Kino in Kolumbien: Der innerkolumbianische Konflikt im Film zwischen Gewaltdiskurs und (trans-)nationaler Identität 9783839446737

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Kino in Kolumbien: Der innerkolumbianische Konflikt im Film zwischen Gewaltdiskurs und (trans-)nationaler Identität
 9783839446737

Table of contents :
Inhalt
i. Danksagung
ii. Anmerkungen zu formalen Aspekten
I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld
II. Spezifischer Forschungsansatz
III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film
IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs und sein Beitrag zur Reflexion der Gewalt in Kolumbien
V. Quellenverzeichnis

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Anne Burkhardt Kino in Kolumbien

Film

Anne Burkhardt (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Die studierte Film- und Theaterwissenschaftlerin promovierte als Stipendiatin des DAAD und der Landesgraduiertenförderung am Tübinger Institut für Medienwissenschaft. Ihre Dissertation über die filmische Verarbeitung des innerkolumbianischen Konflikts wurde 2018 mit dem ADLAF-Preis ausgezeichnet.

Anne Burkhardt

Kino in Kolumbien Der innerkolumbianische Konflikt im Film zwischen Gewaltdiskurs und (trans-)nationaler Identität

Gefördert durch das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), den Lehrstuhl für Audiovisuelle Medien, Film und Fernsehen am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen, den Deutschen Akademikerinnenbund (DAB) und die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF)

Zugleich Diss. phil. Universität Tübingen 2017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Film-Still aus »La Sirga« (Sofía Oggioni/Carolina Navas. Ort: La Cocha, Nariño, Kolumbien. Jahr: 2011. Copyright: Contravía Films 2012) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4673-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4673-7 https://doi.org/10.14361/9783839446737 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt i. Danksagung

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ii. Anmerkungen zu formalen Aspekten

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I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

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I.1 Anlass und Ziel der Untersuchung I.2 Grundlagen I.2.1 Das kolumbianische Kino – regional, national oder transnational? I.2.2 Gewalt und kolumbianisches Kino I.2.3 Filmgeschichtlicher Überblick

18 18 24 29

I.3 Forschungsstand und Quellenlage

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II. Spezifischer Forschungsansatz II.1 Fokus II.1.1 Der Diskurs um die Gewalt in Kolumbien II.1.1.1 Zu einer Definition des Gewaltbegriffs II.1.1.2 Ausgangspunkt und Bezug zum Kino II.1.1.3 Zentrale Konzepte und Positionen II.1.1.4 Gewalt und nationale Identität

51 51 52 52 55 57 72

II.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands

73

II.3 Thesen und Fragestellungen II.3.1 Zentrale Thesen und Argumentation II.3.2 Besondere Problemstellungen II.3.3 Fragestellungen für die Analyse der Filme

75 75 76 76

II.4 Theoretischer und methodologischer Rahmen II.4.1 Der transdisziplinäre Ansatz der Cultural Studies II.4.2 Angewandte Methoden

78 78 81

II.4.2.1 Diskursanalyse II.4.2.2 Hermeneutische Filmanalyse II.4.3 Vorgehen beim Analysieren der Filme

81 83 86

II.5 Erläuterungen zum Auf bau der Arbeit

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III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

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III.1 Die „Violencia“ und der Beginn ihrer filmischen Verarbeitung: nationale Produktionen ohne staatliche Förderung (1959-1978) III.1.1 Vom Zweiparteienkonflikt zur „Frente Nacional“ III.1.2 Exemplarische Filmanalysen III.1.2.1 Esta fue mi vereda (Gonzalo Canal Ramírez, 1959) III.1.2.2 El río de las tumbas (Julio Luzardo, 1964) III.1.2.3 Bajo la tierra (Santiago García, 1968) und Aquileo Venganza (Ciro Durán, 1968)

