockt, sehr knapp, dass Mutter unter den Trümmern liege, Vater zu seiner Schwester nach Künzelsau gefahren sei und sie bei der Tante Gretel wohnen könne. Sie selbst war auch verschüttet und von den meisten aufgegeben worden, aber Herr I. habe sie noch rufen hören und erreicht, dass weitergegraben wird und so konnte sie noch gerettet werden, bevor das Kellergewölbe einstürzte. Nach fünftägigem Graben und Suchen mit Hilfe anderer Leute haben sie Mutter gefunden – wohl nur noch an den Kleidern zu erkennen. Hilde erbat sich in der naheliegenden Gärtnerei einen Handwagen, um damit den Rest Mutter auf den Friedhof zu fahren. Dort wollte man sie zurückschicken, das sei Leichenraub, die Leichen würden von der Stadt eingesammelt und würden gemeinsam begraben. Erst als sie sagte, sie würde sich nicht von der Stelle rühren, und was sie wohl tun würden, wenn es ihre Mutter wäre, durfte sie sie dalassen. Hilde hat nie wieder davon gesprochen. In den Keller oder in den Bunker ging sie nie bei uns, sie wolle nicht noch einmal begraben werden. Eine Woche später wurden Gretels beiden Eltern unter Trümmern in Bahlingen begraben. Seitdem sind die beiden zusammengeblieben, und Gretel ist uns eine zweite Schwester geworden. Da die allermeisten Zahnärzte eingezogen waren, war in eine Praxis ein KZZahnarzt in eine Praxis eingesetzt. Ein schmächtiger, sensibler, jüngerer Mann, der sehr gut und vorsichtig gearbeitet hat. Natürlich hätte man gerne gewusst, warum und durch wen er ins KZ kam; aber er durfte nicht mit den Patienten reden. Im Sprechzimmer und auch im Vorraum stand ein bewaffneter SS-Mann. Einmal hatten wir auch polnische Gefangene zur Gartenarbeit bekommen. Verköstigt haben wir sie im unteren Keller, der als Luftschutzkeller ausgemauert war. Ich weiß nicht mehr, wie sie die Dachschindeln entdeckt haben, jedenfalls bekamen sie glänzende Augen und baten, welche mitnehmen zu dürfen. Natürlich bekamen sie sie, es gab sehr viele davon. Zwei Tage später brachten sie den Kindern wunderschöne, große Vögel, die sie daraus gefertigt hatten und sogar

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bemalt – mit schönen, zarten Flügeln.2 Keine Ahnung, woher sie die Farbe genommen hatten und wie sie mit ihren verarbeiteten Fingern diese Kunstwerke zuwege gebracht haben, die leider auch ziemlich zerbrechlich waren. Jedenfalls haben sie damit viel Freude gemacht. Das war um dieselbe Zeit, als manchmal ein Bauer mit einem Stück Brot oder Otto selber mit einer von einem Acker gestohlenen Rübe sich vor dem Verhungern bewahrt hat.3 Zur selben Zeit stand einmal ein Sack mit ½ Zentner Kartoffeln in unserem Hof. Ich lief dem Mann, der ihn abgestellt hatte, nach und sagte, das müsse ein Irrtum sein. Nein. Frau Sch. vom Hof habe gesagt, er solle ihn hierherbringen, aber ich kannte diese Frau ja gar nicht. Ich hatte der Frau Bell in Mosbach mal ein Tütchen Rosinen gegeben für ihre Bekannte, die als Hofbesitzer nie eine solche Zuteilung bekamen. Da kamen also die Kartoffeln her, die wir so sehr nötig brauchen konnten. Später stellte sich noch heraus, dass diese Frau eine verwandte Baronsfamilie hatte, deren Gut nahe bei dem Lager war, in dem Otto zu der Zeit mit eben diesem Baron zusammen war, dem Gutsangehörige mal heimlich etwas Essbares ins Lager schmuggeln konnten, das er dann immer mit Otto teilte. Und da reden Leute von Zufällen. – Eine Freundin hatte ich noch in Neckarelz. Frau Reinhard aus Obrigheim, die Zigeunerin. Eine schöne Frau mit langen, schwarzen Haaren, bunten Blusen und langen, weiten Röcken, von denen hat sie sicher einige übereinander getragen, ein einzelner konnte unmöglich so unvergleichlich schwingen. Obwohl wir selber nicht viel hatten, konnte ich ihr nicht böse sein, wenn sie mit herzergreifenden und sicher übertriebenen Worten von ihrer Not sprach und mich anbettelte. Acht Kinder soll sie haben – eine Auswahl hat sie meistens mitgebracht und auch hochschwanger war sie noch hübsch und hat mit ihren schwingenden Röcken und klimpernden Ohrgehängen kokettiert. Wenn dann wieder ein Kind da war, kam der Mann und versicherte mir gestenreich, dass gleich alle seine Lieben verhungern würden, wenn er nicht mit etwas Butter und ein paar Eiern heimkäme. (Unsere Hühner waren zu hören und zu sehen). – Und wenn ich ein Kind bekommen hatte, kam sie, um meinen Umstandsgürtel für ihre nächste Schwangerschaft zu holen. Und eines Tages im Jahr 1944 waren sie alle verschwunden. »Als Hitler die Zigeunerfamilie stahl.« Wenn die Ems mit ihrem langen, rot-weiß getupften Morgenmantel abends zum Übernachten kam, musste ich die beiden unwillkürlich miteinander vergleichen.

2 Handschriftliche Ergänzung von Martin Grüber am Rand der Seite: »Jedes Kind, auch Klaus, bekam eines dieser filigranen Kunstwerke.« 3 Handschriftliche Ergänzung von Kläre Grüber am Rand der Seite: »in Polen«.

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SS Wir mussten oft Einquartierung aufnehmen – zwangsweise. – Einer davon war von den Bauleuten in der Hohl, ein netter, biederer Schwabe und Familienvater, der kein Hehl aus der – seiner – Einschätzung der Herrenmenschen, die da unten das Sagen hatte, machte. Er half auch, im unteren Keller ein Notenbett zu bauen, auf dem sechs oder sieben Leute Platz hatten, wenn’s gefährlich am Himmel aussah. Nach ihm kam ein ganz unverschämter, eingebildeter SS-Mann, der in der Hohl befehligte. Sie haben da unten Brücken gebaut, so kam er immer mit drecküberzogenen Stiefeln an und hatte die Frechheit, diese vor die Türe zu stellen und mich anschrie, wenn sie ungeputzt da stehen blieben. Worauf ich ihn fragte, wer meinem Mann an der Front die Stiefel putzen würde, außerdem hätte ich nicht um diese Einquartierung gebeten. Der einzige Installateur, den es in Neckarelz gab, war der Herr Wocheslander, der viel verstand und auf den sie angewiesen waren, obwohl er Kommunist war. Der hatte sie gewarnt, so nahe an den Neckar zu bauen im Blick auf zu erwartendes Hochwasser. Unser Großmaul erwiderte: »Was können uns die paar Eimerchen Wasser schon antun?« Nun – die paar Eimerchen Wasser kamen mit Wucht und Getöse und nahmen die Baracken samt Geräten mit neckarabwärts – .

Erinnerung von Tantens Die Margret durfte sich nicht mucksen, sie haben sie immer an ihren schönen Locken herumgezogen. Bei Peter war meistens Funkstille, Martin hat mit Donnerstimme den Ton angegeben. Klaus kommt zur Kirchentür herein (im Krieg) mitten im Gottesdienst, schaut sich nach seiner Mutter um und sagt ganz verzweifelt: »Mutter, ich hab’ soooo Hunger.« Aufmachung: Das Wunderschälche von der Gretel beige-rot kariert um den Hals, einen Strumpf hochgezogen, der andere nach unten gerutscht. 1. Schultag: Nach einer Stunde sagt Klaus zum Lehrer: »I hab genug, i geh jetzt.« Lehrer fragt jeden Schüler: »Wieviel Paar Schuhe hast du?«, darauf Klaus spontan: »Ein Paar.« Lehrer: »Das glaube ich dir nicht.« Darauf Klaus aufgebracht zum Lehrer: »Sie haben keine Ahnung, Pfarrersleut sind arme Leut!« Wollten wir im Krieg Klaus etwas schenken, dann sagte er: »Braucht ihr nicht, ihr seid ausgebombt, ihr habt selber nix.« Als wir einmal zehn Tage weg waren, haben Hilde und Gretel in unserem Schlafzimmer geschlafen. Klaus konnte es nicht erwarten, bis er morgens um sieben zu Gretel ins Bett schlüpfen konnte. Hilde sagte, dabei sei er immer an ihr vorbei gekurvt in Gretels Bett. Eines Tages hat sie ihn gefragt, wieso er nicht auch einmal zu ihr ins Bett komme. Antwort: »Du bist so hart.« Sie wog damals 87

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Kläre Grüber mit ihren Kindern Martin, Klaus Michael, Margret und Peter im Pfarrgarten, Neckarelz um 1945.

Pfund. Nach dem Angriff. Gretel dagegen war mollig. Hilde meint, meine Knochen waren ihm zu hart. » – Nicht nach seinem Geschmack. – » Gretel fuhr einmal in Heilbronn mit Klaus mit der Straßenbahn an der Firma Knorr vorbei. Klaus fragte laut: Werden da die Erbswürstle gemacht? Die Leute lachten über seinen Dialekt. – Wenn man Klaus fragte, was er einmal werden wolle, sagte er: Bauer oder Lokomotivführer. Peter war der ruhigste und bravste. Die andern nannten ihn »Heilbronner Büble«. Als Tantens die zehn Tage bei uns waren, hatte ich ihnen eine Dose Hildabrötle4 gebacken. Und an Weihnachten hatte ich auch einen Teller gutes Gebäck bereitgestellt, da stellte Klaus lautstark fest: »Ihr kriegt immer die gute Brötle und mir kriege nur die Ausstecherle.« Abends hatten die drei Buben meist in Martins 4 »Hildabröte sind,« so Martin Grüber, »ein (Weihnachts-)gebäck, bestehend aus zwei runden ausgestochenen Plätzchen, die mit einer roten Marmelade aufeinandergeklebt sind. Im oberen Plätzchen ist ein Loch, durch das die Marmelade sichtbar ist. In Österreich: Linzer Plätzchen.« E-Mail vom 17. 3. 2018 an Klaus Dermutz.

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Bett getobt, Margret durfte nicht mit dazu, Klaus schrie sie an: »Du bisch die frechste vom ganze Unterdorf«5, Margret hatte es nicht leicht. Martin gab als Ältester den Ton an. Wenn Hilde ankam, habe sich Klaus neben sie gestellt und gefragt, was sie im Köfferle habe. Wenn er’s dann gesehen habe, sei er verschwunden und stundenlang nicht wieder heimgekommen.

1945–1946 Klaus kommt im Schlafanzug die Treppe herunter: Hast du noch eine Kartoffel? Grad ne kalte Kartoffel? Es war keine da. Frau Hinterleitner6 ist empört und geht am nächsten Tag hamstern – mit kleinem Erfolg. Ottos Heimkehr, am 5. November 1948 vormittags gegen 11 UHR Ottos Anruf vom Bahnhof: ICH BIN HIER: Ich reiße bei Hammels7 (FLÜCHTLINGE AUS Ungarn) die Tür auf und rufe: »MEIN MANN IST DA; ICH LAUFE ZUM BAHNHOF.« ER RUFT MIR NACH: »IST DAS WAHR?« Vor dem Haus treffe ich Lotte Schwab, rufe dasselbe, sie sagt: »Darf ich mit?« Natürlich – wir laufen beide. Als wir am Metzger vorbeirennen, stürzt Frau Schultheiss heraus, ruft: »Der Mann kann doch den weiten Weg nicht laufen, ich fahre schnell.« Setzt sich im weißen Schürzchen ins Auto und fährt hinter uns her. Inzwischen hat Pfarrer Hammel schon die Kirchenglocken läuten lassen und in der Schule angerufen. Nicht nur unsere, sondern alle evangelischen Kinder bekamen frei und rannten zum Pfarrhaus. Als wir mit Otto ankamen, war der Hof voller Kinder und Gemeindemitglieder. Frauen mit Sträußen, sie hatten schnell die letzten Blumen aus ihrem Garten geholt. Alle Kinder wollten ihm Händchen geben, seine waren auch dabei, er hat sie im Durcheinander nicht gleich erkannt. Das kam erst, nachdem hinter uns die Haustüre wieder zu war.

5 Martin Grüber erläutert die Dorfstruktur von Neckarelz folgendermaßen: »Das Dorf hatte, jedenfalls in unserem Verständnis zwei Teile. Den älteren, zum Neckar gelegenen Teil, nannte man Unterdorf. Dort wohnten früher hauptsächlich Fischer und Schiffersleute. In unserer Kindheit waren aus denen vorwiegend Arbeiter geworden, die (bzw. deren Frauen) eine kümmerliche Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben. Die Männer arbeiteten meistens bei der Bahn oder in einer Gießerei. Im Oberdorf (Richtung Mosbach gelegen) wohnten mehr Handwerker, Angestellte, Beamte, Geschäftsleute. Als Buben fühlten wir Unterdörfler uns als etwas Besseres. Es gab ständig Streit mit den Buben aus dem Oberdorf, der oft auch mit Steinwürfen, Schleudern (Zwillen) usw. ausgetragen wurde. Klaus hat sich, obwohl er in seiner Altersgruppe zu den Stärksten gehörte, nach meiner Erinnerung an diesen Händeln nicht beteiligt.« E-Mail an Klaus Dermutz vom 17. 3. 2018. 6 »Ungarnflüchtlinge aus Budapest, die bei uns einquartiert waren: Ein älteres Ehepaar mit zwei erwachsenen Söhnen.« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 28. 10. 2020. 7 »Ungarnflüchtlinge aus dem Banat, die bei uns einquartiert waren. Evangelischer Pfarrer mit Familie.« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 28. 10. 2020.

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Nach einigen Tagen fragt Klaus, wann der Vater mit dem Essenkännle in die Gießerei gehe. So war’s bei seinen Freunden. Peter hat lange Zeit mit und für die Tante Kätsche die Elfuhrglocke geläutet und von der Kätsche dafür oft ein Butterbrot bekommen. Durch das Rüstungswerk über dem Neckar drüben, hatten wir oft Fliegerangriffe, am Morgen danach haben die Buben dann die Bombensplitter, die ums Haus und im Garten lagen, eingesammelt und in einer Kiste in der Garage aufbewahrt. Martin war während eines Angriffs mal mit dem Grimms Hänsle am Neckar, als die Bomben8 fielen. Als er endlich heil zu uns in den Keller kam, fragte ich ihn, ob sie nicht große Angst gehabt hätten.9 Er sagte, sie hätten sich in die Brennesseln geworfen und der Hänsle habe gesagt: »Martin, awell sin mr hie.«10

Januar 1994

Waldspaziergang zum 85. Geburtstag von Kläre Grüber, Klaus Michael Grüber und Partnerin Marie Collin, April 1998. 8 Handschriftliche Hinzufügung von Martin Grüber am Rand der Seite im Brief vom 27. 2. 2018: »Auf dem Weg hinter unserem Grasgarten.« 9 Handschriftliche Hinzufügung von Martin Grüber am Rand der Seite im Brief vom 27. 2. 2018: »Tieffliegerangriff mit Bordkanone. Die Geschosse schlugen ca. 2 m neben uns ein. Entweder der Bordschütze hat schlecht gezielt oder im letzten Augenblick gesehen, dass es sich um Kinder handelt.« 10 Übertragung ins Hochdeutsche durch Martin Grüber: Jetzt sind wir tot!

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Ursula ist mit der kleinen Jeanne wieder in Paris. Hilde H. sagt, sie müsse schon wieder arbeiten und habe niemanden für das Kind. Und das in Paris und so weit weg von helfender Großmutter. Deshalb sind die Reutlinger wieder nach Paris gefahren, um zu helfen. Sie wohnen im Hotel, auch nicht ganz einfach und teuer dazu. Die ganze Sippe ist voller Mitgefühl. Sicher konnte Ursula auch nicht vorher ermessen, was auf sie zukommen würde. Aber irgendwie wird sie es schon schaffen. Als sich bei uns damals Klaus angemeldet hatte, meinte die Familie auch, das hätte nicht mehr sein müssen. – Und was wäre das für ein Verlust gewesen! –

Vergleichende Situation im Kriegswinter: 1944–45 Vier kleine Kinder, viel Hunger, viel Kälte, auch im Haus. Die feuchten Wände haben vom gefrorenen Beschlag geglitzert. Kleidung war kaum aufzutreiben. Von alten, aufgezogenen Stricksachen hat man neue gestrickt und aus alten Kleidungsstücken neue genäht. Technische Hilfsmittel gab es nicht. Aus keinem Wasserhahn floss heißes Wasser, das musste erst auf dem Herdfeuer bereitet werden. In diesem superkalten Winter, es ging bis minus 20°, ging ich einmal nach Mosbach zum Landratsamt (dort war’s wunderbar warm), um für eine zusätzliche Ration Kohlen zu bitten. Nach langem Kampf wurde mir ein halber Zentner Briketts bewilligt. Dieser wurde an einem der kältesten Tage im Hof der Deetkenmühle in Mosbach ausgegeben. Da fuhr ich also mit dem Leiterwagen hin und musste lange in der Schlange stehen, bis ich endlich drankam. Die steifen Knochen ließen sich auf der Heimfahrt nur langsam bewegen, und ich dachte, meine Knie würden nie wieder warm werden. Meine Mutter hat aus alten Hosen meines Vaters für die Buben Hosen genäht und einmal hat sie mit ihren eigenen Kleiderpunkten sogar Lederhosen für die Buben aufgetrieben, die uns über Jahre sehr nützlich waren. Sie waren unverwüstlich und erst richtig schön, wenn sie alt und speckig waren. In Abständen gab’s Bezugsscheine für Schuhe, aber nur selten auch welche zu kaufen. So kam es, dass dem Klaus zwar die Füße, nicht aber die Schuhe gewachsen waren, so mussten wir halt die Kappen an den Schuhen wegschneiden, damit die Zehen Platz hatten. Gewaschen wurde natürlich alles von Hand. Die kleine Windelwäsche wurde auf dem Küchenherd gekocht und die große im großen Waschkessel. Da die Waschmittel sehr knapp und sehr schlecht waren, hatte man meistens aufgewaschene Fingernägel. Jede Nähnadel war eine Kostbarkeit, und es hat sich als sehr gut und nützlich erwiesen, dass ich in der Frauenarbeitsschule in Hall11 so gut nähen und flicken gelernt habe. Der Garten war groß und schön und auch ein bisschen wild, aber er machte nicht nur sehr 11 Gemeint ist Schwäbisch Hall.

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viel Arbeit, sondern er war zu unserer Ernährung und als Kinderfrau nützlich. Denn ich war ja (…) alleinerziehende Mutter – wie das heute heißt. Spätabends, wenn es ruhig im Haus war, kamen die Kirchenbücher dran für die arischen Nachweise, die jeder bis zu den Urgroßeltern vorlegen musste. Es durfte ja kein jüdisches Blut in den Adern fließen, sonst waren die Leute nicht nur ihre Stellung los und mussten mit bösen Schikanen rechnen und um Leib und Leben fürchten. In Neckarelz gab es keine Juden, deshalb auch keine Schwierigkeiten, aber in Binau waren ein paar jüdische Bauern, denen haben sie in der »Kristallnacht« die »jüdischen« Hühner erschossen. Als die ersten Gefallenenmeldungen – vom Ortsgruppenleiter überbracht – ins Dorf kamen, wurden manche Leute doch etwas stille, aber in vielen Todesanzeigen stand »in stolzer Trauer«. Manche der jungen Witwen habe ich besucht, sie waren ja meist ungefähr gleichaltrig und hatten auch Kinder. Die arischen Nachweise haben viel Zeit und Kraft gekostet. Die schönen, zum Teil sehr alten Kirchenbücher hatten ja weder ein Register noch waren sie alphabetisch geordnet. Und die ganz besonders eifrigen Nazis wollten natürlich ihre Vorfahren wissen, soweit die Kirchenbücher reichten, und das war bis (ungefähr) 1523. Es gab da nette Bestellungen: Bitte schicken Sie mir sämtliche Unterlagen meiner Großmutter, oder: Verfolgen Sie meinen Großvater, soweit es geht.

Kohlen Es war wohl der Winter 45–46, der so erbarmungslos kalt war. Wir hatten uns in dem kleinen, mittleren Zimmer oben neben dem Kinderschlafzimmer eingerichtet und sogar den Küchenherd nach oben geschafft, weil wir höchstens noch diesen heizen konnten. In den Schlafzimmern glitzerte das Eis an den Wänden, und die Kinder hatten Ohrenweh. Da nahm ich allen Mut zusammen und trabte bei eisiger Kälte nach Mosbach aufs Landratsamt (besetzt von lauter Nazis, bei denen die Pfarrhäuser nicht hoch im Kurs standen) und kämpfte um einen zusätzlichen Bezugsschein für Kohlen. Nach langem, deprimierenden Gehandel genehmigten sie mir ½ Zentner Briketts. In den Büroräumen war es so sehr warm, dass sie die Fenster aufgemacht haben. Da bin ich dann mit – für fünf Pfennig Augenwasser12 gegangen und bin, bevor ich wieder heimging, in den nahen Park gelaufen und hab’ erst mal vor Wut und Trauer geheult. Zwei Tage später konnte ich dann abends mit dem Handwagen nach Mosbach ziehen, so im Hof der Deetkenmühle die Kohlenausgabe war. Auf dem Rückweg war’s so 12 Martin Grüber erläutert diesen Begriff in einer E-Mail an Klaus Dermutz vom 17. 3. 2018: »Das soll wohl heißen, dass sie versucht hat, die Tränen zu unterdrücken, damit aber nicht ganz erfolgreich war. Augenwasser = Tränen. (Für 5 Pfennig Augenwasser – das ist sehr wenig).«

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furchtbar kalt – man sprach von -20°, dass ich dachte, meine Knie würde nie mehr auftauen.

Clo Unser Clo – (WC wäre zu fein dafür) – befand sich auf halber Höhe, so an der Außenwand. Der Wasserkrug musste oftmals am Tage nachgefüllt werden. Und – was nicht erstaunlich ist – es fror natürlich ein, und wie! Zum Glück war im Erdgeschoss noch dasselbe. Das konnten wir benützen, aber wie! Da von oben die Rohre geplatzt waren, tropfte es bräunlich durch die Decke, so dass wir unsere Sitzungen unter einem Schirm hinter uns bringen mussten. – (Wäre was für Spitzweg gewesen!) – Als ich es den Kollegen aus Eichholzheim erzählte, meinten die: Das ist noch gar nichts, wir gehen seit einer Woche in den Wald. –

Anfang 1945! Tiefflieger beschossen – wie schon oft – einen Zug nach Neckarelz. Zu mir kam eine Frau Mildner von Mannheim; nach Schwäbisch Hall evakuiert mit ihrem kleinen Textilbetrieb mit einer reizenden, jungen Estin. Sie war total verzweifelt, und es dauerte eine Weile, bis sie imstande war zu erzählen. Wir waren nach dem Angriff gerade aus dem Bunker gekommen. Lena, die junge Estin, hat bei Mildners gearbeitet und war mit der gleichaltrigen Mildnertochter befreundet. Die Eheleute M. waren sehr zerstritten. Herr M. hatte sich eine sehr junge Freundin aus dem Betrieb zugelegt. An diesem Tag wollte Frau M. mit den beiden Mädchen – etwa 19-jährig – nach Mannheim fahren, um noch einige Sachen zu holen. Herr M. hat in seiner Wut seiner Frau nachgerufen, er wolle sie gar nicht mehr sehen. Die Tochter hat gefragt: »Und mich?« – »Dich auch nicht«, war die Antwort. Kurz vor Neckarelz wurde dann der Zug beschossen, und die Tochter so schwer getroffen, dass sie gleich tot war. Ein Stück Schädeldecke mit schönen, langen, braunen Haaren zog Frau M. aus der Handtasche13. – Mir fiel die Aufgabe zu, den rabiaten Herrn M. zu beschwichtigen. Erst kam lange nichts von ihm, er konnte und wollte nicht verstehen, was geschehen war. Er rief noch mehrmals an. 13 »Bei dem einen Ereignis, als die vor Verzweiflung laut schreiende Mutter auf dem Sofa in unserem Esszimmer saß und aus der Handtasche ein Stück Kopfhaut mit Haaren ihrer Tochter herauszog, war ich selbst dabei, Klaus wohl nicht. Der durch Tiefflieger beschossene Zug war beim Neckarelzer Bahnhof stecken geblieben. An den anderen Vorgang, toter Säugling im Pappkarton, kann ich mich nicht erinnern. Unsere Mutter wollte solche Erlebnisse uns ersparen, so gut es eben ging.« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 17. 3. 2018.

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Am Tag vor der Beerdigung kam er dann an, um noch einige Dinge zu regeln. Da unser Haus schon mit etlichen anderen Kriegsversprengten besetzt war, musste er im selben Zimmer wie seine Frau schlafen, aber sie hätten kein Wort miteinander gesprochen in dieser Nacht. An der Beerdigung nahm er stumm und steif teil und reiste dann gleich wieder ab. Die beiden Frauen blieben noch einige Tage bei uns. Dieses reizende Mädchen Lena half mir gerne in der Küche und fragte schüchtern, ob ich sie nicht behalten könne. Leider gab es dafür keine Möglichkeit. Da dies die letzten Tage vor Kriegsende waren, war die Wehrmacht schon in Auflösung begriffen und viele Soldaten hatten sich in Richtung Süden abgesetzt. So kam eines Morgens eine Gruppe junger, erschöpfter, zerzauster Soldaten ins Pfarrhaus. Das Wetter war lau und schön, und der alte Birnbaum im Kirschgarten blühte. Dahin habe ich sie geschickt, weil der Garten oberhalb der Straße liegt und von unten nicht einzusehen ist. Als ich kurz darauf aus dem Studierzimmerfenster hinübersah, lagen sie zusammengerollt auf der Wiese und waren wohl schon eingeschlafen. Nun ging ich mit Lena ans Werk. Nachbarn – sonst ziemlich geizig – hatten von dem Unglück der Familie M. gehört und haben mir von ihrem – wahrscheinlich schwarz geschlachtetem Schwein – jetzt war sowieso alles egal – ein schönes Stück Kesselfleisch gebracht. Wir kochten in zwei großen Töpfen ein herrliches Linsengericht und um die Mittagszeit schickte ich Lena damit hinüber in den Kirchgarten. Die Begeisterung der schlaftrunkenen Kerle war unbeschreiblich. Einer meinte, jetzt glaube er wieder an Engel! Er mache die Augen auf nach all der Sch…, er sieht einen Kirchturm, einen Blütenbaum und neben sich ein bildschönes Mädchen mit einer herrlichen Mahlzeit. Als die Amerikaner näher kamen, klingelten eines Abend zwei Frauen an der Haustüre. Beide sehr gut aussehend, die eine so etwa um die 50, die andere jung, hübsch und sehr gut gekleidet. Die Junge hatte einen Pappkarton unter dem Arm. Beide machten einen verstörten Eindruck und saßen mir aufgeregt und verängstigt gegenüber. Dann erzählte die Ältere, sie seien von einem Lastwagen voller Soldaten von Darmstadt mitgenommen worden. Die Jüngere sagte, sie habe im Radio gehört, die Amerikaner würden die jungen Frauen vergewaltigen, sie habe schreckliche Angst und wolle zu ihren Eltern nach Stuttgart. Ihren Säugling hatte sie bei sich, aber das Kind war unterwegs auf dem Lastwagen gestorben. Und jetzt sei es hier in dem Pappkarton. Erstmal behielt ich nach einem kaum angerührten Abendessen die Frauen über Nacht. Am nächsten Morgen konnten wir erreichen, dass das Kind erst mal in Neckarelz beerdigt wurde. Nach Kriegsende wurde das Kind dann nach Stuttgart umgebettet, die Frau Piper hat mich später noch einmal besucht. Ich mochte sie sehr gerne. Vor den Kindern mussten diese schrecklichen Dinge möglichst geheim gehalten werden. Sie waren es gewohnt, dass in dieser Zeit viele fremde Menschen aus und ein gingen.

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Kurz vor Kriegsende 1945 Ein Rittmeister wurde bei uns einquartiert. (Das ging schon lange zwangsweise.) Ein sehr gebildeter und freundlicher Mann. Er war verwitwet und sorgte sich sehr um seine alte Mutter im Rheinland, man wusste nie, wieweit die Amerikaner schon waren. Einmal kam er blass und verstört aus seinem Zimmer, er hatte kurz vorher von einem Kurier Post bekommen. Er schüttelte den Kopf, er dürfe nichts sagen, und ich dürfe nichts wissen. Dann fügte er noch hinzu, auf seinem Tisch liege ein Brief. Ich solle hineingehen und ihn »zufällig« sehen. Der Brief war der Befehl, mit seinen Leuten die umliegenden Wälder zu durchkämmen, um Deserteure aufzustöbern. Diese seien dann unverzüglich an belebten Straßen und Plätzen zu erhängen. An der Straße nach Mosbach hingen bereits drei Soldaten an den Kastanienbäumen. – Als er mein erschrockenes Gesicht sah, meinte er: ich finde bestimmt keinen, diesen Wahnsinn kann man nicht von mir verlangen. – Nach ihm kam ein junger Leutnant aus Königsberg. Ein munterer Mann voller Hoffnung auf das baldige Ende. Er war gerade mit seinem Studium als Brückenbauer fertig und wurde gleich eingezogen mit dem Befehl, bis Heilbronn alle Brücken zu sprengen. Er war verlobt und wollte gleich nach Kriegsende heiraten und seine Hochzeitsreise in den Schwarzwald machen. Ob sie dann beide bei uns vorbeikommen dürften. – Am Karfreitag musste er weiter mit diesem Auftrag und in Heilbronn sollte er weitere Befehle abwarten. Die Amerikaner waren schon so nahe, dass eine gesprengte Brücke nur eine ganz kleine Verzögerung bedeuten würde. Beim Abschied fragte er, ob er am Ostersonntag kommen dürfe, um uns beim Hasenbratenessen behilflich zu sein. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Otto war 8 ½ Jahre in Krieg und Gefangenschaft. Also war ich 8 ½ Jahre lang »alleinerziehende Mutter« von vier kleinen Kindern, großes Haus, großer Garten, Pfarramt. Essen war sehr knapp, Kleidung war sehr knapp, aber ab und zu geschah ein kleines Wunder: Einmal hatte meine Schwester einen alten, dicken Vorhang von jemandem bekommen und mir gebracht. Vor Kriegsende war ein Mensch ins Dorf geschneit, der mit Nachbarn weitläufig verwandt war und von Beruf Schneider. Der hat daraus für alle drei Buben Plunderhosen genäht und dabei die abenteuerlichsten und spannendsten Geschichten erzählt aus der Fremdenlegion. Demnach war er alles, aber nicht Soldat in Deutschland. Ob alles stimmte darf bezweifelt werden, spannend war’s auf jeden Fall. Als die Amis im Exerzitienhaus eingezogen waren, hat er bei denen gearbeitet und ist nicht schlecht dabei gefahren. Zigaretten und Kaugummi hatte er immer und auch sonst noch einiges, was von der Herren Tische fiel. Unsere hintere Haustüre (Küche-Waschküche-Garten) war im Sommer immer offen. Wer’s wusste, konnte über Grasgarten-Hausgarten leicht herein.

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Eines Nachmittags war ich Fräulein Schwarz etwas besorgen. Als wir zurückkamen, stand in der Küche eine große Schüssel voll mit Hühnermägen. Fräulein Schwarz war begeistert und bot sich an, morgen zu kommen, das ganze Zeug durch den Fleischwolf zu drehen und für uns alle Fleischküchlein daraus zu zaubern. Der Schneider hatte die Mägen, anstatt sie zum Abfall zu werfen, – (Die Amis essen die Innereien nicht) – zu unsrer hungrigen Familie gebracht. Übriges: Die Bubenhosen waren senfgelb und warm und in jenem kalten Winter die einzigen und wurden am Samstagabend gewaschen, über Nacht am Ofen getrocknet und am Sonntag wieder frisch angezogen. Die Buben sahen darin aus wie Teddybären. Frl. Schwarz, die Kinder sagten Tante Hanne, wir alle mochten sie sehr gerne, hat uns auch oft geholfen (bei Wochenbett), bei Taufen und auch mal beim Nähen und Flicken. Wir waren auch von Ettlingen aus noch mit ihr verbunden, sie war bis zu ihrem Tod eine ganz treue Seele. Die Gärten waren nicht nur mit viel Arbeit verbunden, sondern auch eine große Hilfe. Der Grasgarten hat uns herrliche Frühpflaumer und viele Äpfel beschert und im Hausgarten haben die Haselnusssträucher den mageren Fettbedarf aufgebessert.

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Entwurf für eine Dankesrede1

Monsieur l’ Ambassadeur Madame Cher amis Excusez-moi d’abord de m’adresser à vous, par voix interposée (mais c’est quand même la voix unique de Jeanne Moreau, merci), pour remercier la France de l’honneur qu’elle me fait aujourd’hui. Cela fait 35 ans que je vis en France, entre Paris et la Bretagne, et la France m’a accueilli avec beaucoup de générosité et de bienveillance. C’est vrai pour ce qui est de mon travail et je suis content d’avoir réalisé mon premier Faust en France, comme mon premier Labiche en Allemagne et plusieurs autres go-between mélangeant culture allemande et culture française. Mais c’est aussi vrai dans la vie de tous les jours avec des amitiés précieuses qui se sont construites, des liens profonds qui m’ont marqué et me marqueront pour toujours. Et c’est dans un contexte très banal et terriblement complexe que cette bienveillance a quelque chose de miraculeux : sur mon très petit trajet chaque matin pour aller au kiosque à journaux et à la boulangerie, je passe devant plusieurs plaques qui dans les rues de Paris, depuis l’Occupation, indiquent qu’un résistant a été abattu : « Ici tomba héroïquement … » – « En mémoire de nos fils fusillés par les Nazis … » – « Ici est tombé … » – « Ici a été tué par les Allemands … » Partout ces mots m’interpellent, ces plaques sont chargées de vie, de mort, d’amour, de jeunesse. Elles me concernent personnellement. Elles devraient me pousser vers l’enfermement coupable ou l’impossible « Gnade der späten Geburt » (la chance d’être né après) qui n’absout rien ni personne.

1 Rede zur Verleihung des französischen Ordens eines Ritters der Ehrenlegion im Namen des Staatspräsidenten Jacques Chirac. Das Ehrenzeichen wurde vom Botschafter Claude Martin am 24. 4. 2007 in der Französischen Botschaft in Berlin an Klaus Michael Grüber überreicht.

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Au lieu de cela et grâce à ce qu’on appelle le génie ou l’esprit français, je peux maintenant – doucement et lentement – entrer dans un dialogue avec eux, mettre un visage et voir une vie derrière leurs noms sur les froides plaques de marbre. Ils m’accompagnent chaque jour, et chaque jour je les accompagne. Là où avant il y avait un barrage, la France m’a offert un chemin; il y a décidément de la lumière en France. Merci.

Bruno Ganz und Klaus Michael Grüber erhalten die Auszeichnung »L’Ordre Chevalier de la Légion d’Honneur«, Französische Botschaft, Berlin, 24. 4. 2007.

Entwurf für eine Dankesrede

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Sehr geehrter Herr Botschafter Gnädige Frau Liebe Freunde Verzeihen Sie mir zunächst, wenn ich mich nicht direkt (aber es ist trotz allem die einzigartige Stimme von Jeanne Moreau, danke) an Sie wende, um mich für die Ehre zu bedanken, die mir heute Frankreich erweist. Seit 35 Jahren lebe ich zwischen Paris und der Bretagne, und Frankreich hat mich stets sehr großzügig und wohlwollend aufgenommen. Dies gilt für meine Arbeit und ich freue mich sehr, dass ich meinen ersten Faust in Frankreich aufführen durfte, sowie meinen ersten Labiche in Deutschland, und mehrere Arbeiten zwischen beiden Kulturen. Aber dies gilt auch für mein Alltagsleben mit wertvollen Freundschaften, die sich durch die Jahre aufgebaut haben, mit tiefen Beziehungen, die mich geprägt haben und mich für immer prägen werden. In diesem banalen und zugleich schrecklich komplexen Zusammenhang hat dieses Wohlwollen mir gegenüber etwas Wunderbares: auf der sehr kurzen Strecke zum Zeitungskiosk und zur Bäckerei komme ich jeden Morgen an mehreren Gedenktafeln vorbei, die in den Pariser Straßen seit der Besatzungszeit auf einen erschossenen Widerstandskämpfer hinweisen : »Hier fiel heldenhaft«, »Zum Andenken an unsere von den Nazis erschossene Söhne …«, »Hier starb …«, »Hier wurde … von den Nazis ermordet«. Überall fühle ich mich von diesen Worten angesprochen, diese Tafeln sind mit Leben, Tod, Liebe, Jugend beladen. Sie gehen mich persönlich an. Mit meinem Schuldgefühl hätte ich mich in mich einschließen, oder mit der »Gnade der späten Geburt« herausreden können, die aber nichts vergibt und niemanden freispricht. Stattdessen und dank dem sogenannten französischen Genie kann ich nun – sanft und langsam – in ein Gespräch mit ihnen kommen und diesen Namen auf den kalten marmornen Tafeln ein Gesicht und ein Leben verleihen. Sie begleiten mich täglich und täglich begleite ich sie. Da, wo früher eine Sperre war, hat mir Frankreich einen Weg geschenkt. Es gibt tatsächlich das Licht der Aufklärung in Frankreich. Merci. Übersetzung aus dem Französischen von Muriel Lyonnet und Pierre Barone

Klaus Michael Grüber

Die heiße Asche der Erinnerung1

Von einer Oper kann man nicht viel sagen, solange sie nicht aufgeführt wird. Man muss alles zu sich kommen lassen, in sich ruhen lassen: die Fasern des Körpers, des Gedächtnisses, diesen ganzen Niederschlag, mit dem jeder von uns lebt. Dabei darf der fragile Schleier nicht zerreißen. Also versuche ich bis zum letzten Augenblick, das Geheimnis nicht zu enthüllen, das an sich kein Geheimnis ist, sondern viel mehr die unmögliche Koexistenz von Musik mit den Bildern und Verhaltensweisen. Und durch ihre eigene Abstraktion hat mir diese Musik von Rossini viel zu sagen. Sie lässt vergessene Dinge, versteckte Erinnerungen in mir wieder auftauchen, als würde ich die Märchen wieder finden, die man mir als kleines Kind erzählte. Diese Welt der Kindheit, an die ich mich wieder erinnere, ist auch die Welt von Cenerentola, wie ich sie auffasse. (…) Ich erinnere mich auch an diese polnischen Gefangenen, die Papiervögel herstellten – wo war’s denn? bei uns vielleicht … – oder auch an diese Hütte im Schwarzwald, wo ich versteckt lebte und die Flugzeuge am Himmel rasen hörte, die alle Häuser bombardierten. In diesem oder jenem Akkord von Rossini möchte ich dieses Echo wieder finden. Ich möchte, dass diese Inszenierung dem Buch des Gedächtnisses folgt, Seite um Seite, auch mit den Gedächtnislücken. Es scheint mir nichts anderes möglich, als diesem Gedächtnis und diesem Staunen zu folgen. Ich glaube übrigens, dass Rossinis Musik durch ihre eigene Reinheit alles abschafft, was fade sein könnte, um sich auf das Schwingen und die Vibration des durchstreiften Gedächtnisses in mir zu konzentrieren: alles geht davon aus: von dieser Hütte im Schwarzwald, von Mai 68, von diesem Freund, den ich vor dem Tod gerettet habe, von den 15 Jahren, die ich in Italien verbrachte, von Ulrike Meinhofs Begräbnis… Durch die Musik drängen sich Bilder auf, moralische Verhaltensweisen, Emotionen: es ist genau das Gegenteil eines intellektuellen Standpunkts. In Cenerentola steckt viel Emotion, eine Emotion, die mich persönlich fesselt. Ich stehe hinter jedem Teilchen dieser Emotion. Inszenieren heißt, zugleich drinnen und draußen zu stehen. 1 In: Programmheft zur Cenerentola-Inszenieurng im Teatro Petruzzelli, Bari, Februar 1989, 10.

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Klaus Michael Grüber

Von KZ-Häftlingen geschnitzter Holzvogel in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz.

Ich möchte hier auch betonen, welches Geschenk es für mich ist, Cenerentola inszenieren zu dürfen, wahrscheinlich, weil ich dieses Begehren nach Rossini seit über zehn Jahren in mir trug, und auch weil diese Oper, diese Musik in mir immer wieder Gesichter hervorrief, die mir auf der Straße, in einem Café, auf einer Demo begegnet sind, einen flüchtigen Blick, eine Schulter… umgeblätterte Seiten, einige Bilder, das alles… Aus dem Italienischen von Muriel Lyonnet und Pierre Barone

Klaus Michael Grüber: Deutschaufsätze (1959)

Aufsatz von Klaus Michael Grüber 15. Mai 1959

Georg Heym-Gedicht »Der Gott der Stadt«

Welches Bild der Großstadt zeichnet Georg Heym in seinem Gedicht »Der Gott der Stadt«? Nehmen Sie dieses Gedicht an? I. Gliederung A. Einleitung: Die Doppelgesichtigkeit der Stadt B. Hauptteil: Welches Bild der Großstadt zeichnet Georg Heym in seinem Gedicht »Der Gott der Stadt«? Nehmen Sie dieses Bild an? 1. Welches Bild der Großstadt zeichnet Georg Heym in dem Gedicht? a) Der Gott der Stadt b) Baal prägt die Menschen der Stadt c) Baal prägt durch den Menschen das äußere Bild der Stadt. 2. Nehmen Sie dieses Bild an? a) Heym beleuchtet uns eine Seite der b) großen Stadt c) Heym geht diesen Stoff dichterisch an d) Annehmen dieses Versuchs, eine Stadt und Zugleich die Gefahr der großen Stadt zu zeichnen. C. Schluss: Der Preis der Großstadt II. Ausführung Großstadt. Dieses Wort ruft in mir, vielleicht geht es uns allen so, zwei Dinge wach. Da ist zuerst einmal ein Bild; ein grandioses, überdimensionales Bild. Umrisse riesiger Bauten tauchen aus der Vorstellung auf, Dome und große Plätze, Denkmäler und Parks, überfüllte Straßen, Fassaden voll Leuchtziffern

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 15. Mai 1959

und vielleicht ein nächtlich einsamer Bahnhof, spärlich beleuchtet, nehmen Gestalt an. Daneben verbindet sich aber auch noch etwas anderes mit diesem Begriff – ein Problem. Dieses Problem, das die Großstadt birgt, offenbart sich nicht in den schwindelerregenden Ziffern der Unfallstatistik; es liegt viel tiefer. Es ist die Frage, an der schon Babylon zerbrach, dieselbe, die uns heute gestellt ist: Die Frage des »Menschseins« und »menschlich sein« im Zusammenleben so vieler. Dass die frühen Schriftsteller um eben diese Doppelgesichtigkeit der großen Stadt wussten, zeigt unter anderem das Buch Jeremia oder die Offenbarung Johannes. Wie aber sieht unsere Zeit, der diese Frage noch mal dringlicher sein muss, wie zeichnen unsere Dichter, zum Beispiel Georg Heym, das Bild der Großstadt? Georg Heym zeigt uns in seinem Gedicht »Der Gott der Stadt« nicht das Bild der Großstadt schlechthin, (…) nur eine Möglichkeit, dieses Phänomen zu erfassen. Dabei geht er einen sehr eigenartigen Weg. Dieser Weg führt über Baal, den Gott der großen Stadt. Mehr als Dämon als Gottheit thront dieser über seinem Reich. Ein Koloss, der zornig mit einer Bewegung seiner Fleischerfaust die Stadt in seinen Willen zwingt. Ein hässlicher, niedriger Gott. Das Erschreckendste an ihm ist seine unmittelbare Nähe. »Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.« Das bedeutet, dass er überall ist. Nicht fern, irgendwo über den Wolken, lenkt er die Stadt; Heym projiziert ihn mitten hinein. Er ist in den Foyers großer Paläste ebenso wie in den unterirdischen Kanälen; in den rauchigen Wartesälen einer Untergrundbahn wie der Börse und den Verhandlungssälen. Baal beherrscht die Stadt und hat ihr seine Gesetze gegeben. Sein Bild ist auch ihr Bild. Da der Gott herrscht, frönt die Stadt. Irgendwo versteckt, nicht direkt aufweisbar, aber dennoch vorhanden, liegt für mich in Heyms Versen die Gleichsetzung des Gottes der Stadt mit dem Wesen der Stadt. Mir scheint etwas erschreckend Sinnloses und Blindes darin zu liegen, wie die Stadt niederkniet vor ihrem Gott, niederkniet vor sich selbst. Nie sprengt ihre Huldigung, ihr Kult den großen, irrsinnigen Kreislauf, Leerlauf, immer fällt sie zurück auf ihre tanzerfüllte, berauschte Kreisbahn. Die Stadt Heyms ist isoliert. Eine Bewegung, aus ihrem Innern kommend, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. In ihr dröhnt die Musik der Millionen. Das ist keine Musik, die du bei einem Gang durch die nächtliche Stadt hörst; nicht die Klangfetzen eines »Ave Messias« aus einem weit geöffneten Haus, nicht die »Negro-Spirituals« aus einem Keller zur Linken. Das ist die Musik aus dem Klangkörper von Millionen von Menschen, die, auf engstem Raum zusammengedrängt, sich berühren und aneinander reiben, von Menschen über die Baal herrscht.

Georg Heym-Gedicht »Der Gott der Stadt«

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Das kann ein Lachen sein, nicht auffällig, aber verletzend, vielleicht auch abweisend, verstoßend, verdammend. Schon längst verklungen und unwesentlich geworden, geschieht etwas Neues, Ähnliches. Es geschieht überall und immer. Nimm es tausendmal und denke, dass millionenfach etwas Ähnliches sich ereignet, auch unscheinbar, klein, aber aufreibend und verstörend, dann hast du diese Musik, die zu Baal hinauf dröhnt. Ungeheuer viel klingt darin mit, aber alles sinnlos, alles zersetzend und unnatürlich – maßlos. In Winkeln und auf Plätzen, mit Fabrikschloten als Hintergrund vollzieht sich dies alles. So hat Baal seine Untertanen geprägt: Menschen, die einem kreisenden Karussell leben und nicht aussteigen können. Diese gelenkte »Ringelbahn« macht sie taumeln, dass sie das Maß verlieren und die Natürlichkeit im Tun und Sein. Unnahbar scheinen sie sich einander aufzureiben; müssen es, da Baal sie zwingt. Einen Satz, irgendwo gehört oder gelesen, entnehme ich auch Heyms Versen. »Das Laster ist die Traurigkeit der Städte.« Nie verwendet Heym diese Worte, und dennoch sehen wir Laster und Traurigkeit in »seiner Stadt«. Das Laster entsprungen aus dem Maßlosen, dem richtungslosen Taumel; die Traurigkeit, die nach der Angst kommt, aus dem Erkennen folgende, dass ein Aussteigen unmöglich ist. Laster und Traurigkeit sind die Ranelsteine im Leben dieser Menschen. Laster und Traurigkeit begrenzen den teuflischen Spielraum, den Baal den Götzendienern gibt. Nicht Mauern machen eine Stadt, sondern Männer. »Über die Männer« (Menschen) der Stadt wirkt Baal auf die Stadt selbst. Sie ist sein Spiegelbild und es ist bestimmt durch die Unnatürlichkeit. Seltsamerweise bringt Heym die Stadt nie in Beziehung mit der Umwelt. Vollkommen abgetrennt steht sie da. Wie eine Insel. Nie verwendet Heym in Bezug auf die Stadt irgendeine Äußerung, die auf Natürlichkeit schließen ließe. Keine Bäume, keine Menschen, die ein Wort austauschen. Man scheint in dieser Stadt nicht zu wissen, dass darüber ein Himmel, und dieser Himmel voll schöner, seltsamer Sterne ist. Ich glaube auch nicht (Heym schreibt jedenfalls nichts davon), dass in dieser großen, verlorenen Stadt noch jemand weiß, dass Holz früher Baum war und dass Blumen Gerüche haben. Es ist alles steril. Das flackernde Feuer wich der Dampfheizung. Das Bild der Stadt, man sieht es nicht, kann es nur ahnen und ahnen lassen, muss erschreckend sein. Riesige Häuser mit Fassaden, die unterbrochen sind durch viele kleine Fenster, dahinter ebenso viele Schicksale, die keiner weiß und die jeden angehen. Riesige Türme, aber in der abendlichen Stadt kann man kaum mehr unterscheiden, ob Kirchtürme oder Fabrikschlote. »Von diesen Städten wird bleiben, der durch sie hindurchging, der Wind.« (Bert Brecht)

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 15. Mai 1959

Georg Heym hat in diesem Gedicht die Großstadt von einer Seite beleuchtet. Wenn dieses Gedicht das Bild der Großstadt schlechthin sein sollte, würde ich es ablehnen. Diesen Teil aber, den der Dichter Heym gezeigt, besser: ausgedeutet hat, diesen Teil gibt es. Die Großstadt ist die Zusammenziehung vieler Menschen auf sehr engem Raum. Sie bedeutet eine ungeheure Vermehrung der Reibungsflächen, die es in dem menschlichen Zusammenleben gibt. Die Folgen, die sich aus einer Menschenanballung ergeben, sind vielfältig. Die große Gefahr aber, die darin liegt, hat Heym auf irgendeine verborgene Weise, die sich nur auf Andeutungen beschränkt, in seinem Gedicht aufzeichnen können. Diese orgiastisch in Bewegung geratene Menge, die sich taumelnd um Baals Thron bewegt, das ist, wenn das Gift nicht mehr wirkt, der Taumel verflogen ist, eine entleerte, betrogene Masse. Bei der Kritik, die nun einsetzen müsste, kommt ein »Nicht-Dichter« in Konflikt mit dem Stoff. Der Dichter behandelt ihn dichterisch und es wäre widersinnig, von ihm zu verlangen, Vorteil und Nachteil abzuwägen usw. Wenn es sich dann noch um einen expressionistischen Dichter handelt, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Zustände in ihrer ganzen Wahrheit dichterisch zu erfassen und wenn nötig auch anzuprangern, kann man nicht erwarten, dass er wie ein Essayist den Stoff in seiner ganzen Tragweite erfasst. Das ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage der Aufgabe, die man sich gestellt hat. Heym hat dichterisch ein wahres und faszinierendes Bild der Großstadt gezeichnet, das die große Stadt nicht ganz erfasst, aber eine dunkle und erregende Seite und die Gefahr zeigt, die sie birgt. Man sollte eigentlich meinen, dass die Hauptprobleme, die sich aus einer Menschenkonzentrierung ergeben, anderer Art wären als die aus dem Gedicht herausgelesenen. Nachteilsprobleme vielleicht, oder tiefer gehend die Armut, die in Großstädten häufig anzutreffen ist. Aber der Preis der Großstadt ist ein anderer. »Der Preis der Großstadt ist nicht die Armut, sondern das Unnatürliche.«

Aufsatz von Klaus Michael Grüber 6. Juni 1959

Theodor Heuss »Der Einzelne muss vor dem Staat, der Staat aber auch vor dem Einzelnen geschützt werden.«

Weisen Sie die Berechtigung dieser Forderung aus der Geschichte und Gegenwart nach. I. Gliederung A. Einleitung: »Der Einzelne« und »der Staat« B. Hauptteil: »Der Einzelne muss vor dem Staat, der Staat aber auch vor dem Einzelnen geschützt werden.« (Theodor Heuss). Weisen Sie die Berechtigung dieser Forderung aus der Geschichte und Gegenwart nach. 1. Der Schutz des Einzelnen vor dem Staat a) Der Grund dieses Schutzbedürfnisses b) Geschichtliche Berechtigung zu dieser Forderung c) Die Berechtigung aus der Gegenwart 2. Der Schutz des Staates vor dem Einzelnen. d) Der Grund dieses Schutzbedürfnisses e) Geschichtliche Berechtigung dieser Forderung f) Die Berechtigung aus der Gegenwart C. Schluss II. Ausführung »Der Einzelne« und »der Staat«. Dies könnte ein Gegensatz sein. Hier die Einzelperson und ihre Sonderwünsche, dort die Institution mit ihren. Es könnte aber auch eine Ergänzung sein, und die wird besser treffen. Der Mensch, wie er geschaffen wurde, als Individuum mit ungeheuer vielen Verbindungen zur Umwelt, seinen Affekten und seinen Impulsen, seinen Zielen. Der Staat, der nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. (Nach der Barmer Erklärung 1934).

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 6. Juni 1959

Die Reihenfolge der Forderungen ist vielsagend. »Der Einzelne muss vor dem Staat geschützt werden.« Wohl seit es etwas Ähnliches wie einen Staat gibt, sucht man sich vor dessen Übergriff in den persönlichen Bereich zu schützen. Ja, als man in den Anfängen der Geschichte einem Fähigen die Möglichkeit das Mehrrecht gab, Ordnung zu schaffen, tauchte wohl schon die Frage auf was ist, wenn jener seine Macht missbraucht. »Jeder Mensch, der Macht hat, neigt dazu, diese zu missbrauchen«, sagte Montesquieu. Es ist unbestreitbar, dass ein Mensch seine Rechte hat, einfach die Rechte, die man ihm gewähren muss, damit er ein Mensch bleibt. Ich wage zu bezweifeln, ob Schiller sich in der Karlsschule noch sehr Mensch gefühlt hat. Ja, schon hier, bei kleinen Beispielen, zeigt sich deutlich der Missbrauch der Macht, die Notwendigkeit des Schutzes für den Einzelnen. Man darf hier nun nicht an dem Begriff Staat hängen bleiben, oder soll ihn doch wenigstens über alles ausdehnen, was lenkende, ordnende Oberherrschaft, was das übertragene »Mehr nicht« besitzt. Also nicht nur unser heutiger Staat ist damit gemeint, sondern auch der Gaufürst, der Stammesherzog, der Gottkönig und der Tyrann. Römische Kaiser zeigen und beweisen den Satz ebenso wie absolutistische Herrscher. Nehmen wir doch gerade den zum Schulbeispiel erhobenen Beweis dafür: das Hitlerregime und der Zustand der Ostblockstaaten. Wie war der Einzelne dem Staat gegenübergestellt im Hitlerreich? Er war ihm doch unbedingt ausgeliefert. Der Übergriff des Staates in die Rechte des Menschen ließ diesem nichts Eigenes mehr. Dies bedeutete eine Abweichung vom göttlichen Auftrag. Unter Androhung und Ausübung von Gewalt erlaubt dieser Auftrag, den Frieden und das Recht zu wahren; er sanktioniert aber nicht die wahnwitzigen Pläne eines Despoten und die größenwahnsinnigen Ziele einer entmenschlichten Staatsmaschinerie. Dies war eine widerrechtliche Regierung, die jeglichen Menschenrechten Hohn sprach. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die ungestörte Religionsausübung, die freie Meinungsäußerung – alles Grundrechte des Menschen, die missachtet wurden. Die Macht, die man auf eine Institution übertragen hat, wurde dazu verwendet, sich noch mehr anzueignen. In den Ostblockstaaten liegt es nicht anders. Der Staat nimmt dort eine beängstigende Stellung ein. Überall greift er in die persönlichen Bereiche seiner »Untertanen« ein. Dort wie hier war die gegebene Forderung, dass der Einzelne vor dem Staat geschützt werden müsse. Die zweite Forderung lautet auf Schutz des Staates vor dem Einzelnen. Vielleicht hat der Bundespräsident dabei an Catelina, Napoleon oder an die lateinamerikanischen Umstürzler gedacht, auf jeden Fall fußt auch diese Forderung auf (…) reichlicher Geschichtserfahrung. Das Streben zur Macht ist sehr tief im Menschen verwurzelt. Als Catelina die jungen Römer aufwiegelte gegen ihren

Theodor Heuss »Der Einzelne muss vor dem Staat, …«

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Staat, so war das bestimmt nicht nur aus dem Glauben, Besseres schaffen zu können, sondern wohl auch ganz schlicht aus Ehrgeiz. Das Ziel aber, das diese verfolgten, musste zu einer Sprengung des Staatsgebildes, zu Unruhen, zu Krieg führen. Der Staat hat Mittel, sich zu schützen. Sie sind für ihn, seine Existenz, notwendig und daher auch gerechtfertigt, da er ja eine Aufgabe hat, die allen dienen soll. Er kann sich also mit Polizei und mit der Armee gegen Staatsgefährdende abschirmen, womit sich aber eine Frage verbindet, das bekanntlich Angriff die beste Verteidigung ist. Betrachten wir einmal die Lage Fidel Castros. Ein Revolutionär, der den ganzen vorhandenen Staat auf den Kopf gestellt hat, der alles Alte weggeräumt hat, nichts aber dafür einzusetzen hatte. Oder noch einmal weiter zurück, zur französischen Revolution. Unaufhaltsam stieg Napoleon hoch, sprengte den Staat, den er vorfand. Hatte etwas Neues an die leere Stelle zu setzen? Wir sehen, auch der Staat hat einen Schutz nötig. Schwierig wird es, wenn die Einzelperson, die sich gegen den Staat erhebt, im Recht ist! Die beiden Forderungen haben einen wunden Punkt. Man erfährt darin nicht, wer den Staat und den Einzelnen beschützen soll. Sollte man die beiden Gebote auch so ausdrücken können: »Der Einzelne muss sich vor dem Staat, aber der Staat sich auch vor dem Einzelnen schützen.«?

Aufsatz von Klaus Michael Grüber 24. September 1959

Käthe Kollwitz’ Lithographie »Brot!«1

Bildbeschreibung »Brot! … Brot!« Zwei kleine Kinder sind es, die es schreien. Vielleicht rufen oder flüstern sie es auch nur, sie sind ja so kraftlos. Sie klammern sich an die Mutter. Sie muss ja Hilfe geben können, sie, die Mutter. Und die Mutter muss sich wegwenden. Käthe Kollwitz hat zu ihrem Bild »Brot«, das sie 1924 anfertigte, keine Palette mit einer Menge bunter Farben verwendet. Der harte, konturierende Strich einer Kohlekreide genügte ihr, das zu zeigen, was sie bewegte: Not und Hunger. Die Anklage, das schamlose Aufzeigen des Missstands, dies duldet keinen unnötigen Aufwand. Drei Personen hat Käthe Kollwitz gewählt. Eine Mutter und zwei Kinder. Mit plakathaftartiger Einfachheit sind sie in einer Dreiecksform angeordnet. Rechts das größere Kind, die Mutter dann als größte Figur, vornübergebeugt, links das kleinere Kind. Kein Hintergrund, keine Ummalungen, nur noch die Schrift. Groß, hart, nicht verwischbar, mit derselben Kohle: Brot! Es ist eine gewisse Bewegung im Bild. Aus dem Schutz der Mutter heraus klammert sich hoffnungsvoll verkrampft der größere Sohn an deren Rock. Die Mutter legt ihm die Hand vor den Mund, hebt so ihren Arm etwas vom Körper weg. Dabei ist sie aber seitlich vorgeneigt, den Kopf noch weiter senkend, so dass eine ungestörte Linie den Blick nach der anderen Seite des Bildes führt, zu dem jüngeren Kind. Mit klaren Strichen sind die Bekleidungen nur angedeutet. Sie sind nicht wichtig. Wichtiger sind die Kinder mit ihren Mündern und Augen. Das ältere Kind hat die Augen zugekniffen vor Schmerz. Den Mund, man kann ihn nicht sehen, aber bestimmt ist er weit offen im Schmerz, zum Schrei oder zum Stöhnen. Abgewandt hält ihm die Mutter die Hand vor den Mund. Bestimmt nicht, um ihn am Schreien zu hindern, sondern so, wie vielleicht jede Mutter ihr Kind berührt, das hungert und dem sie nicht helfen kann. Seine Augen kann sie nicht sehen, aber mit der Hand, die sie ihm ins Gesicht hält, soll das Kind 1 »Brot!« ist eine Lithographie von Käthe Kollwitz von 1924.

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 24. September 1959

dennoch sehen, dass es eine Mutter hat. Sie selbst, meint sie? Man sieht es nicht. Man sieht nur, dass es ihr weh tut, nicht helfen zu können. Mit der freien Hand scheint sie ihr Gesicht zu bedecken. Sie sieht auch nicht das andere Kind. Wahrscheinlich hat sie diesen Ausdruck schon viele Male sehen müssen. Diesen fragenden Ausdruck der weitgeöffneten Augen und des offenen Mundes. Hunger liegt darin, vielleicht auch ein wenig Angst vor dem weinenden Gesicht der Mutter. Brot! Die undeutlichen Gestalten symbolisieren die Not. Brot würde genügen, die Erstarrung aufzulösen, die Mutter aufzurichten, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Nichts mehr will K. Kollwitz sagen als das; in einer Erinnerung oder einer Vision.

Aufsatz von Klaus Michael Grüber 01. Oktober 1959

Georg Büchners »Woyzeck«

Stellen Sie aus einer Dichtung der Klassik oder des 19. Jahrhunderts eine Gestalt dar, an der Sie Anteil nehmen; zeigen Sie 1) was Sie an dieser Gestalt besonders berührt 2) ob sie Wesenszüge einer Stilepoche verkörpert I. Gliederung A. Einleitung: Der Held in der Dichtung. B. Hauptteil: Thema 1. Woyzeck a) Der Mensch Woyzeck b) Die »tragische« Stellung Woyzecks 2. Wesenszüge einer Stilepoche in Woyzeck a) Büchner gehört keiner Stilepoche an, sondern bereitet Stilepochen vor. b) Woyzeck in Beziehung zu der späteren sozialen, psychologischen, naturalistischen und expressionistischen Dramatik C. Schluss II. Ausführung Der »Held der Dichtung« hat im Laufe der Literaturgeschichte große Umgestaltungen erfahren. Dabei veränderte er sich immer mehr im Verhältnis zu seinem Urheber, dem »Held im Leben«, dem Menschen schlechthin. Dessen Änderungen hatte er zu erheben und dessen Anklage musste er hinausrufen. Wie ein Dichter sich auflehnte und ein anderer tausendmal starb, in dem Maße wurde auch sein Held zum Rebell und so starb auch sein Held. Im 19. Jahrhundert dann kam jener Typus des Helden, der kein Held mehr war. Er war es vielleicht noch in diesem Sinne, dass er die Hauptrolle trug. Sonst aber war er Mensch, was auch der Grund ist, dass er uns so nahesteht, dass er unsere Anteilnahme erregt. Nehmen

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Aufsatz von Klaus Michael Grüber 01. Oktober 1959

wir zum Beispiel einmal die Gestalt des Woyzecks aus dem gleichnamigen Büchnerdrama. Der Soldat Woyzeck ist ein primitiver Mensch. Ein Mensch, der nicht Geist und Wissen, Geld oder andere materielle Besitztümer hat; primitiv in Gedanke und Sprache. Auch scheint er uns dumpf zu fühlen. In Wirklichkeit aber wird er angstvoll gewahr, dass er auf dem zerfließenden Grund des Nihilismus steht. Woyzeck erlebt ihn anders als Nietzsche, der sagt: Nihilismus ist ein Glücksgefühl. Bevor Nietzsche die nihilistische Weltanschauung verkündete, die zerstörend, trennend und klärend über die Welt des bürgerlichen Lebens hereinbrach, erlitten Menschen wie Woyzeck qualvolle Leiden. Die bei seiner Natur widersinnig erscheinende Empfindsamkeit und Hellsichtigkeit scheidet ihn von allen Menschen seiner Umgebung. Seine erschreckende Leere und ahnungsvolle Unruhe, die ihn umhertreibt, wirken befremdend auf sie. Er ist aus der Welt der bürgerlichen Konventionen herausgelöst, steht allein. Was einen in diesem Stück berührt, ist die wahrhaft »tragische« Stellung Woyzecks. Büchner stellt seine bloße Existenz dem Nichts gegenüber. Das ist ein Moment, das die »tragische« Stellung des Soldaten Woyzecks zu seinen Mitmenschen aufzeigt. Sie sind mit dem Alltag und ihrer kleinen Welt beschäftigt und ausgefüllt. Die Ahnungen und die plötzlichen Erkenntnisse dieses Menschen sind seiner Umgebung unverständlich. Die Menschen um Woyzeck herum »existieren« nicht nur, sie »haben« auch. Auch Woyzeck hat versucht zu leben trotz seines »unverschuldeten Andersgeartetseins«, in dem schon ein Teil der entstehenden Tragik liegt! Woyzeck liebt. Seine Liebe zu Marie ist das Einzige, was der Umherirrende vom Leben hat. Den kleinen Verdienst, den er als Soldat erhält, bringt er ihr. Als er merkt, dass Marie ihn betrügt, ersticht er sie; er selbst geht ins Wasser. Das ist die Tragik des Soldaten Woyzeck und Büchner schreibt sie so zwingend, dass man sie versteht. Das tragische Ende des Stücks liegt im Wesentlichen in Woyzeck selbst, also im rein Menschlichen. Er ist zu sanft, zu verträumt und hintergründig für die Liebe der Marie; einem Vergleich mit dem Tambourmajor, der Marie wahrhaft als Mann erscheint, kann er nicht standhalten. Woyzeck »existiert« gleichsam absolut und so stirbt er auch: allein. Er geht an seiner Liebe zugrunde. Das, was ihn über die bloße Existenz zum Leben verholfen hatte, vernichtete ihn. Von der Gestalt des Woyzeck her ist Büchner nicht einzuordnen. Vielmehr hat er in dieser Gestalt den Urtyp für viele spätere Dramen dargestellt. Woyzeck trägt nicht die Wesenszüge einer Stilepoche seiner Zeit, sondern vereint Züge, die viel später aufgenommen und verarbeitet wurden. Woyzeck besitzt keine Moral. Das Bürgertum stellt das fest, diejenigen, die im Wohlstand leben. Es sind die, die in Phrasen von Tugend und Moral die Menschen niederen Standes verdammen. Soziale Unterschiede bringen Woyzeck in seine verzweifelte Lage, da sie Marie verleiten, sich in das Abenteuer mit dem

Georg Büchners »Woyzeck«

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Major einzulassen. Infolge Armut und des Ausgestoßenseins aus der Gesellschaft und dem Wunsch zu »leben« ergeben sich Spannungen, die von den triebhaften Personen des Stücks nicht überwunden werden können. Die Bedeutung des Sozialen als tragisch-konstituierendes Moment wird das ganze Stück hindurch sichtbar. Hier liegt bei Büchner das soziale Geschehen als stilbildendes Element. Das Stück wächst über den Willen der sozialen Anklage hinaus zur Darstellung der Einsamkeit des Menschen. Woyzeck wird zum Sinnbild für das hoffnungslose Ausgeliefertsein des Menschen an Mächte, die ihn von innen und außen bedrohen. Büchner, der diese Bezüge kannte, legte in Woyzeck den Grundstein auch zur psychologischen Menschenführung. Um Woyzeck gibt es kein Problem um Schuld und Sühne. Diese Problematik verliert die Bedeutung, weil triebhafte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingtheit sich stärker erweisen. Wie es Büchner dargestellt hat, beeinflusste es in großem Maße die Epochen des Naturalismus und des Expressionismus bis hin zu Wedekind und Brecht. Vielleicht ist es nicht konstruiert und an den Haaren herbeigezogen, Büchner in Verbindung zu der surrealistischen Malerei zu bringen. Es war ungefähr um 1910, als Max Ernst mit einem berühmten Bild den Surrealismus in Deutschland einleitete. Auf dem Bild waren Schwämme. In unheimlicher Anordnung und seltsamen Formen erweckten sie den Eindruck des Unheimlichen, des Ungewissen und Ungreifbaren. (Woyzeck 2. Auftritt).

Der popkulturelle Raum

Clara-Franziska Petry

Klaus Michael Grüber als europäischer Beatnik. Tendenzen in Leben und Werk

Einen deutschen Regisseur als Beatnik zu bezeichnen befremdet auf den ersten Blick vor allem deshalb, weil die Beat Generation – eine US-amerikanische Literaturbewegung der 1950er-Jahre – in Europa scheinbar wenig bekannt war und keinen nennenswerten Theaterdiskurs entfachte. Dennoch soll dieser Aufsatz in Bezug auf Biografie, Regisseurs-Persona und zentrale Arbeiten Grübers Tendenzen herauskristallisieren, die ihn als europäischen Beatnik einordnen, auch wenn er selbst sich nie so bezeichnet hat. Im Folgenden werden typische Motive des Beatnik-Lebensgefühls zunächst mit der Biografie Grübers, dann mit seinem Werk in Verbindung gebracht, wobei hier Arthur Adamovs Off Limits (aufgeführt 1969 am Piccolo Teatro in Mailand und 1972 am Düsseldorfer Schauspielhaus) im Fokus steht. Im Zusammenhang mit Leslie Fiedlers berühmtem Aufsatz Cross the Border – Close the Gap wird schließlich begründet, weshalb die Beat Generation in den Rezensionen des Stückes nicht erwähnt oder diskutiert wurde.

Biografische Tendenzen Klaus Michael Grüber (1941–2008) scheint, in Etikettierungen gedacht, auf den ersten Blick mehr Hippie1 als Beatnik. 1967 gibt der Regisseur sein Regiedebüt, eine Zeit in der er, wie viele andere Künstler, politisch sehr aktiv war. Er selbst schreibt, dass er die 68er-Jahre »auf der Straße, in Demonstrationen« erlebt habe.2 Auch den Bruch im Verhältnis zwischen Grassi, Strehler und ihm am Piccolo Teatro in Mailand führt er auf die 68er-Zeit zurück.3 Gerade die Berliner 1 Auch Friedemann Kreuder erklärt im Gespräch mit Klaus Dermutz in Bezug auf Grübers Inszenierung der Bakchen, dass er ihn »in seinem Denken oder vielmehr in seinem Fühlen doch sehr stark als alten 68er« sehe. Dermutz, Klaus: Die zwei, drei Frägelein, die wir haben. Gespräch mit Klaus Michael Grüber. In diesem Band. 2 Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung. Gespräch mit Friedemann Kreuder. In diesem Band. 3 Ebd.

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Clara-Franziska Petry

Schaubühne, die 1970 in einem ehemaligen Feuersozietätsgebäude aufgebaut wurde,4 richtete sich gegen den Betrieb der konservativen Stadttheater, die sich oftmals nicht deutlich genug vom Nationalsozialismus distanziert hatten.5 Doch, wie Friedemann Kreuder betont, ist Grüber keineswegs als unreflektierter Linker einzuordnen: Er misstraute sowohl der alten nationalsozialistischen Gesellschaft, die er als Kind noch erlebt hatte, wie auch eben diesen neuen Utopien. Ich sehe ihn sehr stark als Linken, aber als einen sehr reflektierten, skeptisch-nüchternen, harten Linken, der sich nicht von den Man-möge-doch-Vorstellungen und schnellen Ideen einer schicken Politisierung betrügen lässt. Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung.6

Es ist dieses Potenzial der Zerstörung, das dem Beatnik-Habitus so verwandt ist, das bisher nur der kleinen Autorengruppe, zeitlich deutlich vor Grüber, zugeordnet wurde und das vor allem ein spezifisch destruktives Lebensgefühl darstellt. Die Hippies, die sich zwar auf die Beatniks bezogen, identifizierten sich durch eine aktive, politische Einstellung und wurden so auch als gesellschaftliche Gruppe global sichtbar. Dennoch waren die Beatniks bereits geprägt von den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges. Familien, deren Väter im Krieg gefallen waren oder aber mit schwerem Kriegstrauma zurückkehrten und ein Vergessen in Alkohol- oder Drogensucht suchten, ein Diskurs zwischen den Generationen über den Krieg in den USA so verborgen wie in Europa. So sind die Figuren der Beat-Literatur oftmals geprägt von einem abwesenden Vater, beispielsweise im Hauptwerkt der Bewegung, Jack Kerouacs On the Road, 1957 publiziert und 1959 unter dem Titel Unterwegs bei Rowohlt in der deutschen Übersetzung erschienen. Auch Klaus Michael Grüber erlebte die Abwesenheit seines Vaters, den er nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft erst 1949 wirklich kennenlernte. Bereits im Alter von vier Jahren wurde er Zeuge der Migrationsbewegungen von Flüchtlingen, Deportierten und der aus Konzentrationslagern befreiten Häftlinge, die durch sein Heimatdorf Neckarelz zogen.7 Es ist das Motiv des Unterwegsseins, mit Klaus Dermutz gesprochen der »Homo Viator«, der immer wieder im Leben und Werk Grübers zutage tritt.8 Während in On the Road Jack Kerouac (der Erzähler Sal Paradise), Allen Ginsberg (Carlo Marx), William S. 4 Zur Bedeutung der Schaubühne in dieser Zeit siehe: Iden, Peter (1979): Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970–1979. München. 5 Siehe u. a. Kreuder, Friedemann: »Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt«. In diesem Band. 6 Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung«. Gespräch mit Friedemann Kreuder. In diesem Band. 7 Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. 8 Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber – Homo Viator«. In diesem Band.

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Burroughs (Old Bull Lee) und Neal Cassady (Dean Moriarty) im Rausch durch die USA (und nach Mexiko) reisen und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens einzig negierende existentielle Erfahrungen machen, bereist und belebt Grüber Europa als ein gleichfalls rastlos Suchender. Wohnhaft in Italien, Frankreich und Deutschland ist er ständig on the road und gleichfalls in allen drei Sprachen zuhause. »Moloch«, das Elend in den Großstädten in den 1950ern, hervorgerufen von Urbanisierung, Arbeitslosigkeit und Drogenproblemen, wird von Allen Ginsberg in seinem berühmten Gedicht Howl (1955 uraufgeführt) beschrieben und findet auch in der europäischen Erfahrung statt, hier noch stärker geprägt von den Trümmern der Nachkriegszeit in Stadtbild und Seele der Überlebenden.9 Wenn auch die Nachkriegszeit eher mit Aufbruch, Neubeginn und in Deutschland mit dem Schlagwort »Wirtschaftswunder« assoziiert wird, skizzieren die Autoren der Beat Generation dennoch ein ganz anderes Bild. Es ist vor allem die Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit dieser Nachkriegsgeneration, die durch die Schrecken des Holocausts verlorenen Wert- und Sinnvorstellungen des Lebens, die die Beat Generation zu einem neuen religiösen10 und spirituellen Unterton inspirieren. Das letztendliche Ankommen im Leben kann nur den Tod bedeuten, der Hauptgrund, weshalb Kerouac bis in die 70er-Jahre hinein von Rocklegenden als spiritueller Anführer dieser Bewegung angesehen, ja angebetet wird, stirbt dieser doch im Alter von 47 an den Folgen von exzessivem Alkoholund Drogenkonsum. Generell verändert sich in den 1960er-Jahren »die Wahrnehmung von Drogen in einem neuen massenmedialen Kontext tief greifend«.11 Denn die rebellierenden Jugendlichen, welche sich gegen ›das Establishment‹, Konsumterror und Kriegführung auflehnten, betrachteten den Konsum psychoaktiver Stoffe geradezu als politisches Credo, als alternative Pflicht, der es nachzuleben galt, wenn man etwas für sein Lebensglück tun oder auch nur gähnender Langeweile entgehen wollte. In experimentellen Subkulturen wurde in den psychotomimetischen Substanzen ein patenter Katalysator für Kreativität, für die Erschließung neuer Seinszustände gesehen. Sie erschienen als Medium, mit dem sich neue Bewusstseinsräume erkunden ließen, sie wurden als Vehikel für Reisen in unbekannte Reiche der Erfahrung benutzt […].12

9 Der ästhetische Einfluss, den diese Eindrücke von vom Krieg zerstörten Städten haben können, zeigt sich immer wieder in Künstlerbiografien, z. B. der 68er-Rockstars, wie in der Autobiografie von Rolling Stone Keith Richards, der 1943 – nur zwei Jahre nach Grüber – in Dartford (England) zur Welt kam, ein Ort, der bis in seine frühe Jugend immer noch Spuren von Bombenangriffen zeigte. Richards, Keith u. Fox, James (2010): Life: Keith Richards. 10 Paetel, Karl O. (1968): Beat. Eine Anthologie. Hamburg, 12. 11 Tanner, Jakob (2006): »Amerikanische Drogen – europäische Halluzinationen«. In: Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa. Köln, 267–288, 267. 12 Ebd., 276.

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Während Kerouacs Alkohol- und Drogenexzesse letztendlich in einer tödlichen Sucht enden, und On the Road nie explizit die unterschiedliche Wirkung oder Handhabung von Drogen thematisiert, beschreibt William S. Burroughs in Junky (1953) oder Naked Lunch (1959) diese akribisch. Psychologe und Kultfigur des Pop Timothy Leary wird als LSD-Guru gefeiert und beschreibt in seinem Buch High Priest (1968) wissenschaftlich die Drogenexperimente, die er unter anderem mit Ginsberg und Burroughs durchführte, als er noch im Bereich Klinische Psychologie an der Harvard Universität lehrte. Sucht scheint hier in der Beatnikund Hippie-Ära im Gegensatz zum Experiment zu stehen, die beiden Bereiche voneinander zu trennen ein gefährliches Unterfangen. Auch wenn berühmte Kunst- und Musikwerke unter dem Einfluss von Drogen entstanden (z. B. in psychedelischer Kunst), so gelingt eine Intellektualisierung doch offenbar nur im nüchternen Zustand. Auf besonders tragische Weise zeigt sich dies bei einem Auftritt Kerouacs 1968 in dem Fernsehprogramm Firing Line mit William F. Buckley Jr., bei dem der Beatnik sprachlich nicht mehr mit den wesentlich jüngeren Vertretern der Hippie-Bewegung mithalten kann und ständig den Argumentationsfaden verliert. Im Werk Kerouacs wird der Stream of Consciousness erzähltechnisch Programm, im Leben zur Blamage. Durch kontrollierten Konsum und regelmäßigen Entzug erreicht Allen Ginsberg ein Alter von 71 Jahren und William S. Burroughs wird 83, weshalb beide von der Hippie-Generation, vor allem von den Rock- und Popstars der 70er, bewundert und in Projekte einbezogen werden. Die typisch literaturwissenschaftliche Trennung von Biografie und Werk ist bei den Beatniks nicht sinnvoll. Die Werke sind stark autobiografisch und in Interviewsituationen inszenieren die Autoren eine Persona. Sprache, der mit Jazzbeat (genauer gesagt dem Bebop, einer der vielen Bedeutungsebenen des Namens Beat Generation) unterlegte Gedankenstrom, dient bei Kerouac »nicht mehr als Kommunikationsmittel, sondern als Instrument monologischer Selbstaussage«.13 Im Gegensatz dazu stehen Burroughs fragmentarische Cut-upMethode und seine nüchtern rational performierte Sprachästhetik in der Interviewsituation.14 Die Persona Burroughs zeichnet sich durch einen seriösen, gepflegten und kontrollierten Habitus aus. Immer in anthrazitfarbenem Anzug und Krawatte, draußen einen für die 50er-Jahre typischen Hut auf dem Kopf, was in der 68er-Ära natürlich als bieder und altmodisch galt. Ginsberg kommt mit seinen lockigen, zerzausten Haaren dem Hippie näher, Burroughs ist der intellektuelle Gelehrte, Ginsberg das chaotische Genie. Kerouac stellt dabei eher eine Mischung aus James Dean und dem jungen Marlon Brando dar und dürfte vor

13 Paetel 1968, 11. 14 Beispielsweise im Interview mit Peter Gzowski 1977 ausgestrahlt von CBC.

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allem aufgrund seiner Attraktivität in Verbindung mit seiner Schüchternheit das ideale Image einer Legende verkörpern. Klaus Michael Grüber, der sich im negativen Sinne mit Brando vergleicht,15 steht diesen Medienstars in nichts nach. Sein Künstler-Habitus hat maßgeblich dazu beigetragen, den Regiekult um Grüber − der zugegeben durch die biografische Argumentation dieses Aufsatzes nur verstärkt wird – aufzubauen. Bruno Ganz nennt ihn einen »Dandy«: »[…] um das Geringste zu sagen, ein unverwechselbares Gesicht, sehr kantig und eindrucksvoll. Er ist ein Mensch, auf den man hinschaut. Wenn man solche Leute auf der Bühne sieht und sie eine Aura haben, wird man in sie eingetaucht. Ich dachte, Klaus hatte eine Aura.«16 Diese faszinierende Aura, das im Benjaminschen Sinne »Hier und Jetzt des Originals«, das sich jeglicher Reproduktion verweigert,17 beschreiben viele Menschen, die mit Grüber zusammengearbeitet und sich von ihm begeistern lassen haben. Die wenigen Interviews, die Grüber geführt hat, überhöhen die Berichte der Künstler, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Anekdoten und Narrative schreiben Geschichte und liefern so die perfekte Grundlage für ein wahres Beatnik-Image. Momentaufnahmen fangen Grüber meist in einer großen Geste ein, etwa mit weit aufgerissenen Augen einen Gedanken gestikulierend oder in einem Denkprozess vertieft. Claudio Abbado beobachtet: »Klaus spricht nicht mit Worten, er spricht mit dem Gesicht und den Händen.«18 Klaus Bachler geht noch darüber hinaus: »Ich war nie bei einem asiatischen Guru, aber eine Begegnung mit Grüber ist von dieser Dimension.«19 Der Film L’Homme de Passage von Christoph Rüter (2012) filmt diese unverkennbare Art Grübers, Regiegedanken zu äußern oder besser gesagt aufzuführen, und auch in anderen Sequenzen kommt er einem Beatnik gleich. In einer nächtlichen Gasse flanierend in Mantel, Hut und Zigarette in der Hand erinnert er stark an die Silhouette William S. Burroughs.20 Eine Eleganz, die auch Bruno Ganz beschreibt und die von innen heraus zu kommen scheint:

15 Mit dem er sich selbst vergleicht, hinsichtlich seiner Textprobleme am Set von Les Amants du Pont-Neuf (1991). Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. 16 Ganz, Bruno (2008): »Klaus ist ein schöner Mensch«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 113–127, 113. 17 Benjamin, Walter (1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M., 5. 18 Abbado, Claudio (2008): »Klaus glaubt an die Sachen, die er macht«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 101. 19 Bachler, Klaus (2008): »Grüber ist eine menschliche Instanz«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 109. 20 L’homme de passage. Der Regisseur Klaus Michael Grüber, Regie: Christoph Rüter, WDR/arte, 1999. Ab Minute 21. Die nächtliche Szene wurde nach einer Wiederaufnahme-Probe von »Parsifal« Anfang März 1998 am Bühneneingang des Théâtre de la Monnaie gedreht.

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Seine Eleganz… war ein Teil von Klaus. Er stellte das später äußerlich ein, und die Hände verschwanden im Pullover. Aber auch in den einfachen Kleidern war seine Körperhaltung von einer gewissen Eleganz. Klaus war schon sehr elegant, alles in allem. Klaus ist ein schöner Mensch. […] Klaus war in gewisser Weise so vollkommen, dass man nie versucht war, ihn aufzuknacken und in ihn hineinzugucken.21

Doch Ganz spricht auch von den schweren Phasen des Alkoholismus.22 Das Abreißen der Sätze und Gedanken war dabei vermutlich nicht nur dem Jonglieren zwischen den unterschiedlichen Sprachen geschuldet. Rolf Michaelis über die Probennächte zu Hölderlins Empedokles 1975: Ähnlich geduckt, an wackligem Tisch, die Arme im Schmuddel-Mantel verschränkt, den Kopf lauschend gesenkt, die Augen unbeweglich auf die Schauspieler gerichtet: Klaus Michael Grüber. Er hat vor sich wenige, selten befragte Bücher, die umso häufiger befingerte Roth-Händle-Packung, das Wasserglas, in das er aus der Korn-Flasche neben dem Tischbein kleine Schlucke nachgießt, wobei er die Hand schirmend über das Glas hält. Die gleiche lärmdämmende Geste beim Anreiben des Feuerzeugs.23

Im Gespräch mit Klaus Dermutz spricht Grüber über »Müdigkeiten, zwischen Alkohol und Kokain« in den langen Proben mit Giorgio Strehler in Mailand und über die »Haschzeit« am Theater in Bremen. Durch seine anfängliche Obdachlosigkeit in Mailand, wo er längere Zeit am Bahnhof übernachtete, da das Geld für die Jugendherberge nicht mehr reichte, ergeben sich, über den Umgang mit Alkohol und Drogen hinaus, weitere biografische Ähnlichkeiten mit Beatnikund Hippie-Rockstars.24 Man denke da nur an die Lyrikerin, Punk- und Rockmusikerin Patti Smith (Jahrgang 1946), die 1967 auf der Straße in New York lebend den Fotografen Robert Mapplethorpe kennenlernt.25 Nach dessen Schilderungen war in dieser Zeit das Leben auf der Straße für junge Menschen nicht unüblich und man half sich unter Freunden aus, duschte und übernachtete mal in dieser, mal in jener Wohngemeinschaft oder Kommune. Dennoch, Grüber beschreibt seine Rolle des Hans in Die Liebenden von Pont-Neuf mit den Worten: »Ich war der Clochard auch ohne Schminke«.26

21 Ganz 2008, 114. 22 Ebd., 115. 23 Michaelis, Rolf (1988): »Jeder Satz eine Katastrophe. Probennächte mit Klaus Michael Grüber zu Hölderlins ›Empedokles‹, 24.–29. November 1975«. In: Carstensen, Uwe B.: Regie im Theater. Klaus Michael Grüber. Frankfurt, 78–79. 24 Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. 25 Siehe hierzu ihre Autobiografie Smith, Patti (2010): Just Kids. 26 Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. Der Film von Leos Carax hat dabei gleichfalls BeatnikTendenzen vorzuweisen, was eine weitere Auseinandersetzung mit der Beatnik-Rezeption im europäischen Film lohnen würde. Interessant ist hier auch die Liebesszene auf dem Schiff von

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Mit einem abschließenden Blick auf die Bedeutung der Musik in Grübers Leben drängen sich ebenfalls Beatnik-Tendenzen auf. Grüber, den man sonst in Theaterkreisen wahrscheinlich eher als Opernregisseur assoziiert, spielte Trompete, und die Vermutung, dass er dem für die Beatnik-Ära so signifikanten Jazz nicht abgeneigt war, drängt sich überall auf. Ein Bild im Grüber-Archiv (Akademie der Künste Berlin) zeigt eine Trompetenauswahl in B, C, hoch D, hoch F, hoch B,27 was darauf schließen könnte, dass Grüber das Trompetenspiel später doch wieder aufgenommen hat. Die Trompete, die er als Kind geschenkt bekommen und »so geliebt« hatte, musste er in Stuttgart verkaufen, da er dort auf der Schauspielschule nicht genügend Geld hatte und sich das Üben in einer Mietwohnung natürlich schwierig gestaltete.28 Musik hatte schon vor dem Posaunenchor eine Rolle in seinem Leben gespielt, die Musik in der Kirche, das Radiohören, ein Plattenspieler.29 Es stellt sich auch die Frage, wieso er sich ausgerechnet in einem polnischen Anschreiben für die Filmhochschule in Łódz´ bewirbt, schreibt sich diese Schule doch durch die begeisterten Jazz-Musiker und Kameramänner Witold Sobocin´ski und Jerzy Matuszkiewicz (Begründer der Trad-Jazz-Band) einen wichtigen Einfluss bei der Verbreitung des Jazz in Polen zu.30 Ob Grüber nun ein Jazz-Fan war oder nicht lässt sich leider nicht herausfinden, was bleibt sind die spekulativen Verbindungen. Doch Grüber zu den deutschen Jugendlichen zu denken, die bewusst Jazzmusik spielten, um sich gegen die nationalsozialistische Vergangenheit der Elterngeneration zu richten, scheint nicht sehr weit hergeholt. Klar ist, von den Rolling Stones und den Beatles – die gleichermaßen von den Beatniks und von Jazzmusik geprägt waren – kann kein Jungkünstler in den 70er-Jahren unberührt geblieben sein. In Anbetracht des Zeitungsartikels von Alexis Bernier Paris Cultive ses Nuits von 2002, der sich ebenfalls im Grüber-Archiv befindet und von der Pariser Nachtclubszene handelt sowie davon, wie diese von nostalgischen Emotionen gegenüber verstorbenen Künstlern wie Jim Morrison geprägt scheint, ist davon auszugehen, dass sich Grüber bis ins Alter für die Musik jüngerer Generationen interessierte. Jim Morrison von der Band The Doors wäre zumindest ebenfalls ein Beatnik à la Kerouac, Grüber vermutlich ähnlicher als ein noch lebender Rolling Stone oder Beatle.

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Alex (Denis Lavant) und Michèle Stalens (Juliette Binoche), die 1997 von James Cameron in Titanic kopiert und berühmt gemacht wurde. Eigentum der Firma J. [Josef] Monke, Musikinstrumentenbau in Köln-Ehrenfeld. Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. Ebd. »Bewerbung für die Filmhochschule Łódz´«. In diesem Band. Siehe hierzu ebenfalls: https://de. wikipedia.org/wiki/Staatliche_Hochschule_für_Film,_Fernsehen_und_Theater_Łódz´ [26. 09. 2020].

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Beatnik-Tendenzen im Werk Grübers Rockstars31 der 70er-Jahre in Verbindung mit Grüber zu bringen macht auch in Hinblick auf sein Werk Sinn, beispielswiese mit Blick auf den Inszenierungsort von Bernard von Brentanos Erzählung Rudi, die Grüber 1979 im Hotel Esplanade in Berlin aufführte. In den 1960er-Jahren wurde in New York das Chelsea Hotel bekannt, wo sich Jim Morrison und Patti Smith neben vielen anderen Künstlern aufhielten und wo sich u. a. Burroughs, Andy Warhol oder Ginsberg trafen, um sich miteinander auszutauschen. 1966 entstand hier der Experimentalfilm The Chelsea Girls von Warhol und Paul Morrissey, von dem, aufgrund seiner internationalen Bekanntheit, Grüber sicherlich gewusst hat. Das im Berlin der 20er-Jahre berühmt gewordene Hotel Esplanade, in dem damals u. a. Greta Garbo und Charlie Chaplin abstiegen,32 wurde bereits 1972 für Szenen des Films Cabaret genutzt. Man kann die Idee, hier ein Theaterstück spielen zu lassen, also weniger Grüber allein zuschreiben als vielmehr der Faszination oder auch Nostalgie für Erinnerungsorte popkulturellen Zeitgeschehens. Friedemann Kreuder schreibt: Allein in der Weimarer Republik, durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen, waren die 20er- und 30er-Jahre nur für bestimmte Gesellschaftsschichten wild oder roaring. Diese Schichten trafen sich im Hotel Esplanade. Als Grüber dieses Hotel für seine künstlerischen Zwecke nutzte, war es seit dem Kriegsende nur noch die Ruine. Meines Wissens war es auch ein Berliner Geheimtipp. Nick Cave & The Bad Seeds gastierten einmal in dem Hotel.33

Die Geschichte der Novelle, wenn auch in der Neuen Sachlichkeit zu verorten, weist dennoch die zentralen Beatnik-Thematiken auf: Arbeitermilieu, ein Junge, der ohne Vater aufwächst, die Mutter Prostituierte etc. Die Art und Weise, wie Grüber das Stück inszenierte – er ließ den Schauspieler Paul Burian die Novelle vorlesen, was in die verschiedenen Räume des Hotels übertragen wurde, sodass die Zuschauer geradezu durch die Erzählung wanderten – könnte man mit der 31 Es geht hier primär um den Rockstar-Lifestyle und weniger um die Musik. Eine Verwendung von Rock- und Popmusik in Grübers Werk ist kaum nachgewiesen, hier arbeitet Grüber vorwiegend mit sogenannter E-Musik. Vergleiche dazu: Schuler, Constanze (2014): »Musikalische Rauminszenierungen. Zum Verhältnis von Musik und Szene bei Max Reinhardt, Klaus Michael Grüber und Heiner Goebbels«. In: Kramer, Ursula (Hrsg.): Theater mit Musik: 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen. Bielefeld, 409–432. 32 Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung. Gespräch mit Friedemann Kreuder«. In diesem Band. 33 Ebd.

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Cut-Out-Technik vergleichen. Auch hier ist das Unterwegs-Sein zentrales Motiv, sodass jede Person nur einen Ausschnitt aus der Erzählung gewinnt, Fragmente, die ohne dramaturgisches Diktat aneinandergereiht werden können. Auch andere Inszenierungsorte Grübers haben Beatnik-Spirit, wie beispielswiese Grübers Inszenierung Faust Salpêtrière von 1975 im Hôpital de la Salpêtrière, wo er »im Leben von psychisch Kranken nach dem Wahnsinn der Gesellschaft« suchte.34 Die Psychiatrie war nicht nur im Zusammenhang des Experimentierens mit Drogen interessant für die Beatniks. In einer Zeit, in der Homosexualität mit Elektroschocks therapiert wurde, wird das Irrenhaus zum zentralen Motiv, beispielsweise in Ginsbergs Werk Howl. Hier ist das lyrische Ich zusammen mit dem Schriftsteller Carl Solomon (1928–1993) in »Rockland«, was der Verweis auf eine psychiatrische Klinik ist. Man könnte zahlreiche weitere Beatnik-Motive in Grübers Inszenierungen suchen und finden: In der Winterreise im Olympiastadion (1977) ist es mit Hölderlin der Wanderer durch die Nacht, in Anton Tschechows Stück An der großen Straße (1984) die Welt der Ausgestoßenen, in Ödipus in Kolonos ist Ödipus »ein Sadhu, ein indischer Wandermönch, der nur mit Asche bekleidet ist«.35 Das indische Mönchswesen war für die Beatniks und die Hippies die Inspiration schlechthin. Der entscheidende Hinweis, dass Grüber von den Beatnik-Autoren gewusst haben muss, findet sich in Arthur Adamovs Stück Off Limits von 1968, in dem z. B. Allen Ginsberg zitiert wird. Grüber führte das Stück gleich zweimal auf: 1969 in Mailand und 1972 im Düsseldorfer Schauspielhaus. Das Stück, das meist nur auf seine Vietnam-Kritik reduziert wird, ist der Beweis, dass es in Europa Beatnik-Dramatiker gegeben hat. Adamov, 1908 in Russland geboren, lebte u. a. in Genf, Mainz und ab 1924 in Paris. Er arbeitete als Übersetzer und seine Werke schrieb er auf Französisch. Im Vorwort zu Off Limits erklärt er, dass er zu Beginn des Vietnamkrieges einige Monate in den USA gelebt habe, eine Zeit, in der sich das Black-Power-Movement entwickelte und er Zeuge eines spezifischen Milieus wurde.36 Eine Gruppe 17- bis 18-jähriger drogenabhängiger Jugendlicher feiert ausufernde Partys vor den Augen bzw. mit einer Gruppe Erwachsener die, überwiegend stark alkoholisiert, der jüngeren Generation keinerlei Verantwortung, Orientierung oder Lebens(in)halt bieten können. Adamov beschreibt, wie er das junge Pärchen Jim und Sally tatsächlich in New York kennenlernte und sie »mehr oder weniger Selbstmord verübten«,37 als sie versuchten, die mexikanische 34 35 36 37

Dermutz 2008, 9. Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber – Homo Viator«. In diesem Band. Adamov, Arthur (1969): Off Limits. Mayenne, 9. Adamov, Arthur (2015): Off Limits. Deutsch von Wolfgang Kirchner Textbuch. München, 3.

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Grenze zu überqueren, um der Realität, der Einberufung in die Armee und der Drogenfahndung zu entkommen. Sally ist Prostituierte, Jim ein Wunderkind, das Arthur Rimbaud zitiert und durch seine leidenschaftliche, verzweifelte und egozentrische Art stark an Jim Morrison erinnert. Der verrückte Lebensstil der Jugendlichen ist bestimmt von einem unter Drogen gelebten künstlerischen Ausdruck, Happenings, die auf Partys veranstaltet werden und bei denen unter der Denk- und Handlungsanleitung einer Person auch politische Diskurse nachgespielt oder diskutiert werden. Theaterspielen fungiert als Welttheater, als Spiel im Spiel. Adamov, der solche Happenings wirklich erlebt hat, erklärt: En somme, utiliser les happenings, le ›Living Theater‹, pour pouvoir les regarder et les critiquer. La confusion de la pensée des personnages ne doit pas entraîner la confusion dans la pensée du spectateur.38

Politisch wird nicht nur der Vietnamkrieg thematisiert. Wenn der ungarische Einwanderer Lazlo Dery Europa als Hoffnungsträger ins Gespräch bringt, dann wird ihm nur schroff geantwortet: »L’Europe! Mais elle est foutue, l’Europe! Personne n’a plus confiance en son soutien! Personne, nulle part!«39 Und wenn der Journalist James Andrews40 (30 Jahre) innerhalb eines Rezitativs an das Publikum gewandt von Humanismus spricht und dabei Jim, Sally und Dorothy Beziehungsratschläge erteilt, erinnert er gleichzeitig an die Wirklichkeit des Holocausts.41 Ein weiterer Verweis darauf, dass die spezifische Beatnik-Haltung, wie zu Anfang dieses Aufsatzes beschrieben, zwar ein Lebensgefühl der Isoliertheit und des Alleingelassenseins beinhaltet, zugleich jedoch für globale Themen und damit auch globale Bedeutung steht. – Dies erklärt auch, weshalb Grüber es gleich zweimal auf die Bühne brachte, offenbar hielt er es für Italien und Deutschland relevant.

38 Adamov, Arthur (1969): Off Limits. Mayenne, 10. Übersetzung: «Dies ›Living Theater‹, die Happenings, wollte ich zeigen, damit man sie betrachten und kritisieren kann. Die Verworrenheit des Denkens meiner Figuren soll nicht eine Verwirrung im Denken des Zuschauers zur Folge haben.» Adamov, Arthur (2015): Off Limits. Deutsch von Wolfgang Kirchner Textbuch. München, 2. 39 Adamov, Arthur (1969): Off Limits. Mayenne, 63. Übersetzung: Europa ist am Arsch. Kein Mensch rechnet mehr mit Europa! Kein Mensch auf der Welt! Adamov, Arthur (2015): Off Limits. Deutsch von Wolfgang Kirchner Textbuch. München, 27. 40 Ebd., 1: Adamov beschreibt seine für die Beat Generation typischen intertextuellen Verweise, wonach er »amerikanischen Büchern ganze Sätze, manchmal ganze Abschnitte entlehnt« habe, wobei James Andres sich auf den Journalisten und Autor James Mills bezieht, der u. a. durch Bücher wie The Panic in Needle Park (1966) zum Drogenexperten wurde. Originalzitat: »J’ai pillé des livres américains, je leur ai emprunté des phrases, parfois même des passages.« Adamov 1969, 10. 41 Adamov 2015, 37/38.

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Jazzmusik wird gespielt, Twist getanzt und Rezitative, die sich als Beat Poetry lesen, aufgesagt. Beatpoet Bob Kaufman42 und ganz zentral Allen Ginsberg werden zitiert, wobei hier Jim mit dem Beatnik eins zu werden scheint: Jim, récitant. Carl Salomon, je suis avec toi à Rockland Où tu es plus fou que moi. Je suis avec toi à Rockland Où tu dois te sentir très bizarre. Je suis avec toi à Rockland Où tu imites l’ombre de ma mère. Je suis avec toi à Rockland Où ton état devient grave, et on en parle à la radio Je suis avec toi à Rockland. Allen Ginsberg. Jim O’Sullivan rewriter. (A Sally :) Avoue qu’il te fout la trouille, celui-là.43

Man könnte diese Szene als Hinweis auf Jims verborgene sexuelle Orientierung lesen. Ginsberg, der homosexuell war und Carl Solomon in einer psychiatrischen Klinik (hier als »Rockland« benannt) besuchte, wo dieser von seiner Homosexualität »geheilt« werden sollte, erlangte gerade deshalb so große Aufmerksamkeit, weil gegen seine Gedichtveröffentlichung 1957 aufgrund von obszöner Inhalte Anklage erhoben wurde.44 In einer weiteren mise en abyme zeigt sich die für die USA typische konsumorientierte Ausbeutung der subkulturellen Künstlerszenen. Wenn beispielswiese der Industrielle und Direktor eines amerikanischen Bildungs-TVKanals Humphrey O’Douglas (50 Jahre) das Schicksal von Jim und Sally verfilmen will, was wiederum von Dorothy und Bob in den Hauptrollen eingeübt wird, dann gibt er seinem Drehbuchautor George Watkins (40 Jahre alt) zu verstehen, dass der Drogenkonsum drastisch verharmlost wird, um das Stück verkaufsstrategisch leichter rezipierbar zu machen.45 Die Liebestragödie, die politische Bedrohung durch den Vietnamkrieg und die politischen Probleme des eigenen Landes (auf einer der Partys fällt auf einmal ein schwarzer Unbekannter in das Zimmer der stark narkotisierten Gesellschaft, der von einem weißen Unbe42 Ebd., 13. 43 Adamov 1969, 91. Übersetzung: »Jim (rezitiert): ›Carl Salomon, ich bin bei dir in Rockland/ Da bist du verrückter als ich/Ich bin bei dir in Rockland/Da mußt du dir sonderbar vorkommen/Ich bin bei dir in Rockland/Da bist du wie der Schatten meiner Mutter/Ich bin bei dir in Rockland/Da wird dein Zustand bedenklich, man hat/Es im Radio erwähnt/Ich bin bei dir in Rockland‹/Allen Ginsberg. Bearbeitung Jim O’Sullivan. (zu Sally) Gib zu, der macht dich eifersüchtig.« Adamov 2015, 41. 44 Der Prozess wurde 1957 gegen den Verleger Lawrence Ferlinghetti geführt und 2010 von Rob Epstein und Jeffrey Friedmann in Howl verfilmt. 45 Ebd., 68.

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kannten erschossen wurde),46 gewinnen durch das Suchtleiden in Verbindung mit den poetischen und künstlerischen Äußerungen bzw. Handlungen (sub)kulturelle Tiefe, die auch den Journalisten James Andrews (30 Jahre) inspiriert. Er möchte einen Artikel über rauschgiftsüchtige Jugendliche schreiben und scheint doch selbst in der Szene gefangen. Thematisiert wird hier die direkte massenmediale Ausbeutung solcher Künstlerszenen, die den Keim des Neuen durch direkte Vermarktung im Entstehen ersticken. Auch wenn es generell keine spezifische »Beat-Programmatik« gibt, kann man aufgrund der Inhalte und dadurch der Haltung Adamovs47 von einer Beat-Generation-Dramatik sprechen. Es verwundert, warum der Autor dies in seinem Vorwort nicht benennt, entsteht doch das Stück zeitgleich zu Leslie Fiedlers Cross the Border – Close the Gap, was zu einer breitenwirksamen Rezeption der Beatniks führte.48 On me dira à coup sûr : l’Amérique n’est pas celle que vous montrez, […]. Et, quoi qu’il en soit, je n’ai pas voulu découvrir ici l’Amérique entière, mais un certain milieu social hétéroclite, qui s’étend à New York, entre Washington Square, la General Motors et la villa de Katharine Hepburn.49

Spätestens in den Rezensionen des Stückes hätte es Hinweise auf die Beat Generation geben müssen, doch diese bleiben völlig aus. In Italien ist man der Meinung, das Stück zeige ein »zu falsches Amerika«, das Grüber nur als eine »sorta di cloaca massima« inszeniere.50 Verzweifelt werden hochkulturelle Zuschreibungen gesucht, Adamov wird nur als »ex-profeta del teatro dell’assurdo« beschrieben, sein Ansatz als »neo-brechtiano«,51 als »un’opera chiusa«52 und mangels Kreativität im Umgang mit den neuen Literatur- bzw. Dramenformen werden im Name-Dropping-Modus bereits bekannte Autoren als Vergleich herangezogen, z. B. F. Scott Fitzgerald,53 Peter Weiss und natürlich Samuel Beckett und Eugène Ionesco. In Deutschland war 1972 zwar auch klar, dass es nicht mehr ausreicht, Adamov im Bereich des Absurden Theaters zu diskutieren, doch die 46 Ebd., 58. 47 Paetel 1968, 10. 48 Goer, Charis (2011): »Neues aus dem Westen. Frühe Rezeption und erste Übersetzungen der Beat Generation in Westdeutschland«. In: Lorenz, Matthias; Pirro, Maurizio (Hrsg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen. Bielefeld, 179–193. 49 Adamov 1969, 11. Übersetzung: »Sicher wird man mir sagen: Amerika ist nicht so, wie Sie es zeigen, […]. Ich wollte nicht das ganze Amerika enthüllen, sondern nur ein bestimmtes sonderbares soziales Milieu in New York, zwischen Washington Square, General Motors und der Villa von Katharine Hepburn.« Adamov 2015, 4. 50 Fontana, Carlo: »Nè amore nè rivoluzione in ›Off Limits‹ di Adamov.« In: Avanti. 02. 02. 1969. 51 Quadri, Franco: »Teatro«. In: Panorama 20. 02. 1969. 52 Lazzari, Arturo: »Camicia di forza per ›Off Limits‹ di Arthur Adamov. Un drama aperto e problematico bloccato su una sola idea.« In: L’Unità. 12. 02. 1969. 53 Quadri 1969.

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Kostüme können hier nur als »Anklänge an das elisabethanische Theater« oder als »Rückgriff auf die Antike« beschrieben werden, das Neue an seiner Dramatik wird auch hier nur in der Hinwendung zum Politischen (singulär in Bezug auf den Vietnamkrieg) gelesen: Neben Beckett und Ionesco wurde Adamov einst dem Dreigestirn der ›Absurden‹ zugerechnet. Erst unter dem Eindruck des Algerienkrieges Mitte der fünfziger Jahre wandelte er sich, über das unverbindliche Allgemeine hinaus, zu einem konkret politisch engagierten Autor. Er gehörte zu den Unterzeichnern des berühmten ›Manifests der 121‹, ›Off Limits‹, sein letztes Stück, ist Adamovs Antwort auf den Vietnamkrieg.54

Einzig der Autor Franco Quadri bietet zumindest einen Hinweis auf Popkultur, wenn er von Eduardo Arroyos Bühnenbild von »una scena pop« spricht und die Musik der Band Mothers of Invention nennt.55 Ob die Musik der Rockband in der deutschen Inszenierung weggelassen wurde, ist unklar. Die Süddeutsche Zeitung schreibt, es habe »unendliche Litanei Musik, von Peer Raben aus altenglischhöfischen Melodien, Madrigalschleifen, Koloraturläufer und Werbespotarien zusammengesetzt […]« gegeben.56 Peer Raben als Filmkomponist und die Werbespotarien mit Popart in Verbindung zu setzen wäre interessant gewesen, um, mit Fiedler gesprochen, das »closing of the gap between elite and mass culture«57 zu benennen, doch auch hier wird zusammenzufassend nur der hochkulturelle Begriff »Requiem«58 gefunden. Präziser ist da der Hinweis in der Frankfurter Rundschau auf die Sängerin, »die unablässig die belkantoselige Romanze der Mathilde aus Rossinis ›Wilhelm Tell‹ singt (mit einem englischen Text von Paradiesvögeln, die über die Gipfel fliegen) […].«59 Doch eine Erklärung, warum ausgerechnet Wilhelm Tell gewählt wird, bleibt aus. Dabei wäre hier ein Verweis auf Beatnik William S. Burroughs nicht weit hergeholt. William, auf Deutsch Wilhelm, hatte am 6. September 1951 in Mexiko City seine Ehefrau Joan Vollmer Adam im Rausch in einer nachgespielten Wilhelm-Tell-Apfel-Szene erschossen, ein schockierendes Ereignis, das in den Medien so bekannt wurde, dass es die Kunst z. B. in den Arbeiten Bullet oder 1951 des Andy-Warhol54 Schwab-Felisch, Hans: »Bricht Brecht? Die Situation des Düsseldorfer Schauspielhauses und Grübers Inszenierung von Adamovs ›Off Limits‹.« In: Theater Heute. November-Heft 1972. 55 Quadri 1969. 56 Baumgart, Reinhard: »Zerstörtes Leben, zu schöner Zerstörung. Klaus Michael Grüber inszeniert Adamovs ›Off Limits‹ in Düsseldorf.« In: Süddeutsche Zeitung 3. 10. 1972. 57 Basierend auf einem Vortrag in Freiburg 1968 erschien im Oktober 1968 in der deutschen Wochenzeitung Christ und Welt unter dem Titel Das Zeitalter der neuen Literatur der Essay, der 1969 im Männermagazin Playboy unter dem Titel Cross the Border – Close the Gap veröffentlich wurde. Hier zitiert aus: Fiedler, Leslie (1977): »Cross the Border – Close the Gap«. In: Fiedler, Leslie: A Fiedler Reader. New York, 270–294, 277. 58 Baumgart 1972. 59 Schreiber, Ulrich: »Ein Schritt in die Gegenwart. Grüber inszenierte Adamovs letztes Stück ›Off Limits‹.« In: Frankfurter Rundschau. 4. 10. 1972.

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Schützlings Jean-Michel Basquiat (1960–1988) rezipierte. William S. Burroughs Jr., Burroughs Sohn, verarbeitete die miterlebte Schreckensszenerie in seinem Buch Kentucky Ham (1973). Jakob Tanner weist in seinem Aufsatz »Amerikanische Drogen – europäische Halluzinationen« mit Hilfe des Wilhelm-TellStoffes den keinesfalls einseitigen kulturellen Einfluss zwischen Europa und Amerika nach, wobei er hier Burroughs in eine Reihe mit Schillers Wilhelm Tell und Webers Freischütz stellt.60 Die Arie der Mathilde ist die einzige Sopranarie in Rossinis Oper Guillaume Tell und ein klarer Verweis auf die Liebesromanze zwischen Jim und Sally. Musikalisch, aber auch textlich könnte man das Stück als Liebesrausch beschreiben, ein Pärchen, das nur »high« von dem Liebessturm »runterkommen« kann, unablässig ist die Rede von (be)trunkenen Herzen in Ekstas(i)e: Mathilde: ›It is on the hills, in the dwelling-place of the storm, that my heart can be restored to peace.‹ Arnold: ›This tender way you speak makes my heart drunk with delight! Etc. Everything here foretells my happiness. What ecstasies for my heart! Etc.‹

Wenn also im Stück von Paradiesvögeln gesungen wurde, dann ist auch das ein klarer Verweis auf einen Rauschzustand und nicht, wie vermutet, »Kitsch«, der nur verwendet wird, um die »Ekelhaftigkeit des Dialogs« auszuhalten. Dass die Beat Generation durchaus Interesse und Bildung im Bereich klassischer Musik oder Literatur besaß und aus dem tiefen Verständnis und der Leidenschaft für berühmte Klassiker der Weltliteratur heraus überhaupt erst Neues kreieren konnte, wird durch den Fokus auf die obszönen Themen wie Sex und Drogen völlig vergessen. Ähnliches gilt in Bezug auf das Bühnenbild. Es sind der »giftgrüne Teppichrasen« und das »mehrstöckige Plastikpodest im hässlichsten Badezimmerrosa«61 oder die rosa Freiheitsstatue, die vielleicht als »infantilismo ideologico e impotenza creativa«62 Erwähnung finden, jedoch nicht mit Andy Warhols Popart in Verbindung gebracht werden, obwohl dies die Signalkontrastfarben seiner Siebdrucke sind. Die Bühnenkomposition stellt die Freiheitsstatue als Teil der Alltags- und Massenkultur dar, die in Rosa gehüllt bewusst das Triviale der unerfüllten Politik, den Konsum ohne Tiefe und die psychische Leere der Wohlstandsgesellschaft thematisiert. Diese Verflachung ist typisch auch für Arroyos Malereien, in denen die Portraits oftmals ohne Gesicht, ohne räumliche 60 Tanner, Jakob (2006): »Amerikanische Drogen – europäische Halluzinationen.« In: Linke, Angelika u. Tanner, Jakob: Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa. Köln, 267–288. 61 Baumgart 1972. 62 Reborie, Roberto: »Ceramiche rosa per il party americano. Off Limits di Arthur Adamov.« In: Sipario -Milano. März 1969.

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und ohne farbliche Abstufungen von einer starken Entindividualisierung geprägt sind und nicht, wie es in der Süddeutschen Zeitung vermutet wird, »wie in Comics als Zeichen«63 fungieren. Off Limits war die erste Zusammenarbeit von Arroyo und Grüber, der 1968 eine Ausstellung von ihm gesehen hatte.64 Das für die Performance Art der 1970er so spezifische Zerfließen der Kunstgrenzen wird hier also nicht nur durch die Happenings in Adamovs Stück sichtbar, sondern auch in der Inszenierung Grübers. Auch hier fällt es schwer zu verstehen, weshalb die Popart, eine in dieser Zeit führende Kunstrichtung, in den Rezensionen nicht diskutiert wird. Spätestens die Ignoranz, die museale Ansammlung von Toiletten auf der Bühne nicht als Hinweis auf Duchamp zu lesen, erfordert eine Auseinandersetzung mit Leslie Fiedlers Essay Cross the Border – Close the Gap. Wenn auch in einigen Kritiken das Wort Bidet oder die Bühne als Kloake erwähnt wird, so fällt doch nirgends das Wort Pissoir, das Readymade, das objet trouvé mit dem Duchamp 1917 den Kunstbegriff und damit den Kunstmarkt revolutionierte und damit auch Andy Warhol nachhaltig beeinflusste. Ohne Duchamp keine Popart.

Off Limits: Mario Valdemarin (George Watkins), Clara Zovianoff (Luce Herz), Vincenzo De Toma (Humphrey O’Douglas), Piccolo Teatro, Mailand, 1969.

63 Baumgart 1972. 64 Dermutz, Klaus: »Die zwei, drei Frägelein, die wir haben. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band.

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Zur Parsifal-Inszenierung von 1990 schreibt Grüber über die Zusammenarbeit mit dem Maler Gilles Aillaud, den er ebenfalls über Arroyo kennenlernte: Und dann hat Gilles beim Gral noch gesagt – ein objet trouvé. Wenn Gilles Aillaud so etwas sagt, dann spannt es bei mir, mir langt das. Wenn er dann weiter macht, von einem Stein redet, aber mir langte objet trouvé. Ein Bühnenbildner würde das nicht sagen, ein Kostümbildner auch nicht. Objet trouvé hat für mich einen Umkreis. Es kommt darauf an, in welcher Sprache das ist, bei »Fundsache« springe ich überhaupt nicht an. Bei objet trouvé kann bei mir nichts mehr schiefgehen. Es kann dann etwas ganz Anderes sein. Gilles sagt objet trouvé vielleicht, weil er nicht weiter darüber nachdenken will, während es für mich das Schlüsselwort ist. Ich umkreise es. Es kann das hässlichste Ding sein, aber es wird für mich richtig sein. Bei Gilles ist es oft so, dass er nebenher etwas sagt. Ich bin bei solchen Gesprächen der beste Zuhörer auf der Welt oder der cleverste Dieb, man kann alles nehmen, ich bin da sehr clever.65

Für Eduardo Arroyo muss das Pissoir Duchamps schon 1968 ein sehr bewusst eingesetztes Bühnenelement gewesen sein. Es ist die Ästhetisierung des Alltags, das Ausdehnen des Kunstbegriffs ins Leben der Individuen, das in Off Limits Thema wird und so sehr fasziniert, dass Journalisten und Fernsehproduzenten es festhalten und ausstellen möchten. Abschließend kann man mit Fiedler die Kritiker von Off Limits 1969 in Italien und 1972 in Deutschland wie folgt charakterisieren: »[They] end by proving themselves imbeciles and naïfs when confronted by, say, a poem of Allen Ginsberg, […].«66 Wenn Fiedler also beschreibt; »[…] in a time of Closing the Gap, literature becomes again prophetic and universal – a continuing revelation appropriate to a permanent religious revolution«,67 dann gilt das auch für das Theater Europas – sowohl für Arthur Adamov als auch für Klaus Michael Grüber. Grüber, von seinem ganzen Wesen her Beatnik, bewies darüber hinaus durch seine Inszenierung, dass er das Amerika dieser Zeit und seinen künstlerischen und kulturellen Einfluss auf Europa besser verstand als jeder Journalist dieser Zeit.

Literaturverzeichnis Abbado, Claudio (2008): »Klaus glaubt an die Sachen, die er macht«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 101. Adamov, Arthur (1969): Off Limits. Mayenne. 65 Dermutz, Klaus: »Die zwei, drei Frägelein, die wir haben. Gespräch mit Klaus Michael Grüber«. In diesem Band. 66 Fiedler, Leslie (1977): Cross the Border – Close the Gap. In: Fiedler, Leslie: A Fiedler Reader. New York, 270–294, 271. 67 Ebd. S. 294.

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Adamov, Arthur (2015): Off Limits. Deutsch von Wolfgang Kirchner Textbuch. München. Bachler, Klaus (2008): »Grüber ist eine menschliche Instanz«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 109. Baumgart, Reinhard: »Zerstörtes Leben, zu schöner Zerstörung. Klaus Michael Grüber inszeniert Adamovs ›Off Limits‹ in Düsseldorf.« In: Süddeutsche Zeitung, 3. 10. 1972. Benjamin, Walter (1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M., 5. Bewerbung für die Filmhochschule Łódz´ in diesem Band. Siehe hierzu ebenfalls: https://de. wikipedia.org/wiki/Staatliche_Hochschule_für_Film,_Fernsehen_und_Theater_Łódz´. Dermutz, Klaus: »Die zwei, drei Frägelein, die wir haben«. Gespräch mit Klaus Michael Grüber. In diesem Band. Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber – Homo Viator«. In diesem Band. Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung«. Gespräch mit Friedemann Kreuder. In diesem Band. Dermutz, Klaus: »Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis«. Gespräch mit Klaus Michael Grüber. In diesem Band. Fiedler, Leslie (1977): »Cross the Border – Close the Gap«. In: Fiedler, Leslie: A Fiedler Reader. New York, 270–294, 277. Fontana, Carlo: »Nè amore nè rivoluzione in ›Off Limits‹ di Adamov.« In: Avanti. 2. 02. 1969. Ganz, Bruno (2008): »Klaus ist ein schöner Mensch«. In: Dermutz, Klaus: Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen. Berlin, 113–127, 113. Goer, Charis (2011): »Neues aus dem Westen. Frühe Rezeption und erste Übersetzungen der Beat Generation in Westdeutschland«. In: Lorenz, Matthias; Pirro, Maurizio (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen. Bielefeld, 179–193. Iden, Peter (1979): Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970–1979. München. Kramer, Ursula (Hrsg.): Theater mit Musik: 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen. Bielefeld, 409–432. Kreuder, Friedemann: »Aldilà teatrale – Hamlet und die andere Welt«. In diesem Band. Lazzari, Arturo: »Camicia di forza per ›Off Limits‹ di Arthur Adamov. Un drama aperto e problematico bloccato su una sola idea.« In: L’Unità, 12. 02. 1969. Michaelis, Rolf (1988): »Jeder Satz eine Katastrophe. Probennächte mit Klaus Michael Grüber zu Hölderlins ›Empedokles‹, 24.–29. November 1975.« In: Carstensen, Uwe B.: Regie im Theater. Klaus Michael Grüber. Frankfurt, 78–79. Paetel, Karl O. (1968): Beat. Eine Anthologie. Hamburg, 12. Quadri, Franco: »Teatro« In: Panorama 20. 02. 1969. Reborie, Roberto: »Ceramiche rosa per il party americano. Off Limits di Arthur Adamov.« In: Sipario -Milano. März 1969. Richards, Keith u. Fox, James (2010): Life: Keith Richards. Schreiber, Ulrich: »Ein Schritt in die Gegenwart. Grüber inszenierte Adamovs letztes Stück ›Off Limits‹.« In: Frankfurter Rundschau. 4. 10. 1972. Schuler, Constanze (2014): »Musikalische Rauminszenierungen. Zum Verhältnis von Musik und Szene bei Max Reinhardt, Klaus Michael Grüber und Heiner Goebbels«. In: Smith, Patti (2010): Just Kids.

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Schwab-Felisch, Hans: »Bricht Brecht? Die Situation des Düsseldorfer Schauspielhauses und Grübers Inszenierung von Adamovs ›Off Limits‹«. In: Theater Heute. NovemberHeft 1972. Tanner, Jakob (2006): »Amerikanische Drogen – europäische Halluzinationen«. In: Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa. Köln: Böhlau, 267–288, 267. L’homme de passage. Der Regisseur Klaus Michael Grüber, Regie: Christoph Rüter, WDR/ arte, 1999.

Grübers Anfänge in Bremen

Rudolf Mast

In der Talentschmiede. Grüber in Bremen

Das gibt es heute, wenn überhaupt, wohl nur noch beim Fußball, und heißen würde es dort: Talentschmiede. Zu verstehen ist darunter ein Ort, an dem Talente zusammengeführt und entwickelt werden, bis ihre Fähigkeiten derart hervorstechen, dass ihnen auf ihrem Gebiet eine Ausnahmestellung zukommt – und sie deshalb abgeworben werden. Früher war nicht alles besser, aber einiges anders, und eine solche Talentschmiede kannte man auch vom Theater. Der Ort, an dem sie stand, hieß Bremen und der Mann, der sie leitete, ja, ge- und begründet hatte, Kurt Hübner. Hübner war, aus der noch kleineren Stadt Ulm kommend, 1962 Intendant des Theaters der Hansestadt geworden, dorthin mitgebracht hatte er einige junge Theaterleute, die in Schwaben begonnen hatten, sich einen Namen zu machen, einen Namen, der in der deutschen und europäischen Theaterlandschaft schon bald einen Klang wie Donnerhall haben sollte. Unter diesen Talenten fanden sich Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängerinnen und Sänger, Bühnenbildner und Regisseure, die das deutschsprachige Theater über Jahrzehnte prägen sollten, und ohne eine Rangliste der Talente aufstellen zu wollen, seien hier Peter Zadek und Wilfried Minks hervorgehoben. Zadek hatte als Emigrant in England das Regiehandwerk erlernt und 1958 zum ersten Mal in Deutschland inszeniert. Bereits im Jahr darauf verpflichtete Kurz Hübner ihn nach Ulm, wo das Theater provisorisch in einer Mädchenschule untergebracht war. Beide fanden dort Wilfried Minks vor, der schon ein halbes Jahr unter dem scheidenden Intendanten gearbeitet hatte. Zwei Jahre später zogen sie gemeinsam nach Bremen weiter, wo sie ein Theater auf die Bretter stellten, für das sich schnell der Begriff »Bremer Stil« einbürgerte, dessen hervorstechende Eigenschaft es war, dass es ihn nicht gab, nicht jedenfalls in dem vereinheitlichen Sinne, in dem der Begriff »Stil« normalerweise gebraucht wird. In Bremen war damit eine Zeitbezogenheit gemeint, die sich in unterschiedlichsten theatralischen Formen und Spielweisen ausdrücken konnte – sofern sie denn weder verkitscht noch (anderweitig) verlogen waren.

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Doch auch und gerade in einer Talentschmiede ist nichts beständiger als der Wandel, und der bringt es mit sich, dass Talente, kaum dass sie ausgereift sind, das Weite suchen, weil sie andernorts bessere Möglichkeiten wittern – sei es des Verdienstes, sei es der (künstlerischen) Selbstverwirklichung, gegebenenfalls auch beides. In diesem Falle war es Peter Zadek, der nach einigen Jahren als Oberspielleiter Unlust erkennen ließ, die ihre Ursache nicht zuletzt in konträren politischen Positionen zur aufziehenden »68er«-Bewegung hatte – konträr etwa zu Peter Stein, den Kurt Hübner kurzerhand aus München geholt hatte, wo er mit Edward Bonds »Gerettet« seine erste Inszenierung abgeliefert hatte. Nach der Premiere erhielt er ein Telegramm von Hübner mit dem Angebot, in Bremen Schillers »Kabale und Liebe« zu inszenieren. Der Aufführung von 1967 folgte nur eine weitere Bremer Arbeit Steins, die allerdings weitreichende Folgen haben sollte, war doch Goethes »Tasso« von 1969 die Keimzelle der »neuen« Berliner Schaubühne, weil mit der Inszenierung auch Schauspieler wie Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz und Michael König die Talentschmiede Bremen verließen, in die sie als Namenlose eingetreten waren. Auch für den abwanderungswilligen Peter Stein hatte Kurt Hübner rasch einen Nachfolger gefunden, und zwar erneut in München. Er hieß Rainer Werner Fassbinder und leitete dort das Antiteater, das ohne »h« auskommen musste, weil es als Gegenmodell zum Stadt- und Staatstheater gedacht war. Ungeachtet dessen ließ sich der junge, bis dato nahezu unbekannte Fassbinder an ein solches Theater engagieren und zeichnete dort – stets mit Wilfried Minks als Bühnenbildner – bis 1971 für vier Inszenierungen verantwortlich, die, beginnend 1969 mit »Das Kaffeehaus« nach Goldoni, die gleiche Handschrift tragen wie die Filme, die ihm später internationale Bekanntheit einbringen sollten. Parallel hatte Kurt Hübner ein weiteres Regietalent verpflichtet, das ausfindig zu machen noch schwieriger gewesen war, da Hübners Weitblick dafür nicht nur bis München, sondern bis über die Alpen reichen musste. Im Piccolo Teatro zu Mailand von Giorgio Strehler assistierte ein junger Deutscher, auf dessen Werkliste bis dato lediglich zwei Inszenierung standen: Brecht/Seghers’ »Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen« in Mailand sowie Goldonis »Der Impresario von Smyrna« in Freiburg. Sein Name: Klaus Michael Grüber. Diesen jungen Mann, noch nicht dreißig Jahre alt und im Grunde Berufsanfänger, holte Hübner nach Bremen und ließ ihn auf der großen Bühne einen wahren Brocken stemmen: Shakespeares »Der Sturm« – in einer zeitgenössischen Übertragung allerdings, die den Gattungsbegriff »Zauber-Lustspiel-Märchen« trug. Premiere war am 18. November 1969, die Rolle des Prospero übernahm Grüber selbst – »kurzfristig«, wie es auf dem Besetzungszettel heißt, denn Willy Trenk-Trebitsch, der sie eigentlich spielen sollte, war zwei, laut anderen Quellen vier Tage vor der Premiere abgesprungen, weil er, wie Erich Emigholz in seiner

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Premierenkritik schrieb, mit Grüber »nicht auf einen gemeinsamen Nenner gekommen war«.1 Es zeugt von Hübners Mut, aber auch vom Vertrauen in die eigene Urteilskraft, dass er diesen drei jungen, noch weitgehend namenlosen Regisseuren drei Inszenierungen anvertraute, die binnen weniger Monate desselben Jahres 1969 und sämtlich im Großen Haus Premiere hatten. Das hätte gründlich ins Auge gehen, weil das Publikum vergraulen können. Doch wie sich diese drei Arbeiten rückblickend als erster Nachweis dreier unverwechselbarer künstlerischer Handschriften erwiesen, nahm sie der sachkundige Zeitgenosse als ersten Nachweis eines »neuformulierten Theaters«.2 Dass sich die Arbeiten der doch so unterschiedlichen Regisseure auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen, war neben der Schulung an und mit Brecht, auf die sie alle verweisen konnten, einer Ästhetik zu verdanken, die zum Großteil aus der Feder Wilfried Minks stammte, der für alle drei Inszenierungen das Bühnenbild entwarf. Gemeinsam ist ihnen das ostentative Ausstellen der Künstlichkeit des natürlichen Raumes, in dem sie spielen. Im »Tasso« meint das den Garten des Herzogs von Ferrara, im »Kaffeehaus« die venezianische Piazetta und im »Sturm« Prosperos Insel. Die Künstlichkeit der Bühnenräume war jedes Mal so sehr in den Exzess getrieben, dass sie schon wieder natürlich wirkte. Dem angeglichen war das Spiel der Darsteller, die die vertraute – ihnen wie dem Publikum – psychologische Fundierung der Figuren durch deren völligen Entzug oder die radikale Übersteigerung ersetzten. In der Summe ergab sich daraus eine Ästhetik, die rasch mit dem Etikett »Manierismus« versehen wurde – ein Begriff, der, wie in anderen Epochen der Kunstgeschichte auch, meist als Vorwurf gemeint war. Vor jeder Wertung jedoch bleibt festzuhalten, dass die Bühnenräume dieser drei Inszenierungen längst ikonisch geworden sind, im Falle von Grübers »Sturm« vor allem durch den großen Neonbogen, der die namenlose Insel überspannte, die wiederum aus echtem Sand bestand und sich vor einer metallen glänzenden und reflektierenden Rückwand befand, die, wie der grüne Rasen davor, unmittelbar Steins »Tasso« entlehnt war, während die Figuren, die am Bühnenrand aufgestellt waren, exakt die richtige (Über-)Größe hatten, um sich an der hünenhaften Torte zu bedienen, die im Zentrum von Fassbinders »Kaffeehaus« stand. Nicht nur weil Peter Stein nach dem »Tasso« dem Bremer Theater den Rücken zukehrte, mit ihm die meisten beteiligten Schauspieler, blieb das Aufeinandertreffen dreier so unterschiedlicher, in ihrer Unterschiedlichkeit so ähnlicher Regisseure in Bremen eine auf das Jahr 1969 beschränkte Episode. Und wie 1 Emigholz, Erich, »Die Spinne im Netz«, in: Bremer Nachrichten, 21.11.69. 2 Rühle, Günther, »Der Aufbau eines Kunstwerks«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.69.

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Der Sturm: Ensembleszene mit Klaus Michael Grüber als Prospero (Zweiter von rechts), Bremer Theater, 1969.

Fassbinder, so inszenierte Grüber erst 1971 wieder in Bremen, nicht ohne jedoch erneut Neuland zu betreten, denn seine zweite Bremer Arbeit war seine erste Inszenierung einer Oper, einer Oper jedoch, die nicht aus dem klassischen Repertoire stammt, sondern aus der Feder des »Neutöners« Alban Berg, dessen »Wozzeck«, nach mehreren Verschiebungen, am 8. April 1971 – Gründonnerstag – im Bühnenbild von Eduardo Arroyo Premiere hatte. Zu den Absichten, die er mit dieser Arbeit verfolgte, äußerte sich Grüber im Programmheft: »Diese Oper ist Modellfall für das Verhalten des deutschen Intellektuellen zu politischer Realität«, hieß es dort. »Sie läßt sich mit dem armen Teufel ein und zu ihm herab und meint, Das reicht: Realität ›künstlerisch in den Griff zu kriegen‹, Mitleid zu wecken und Sympathie. Solch eine Einstellung verwischt Gegensätze, verniedlicht, überbrückt, wo klarer Hinweis auf Risse notwendig ist.« Das Antidot, das Grüber verschrieb: »Kein Mitleid, keine Sympathie für Wozzeck. Nicht Wozzeck aufbauen, sondern uns in unserem Verhältnis zu ihm infrage stellen, unseren Mitteln mißtrauen, keine Lösungen erstreben, eher Ahnung schaffen für die Tragik der Entfernung zwischen Kunst und Wirklichkeit. Zeigen, wie künstlich Kunst zwangsläufig sein muss.« Was hier programmatisch formuliert ist, schlug sich in der Inszenierung auf allen Ebenen nieder, angefangen vom Bühnenbild, das eine überdimensionierte, mit Flechtwerk bespannte Sitzfläche eines Stuhls ins Zentrum stellte, unter der

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Weltmeisterschaft im Klassenkampf: Ensembleszene mit Puppen, Bremer Theater, 1971.

sich der Müll der Wohlstandsgesellschaft angesammelt hat, während darauf ein viel zu kleines Wohnhaus stand, das die Personage viel zu groß erscheinen ließ. Und auch in der schlugen sich die theoretischen Vorgaben nieder, denn Grüber besetzte sämtliche Hauptrollen doppelt, mit Sänger/Sängerin und Schauspieler/ Schauspielerin. So erweist sich der Manierismus, wie er zu Beginn der 70er Jahre in Bremen praktiziert wurde, als Bruder im Geiste der Brecht’schen Verfremdung. Diese Verwandtschaft zeigte sich auch an der folgenden Inszenierung Grübers, die nur zwei Monate später, und zwar am 20. Juni 1971, Premiere hatte: Peter O. Chotjewicz’ »Weltmeisterschaft im Klassenkampf«, eine »allegorische Utopie« nach Motiven von Majakowskij, ausgetragen auf der »Experimentalbühne« im Concordia, die, von Wilfried Minks maßgeblich betrieben, dem Ausprobieren neuer Spielformen diente. Und wie Fassbinders Stück »Bremer Freiheit«, das nur ein halbes Jahr später am selben Ort uraufgeführt wurde, griff auch die »Weltmeisterschaft« auf ein Ereignis aus der Bremer Stadtgeschichte zurück: das kurze Leben der Räterepublik, ausgerufen im November 1919. Damit leistete die Inszenierung der Aufforderung Majakowskijs Folge, sich seines Stückes zu bedienen und es bei Bedarf »minutengerecht« zu verändern.

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Wozzeck: Klaus Michael Grüber (Mitte) während einer Probe, Bremer Theater, 1971.

Julius Caesar: Ensembleszene, Bühne: Wilfried Minks, Bremer Theater, 1972.

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»Minutengerecht« geriet vor allem das äußere Erscheinungsbild der Aufführung, die auf der kleinen Bühne des Concordias großes Geschütz auffuhr. Auf dem von Wilfried Minks gestalteten Geviert, in dessen Ecken dreifach mannshohe SeeElefanten – als solches werden die Riesenwesen in der zeitgenössischen Presse identifiziert –, tummelten sich »40 Darsteller, 36 Schneider, die sie bekleideten, 8 Maskenbildner, 17 Beleuchter und eine mehrfache Anzahl von Malern, Plastikern, Zimmerleuten, Tischlern, Dekorateuren, Gerüstbauern und Transportarbeitern«.3 Zum Einsatz kamen Leuchtschriften, Podeste, Gerüste sowie Schaukeln, an denen die Darsteller baumelten – selbstverständlich und zu ihrer eigenen Sicherheit unter strengen Auflagen der Baupolizei. Die Folge war, dass lediglich hundert Zuschauer pro Abend dem zirzensischen Treiben folgen durften. Ein solches Verhältnis von Ertrag und Aufwand empfanden manche in der Hansestadt als schief, und so entzündete sich eine hitzige Debatte um die Frage, welchen Preis eine Theaterinszenierung haben darf – die »Weltmeisterschaft« kostete 100.000 DM. Manch einer nutzte die ablehnenden Stimmung aus, um darin sein politisches Süppchen zu kochen, wie etwa die Bremer Jungen Sozialisten, die auf einem Flugblatt in missverständlicher Grammatik klagten: »Die Inszenierung dient der Selbstbefriedigung der künstlerischen Leitung des Theaters, nicht der Bevölkerung.« Dass derartige Stimmen zahlreich und grundsätzlich waren, war Grübers nächster Inszenierung, erneut einer Oper, schon am Programmheft anzusehen, dessen Titelblatt den abgebrochenen Pfeil trug. Mit der Abwandlung seines Signets reagierte das Bremer Theater auf die Weigerung der Stadt, Hübners Vertrag über die Spielzeit 1972/73 hinaus zu verlängern. Das Programmheft, von dem hier die Rede ist, gehörte zu Händels »Julius Caesar«, jener Oper, die in Grübers Regie am 6. Februar 1972 Premiere hatte. Der Abend endete in einem »Skandal, wie man ihn in solcher Heftigkeit im Bremer Theater am Goetheplatz noch nicht erlebt hat«.4 Zustimmung und Ablehnung brachen sich lauthals Bahn, und in dem eine Viertelstunde währenden Tumult wurden Rufe wie »Hübner raus« laut, die man sonst nur vom Fußball kennt. Worin der Stein des Anstoßes bestand, wurde bereits im Bühnenbild von Wilfried Minks kenntlich, der die Handlung in das Innere eines aufgeklappten Flügels verlegte, dessen Klaviatur die Rampe bildete. So wurde bereits auf den ersten Blick ersichtlich, dass und wie Grüber mit dem »Julius Caesar« jenes Konzept des »Misstrauens« gegenüber den theatereigenen künstlerischen Mitteln fortschrieb, das er mit dem »Wozzeck« begonnen hatte und hier auf das Publikum ausdehnte, indem er den Versuch, »ein neues Verhältnis zu der 3 Dr. S., »Die Weltrevolution noch ein Mysterium?«, in: Norddeutsche Volkszeitung, 22.6.71. 4 »Skandal bei ›Julius Caesar‹«, in: Weser-Kurier, 7.2.72.

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Das letzte Band: Bernhard Minetti (Krapp), Bremer Theater, 1973. Minetti beim Gastspiel während des Berliner Theatertreffens 1974.

Kunstform zu gewinnen«, um das Ziel erweitert, »eine neue Bewusstseinshaltung beim Zuschauer zu erreichen«. So zumindest äußerte er sich auf einer Diskussionsveranstaltung im Anschluss an die zweite Vorstellung des »Julius Caesar«, bei der die Wogen, die die Premiere aufgeworfen hatte, geglättet werden sollten.5 Das Ende der Bremer Talentschmiede war indes nicht mehr aufzuhalten. Und so fragwürdig der Vorgang selbst ablief, so seltsam geriet die Begründung, zu der sich der zuständige Kultursenator flüchtete, als er erklären ließ, »Bremen brauche einen Intendanten, der das Experiment nicht scheue, aber auch die Klassiker pflege«.6 Es blieb Klaus Michael Grüber vorbehalten, die Ära Hübner zu beenden. Die letzte Inszenierung des Schauspiels im Theater am Goetheplatz hatte am 24. Mai 1973 Premiere. Das Stück war zu dem Anlass passend gewählt: »Das letzte Band« von Samuel Beckett, in dem ein alter Mann namens Krapp, gespielt von Bernhard Minetti, seine Lebensbilanz einem Tonband anvertraut. Grüber ließ den Abend vor der nackten Brandmauer des Theaters spielen, in dem die Umbauarbeiten für den neuen Intendanten bereits begonnen hatten. Die Worte, mit denen das Stück 5 Dree (=Erich Emigholz), in: Bremer Nachrichten, 19.2.72. 6 »Bremer Bredouille«, in: zitiert nach Theater heute, 1/72, S. 2.

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endet, klingen fast wie eine Bilanz der Ära Hübner: »Vielleicht sind meine besten Jahre dahin. Da noch eine Aussicht auf Glück bestand. Aber ich wünsche sie nicht zurück. Jetzt nicht mehr, wo dieses Feuer in mir brennt. Nein, ich wünsche sie nicht zurück.«7

7 Beckett, Samuel (1974): Das letzte Band, La dernière band, Krapp’s last tape, Frankfurt am Main, 44.

Klaus Michael Grüber

Das Ende des Märchens

Prospero wird müde. Er vergisst schon die Namen der anderen. Sie gehen von der Bühne, Wahnsinn und Alptraum sind vorüber. Prospero liest in seinem Zauberbuch. Er ruft: »Ariel…?« Er schämt sich ein bisschen. Das Märchen verrinnt zwischen seinen Fingern. Prospero vergräbt sich im Sand.

Der Sturm: Klaus Michael Grüber sprang kurz vor der Premiere als Prospero ein. Kostüm- und Bühnenbildner Wilfried Minks legt Grüber Prosperos Mantel um, Bremer Theater, 1969. Notat zur »Sturm«-Inszenierung 1969 am Theater Bremen.

Berichte und Protokolle

Bernard von Brentanos »Rudi« (1979)

Stabschauspielersitzung vom Donnerstag, dem 26.10.78, Protokoll Nr. 632 Nächste Produktion von K. M. Grüber Grüber: In der Überlegung, wie könnte man da auch eine ganz kleine Prämisse zu so einem »BERLIN-Projekt« machen, wie könnte man da auch eine ganz kleine Einführung machen, habe ich dieses Büchlein, das ich schon vor längerer Zeit einmal in Straßburg in einem Antiquariat aufgestöbert habe, wieder hervorgeholt; und irgendwie hat mir das in Bezug auf die verschobene Perspektive, mit Bezug auf die Vorstellung einmal etwas ganz kleines, ganz winziges über Berlin anrollen zu lassen, sehr gefallen. Ich will das jetzt nicht im Zusammenhang begründen – (das können wir dann später im Gespräch machen) – warum es mir Spaß gemacht hat, das mit diesem eigenartigen Gedicht von dem uns etwas bekannteren Hölderlin zusammenzulesen; wieso es da irgendwelche Parallelitäten gibt. Ihr könnt Euch ja vorstellen, dass es nicht einfach war, sich zu so einer »Kleinkunst«, zu diesem »Feuilleton« (in bestem Sinne) zu entscheiden. Ich habe wiederum versucht, mit Bernard Pautrat und Recalcati in Paris etwas herauszubekommen, und mir da ein bisschen eine Position zu erarbeiten; ich habe dann auch bestimmte Vorstellungen entwickelt, und zwar in Zusammenhang mit dem METROPOL-Gebäude, das Ihr ja alle kennt; in diesem Zusammenhang war das sehr einleuchtend. Dieses eigenartige Gebäude ist so mit Inhalten belegt; (und zwar nicht nur durch Piscator); es ist ein Ort wo, grob gesprochen, »linke« Inhalte verteidigt wurden, und hat jetzt eine eigenartige Geschichte durchgemacht (die ich geradezu genial für die Aufteilung eines linken Theaters finde): Auf der linken Seite ist , wie Ihr wisst, die Bank, in der Mitte ist das Porno, und auf der rechten Seite ist »Jesus People«. Doch wir sprechen über eine Geschichte, die wahrscheinlich schon vorbei ist; das Gebäude wird zurzeit in eine Diskothek umgebaut, und ich habe mir natürlich nie vorgestellt, das im Theater zu machen, oder in einem beliebigen außertheatralischen Raum, sondern genau in diesem

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METROPOL-Kino. Ich wollte vorschlagen, einfach an mehreren Tagen ein- oder zwei Vorstellungen dieses Pornos zu mieten, denn jedes Mal, wenn ich drin war, saßen neben mir zwei Türken oder ein deutscher älterer Herr, und ich habe natürlich schon gemerkt, dass da nichts läuft, und dass man diesen Laden ganz einfach hätte kriegen können. Ich habe mir vorgestellt, dass man diese Filme, diese lauwarmen Dinger, einfach laufen lässt, und sie bloß ab und zu unterbricht und so eine Geschichte hereinschiebt; dass man in das Geschehen dieses Ortes hineingeht, ohne den Ort zu verändern, weder vom Dekor, noch von irgendeiner möglichen »Besitzergreifung« her; (im Sinne von »da machen wir jetzt ein ganz anderes Theater daraus«). Wie das dann genau vor sich hätte gehen sollen, darüber kann man sich noch ein bisschen mehr unterhalten; aber grundsätzlich hätte man einfach diese »Berliner Novelle« in kleinen Abschnitten in diesen mehrsprachigen Pornos hereingeschnitten, als Archäologie von irgendetwas, was in diesem Raum, (oder in solchen Räumen) einmal gelebt hat.

Rudi: Klaus Michael Grüber (links vorne) Paul Burian lauschend, Hotel Esplanade, Berlin 1979.

Ich habe jetzt auch mit den neuen Besitzern verhandelt, aber die wollen natürlich diese ganze »Disko-Geschichte« ausnutzen, weil sie ganz genau wissen, dass das in kürzester Zeit wieder bankrott ist; und die können darum auf so ein Projekt keine Rücksicht nehmen. In dem Zustand, in dem der Raum noch ist, ist er fabelhaft; er hat sowas von »Geschichte«, und von »Umkippsituation«; – Dinge, die uns, glaube ich, auch im ersten BERLIN-Gespräch so interessiert haben, als wir darüber sprachen, wie über so eine »punische Erde« plötzlich eine »römische« kommt. Aber wir können das nicht mehr aufhalten, die Herren machen

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jetzt ganz schnell ihren Travolta da herein. (…) Die wollen am 14. Dezember da raus, und die können das nicht mehr aufhalten; sie müssen das ganze Weihnachtsgeschäft ausnützen; denn morgen kommt irgendein Gartenzwerg, der Herrn Travolta ablöst, und dann funktioniert diese Geschichte nicht mehr. (…) Aber wie gesagt, dieses »RUDI-Projekt« war für mich sehr an diese Situation gebunden. Und jetzt bin ich zuerst einmal unglaublich verblüfft. Ich bin da mit einer Riesensicherheit angekommen, dass da keine Schwierigkeiten mehr bestehen; denn auf der letzten Berlin-Rundfahrt habe ich mir den Ort ganz genau angeschaut, und ich war überzeugt, dass da keine Schwierigkeiten mehr bestehen, und dass ich mich da hereinsetzen kann. Deswegen habe ich unheimlich vor mich hinspekuliert und vor mich hingeträumt, und jetzt sieht die Situation vollkommen anders aus. Ich bin hergekommen, und habe Peter mitgeteilt, dass die Sache mit dem Metropol zunächst einmal ein Vorschlag ohne Alternative ist, was wiederum bedeuten würde, dass wir dieses Jahr nichts mehr machen können. Aber ich habe unheimlich viele Schwierigkeiten gehabt, mich zu so etwas durchzuringen, und dabei die ganzen anderen Sachen zuerst einmal verloren. Jetzt, wo diese Sache nicht mehr in diesem Zusammenhang passieren kann, »weiß ich überhaupt nichts mehr«. Ich weiß wirklich nicht mehr, ob man so etwas übertragen kann. Denn die Idee bestand darin, das in einem Raum geschehen zu lassen, der von sich aus eine Geschichte mitbringt. (Vorausgesetzt, dass sich überhaupt ein minimales Einverständnis für so eine Geschichte, wie den RUDI, findet.) Und die Vorstellung, das jetzt umzudenken, das heißt, das ganz bewusst zu konstruieren und nicht geschehen zu lassen, fällt mir im Moment vollkommen aus der Kontrolle. Das habe ich nicht im Griff. Denn ich habe (ich kann Euch das noch einmal, zum dritten Mal wiederholen), bereits beim Vorschlag an sich sehr oft geschwankt; ich habe mir überlegt, ob das nicht totaler Blödsinn ist, ob so ein Vorschlag nicht nur mit Schwäche zu tun hat; ob da nicht irgendein Moment »Höhenluft« durch irgendeine blöde Verliebtheit bezahlt wird, oder ob das etwas Ernsthaftes ist. Damit habe ich sehr lange Schwierigkeiten gehabt. Und darum möchte ich gerne wissen, wie es Euch damit gegangen ist; wie es war, plötzlich etwas in die Hand gedrückt zu bekommen, das vollkommen fremd ist, (was es mir anfangs oft war, zuletzt dann nicht mehr) und wie es Euch überhaupt damit geht. Denn das hilft eventuell auch in den Überlegungen weiter. Die ursprüngliche Vorstellung, das »In-das-Metropol-Eingebettet-Sein« hat sicher irgendetwas mit einer ganz bestimmten Geschichte zu tun. Ich will das jetzt nicht glorifizieren, aber irgendeine Geschichte ist ganz klar da; dieser Übergang vom Piscator zum Porno hat ganz klar etwas mit den Ausgrabungen zu tun, die wir einmal vorgehabt haben. (…) Vom Architektonischen her – ich weiß da ziemlich genau Bescheid – verändert es sich minimal. Nur würde man, wenn man das in dieser Disko machen würde,

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in etwas eingespannt und eingebettet, was man dann nicht mehr kontrollieren kann. Dieses Porno war ein sehr einsamer, verlorener Raum, wo zwei hilflose Türken und – ich weiß nicht was – herumsaßen. Das hatte eine bestimmte Tragik an sich. Die ersten schicken, schwarzen Lederhosen, die da durchtanzen, würden das vollkommen verändern. Auch wenn der Raum an sich bleibt, wie er ist, hat er ein anderes Echo, ein anderes Gefühl, und man wird in etwas eingespannt, gegen das man sich wehren kann, wie man will – zuletzt ist es doch so, dass Du etwas in einem Disko-Schuppen machst. (…) Das muss man sich erst einmal abschminken. In so etwas hereinzugehen, wäre in zwei Jahren interessant, wenn es wieder abgestunken ist, aber nicht jetzt, wo es ernst genommen wird. (…) Über Realisierung habe ich noch nicht wirklich nachgedacht. Ich weiß nicht, wie und was man da genau machen müsste. Ich glaube schon, dass da viele Stimmen dazugehören, andererseits glaube ich auch, dass das so »hauptdelegiert« werden müsste. Aber ob das dann »lesen« oder »sprechen« ist, weiß ich nicht. Was mich interessiert (oder was mich zumindest einen Moment lang zu interessieren schien) ist eine bestimmte Art von Monotonie; eine bestimmte hartnäckige Erzählweise; es hat vielleicht auch mit Liegestühlen zu tun, mit irgendwelchen Herren, denen man so etwas erzählt; die einen aushorchen, wie es einem geht – es ist keine »dramatische« Geschichte; oder die »Dramatik« liegt anderswo. Es hat etwas damit zu tun, wie es – wie ich mir laienhaft vorstelle – beim Psychiater zugeht; es beinhaltet eine bestimmte Erzählform, die nicht gipfelartig ist, sondern die sich so zusammenbaut; eine Haltung, bei der man »ein bisschen erzählt«, bei der man bestimmte Sachen aus sich herausholt, eine Haltung, bei der man bisschen »so« ist, anstatt herumzulaufen. So etwa stelle ich mir die Grundhaltung vor. Ich weiß noch nicht, was das dann heißen wird, jedenfalls ist die Grundhaltung der Veranstaltung mehr »zurückgelehnt« als »vorgebeugt«, es spricht mehr aus einem selbst heraus, als dass man selber spricht. (…) Darf ich kurz etwas hereinschieben, (zwar ist das jetzt vielleicht etwas verfrüht). Als ich das gelesen habe, wollte ich mich natürlich ein bisschen erkundigen, was das für ein Mensch ist; wer das war, der das geschrieben hat. Und da bin ich zunächst einmal ungeheuer erschrocken. Der Autor ist ein äußert zweifelhafter Mensch – (…) Denn bestimmte Entwicklungen (wie das dann genau vor sich ging müsste man später herauskriegen) nehmen einen Zug an, der von verschiedenen Leuten als »Hinwendung zum Faschismus« bezeichnet wird. Das stimmt nicht. Ihr seid vielleicht ein bisschen besser belesen, aber das würde ich ablehnen. Was später passiert ist, ist wirklich sehr, sehr dubiös; (was man übrigens auch in der Geschichte drin liest.) Zunächst einmal habe ich mir gedacht, um Himmels Willen, was hast Du Dich da nur getäuscht, das ist ja beinahe ein Gauleiter geworden (was er dann nicht geworden ist), – aber ich war da sehr erschrocken. Dann habe ich mir überlegt, ob das wirklich so schlimm ist, ob das

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nicht auch ein »Deutsches Schicksal« ist. Und wenn man das daraufhin liest, merkt man das auch, und kann es auch auffinden. Es ist eine Frage des »Ausgrabens«; ob man ausgräbt, und sagt, »das ist die schönste Sache der Welt«, oder ob man eine Sache nimmt, die in dem Moment bestimmt ihre Richtigkeit hatte, in der man aber schon spätere Sachen bemerkt. Es ist ja nicht so, dass man Herrn Brentano vom Anfang bis zum Schluss lieben muss; ich glaube nicht, dass das das Wichtigste ist. Ich finde bestimmte Sachen schön, bestimmte Sachen weniger schön; ich finde Sachen, die mich entflammen, ich finde Sachen, die mich kalt lassen. Sachen, wo ich denke, »aha, da kommt der zukünftige Mystiker (oder der verkrampfte Katholik) heraus«. Aber ich weiß nicht, ob es jetzt darum geht, sich mit Haut und Haar für etwas zu entflammen, oder ob man nicht – jetzt auf unseren Berlin-Zusammenhang, also auf unser Interesse an Archäologie angesprochen – zuerst einmal eine bestimmte Kühle an den Tag legen kann, indem man zuerst einmal die Seiten freilegt, mehr oder weniger vorsichtig, mit dem Pinsel, und dann sieht, wo das falsch ist, oder wo nachkopiert worden ist, oder wo das zerbrochen ist, oder wo das auch die Größe des Künstlers darstellt. (…) Wenn die Geschichte genauso wäre, und der Junge hätte nur fünf Jahre mehr, wäre die Geschichte zum Wegschmeißen, auch wenn sonst kein Wort geändert würde. Das ginge dann alles in ein anderes Gleis. Dass man das ernst nehmen kann, diese eigenartige Verblüffung, die man dabei empfindet, hängt ein bisschen an dieser eigenartigen Wildheit, an dieser Instinktivität von Rudi; und nicht am »Parteiprogramm«, oder an den Milieu-Schilderungen. Denn Rudi ist ja auch ein verhinderter Nazi. In dem Moment, wo er vierzehn wäre, wäre das ein ganz blödes, widerwärtiges »Banner«. (…) Zwei andere Novellen, die aber dann schon mehr ins Altkluge übergehen; wo man schon merkt, dass er demnächst abrücken wird. (…) Ich muss da ein bisschen ausholen. Einfach um zu erklären, wie man zu so Sachen kommt. Es hilft ganz bestimmt nichts, aber nachher kann man es ja wegschmeißen. Seit Jahren gibt es eine ganz intensive Beschäftigung mit zwei Vorstellungen, zwei Bildern, aus denen sich im Grunde alle meine Vorschläge ergeben: Das ist der zusammengeschlossene Vorhang, der zusammengebündelte Vorhang der EMPEDOKLES-Bühne, und die sprachlosen Leute der zweiten Ebene. Und das Bedürfnis besteht darin, diesen Vorhang genauso gebündelt zu lassen, oder ihn aufzurollen, und diese Leute, die im Grunde genommen nur zur Sprachlosigkeit geführt worden sind, die mit dieser Sprache, und in diesen Gesten gelebt haben, – denen Sprache zu geben. Und da kam zuerst einmal die Idee heraus – ich habe die hier nicht vorgeschlagen, aber ich habe mit Peter längere Zeit darüber gesprochen, und es ist eine Sache, die ich unbedingt machen möchte – den Leuten eine vollkommen konträre Sprache in den Mund zu geben. Denn ich möchte, dass sie sprechen, die Leute. Ich habe mir dann gedacht, diese Leute müssten eine unglaublich poeti-

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sche Sprache bekommen, und daraus ergab sich dann der Vorschlag, das in die Gedichtform übergehen zu lassen, also das mit diesem Chor weiterzuführen, was schon auf der EMPEDOKLES-Ebene da war. Und ich habe mir dann viele Gedanken gemacht, wie man heutzutage, ohne Volkshochschule zu werden, Gedichte aufsagen könnte, auf vollkommen neue Art und Weise – uns so weiter, und so weiter. Ich habe das dann verlassen; wahrscheinlich, weil ich keine Idee mehr hatte, und weil mir das etwas zu konzentriert war. Darum dann die gegenteilige Bewegung und Suche nach einer Anfangsbasis, die, ob das jetzt eine Trivialität ist oder so, einfach »Sprache bekommt«; nach einer Anfangsbasis, die möglichst einfach wieder anfängt, auch von ihren Inhalten her, nicht in der granitharten Geballtheit, in der diese Leute in EMPEDOKLES mal kurz etwas gesagt haben. Sie müssen ja nicht unbedingt über ihre Unterhosen sprechen, doch man müsste es ganz aufrollen mit Sachen, auf denen sie dann auch wieder aufbauen können, und an denen sie sich später, in die Aktion übergehend, wieder orientieren können. Und das hat sich dann mit dem Bedürfnis gedeckt, so zu sprechen anzufangen. Es ist nicht so, dass ich jetzt meinte, dass das Größte ist, was man machen müsste, oder machen könnte; es ging mir nur darum, einfach weiter zu sprechen. Also meine ich, wir sollten einmal ganz präzise von diesen Leuten ausgehen, die ja nicht durch Dummheit oder so in Sprachlosigkeit übergegangen sind, sondern durch eine ganz andere Geschichte. Und das trifft sich ganz gut mit unserer Vorstellung von »Berlin, Archäologie Ausgraben«, mit der Vorstellung, einmal eine Erde abzuheben; und dann kommen wahrscheinlich ganz einfache Sprachgebilde zum Vorschein, die sich dann wieder zusammenpacken müssen. So müsst Ihr das sehen. Man kommt nicht zufällig auf so etwas, weil man so eine Geschichte findet, das hat einen größeren Zusammenhang. Und ich kann den am besten mit diesem geballten Vorhang, mit dieser geballten Sprachlosigkeit von den Leuten auf der zweiten Ebene von EMPEDOKLES erklären. Im Grunde genommen kommt alles, was ich in den letzten zwei Jahren gedacht und vorzuschlagen versucht habe, aus dieser Sache heraus. Dass man da auf so ein »Rudilein« kommt, erscheint Euch wahrscheinlich unheimlich fern, aber das heißt natürlich auch, dass man nicht mehr im Hölderlin bleibt, oder nicht mehr in Arkadien bleibt, weil die Luft da wirklich extrem dünn wird, für jeden von uns; ich meine das nicht nur im Ästhetischen, sondern auch vom Geschichtlichen her. (Ich glaube nicht, dass Ihr alle so klar wisst, was zurzeit vor sich geht, jedenfalls nicht so viel mehr als ich.) Und dazu kam dann auch die Überlegung, den Raum zu verdrängen, (das ergab sich schon am Anfang der BERLIN-Geschichte), ihn »zurückzuschrauben«, ihn »häuslicher«, »überschaubarer« zu machen, und aus dem heraus dann wieder weiteraufzumachen.

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Ich weiß nicht, was das sagt, ich wollte nur versuchen, das ein bisschen klar zu machen. Es kann auch falsch sein. Und deswegen bin ich unheimlich darauf angewiesen, dass Ihr heute etwas erzählt, weil ich sowieso festgefahren bin, und weil ich das nicht unter den neuen Gegebenheiten gesehen habe. Den ursprünglichen Zusammenhang mit dem METROPOL-Kino könnte ich verteidigen, da könnte ich stundenlang darüber sprechen, aber der ist weg, und deswegen ist das ein bisschen witzlos. Wir können, wie gesagt, etwas anderes nehmen, wir könnten morgen wir auf GOLDONI, auf HAMLET und solche Sachen übergehen – ich wollte nur sagen, dass meine vorigen Projekte hier und dieser Vorschlag einen ganz klaren Zusammenhang haben, – will sagen: einen sehr unklaren – aber die haben einen Zusammenhang, die kommen aus etwas ganz Bestimmten heraus. Deswegen ist das keine andere Arbeit als der ursprüngliche Vorschlag, es steht schon irgendwo in einem Bedürfnis drin. Könnt Ihr denn mit so einem Zusammenhang etwas anfangen? (…) Das ist eine Frage der Positionssuche. Im Moment, wo die Position für uns einigermaßen stimmt, in mehr oder weniger großem Kreis, ist dieses »Sprechen« oder »Dasitzen« vielleicht gut oder nicht gut, aber ich habe keine Scheu davor, überhaupt nicht; ich habe vielmehr eine Scheu davor, den Schritt zu tun, um mich in eine bestimmte Position hineinzubegeben, aus der heraus ich dann arbeiten muss. Und obwohl auf der einen Seite ein Zusammenhang zu den bisherigen Vorstellungen besteht, bedeutet dieser Vorschlag natürlich eine unglaubliche Veränderung. (…) Die Einwände habe ich genauso. Nur – wie fängt man an, wenn man von so einem Zusammenhang ausgeht? Wie begibt man sich wirklich auf so eine Ebene? Ist das dann wirklich eine »Schwäche«, ist das dann ein »Rückschritt« gegenüber der Sprachlosigkeit, oder ist das ein zaghafter, ganz kleiner bescheidener Anfang, den Mund aufzumachen. Und ich bin an dieser Anfangsschwierigkeit sehr interessiert; sowohl inhaltlich wie formal. Ich möchte da wirklich nicht weiter herumputzen, auf irgendwelchen zu intelligenten Ebenen. Absolut nicht. Da bin ich zu sprachlos, zurzeit. Es ist bei mir im Moment nicht drin. (…) Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich bin da überfragt, weil ich da – wie Ihr wisst – sehr, sehr langsam im Umschalten bin. Ich habe diese METROPOL-Vorstellung noch nicht überwunden, ich bin da vollkommen blockiert. Das heißt, für mich ist die Überlegung »besonderer Raum«, im Moment, wo das METROPOL nicht funktioniert, vollkommen abgeschrieben; die zweite Überlegung ist für mich dann »nur Theater«. Ich will auf keinen Fall weitersuchen, denn jeder Raum wird dann für mich zu einem »nicht echten«, »nicht belegten« Raum. Und ob da jetzt früher in den zwanziger Jahren irgendwelche Bälle stattgefunden haben, oder ich weiß nicht, was da herumgeputzt worden ist – das ist für mich überhaupt nicht interessant. Für mich war interessant, dass dieser Raum, der diese Geschichten gemacht hat, und ganz tief mit kämpferischen linken Inhalten und Formen belegt war, jetzt diese Geschichte in die Pornographie herübergemacht hat. Das ist für

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mich eine ganz präzise Vorstellung. Jetzt in einen anderen Großraum hineinzugehen, KANT-Kino oder ROXY – das interessiert mich überhaupt nicht. Dann gehe ich lieber zurück und hänge den gleichen Vorhang wie bei EMPEDOKLES auf die Bühne, und lasse da jemanden herauslugen, der anfängt zu sprechen. Das ist vielleicht dumm – aber im Moment ist mir dieser Schritt vertrauter, als da weiter auf die Suche zu gehen. (…) Du darfst diese Geschichte, die da auf der zweiten Ebene stattgefunden hat, nicht emphatisieren. Ich kann die Mittel nicht mehr sagen; ich habe einfach Lust, den Leuten Sprache in den Mund zu geben. Ich will die nicht so allein lassen. Das braucht nicht dieses Jahr zu sein, das kann in fünfzig Jahren sein, aber so lasse ich diese Leute nicht allein. Da kann ich auch nebenher meine Goldonis inszenieren, aber mit den Leuten gehe ich weiter, das ist – (…). Das ist alles unheimlich gewagt (…). Wenn Du die Tschechow-Leute hinterfragen würdest, warum sie in Bewegung sind, bekommst Du kein bestimmtes Parteiprogramm heraus. Deswegen meinte ich auch, dass ein Parteiprogramm herausgekommen wäre, wenn der Junge fünf Jahre älter gewesen wäre. Aber der fällt aus einer anderen Energie auf die richtige Seite, aus einer Energie, die man dann untersuchen muss, genauso wie man die Energie bei den Tschechow-Wanderern hätte untersuchen müssen. Wenn Du in einer bestimmten Situation bist, und durch bestimmte Straßen läufst, bist Du notgedrungen in einem Kanal. Du bist nicht auf dem Kürfürstendamm. (…) Was gibt es da sonst noch zu sagen? Rein praktisch sieht es so aus, dass Ihr alle so überbeschäftigt seid, dass das sowieso keiner ganz, ganz dringenden Entscheidung mehr bedarf. Und ich, von mir aus, kann da nur vorschlagen, dass ich jetzt einmal ein bisschen an dieser neuen Situation weiter überlege und dann in zwei, drei Wochen wieder auftauche, und sage, wir machen es, oder wir machen es nicht. Oder es kommt etwas ganz Anderes raus. Jetzt können wir eh keine Entscheidung mehr fällen. Denn ich weiß nicht, wie das jetzt zu geschehen hätte. Die Schwierigkeit beim RUDI-Projekt besteht für mich darin, das machen zu müssen, denn ich habe sehr darauf gehofft, dass das »geschieht«, da man das in etwas einschieben würde können, von dem ich den ziemlichen Verdacht habe, dass es richtig war. Das hat damit nichts zu tun, aber es hätte ein bisschen der Erfahrung von diesen paar Tagen in Amerika entsprochen: Wenn man da nachts dieses Fernsehen sieht, – ganz, ganz lauwarme Geschichten -, wird das plötzlich kurz unterbrochen, und dann kommt so ein Tagesbericht herein. Es hat nichts damit zu tun, – so wie Rudi nichts mit heute zu tun hat – aber es wird dann so untergründig. Plötzlich schießt etwas raus, und kommt auf einen zu, und dann geht wieder ein schlechter B-Western vorbei, oder was auch immer. Und mehr hätte man nicht tun müssen. Man hätte einfach diese Sache benützen und so einschnipseln müssen, und dann wäre sie dann extrem klein, aber explosiv ge-

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worden. Auch kanalartig, untergründig, wenn man so will. Man müsste dann natürlich überlegen, wie viele Stimmen da eingebettet werden, oder was man da macht, oder wie man spricht, oder wie viele Leute eingesetzt werden, und wie man die technischen Probleme löst, aber die Sache wäre eingebettet in eine, für mein Gefühl, richtige Situation. Jetzt müsste man die ganze Situation, die nicht vorhanden ist, noch hinzukonstruieren. Beim eigentlichen Vorschlag wäre das Verhältnis RUDI/ zu der eigenen Geschichte 5 % zu 95 % gewesen, jetzt hingegen ist es 100 % zu 100 %. Also macht man ein Theaterstück daraus. (…) Es hätte auch sein können, dass das Plakat noch da draußen hängt., und dass die Zuschauer, wenn sie hereinkommen, noch eine Minute sehen, und dann würde das ablaufen, und sie auch dableiben, wenn sie wollen. Du musst das nicht so schematisch sehen. Dann kann man kontrollieren. Vor allen Dingen machst Du keinen Porno. Ich hätte dem Menschen nie vorgeschlagen »schaff mir jetzt so eine Geschichte ran«. Sondern er hätte sein Programm in seinem Raum durchgezogen, im ehemaligen Piscator-Theater, und er hätte uns erlaubt, da kurz unsere Sachen dazwischen zu schieben. Es ist nicht so, dass Porno-Erfindungen von uns kämen. Vielleicht wären wir einfach in so ein Theater hereingegangen, und zufällig liefe da das hier. Links ist die Bank und rechts sind die Jesus-People, und in der Mitte ist Eros. Das ist eine heutzutage anscheinend ganz richtige Aufteilung von einem ehemaligen linken Theater. Ich hätte da keine Bedenken. Gut, dass müsste man kontrollieren, das müsste man auswägen, vielleicht käme man da in ein schlechtes Echo hinein, muss vielleicht aufpassen, dass das nicht übergewichtig wird. (…) Wie inkognito man das hält, usf., das sind alles Sachen, die man überlegen müsste. (…) Ich glaube schon, dass wir da einigermaßen clever genug gewesen wären, da nicht eine solche »schicke« Erfindung »Porno und Rudi« zustande zu bringen. Das wäre anders gelaufen; mehr unter der Hand. (…) Das soll jetzt keine Überzeugungsgeschichte sein. Aber stell Dir doch einmal vor: Wenn wir das wirklich im Zusammenhang sehen, wenn wir eine große Berlin-Rundschau wollen, und uns einigermaßen intelligent rumschauen, wirst Du auf solche Sätze kommen. Du kommst vom OLYMPIASTADION in so etwas rein. Aber an bestimmten Plätzen sagst Du »finde ich da etwas oder finde ich da nichts«; denn Du hast den Verdacht, dass irgendetwas an diesen Plätzen sein könnte. Und morgen, in dem großen Zusammenhang, im Zusammenhang mit der BERLIN-Geschichte kommst Du auf diesen Friedhof, und da stehen Leute auf; das ist (ich habe das anhand von ein paar Friedhöfen ziemlich gut durchgerechnet) ein Boxer neben einem Linksfeuilletonisten; die machen alles durcheinander, verstehst Du. Ich will auch nicht aussortieren. Mir gefällt das, dass in diesem komischen Grab »Friedhof« so viele Leute zusammenkommen und dass dann so eine Geschichte herauskommt.