91 91 101 101 108 121

III.2 Die „Violencia“ im staatlich subventionierten Kino: die Ära FOCINE (1978-1993) 131 III.2.1 Von der „Violencia“ zu den „violencias“ 133 III.2.2 Das Für und Wider von FOCINE 141 III.2.3 Exemplarische Filmanalysen 144 III.2.3.1 Canaguaro (Dunav Kuzmanich, 1981) 146 III.2.3.2 Cóndores no entierran todos los días (Francisco Norden, 1984) 158 III.2.3.3 Pisingaña (Leopoldo Pinzón, 1985) 171 III.2.4 „Caliwood“ und „Tropische Gotik“ – das Kino der Cali-Gruppe 182 III.2.4.1 Carne de tu carne (Carlos Mayolo, 1983) 186 III.2.5 Exkurs: Das Exil-Kino von Fernando Vallejo 200 III.2.5.1 En la tormenta (Fernando Vallejo, 1982) 203 III.3 Die „violencias“ im Kino der internationalen Koproduktion (1993-2003) III.3.1 Vom „umfassenden Krieg“ zum Frieden? III.3.2 Vom Zustand einer „generalisierten Gewalt“ – exemplarische Filmanalysen III.3.2.1 La vendedora de rosas (Víctor Gaviria, 1998) III.3.2.2 La virgen de los sicarios (Barbet Schroeder, 2000) III.3.3 Der Traum vom Frieden – exemplarische Filmanalysen III.3.3.1 Golpe de estadio (Sergio Cabrera, 1998) III.3.3.2 La toma de la embajada (Ciro Durán, 2000)

214 215 222 225 240 255 256 273

III.4 Der innerkolumbianische Konflikt im  (trans-)nationalen Kino der Gegenwart (2003-2015) III.4.1 „Colombia es pasión“? – Von Nationalpopulismus und  (trans-)nationaler Sicherheitspolitik III.4.2 Auswirkungen der Filmgesetze 814 von 2003 und  1556 von 2012 auf den kolumbianischen Filmsektor III.4.3 Das nationale Kino der Erinnerung und Aufarbeitung – exemplarische Filmanalysen III.4.3.1 La sombra del caminante (Ciro Guerra, 2004) III.4.3.2 Retratos en un mar de mentiras (Carlos Gaviria, 2010) III.4.4 Perspektiven des transnationalen Kinos – exemplarische Filmanalysen III.4.4.1 El vuelco del cangrejo (Oscar Ruiz Navia, 2010) III.4.4.2 La Sirga (William Vega, 2012)

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs und sein Beitrag zur Reflexion der Gewalt in Kolumbien 

290 291 301 310 314 326 345 347 357

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IV.1 Der filmische Gewaltdiskurs: Tendenzen zur Interpretation und Bewertung des innerkolumbianischen Konflikts

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IV.2 Über die Möglichkeiten der Filmsprache

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IV.3 Potenziale des Kinos zur Dokumentation, Aufarbeitung und Überwindung der Gewalt

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IV.4 Ausblick: Filmwissenschaft als Gesellschaftswissenschaft?

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V. Quellenverzeichnis V.1 Literatur

395 395

V.2 Publizierte Interviews ohne Angabe des Autors

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V.3 Onlinequellen ohne Angabe des Autors