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Das darfst Du natürlich nicht ins Zentrum stellen. Das ist die erste kleine Ausgrabung, und die erfolgt an einem bestimmten Platz, den wir uns ausgesucht haben. Du darfst das nicht so ins Zentrum stellen. Denn sonst musst Du Dich unheimlich damit identifizieren und das gut finden, und den Brentano auch; aber wenig später ist er so – und so geworden, also kann man das überhaupt nicht machen., das darf man nicht – und Du kommst in Probleme herein, aus denen Du nicht mehr herauskommst. Aber dann darfst Du auch kein Ausgraber sein. (…) Das wäre in einem großen Gesamtzusammenhang leichter gewesen, wenn das in ein Riesending eingebettet gewesen wäre. Andererseits haben wir schon mit der Unternehmung im Stadion mit dem BERLIN-Projekt angefangen. Das wäre also schon Unternehmung II. (…) Setzen wir die nächste Besprechung in etwa vierzehn Tagen an. Denn diesmal ist es ja zum ersten Mal so, dass das wirklich nicht so »angepuscht« ist, weil Ihr sonst nichts zu tun hättet, denn mit Ausnahme von zweien oder dreien seid Ihr alle sehr intensiv beschäftigt, und deswegen kann man sich Zeit lassen. Machen wir das so. In vierzehn Tagen. Nicht viel mehr. (…) Ich habe noch einen kleinen, aber minimalen Flirt damit (dem METROPOL, Anm. der Herausgeber), weil die sehr wenig verändern. (…) Die Hoffnung ist sehr, sehr leise. Denn es ist ein ganz großer Unterschied, ob Du mit einem völlig hilflosen Porno-Theaterbesitzer zusammenkommst, bei dem drei Türken an den Vorhang pissen (denn die gehen da nur herein, weil sie irgendwo ein Bier trinken können – das war eine Bar – und dann pissen sie dann oder wichsen sich einen ab, und so weiter) oder ob Du in die Großgangsterclique von Berlin reinkommst, die inzwischen auf den John Travolta abgefahren sind. Das ist ein ganz großer Unterschied. Und da kannst Du Dich wahrscheinlich nicht wehren, weil die clever genug sind, Dich da einzuspannen. Das verändert sich extrem. (…) Ich muss mich da erst zurechtfinden. Aber vielleicht ist es auch nicht so dumm, den Hölderlin im Stadion zu machen, und RUDI im Theater. Da könnte man auch- wenn man intelligent genug wäre – etwas zur Verteidigung sagen. (…) Wir sollten das wirklich aufschieben. Denn für mich sind das keine grundsätzlichen Probleme, das sind auch taktische Probleme. Es kann taktisch vielleicht richtiger sein, wenn man sich dazu entscheidet, so etwas in einen Theaterrahmen einzubeziehen, wenn man ihm die Berechtigung gibt, in einem Theater stattzufinden. Das muss nicht unbedingt sein, dass das – aber lass uns diesen Punkt nicht weiter verfolgen. Ich halte das erst einmal nicht für ausgeschlossen. Es ist ein anderer Ausgangspunkt; man muss da ganz umdenken, man muss die Geschichte vollkommen anders lesen, aber das ist nicht so ausgeschlossen. (…) Am besten Ihr erkundigt Euch da selbst. Es gibt in jeder Buchhandlung Sachen von ihm zu kaufen, und es stehen auch große Vorwörter drin; ein Roman von ihm

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(Brentano) ist als RoRoRo-Taschenbuch erschienen. (…) Ihr müsst Euch da selbst erkundigen. Aber bis zur Hälfte der Emigration (korrigiert mich, wenn es falsch ist), hat er sich anscheinend sehr ernsthaft und richtig verhalten. Dann wirft man ihm irgendetwas im Zusammenhang mit einer Deutschlandreise vor; er ist irgendwann nach Deutschland zurückgekommen, und ein Schweizer Exilgefährte hat ihm daraufhin vorgeworfen, er hätte irgendwelche KompromissReisen gemacht, kurz gegen Ende. Und als seine Freunde Brecht und Bronnen dann nach Zürich kamen, wollten die nichts von ihm wissen, und umgekehrt auch nicht; das ging dann so weiter, und dann ist er, glaube ich, ’46 nach Wiesbaden zurückgekehrt. (…) Und gedruckt ist sie (RUDI, Anm. der Herausgeber) ’34 in Zürich. Er hat dann noch mehrere Sachen geschrieben über den Ausbruch der Barbarei in Deutschland, und so weiter. Aber das muss man sich alles irgendwie aufarbeiten. (…) Er hat sich selbst zitiert, der Junge. Genau. Dann bis bald.

Jean Racines »Bérénice« (1984)

Bérénice: Catherine Samie (Phénice), Ludmila Mikaël (Bérénice), Comédie française, Paris, 1984.

Quelque chose de chuchotant entre la gloire et le désordre. Une parenthèse sur le plateau. Deux pôles: rougeur/pâleur. Mozart: quintette en sol mineur K516 (Quator Davis – disque Valois) Ludmila Mikaël se sent dans le dessin de son costume trop enfermée, rigide. Klaus parle de Giacometti, qu’il ne peut faire de gros volumes. Titus: la cuirasse est un signe du pouvoir, on a la carapace avant de l’avoir dans la tête. Se cacher derrière une chose mais quand même vivre. On fait des choses mal mais quand même on les fait.

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Jean Racines »Bérénice« (1984)

Mozart: on sait d’avance comment ça va finir mais chaque fois c’est different et on est ému. Chaque fois une nouvelle possibilité de vie qui commence. Dès le premier accord ce n’est pas funèbre mail il y a la vie, ça vit. La musique de Mozart est très vierge mais déjà très compliquée. Savoir tout et le vivre quand même. On fait une chose impossible, on cherche la vérité et on fait la faute. Ne pas marier le texte et le personnage. Entre les funérailles et la gloire il y a quelque chose d’indécent. Il y a des choses trop terribles par moments et là, le vers arrive pour adoucir ça – il y a trop de douleur et on a besoin des la forme pour ne pas s’arrêter. « Je me suis tu cinq ans »… Le vers est comme un confort pour survivre. Le vers: extreme élégance pour éviter le silence, c’est un cadeau. Quand on vous entend: il faut se taire et puis il y a la forme et il faut vivre, il faut continuer. Parler pour survivre. Rimer devient une arme de survie. Quand on a compris le 18 « hélas! » , on a compris la pièce. Dans la pièce il y a les cris savant de se taire. Le comédien et là pour consoler our guérir le personage. Les deux premières minutes, c’est un seuil – la difficulté de franchir le seuil. La beauté d’avoir peur, la peur de se perdre et de continuer l’alexandrin. Savoir et tout oublier. Bérénice connaît les étoiles, le ciel jamais déchiré. Pour le vivre il faut l’avoir vécu. Titus n’est plus là quand il ouvre la bouche, c’est déjà sa statue qui parle. C’est ça être impérial. Quand on commence à jurer ça veut dire quelque chose ne va pas. Bérénice immobile, seulement la main tendue qui vit. Paulin reconstruit Titus, il a refait Titus avec l’accord des Titus mais c’est une chirurgie terrible. Un signe: pour cacher une douleur plus grande qu’on ne peut pas exprimer. La pierre: un monument énigmatique, la vie, quelque chose de dur à avaler et une obligation pour Titus. Il est ouvert à toute interprétation. Il est monumental mais sans construction, sans intervention extérieure. C’est un peu le calme que les personnages retrouvent à la fin.

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Un signe: c’est l’accord qui permet de suivre le ton. Séparer la parole du mouvement. Ne pas appuyer la parole et les gestes. Ne pas souligner pendant qu’on parle. Le geste arrive plutôt avant, pour libérer la parole. Le geste parle seul. Le mur à Delphes qui est plat toute la journée et dans l’après-midi la lumière du crépuscule on aperçoit qu’il est gravé de toute l’histoire d’un peuple. C’est plus efficace si ce n’est pas donné à fond. Il y a tellement de personnes qui veulent faire bien que ça va rater. Phénice a compris de Rome ce que une femme amoureuse ne peut pas voir. Goethe: si vous le sentez, il faut le chasser. Les confidents protègent le seuil. Paulin a souffert toutes les choses que les autres sont en train de souffrir. Paulin: c’est la loi inamovible, c’est Rome qui parle. Le geste introduit quelque chose qui n’est pas dit dans la vie (introduit la prose, ce qui n’est pas dans l’alexandrin). Racine a joué avec le faux pour éclairer la vie. Paulin, c’est Gromiko, il a tout vu, tout vécu et il continue. Il ne tient plus debout, il est physiquement faible mais il dit: « on ne peut pas faire ça ». Paulin a dit la même chose à trois Césars déjà. Monologue Titus: il faut une imagination intérieure énorme; voir tout ce qu’il dit, cela permet d’être calme. Il y a une séparation entre les yeux et la bouche, les yeux experiment l’intériorité qui est encore attachée à Bérénice et la bouche parle, elle dit ce que Rome impose. Il se rappelle d’un amour mais il est déjà à Rome; ce n’est pas un vrai combat. Dans son cœur il est déjà plus froid; il se produit un déchirement, il s’opère une douloureuse reconstruction. Les échecs au théâtre ne sont pas de vrais échecs. J’ai une conception religieuse du théâtre et je veux voir combien elle résiste au sacrilège. Paulin ne parle jamais mais quand il parle c’est comme un fleuve de connaissance. Plus on sait plus on se tait. La sagesse n’a pas d’intonation, n’a pas de couleur. La connaissance n’a pas d’émotion, c’est plat. Diogène – Heidegger – Paulin. On peut se permettre tout dans le noir (gestes etc.)

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Jean Racines »Bérénice« (1984)

Titus: mouche qui tourne autour de la lumière, qui se brúle et qui revient quand même. Les silences sur le plateau c’est le comédien qui les crée et non pas le personnage. Dans le texte de Racine tout est énoncé, on n’a pas besoin d’exprimer le sentiment. Penser le vers avant et après le dire (la vie après mort). Si on le vit vraiment, profondément avant, il restera un éclair après. Étrange équilibre entre l’écriture et le théâtre. Ce sont des personnages écrits qui ne peuvent pas être vécus. Quand on parle des larmes on ne peut pas avoir en même temps l’émotion, le produit de l’émotion. Au lieu de se taire on dit qu’on se tait. Pour que la parole soit si froide, il faut que le cœur soit terriblement sanglant. Paulin n’a pas besoin de respirer, il respire une fois par jour. La bouche doit rester toujours aristocrate, lex yeux peuvent être bourgeois peut-être. Vous n’êtes pas des personnages, vous êtes porteurs de messages. Comment Callas a fait pour renouveler la vérité et la fausseté en même temps? Elle chante « je meurs » et elle reste pendant deux heures sur scène. Hélas: souffle sur une blessure. Extrait des notes de répétition recueillies par Léonidas Strapatsakis

William Shakespeares »König Lear« (1985)

22.6.85 Klaus Michael liegt am Herzen, dass immer alles unvorbereitet ist, sonst langweilt er sich (z. B. bei Goethe, wohingegen bei Shakespeare alles im Jetzt passiert, aus dem Dunkel kommt, aber hell ist. – Es ist schön, wenn man nichts weiß, alles neu ist). Wind, Sturm bläst vom Zuschauerraum aus gesehen von vorne links nach hinten rechts. Nie den Wind vergessen, auf den Gesichtern spüren. Die SturmSituation, bei dieser Größe des Missgeschicks, die Grenzsituation, lassen nur noch die Möglichkeit zur Einfachheit, nichts mehr spielen, sondern einfach da – sein. Die Stimmen kommen durch den Sturm. Blicke in diesem Stück bitte nur halb, schräg, sonst wird’s furchtbar. Lear: Hat eine große Zuneigung für verlorene Typen (deshalb Nähe mit Edgar ernst nehmen) – er sucht sich immer Verbündete.

24.6.85 Um es noch einmal zu sagen: Seitlich oder nach hinten Gesprochenes verliert sich schnell, wird unverständlich. – Gegenseitige, selbständige Kontrolle der Schauspieler wäre schön. Grundgesetze (für diese Produktion…): § 1: die Geste (hier als Beispiel die »blutigen Hände Albaniens«), selbst die theatralisch überzogene, muss klar gemacht werden, durch klare Schnitte auseinandergetrennt werden, sonst vertrant, verschleimt das Ganze. § 2: Wenn Schmerz in diesem Stück aufwallt, muss man sich davon abwenden, – weggehen, wenn es zu teuflisch wird – (hier: Glosters Augen), damit die Emotion beim Zuschauer entstehen kann. (Devise: Runterdrücken, wenn’s hochwallt).

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William Shakespeares »König Lear« (1985)

28.6.85 Beim Durchlauf gestern fand ich’s vor allem schade, dass die gut gespielten Momente oft schlecht verständlich waren. – Beim LEAR darf man kein Wort verlieren – lieber dreht Euch in alte, theaterkonventionelle Positionen, um bestmögliches Sprechen zu ermöglichen. Noch einmal: Man sagt nichts, was schon 100 % ausgeformt, vorgefertigt ist; aus dem Hirn entlassen. Oder um es anders auszudrücken: – es gibt eine Geburt im Hirn (des Wortes, des Textes), fängt an zu leben, macht seinen Lebenskreis durch, stirbt – und wird dann öffentlich. Es hat immer mehr Sinn, wenn jeweils nur ein Thema die Bühne beherrscht. – Umarmung – wieder Blut (Edelmann & Dolch) – Historie, tack, tack, tack, so einfach muss man denken. Text muss durchgepowert werden, ihr müsst seiner überdrüssig werden.

2.7.85 Spielt mit Euch herum – ich will Euch bis zum Ende die Lust am Spiel geben. Diese Momente sind schön, weil sie so frei sind. – Nehmt Euch immer wieder den Mut, Euch vorzustellen, dass vorher nichts passiert ist und auch nachher nichts passiert. Immer wieder alles aus dem Moment, der Szene neu erfinden. An alle Schauspieler: Heute ist für mich der letzte Tag, um Euch etwas zu sagen. Ich werde also versuchen, dies zu beschreiben, was ich inzwischen erlebt habe, es ist die Härte, mit welcher jeder unbarmherzig seinen Weg geht. Jeder trägt von Geburt an die kaputte Pupille seines Todes mit sich. Biologisches (also ausspielen) aufhalten ist doof, sondern sie sind wie Sterne, welche verglühen (Kometen), also keine Eigeninterpretation. Pausen sind überflüssig, weil sich eine solche einstellt. Von vornherein muss der Endpunkt sicht-fühlbar sein, das ist mein Grundgefühl diesem Stück gegenüber. Das Schicksal muss vorausbestimmt durchgehen – bevor der Vorhang aufgeht, ist schon alles da (Stichwort: zu biologisch, zu wenig kosmisch). Bevor ein Satz kommt, ist schon ’ne Galaxie gestorben. Ihr müsst die Sinne verwirren (wilde Tiere, Kämpfe, Todesschrei) – Crack und Drehpunkte, um was ganz anderes zu machen. Man kann diesen Shakespeare nicht mit einer Konzeption durchziehen. Man muss mehrere Geleise befahren, mit mindestens zwei Bällen jonglieren. – Deswegen mit großer Freiheit und Spaß einsteigen, dann ist es auch leicht zu korrigieren. Bei jeder Probe spüre ich immer deutlicher, dass man die einzelnen Szenen nicht miteinander verbinden kann (um eine solche zu schaffen, wäre es eine geniale Möglichkeit natürlich mit 200 Statisten, welche das Schloss zerstören, das Ganze zu verbinden).

William Shakespeares »König Lear« (1985)

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Darauf bemerkt Klaus noch, dass körperliches Fit-sein, die Kondition eines Leistungssportlers für dieses Stück und für jeden Schauspieler eigentlich Voraussetzung seien. Ab nächster Woche gilt also die Devise: FITNESS IS ALL!

König Lear: Branko Samarovski (Edgar), Bernhard Minetti (König Lear), Peter Roggisch (Graf von Gloster), Schaubühne, Berlin, 1985.

Otto Sander

»Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde« (2011)1

Amphitryon: Jutta Lampe (Alkmene), Otto Sander (Amphitryon), Schaubühne im Hebbeltheater, Berlin, 1991.

1 In: Julie Brochen, Théâtre de National de Strasbourg, École supérieure d’art dramatique, Hg., Klaus Michael Grüber, Strasbourg, 2012, 57.

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Otto Sander

Gustav Rueb

Der Pfeil im Zentrum. Probenbericht zu »Iphigenie auf Tauris« (1998)

Nach dem Durchlauf am Tag der Premiere, Grüber zu den Schauspielern, 9. 2. 1998: »Die Sache steht und fällt damit, dass ihr das Maul erst aufmacht, wenn ihr euch gefunden habt. Wenn ihr anfangt zu sprechen, ohne das Zentrum und die Konzentration zu haben, dann könnt ihr es vergessen. In dieser Form der Veranstaltung, in dieser Einfachheit, wenn die Grundsteine, die Markierungen versetzt sind, versteht man nichts, ihr kommt nie wieder rein und man versteht nichts. Es wird stinklangweilig und der Zuschauer bleibt draußen. Es gibt keine äußeren Aufhänger, Vorgänge, die dem Zuschauer helfen hereinzufinden. Einmal draußen, alles weg! Das Nicht-Vorhanden-Sein von Action oder ›Theatralik‹, die begleitet oder hilft, bedingt dieses im Zentrum-Sein. Wenn alles stimmt, sitze ich so, nach vorne gebeugt, aufmerksam, nicht als Regisseur, sondern als Zuschauer. Wenn ihr draußen seid, könnt ihr sagen, was ihr wollt, es kommt nicht durch und berührt nicht. Es ist nicht einfach ›Konzentration‹, ich kann nicht genau sagen, was es ist. Man kann nicht einen Bogen spannen, ohne vorher Luft geholt zu haben. Man muss Luft holen, den Bogen spannen, den Pfeil geradlinig abschießen, der Pfeil zittert im Zentrum. Das ist die ganze Vorstellung: Vorhang auf, Vorhang zu! Das ist es, nicht mehr. Es lebt, oder es stirbt! Alle Details nutzen nichts! Die Wellen, sie helfen, aber sie sind an der Grenze, ein wenig wie Kinder auf der Bühne. Aber es ist ganz wunderbar. Die Bühne ist ein heiliger Bezirk. Jede Rotzigkeit, jede Fickerei und Pöbelei bleibt doch in diesem heiligen Bezirk. Hier ist das extrem wichtig in diesem Stück, vor allem wegen des gutmütigen, humanistischen Ausgangs, aber ohne Rührseligkeit und Kitsch. Für mich ist das nicht fertig. Es begann mit 17, 18 Jahren bei der ersten Lektüre und geht noch ein paar Monate weiter. Ich weiß, warum ich das gemacht habe, und ich weiß, dass es schön ist, dass wir so etwas machen können, dass wir so einen Beruf haben. So müsst ihr auch spielen. Und in einer halben Stunde könnten wir es schon ganz anders machen…«.

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Gustav Rueb

Grüber spricht selten in elaborierten Sätzen, oft auch nur halben, er spricht auch nicht viel, aber er spricht eindrücklich. Wie ein Schauspieler gestikuliert er, seine langen Hände krümmen sich, als wäre in ihren Fingerspitzen die Antwort auf alle Fragen der Inszenierung zu suchen. Der Durchlauf ist beendet, es ist Abend (obwohl, was spielt das in einem dunklen Theatersaal für eine Rolle?), die Schauspieler und das ganze Produktionsteam haben sich ganz rechts im Saal versammelt, alle sind erschöpft, kaum jemand spricht. Grüber sitzt in der Mitte des Saals sagt lange nichts, lässt erst einmal den Vorhang offen. Hammer, die für Grüber Notizen gemacht hat, gibt ihm die Stichworte. Grüber erinnert sich, spricht erst ruhig mit dem Schauspieler, sagt ihm, was er wo und wie falsch gemacht und wie es dann gewirkt hat. Dann steht Grüber auf und spielt vor. »Ich höre diesen Fehler in den ganzen Sätzen später, die ganze Szene ist versaut. Es ist dann egal, was ihr sagt, ihr könnt sagen, was ihr wollt. Die Figuren ziehen dann ihre Sätze einfach stumpf und dumm durch, die Figuren kommen nicht mehr durch, es fehlt jegliche Porosität.« Ein kleiner Fehler (Arkas hat Iphigenie das Wort abgeschnitten) hat für Grüber die Melodie einer ganzen Szene zerstört, und während Grüber darüber spricht, erinnert er sich daran, durchleidet alles noch einmal. Seine bohrende Stimme, sein bohrender Zeigefinger und seine bohrende Körperhaltung wirkt auf die Schauspieler, vielleicht noch stärker, als wenn er sagt, wie durch solche kleinen Fehler »alles verlogen, stinkverlogen« werde. Dies ist nicht beleidigend, nicht lehrerhaft, sondern fast leidend, und die Schauspieler möchten ihm vielleicht zurufen: ›Ich werde es das nächste Mal besser machen, ich wollte diese Szene nicht zerstören…‹.

Das Konzept Ungefähr vier Wochen vor diesem letzten Akt einer intensiven, aber ruhigen Probenzeit versammeln sich die Schauspieler zum ersten Mal mit dem ganzem Produktionsteam um Grüber. Es ist der 14. Januar 1998. Grüber beginnt die Arbeit an der Iphigenie mit der Bemerkung: »Das Konzept ist … wie immer nicht vorhanden.« Ein Konzept in dem Sinne, dass Grüber auf den Leseproben nun lange Vorträge halten würde, wie er das Stück liest, wie er die historischen, philosophischen oder politischen Kontexte beurteilt und sie auf der Bühne darstellen möchte, existiert tatsächlich nicht. Auch gibt es keine dramaturgischen Ausführungen oder Materialberge, die die Schauspieler zu lesen hätten. Die Gedichte von Ovid und Mandelstam (die ja auch im Programmheft abgedruckt sind) werden den Schauspielern im Laufe der Probenarbeit einige Tage später kommentarlos verteilt. Grüber hat keine Notizen dabei, nur selten den

Der Pfeil im Zentrum. Probenbericht zu »Iphigenie auf Tauris« (1998)

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Text vor sich, sogar seine Lesebrille hat er nicht immer dabei. Den Text, die Melodie und die Bilder hat er im Kopf. Er kennt das Stück in- und auswendig, er weiß, was er damit will, hat Bilder und Visionen und Melodien vor seinem inneren Auge, die er den Schauspielern aber nicht sofort auflädt, sondern ihnen erst langsam entdeckt. Er nimmt alle mit auf eine Reise, von der nur er das Ziel kennt. »Entwickelte« sich diese »Iphigenie« überhaupt? War sie nicht eigentlich von Anfang an da? Grüber arbeitete mit den Schauspielern an der Melodie der Sprache, am Gestus, an der Koordination auch, aber es gab keine konzeptionellen Diskussionen, keine gravierenden Änderungen, kein Erarbeiten von Situationen oder Ausprobieren von grundsätzlich verschiedenen Möglichkeiten, keine Improvisation. Es wurde immer auf ein irgendwie feststehendes Ziel hingearbeitet, und alle kannten dieses Ziel, alle wussten »es« auf eine gewisse Weise und wussten es doch nicht. Die Schauspieler ließen sich von Grüber leiten, und Grüber ließ sich von den Schauspielern leiten, wartete auf ihre Vorschläge, passte sich ihnen an, ging Kompromisse ein und ließ seine Vision doch nie aus den Augen. Es passierte nicht viel auf den Proben, es gab keine gewaltigen Umstürze, keine auffälligen Ereignisse, wo sich eine Figur radikal veränderte oder das Puzzle für jeden nachvollziehbar zusammenkam. Und doch passierte so viel: In der Ruhe, in der Einfachheit und Klarheit, die Grüber forderte und auch selber gab, lag so viel Dichte und Spannung, dass es keiner äußerlichen Aufhänger bedurfte, keiner Theatralik oder Action. War dieses Nichtvorhandensein eines »Konzeptes«, diese Leichtigkeit und Nicht-Strenge, mit der Grüber seine Vision umsetzte der Grund für diese wie von Geisterhand sich fügende und fließende Probenarbeit?

»einfach, klar, deutlich«: Die Sprache, die Melodie Auf der ersten Leseprobe sagt Grüber, es sei klar, dass wir eine Distanz zu solch einem Text hätten, zu solch einer Sprache, diese Distanz dürfe man aber nicht einfach überwinden, sondern man müsse sich ihr stellen und sich ihrer auch bedienen, das eine Distanz zum Text in sich eine Schönheit in Sprache und Haltung biete. »Dieser Text ist wie das versunkene Atlantis, …, das Sprechen, der Gestus müssen mühelos wirken, denn so gestaltet sich auch die Lektüre des Stücks.« Grüber wird im Verlauf der Proben immer wieder von Einfachheit sprechen, auch jetzt, als er die Schauspieler zum ersten Mal den Text sprechen hört, sagt er ihnen, dass diese Art des Sprechens für jene Menschen normal sei, diese seien für sie keine anstrengenden Metaphern, es gehöre ganz selbstverständlich zu deren Kultur sich so auszudrücken. Damit rückt Grüber die Sprache von uns weg und holt sie gleichzeitig näher: Indem er die ausgeklügelten Vers-

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Gustav Rueb

gebilde Goethes ganz einfach und unkompliziert sprechen lässt, werden sie für uns greifbar, im wahrsten Sinn des Wortes, aber sie klingen wie von ferne, wie von einer versunkenen Welt an unser Ohr. Um dies zu erreichen, sollen die Schauspieler versuchen, wie Kinder zu sprechen, die Erwachsene nachahmen. Doch die sprechbegabten Schauspieler zerdehnen die Worte zu sehr, sie kämpfen natürlich noch mit der Bedeutung des Textes, so versuchen sie, während die sprechen, jede Bedeutung in ihrem Sprechen zu verdeutlichen. Doch genau das sollen sie nicht. Sie sollen nicht von Anfang an eine Interpretation in den Text legen, sondern ihn frei und einfach sprechen. Dazu müssen sie aber den Text genau verstehen. So wird in diesen Leseproben auch viel über den Inhalt des Goethe-Textes gesprochen, solche Fragen der Schauspieler beantwortet meistens Ellen Hammer. Die Schauspieler versuchen, jugendlich zu klingen, nicht zu brummen, keine bedeutungsschwangere Tiefe in die Stimme zu legen, denn je präziser, klarer und heller sie sprechen würden, desto jugendlicher würden sie klingen. Grüber erzählt von einer Aufnahme, die er einmal gehört hat: Heidegger liest Hölderlin, ohne Interpretation, ausdruckslos, mit einer fast monoton zu nennenden Stimme. Also genau so, wie man es eigentlich nicht machen darf. Und doch war es faszinierend, war es faszinierender, als wenn er jedes Wort lesend interpretiert hätte, wenn er es mit einer Interpretation zugedeckt hätte. Grüber möchte, dass das Wort gesagt wird, dass es frei im Raum steht und so wirkt. Nicht die Worte dehnen, sondern sehr einfach, Bild für Bild deutlich betonen. Sich auf die Konsonanten stützen, von Konsonant zu Konsonant, von Wort zu Wort, von Bild zu Bild. Nicht das letzte Wort brummelnd versiegen lassen, sondern den Bogen durchhalten und abschließen. Grüber möchte auf keinen Fall ein Grundgefühl erzeugt haben, also nicht durch eine vage Interpretation des Textes versuchen, eine Grundatmosphäre herzustellen, sondern vor allem in den Passagen der Atriden-Erzählung Iphigenies oder der Selbstanklage Orests, jedes Bild neu erfahren. Und dazu muss jeder Satz neu erfahren werden, dazu muss jedes Bild neu gespürt werden, so als erzählte man es zum ersten Mal. Grüber vergleicht es mit einer Schreckensvision Goyas: Zuerst sei dieser Gesamteindruck des Leidens, der Gräuel, sei da eine allgemeine Erschütterung, doch dann merke man plötzlich, dass das Bild aus vielen kleinen Bildern besteht, und man sieht jeden Gräuel einzeln und erfährt ihn umso tiefer. So müsse man auch diesen Text sprechen: Nichts Allgemeines daraus machen, keine oberflächliche Patina darüber legen, keine Sentimentalität. Sondern Präzision, Einfachheit und Klarheit. Die Frage, wie man solche Sätze spricht, müsse eigentlich gar nicht mehr auftauchen, denn: »so ist es, und es ist nichts«. Wie meint Grüber das? Wenn man die Schauspieler in der »Iphigenie« sprechen hört, dann sind die Sätze frei, sie werden losgelassen, stehen im Raum, kommen an der Rückwand des Raumes an und wirken. Da steht keine psychologische Absicht dahinter, es ist einfach so, unspektakulär und unaufwendig. Natürlich kann das langweilig wirken, wie Grüber bemerkt hat. Es

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wirkt nur, wenn die Schauspieler im Zentrum der Figur sind, wenn sie genau wissen, was sie sagen, aber im Augenblick, wo sie es sagen, nicht darüber nachdenken. Der Text ist auf diese Weise mit seinem Inhalt gefüllt und nicht damit zugedeckt. Die Sprache darf nicht mit Schmerz zugedeckt sein, nur so bleibt eine Figur porös, bleibt sie offen und verletzlich. Grüber spricht von Duetten, Terzetten, Quartetten, Quintetten. Er versteht die Sprache als Musik, als Melodie. Nicht, dass die Schauspieler singen sollten, aber sie sollten einen Klang erzeugen, eine Melodiehaftigkeit, eine losgelöste, musikalische Stimme, die die Worte unpsychologisch über das Wasser trägt. In der Hälfte der Probenzeit möchte Grüber plötzlich, dass die Schauspieler auf der Probe wieder vom Textbuch ablesen. Es lässt Notenpulte auf die Bühne stellen, die Schauspieler sollen eine vortragende Grundhaltung einnehmen, wie Sänger. Es wird die erste Szene des dritten Aktes geprobt, Orest steht ganz links, Iphigenie ganz rechts. Die Pulte stehen vorne am Wasser, weit auseinander. Die Schauspieler nehmen das Pult mit dem Text als Ausgangsbasis, halb lesen sie ab, halb sprechen sie frei, deuten ein Spiel an, kehren wieder zurück. Grüber sagt sogar, dass er sich vorstellen könnte, dies auch in der Aufführung so zu tun. Allerdings wird er dann doch nie mehr darauf zurückkommen, er kommentiert es auch in der Situation selber nicht. Es war natürlich nur ein Versuch, wie Grüber deren einige machte auf den Proben, die Schauspieler zu diesem freien Reden zu bringen, die Sätze »unbeschwert« und frei von einer sie zudeckenden Interpretation zu sprechen. Grüber wiederholte sich oft auf den Proben, versuchte das Gleiche mit anderen Mitteln zu erzeugen, er sprach oft von der »Einfachheit«, brach Proben ab, weil er merkte, dass die Schauspieler den Text nicht genug konnten, um diese Deutlichkeit und gleichzeitig Flüchtigkeit zu erzeugen, die er wollte. Er wollte die Schauspieler dazu bringen, dass sie die Sprache liebten, ohne in Eitelkeit zu zerfließen. Doch sollte man spüren, dass sie vernarrt und verliebt seien in diese Sätze. Erkenntnisse der Figuren seien schon früher gewonnen worden, nicht erst im Sprechen, in dem Augenblick, wo sie es aussprechen, stehe es kristallin im Raum, wie ein Stein. Grüber suchte immer wieder neue Worte, immer neue Bilder, Situationen, um den Schauspielern begreiflich zu machen, wie sie sprechen sollten. Doch dabei zwängte er sie nie in ein Korsett, sondern entwickelte es von ihnen aus, nahm sie zum Ausgangspunkt, ging auf sie ein. Er sagte, sie sollten »unrhetorisch« sprechen, sie sollten sprechen, als memorisierten sie in der Garderobe den Text für sich, er sagte, sie sollten ohne Bewertung sprechen, er sagte, sie sollten so sprechen, dass man das Zeitgefühl verlöre, sie sollten in einem »Arbeitslicht-Ton« sprechen, und damit meinte er immer das Gleiche: Die Bilder in diesem Text dürfen nicht als dahingesagte Metaphern behandelt werden, sondern müssen klar und einfach in den Raum gestellt werden, damit jedes Bild neu und eindringlich erfahren werden kann.

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Der Wahnsinn, der Schmerz Den Wahnsinn, den Schmerz in der »Iphigenie« stellt Grüber nicht als äußerliches, körperliches Spiel dar, nicht als gekrümmte, schäumende, zuckende Leiber in Ekstase. Von Anfang an ging es ihm auch da um die Sprache, um die Melodie, welche dann automatisch eine Haltung nach sich zieht. »Ver-rückt in der Haltung« nannte er Orest, aber er meinte damit nicht die totale gestische Unkontrolliertheit, sondern wieder: Klarheit. Grüber versteht den Wahnsinn des Orest als Überhelligkeit, »denke an Überhelligkeit« sagte er. »Lasst mir so lange Ruh, ihr Unterird’schen,/ Die nach dem Blut ihr, das von meinen Tritten/ Hernieder träufelnd meinen Pfad bezeichnet,/ Wie losgelassene Hunde spürend hetzt!/ Lasst mich, ich komme bald zu euch hinab;«

Von Beginn an wurde diese Szene (II.1) vor dem Rolltor geprobt, Orest auf der Stufe, Pylades vor dem Portal, Orest gefangen im gleißenden Lichtstrahl, Pylades in einem schwachen, warmen Licht. Und Orest ist verfolgt von den Bildern des Wahnsinns, nicht er bringt diese Bilder selbst hervor, sondern sie sprudeln aus ihm heraus, »es« ist in ihm, schneller als er sprechen kann. Er ist gepeinigt von den Erinnyen, den personifizierten Schuldgefühlen, den Rachegöttinnen. Grüber will einen Rauschzustand, aber nicht etwas Verschwommenes, Schwammiges, sondern eine Kristallklarheit, Rausch, aber »scharf«, »denke an Überhelligkeit«. Der Schmerz, der Wahnsinn, dies sind keine allgemeinen Gefühle, keine großen Grundgefühle, welche wie ein großer Gefühlsbrei über der Sprache und den Gesten liegen, sondern einzelne Bilder, die Orest wie Pfeile gegen sich bündeln solle. Also jedes Bild neu erfahren, jedes Bild neu stanzen, aus den großen Bögen Sätze packen, aus den Sätzen Worte und aus den Worten Konsonanten, sie greifen, sie packen und herausschleudern. Grüber fleht die Schauspieler fast an, er müsse die Bilder vor seinem inneren Auge sehen, wenn er sie höre, wie er jedes Detail der Gräuel in einem Goya-Bild sehe, »Verrücktheit heißt Überhelligkeit!«. Grüber interessiert sich für Schizophrenie, für die »Gefesselten in der Nacht«. Gibt es Analogien zu Verhaltensweisen von Orest? Grüber sieht sich Dokumentarfilme an über eine Anstalt in Gugging in der Nähe von Wien, er kommentiert diese Videos nicht weiter, beobachtet aber, wie die Patienten sich bewegen, wie sie gehen, wie sie im Raum stehen, bemerkt, wie diese Patienten, die man auf den Gängen der Anstalt stehen und gehen sieht, sich immer in den Schutz einer Wand oder einer Tür stellen, wenn sie es sich aussuchen könnten, wie ungern sie im offenen Raum gingen. Grüber setzt nichts davon direkt um, aber er registriert es, hofft, dass es die Schauspieler auch registrieren, dass es Anregungen sind, aber er sagt nie, so müsst ihr es machen, genau so einen Gang will ich jetzt sehen. Orest wird kein Schizophrener, Orest ist klar und leicht, zwar in sich verschlossen, aber nicht durch den Wahnsinn und den Schmerz zugeschüttet.

Der Pfeil im Zentrum. Probenbericht zu »Iphigenie auf Tauris« (1998)

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Grüber erfindet immer wieder neue Bilder und Begriffe, um die Schauspieler zu überzeugen, um sie sanft in die richtige Richtung zu drängen. Mit Wuttke muss er nach der Umbesetzung noch einmal von vorne anfangen, muss ihm, diesem körperbetonten Schauspieler, den Wahnsinn über die Sprache abringen. Der Schaum vor dem Mund, die Konvulsion, das Gerüttelt- und Geschüttelt-Sein entlädt sich in den Bildern durch die Sprache. Im dritten Akt, nach dem Zusammenbruch, sieht Orest die Figuren im Hades leibhaftig vor sich, er sagt es, er beschreibt sie, man werde es entdecken, ist sich Grüber sicher, ohne Rumzucken und Rumflippen. In der größten Bedrängung durch die Erinnyen im dritten Akt, wenn Orest von der Verfolgung des Orest durch die Erinnyen spricht, ohne dass Iphigenie schon weiß, dass er Orest ist, da steht er vorne am Wasser, er weicht von den quälenden Erscheinungen nach hinten: »Wie gärend stieg aus der Erschlagnen Blut/ Der Mutter Geist/ Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu: ›Lasst nicht den Muttermörder entfliehn!‹/ ›Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!‹ (…) Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß;/ sie geben nur, um neu zu schrecken, Rast.« Und während Wuttke diese Szene probt, während er diese Sätze spricht, da dringt Grüber auf ihn ein, schildert ihm seine Bedrängung, zeigt ihm, wo die Erinnyen hervorkriechen, wie unter der Blende zum Meer alles schwarz ist von ihnen, da beginnt man sie auch als Zuschauer zu sehen, sie materialisieren sich. Der Wahnsinn des Orest, der Schmerz, die Furcht werden plastisch und greifbar, die Bilder entstehen durch die Sprache, aber Wuttke weicht nicht nach hinten, um das Bild entstehen zu lassen, sondern weil er das Bild hat entstehen lassen, muss er nach hinten weichen, wenn die Erinnyen ihren Fuß auf den unberührten Strand setzen. Und Wuttkes vorher relativ unbestimmtes Krächzen bei den Rufen des Muttergeistes (»Lasst nicht den Muttermörder entfliehn!«) wird plötzlich zu der schaudervollen Stimme der erschlagenen Klytämnestra. Vielmehr hat Grüber nicht gebraucht, um diese Situation »einzurichten«. Gerade Positionen und Gänge haben die Schauspieler eigentlich selber gesucht und gefunden. Manchmal korrigierte Grüber dann, oder er bat, etwas aus den oder den Gründen sein zu lassen, er gehe »par élimination« vor, er könne sehen, wenn etwas richtig oder falsch sei, einfach Vorschläge machen oder Befehle geben, das wolle er nicht. Und wenn Grüber dann einmal eine Szene richtig einrichtete, also genau sagte, bei welcher Textstelle die Schauspieler wohin laufen sollten, dann ließ er es am nächsten Tag schon wieder fallen, denn die Schauspieler brauchten vielleicht nur eine kleine Anregung, einen Kick, einen Weckruf vielleicht auch, um dann die ihnen eigene Situation zu finden. So gibt es in der ersten Szene des dritten Aktes einen kurzen Monolog von Iphigenie: Nachdem Orest sich Iphigenie zu erkennen gegeben hat (»Ich bin Orest! Und dieses schuld’ge Haupt/ senkt nach der Grube sich und sucht den Tod;«), verflucht er das Unglück bringende Ufer der Barbaren, darauf entfernt er sich, und Iphigenie richtet sich flehend, aber auch räsonierend an die Götter.

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Wohin soll Orest in der Zwischenzeit gehen, was tut er in seinem Wahnsinn, in seiner Verfolgung? Auf einer Probe ließ Grüber sich an der Stelle Geräusche von Wellenbrechern, stürmischer See und heulendem Wind einspielen: Orest läuft von Todessehnsucht gejagt nach hinten zu der Klippe, zwischen die Bäume, der Ton wird eingespielt, und Orest schreit gegen die Naturgewalt seine Sätze, die von der Gewalt der Verfolgung und der Todessehnsucht zeugen: »Es stürze mein entseelter Leib vom Fels,/ Es rauche bis zum Meer hinab mein Blut/ Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren!«, dazu das Meer, gegen welches Orest ankämpft in seiner Verzweiflung, aber das Meer ist nicht bloße Untermalung oder ein bloßes dramatisches Moment, sondern Zeichen der Hybris, der Herausforderung und des Kampfes von Orest gegen die Götter und das Schicksal. Dann steht Orest in angespannter Haltung hinten, während Iphigenie vorne am Wasser kniet. Orest und Iphigenie werden sich wieder erkennen und zum Schluss wird Orest wie durch einen Schleier, »sauber aus dem Nichts kommend«, trocken die Wahrheit sprechen, die vielleicht noch mehr schmerzt als jeder Wahn und jede Verfolgung: »Seit meinen ersten Jahren hab ich nichts/ Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.« Und er bricht zusammen. Doch in der nächsten Probe wird die Toneinspielung und das Schreien des Fluches von Orest wieder fallen gelassen. Es hatte seine Unschuld verloren. Beim ersten Mal wirkte es sehr stark, sehr dramatisch und zugespitzt, doch schon beim zweiten Mal und erst recht am nächsten Tag wirkte es nur noch angestrengt gewollt, nicht mehr überraschend und auch zu plakativ auf der Suche nach einer dramatischen, aktionistischen Umsetzung. Grüber ließ die Schauspieler die Szene dann aus einer größeren Ruhe und Einfachheit entwickeln: Ohne Meeresgetöse geht Orest langsam aber bestimmt zur Klippe nach hinten, ein ganz ruhiger, entschiedener Gang, dann, ohne zu schreien, ganz kalt: »Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren!« Orest sei ohne theatralische und dramaturgische Logik, sagte Grüber, er antworte nie dann, wenn man es erwarte, er antworte nicht dialogisch, er sei ein Außenseiter von Dialog und theatralischem Gesetz, er habe sein eigenes Gesetz. Ist es das Gesetz des Wahnsinns, das Gesetz einer über-normalen Klarheit, der Überhelligkeit? Dies bringt eben keine normalen Reaktionen mit sich, er wartet mit einer ersehnten Antwort und reagiert eher auf das Krächzen des Vogels, Orest ist kalt und schneidend, wenn man ihn emotional und aufbrausend erwarten würde. Grüber möchte, dass keine erwarteten Bilder von Wahnsinn bedient werden. Nach dem Zusammenbrechen von Orest, wenn der Bogen überspannt wurde und Orest wie eine gerissene Saite die höchste Konvulsion des Wahnsinns überstanden hat, liegt er vorne im Wasser, von den Wellen wird er wie Strandgut herumgedreht, dann verebben die Wellen, das Wasser liegt ruhig vor Orest, er richtet sich auf und beginnt zu sprechen. Der Zug seiner toten Ahnen zieht vor

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ihm vorbei. Wuttke probte die Szene: Im Liegen begann er zu sprechen, richtete sich halb auf, lag dahingestreckt auf dem Sand, eine klassische Körpersprache. Grüber unterbrach bald, sagte Wuttke, er solle nicht so eine elegische, klassische Körperhaltung einnehmen, dann sei alles eindeutig und (vor-)bestimmt. Wuttke begann von Neuem, sprach nur kurz im Liegen, setzte sich dann schnell auf, die Arme um die Beine gelegt, ruhig, unbestimmt. Grüber: »Schön, jetzt weiß ich nicht, wo er ist, das ist viel spannender, als wenn Orest elegisch dasitzt. So hat man Orest noch nie gesehen!«. Tatsächlich sah Orest so eher wie ein Wanderer aus, der sich mal auf eine Wiese gesetzt hatte, später spielte Wuttke die Szene dann kniend (auch um besser aufstehen zu können), vielleicht die beste Mischung, nicht elegisch, nicht ein klassisches Bild des Wahnsinnigen heraufbeschwörend, aber auch nicht unbestimmt und harmonisch.

Wie sollte nun Orest geheilt werden, wie inszenierte Grüber die Heilung? Er verstand sie nicht als Prozess, es sei psychologischer Übergang zwischen Wahnsinn und Heilung, kein langsamer, logischer Heilungsprozess, sondern plötzlich sei er geheilt, genau bei Vers 1343: »Ihr Götter, die mit flammender Gewalt/ Ihr…«. Inszeniert hat es Grüber aber schon als (kleinen) Prozess, wenn auch sicher unpsychologisch. Orest ist in der Unterwelt, nach dem größten Schmerz, nach dem Überspannen des Bogens herrscht die Leichtigkeit, gelöst begegnet er seinen Ahnen, grüßt sie, sieht ihre Eintracht im Hades. Nachdem er vorher ein Getriebener gewesen ist, verfolgt von den Bildern, die auf ihn einstürzten, gestoßen und somit passiv, so ist er nun wieder Herr seiner Bilder, es sind seine eigenen Kreationen, Orest ist der Schöpfer der Bilder. Iphigenie kommt mit Pylades zurück, und allein durch ihre physische Anwesenheit, durch ihre Stimmen und dann durch ihre Berührungen, kommt Orest wieder »zu sich«: »Fass/ Uns kräftig an; wir sind nicht leere Schatten«, sagt Pylades zu ihm und streckt ihm den starken Arm eines Freundes hin, und Orest ergreift den Arm, ergreift auch die Hand von Iphigenie, noch kraftlos, doch plötzlich durchzuckt es ihn, und er richtet sich an der Schwester und am Freund auf. Kein psychologischer Moment, sondern ein rein sinnlicher, taktiler. Und alles entlädt sich in einem warmen Platzregen, so erlösend und beruhigend wie ein Sommerregen auf das Hausdach rauscht. Es beginnt in den Fingern, Orest spürt das Blut, die Pulsation und wie ein Schwall strömt es durch seinen ganzen Körper. Wo vorher Donnergrollen, Blitze und Gewitter waren, kann Orest nun frei von elektrisierender Anspannung und wieder lachend mit Pylades abgehen. Der Wahnsinn ist vorbei, einfach, kurz und klar.

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Dieses Bild war von Beginn an da, schon beim ersten Mal, als es mit Wuttke geprobt wurde, es wurde verfeinert und koordiniert, aber nicht »entwickelt«. Der Wahnsinn als Klarheit, als Über-Klarheit, als Haltung, die Bilder von seltener Schärfe gebiert, wie das Licht, in dem Orest gefangen ist (vor der Kälte des stählernen Rolltores), welches ihm die Netzhaut zu zerstören droht, in das Orest mit weitaufgerissenen Augen hineinstarrt, den Tod verlangend, den Kreis endlich schließen wollend, äußere Einflüsse können durch nichts mehr gefiltert werden, alles stürmt auf ihn ein… Gerade in der Szene versteht man, auch durch die äußere Einrichtung, also das Licht, das Rolltor, das unbewegte, blaue Wasser, wie Grüber den Wahnsinn, die Verfolgung und die Todessehnsucht verstand.

Iphigenie Angela Winkler probt Iphigenie. Angela Winkler ist Iphigenie, vom ersten Tag an versucht sie, sich die Figur anzueignen. Sie kämpft mit dem Text, nur schon mit der Menge des Textes. Sie versucht, ihn zu verstehen, um sich ganz auf die Sprache konzentrieren zu können. Die Figur der Iphigenie ist schon auf der ersten Leseprobe zu erkennen, sowie die Winkler zu lesen beginnt, zwar noch zu abgehackt, noch zu deklamierend, aber schon ruhig, einfach, kindlich. Auf der ersten Probe: Iphigenie kommt aus dem Tempel, sie solle genau wie auf den Leseproben sprechen, sagt Grüber, nicht lauter, nicht an die Bühne denken. Sie lässt sich Zeit, lässt erst einmal Ruhe entstehen, doch Grüber möchte, dass sie schon auf der ersten Stufe beginnt zu sprechen, »keine Aktion, bevor Goethe zu Wort gekommen ist«, fordert Grüber. Der zweite Versuch: Iphigenie setzt sich auf die unterste Stufe, doch es ist schöner, wenn sie steht, sie sei viel verletzlicher und einsamer, wenn sie stehe. Iphigenie kommt aus dem Tempel, beginnt oben schon zu sprechen: »Heraus in eure Schatten, rege Wipfel/ Des alten, heiligen, dichtbelaubten Haines.« Sie ist nicht nur Priesterin, nicht nur ein weihevolles, distanziertes Geschöpf, sondern zuerst eine Frau, die sich nach Hause und zu ihrer Familie sehnt, die einsam ist, in einer fremden Umgebung, die nie die ihre werden wird. Thoas wirbt um sie, rau und ehrlich, ein verletzter Koloss, er bringt sie zum Reden, nach Jahren öffnen sich die Schleusen, und sie enthüllt ihm ihre Herkunft. Auch dieses Bild hatte Grüber von Beginn an im Kopf: Er stelle sich Iphigenie sitzend am Wasser vor, Thoas dahinter auf einem Stein unter dem Baum. Iphigenie kniet am Wasser, den Blick nach vorn gerichtet, die Hände unten. Die wenigen Zwischenkommentare von Thoas sollen nicht heftig sein, sondern lediglich die Epik der Erzählung unterstützen. Die Erzählung müsse wirken, als ob sie die ganze Nacht dauere, das Zeitgefühl müsse man als Zuschauer verlieren. Die Schauspieler sollten wenige Gesten machen, diese aber genau und deutlich, Gesten, die Zeit bedeuteten und nicht die Zeit verkürzten. Was sind das für

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Iphigenie auf Tauris: Ulrich Wildgruber (Thoas), Angela Winkler (Iphigenie), Schaubühne, Berlin 1998.

Gesten, was heißt das? Bei der schaudervollsten Stelle in der Erzählung wendet Thoas sein Gesicht ab: »Du wendest schaudernd dein Gesicht, o König:«, sagt Iphigenie und dreht sich zu ihm um. Langsam, sehr langsam macht Thoas diese Bewegung, nicht ruckartig und plötzlich, mancher Zuschauer wird es erst entdecken, wenn Iphigenie davon spricht und sich zu ihm umdreht. Iphigenie spielt mit den Steinen, die sie vom Sand aufhebt, auch eine sehr sinnliche Geste, die nichts unterteilt, denn das bedeutet ja, die Zeit verkürzen, sie zu unterteilen, sie so zählbar und also manipulierbar zu machen. Grüber spricht davon, dass Iphigenie eine gelöste, spielerische Haltung einnehmen solle, dass sie mädchenhaft sein soll. Das Geschichten erzählende Mädchen müsse wichtiger sein als Iphigenie. Es stellt sich so ein Bild her, indem ein Mädchen einem Mann, der ruhig unter einem Baum sitzt, eine Geschichte erzählt. Es wird Nacht, sie erzählt immer weiter, mit fast monotoner Stimme, und auch als Wildgruber mit dem »genug« mit schroffer Stimme die Erzählung unterbricht und aufsteht, möchte Grüber, dass er sitzen bleibt, dass die Nacht noch nicht zu Ende ist, dass Thoas mit dem »genug« die Dauer unterstützt und erst vor seinem zweiten Antrag aufsteht. Jetzt erst ist auch die Nacht vorbei, die Sonne geht auf, es ist Tag, die Auseinandersetzung geht weiter. Es war zu diesem Zeitpunkt noch keine Probenwoche vergangen, aber eine der zentralsten Szenen von Iphigenie war in ihrer Haltung schon vorgezeichnet. Ihre Sprache, ihre Mischung einer Priesterin mit einer einsamen Frau, die offen und

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mit einem riesigen Vertrauen in ihre Umwelt, mit Angst und Hoffnung zugleich, einem Mann begegnet, der als Barbar beschrieben wird. Immer wieder bittet Grüber die Winkler, sie solle nicht eine große Geste machen und dann drei kleinere hinterherschicken, sie solle nur eine wirklich große machen, welche von denen, die sie anbiete, das müsse sie selber entscheiden. So wird auch die Figur der Iphigenie immer weiter verdichtet und reduziert, aus einer Basis, die sehr schnell da ist. Iphigenie lebt von vielen Widersprüchen, Angst und Hoffnung. Würde der Priesterin und Reinheit eines Mädchens, Fremdheit auf der Insel und doch Eingebettetsein in die Natur der Insel, aber in ihren Gesten soll sie klar und einfach sein: Wenn Pylades auftritt in der zweiten Szene des zweiten Aktes, soll sie in einem großen Gang zu ihm gehen, ihm einfach und unkompliziert die Fesseln abnehmen. Ihre Art etwas aufzunehmen sei einfach und klar, sie solle nicht viele kleine Geschichten und Blicke aus einer Situation machen, sondern einmal sehen und hören und sofort direkt hingehen, in dem Fall zu Pylades. Obwohl Iphigenie später von Arkas in ihrer Entscheidung mehr beeinflusst wird als von Pylades, entsteht zwischen Iphigenie und Pylades eine Vertrautheit. Grüber betonte dies schon auf einer Leseprobe, ließ Iphigenie sich auch neben Pylades setzen, dies setzte sich auf den Proben fort: Iphigenie und Pylades stehen nah beieinander, sie in einer sehr aufrechten Haltung, frontal zum Wasser, er zu ihr gedreht, den Oberkörper leicht geneigt, nah bei ihr, die Hände aber locker nach unten, dies sei eine sehr schöne Position, die Charme und Zuneigung verrate, aber ohne Berührung, ohne Bussi, ohne Händchenhalten und Geheimnistuerei. Die zweite Szene mit Pylades ist zuerst noch harmonischer. Pylades bringt ihr jauchzend die Botschaft von Orests vollständiger Heilung, sie freuen sich gemeinsam, doch trotz der Nähe, die zwischen ihnen ist, erreichen Pylades’ pragmatische, optimistische Argumente sie nicht so tief wie die Überlegungen von Arkas, die vielleicht nicht ihrem Willen, aber sicher ihrer Natur entsprechen. Wäre Arkas nicht gekommen, wäre Iphigenie schon lange mit den beiden Griechen geflüchtet, ihm hört sie zu, er spricht ihr aus dem Herzen. Pylades sieht Arkas nur als barbarischen Feind, das ist gegen Iphigenies Natur, so wie die Flucht, aber die Flucht ist gegen ihre Einsicht, dass die Kette von Betrug und Hass, die das Hause Tantals geprägt hat, endlich durchbrochen werden muss. Und sie hat die Kraft, aber auch die ganz natürliche Reinheit, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Orest, ihrem Bruder, ist sie zuerst fremd. Als die große Szene zwischen Orest und Iphigenie (III.1.) zum ersten Mal geprobt wird, da warnt Grüber von einer zu großen Nähe zwischen den beiden. Er sei fremd auf der Insel, voller Angst auch natürlich, sie sei die Priesterin und ein »Bestandteil« der Insel. Auch in ihrer Musikalität sind sie unterschiedlich gestimmt: Iphigenie hat eine harmonische Musikalität, die Harmonie auf der Insel wird nur von Orests ungestimmtem

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Instrument gestört. Mit wenigen Strichen zeichnet Grüber das Bild der Iphigenie weiter: Ihm fällt die Körperhaltung der Winkler auf: Sie fleht die Götter an, ihr Hals macht eine lange Wendung nach oben. An ihrem Hals, an solchen genauen, prägnanten Bewegungen könne man die ganze Szene aufhängen, ja fast die ganze Aufführung. Er spricht von solchen Bewegungen, wie das Anflehen der Götter, das Abgehen oder das Sich-Verhüllen. In dem Augenblick, wo Grüber dies sagt, da glaubt man es unbedingt, da sieht man plötzlich nur noch diesen Hals der Iphigenie, hört, was sie sagt, oder nimmt es irgendwie wahr, und die ganze Szene braucht nicht viel mehr, alles steht auf diesem Hals, das Flehen, die Verzweiflung, die Angst. Der Beginn der Szene änderte sich im Laufe der Proben verschiedene Male. Erst einige Tage vor der Premiere wurde im Übergang von II.2. zu III.1. Text gestrichen, so dass Iphigenie in einem Lichtkegel steht, verhüllt in der Nacht, und Orest erst im wiederkommenden Licht kniend zu sehen ist. Vor allem für die ersten Sätze von Iphigenie fand Grüber lange keine Lösung, obwohl es sehr einfach sei, wie er sagte, er übersprang die Stelle öfters und kam so direkt auf den dialogischen Teil. Iphigenie geht durch ein Wechselbad der Gefühle, die Trauer und das Entsetzen über die Geschehnisse zu Hause werden abgelöst von der Freude des Wiedersehens mit dem Bruder, doch sofort ergreift sie die Angst, der lang Vermisste werde für immer im Wahnsinn gefangen sein. Dies müsse man sehen, fordert Grüber, die innere Richtung des Blicks müsse sich ändern, von Trauer zu Freude zu Angst. »Ich bin Orest!« Iphigenie kniet, in wenigem Abstand steht Orest, gekrümmt vor Todessehnsucht, Iphigenie weint vor Freude, »und dieses schuldge Haupt/ senkt nach der Grube sich und sucht den Tod«, und Iphigenie weint vor Freude, »ein ausdrucksloses Weinen, wie eine Maske, die weint«, aus Angst den eben Gefundenen gleich wieder zu verlieren. Doch unerbittlich geht Orest nach hinten an die Klippe, Iphigenie ist allein am Meer, richtet sich an die Götter, und Grüber sagt: »Eine dunkle, schwarze Träne läuft Dir übers Gesicht, langsam der Nase entlang, wie ein Zeichen, wie eine Malerei…«. Und Iphigenie stimmt den Ton der Klage an, einen unmenschlichen Ton, monoton, durchgehalten, Orest kann darauf reagieren: »Es ruft, es ruft!«. Iphigenie als Klageweib, das erinnert ihn an die Erinnyen: »wer bist Du?«. Aber auch vor dieser Situation (sie wurde erst spät gefunden, war davor nicht grundsätzlich anders, nur unbestimmter) warnt Grüber: Der Ton, der Schrei müsste zeitlos sein wie eine Welle, und die Winkler müsse die Situation und die Emotion immer wieder neu finden (…). Nach der Heilung von Orest, nachdem Orest und Pylades abgegangen sind, ist Iphigenie allein, sie spricht einen längeren Monolog, zuerst erlöst, dann wieder voller Angst vor der Entscheidung, zu fliehen oder Thoas die Wahrheit zu sagen. Grüber suchte die innere Stimmung und Haltung von Iphigenie, wenn er die gefunden habe und den Schauspielern vermitteln könne, dann, so sagte er, sei es einfach, er verließ sich dann auf die Vorschläge der Schauspieler. Zu dem Mo-

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nolog sagte er zu der Winkler, sie solle sich hinsetzen, wie sie sich allein an der Bretagne an einen Strand setzen würde, Flut und Ebbe beobachtend, einen Stein kosend. Aus diesem Zentrum heraus solle sie die Szene gestalten. Später spielte die Winkler die Szene dann am linken Rolltor, nur in einem schwachen Licht, aber damit änderte sich nicht, was Grüber früher gesagt hatte, das Zentrum, die Grundanlage bleiben dieselben. So konnte Grüber zwar den äußeren Verlauf einer Szene oder Situation ändern, was er den Schauspielern aber grundsätzlich einmal zu einer Szene gesagt hatte, das veränderte er nicht, im Gegenteil, die neue Anlage konzentrierte es nur noch. Grüber konnte aber auch ganz lange keine eindeutige Haltung für eine Szene finden. Für die Szene mit Pylades unter dem Baum (IV.4.) fand er erst kurz vor der Premiere eine Lösung: Die Schauspieler saßen im Zuschauerraum um Grüber herum auf den Treppen, sie hatten einige inhaltliche Fragen. Angela Winkler lehnte ihren Kopf an einen Zuschauersessel und sprach den Monolog, mehr vor sich hinmurmelnd, ziemlich erschöpft. Genau so sollte sie den Schluss des Gesprächs mit Pylades und den anschließenden Monolog spielen! An den Stein unter dem Feigenbaum gelehnt, den Arm aufgestützt, den Kopf daran gelehnt und den Text leicht und klar, aber erschöpft sprechen. Auf der nächsten Probe wurde es probiert, genau in der Haltung. Das Gesicht zum Publikum gewandt, nicht im Profil, den Kopf auf die Faust gestützt. Iphigenie ist hier noch nicht zum Zorn fähig, sie spricht leicht und klar, nicht zynisch, nicht traurig, nicht verzweifelt, immer im gleichen Tonfall: »Nimmt doch alles ab!« Trotz solcher sehr resigniert klingenden Sätze spricht sie ohne Wertung, nachdenklich, aber auch jung und verletzlich, elegant und schön, würdevoll, aber nicht weihevoll. Sie solle den ganzen Monolog als einen Gedanken auffassen, als einen Bogen, aber innerhalb des Bogens solle sie unterteilen, erst den ganzen Satz denken, und wenn er unbewertet wie in Stein gemeißelt sei, dann erst sprechen. Und der Blick nach oben, eine eigenartige Anklage mit fremdem Blick und fremder Stimme, keine Bewegung: »O dass in meinem Busen nicht zuletzt/ Ein Widerwillen keime! Der Titanen,/ Der alten Götter tiefer Hass auf euch,/ Olympier, nicht auch die zarte Brust/ Mit Geierklauen fasse! Rettet mich/ Und rettet euer Bild in meiner Seele!« So entstand ein wunderschöner Moment, ein berührenderer als ihn jeder emotionale Ausbruch gebracht hätte. So wurde die Melancholie des Parzenliedes vorbereitet. Der Wind bringt die Klänge der Heimat deutlich an Iphigenies Ohr, sie erinnert sich der Zeilen, singt in einer einfachen Melodie, in einsamer Nacht. Und doch geht Iphigenie gestärkt daraus hervor. Im folgenden Dialog mit Thoas wagt sie starken Widerspruch, ein wildes Lied. Sie spricht mit einer neuen, festen Stimme, weicht ihm nicht aus, sondern geht ihm sogar hinterher, um ihm die Wahrheit von Nahem zu sagen. Kurz kehrt ihre Kindlichkeit zurück, als sie plötzlich merkt, dass sie ihr ganzes Schicksal (und das von Orest und Pylades) in Thoas Hände gelegt hat und sie bange die Antwort von ihm erwartet. Doch Thoas,

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umgestimmt von ihrer Ehrlichkeit und seiner Einsicht lässt sie, schmerzvoll und traurig zurückbleibend, ziehen. Zum Schluss löst sich auch die Figur der Iphigenie auf, »Ent-Iphigenieren« nannte das Grüber, und mit dem fahlen Morgenlicht (normales Bühnenarbeitslicht) verschwindet jede Dramatik. Iphigenie, zuerst eine einsame Frau fern der Heimat, ein naives, natürliches Mädchen, voll Angst und Freude, geliebt von Thoas, dem sie tiefe Dankbarkeit entgegenbringt, dann bereit, eine Entscheidung zu treffen und nach ihr zu handeln.

Die Griechen Die Griechen, Orest und Pylades, landen auf einer fremden Insel, vom delphischen Orakel hierhergeschickt. Mit letzter Hoffnung betreten sie gefährlichen Boden, der ihnen fast den Tod, doch letztlich Rettung bringt. Immer wieder betonte Grüber das Bild der Schiffbrüchigen, das Bild der Fremden, die mit wenig Hoffnung, frierend und schlotternd auf diese Insel gekommen sind. Immer wieder betonte er, wie die beiden zusammengehören, erklärte die Fürsorge des Pylades gegenüber Orest, sprach mit Ovid von der Liebe der Jünglinge, »immer in Eintracht sonst lebten die zwei, ohne Zwist./ Während den Streit ihrer herrlichen Liebe die Jünglinge führen«. Doch so eng sie zueinander gehören, so verschieden sind sie auch. Wo Orest sich im Fatalismus suhlt, sich seinem Wahnsinn völlig hingegeben zu haben scheint, da sucht Pylades immer den Ausweg, Pylades sei der liebevoll Wunden Pflegende, sagte Grüber auf der ersten Leseprobe, aber er sei keine Krankenschwester, er sei mehr als ein gutmütiges Anhängsel. Seine praktische Vernunft lässt ihn, mit der Listenhaftigkeit des Odysseus, in jeder Situation den Ausweg suchen, ohne ihn würde Orest wohl schon nicht mehr sein. Wie soll nun so einer sprechen, wie soll er sich bewegen, im Gegensatz zum verfolgten, umnachteten Orest, im Gegensatz zu den Barbaren? Klein, einfach, hell, jugendlich… Grüber möchte, dass Pylades eine positive Ausstrahlung hat, natürlich, aber ohne zu leuchten. Auf manchen Proben erkannte Grüber den Ton, Auf diesem Sockel könne Pylades dann machen, was er wolle, aber diesen »Konversationston«, diese Gelöstheit in der Stimme, den freien Optimismus und die Fürsorge, die müsse er hören. Aber dieser Ton, diese Art des Sprechens ist es auch, die Gefahren birgt. Denn wo vor allem sein Gegenüber Arkas in tiefer, unpsychologischer Ehrlichkeit argumentiert, da kann Pylades als schlauer, oberflächlicher Rhetoriker wirken. Aus Pylades könne man ohne Probleme eine unsympathische Figur machen, sagte Grüber, aus ihm könne man den Opportunisten ohne Moral machen. Genau

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deshalb treffen die Argumente von Arkas Iphigenie mehr, sie unterstützen sie in ihrer eigenen Natur, Thoas die Wahrheit zu sagen, während die rationalen, logischen Argumente von Pylades sie kalt lassen. Gerade der vierte Akt spitzt die Gegenüberstellung der beiden Männer Pylades und Arkas zu. In dramatischer Weise versuchen beide, Iphigenie auf ihre Seite zu ziehen, mit fast den gleichen Argumenten, die nur auf einer völlig verschiedenen Basis fußen. Pylades sei die einzige Figur, die ihren Text gestisch untermalen dürfe, er als Rhetoriker, als Schauspieler, er solle fast alles an sich abprallen lassen, solche Charaktere würden nicht stundenlang über das Schicksal nachdenken. Seine jugendliche, leichte, optimistische Art solle betont werden. Um dies zu erreichen, treibt Grüber Groth auf einer Probe immer weiter an, bis Pylades als kindlichfröhlicher Zweckoptimist über die Bühne jagt. Grüber treibt ihn an, er solle lachen, den Text zeigen, ihn untermalen, es wird völlig übertrieben, aber für Grüber geht es in die richtige Richtung. Er sprengt so eine gewisse Lethargie auf, zeigt die Richtung, grenzt Pylades auch klar von Orest ab. In der Szene vor dem Rolltor, wenn Orest jedes Bild mit einer grausamen Genauigkeit entstehen und wirken lässt, steht Pylades im warmen Licht, versucht, seinen Freund zu stützen, ihm seine Zuversicht einzureden, in einer ruhigen, sachlichen Sprache, die nichts Geheimnisvolles haben dürfe. Einmal bittet Grüber, dass Groth seinen Text zu ihm sagen solle, so als wollten sie eine inhaltliche Frage klären, und genau diese Einfachheit und Klarheit, dieser natürliche Fluss, so wie Groth jetzt gerade zu ihm gesprochen habe, das sei die Figur des Pylades. Er müsse einfach den Sinn der Worte verstehen und sie dann klar und souverän sprechen, strahlend, fröhlich, nicht sich mit Gedankenballast zudecken, leicht sein, en passant… Aber gerade diese »en passant-Szenen« sind es, die sehr viele Schwierigkeiten bereiten. Während die Szenen mit Orest, aber auch die Szenen mit den Barbaren, vor allem mit Thoas, durch die relativ große Dramatik und durch die Rededuelle wirken, bleiben die zwei Szenen mit Iphigenie und Pylades lange eher blass. Die Einfachheit und Klarheit, die Flüchtigkeit kann eben auch langweilig werden, wenn die Schauspieler nicht im Zentrum sind, wie es Grüber ausdrückte. Wenn Flüchtigkeit entstehen soll, nützt es nichts, flüchtig über den Text zu huschen, die Genauigkeit muss sehr groß sein. Er dürfe den Text nicht wegwerfen, er müsse poröser sein, sagte Grüber zu Groth. Ihn versuchte er auf den Proben anzustacheln, ihn ließ er übertreiben, versuchte ihn zum Ausflippen zu bringen, um dann von dieser höheren Ebene das Sprechen und den Gestus zu entwickeln, ihn versuchte er auch zu verwirren, durch überlaute Toneinspielungen oder neue, sinnlose Requisiten, wie eine Schildkröte, oder indem Grüber plötzlich begann, während Iphigenie und Orest probten, Steine ins Wasser zu werfen. Er wollte ihn aufwecken, wollte ihn klarer und einfacher, nicht zugedeckt mit Gedanken. Auch dadurch, dass an der Rolle von Pylades noch mehr gestrichen wurde, wurden die Szenen knapper und prägnanter.

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Orest und Pylades setzen ihren Fuß auf die Insel und zerstören so die Harmonie, die Geschlossenheit des Ortes. Durch ihre Ankunft bricht ein schon lange schwelender Konflikt aus, der schließlich einen kaum zu entwirrenden Knoten löst. Iphigenie kehrt nach Hause zurück, die Geschwister sind wieder vereint, Orest ist von seinem Wahnsinn befreit und auch für Thoas hat die schmerzvolle Entscheidung letztlich etwas Gutes, das Ende der Ungewissheit vielleicht. Die Griechen, die wir doch so gut zu kennen glauben, deren Edelmut und Humanität wir zu schätzen meinen, sind hier die Fremden, sie sind die gewieften Taktiker, die Strategen, die Iphigenie zu etwas überreden wollen, was gegen ihre Natur ist. Dagegen stehen die Barbaren, die in ihrer Offenheit und unpsychologischen Überzeugungskraft Iphigenie tiefer treffen. Die Sympathie von Grüber lag eindeutig auf ihrer Seite.

Die Barbaren Thoas, der Barbar, sitzt unter einem Baum, ruhig, stark, er hört die Geschichte des Hauses Tantals, hört von den Gräueln. Er ist der Barbar, der Einheimische, er gehört in die Natur, er ist aus der Natur hervorgegangen, es ist ganz selbstverständlich, dass er so ist, wie er ist. Grüber sieht Arkas und Thoas als zwei weise, gütige Menschen, vor allem Thoas dürfe nichts Herrisches oder Rechthaberisches haben. Es seien liebende und nicht altkluge Bemerkungen, die sie machten. An der Figur des Thoas musste Grüber nicht viel arbeiten. Wildgruber machte das fast alleine, er fand meistens nach wenigen Bemerkungen Grübers eine Haltung und einen Ton. Die Figur des Arkas veränderte sich jedoch bald sehr stark, und Grüber hatte Schwierigkeiten, Redl von seiner Idee zu überzeugen. Thoas, der rollende Felsblock, bringt die Geschichte zum Laufen, seine Verzweiflung ist ein Naturereignis, seine Sprache ist rau und direkt. Wenn er auftritt, dann wendet er sich sofort nach vorne, er bestimmt die Situation sofort, allein durch seine physische Präsenz. Rhetorische Floskeln hindern ihn daran, sofort in den Kern einer Sache vorzudringen. Auf einer frühen Probe gerät Thoas auf einer noch nicht ausreichend befestigten Sandbank ins Wanken. Und Grüber möchte ihn genau als wankenden Fels, Thoas ist ein König, der wankend, aber nicht tollpatschig, ein Terrain erobert und besitzt. Er bewegt sich immer nur von Sandbank zu Sandbank, man könnte sie auch Eisschollen nennen, und Thoas ist der Eisbär, der von Eisscholle zu Eisscholle wankt und jede sofort, einem Naturgesetz folgend, in Besitz nimmt. So sollte Thoas nur große, lange Gänge machen, zwar wenige, aber die wie eine Grönlandüberquerung. Aber Thoas ist ein verletzlicher Koloss, er sucht Schatten und Schutz, als er rechts von dem Bühnenportal steht. Thoas ist ein Mann, der mit wenigen Worten auskommt, aber wenn es um Iphigenie geht, wenn er mit ihr spricht, dann gehen bei ihm nie

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geahnte Schleusen auf. Grüber fällt Wildgrubers Blick auf, es sei dieser Blick der Eule, den Thoas habe, dieses genaue Wenden des Kopfes, die großen Augen, die sich ohne jede textliche Logik schließen und öffnen, dieses Fehlen von Psychologie in seinen Bewegungen, die mehr tierisch und ursprünglich seien, das sei das Faszinierende an der Figur. Irgendwann, so sagte Grüber, wolle er einmal ein Stück machen, in dem nur Barbaren vorkämen! So groß und stark Thoas ist, so verletzt und verbittert kann er aber auch sein. Seine Verbitterung schlägt aber nicht in Zynismus um, sondern in eine melancholische Traurigkeit. Auch Iphigenie empfindet die Schmerzen der Trennung, auch dies bewegt sie dazu, Thoas die Wahrheit zu sagen. Der zweite Auftritt, mit Arkas zu Beginn des fünften Aktes. Nicht herrisch, sondern rau und klar, sympathisch stehen Thoas und Arkas ganz rechts. Arkas leidet mit Thoas mit, er geht ab, und die Soldaten des Königs werden zusammengezogen. Nun ist Thoas allein, er spricht voll bitterer Erkenntnis, aber ohne Belehrung, er sagt das Wenige, was zu sagen ist. Doch Grüber entwirft an diesem Tag noch ein anderes Bild, was für Thoas vielleicht wichtiger ist: Thoas sei wie ein hundertjähriger Baum im Sturm, der ächzt und kämpft, der verzweifelt sei, aber nicht weinerlich. Und wenn Thoas den Kopf nach unten hält, dann sei er wie ein Löwe in der Nachmittagshitze, der unter einem Baum vermeintlich döse, aber ganz da sei wenn nötig, der beim kleinsten Geräusch den Kopf hebe. Dann lässt Grüber den Schauspielern freie Bahn, sie sollen sich ganz auf diese innere Haltung verlassen und nach dem »erfrischenden Gesetz des Instinkts« dem Zufall folgen. Tatsächlich entwickelt sich so die Szene, wirken Gänge ganz natürlich. Wenn die Grundmelodie von den Schauspielern gefunden wurde, dann lässt Grüber auch durchspielen, dann sind ihm kleine Fehler egal, dann treibt er die Schauspieler an, einfach weiter zu spielen. So wird die Sprache Thoas klar und deutlich, knurrend und menschlich, stark, aber auch verletzt und ängstlich. Und wenn nach dem von Iphigenie verhinderten Kampf Thoas und Orest im Hain sitzen, Datteln essen und sich alles auflöst, dann wisse man als Zuschauer nicht genau, ob Thoas nun gerade schlafe oder ein neues Gesetz mache. Vermutlich macht Thoas beides gleichzeitig. »Wenn der letzte Stier Thoas zum letzten Mal zum Kampf brüllt und wenig später ›Lebt wohl!‹ sagt, dann haben sich das neue Gesetz, die neue Sitte tatsächlich etabliert, und etwas hat sich stark verändert.« Nicht ist es mehr wie es vor zwei Stunden war, oder besser, wie es vor drei Nächten war. Die Figur des Arkas hat Grüber äußerlich sicher am stärksten bearbeitet. Obwohl Grüber schon ganz früh die Idee des Baumeisters entwickelte, dauerte es lange, bis Redl umgedacht hatte. Lange war er noch der gütige, adelige Berater des Königs, der in gedehnter Sprache salbungsvoll für seinen König redete. Dabei sprach Grüber schon auf der ersten Probe davon, dass Arkas irgendein Attribut bräuchte, das ihn als tätigen Menschen kennzeichnete. Arkas solle in

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seinem ersten Gespräch mit Iphigenie herumlaufen, alles begutachten, mit einer Selbstverständlichkeit Dinge tun, die er um diese Uhrzeit immer tue. Zum Beispiel nach dem Wetter sehen, aber nicht in einem touristischen Sinne, sondern mit Nutzen, für die Landwirtschaft oder Ähnliches. Arkas bekam einen Stab, um die Fischerei zu prüfen, es wurde überlegt, Fischreusen ins Wasser zu legen. Auf jeden Fall suchte Grüber nach einer Beschäftigung für Arkas, nach etwas, das ihn als Bestandteil der Natur, der Insel kennzeichne. Bald wurde aus ihm der Baumeister. Das Relief wurde zur Zeichenplatte, um sie herum eine Baustelle aus Säulen und Steinen. Die verschiedenen Elemente der Arbeit wurden schnell entwickelt, das Senkblei, die Kreiden, der Maßstock, der Zeichenstab, mit dem Arkas in der zweiten Szene aufrecht zeichnen konnte. Doch wenn sich eine Figur so ändert, dann ändert sich auch die Sprache. Arkas war nun nicht mehr der Berater, sondern ein Arbeiter, ein gebildeter zwar, aber auch ein bodenständiger. Doch Redl hatte Mühe, sich von seinem Ton zu trennen, erst als sich auch sein Kostüm plötzlich veränderte, als er eine Arbeitsschürze und ein einfaches Hemd trug, da änderte sich auch seine Sprache und Gestik. Grüber forderte in jeder Haltung etwas Entschiedenes, Einprägsames, aber auch etwas Unaufwendiges, Unauffälliges. Seine Art zu arbeiten, müsse die Beständigkeit einer kleinen Welle haben, ohne dahinzuplätschern. Arkas drehte sich zu oft nach Iphigenie um, er klebte an ihr, er müsse sich mehr auf die Arbeit konzentrieren, er werde nicht gern bei der Arbeit gestört, eher laufe das Gespräch nebenher als umgekehrt. Man müsse spüren, dass er die genauesten Zeichnungen der Welt mache, was er tue, habe eine Konsequenz, man müsse danach bauen können. Aber Arkas war immer noch zu breit, die Koordination stimmte nicht. Grüber ließ nicht locker, er wollte, dass er im Liegen zeichne: Er wolle sehen und hören, wie exakt und ohne Korrektur er einen Strich mache, im Sprechen wie im Arbeiten sei er rau und endgültig, männlich und stark. Ein langer Strich nach unten im Stehen während des Sprechens wirkt wirklich endgültig. Grüber sprach davon, dass man alles von Arkas in seiner Arbeit sehe: wo er die Gicht habe, wie alt er sei, was er zeichne, seine Weisheit. Aber nur, wenn er direkt arbeite und direkt spreche, wenn es nicht geheimnisvoll sei, sondern klar, einfach und ehrlich. Thoas, aber vor allem Arkas haben sich dem Leben auf der Insel so genau angepasst, dass sie nichts Überflüssiges tun: Sie tragen so viel Kleider wie nötig, um sich vor Wind und Sonne zu schützen, sie sagen nur so viel wie nötig, sie machen keine überflüssigen Wege, sie üben keinen sinnlosen Druck aus, sie betonen die Worte nicht zu stark, sie sind ruhig, langsam und natürlich, aber auch rau und kernig. Grüber sagte einmal, die Barbaren seien die besseren Griechen. Was man von den Griechen vermuten würde, Humanität, Ehrlichkeit, Direktheit, Menschenliebe, Philosophie, Klarheit, das sind hier eher Charakteristika der Barbaren.

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»Regieanweisungen«: Körpersprache Klaus Michael Grüber zu zitieren ist schwierig. Was er sagt, ist nicht alles, was er meint. Ein Satz von ihm, der einem Schauspieler eine Haltung oder eine Art zu sprechen erklären soll, ist bloß zitiert unvollständig, ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit wäre eine Beschreibung seines Gesichts, seiner Körperhaltung, seiner Hände. Was Grüber sagt, ist oft nicht das Eindrücklichste, aber wie er es sagt! Wie die Schauspieler ihn gebannt anblicken, versuchen, jede seiner Bewegungen für sich zu interpretieren und umzusetzen, das müsste man beschreiben können. Grüber saß während der Proben in der Mitte des Saals, nur selten stand er auf, auf der Bühne war er die ganze Probenzeit nicht ein einziges Mal. Einmal nur ging er nach vorne an die Rampe: Wuttke probierte die erste Szene des dritten Aktes, die zentrale Szene mit Iphigenie, die Wiedererkennung, der Wahnsinn und der Zusammenbruch. Es ist eine Woche vor der Premiere. Grüber steht auf, geht nach unten. Wuttke spielt weiter, Grüber dirigiert ihn, mit großen Gesten, gespreizten Fingern untermalt er die Worte, mit bildhaften Lauten versucht er, die Bedrängung durch die Erinnyen deutlich zu machen, er beschwört sie herauf, zeigt Wuttke, wo sie hervorkriechen, wie sie ihn bedrohen, ihn zurückweichen lassen. Vor der erleuchteten Bühne gibt Grüber eine dunkle, expressive Silhouette ab, man sieht jeden einzelnen Finger, wie er sich krümmt. Oder: Orest vor dem Rolltor, im gleißend hellen Licht. Grüber zu Wuttke, den rechten Zeigefinger auf seine eigenen Augen gerichtet, mit grollender, tiefer und doch schneidender Stimme, in abgehackten Sätzen: »Du stehst im Licht, in diesem gleißenden Licht, das dir die Augen kaputt macht, dir die Netzhaut zerstört, aber du reißt die Augen auf, du kannst und willst nicht anders als da reinschauen, und du schaust, es schmerzt, und du willst mehr, ja du willst den Bogen schließen, du willst es jetzt, sollen sie doch kommen, du willst nicht mehr, du willst nur noch sterben…«. So verstehen es die Schauspieler, so verstehen sie die Haltung, ohne dass sie es nun genauso nachmachen müssen. Aber Grüber hatte nicht viele solche Ausbrüche, aber auch in seiner Ruhe lag sehr viel. Wenn Grüber sagte, sie müssten klar und einfach sprechen, sie müssten das Wort frei im Raum stehen lassen, dann öffnete er die Hand und ließ sie ein wenig hochgehen, als würde eine Taube wegfliegen oder als würde ein Stein drinliegen.

An der großen Straße: Ensembleszene, Schaubühne, Probebühne Cuvrystraße, Berlin, 1984.

Elektra: Ensembleszene mit Mette Ejsing (Klytämnestra unten mittig), Inga Nielsen (Chrysothemis oben knieend), Teatro di San Carlo, Neapel, 2003.

Elektra: Anselm Kiefers Bühne im Teatro di San Carlo, Neapel, 2003.

Ödipus in Kolonos: Ignaz Kirchner, Martin Schwab, Branko Samarovski, Paul Wolff-Plotegg (Chor), Mareike Sedl (Ismene), Birgit Minichmayr (Antigone), August Diehl (Polyneikes), Bruno Ganz (Ödipus), Burgtheater, Wien, 2003.

Erwartung: Anja Silja, Janis Martin alternierend (Die Frau), Théâtre de la Monnaie, Brüssel, 1995.

Parsifal: Ensembleszene mit Barry McCauley (Parsifal), De Nederlandse Opera, Amsterdam, 1990.

Il ritorno d’Ulisse in patria: Ensembleszene mit Vesselina Kasarova (Penelope), Dietrich Henschel (Ulisse), Jonas Kaufmann (Telemaco), Opernhaus Zürich, 2002.

Amphitryon: Jutta Lampe (Alkmene), Schaubühne im Hebbel-Theater, Berlin, 1991.

Film

Klaus Michael Grüber

Entwurf einer Bewerbung an der Filmhochschule in Łódz´1

Sehr geehrte Herrschaften, im nächsten Monat dieses Jahres beende ich die Hochschule für Schauspiel in Stuttgart in der Klasse von Professor Kenter. Nach Abschluss der Schule möchte ich das Studium zum Filmregisseur absolvieren. Ich besuche regelmäßig die Kurzfilmfestivals in Oberhausen und in Mannheim. Dort hatte ich Kontakt mit Filmen aus Polen, die mich sehr anregten, an der Filmhochschule in Łódz´ zu studieren. Antrag für die Filmhochschule in Łódz´. Aus dem Polnischen von Rita Czapka

1 Dieser Entwurf hat keine Datierung, das Archiv der Akademie der Künste nennt 1962 als Jahr.

Klaus Michael Grüber

Kreuzfahrt. Drehbuch

Lugano, Ende Juli, 21.00 Uhr. Es ist noch hell und warm draußen. Im Garten eines Hotels 2. Klasse, beinahe eine Familienpension, sitzt ein Greis in einem Korbsessel. Vor ihm, auf einem Tisch, steht eine Flasche eisgekühltes Bier. Er hat seinen Stock an den linken Schenkel gelehnt. Er trägt einen grauen Flanellanzug. Sein weißes Haar ist sorgfältig geschnitten und gekämmt. In den Händen hält er ein Magazin, das auf einer Seite aufgeschlagen ist, die er nicht umblättert. Hoch über ihm kreisen lärmende Schwalben. Die Hälfte der rechten Seite bedeckt eine Reklame, sie scheint seriös, sie ist in Schwarzweiß gehalten und eingerahmt. In der Mitte sieht man ein Schiff, eine Art kleiner Passagierdampfer mit zwei Schornsteinen. Eine Überschrift in Großbuchstaben: Außergewöhnliche Kreuzfahrt im Mittelmeer an Bord der Hippokrates. Es folgt der Text, der etwas kleiner gedruckt ist: »Sie leiden unter einer schwachen Gesundheit, die Krankheit hat Sie bis ins innerste Mark getroffen, die natürlichen Unannehmlichkeiten machen Ihnen zu schaffen, Sie wollen trotz alledem aber ganz normal das Leben genießen, reisen, Bekanntschaften machen… Jetzt können Sie es! Mit der Hippokrates! Das Schiff ist speziell auf Ihre…«, usw. Weiter unten in der Anzeige ist klar zu lesen: »Herzkreislaufstörungen, Behinderungen, Krebs, Muskelschwächen«, usw. Noch weiter unten, wieder klar zu lesen: »Genua, Alexandria, Zypern, Athen, Genua: 25 Tage.« Darunter eine Reihe kleiner Fotos, die so etwas wie einen Speisesaal darstellen, mit einem Steward in weißem Jackett, eine Luxuskabine und eine Art Klinik mit einem Krankenhausbett, hinter dem ein Tropf steht. Als der Greis seine Lektüre beendet hat, nimmt er die Brille ab und zerreißt die Reklame so gut er kann, er schließt das Magazin, das er dann auf dem Tisch liegen lässt, er erhebt sich schwerfällig und entfernt sich, auf seinen Stock gestützt.

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Hamburg, Anfang August In einem luxuriösen Appartement, dessen Fensterfront auf einen Kai geht, sitzen eine Frau und ein Mann beim Frühstück. Der Mann ist bereits angezogen, er trägt einen hellen Anzug. Die Frau trägt ein weißes, einfaches Nachthemd. Sie hat das schöne Gesicht einer ungefähr Dreißigjährigen und schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar. Die Frau hält eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand und zeigt dem Mann die Anzeige der Hippokrates. Der Mann liest sie ohne Kommentar. Die Frau erklärt, dass er sie am Leben gehindert habe, er ihr aber nicht ihren Tod stehlen könne, und dass sie ihm ja sowieso nicht fehlen würde. Der Mann sagt nichts, er bleibt nachdenklich, er steht auf, küsst die Frau leicht auf die Wange und geht aus der Wohnung. Genua, Anfang Oktober, Spätnachmittag Im Hafen liegt unbeweglich ein kleiner weißer Passagierdampfer mit zwei Schornsteinen am Kai. Man spürt, dass der Tag bald zu Ende gehen wird. Möwen streiten sich kreischend um einen Fisch. An der Anlegestelle herrscht das hektische Treiben vor der Abreise. Taxis, schwarze Limousinen mit Chauffeur, zwei Krankenwagen parken neben dem Landungssteg. Junge Matrosen in weißen Hosen und marineblauen T-Shirts, die Arme sind nackt, legen letzte Hand an vor dem Auslaufen. Kabel spannen sich. Man hört eine Sirene und das Rasseln der Ankerketten. Zwischen den Autos stehen Leute im Straßenanzug, sie schauen zum Deck des Schiffs hinüber und schwenken lächelnd ihre Taschentücher. Eine alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, wie die Italienerinnen es zu tun pflegen, weint stumm und stößt plötzlich einen Schrei aus. Auf dem Deck steht ein dicker, weiß gekleideter Mann und schaut zu ihr herüber, er lüftet seinen weißen Hut, scheinbar ungerührt. Er steht etwas abseits von einer kleinen Gruppe Männer und Frauen – es sind vielleicht ein Dutzend –, die sich an das Fallreep drängen. Der Landungssteg ist soeben eingeholt worden, und das Schiff verlässt schwerfällig den Hafen. Alle betrachten die an Land Zurückgebliebenen. Unter den Passagieren befindet sich ein kleiner, rothaariger Junge von ungefähr zehn Jahren. Sein linkes Bein wird vollkommen von einer komplizierten Prothese gestützt. Er zeigt seinem Nachbarn, einem weißbärtigen Greis, eine Frau, die am Kai zurückgeblieben ist. Er zeigt mit dem Finger auf sie und lacht. Das Schiff entfernt sich ruhig und weiß in der zitternden Abendluft, dem offenen Meer zugewandt. Weiße, fast unbeweglich in der Luft stehende Möwen, stoßen bisweilen einen Schrei aus. Die Taschentücher verschwinden wieder in den Taschen. Die Passagiere drehen sich vom Kai weg, einer nach dem andern,

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und entfernen sich auf dem Deck, geführt und manchmal gestützt von jungen, braungebrannten, ganz in Weiß gekleideten Stewards und Stewardessen, die liebenswürdig aussehen und mit ihnen scherzen, um sie zu versichern. Es ist eine merkwürdige Gesellschaft, die nicht ganz normal scheint, denn einige Passagiere sind zum Gehen fast zu schwach, andere haben unglaubliche Körperformen, die durch irgendetwas deformiert wurden. Der Gang eines jeden ist anders. Das Deck leert sich, man hört Befehle geben, die Sirene heult ein letztes Mal auf. Am Horizont, der die mächtige Masse des Schiffes an sich zieht, steht eine rote, runde Sonne. Das Meer kräuseln sanfte Wellen. Postkartenschönheit. Im Speisesaal des Schiffes, am Abend desselben Tages. Hinter den Bullaugen fühlt man die warme, feuchte Nacht. Man ist auf dem Meer, aber nicht weit von der Küste entfernt, von der manchmal ein paar Lichter herüberblitzen. Das Mahl geht zu Ende, es wird zu viert an kleinen Tischen entgegengenommen. Die Passagiere, die eben an Deck gegangen waren, sitzen um die Tische. Man unterscheidet jetzt besser die Gesichter, die Falten, die extreme Müdigkeit einer alten Frau, die kurz zuvor noch ihr Taschentuch geschwenkt hatte. Zahlreiche alte Männer, unter ihnen auch der bärtige Greis, mit dem der rothaarige Junge sprach. Fast alle sind elegant gekleidet, bis auf den kleinen, rothaarigen Jungen, der gerade eine Geschichte erzählt und dabei unablässig die Hände seiner Tischnachbarn schüttelt, einer Frau in einem gewissen Alter. Es wir kaum gesprochen. Man schaut vor sich hin oder schaut sich gegenseitig an. Als das Personal – stilvoll, aufmerksam und auf die Worte achtend – den Champagner an die Tische serviert, geht ein großer Mann in Uniform und Mütze zur Mitte des Raums und heißt die Passagiere willkommen. Er stellt sich als der Kapitän des Schiffes vor. Er ist ungefähr fünfundvierzig Jahre alt und eine glänzende Erscheinung. Er spricht mit einer gewissen Leichtigkeit, lächelnd. Um sicher zu gehen, dass er von allen verstanden wird, übersetzt er selbst das Wichtigste seiner kleinen Rede in mehrere Sprachen. Als er geendet hat, beugt er sich zu der Frau, die ihm am nächsten sitzt. Sie ist ungefähr dreißig und hat dunkle Augen und ein außerordentlich schönes Gesicht, das aber gezeichnet ist (es ist die Frau aus Hamburg). Er verbeugt sich vor ihr und trinkt ihr zu. Die Frau rührt sich nicht. Alle ringsum trinken schweigend. In der Nacht desselben Tages. Die Nacht ist schwarz, das Meer ruhig, der Mond spiegelt sich, wie es sich gehört. Eine Geometrie des Schweigens. Das riesige, unbewegliche Schiff steht im Wasser wie der weiße Walfisch. Nur das Licht aus dem Kommandoraum durchbricht die Nacht. Man sieht den Rücken zweier Seeleute, die sich beim Arbeiten zu unter-

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halten scheinen. Auf Deck, in einer dunklen Ecke, sprechen zwei Männer, man hört nur ihre Stimmen. Es geht um die Schwierigkeiten, sich in Genua eine bestimmte Zigarrenmarke zu besorgen und die Qualität der ortsansässigen Prostituierten. Die beiden Männer sprechen leise, sie murmeln, wie Liebende es tun. Der nächste Morgen. Das helle Tageslicht dringt durch eine Reihe Bullaugen in eine Art Rauchsalon, der ziemlich groß ist. Mahagoniausstattung der Jahrhundertwende, der ganze Raum ist mit komplizierten medizinischen Apparaturen versehen, mit viel Chrom und elektrischen Skalen, automatischen Messgeräten, Zählern, Liegen, die mit weißem Gummi bezogen sind. In einer Ecke, auf einer der Liegen, ist eine alte, sehr magere Frau ausgestreckt, deren hochgeschobenes Hemd lediglich die Brust verhüllt. Ein Mann in weißem Kittel, den andere weiß gekleidete Männer und Frauen umstehen, betastet ihren rechten Unterbauch in der Nähe der Leber und fragt sie, ob es weh tut, wenn er auf eine bestimmte Stelle drückt. Die Frau stöhnt leise. Der Arzt sagt mit einem Lächeln, dass kein Grund zur Beunruhigung bestehe, sagt, dass ein schöner Tag auf dem Meer bevorstünde. Während sich die Alte mit sehr langsamen Handbewegungen und schmerzverzogenem Gesicht wieder anzieht, wird ein Mann auf einer Tragbahre hereingebracht. Er hat einen ausnehmend schönen Greisenkopf, eine sehr lange Nase, weißes, kurz geschnittenes Haar, sehr tief liegende Augen und weiße, buschige Augenbrauen. Er liegt reglos auf der Bahre, nur seine Augen wandern unablässig hin und her. Unterdessen verteilt eine Frau in den Laufgängen von einem Servierwagen Erfrischungen an die Kabinenbewohner. Man sieht das Innere der Kabinenbewohner. Vor den Bullaugen sind die grauen Leinenvorhänge halb zurückgezogen. Es herrscht ein Halbdunkel wie für einen nicht enden wollenden Mittagsschlaf. Glänzendes Mahagoni. Fleckenlose Deckchen, frische Blumen in den Vasen. Das Bettzeug ist noch von der vergangenen Nacht zurückgeschlagen, aber viele Passagiere sind schon aufgestanden oder sitzen im Sessel. Es herrscht die Stille eines Grand Hotels am Meer, wenn alle Gäste zum Strand gegangen sind. Von jeder Kabine führt eine Tür in ein Badezimmer, das mit längst aus der Mode gekommener Pracht eingerichtet ist. Messinghaltegriffe sollen das Aussteigen aus der Badewanne erleichtern. Bademäntel liegen zusammengefaltet auf einer Konsole. Auf dem Nachttisch der Kabinen stehen auf einem Silbertablett eine Karaffe und ein Glas, manchmal auch Flakons mit Pillen in allen Farben. Auf einem niedrigen Tischchen liegen ein Stapel Morgenzeitungen und Schreibutensilien bereit. Auf einem Regal, ein Radio und ein kleiner Fernsehapparat, Bücher, deren Titel sie als Klassiker ausweisen.

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Alle Kabinen sind besetzt. Ein älterer Herr mit noch schwarzem Haar und einer tiefen Einhöhlung in der linken Wange sitzt im Sessel und blättert zerstreut in einem Buch. Ein anderer in einer anderen Kabine schaltet begierig am Fernsehapparat herum: Man sieht nacheinander mehrere Programme in französischer und italienischer Sprache über den Bildschirm flimmern. Auf einem Kanal taucht das Bild eines Schiffsdecks auf, das unter der gleißenden Sonne verlassen daliegt. Dem Mann fällt es schwer, sich für etwas zu entscheiden. Er schaltet das Gerät aus. Von neuem Stille. In einer anderen Kabine liegt eine große, noch schöne Frau in einem strohfarbenen Kleid und sorgfältig aufgelegtem Make-up Patiencen und singt dabei vor sich hin. Wie an den endlosen Nachmittagen der Kindheit, wo sich nichts ereignet, scheint die Zeit von ungewöhnlicher Dichte. In einer anderen Kabine sieht man das rothaarige Kind, dem eine Art Gouvernante in hellblauer Schürze beim Anlegen einer Beinprothese behilflich ist. Es lächelt auch jetzt und stellt eine Frage über Ägypten. In einer anderen Kabine ist der Mann aus Lugano in die Lektüre der Financial Times versunken. Auf diesem schwimmenden Hotel herrscht verdächtiges Schweigen. Der ganze Tag geht so vorüber. Am Abend desselben Tages auf Deck. Die Nacht ist schön und klar, aber kalt wegen der Feuchtigkeit. Viele Kabinenbewohner sind jetzt auf Deck, warm angezogen, Decken über den Schultern. Sie haben sich noch gar nicht richtig gegenseitig kennengelernt und suchen einander in der Nacht, ohne jedoch zu wagen, ein Gespräch zu beginnen. Wie am Vorabend wird nach dem Diner Champagner getrunken. Die Passagiere, den Sektkelch in der Hand, streifen sich leicht. Man sieht diese Körper, die unerwartet schwer wirken, die verdächtig zögern, manchmal kaum wahrnehmbar behindert sind. Die Schiffscrew ist vollzählig versammelt, Männer und Frauen, sie strotzen vor Gesundheit. Der Kapitän, der zwischen den Gruppen hin- und hergeht, bringt einige Toasts von konventioneller Eleganz aus. Mondäne Konversation flackert auf und bricht dann ab. Man hört das regelmäßige Stampfen der Maschinen. Eine Küste ist weit und breit nicht in Sicht. Etwas abseits der sich um den Schornstein am Bug drängenden Gruppe liegen zwei oder drei Personen auf Tragbahren. Sie bewegen sich kaum, halten aber ein Glas in den zitternden Händen. Die anderen Passagiere schenken ihnen kaum Beachtung, aber das Personal kümmert sich um sie. Eine junge Frau in Weiß überhäuft eine leise stöhnende Alte mit Trostworten, als hätte sie es mit einem kleinen Kind zu tun. Eine kleine Gruppe hat sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann gebildet; er ist pausbäckig und sein Schädel ist kahl. Er trägt einen Sommeranzug und eine Fliege und scheint in sehr aufgeräumter Stimmung. Er spricht laut in die Kulissen, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Obwohl er keine weiße

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Uniform trägt, versteht man sofort, dass er zum Schiffspersonal gehört. Nach jedem dritten Satz sagt er: »Meine Damen und Herren, liebe Freunde«, und fügt so oft er kann, einen Kalauer ein, über den er als einziger laut lacht. Bisweilen taucht ein blasses Lächeln auf den Lippen des einen oder des anderen Passagiers auf. Im Augenblick erzählt er gerade eine ziemlich komplizierte Anekdote über einen Satelliten am Himmel, den eine spanische Mitreisende im letzten Jahr allen Ernstes für eine fliegende Untertasse gehalten hat, und tritt die bekannten Plattitüden über fliegende Untertassen breit. Er amüsiert sich königlich. Um ihn herum bilden die Passagiere eine Gruppe, niemand lacht. Man beschränkt sich darauf, den Nachthimmel anzuschauen, an dem Tausende von Sternen glänzen. Eine Frau hat Mühe, den Kopf zu heben, weil sie einen steifen Nacken hat, versucht es aber trotzdem und schaut abwechselnd auf den Himmel und den Witze machenden Mann. Es ist jetzt klar, dass dieser Mann der Entertainer des Schiffes ist und seine Aufgabe darin besteht, die Passagiere bei guter Stimmung zu halten. Am Rande der Gruppe erkennt man den weißbärtigen Alten. Er ist in Hemdsärmeln und hält ein Glas in der Hand, kein Sektglas, zweifellos ein Whiskeyglas. Er scheint betrunken, er redet wie ein Betrunkener. Er spricht laut genug, um von allen gehört zu werden, aber seine Worte sind wenig verständlich. Er raucht eine Zigarre; von Zeit zu Zeit zeigt er mit der Zigarre auf die Sterne, die er bei ihrem Namen nennt. Er hat eine Flasche Whiskey in der Hosentasche und schenkt sich ein. Als er vom Gerede des Entertainers genug hat, fragt er ihn laut und deutlich, wo sich augenblicklich der Orion befindet. Da der Andere nicht antwortet, gerät er in den Zorn des Betrunkenen und macht ihm klar, dass es besser sei, den Mund zu halten, wenn man nichts wisse. Der Entertainer bewahrt die Ruhe und lächelt blöde. Alle verfolgen aufmerksam den Vorfall. Man hört Murmeln. Der Bärtige insistiert und erklärt, dass er abkratzen würde, aber dass das auch seine Vorteile habe, denn dann sei er wenigstens die Dummköpfe los. Neben ihm betrachtet ihn die junge Frau, der der Kapitän am ersten Abend zugetrunken hatte, mit Sympathie und hört ihm gespannt zu. Sie nützt eine Atempause des Alten und sagt ihm, dass er bis Dezember warten müsse, wenn er den Orion sehen wolle. Der Alte lächelt und sagt, dass der Dezember noch weit sei und reicht ihr seine Whiskeyflasche. Die Frau trinkt aus der Flasche, und alle schauen sie schockiert an. Der Alte sagt zu ihr, dass das hier alles erbärmliche Schlucker seien und zeigt ihr dann einen Stern, der sehr hell leuchtet. Ihr zugewandt sagt er: »Kennen Sie die Nacht, die Tiefe dieser Nacht? Die Nacht ist weder hohl noch eben, sie ist dick, viel dicker als ich. Sie fühlen, wie sie schweigt. Sie ist viel zu groß für unser Auge, aber die Sterne und die Planeten sehen uns an von dort und lieben uns. Es ist ganz windstill.« Unterdessen befindet sich der Mann aus Lugano allein in seiner Kabine. Er liegt auf dem Bett – er trägt eine Hausjacke aus Kaschmir und betrachtet auf dem Bildschirm seines Fernsehapparats das Deck des Schiffes, auf dem dicht gedrängte Passagiere etwas am

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Himmel betrachten, das er nicht sehen kann. Das Deck leert sich allmählich. Auf dem Bildschirm ist jetzt nur noch der alte Trinker zu sehen; er starrt in den Himmel und trinkt weiter. Im Steuerraum weiter hinten hält die Mannschaft Wache. Er schaltet das Gerät aus. Die gleißende Sonne steht im Zenit. Das Meer scheint nur aus Licht zu bestehen. Windstille. Das regelmäßige Stampfen der Maschinen. Die Passagiere befinden sich zum ersten Mal bei hellem Tageslicht auf Deck. Das gleißende Licht macht ihre Gebrechen erbarmungslos sichtbar. Gezeichnete Gesichter, zitternde Münder, unregelmäßiger Atem, unsichere Bewegungen. Sie machen sich daran, das Deck zu erkunden: Liegestühle sind im Schatten und vor dem Wind geschützt aufgestellt. Weit von der Reling entfernt die glatte Fläche eines Tennisplatzes; vom spiegelnden Wasser des Schwimmbeckens steigt um diese Tageszeit nicht die geringste Kühle auf. Männer und Frauen verstreut auf dieser geometrischen Fläche von Linien und rechten Winkeln: Ihre Körper wirken starr in der ungewohnten Mittelmeersonne, ihre Sommerkleider sind zu schwer und schützen sie schlecht vor dem gewalttätigen Licht. Ängstlich und neugierig wie Schildkröten blicken sie unter ihren Hutkrempen hervor. Vor dem Hintergrund des Meeres bilden sie ein Stillleben, in dem jeder Körper schwerer zu wiegen scheint als sein wirkliches Gewicht. Langsamkeit, unsicheres Gleichgewicht, Schweigen, das nur durch schweres Atmen unterbrochen wird. Die Sonne verwandelt die zerbrechlichen Gestalten auf dieser lichtüberfluteten, unmenschlichen Fläche in Statuen aus Stein. Über ihnen der heiße, heilige Wind, wie auf der Akropolis zur Mittagsstunde, wenn die Götter in ihr ewiges Gespräch vertieft sind. Einige Gestalten nehmen Form an: Der Mann mit dem Adlergesicht, den man in der Schiffsklinik gesehen hatte; ein undefinierbares Leiden verkrampft seine Glieder, zieht sein Gesicht gleichsam nach innen. Er scheint dem, was er sieht, vollkommen ausgeliefert: Er steht unbeweglich am Rand des Tennisplatzes und zwar so, dass von seiner Position aus der obere Rand des Netzes mit dem äußersten Ende des Platzes verschwimmt. Manchmal macht er einen kleinen Schritt zur Seite, aber es sieht aus, als habe sich nur sein Kopf bewegt. Er ist ganz in die Betrachtung versunken. Er schaut, er erinnert sich. Er lässt sich durch die anderen nicht ablenken. Auch durch eine alte Frau nicht, die eine viel zu große, schwarze Handtasche umklammert, und die jetzt mühevoll den Tennisplatz überquert. Sie bewegt sich unter großen Schwierigkeiten auf das Schwimmbad zu, jeder Schritt macht ihr Mühe. Sie begegnet dem Blick des Mannes, er schaut sie an, sieht sie aber nicht, und sie geht weiter. Sehr viel später erst erreicht sie den Rand des ganz in Blau getauchten Schwimmbeckens. Abwesend blickt sie auf die plätschernden Wellen.

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In einem Sessel, etwas abseits, spielt der rothaarige Junge – er hat sein linkes Bein weit von sich gestreckt – ganz alleine eine Partie Schach, die sehr bewegt zu sein scheint. Zwischen Schwimmbecken und Reling, in der Nähe der weißen Liegestühle, von denen einige besetzt sind (man erkennt den dicken Mann mit dem weißen Hut), hält sich die junge Frau auf. Man sieht sie endlich deutlich. Sie ist kaum älter als dreißig und wie eine junge, ziemlich reiche Dame aus den besten Kreisen gekleidet, aber von strenger Eleganz, ihre Kleidung ist so wenig sommerlich, dass sie auffällt. Dunkles, sorgfältig im Nacken zusammengenommenes Haar, ein spitzes Gesicht, intensiver, dunkler Blick. Ihre Bewegungen sind distinguiert. Eine fast klösterliche Schönheit, aus der die Sinnlichkeit verbannt scheint. Sie betrachtet jedoch einen Mann, den nackten Oberkörper eines Matrosen, der auf dem Oberdeck ein Kabel auf eine Winde wickelt. Sie betrachtet den perlenden Schweiß auf dieser nackten, muskulösen Schulter. Der Mann kehrt ihr den Rücken zu. Ihr packender Blick vereinnahmt die Schulter des Mannes geradezu, ohne dass er es bemerkt. In einer anderen Ecke des Decks hilft ein ungefähr sechzigjähriger Mann mit einer dicken Brille und dunkler Hautfarbe einer etwa gleichaltrigen Frau, ihren Liegestuhl einzustellen. Sie unterhalten sich über Liegestühle. Sie spricht von einem Sanatorium, in dem sie achtzehn Monate verbrachte, als sie sechzehn war. Er sagt, ein Sanatorium sei wie ein Schiff, das auf ein Riff aufgelaufen ist. Sie lächeln sich zu. In der rechten Hand hält sie ein Buch über Goethe, ihr Zeigefinger markiert eine bestimmte Seite. Ein Mann tritt zu ihnen, es ist der Entertainer des Schiffs. Er sagt ein paar launige Sätze über die Hitze und das Meer, das so bequem sei, wie eine Matratze. Der Mann und die Frau antworten mit einem höflichen und peinlich berührten Lächeln. Der Entertainer entfernt sich mit dem sicheren Schritt des Mannes von Welt. Etwas weiter weg erklärt ein winziger, schwarz gekleideter Mann einem ziemlich jungen, intellektuell aussehenden Passagier, wie die Restaurantkette »fast-food« funktioniert, die er in ganz Europa aufgezogen hat. Der alte Trinker, der die Sterne liebt, geht bei dem rothaarigen Kind vorbei und betrachtet über dessen Schulter die Partie, bewegt eine Figur und geht weiter. Das Kind und er werfen sich lachend Schimpfwörter an den Kopf. Am selben Tag, etwas später. Das Deck liegt in brütender Hitze, es ist fast leer. Die Passagiere halten zweifellos Mittagsruhe. Der alte Trinker schläft mit offenem Mund in einem Liegestuhl. Auf dem Oberdeck unterhält sich eine Stewardess, die ihre Uniformjacke abgelegt hat, lebhaft mit einem Steward, der ihr die Vorzüge eines Restaurants in Alexandria schildert, in das er sie einladen will. Das Mädchen ziert sich, aber er

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weiß, dass er sie schon beinahe verführt hat. Seufzer voller Anspielungen. Der Mann spricht von seiner Kabine und der Liebe am Nachmittag. Das Mädchen kichert. Währenddessen sieht man den Funker aus der Funkerkabine zum Kommandoraum rennen. Er ist in Hemdsärmeln und hält einen Stapel kleiner Blätter in der Hand. Der Steward ruft ihn, aber er rennt weiter. Einige Minuten später hört man, wie das Stampfen der Maschinen schwächer wird. Der Kapitän verschwindet mit dem Funker in der Funkerkabine. Etwas später wird es still. Die Maschinen haben aufgehört zu arbeiten. Der Steward und die Stewardess sehen sich verständnislos an und gehen weg, um nachzufragen, was passiert sei. Auf dem Passagierdeck ist der alte Trinker aus seinem Schlaf hochgeschreckt und horcht aufmerksam in die Stille. Derselbe Tag, gegen Ende des Nachmittags. Man hört wieder das regelmäßige Stampfen der Maschinen. Die Unterbrechung war nur kurz. Wahrscheinlich haben nur wenige Passagiere sie bemerkt. Im Maschinenraum diskutieren zwei Mannschaftsangehörige angeregt. Sie sind jung, muskulös, schweißbedeckt. Die Unterhaltung dreht sich um die finanziellen Schwierigkeiten des Schiffsreeders. Anscheinend ist das Schweizer Finanzministerium von der Legalität der Kreuzfahrt nicht überzeugt. Sie wissen es nicht genau. Sie haben schon ganz andere Sachen erlebt. Und ihnen kann es ja auch egal sein. Sie müssen sowieso arbeiten, ob es nun hier ist oder da. Eine Stunde später. Die Nacht bricht herein. Die Passagiere gehen zum Speisesaal. Der alte Trinker schlägt Lärm, er spricht von einer nicht im Programm vorgesehenen Unterbrechung der Reise. Man achtet nicht auf ihn. Der Entertainer taucht auf und verkündet die Überraschung des Tages: um einen Vorgeschmack auf Alexandria zu bekommen, wird am Abend nach dem Diner ein Maskenball unter dem Motto Ägypten stattfinden. Man spürt in seinen Worten etwas Gezwungenes, zu Joviales. Er versucht, Feststimmung aufkommen zu lassen, hat aber keinen großen Erfolg. Der alte Trinker geht auf ihn zu und fragt ihn mitten ins Gesicht, warum heute Nachmittag das Schiff zwanzig Minuten stillgestanden habe. Der Entertainer versucht, das Thema zu wechseln, aber der Alte insistiert. Schließlich antwortet der Entertainer, dass es sich um eine routinemäßige Überprüfung der Maschinen gehandelt habe. Im Speisesaal spürt man eine leichte Unsicherheit. Die Bedienung ist nicht mehr ganz so aufmerksam. Aber die meisten Passagiere schenken dem Vorfall keine Beachtung und beginnen mit dem Abendessen.

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In einer Kabine versucht die Frau, die man zuvor in der Schiffsklinik gesehen hat, im Fernsehgerät ein interessantes Programm zu finden. Vor ihr steht eine unbeendete Mahlzeit. Aber es ist nur das Bild des verlassenen Schiffsdecks zu sehen, über dem die Nacht hereinbricht; sonst gibt es nur Programme in arabischer Sprache, die Gott weiß woher kommen. Die Frau massiert sich mechanisch den rechten Arm. Etwas später. Ein Offizier hält im Steuerraum Wache. Der Lampenschirm beleuchtet seinen Nacken, seine Hände liegen auf dem Steuer, das sich langsam um seine Achse dreht. Der Mann am Tennisplatz, allein auf Deck, bleibt trotz der Abendkühle draußen. Er schreitet langsam die äußere Markierung des Platzes ab und bleibt an einem bestimmten Punkt stehen. In einer Kabine, von zwei weiß gekleideten Frauen gestützt, übergibt sich eine alte Frau heftig und murmelt ständig: »Mein Gott, mein Gott.« Im großen Salon des Schiffs. Die Fenster bedecken schwere, granatrote Samtvorhänge. Opernmusik im ägyptischen Genre: Aida. An einer Seite des Salons steht eine kleine, improvisierte Pyramide auf einem Podest. Sie ist aus bemaltem Karton. Neben ihr steht eine kleine Palme in einem Blumenkübel. Etwas verstreuter Sand soll die Illusion vervollkommnen. Der Saal ist noch leer bis auf einige Kellner, die in dieser rötlichen Nachtclubbeleuchtung halb gelangweilt, halb ergeben warten. Es ist wie ein mit Sirup gefülltes Aquarium, in dem ein Ägypten aus Plastik schwimmt. Eine erste Gruppe von Passagieren betritt den Raum: Der dicke Mann trägt einen hellen Anzug und ein himmelblaues Hemd, er hat eine Sonnenbrille auf. Seinen Hals hat er unter einem Schal versteckt, dessen Design entfernt an exotische Länder erinnert. Mit seltsam knarrender Stimme (zweifellos versteckt der Schal die Narbe einer Kehlkopfoperation) spricht er mit einer Frau, die schweren Goldschmuck und ein Goldlamékleid trägt. Ein schlanker Mann, den man bis jetzt noch nicht gesehen hat, ist halbnackt und scheint stolz darauf. Um die Hüften hat er ein weißes Badetuch geschlungen, er hat dünne Beine, auf denen nicht das kleinste Härchen zu entdecken ist, so, als hätte er sie mit Bimsstein entfernt. Einige sind als imaginäre Ägypter verkleidet. Einige, die zu schüchtern oder zu krank sind, um sich zu verkleiden, sind in normaler Kleidung gekommen. Sie werden den anderen zusehen. Halblautes Stimmgewirr. Man hört immer noch ägyptische Musik.

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Es ist ein Kostümball, aber das Schiffspersonal hat seine üblichen Uniformen an und ist bemüht, die Passagiere zum Tanzen aufzufordern. Der Entertainer ist ungeheuer aktiv, er geht von einer Gruppe zur anderen, er verausgabt sich, für jeden und jede hat er ein Wort und bietet seine Dienste lautstark an. Man spielt jetzt Tanzmusik vom Band, ebenfalls im exotischen Genre. Paare bilden sich, ungelenk, zögernd, alt. Einige tanzen nicht. Der rothaarige Junge blickt belustigt drein, die junge Frau schaut streng. Sie ist stark geschminkt, hat Goldblättchen unter den Brauen und ungewöhnlich große Augen, sie sieht beinahe wie eine Zigeunerin aus. Sie trägt noch immer dasselbe Kostüm. Sie hat nur die Jacke abgelegt und steht jetzt mitten unter den Tanzenden im Rock und einer sandfarbenen Seidenbluse. Sie schaut. Auch sie wird angesehen, und man sagt: »Warum amüsiert sie sich nicht? Sie ist doch jung!« Sie tut so, als höre sie es nicht. Ein Mann bittet sie, sie möge sich seiner Gruppe anschließen. Sie dreht den Kopf weg. Das Fest nimmt seinen Lauf. Die Tänzer ermüden rasch. Es sind nur wenige Paare auf der Tanzfläche. Man schwatzt trotz der Musik. Das Personal lächelt wie auf Kommando. Der Mann vom Tennisplatz betritt den Salon, er ist noch so angezogen wie vorher. Dieselbe Ökonomie der Bewegungen, die gleiche Überlegenheit in seinem Gang und seinem Stehenbleiben. Er bleibt so unbeweglich auf seinem Platz stehen, dass die anderen einen Bogen um ihn machen müssen, wenn sie ihn nicht mit dem Ellbogen anstoßen wollen. In einer Ecke hat sich der alte Trinker den Entertrainer gegriffen und spricht lebhaft auf ihn ein. Der schüttelt ständig den Kopf und lächelt gezwungen. Man hört ein Glas fallen. Neben der jungen Frau steht jetzt der Matrose, den sie auf Deck so eingehend betrachtet hatte. Er hat sich ihr schüchtern genähert, was bei einem Mann seiner Statur überrascht. Er fragt sie, ob sie sich amüsiere, ob ihr die Kreuzfahrt gefalle. Sie antwortet ihm lächelnd, sie wirkt menschlicher. Sie sagt, dass sie eine etwas lebendigere Gesellschaft erhofft habe, aber dass es gut so sei, wie es ist. Er sieht ihr in die Augen, ohne etwas zu sagen, und entfernt sich, nachdem er ihr einen guten Abend gewünscht hat. Der alte Trinker hat den Entertainer endlich losgelassen, der nun wieder mit witzigen Bemerkungen um sich wirft und sich als Zielscheibe ein altes, unbedeutendes Ehepaar ausgesucht hat. In einer Ecke des Salons tanzt er dann allein wie ein Tanzbär und macht einen Ägypter nach, indem er der Festversammlung sein Profil zudreht. Der Saal ist fast leer. Der Ball hat nur etwa eine Stunde gedauert. Die Passagiere, erschöpft, gehen einer nach dem anderen, ohne Vorankündigung. Man räumt ein wenig auf. Die junge Frau geht als eine der Letzten, sie wendet sich in Richtung Deck und verschwindet im Laufgang.

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Der Mann vom Tennisplatz ist als einziger im Salon zurückgeblieben. Ein Steward gibt ihm freundlich zu bedenken, dass der Tag lang gewesen sei und er es doch wie die anderen machen solle. Er sieht ihn kaum an. Dann geht er langsam auf die Pyramide zu, bückt sich steif und umfasst sie. Sie ist zu groß und zu schwer für ihn, es ist eine Sisyphusarbeit, aber er trägt sie. Seine Knöchel scheinen ihm weh zu tun, während er sie in den Laufgang zerrt und sie dann die schmale Treppe hinaufschleppt, die zum Deck führt. Jetzt steht er endlich im Freien. Der Wind hat eine dünne Sandschicht auf das ins Dunkel getauchte Deck geweht. Er schleppt die Pyramide zum Tennisplatz, genau an jene Stelle, die er von Anfang an fixiert hatte, und stellt sie in einem genau kalkulierten Winkel auf, dessen Sinn nur er kennt. Das Mondlicht ist so hell, dass die Dinge Schatten werfen. Nach der zweifelhaften Atmosphäre im Salon scheint ein monströser, von sehr weit her gekommener Tag angebrochen. Es war schon einmal so gewesen, vor sehr langer Zeit. In diesem neuen Licht, auf der ebenen und blassen Fläche des Decks im Mondlicht, auf dem Sand des Tennisplatzes, hat die Pyramide andere Proportionen angenommen. Und plötzlich ist Ägypten erstanden, es ist, als ob Ägypten mit seiner archaisch anmutenden Dichte schon immer hier gewesen ist. Während der Mann etwas an dem Winkel zu prüfen scheint, in dem die Pyramide zum Tennisplatz steht, löst sich die junge Frau aus dem Schatten. Sie geht sehr aufrecht. Sie betrachtet ihn. Am anderen Ende des Decks steht der Matrose, mit dem sie während des Balls einige Worte gewechselt hatte. Sie sehen sich an. Der Mann steht mit nacktem Oberkörper im Nachtwind. Oben im Steuerraum hält der Offizier Wache, seine Hände liegen auf dem Steuer, das sich nicht mehr zu bewegen scheint. Ein Steward geht entschlossen auf den Mann mit der Pyramide zu und sagt ihm mit fester Stimme, dass er in seine Kabine gehen soll, dass er die Pyramide nicht aus dem Salon hätte holen dürfen, usw. Der Mann lacht nur böse. Der Matrose mischt sich ein und sagt, dass das nicht schlimm sei, dass jeder machen könne, was er wolle und dass das niemanden störe. Die junge Frau steht stumm daneben. Der alte Trinker, den die Stimmen angelockt haben, tritt zu ihnen. Als er begreift, worum es geht, beschimpft er den Steward und sagt zu den anderen, dass sie vollkommen recht hätten, sich zu amüsieren, solange es noch Zeit ist, und dass es besser sei, Ägypten auf dem Schiff zu bauen, da sie es ohnehin nie in Wirklichkeit sehen würden. Man fragt ihn warum, und er antwortet nur, dass er es sicher wisse. Der Steward insistiert nicht und entfernt sich. Der Trinker geht auch weg, er lacht in sich hinein. Aus einer dunkleren Ecke beobachtet er abwechselnd die Pyramide und die Sterne, besonders den Großen Wagen. Er lächelt und trinkt aus der Flasche.

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Die ganze Szene wird in einer neuen, erstarrten Zeit gesehen. Die Personen scheinen ein sehr altes Drama zu spielen. Tausendjährige Statuen. Gesten, deren Einfachheit verblüffen. In diesem illusorischen Ägypten, das wirklicher ist als das Schiff, auf dem es liegt, gehen vierzig Jahrhunderte in einem einzigen Augenblick vorüber, wie ein Sandsturm vorübergeht oder der Wind der Geschichte. Die Zeit ist aufgehoben. Nachdem er die Sterne betrachtet hat, schreit der alte Trinker plötzlich zu den anderen hinüber: »Wir fahren im Kreis, wir fahren im Kreis.« Sie schauen ihn verständnislos an, er wirft seine Flasche ins Meer und geht in seine Kabine. Etwas später, in derselben Nacht. Es ist fast kalt draußen. Die junge Frau steht am schwarzen Wasser des Schwimmbeckens, in der Hand hält sie Zeitungen, die sie von einem Liegestuhl genommen hat. Sie zieht den Liegestuhl zur Pyramide. Sie beginnt, ein Feuer zu machen. Der Mann vom Tennisplatz nähert sich. Beide sitzen am Feuer, er sehr steif, mit Knien, die scharf durch die Hose stechen, sie eher wie ein Tier; an ihren nackten Schenkeln spürt sie den feuchten Sand und das kalte Holz des Decks. Schweigen. Das Feuer wird größer, knistert, beleuchtet eine Seite der Pyramide. Es faucht. Dann spricht sie mit rauer, leiser Stimme und blickt traumverloren ins Feuer. Sie erklärt dem alten Mann, wie man in Ägypten die Toten einbalsamiert: »Man leert den Schädel durch die Nase, dann nimmt man die Eingeweide heraus.« Sie spricht von der goldenen Maske. Er zeichnet Figuren in den Sand. Er sagt, dass in den Tempeln heilige Katzen ums Feuer strichen, während die Barke in den schwarzen Fluten verschwand. Zwei Mannschaftsangehörige rennen auf das Feuer zu, das schon auf das Deck übergreift. Sie schreien laut. Sie schütten Wasser auf das Feuer. Der Alte und die Frau lassen sie machen, antworten auf keine Frage, aber weigern sich, in ihre Kabinen zurückzugehen. Hinter ihren Rücken bricht der Tag an, er ist noch sehr grau. Auf dem Deck enthüllt er einen Brandfleck. Der Himmel öffnet sich langsam über ihnen. Sie gehen ganz verloren aus vor Müdigkeit. Am Morgen desselben Tages. Alles scheint normal. In einer Kabine ruhte die sehr magere Frau, die am ersten Tag in der Schiffsklinik untersucht wurde, auf ihrem Bett, das Gesicht vollkommen eingefallen, weil sie ihr Gebiss nicht trägt. Es ist eine ganz kleine, alte Frau. Eine weiß gekleidete Krankenschwester und eine andere Mitreisende, die einer vagen Ähnlichkeit wegen ihre Tochter sein könnte, sind an ihrem Lager.

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Die Alte bewegt sich viel, ein Schauder läuft manchmal über ihren Körper und verzerrt ihr Gesicht schrecklich. Sie hat unter sich gemacht. Die beiden Frauen reden sanft auf sie ein. Die Alte spricht sie mit Vornamen an, die den beiden nichts zu sagen scheinen. Sie redet wirr. Sie erzählt etwas wenig Verständliches über einen Spaziergang auf dem Land, den sie morgen zusammen machen müssten und über Kuchen, die sie auf dem Rückweg auf der Straße nach Dresden essen würden. Die Frauen waschen sie und ziehen sie um. Auf dem Deck sind einige Passagiere in ein Buch vertieft oder vertreten sich etwas die Beine. Neben dem Brandfleck vom Feuer der vergangenen Nacht murmeln zwei Frauen und stellen sich verwundert Fragen. Das Schiff hat seine Geschwindigkeit verringert. Vielleicht fährt es wirklich im Kreis. Auf der Kommandobrücke hat der Kapitän mit seinem ersten Offizier eine lebhafte Auseinandersetzung, der Funker steht daneben. Man begreift, dass das Schiff tatsächlich Probleme mit dem Gericht und der Steuer hat. In der Schweiz hat der Staatsanwalt die Stilllegung des Schiffs gefordert, da hohe Schulden nicht beglichen worden sind. Um die Wahrheit zu sagen, das Schiff hätte nicht auslaufen dürfen, aber die italienischen Behörden haben ein Auge zugedrückt. Jetzt läuft eine Botschaft nach der anderen ein: man verlangt die Rückkehr des Schiffs in seinen Heimathafen. Der erste Offizier ist der Ansicht, dass man umkehren solle, im Gegensatz zum Kapitän, der Zeit gewinnen will und hofft, die Kreuzfahrt so fortsetzen zu können. Er will vermeiden, dass die Passagiere verfrüht wieder an Land gesetzt werden, um ihnen keine Entschädigung zahlen zu müssen. Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, meint er abschließend, dass man so tun müsse, als sei nichts geschehen und weiterhin im Kreis fahren müsse. Der Kapitän lässt den Entertainer zu sich rufen und gibt ihm der neuen Situation angemessene Befehle, macht ihm klar, dass er jetzt über sich hinauswachsen müsse, dass er sein Bestes zu geben habe. Der Entertainer schaut ihn wenig überzeugt an. Auf dem Weg zum Passagierdeck trifft er einen Mannschaftsangehörigen, der ihn fragt, ob das wahr sei, was man erzählt, dass man umkehren müsse, und ob sie noch lange im Kreise fahren würden. Der Entertainer gibt ihm zur Antwort, dass man dabei sei, alles zu regeln und zwinkert ihm zu. Auf Deck hat sich eine kleine Gruppe um den alten Trinker gebildet, der sehr aufgeregt ist und mit seinen großen Armen fuchtelt. Er bringt alle in Aufruhr, als er zum x-ten Mal behauptet, dass man im Kreis fahre, dass das nach Betrug rieche, dass man genaue Informationen verlangen müsse, er für seinen Teil nämlich habe die Absicht, eine Mittelmeerkreuzfahrt zu machen. Manchmal hustet er vor Aufregung und trinkt einen Schluck. Ein paar alte, winzige Weibchen neben ihm schauen ihn an wie ein exotisches Tier. Nur eine Frau und ein Mann scheinen ihn ernst zu nehmen und suchen nach einer Lösung.

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Als der Entertainer die Situation erfasst hat, dreht er sich auf dem Absatz um und geht zum Oberdeck. Am selben Tag, beim Mittagessen. Der Kapitän, in Galauniform und ein Lächeln auf den Lippen, dementiert feierlich die Gerüchte vor den versammelten Passagieren. Es bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Er gibt die genaue Position des Schiffs an, die dem Navigationsplan entspreche. Man hört hier und da ungläubiges Murmeln, die ängstliche Stimme einer Frau fragt, ob das auch wirklich wahr sei. Man versichert sie und serviert weiter. Am selben Tag, am frühen Nachmittag auf Deck. Am Bug des Schiffs, in dem für die Passagiere gesperrten Teil, hat sich der alte Trinker niedergelassen; er ist allein, er sitzt auf einem Stuhl. Der Wind ist ziemlich stark und lässt seine weißen Haare fliegen. Er brüllt in den Wind. Er scheint wie ein Tier zu heulen. Er schreit bis zur Erschöpfung. Man bemerkt ihn erst nach geraumer Zeit. Dann stürzen Stewards herbei, um ihn zum Schweigen zu bringen und ihn in seine Kabine zurückzubringen. Er klammert sich an die Reling und weigert sich, auch nur einen Zentimeter zu weichen. Man könnte ihn natürlich mit Gewalt losmachen, aber er schreit immer lauter. Schon nähern sich einige Passagiere zögernd diesem Teil des Schiffs. Als sie neben dem Alten sind, erklärt er ihnen ohne Umschweife, dass das Schiff im Kreis fahre, dass er sich nicht übers Ohr hauen lasse, dass er noch nicht so verkalkt sei, um den Kurs des Schiffs nicht zu erkennen, und dass er jetzt hier bleiben werde, ohne zu essen, dass er hier allein weitertrinken werde, und hier sterben werde, wenn es sein muss. Man versucht, ihn zu beruhigen, ihm gut zuzureden, aber das macht ihn nur noch bösartiger. Wenn er schreit, graben sich tiefe, schwarze Augenringe in sein verhärmtes Gesicht. Er könnte ebenso gut vor Wut sterben. Um sich herum hat er mehrere Flaschen Alkohol aufgestellt, an die er sich wie ein Besessener klammert. Um die ohnmächtig zusehende Mannschaft zu provozieren, trinkt er eine Flasche bis zu einem guten Viertel langsam aus. Dann sieht er die Leute mit glasig leeren Augen an. Man lässt ihn in Ruhe. Am selben Tag, etwas später. Der Alte befindet sich noch immer am Bug des Schiffs, er sieht müde aus und ist ganz starr vor Kälte. Er schaut stur vor sich hin.

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Die junge Frau geht zu ihm und kauert sich neben ihm nieder. Er sagt ihr zum tausendsten Mal, dass sie im Kreis führen und dass sie sich das nicht gefallen lassen dürften. Sie hört ihm lächelnd zu. Sie ist sehr zärtlich zu ihm. Er bietet ihr zu trinken an, und sie trinkt. Am selben Tag, noch etwas später. Der Nachmittag geht zu Ende. Auf Deck unterhalten sich die Passagiere über die Vorfälle an Bord, über den Skandal des Alten, über die Kreuzfahrt (wird sie normal verlaufen?). Manche lesen, einige spielen Karten. Das rothaarige Kind spielt Schach mit einer Frau, die zu verlieren scheint. Man beobachtet das seltsame Kommen und Gehen der Mannschaft. Der Kapitän geht grüßend vorüber, er macht ein besorgtes Gesicht. Ein ziemlich starker Wind kommt auf, der den Sand auf dem Deck aufwirbelt. In einer Kabine befinden sich ein alter Mann und eine weißhaarige Frau. Der Mann atmet schwer. Er spricht vom Tod, den er kommen fühlt, und dass ihm das Atmen immer schwerer fällt. Er sagt, dass er es nicht mehr lange machen würde. Sie schaut ihn mit großen Mädchenaugen wortlos an. Der Mann fasst nach der großen, hängenden Brust der Frau. Die Frau schließt die Augen und berührt sein Geschlecht. Die beiden alten Körper umarmen sich. Am selben Tag, noch etwas später. Der Kapitän bittet den Alten, jetzt endlich zu den anderen in den Speisesaal zu gehen. Der Alte weigert sich, höhnisch lachend. Er sagt, dass man mit ihm alles machen könne, aber man solle nicht erwarten, dass er in seinem Alter einem Lügner gehorche. Ein Steward bringt ihm Decken, in die er sich einwickelt. Er trinkt weiter. Im Speisesaal haben sich die Reihen gelichtet. Viele Passagiere fehlen. Vielleicht sind sie zu krank, um am gemeinsamen Mahl teilzunehmen. Die Unterhaltung dreht sich um die Kreuzfahrt. Der Entertainer, lächelnder denn je, erklärt, dass sie morgen im Laufe des Tages den Hafen von Alexandria erreichen werden. Am nächsten Morgen, sehr früh. Die Maschinen des Schiffs stehen still. Das Deck liegt noch verlassen da. Der Tag ist noch grau, es ist keine Küste in Sicht. Die Sonne ist über Steuerbord aufgegangen und enthüllt, dass das Schiff nicht den normalen Kurs auf Alexandria nimmt.

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Am Fuße einer der Treppen, die zum Deck führen, sieht man einen fast waagrecht, etwas nach hinten liegenden Kopf auftauchen. Dann sieht man den ganzen Körper, der gegen den Himmel gewandt ist und merkwürdig in Hüfthöhe gebrochen scheint. Der Mann ist korpulent und sein graues, spärliches Haar weht im Wind. Der Mann ist offensichtlich tot. Die junge Frau trägt die Leiche auf ihren Schultern. Der Körper ist viel zu schwer für sie. Sie hat einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht, ihre Augen sind weit geöffnet. Ein eigenartiger Menschenraub! Die Frau schleppt den Körper mit Mühe auf das Deck und legt ihn zwischen Tennisplatz und Schwimmbecken ab. Sie streckt ihn sorgfältig auf der Sandschicht aus, die über dem Deck liegt. Dann macht sie sich daran, ihn vollständig zu entkleiden. Es ist ein mühseliges Unternehmen. Man sieht das tote Fleisch, das weiß ist und aufgedunsen. Quer über den Unterleib läuft eine lange Narbe. Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten, aber die Glieder beginnen schon steif zu werden. Die Frau betrachtet prüfend das leblose Gesicht, den Körper, der jetzt bis auf alle Ewigkeit auf dem Sand zu ruhen scheint. Als sie den Kopf hebt, ist ihr Blick voll wilder Herausforderung. Es ist ein Passagier, der während der Nacht gestorben ist, und dem die Frau auf ihre Art die letzte Ehre erweisen will. Die Frau geht von der Leiche weg, hinüber zum Bug des Schiffs. Der alte Säufer ist noch immer da. Er hat die ganze Nacht getrunken. Nur seine alkoholverschwommenen Augen sind in dem Deckenbündel zu erkennen. Die junge Frau wendet sich ihm lächelnd zu und sagt, dass er recht gehabt habe, dass das Schiff stillstehe und dass die Schiffsleitung niemanden und nichts respektiere. Er schaut sie amüsiert an und sagt ihr den Kurs, den das Schiff in der vergangenen Nacht genommen hat: S-O, dann O, dann einfach N usw. Sie schüttelt den Kopf. Er sagt, dass die Konstellation der Sterne für große Taten günstig sei, dass es die gleiche Konstellation sei wie am Todestag Cäsars. Sie sagt zu ihm: »Ich brauche Sie.« Er zögert keine Sekunde und erhebt sich schwerfällig. Er scheint vollkommen betrunken. Sie hilft ihm, sich etwas zu lockern und zieht ihn, unter den Arm gefasst, zum Deck und zum Schwimmbecken hinüber. Das Deck ist noch leer bis auf zwei Personen. Der Mann vom Tennisplatz ist auf seinem Beobachtungsposten und betrachtet die Leiche ohne äußere Erregung. An Steuerbord, an der Reling, ist der Matrose mit dem nackten Oberkörper bei der Arbeit. Er hat die Leiche zweifellos auch bemerkt, aber nichts deutet darauf hin. Die Frau und der Mann sind neben der Leiche. Der Alte lacht über das ganze Gesicht, als sei das das Lustigste, was er je gesehen hat. Er schüttelt den Kopf, immer noch betrunken. Er sieht sehr schwach aus. Er dreht sich zu dem

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Matrosen und ruft zu ihm hinüber: »Wir stehen also jetzt still?«, und der Matrose von weitem: »Wir stehen jetzt still!« Niemand hat von dem Toten geredet. Schweigen breitet sich aus. Niemand aus dem Steuerraum hat diese merkwürdige Szene wahrgenommen. Plötzlich wendet sich der Matrose an die junge Frau, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er spricht ruhig, aus dem Mundwinkel. Langsam erzählt er: »Die dritte Fahrt, die ich mit dem Frachter Bella Ciao gemacht habe, war die letzte Reise des Maat Martinez, der aus Algier stammte. Er war mein Freund. Er hatte sich an einem Takel böse den rechten Knöchel verletzt. Wir haben gut ein Dutzend Fahrten zusammen gemacht. Er konnte gut singen und kannte sehr viele Lieder. Und pokern konnte er wie ein Gott. Als er nach einem halben Monat Siechtums tot war, mausetot, haben wir getan, was er sich gewünscht hatte: Wir haben seinen arg zugerichteten Körper in eine Plane gewickelt. Wir haben sie dann mit grobem Wachsgarn und einer Nadel zugenäht, mit der man sonst Segel repariert. Dann haben wir aus gutem Eichenholz einen Sarg gemacht, in den sein Körper genau hineinpasste. Er hat sich den Sarg in Form eines Nachens gewünscht. Er wollte nämlich bis in alle Ewigkeit auf dem Wasser fahren. Wir haben einen soliden Kahn gebaut, der imstande war, sich lang auf dem Meer zu halten. Wir haben ihn dann weit draußen im offenen Meer vor Malta zu Wasser gelassen. Die See war hoch, ich erinnere mich gut. Als er auf dem Wasser schwamm – und Gott weiß, dass er vom Seegang, der in dieser Ecke sehr stark ist, hin- und hergeworfen wurde – haben wir gesehen, dass er durchhalten würde. Wir fühlten, dass er jetzt glücklich sei. Wir haben ihm zu Ehren gesungen. Wir haben ihn dann beinahe sofort aus den Augen verloren. Vielleicht treibt er noch in dieser Gegend. Das war vor einigen Jahren.« Der Matrose arbeitet weiter. Die junge Frau hat ihm mit offensichtlicher Freude, ja sogar liebevoll zugehört. Sie steht auf und verschwindet durch die Luke. Der alte Trinker bleibt bei der Leiche und murmelt etwas in seinen Bart. Der Mann vom Tennisplatz hat sich nicht gerührt. Das rothaarige Kind erscheint auf dem Deck, es zieht sein Bein nach. Als es neben dem Toten steht, fragt es: »Ist er tot?« Er lächelt auch jetzt. Der alte Trinker antwortet: »Ja, und wir werden uns um ihn kümmern. Wir werden ihn nicht denen überlassen.« Der Junge scheint außerordentlich zufrieden und läuft um die Leiche herum, die er an der Wange und an der Stirn berührt. Die junge Frau kehrt zurück. Unter dem Arm trägt sie ein verwaschenes Segeltuch. Sie breitet es sorgfältig auf dem Deck aus und legt mit Hilfe des Alten, des Kindes und des Mannes vom Tennisplatz die Leiche darauf. Die Passagiere kommen jetzt allmählich auf Deck. Sie haben nur ein Gesprächsthema: Das scheinbar unwiderrufliche Stillstehen des Schiffs, die unterbrochene Kreuzfahrt. Manche Passagiere bestürmen die Mannschaft mit Fragen

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über das, was vorgeht, behaupten, dass man ihnen etwas verheimlicht. Aber als sie zum Schwimmbecken kommen, bricht die Unterhaltung abrupt ab angesichts des unglaublichen Schauspiels: Eine Frau näht die nackte Leiche eines Passagiers in eine sackförmige Plane. Es ist eine gewissenhafte, anstrengende, mühselige Arbeit, und man merkt, dass die Finger der Frau wenig an eine solche Beschäftigung gewöhnt sind. Aber sie gibt sich alle Mühe und arbeitet verbissen. Die Stewards und der Entertainer stürzen herbei, um dieses obszöne Schauspiel zu beenden. Aber der alte Trinker, das Kind, der Mann vom Tennisplatz und einige Passagiere bilden mit ihrem Körper eine Mauer, um ein Eingreifen zu verhindern. Alle sprechen von der Kreuzfahrt, die keine ist, und verlangen eine Erklärung, sagen, dass sie von nun an machen werden, was ihnen gefällt, dass sie ohnehin nichts zu verlieren haben und man sie von Anfang an belogen habe. Sie sprechen alle laut durcheinander, es herrscht Verwirrung. Aufruhr liegt in der Luft. Einige Passagiere streiten sich. Sie bilden einen Kreis um die Leiche und die nähende Frau. Etwas abseits steht der Matrose und beobachtet die Szene interessiert, bereit einzugreifen. Der Entertainer verliert die Nerven und holt den Kapitän. Sie kommen zusammen zurück. Der Kapitän erinnert daran, dass er Herr an Bord sei, und dass es auf einem Schiff Gesetze gebe, wie überall sonst auch, die einzuhalten er die Aufgabe habe, und dass er alle ins Gefängnis setzen könne. Der alte Trinker lacht ihm ins Gesicht. Der Mann vom Tennisplatz sagt: »Sie sind jung.« Es ist eine stille Rebellion, eine Rebellion von alten Leuten, die ohne unnötige Worte beginnt, aber man fühlt, dass es schwierig sein wird, sie in den Griff zu bekommen. Man braucht nur die junge Frau anzusehen und die Faszination, die sie auf einige Passagiere ausübt, um zu begreifen, wer jetzt die Autorität hat. Der Mann vom Tennisplatz gibt seinen Gedanken laut Ausdruck: »Lassen Sie das Schiff weiterfahren! Ich weiß nicht, was vorgeht, und ich will es auch gar nicht wissen. Erfüllen Sie Ihren Vertrag! In der Zwischenzeit machen wir, was wir wollen!« Die Spannung steigt langsam. Die Leiche ist jetzt fast völlig eingenäht. Das Schiff liegt noch immer unbeweglich im Wasser. Die Sonne steht hoch am Himmel, und es ist sehr heiß. Der Seewind weht immer mehr Sand auf das Deck. Die Passagiere drängen sich um die Leiche und um die arbeitende Frau. Sie betrachten sie mit einer merkwürdigen Erregung, manche scheinen angeekelt, aber einige blicken fast tatendurstig. Die Mannschaft ist mit ihrem Latein am Ende. Der Kapitän verschwindet in Richtung Funkerkabine. Der Entertainer versucht, die Ruhe wiederherzustellen, indem er ein paar Witze macht, über die niemand lacht. Eine Frau erzählt vom Todeskampf ihrer Schwester, die vor zehn Jahren an einer Gehirnembolie gestorben ist. Niemand hört ihr zu. Eine andere spricht von Aa, wie ein kleines Kind; niemand bringt sie zum Schweigen.

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Ein alter, harmlos aussehender Kranker taucht am anderen Ende des Decks auf. Er lässt sich nieder und legt weiß bemalte Holzplanken neben sich, die früher einmal zur Deckausstattung gehört haben mögen. Er hat auch Hammer und Nägel bei sich, eine ganze Zimmermannsausrüstung, die er wahrscheinlich in der Schiffswerkstatt gefunden hat. Er beginnt zu sägen, zu schneiden, zu hämmern und betrachtet dabei aufmerksam die Leiche, um das richtige Maß zu nehmen. Ebenso wie die Frau ist er vollkommen in seine Arbeit versunken. Die Hammerschläge sind wie ein Signal. Einige Passagiere, Männer und Frauen, nähern sich ihm, nehmen sich etwas von seinem Material und lassen sich irgendwo auf Deck nieder. Die Werkzeuge wiegen schwer in den Händen, sie scheinen für nichts mehr Kraft genug zu haben, und trotzdem versucht jeder, sich bei der gemeinsamen Arbeit nützlich zu machen. Binnen kurzem verwandelt sich das Deck in eine Art Fabrik, in der man mit Energie und sogar mit Freude eifrig bei der Arbeit ist. Sägen, Hobel, Hämmer und Zimmermannsmaß treten in Aktion. Die junge Frau beendet ihre Näharbeit. Währenddessen in einer Kabine. Eine weißhaarige Frau, deren Hals eine Kanüle durchbohrt (Folge einer Tracheotomie). Sie zieht sich um. Sie zieht sich erst völlig aus, dann zieht sie sich sorgfältig wieder an. Weiße Unterwäsche, schwarze Strümpfe, weiße Bluse, schwarzer Rock, schwarze Jacke, schwarzer Hut. Schließlich sieht sie wie eine Bäuerin in Trauer aus. Ihre Art sich anzukleiden wirkt äußerst erotisch, trotz des verhärmten Körpers. Auf Deck. In der »Schiffsfabrik auf Deck« wird eifrig gearbeitet. Einer der Zimmerleute aus Zufall, der ganz in seiner Arbeit aufgeht, stimmt ein Seemannslied an, um sich für die Arbeit Mut zu machen. Er markiert den Takt mit Hammerschlägen. Die Leiche ist jetzt vollständig in das Segeltuch eingenäht. Der Sarg nimmt Form an. Es ist ein kleiner Kahn. Ein Mann schnitzt eine Art Gallionsfigur mit einem Messer, das er aus der Tasche gezogen hat und pfeift dabei. Er sieht fröhlich aus, seine Augen glänzen. Aus der Arbeit entsteht spontan jenes Ritual, das der Bestattung vorausgeht: Pfeifen, das regelmäßige Hämmern der Werkzeuge, Arbeiterlieder, Ausruhe, die Fehler kommentieren, und der heitere Zuspruch des alten Trinkers, der jedem und jeder zu trinken anbietet, was manchmal dankend angenommen wird. Der Matrose betrachtet die Szenerie mit Interesse. Wenn die junge Frau von ihrer Arbeit aufsieht, blickt sie ihn an.

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Bei allen diesen kranken und behinderten Menschen entdeckt man plötzlich eine neue, unerwartete Vitalität, eine Art gefährlichen Wahnsinn, der ohne Zweifel von dem nahen Tod herrührt. Weil sie die Initiative ergriffen hat, und weil sie fast nie etwas sagt, ist die junge Frau zugleich Mittelpunkt und treibende Kraft. Alle arbeiten verbissen, die Arbeit dauert lange und ist sehr anstrengend. Einige schneiden sich mit dem Messer oder der Säge. Die Arme zittern vor Anstrengung. Manche Rücken beugen sich beängstigend weit. Man sieht immer weniger. Die kühle Nacht bricht schnell herein und hüllt alles ins Dunkel. Am Himmel beginnen die Sterne zu leuchten. Niemand hat an das Abendessen gedacht. Das Personal und die Mannschaft warten im Halbdunkel darauf, dass diese makabre Tätigkeit zu Ende geht, wagen aber nicht mehr, in eine Sache einzugreifen, die so viel von der Aura des Todes hat. Die Passagiere schenken ihnen keinerlei Beachtung mehr. Währenddessen in einer Kabine. Ein alter Mann in einem roten Schlafrock liegt auf seinem Bett und starrt, von Erstickungsanfällen geschüttelt, auf den schwarzen Bildschirm seines Fernsehgeräts. Er läutet nach einer Krankenschwester, die aber nicht kommt. Er steht keuchend auf und verlässt seine Kabine. Er geht in Richtung Deck. In der Schiffsküche. Ein Kellner und der Chefkoch unterhalten sich über das Benehmen der Passagiere. Der Koch meint, dass sie sich wie Verrückte aufführen, gibt ihnen aber nicht völlig unrecht. Der Kellner sagt zu allem Ja und Amen. Auf Deck. Der Alte im roten Schlafrock nähert sich schwerfällig den anderen. In einem großen Blechkübel hat man ein Feuer entfacht. Das Feuer ist mit Benzin oder Öl angemacht worden und entwickelt einen dicken, schwarzen, teerigen Rauch. Neben dem Feuer geht die Arbeit langsam zu Ende. Drei Männer sind eben mit der Bemalung des kleinen Kahns fertiggeworden. Der dicke Italiener stimmt jetzt plötzlich einen Trauergesang an, es ist ein sizilianisches Lied. Alle hören zu. Eine Frau beginnt zu schluchzen, der Italiener unterbricht sein Lied für einen Augenblick, um ihr etwas in ihrer Sprache zu sagen, und singt weiter. Die junge Frau schleppt allein den Sack mit der Leiche zum Kahn und legt ihn hinein. Das Lied verweht sanft in der Nacht. Es ist ein Augenblick tiefen Friedens.

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Dann übernimmt die Frau die Leitung des Folgenden. Alle Passagiere tragen den Kahn in einer Art Leichenzug zum Schwimmbecken. Sie sind erregt von der vollbrachten Leistung. Mit ihren verbrauchten Gliedern, ihren verborgenen Schmerzen, ihren verzerrten Gesichtern und ihrer Hilflosigkeit, schleppen sie gemeinsam die Last, setzen sie am Rande des Schwimmbeckens nieder und lassen sie zu Wasser. Diese befremdliche und unerwartete Zeremonie vollzieht sich in einer heiteren Sammlung, deren Schönheit die übliche Scheußlichkeit des Todes verbirgt. Der Sarg-Kahn schwimmt auf dem Wasser und wird vom Wind leicht abgetrieben. Die Passagiere betrachten ihn. Der Mann vom Tennisplatz scheint mit seinen Berechnungen zu Ende gekommen zu sein. Der alte Trinker trinkt noch immer, er hat das glückliche Aussehen eines Kindes, das jemanden einen Streich gespielt hat. Man fühlt, wie sich bei allen Passagieren infolge dieser ungeheuren Arbeit eine große Müdigkeit breit macht, eine Art Schrecken, das Gefühl, zu weit gegangen zu sein, eine Grenze zu überschritten, ein Tabu gebrochen zu haben. Sie bleiben nicht länger in der kühlen Nacht stehen, sie verschwinden schweigend einer nach dem anderen über die Treppe, die zum Zwischendeck führt. Die junge Frau bleibt alleine zurück und betrachtet den Matrosen, der auf einer Ecke den schwimmenden Kahn beobachtet. Ihr Gesicht hat sich vollkommen verändert, alle bürgerliche Respektierlichkeit ist daraus verschwunden, keine Spur mehr von klösterlicher Zurückhaltung; es ist jetzt die Lust einer Besessenen, bevor sie in Trance fällt, einer Frau, die kurz von dem Augenblick der Lust überrascht wird. Sie steht im Mondlicht. Der Sand verbreitet sich langsam auf dem Deck. Die junge Frau ist barfüßig. Sie sieht zu, wie der Wind den Kahn im Kreise treibt. Das Wasser ist bereits durch das trockene Holz des Kahns gedrungen. Er ist schon halb untergegangen und ähnelt einem Wrack, das mehrere Monate auf dem Meer umhergetrieben ist, einem Wrack, das unbeholfen, mysteriös und anziehend zugleich ist. Das Deck um das Schwimmbecken scheint zu einer unberührten, vom Mond beschienenen Wüste geworden zu sein. Im Sand sind einige Fußspuren sichtbar. Eine Sandwüste, in der ein verborgener Toter auf einem unbeweglichen Meer in seinem reglosen Schiff umhergetrieben wird. In derselben Nacht, später. Der Mond steht über dem Horizont. Die Maschinen haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Das Schiff setzt sich schwerfällig in Bewegung, beschreibt einen großen Bogen und entfernt sich in Richtung Nordwesten.

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Auf dem fast leeren Deck hört man einige Schreie. Die meisten Passagiere sind in ihre Kabinen zurückgegangen, aber sie schlafen nicht alle. Ein Mann schreibt mit fiebrigen Händen etwas in sein Notizbuch. Eine Frau zählt die Pillen, die auf ihrem Nachttisch liegen und wirft sie dann ins Waschbecken. Eine andere Frau sagt irgendjemandem schüchtern obszöne Worte durchs Telefon. Sie spricht von einem schönen männlichen Geschlecht. Auf dem Mannschaftsdeck versichern sich zwei Matrosen, dass sie froh sind umzukehren, dass dies das Beste sei und das Einzige, was zu tun war. Sie sagen, die Situation sei unkontrollierbar geworden, man wisse ja nicht mehr, was man mit diesen Alten tun solle. Die Lage auf Deck hat sich nicht verändert. Am nächsten Morgen. Es ist heller Tag, und doch scheint das Schiff seltsam leblos. Man hört die Sirene ein paar Mal aufheulen. Backbord ist nur der Horizont zu sehen, aber Steuerbord taucht plötzlich ein großer Hafen auf, dahinter eine große Stadt, über der die vertraute Silhouette des Monte Chigi aufsteigt. Man ist nach Genua zurückgekehrt. Die Kreuzfahrt ist vorzeitig zu Ende gegangen. Die Sonne scheint auf das Deck und wirft ihr Licht auf die Brandflecken, auf die verstreut herumliegenden Gegenstände, die in der Nacht zur Herstellung des Sarg-Kahns dienten, auf die Pyramide und auf den Sarg-Kahn selbst, der immer noch auf dem zu blauen Wasser des Beckens schwimmt. Dies alles scheint aus den Fugen geraten und durch die nächtlichen Ereignisse degradiert. Es herrscht die merkwürdige Traurigkeit, die auf ein nächtliches Fest folgt, der fade Nachgeschmack von Trinkgelagen. Die junge Frau schläft in Decken gehüllt an der Reling. Der Matrose, der sich eigentlich auf seinem Posten befinden müsste, wacht zärtlich bei ihr. Der alte Trinker ist wieder auf seinem Beobachtungsposten am Bug des Schiffs und lacht aus vollem Hals, als er Genua sieht. Der Mann vom Tennisplatz sitzt auf dem Schiedsrichterstuhl und starrt von oben auf die Grenzlinie des Netzes. Er sieht unendlich müde und traurig aus, er saugt die Luft so begierig ein wie ein Todkranker. Das Schiff läuft in den Hafen ein und legt am Kai an. Auf dem Kai herrscht das hektische Treiben der großen Häfen. Es ist ein Gedränge und ein Geschiebe, Taxis halten neben dem Landungssteg, Zollbeamte und Reedereiangestellte kommen, Stadtführer und Gepäckträger bieten ihre Dienste an. Der Landungssteg ist schon ausgefahren worden, die Mannschaft ist mit den letzten Anlegemanövern beschäftigt. Auf dem Schiff macht das Personal den Passagieren klar, dass die Kreuzfahrt unabhängig vom Willen des Kapitäns und aus zwingenden Gründen zu Ende sei, dass Entschädigungen gezahlt würden und man jetzt wieder in Genua sei. Einige Passagiere hören verständnislos zu, manche grinsen höhnisch, andere wiederum leisten den Befehlen widerstandslos Folge.

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Man packt die Koffer und lässt die Passagiere sich auf Deck versammeln. Man führt sie auf Boden zurück. So beginnt ein unglaublicher Aufzug von Körpern, die noch schwächer sind als bei der Abreise, von Gesichtern die ausgehöhlt sind durch langes Warten und große Erregung. Vor allem die Blicke haben sich verändert: Man liest darin die Erschöpfung, aber auch einen neuen Stolz, etwas Unbezähmbares liegt darin, das Gegenteil einer Resignation angesichts des Todes, wie sie bei der Abreise noch auf fast allen Gesichtern stand. Ein neuer Geist der Rebellion durchzieht diese Truppe von Halbtoten, die in das zu grelle Morgenlicht blinzeln. Sie bilden eine seltsame Herde fremder, ungelehriger Tiere. Alle Passagiere verlassen das Schiff. Die junge Frau schließt den Zug. Vom anderen Ende der Landungsbrücke sieht der Matrose zu, wie sie über den Landungssteg geht. Sie dreht sich nicht um. Die Passagiere sind auf dem vor Leben vibrierenden Kai angekommen. Ihre Taschen und Koffer neben sich starren sie auf die Stadt, auf dieses lärmende Leben, das sie auf den Boden zurückruft. Die Schiffssirene heult mehrere Male lang auf. Paris, Juni 1979

Les Amants du Pont-Neuf: Juliette Binoche (Michèle Stalens), Klaus Michael Grüber (Hans), 1991.

Konrad Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste 22. 10. 2000

Thomas Langhoff

Laudatio

1. Würde mich ein kluges Kind oder ein dummer Journalist mit der Frage quälen, welche die größte Theateraufführung meines Lebens war, so müsste ich am Ende bekennen: »Die Bakchen« des Euripides, inszeniert von Klaus Michael Grüber. Das Theater bietet uns Tausende von Abenden, an denen uns das Spielen und das Anschauen von Theater so selbstverständlich vorkommen wie Duschen, Rasieren, Essen und Verdauen, Trinken und Pissen. Aber es gibt zum Glück noch etwas Anderes. Es gibt Augenblicke, die uns zugleich und doppelt überfallen mit dem fassungslosen Staunen: »Kann das Theater?« und mit der felsenfesten Gewissheit: »Das ist Theater.« Wem da ungläubige Verwunderung und unwiderlegliche Evidenz eins werden, der mag fortan, als Zuschauer oder Künstler, dem Theater eine bleibende Macht über sein Leben einräumen. Um dieser Augenblicke willen darf es, muss es Theater geben. In den Jahren 1948/49 ging ich in Zürich in die Schule und oft ins Theater. Das hatte zwei Gründe: Richtig deutsch konnte man nur im Theater lernen; die Mitschüler, auch die Lehrer sprachen, ungern und unschön, das sogenannte Schriftdeutsch. Im Schauspielhaus aber spielten Therese Giehse und Maria Becker, Ernst Ginsberg und Will Quadflieg. Ich liebte, was ich sah, und meinte nun zu wissen, was Theater ist. Am 1. Oktober 1949, ich war achtzehn, sah ich wieder eine Premiere im Schauspielhaus. Gespielt wurde an diesem Abend allerdings eine reichlich undurchsichtige Geschichte, von einem nicht einmal dreißigjährigen Regisseur aus Italien in Szene gesetzt. Eine Gruppe von sonderbaren Menschen mit nicht ganz enträtselbaren Verletzungen und Hoffnungen, von denen sie unentwegt redeten, irrte auf der Landstraße herum und wurde von einem angeblichen Zauberer in dessen angebliches Schloss eingeladen. So endete der erste Akt. Der Vorhang hob sich zum zweiten Akt, und ich sah, was ich nie gesehen hatte. In einem leeren Saal mit ein paar bizarren Möbeln unter rötlichem, schwärzlichem Dämmerlicht standen lauter lebensgroße Puppen in starren Attitüden. Es

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dauerte eine Ewigkeit, wahrscheinlich nur Sekunden, die Puppen begannen sich zu regen, glitten aufeinander zu, einten sich zu einem Tanz von atemverschlagender, magischer Langsamkeit. Noch waren es kleine Menschen, eher Traumzwitter zwischen mechanischem Zucken und zögerndem Erwachen, nacheinander tastend, in sich kreisend, Minuten, Unendlichkeiten lang. Gefangen, mehr als die Schauspieler, waren wir Zuschauer im Wunderkabinett des Zauberers Cotrone. Ich sah die deutschsprachige Erstaufführung von Pirandellos »Riesen vom Berge«; der Regisseur war Giorgio Strehler. Ich erschrak darüber, was Theater sein kann. Ich weiß seither: Das ist Theater. 1962, mit 21 Jahren, ging der schwäbische Pfarrersohn und Stuttgarter Schauspielschüler Klaus Grüber nach Mailand, um bei Strehler zu lernen. Er begegnete dort einem Genie im plattesten, physischen Sinne – einem Theatermann, dessen Auge und Ohr imstande waren, sieben Eindrücke zur selben Zeit aufzunehmen und zu beurteilen: die unerlaubte Falte in einem Bühnenprospekt, einen schönen oder zu harschen Klang in der Begleitmusik, den falschen Rhythmus eines Satzes, dem die Geste, oder eine Geste, der der Atem als unentbehrlicher Auslöser fehlte. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass Grüber von Strehler nicht vor allem die beseeltesten Techniken von Licht, Sprache, Bewegung lernte. Er lernte kein Können, sondern einen Anspruch, den höchsten damals im europäischen Theater. Dieser Anspruch hieß: Es ist dem Theater unerlaubt, ein amüsanter oder gefühliger Teil unserer Lebensroutine zu sein. Jeder Aufführung ist aufgetragen, dass in unserem Kopf und Herzen etwas Unwiderbringliches geschieht.

2. In Euripides’ und Grübers »Bakchen«, 1974 für die Schaubühne inszeniert, gab es nicht nur zwei oder drei Augenblicke, in denen das Theater zugleich zum Ort des Staunens und der Gewissheit wurde. Dreieinviertel Stunden lang geschah das Unerklärliche und Einleuchtende, das Unmögliche und Richtige. Wie soll man es schildern? Ich will nur von einer Szene reden. Spielort war eine Messehalle am Westberliner Funkturm. Vor der Ankunft sah man draußen, in einer Hügellandschaft der Winternacht, brennende Feuer, ahnte Menschen, Schauspieler, die sie umlagerten. Umso mehr fühlte man sich, als man die Halle betrat, in einem hart definierten Spiel-Raum: gerade, weißgestrichene Wände bar aller Hänger und Kulissen; eine niedrige flache Decke aus blauweißem Licht; die Bühne eine Ebene aus weißen Bohlen. Das Gehäuse war überklar begrenzt, der Zuschauer umschlossen wie im Innern eines leuchtenden Ziegelsteins. Nach dem Vorspiel, dem Erscheinen des Gottes Dionysos, sollte nun der Chor die Bühne betreten.

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Die Bakchen: Rüdiger Hacker (Zweiter Bote), Edith Clever (Argaue), Angela Winkler (vom Chor der Lydischen Bakchen), Schaubühne, Philips-Pavillon-Messegelände, Berlin, 1974.

Doch diese Frauen, maskenhaft geschminkt wie auf uralten mykenischen Vasen, kamen in den blendend umrissenen Raum nicht durch irgendeine Türöffnung. Nein, die geradestes, sicherste Wand, die man von außen und innen als Grenze gesehen, als absolutes Ortlimit, Theaterlimit angenommen hatte: die Wand selbst verschob sich, tat sich auf. Aus der Finsternis draußen, wie aus einer anderen Welt, zogen die archaisch fremden Bacchantinnen ein. Ich soll von Grübers Theater reden und muss Ihnen nach und nach sagen, weshalb man davon fast nicht reden kann. Man kann nicht reden von Pieros Fresken in Arezzo: nicht, weil sie so schön, sondern weil sie pure Malerei sind. Grübers Theater ist, der Auftritt der Bacchantinnen erwies es, zunächst niegesehenes, in keine andere Sprache übersetzbares Theater. Die Wand, die sich jäh als Wunder und Schrecken auftat,

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unser Raumbewusstsein durchstrich, den Spielort auslöschte und wiederschuf, war die tollste Verneinung und die kühnste Bewährung von Theater. Grübers Theater handelt trotzdem niemals vom Theater. Eine andere große Aufführung der siebziger Jahre in der Schaubühne (noch am Halleschen Ufer), Robert Wilsons »Death, Destruction & Detroit«, erhob die reine szenische Präsenz von Spielern und Spielobjekten, als Theater als Form, auch zu dessen Inhalt. Grübers Bühnen dagegen sind nie Bilder, immer Welten. Der Schauspieler (der Mensch) ist nicht das Fremde im Bild, sondern der Fremde in der Welt. Darin liegt der zweite Grund, weshalb man von Grübers Theater fast nicht reden kann. Die Stelle des Menschen in der Welt wird hier sichtbar – kaum beschreibbar – einzig als die Stelle des Schauspielers im Bühnenraum. Grübers Bühnen stammen von Malern statt von Bühnenbildnern: seit 1969 arbeitet er mit Eduardo Arroyo, seit 1974 mit Gilles Aillaud. Von guten Malern wie Kokoschka, auch Hockney sind uns schlimme Bühnen bekannt. Die Regisseure ließen sie Bildchen malen mit ihren hochbezahlten schönen Farben. Grüber verstand und riss heraus die Räume der Maler, Räume zwischen Himmel und Erde. Die Stelle des Schauspielers in diesem Welt-Raum heißt: Ungewissheit. Die Gänge der Schauspieler, nicht nur ihre verblüffenden Auftritte, sind unvorhersehbar, wie improvisiert. Grausam wird die Ungewissheit, wenn sie sich die Maske der Tat, der Entscheidung aufstülpt. So trat Pentheus, der Kämpfer für Rationalität und Patriarchat gegen die Anarchie der Bacchus-Weiber, hart und strahlend auf, um dann bald, sich immer noch auf der Höhe seiner Entscheidung wähnend, die Bühne in groteskem Frauenfummel, hinkend auf einem Stöckelschuh durchzuirren. Gegen den Pentheus steht die einzige von Grübers Bühnengestalten, der sich wahrhaft entscheidet, zum Tod entschieden hat: Hölderlins Empedokles. Vom selben herrlichen Bruno Ganz nur ein Jahr später gespielt, hatten seine Gänge, statt der krassen Scheinsicherheit des Verblendeten, etwas von jener seltsamen Sicherheit des Blinden, der selbst tastend nur in sich hineinzuhören scheint. Soll die Todessuche, Todessucht bei Hölderlin, den man wahnsinnig nannte, die einzige Stelle der Gewissheit sein jenseits allen Wahns?

3. Was Grüber ihm nächste Autoren verbindet, ist das Thema, die Existenzart der Ungewissheit: Kleist von »Penthesilea« (Stuttgart 1970) bis »Amphitryon« (Berlin 1991), zweimal Pirandello, dazu die beiden Extreme französischer Dramtatik: Racines »Berénice« (Comédie-Francaise 1984), die innigste, schneidendste Tragödie und Labiches »Affäre Rue de Lourcine« (Berlin 1988) die wildeste, mörderische Posse radikaler Ungewissheit. Aus ihr kommt das einzigartig Fragmentarische, Offene der Spielweise. Notiert wurden Grübers Ermahnungen an

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die Schauspieler: zu Rissen, Öffnungen. Der Einzige, der über Grübers Theater wirklich reden kann, ist Grüber selbst: sprechend nicht über sein Werk (was er nie tut), sondern zu den Schauspielern. In der Probenarbeit zu Tschechows »Auf der Landstraße«, wies er sie an: »Baut nicht durch vom Anfang bis zum Ende.« Grübers Findungen werden nie zu Konstrukten. Eine andere Probennotiz: »Die Hauptgefahr: In etwas hineinstolpern, das alles verbindet. Bleibt in der Trennung.« So entstehen auf der Bühne Wunder des Non sequitur – wie im Leben; aber wir haben es vergessen, das Leben so zu sehen. Selbst im Aufbau einer riesigen Szene, der zwischen Empedokles und Pausanias, waltet keine »Konsequenz«. Das ist wohl, doch erst von Grüber entdeckt, eine der schönsten Liebes- und Abschiedsszenen, die je geschrieben worden sind. Lebewohl entsteht hier nicht wie in unserem verlotterten Alltag aus Indifferenz und Langeweile – sondern weil zwei Lebenswege (der eine der Weg in den Tod) sich unwiderruflich scheiden. Bruno Ganz und Hans Diehl spielten mit aller Zärtlichkeit und Härte eine Trennung, die kein platter Leichtsinn, bequemes Liegenlassen des anderen ist, sondern Freischaufeln der eigenen Bahn. Wenn diese Tat gerade liefe, wenn eines aus dem anderen folgte, würde die Szene keine Zeit brauchen. Dreimal aber wird weggestoßen, Abschied genommen oder erzwungen – und, ohne Begründung, wieder angeknüpft. Der monumentale Bau und seine Schmerzenswahrheit entstehen daraus, dass das Ereignis Abschied immer wieder in sich zurückfällt, abbricht und wiederbeginnt. Aber gerade die verstörende Diskontinuität dessen, was wir Zuschauer als Szene, als Veräußerndes sehen und verarbeiten müssen, suggeriert uns, dass es im Innersten der Gestalten einen Vorhang gibt, der eine eigene Art Abfolge und Folgerichtigkeit hat, zu erahnen aber nicht zu durchschauen. Handlung und Sprache werden zum Verweis auf die Seele. Grüber ist, wie kein anderer, der Sprachfinder der Seele; aber der tiefste Verweis auf sie heißt: Schweigen. Er sagt in Christoph Rüters schönem Film, den Sie sehen werden, einer Schauspielschülerin: »En te retirant, tu crées l’attention. Seulement le silence attire.« »Aufmerksamkeit schaffst du, indem du dich zurückziehst. Nur das Schweigen zieht heran.« Unser ererbter Rationalismus und Fortschrittsglaube besagten, dass man die Lücken (nur noch) füllen muss. Wissenschaft, Erkenntnis haben zur Aufgabe, die Lücken zu füllen. Das Theater soll ähnlich ein ästhetisches, als psychologisches System liefern, einen »Stil«, um eine konsistente Haltung, auch eine konsistente Welt zu erzeugen – um letztlich, wie die Naturwissenschaft, alle Lücken zu schließen. Grübers Frage kehrt alles um: Ist die Aufgabe der Kunst nicht, die Lücken zu erzeugen, Löcher zu reißen in die Routine des Denkens und des Lebens, in jene komplette Welt der Erklärungen und Gemeinplätze, die wir uns kreieren, um die wahre Welt erträglich und benutzbar zu machen? Dies ist Grübers Arbeit: Das Entfernen von allen Klebemitteln, Lücken-Verklebe-Mitteln, die je am Stück

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(durch Konvention der Lektüre), die je im Schauspieler (durch Konvention der Schulung) angebracht sind. Seine Arbeit, die nicht Taktik, sondern Befragen ist, reicht über die Kunst, über das Theater hinaus: Ist Erkenntnis überhaupt, statt Füllen von Lücken, ein Aufreißen von Lücken? Grübers Kunst ist Widerstand gegen alle zeitgemäßen Reduktionen des Menschen auf seine Oberfläche. Das setzt ihn vielen jungen Regisseuren entgegen, denen Skepsis, oft platter Zynismus als Beweis ihrer Heutigkeit gilt. Das trennte ihn aber schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vom sogenannten »kritischen« Theater, das hinter den Erscheinungen nicht das Unerkannte suchte, sondern nur eine quicke, bestenfalls witzige Reduktion, die auch politisch alles handhabbar machte.