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V.4 Pressematerial

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V.5 Zitierte Filme

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i. Danksagung Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne die Unterstützung zahl­ reicher Personen und Institutionen in Kolumbien und Deutschland, denen ich an dieser Stelle von ganzem Herzen danken will. Mein Dank gilt zunächst meinen wissenschaftlichen BetreuerInnen: Prof. Dr. Susanne Marschall, die mein Dissertationsprojekt von Anfang an mit Überzeugung, Ausdauer und großer Offenheit begleitet hat und mich über all die Jahre hinweg auf vielfache Weise unterstützt und gefördert hat; Prof. Dr. Sebastian Thies für die Übernahme der Zweitbetreuung und für seine konstruktive Kritik während des Schreibprozesses; Dr. Amparo Vega für die wertvolle Beratung in der Konzeptionsphase der Dissertation in Kolumbien; PD Dr. Jessica Heesen für die Förderung des Projektes in der Schlussphase, für die Übernahme des Drittgutachtens sowie für ihre bereichernde medienethische Perspektive; Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn für die vielseitige Unterstützung und Beratung am Ende der Promotion und weit darüber hinaus. Ich danke außerdem dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg für die Stipendien, die mir die Forschung in Kolumbien und die Ausarbeitung der Dissertation in Deutschland ermöglicht haben; dem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) und dem Lehrstuhl für Audiovisuelle Medien, Film und Fernsehen am Institut für Medienwissenschaft der Uni Tübingen für die großzügige Förderung dieser Publikation; dem Deutschen Akademikerinnen­bund (DAB) für den Druckkostenzuschuss; der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) für den Dissertations­­ preis, der ebenfalls zur Finanzierung dieses Buches verwendet wurde. Mein besonderer Dank gilt den kolumbianischen FilmemacherInnen und FilmexpertInnen, die mir mit ihren Werken, ihrer Expertise und Erfahrung bei meinem Versuch geholfen haben, das kolumbianische Kino zu verstehen, und die mir durch die Bereitstellung von Filmen und anderen Materialien den Zugang zum Forschungsgegenstand überhaupt erst ermöglicht haben. Ich danke den FilmexpertInnen Felipe Moreno, Diego Rojas, Augusto Bernal, Juan Guillermo Ramírez, Pedro Adrián Zuluaga, Oswaldo Osorio, Juan Diego Caicedo, Orlando Mora, Germán Ossa, Mauricio Durán, Francisco Montaña, Jua-

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 Kino in Kolumbien

na Suárez, Sergio Becerra, Mauricio Laurens, Ignacio Jiménez und – post mortem – Hernando Martínez Pardo; den FilmemacherInnen Marta Rodríguez, Carlos Álvarez, Luis Ospina, Felipe Aljure, Víctor Gaviria, Erwin Göggel, Ciro Guerra, William Vega, Javier Mejía, Andi Baíz, Libia Stella Gómez, Felipe Martínez, Carlos César Arbeláez; den Kollektiven Corporación Audiovisual El Espejo und Cinelibertad; den OrganisatorInnen der Filmfestivals Festival de Cortometrajes y Escuelas de Cine El Espejo, Ojo al Sancocho, SurRealidades, CineToro, Festival de Cine y Vídeo Comunitario de Cali, Muestra Audio­ visual La Comuna 13, Festicine San Agustín, Cine al Campo, Festival de Cine Internacional de Pasto, Festival de Cine Vídeo Imágen Viterbo und Festival de Cine Santa Fé de Antioquia; den FunktionärInnen der Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano, der Cinemateca Distrital de Bogotá und dem Ministerio de Cultura/Cinematografía. Mein persönlicher Dank gilt zum einen Felipe Moreno, der mir die Türen zur kolumbianischen Filmszene geöffnet und mich mit der Mehrheit der oben genannten Personen bekannt gemacht hat, und zum anderen meiner Familie, die mir auf diesem Weg eine unentbehrliche Stütze war und ist: Theo Burkhardt für seinen unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen; Eva Burkhardt für unzählige Tag- und Nachtdienste in der Kinderbetreuung; Sascha Wegner für seinen Halt und seinen Zuspruch; meinen Kindern für ihre Geduld und für all das, was ich jeden Tag von ihnen lernen darf. Tübingen, den 22. September 2018

ii. Anmerkungen zu formalen Aspekten Übersetzung von Zitaten Spanischsprachige Zitate werden von der Autorin im Haupttext ins Deutsche übersetzt, der spanischsprachige Originaltext wird als Fußnotentext wiedergegeben. Englischsprachige Zitate werden ohne Übersetzung im Haupttext wiedergegeben. Übersetzung von Eigennamen, Institutionen und Fachbegriffen Spanischsprachige Eigennamen, Institutionen und Fachbegriffe werden im Haupttext angegeben und wenn möglich im Fußnotentext von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Englischsprachige Eigennamen, Institutionen und Fach­ begriffe werden ohne Übersetzung im Haupttext wiedergegeben. Übersetzung von Filmtiteln Für manche kolumbianische Filme liegen keine Verleih- oder Festivaltitel in deutscher oder englischer Sprache vor. Die spanischsprachigen Original­ titel werden in diesem Fall von der Autorin ins Deutsche übersetzt und durch Anführungs­zeichen als eigene Übersetzung gekennzeichnet (z.B.: dt.: „Unter der Erde“). Liegt ein Verleih- oder Festivaltitel in deutscher oder englischer Sprache vor, so wird dieser in kursiv angegeben (z.B.: Maria voll der Gnade). Darstellung von Filmtiteln und ergänzenden Informationen Filmtitel werden bei ihrer ersten Nennung im Haupttext durch die Angabe des Regisseurs und des Erscheinungsjahres (in Klammern) ergänzt, z.B. Retratos en un mar de mentiras (Carlos Gaviria, 2010). Im Falle einer Koproduktion werden zusätzlich die an der Produktion beteiligten Länder aufgeführt, z.B. Maria voll der Gnade (Joshua Marston, 2004, Kolumbien/USA/Ecuador). Im Film­ index (Kapitel V.5) werden alle zitierten Filme mit allen ergänzenden Angaben aufgeführt, z.B. María, llena eres de gracia (D: Maria voll der Gnade. Joshua Marston, 2004, Kolumbien/USA/Ecuador).

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 Kino in Kolumbien

Zitieren von Filmen In den Filmanalysen wird zur Kennzeichnung zitierter Filmstellen der jeweilige Time-Code als Referenz angegeben (z.B.: 01:30-03:15). Die zugrunde liegende Fassung der Filme, aus der zitiert wird, wird im jeweiligen Analysekapitel bei der ersten Nennung des Films per Fußnotentext angegeben. Darstellung von filmischen Einstellungsgrößen Zur Benennung filmischer Einstellungsgrößen werden Abkürzungen nach Knut Hickethier (Film und Fernsehanalyse. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2007, 55f.) verwendet: Weit=W, Totale=T, Halbtotale=HT, Amerikanisch=A, Halbnah=HN, Nah=N, Groß=G, Detail=D. Darstellung von Onlinequellen Sofern Autor und Datum einer Onlinepublikation bekannt sind, wird diese analog zu den Printpublikationen im Literaturverzeichnis (Kapitel V.1) aufgeführt und im Fußnotentext mit Kürzel (Autor Jahreszahl, ggf. Seitenzahl) wiedergegeben. Im Literaturverzeichnis wird zudem die Webadresse mit dem Datum des letzten Aufrufs der Seite angegeben, im Fußnotentext wird hierauf verzichtet. Onlinequellen ohne namentlich benanntem Autor (z.B. Webseiten von Institutionen) werden im Quellenverzeichnis unter V.3 („Onlinequellen ohne Angabe des Autors“) mit Angabe der Webadresse sowie dem Datum des letzten Aufrufs gesondert aufgeführt. Im Fußnotentext werden sie mittels des Vermerkes „Quelle:“ und der Angabe der Webadresse wiedergegeben (z.B.: Quelle: http://www.shootcolombia.com/). Im Fußnotentext wird auf die Angabe des Datums des letzten Aufrufs verzichtet. Darstellung von publizierten Interviews ohne Angabe des Autors Print- und Onlinepublikationen von Interviews ohne namentlich benanntem Autor werden im Literaturverzeichnis unter V.2 gesondert aufgeführt. Im Fußnotentext werden sie mit einem entsprechenden Hinweis als Interviews gekennzeichnet und mit der Quellenangabe aufgeführt (z.B.: Interview mit David Melo und Claudia Triana. In: Kinetoscopio Nr. 79, 2007, 63). Gleichstellung von Frau und Mann in der Sprache Zur besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf Schreibweisen wie „Regisseur*innen“ oder „FilmemacherInnen“ verzichtet. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der männlichen Form, sofern nicht anders gekenn­ zeichnet, auch die weibliche Form mitgemeint ist.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld I.1 A nl ass und Z iel der U ntersuchung Das kolumbianische Kino ist ein bislang kaum erschlossenes Forschungsfeld. Zwar kann Kolumbien auf über 100 Jahre Filmgeschichte zurückblicken1, die europäische Filmwissenschaft hat sich jedoch überwiegend mit den vier großen lateinamerikanischen Filmnationen – Kuba, Argentinien, Mexiko und Brasilien – befasst, welche sich bereits in den 1940er und 1950er Jahren durch eine kontinuierliche, innovative Filmproduktion von den regionalen Standards abheben. Seit der Einführung einer staatlichen Filmförderung im März 2003, welche durch das „Gesetz 814“2, kurz „Filmgesetz“3, geregelt wird, hat der kolumbianische Filmsektor einen beispiellosen Aufschwung erfahren, der sich in einer Zunahme der jährlichen Produktion, der Häufung internationaler Auszeichnungen sowie einem allmählich einsetzenden öffentlichen und akademischen Interesse niederschlägt. Der Film, der in der internationalen Wahrnehmung den Beginn der neuen Ära markiert, ist María, llena eres de gracia 4 (Joshua Marston, 2004, Kolumbien/USA/Ecuador), ein Drama über die Praxis des Kokain­schmuggelns innerhalb des menschlichen Körpers. Dass dieser Film trotz US-amerikanischer Regie und verhältnismäßig geringer kolumbianischer Beteiligung5 als Erfolg des kolumbianischen Kinos gewertet wird, ist unter anderem auf die Auszeichnungen für die kolumbianische Haupt­darstellerin, Catalina Sandino Moreno, zurückzuführen: sie gewinnt auf der Berlinale 2004 den Silbernen Bären und wird im selben Jahr für den Oscar nominiert. In den Folgejahren häufen sich auch die Auszeichnungen für kolumbianische 1 | Der früheste überlieferte kolumbianische Stummfilm ist El drama del 15 de octubre (dt.: „Das Drama vom 15. Oktober“. Francesco Di Domenico, 1915).