4. Manchem ermüdeten Altrevolutionär wie manchem fidelen Jungkonservativen kommt es deshalb gelegen, Grüber als den Nostalgiker der alten wahren Sprache, der alten wahren Gefühle zu feiern. Doch konservativ war und ist er höchstens im Sinne Baudelaires: im Ekel von dem Bourgeoisen, Routinierten, Verwendbaren. Er hütet nicht das »Wort« oder »den Menschen«; sein maßloses, extremistisches Mitgefühl restauriert nicht Werte, sondern schafft ein Skandalon. In seiner genialen Inszenierung von Monteverdis »L’incoronazione di Poppea«, erst vor anderthalb Jahren, wagte er es, die Gefühle der Aufsteiger-Hure und des MörderKaisers in zwei herrlichen Zwiegesängen ganz »unkritisch« als Liebe zu verwirklichen. Beim Zuschauer liegt es, wenn er ihre Melodien des Glücks und der Selbstvergessenheit hört, die Leichenberge dazuzudenken, die er als Preis dieses Glücks wachsen sah. Sogar Neros Freude am Mord ist gewiss wahre Freude, weil sie ihn dem Ziel seiner Liebe näherbringt. Und als das verehrungswürdigste Opfer dieser Morde, der greise Seneca, sich gerade umgebracht hat, denunziert Grüber nicht (sowenig es Monteverdi tut) das sofort folgende Duett zweier Halbwüchsiger, fast noch Kinder, die für sich trillernd und jubilierend die Liebe entdecken. Grüber selber entdeckt Sprache und Gefühle jedesmal neu. »Ent-decken« heißt aber: ausgraben unter dem Müll, den der praktische Alltag, die gesellschaftlich erzeugte Dummheit und Tüchtigkeit darübergeschüttet haben. So konnte seine unvergleichliche Mitarbeiterin Ellen Hammer einmal sagen: Am Beginn von Grübers Arbeit stehen Liebe zu jedem Schauspieler oder Sänger und Einfühlung in jede Bühnengestalt. Diese Liebe ist aber fordernd, diese Einfühlung kann seinen größten Inszenierungen schonungslos sein. Nur in den schwächeren kommt es vor, dass sich Schwermut und Trauer etwas gleichermaßen über alle Figuren breiten. Sonst bringt uns Grüber keinen und nichts zu nahe; sein Theater des Mitfühlens und Mitahnens, der Langsamkeit und der

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Geduld bleibt ein Einbruch der Fremde, eine Zumutung, die wir durchzustehen haben. Auch das Schöne darin ist Einbruch, Überschreitung – um eine bekannte Zeile zu zitieren: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.« Manche Aufführung von Grüber verstehe ich überhaupt nicht – und ich werde nie erfahren, ob das an mir oder an der Aufführung liegt. Aber so viel habe ich verstanden: Weil dieser Keuschheit jede Prüderie fremd ist, bricht sie durch zur verbotensten Schamlosigkeit (so die Verführungsszene der »Bakchen«). Weil dieses Mitgefühl rein bleibt von Sentimentalität, verzeichnet und erträgt sie realste Grausamkeit (so die Trennungsbotschaft in »Berénice«). Weil diese Verlangsamung keine Leere duldet, explodiert aus ihr der Schock des Plötzlichen (so die Panikanfälle der »Rue Lourcine«). Bruno Ganz, der ihm wohl nächste, kongeniale Schauspieler, hat einmal gesagt: »So sehen, so gucken kann nur er. Ich kenne keinen anderen Menschen, der das kann.« Zum Glanz von Grübers Theater gehört es, dass jeder von uns in jeder Sekunde staunend weiß: Nie wäre mir das eingefallen! Seine besondere Art Verkehr mit der Wahrheit im Menschen und der Schönheit im Theater hätte früher einmal »Gnade« geheißen, manchmal ein Regen von Gnade. Wer beleidigt ist darüber, pikiert, Ereignisse zu sehen, die ihm niemals eingefallen wären, der gehe nicht in Grübers Theater – der gehe lieber gar nicht ins Theater. Ich gehe ins Theater, um etwas zu erfahren, was ich nicht wusste. Mein Problem für heute bleibt gerade deshalb: Wenn jemand weiß, was ich nicht weiß – wie soll ich über ihn reden? Danke für Ihre Geduld.

Ellen Hammer

Dankesrede

Sehr geehrte Akademie der Künste, Meine Damen und Herren, Lieber Ivan Nagel, Klaus Michael Grüber hat sich sehr darüber gefreut, von der Akademie der Künste in Berlin den Konrad-Wolf-Preis zugesprochen bekommen zu haben. Er bedankt sich bei der Jury, ihn erwählt und insbesondere bei Ivan Nagel, ihn mit seiner Laudatio gewürdigt zu haben. Es ist Scheu und das Wissen um die Verletzlichkeit durch mediale Öffentlichkeit, die ihn dazu bewogen haben, nicht persönlich bei der Feier anwesend zu sein. Sein Metier, wie er es versteht, besteht darin, Menschen, Dinge, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen auf der Bühne sichtbar und fühlbar werden zu lassen, ohne selber im Rampenlicht zu stehen. (Das ist Sache des Schauspielers, nicht des Regisseurs.) Es gibt in der Hamburger Kunsthalle das schöne Bild von Caspar David Friedrich »Der Wanderer über dem Nebelmeer«. Der steht mit dem Rücken zum Betrachter am Rande eines Felsens und sieht weit in die Landschaft hinein, in das Licht, in die Bewegung der Luft, der Wolken. Es ist ein Bild der Einsamkeit, der Ruhe, der Konzentration, auch der Gefahr, die den Mann einen Schritt vom Abgrund auflauert. Der Statur nach könnte es Goethe sein, hat einer behauptet. Auch dieses Ölgemälde ist eine – nicht der Statur nach, aber eine vorweggeahnte Abbildung der Wahlverwandtschaft nach – Hommage an Klaus Michael Grüber. Vielleicht wird er sich ja einmal umwenden, aber dazu braucht es noch vieler Jahre. Vielen Dank.

Gespräche und Werkanalysen

Gespräch mit Friedemann Kreuder

»Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung«

Herr Professor Kreuder, wie kam es, dass Sie sich für Klaus Michael Grübers Theater zu interessieren begannen? Das geschah interessanterweise durch Fotografien. Als ich Ende der 1980er Jahre anfing in Mainz Theaterwissenschaft zu studieren, erschien im S. Fischer-Verlag die Buchreihe Regie im Theater, schmale Bändchen im Din-A5-Format. Uwe B. Carstensen gab in der Reihe ein Buch über Klaus Michael Grüber heraus. Zu der Zeit hatte ich keine wirklich breite Seherfahrung, war wohl in Mainz, Wiesbaden, Frankfurt, in der Rhein-Main-Region ins Theater gegangen. Ich sah damals den legendären Hamlet in der Inszenierung von Holger Berg, mit der Interpretation der Titelrolle wurde Martin Wuttke bekannt. Von Grüber wusste ich nichts. Ich schlug diesen Band auf und sah darin Schwarz-Weiß-Fotografien, die mich jahrelang nicht losgelassen haben. Diese Fotografien haben eine Rätselhaftigkeit und Nachbrennkraft, sie bleiben sehr, sehr lange im Gedächtnis und beschäftigen einen, z. B. die Fotografie des klinisch-weißen und zwischenzeitlich von den Bakchen aufgerissenen Bühnenraums, den Gilles Aillaud und Eduardo Arroyo für Grübers Bakchen-Inszenierung 1974 an der Schaubühne bauten. Dieses Nebeneinander von Aufbau, klinischem Weiß und Zerstörung berührte etwas in mir. Erst sieben Jahre später fing ich an, über Grüber zu schreiben, und ebenfalls sieben Jahre später sah ich die erste Inszenierung von Grüber, Jean Genets Splendid’s im Pariser Odéon-Théâtre. Euripides’ Drama Die Bakchen kommt in Grübers Schaffen eine besondere Bedeutung zu. Es gibt diese berühmte Aussage über Heiner Müller, die mein Kollege Joachim Fiebach kolportierte: In Inseln der Unordnung, einem der ersten Bücher, die über Heiner Müller geschrieben wurden, erzählt Fiebach, dass er zusammen mit Heiner Müller einer der wenigen Intellektuellen des DDR-Regimes war. Müller

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Gespräch mit Friedemann Kreuder

war ein bekannter Schriftsteller, Fiebach war an der Humboldt-Universität am theaterwissenschaftlichen Institut für kulturelle Kommunikation stationiert. Beide erhielten zwischenzeitlich die Erlaubnis, nach West-Berlin zu fahren und sich dort Inszenierungen anzusehen. Fiebach ging in Peter Steins Shakespeare’s Memory und Heiner Müller in Grübers Bakchen. Müller soll nach dem Besuch der Aufführung gesagt haben, er wolle nun anders schreiben. Müller spricht wortwörtlich vom surrealen Material, das von Grüber und den beiden Malern Aillaud und Arroyo in die Bildräumlichkeit des Theaters eingebracht worden sei. Dieses surreale Material habe Müller in seinem Theaterbegriff maßgeblich verändert. Und tatsächlich fängt Müller schon nach dem Lohndrücker an, eine sehr kritische Revision, eigentlich eine Parodie auf den realistischen Sozialismus zu schreiben. Müller verfasst Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei und auch die Bildbeschreibung. Sie haben gerade davon gesprochen, dass es in den Bakchen um einen Raum der Zerstörung und des Wiederaufbaus geht. Der Bühnenboden wird während der Aufführung aufgerissen. Was unter den langen Brettern liegt, wird hochgeholt, die verdrängte Geschichte nimmt sich ihren Raum. Ist es ein traumatisierter Raum? In meiner 2002 erschienenen Studie Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers legte ich mich fest und schrieb, die Inszenierung sei eine szenische Variation oder eine Verräumlichung des Stückthemas. Sie war der zweite Teil der Antiken-Inszenierungen der Berliner Schaubühne. Peter Stein inszenierte die Übungen für Schauspieler, orientierte sich stark an der aktuellen Forschung Cambridger Anthropologen zu Ritualen. Stein begab sich auf die Suche nach vermeintlichen Ursprüngen des Theaters, indem er antike Rituale – Jagd, Begräbnis etc. – rekonstruierte. Grüber inszenierte den zweiten Abend mit dieser späten Tragödie von Euripides, die grundsätzlich davon handelt, dass Pentheus, der König von Theben, gespielt von Bruno Ganz, sich gegen einen in dieses Theben einfallenden Gott namens Dionysos wehrt. Dieser Einfall ist für Pentheus deshalb ein politisches Problem, weil Dionysos das Erzeugnis einer sehr merkwürdigen Geschichte ist. Seine Mutter Agaue erzählte ihm, dass ihre Schwester Semele, also seine Tante, gestorben sei – aufgrund einer Liebesgeschichte mit einem Mann, der sich letztendlich wie in der christlichen Überlieferung als der Göttervater Zeus entpuppt. Zeus ist Semele nicht in Tiergestalt, sondern als Blitz begegnet, ein dampfender Aschehaufen als letztes Überbleibsel seiner Tante zeugt davon. Letztendlich geht es in der Erzählung um die Frage einer unbefleckten Empfängnis. Pentheus kann den Mythos einer unbefleckten Empfängnis und den daran sich anschließenden Siegeszug des neuen Gottes in seinem Reich nicht akzeptieren. Dionysos ist für Pentheus ein Volksverhetzer. Sein Großvater Kadmos hängt auch diesem neuen Gott an. Pentheus ist der von

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der instrumentellen Rationalität durch und durch getriebene Politiker. Er versucht, seine Zwecke und Interessen durchzusetzen, und kann die emphatische Vernunft und die Verrücktheit der Religiosität nicht akzeptieren. Dieser Konflikt ist das Problem des antiken Dramas. Wie war Grübers Interpretation? Grüber hat die Tragödie vermutlich anders gelesen, als Euripides sie meinte. Für Euripides war es ein Problem, dass ein in der griechischen Aufklärung längst aufgegebener, alter Blutkult zu dem Zeitpunkt, als er das Stück in Athen schrieb, wieder auflebte – fast in Form von Schwarzen Messen in Kellern. Grüber interpretierte das Stück als Niedergang der die Polis anstiftenden politischen Vernunft, als eine Art Dammbruch. Wenn Sie auf den traumatisierten Raum und das Unterdrückte zu sprechen kommen, auf das Nicht-mehr-zu-Deckelnde, was sich in Form von Schlamm und Naturalien im Bühnenboden befindet, so kann man sehr schön sehen, dass in der Szene, in der die Bakchen den Boden aufbrechen und ihn entbergen, es offenbar darum geht, dass Grüber mit einem sehr kritischen Blick auf die Kultur in der Traditionslinie zu Pentheus und zur griechischen Antike sah, aber auch einen sehr kritischen Blick auf die Kultur der Aufklärung hatte. Er sah diese Kultur als eine, die sowohl äußerlich unter einem starken Druck ist, aber sich auch unter dem Binnendruck der Profilierung der eigenen, am Gegner stehenden Kultur befindet, einer Kultur also, die immer davon bedroht ist, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Ein zu jener Zeit seltener Blick. Dieser Blick war vielleicht auch für mich als jungen Menschen mit Anfang 20 von Interesse. In dem Alter ist man auf der Suche nach der eigenen Identität, ist sehr instabil und über sich selbst im Unklaren. Das Faszinierende am Bühnenbild ist, dass die Identität des Staates und die Welt des Pentheus ständig auf der Kippe stehen, sie müssen ständig in einem sensiblen Gleichgewicht gehalten werden. Pentheus’ Welt ist ein aufgeklärter und rationaler Raum. Auch am Darsteller Bruno Ganz kann man dies zeigen: Dieser schöne, junge Mann, extrem toll frisiert, trat bis auf einen Penisgürtel vollkommen nackt auf. Pentheus trat in der athenischen, cleanen und sauberen Halle mit einer Feuchtigkeitsschicht auf, sein Körper war mit einem Spray besprüht worden. Diese Halle wurde außerdem von Männern in Fechtanzügen mit Kehrmaschinen geputzt. Diese cleane, reine, weiße Welt war nur um den Preis zu haben, dass das andere Prinzip, das Gegenläufige, ausgegrenzt wird. In dieser Perspektive sehe ich Grüber in seinem Denken oder vielmehr in seinem Fühlen doch sehr stark als alten 68er. In seiner Bildwelt hat er sehr viel mit der Frankfurter Schule zu tun – mit der Idee von

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Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, dass Aufklärung irgendwann in ihr Gegenteil umschlägt, in eine radikal gewordene mythische Angst. Adorno und Horkheimer sagen dies in ihrer Studie Dialektik der Aufklärung immer mit Blick darauf, dass sie sich zu erklären versuchten, dass Menschen in Konzentrationslagern andere Menschen, jüdische Menschen, zu Beethoven-Klaviermusik zu Tode quälten. Gab es für diese Interpretation auch einen Einfluss von französischen Philosophen oder Soziologen? Aufgrund seiner Nähe zu Frankreich ist Grüber in seiner Bildwelt auch sehr nahe zu Michel Foucault, der in mehreren Büchern, in Sexualität und Wahrheit, Wahnsinn und Gesellschaft, Überwachen und Strafen immer wieder zeigte, dass die elementaren Szenen unserer zivilisatorischen Kultur eine Kultur der Unterdrückung und Ausgrenzung des Anderen sind und bleiben – dieser überall präsenten und verdeckten Traumata. Da Sie Foucaults Analyse des Wahnsinns erwähnen: Am Beginn von Grübers Bakchen liegt Michael König als Rauschgott Dionysos auf einer Krankenhausbahre, er sagt zunächst wie in einer schizoiden Spaltung immer wieder nur ein Wort: Ich, ich, ich. In einem Band über die Schaubühne von Peter Iden sah ich mir die Protokolle dieser Produktion an. Es ist damals alles im Ensemble besprochen, diskutiert und protokolliert worden. Grüber hat offenbar zu erklären versucht, dass dieser Gott Dionysos nicht nur aufgrund seiner mythischen Herkunft das Gegenbild zu dieser Kultur ist, sondern vom Selbstverständnis dieser aufklärerischen Kultur in ihr keinen Ort finden kann. Sie haben sich entschieden, Dionysos als einen kranken Psychotiker zu zeigen. Auch hier haben wir einen jungen, schönen Mann, der auf der Krankenhausbahre wie hingegossen liegt. An den Filmaufnahmen kann man besonders schön sehen, dass er von seiner körperlichen Nacktheit, von seinen weißen Kreide- und Lehmspuren am Körper durchaus Pentheus verwandt ist, auch von den kostümbildnerisch aufgetragenen Aschespuren seiner Blitzgeburt. Dionysos wird sozusagen aus dem Feuer geboren. Michael König konnte damals mit seinen blonden Locken auch etwas Apollinisches darstellen und ausstrahlen, aber er liegt eben in einem klinisch weißen Raum unter greller Beleuchtung auf einer Klinikbahre und stammelt die Worte »Ich«. Er braucht sehr lange, bis er die Wörter »bin« und »Dionysos« sagt und damit seine Identität auch über das Verb von »sein« bestimmt. Er ist ein diesen Verhältnissen vollkommen entfremdeter Psychotiker, also derjenige, der an der Welt krank geworden und durch die Welt anderen Sinnes ist, im positiven Sinn

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Michael König (Dionysos), Eberhard Feik (Person in der Szene), Schaubühne, Philips-PavillonMessegelände, Berlin, 1974.

ver-rückt. Aus der Bahn des normalen Denkens geworfen kann er in dieser Welt sich nicht mehr kommunizieren. Die Ich-Spaltung kann nicht mehr aufgehoben werden? Der polnische Theaterkritiker Jan Kott hat diese Dimension einmal auf eine andere Ebene gehoben und in seinem Buch Gott-Essen sehr schön erklärt, dass die Bakchen für ihn eine Art griechisches Passionsspiel sind. Er hat die Bakchen sehr stark so gelesen, dass eine christologische Gestalt, Dionysos, in vieler Hinsicht kulturgeschichtlich der Vorläufer von Christus und des christlichen Mythos

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Gespräch mit Friedemann Kreuder

ist. Dionysos versucht im Grunde, eine mythische Wahrheit oder eine andere Wahrheit seines Seins in Menschengestalt in einer Sprache zu fassen, die in der Sprache der menschlichen Rationalität und schon gar nicht in der von Pentheus kommuniziert werden kann. Deshalb wird Dionysos als Sprachgestörter oder wie ein Kind vor der Sprach- und Identiätsbildung als stammelnder Psychotiker gezeigt. Diese Bilder brennen sich über Jahre hinweg ein. Um nur eines zu nennen: Wenn Dionysos, wie um sich selbst zur Vernunft zu bringen, sich mit den Zeigefingern in die Hohlräume der eigenen Augen bohrt, um sich zu vergegenwärtigen, dass ihn der Blitz getroffen und bei seiner Mutter die Geburt ausgelöst hatte. Dionysos versucht, das Unbegreifbare in Menschengestalt und in der ihm in der Pentheus-Welt gegebenen Sprache auszusprechen. Wie sehr er darunter leidet, überhaupt nur versuchen zu müssen, das Unausdrückbare, das Unsagbare in der eigenen Zeit zur Sprache zu bringen. Grüber erarbeitete nicht nur eine klare rhythmisierte Sprache, er schuf, um diese Emotionen darzustellen, enorme Räume, existenzielle Tiefen-Räume. Das Faszinierende an den Grüber-Arbeiten sind die entfesselten Bildräume. Ich glaube, dass er wegen dieser zum Teil in den 70er Jahren vollkommen surreal entfesselte Bilder machte. Es geht hier tatsächlich um eine philosophische Dimension von Sein, die er nirgendwo anders als auf dem Theater zur Sprache hätte bringen und kommunizieren können – im historischen Tiefenraum von Schauspielern, die sich zum Teil in einer Sprache aus einer völlig anderen Zeit vermittelten. Das Schöne an den Bildern ist, man kann sich in ihrer Interpretation festlegen, wie ich es getan habe, aber es gibt bestimmt 200 denkbare Varianten. Diese Bilder sind reich und können letztlich nicht wirklich aufgelöst werden. Es ist ein unglaublich reiches und in viele Richtungen weisendes Material, das im Grunde genommen die Komplexität der Welt darstellt, ohne die Komplexität zu reduzieren. Grüber erklärt die komplexe Welt, indem er sie als komplexe Welt belässt. Das sah ich auch bei vergleichbaren Regisseuren dieser Generation nicht. Das Unsagbare, das sich im Schrei entlädt und so eine Form der Äußerung findet. Ist Agaues extrem lang gezogener Schrei am Ende der Inszenierung ein Echo auf das psychotische Stammeln von Dionysos zu Beginn? Das ist eine sehr schöne Idee, die Problematik dieses Stücks hängt damit zusammen. Man müsste den Gedanken riskieren, dass jemand in den Berliner Dom käme und sagte, er wäre Jesus Christus. Diese Person wäre nicht so einfach über das Jerusalem-Syndrom zu erledigen. Diese Person würde die Hand heben, und es würde auf einmal für kurze Zeit komplett dunkel werden, und dann würde

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wieder die Sonne scheinen, und die Leute müssten sich damit auseinandersetzen, dass es andere religiöse Dimensionen gibt. Das Risiko dieser Figur ist es, dass sie eine andere Wahrheit hat, eine unterdrückte Wahrheit, und auch eine andere Seinsform beschwört. Das geht sehr stark mit Martin Heideggers Philosophie der Erwartung überein. Dieses Denken kann auch über Jacques Derrida gedacht werden oder über Manfred Franks Idee des kommenden Gottes, der sich über die schmerzhaft fühlbare Abwesenheit kommuniziert. Diese Art von Denken oder diese Art von Bildwelt riskierte Grüber. Dionysos setzt sich in der Inszenierung durch und auch fort. Das unerlöste Stammeln wird in einer Sprache beantwortet, in der sich das gar nicht einhegen kann, was er sagen will. Es entlädt sich am Ende in einem Schrei, der am Ende der Geschichte das unermessliche Grauen nicht zu benennen weiß. Es ist bei Grüber immer der unberechenbare und auch keineswegs in die aufklärerische Vorstellung einhegbare und einzwingbare Mensch. Es ist das Inkommensurable der menschlichen Existenz? Es geht bei Grüber um die reiche und nicht abschätzbare Dimension des Wirklichen und des Menschlichen. Die Bakchen sind in den 70er Jahren von Günther Rühle, damals noch Theaterkritiker, als Grübers Kommentar auf die virulenten Möge-doch- und Soll-doch-Vorstellungen der zeitgenössischen APO gesehen worden, die 1974, als die Inszenierung herauskam, schon ihrer ersten ganz großen Depression entgegenging, wenn es die APO als virulente politische Kraft überhaupt noch gab. Die Inszenierung wurde auch als eine Reflexion der Sehnsucht nach Rückzug und den hippiesken Paradiesen jener Zeit verstanden. Als Kritiker konnte man die ethnologisch anmutenden Umhänge der Bakchen, diese Schlangenhäute und die nach dem Modell antiker Vasen gezeichneten Gesichter, diese mänadischen Gesichtszüge, und auch die umgehängten Felle im Sinne dieser Paradiese deuten. Als Wunsch nach dem Rückzug zur Natur oder nach einem Leben in einer natürlichen Spontanität, auch einer vergemeinschafteten Sexualität, wie sie in der Hippiebewegung sehr en vogue war. Grüber zeigt einerseits, was hier zwischenzeitlich als Idylle oder als mögliche gesellschaftliche Lösung alternativ zur Wirklichkeit, Politik, Gemeinschaft und Familie in der Gemeinschaft der Bakchen gedacht wird: Die Bakchen befinden sich schon bei Euripides auf Weiden hingelagert und sind bukolisch auch jenseits der Geschlechternormen, der Polizei und gesellschaftlichen Ordnung. Grüber zeigt andererseits aber auch, dass diese Kräfte, wenn sie frei und ungebunden sind und gesellschaftlich ungeformt bleiben, sich zu einer brutalen Gewalt entfesseln können. So kann man diese Bilder auch lesen. Grübers Interpretation ist in der 68-er-Generation eine große Leistung angesichts der Bewegung jener Zeit, die eine Bewegung der Studierenden ohne ein Mandat der Arbeit war.

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Gespräch mit Friedemann Kreuder

Wie verstehen Sie Grübers Theater in politischer Hinsicht? Angesichts der bürgerlich-intellektuellen Szene in Berlin, auch der elektrisierten Stimmung jener Zeit verschloss Grüber sich offenbar auf eine merkwürdige und doch nachvollziehbare skeptische Weise, den ansteckenden Vorstellungen von alternativen Gemeinschaften, von WGs und studentischer Freiheit, oder auch einer Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft in den Kommunen. Er durchschaute die Widersprüche der neuen Linken in der Weise, dass er den damals realpolitischen, mit vielem guten Grund und auch mit sehr viel Überzeugungs kraft gelebten, neuen Utopien misstraute. Er misstraute sowohl der alten nationalsozialistischen Gesellschaft, die er als Kind noch erlebt hatte, wie auch eben diesen neuen Utopien. Ich sehe ihn sehr stark als Linken, aber als einen sehr reflektierten, skeptisch-nüchternen, harten Linken, der sich nicht von den Manmöge-doch-Vorstellungen und schnellen Ideen einer schicken Politisierung betrügen lässt. Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung. Sie haben sich in Ihrer Studie intensiv mit den Formen der Erinnerung beschäftigt. Grüber verließ immer wieder die fürs Theater reservierten Räume. Er ging bei der Winterreise ins Olympiastadion, bei Rudi ins Hotel Esplanade am Potsdamer Platz, die Uraufführung von Jorge Semprúns Stück Bleiche Mutter, zarte Schwester fand auf einem ehemaligen sowjetischen Soldatenfriedhof in der Nähe von Weimar statt. Wie ist die Frage der Erinnerung in Rudi behandelt worden? Rudi inszenierte Grüber 1979 im Hotel Esplanade. Das war die Ruine eines in den 30er Jahren in Berlin mondänen Hotels, in dem Greta Garbo und Charlie Chaplin abstiegen und in dem auch Modeschauen stattfanden. Das Hotel Esplanade gehört zu jenem Mythos, den man mit den roaring twenties und den wilden 30-er Jahre identifiziert, bei denen oft vergessen wird, dass sie nicht nur die Zeit einer aufkeimenden Avantgarde und eines neuen modernen Lebensgefühls waren, der Angestellten-Kultur und einer fortschrittlich motorisierten Moderne, sondern dass sie gleichzeitig auch massenweise Biographien zerstörten. Allein in der Weimarer Republik, durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen, waren die 20er- und 30er-Jahre nur für bestimmte Gesellschaftsschichten wild oder roaring. Diese Schichten trafen sich im Hotel Esplanade. Als Grüber dieses Hotel für seine künstlerischen Zwecke nutzte, war es seit dem Kriegsende nur noch die Ruine. Meines Wissens war es auch ein Berliner Geheimtipp. Nick Cave & The Bad Seeds gastierten einmal in dem Hotel. Das Hotel Esplanade war eine Ruine im Niemandsland zwischen der Mauer und jenem Areal, das vom Potsdamer Platz übriggeblieben war. Das Areal war damals auch mehr oder weniger eine Wüste, es war kein Hochglanz-Areal wie heutzutage, in dem nun die Berliner

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Filmfestspiele stattfinden. An diesem vergessenen und verlassenen Ort der Berliner Geschichte inszenierte Grüber Bernard von Brentanos Erzählung Rudi. Das habe ich durch Grüber sehen gelernt: Kaum eine Stadt in Deutschland ist bis heute mit den Narben des Krieges so gezeichnet wie Berlin – auch in der Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik bis hin zu immer noch vorhandenen Schäden und Einschüssen von Maschinengewehren in den Außenfassaden. Grüber ging an einen Ort, der als Ruine von der Berliner Kriegsvergangenheit erzählte, von der unerledigten Vergangenheit und von der nach wie vor im Stadtgebilde wie eine Wunde sichtbaren deutschen Geschichte. Die Stadt als Palimpsest von Geschichte? Viele Jahre nachdem ich dieses Buch geschrieben hatte, bekam ich die Möglichkeit, die Akten der Schaubühne durchzusehen. Rudi war ursprünglich ein Stadtraum-Projekt der Schaubühne. Die Stadt nicht als kartographisch vermessenen und wirtschaftlich erfüllten Container-Raum zu verstehen, sondern als einen Raum zu begreifen, der jeden Tag neu und anders erfüllt wird und auch wieder verlassen wird. In der Kunst ist diese Herangehensweise heute ein sehr großes Thema, man denke nur an die Stadtperformances und die Produktionen jener Gruppen, die zum Teil in Form eines unsichtbaren Theaters in der städtischen Öffentlichkeit agieren. Die Schaubühne hatte offensichtlich schon sehr früh eine alternative Idee von Theater und wollte performative Installationen realisieren. Grüber positioniert einen Vorleser, vom großartigen Schauspieler Paul Burian gespielt, der eine Novelle des aufgrund seiner Nähe zur Regierung, wenn ich mich richtig erinnere, war es der Außenminister, sehr bekannten Schriftstellers Bernard von Brentano vorlas. Diese Novelle erzählt genau die Gegengeschichte zu den glanzvollen 30er Jahren, sie spielt im Arbeitermilieu. Ein kleiner Junge lebt in einer völlig benachteiligten Familie, bei einer Mutter, die sich prostituiert, er wächst ohne Vater auf. Die Mutter vermietet, was damals in Berlin üblich war, ihr Bett zwölf Stunden lang als Schlafplatz. Sie lernt einen Kommunisten kennen und begeistert sich für ihn und, um ihm zu imponieren, für ein Attentat, das er plant. Handgranaten sollen in einem Kanalrohr versteckt werden. Der Junge kommt ums Leben, als er eine Handgranate verstecken will. Es ist eine Geschichte, die in den Arbeitervierteln spielt, in den Lichtanlagen der Frankfurter Allee. Es ist die Geschichte eines Jungen vor dem Frühling seiner Revolution. Der Junge stirbt vor der Revolution. Es ist in vieler Hinsicht eine Reflexion auf die gescheiterte Kommunisten-Bewegung in Deutschland und die verspätete Nation. Wie war diese Inszenierung bzw. diese Performance, wie wir heute sagen würden, angelegt?

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Gespräch mit Friedemann Kreuder

Im Hotel Esplanade situierte Grüber verschiedene Bilder, Andeutungen, die auf die Geschichte Rudis zurückverweisen könnten, während der Schauspieler Paul Burian die Novelle las, die zeitlich und räumlich in die verschiedenen, installativ dekorierten Räume des Hotels versetzt und übertragen wurde. 99 Zuschauer schritten pro Aufführung durch diese Räume. Schenkt man den zeitgenössischen Kritikern Glauben, setzten sich die Zuschauer am Ende der Tour zum Teil auch zusammen und sprachen darüber, was sie gerade gehört oder gesehen hatten. Letztendlich hatte jede Person ihren eigenen Ausblick auf das Erzählte, keine Person hatte die vollständige Geschichte gehört. Es war eine komplett fragmentierte Geschichte, die auch als verschwindende und gebrochene in der Räumlichkeit dieses Hotels präsent war. Ich sehe in Grübers Arbeiten insgesamt eine große visionäre Kraft: Was später nicht nur am Theater, sondern vor allem in der bildenden Kunst und auch in der Denkmalkunst sehr bedeutend wurde – gerade im Blick auf die völlige Unmöglichkeit der zweiten und dritten Generation – die Shoa, den jüdischen Genozid und die Grausamkeiten des Nationalsozialismus in ihrer Unvorstellbarkeit abzubilden, traf Grüber die Entscheidung, Denkmäler oder Gedächtnisorte zu schaffen, die immer im Horizont und im Rahmen des Verschwindens und der Unmöglichkeit der eigenen Erinnerung gedacht sind. So begegnet man Ein- und Ausblicken auf die Geschichte von Rudi, aber immer nur dem Fragment und der Ruine einer Geschichte. Man fängt an, sich dafür zu interessieren und versucht zu verstehen, was an einem ruinösen Ort angedacht ist – in der verschwindenden Form die Erzählung dem Verschwinden zu entreißen. Diese Inszenierung ist so geschickt erarbeitet, zu ihrer Zeit zählte sie keineswegs zu Grübers stärksten Arbeiten. In vielerlei Hinsicht verabschiedeten die Kritiker diese Produktion als links-intellektuelles Spinnertum. Ich halte Rudi für eine sehr wesentliche Arbeit. Rudi ist Ende der 70er Jahre erarbeitet worden, Willy Brandt war nicht mehr an der Regierung, die Terroristenverfolgung und Terroristenjagden hatten begonnen. Heute sieht man, welche Klaviatur Grüber beherrschte: Inszenierungen an traditionellen Opernhäusern, er inszenierte schon 1976 eine Walküre an der Opéra Paris, und drei Jahre später in einer Ruine, in einem Niemandsland, letztendlich eine Installation avant la lettre. Sieht man heute, was Gedächtniskünstler wie Jochen Gerz, Esther Shalev-Gerz u. a. in der bildenden Kunst machen, kann man erkennen, wie visionär Grübers Arbeit war. Könnte man bei Grübers Theater von einer Vermittlung im Fragment sprechen? Das ist ein spannender Begriff. Das Fragment hat in der Idee seines Begriffs immer die Vorstellung einer verloren gegangenen Ganzheit. Das Fragment verweist wie ein amputiertes Körperteil immer auf die verloren gegangene organische Ganzheit seiner Funktionalität. Das Interessante des Fragmentarischen bei Grüber ist, dass es ihm in dieser Inszenierung gar nicht darum geht, im Fragment

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zwingend oder begrüßenswert eine Idee von Ganzheit überhaupt aufscheinen zu lassen, selbst wenn es diese Idee einmal gegeben haben könnte. Grüber hat sehr viel mit der Idee von Walter Benjamin in den Thesen zur Geschichtsschreibung, im Aufsatz Über den Begriff der Geschichte, gemein, häufig auch als geschichtsphilosophische Thesen zitiert. Benjamin sagt, in der Geschichte ist nicht – in einer Art von Reproduktion der Siegergeschichte – eine in sich geschlossene und möglichst auch eine nationale Identität verbürgende Ganzheit anzustreben, sondern Benjamin sieht Geschichtsschreibung auch, angesichts seiner eigenen verfolgten Biographie im Nationalsozialismus, als eine Art Rettung oder als Möglichkeit, einen Ausnahmezustand zur Sprache zu bringen und gerade neue Formen von historischem Bewusstsein intellektuell ins Lebensrettende zu erschaffen. Benjamin sagt, man muss die Geschichtsschreibung als marxistischer Historiker eigentlich so betreiben, dass man Fragmente aus der vermeintlich gemachten Geschichte herausbricht und sie im Bewusstseinshorizont der eigenen Bedrohung und Gefahr, auch der eigenen Zeit neu und anders ins Licht der Erkennbarkeit rücken lässt. Die Fragmente der Geschichte, das ist natürlich der Messianismus bei Walter Benjamin, setzen sich natürlich anders und so zusammen, dass sie unter Umständen auch Aufschlüsse auf eine zukünftige, andere Welt, ein promessable bonheur, geben. Grüber hat sehr stark und viel in der Kategorie gedacht, die Walter Benjamin als Allegorie bezeichnete. In Benjamins Kreuzung von Marxismus und jüdischem Geschichtsdenken werden die Fragmente so miteinander verbunden, dass die wahre Bedeutung der Dinge, auch wenn sie für uns sozusagen als Trümmer und als unüberschaubares Chaos im Rücken, im Vergangenen liegen, sich neu und anders als Erkenntnismomente in der Zukunft zusammensetzen. Dieses historische Denken hat ein sehr großes Hoffnungspotenzial. Es ist eine neue Sicht des Vergangenen, die einem hilft, in Krisen der Gegenwart einen anderen Zukunftsentwurf zu entwickeln. Das geht unglaublich stark mit Grübers Beziehung zu Hölderlin zusammen. Grüber ist nicht weit entfernt von Hölderlins Geburtsort in Neckarelz geboren worden. In der Hoffnungslosigkeit der revolutionären Einschätzung kommt Grüber von Benjamin oder Hölderlin her die Idee: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!« Das ist eine Rückbesinnung auf das Gewordene und Vergangene. Bei Benjamin werden durch das Einstehen der Zeit und durch das Eingedenken aus dem zeitlichen Kontinuum, Fragmente einer geladenen Vergangenheit herausgesprengt. Dieses Heraussprengen von Fragmenten ist Grüber sehr nahe. In der Fernsehaufzeichnung der Winterreise ist deutlich ein Plakat der Terroristenfahndung zu sehen. In dem Stadion, in dem 1936 die Olympischen Spiele stattfanden, Hitler saß bei den Wettkämpfen auf der Ehrentribüne, setzt Grüber die verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte miteinander in Beziehung. Auf

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der großen Anzeigetafel, auf der sonst der Spielstand der Bundesliga-Spiele zu sehen war, leuchteten Verse von Hölderlin auf. Die Verse schienen wie in goldenen Lettern als Leuchtschrift im Berliner Olympiastadion auf. Verse wie: »Aber das Irrsal/ Hilft, wie Schlummer, und stark machet die Not und die Nacht,/ Bis dass Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen,/ Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind./ Donnernd kommen sie drauf.« Die Hölderlin-Verse kommen einem nicht so leicht über die Lippen. Gerade die Überschreibung des Berliner Olympiastadions, das war in Berlin längst nicht mehr nur der Raum der Olympiade von 1936. Durch die Pokal-Endspiele und die Bundesliga-Spiele von Hertha BSC war das Olympiastadion längst ein Berliner Ort geworden, d. h. von den Lebenswirklichkeiten eines neu sich orientierenden, selbstbewusst zu seinem Inseldasein stehenden Berlin mehrfach überschrieben, nicht nur im Sinne einer politikvergessenen oder politikverdrossenen Vergangenheitsabschiebung. Das Hotel Esplanade war ein lebensmäßig angenommener Ort. Natürlich ist es sehr spannend, dass Grüber diesen Ort neu und anders überschrieben hat, indem er eine Lektüre von Hölderlin vornimmt, z. B. das Irrsal, das wie Schlummer helfe, hat er in mancher Hinsicht abgebildet in den Sprints und Läufen, die der Stabhochspringer und die Hürdenläufer während der Aufführung vollziehen. Auch der Hyperion-Darsteller, der von Willem Menne gespielte Wanderer durch die Nacht, unternimmt eine unglaubliche Anstrengung, er spricht Verse wie »Wir wollen wachsen dahinauf, und dorthinaus die Äste und die Zweige breiten und Boden und Wetter bringt uns doch, wohin es geht, und wenn der Blitz auf deine Krone fällt, und bis zur Wurzel dich hinunterspaltet, armer Baum! was geht es dich an?«, während er keuchend läuft und schließlich auch in die Hürden hineinläuft und stolpert. Dieses Irrsal, in vieler Hinsicht die Hölderlinsche Biographie, auch die scheiternde revolutionäre Biographie, die scheiternde terroristische Biographie und die Terroristen-Hatz reflektierend, die irre Erschöpfung Andersdenkender und ins Irrsal Geratender – das war durch die Überschreibung des Raums durch Hölderlin alles präsent gemacht worden und hat auch schlicht und ergreifend diesen Ort abständig befremdet. Ich lernte an der Freien Universität Berlin, ich hatte Kollegen aus der älteren Generation, die diese Aufführung gesehen hatten und unter den paar Hundert Leuten waren, die auf der Westtribüne diese Aufführung verfolgt hatten. Was erzählten Ihre Kollegen Ihnen über die Winterreise? Die Zuschauer befanden sich im Berliner Olympiastadion ziemlich weit weg von der Leichtathletik-Bahn und von der ersten Linie des Fußballfelds, an der eingeworfen wird. Bei der Premiere fiel unglücklicherweise die Lautsprecheranlage

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Winterreise im Olympiastadion, Ensembleszene, Berlin, 1977.

aus, so dass man die Darsteller in diesem von Antonio Recalcati mit verschiedenen Kulissenbauten – z.B. des Portals des Anhalter Bahnhofs oder einer Zeltlandschaft – überschriebenen Ortes nur diffus gehört hat. Man vernahm nur in die Nacht gekrähte Schreie. Die Akteure waren beinahe ameisengroß weit von den Zuschauern entfernt. Es sei sehr schwer zu verstehen gewesen, was da überhaupt gespielt wurde. Durch den Super-8-Film von Wolfgang Knigge, der verschiedene Proben und die Aufführung dokumentierte, kommt man sehr nahe an diese Aufführung und an die legendäre Imbissbude am Anhalter Bahnhof, wo das Terroristen-Fahndungsplakat angebracht war. In der Perspektive der Zuschauer war dies ein nicht im Mindesten erkennbares Detail. Vor Ort war es eine Aufführung, die sich auf den Briefroman Hyperion beziehen sollte, ein sehr ungewöhnliches und sperriges Material für diese Zeit. Heute ist es im Theater gang und gäbe, dass man sich auf episches Material – auf Literatur, auf Brief-

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romane – bezieht. Das machte Grüber schon sehr früh. Die Zuschauer hatten ein sehr starkes Erlebnis von Distanz und Abständigkeit – auch zum revolutionären Denken Hölderlins. Die Geschichte von Hölderlin und seine Beziehung zu Isaac von Sinclair verklang und verhallte fast wirkungslos – wie ohnmächtig erschöpft – in diesem überwältigenden Betonrund. So kann man die Aufführung auch sehen: Als diffuses, nicht zu identifizierendes, merkwürdiges Ereignis von gerade in der Premiere viel zu leisen, nicht verstärkten Stimmen, die verzweifelt versuchen, sich durchzusetzen, bei den weiteren Aufführungen zum Teil noch in Winternächten mit Schnee. Wenn man so will, wie Hölderlin dies an seinen Bruder schrieb, unter eiskaltem Himmelsstrich, in der eiskalten Zone des Absolutismus oder auch des zeitgenössischen als absolut repressiv empfundenen bundesrepublikanischen Regimes eine untergehende revolutionäre Kraft. Auch diese Idee, dass Hölderlin im Patmos-Gedicht seine eigenen Enttäuschungen verarbeitet. Diese Erschöpfung, das Außer-Atem-Sein, ständig unterwegs zu sein, auf der Flucht, auf der Wanderschaft zu sein – das sind sehr zentrale Themen in Grübers Theater. Gerade wenn man an seine Inszenierung von Anton P. Tschechows An der großen Straße von 1984 denkt, wo Pilger und Wanderer für eine Nacht in einer Kneipe zusammenkommen. Sie kommen in einer Spelunke an, erzählen sich ihre tiefen Nöte, und am Morgen brechen sie wieder auf. Blitze erhellen diese Herberge, in der die Pilger und Gottsucher hoffen, für eine Nacht Ruhe und Schutz zu finden. In diesen Menschen lodert das Feuer einer alles verzehrenden, inneren Unruhe. Grüber war ein passagerer Mensch, aber nicht wie die Flaneure Walter Benjamins, die sich angesichts der Berliner Moderne fast wie Parvenüs nach der Kindheit um 1900 zurücksehnen. Grüber war auch kein passagerer Mensch in dem Sinne, dass er sich in emphatischer Weise die Moderne als Weltreisender oder Ozeanflieger aneignet. Er ist einer dieser unermüdlichen und teilweise auch quälend bis zur Erschöpfung getriebenen Wanderer. Mit Angelus Silesius gesprochen, einer dieser Wandersmänner. Die Passage ist wie eine lebenslange Pilgerschaft, aber ohne den Horizont einer gegebenen oder gar möglichen Vergewisserung eines höheren Prinzips. Grüber ist kein Pilger, der sich in der Nachfolge Christi 33 Tage aufmacht, sondern er ist einer, der sich auf der Pilgerschaft die Frage des Menschlichen überhaupt erst stellt und sich deshalb lebenslang in einem Zustand befindet, in dem jede neue Erkenntnis die vorherige ablöst. Als Wanderer reformulierte Grüber ständig die Frage des Seins und des Menschlichen. Das ist in der Winterreise sehr stark zu spüren. Es wird, wenn ich mich richtig erinnere, aus Hölderlins Gedicht Brod und Wein zitiert. Man denke in der Frage auch an Hölderlins sehr eigene, antikatholische, philosophische Relektüre des Drei-Königs-Mythos oder auch des christlichen Mythos. Genauso

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wie Hölderlin ist auch Grüber an seinem eigenen kirchlichen Hintergrund verzweifelt. Hölderlin versuchte, über seine eigene Gottesidee, sie lag irgendwo zwischen seinen Studien im Tübinger Stift und christologischen Vorstellungen sowie den Reflexionen über den Gott Dionysos, eine Idee zu erschließen, dass in der fühlbaren Abwesenheit von Gewissheit oder in der Unruhe, die immer wieder nur eine Station auf einer metaphysischen Suche ist, die conditio humana zu sehen ist. Ich sehe die Parallele von Hölderlin und Grüber gerade in der schmerzhaft fühlbaren Abwesenheit von Gewissheit, sich den möglichen Horizont der eigenen Pilgerschaft zu erschließen. In der Winterreise erscheinen folgende Verse als Leuchtschrift auf der großen Anzeigetafel: »Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,/ Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.« Das bezieht sich auf die Heiligen Drei Könige, die wissen genau, wo sie hinwollen, sie haben einen Auftrag, sie sehen nach dem Stern. Der Mensch wird von Grüber als homo viator gesehen? Grüber ist als Wanderer lebenslang immer in Bewegung. Er hat diesen Auftrag, er hat den möglichen Sinn gesucht. In dieser Perspektive sehe ich ihn sehr stark. An der großen Straße ist für mich deshalb eine faszinierende Inszenierung, weil sie eine Station völliger Unruhe erzählt hat. Eine Station fast wie in einem Antoine Watteau-Gemälde, hingestreckt die Figuren, fast zur Bildlichkeit der Ruhe erstarrt. Die Menschen sind einerseits in einem Zustand der Erschöpfung, andererseits völlig übernächtigt und in der Übernächtigung völlig unvergemeinschaftet, ungesellschaftlich, doch ihrer selbst bewusst und völlig klar. An der großen Straße ist ein total nervöses Stück, vegetativ sind die Figuren völlig unruhig, unglaublich unerlöst, zwischenzeitlich in ihrer Unruhe stillgestellt. Sieht man umgekehrt diese Menschen in ihrer Dynamik, wenn sie am nächsten Tag wieder aufbrechen, werden sie für eine Idee oder ihren Glauben aufbrechen, aber auch wiederum nur aus Erschöpfung und aus dem Scheitern heraus. Durch die Grenzen des Physischen kommen sie zum Stillstand. Das ist natürlich kein Frieden, sondern eine völlige Unerlöstheit. Da wir ans Ende des Gesprächs kommen, noch eine Frage: Worin sehen Sie die Bedeutung von Grüber für das deutschsprachige und europäische Theater? Grüber hat in Italien, Spanien, Frankreich, England, Österreich, in der Schweiz und in den Niederlanden gearbeitet. Es ist, ganz offen gestanden, nahezu unmöglich, Grüber zu ordnen. Er ist von Günther Rühle auf einer Linie mit Regisseuren seiner Zeit geordnet worden, auf einer Linie der historischen Avantgarde in der Weimarer Republik, in vielerlei Hinsicht verstand man die Inszenierungen der 60er- und 70er Jahre – vor allem

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Gespräch mit Friedemann Kreuder

die der Schaubühne – als Antwort auf das Versprechen früherer Inszenierungen und früherer Regisseure. Grüber ist als sehr stark die eigenen Sinnakzente in den Vordergrund stellender, viel streichender, interpretierender Regisseur mit Hans Neuenfels oder eben auch mit Peter Stein zusammengedacht worden. Er ist auch mit der Idee eines Jessnerschen Theaters in Verbindung gebracht worden und wurde gegen den magischen Realismus eines Max Reinhardt oder später eines Peter Brook abgesetzt. Das halte ich für ebenso problematisch wie ihn jetzt schlechterdings aus seinem starken französischen Hintergrund erklären zu wollen. Gerade was die Bildwelt seiner Inszenierungen ausmacht, gibt es bei Grüber einen direkten Kontakt zu Impulsen aus der bildenden Kunst. Gilles Aillaud, Eduardo Arroyo, Francis Biras und Antonio Recalcati sind alles eigenständige Künstler, keine klassische Bühnenbildner, sondern Mitarbeiter, die von außen in den Theaterbetrieb einbrachen. Sie brachten sehr stark ihre eigenen künstlerischen Empfindungen im Umfeld des Pariser Surrealismus ins Theater ein. Man wird Grüber nicht leicht einordnen können, auch nicht mit dem Rüstzeug des Theaterhistorikers. Grüber ist übrigens von seinem großen Mailänder Hintergrund her bei Giorgio Strehler am kommunistischsten Theater Italiens, am Piccolo Teatro, ausgebildet worden, auf Empfehlung seines Lehrers Siegfried Melchinger. Grübers Theater hat einen starken Bezug zur Commedia dell’ arte. Das Gespräch wurde am 7. April 2017 von Klaus Dermutz geführt.

Gespräch mit Klaus Michael Grüber

»Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis«

Herr Grüber, Sie wurden am 4. Juni 1941 in Neckarelz geboren. Gezeugt wurden Sie ein Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. War Ihre Zeugung eine Reaktion des Lebens auf die Zerstörung des Krieges? Es kann so sein. Ich glaube, es war mehr so: Die klassische Pfarrfamilie besteht aus vier Kindern, ziemlich eng hintereinander. Nicht wegen des Krieges. Die Eltern – jeder in seiner Art verschieden – waren so starke Leute, dass die Zeugung nicht unbedingt durch äußere Einflüsse bedingt war. Wann wurde Ihr Vater eingezogen? Fragen Sie mich ein anderes Mal. Ich werde alles nachfragen. Was Sind Ihre ersten Erinnerungen der Kindheit? Das kann ich auch nicht sagen. Ich bin nachts aufgestanden und habe oben auf der Treppe meine Mutter gesehen. Ich war ungezogen, habe irgendetwas gemacht. Ich habe in der Nacht gesehen, wie sie verzweifelt war. Es gab das Geräusch von Bombeneinschlägen, denn gegenüber vom Neckar war eine unterirdische Messerschmitt-Fabrik.1 Diese Fabrik wurde als Ziel genommen, und im Dorf gab es sehr viele Einschläge. Das Geräusch höre ich irgendwo. Und ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal in den Genuss kam, irgendwo – nicht zu Hause, an dieser Brücke im freien Feld beim Fluss –, Feuer und ganz schwarz gebratene Kartoffeln, sie waren heiß, man machte sie auf und aß sie. Ich weiß nicht, wann diese Erinnerungen anzusiedeln sind, mit vier oder fünf Jahren, oder 1 »Es war eine Flugzeugmotorenfabrik von Daimler-Benz.« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 4. 4. 2020. Bis auf die letzte Fußnote stammen alle weiteren Erläuterungen aus der hier angegeben E-Mail.

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Kläre und Otto Grüber an der Nordsee, Büsum, Mitte der 1950er Jahre.

ob alle im gleichen Jahr mit acht waren. Ich habe keine Ahnung. Ich sehe keinen Grund, irgendetwas zu verdrängen, aber ich habe überhaupt keine Erinnerungen und kein chronologisches Gedächtnis. Aber das geht mir auch heute so. Wenn Sie sagen, Sie haben Kleists Amphitryon so und so viele Jahre nach Labiches Affaire Rue de Lourcine gemacht, und Sie sagen das Umgekehrte, so kann das auch stimmen. Ich habe in diesen Fragen wenig Gefühl, keine Ordnung im Kopf. Der Vater kam vom Fronturlaub nach Hause.2 Offensichtlich ja, aber ich erinnere mich, dass er nicht da war. In dem Moment war er da, als sich das ganze Dorf versammelt hat, die Glocken geläutet haben und es schulfrei war. Oben an der Treppe des Pfarrhauses, an der Tür stand meine Mutter mit einem Mann. Von da an ist er da gewesen.

2 »Der Vater kam während des Krieges mehrmals nach Hause. Diese Passage kann sich nur auf die Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft beziehen!«

»Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis«

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Das Glockengeläute war die Begrüßung für Ihren Vater? Ja. Es kam irgendwie die Nachricht, dass der Zug mit Heimkehrern ankommt. Offensichtlich wusste man auch, dass der Pfarrer Grüber dabei ist. Der Lehrer hat überraschend gesagt, es ist schulfrei. Mich hat nicht der Grund interessiert, warum schulfrei war. Dann ging der Lehrer in seine Schule, ins Pfarrhaus – zu mir. Dann das Glockengebimmel von der evangelischen und katholischen Kirche. Das Dorf versammelte sich im Pfarrhof. Im ersten Gesang der Odyssee gibt es eine schöne Stelle, in der es heißt, dass keiner weiß, wer sein Vater ist, außer man sagt es ihm. (Lacht) Offensichtlich war es wirklich so. Meine Mutter hat mich genommen und mir gesagt, das ist dein Vater. Für mich war es eine Vorstellung. Ich habe mich nicht gefragt, warum der Vater nicht von Anfang an da war. Vielleicht wenn man ganz tiefsinnig spürt, kann man in mir entdecken, dass ich erst so spät den Vater der Familie kennengelernt habe. Aber ich sehe das für mich nicht so. Hat Ihr Vater vom Krieg erzählt? Wenig. Viel, viel zu wenig. Das heißt nichts. Es war ein großes Problem. Und es wurde ein immer größeres Problem, desto bewusster ich wurde. Man macht sich seine Gedanken, man will es wissen, aber wagt es nicht zu fragen. Der zweitälteste Bruder hat, gelinde gesagt, ganz heftig daran geknappert, dass da die Erinnerung nicht aufgebaut wurde. Nicht zu wissen, auf welcher Seite du standest, wo du warst, was du gemacht hast. Je mehr das Ausmaß dieser Sache bewusst wurde, hatte man das Bedürfnis, nicht unbedingt von der Bekennenden Kirche zu hören, oder von Bonhoeffer und wie sie alle heißen, wo die Familie ist. Gut, der Vater – Bekennende Kirche, das wusste man. Irgendwann hatte meine Mutter davon erzählt, das war sehr spät, ich habe sie einmal darauf angesprochen. Ob es dann Scham war, auch die Sache der Gefangenschaft. Meinen Vater hat der halbe Hintern gefehlt, er hatte eine Riesenwunde. Das habe ich nie gesehen, aber mein Vater hat auch nie davon – noch von der Gefangenschaft erzählt. Aus Furcht? Es war sehr, sehr schwierig, sehr ungut. Uns hat der Vater sehr gefehlt. Meinem Bruder Peter hat er mehr als gefehlt. Es war eine sehr heftige Erziehung. Mein Vater hätte erzählen müssen, aber er konnte es nicht. Er hat oben auf der Kanzel geredet, das weiß ich noch. Beim Essen hat er kurz von einer Beerdigung usw. erzählt. Erst als älterer Herr war mein Vater gesprächiger. Dieses geschlossene Zimmer, in dem er seine Predigten vorbereitet hat, habe ich erst sehr spät kennengelernt. Der Vater ist lange Zeit schon sehr fremd gewesen.

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Ihr Vater war 40 Jahre alt, als er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkam. Es muss für Sie schwer gewesen sein, mit Ihrem Vater in Kontakt zu kommen? Nein. Meine Geschwister haben anders reagiert. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, was ein Vater ist, was ein Vater bedeutet. Mein Vater lebte da, und meine Mutter hat er nicht geschlagen. Die Beziehung zwischen den Eltern war schön. Ich fand das in Ordnung. Ihre Eltern haben sich geliebt? Ja, sehr. Ich will darauf nicht eingehen, wie das ist mit einem Pfarrer und einer Pfarrfrau, aber sie haben sich sehr geliebt – und zwar durchgehend. Die Mutter hat im Grunde genommen in seiner Abwesenheit in die vier offenen Mäuler immer etwas reingestopft, was wahnsinnig schwierig war. Ich übertreibe jetzt: Als er zurückkam und sich auf die Predigt vorbereitete, hatte sie noch immer die Mäuler zu stopfen, mit den paar Tomaten im Garten. Und wenn ein Nagel eingeschlagen werden musste, machte sie das. Nicht dass sich mein Vater zu vornehm war, aber zu unpraktisch. Mein Vater hat die Psalmen ausgelegt, aber nicht den Nagel in die Wand gemacht. Als Kind habe ich da manchmal gedacht: Menschenskind, er macht schon allerhand, aber das eine muss das andere nicht ausschließen. Das war so. Sind Sie auch in den Wald gegangen, um Nahrung zu suchen, Beeren? Ja. Es gab in der Nachbarschaft sehr viele Bauern. Ich erinnere mich an Schlachtfeste, vielleicht war ich einmal oder zweimal dabei. Wir haben alles aufgelesen, was von Bäumen fällt, auch die Dinger, aus denen man ein bisschen Öl machen kann. Es gab nichts, was wir nicht eingesammelt hätten, was die Natur von sich aus gab. Ich hatte wahnsinnig Hunger. Ich habe nie gelitten. Mitten in der Predigt ging die Tür auf, und ein kleiner Rotzbub flennte vor der ganzen Gemeinde: Mutter ich habe Hunger. Ich habe mir ein Stück Brot gewünscht, mochte es aber nicht mit meinen Geschwistern teilen. Ich habe mich im Klo eingeschlossen, um allein zu fressen. Solche Sachen weiß ich, aber ich habe nicht Hunger gelitten. Ich weiß, dass ich Hunger hatte, man sagte mir, dass wir kaum etwas zu essen haben, aber ich kann nicht sagen, dass ich eine Kindheit hatte, in der ich unter Hunger gelitten habe. Das stimmt nicht. Wie war das Leben, als Ihr Vater in Kriegsgefangenschaft war? Wurde am Abend gebetet?

»Mit Strehler war es ein Schüler-Meister-Verhältnis«

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Es wurde immer gebetet. Nee, es wurde bei den Mahlzeiten gebetet. Das immer und bis zum Schluss. Es haben nicht immer alle die Hände gefaltet. Es wurde respektiert, wenn einer nur die Hände einfach gehalten hat. Es wurde nicht rumgemosert und rumgemotzt. Wenn einer nicht die Hände gefaltet hat, wurde das von den anderen respektiert. Es wurde die Ruhe des Gebets nicht gestört. Waren Sie das Lieblingskind Ihrer Mutter? Da müssen Sie meine Mutter fragen. Und von Ihrer Empfindung her? Also meine Brüder, meine Geschwister sagen das. Sie sagen, bei dir lässt die Mutter es durchgehen. Oder: Sie horchte nur auf dich. So sagen sie es mehr oder minder spaßig. Wenn es stimmt – umso besser. Das ist mein Privileg. Dann war es so. Jetzt hat mir mein Bruder Martin, der Älteste, in einem Gespräch gesagt, dass die Mutter auf dich am meisten gehört hat.3 Obwohl wir grundverschieden sind, sind die Familienbeziehungen von einer unheimlich schönen, klaren Bindung. Jetzt rufen wir uns öfters an und sehen uns öfters. Aber auch früher wusste man, dass die Bindung da ist. Innerhalb der Geschwister haben wir entgegengesetzte Entwicklungen genommen. Man kann bei diesen Entwicklungen nicht vermuten, dass ein Pfarrhaus dahinter steht. Oder eine Familie, die zusammengehört. Und trotzdem ist es so und sehr schön. Es hat schon immer gestimmt. Es ist verwunderlich, dass Ihre Mutter auf Sie als jüngstes Kind am meisten gehört hat. Ich weiß nicht, wie sehr das Flachs von meinem Bruder Martin ist. Mir ist egal, ob er recht hat oder nicht. Ich nehme es halt, es macht mir Spaß. Wahrscheinlich stimmt es. Sie sind in einer Atmosphäre der Geborgenheit aufgewachsen. Des Zusammenhangs. Geborgenheit im guten, alten Sinn – dann ja. Aber nicht cosyness oder Nestwärme. Nee, es ist was anderes. Durch Bindung – das ja. Von

3 »Die Mutter hat alle Kinder geliebt, aber – vielleicht als gelernte Säuglingsschwester – ohne ›cosyness‹. Zu Klaus hatte sie eine besondere Beziehung, sei es, weil er der Jüngste war, oder wegen der Schwierigkeiten bei der Geburt. Klaus war eine besonders schwere Geburt und die Mutter wäre dabei fast verblutet, wie die Hebamme später erzählt hat (wir waren alle Hausgeburten).«

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

früh auf. Auch durch die Umstände war das Klima sehr hart, aber die Zugehörigkeit war da. Schrieb Ihr Vater während der Kriegsgefangenschaft Briefe nach Hause? Ich wollte da nicht nachfragen.4 Ich habe meine Mutter gebeten, dass ich das irgendwann einmal kriege. Und was durchkam, muss enorm sein, Kilometerbände. Das Wenige, das durchkam, muss enorm sein. In meiner Vorstellung ist es so, als hätten meine Eltern sich jeden Tag geschrieben. In meiner Vorstellung, die der Wahrheit nahe ist, ist die Linzertorte. Meine Mutter backt auch heute noch immer die Linzertorte und schickt sie zu Weihnachten in alle Welt. Zu Weihnachten kommt die Linzertorte. Das ist eine Torte, die sie immer gemacht hat. Auch wenn mein Vater die Tür aufmacht, ist die Linzertorte da. Die Linzertorte war immer da. Die Linzertorte war so, wie wenn man am Tisch sitzt und einen Stuhl freilässt. Das war immer da. Ich weiß, das ist schwierig, so etwas zu sagen. Natürlich war meine Mutter verzweifelt, allein zu sein. So ein starkes Vertrauen, dass die Tür aufgeht, und er ist da – und die Tür ist aufgegangen. Dieses Vertrauen ist schon etwas sehr, sehr Schönes, sehr Starkes. Gott hat es so gewollt. Das ist schon sehr positiv ausgedeutet. Das ist sehr schön. Auch wenn sie manchmal sagt, wenn sie am Telefon über Bosnien und Serbien spricht: Manchmal frage ich mich, ob es Ihn noch gibt. Das ist bei meiner Mutter neu. Sie sagt es mit einem leichten Ton. Es ist nicht so, dass sie den Glauben verloren hätte. Aber so etwas hätte sie früher nicht gesagt. In einer leichten, altersgeklärten Betonung. Da ist ihr vor kurzem einmal so ein Satz rausgekommen. Es war nicht, dass sie gezweifelt hat, aber sie macht sich Gedanken, ob Er manchmal pennt. Das glaube ich schon. Da ist Er, aber manchmal ist Er ein bisschen verschlafen. Sie sagte das einmal so platt, weil sie wie ich viele Sachen nicht reinkriegte. Dass alles passieren kann. Meine Mutter kontrolliert Ihn schon. Sie lässt Ihn nicht machen, was Er will. Sie hat schon ein Auge auf Ihn. Das muss man schon sagen. Grundsätzlich, nicht zufällig, in der Kindheit, ohne Lektüre, zwischen Ritter, Tod und Teufel und einem goldenen Helm5 stand auch irgendwo links der ganze Luther, den du dir vorstellen kannst, aber es stand auch Thomas Müntzer da. Diese Ecke. Dieser Protestantismus hatte schon sein Aufbäumen. Die reine Kraft der Rebellion?

4 »Nach einer Intervention des Internationalen Roten Kreuzes konnten deutsche Soldaten, die in Polen in Kriegsgefangenschaft geraten waren, Briefe schreiben und empfangen. Davon haben die Eltern reichlich Gebrauch gemacht.« 5 »Die Bilder hingen im Studierzimmer des Vaters. Der Mann mit dem Goldhelm (angeblich von Rembrandt, später als Fälschung entlarvt) war als Farbdruck vorhanden.«

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Ja. Ich erinnere mich noch an eine Tirade von meinem Bruder Peter, wie er gegen Luther weggezogen ist, aber er ist weggezogen mit dem Müntzer unterm Arm. Das ist weit entfernt von irgendeinem Pietismus. Das war auch bei meiner Mutter so. Die äußeren Umstände waren hart, das Klima war rau, das Auf-Gott- Vertrauen war nicht so einfach. Aufmucken, und zu sagen, hoppla, halt mal, so geht es nicht, das gehört da rein. Haben Sie in der Familie auch gebetet, dass der Vater zurückkommt? Ich nicht. Meine Mutter ganz bestimmt. Es ist ein kurzes, klares Gebet gewesen. In meiner Vorstellung sah ich meine Mutter da oben keine Nacht einschlafen, ohne einen Gedanken und das Gebet an ihn. Vielleicht war das Gebet eingebettet, weil wir das zusammen gemacht haben. Oder die Mutter hat uns eingeschlossen in ihr Gebet. Aber ich allein – nee. Ich wusste auch nicht, wer er ist. Ich wusste, sagen wir mal so, überhaupt nicht, dass es einen Vater gibt. Er war nicht notwendig. Wenn meine Mutter meint, da fehlt jemand, ist das ihre Sache. Ich habe nicht gesagt: Wo ist er, wann kommt er? Vielleicht habe ich mir Gedanken gemacht, dass irgendetwas nicht stimmt, dass diese Frau allein diesen Kampf mit dem Hunger und der Kälte hat. Aber dass da ein Vater, mein Vater dazugehört, das war es nicht. Für mich war es komisch, dass sie allein da rumwursteln musste. Mehr in der Richtung. Gibt es in Ihrem Empfinden in der Kindheit eine Zäsur, die mit dem Tag der Kapitulation verbunden ist? Dass sich die Anspannung der Kriegszeit gelöst hat? Nee, habe ich gar nicht mitgekriegt. Es muss seltsam gewesen sein, dass die Leute, die im Krieg waren, sich Sonntag für Sonntag in der Kirche versammelt haben. Einerseits die Leute, die mitgemacht haben, und die anderen, die im Widerstand waren. All diese Leute kommen gemeinsam zum Gottesdienst. Haben Sie eine Erinnerung, wie das Klima der Gottesdienste war? Nee, in der Richtung überhaupt nicht. In der Richtung habe ich nie etwas gespürt oder verfolgt. Für mich war es der Gottesdienst. Es hat mir unheimlich Spaß gemacht, als ich als Glockenbube die Glocken bedienen durfte. Ich hing am Strang, es ging meterhoch und dann wieder runter, das war ein wahnsinniger Jux. Es war ein ganz großes Erlebnis, als eine neue Glocke für unsere Kirche gegossen wurde. Die Schulklasse durfte zu dem letzten Vorgang des Glockengießens, wenn die glühenden Kanäle aufgemacht werden und in die Form hineinfließen. Das ist ein Wahnsinnserlebnis, das werde ich nie vergessen: Das Glühende, das durch die

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Kanäle um die Form der Glocke strömte. Und in der Vorstellung, wie das Glühende fest wird. Dann erinnere ich mich auch, ich weiß nicht, wie viel später das Hochziehen der Glocke war. Dieses fließende Metall, die glühende Flüssigkeit, die in die Form fließt, ist ein ganz, ganz wunderbares und großes Erlebnis. Die Glocken, der Gesang, den die Gemeinde angestimmt hat, später auch die Orgel. Später ging ich selbst in den Posaunenchor. Aber ich habe nie gespürt, dieser Gottesdienstbesucher kommt aus dem Widerstand, wie war die Gemeinde früher – da war ich nie aufmerksam, das habe ich nie gespürt. Ich weiß nur, dass das Dorf – in Erinnerung, das stimmt jetzt nicht so genau – ein ziemliches Nazi-Dorf war. Ich weiß, dass es meine Mutter extra noch einmal schwierig hatte, offensichtlich, als sie kapiert hatte, dass mein Vater doch auf der anderen Seite stand. Weil das Dorf, als meine Mutter allein war, zum Großteil sehr, sehr schlecht reagiert hat. Meine Mutter war noch mehr allein, und das Leben war noch schwerer. Sie hatte drei, vier Freundinnen, die haben sich da gehalten. Neckarelz war ein ziemliches Nazi-Dorf.6 Mein Vater stand nicht aus politischer Einsicht auf der anderen Seite. Er hat gesagt: Bestimmte Sachen gehen nicht. Wenn er in der Bekennenden Kirche von Anfang an war, ist es deswegen gewesen. Wenn er in seiner Predigt noch mehr Widerstand eingebaut und geleistet hat, kommt das zum Glück aus einer gut gebauten christlichen Ethik. Da hat er schon gesagt, was man sagen musste, was sein Gewissen ihm gesagt hat. Das war ziemlich klar. Er hätte mehr erzählen müssen. Musste die Kirche mit einer Nazi-Fahne beflaggt werden? Ich habe nie eine NS-Fahne an der Kirche gesehen. Ich werde meinen Bruder und meine Mutter fragen. Aber nie, nie habe ich eine Nazi-Fahne gesehen. Ich habe Nazis in dieser frühen Erinnerung nur in der Schule oder bei irgendeinem Essen: Wir mussten auf dem Acker irgendetwas einlesen. Es war nicht für uns. Es wurden alle Kinder eingezogen für die Lese von Spätkartoffeln. Das musste man für das Reich machen. Und dann erinnere ich mich noch, oder wir haben es abgeformt, weil wir nicht genug gegessen haben, in der Schule oder wo es war: Ein Löffel für die Großmutter, einen Löffel für… – und einen Löffel für den Führer. Aber eine Flagge habe ich nie gesehen. Das Hakenkreuz habe ich sehr viel später 6 »Es gab in den Köpfen – auch schon bei Kindern – eine Trennung zwischen Ober- und Unterdorf. Im Unterdorf lebten Familien, die früher als Tagelöhner bei der Neckarschifffahrt arbeiteten, vom Fischfang und der Landwirtschaft lebten, während die Männer in unserer Zeit ihr Geld als Arbeiter bei der Bahn und in der Gießerei verdienten, und die Frauen eine kümmerliche Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben. Dort wurde vor der NS-Zeit vorwiegend kommunistisch gewählt und danach waren Nazis nicht sehr angesehen. Im Oberdorf wohnten die Angestellten, selbständige Handwerker, Beamte usw. Hier trifft diese Kennzeichnung eher zu.«

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entdeckt. Es ist mir in dem Dorf nie aufgetaucht. Ich wusste, dass sich meine Mutter um einen Mann gekümmert hat, der die Adolf-Hitler-Brücke7 gebaut hat. Dieser Mann wurde intelligenterweise ausgesucht, um die Brücke im letzten Moment in die Luft zu jagen, damit die Zugverbindung zum MesserschmittWerk unterbrochen wird. Er ist desertiert, weil er sein eigenes Werk nicht zerstören wollte. Meine Mutter hat sich zusammen mit einer Freundin um diesen Deserteur ein bisschen gekümmert. Ich weiß nicht, ob sie ihn eine Zeitlang im Keller versteckt hat. In meiner Erinnerung war immer irgendetwas, das nicht am Tageslicht sein sollte. Ich habe da ziemlich viel versteckt, und es wurde geholfen in dieser Richtung. Aber sonst auf der Straße – irgendwelche Sprüche oder Fahnen, das erinnere ich nicht. Haben Sie dem Mann, der im Keller versteckt war, auch Nahrung zugesteckt? Meine Tante hat in einem Brief, in dem sie von drei, vier Tagen erzählt, geschrieben: Du hast dann einen Freund gehabt – Fritz – , ich weiß nicht, ob das ein Deserteur war, er war auch nicht ganz vorzeigbar. Er hat im Freien gewohnt bei dieser Brücke da. Sie hat geschrieben, du hattest immer zwei Kartoffel, die eine hast du für dich genommen und hast gesagt, die andere bringe ich jetzt dem Fritz. Dem Fritz habe ich eine Kartoffel gebracht, wenn ich zwei hatte. Ich glaube, ich habe ihm nicht meine einzige Kartoffel gegeben. Um genau zu sagen, wer der Fritz war, müsste ich noch einmal fragen. Auf jeden Fall war er einer, der hungrig war und der im Freien gelebt hat. Ob er ein Deserteur war, weiß ich nicht. Es war ein Deutscher? Ja. Aber es waren auch Polen da. Wie gesagt, es kann zu 90 Prozent erfunden sein8, aber ich dachte, die ersten Spielzeuge hätten irgendwelche gesuchten Polen 7 »Die Adolf-Hitler-Brücke war nicht die Verbindung zum Stollen/Motorenwerk, sondern eine Betonbrücke ca. drei Kilometer neckarabwärts, auf der keine Eisenbahn verkehren konnte, sondern die nur für den sonstigen Verkehr bestimmt war. Als die Wehrmacht sich zurückzog, ließ sie alle Brücken sprengen, in der Hoffnung, den Vormarsch der Amerikaner aufhalten bzw. verzögern zu können. Das war eine Illusion, denn die Amerikaner haben innerhalb weniger Stunden ungefähr in Höhe des Schwab’schen Hauses eine Pontonbrücke errichtet, über die sie auch mit Panzern und anderem schweren Gerät über den Fluss kamen.« 8 »Das stimmt. Die Luftschutzbehörde hatte verfügt, dass in unserem sehr soliden Keller (das Haus war ein Barockbau aus dem 17. Jahrhundert) ein weiterer Schutzraum eingerichtet wird. Zu diesem Zweck musste der straßenseitige Kellereingang zugemauert werden. Dafür wurden junge polnische KZ-Häftlinge eingesetzt. Sie fertigten für uns Kinder, die gaffend herumstanden, wunderschöne filigrane Vögel aus Holz an, d. h. sie brachten sie mit. Wie sie das gemacht haben und woher sie Material und Werkzeug hatten, ist ein Rätsel.-Vielleicht wollten sie sich dankbar zeigen, weil unsere Mutter ihnen aus dem Keller heraus, ohne dass es die SSBewacher draußen sehen konnten, ab und zu Butterbrote zugesteckt hat.«

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oder gesuchte Deserteure in unserem Keller fabriziert. Ich sehe da einen Vogel – und verbinde es damit. Wenn ich meine Mutter am Telefon frage, kann sie sagen, es ist schön, was du dir da ausgedacht hast, aber es ist alles falsch. Aber dass jemand verborgen war und Spielzeug gebastelt hat – das kann ich mir nicht so zurechtgeträumt haben. Waren Polen Zwangsarbeiter in dem Messerschmitt-Werk? Das weiß ich alles nicht. Ich weiß nur von Fritz und dass er unter der Brücke war und dass ich am Neckar entlang zu ihm gehen musste. Aber was der Fritz war – keine Ahnung. Ist er ein Deserteur oder ein Flüchtling gewesen? Ich kann das alles nachfragen. Ich nehme mir das seit Jahren vor, aber ich habe es noch nicht gemacht. Ich möchte jetzt mehr in Ruhe über Fritz wissen, und ob die Polen erfunden sind. Sie sind immer rausgelaufen und am Fluss entlang gegangen… Wir waren sehr frei. Ich weiß nicht, wie es meine Mutter gehalten hat, aber ich habe das Gefühl gehabt, dass wir unheimlich frei waren. Wir sind ins Wasser gesprungen und sind auf Schiffe geklettert und Kilometer mitgefahren. Wir sind von Zuhause weg und dann wurde es Abend. Und dann mussten wir mit einem anderen Schiff wieder zurück. Sie mussten uns sehr frei gelassen haben. Ich habe viel mehr Eindrücke vom Freien als vom Innern. Vom Innern habe ich nachts mehr Eindrücke. Das waren Lastkähne, mit denen Sie als Kind mitgefahren sind? Die Schiffe, die du heute da noch siehst. Am Rhein. Die Schiffe transportieren Sand. Diese wunderschönen, langen Dinger mit einem Kapitän. Mit Blumen, und die Wäsche wurde auf den Schiffen rausgehängt. Und ein Hund, der entlangläuft. Es kommt natürlich darauf an, dass das Schiff beladen ist, sonst kommst du nicht hoch. Das waren diese wunderbaren Lastkähne. Das Bewegungsmittel eben. Ich komme mir vor, die ganzen Jahre da hoch und wieder runter gefahren zu sein. Es waren große Reisen. Vielleicht war es nur ein Kilometer. Abgesehen, dass es gegen die Strömung war. Es dauert lang. Als Kind kommt es dir vor, als wäre es eine Riesenreise. Hin und zurück. Ihr Bruder wurde auf einer dieser Reisen einmal mit heißem Teer übergossen. Das war ein Unfall?

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Klaus Michael Grüber mit einem Freund, Neckarelz, Mitte der 1945er Jahre.

Nee, nee. Bestimmte Kapitäne mochten das nicht leiden, die wollten diese Flegel nicht am Schiff haben. Und einmal haben sie einen Kübel heißen Teer auf meinen Bruder geschüttet. Mein Bruder war ganz rot und er musste ins Krankenhaus. Mein Bruder hätte krepieren können. Wenn einem die Zeit verlässt, und plötzlich wird es Abend, und du findest kein Schiff mehr zurück, dann bist du natürlich so blöd, dann hast du dich in der Badehose, in der Dunkelheit auf die Straße gelegt, damit ein Auto anhält. Die Reisen auf den Lastkähnen haben Sie immer allein gemacht? Das hat jeder gemacht. Es gab zwei Banden, eine vom Unterdorf, und eine vom Oberdorf. Das Kaff geht ein ganz klein bisschen hoch zum Marktplatz. Und es geht runter zum Neckar. Bei den Schiffsreisen war immer jemand dabei, allein nicht so oft. Ob es ein Bruder war oder einer von der Bande, meistens war man zu zweit oder zu dritt. Aber auch allein.

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Neckarelz-Foto auf dem Bücherbord in Klaus Michael Grübers Haus auf der Atlantikinsel BelleÎle.

In der Bande hatten Sie Ihre Freunde? Nee. Komischerweise waren wir bei diesen Reisen zusammen, die den ganzen Tag in Anspruch genommen haben. Was hat man sonst noch geteilt? Wenig. Komischerweise. Diese Nachmittage, wenn man frei war, aber sonst war man nicht zusammen. Das hat mir mein Bruder erzählt: Es gab bestimmte Kriege zwischen Unter- und Oberdorf. Das waren Schlachten mit Steinen? Wenn ich mich nicht täusche, ich war nicht dabei, aber mein Bruder Martin hat mir erzählt, dass man riskiert hat, ein Auge zu verlieren. Einmal hat einer tatsächlich durch die Schleudern ein Auge verloren. Ich erinnere mich an Schleudern. Wie ging Ihr Leben weiter?

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Später sind wir nach Ettlingen umgezogen. Neckarelz war ein Dorf mit dreieinhalb, viertausend Einwohnern. Ettlingen war für mich eine riesengroße Stadt, hatte etwa 25000 Einwohner. Wie haben Sie die Einschulung erlebt? Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen die Freiheit genommen wird? Nee, nee. Ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr. Erst später wieder im Gymnasium. Es fing an, dass mein Vater Religionsunterricht gab. Er war im Lehrkörper. Das war schon sehr unangenehm, er wusste über die Noten schon Bescheid. Ich war so schlecht in vielen Fächern. Als es ans Abitur ging, war es ein Alptraum. Ich weiß nicht, wie es in der Grundschule damals war, ob wir tagtäglich Unterricht hatten. Ich glaube, es war sehr frei. Bis zum Wechsel nach Ettlingen im Alter von zehn Jahren und dem Eintritt ins Gymnasium habe ich die Schule nicht als Zwang erlebt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich etwas machen müsste. Vielleicht ist die Schule auch meistens ausgefallen, weil wir irgendetwas anderes machen mussten. Ich weiß nicht, keine Ahnung.

Klaus Michael Grüber (ganz links) mit Fußballern, Ettlingen, Ende der 1950er Jahre.

War es ein humanistisches Gymnasium, auf das Sie kamen?

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Ich glaube, das würde man heute so bezeichnen, obwohl es kein rein humanistisches Gymnasium war. Es war mit neun Jahren Latein, sechs Jahre Englisch, vier Jahre Französisch, aber kein Griechisch. Ich habe immer ein paar Stunden Griechisch genommen. Im echten humanistischen Gymnasium hat man Griechisch dabei. Es muss schon eine Bastard-Lösung gewesen sein. Wie haben Sie die Nachkriegszeit erlebt, als es losging mit dem Wirtschaftswunder? Wie alt war ich da? Ich habe das Wirtschaftswunder nie erlebt. Meine Mutter hat einmal gesagt: Wenn das alles vorbei ist, kannst du so viel Schokolade essen, wie du willst. Aber das habe ich ihr nie geglaubt. Ich habe ihr gesagt: Mutter, du lügscht. Dann habe ich mitgekriegt, dass es möglich ist. Ich habe im Dorf Neckarelz mitgekriegt, wenn man einen Geburtstagswunsch hatte, eine Stunde Fahrrad fahren, musste man ein Jahr davor das sagen. Es gab nur ein Fahrrad. Später habe ich verstanden, dass dies nicht unbedingt das Gesetz ist, dass es auch mehr Fahrräder geben kann. Bei uns gab es gar keinen Fernseher. Ein Radio gab es? Ja, Radio gab es schon immer. Und auch einen Plattenspieler. Denn Musik hat immer eine Rolle gespielt, nicht erst beim Posaunenchor. Musik war immer da. Welche Musik wurde gehört? Erstmal nur die Musik am Sonntag. Die Choräle. Als das Radio dazu kam, ich kann nicht sagen, wann das bewusste Radiohören begann, hat das jeder von uns Kindern gemacht. Das war sehr früh. Ich weiß nicht, wann das kam, aber es gab auch die klassische Vorstellung im Pfarrhaus, dass das Kind ein Instrument spielt, und zwar sehr früh. Zu Weihnachten unter dem Christbaum, Blockflöte, die zweite Blockflöte. Das ging sehr schnell. Und dann kam irgendwann eine Bratsche dazu. Auf ganz, ganz niedriger Ebene. Die Hausmusik war da. Die Bratsche gab es erst viel, viel später. Es gab in diesem Dorf auch ein Klavier.9 Es wurde konfisziert. Es gab den Drang, so etwas zu lernen. Das fehlt mir heute noch wahnsinnig. Es war der Drang zur Musik, der verhindert wurde, weil es nichts gab. Ich bekam eine Trompete geschenkt, eine wundervolle, handgemachte Hand9 »Es gab natürlich mehrere. Hier ist gemeint das Klavier aus dem Haus Schwab. Dieses stattliche Haus haben die Amerikaner beschlagnahmt, und damit das Klavier die Behandlung der Befreier übersteht, wurde es bei uns untergebracht, denn das Pfarrhaus entging der Beschlagnahme.«

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trompete. Als ich auf der Schauspielschule in Stuttgart war, musste ich sie verscherbeln, weil ich kein Geld hatte. Ich hatte diese Trompete so geliebt. Heute ist es sehr schwierig, so ein Instrument zu finden. Ich bekam sie von meinem Onkel mütterlicherseits geschenkt. Ich bin auch nach Karlsruhe auf die Musikhochschule gegangen. Ich habe das halbernst gemacht. Abgesehen davon, dass du das Trompetenspiel nicht ausüben kannst durch das Zuhause, ich habe für 30 Mark in einem Keller gewohnt. Da kannst du sowieso nicht rumtrompeten. Ich brauchte das Geld, es war damals eine lächerliche Summe, aber ich brauchte das Geld, so um die 100 Mark. So ist der Drang zur Musik bei uns allen ein bisschen gestoppt, weil es nichts gab, es gab kein Klavier im Dorf. Später hat man vielleicht kein Interesse mehr gehabt.

Konfirmation von Margret und Klaus Michael Grüber, Ettlingen, 1955.

Wie kam es zur Entscheidung, an eine Schauspielschule zu gehen? Hatten Sie in der Kirche bei Passionsspielen mitgewirkt? Nee, nee. Ich habe einmal im Dorf mitgespielt. Wie heißt der Typ mit den Holzpantoffeln, was gibt es da für ein Märchen?10 Ich habe irgendetwas einmal in

10 »Er hat im Kindergarten in einem Märchenspiel einen Sauhirten gespielt, mit Schlapphut,

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Konfirmation von Martin Grüber, Neckarelz, 1951.

einem Märchen gespielt. Aber dann war Theater nie mehr. Alle Welt war überrascht. Ich wollte noch ein oder zwei Jahre nach Lambarene gehen. Und dann war nichts. Und dann habe ich plötzlich verkündet, ich gehe auf die Schauspielschule, ich möchte die Aufnahmeprüfung machen. Zwischen Lambarene und der Schauspielschule gibt es die wildesten Spekulationen. Eine meiner Spekulationen ist, dass es auch mitgespielt hat, dass ich verzweifelt versucht habe, einem Mädchen zu imponieren. Aber das kann ja auch nicht alles gewesen sein. Meine Mutter meint, es ist mehr in Richtung Lambarene, ich wollte mich schon immer mitteilen. Jetzt war ich nicht missionarisch in Lambarene, sondern auf den Brettern der Bühne (lacht). Die Frage kann man nur flachsend beantworten. Es war irgendwo im Freien im Schwarzwald. Die Familie hat da wahrscheinlich Ferien gemacht, die Eltern in einem Zimmer in einer Pension, die Kinder haben ihr Zelt aufgeschlagen. Bei einer uralten Eiche wurde Bastien und Bastienne von Mozart gespielt11. Ich sehe die Musiker unter der Eiche, das Wetter hat furchtbar Holzpantoffeln und großem Stock. Entscheidend für die spätere Berufswahl war dies sicher nicht.« 11 »1946 oder 1947 hat eine befreundete Familie einen Gasthof, »Fürsteneck« bei Oberkirch, ausfindig gemacht, der schon zu dieser Zeit bereit war, Gäste aufzunehmen. Wir wurden – es

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umgeschlagen, ein Blitz ist in den Baum gefahren. Das war für mich sehr beeindruckend, die Musik von Bastien und Bastienne, die Musiker unter dem Baum und das Wetter. Sonst war ich nie im Theater, bis ich beschlossen habe, der Schauspielschule zu schreiben und zu fragen, ob ich eine Aufnahmeprüfung machen kann. Was haben Sie bei der Aufnahmeprüfung vorgespielt? Drei Rollen musste man vorspielen. Eine war ganz sicher: der Graf aus Prinz von Homburg, darunter machte ich es natürlich nicht. Ich möchte mir nicht vorstellen, was ich da gemacht habe. Sie waren bestimmt nicht von meinen schauspielerischen Fähigkeiten überzeugt, aber ich muss mich da so reingekniet haben. Ich glaube, ich habe noch den Ruprecht aus dem Zerbrochnen Krug gemacht und das Dritte weiß ich nicht mehr. Prinz von Homburg weiß ich noch. Jetzt, wo ich mich ein bisschen besser kenne, habe ich den Verdacht, wie ich das gemacht habe. Unter Kleists Prinz von Homburg am Grab ging es offensichtlich schon damals nicht. Naja. Drei Wochen später kam die Nachricht, dass ich aufgenommen bin. War der Abschied von der Familie schwer? Nee, nee, das war überhaupt nicht schwer. Die gemeinsamen Ferien gingen uns allen schon sehr, sehr früh auf den Wecker. Sehr früh hatte jeder von uns den Drang wegzukommen. Nicht deswegen, weil die Familie so beschissen war, sondern Schluss, aus, weg. Und zwar möglichst radikal und möglichst weit weg. Nee, nee, es war nicht ein Wegmüssen, weil man sich sagt, ich halte es hier drinnen nicht aus, ich werde hier unterdrückt, sondern es geht dir einfach auf die Nerven. Die Grenzen mussten gesprengt werden. Das ist klar. Das war sehr früh bei jedem von uns angelegt. In meinem Fall kam es mir wie die Beschleunigung eines Partikels mit einer bestimmten Geschwindigkeit vor, das schon sehr früh auf eine andere Bahn geschleudert wird. Das war nicht sich von Fesseln befreien, sondern ich wurde auf eine andere Umkreisbahn geschleudert. Sie sind sehr schnell nach Mailand gegangen. Wie sind Sie an Strehlers Piccolo Theater gekommen?

war Sommer – auf die Ladefläche eines LKW bugsiert und fuhren mit der befreundeten Familie dorthin. Vor dem Gasthof, auf einem Bergkegel gelegen, befand sich eine halbrunde Bastei, die von Kastanien eingerahmt war. Dort führte eines Abends eine Musikergruppe, die – wie viele andere in dieser Zeit ohne Engagement – auf der Suche nach Aufführungsmöglichkeiten umhergezogen war, Mozarts »Bastien und Bastienne« auf. Das war Klaus’ erstes Opernerlebnis!« E-Mail von Martin Grüber an Klaus Dermutz vom 17. 3. 2018.