2 | Orig.: „ley 814“. 3 | Orig.: „Ley de Cine“. 4 | Maria voll der Gnade. 5 | Weder Kamera noch Schnitt sind in kolumbianischer Hand. Die in Kolumbien spielenden Sequenzen wurden außerdem aus Sicherheitsgründen im benachbarten Ecuador gedreht. Siehe Zea 2004, 76ff.

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 Kino in Kolumbien

Regiearbeiten: Oscar Ruiz Navia erhält für sein Debüt El vuelco del cangrejo 6 (2010, Kolumbien/Frankreich) den Preis des Internationalen Filmkritiker­ verbandes FIPRESCI im „Forum“ der Berlinale; in Guadalajara gewinnt Carlos Gavirias Debut Retratos en un mar de mentiras 7 (2010) in den Kategorien „Bester Iberoamerikanischer Spielfilm“ und „Beste weibliche Hauptdarstellerin“; auch kleine Produktionen wie Los colores de la montaña8 (Carlos César Arbeláez, 2011, Kolumbien/Panama), Pequeñas voces9 (Jairo Eduardo Carrillo/Óscar Andrade, 2011, Kolumbien) oder La Sirga10 (William Vega, 2012, Kolumbien/Frankreich/ Mexiko) erhalten internationale Auszeichnungen. Die Erfolgsserie des kolumbianischen Kinos erreicht im Februar 2016 ihren bisherigen Höhepunkt, als El abrazo de la serpiente 11 (Ciro Guerra, 2015, Kolumbien/Venezuela/Argentinien) als erster kolumbianischer Film für den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert wird.12 Auffällig ist, dass sich viele dieser Filme mit der anhaltenden, überwiegend politisch motivierten Gewalt in Kolumbien auseinandersetzen, welche sich seit dem Ausbruch der „Violencia“13, einem Parteienkonflikt mit bürgerkriegsähnlichen Ausmaßen in den 1940er und 1950er Jahren, in unterschiedlicher Intensität und an wechselnden Fronten in weiten Teilen des Landes manifestiert und landläufig mit dem Terminus „innerkolumbianischer Konflikt“14 umschrieben wird. Dieser hat in den vergangenen Jahren anlässlich der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und der bis dato ältesten Guerilla der Welt, der FARC-EP, auch in Europa für Schlagzeilen gesorgt, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der 2012 in Oslo initiierte und später auf Kuba fortgesetzte Prozess unter internationaler Vermittlung erfolgte und seitens der EU auch nachhaltig unterstützt wird:15 In Folge des Friedensabkommens vom Dezember