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Geschwister: Martin, Margret, Klaus Michael und Peter Grüber, Ettlingen, Mitte der 1950er Jahre.

Damals gab es am Piccolo Teatro schon eine Schauspielschule. Und wir hatten einen Austausch. Meine Klasse der Schauspielschule Stuttgart ging dann nach Mailand in die Schule des Piccolo Teatro. Wir haben denen unsere Sachen vorgespielt. Im zweiten Jahr, glaube ich, war das. Melchinger ist Strehler orientiert gewesen. Melchinger hat Strehler im Grunde genommen in Deutschland bekannt gemacht hat. Melchinger hat wahrscheinlich auch eingefädelt, dass Stuttgart und Mailand diesen Austausch haben. Denn Melchinger war aufs Piccolo Teatro fixiert. Ich habe gefragt, ob ich hospitieren könnte, wenn ich fertig bin. Bestimmt hat Melchinger mich bestärkt, in diese Richtung zu gehen, bestimmt hat er auch geschrieben. Melchinger hat damals schon mit Strehler Interviews geführt. Als ich von Stuttgart nach Mailand kam, konnte niemand sich mehr daran erinnern, aber das ist etwas anderes. Aber es ist klar, das Piccolo Teatro kenne ich durch Melchinger. Wie war es, als Sie nach Mailand kamen? Konnten Sie schon Italienisch? Nein, kein Wort. Ich hatte 80 oder 20 Mark in der Tasche. Wobei mir die Mutter das Versprechen abgenommen hat, dieses Geld nicht auszugeben, dieser Betrag

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war der Preis für die Rückreise mit dem Zug. Ich hatte kein Geld und die Sprache konnte ich auch nicht. Wovon haben Sie dann gelebt? Zuerst habe ich einmal längere Zeit in der Jugendherberge gelebt. In der Jugendherberge durfte man nur eine Zeitlang bleiben. Dann habe ich auf dem Mailänder Bahnhof geschlafen. Ich habe da auch zeitweise mir ein paar Pfennig verdient – mit Zügeausladen, nachts. Das konnte man wirklich für 30 Pfennig, man musste es nicht machen, aber vorsichtshalber, ein Ticket für den Vorortzug kaufen. Wenn die Polizei kam, hast du ein Ticket in der Hand, und sie konnten dich nicht rausschmeißen. Ich habe sehr lange am Bahnhof geschlafen, und abwechselnd in der Jugendherberge. Am Bahnhof habe ich ein bisschen Geld verdient. Später habe ich andere und mehrere Jobs gemacht. Damals war zum Glück sehr in Gang die direkte Methode beim Lernen einer Sprache, dass der Lehrer überhaupt kein Wort Italienisch sprechen darf. Das kam mir entgegen, weil ich kein Wort kannte. Ich habe Deutsch beigebracht, ging an die BerlitzSchool. Damals ein reiner Bluff unter den Schulen. Am Tag, bevor ich mit dem Unterricht begann, hat man mir nicht gesagt, ob die Burschen und Mädchen nicht schon einen Jahrgang hinter sich haben oder nicht. Ich ging dahin, und zum Glück haben sie mit mir angefangen, Deutsch zu lernen. Das ging so: Du und ich, die direkte Methode (lacht), die mir sehr entgegenkam. Jeden Abend habe ich eineinhalb Stunden Unterricht gegeben und später etwas weniger. Und nach eineinhalb Jahren haben die Schüler mir ein Geschenk gemacht, wir haben zusammen gegessen. Sie haben gesagt, jetzt möchten wir einmal wissen, ob Sie Italienisch sprechen oder nicht. Da habe ich zugegeben, damals noch nicht. Das Lernen der Sprache ging sehr schnell. Du kannst nicht auf dem Bahnhof pennen und Züge ausladen oder da rumjobben. Meine Mutter hat mir dann ab und zu einen Zwanziger oder einen Fünfziger zugeschickt. Meine Schwester auch, alle zwei oder drei Monate gab es einen Briefumschlag mit 20 oder 30 Mark. Im Theater kennst du die Texte, die Strehler probiert, du hörst z. B. einen Galilei für zweieinhalb Monate jeden Tag von exzellenten Schauspielern, du lässt das Deutsche mitlaufen. Das ist Sprachunterricht par excellence. Auch wo ich regelmäßig gegessen habe, in der cantina sociale, wirklich billig und reich und gut damals, du musst schon sagen, dieses oder jenes Essen, du musst es abholen. Und die Schauspieler sagen, wer ist der Typ, der schon seit zwei Monaten da unten sitzt. Und dann macht man Freundschaften usw., die sprechen kein Deutsch. Das geht dann sehr schnell, notgedrungen auch. Die Italiener sind auch phantastisch, wie sie dich auf die Schippe nehmen, wenn du etwas falsch aussprichst, unmögliche Wörter. Sie machen einen Schnellkurs mit dir. Das ist sehr schön. Italienisch ist seit langem in mir, jetzt weiß ich nicht, wie es weitergeht mit

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Deutsch und Französisch. Ich habe mir bei Arbeiten manchmal Notizen gemacht, ich habe sie in Italienisch gemacht, auch wenn ich an der Schaubühne gearbeitet habe. Wenn ich fluche, fluche ich nicht auf Deutsch, sondern auf Italienisch. Ich habe sehr viele Emotionen, die ich sehr spät hatte, in jeder Richtung, ich habe sehr viele Erfahrungen in Italienisch gemacht. Das heißt, Sie haben Ihre Unschuld in Italien verloren. Auf jeden Fall habe ich für viele Gebiete die Sprache in der Italienzeit gefunden. Sie können es sich aussuchen, wie Sie wollen. Dieses Gebiet habe ich sprachlich einigermaßen mitbegleitet (lacht). Was war Ihr erster Eindruck von Giorgio Strehler? Nicht nur jetzt seit Strehlers Tod, schon seit Jahren, habe ich immer noch Schwierigkeiten mir vorzustellen, dass er damals 40 Jahre alt war. Mit 40 sagt sich einer, so ist es und nicht anders, gut, ich müsste das machen. Bei mir war es etwas ganz anderes, altersmäßig und überhaupt. Der Altersunterschied war 150 Jahre. Oder der Respekt. Oder die Bewunderung. Ich war Anfang 20, und Strehler Ende 30, das ist im Grunde lächerlich, heutzutage. Ich habe Schwierigkeiten mir das vorzustellen. Heute kann ein Zwanzigjähriger reisen, wie er will, zu einem Enddreißiger oder zu einem Vierzigjährigen. Mit Strehler war es ein SchülerMeister-Verhältnis. Ein Meister hat kein Alter. Es ist nicht irgendeine Bewunderung, dass er ein großer oder der beste Regisseur ist. Es war von vornherein Meister – Schüler. Auch wenn wir nur fünf Jahre Unterschied gehabt hätten, wäre es genau das gleiche gewesen. Meine Schwierigkeiten, ich habe immer rumgedruckst, die ganzen letzten Jahre, als Strehler darauf bestanden hat, uns zu duzen, habe ich es innerlich nicht gemacht. Ich habe es gemacht, weil er gesagt hat: Porco, dio, Klaus. Si, Giorgio. Giorgio kam mir nie natürlich über die Lippen. Nie. Nie. Ich habe Giorgio gesagt, aber ich habe den schönen Abstand gehalten, er war mir auch lieb. Wenn er mit mir wie mit einem Bruder umgeht, fratello, fratellinino mio, Klaus, sono male, sono disperato, das ist etwas anderes. Wenn er sagt, que cazzo facio, un questa prostata di merda, Klaus, non posso piu le donne etc. Meine Antwort ist immer nicht auf die Prostata und ihn – alles abschneiden, es ist sowieso überflüssig. (lacht) Das ist anders. Bei mir ist es innerlich anders geblieben, obwohl es natürlich in vielen Müdigkeiten, zwischen Alkohol und Kokain alles vermischt ist, trotzdem war es so. Ich erinnere mich der unmöglichen Sachen, die wir veranstaltet haben, 48 Stunden durchgehend probiert. Da löst sich natürlich alles auf. In der Müdigkeit und in dem Rausch, dass man nahe dran ist. Er hatte sein Licht gefunden. Und was in der dritten durchwachten Nacht morgens um fünf passiert ist, ist wunderbar. Die Leichtigkeit und so unverant-

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wortlich doof und schön. Das teilt man sich dann. Strehler hat mir später alles gezeigt und mich mitgenommen. Ich hatte oft außerhalb der Arbeit die Möglichkeit. Ich war einmal mit ihm zwei Wochen auf Elba, im gleichen Hotel. Auch außerhalb der Arbeit. Gut, es war eine zukünftige Arbeit, bei der ich Assistent war, aber er hat mich nicht eingeladen, nach Elba zu gehen wegen des Arbeitsprozesses. Das hätte er auch ganz allein machen können. Sie haben gefragt, der erste Eindruck – zu einem Meister gehen zu dürfen. Das war sofort da, das ist der Meister. Mit allem Drum und Dran. Das ist wie ein compagnon, eine compagnonnage bei den Franzosen, wenn man bei den maîtrers, die die ganze Reise durchgemacht haben, die sagen, ich nehme einen auf und mache ihn zum compagnon. Ich kam in diesem Sinn in die Schule, ins Metier. Wenn ich zurückblicke, habe ich von Genie Strehler sehr viel gelernt, ich kann das beurteilen, aber ich habe handwerklich sehr viel gelernt, regiemäßig, und von Luciano Damiani für die Fragen der Kostüme, und fürs Licht von den verschiedenen Leuten, die Strehler geholt hat. Ich kenne das Metier in seinen verschiedenen Facetten. Ich weiß schon, wenn ich ein Atelier betrete, z. B. in der ComédieFrançaise, wenn ich durch ein Theater gehe, weiß ich, was für ein Theater das ist, ohne zu sagen, dieses Kostümlein haben sie für mich schön gearbeitet oder nicht. Ich kenne mich im Metier aus, ich bin durch die beste Schule gegangen. Am Piccolo Teatro arbeitete einer der letzten klassischen Bühnenmaler, Colombo, der die Bühnenmechanik zu verantworten hat, der kam ganz direkt von Leonardo da Vinci für die Bühne. Ich habe dadurch die wunderschönsten Lehren gehabt. Das ist deswegen möglich gewesen, weil der Meister die richtigen Leute geholt hat, um den Marmor so zu schneiden, wie er es will. Strehler wusste, wer das kann. Das Piccolo Teatro hatte diese Kultur. Das hat Strehler aufgebaut, er hat die Leute zusammengeholt und zusammengesucht. Das ist das Piccolo Teatro, man darf es nicht reduzieren auf Geniestreiche von Strehler. Dann hast du wirklich nichts gelernt, oder hast nur ihn angeguckt. Das ist nicht das, was man vom Piccolo Teatro mitnehmen kann. Das ist Quatsch. Sie müssen sehr traurig gewesen sein, als Sie die Nachricht von Strehlers Tod erfahren haben? Welche Empfindungen hatten Sie? Ich weiß nicht, was das war. Zuerst mal, das ist die erste Aktion, man entschuldigt, wie man so sagt, es ist schnell gegangen. Es war kein Hinsiechen, weder intellektuell noch körperlich. Das ist schon eine Ausrede, um es sich zu erleichtern. Auf jeden Fall ist es erstmal gut. Dann ist dir bewusst, dass dir etwas fehlt. Das ist ganz klar. Man denkt bis zu einem bestimmten Alter, dass alles wieder kommt, dass die Freundschaften unendlich viel sein werden, und halten und nicht halten. Mit der Zeit weißt du, dass es wenig ist und dass man das pflegen muss. Und in diesem Sinn fehlt etwas ganz Entscheidendes. Das ist klar. Ich weiß nicht. Traurig

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würde ich nicht sagen. Das ist etwas anderes. Es ist ein Empfinden, dass etwas fehlt. Ich kann es nicht gut ausdrücken. Aber ich habe darüber weder geweint noch war ich tief betrübt. Man wird es anders umgestalten. Haben Sie Aufführungen von Tadeusz Kantor gesehen? Leider nur eine: Die tote Klasse. Ich habe diese Aufführung in Paris gesehen. Es ging alles schief. Ich habe ein kleines Bild von Kantor. Er hatte es mir als Geschenk gemacht, weil, als er das letzte Mal länger in Paris war, hat seine Freundin oder Frau, das weiß ich nicht mehr, bei mir gewohnt, weil ich gerade in Paris war. Kantor hat mir als Geschenk dieses Bild bringen lassen. Wir waren fest verabredet. Es hat dann nie geklappt. Wir haben uns nicht kennengelernt, und ich habe nur diese eine Aufführung von ihm gesehen. Mochten Sie die »Tote Klasse«? Ja. Ich mochte den Menschen dahinter. Ich versäume da natürlich viel, naja. Vielleicht. Aber trotzdem gehe ich nie ins Theater. Ich gehe sowieso nie weg. Man darf das gar nicht sagen als zivilisierter Mensch. Ich war in den letzten zehn Jahren einmal im Kino und das war in Belle Île. Wenn ich in Berlin bin, fragt mich Abbado, ob ich nicht in ein Konzert komme. Konzert eher. Konzert möchte ich auch ein bisschen machen, in Paris, aber sonst Theater oder Kino nicht. Sie haben in Leos Carax’ Film Les Amants du Pont-Neuf mitgespielt. Ja, eine Wahnsinnserfahrung. Leos Carax hat mich über seinen Assistenten angesprochen. Sein Assistent hat mich angerufen und mir gesagt, Leos Carax macht einen Film. Wir haben uns getroffen, und ich habe ihn ausgelacht. Es war so eine Idee, und er hat darauf bestanden. Und ich habe ihn weiter ausgelacht. Er hat mir dann seinen Kostüm-Menschen geschickt. Ich habe das alles über mich ergehen lassen. Für mich war das eine totale Schnapsidee. Und irgendwo war ich drin. Ich habe einfach weitergemacht. Es gibt Perioden in meinem Leben, wo ich grundsätzlich ja sage. Zu feige, um nein zu sagen. Das Ja ging so weiter. Es war der pure Wahnsinn, der pure Wahnsinn. Ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe. Wie oft ich den Jungen hätte umbringen können, wenn man mich gelassen hätte, das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen. Sie mussten sich wirklich dazwischen stellen, dass ich dem Genie nicht den Hals umdrehe. Das war Wahnsinn. Aber sehr schön. Was der mit mir gemacht hat? Eine leere Mineralwasserflasche behandelt man besser. Und ich denke, ich weiß, was Rücksichtslosigkeit ist. Mein Meister war so etwas von rücksichtslos. Das ist eine der Sachen, die ich von ihm hervorragend gelernt habe. Die Rücksichtslosigkeit eines Regisseurs kenne ich

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sehr gut. Aber Leos Carax gegenüber war ich ein kleiner Knabe. Dem Genie gegenüber war ich ein kleiner Knabe. Ich dachte, du bist demokratisch, liebevoll und hinneigend, wie man sagt. Und was der sich da erlaubt hat, ich weiß nicht, wie alt, Leos Carax da war. Ich glaube, 30 Jahre. Nicht einmal. Er merkte, dass ich koche und dass ich nur noch eine Sekunde warte, und dann siehst du, wie er sich umdreht und leicht schmunzelt. Er zeigt es mir nicht, aber ich sehe es. Du siehst schon, dass er schon eine Naivität hat. Ich war verzweifelt. Ich hatte ein Lampenfieber, das kann man sich nicht vorstellen. Mein Gedächtnis ist sowieso nicht gut. In dem Moment, als ich die Kamera gesehen habe, konnte ich kein Wort Text, keinen zusammenhängenden Satz. Ich musste natürlich wie Marlon Brando alles ablesen. Der erste Drehtag, es war 30 Grad Sonne. Der Pont-Neuf war in Montpellier rekonstruiert worden. 30 Grad, sie haben mich zwei Stunden lang geschminkt. Meine zwei, drei Haare, die mir noch übrigbleiben, waren voll nicht von Uhu, sondern von einem Klebezeugs. Und in den Bart noch rein und in den Körper. Obwohl ich schon so aussah wie das Schlussergebnis. Carax hätte mich so nehmen können. Ich war der Clochard auch ohne Schminke. Zwei Stunden geschminkt, geschwitzt, Angst, in einer Caravane. Furchtbar war das. Ich war um neun Uhr morgens mit der Schminke fertig. Und es wird zwölf und es wird ein Uhr. Und es wird drei Uhr nachmittags, und ich kann nicht mehr. Ich warte verzweifelt. Weil Warten ist etwas so Furchtbares. Offensichtlich ist das die erste Gabe, die man mitbringen muss, um Schauspieler im Film zu sein. Gut, es wird acht Uhr abends. Der Assistent ruft mich. Ich bin schon ausgeflossen vor Hitze, vor Rage. Die Scheinwerfer kommen auf mich zu. Und jetzt soll es losgehen. Was sehe ich in meiner Angst und in meiner Riesenpein? – Wie die Kamera runterschwenkt, sie nimmt meinen rechten Fuß, meinen rechten Schuh, und Carax filmt eine halbe Stunde meinen rechten Fuß. Und sagt: So, das war’s für heute. Ich geschminkt, im Mantel, ein Tag lang verzweifelt. Ich weiß nicht, ob er das gemacht hat, um mich zu beruhigen. Oder brauchte er ein bisschen Licht um mich herum? Ich dachte, es ist mein Kopf, das ist mein Kopf, ich werde immer aufgeregter und sehe dann, wie die Kamera langsam fährt. Ich gucke kurz hin und höre den Motor, und die Kamera ist auf meinem rechten Fuß. Ich dachte, ich spinne. Ich dachte, jetzt bringe ich ihn wirklich um. Er wusste natürlich, was jetzt kommt und hat mich mit einem entwaffnenden, jugendlichen Lächeln angesehen, und ich wusste nicht mehr, ich wollte ihn umbringen. So ging es mir immer. Ich habe gelitten, gelitten unter diesem Genie. Aber irgendwo war es schön. Ich habe das schon in den verzweifelten Nächten kapiert. Diese Art von Ausbeutung hat mich fasziniert. Ich bin wirklich kein Masochist, aber irgendwas hat mich fasziniert. Dieses Umgehen mit

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mir, ich meine das nicht persönlich. Die Kamera macht das. Du, sei so gut, oder sei so, wie du sein kannst, oder sei so, wie ich es dir sage – mich hat das fasziniert. Abgesehen, dass es furchtbar war. Carax ist sowieso ein überperfektionistisches Genie. Und dazu meine unheimliche Angst. Denn wenn ich die Kamera hörte, war jeder Satz weg. Sie mussten überall diese Schilder für den einen Satz malen. Es wird ein bisschen peinlich. Ich weiß nicht, ob diese Szene im Film ist. Es ist jene Szene, in der ich in die Seine gucke und reinspreche. Der Assistent kommt und fragt, wie machen wir das jetzt, kannst Du deinen Text, den Text musst du können. Ich kann den Text natürlich sehr gut. Für die Proben habe ich ihn fließend gesprochen. Dann kam die Aufnahme. Ich wusste kein Wort mehr. Und dann waren sie gezwungen, ich kam mir sehr, sehr peinlich vor, einen riesengroßen, wasserfesten Karton zu machen, den Karton mit Anker in der Seine festzumachen, damit ich diese zwei Sätze ablesen kann. Das war so peinlich. Ich war gezwungen, und sie waren gezwungen. Ich habe dann nicht in die Richtung geschaut, weil ich wusste, da ist der Karton, und ich konnte den Text dann auswendig. Aber stellen Sie sich einmal die Szene vor, ein erwachsener Mensch, der noch nicht ganz zerfressen ist von Alzheimer und anderen Geschichten, der für drei Sätze ein Riesen-Panneau flottante in der Seine braucht. Und so ging der ganze Film. Die Nacht im Louvre war ein wunderschönes Erlebnis. Sie haben gerade den Veronese restauriert. Nachts im Louvre, Veronese und die anderen Bilder, die ich gesehen habe – das war so erregend. Die Museumswärter haben natürlich mich als Clochard genommen. Man konnte ihnen sagen, was man wollte, dies sei eine Rolle, sie haben gesagt, der spielt nicht, der ist so. Sie haben nicht unrecht gehabt. Ich wurde flankiert von zwei Museumsleuten, die mich Schritt auf Tritt bewacht haben, auch auf der Toilette, die ich natürlich nicht abschließen konnte, weil einem Clochard darf man nicht über den Weg trauen. Ich habe mich so geschämt und war gleichzeitig so aufgeregt, dass ich meine Notdurft verrichtet habe. Und ich habe wütend einfach runtergespült, und was mache ich, es war ein Behindertenklo, und ich habe die Alarmglocke nachts im Louvre gezogen. Können Sie sich vorstellen, was die Alarmglocke ausgelöst hat. Das ganze Gebimmel im Louvre und alle Sirenen, die geheult haben. Ich möchte den Film heute nicht mehr vermissen. Ich war in einem Zustand, aber schön war es. Es hat mich fasziniert. Sie sagen in dem Film: Ich bin der Welt abhandengekommen. Ich mag den Film, habe mir den Film drei Mal angesehen. Jetzt habe ich den Mut, den Film mir anzusehen. Vorher war es nicht möglich. Sie haben einmal gemeint: Da ich das Glück habe, ein sehr schwacher Mensch zu sein, wissen die Schauspieler, dass ich nichts vortäusche. Das verstehe ich nicht. Sie

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haben vorhin gemeint, dass Sie bei Giorgio Strehler die Rücksichtslosigkeit gelernt haben. Ja, das allerdings. Das habe ich nicht gelernt. Offensichtlich ist mir da etwas entgegengekommen. Offensichtlich ist mein Egoismus oder mein Egozentrismus, ich weiß nicht, wie man es richtig sagt, ist sehr ausgeprägt. Wenn ich etwas will, gebe ich nicht so schnell auf. Da muss schon vieles passieren, damit ich zurückgehe. Rücksichtslos – das kann man so nennen. Mit »schwach« meine ich, Feigheit ist drinnen, wie bei den meisten Männern, ich bin sehr schwach – ich erspare mir Umwege. Im Metier auf jeden Fall, ich erspare mir sehr viele Umwege, d. h. sehr viele Lügen. Ich gehe direkt. Ich habe keine Zeit so zu tun, als ob, oder da zu beruhigen oder zu sagen, wenn ich mich so verhalte, dann so. Das ist mir zu schwach. Ich weiß, dass ich die ganze Energie für den direkten Weg brauche. Ich meine das mehr in dem Sinne. Diesen Eindruck habe ich bei Ihren Proben. Ja, ja, d. h. ich bin so schwach, dass ich mich nicht verlieren darf in Halbwegen oder in Lügen. Oder wenn ich jemanden nicht mag, ich kann nicht drum herum. Ich sage es. Ich bin zu schwach, um Dinger zu bauen. Um auf den Fußball zu sprechen zu kommen. Haben Sie 1954 im Radio die Reportage des Endspiels Deutschland gegen Ungarn gehört? In Bern? Ja. Ich erinnere mich. Den Schlusskommentar muss ich nach dem Abpfiff auf der Straße gehört haben. Ich hörte den Schlusskommentar aus den Fenstern. Hatten Sie einen Lieblingsspieler in der deutschen Mannschaft? Ich war immer Liebrich. Ich war immer um den Libero-Posten. Damals hieß es noch nicht Libero. Ausputzer? Ausputzer kommt ein bisschen später. War das schon Libero? Der Libero kam erst mit Beckenbauer. Eben. Was war Liebrich? Man sagte nicht Ausputzer. Es war noch nicht die Version-Beckenbauer. Es war weiter zurück. Das ist klar.

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Ernst Happel hatte mit Rapid Wien den Libero kreiert. Sie haben einen sehr schönen Artikel über Happel geschrieben. Sehr schön. Ich liebe diesen Artikel. Ich habe Happel sehr geliebt. Ich auch. Hat Happel eine Autobiographie geschrieben? Es gibt zwei Bücher über Happel, die in Österreich erschienen sind, im denen Happel über sich spricht. Es sind darin auch wunderschöne Fotos darin abgebildet. Diese Bücher würde ich unheimlich gern ansehen. Er war für mich immer faszinierend. Ich wollte immer mehr wissen. Wo kam Happel her? Happel ist ein Wiener. Als ich Happel interviewte, habe ich ihn gefragt, wie er auf die Idee mit dem Pressing gekommen ist. Er hat nur gesagt: Wie spielst du es? Spielt es vorne, spielt es hinten, immer kannst du es nicht spielen. Die nächste Frage über Fußball hat er wieder abgeblockt, und dann hat er ganz lange von seiner Krankheit erzählt. Happel hat aber nicht vom Krebs gesprochen, sondern dass er einen Virus auf der Leber habe. Nach dem Interview hat Happel mich mit seinem Auto zum Bahnhof gebracht. Im Radio kamen Nachrichten vom Krieg in ExJugoslawien. Happel hat Angst bekommen. Er hat sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Happel war 16 Jahre alt, als er an die Front musste. Bernhard Minetti ist auch ein guter Fußball-Kenner. Als Österreich gegen Deutschland 1954 in der Schweiz im Semifinale 1: 6 verloren hatte, hat Happel sich in der Kabine eingesperrt und geweint. Ich mag Happel unglaublich gerne. Ich war KSC-Fan. Wir haben sehr viel Sport gemacht, auf ziemlich hohem Niveau. Hauptsächlich mein Bruder Peter und ich auch. Peter hat mehr oder minder mit dem gleichen Trainer wie Heinz Fütterer? trainiert. Deswegen waren wir alle für den KSC. Später war es der große Streit innerhalb des Piccolo Teatro zwischen Inter Mailand und AC Mailand. Das Piccolo war geteilt. Wo standen Sie?

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Manchmal war ich für Inter. Je nachdem, wie Strehler mich behandelt hat. Wahrscheinlich. Dann war ich mehr auf der Seite der Technik. Dann bin ich für längere Zeit nicht mehr Klubfan geworden, sondern Trainerfan. Da war Nils Liedholm, und ich habe jeweils die Mannschaft geliebt, die er trainiert hat. Mir ging es bei Happel auch so. Wo er hingeht, wird man Fan. Das ist klar. Davor würdest du nie wegen der Mannschaft ins Stadion gehen – und dann war es deine Mannschaft. Rocco? – ein oder zwei Spielzeiten. Das war sein System von Abwehrspiel, das er aufgebaut hat, auch zu viel. Ich war ein Liebhaber von Inter für eine Saison. Und zwar nur wegen Mario Corso, auch genannt Mariolino Corso, weil er für mich einen Geniestreich erfunden hat, es hieß la folgia morta. Folgia morta war ein Freistoß, der Ball fiel hinter der Mauer einfach runter. Folgia morta ist Mariolino Corso, ich habe ihn nie mehr gesehen, nie mehr von ihm gehört. Wenn ich am Sonntagnachmittag in irgendeinem Restaurant war, hieß es: Hai visto folgia morta di Mariolino? Natürlich ist das faszinierend. Nicht der Freistoß von Marionilo, sondern wie die Leute davon gesprochen haben: La folgia morta – hai visto. Punizione a foglia morta. Ich habe nie für deutsche Klubs gehalten – nach dem KSC sowieso nicht. Weil ich in Mailand war. Und im Piccolo war jeder Fan – entweder von Inter Mailand oder von AC Mailand. Damals war ich oft im Stadion, jetzt schon lange nicht mehr. Ich könnte es auch nicht, die Agoraphobie ist zu stark. Das absolute Stadion war für mich die Übertragung. Ich erinnere mich noch, ich habe noch die leeren Bierdosen nach dem Spiel von Borussia Dortmund weggerecht im San Siro-Stadion. San Siro adesso Meazza. Mochten Sie auch die Holländer – Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Marco van Basten –, als diese Genies zu Milan kamen? Ja. Wunderbar. Nach den Holländern habe ich ein, zwei Spiele gesehen von Barcelona. Das muss vor vier Jahren gewesen sein. In dieser Spielzeit haben sie wirklich wie die Götter gespielt. Wie Ajax. Ich gehe dahin, wo für mich schön gespielt wird. Ich habe zufällig vor kurzem auf Eurosport einen Ausschnitt von Brasilien gegen Kolumbien gesehen. Und ich habe gedacht: Menschenskinder, die müssen gewinnen, im Grunde genommen, müssten die Brasilianer jedes Mal im Endspiel sein. Das ist ganz klar. Die zehn Minuten, die ich gesehen habe, das war wunderbar. Ich habe integral das Eröffnungsspiel Frankreich gegen Spanien im Stade de France gesehen, wo die Weltmeisterschaft stattfinden wird. Die deutschen Kommentare, und was ich einen Tag später in der französischen Presse las, ich habe gedacht, ich verstehe den Fußball nicht mehr. Alle haben so positiv darüber geredet. Ich habe mich gelangweilt, aber gelangweilt. Sie haben

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gesprochen, wie schön das war. Gut, sie haben nicht vom Spiel des Jahrhunderts gesprochen. Ich verstehe nichts mehr. Ich hoffe darauf, dass bei der Fußballweltmeisterschaft etwas passiert. Deutschland habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Außer Ajax und Barcelona, oder ein Spiel von Udine gegen eine deutsche Mannschaft, und Udine spielt so phantastisch, dass du gar nicht mehr mitkommst. Aber ich weiß nicht, wer zurzeit gut spielt. Die Franzosen, sind längst noch nicht so weit. Wenn die Spanier das spielen, was sie im Stade de France gespielt haben, ist es mir scheißegal, ob sie gleich ausscheiden oder ins Endspiel kommen. Es kommt aufs Gleiche raus. Es ist lächerlich. Ich weiß im Moment nicht, wer da faszinieren kann. Von den Mannschaften, die ich gesehen habe, wüsste ich nicht. Ich mag auch die Brasilianer. Als ich zehn Jahre alt war, hat mir mein Vater von Pele erzählt und ich habe gemeint, Pele wird mit Brasilien Weltmeister. Mexiko war auch nicht schlecht, Italien gegen Deutschland. Ich habe dieses Spiel in Italien mit Italienern gesehen. Ich weiß nicht mehr wie viele Italiener es waren, sechs, sieben. Aber mindestens drei, vier haben einen Herzinfarkt bekommen. Das war unheimlich. Das Ausgleichstor von Rivera, die Vorgabe von Schnellinger. Jeder von uns hat fünf Kilo verloren. Das war toll. Ein Deutscher mit sechs oder sieben Italienern – da war was los. Jetzt kann ich es nicht mehr in der Art ansehen, vielleicht finde ich jetzt auch nicht die Gesellschaft. Ich mochte Frank Rijkaard gerne, überhaupt das holländische Dreigestirn bei AC Milan. Franz Beckenbauer habe ich einmal versucht zu interviewen, aber er hat zugemacht. Erinnern Sie sich noch an Mexiko, Beckenbauer mit dem verbundenen Arm – die Eleganz, die Eleganz. Du siehst sie noch mehr, wenn der Arm verbunden ist. Dass Beckenbauer nie den Ball anschaut, sondern den Ball ankommen lässt und weiter. Oh, oh, oh, schön, schön. Schade, dass es nicht geklappt hat. Happel hatte am Ende seines Lebens ein Foto auf seinem Schreibtisch stehen, auf dem er mit Franz Beckenbauer abgebildet war. Happel mochte dieses Foto gern, er hat Beckenbauer zum HSV geholt. Happel hat zu Beckenbauer gemeint, er baut die Abwehr so, dass Beckenbauer Freiräume hat, dass es nicht auf die Schnelligkeit ankommt. Aber ich muss auch sagen, Platini war genial. Ich brauche ein bisschen Zeit, bevor ich den Franzosen Genialität im Fußball zugestehe, aber bei Platini muss man schon genial sagen. Nicht nur die Freistöße, auch der Überblick. Es gibt sowieso

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Leute, die den Ball kaum anschauen. Ich habe noch nicht oft Ronaldo gesehen, zwei, drei Mal, aber nie ganz, nie richtig. Aber vielleicht erleben wir was im Sommer. Ich habe große Hoffnungen auf Ronaldo. Ich hoffe, es geht nicht so weiter wie zwischen Frankreich und Spanien. Das war nicht das. Happel hatte überlegt, Neapel zu trainieren, als Maradona noch dort gespielt hat. Happel hat gemeint, wenn er auf Maradona trifft, geht der Vesuv über. Happel hat gesagt, bei ihm würde Maradona sehr schnell schlank werden. Happel hat Maradona geliebt. Sehr schön. Das Gespräch wurde Anfang Februar 1998 von Klaus Dermutz in Berlin geführt. Nachlassverwalter Martin Grüber hat das Gespräch am 4. April 2020 durchgesehen und für die Drucklegung um Berichtigungen und Kommentare ergänzt, die in den Fußnoten wiedergegeben werden.

Gespräch mit Klaus Michael Grüber

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Bei Ihrer ersten Inszenierung in Mailand haben Sie einen wüsten Verriss bekommen. Ich glaube, das war bei der zweiten Inszenierung. Nichts Besonderes. Es war ein Verriss. Ich habe mich daran früh gewöhnt. Zu der Zeit haben Sie am Bahnhof übernachtet? Das war früher, ganz am Anfang, in der ersten Zeit. So links und rechts zwischen Jugendherberge. In der Jugendherberge durfte man nicht die ganze Zeit bleiben. Man musste unterwegs sein, dann wieder Jugendherberge und ein bisschen Bahnhof. Ein bisschen durcheinander, bis ich ein kleines Appartement mit einem holländischen Maler teilte, der eine große Liebe zu Vögeln hatte. Auf dem Vogelmarkt kaufte er alle kranken Vögel. Dieser Maler hatte eine Liebe zu kranken Vögeln. In den zwei Zimmern des Appartements waren 60 oder 70 Vögel und auch Schlangen. Sie können sich den Lärm und den Gestank vorstellen. Das war sehr eigenartig. In der Anfangszeit in Mailand wusste ich nie, wo ich übernachte. Es wurde so oft auch nachts gearbeitet, dass es im Grunde keine Rolle spielte, wo man die paar Stunden noch verbracht hat. Ich habe noch Beleuchtungsproben in Erinnerung, die bis fünf, sechs Uhr morgens dauerten. Nicht immer, aber sehr oft. Sehr oft hat man die Nächte im Theater zugebracht. Als Sie Assistent bei Strehler waren? Ja, es waren seine Proben. Das ganze Team hat mitgemacht, hauptsächlich die Beleuchtung war es. Bei Le baruffe chiozzotte weiß ich noch genau, ging es in der letzten Woche jede Nacht durch. Wir kamen in den letzten drei Tagen gar nicht mehr aus dem Theater. Wir hatten ein paar Stunden Unterbrechung, aber es ging

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durch. Das passierte an dem Theater in dieser Zeit sehr oft. Wenn du 20 von 24 Stunden gearbeitet hast… Strehler war sehr unermüdlich.

Giorgio Strehler mit seinem Assistenten Klaus Michael Grüber (rechts) während einer Probe zu Mozarts »Die Entführung aus dem Serail«, Mailänder Scala, 1971–72.

Wie habt Ihr Euch fit gehalten? Es gibt da unterschiedliche Methoden, jeder hatte seine. Ich hatte in dem Alter überhaupt nicht das Bedürfnis nach Schlaf. In dem Alter spürt man das sowieso nicht. Die Arbeit war so faszinierend, es war überhaupt nichts Ermüdendes, sondern etwas Putschendes und Anregendes. Sie haben im Fenice als Schauspieler debütiert? Ich glaube, wir haben in Bologna probiert. Ich muss es immer wiederholen. Mein Gedächtnis ist sehr schlecht, und wenn es kommt, bringt es alles durcheinander. Die Tournee ging acht, neun Monate durch Italien. Und eines der der ersten Gastspiele war in Venedig im Fenice. Die Premiere war in Bologna. Dieses Stück ging dann von Turin bis Neapel, durch ganz Italien. Welches Stück war das?

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Es hieß Il passatore. Es war ein Stück über die carbonari. Das ging über Österreich und die Unterdrückung usw. Es war ein Revoluzzer-Stück. Der Autor fällt mir im Moment nicht ein. Welche Rolle haben Sie gespielt? Ich habe einen bösen Österreicher gespielt, der alle hingerichtet hat. Jedenfalls musste ich verlesen, dass die Übeltäter erschossen oder aufgehängt werden. Ich stand da, das war das Peinliche, deswegen ist es mir in Erinnerung geblieben: Auf der Bühne war ein ziemlich hohes Podest. Alle Verurteilten standen mit dem Rücken zum Publikum. Ich stand erhöht auf dem Podest und musste die Namen der Verurteilten verlesen. Die Schauspieler haben die Situation sehr, sehr gut ausgenutzt, um mich zum Lachen zu bringen. Was die da veranstaltet haben! Ich war damals sehr sehr ernsthaft. Ich habe meinen Auftritt sehr sehr ernst genommen, und die haben alles gemacht, um mich ins Schleudern zu bringen. Das war ein ganz schön harter Kampf. Wenn die Italiener sich in der Richtung einmal etwas vorgenommen haben, machen sie ganz schöne Sachen. Es war sehr lustig. Das Fenice war für mich später auch ein Erlebnis mit Helene Weigel. Ich war ein Go-Between zwischen dem Berliner Ensemble und dem Fenice bei einem Gastspiel. Helene Weigel hatte Strehler gebeten, ob es nicht jemanden gäbe, der dolmetschen könnte. Ich weiß nicht, warum mir Fenice durch den Kopf geht. Vielleicht war das mit dem Fenice wieder eine von meinen Erfindungen. Das geht durcheinander. Wenn ich aufgetreten bin, ist es mir lieber zu sagen, ich bin im Fenice aufgetreten als im Goldoni-Theater. Das ist klar (lacht). Wenn es im Goldoni-Theater war, ist es lächerlich, und man braucht die Passage gar nicht erwähnen. Machen wir es so? Was hatten Sie für einen Eindruck von Helene Weigel? Einen persönlichen Eindruck von Helene Weigel kann ich nicht sagen. Der Eindruck des Berliner Ensembles: dicht, nah zu sein. Das erste Gastspiel war damals ein Riesenereignis. Das Berliner Ensemble gehörte für mich zu einem bestimmten Mythos. Es war wunderbar. Es war eine wunderbare Chance, beim Aufbau und bei den Proben direkt drinzustecken. Es war primär der Auftritt vom Berliner Ensemble zum ersten Mal in Italien. Und es war schön, dass ich so mittendrin war. Giorgio Strehler hat die Dreigroschenoper inszeniert. Bertolt Brecht hat dazu gemeint, dass Strehler die Dreigroschenoper zum zweiten Mal erfunden hat. Haben Sie diese Aufführung gesehen?

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Nein. Die Aufführungen von Baruffe kamen immer wieder. Baruffe wurde immer wieder aufgenommen, aber nicht in Abständen wie Arlecchino. Strehler hat mehrere Sachen zwei Mal gemacht, Ilos Milan hat er auch, glaube ich, zwei Mal gemacht. Das war alles vor meiner Zeit. Strehler hat auch Luigi Pirandellos Stück Die Riesen vom Berge mehrmals inszeniert, zwei Mal in Mailand, in Düsseldorf und später auch in Wien, mit Michael Heltau und Andrea Jonasson. Düsseldorf war doch Minetti. Das war ziemlich früh. Genau, das muss er 1963 gemacht haben. In meiner Erinnerung hat Strehler den Sturm in Florenz gemacht. Wie waren die finanziellen Bedingungen auf der Tournee, als Sie als Schauspieler herumgereist sind? Das waren – wie immer in Italien – für die Schauspieler Stückverträge. Die Schauspieler wussten nie und wissen es heute zum großen Teil auch noch nicht, was sie als nächstes machen. Das ist das Schwierige und das Schlimme für die Schauspieler. Die Schauspieler wussten damals, wann ihr Stück aufhört, und was sie als nächstes machen, wussten sie nicht. Sie wussten nicht, wie lange die Pause dauern würde. Das ist immer eine Zitterpartie gewesen. Und selbst das Piccolo Teatro, das als erstes Teatro stabile gegründet war, war auch nicht so stabile, dass alle Schauspieler Verträge hatten. Das war ein Kern von sechs oder acht Leuten, die einen Ein- oder Zweijahresvertrag hatten, aber alle anderen Schauspieler hatten auch nur Stückverträge. Die Situation der Schauspieler war wie in alten Zeiten – sehr, sehr prekär. Das ist furchtbar, dass die Schauspieler nicht wissen, wie es weiter geht. So viel hat sich nicht geändert. Es gibt ein paar Theater mehr, in Rom, Genua, Triest, aber das italienische Theater ist weit, weit entfernt von der deutschen und auch noch entfernt von der französischen Situation. Die armen Schauspieler sind in Italien in einer sehr, sehr prekären Lage. Wie kam es bei Ihnen zur Entscheidung, dass Sie Regie machen wollten? Keine Ahnung. Das weiß nur Strehler – und Grassi. Sie haben gesagt, das machen wir. Sie haben mir das angeboten, es gab keine Tradition, einem Assistenten eine Regie anzubieten. Erstens war das nach sehr, sehr viel längerer Zeit als normalerweise, die Assistenten waren sehr lange Assistent, dann waren das Leute, die relativ gut Italienisch sprachen. Ich sprach damals noch so halb Italienisch. Ich sprach kein Wort Italienisch, als ich nach Mailand kam. Mein Italienisch war damals, so nehme ich an, noch ziemlich haprig, obwohl es ziemlich schnell ging. Unter den Umständen, in denen ich da gelebt habe, bist du mehr oder weniger gezwungen, ziemlich schnell zu lernen. Ich glaube, Sprachen fallen mir sowieso

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leicht, und dann gibt es gar keine andere Möglichkeit. Wenn du einen Monat lang in Galilei-Proben oder in anderen Proben sitzt und du kennst den Text sehr gut auf Deutsch, das ist ein Sprachunterricht – besser geht es nicht, wenn du jeden Tag den Text auf der Bühne in Italienisch hörst. Ich war schon immer ein großer Zeitungsleser. Ich ging da – das war der einfachste Weg für mich – über Sportzeitungen. Da war ich so auf dem Laufenden, dass ich alles kapiert habe. Auch mit ein paar Brocken. Und das hat sich dann ausgeweitet. Abgesehen davon, dass damals der Sportjournalismus in Italien, was den Fußball betraf, hervorragend war. Es waren grandes plumes, die über Fußball schrieben. Es gab wie überall eine große intellektuelle Begeisterung für den Fußball. Es gab Dichter, die in Sportzeitungen schrieben. Das waren große, große Leute, da konntest du gutes Italienisch lernen. Zwischen der Kantine im Theater, wenn sie gerade nicht Kasernen-Witze rissen und den Sportberichten – das war eine sehr gute Schule. Das ging dann ganz schnell. Ich weiß nicht, wie holprig mein Italienisch bei der ersten Inszenierung war. Ich habe mich schon ausgedrückt. Stimmt es, dass Sie einmal Zehnkämpfer waren? Ja, ich habe Zehnkampf gemacht. In unserer Familie haben wir Brüder alle viel Sport gemacht. Jeder hatte da mehr ein Gebiet als der andere. Ich war einfach zu unbegabt für die Kurzstrecken und zu faul für die Langstrecken. Deswegen habe ich mich auf Mittelstrecken und Zehnkampf konzentriert. Der Zehnkampf hat mir damals sehr gut entsprochen, weil ich alles sehr gut konnte und nie was richtig gut. Deswegen war das eine gute Kombination. Hatten Sie ein Vorbild unter den Zehnkämpfern? Nee. Ich habe die Zehnkämpfe verfolgt. Leichtathletik war durch die Nähe – mein Bruder Peter hat beim KSC trainiert. Ich war da auch ein paar Mal, aber er hat richtig trainiert. Karlsruhe war nah, und der KSC war damals nicht schlecht. Der KSC ist dann lange versunken und kam vor einigen Jahren wieder. Das war damals der Moment von Fütterer, der »weiße Blitz«. Wenn es Idole gab, war es Heinz Fütterer. Fütterer war beim KSC, er hat zum ersten Mal als weißer Läufer den Weltrekord von Jesse Owens über 100 Meter eingestellt. Der »weiße Blitz« war, ganz übertrieben gesagt, unser Trainingspartner. So hat sich das beim Fußball mit den Identifizierungsgeschichten aufgehalten. Es gab keine anderen. Doch, es gibt so ein paar Figuren. Wie hieß er denn? Zatopek. Der tschechoslowakische Langstreckenläufer.

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Ich weiß nicht warum, Zatopek geisterte im Kopf herum. Auch der finnische Leichtathlet Paavo Nurmi. Das waren Bilder und Leute, die ganz nah im Kopf waren. Erst sehr viel später habe ich den Leni Riefenstahl-Film über die Olympiade 1936 in Berlin gesehen. Haben Sie auch Wintersport betrieben? Ja, wir sind Ski gelaufen. Wir haben alles gemacht, wie gesagt, in den Grenzen. Die ersten Ski die wir hatten, waren Fasstauben mit Schnüren, also lebensgefährlich. Es gab einen Austausch zwischen der Kirchengemeinde Ettlingen und Gries. Es war kein Austausch. Es gab in Gries im Ötztal ein Jugendheim. Nach Gries gingen wir jeden Winter hin. In der Nähe von Ettlingen, Herrenalp hoch, haben wir mit Fasstauben angefangen. Wir kamen nie zu Adidas- oder Nike-Ausrüstungen. Meine große Ski-Karriere war noch mit der alten Methode. Es gab kein Geld, um richtige Ski zu haben. Haben Sie auch Bergtouren gemacht? Ich erinnere mich noch an Gletscherwanderungen, sonst Abfahrten. Die Wanderungen über Gletscher sind mir sehr bewusst. Das Skifahren war bei Dobel, Herrenalp, 800 Meter, das war lächerlich. Das waren keine Riesenabfahrten, aber es kamen dann Wettbewerbe. Auf dieser Ebene fand das statt. Jeder von uns hat etwas gemacht – von Tischtennis bis Leichtathletik, Ski und Schwimmen. Haben Sie Fußball in einer Vereinsmannschaft gespielt? In Handball war ich in einer Vereinsmannschaft. Beim Fußball war es mehr zusammengewürfelt. Ich war Stopper. Von hinten raus? Ja, noch nicht Libero. Ich habe immer die Lust nach vorne gehabt, aber die zuständigen Leute haben gesagt, es ist besser, du bleibst da hinten, du putzt da aus. Auch von Ihrer Größe her? Ja, wahrscheinlich. Ich weiß nicht (lacht). Wie war es, als Sie von Mailand weggingen?

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Nach der Zeit als Hospitant und Assistent kam die Tournee. Ich wusste nicht, wie es weiter geht. Am vorletzten Tag der Tournee kam an das Theater in Neapel oder Palermo ein Telegramm von Strehler vom Piccolo Teatro, dass er mich als Assistenten möchte für Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny in der Piccolo-Scala. Das war, wenn ich mich richtig erinnere, der erste richtige Assistenten-Vertrag. Und dann schließt es an, und es kam die Regie. Und dann tauchte Reinhard Müller aus Freiburg auf. Wie Freiburg kam, weiß ich nicht. Müller war wahrscheinlich in Mailand. Dann kam ein Mann, den ich aus der Ferne geschätzt habe, der mich nach Zürich geholt hat. Ich war da so unaufmerksam. Ich habe später gelesen oder irgendwie erfahren, dass der Mann der Mitbegründer der Scala gewesen ist. Den Namen habe ich nie vorher gekannt und jetzt habe ich ihn sofort wieder vergessen. Es war ein Schweizer, der da im Emigrantentheater eine große Rolle gespielt hat. Er war so schüchtern, und ich noch schüchtern. Ich weiß noch, dass er mir eine Brecht-Gesamtausgabe geschenkt hat. Er war ein ganz lieber Mann, aber wir kamen nie zusammen. Ich kam für die Inszenierung und ging weg nach der Inszenierung. Ich habe im Nachhinein bereut, dass nichts näher entstanden ist. Er war weder Regisseur noch Schauspieler, sondern mehr Mäzen. Ich weiß nicht, ob es nicht direkt der Intendant war. Der Mann, von dem ich spreche, war so unscheinbar, er muss dahintergestanden haben. Ich glaube nicht, dass er direkt Intendant war. Es hat mir nachher leidgetan, dass ich ihn nicht kennenlernte. Ich glaube nicht, dass Düggelin der Initiator war. Die 68er-Zeit hat einen Bruch im Verhältnis gegeben, was sich nachher glücklicherweise sich wieder gewandt hat. Es gab einen Bruch zwischen Grassi, Strehler und mir. Nicht nur mir, sondern den Leuten, die damals am Piccolo gearbeitet haben. Mit mir war das besonders heftig, weil die mich offensichtlich sehr geschätzt und geliebt haben. Sie waren sehr verletzt. Wir haben das Piccolo lahmgelegt, besetzt. Die ganzen Dinger, die man in dieser Zeit veranstaltet hat. Auch sehr brutal. Was war die Intention der Besetzung des Piccolo? Das weiß ich auch nicht. Wie damals die Intentionen waren, alles von der Basis her, größere Mitbestimmung, totale Demokratisierung des Theaters, Direktor weg usw. Das Übliche. Es hat sich mehr oder minder überall gleich abgespielt. Wie haben Sie die 68er-Zeit erlebt? Auf der Straße, in Demonstrationen. Abends und nachts in Sitzungen. Ich weiß nicht durch welche Fügung, war die Bewegung am Piccolo Teatro angeschlossen, verwandt mit CUB, Comitato Unitario di Base. Das war hauptsächlich links von der Gewerkschaft ein Bündnis, das von den Straßenbahnfahrern ausging. Wir haben die ganzen Nächte mit Straßenbahnfahrern diskutiert, wie revolutionär

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

Il processo di Giovanna d’Arco a Rouen – 1431, Ensembleszene mit Valentina Cortese (Giovanna), Piccolo Teatro, Mailand, 1968.

die neue Welt aussehen muss. Und jeder hat sich da natürlich links übertroffen. Und das war schwierig, weil das waren schon die Linkesten der Partei. Wie halt allgemein, ich glaube, dass das nicht etwas Besonderes war. Demonstrationen und Theaterbesetzungen, bis Grassi nicht mehr konnte. Wir haben ihn so aussichtslos mit dem Rücken an die Wand gedrückt, dass er keine Möglichkeit mehr hatte als zuzuschlagen. Naja – und dann war die Trennung da. Eine Art Vatermord? Das wurde ganz bestimmt so empfunden. Ich weiß noch, Grassi war sehr heftig zu mir, betrübt heftig. Ich hatte durch viele Sachen eine engere Beziehung zu Grassi. Eine direktere Beziehung als mit Strehler. Mit Strehler war es auch sehr direkt, wenn wir zusammenkamen. Wir haben ein paar Mal Arbeitsferien usw. zusam-

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La medesima strada: Angela Winkler (Antigone), Piccolo Teatro, Mailand, 1988.

men gemacht, aber es war direkter mit dem Grassi. Grassi war sehr, sehr verletzt durch diesen… – er hat es als Verrat genommen. Er hatte vollkommen recht. Wir ließen keinen Ausweg zu. Auch keinen Dialog. Uns war allen klar, dass es so sein muss, was natürlich ein bisschen sehr verheerend war. Sehr dumm, aber in dem Alter vielleicht richtig. Das war für Grassi sehr, sehr hart. Zum Glück ist es nachher anders geworden. Ich würde es mir ewig, ewig übelnehmen, wenn es so geblieben wäre. Ich hing an dem Mann unglaublich. Es gibt viele Begebenheiten, mehr als Anekdoten, sie waren so wichtig, bei Gastspielen. Oft haben wir uns nachts nach den Proben im Restaurant getroffen. Er war allein, ich war allein. Manchmal haben wir zusammen gesprochen, manchmal nicht. Ich erinnere mich an eine Nachtfahrt mit dem Zug nach Belgien. Die ganze Nacht im Zug, alles vollkommen verrückt. Ich habe ihn von einer anderen Seite kennengelernt, nicht der Theaterdirektor Grassi in seinem Büro. Ich hing unheimlich an diesem Mann. Damals habe ich es nicht so gesehen wie heute. Weil da trifft man sich, und wenn es aus ist, ist es aus. Ich bin wirklich froh, dass es sich bald wieder geändert hat. Das wäre verheerend gewesen als menschliche Begegnung. Wenn das das Ende gewesen wäre, wäre es für mich immer, immer ein Schmerz geblieben. Und auch mit Strehler, bei dem es langsamer ging. Ich weiß nicht mehr den Anlass, plötzlich war es weg, und es war wie am Anfang, nur dass ich ein bisschen älter und ein bisschen klarer war. Bei Strehler hat es länger gedauert. Strehler ist vor

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Grassi vom Piccolo weggegangen. Grassi hat von sich aus mehr Fähigkeiten gehabt zu sagen, so war es. Während Strehler gesagt hat, Junge, das dauert noch eine Zeit, bevor ich das vergesse. Dann hat sich das so ergeben. Das war sehr schön. Wir haben uns anschließend leider auch sehr selten gesehen. Was hat Sie für Grassi eingenommen? Warum lieben Sie einen blitzgescheiten Bären? Er hatte alles. Er hatte Wärme, Intelligenz, er konnte heftig sein. Er konnte unheimlich abschirmen, ohne den Schirm von Grassi wären die Italiener mit Strehler schon umgesprungen, wie sie in den letzten Jahren umgesprungen sind. Wenn du Grassi siehst, guckst du ihm schon nach, du brauchst gar nicht wissen, was er macht. Du spürst eine Kraft. Du spürst sofort den Menschen, wenn du ihn so gesehen hast, wie ich ihn gesehen habe: Verliebt, verzweifelt, lustig, traurig. Er ist dann alles. Du siehst alles, du kannst alles ablesen. Ein ganz, ganz wunderbarer Mann. Und der ist natürlich umso schwieriger, ich spreche jetzt von den ersten 15 oder 20 Jahren, weil er nie vor einem Vorhang steht. Er wollte es auch nicht. Er war eitel in einem ganz anderen Sinn. Was der für das Theater gemacht hat, um das Licht in das Theater zu bringen, d. h. auch auf Strehler, das muss man machen. Da hat er alle Qualitäten. Wenn er jähzornig wurde, war das schlecht zu verdauen. Wenn der losgelegt hat, war es schon ein Gewitter. Er war ein echter Mann. Ein echter Mensch. Das war über Karriere, über Glanzlichter hinaus. Das war un uomo, un vero uomo. Als ich mich endgültig verliebt habe in ihn – ich war noch Hospitant und wusste nicht, ob ich noch hospitieren darf. Wenn die Probe fertig war, wusste ich nicht, ob ich der Assistent für die nächste Produktion bin. In dem Vorraum vom Piccolo habe ich ein halbes Leben verbracht. Immer wartend, bis er mich rein rufen lässt. Ein Alptraum. Das war eine Riesendistanz. Von ihm hing mein Italien-Schicksal ab. Das ist ganz klar. Es ging weiter und weiter. Und es gab wieder einmal ein Gespräch, ob ich im nächsten Stück Assistent bin. Er hat gesprochen, ich habe gehört und meine zwei Sätze gesagt, alles in Ehrfurcht und Furcht. Und plötzlich sehe ich den Paolo Grassi nicht mehr. Ich sag’ es kurz. Es kam ein Gewitter, und es kam ein Blitz, und schlagartig war der Paolo Grassi unter dem Tisch. Dieser Riesenmensch, der vor mir saß und in meinen Augen doppelt so groß war, weil er die ganze Macht hatte. Und plötzlich lag er wie ein Häuflein Elend unter dem Tisch und hat gewartet, bis der Blitz vorbei ging. Da habe ich ihn natürlich geliebt, da konnte ich nicht anders. Er hatte, wie er mir später erklärte, so Schiss vor Gewittern. Er verschwand wortwörtlich unter dem Tisch, während mein Schicksal behandelt wurde. In dem Moment war die Liebe endgültig da (lacht), Grassi war für mich noch etwas anderes geworden. Das war phantastisch. Das war ein wunderbarer Mann.

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Zu Paolo Grassi fühlte Klaus Michael Grüber eine größere Nähe als zu Giorgio Strehler.

War Grassi einsam? Die letzten Jahre zum Glück nicht mehr, weil er diese wunderbare andere Hauptfigur vom Piccolo, Nina Vinci geheiratet hat. Nina Vinci ist für mich auch eine ganz wichtige Figur. Wenn man Grassi und Strehler sagt, muss man Nina Vinci mitnennen. Sie gehört zum Piccolo wie Grassi und Strehler. Sie hatte immer als offizielle Bezeichnung »secretaria generale«, aber sie war mehr. Sie war das Bindeglied. Grassi und Strehler – das war sehr, sehr schwierig. Wenn es etwas zu kitten gab, hat sie es gekittet. Man kann das Piccolo nicht ohne sie denken, sie gehört im gleichen Ausmaß dazu wie Grassi und Strehler. Das Piccolo ist ohne diese Frau nicht denkbar. Mit dieser Frau Vinci ist komischerweise in dieser 68erZeit nichts gebrochen. Sie war sehr traurig, aber es hat unser Verhältnis nicht verändert. Ich weiß nicht, ob sie als Frau mehr Verstand aufgebracht hat. Das war kein Bruch, den es zu kitten galt. Sie haben ganz spät geheiratet, Grassi war in diesem Sinn nicht mehr allein. Aber vom Typ war Grassi ein lonely bear. Wie war es zwischen Grassi und Strehler?

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Paolo Grassi (1919–1981) gründete 1947 mit Nina Vinchi und Giorgio Strehler 1947 das Piccolo Teatro di Milano.

Die beiden kamen oft ganz schön aneinander. Grassi musste den Laden irgendwie durchziehen. Wenn Strehler das Theater drei Monate mit Galilei lahmlegt, geht das an die Existenz des Theaters. Da gab es schon Prügeleien. Oder Grassi geht nachts hoch mit den Schlüsseln und schließt die ganzen Werkstätten zu, damit Luciano Damiani mit seiner Farbspritze am Tag der Premiere nicht noch einmal alle Schauspieler bespritzt, dass sie nicht atmen können. Das ist alles unglaublich und spielt sich morgens um fünf oder sechs Uhr früh ab. Nach so einer Prügelei musste natürlich jemand sagen, kommt mal wieder zusammen, die Premiere muss ja raus. Nina Vinci war das ausgleichende Element, die genügend Verständnis für beide hatte. Deswegen war sie unentbehrlich. Wie war der Altersunterschied zwischen Grassi und Strehler? Weiß ich nicht mehr. Grassi war maximal zwei, drei Jahre älter. Grassi war sehr kultiviert. Von einer direkten Kraft. Strehler hat Sie warten lassen, bis es wieder gut wird. Es war auch so, dass wir wenig Möglichkeiten hatten. Ich habe Strehler danach das erste Mal in Paris gesehen, als er dort inszeniert hat. Ich war nicht mehr in

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Paolo Grassi und Giorgio Strehler bereiten sich auf eine Ansprache vor, Ende der 1960er Jahre.

Italien, und Strehler war selten in Paris oder in Deutschland. Deswegen hat es länger gedauert. Die Beziehung war am Anfang nicht so warm. Ich weiß auch nicht, ob er das extra gemacht hat. Es gab auch keine Gelegenheit, es war immer so zwischen den Proben. Und später waren es richtige Gespräche außerhalb seiner Proben. Ich nehme an, dass Strehler schon nachtragender war. Es hat schon eine Zeit lang gebraucht, was ich sehr gut verstehen kann. Strehler war stärker gekränkt? Nee, ich glaube nur, dass Strehler ein anderer Charakter ist. Der eine sagt, okay, Schluss, aus, der andere ist nachtragender. Grassi war sehr gekränkt, sehr verletzt. Gingen Sie aus Mailand mit dem Gefühl weg, dass Sie etwas Anderes als Strehler machen wollen?

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Giorgio Strehler und Paolo Grassi während einer Pressekonferenz, Mitte der 1970er Jahre.

Ich habe nie gedacht, ich muss was anderes machen. Das war nie der Fall. Überhaupt nicht. Dass das Sich-Entfernen eine ganz normale Entwicklung ist, ist klar. Aber nicht im Sinn, ich muss was Anderes machen. Ich muss weg – ja, das ist ganz normal. Aber nicht in Hinblick auf das, was er macht. Ich muss was Selbständiges machen. Mailand war für Sie eine sehr, sehr intensive Zeit. Wie war für Sie das Weggehen, das Sich-Entfernen? Das war genauso intensiv, weil ich da selbst inszeniert habe. Ich verstehe nicht die Frage? Gab es einen Schmerz? Nee, überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass ich dort geblieben wäre. Nee, ich glaube, ich wäre dort nicht geblieben. Ich nehme an: nein. Es war an ein Ende gekommen? Zeitmäßig war das gut, es war richtig. Dass es so brutal verlief, ist eine andere Geschichte. Wo sollte ich hingehen? Nach Bremen, nach Freiburg? Nee. Wo sollte ich hingehen, nach Deutschland sowieso nicht. Berlin kam erst später. Ich habe

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Giorgio Strehler während einer Probe, Piccolo Teatro, Mailand, Mitte der 1980er Jahre.

auch zu lange in Mailand gewohnt. Die Vorstellung, in Berlin zu wohnen… nee, nee, warum nicht in Mailand, lieber in Italien… Ich inszeniere wenig in Paris und lebe in Paris. Der Faust war der Anlass, um nach Paris zu ziehen. Und in der Ruche zu wohnen, war ein Angebot von Francis Biras – für diese Faust-Zeit. Und danach hat sich die Möglichkeit automatisch verlängert. Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, irgendwann in Berlin zu wohnen. Es war in den ganzen Jahren so, dass in Berlin jedes Jahr neu entschieden wurde. Erst später kam ein DreiJahres-Vertrag. Ich wüsste nicht, wo ich in Deutschland hätte leben sollen. Gut, Berlin wäre das Beste gewesen, aber selbst da wollte ich nicht hin. Sie wollten außerhalb von Deutschland leben? Ja. Ich glaube, es war mir bewusst, dass der Weggang von der Schauspielschule nach Italien ein ziemlich endgültiges Weggehen von Deutschland ist. Lassen wir

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diese Frage offen. Ich kann ja nach meiner Rente nach Deutschland ziehen. Wie wär denn das? Dass der Kreis sich schließt. So wie Italien ganz natürlich für mich war, war und ist dieses Frankreich weiter unnatürlich. Frankreich stimmt viel mehr als Deutschland, das ist klar. Aber trotzdem ist es eigenartig in einem Land, wo man total verloren ist, wenn man nicht mindestens ein Buch über Philosophie geschrieben hat und wie am fließenden Band spricht, möglichst intelligent. Dass ich in so einem Land lebe, ist schon eigenartig. Aber – naja. Gab es bei Ihnen nicht eine frohe, emotionale Besetzung von Frankreich? Nee. Ich habe gelesen, dass Sie sich in die Schlange gestellt haben, um Karten für die Comédie-Française zu bekommen, aber nie eine Karte bekommen haben. Was lesen Sie denn? Ich habe irgendwann einmal gesagt, die Comédie-Française ist für mich eine Erinnerung und dass ich da einmal gestanden habe. Die Comédie-Française ist für jemanden, der an die Schauspielschule geht, wo immer auch, in Schweden oder in Italien, ein Begriff. Weil ich eine Freundin hatte, die in der Alliance Française studierte, bin ich lange Zeit jedes Wochenende samstags morgens um fünf Uhr früh in Les Halles angekommen, ich habe versucht, in die Comédie-Française reinzukommen und keine Karten gekriegt. Sonst Schluss aus. Nicht dass ich mich in Neckarelz in die Schlange gestellt und gesagt habe, einmal im Leben muss ich langsam nach Frankreich gewandert sein, um in die ComédieFrançaise zu kommen. Das kann man nicht sagen. Bruno Ganz meinte, dass Sie Paris erobern wollten? Das ist Bruno Ganz. Paris erobern – das stimmt auch nicht. Mein Problem ist das mit der Sprache, das ist ganz klar. Das wusste ich von vornherein, durch Lektüre und das bisschen Kultur, das ich habe, dass Frankreich ein Land ist, das auf Sprache ruht. Diese Art von Herausforderung gab es zwischen Frankreich und mir. Es ist heute noch so, wenn ich einmal im Jahr irgendwo eingeladen bin, wenn ich irgendwohin gehe, um conversation zu machen, weil ohne conversation können die Franzosen nicht leben. Sie haben auch vollkommen recht. Für mich ist es nach wie vor anstrengend, es ist nicht meine Welt, deswegen auch Racine usw. Und auch im tagtäglichen Leben. Ich lebe viel zu viel isoliert, und wo wir wohnen, ist sowieso der Arsch der Welt. Man kann nicht sagen, wir leben in Frankreich. Da, wo wir wohnen, ist nicht Frankreich. Da gibt es schon eine Art von défi, das deutsche Wort Herausforderung ist schon zu groß. Das hätte ein oder zwei Jahre dauern können, das ist nicht die Entscheidung gewesen, in

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Frankreich zu leben. Nach dem Bruch mit Italien, nicht nur mit dem Piccolo, das hat sich bei mir schon so ausgedrückt, hat mich die Arbeit nach Frankreich verschlagen. Die anderen Sachen waren mehr oder weniger als Ausflüge gedacht, bevor eine vertragsmäßige Sache mit der Schaubühne anfing. Von Frankreich aus hätte es mich nach München verschlagen können, ich weiß nicht, von wo ein Angebot hätte herkommen können. Das hat sich ziemlich normal entwickelt, ohne dass ich viel darüber nachgedacht habe. Hätte ich ein zwingenderes Angebot gehabt, öfter in Deutschland zu sein, dann hätte ich mir das sehr stark überlegt. Aber zu 99 Prozent hätte ich trotzdem gesagt, ich bleibe in irgendeinem anderen Land. In diesem Fall in Frankreich, weil ich schon dort war. Aber so war ich nur für zwei Monate für eine Inszenierung in der jeweiligen Stadt, und die Frage hat sich überhaupt nicht gestellt. Man darf nicht vergessen, dass ich in den ersten 15 Jahren im Schnitt eineinhalb, nicht zwei Inszenierungen, im Jahr gemacht habe. Zwischen einer und anderthalb. Wie kam der Kontakt zu Kurt Hübner nach Bremen zustande? Hübner kam nach Italien, er hat sich was angeschaut und hat mir ein Angebot gemacht. Das war für Sturm? Ja. Man hat immer über eine Sache gesprochen. Und ich bin nach Mailand zurück, und dann über die nächste Sache usw. In Bremen war die Zeit am Theater die Haschzeit? Ja. Ich habe nicht geraucht. Es war damals überall die Haschzeit. Sie haben erzählt, dass Ihre Zunge vom Haschisch trocken war, als Sie den Prospero gespielt haben. Ich habe das gemacht, um mich hochzumöbeln. Ich habe das nur gemacht für diese Geschichte. Ich dachte, damit schaffe ich es. Ich habe nicht während der Proben geraucht. Ich habe gesagt, ich habe so Schiss, und wenn die meinen, ich solle den Prospero übernehmen, und die werden alle so high von dem Gras, dann versuche ich mal ein Gras. Das war dann das Ergebnis. Ich habe eine Zigarette geraucht, und nachher habe ich es bleiben lassen, weil mit dem Ergebnis ging es nicht. Sie haben Grappa- und Weinflaschen auf der Bühne vergraben.

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Da hatte ich meine natürlichen Mittel, mit denen kannte ich mich aus. Ich dachte, eine Zigarette gibt mir noch einen Zusatzschub. Es war das Gegenteil. Ich weiß, dass um mich ziemlich viel geraucht wurde, aber ich nehme an, das wurde in jedem Theater um die Zeit. Es war ganz bestimmt eine Gruppe, von der das ausging. Haben Sie in der Zeit auch Peter Zadek kennengelernt? Zadek mag Ihre Arbeiten sehr. Auch ich das, was ich von ihm sehe. Ich mag ihn auch persönlich. Ich kenne die ganzen Beschreibungen von Schauspielern und ich kann mir auch vorstellen, wenn mehrere Personen da sind, dass er manchmal eigenartig ist. Wenn wir uns sehen, sehen wir uns meistens allein, kurz. Ich mag auch die wenigen Sachen, die ich sehe. In letzter Zeit hauptsächlich die Sachen, die nach Paris kommen, sonst sehe ich ja wenig. Zadek hat etwas sehr Offenes in seinem Wesen. Er kann auch sehr, sehr gut beschreiben, was er sieht. Er hat in einem guten Sinn etwas von einem Meister an sich. Er hat eine sehr, sehr weite, aber eine richtige Grammatik, Sachen zu beurteilen und darüber zu reden. Was z. B. auch Hübner besitzt, wenn er Sachen beschreibt. Das bewundere ich immer, wenn Leute ihre Eindrücke ziemlich genau beschreiben können. Das macht Zadek sehr schön. Die Beschreibung kommt bei Zadek von innen. Das Schöne ist, dass er keine Umwege braucht. Er präsentiert es so, es hört sich ganz einfach an und so ist es dann auch. Zadek schätzt an Ihren Inszenierungen, dass sie offen sind und in den Empfindungen nicht festgelegt oder festgezurrt sind. Da gibt es eine Affinität und eine große Nähe. Bei Ihnen entstand sehr früh der Kontakt zu den Malern. Das war 1968. Ich habe eine Ausstellung von Eduardo Arroyo gesehen und ihn kennengelernt. Wir hatten gemeinsame Freunde. Ich habe die Ausstellung gesehen und habe ihn gebeten, er soll sich für das nächste Stück etwas überlegen, und das war Off Limits. Und seitdem haben wir zusammengearbeitet. Und die anderen Maler waren schon in dem Freundeskreis von Eduardo drinnen, Antonio Recalcati, Gilles Aillaud und Titina. Diese Maler habe ich durch Arroyo kennengelernt. Für mich war das gut. Ich weiß nicht, ob ich das beschlossen habe. Ich wollte sehr früh jemanden in der Mitarbeit, der sich nicht unbedingt schon in

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theatrale Gesetze verstrickt hat. Bevor er schon an ein Bühnenbild denkt, denkt er schon daran, wie tief eine Bühne ist, wie viel Hänger da drin sind usw. Abgesehen von der Qualität des Malers – dieses Nichtbelastetsein. Für mich war der totale Analphabetismus dieser Leute wichtig. Ich wollte nie Bilder auf die Bühne bringen. Es war nicht die Idee, die Malerei von diesen Leuten auf die Bühne zu bringen. Jemanden zu haben, der sich nicht von vornherein in Wegen bewegt, die schon theatermäßig festschreiben, was möglich und nicht möglich ist. Eduardo Arroyo ist vom Boxen fasziniert. Er hat das Boxer-Drama Bantam geschrieben, das Sie 1986 in München uraufgeführt haben. Auch wieder mal ein Flop. Ein Riesenflop. Ellen Hammer könnte bei der Zusammenarbeit mit den Malern sagen, von wem was fürs Bühnenbild kam, aber im Grunde genommen weiß man später nicht mehr, wenn man das fertige Bühnenbild sieht, ob dieses Element von Gilles Aillaud oder von mir gekommen ist. Die Maler greifen oft mit ihren Überlegungen für das Bühnenbild in die Inszenierung ein. Ich staube von diesen Überlegungen für die Inszenierung sehr viel ab. Und umgekehrt gibt es viele Sachen, die man später als Bühnenbild sieht, die von mir kommen. Das ist später sehr, sehr schwer trennbar. Man würde staunen, wenn man das gerade mal bei Parsifal auseinanderdividieren würde, welches bühnenbildnerische Element von wem kam. Das überschneidet sich sehr stark. Das ist auch das Schöne in der Mitarbeit mit den Malern. In dem Moment, wo einer eine Farbe sagt, oder wie materiell oder immateriell er es sich vorstellt, hat das Konsequenzen. Ich weiß, was diese Überlegung für das Gesamte bedeutet und nicht nur für das Bühnenbild. Ich weiß nicht, ob ich dagegen oder dafür bin. Aber wenn ich dafür bin, kann ich sehr, sehr viel für meine spätere, sogenannte Regiearbeit ableiten. Die Übergänge sind sehr, sehr fließend. Ein guter Teil der plastischen, malerischen Elemente kommt von mir und nicht von den Malern. Diese Zusammenarbeit ist sehr gebend und nehmend. Die Maler sind natürlich eigensinnig, das ist klar. Sie sind erstmal ziemlich starr und unbiegsam, man kann ein fertiges Bild nicht umdrehen. Ein Bild ist halt fertig. Ihre Mentalität ist im Grunde genommen das Gegenteil von dem, was ich mir vorstelle, liebe und schätze, wenn ich ans Theater denke. Die Mentalität ist etwas Fertiges, nicht etwas Fließendes, bei den Malern ist es fertig. Den Horror, den ich vor der Photographie habe, diesen Horror habe ich fürs Theater, etwas Festgehaltenes, was ist und so bleiben muss – das ist für mich der Tod. Es gibt da natürlich unheimlich schöne Spannungen. Deswegen ist für mich die Zusammenarbeit mit den Malern so fruchtbar. Wie war die Zusammenarbeit mit Gilles Aillaud für Parsifal?

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Genauso, wie ich es eben beschrieben habe. Es hat sich sehr, sehr ausgetauscht. Um das zu erfahren, müssen Sie Ellen Hammer zum Essen einladen, von mir kriegen Sie das nicht. Ich sag’ mal, weil ich es vergessen habe. Ich weiß nicht mehr, was von wem gekommen ist. Oft ist es so. Es ist wirklich oft so. Wenn ich darüber nachdenke, dann weiß ich, das hat dieser oder jener Maler in dem Gespräch reingeschossen. Der Tisch in Parsifal z. B. ist von mir. Spreche ich von enorm plastischen Sachen, denkt man, der Tisch hätte von Gilles Aillaud sein müssen. Der Tisch ist von mir. Und dann hat Gilles beim Gral noch gesagt – ein objet trouvé. Wenn Gilles Aillaud so etwas sagt, dann spannt es bei mir, mir langt das. Wenn er dann weiter macht, von einem Stein redet, aber mir langte objet trouvé. Ein Bühnenbildner würde das nicht sagen, ein Kostümbildner auch nicht. Objet trouvé hat für mich einen Umkreis. Es kommt darauf an, in welcher Sprache das ist, bei »Fundsache« springe ich überhaupt nicht an. Bei objet trouvé kann bei mir nichts mehr schiefgehen. Es kann dann etwas ganz Anderes sein. Gilles sagt objet trouvé vielleicht, weil er nicht weiter darüber nachdenken will, während es für mich das Schlüsselwort ist. Ich umkreise es. Es kann das hässlichste Ding sein, aber es wird für mich richtig sein. Bei Gilles ist es oft so, dass er nebenher etwas sagt. Ich bin bei solchen Gesprächen der beste Zuhörer auf der Welt oder der cleverste Dieb, man kann alles nehmen, ich bin da sehr clever. Ich bin unheimlich schnell. Ich verliere kein Wort. Gilles kann einschlafen, was er manchmal tut, und irgendetwas murmeln, ich hab’s und mache mir was draus. Da bin ich unschlagbar. Man kann es stehlen nennen oder Aufmerksamkeit, wie man’s will. Auch wenn das Gespräch schon abgeschlossen ist und Gilles nachher im Restaurant schon über etwas ganz Anderes spricht, und ich Ellen unter dem Tisch mit dem Fuß berühre, weil sie es eine Sekunde vor mir ansprechen will und ich weiß, der psychologische Moment ist noch nicht gekommen. Deswegen stuppe ich sie an, noch nichts zu sagen. Dann haue ich irgendetwas in die Luft und sage, non, n’ importe quoi – un objet trouvé. Dann weiß ich, der Tag ist für mich geritzt. Das ist so wunderschön mit den Malern. Jeder auf seine andere Art. Mit Eduardo Arroyo spreche ich auf Italienisch, da kommt es andersrum, weil sein Charakter auch anders ist. Das ist sehr schön. Das ist eine Sprache, abgesehen von den Charakteren, von Eduardo Arroyo, Antonio Recalcati, Titina Maselli, Francis Biras, Gilles Aillaud usw. – das sind schon unheimliche Typen, da musst du schon… die sind stark, unterschiedlich, sie sind sehr stark. Da kommen Welten hoch. Das ist unheimlich bereichernd. Für mich ist das phantastisch. Oft musst du nebenhören, das Wichtigste kommt plötzlich so nebenher. Man denkt, es ist schon fertig, abgehakt, und dann kommt noch eine kleine Bemerkung und die ist es dann. Ich habe da immer ein bisschen einen Stolz gehabt, dass ich in der Lage bin, Nebensächlichkeiten plötzlich ins Zentrum zu rücken. Wenn ich da auch beim ersten Gespräch schweige, einer von denen anfängt und oft schütze ich mich, sie wollen mich immer mit etwas Fertigem überwältigen. Ich halte mich

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zurück, lass das nicht in sich zusammenfallen, dass es ein bisschen ausläuft und dann kommt etwas ganz Fernes, mit halber Kraft, es kommen Nebenbewegungen, und die kann ich ins Zentrum rücken und um sie herum die Aufführung bauen. Es ist nicht immer so, oft geht es anders. Das ist der Vorgang, der sich hier abspielt. Das ist unheimlich, unheimlich aufregend. Das ist sehr aufregend. Das ist sehr schön, sehr mobil. Das hat nur einen Sinn, wenn du wirklich alle Antennen ausgestreckt hast, sonst reduzieren sich die Gespräche sehr auf irgendetwas. Das ist ein schönes intellektuelles Spiel. Das macht mir unheimlich Spaß. Mindestens die Hälfte der Inszenierung entscheidet sich für mich in diesen ersten zwei Gesprächen. Das ist ganz klar. Bevor ich hinkomme, weiß ich ziemlich viel. Ich weiß z. B. alles, was nicht geht. Ich weiß ganz wenig, was geht, aber ich habe schon einen Rahmen. Für manche kann der Rahmen sehr groß, für manche kann er sehr eng sein, es kommt darauf an, wie man das auffasst. Bevor ich ankomme, glaube ich, dass ich so ziemlich genau das Gespür habe, was nicht möglich ist. Und das ist schon sehr viel. Was man nicht tun soll. Das ist auch Schauspielern gegenüber so. Das ist generell so. Welche Empfindungen standen am Beginn von Parsifal? Huch, das ist mir… Ach, ich beschäftige mich nie mit dem Tod, nie mit Erlösung. Weder Tod noch Erlösung – das sind Fragen, die kommen bei mir nicht runter. Alles, was ein bisschen Bedeutung hat, kommt bei mir nicht an. Nee, das ist nicht drin. Das sind ungute Fragen, weil ich überhaupt nichts weiß. Aber das macht nichts, wir sortieren hier aus. Aber es ist ganz klar, dass ich, bevor ich mir überhaupt irgendwelche Fragen über Tod oder Erlösung stelle, oder wie das ganze Zeug heißt, werde ich unheimlich in die Musik reingenommen. »Sein Weibchen zu suchen…« – das hat mir Ellen Hammer nach der Premiere gesagt, dass der Text so in Parsifal steht, übertrieben gesagt. Das Motiv finde ich wunderbar, aber wenn Ellen Hammer mir dies vor Vertragsunterschrift gesagt hätte, hätte ich nein gesagt. Dann verzichte ich nächstes Jahr auf Ferien. Nee, um Himmels willen. Deswegen finde ich die Frage unanständig. Wenn Du nicht weißt, dass ich sowieso jeden Abend das singe, und mit Tod und Erlösung zu tun habe, dass ich das noch einmal ausdrücken muss, ist es ja unanständig, obszön. Durch Mitleid wissend. Das sind Sachen, die ich offensichtlich von der Geburt an drin habe. Ich glaube nicht, dass man sehr viel anderes inszeniert als die zwei, drei Fragen, die man hat und unbeantwortet lässt. Und bei denen man rumsucht, mehr ist da nicht drin. Ob das jetzt bei einem Maler oder bei einem Schriftsteller ist, selbst bei einem minderwertigen Beruf wie bei einem Regisseur. Es kommt mir vor, dass ich

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Gespräch mit Klaus Michael Grüber

immer die zwei, drei gleichen Fragen vor mir rumtrage, mal stürmischer, mal abgeklärter, mal dümmer, manchmal wacher, aber im Grunde genommen, ob gehoben in Musik oder in ein Shakespeare-Gemetzel, die zwei, drei Frägelein, die wir haben, ich sehe keinen großen Unterschied. Das Gespräch wurde Anfang März 1998 von Klaus Dermutz in Brüssel geführt.

Klaus Dermutz

Brief an Klaus Michael Grüber

Constanze Schuler

Wege ins Offene – Die nicht mehr realisierten Projekte Klaus Michael Grübers: Luci mie traditrici / Die tödliche Blume (Salzburg) und Die Griechische Passion (Zürich)

Es mag auf den ersten Blick spekulativ und vom wissenschaftlichen Standpunkt zumindest gewagt erscheinen, über Inszenierungsprojekte Klaus Michael Grübers zu schreiben, die von ihm selbst nicht mehr realisiert wurden. Gleichzeitig übt das Unvollendete, das Fragmentarische und auch das Nicht-Mehr-Realisierte eine gewisse Faszination aus. Es »ködert die Phantasie«, provoziert »die Vorstellung seiner Vollendung« und, so ergänzt Andrea Breuer im Wissen um die latente Absurdität dieser Aussage: »Was noch nicht fertig ist, könnte zu etwas nie Gesehenem werden.«1 Im 18. Jahrhundert hat die Ästhetik des Fragments in der Kunstgeschichte, der Literatur, Poesie und Musik eine bis dahin ungekannte Aufwertung und Wertschätzung erfahren. Der lateinische Begriff »fragmentum« bezeichnet seither nicht mehr nur den defizitären Überrest, das Übriggebliebene oder das Bruchstück, sondern wird auch als »das Stückwerk (lat. pars), das Unvollendete, das Stück hin zum disponierten, aber nicht realisierten Ganzen«2 verstanden. In Übertragung auf die Theater- oder Inszenierungsgeschichte birgt der Vergleich mit Fragmenten aus dem Kontext der bildenden Künste, der Literatur oder Musik jedoch eine zentrale Problematik: Während dort zumeist manifeste und materielle Artefakte existieren, stehen wir mit Blick auf nicht mehr realisierte Inszenierungen für das Theater mit mehr oder weniger leeren Händen da. Sofern es keine aussagekräftigen Notate oder Skizzen, keine Briefdokumente, Aufzeichnungen oder andere Archivalien gibt, die eine Konzeption greifbar machen, fällt es schwer, einen Ansatzpunkt für eine zuverlässige Aufarbeitung solch flüchtiger Spuren zu finden. Obwohl viele Regiearbeiten Klaus Michael

1 Breuer, Andrea: »Die Magie des Unfertigen«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 07. 07. 2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/unfinished-eine-faszinierende-ausstellung-ueber-das-unvollen dete-in-new-york-bilder-mit-durchblick-ld.104310 [27. 08. 2020]. 2 Becker, Karina (2012): Der andere Goethe. Die literarischen Fragmente im Kontext des Gesamtwerks. Frankfurt a. M., 9.

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Constanze Schuler

Prometheus, gefesselt: Bruno Ganz (Prometheus), Felsenreitschule, Salzburger Festspiele, 1986.

Grübers durch ein Bekenntnis zum Fragmentarischen3 geprägt sind und sich die Denkfigur des Fragments auch im theaterwissenschaftlichen Diskurs (und mit Blick auf ästhetische Entwürfe, die sich einer repräsentativen Abgeschlossenheit

3 Vgl. hierzu das Gespräch von Klaus Dermutz mit Friedemann Kreuder: »Klaus Michael Grüber thematisierte in seiner Arbeit das enorme Potenzial der Zerstörung«. In diesem Band.

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programmatisch entziehen) als produktiv erwiesen hat4, scheint das Konzept des Fragments nur bedingt für eine Beschäftigung mit den nicht mehr realisierten Projekten Grübers geeignet. Aus Mangel an Belegen lässt sich sicherlich auch nicht von einem »Vermächtnis« oder einem künstlerischen Testament sprechen – auch das wäre eine gängige Lesart, die an das Unvollendete angelegt werden könnte, die aber auch oft zu einer unzulässigen Überhöhung eines »schöpferischen Genius« im Angesicht des Todes und der künstlerisch-kreativen Endlichkeit führt. Welche alternativen Zugänge eröffnen sich also im Hinblick auf eine Beschäftigung mit den beiden geplanten Inszenierungen Luci mie traditrici / Die tödliche Blume und Die Griechische Passion auch angesichts der eher dürftigen, wenn auch unterschiedlichen Quellen- und Ausgangslage? Während Grüber an der Konzeptionsphase der Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Oper Luci mie traditrici / Die tödliche Blume, deren Premiere in der Salzburger Kollegienkirche für Anfang August 2008 vorgesehen war, zumindest nominell noch beteiligt war, liegt zu den Planungen im Hinblick auf die Premiere von Bohuslav Martinu˚s Oper Die Griechische Passion an der Oper Zürich lediglich eine Notiz zu dem geplanten Probenzeitraum vor.5 Unter Berücksichtigung der prekären Quellenlage wird es im Rahmen dieses Beitrags um die Frage gehen, welche Bildund Gedankenwelten, welche musikalischen Kontexte, welche dramaturgischen Motive und räumlichen Bezugspunkte diese Werke eröffnen und wie sie sich zu anderen, in diesem Band aufgegriffenen Lebensthemen und Regiearbeiten Klaus Michael Grübers in Bezug setzen lassen. Zweifellos haben beide Werke eigene imaginäre und künstlerische Welten eröffnet, die sich im doppeldeutigen Begriff der »Passion« (verstanden als Leiden, Leidensweg einerseits und als Leidenschaft andererseits) überschneiden und Klaus Michael Grübers Wanderschaft auf der letzten Etappe seines Lebens6 begleitet haben. Es wird aber auch zu untersuchen sein, welche Spuren diese Projekte hinterlassen haben – bei den Künstler*innen, die die Arbeiten weiter- bzw. ausgeführt haben, aber auch in Bezug auf vielfältige Resonanzen, die das Schaffen Grübers erzeugt hat. Ein Nachzeichnen dieser Projekte verweist also notwendigerweise auf das Offene, das Unabgeschlossene und das Prozessuale, in dem sich menschliches 4 Vgl. Bierl, Anton / Siegmund, Gerald / Meneghetti, Christoph / Schuster Clemens (Hg.) (2009): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld. 5 Probenpläne zu Klaus Michael Grübers »Elektra«, »Boris Godunow« und den beiden nicht realisierten Projekten »Luci mie traditrici« und »Die Griechische Passion«, Klaus Michael Grüber-Archiv, Akademie der Künste, Berlin. Der Probenzeitraum war vom 1. Oktober bis zur Premiere am 9. November 2008 angesetzt. https://archiv.adk.de/objekt/2704265 [29. 08. 2020]. 6 Zum Bild der Wanderschaft und des Homo Viator vgl. Grüber, Martin: »Ansprache in der Trauerfreier für Klaus Michael Grüber am 25. Juni 2008 in Lorient«. In diesem Band. Sowie Dermutz, Klaus: »Klaus Michael Grüber – Homo viator«. In diesem Band.

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Leben, aber auch künstlerische Entwürfe situieren. In Kunstwerken wird – so argumentiert Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung – das Unabgegoltene der Vergangenheit lebendig erhalten, in der ontologischen Kategorie des »Noch-Nicht« eröffnen sich gleichzeitig auch utopische und spielerische Möglichkeitsräume, die von einem elementaren Hunger, aber auch Sehnsüchten und Tagträumen gespeist werden.7 Das Kunstwerk, aber auch die kreative-schöpferische Produktivität des Menschen ist, Bloch zufolge, Ausdruck eines utopischen Bewusstseins, es befindet sich im Stadium des »Vor-Scheins« und antizipiert – im ästhetischen Modus des Offenen, Fragmentierten – ein »Noch-Nicht-Bewußtes, […] eine Dämmerung nach vorwärts, ins Neue«8. Auch das Motiv der Spur nimmt in Blochs Philosophie eine zentrale Stellung ein, »indem es eine der mannigfaltigen Figuren des Weltprozesses repräsentiert und die Themen der Reise in ein unbekanntes Land, die Entdeckung des Vor-Scheins und des NochNicht miteinander verbindet«9. Es soll also Ziel dieses Beitrags sein, Spuren der nicht mehr realisierten Theaterarbeiten Grübers aufzunehmen und dabei anzuerkennen, dass »Spuren im Endeffekt Realitäten [sind], die sich dem Denken präsentieren in Form von Abfall, Fragmenten, Nichtigkeiten, als Ereignisse, die doppeldeutig und zersplittert, aber existenziell und utopisch intensiv sind, da sie in pulsierenden und unentschiedenen Momenten wahrgenommen wurden, die zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht angesiedelt sind«10. »Denn stark wie die Liebe ist der Tod«, so lautete das dem Hohelied Salomos entlehnte Leitthema des Salzburger Festspielsommers 2008. Fast noch suggestiver wird das Zitat in seiner Weiterführung im Hohelied: »Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. / Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken.«11 Im Hinblick auf die thematische und musikalische Spannbreite spürten viele Festspielproduktionen des Jahres 2008 diesem Motto nach und loteten das Verhältnis von Liebe, Tod und Leidenschaft in szenischen Entwürfen aus.12 Das Leitthema schlägt damit einen Dreiklang an,

7 Vgl. hierzu Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M., insbesondere 161–166. 8 Bloch [1959] 1985, 86. 9 Boella, Laura: »Spuren«. In: Dietschi, Beat / Zeilinger, Doris / Zimmermann, Rainer E. (Hg.) (2012): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin / Boston, 510. 10 Ebd., 511. 11 Hohelied 8, 6–7. In: Die Bibel. Lutherübersetzung. Stuttgart, 2017, 699. 12 Bekannte Werke und Vorlagen wie Mozarts Don Giovanni (Regie: Claus Guth) oder Dostojewskis Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) (Regie: Andrea Breth) strukturierten das Festspielprogramm dieses Jahres ebenso wie z. B. die Adaption von Joan Didions autobiographischem Roman The Year of Magical Thinking in einem Gastspiel des National Theatre (London) mit Vanessa Redgrave als Protagonistin, die in einem intensiven Monolog das

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der zentrale Koordinaten des menschlichen Lebens aufgreift und sie musikalisch, literarisch-dramatisch und visuell verhandelt. Auch Salvatore Sciarrinos Oper Luci mie traditrici13, die im Rahmen der Konzertreihe Kontinent Sciarrino14 am 3. August 2008 Premiere hatte, greift mit dem Mord des Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo an seiner Frau Maria d’Avalos und deren Liebhaber eine historisch verbürgte Geschichte auf, die die Themen Liebe, Leidenschaft, und Tod in der musikalisch verdichteten Tonsprache Salvatore Sciarrinos reflektiert. Für die szenische Realisierung hatten die Salzburger Festspiele Klaus Michael Grüber als Regisseur, die Künstlerin Rebecca Horn für Bühne und Kostüme sowie Beat Furrer für die musikalische Leitung des »Klangforum Wien« gewinnen können. Erstmals seit 1987 wurde die Salzburger Kollegienkirche wieder zur Spielstätte für eine szenische Aufführung im Rahmen der Salzburger Festspiele.15 Klaus Michael Grüber hatte zuvor mehrfach für die Salzburger Festspiele inszeniert und das dürfte, ebenso wie die vorangegangene Zusammenarbeit mit Markus Hinterhäuser16 im Rahmen der Inszenierung von Leosˇ Janácˇeks Tagebuch eines Verschollenen bei den Wiener Festwochen 2004, ausschlaggebend für die Verpflichtung Grübers gewesen sein. 1986 schrieb Grübers Inszenierung von Aischylos’ Prometheus, gefesselt in der Bearbeitung Peter Handkes Festspielgeschichte und polarisierte Publikum wie Theaterkritik. Antonio Recalcati hatte die Felsenreitschule unter Einbezug des Mönchsbergfelsens in eine düstere, vulkanische Landschaft verwandelt und das Bild des an den Felsen geketteten Prometheus – von Bruno Ganz mit scharf konturierter Schminkmaske als ein rastloser Wanderer gespielt, der von Zeus zur Bewegungslosigkeit verdammt ist – hat sich ikonisch in das Theatergedächtnis eingeschrieben. 1992 folgte im Bühnenbild von Eduardo Arroyo die Inszenierung von Leosˇ Janácˇeks Aus einem Totenhaus im Großen Festspielhaus und im Jahr 1999 inszenierte Klaus Michael Grüber dort Richard Wagners Tristan und Isolde für die Osterfestspiele.

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Phänomen des Todes zu fassen sucht und dabei die Trauer als persönlichen Katalysator der Erinnerung entdeckt. Wörtlich übersetzt bedeutet der Titel »Mein trügerisches Augenlicht«. Seit der Uraufführung 1998 in Schwetzingen ist die Kammeroper unter dem Titel Die tödliche Blume im deutschen Sprachraum bekannt geworden. Die Kontinent-Reihe war von 2007–2011 Teil des Konzertprogramms der Salzburger Festspiele und widmete sich jedes Jahr einem ausgewählten Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts. Zur Geschichte der Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Salzburger Festspiele vgl. Schuler, Constanze (2007): Der Altar als Bühne. Die Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Salzburger Festspiele. Tübingen. An der Produktion Tagebuch eines Verschollenen war Markus Hinterhäuser als Pianist beteiligt, seit 2007 zeichnete er für den Konzertbereich bei den Salzburger Festspielen verantwortlich.

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Während das Große Festspielhaus wohl keiner der von Grüber bevorzugten, geschichtsträchtigen Aufführungsorte gewesen sein dürfte, trifft dies für die Salzburger Kollegienkirche durchaus zu. In seiner Regielaufbahn hat Klaus Michael Grüber »immer wieder das Theater verlassen und nach anderen Orten gesucht, an denen er seine Recherchen unternehmen konnte. Die Wahl dieser Orte war meistens verbunden mit der Geschichte, die diesen Orten eingeschrieben ist«17. Bedingt durch die Besonderheiten des Aufführungsortes, aber auch konform zu Grübers bevorzugtem Arbeitsstil, war eine kurze, intensive Probenphase am Originalschauplatz ohne Vorproben auf einer Probebühne vorgesehen.18 Auch die geplante Zusammenarbeit mit einer der renommiertesten internationalen Gegenwartskünstlerinnen, Rebecca Horn, setzte eine der wesentlichen Konstanten von Klaus Michael Grübers Theaterarbeiten konsequent fort: Grüber arbeitete bevorzugt mit bildenden Künstlerinnen und Künstlern zusammen und ließ sich von deren szenographischen Entwürfen und visuellen Impulsen zu seinen Regiearbeiten inspirieren.19 So vielversprechend die künstlerischen Vorzeichen für diese Produktion waren, so besorgniserregend waren die Meldungen zum Gesundheitszustand Klaus Michael Grübers, die bereits im Vorfeld in der Presse kursierten. Am 20. Juni 2008 gaben die Salzburger Festspiele eine Pressemeldung heraus, in der bekanntgegeben wurde, dass Klaus Michael Grüber die Arbeit an der Inszenierung gesundheitsbedingt abbrechen musste und Rebecca Horn die Inszenierung gemeinsam mit Grübers langjähriger Regiemitarbeiterin Ellen Hammer übernimmt.20 Am 23. Juni gaben die Salzburger Festspiele den Tod Klaus Michael Grübers bekannt. Die Inszenierung von Sciarrinos Luci mie traditrici, die wie ursprünglich vorgesehen am 3. August 2008 Premiere hatte, wurde dem »Andenken an Klaus Michael Grüber (1941–2008) gewidmet«21 und in der Rezension des Tagesspiegels war zu lesen: »[…] man hat durchaus den Eindruck, dass sich der Regiemeister in der kochenden Kühle, der implodierenden Leidenschaftlichkeit dieser Aufführung gut aufgehoben gefühlt hätte.«22 17 Dermutz, Klaus (2008): Klaus Michael Grüber. Passagen und Transformationen (= Resonanzen. Theater – Kunst – Performance, hrsg. v. Ingrid Hentschel, Bd. 2). Berlin, 9. 18 Entsprechend einer Notiz im Archiv der Salzburger Festspiele, sollten die Proben vor Ort am 8. Juli beginnen, eine Vorbesprechung mit den künstlerischen Verantwortlichen und dem Hochschulpfarrer der Kollegienkirche war für den 18. Juni 2008 geplant. 19 Eine wiederholte Zusammenarbeit verband ihn insbesondere mit Gilles Aillaud, Eduardo Arroyo, Francis Biras, Anselm Kiefer, Titina Maselli und Antonio Recalcati. 20 Pressemeldung Salzburger Festspiele vom 20. 06. 2008, Archiv der Salzburger Festspiele. 21 Programmheft Salvatore Sciarrino (2008): Luci mie traditrici / Die tödliche Blume. Salzburger Festspiele, 1. 22 Lemke-Matwey, Christine: »Mittagshitze in kühlen Gärten. Salzburger Festspiele: Rebecca Horn inszeniert Sciarrino – in memoriam Klaus Michael Grüber«. In: Der Tagesspiegel vom 5. 8. 2008. https://www.tagesspiegel.de/kultur/salzburger-festspiele-mittagshitze-in-kuehlengaerten/1293544.html [1. 8. 2020].

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In meiner Erinnerung an die Aufführung23 entfaltet sich ein dichtes Netz an Assoziationen, das ihren Ausgangspunkt nicht nur von den visuell-akustischen Parametern der Inszenierung Rebecca Horns, sondern auch von den atmosphärischen, architektonischen und (theater-)historischen Gegebenheiten der Kollegienkirche, dem (durch theaterwissenschaftliche Diskurse disponierten) Bild- und Gedächtnisarchiv anderer Grüber-Inszenierungen nahm und zusätzlich von der Widmung »in memoriam Klaus Michael Grüber« überlagert wurde. Die barocke, im Jahr 1707 eingeweihte Kollegienkirche des Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach bildete den architektonischen und atmosphärischen Rahmen für die Inszenierung. Die Kirche liegt im Stadtzentrum, nur wenige Meter von den Festspielhäusern entfernt, und prägt durch ihr markantes Erscheinungsbild, die mächtige Kuppel, die flankierenden Türme und die beeindruckende Schauseite24 das Stadtbild wie kaum ein anderes Bauwerk. Tritt man vom oft durch Marktstände belebten Vorplatz ins Innere der Kirche, stellt sich nicht selten eine gewisse Verblüffung ein (die nach der umfassenden Restaurierung der Kirche in den Jahren 2003–2013, die optimierte Lichtsituation und die intensivierte Weißfärbelung des Innenraums noch an Faszinationskraft gewonnen hat), handelt es sich doch nicht um den prachtvoll, barock ausgestatteten Innenraum, den das äußere Erscheinungsbild erwarten lässt. Das langgezogene hochaufragende, »schluchtende« Mittelschiff löst eine Sogwirkung aus, die auf den ersten Blick in einem Spannungsverhältnis zu der Kreuzform des Grundrisses zu stehen scheint und dazu einlädt, verschiedene Standpunkte einzunehmen, um die »komplexen Raumauffassungen«25 des Architekten Fischer von Erlach zu erkunden. Die fehlende Innenraumbemalung sorgt vielleicht für die stärkste Irritation: Während viele barocke Kirchenräume illusionistische Deckenmalereien nutzen, um den Blick – in konsequenter Überblendung von Dies- und Jenseits, Sein und Schein – quasi in den geöffneten Himmel zu lenken, den Menschen an seine Vergänglichkeit zu erinnern und auf die paradiesischen Verheißungen zu verweisen, hatte Fischer von Erlach offenbar keine Malereien vorgesehen, sondern 23 Am 8. August 2008 hatte ich die Aufführung in der Salzburger Kollegienkirche gesehen. Beschreibungen stützen sich in erster Linie auf das individuelle Erfahrungsgedächtnis, beziehen aber auch Bildmaterialien und Rezensionen mit ein. Die Analyse verbindet somit aufführungsanalytische und theaterhistoriographische Ansätze und versteht sich als Weiter-, Fort- und Um-Schreibung des Theaterereignisses. Zu diesen methodischen Grundlagen vgl. Kreuder, Friedemann (2002): Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin, 9–16. 24 Zu einer kunsthistorischen Einordnung und Analyse vgl. Kreul, Andreas (2013): »Ein Tempel der Weisheit und des Glaubens«. In: Gobiet, Ronald (Hg.), Kollegienkirche Salzburg. Das Meisterwerk des J. B. Fischer von Erlach (= Salzburger Beiträge zur Kunst und Denkmalpflege VII). Salzburg, 44–59. 25 Ebd., 53.

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Innenraumansicht der Salzburger Kollegienkirche von der Empore.

auf eine klare Architektur, eine ausgefeilte Lichtregie, streng weiß getünchte Wände, glatte Oberflächen und eine Stuckierung im Apsisbereich gesetzt, die – auch hier konsequent Weiß-in-Weiß gehalten – die Oberfläche aufbricht und Raumgrenzen zwischen Innen und Außen aufzulösen scheint. Vor wie nach der Restaurierung des Innenraums (die zum Zeitpunkt der Aufführungsserie von Luci mie traditrici 2008 noch nicht begonnen worden war) ist es diese visuelle Offenheit und fast schon puristische Kargheit, die die menschliche Vorstellungskraft beflügelt und in der Geschichte der Festspiele dafür gesorgt hat, dass die Kollegienkirche immer wieder zum atmosphärischen Aufführungsort, aber auch zur Einschreibefläche für konzertante Aufführungen, installative Interventionen und szenisch-theatrale Erlebnisse werden konnte.26 Eine visuelle Spur

26 Schon Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal beriefen sich für die Uraufführung des »Salzburger Großen Welttheaters« (1922) auf das Potenzial dieses Aufführungsortes. In einem Brief an Emil Ronsperger, den Finanzreferenten der Salzburger Festspiele, unterstrich Hugo von Hofmannsthal das Interesse an der Kollegienkirche nachdrücklich: »Eben um jenen Barockraum, nicht um irgendeinen Raum oder um irgend eine Kirche geht es ihm, sondern um dieses eine prächtige Gebäude, eben um Fischer von Erlachs Kirche […] und meine Arbeit hat gleichfalls diesen Raum und seine besondere Bedingung, die Barockatmosphäre eines feierlich geschlossenen Raumes zur absoluten Vorausbedingung. […] Ich hoffe durch diese Zeilen klar gemacht zu haben, dass ein Abweichen von dem in Salzburg Festgelegten in Bezug auf das Lokal nicht etwa […] eine nebensächliche Sache, ein Detail der Ausführung ist, sondern dass es sich hier um den eigentlichen Lebenspunkt der Sache

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führt von diesem Aufführungsort auch zu Klaus Michael Grübers Faust Salpêtrière-Inszenierung aus dem Jahr 1975. Schauplatz der Inszenierung war die Chapelle Saint Louis auf dem Gelände des ehemaligen Hôpital de la Salpêtrière, die mit ihrem kreuzförmigen Grundriss, dem zentralen Kuppelbereich, dem sparsam verputzen Mauerwerk und den Höhendimensionen durchaus Ähnlichkeiten mit der Kollegienkirche aufweist. Das Bildmaterial zur Faust Salpêtrière-Inszenierung27 macht die Vereinzelung des Menschen, das zentrale Motiv der Wanderschaft Fausts sowie das Spannungsfeld zwischen Gottessuche und Gottverlassenheit im monumentalen Raum spürbar. Für ihre Inszenierung von Salvatore Sciarrinos 1998 in Schwetzingen uraufgeführter Oper Luci mie traditrici entschied sich Rebecca Horn für eine ebenso intensive wie zurückhaltende Umsetzung, die den verschiedenen Ebenen Bild, Raum, Musik und Darstellung ein eigenes Wirkungsspektrum eröffnete. Der erhöhte Bühnenbereich wurde zum Altarraum hin durch eine Videoleinwand abgetrennt, auf die zwei Bilder von Rebecca Horn projiziert wurden: Der Pfauen Traum im Schmerz (2007) ist das dominierende Bild des ersten Aktes, Herzfieber (2007) bestimmt den zweiten Akt.28 Beide Bilder befinden sich parallel zur Handlung und zu den musikalischen Variationen Sciarrinos29 in einer ständigen Metamorphose: Blütenblätter, Blutstropfen und Farbschlieren flirren über die Projektionsfläche und greifen das Motiv der Rose auf, das bereits in der ersten Szene als eine Art düsteres Menetekel von der Vergänglichkeit der Liebe zeugt. Beim gemeinsamen Flanieren im Garten zeigt der Graf der Gräfin eine verborgene Rose; die Gräfin – der Figurenname La Malaspina verweist bereits auf den Stachel der Eifersucht, der letztlich zu ihrem Tod führt – pflückt die Rose und verletzt sich an ihren Dornen. Der Anblick ihres Blutes führt zu einer Ohnmacht des Grafen (Il Malaspina) und in der Folge zu einem Gespräch über die Liebe und einem Liebesschwur, der durch die aufkeimende Leidenschaft zwischen einem Gast des Hauses (L’Ospite) und der Gräfin zunehmend ins Wanken gerät. Ein in die Gräfin verliebter Diener berichtet dem Grafen vom Betrug der Gattin, der Graf muss seine Ehre wiederherstellen. Er tötet zunächst den Geliebten und schließlich in der Nacht auch seine Frau, die Gräfin: »È vostra questa spina, io voglio pungervi / Dieser Dorn ist Eurer, ich will Euch stechen.«30

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handelt.« Hofmannsthal, Hugo von: Brief an Emil Ronsperger vom 9. 10. 1921, Archiv der Salzburger Festspiele. Vgl. hierzu die entsprechende Fotostrecke im bibliophilen Bildband von Walz, Ruth (Fotos) / Ganz, Bruno (Texte) / Herrmann, Karl-Ernst (Gestaltung) (2009): Der Verwandler. Klaus Michael Grüber. Berlin, o. S. Vgl. Programmheft Luci mie traditrici 2008, 7 u. 9. Zu kompositionstechnischen und musikästhetischen Prinzipien bei Salvatore Sciarrino vgl. Karger, Reinhard: Vom Schrecken des Schweigens. Zur Ästhetik des Erhabenen in Salvatore Sciarrinos Musikdramatik. In: Programmheft Luci mie traditrici 2008, 48–53. Libretto »Luci mie traditrici« (ital./dt.). In: Programmheft Luci mie traditrici 2008, 77.

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Der Handlungsbogen ist zu einer zeit-räumlichen Einheit verdichtet, ereignet sich in Garten und Haus, beginnt am Morgen und endet in der Nacht. Auch die Komposition Sciarrinos und das Libretto, das sich an Giacinto Andrea Cicogninis Dramentext Il tradimento per l’onore (1664) orientiert, arbeitet mit einer konsequenten Reduktion. Affekte werden musikalisch wie sprachlich präzise kanalisiert und neben kühler Distanz wird so auch eine Atmosphäre des Geheimnisvollen und der unterdrückten Leidenschaftlichkeit evoziert.31 Die Vokalpartien bilden die musikalische Mitte, der gläsern durchsichtige Instrumentalklang dient ihnen als Hallraum und Aura. Oder in Sciarrinos eigenen Worten: »Jede Handlung hinterlässt einen unendlichen Widerhall; Schatten, Andeutungen und Widersprüche, die sich häufen, verändern; das Vorher und das Nachher, das Volle und das Leere; ein undurchlässiges Schweigen, indem Fragen in Fragen und Antworten in Antworten sich verlieren.«32

Die hochsymbolische und musikalisch komplexe Zeichensprache greift Rebecca Horn in der visuellen Gestaltung, aber auch in der sparsam-konzentrierten Figurenführung auf. Die auf die Leinwand projizierten, fragilen Metamorphosen verstärken die thematischen, aber auch durch den barocken Kirchenbau hervorgerufenen Bezüge und lassen sich vor diesem Hintergrund als übergroßes »Vanitas-Stillleben« und als zeitgemäßes »memento mori« deuten. Gegen Ende der Inszenierung dominiert die Farbe Rot: Das minimalistische, teilweise statuarische Spiel der Sängerdarsteller*innen und die Strenge der Kirchenarchitektur wird durch einen Sturm von roten Farbpigmenten und -schlieren im Hintergrund konterkariert und setzt der affektiven Kontrolle einen visuellen Gegenpart entgegen, der von Liebe und Leidenschaft, Tod und Zerfall erzählt. Und immer wieder durchkreuzt eine rätselhafte Figur, die im Programmheft als »Herzlicht, Falker [sic!], Seelenzerrer«33 ausgewiesen wird, die Szene, setzt surreale und poetische, von den Bildwelten und den installativen Objekten Rebecca Horns inspirierte Akzente. Vergleichbare Chiffren finden sich zuweilen auch in den Inszenierungen Klaus Michael Grübers und haben ihm immer wieder auch Kritik eingebracht: Ob es sich um den nackten, jungen Mann handelt, der mit einem grünen Zweig die Bühne im Schlussbild von Grübers Zürcher Inszenierung von Ferruccio Busonis Oper Doktor Faust (Opernhaus Zürich 2006) überquert oder um Isoldes mystisch ausgeleuchteten Liebestod (Salzburger Osterfestspiele 1999) – immer handelt es sich um Bilder von großer Intensität, Poesie und assoziativer Kraft, gleichzeitig liegen aber auch Pathos und

31 Vgl. Nyffeler, Max (2008): »Was? Nichts. Wehe! Die schweigsame Passion von Luci mie traditrici«. In: Programmheft Luci mie traditrici, 36. 32 Ebd., 37. 33 Ebd., 3.

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Luci mie traditrici: Anna Radziewskaja (La Malaspina), Kai Wessel (L’ospite), Antonio Paucar (Performing Artist) sowie ein Falke, Salzburger Festspiele, 2008.

Kitsch in greifbarer Nähe.34 Es ist diese Ambivalenz, die sich auch durch die Rezensionen zu Rebecca Horns Inszenierung zieht und die einerseits durch den

34 Für Manuel Brug bleibt dies offenbar der beherrschende Eindruck, wenn in seiner Rezension der Tristan und Isolde-Inszenierung zu lesen ist: »[…] Blickverweigerung als Konzept. Isolde singt, aus der Mauerecke tretend, ihren Liebestod als Goldmadonna überstrahlt, bis es dunkel wird. Transzendenz der Hilflosigkeit. Utopie als Kitsch.« Vgl. Brug, Manuel: Nur die Liebe (er-)zählt. Eine Opernverweigerung – trotz Abbado: Grübers »Tristan« bei den Salzburger

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sakralen Aufführungsort, andererseits durch die fatalistisch zugespitzte Figurenkonstellation im Geflecht von Liebe, Leidenschaft und Tod disponiert wird. Das Wunder dieser Inszenierung ist, dass aus den heterogenen und unkonventionellen orchestralen und gesanglichen Ausdrucksweisen, der starken und zugleich abstrakten Bilder, der zeichenhaft stilisierten Handlung und der statuarischen Darstellungsweisen ein intensives, eindringliches Ergebnis entsteht. Die sakrale Umgebung der großen barocken Kollegienkirche mag ihren Teil dazu beigetragen haben, indem sie die Bereitschaft […], in Gotteshäusern eine höhere Wirklichkeit zu ahnen, weckt und für die Inszenierung nutzbar macht: ein fragiles Kunstwerk, nicht ganz von dieser Welt, das nach dem Verlassen des Aufführungsraumes bald im Salzburger Sommerabend zerfallen mochte, dessen Brösel aber wegen ihrer Feinheit noch lange nachwirken können.35

Während Hans-Jürgen Linke in der Besprechung der Inszenierung vor allem die transformative, kathartische Kraft des Aufführungserlebnisses beschwört, hält Manuel Brug (erneut) mit seiner Kritik nicht hinterm Berg, wenn er schreibt: Rebecca Horn, die malt, performt, installiert und auch Filmregie geführt hat, hält mit ihren Klavieren, Federspielen und Mondscheiben seit Kunstjahrzehnten eine delikate Balance zwischen preziös und prätentiös. In diesem […] Siebzigminüter schwingt das Pendel aber entschieden in Richtung Edelkitsch. Der stark stilisierte, zwischen silbenreichem Singen in schwebender Parlandomanier und schnellem Sprechen angesiedelte Zwei-Akter erstarrt ihr zu einem sich immer mehr verlangsamenden Hochamt, das manieristisch raunend Handlung nachbuchstabiert und selten szenischen Eigenwert gewinnt.36

Möglicherweise ist es aber auch genau dieses beständige Oszillieren zwischen Zurückhaltung und Pathos, zwischen Distanz und Intensität und dem unvermeidlichen Umkippen von Leidenschaft in Leiden, die diese Arbeit auszeichnet und in mehrfacher Hinsicht »Narben auf der Netzhaut«37 und auf dem Trommelfell hinterlässt: Die Bildwelten Rebecca Horns, die Musik Salvatore Sciarrinos und ihre musikalisch-akustisch transparente Interpretation durch das Klangforum Wien sowie das räumliche Ambiente der Salzburger Kollegienkirche ermöglichten es, die eigene Wahrnehmung mit theaterhistorischem Wissen zu den Theaterarbeiten Klaus Michael Grübers abzugleichen und assoziierend zu verknüpfen. Ob eine posthume Würdigung des künstlerischen Schaffens Klaus Osterfestspielen. In: Die Welt vom 29. 3. 1999. https://www.welt.de/print-welt/article569047/ Nur-die-Liebe-er-zaehlt.html [1. 9. 2020]. 35 Linke, Hans-Jürgen: Ewige Treue. Salvatore Sciarrinos Musiktheaterstück »Luci mie traditrici« auf den Salzburger Festspielen. In: Frankfurter Rundschau vom 5. 8. 2008. https://www.f r.de/kultur/ewige-treue-11611547.html [6. 9. 2020]. 36 Brug, Manuel: »Hochamt und Edelkitsch«. In: Die Welt vom 5. 8. 2008. https://www.welt.de /welt_print/article2274646/Hochamt-und-Edelkitsch.html [6. 9. 2020]. 37 Lemke-Matwey 2008.

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Michael Grübers – jenseits der vorangestellten Widmung – intendiert war oder ob sie sich lediglich in meiner Wahrnehmung eingestellt hat, muss an dieser Stelle offenbleiben.

Bohuslav Martinu˚ : Die Griechische Passion / The Greek Passion (Opernhaus Zürich) Informiert man sich über Bohuslav Martinu˚s selten gespielte Oper Die Griechische Passion, dann löst das von Grüber nicht mehr realisierte Projekt38, das Nicht-Gesehene oder -Gehörte und die Vorstellung davon durchaus eine Art »Phantom-Schmerz« aus. In Leben und Werk des Komponisten Martinu˚39 spiegeln sich existenzielle Themen wie Emigration, Flucht, Wanderschaft und Gottessuche, die sich in seiner 1961 unter der musikalischen Leitung von Paul Sacher und in einer Inszenierung von Herbert Graf am Stadttheater Zürich uraufgeführten Oper Die Griechische Passion / The Greek Passion40 dramaturgisch verdichten. Das von Martinu˚ selbst verfasste Libretto basiert auf dem Roman Christ recrucified / Der wiedergekreuzigte Christus von Nikos Kazantzakis und erzählt die Geschichte eines griechischen Dorfes vor dem Hintergrund des griechisch-türkischen Krieges und den damit verbundenen Migrationswellen Anfang der 1920-er Jahre. Alle sieben Jahre wird im Dorf die 38 Seine letzten Operninszenierungen – Leosˇ Janácˇeks Die Sache Makropoulos (Spielzeit 2005/ 06) und Ferruccio Busonis Doktor Faust (Spielzeit 2006/07) – hatte Klaus Michael Grüber gemeinsam mit Ellen Hammer für das Opernhaus Zürich erarbeitet. Dass für die Spielzeit 2008/09 offenbar eine erneute Zusammenarbeit ins Auge gefasst worden war, verwundert vor dem Hintergrund eines langfristigen Dispositionsvorlaufs und der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Klaus Michael Grüber nicht. 39 Als Sohn eines Turmwächters und Schusters wuchs der 1890 in Policˇka / Mähren geborene Bohuslav Martinu˚ in der Dienstwohnung eines Kirchturms auf. Er studierte am Prager Konservatorium Violine; ab 1923 lebte er in Paris, wo er Kompositionsunterricht nahm und – beeinflusst von impressionistischen und neoklassizistischen Einflüssen – erste Erfolge als Komponist feierte. Mit der Besetzung von Paris durch die Nationalsozialisten, flüchtete Martinu˚ 1940 zunächst nach Südfrankreich (Aix-en-Provence) und emigrierte von dort aus in die USA. 1946 kehrte er nach Europa zurück, wo er sich über Stationen in Italien und Frankreich 1956 in der Schweiz niederließ, wo er 1959 starb. »Seine Musik«, so ist es in der Biographie auf den Seiten der Universal Edition zu lesen, »beweist vor allem einen ungeheuren Sinn für Raum und reine Formen. Er selbst sah diese Fähigkeit in seinem Geburtsort begründet, jenem Kirchturm im mährischen Policˇka.« https://www.universaledition.com/bo huslav-martinu-459#biography [1. 9. 2020]. 40 Eine erste Fassung erarbeitete Martinu˚ unter dem englischen Titel The Greek Passion in den Jahren 1954–1957 für das Royal Opera House / Covent Garden in London; nachdem es jedoch nicht zur geplanten Uraufführung in London kam, ermutigte der Schweizer Musikmäzen Paul Sacher den Komponisten zu einer überarbeiteten Fassung, die erst nach dem Tod Martinu˚s in Zürich uraufgeführt wurde.

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Leidensgeschichte Christi als Passionsspiel aufgeführt. Mit einem Jahr Vorlauf werden die Rollen unter den Dorfbewohnern verteilt. Dem Schafhirten Manolis / Manolio wird die Rolle Jesu zugeteilt, die lebenslustige Witwe Katerina soll die Maria Magdalena spielen und der Schmied Panait übernimmt die Rolle des Judas. Als die Rollen für das Passionsspiel verteilt sind, trifft eine Gruppe Flüchtlinge ein, die von den türkischen Besatzern aus ihrem Dorf vertrieben wurden und nun um Schutz und Zuflucht bitten. Die Dorfgemeinschaft reagiert gespalten: Während die Mehrheit der Gemeinde die Schutzsuchenden abweist, solidarisieren sich die Passionsdarsteller immer mehr mit ihnen, allen voran der Schafhirte Manolis. Er kämpft um das Mitgefühl des Dorfes und fordert dadurch den Unmut der Dorfbewohner, allen voran des Priesters Grigoris, heraus, weil er dazu aufruft, ihren Reichtum mit den Flüchtlingen zu teilen. Grigoris exkommuniziert Manolis, hetzt die Dorfbewohner gegen ihn auf, es kommt zum Tumult, in dem Panait Manolis mit bloßen Händen ermordet.41

Im Bild der Passion thematisiert und aktualisiert die Oper damit zentrale Themenbereiche, die rückblickend auch das künstlerische Schaffen und die Biographie Klaus Michael Grübers motivisch durchziehen: Heimat und Heimatlosigkeit, Gottessuche und Wanderschaft, die Begegnung mit Menschen auf der Flucht und die daran gekoppelten Fragen nach Humanität und Verzicht.42 Angesichts fehlender archivalischer Quellen, die ggfs. auf erste konzeptionelle Überlegungen hätten schließen lassen, muss es an dieser Stelle jedoch bei einem Hinweis auf solche motivischen und theaterhistorischen Schnittstellen bleiben. Die ohnehin rudimentäre Spur verflüchtigt sich somit ins Ungewisse und Offene, ihre existenzielle und utopische Intensität bleibt dennoch – auch jenseits einer Realisierung – im Raum des Möglichen und Potenziellen spürbar. Ohne eine erkennbare Referenz auf die ursprünglich geplante Zusammenarbeit mit Klaus Michael Grüber wurde die Inszenierung von Bohuslav Martinu˚s The Greek Passion (in einer englischsprachigen Version, die Elemente der Londoner und Zürcher Fassung kombinierte) durch Nicolas Brieger (Regie), HansDieter Schaal (Bühnenbild) und unter der musikalischen Leitung von Eivind Gullberg Jensen am Opernhaus Zürich realisiert und mündete am 9. November 2008 in eine umjubelte Premiere.

41 Synopse der Handlung siehe https://www.universaledition.com/bohuslav-martinu-459/wer ke/die-griechische-passion-2014 [1. 9. 2020]. 42 Zu diesen und anderen für die Theaterarbeit Grübers prägenden Themenkomplexen vgl. Dermutz 2008.

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Epilog: Zur Produktivität des »Vor-Scheins« Begreift man Kunstwerke mit Ernst Bloch (und in einer Weiterführung seiner Gedanken im Hinblick auf flüchtige Theaterereignisse) aus ihrem ebenso labilen wie zukunftsweisenden ontologischen Status des »Vor-Scheins« heraus, dann eröffnen sich interessante, wenn auch bruchstückhafte Perspektiven auf die nicht mehr realisierten Arbeiten Klaus Michael Grübers. Die Denkfigur eines »Waswäre-wenn« erweist sich als produktiver (aber wissenschaftlich sicherlich diskutabler) Ansatz, um die Fährte flüchtiger Spuren aufzunehmen, mit theaterhistorischen Diskursen und biographischen Kontexten zu verknüpfen. Gerade mit Blick auf die Theaterarbeiten Klaus Michael Grübers, die für die theaterwissenschaftliche Forschung aufgrund der konsequenten »medialen Zurückhaltung« Grübers teilweise nur schwer greifbar sind, scheint eine solche Herangehensweise legitim. Die imaginativen Leerstellen und programmatischen Unabgeschlossenheiten seiner künstlerisch-szenischen Entwürfe zwingen dazu, die ästhetische Wahrnehmung um eigene Assoziationen und Bezüge zu ergänzen. Selbst die im Verschwinden begriffenen Spuren der nicht mehr realisierten Arbeiten Grübers lassen sich also als Ereignisse identifizieren, die »doppeldeutig und zersplittert, aber existenziell und utopisch intensiv sind, da sie in pulsierenden und unentschiedenen Momenten wahrgenommen wurden, die zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht angesiedelt sind«43.

Literaturverzeichnis Becker, Karina (2012): Der andere Goethe. Die literarischen Fragmente im Kontext des Gesamtwerks. Frankfurt a. M. Bierl, Anton / Siegmund, Gerald / Meneghetti, Christoph / Schuster Clemens (Hg.) (2009): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne. Bielefeld. Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. [1959] Frankfurt a. M. Boella, Laura: »Spuren«. In: Dietschi, Beat / Zeilinger, Doris / Zimmermann, Rainer E. (Hg) (2012): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin / Boston, 508–513. Breuer, Andrea: »Die Magie des Unfertigen«. In: Neue Zürcher Zeitung vom 07. 07. 2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/unfinished-eine-faszinierende-ausstellung-ueber-das-u nvollendete-in-new-york-bilder-mit-durchblick-ld.104310 [27. 08. 2020]. Brug, Manuel: »Hochamt und Edelkitsch«. In: Die Welt vom 5. 8. 2008. https://www.welt.de /welt_print/article2274646/Hochamt-und-Edelkitsch.html [6. 9. 2020]. 43 Boella 2012, 511.

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Constanze Schuler

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Ellen Hammer

Der kämpfende Ästhet. Zum Tod des Malers und Bühnenbildners Eduardo Arroyo1

Jeder Nachruf ist – wie die Trauer selbst – äußerst subjektiv und erfasst nur einen winzigen Teil der Persönlichkeit des zu Gedenkenden. Eduardo Arroyo habe ich erst 1973 kennengelernt, als er zusammen mit Gilles Aillaud nach Berlin kam, um für die »Bakchen« von Euripides in der Regie von Klaus Michael Grüber im Philips-Pavillon auf dem Messegelände den Bühnenraum zu erschaffen. Zu der Zeit war er schon ein anerkannter Künstler. Um dem drohenden Militärdienst unter Diktator General Franco zu entkommen, entschwand der 1937 in Madrid geborene Arroyo als 20-Jähriger nach Paris, wo er sehr schnell Anschluss an die Generation junger Maler fand und in ihren Salons ausstellte. In den ersten Jahren seines zunächst freiwilligen Exils pendelte er zwischen Frankreich und Italien, wo er jeweils etwa ein halbes Jahr verbrachte. Bei einer seiner Rückfahrten nach Spanien wurde er 1974 verhaftet und des Landes verwiesen, woraufhin Frankreich ihn als politischen Flüchtling anerkannte. Arroyo war nicht nur Maler, er war Grafiker, Skulpteur, Buchillustrator, Töpfer, Bühnenbildner und Schriftsteller. Ursprünglich wollte er Journalist werden, als Künstler war er Autodidakt. Er lernte schnell und erfand seine ihm eigenen Ausdrucksmittel. Die Energie schöpfte er aus seinen Lebenserfahrungen, seinem Exildasein, das ihn aus der Entfernung schärfer sehen und beurteilen ließ, seiner Abscheu vor Diktatur und Unfreiheit, seiner Liebe zu und seinem Hass auf das damalige politische Spanien, seiner Offenheit anderen Kulturen gegenüber. Er war ein kämpfender, politisch engagierter Ästhet, dem L’art pour l’art zuwider war, der sich leidenschaftlich und unentwegt für neuere Formen seiner Kunst bemühte, thematisch wie materiell. Dennoch blieb er sich in seinen Grundanschauungen immer treu. Er transformierte Altes in Neues, Ernstes in Lächerliches, hatte keine Angst vor der Groteske, vor Übertreibungen, vor Collagetechniken, um Disparates in einem Bild zusammenzufügen. Er entlarvte alte Mythen und nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfte Überlieferungen und schuf sich 1 Ellen Hammers Nachruf auf den Maler und Bühnenbildner Eduardo Arroyo erschien in der Zeitschrift »Theater der Zeit«, 12/2018, 8–9.

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Ellen Hammer

ein eigenes Bildvokabular, quasi Ikonen seines künstlerischen und personellen Lebens. Viele dieser Zeichen benutzte er in seinen Bühnenausstattungen.

Klaus Michael Grüber, Eduardo Arroyo und Ellen Hammer während der Proben zur Uraufführung von Jorge Semprúns »Bleiche Mutter, zarte Schwester«, ehemaliger sowjetischer Soldatenfriedhof in der Nähe von Weimar, Kunstfest Weimar, 1995.

In Mailand lernten sich 1968 Arroyo und Klaus Michael Grüber kennen. Schon ein Jahr später begann ihre Zusammenarbeit für das Theater und die Oper. »Klaus Michael Grüber, mit dem ich fast alle theatralischen Interventionen gemacht habe, hatte in Mailand eine Ausstellung von mir gesehen und hatte die Intuition, mich um eine Bühnenausstattung zu fragen. Er war am Anfang seiner Karriere als Regisseur, und die Wahl eines Künstlers statt eines professionellen Bühnenbildners war eine Kühnheit. Ich hatte davor keine Annäherung an das Theater und fahre fort, es selten zu besuchen; ich bin ein sehr schlechter Zuschauer. Ich habe mich dafür begeistert, weil mich das aus dem Trott der großen Herausforderungen der Malerei ausbrechen und vermeiden ließ, dass die Malerei für mich zur Routine wird«, erzählt Arroyo in einem Interview 1982. Tatsächlich wurde er eher bei Boxveranstaltungen oder in Arenen bei Stierkämpfen gesichtet denn im Theater, außer er selbst oder einer seiner Freunde waren beteiligt. Seine Bereitschaft, der Bitte von Grüber nachzukommen, mündete in eine lebenslange Freundschaft und gemeinsame Arbeit, die erst mit dem Tod Grübers vor zehn Jahren endete. Jetzt ist Eduardo ihm nachgefolgt. Ein Fragment des Vorsokratikers Heraklit: »Bei jeder Sache musst du sein mögliches Ende bedenken« – der Eingangssatz von Arroyos Boxerstück »Ban-

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tam«, das 1986 im Münchner Residenztheater in Grübers Inszenierung uraufgeführt wurde – galt für Arroyo in besonderem Maße, hatte er doch schon einmal die Erfahrung der Todesnähe machen müssen, vor vielen Jahren, sein Lebenswille und die Kunst der Ärzte halfen ihm damals, den Tod vorläufig zu besiegen. Denn er wollte noch einige seiner Träume realisieren. Einer davon war die Umgestaltung des Familienlandguts seiner Eltern in Robles de Laciana in der spanischen Provinz León, auf dem er als Junge viele Ferienmonate verbracht hatte. Dort wollte er ein Freilichttheater bauen, die Gutshäuser renovieren und seine Künstlerfreunde einladen, sich, wenn nicht für immer, so doch für einige Monate im Jahr, zu installieren. Eines der Häuser war für Klaus Michael Grüber geplant, mit einem aufzubauenden Archiv zu dessen Leben und Werk. Das zu bewerkstelligen, hatte Arroyo mich vorgesehen. Nach reiflicher Überlegung habe ich ihm abgesagt, hätte das doch bedeutet, mich von meinen damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen ab- und der Vergangenheit zuzuwenden. Grüber sollte jährlich eine kleine Inszenierung seiner Wahl, Theater oder Oper, in dem zu bauenden Theater liefern. Das Dorf würde seine Freunde willkommen heißen und die Kultur als eine Bereicherung empfinden, als Tourismusmagnet. Diesen großen Traum konnte Arroyo nicht realisieren. Dennoch hat er dort 17 Jahre lang ein Sommerfestival für zeitgenössische Kammermusik ausgerichtet, einen Tag in seinem Haus, den zweiten vor der Kirche. Nun zurück zu meiner ersten Begegnung mit Arroyo 1973. An die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, die die »Bakchen« produzierte, brachten die beiden befreundeten, wenn auch von ihrer Persönlichkeit und ihrem Charakter her sehr unterschiedlichen, Künstler Arroyo und Aillaud ein für mich neues, tiefgreifendes Erlebnis räumlich-ästhetischen und vor allem dramaturgischen Begreifens des Bühnenraumes. Sie entwarfen keine Bühnendekoration, kein Abbild eines griechischen Theaters oder im Text vorgegebene Lokalitäten, sie hatten keine Scheu, moderne Technik in das antike Werk einzufügen, beispielsweise gelbgekleidete Straßenkehrer auf motorisierten Straßenkehrmaschinen, den Gott Dionysos auf einem modernen Krankenbett. Sie ließen eine Mauer durchbrechen, durch den der antike Chor der Bakchen von außen wie eine wildgewordene Horde in den Raum eindrang, um den Boden aufzureißen und zu zerstören. In einem vom Publikum einsehbaren Nebenraum befanden sich zwei Pferde, auf einem ritt Bruno Ganz als Pentheus. Den Leichnam des Herrschers zu zeigen, verwendete Arroyo ein Tablett, auf dem er in Collagetechnik einige moderne Wäscheteile des Ermordeten anbrachte. Den aber hatten wir vorher nur – verfremdet – nackt gesehen, außer in einer Szene, in der er als Frau verkleidet war. Das alles war lehrreich und aufregend für mich. In den Proben war Aillaud ein stiller, geduldiger Beobachter, Arroyo eher laut und ungeduldig, auch blieb er nie sehr lange. Wurde Gilles um sein Urteil gefragt, antwortete er »pas mal«, nicht

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Ellen Hammer

schlecht, während Eduardo freudig lobpreisend seine Zustimmung proklamierte. Beide hatten großes Vertrauen zu Grüber und seinem theatralischen Können, genossen ihrerseits Grübers Vertrauen zu ihrem künstlerischen Metier. In dem Jahr der ersten Begegnung sah ich in Frankfurt am Main außerdem Arroyos Bühnengestaltung zu Brechts »Im Dickicht der Städte«. Da lagen Hunderte alter, zum Teil durchlöcherter Schuhe auf dem Bühnenboden, für Eduardo Sinnbild des Flüchtlings, des Ausgestoßenen, des in den Kämpfen im Dickicht der Stadt Unterlegenen – ein starkes Symbol, das Arroyo in allen Ausdrucksformen seiner Kunst, Malerei, Skulptur begleitete. Ein zweites Element waren Leitern, auf denen man gesellschaftlich emporklettern, aber eben auch herunterfallen konnte in den Müll der Schuhe. Schon diese Beispiele verdeutlichen eine eigenständige dramaturgische Lesart und Bildinterpretation, die es vor ihm im deutschen Theater nicht gab (wenn auch Wilfried Minks Pop-Art auf die Bühne brachte, anfangs eher ein Zitat denn eine eigenständige Schöpfung). Im Laufe der Jahre lernte ich Arroyo besser kennen. Er war neugierig, gesellig, liebte Gespräche, die nichts mit der »Arbeit« zu tun hatten, sondern mit dem Leben. Er teilte seine Leseerfahrungen mit und hat mir mehrmals einen mir bis dahin unbekannten Autor zur Lektüre empfohlen, so zum Beispiel W. G. Sebald, der im freiwilligen Exil lebte und sich schriftstellerisch viel mit traumatisierten Auswanderern beschäftigte. Sebald war in Frankreich viel eher als in Deutschland bekannt und geschätzt. Wenn Arroyo eine Einladung zu einem Dinner plante, sorgte er dafür, dass am Tisch elf oder auch 13 Gäste saßen, denn wären es zwölf, mit ihm als Gastgeber 13, brächte das Unglück. Eduardo war in dieser Hinsicht abergläubisch. Notfalls lud er jemanden wieder aus oder jemanden ein, der ursprünglich nicht vorgesehen war. Wie alle Spanier dinierte er spät am Abend, und die Geselligkeit zog sich bis weit nach Mitternacht hin. Er liebte es zu lachen, konnte sarkastisch sein, niemals frivol, er war sensibel und aufmerksam, wollte, dass jeder sich wohlfühlt in seiner Gesellschaft. Die Vorgespräche einer Bühnenarbeit mit Grüber verliefen immer in einer friedlichen, offenen Atmosphäre. Den vorgeschlagenen Text ließ sich Eduardo eher erzählen, als dass er sich darein vertiefte. Ob er ihn allein bei sich zu Hause las, entzieht sich meiner Kenntnis, er behauptete jedenfalls das Gegenteil. Oft fing er beim Zuhören mit Detailzeichnungen an, die sich sehr schnell zu einem Bühnenraum fügen konnten. Wenn Grüber mit einem Vorschlag nicht glücklich war und sich nicht dareinfinden konnte, war Arroyo keineswegs beleidigt. Er hörte sich aufmerksam die Argumente an, die dagegensprachen, nahm die Stichworte auf, die der Regisseur vortrug, wobei Grüber nie einen Gegenvorschlag für das Bühnenbild machte, sondern versuchte, die Leitidee für sein Interesse an dem Sujet zu präzisieren. Daraufhin verabschiedete er sich ohne weitere Dis-

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kussion, um anderntags mit einem neuen Vorschlag zu erscheinen, und der war dann gelungen. Arroyo liebte übergroße Dimensionen, grelle, ja plakative Farben – zum Beispiel ließ er in »La Cenerentola« den Prinzen vor einer rot erleuchteten Wand auftreten, ein Zitat aus der Welt der Reklame. Er erschuf Riesenbäume, riesige Lüster, Riesenschiffe, in »Tristan und Isolde« als Schiffsskelett (das der Dirigent Claudio Abbado verabscheute), gigantische Spielautomaten für »Aida« (zum Leidwesen des Dirigenten Riccardo Chailly). In beiden Fällen verteidigte Grüber das Bühnenbild, und es wurde nicht geändert. Arroyo benutzte Sujets seiner Malerei, um sie dreidimensional auf die Bühne zu stellen: übergroße Fliegen, Totenköpfe, Spinnen, Flugobjekte, Hüte, Kerzen und so weiter. »Von meiner Natur aus wollte ich mich nicht in den theatralischen Mechanismus begeben. Es gibt in dem, was man vorschlägt, keinen Schwindel. Unsere Bühnenbilder sind nicht mobil, sie lassen sich nur als fixe Volumen benutzen in dem Innenraum, in dem die Handlung abläuft. Grübers Diskurse waren dabei maßgebend, auch scheute er sich nicht davor, sich in seinen Inszenierungen gewisser Trümpfe zu entledigen, um dem Bühnenbild Vorschub zu leisten … Ich bin ein Außenseiter, ein Gelegenheitsarbeiter, eine Zeitarbeitskraft … Das Theater ist für mich ein Luxus«, so Arroyo. Diesen Luxus hätten wir ihm gerne weiter vergönnt, um den Reichtum seiner Fantasie und seines Könnens immer wieder bestaunen zu dürfen. Danke, Eduardo, für das, was du für das Theater geleistet hast.

Bleiche Mutter, zarte Schwester: Robert Hunger-Bühler (Léon Blum), Ulrich Wildgruber (Goethe), Hanna Schygulla (Schauspielerin), Sowjetischer Soldatenfriedhof, Weimar, 1995.

Peter Stein

Briefe an Klaus Michael Grüber

Lieber Klaus, nach deiner Generalprobe1 wollte ich dir nur sagen, dass deine Arbeit mich sehr überzeugt hat, gelegentlich hat sie mich sogar erstaunt: Was alles vorging, wie viel von meinem geliebten Theater darin war – und vor allem die große Menschlichkeit und fast Heiterkeit, die aus dem Ganzen sprachen. Ich danke dir und alles Gute. P.

Herrn Klaus Michael Grüber im Hause Salzburg, 27. 6. 1994 Lieber Klaus, Dank für Deinen Besuch – so hast Du mir einen sehr angenehmen SonntagNachmittag und -abend bereitet. Hier nur rasch eine Zusammenfassung dessen, was wir zu besprechen versuchten: 1. Zwei Formen der Arbeitsorganisation sind denkbar: a) reine »Festspielproduktion« 1 Dieser Brief bezieht sich höchstwahrscheinlich auf die Generalprobe von Leosˇ Janácˇeks Oper »Aus einem Totenhaus«, die am 30. 7. 1992 im Großen Festspielhaus bei den Salzburger Festspielen Premiere hatte.

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Peter Stein

b) Koproduktion zur späteren Ausnutzung der Produktion, wenn sie nur kurz hier gespielt wird. 2. Von mir für mich erwogene Stücke für 96/97 sind »Sommernachtstraum«, »Belle Hélène«, »Alpenkönig« und »Libussa«. 3. Von mir für dich angesprochene Stückarten: »Orest« (Euripides), »Antonius« (Flaubert), »Phädra« (Racine), Komödie? 4. Von dir ins Spiel gebracht: »Pol« (Nabokov). Anbei eine Kopie von »Libussa«. Du sagtest mir, dass 1996 für dich als eventueller Arbeitstermin am günstigsten wäre. Ich umarme Dich - Peter Stein

So, 2. März 97 Lieber Klaus, ich möchte nicht versäumen, dir meine Bewunderung auszudrücken über viele hinreißende (einmal sogar atemberaubende) Momente, die ich während einer Besichtigung deiner Parsifal-Reprise in Amsterdam erfahren habe – zu der ich eigens in diese ekelhafte Stadt gefahren bin, in der ich selbst eine meiner katastrophalsten Proben meiner kleinen Opernkarriere erlebt habe. Teile bitte Gilles, dessen Anteil an der Faszination mir recht beträchtlich erscheint, mein respektvolles »Chapeau!« mit. Ich habe mich aufrichtig gefreut, dir und deine Arbeit auf so anrührende Weise wieder begegnet zu sein. Wagner ist und bleibt mir jedoch letztlich unverdaulich. Dir alle guten Wünsche. Zur Zusammenarbeit kann es nicht mehr kommen, wie du weißt – ich verlasse Salzburg zum 31. August und habe auch sonst keinen Verwaltungsjob mehr in petto – aber Luc ist jetzt ja aktiv geworden. Vielleicht kommt es dann einmal wieder zu einer Begegnung – wenn nicht in dieser, dann in einer anderen Welt. Peter

Briefe an Klaus Michael Grüber

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Parsifal: Bühne von Gilles Aillaud, De Nederlandse Opera, Amsterdam, 1990.

10.99 Lieber Klaus, verzweifelt suche ich nach Vorschlägen. Hier einer: »Don Juan kommt aus dem Krieg« von Horváth. Das Goethe-Märchen hast du bekommen? Wie selig wäre ich, wenn wir was fänden (…). Geht’s dir gut? Verzeih die Schrift, aber der Zeigefinger meiner rechten Hand hat 3 cm verloren. Umarmung P.

24.11.99 Mein lieber Klaus, du kannst gar nicht ermessen, welches Geschenk du mir mit deinen Mitteilungen zum Horváth gemacht hast.

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Peter Stein

Ich empfinde diese deine Bereitschaft, zu uns nach Hannover zu kommen, in erster Linie als einen tiefen Freundschaftsbeweis, wie er in unserem Metier gänzlich unüblich ist. Für jemanden wie mich ist es nicht so leicht zu verkraften, sich gänzlich isoliert zu fühlen in einer ihm feindlichen beruflichen Umwelt, da ist es wie ein Lichtstrahl, zu wissen, dass ohne Getue, ohne Berechnung, auch ohne direkten Kontakt man sich darauf verlassen kann, dass da jemand, der Teil deiner Biographie, Fleisch von deinem Fleisch ist, dir in Freundschaft verbunden bleibt, auf den du dich verlassen kannst. Ich wollte dir das immer schon mal sagen, jetzt hatte ich einen konkreten Anlass. Die einfache Tatsache deiner Existenz gibt mir Raum zum Atmen. Was den Anlass betrifft, so wollen wir versuchen, dir den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten, was natürlich Hannoveraner Grenzen hat. Über die vertraglichen Dinge reden wir, wenn du am 12.12.99 kommst, worauf sich alle freuen. Bis dahin dir alles Gute – Gesundheit – und verzeih die schlechte Schrift, aber du weißt – der Finger. In Freundschaft P.

Für Klaus.2 Klaus fehlt mir. Er war der einzige wahre Freund in diesem unserem so unfreundlichen Gewerbe. Schlimmer: sein Tod hat mich ganz arm gemacht, mir allen Mut geraubt, weiterzumachen – in diesem heutigen Theater, gegen das wir gemeinsam so lange angekämpft haben. Es hat gesiegt, wir haben verloren. So gesehen ist sein Tod sehr konsequent und mein Weiterleben illusorisch. Möge sein Andenken weiterleben.

2 In: Julie Brochen, Théâtre de National de Strasbourg, École supérieure d’art dramatique, Hg., Klaus Michael Grüber, Strasbourg, 2012, 73.

Gespräch mit Anselm Kiefer

»Grüber hatte einen intuitiven Zugang zu Bildern«

Ödipus in Kolonos: Anselm Kiefers Cover des Programmheftes, Burgtheater, Wien, 2003.

Herr Kiefer, Sie haben mit dem Theater- und Opernregisseur Klaus Michael Grüber 2003 zwei Mal zusammengearbeitet, bei »Ödipus in Kolonos« am Wiener Burgtheater und bei »Elektra« am Teatro di San Carlo in Neapel. In »Ödipus in Kolonos« wird über das Nichtgeborensein gesprochen. Es ist das, was viele sagen, es wäre besser, man wäre nicht geboren. Mephisto sagt zu Gott, es wäre besser gewesen, Du hättest alles nicht geschaffen, es wäre besser, dass alles wieder zugrunde geht. Die Theodizee kreist um diese Frage, ob es nicht besser wäre, wenn gar nichts wäre.

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Gespräch mit Anselm Kiefer

Bei Sophokles heißt es, »nicht geboren zu sein, das besiegt jedes andere Wort«. Genau. Zu Grüber, zu seiner Person will ich sagen, dass es Dinge gibt, die man nicht sagen kann, an denen man ganz nahe dran ist, aber man kann sie nicht sagen, aber sie sind doch da und gehen neben einem her, und so war es bei mir mit Grüber, ich musste mit ihm eigentlich gar nicht reden, wir haben auf der Bühne probiert, er hat genickt, ich habe genickt, und dann war es wieder weg. Die Sprache war an sich gar nicht mehr notwendig, es ist selten, dass man das hat. Asche fiel aus dem Schnürboden herab und bedeckte immer mehr den Boden und die Spuren im Boden. Kolonos wurde zugedeckt, einschließlich der Schauspieler, Bruno Ganz hat sich sehr beklagt. In die Asche fiel Licht und durch die Plastikplanen leuchtete Licht. Die Planen waren die Plastikbahnen, die ich im Atelier auslege, damit der Boden nicht voller Ölfarbe, voller Farbe wird. Ich habe die Planen hochgezogen, vom Boden hochgezogen, es war eine Vertikalisierung der Bahnen, halb durchsichtig, aber nicht ganz durchsichtig. In »Elektra« lagen in einer Ecke Scherben eines Kruges. Gab es bei Grüber ein Empfinden für das Bild? Ja, Grüber hat sofort das Bild gesehen. Für »Elektra« war das Bühnenbild das Amphitheater von Barjac, wir haben es in Neapel im Teatro di San Carlo genauso aufgebaut. Grüber war sofort klar, dass es richtig ist. Grüber sagte, in dem Bühnenbild kann man alles spielen. Grüber hatte einen intuitiven Zugang zu Bildern. Das Gespräch wurde von Klaus Dermutz am 22. September 2016 in Anselm Kiefers Atelier in Croissy-Beaubourg geführt.

Gérald Musch

Im Kerdavid-Tal

Klaus Michael Grüber im Kerdavid-Tal auf der Atlantikinsel Belle-Île, 2000.

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Gérald Musch

Mein Freund, der Theaterregisseur Klaus Michael Grüber, lud mich regelmäßig ein, ihn in alle Ecken Europas zu begleiten, dorthin wo er gerade künstlerisch tätig war. Bei den Proben war ich selten zugegen, zog es vor, Museen zu besuchen und unbekannte Städte zu entdecken. Wenn es nach der Rückkehr sein Zeitplan erlaubte, machten wir unsere berühmten Konfitüren aus Belle-Île-Brombeeren. Hin und wieder nahm Klaus an archäologischen Erkundungen teil, was ihn aber vor allem entzückte, war das Pflücken von Brombeeren. In den nach Minze duftenden Tälern riefen wir zwangsläufig alte, seit der Frühgeschichte wiederholte Gesten wach.

Gespräch mit Markus Hinterhäuser

»Aufgehobensein in einer fernen Nähe«

Herr Hinterhäuser, Sie waren 2005 bei den Wiener Festwochen der Pianist in Klaus Michael Grübers Inszenierung von Leos Janaceks zwischen 1917 und 1919 entstandenem Liederzyklus »Tagebuch eines Verschollenen«? Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Meiner Erinnerung nach war es eine Idee von Luc Bondy und Stéphane Lissner, Bondy war Intendant, Lissner Musikchef der Wiener Festwochen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich einige Jahre zuvor als Pianist eine sehr schöne und nachhaltige Erfahrung mit einem Liederzyklus gemacht hatte, der nicht konzertant aufgeführt wurde, sondern eine szenische Realisierung erfahren hat – »Die schöne Müllerin« von Christoph Marthaler. Ich habe eine ganz und gar leidenschaftliche Beziehung zum Lied. Ich traf Klaus Michael Grüber in Paris, ich spielte damals beim Festival d’Automne 2004 im Musée d’Orsay das gesamte Klavierwerk von Morton Feldman, es waren lange Konzerte. Als ich auf die Bühne kam, hatte ich keine Ahnung, dass Klaus Michael Grüber anwesend sein würde. Ich ging zum Klavier und sah ihn ganz hinten im Saal stehen. Er hat sich während des Konzerts nicht ein einziges Mal hingesetzt, er ist die ganze Zeit gestanden und hat mir zugehört – diese schöne, hohe Erscheinung, eine Figur wie von Alberto Giacometti. Ein sehr besonderer Moment. Wir haben uns am nächsten Tag getroffen und viele Stunden miteinander verbracht. Zu der Zeit wurde in der Pyramide des Louvre eine Retrospektive von Grübers Inszenierungen gezeigt, im Rahmen dieser Werkschau habe ich einige seiner Arbeiten gesehen, unter anderem, unvergesslich, seine »Winterreise im Olympiastadion« von 1977. Obgleich die Musik von Morton Feldman und Leos Janacek unterschiedlicher nicht sein könnte, glaube ich, dass es Grüber wichtig war, mich zu hören und mich als Pianist auch zu sehen. Grüber war jemand, der wirklich zuhören konnte. Die Präsenz von Grüber war, ich mystifiziere da nichts, beim Konzert stark, und sie war auch stark in den Proben.

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Gespräch mit Markus Hinterhäuser

Tagebuch eines Verschollenen: Markus Hinterhäuser (Pianist), Angela Winkler (Eine Frau), Peter Straka (Janik, ein mährischer Bauer), Wiener Festwochen, 2005.

Während des Gesprächs in Paris haben Sie gespürt, dass Grüber Sie mag. Ich habe gespürt, dass Grüber mich mögen könnte. Das Gefühl, dass er mich mag, hatte ich erst später. Ich wusste nur, dass ich ihn mag. Klaus Michael Grüber war niemand, der einem Menschen entgegengeht, indem er ihn überwältigt oder überwältigen will, es war ein viel zarterer, ein tastender Vorgang. Wir haben uns aneinander herangetastet. Man läuft auch da in die Gefahr, etwas zu mystifizieren, aber Klaus Michael Grüber hatte das, was man Aura nennt. Er war niemand, der einem zu nahe gekommen ist, aber er war auch niemand, der einem zu fern war, es war so, wie Walter Benjamin den Begriff der Aura definiert hat, als die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. Diese Dialektik von Nähe und Ferne, Ferne und Nähe habe ich immer empfunden, wenn ich ihm begegnet bin, an jenem Tag in Paris, bei anderen Zusammenkünften in Venedig oder Berlin und natürlich in den Wochen unserer Zusammenarbeit in Wien. Ich hatte immer das Gefühl, dass Grüber seinem Gegenüber mit Zuneigung begegnet, mit Respekt, vollkommen frei von Hierarchien, die Begegnungen mit ihm waren zutiefst menschlich. Es gab einen Moment, persönlicher habe ich Grüber nie erlebt, nein, es waren zwei Momente, wo er mir sehr nahe war. Das eine Mal war es in den Katakomben des Museumsquartiers. Während wir an Janaceks »Tagebuch eines Verschollenen« gearbeitet haben, kam mein Sohn auf die Welt, er war gerade einmal wenige Tage jung. Klaus wollte dieses Kind sehen und ist in die Katakomben hinuntergekommen, in die Garderobe, er hat dieses kleine Wesen

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ganz ruhig, ganz liebevoll im Arm gehalten, bis durch den Lautsprecher eine durchdringende Ansage kam, für uns alle ganz unvermittelt, und dieses kleine Wesen so sehr erschrak, dass es zu schreien begonnen hat. Der Moment, in dem Grüber dieses Kind im Arm gehalten hat, war ein sehr inniger. Und der andere Moment war in Paris, wir haben uns über die Zeit unterhalten, in der er sehr viel getrunken hat, und über die Zeit, in der er nicht mehr trinken durfte und nicht mehr trinken konnte und die damit verbundene Rezeption seiner Arbeit. Er hat einen Satz gesagt, den ich nie vergessen habe und nie vergessen werde: Weißt Du, Markus, als ich getrunken habe und ich habe sehr viel getrunken, war ich vollkommen verzweifelt, jetzt trinke ich nicht mehr und ich habe nur noch Zweifel, ich kann Dir sagen, verzweifelt sein ist einfacher. Der Satz hat mich wirklich getroffen. Näher und persönlicher war Grüber nie als in diesem Moment, in diesem Café in Paris an diesem schönen Spätsommertag. Nach dem »Tagebuch eines Verschollenen« schlug ich Grüber Salvatore Sciarrinos Oper »Die tödliche Blume« für die Salzburger Festspiele vor. Und dort, in Salzburg, habe ich ihn noch einmal erlebt, ein letztes Mal, als ich ihm die Kollegienkirche zeigte, diesen herrlichen Fischer von Erlach-Bau gegenüber dem Festspielhaus, in dem Sciarrinos Oper in seiner Regie aufgeführt werden sollte. Grüber wollte diese Oper inszenieren und hat sich Rebecca Horn als Bühnenbildnerin gewünscht, auch das eine Größe von Grüber, er hatte immer große Künstler als Raumerschaffer um sich. Rebecca Horn war da und Klaus Michael Grüber war da, er war gar nicht mit Rebecca Horn in Kontakt, nicht mit mir in Kontakt. Er ist lange und allein in diesem weiten Kirchenraum gesessen, Rebecca Horn hat sich hochenergetisch, hochaktiv den Raum erobert, und Klaus war ganz still, ganz mit sich, ganz bei sich. Kurz vor seinem Tod sagte Ellen Hammer, sie habe mit Grüber telefoniert, er wünscht sich, noch einmal Gottfried Benns Gedicht »Was schlimm ist« zu lesen. Wir haben das Buch gekauft, es wurde ihm geschickt. Liest man dieses Gedicht, ahnt man, was es für Grüber in diesem Moment vielleicht bedeutet haben mag, in diesem Moment des Abschieds von der Welt. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Gedicht kennen. Nein. Gottfried Benn, »Was schlimm ist« Markus Hinterhäuser spricht das Gedicht: Was schlimm ist Wenn man kein Englisch kann, von einem guten Kriminalroman zu hören, der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

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Gespräch mit Markus Hinterhäuser

Bei Hitze ein Bier sehn, das man nicht bezahlen kann. Einen neuen Gedanken haben, den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann, wie es die Professoren tun. Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören und sich sagen, dass sie das immer tun. Sehr schlimm: eingeladen sein, wenn zu Hause die Räume stiller, der Café besser und keine Unterhaltung nötig ist. Am schlimmsten: nicht im Sommer sterben, wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht.

Die letzte Strophe »Am schlimmsten:/ nicht im Sommer sterben,/ wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht.« Grüber ist im Sommer gestorben. Dieses Gedicht zu lesen, war ein Wunsch, den Klaus noch hatte und den er uns noch zukommen ließ, da wussten wir alle, dass es vorbei ist: »Am schlimmsten:/ nicht im Sommer sterben,/ wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht.« Das sind meine Eindrücke von Klaus Michael Grüber. Das ist sehr berührend. Es war traurig, sehr traurig. Er hat mich immer wieder gefragt, ob ich nach BelleÎle kommen und ihn auf der Insel im Atlantik, auf der er Teile des Jahres verbrachte, besuchen möchte. Ich hatte immer eine große Scheu davor, und wenn es dann nicht mehr möglich ist, war es vielleicht auch richtig so, ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht hingefahren bin. Ich habe Klaus wirklich gemocht, er hat mich, glaube ich, auch wirklich gemocht, soweit das in der Skizzenhaftigkeit unserer Begegnung möglich war. Wir hatten ein Gefühl füreinander, ja, vielleicht war das so. Es gibt bei Hölderlin das Bild von einem »fernhorchenden Brunnen«. Was Sie von Grüber erzählen, klingt nach einem »fernhorchenden Brunnen«. Rückblickend gesehen habe ich mich in einer künstlerischen Arbeit niemals mehr aufgehoben gefühlt als in diesen fünf Wochen mit Grüber und auch während der Zeit, als wir mit dieser Produktion gastierten. Ein Aufgehobensein in der Weise, wie er zugehört und wie er Dinge betrachtet hat, wie er diesen

»Aufgehobensein in einer fernen Nähe«

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riesigen Steinway-Flügel auf diesem großen, der Natur nachempfundenen Acker betrachtet hat. Diese dunkle, schwere, nasse Erde – war es Frühling, war es das Ende des Jahres? – und am Horizont dieser Schimmer eines Dorfes mit einer Kirche und wenigen Häusern, sehr weit weg. Während der Proben sagte Klaus einmal zu mir: Ich möchte eigentlich nur noch Neckarelz inszenieren. Und ein bisschen war das Bild in der Ferne wie ein Zuhause, das Bild dieses Ortes, der vielleicht – ich traue mich gar nicht, eine Interpretation zu geben – der Ort war, aus dem Grüber kam, den er für eine andere Kultur verlassen hat, für eine andere Kultur eingetauscht hat – und wahrscheinlich schließt sich in einer gewissen Lebensphase dieser Kreis wieder. Ich möchte eigentlich nur noch Neckarelz inszenieren – das war schon sehr anrührend. Und im Grunde war dieses »Tagebuch eines Verschollenen« wohl auch so. Es ist eine andere Geschichte, die Janacek beschreibt, aber manchmal bringt einen der Titel, wenn man sich an eine Arbeit heranwagt, schon in Schwingung: »Das Tagebuch eines Verschollenen«. Und dann sieht man in weiter Ferne dieses Dorf, diese Idylle, diese verlorene, vielleicht nur noch als Traum existierende Idylle, ich weiß es nicht, aber dieses Gefühl hat sich eingestellt und mich nie wieder losgelassen. Das letzte Lied beginnt mit den Versen: »Leb denn wohl, Heimatland,/ leb denn wohl, Heimatsort!«. Der Aufbruch und die Erinnerung an den Aufbruch. Und wenn man an den Steinway-Flügel inmitten der Ackerfurchen denkt… …wird Leben in Kunst und Kunst ins Leben überführt. Das war klug und groß gedacht und sehr persönlich empfunden. Diese Natur, und dann dieses Instrument mit seiner so eigenen Realität, einer vollkommen anderen Realität als die, die uns die Natur vorgibt. Wie gesagt, ich maße mir überhaupt keine Deutung an, aber es hinderte mich damals nicht und es hindert mich auch heute nicht, ein Gefühl dafür zu empfinden, was und wie es wahrscheinlich war. Friedemann Kreuder hat auch diese Empfindung, dass Janaceks Bauernbursche aus Neckarelz aufbricht und losgeht. Die Gaze hinten in Gilles Aillauds Bühne nahm sich wie eine transluzide Cinemascope-Leinwand aus, auf ihr tauchten Schemen und Schatten eines Dorfes auf, und auch die Menschen wirkten wie Schemen und Schatten eines unaussprechlichen Schicksals: Eine Erinnerung an ein Leben, das man geführt, Kindheit und Jugend, das Leben… …das man verlassen hat und wohin man wieder zurückkehrt. Das ist wahrscheinlich ein unausweichlicher Zyklus, den man zu beschreiten hat. Vielleicht schenkt einem das Leben ja tatsächlich eine Zeit, in der alles möglich ist oder einem möglich erscheint, und dann kehrt man in einer – Peter Handke würde sagen – langsamen Heimkehr dorthin zurück, von wo alles seinen Lauf genom-

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Gespräch mit Markus Hinterhäuser

men hat. Vielleicht war dieses »Tagebuch eines Verschollenen« die Summe solcher Momente. Das Gespräch mit Markus Hinterhäuser in Salzburg wurde von Klaus Dermutz am 12. Oktober 2020 geführt.

Tagebuch eines Verschollenen: Angela Winkler (Eine Frau), Peter Straka (Janik, ein mährischer Bauer), Wiener Festwochen, 2005.

Anhang

Karsten Weber

Lexikonartikel

Grüber, Klaus Michael, Regisseur * 4. 6. 1941

(heute: Mosbach-) Neckarelz, ev., † 22. 6. 2008 Belle-Île-en-Mer, Bretagne Vater: Otto (1907–1989), ev. Pfarrer. Mutter: Kläre, geb. Popp (1913–2002), Hausfrau. Geschwister: 3; Martin (*1937), Peter (*1939) u. Margret Lausmann-G. (*1940). Unverh. Kinder: keine. 1947–1960 Volksschule Neckarelz, dann Realgymnasium Ettlingen bis Abitur 1960ff. Hochschule für Musik u. Darstellende Kunst, Stuttgart, Dramentheorie bei Siegfried Melchinger 1967–1968 Assistent am Piccolo Teatro, Mailand, bei Giorgio Strehler 1968–1969 Theater Freiburg im Br. u. Theater Bremen 1970ff. Gastinszenierungen bei Peter Stein, Berliner Schaubühne, sodann Hausregie 1975ff. Faust-Salpêtrière in Paris; seither international tätiger, freier Theater- u. Opern-Regisseur Ehrungen: Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres u. Konrad-Wolf-Preis d. Berliner Akademie d. Künste (2000); L’Ordre Chevalier de la Légion d’Honneur (2005).

Herkunft und Ausbildung Das ev. Pfarrhaus, in das Grüber mitten im II. Weltkrieg als jüngstes von vier Kindern geboren wurde, lag im Unterdorf des industriell durch Eisenbahn und Gießereien geprägten, nordbad. Dorfes Neckarelz bei Mosbach nahe am Neckar. Sein Vater war als erster aller Pfarrer der Landeskirche zum Kriegsdienst eingezogen worden, Mutter Kläre hatte deshalb den großen Hausstand bis zur Heimkehr ihres Mannes aus polnischer Kriegsgefangenschaft 1949 allein zu führen. In Grübers frühen Kindertagen halfen gelegentlich ausländische Kriegsgefangene im Pfarrgarten aus, die mit unterschiedlich strenger Bewachung in private Häuser verliehen werden durften. Manche Bewacher ließen sich mit Schnaps ablenken, wenn die Pfarrfrau für die Ausgehungerten eine Kartoffel-

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suppe bereithielt. Von Nachbarn wurde stillschweigend Hilfe geleistet, andere warfen aber auch Steine aufs Haus. 1944/45 schlurften wegen ihrer Kleidung »Zebras« genannte KZ-Häftlinge in Holzschuhen zu der in einem Bergwerk auf der anderen Neckarseite versteckten Produktion von Flugmotoren durch den Ort. »Wir wussten zu viel«, sagten Grübers Eltern, als sie sich 1951 nach Ettlingen bei Karlsruhe versetzen ließen. Die Elendsgestalten aus Grübers frühen Kindheitstagen, zu denen nach Kriegsende zahlreiche Vertriebene hinzukamen, tauchen in mehreren der späteren Inszenierungen Grübers auf. Die Schulzeit der 1950er Jahre scheint Grüber recht unauffällig hinter sich gebracht zu haben. Bis zum Abitur findet allenfalls seine intensive Hinwendung zum Trompetenspiel, besonders zu Johann Sebastian Bach, im Ev. Posaunenchor Erwähnung. Dies dürfte ihm den späteren Zugang zum Musiktheater und zu Dirigenten der internationalen Spitzenklasse erleichtert haben. Grübers Wunsch, eine Schauspielschule zu besuchen, überraschte seine Eltern, die sich aber nicht dagegen stellten. In der Stuttgarter Hochschule hat dann Siegfried Melchinger (1906–1988) als Feuilletonleiter der Stuttgarter Zeitung Grüber wohl jenen entscheidenden Fingerzeig gegeben, sich neben der ursprünglich angestrebten Schauspielerei das handwerkliche Können erstklassiger Regie bei Giorgio Strehler (1921–1997), europaweit berühmter Theater- und Opernregisseur, in Mailand zu erwerben. Private Freundschaften ermöglichten es Grüber dort, rasch fließend italienisch zu sprechen und Zugang zu alteingesessenen, kulturell führenden Familien zu finden. Der »Talentschmied« Kurt Hübner (1916–2007), seit 1962 Intendant am Bremer Theater, holte den belesenen Jungeuropäer von einem Zwischenaufenthalt in Freiburg im Br. nach Bremen.

Europäisches Erbe Grüber blieb nicht einer Stadt verhaftet. Er inszenierte national vor allem in Berlin, international häufig in Zürich und Paris. Die französische Metropole stellte ihm auf Lebenszeit in der Künstlerkolonie »La Ruche« im 15. Arrondissement eine Wohnung und ein Atelier zur Verfügung. Er war der erste Ausländer, der zur Inszenierung des Theaterstücks »Bérénice« von Jean Baptiste Racine in die Comédie Française eingeladen wurde. Aus dem Dorf Neckarelz über die Kleinstadt Ettlingen ist Grüber als junger Mann in seinen geistigen Raum Europa hineingewachsen. Zeitlich begann dieser, wie seine Bibliothek ausweist, bei den griechischen Vorsokratikern und schloss Mythen, Literaturen und die Wissenschafts- und für ihn natürlich auch die Musiktraditionen europäischer Völker ein. Die Reduzierung der europäischen Idee auf eine ökonomische Zweckge-

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meinschaft hat Grüber »zutiefst empört« (Privatarchiv Martin Grüber, Bruder von Klaus Michael Grüber, Offenburg). Gerhard Stadelmaier von der FAZ nannte Grüber in seinem Nachruf 2008 einen »Theaterwunderkünstler«. In einem raren Interview habe Grüber, zu seinem Theatertraum befragt, »Tränen, Ergriffenheit und Hingabe« genannt. Für den eloquenten Kritiker Stadelmaier war das Anlass, solcherlei zwar nicht unsympathisch zu finden, es aber als »diskursfern« einzuordnen. Grüber bezog sich in seiner Unterhaltung mit Jean Pierre Thibaudet (in: Libération vom 6. 12. 1984) auf das Vorwort des französischen Klassikers Jean Racine zu seiner 1671 im Druck erschienenen Tragödie Bérénice: Das Stück sei »geehrt worden durch so viele Tränen«, honorée par tant de larmes.

Ein wortkarger Regiestil Grübers Inszenierungen wurden vielfach als geheimnisvoll und dabei hochpoetisch wahrgenommen. In Sonderheit französische Schauspieler erlebten sich ihrer antrainierten, üblichen »théatralité« entkleidet und auf sich selbst, ihr Eigenstes, auf ihre Existenz in der übernommenen Rolle hingewiesen. »Keine Handbewegungen, gar nichts! Du bist Faust«, sagte Grüber 1975 in einer Probe zu Goethes Theaterfigur: »Du siehst den Tod. Nichts weiter!«1 . Die Theaterkritiker und Autoren Georges Banu und Marc Blezinger ergänzen dies mit der Feststellung: »Comme si l’acteur cessait d’être un interprête d’êtres fictifs pour se constituer en artisan de soi même«,2 als ob der Schauspieler aufhörte, Interpret fiktiver Wesen zu sein, um sich als Künstler seiner selbst zu formen. In den von den Herausgebern versammelten Zeugnissen aus künstlerischer Zusammenarbeit kehren Schlüsselbegriffe wie Liebe, Respekt, Schönheit, Tiefe, Stolz, Einfachheit, Stille häufig wieder. Es gibt aber auch die Aufforderung »Du musst die Mauern explodieren lassen mit deiner Stimme!« Der Schauspieler André Marcon resümiert: »Grüber ist nicht dogmatisch«3 und die Schauspielerin Jutta Lampe berichtet von Proben zu Empedokles (1975), die täglich mit dem gemeinsamen Anhören der späten Klaviersonate in B-Dur von Franz Schubert begannen. Theoretische Ausführungen zu seiner Arbeit lehnte Grüber in aller Regel ab. Sein Schweigen, »mutisme«, und bisweilen lakonische Bemerkungen wie »nein«, »psst«, »chut« irritierten den Theaterjournalismus.