6 | Crab Trap. 7 | Dt.: „Bildnisse in einem Lügenmeer“. 8 | The Colors of the Mountain. 9 | Dt.: „Kleine Stimmen“. 10  | The Towrope. 11 | Embrace of the Serpent. 12 | Regisseur Ciro Guerra schließt damit an den Erfolg von Simón Mesa Soto an, der 2014 als erster Kolumbianer mit Leidi (Kolumbien/UK, 2014) die Goldene Kamera von Cannes in der Kategorie „Kurzfilm“ gewinnt. 13 | Dt.: „Die Gewalt“. 14 | Zur Definition und Einordnung dieses und davon abweichender Begriffe zur Bezeichnung der anhaltenden Gewalt in Kolumbien siehe Kapitel II.1.1.1-II.1.1.3. 15 | Quelle: http://www.semanariovoz.com/2013/01/31/cumbre-celac-ue-amplio-respaldo-­ a-paz-en-colombia/

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

201616 wollen die europäischen Staaten einen Fond zur Förderung Kolumbiens in der postkonfliktiven Phase bereitstellen, dessen Mittel – vorläufig sind 26 Millionen Euro veranschlagt17 – insbesondere dazu verwendet werden sollen, „[...] zur Linderung des Leids und der Armut in den am meisten vom internen Konflikt betroffenen Regionen beizutragen“18. Die EU, die seit 2013 auch ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien pflegt, übernimmt somit erstmals humanitäre Verantwortung in diesem ursprünglich nationalen Konflikt, der seit den Interventionen der USA im Zuge des „War on Drugs“ (1986), spätestens aber seit dem durch die Vereinten Nationen legitimierten „War on Terror“ (2001), die Dimension eines transnationalen Konflikts angenommen hat.19 Vor dem Hintergrund des Ausbaus der europäisch-kolumbianischen Beziehungen ist es nicht verwunderlich, dass an europäischen Universitäten derzeit viel zu Kolumbien und insbesondere zum landesinternen Konflikt, der diese Beziehungen behindert, geforscht wird: mehr als dreißig überwiegend sozialwissenschaftliche Monografien, Sammelbände und Artikel sind allein zwischen 2010 und 2015 zur Gewalt in Kolumbien erschienen.20 Angesichts der jüngsten Festivalerfolge kolumbianischer Produktionen und Koproduktionen, die mehrheitlich denselben Themenkomplex aufgreifen, ist es erstaunlich, dass kaum eine dieser Veröffentlichungen die Filme berücksichtigt.21 Dabei 16  | Am 23.06.2016 unterzeichneten der kolumbianische Präsident Santos und FARC-­C hef „Timochenko“ einen „beidseitigen und definitiven Waffenstillstand“, der am 26.09.2016 durch die Unterzeichnung eines Friedensabkommens bestätigt wurde. Die kolumbianische Bevölkerung sprach sich im Volksentscheid vom 02.10.2016 jedoch gegen das Abkommen aus, so dass die Verhandlungen unter Einbeziehung der Regierungsopposition fortgesetzt werden mussten. Die überarbeitete Neufassung des Abkommens wurde am 01.12.2016 vom kolumbianischen Parlament abgesegnet. 17  | Quelle: http://www.nodal.am/2015/06/la-union-europea-aportara-26-millones-de-eurosa-colombia-para-apoyar-dialogos-de-paz/ 18  | Orig.: „[...] para contribuir a aliviar el sufrimiento y la pobreza en las regiones más afectadas por el conflicto interno“. Quelle: http://www.nodal.am/2015/06/la-union-europeaaportara-26-millones-de-euros-a-colombia-para-apoyar-dialogos-de-paz/ 19 | Vgl. von Dungen 2011, 350f. 20 | Z.B.: Rehm, Lukas: Politische Gewalt in Kolumbien: die Violencia in Tolima. 19461964. Stuttgart: Heinz, 2014; Koessl, Manfredo: Gewalt und Habitus: Paramilitarismus in Kolumbien. Berlin/Münster: LIT, 2014; Auroi, Claude/Palacio, Juan Fernando: Colombia hoy: cambios constitucionales y procesos de Paz. Genf: Soc. Suisse des Americanistes, 2014; Krauthausen, Ciro: Moderne Gewalttaten: Organisierte Kriminalität in Kolumbien und Italien. Frankfurt/M: Campus Verlag, 2013. 21  | Die einzige Ausnahme ist Rory O‘Bryens Veröffentlichung Literature, Testimony and Cinema in Contemporary Colombian Culture. Spectres of “La Violencia” (Woodbridge: Tamesis, 2008), in der neben literarischen Werken auch Filme berücksichtigt werden. Über die Verarbei-