1 Klaus Dermutz, 2008, S. 10. 2 Georges Banu und Marc Blezinger, 1993, S. 9. 3 Ebd. 1993, S. 79.

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Versuche einer Gesamtschau Das Werkverzeichnis der Grüberschen Inszenierungen von Sprechtheater und Oper lässt ein Verhältnis von um 40:20, also ca. 2:1, erkennen. Modernes Musiktheater von Anfang an (Alban Berg, Wozzeck, 1971), bei Steigerung der Anzahl von Operninszenierungen gegen Ende. Europäische Klassik und Moderne sind gleichstark vertreten. Seit dem »Antikenprojekt« an der Berliner Schaubühne, 1974: »Die Bakchen« von Euripides, 1975 »Empedokles« – Hölderlin lesen, verstärkt sich der Rückgriff auf die griechische Tragödie. 1970 war dies bereits in »Penthesilea« von Heinrich von Kleist in Stuttgart gegeben und erreichte 1977 mit der »Winterreise im Olympiastadion«, Textfragmente von J. Ch. Friedrich Hölderlin, einen abenteuerlichen Höhepunkt. Dieser spektakulärste Ausflug aus Theaterinnenräumen ins Freie wurde auch filmisch dokumentiert. Grübers Raumreisen: Eine Kurzfassung von Goethes »Faust« fand 1975 statt in der Chapelle Saint Louis des Hôpital de la Salpêtrière in Paris, einem historischen Spital für Geisteskranke. Die Erzählung »Rudi« von Bernard von Brentano (1979) bekam ihren Aufführungsort im Berliner Hotel Esplanade. Jorge Sempruns »Bleiche Mutter, zarte Schwester« hatte beim Kunstfest Weimar 1995 anlässlich des Kriegsendes, 50 Jahre zuvor, seine Bühne auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof. Neben häufig gepriesenen Lichteffekten gehörte es zu den Kunstgriffen Grübers, für seine Bühnengestaltungen freie Maler zu engagieren. Grüber gab ihnen so viel Freiheit, dass Eduardo Arroyo den Regisseurfreund gar einen »grand voleur«, einen großen Dieb, nannte.4 Zum engsten Kreis der Ideenbeiträger gehörten neben der langjährigen Regiemitarbeiterin Ellen Hammer die Malerkollegen Gilles Aillaud (1928–2005), Antonio Recalcati und Anselm Kiefer. Die Theaterfotografin Ruth Walz hat 2009 mehrere dieser Arbeiten in einem bemerkenswerten Bildband dokumentiert. Immer ging es Grüber darum, den innersten Kern eines Stückes zu finden, wegzulassen, was stört. Der Kostümbildner Rudy Sabounghi berichtet, Grüber habe 1986 für »La Cenerentola« wie besessen »die Geometrie der Musik von Rossini« gesucht. Wegen ihrer Leichtigkeit, légèreté, erinnerte ihn Grübers Arbeitsweise an Collagen von Henri Matisse.5 Jede Inszenierung des undogmatischen, theorielosen, aber ausstrahlungsstarken Meisters, gelegentlich gar »Heiligen« der Bühne war ein Neuanfang nahe Null in der Begegnung mit qualitätvollem Text. Daher rührt die Schwierigkeit, wichtige Stationen seines künstlerischen Werdegangs auszudeuten. Ivan Nagel (1931–2012), Kulturkorrespondent der FAZ, Publizist und Theaterintendant in Hamburg und Stuttgart, beginnt seinen Versuch dazu mit einer These darüber, 4 Banu/Blezinger, 1993, S. 131. 5 Ebd. 1993, S. 143.

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was Grüber bei dem Mailänder »Genie« Giorgio Strehler gelernt habe: »Es ist dem Theater unerlaubt, ein amüsanter oder gefühliger Teil unserer Lebensroutine zu sein. Jeder Aufführung ist aufgetragen, dass in unserem Kopf und Herzen etwas Unwiederbringliches geschieht.«6 Grüber stelle sich die Aufgabe, »Lücken zu erzeugen, Löcher zu reißen in die Routine des Denkens und Lebens«, seine Probenarbeit sei nicht Taktik, sondern »Befragen«. Er wolle »ein Theater des Mitfühlens und Mitahnens, der Langsamkeit und der Geduld« und nennt als Beispiele die »Bakchen des Euripides« (Berlin 1974), Jean Racines »Bérénice« (Paris 1984), Eugène Labiches »Affaire Rue de Lourcine« (Berlin 1988) und Claudio Monteverdis »L’incoronazione di Poppea« (Aix-en-Provence 2000). Der italienische Theaterkritiker Franco Quadri (1936–2011) diagnostiziert für 1968 beim frühen Grüber während seiner Zeit in Mailand eine »heftige Infragestellung des Amerikanismus und der Bürgerlichkeit«. Das Stück »Off Limits« von Arthur Adamov (1908–1970) führte zu Kontroversen mit der Theaterleitung – ohne Strehler – und mit dem Publikum.7 Der spätere Grüber, so Quadri, suche geistige Momente, nicht Handlung und Dialog, vielmehr situations mentales, zum Beispiel mittels Bühnengestaltung im Tschechow-Stück »An der großen Straße« oder in »Catharina von Siena« von Jakob M. R. Lenz. ( jeweils Berlin, 1984 und 1992). Aber auch besondere Schauspielergestalten wie Bruno Ganz (Bakchen, Hamlet, Prometheus), Bernhard Minetti (König Lear, Faust), schließlich Jeanne Moreau in Hermann Brochs »Magd Zerline« repräsentierten jene gesuchte »Alchemie von Beziehungen«.8 Im Unterschied zum sogenannten Regietheater vieler Kollegen mit ihren gelegentlich lehrhaften und willkürlichen »Aktualisierungen« gealterter Texte ließ sich Grüber auf deren Fremdheit ein. »Wer sich da mitnehmen und ergreifen ließ«, so rundete Gerhard Stadelmaier seinen Nachruf ab, »trägt einen Schatz für’s Weiterleben und Weiterphantasieren mit sich, den ihm ganze Heerscharen von Theaterfolterknechten nie mehr entreißen können«.9 Der Schauspieler Bruno Ganz vertrat 2006 in einem Gespräch mit Klaus Dermutz die Meinung, Grüber sei »kein Intellektueller sondern ein hochintelligenter Patriarch von einem Beduinenvolk. Er kann lang still sein und sieht alles. Und denkt so lange, bis sich etwas abzeichnet, bis er weitergehen kann.«10 Des Theologen K. Dermutz’ Monographie über Grüber von 2008 trägt den treffenden Untertitel »Passagen und Transformationen«. Angefügt an einen Lebensüberblick, der in 10 Kapiteln Grübers »spirituelle Reisen« anhand seiner Inszenierungen schildert, finden sich »Würdigungen« aus Grübers Umfeld mit aussagestarken Überschriften: Schau6 7 8 9 10

Dies maßlose Mitgefühl, in: FAZ vom 16. 12. 2000. Banu/Blezinger, 1993, S. 115f. Ebd. 1993, S. 124f. Gerhard Stadelmaier, FAZ vom 24. 6. 2008. Theater heute 8/9, 2008, S. 41.

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spielerin Angela Winkler beispielsweise nennt »Energie des Innehaltens«, der Dirigent Claudio Abbado sagt, Grüber glaube an die Sachen, die er macht. Regisseur Peter Stein gesteht, die Begegnung mit Grüber sei das Wichtigste in seiner Theaterlaufbahn gewesen; und Fachkollege Peter Zadek bemerkt, dass man sich als Zuschauer in Grübers Händen ungeheuer sicher fühle. Grüber zählte zur seltenen Spezies unter den Sprechtheaterregisseuren, die auch vom Musiktheater, von Oper etwas verstanden. Große Dirigenten wie Georg Solti, Christoph von Dohnányi, Nicolaus Harnoncourt, Claudio Abbado arbeiteten mit ihm zusammen. Jahrzehnte währende, verlässliche Regiemitarbeit leistete Ellen Hammer. Grübers Lebensgefährtin in den späten Jahren war Marie Collin.11 (Auswahl) Franco Quadri, Il teatro de gli anni Settanta. Traditione et ricercar (Stein, Chéreau, Ronconi, Mnouchkine, G., Bene) 1982; Uwe B. Carstensen, K. M. G., 1988; C. Bernd Sucher, Theaterzauberer, 1990; Georges Banu u. Mark Blezinger, K. M. G., 1993; Christoph Rüter Filmproduktion, L’Homme de Passage. Der Regisseur K. M. G., Filmdokumentation, 1999 (75 Min.); Ivan Nagel, Dies maßlose Mitgefühl. Die Theaterkunst, Lücken zu schaffen, oder Wie kann man über K. M. G. reden?, in: FAZ vom 16. 12. 2000; Georg Fischer, Interview mit Frau Kläre G. vom 1. 9. 2000 (Zusammenfassung) im A. d. KZ-Gedenkstätte Neckarelz. Friedemann Kreuder, Formen des Erinnerns im Theater K. M. G.s, 2002; Klaus Dermutz, K. M. G., 2008; Peter Iden, Dieses Empfinden d. Zeit, in: Frankfurter Rundschau vom 24. 6. 2004; Julia Spinola, Von Feld zu Feld, in: FAZ vom 20. 4. 2006; Dorothee Roos, Der Theaterwunderkünstler, in: Mosbacher Jahresheft 2008, 151ff.; Gerhard Stadelmaier, Wen aber das Ungeheure ergreift, in: FAZ vom 24. 6. 2008; Peter Kümmel, Den Atem sehen, in: Die Zeit vom 26. 6. 2008; Peter von Becker, Die Bühne als Weltraum, in: Der Tagesspiegel vom 24. 6. 2008; Bruno Ganz, Klaus Dermutz, »Klaus ist ein schöner Mensch«, in: Theater heute 8/9, 8./9.2008, 38–42; Henning Rischbieter, Was wir sind, finden wir nicht, ebd., 43–49. Klaus Dermutz, Peter Stein, Fleisch vom eigenen Fleisch, ebd. 50–53; Klaus Dermutz, K. M.G., Passagen u. Transformationen, 2008; Ruth Walz, Bruno Ganz, Karl Ernst Herrmann, Der Verwandler K. M. G., 2009.12

11 Quellen: A. der Akademie der Künste Berlin, Nachlass G., A. der KZ-Gedenkstätte Neckarelz; Privatarchiv Martin Grüber (Bruder von Klaus Michael Grüber), Offenburg. 12 Baden-Württembergische Biographien, Band VII. Im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg herausgegeben von Fred Ludwig Sepaintner. W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2019, S. 189–193.

Liste der Autorinnen und Autoren

Dermutz, Klaus, geb. 1960 in Judenburg, 1992 Promotion in Fachtheologie über Tadeusz Kantor. Von 2001–2009 mit Direktor Klaus Bachler Herausgeber der zehnbändigen Reihe Edition Burgtheater. Publikationen über Andrea Breth, Klaus Michael Grüber, Christoph Marthaler, Peter Zadek u. a. 2010 Anselm Kiefer-Gesprächsband »Die Kunst geht knapp nicht unter«. 2015 erschien der Debütroman »Sepsis«, 2019 »Acht Leben«. Prof. Dr. Kreuder, Friedemann, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, ist seit 2005 Leiter der Abteilung Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft sowie des theaterwissenschaftlichen Teilprojekts der DFG-Forschergruppe 1939 »Un/doing Differences« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Publikationen zu Richard Wagner, zum Geistlichen Spiel, zum Theater der Frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts, zum Gegenwartstheater und zu Theaterwissenschaft als sozialwissenschaftlicher Differenzierungsforschung. Grüber, Klaus-Michael, geb. 1941 in Neckarelz, gest. 2008 auf der Atlantikinsel Belle-Ile, Schauspielausbildung in Stuttgart, Assistent von Giorgio Strehler am Piccolo Teatro in Mailand. Nach den Anfängen Ende der 1970er Jahre in Freiburg, Mailand, Zürich und Bremen von 1972–1998 prägender Regisseur an der Berliner Schaubühne, zahlreiche Theater- und Operninszenierung an renommierten europäischen Theater- und Opernhäusern sowie beim Festival d’Automne, den Wiener Festwochen und den Salzburger Festspielen. Grüber, Kläre, geb. Popp, geb. 1913 in Ulm/Donau, gest. 2005 in Karlsruhe. Kinderkrankenschwester, später Hausfrau, Mitarbeit im Pfarramt. Heirat mit Otto Grüber 1936. Vier Kinder: Martin, Peter, Margret, Klaus Michael. Grüber, Martin, geb. 1937 in Neckarelz (heute Mosbach). Jurist. Nach verschiedenen Verwaltungstätigkeiten von 1976 bis 1989 Oberbürgermeister der Stadt

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Liste der Autorinnen und Autoren

Offenburg, von 1989 bis 1993 Stadtkämmerer der Stadt Frankfurt a.M., anschließend Geschäftsführer einer GmbH. Grüber, Otto, geb. 1907 in Mannheim, gest. 1989 in Karlsruhe. Studium der Theologie in Marburg, Tübingen, Heidelberg und Zürich. Ab 1934 Pfarrer in Neckarelz (heute Mosbach), ab 1951 bis zur Pensionierung Pfarrer in Ettlingen. Hammer, Ellen, geboren in München, Studium der Literatur- und Theatergeschichte. Von 1970 bis 1978 Dramaturgin an der Schaubühne, dort erste Zusammenarbeit mit Klaus Michael Grüber in Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald« (1972) und in Euripides’ »Die Bakchen« (1974). Seit 1978 ständige Regiemitarbeiterin von Grüber. Ihre Ernst Jandl-Inszenierung »Aus der Fremde« (Schaubühne, 1980) wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen, weitere Inszenierungen folgten in Bonn, am Piccolo Teatro und in Graz. Zusammenarbeit mit Anselm Kiefer bei »Am Anfang« (Opéra Bastille, 2009) und bei Robert Wilson-Inszenierungen. Hinterhäuser, Markus, geboren in La Spezia, Italien, studierte Klavier in Wien und Salzburg sowie in Meisterkursen u. a. bei Elisabeth Leonskaja und Oleg Maisenberg. Als Pianist tritt Markus Hinterhäuser sowohl solistisch als auch in Kammerkonzerten und als Liedbegleiter in den bedeutendsten Konzertsälen und bei international renommierten Festivals auf. Immer wieder wirkte Markus Hinterhäuser auch an Musiktheaterproduktionen von Christoph Marthaler, Johan Simons und William Kentridge mit. Im Jahr 2005 arbeitete er gemeinsam mit Klaus Michael Grüber in dessen Inszenierung von Janaceks »Tagebuch eines Verschollenen« im Rahmen der Wiener Festwochen. Internationales Renommee im Kulturmanagement errang Markus Hinterhäuser als Mitbegründer und Künstlerischer Leiter der Veranstaltungsreihe Zeitfluß bei den Salzburger Festspielen. Von 2007 bis 2011 verantwortete er als Konzertdirektor das Konzertprogramm der Salzburger Festspiele, die er 2011 als Intendant leitete. Von 2014 bis 2016 war er Intendant der Wiener Festwochen. Seit Oktober 2016 leitet er als Intendant und Künstlerischer Leiter die Salzburger Festspiele, sein Vertrag wurde 2019 vom Kuratorium der Salzburger Festspiele bis September 2026 verlängert. Kiefer, Anselm, geb. 1945 in Donaueschingen, Kunststudium bei Peter Dreher in Freiburg und Horst Antes in Karlsruhe. Sein Bild »Deutschlands Geisteshelden« (1973) für den deutschen Pavillon zur Biennale in Venedig 1980 löste eine große Debatte aus, eine Wanderausstellung durch die USA machte ihn Ende der 1980er Jahre weltberühmt. Kiefer erhielt viele internationale Auszeichnungen, u. a. den Praemium Imperiale-Preis der Japan Art Association (1999) und den Friedens-

Liste der Autorinnen und Autoren

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preis des Deutschen Buchhandels (2008). Für Klaus Michael Grübers Inszenierungen von »Ödipus in Kolonos« (Burgtheater, 2003) und »Elektra« (Teatro di San Carlo, 2003) schuf er die Bühne und Kostüme. Langhoff, Thomas, 1938–2012, Theater- und Filmregisseur sowie Filmschauspieler. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er mit seiner Familie aus Zürich nach Berlin zurück, wo er bis 1990 in der DDR lebte. Studium an der Theaterhochschule in Leipzig, wirkte am Potsdamer Hans Otto-Theater von 1964 bis 1971 als Schauspieler, danach Arbeiten fürs DDR-Fernsehen. 1977 inszenierte er u. a. am Maxim Gorki-Theater »Einsame Menschen« und 1989 Volker Brauns »Übergangsgesellschaft«. Von 1991 bis 2001 Intendant des Deutschen Theaters. Bis 2011 Regietätigkeit an allen großen deutschsprachigen Bühnen. Mast, Rudolf, geb. 1958 in Bielefeld, war Segellehrer und Segelmacher, bevor er Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin studierte. Dort arbeitet er heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Archivs der Berliner Akademie der Künste, Lektor und Übersetzer. Zuletzt erschienen bei mare seine deutsche Erstübersetzung von Henry Bestons »Das Haus am Rand der Welt« (2018) und die Neuübersetzung von »Robinson Crusoe« (2019). Petry, Clara-Franziska, geb. Plum, ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2019 schloss sie ihre Promotion »Crossover als Inszenierungsstrategie. Doing Pop, Doing Classical Music, Doing Mixed Genres« am Institut für Theaterwissenschaft ab. Nach Abschluss ihres Masters in Theaterwissenschaft (2014) studierte sie am Dr. Hoch’s Konservatorium (Frankfurt am Main) ein Jahr Musikpädagogik (Hauptfach: Gesang und Elementare Musikpädagogik). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Schnittstellen von Theaterwissenschaft, Musik und Soziologie sowie die Bereiche von Musik- und Kulturvermittlung. Roos, Dorothee, geb. 1954, Historikerin und ehrenamtliche Leiterin der KZGedenkstätte Neckarelz. Sie veröffentlichte im »Mosbacher Jahresheft« 2008 einen Artikel mit dem Titel »Der Theaterwunderkünstler. Zum Tod des Regisseurs Klaus Michael Grüber« und organisierte im Jahr 2009 zusammen mit Karsten Weber und Harald Kielmann in Mosbach eine Veranstaltungsreihe. Rueb, Gustav geboren 1975 in Zürich, studierte Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. Ab 1995 Beginn der Theaterarbeit, u. a. Assistenzen bei Klaus Michael Grüber an der Berliner Schaubühne und bei Peter Stein (Faust-Ensemble) sowie bei Jürgen Gosch, Michael Simon und Philip Tiedemann. Erste Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus, danach freier Theater- und Opernregisseur in

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Liste der Autorinnen und Autoren

Bochum, Darmstadt, Dresden, Essen, Frankfurt, Göteborg, Graz, Kassel, Lissabon, Strasbourg u. a. Dozententätigkeit am Wiener Max-Reinhardt-Seminar, an der Film- und Fernsehhochschule Potsdam-Babelsberg und an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. 2010 erhielt Gustav Rueb den Hessischen Theaterpreis für die »Beste Inszenierung« für die »Bakchen« des Euripides. Sander, Otto, 1941–2013, studierte an der Münchner Ludwig-MaximilliansUniversität von 1962–1967 Theaterwissenschaft, Germanistik, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie. 1964 begann er eine Schauspielausbildung an der Otto Falckenberg-Schule. Erste Engagements führten ihn nach Düsseldorf und an die Freie Volksbühne Berlin. Ab 1970 gehörte Sander zum Ensemble der Berliner Schaubühne und arbeitete mit Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Peter Stein und Robert Wilson zusammen. Große Erfolge feierte Sander auch im Film, so in den Wim Wenders-Filmen »Der Himmel über Berlin« (1987) und »In weiter Ferne, so nah!« (1993). Sander war ein geschätzter Synchron-, Hörspiel- und Hörbuch-Sprecher. Schuler, Constanze ist Akademische Rätin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (FTMK) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Komparatistik und Kunstgeschichte an den Universitäten Mainz und Wien arbeitete sie zunächst als Dramaturgin. 2005 promovierte sie mit einer Arbeit zu den Salzburger Festspielen (Der Altar als Bühne. Die Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Festspiele, Tübingen 2007). Walz, Ruth, geb. 1941, war von 1976–1990 Fotografin der Berliner Schaubühne und von 1991–2001 der Salzburger Festspiele. Seit 2001 ist sie freie Fotografin. Zusammenarbeit mit Peter Stein, Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Pierre Audi, Robert Wilson, Peter Sellars, Christoph Marthaler, Jossi Wieler, Peter Mussbach, Andrea Breth, Jürgen Gosch, Peter Zadek u. a. Weber, Karsten, geb. 1941, Insel Nordstrand, aufgewachsen in Heidelberg, Dr. phil., Oberstudienrat i.R., Mosbach, Baden; Studium der Evangelischen Theologie, Geschichte und des Französischen. 1970–1982 Landesbildstelle Baden, Karlsruhe, 1977 Promotion bei Prof. Dr. Reinhart Koselleck. 1984/85 Chefredakteur Evangelischer Presseverband in Baden. 1986–2004 Gymnasium Karlsbad. 1983–2002 Vizepräsident der Vereinigung der Deutsch-Französischen Gesellschaften.

Verzeichnis der Inszenierungen

1967 Der Impresario von Smyrna von Carlo Goldoni, Übersetzung: Lola Lorme unter Mitarbeit von Margarete Schell von Noe, Städtische Bühnen Freiburg, Deutsche Erstaufführung: 4. 11. 1967, Bühne und Kostüme: Erwin W. Zimmer, Bearbeitung/ Einstudierung der venezianischen Lieder: Uwe Mund, Darsteller: Willi Schneider (Ali), Renate Heuser (Lucretia), Berthe Trüb (Tognina), Rosemarie Kilian (Annica), Paul Burian (Carluccio), Manfred Zapatka (Pasqualino), Heinz Jörnhoff (Graf Lasca), Günther Einbrodt (Maccario), Alfred Schnös (Nibio), Helmut Griesshaber (Frabizio), Bernd Schorlemer (Beltrame), Karl Heinz Wagner (ein Diener), Walter Stodtmeister (ein Gitarrenspieler).

1968 Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen -1431 von Anna Seghers, Bühnenfassung: Bertolt Brecht, Produktionstitel: Il processo di Giovanna d’Arco a Rouen – 1431, Übersetzung: Giorgio Strehler, Klaus Michael Grüber, Piccolo Teatro, Italienische Erstaufführung: 18. 2. 1968, Bühne und Kostüme: Ezio Frigerio, Musik: Fiorenzo Carpi, Darsteller: Enzo Tarascio (Bischof Cauchon di Beauvais), Alessandro Ninchi (Beaupère), Ottavio Fanfani (La Fontaine), Franco Mezzera (Chatillon), Gianfranco Mauri (Manchon), Paolo Modugno (Lefèvre), Umberto Verdoni (Massieu), Ugo Bologna (Maître Erard), Renato Scarpa (Frate Raoul), Guido Gheduzzi (Schreiber), Peter Townend (englischer Beobachter), Mario Bussolino (Adjutant des Beobachters), Umberto Troni, Attilio Crosini (Wachsoldaten), Vittorio Quadrelli, Renato Gari (Soldaten), Anna Priori, Jolanda Cappi (Nonnen), Marcella Mariotti, Adria Mortari (Stimmen), Valentina Cortese (Giovanna), Anna Priori, Jolanda Cappi (Mädchen), Marcello Tusco (Jacques Legrain), Franco Moraldi (Bauer), Dory Dorika (Bäuerin), Giorgio Biavati (Sohn), Lia Rho Barbieri (Schwägerin), Giorgio Naddi (Doktor Dufour), Jolanda Cappi (Nichte),

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Verzeichnis der Inszenierungen

Roberto Herlitzka (eleganter Herr), Anna Nogara (leichtes Mädchen), Wanda Benedetti (Fischverkäuferin), Evaldo Rogato (Weinhändler), Flavio Bonacci ( junger Priester), Pierto Buttarelli (Wirt), Giorgio Barbafiera (Henker), Pietro Bocchi (Invalide). Der verliebte Soldat von Carlo Goldoni, Übersetzung: Mario Hindermann, Klaus Michael Grüber, Schauspielhaus Zürich, Premiere: 7. 9. 1968, Bühne und Kostüme: Ezio Frigerio, Musik Fiorenzo Carpi, Musikalische Einstudierung: Rudolf Spira, Darsteller: Ferruccio Soleri (Arlecchino), Erwin Parker (Der General), Jöns Andersson (Don Sancio), Alexander Wagner (Don Garcia), Heinz Ehrenfreund (Don Alonso), Klaus Knuth (Brighella), Edzard Wüstendörfer (1. Korporal), Peter Hamm (2. Korporal), Alois Garg (Pantalone de Bisognosi), Gabriele Busch (Rosaura), Margit Ensinger (Beatrice), Felicitas Ruhm (Corallina).

1969 Off Limits von Arthur Adamov, Übersetzung: Furio Colombo, Piccolo Teatro, Italienische Erstaufführung: 10. 2. 1969, Bühne und Kostüme: Eduardo Arroyo, Musik: Giorgio Gaslini, Regiemitarbeit: Alberto Sironi, Umberto Troni, Dramaturgie: Salvatore Veca, Darsteller: Paolo Pozzi (Jim O’Sullivan), Gabriella Grimaldi (Sally), Maurizio Degli Esposti (Bob), Giovanna Savoldi (Ethel), Mario Valdemarin (George Watkins), Anna Nogara (Dorothy Watkins), Ruggero de Daninos (James Andrews), Vincenzo De Toma (Humphrey O’Douglas), Gabriella Poliziano (Lisbeth O’Douglas), Clara Zovianoff (Luce Herz), Mimmo Craig (Doris Roan), Nais Lago (Margaret Roan), Ottavio Fanfani (Reynold Day), Umberto Verdoni (Lazlo Dery), Teresa Ricci (Molly), Renato Scarpa (Neel), Antonio Attisani (Peter Lerkins), Emilio Delle Piane (Mr. Hincker), Liana Casartelli (Mr. Walker), Emilio Delle Piane (Leonide Bernhardt), Sängerin: Gabriella Ravazzi. Der Sturm von William Shakespeare, Übersetzung: Karsten Schälike, Theater der Freien Hansestadt Bremen, Premiere: 19. 11. 1969, Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Wilfried Minks, Walter Ernst Schwab, Darsteller: Erwin Wirschaz (Alonso), Hermann Faltis (Sebastian), Klaus Michael Grüber (Prospero), Werner Rehm (Antonio), Fritz Schediwy (Ferdinand), Willi Ress (Gonzalo), Uwe-Karsten Koch (Adrian), Sieghold Schröder (Franzico), Martin Speer (Caliban), Buddy Elias (Trinculo), Helmut Erfurth (Stephano), Ute Uellner (Miranda), Wolfgang Schneider (Ariel).

Verzeichnis der Inszenierungen

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1970 Penthesilea von Heinrich von Kleist, Württembergische Staatstheater, Stuttgart, Premiere: 7. 11. 1970, Bühne und Kostüme: Wilfried Minks, Regiemitarbeit: Guido Huonder, Dramaturgiemitarbeit: Gottfried Greiffenhagen, Darsteller: Rosel Zech (Penthesilea), Marlen Diekhoff (Prothoe), Lilith Ungerer (Meroe), Heidemarie Rohweder (Asteria), Eva Meier (Oberpriesterin der Diana), Ute Zehlen (Oberste der Amazonen), Giovanni Früh (Achilles), Karl Albert Bock (Odysseus), Ulrich Kuhlmann (Diomedes), Berthold Toetzke (Antilochus), Eberhard Feik (Der Hauptmann), Hajo Solinger (ein Myrmidonier), Klaus Wennemann (ein Aetolier), Hans-Peter Korff (ein Doloper), Wilfried Este (ein Herold), Cornelia Bitsch, Silvia Greulich, Ulrike Harde, Candelaria Fuchs, Dorothea Mack (Amazonen), Margareta Hamm, Tanja von Oertzen, Carola Zbirowsky (Rosenmädchen).

1971 Wozzeck von Alban Berg, Text: Alban Berg nach Georg Büchner, Theater der Freien Hansestadt Bremen, Premiere: 8. 4. 1971, Musikalische Leitung: Hermann Michael, Bühne und Kostüme: Eduardo Arroyo, Regiemitarbeit: Manfred Scholl, Sänger: George Fourie (Wozzeck), Charles O’Neill (Tambourmajor), Hermann Schnok (Andres), Georg Koch (Hauptmann), Karsten Küsters (Doktor), Aage Haugland (1. Handwerksbursche), Walter Koller (2. Handwerksbursche), Jürgen Kraus (Der Narr), Panus Pollis (1. Soldat), Jutta Valerien (Marie), Katherine Stone (Margret), Norbert Kentrup (Tambourmajor II), Manfred Scholl (Andres II, Hauptmann II), Werner Biermann (Doktor II), Elisabeth Ebeling (Marie II). Weltmeisterschaft im Klassenkampf von Peter O. Chotjewitz nach Mysterium buffo von Wladimir W. Majakowskij, Theater der Freien Hansestadt Bremen, Uraufführung: 20. 6. 1971, Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Wilfried Minks, Walter Ernst Schwab, Musik: Peer Raben, Darsteller: Willi Ress (Eskimo-Fischer), Günter Rainer (Eskimo-Jäger), Ellen Esser (Putzfrau), Hans Hirschmüller (Bergmann), Elisabeth Ebeling (Wickerling), Rudolf Waldemar Brem (Schwarzer Panther), Dieter Röhlke (Schiffszimmermann), Manfred Scholl (Indio), Stefan Matousch (Kaffeepflücker), Brigitte Janner (Küchenhilfe), Daniel Kasztura (Hirte), Jan George (Indischer Landarbeiter), Georg Martin Bode (Der Schwede), Kurt Raab (Sowjetrusse) Roland Schäfer (Rassist), Uwe-Kartsen Koch (Deutscher), Angelika Thomas (Französin), Jan-Geerd Buss (Ami), Harry Wolff (Technokrat), Guido Huonder (Militärdiktator), Norbert Kentrup (Herr im Stresemann), Fritz Schediwy (der Schah von Persien), Mechthild Grossmann (Frau Indira Gandhi), Dirk von Bodisco (Papst Paul), Hille Darjes (Dame mit den

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Verzeichnis der Inszenierungen

Pappschachteln), Peter Bernhardt (Versöhnler), Siegbert Siewert (Intelligenzler), Wolfgang Schneider (Agitator), Uwe-Karsten Koch (Höllenfürst), Norbert Kentrup, Kurt Raab, Guido Huonder (Drei Teufel), Fritz Schediwy (Himmelsfürst), Hanna Köhler (Ganymed), Georg Martin Bode, Roland Schäfer, Harry Wolf, JanGeerd Buss (Vier Heiligkeiten), Hanna Köhler (Gesang).

1972 Julius Caesar von Georg Friedrich Händel, Text: Nicola Francesco Haym, Theater der Freien Hansestadt Bremen, Premiere: 6. 2. 1972, Musikalische Leitung: Hermann Michael, Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Wilfried Minks, Maja Lemcke, Regiemitarbeit: Manfred Scholl, Cembalo und Musikalische Mitarbeit: Werner Marihart, Sänger: Dale Düsing (Gajus Julius Caesar), Theodor Schlott (Curio), Maria Sandulesco (Cornelia), Katherine Stono (Sextus Pompejus), Kay Griffel (Cleopatra), Karsten Küsters (Ptolemäus), Walter Koller (Achillas). Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth, Schaubühne am Halleschen Ufer, Premiere: 18. 8. 1972, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Moidele Bickel, Dramaturgie: Dieter Sturm, Darstelller: Otto Mächtlinger, Wolf Redl (Billiadeure), Elfriede Irrall (Die Großmutter), Katharina Tüschen (Die Mutter), Michael König (Alfred), Edith Clever (Valerie), Werner Rehm (Der Hierlinger Ferdinand), Otto Sander (Rittmeister), Rayoli Dadas (Realschülerin), Bruno Ganz (Oskar), Tilo Prückner (Havlitschek), Regina Ernst/Dagmar Müller (Ida), Ingo Lampe, Willem Menne, Mario Scanzoni (Drei Männer), Jutta Lampe (Marianne), Sabine Andreas (Eine Gnädige Frau), Dieter Laser (Der Zauberkönig), Sabine Andreas, Elke Petri (Zwei Tanten), Rüdiger Hacker (Erich), Elke Petri (Emma), Mario Scanzoni (Installateur), Sabine Andreas (Helene), Elke Petri (Baronin), Bruno Ganz (Stimme des Beichtvaters), Tilo Prückner (Salamuccimann) Brigitta Dresewski, Ingo Lampe (Tanzpaar), Peter Fitz (Mister), KlausHarald Kuhlmann (Conférencier), Roland Teubner (Gorlitzka). Off Limits von Arthur Adamov, Übersetzung: Wolfgang Kirchner, Düsseldorfer Schauspielhaus, Deutschsprachige Erstaufführung: 30. 9. 1972, Bühne und Kostüme: Eduardo Arroyo, Musik: Peer Raben, Regiemitarbeit: Claus Bremer, Darsteller: Carsten Bodinus (Jim O’Sullivan), Irmgard Benesch (Sally), Peter Harin (Bob), Marianne Landherr (Ethel), Peter Abromeit (Frankie), Fried Gärtner (George Watkins), Renate Steiger (Dorothy), Franz Kollasch (James Andrews), Kurt Conradi (Humphrey O’Douglas), Christiane Bruhn (Lisbeth), Nancy Illig (Luce Herz), Richard Elias (Doris Roan), Elvira Hofer (Margaret), Dom de Beern (Reynold Day), Wolfgang Haubner (Lazlo Dery), Ilse Ritter (Molly), Bernd Heinzelmann (Neel), Horst Babson (Peter Lerkins), Werner

Verzeichnis der Inszenierungen

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Meyer (Mr. Hincker), Birgid Füllenbach (Mrs. Walker), Mamadou Mamou N’diaye (ein Schwarzer), Sängerin: Hanna Köhler.

1973 Im Dickicht der Städte von Bertolt Brecht, Städtische Bühnen, Frankfurt am Main, Premiere: 23. 3. 1973, Bühne und Kostüme: Eduardo Arroyo, Musik: Peer Raben, Regiemitarbeit: Valentin Jeker, Hannes Klett, Dramaturgie: Jörg Wehmeier, Darsteller: Traugott Buhre (Shlink), Ulrich Hass (George Garga), Axel Bauer (John Garga), Else Knott (Mae Garga), Elisabeth Schwarz (Marie Garga), Ingeborg Engelmann (Jane Larry), Ernst Jacobi (Skinny), Giovanni Früh (Collie Couch), Werner Schwuchow (J. Finnay), Jürgen Kloth (Pat Manky), Giselher Schweitzer (Ein Geistlicher der Heilsarmee), Valentin Jeker, Kurt Dommisch (C. Maynes), Albert Hoerrmann (Der Grüne), Gerd Knopf (Kellner). Das letzte Band von Samuel Beckett, Übersetzung: Erika und Elmar Tophoven, Theater der Freien Hansestadt Bremen, Premiere: 24. 5. 1973, Dramaturgie: Barbara Krauss, Darsteller: Bernhard Minetti (Krapp).

1974 Die Bakchen von Euripides, Bearbeitung der Schaubühne am Halleschen Ufer unter Verwendung der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, Antikenprojekt I, Zweiter Abend, Schaubühne am Halleschen Ufer, Premiere: 7. 2. 1974, Regie: Klaus Michael Grüber, Bühne: Gilles Aillaud/Eduardo Arroyo, Kostüme: Susanne Raschig, Dramaturgie: Dieter Sturm, Übungen für den Chor: Gerd Kaminski, Bühnenbild-Mitarbeit: Hans Kleber, Wissenschaftliche Beratung: Theodoras Stephanopoulos, Musik: Peter Fischer/Igor Strawinski, Darsteller: Michael König (Dionysos), Otto Sander (Teiresias), Peter Fitz (Kadmos), Bruno Ganz (Pentheus), Heinrich Giskes (Erster Bote), Rüdiger Hacker (Zweiter Bote), Edith Clever (Agaue), Sabine Andreas, Jutta Lampe, Christine Oesterlein, Elke Petri, Ulrike Schloemer, Katharina Tüschen, Angela Winkler (Chor der Lydischen Bakchen), Gerd David, Claus Theo Gärtner, Otto Mächtlinger, Ingo Lampe (Wärter der Skene), Eberhard Feik (Person in der Skene). Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók, Text: Béla Balázs, Städtische Bühnen, Frankfurt am Main, Premiere: 26. 6. 1974, Musikalische Leitung: Christoph von Dohnányi, Bühne: Klaus Michael Grüber, Max von Vequel, Kostüme: Moidele Bickel, Regiemitarbeit: Hannes Klett, Sänger: Ingvar Wixell (Herzog Blaubart), Janis Martin (Judith).

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Verzeichnis der Inszenierungen

Erwartung von Arnold Schönberg, Text: Marie Pappenheim, Städtische Bühnen, Frankfurt am Main, Premiere: 26. 6. 1974, Musikalische Leitung: Christoph von Dohnányi, Bühne: Klaus Michael Grüber, Max von Vequel, Kostüme: Moidele Bickel, Regiemitarbeit: Hannes Klett, Sängerin: Anja Silja (Die Frau).

1975 Faust Salpêtrière, Originaltitel: Faust von Johann Wolfgang Goethe, Übersetzung: Gérard de Nerval, Henri Lichtenberger, Berabeitung: Klaus Michael Grüber, Bernard Pautrat, André Engel, Chapelle Saint Louis, Hôpital de la Salpêtrière, Paris, Premiere: 15. 5. 1975, Bühne und Kostüme: Gilles Aillaud, Eduardo Arroyo, Regiemitarbeit: André Engel, Dramaturgie: Bernard Pautrat, Dramaturgiemitarbeit: Jérôme Bindé, Renate Klett, Darsteller: Jean Badin (Méphisto II), JeanPierre Bagot (Méphisto IV, Le Fou), Jean Benguigui (L’Esprit de la Terre, Chiron, Philémon), Christiane Cohendy (Marguerite, Mère III, Manto), Evelyne Didi (Ariel, La Poésie, Coryphée II, Euphorion), Pierre Dios (Le Vieux Paysan, Lyncée), Francois Dunoyer (Méphisto I), Gérard Lorin (Faust), Anna Nogara (Hélène), Michèle Oppenot (Mère II, La Phorkyade), Denise Peron (Dieu, Mère I, Coryphée I, Baucis, Le Souci), Brigitte Rouan (Le Mauvais Esprit, Phantalis, La Jeune Fille), André Wilms (Wagner, Le Hérault, Le Voyageur). Empedokles – Hölderlin lesen, Schaubühne am Halleschen Ufer, Premiere: 14. 12. 1975, Bühne: Antonio Recalcati, Kostüme: Moidele Bickel, Susanne Raschig, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Dramaturgie: Dieter Sturm, Darsteller: Renate Bleibtreu, Eberhard Feik, Jutta Lampe, Christine Oesterlein, Werner Rehm, Libgart Schwarz (1. Lektüre), Hans Diehl, Bruno Ganz, Willem Menne (2. Lektüre).

1976 Die Walküre von Richard Wagner, Produktionstitel: La Walkyrie, Théâtre National de l’Opéra, Paris, Premiere: 18. 12. 1976, Musikalische Leitung: Georg Solti, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Moidele Bickel, Darsteller: Peter Hofmann (Siegmund), Helga Dernesch (Sieglinde), Kurt Moll (Hunding), Theo Adam Wotan, Gwyneth Jones (Brünnhilde), Christa Ludwig (Fricka).

Verzeichnis der Inszenierungen

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1977 Der Architekt und der Kaiser von Assyrien von Fernando Arrabal, Produktionstitel: El Arquitecto y el Emperador de Asiria, Théâtre de Barcelona, 1977, Bühne und Kostüme: Eduardo Arroyo. Darsteller: Adolfo Marsillach (Actor y empresario), José María Prada u. a. Winterreise im Olympiastadion, Textfragmente von Johann Christian Friedrich Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Olympiastadion, Berlin, Premiere: 1. 12. 1977, Bühne: Antonio Recalcati, Kostüme: Moidele Bickel, Dagmar Niefind, Regiemitarbeit/Organisation: Hannes Klett, Dramaturgie: Bernard Pautrat, Ellen Hammer, Darsteller: Arnim Baumert, Andreas Eisenschenk, Thomas Fölsch, Wolfram Götz, Hans-Peter Jäggi, Heiko Neumann, Hans-Joachim Schulze, Martin Szafranski (Sportler), Rainer Stender (an der Hobelbank), Tina Engel (Lotte Zimmer, Erscheinung), Eberhard Feik, Günter Lampe, Felix Prader, Werner Rehm (in den Zelten), Paul Burian, Gerd David, Rüdiger Hacker, Jan Kauenhowen, Michael König, Wolf Redl (vor dem Anhalter Bahnhof), Sabine Andreas (Mädchen mit Anorak, Thor-Hüterin), Grischa Huber, Christine Oesterlein (Chor der Emigrantinnen), Otto Mächtlinger (im Friedhof), Ruth Walz (Fotoreporterin), Wolfgang Knigge (Kameramann), Libgart Schwarz (Sängerin), Gerd David, Rüdiger Hacker, Willem Menne, Gerd Wameling (alternativ: Wanderer durch die Nacht), Filmproduktion der Schaubühne, gesendet vom NDR.

1979 Rudi von Bernard von Brentano, Hotel Esplanade, Berlin, Premiere: 20. 3. 1979, Bühne: Antonio Recalcati, Kostüme: Dagmar Niefind, Musik (Hölderlin-Vertonungen: Peter Fischer) Ernst-Lothar von Knorr, Dramaturgie: Ellen Hammer, Bernard Pautrat, Darsteller: Paul Burian, Elfriede Falke, Alexander Schubart (alternativ), Christian Wecke (alternativ), Sängerin: Audrey Michael.

1981 Haltestelle Ätna, Fernsehproduktion Fermata Etna, Produktionsleitung: Emanuele Spatafora, Produktion: Lunga gittata cooperativa, Giovanella Zannoni, im Auftrag von RAI III, TV-Programm, Italien, 1981, Drehbuch: Bernard Pautrat, Klaus Michael Grüber, Kamera: Tonino Nardi, Schnitt: Roberto Perpignani, Bauten: Elena Ricci Poccetto, Ton: Roberto Forrest, Darsteller: Bruno Ganz, Gabriella Saitta.

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Verzeichnis der Inszenierungen

Sechs Personen suchen einen Autor von Luigi Pirandello, Übersetzung: Georg Richert, Freie Volksbühne, Premiere: 21. 3. 1981, Bühne: Titina Maselli, Kostüme: Dagmar Niefind, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Dramaturgie: Bernard Pautrat, Darsteller: Peter Roggisch (Der Vater), Barbara Morawiecz (Die Mutter), Angela Winkler (Die Stieftochter), Gerd David (Der Sohn), Mustafa Ülker, Axel Rudolph, Julien Pannewitz, Markus Müller (Der Junge), Claudia Rudolph Janine Steinmann, Dunja Sabri (Das kleine Mädchen), Ada Hecht (Madame Pace), Kurt Hübner (Der Theaterdirektor), Libgart Schwarz (die 1. Schauspielerin), Alexander Wagner (der 1. Schauspieler), Eva Lissa (die 2. Schauspielerin), Hendrikje Fitz (die junge Schauspielerin), Martin Brandt, Günter Fischer, Siegfried Grönig (Schauspieler), George Schulz (der Inspizient), Christel Mayer (die Souffleuse), Karel Militzer (der Requisiteur), Karl-Heinz Drähn (der Bühnenmeister).

1982 Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Bearbeitung: Klaus Michael Grüber, Bernard Pautrat, Freie Volksbühne, Premiere: 22. 3. 1982, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Dagmar Niefind, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Bernhard Minetti (Faust), Peter Fitz (Mephistopheles), Nina Dittbrenner (Margarete), Gerd David (Wagner), Kurt Hübner (liest die Zueignung). Hamlet von William Shakespeare, Übersetzung: August Wilhelm Schlegel, Johann Joachim Eschenburg (einige Prosapassagen), Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere: 11. 12. 1982, Regie: Klaus Michael Grüber, Dieter Sturm, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Moidele Bickel, Andrea Schmidt-Futterer, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Einstudierung der Fechtszenen: Klaus Figge, Einstudierung der Lieder: Mirka Dzakis, Darsteller: Bruno Ganz (Hamlet), Peter Fitz (Claudius), Jochen Tovote (Der Geist von Hamlets Vater), Edith Clever (Gertrud), Werner Rehm (Polonius), Willem Menne (Laertes), Jutta Lampe (Ophelia), Gunter Berger (Horatio), Gerd Wameling (Rosenkranz), Udo Samel (Güldenstern), Bernhard Minetti (Erster Schauspieler), Michael Maassen (Voltimand), Stefan Reck (Cornelius), Paul Burian (Osrick), Urs Bihler (Marcellus), Ernst Stötzner (Bernardo), Stefan Reck (Francisco), Greger Hansen, Paul Burian, Stefan Reck, Ernst Stötzner (Schauspieler), Peter Simonischek (Fortinbras), Ernst Stötzner (Norwegischer Hauptmann), Michael Maassen (Edelmann), Urs Bihler (Priester), Wolf Redl (Totengräber), Greger Hansen (Dörfler), Mathias Gnädiger (Matrose), Jochen Tovote (Bote), Ernst Stötzner (Englischer Gesandter).

Verzeichnis der Inszenierungen

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1983 Tannhäuser von Richard Wagner, 46. Maggio Musicale Fiorentino, Teatro Comunale, Premiere: 30. 4. 1983, Musikalische Leitung: Emil Tchakarov, Bühne und Kostüme: Carlo Tommasi, Regiemitarbeit: Irene Panerai Mohler, Regieassistenz: Ellen Hammer, Sänger: Alexander Malta (Hermann), Wolfgang Neumann (Tannhäuser), Hermann Prey (Wolfram), Donald Litaker (Walther), Wolfganz Lenz (Biterolf), Imre Remenyi (Heinrich), Charles Ossola (Reinmar), Arlene Saunders (Elisabeth), Brenda Roberts (Venus), Dorotea Wirtz (ein junger Hirte), Matteo Capanni, Giulia Lemma, Barbara Mangani, Fiorenza Miniati (vier Edelknaben).

1984 An der großen Straße von Anton P. Tschechow, Übersetzung: Peter Urban, Probebühne der Schaubühne am Lehniner Platz, Cuvrystraße 7, Premiere: 14. 2. 1984, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Dagmar Niefind, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Mathias Gnädiger (Tichon Jewstignejew), Willem Menne (Semjon Sergejewitsch Borzow), Libgart Schwarz (Marja Jegorowna), Urs Bihler (Sawwa), Christine Oesterlein (Nasarowna), Martina Krauel (Jefimowna), Greger Hansen (Wallfahrer), Gerd David (Fedja), Udo Samel (Jegor Merik), Paul Burian (Kusma), Hans Lehmann (Postkutscher), Greger Hansen (Kutscher der Borzowa), Nina Will, Jezy Milton, Heinz Mittelstaedt, Wolfgang Seck (Wallfahrer, Viehtreiber, Wanderer). Heimweh von Franz Jung, Übersetzung: Nostalgia von Eugenio Bernardi, Piccolo Teatro, Premiere: 12. 6. 1984, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Renata Bulgheroni, Musik: Fiorenzo Carpi, Regie- und Dramaturgiemitarbeit: Ellen Hammer, Film: Robert Quitta, Darsteller: Raf Vallone (Rudolf), Delia Boccardo (Lina), Lino Troisi (Wirt der Hafenkneipe und Schiffskoch), Gigi Pistilli (Jan), Bobby Rhodes (Fu), Kumi Inagaki (Wong), Ida Kuniaki (Matrose und malaysischer Diener), Marco Ferraro (Stammgast), Alvaro Caccianiga, Dario Cristini, Augusto Zeppetelli (drei Matrosen), Bruna Andreoli, Elena Banfi (zwei Geishas). Bérénice von Jean Racine, Festival d’Automne, Comédie Francaise, Premiere: 4. 12. 1984, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Dagmar Niefind, Dramaturgie: Bernard Pautrat, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Ludmila Mikael (Bérénice), Catherine Samie (Phénice), Richard Fontana (Titus), Roland Bertin (Arsace), Marcel Bozonnet (Antiochus), Alain Rimoux (Rutile), Jacques Debray (Paulin).

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Verzeichnis der Inszenierungen

1985 König Lear von William Shakespeare, Übersetzung: Wolf Graf Baudissin, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere: 9. 7. 1985, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Dagmar Niefind, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Dramaturgie: Dieter Sturm, Darsteller: Bernhard Minetti (Lear), Libgart Schwarz (Goneril), Corinna Kirchhoff (Regan), Martina Krauel (Cordelia), Peter Roggisch (Graf von Gloster), Branko Samarovski (Edgar), Roland Schäfer (Edmund), David Bennent (der Narr), Werner Rehm (Graf von Kent), Ernst Stötzner (König von Frankreich), Nikolaus Dutsch (Herzog von Burgund) Mathias Gnädiger (Herzog von Cornwall), Jochen Tovote (Herzog von Albanien), Urs Bihler (Oswald), Günter Fischer (ein Edelmann), Greger Hansen (Curan), Martin Brandt (ein Arzt), Günther Werner (ein alter Mann), Jürgen Schmid (ein Hauptmann), Greger Hansen (ein Herold), Mark Blezinger, Jezy Milton, Wolfgang Seck, Werner-Michael Winzer (Gefolge und Bediente).

1986 Bantam von Eduardo Arroyo, Übersetzung: Brigitte Restorff, Residenztheater, Uraufführung: 2. 2. 1986, Bühne und Kostüme: Gilles Aillaud, Antonio Recalcati, Musik: Fiorenzo Carpi, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Dramaturgie: Uwe B. Carstensen, Darsteller: Nicole Heesters (Frau), Michael Altmann (Milchmann), Karl Lieffen (John Kieran), David Bennent (»Milou«), Heinz Kraehkamp (»Tigerkatze«), Erich Ludwig (Eugène »Metallkiefer«), Heinz Bennent (Schäfer), Andrea Wimberger (Ephebe), Janosch (Hund). La Cenerentola von Gioacchino Rossini, Text: Jacopo Ferreti, Théâtre Musical de Paris, Théâtre Châtelet, Premiere: 18. 4. 1986, Musikalische Leitung: Donato Renzetti, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Eduardo Arroyo, Rudy Sabounghi, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Choreographische Beratung: Dominique Brun, Sänger: John Aler (Don Ramiro), William Shimell (Dandini), Claudio Desderi (Don Magnifico), Sylvia Baleani (Clorinda), Laura Zannini (Tisbe), Julia Hamari (Angelica), Roderick Kennedy (Alidoro). Prometheus, gefesselt von Peter Handke nach Der gefesselte Prometheus von Aischylos, Salzburger Festspiele, Felsenreitschule, Uraufführung: 10. 8. 1986, Bühne und Kostüme: Antonio Recalcati, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Bruno Ganz (Prometheus), Branko Samarovski (Hephaistos), Mathias Gnädiger (Kratos), Peter Simonischek (Okeanos), Angela Winkler (Io), Udo Samel (Hermes), Sabine Andreas, Renate Bleibtreu, Tina Engel, Isabel Karajan, Martina Krauel, Susanne Meierhofer, Libgart Schwarz, Chun Mei Tan (die Töchter des Okeanos, der Chor).

Verzeichnis der Inszenierungen

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Die Erzählung der Magd Zerline von Hermann Broch aus dem Roman Die Schuldlosen, Übersetzung: Andrée R. Picard, Le récit de la servante Zerline, Festival d’Automne, Théâtre des Bouffes du Nord, Premiere: 6. 12. 1986, Bühne und Kostüme: Francis Biras, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Jeanne Moreau (Zerline), Hans Zischler (Monsieur A.).

1987 Das letzte Band von Samuel Beckett, Übersetzung: Erika und Elmar Tophoven, Städtische Bühnen Frankfurt, Kammerspiel, Premiere: 4. 10. 1987, Bühne und Kostüme: Klaus Michael Grüber, Max von Vequel-Westernach, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Bernhard Minetti (Krapp).

1988 La medesima strada, Textfragmente von Sophokles, Heraklit, Parmenides und Empedokles, Bühnenfassung: Gilles Aillaud, Jean Christophe Bailly, Klaus Michael Grüber, Piccolo Teatro, Teatro Studio, Premiere: 8. 1. 1988, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Gilles Aillaud, Renata Bulgheroni, Musik: Fiorenzo Carpi, Darsteller: Angela Winkler (Antigone), Umberto Ceriani (Creonte), Giovanna Calleti (Corifea), Tino Carraro (Eraclito), Lino Troisi (Parmenide), Raf Vallone (Empedocle), Flora Begliovine, Claudia Botta, Francesca Cassola, Defendente Cometti, Bruno Conti, Raffaela Crudele, Costantino Frau, Marco Lattanzi, Lucia Liberali, Samuele Pagani, Isabella Rocchietta, Pietro Rota, Franco Scalfi, Carlo Strada, Linda Valsecchi (Chor). Die Affäre Rue de Lourcine von Eugène Labiche, Übersetzung: Elfriede Jelinek, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere: 20. 6. 1988, Bühne: Francis Biras, Kostüme: Moidele Bickel, Musik: Peter Fischer, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Darsteller: Udo Samel (Lenglumé), Peter Simonischek (Mistingue) Roland Schäfer (Potard), Sylvester Groth (Justin), Imogen Kogge (Norine).

1989 La Mort de Danton von Georg Büchner, Übersetzung: Arthur Adamov, Théâtre Nanterre-Amandiers, Premiere: 20. 9. 1989, Ko-Produktion: Théâtre NanterreAmandiers, Théâtre national populaire Villeurbanne, Festival d’Automne de Paris, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Musik: Peter Fischer, Bühne: Gilles Aillaud und Eduardo Arroyo, Kostüme: Valérie Blais, Rudy Sabounghi, Licht: Do-

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Verzeichnis der Inszenierungen

minique Birrini, Darsteller: Pascal Bongard (Camille Desmoulins), Myriam Boyer (Marion), Daniel Briquet (Lacroix), Thierry de Carbonnières (Philippeaux), Francois Clavier (Legendre), Yannick Evely (Le jeune homme), Thierry Frémont (Saint-Just), Maurice Garrel (Payne), Michèle Gleizer (La femme de Simon), Gérard Hardy (Collot d’Herbois), Cécilia Hornus (Lucile), Azize Kabouche (Chaumette), Magali Léris (femme), André Marcon (Danton), Vincent Massoc (Citoyen), Armand Meffre (Simon), Jean-Claude Perrin (Herman), Guy Perrot (Mercier), Nicolas Pignon (Fouquier-Tinville), Dominique Reymond (Julie), Frédéric Van Den Driessche (Hérault de Sechelles), Catherine Vuillez (Femme), André Wilms (Robespierre), Adrien Antoine, Martha Milena, Tristan Montchablan, Mario Prost, Emmanuel Saussier, Antoine Terezano, Thierry Tibolla, Jean Tsaossis, (Figuration).

1990 Phoenix von Marina Zwetajewa, Aus dem Russischen nachgedichtet von Ilma Rakusa, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere: 5. 3. 1990, Bühne: Francis Biras, Kostüme: Moidele Bickel, Musik: Peter Fischer, Dramaturgie: Dieter Sturm, Darsteller: Bernhard Minetti (Giacomo Casanoa von Seingalt), Karoline Eichhorn (Franziska), Walter Schmidinger (Fürst de Ligne), Werner Rehm (Graf Waldstein), Udo Samel (Viederole), Ulrich Wesselmann (Haushofmeister), Frank Schendler (Kaplan), Kai Hufnagel (1. hohe Persönlichkeit), Rudolf Krause (2. hohe Persönlichkeit), Michael König (Alter Kammerdiener), Monika Hansen (Französische Dame), Carola Regnier (Polnische Dame), Erika Wackernagel (Wiener Dame), Susanne Evers (1. Prinzessin), Elisabeth Romano (2. Prinzessin), Heidemarie Schneider (Gouvernante), Katrin Dasch, Daniela Kitschin (Mädchen am Klavier der jungen Marina Z.). Parsifal von Richard Wagner, De Nederlandse Opera, Premiere: 1990, Musikalische Leitung: Hartmut Haenchen, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Moidele Bickel, Licht: Konrad Lindenberg, Choreografie: Marise Flach, Sänger: Wolfgang Schöne (Amfortas), Pieter van den Berg (Titurel), Jan Hendrik Rootering (Gurnemanz), Nadine Denize/ Kathryn Harries (Kundry), Parsifal (Barry McCauley), Hein Meens (1. Gralsritter), Henk Smit (Klingsor), Roger Smeets (2. Gralsritter), Leonie Schoon (Blumenmädchen I-1), Elena Vink (1. Knappe), Young Hee Kim (Blumenmädchen I-2), Corinne Romijn (2. Knappe), Joke de Vin (Blumenmädchen I-3), Albert Bonnema (3. Knappe), Elena Vink (Blumenmädchen II-1), Rein Kolpa (4. Knappe), Saskia Gerritsen (Blumenmädchen II-2), Joke de Vin (Stimme aus der Höhe), Corinne Romijn (Blumenmädchen II-3), Nederlands Philharmonisch Orkest Koor van de Nederlandse Opera.

Verzeichnis der Inszenierungen

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1991 Amphitryon von Heinrich von Kleist, Schaubühne am Lehniner Platz im HebbelTheater, Premiere: 20. 3. 1991, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Rudy Sabounghi, Dramaturgie: Dieter Sturm, Darsteller: Peter Simonischek (Jupiter), Gerd Wameling (Merkur), Otto Sander (Amphitryon), Udo Samel (Sosias), Jutta Lampe (Alkmene), Imogen Kogge (Charis).

1992 Aus einem Totenhaus von Leos Janácek, Oper in drei Akten, Libretto von Leos Janacek, In tschechischer Sprache, Premiere: 30. 7. 1992, Großes Festspielhaus, Musikalische Leitung: Claudio Abbado, Bühne: Eduardo Arroyo, Licht: Vinicio Cheli, Chor: Peter Burian, Produktionsdramaturgie: Ellen Hammer, Sänger: Nicolai Ghiaurov (A. P. Gorjantschikow), Elzbieta Szymtka (Aljeja), Barry McCauley (Filka), Barry McCauley (Luka), Bojidar Nikolov (Großer Sträfling), Richard Novak (Kleiner Sträfling), Harry Peeters (Platzkommandant), Josef Veverka (Ganz alter Sträfling), Philip Langridge (Skuratow), Pavel Kamas (Tschekunow), Ulrich Großrubatscher (Betrunkener Sträfling), Walter Zeh (Koch), Josef Stangl (Schmied), Franz Wimmer (Pope), Stefan Margita (Junger Sträfling), Christiane Young (Dirne), Richard Haan (Sträfling), Richard Haan (Don Juan), Alexander Oliver (Kedril), Heinz Zednik (Schapkin), Monte Pederson (Schischkow), Miroslav Kopp (Tscherewin), Peter Fraiss, (1. Wache), Nikolaus Simkovsky (2. Wache), Andrea Rost (Stimme hinter der Szene), Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker. Catherina von Siena von Jakob Michael Lenz, Schaubühne, Probebühne, Premiere: 9. 11. 1992, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Eva Dessecker, Dramaturgie: Dieter Sturm, Schauspieler: Dörte Lyssewski (Catharina), Caroline Loebinger (Laura), Alexander Schröder (Maler), Imogen Kogge (Aurilla), Rainer Philippi (Wirt), Elke Petri (Bauerndirne).

1994 Splendid’s von Jean Genet, Schaubühne, Premiere: 9. 3. 1994, Bühne: Eduardo Arroyo, Bühnenbild-Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Konrad Lindenberg, Dramaturgie: Wolfgang Wiens, Schauspieler: Sylvester Groth (Jean, genannt Johnny), Peter Simonischek (Scott), Thomas Thieme (Der Polizist), Sven Walser (Bob), Wolfgang Michael (Bravo), Cornelius Obonya (Rafale), Ben Becker (Riton), Ulrich Matthes (Pierrot).

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1995 Splendid’s von Jean Genet, Piccolo Teatro, Milano, Übersetzung ins Italienische: Franco Quadri, Premiere: 29. 3. 1995, Regie: Klaus Michael Grüber, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Eduardo Arroyo, Bühnenbild-Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Jean (detto Johnny) (Nicola Rignanese), Il poliziotto (Antonio Iuorio), Scott (Lino Troisi), Bob (Christian Maria Giammarini), Rafale (Andrea Collavino), Bravo (Fabio Sartor), Pierrot (Roberto Zibetti), Riton (David Gallarello), Voce della radio (Andrea Jonasson). Bleiche Mutter, zarte Schwester von Jorge Semprún, Projekt von Eduardo Arroyo, Klaus Michael Grüber, Jorge Semprún, Kunstfest Weimar, Sowjetischer Soldatenfriedhof, Premiere: 14. 7. 1995, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Raum: Eduardo Arroyo, Kostüme: Eduardo Arroyo und Eva Dessecker, Ton-Konzept: Gisbert Lackner, Darsteller: Hanna Schygulla (Schauspielerin), Lidi Beyer (Vertraute), Bruno Ganz (Überlebender), Ulrich Wildgruber (Goethe), Robert Hunger-Bühler, (Blum), Günther Vetter (Muselmann), Cornelius Obonya (Junger Muselmann), Wolfgang Grajetzky, Erich Kallmer, Lars Kirchner, Paul Plamper, Konrad Wendt (Muselmänner), Dorit Rauch (Vermesserin), Gunter Grobe (Reiter). Erwartung von Arnold Schönberg, Monodrama in einem Akt, op. 17, Dichtung von Marie Pappenheim, La Monnaie, Premiere: 4. 11. 1995, Künstlerische Mitarbeit: Ellen Hammer, Sängerin: Anja Silja (Eine Frau), Janis Martin (Eine Frau, in anderen Vorstellungen), Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34, Konzeption: Anne Teresa Keersmaeker, Klaus Michael Grüber, Mit: Marion Levy, Film: A Night at the Opera (Sam Wood, 1935) mit The Marx Brothers, Verklärte Nacht, op. 4, Bearbeitung für Streichorchester vom Komponisten, Choreographie: Anne Teresa Keersmaeker, Tänzer: ROSAS, Musikalische Leitung: Antonio Pappano, Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Rudy Sabounghi, Licht: Vinicio Cheli, Orchestre Symphonique de la Monnaie, Konzertmeister: Zygmunt Kowalski.

1996 Otello von Giuseppe Verdi, De Nederlandse Opera, Premiere: 1. 6. 1996, Musikalische Leitung: Riccardo Chailly, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Lia Doornekamp, Moidele Bickel, Licht: Vinicio Cheli, Choreographie: Giuseppe Frigeni, Choreinstudierung: Winfried Maczewski, Sänger: Vladimir Bogachov (Otello), Timothy Noble (Jago), Vincente Ombuena (Cassio), Jorge Perdigón (Roderigo), Robert Lloyd (Lodovico), Orazio Mori (Montano), Nico Pouw (Un Araldo), Lucia Mazzaria (Desdemona),

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Catherine Keen (Emilia), Koninklijk Concertgebouworkest, Koor van de Nederlandse Opera. Der Pol von Vladimir Nabokov, Fassung der Schaubühne von Botho Strauß, Schaubühne, Uraufführung: 28. 9. 1996, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Bühnenbild-Mitarbeit: Irmgard Berner, Kostüme: Dagmar Niefind, Musikalische Einstudierung: Valeria Szervánsky, Schauspieler, Sängerin und Musiker: Bruno Ganz (Captain Scott), André Wilms (Fleming), Robert Hunger-Bühler (Kingsley), Sven Walser (Johnson), Krisztina Jónás/ Anita Somlai (Sängerin), Róbert Horváth (1. Violine), Zsolt Czutor (2. Violine), Magdolna Sass (Viola), Éva Eckhardt (Violoncello), Piroska Molnár (Violoncello), Sándor Rosta (Trompete).

1998 Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe, Schaubühne am Lehniner Platz, Premiere: 10. 2. 1998, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Mitarbeit: Irmgard Berner, Kostüme: Susanne Raschig, Licht: Erich Schneider, Vertonung des Parzenliedes: Peter Fischer, Darsteller: Angela Winkler (Iphigenie), Ulrich Wildgruber (Thoas), Martin Wuttke (Orest), Sylvester Groth (Pylades), Wolf Redl (Arkas). A propos des Géants de la Montagne von Luigi Pirandello, Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique, Atelier Klaus Michael Grüber avec Michel Piccoli et les élèves es troisième année, Übersetzung: Bernard Pautrat, Bühne und Kostüme: Francis Biras, Schauspieler: Michel Piccoli (Cotrone), Emmanuelle Lafon (La Sgricia), Dominic Zizka (Petit Milord), David Migeot (Quaqueo), Marc Voisin (Le Comte), Rodolphe Poulain (Chrome), Julie-Anne Roth (Diamant), Cédric Vieira (Bataille), Rodolphe Congé (Spizzi), dans le rôle de La Comtesse, en alterance: Marina Hands, Julie Pilod, Katia Lewkowicz, Julia Faure, Clara Pirali, Yael, Elhadad, Olivia Louvel.

1999 Tristan und Isolde von Richard Wagner, Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, Premiere: 27. 3. 1999, Musikalische Leitung: Claudio Abbado, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Moidele Bickel, Choreographie: Giuseppe Frigeni, Choreinstudierung: Winfried Maczewski, Sänger: Ben Heppner (Tristan), Matti Salminen (König Marke), Deborah Polaski (Isolde), Falk Struckmann (Kurnewal), Ralf Lukas (Melot), Marjana Lipovsek (Brangäne), Charles Workman (Ein

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Hirte), Gudjon Oskarsson (Ein Steuermann), Charles Workman (Ein junger Seemann), Berliner Philharmoniker, European Festival Chorus.

2000 Don Juan kommt aus dem Krieg von Ödön von Horváth, Eine Inszenierung mit den Schauspieler/innen des Faust-Ensembles von Peter Stein, Kostüme: Julia Wernhard, Leine-Kanal, Hannover, Premiere: 20. 4. 2000, Schauspieler: Robert Hunger-Bühler (Don Juan), Petra Tauscher (Frau des Hauses), Schirin Sanaiha (Erste Kunstgewerblerin), Brigitte Hobmeier (Freundin eines Pferdehändlers), Nicola Schößler (Erste Tochter), Gisela Salcher (Magd/ Dentistin), Hille Beseler (Hure), Ana Kerezovic (Mutter/ Oberin), Melanie Blocksdorf (Zweite Tochter), Dorothee Hartinger (Schau-spielerin), Tanja Kübler (Dame aus Bern) u. a. Aida von Giuseppe Verdi, De Nederlandse Opera, Premiere: 31. 5. 2000, Musikalische Leitung: Riccardo Chailly, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüne: Eduardo Arroyo und Lia Doornekamp, Licht: Dominique Borrini, Choreografie: Andy de Groat & Red Notes, Orchester: Koninklijk Concertgebouworkest, Chor: Koor Van De Nederlandse Opera, Einstudierung: Winfried Maczewski, Sänger: Andrea Silvestrelli (Der König), Violetta Urmana (Amneris), Michèle Crider (Aida), Richard Margison (Radames), Ramphis (Giorgio Giuseppi), Amonasro (Mark Rucker), Jorge Perdigón (Ein Bote), Die erste Priesterin (Lori Phillips), Chor: Priester, Priesterinnen, Minister, Hauptleute, Soldaten, Beamte, Sklaven, gefangene Äthiopier, Volk.

2001 Roberto Zucco von Bernard-Marie Koltés, Übersetzung: Simon Werle, Akademietheater, Koproduktion mit den Wiener Festwochen, Premiere: 19. Mai 2001, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Antonio Recalcati, Kostüme: Eva Dessecker/ Antonio Recalcati, Lichtdesign: André Diot, Lichtdesign-Mitarbeit: Susanne Auffermann, Dramaturgie: Wolfgang Wiens, Schauspieler: August Diehl (Roberto Zucco), Gertraud Jesserer (Seine Mutter), Mareike Sedl (Das Mädchen), Maria Hengge (Ihre Schwester), Lukas Miko (Ihr Bruder), Urs Hefti (Ihr Vater), Brigitta Furgler (Ihre Mutter), Martin Schwab (Der ältere Herr), Libgart Schwarz (Die elegante Dame), Johannes Sawerthal/Nikolai Soukup (Ihr Sohn), Bernd Birkhahn (Der schermütige Inspektor), Sylvia Lukan (Die Patronne), Anne Bennent (Die panische Nutte), Sam Brisbe (Der Hühne), Hilke Ruthner (Die mitfühlende Nutte), Willy Klotz (Der ungeduldige Zuhälter), Gabriele Buch (Eine ältere Passantin), Branko Samarovski (Erster Aufseher/Ein Inspektor), Ignaz

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Kirchner (Zweiter Aufseher/Ein Kommissar), Irene Sturdik, Julitta Walder u. a. (Passanten, Polizisten, Nutten, Luden, Stimmen von Wärtern und Häftlingen).

2002 Il ritorno d’Ulisse in patria von Claudo Monteverdi, in der Einrichtung von Nikolaus Harnoncourt, Opernhaus Zürich, Premiere: 24. 2. 2002, Musikalische Leitung: Nikolaus Harnoncourt, Regiemitarbeit und dramaturgische Konzeption: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Jürgen Hoffmann, Sänger: Dietrich Henschel (L’Humana Fragilità), Guiseppe Scorsin (Tempo), Martina Janková (Fortuna), Isabel Rey (Amore), Anton Scharinger (Giove), Pavel Daniluk (Nettuno), Isabel Rey (Minerva), Martina Janková (Giunnone), Dietrich Henschel (Ulisse), Vesselina Kasarova (Penelope), Jonas Kaufmann (Telemaco), Rudolf Schasching (Iro), Reinhard Mayr (Antinoo), Martin Zysset (Pisandro), Martín Oro (Anfinomo), Roger Widmer (Eurimaco), Malin Hartelius (Melanto), Cornelia Kallisch (Ericlea), Thomas Mohr (Eumete), Martín Oro, Martin Zysset, Giuseppe Scorsin (Feaci), Malin Hartelius, Melinda Parsons, Janja Vuletic, Roger Widmer (Himmelsstimmen), Martín Oro, Martin Zysset, Rudolf Schasching, Guiseppe Scorsin (Meeresstimmen), »Orchester La Scintilla« der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich. Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Premiere: 28. 9. 2002, Musikalische Leitung: Hans Zender, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Eduardo Arroyo, Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Rudy Sabounghi, Licht: Jürgen Hoffmann, Sänger: Stéphane Degout (Don Giovanni), Maria Bayo (Donna Anna), Toby Spence (Don Ottavio), Anatoli Kotscherga (Komtur), Catherine Naglestad (Donna Elvira), José Fardilha (Leporello), Markus Butter (Masetto), Maria Fontosh (Zerlina), Rüdiger Vogler (Der Fremde) Choreinstudierung: Walter Zeh, Chor der RuhrTriennale, Mahler Chamber Orchestra.

2003 Idomeneo von Wolfgang Amadeus Mozart, Opernhaus Zürich, Premiere: 12. Januar 2003, Musikalische Leitung: Christoph von Dohnány, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Bühnenbild-Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Kostüm-Mitarbeit: Lenka Radecky-Kupfer, Maske: Cornelia Wentzel, Licht: Jürgen Hoffmann, Chor: Ernst Raffelsberger, Sänger: Jonas Kaufmann (Idomeneo), Liliana Nikiteanu (Idamante), Malin Hartelius (Ilia),

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Luba Orgonasova (Elettra), Christopher Hux (Il Gran Sacerdote), Giuseppe Scorsin (La Voce), Svetlana Doneva, Anna Smirnova (Due cretesi), Kerem Kurk, Seung-Hyuk Park (Due troiani), Chor des Opernhauses Zürich, Zusatzchor Opernhaus Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich, Orchester der Oper Zürich. Ödipus in Kolonos von Sophokles, Koproduktion mit den Wiener Festwochen, Premiere: 11. 5. 2003, Burgtheater, Übersetzung: Peter Handke, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne und Kostüme: Anselm Kiefer, Maske: Cornelia Wentzel, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Wolfgang Wiens, Darsteller: Bruno Ganz (Ödipus), Otto Sander (Theseus), Birgit Minichmayr (Antigone), Johann Adam Oest (Kreon), Martin Schwab (Fremder-Einheimischer), August Diehl (Polyneikes), Ignaz Kirchner, Branko Samarovski, Paul Wolff-Plotegg, Martin Schwab (Chor, attischer Alter), Martin Schwab (Bote), Mareike Sedl (Ismene), Agron Hajdari, Wolfgang Knoche (Gefolge). El Retablo de Maese Pedro von Manuel de Falla, Renard von Igor Strawinsky, Pierrot Lunaire von Arnold Schönberg, Festival d’Aix-en-Provence und Academie européenne de musique, Koproduktion Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg, Premiere: 7. 7. 2003, Musikalische Leitung: Pierre Boulez, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne de Falla/ Strawinsky: Titina Maselli, Bühne Schönberg: Gilles Aillaud, Bühne-Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Titina Maselli, Licht: Dominique Borrini, Choreographie Strawinsky: Michel Kelemenis, Sänger: El Retablo de Maese Pedro: Béatrice Petitet-Kircher (El Trujamán), Dmitri Voropaev (Maese Pedro), Ronan Nédélec (Don Quijote), Renard: Andrej Ilyushnikov (Tenor I), Dmitri Voropaev (Tenor II), Ronan Nédélec (Bass I), Pavel Schmulevich (Bass II), Pierrot Lunaire: Anja Silja (Rezitation), Ensemble Intercontemporain, Solist Alain Damiens (Klarinette), Zwischen El Retablo de Maese Pedro, Renard und Pierrot Lunaire interpretiert Alain Demiens »Trois pièces pour clarinette solo« von Igor Strawinsky sowie einen Ausschnitt aus Pierre Boulez’»Dialogue de l’ombre double«. Elektra von Richard Strauss, Teatro di San Carlo, Premiere: 3. 12. 2003, Musikalische Leitung: Gabriele Ferro, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne und Kostüme: Anselm Kiefer, Licht: Guido Levi, Choreinstudierung: Ciro Visco, Sänger: Mette Ejsing (Klytämnestra), Gabriele Schnaut (Elektra), Inga Nielsen (Chrysothemis), Siegfried Jerusalem (Aegisth), Peter Edelmann (Orest), Ezio Maria Tisi (Der Pfleger des Orest), Sabine Vinke (Die Schleppträgerin), Antonio de Angelis (Ein junger Diener), Hector Guedes (Ein alter Diener), Pia-Marie Nilsson (Die Aufseherin), Annette Jahns, Cornelia Entling, Melanie Maenni, Gundula Hints, Eva Oltivanyi (Fünf Mägde), Gabriella Brancaccio, Silvia Cialli, Margherita de Angelis, Lucia Gaeta, Annamaria Napolitano, Patrizia Porzio (Sechs Dienerinnen).

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2005 De la Maison de Morts von Leos Janácek, Premiere: 14. 5. 2005, Opéra Bastille, Musikalische Leitung: Marc Albrecht, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Edurardo Arroyo, Bühnenbildmitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Vinicio Cheli, Chor: Peter Burian, Sänger: Alicia Garcia Munos (Prostituierte), Gaele Le Roi (Alieia), David Bizic (Tchekounov), Ales Briscein (Kedril), Oak Chung (premier garde), Yves Cochois (le forgeron), Hubert Delamboye (Filka Morosov, Lauka Kouzmich), Jeffrey Francis (Chapkine), Jerry Hadley (Skuratov), Tomás Juhás (Tcherevine), Moung-Chang Kwon (deuxieme garde), Xavier Mas (le jeune prisonnier/ une voix en coulisse), Bojidar Nikolov (le grand prisonnier), Guillaume Petitot-Bellavène (le cuisinier), Johan Reuter (Chichkov), Sergei Stilmachenko (le prisonnier jouant Don Juan et le Brahmane), Jiri Sulzenko (le commandant), Grzegorz Slazkiewicz (le prisonnier ivre), Miroslav Svejda (le vieux prisonnier), Slawomir Szychowiak (le pope), José Van Dam (Alexandre Petrovitch Goriantchikov), Ludek Vele (le petit prisonnier), Orchestre et Choeurs de l’Opéra National de Paris. Tagebuch eines Verschollenen, Eine Miniatur-Oper in einem Akt von Leos Janácek, Premiere: 19. 6. 2005, Wiener Festwochen, Halle E im MuseumsQuartier, Text: Josef Kalda, Deutsch von Max Brod, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Gilles Aillaud, Mitarbeit: Arthur und Camille Aillaud, Claudia Jentsch, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Werner Chalubinski, Sänger: Angela Winkler (Eine Frau), Peter Straka (Janik), Lorena Espina (Zefka), Markus Hinterhäuser (Pianist), Eva Reicher-Kutrowatz, Birgit Metzger, Ute Moderei, Mitglieder des Arnold Schönberg-Chores (Drei Frauenstimmen). In tschechischer und deutscher Sprache. Katerina Ismailowa, Oper in vier Akten (neun Bildern) von Dmitri Schostakowitsch, Libretto von Alexander G. Preis und vom Komponisten nach der Erzählung Lady Macbeth von Mzensk von Nikolai S. Leskow sowie Ausschnitten aus dem Schaupspiel Das Gewitter von Alexander Ostrowski und der Satire Die Geschichte einer Stadt von Michail Saltykow-Schtschedrin, Premiere: 25. 9. 2005, Opernhaus Zürich, Musikalische Leitung: Vladimir Fedoseyev, Regiemitarbeit: Ellen Hammer, Dramaturgische Mitarbeit: Michael Richard Küster, Bühne: Francis Biras, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Jürgen Hoffmann, Chor: Ernst Raffelsberger, Musikalische Einstudierung: Kelly Thomas, Sophie Raynaud, Sänger: Alfred Muff (Boris Timofejewitsch Ismailow) Reinaldo Macias (Sinowi Borissowitsch Ismailow), Solveig Kringelborn (Katerina Lwowna Ismailowa), Viktor Lutsiuk (Sergej), Liuba Chuchrova (Axinja), Martin Zyssek (Ein heruntergekommenes Bäuerlein), Jeffery Krueger (Kutscher), Tomasz Slawinski (Handlungsgehilfe), Morgan Moody (Mühlenarbeiter/Hausknecht), Noel Vazquez (Erster Arbeiter), Hartmut Kriszun (Zweiter Arbeiter), Reinhard Mayr (Pope), Valeriy Murga (Kreispolizeichef), Giuseppe Scorsin (Gendarm), E. Mark

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Verzeichnis der Inszenierungen

Murphy (Nihilist), Pavel Daniluk (Ein alter Zwangsarbeiter), Katharina Peetz (Sonetka), Christiane Kohl (Eine Zwangsarbeiterin), Guido Götzen (Wachoffizier), Chor des Opernhauses Zürich, Orchester der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich.

2006 Boris Godunow von Modest P. Mussorgski, Théâtre de la Monnaie, in Koproduktion mit Opéra national du Rhin & Teatro Real Madrid, Premiere: 18. 4. 2006, Mitarbeit-Regie: Ellen Hammer, Musikalische Leitung: Kazushi Ono, Bühne: Eduardo Arroyo, Kostüme: Rudy Sabounghi, Choreografie: Giuseppe Frigeni, Licht: Dominique Borrini, Mitarbeit-Bühne: Bernard Michel, Chorleiter: Piers Maxim, Kinderchor: Denis Menier, Konzertmeister: Tatiana Samouil, Sänger: José van Dam (Boris Godunow), Janja Vuletic (Féodor), Irina Samoilova (Xénia), Nina Romanova (La nourrice de Xénia), Ian Caley (Le Prince Chouiski), Andrey Breus (Andrei Chtchelkalov), Anatoli Kotscherga (Pimène), Vsevolod Grivnov (Grigori, Dimitri), Vladimir Matorin (Varlaam), Viacheslav Voynarovskiy (Missail), Ekaterina Gubanova (La patronne de l’auberge), Jacques Dose (Nikititch), Dmitri Voropaev (L’innocent) Bernard Giovani (Levitski), Marcel Schmitz (Tchernikovski), Andrej Platounov (Un boyard chambellan), René Laryea (Khrouchtchev), Aldo de Vernati (Mitioukha), Orchestre symphonique, choeurs et choeurs d’enfants de la Monnaie. Die Sache Makropoulos von Leos Janacek, Zürcher Oper, Premiere: 17. 6. 2006, Musikalische Leitung: Philippe Jordan, Regie-Mitarbeit und dramaturgische Konzeption: Ellen Hammer, Bühne: Titina Maselli+, Ausführung der Bühnenbildkonzeption: Barbara Bessi, Kostüme: Moidele Bickel, Licht: Jürgen Hoffmann, Choreinstudierung: Jürg Hämmerli, Sänger: Gabriele Schnaut (Emilia Marty), Martina Janková (Kristina), Claude Eichenberger (Aufräumefrau), Christine Zoller (Kammerfrau), Peter Straka (Albert Gregor), Rolf Haunstein (Dr. Kolenaty), Alfred Muff (Baron Jaroslav Prus), Volker Vogel (Vitek), Boguslaw Bidzinski (Janek), Boiko Zvetanov (Hauksendorf), Stephan Bootz (Maschinist). Doktor Faust von Ferruccio Busoni, Opernhaus Zürich, Premiere: 24. 9. 2006, Musikalische Leitung: Philippe Jordan, Regie-Mitarbeit: Ellen Hammer, Bühne: Eduardo Arroyo, Bühnenbild-Mitarbeit: Bernard Michel, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Jürgen Hoffmann, Choreinstudierung: Jürg Hämmerli, Sänger: Thomas Hampson (Doktor Faust), Günther Groissböck/ Tomas Slawinski (Zeremonienmeister), Gregory Kunde (Mephistopheles), Reinaldo Macias (Herzog von Parma/Soldat), Sandra Trattnigg (Herzogin von Parma), Martin Zysset (Leutnant/Student in Wittenberg), Andreas Winkler (Student aus Krakau/ Stu-

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dent in Wittenberg), Matthew Leigh (Student aus Krakau/ Student in Wittenberg), Thilo Dallmann (Student aus Krakau), Guiseppe Scorsin (Gravis/Theologe), Günther Groissböck/ Tomas Slawinski (Levis/Jurist), Gabriel Bermúdez (Asmodus/Naturgelehrter), Daryl Simpson (Belzebub/Student in Wittenberg), Miroslav Christoff (Megaros/ Student in Wittenberg), Chor, Zusatzchor, Orchester und Statistenverein der Oper Zürich.

Filme 1977 Winterreise im Olympiastadion, Produktion: Wolfgang Knigge, Schaubühne Berlin.

1981 Fermata Etna, Produktion: RAI, Rom.

1991 Rolle des Hans in Les Amants du Pont-Neuf von Léos Carax.

Dank

Die Herausgeber Klaus Dermutz und Friedemann Kreuder danken: – Martin Grüber, dem Nachlassverwalter, für sein Vertrauen, seine stets zuverlässige Unterstützung, die rasche Klärung von Fragen und die wohlwollende Begleitung während der Arbeit. – Ellen Hammer, Clara-Franziska Petry, Dorothee Roos, Constanze Schuler, Markus Hinterhäuser, Anselm Kiefer, Rudolf Mast, Gérald Musch, Gustav Rueb und Karsten Weber für ihre Beiträge. – Helga Kneidl, Dorothee Roos, Ruth Walz, Andreas Buttmann (†), Luigi Ciminaghi, Thomas Heitkamp, Gérald Musch und Günter Vierow für die Fotografien. Nina Buttmann für die Rechteerteilung. – Silvia Colombo für die Zurverfügungstellung der Fotografien aus dem Archiv des Mailänder Piccolo Teatro. – Alice Peeters-Barrau für ihre freundliche Erlaubnis der Veröffentlichung von Reproduktionen der Originalzeichnungen des französischen KZ-Häftlings Jacques Barrau, die sich in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz befinden. – Oliver Kätsch für die Betreuung durch den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. – Anke Moseberg-Sikora für die Herstellung und das elegante Layout. – Peter Stein für die Veröffentlichung seiner Briefe an Klaus Michael Grüber. – Daniel Löcker für die Förderung durch die Wien-Kultur. – Dieter Boyer für seine Unterstützung und die Gespräche. – Stephan Dörschel, Abteilungsleiter für seine Unterstützung und Informationen. – Rudolf Mast für seine vielfältige Hilfe bei der Recherche. – »Hedi« Langhoff für die Publikation der Rede von Thomas Langhoff zur Verleihung des Konrad Wolf-Preises der Berliner Akademie der Künste an Klaus Michael Grüber am 22. 10. 2000 in Berlin. – José Alvarez für die Erlaubnis, den Probenbericht zu »Bérénice« zu publizieren. – Christine Delaroche für ihre Unterstützung.

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Dank

– Friedrich Barner für das Einverständnis zur Publikation der SchaubühnenProtokolle. – Monika Hansen-Sander für ihr Einverständnis zur Publikation des Otto Sander-Textes. – Muriel Lyonnet und Pierre Barone für Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen. – Rita Czapka für die Übersetzung aus dem Polnischen. – Last but not least: Clara-Franziska Petry für ihr sorgfältiges Lektorat.

Fotonachweis

Andreas Buttmann, 139, 140 Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Nachlass Klaus Michael Grüber, 23, 78, 82, 265, 267, 307 Luigi Ciminaghi / Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa, 129, 286, 292, 293, 295, 296, 297, 298, 299 Comédie Française, 161 Martin Grüber, Privatarchiv, 71, 84, 256, 266, 269, 270, 272 Thomas Heitkamp, 140 Anselm Kiefer, Atelier Anselm Kiefer, 335 Helga Kneidl, 229, 243 Attilio Maranzano, 319 Gérald Musch, 27 (2), 28, 29 (2), 337 Alice Peeters-Barrau, 56, 58, 59 Photowerk Salzburg / Werner Kmetitsch, 316 Picture alliance, 92, 142, 224 Dorothee Roos, 74, 96 US Army, National Archives and Records Administration, NARA, Washington, DC, 60 Günter Vierow, 138, 145 Ruth Walz, 7, 19, 39, 41, 45, 48, 50, 62, 150, 167, 169, 181, 191, 192 (2), 193 (2), 194 (2), 195, 251, 310, 326, 329, 333, 340, 344 sowie Cover-Foto