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 Kino in Kolumbien

erscheint eine Beschäftigung mit dem kolumbianischen Kino nicht nur für die Filmwissenschaft, sondern auch für die Gewaltforschung gewinnbringend: Wie die im Rahmen der vorliegenden Arbeit geleistete Grundlagen­ forschung zum kolumbianischen Kino22 ergeben hat, können die Filme über den landesinternen Konflikt als Austragungsorte eines gesellschaftlichen Kampfes um Lesarten sowie um die Konstruktion von Wahrheiten begriffen werden. In ihren vielschichtigen und kontrastreichen Darstellungen nehmen die Filme zum einen auf zentrale Positionen kolumbianischer Gewalt­diskurse Bezug und geben somit vorherrschende Lesarten der Gewalt in Kolumbien wieder23, zum anderen setzen sie sich jedoch auch kritisch mit diesen auseinander und bieten alternative Lesarten an. Die zentrale Frage nach den Ursachen für den landesinternen Konflikt und, damit zusammenhängend, nach der Verantwortung und Schuld wird in den Filmen ebenfalls verhandelt. Eine analytische Beschäftigung mit den kolumbianischen Filmen könnte folglich neue Erkenntnisse über den innerkolumbianischen Konflikt, seine Ursachen und Auswirkungen, aber auch über gesellschaftliche Wahrheitsbildungs- und Aufarbeitungsprozesse in Kolumbien hervorbringen. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Meinungs- und Handlungsfreiheit in Kolumbien – eine Tatsache, die angesichts der Anschläge auf Politiker, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten bis heute unumstritten ist 24 – könnte dem Film in seiner hier angenommenen Funktion als bewusst gestaltetes Kunstwerk und Kommunikat 25 eine wichtige Aufgabe bei der Erweiterung des Diskurses um die Gewalt in Kolumbien zukommen: Tatsächlich fällt auf, dass die kolumbianischen Filmemacher bei ihren Darstellungen häufig auf indirekte, subtile Erzählstrategien zurückgreifen.26 Dies könnte als Taktik zur Vermittlung abweichender oder kritischer Positionen27 – ggf. vorbei

tung der Gewalt in der kolumbianischen Literatur sind darüber hinaus folgende Publikationen erschienen.: Rueda, María Helena: La violencia y sus huellas: una mirada desde la narrativa colombiana. Madrid: Iberoamericana, 2011; Polit Dueñas, Gabriela: Narrating Narcos - stories from Culiacan and Medellin. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2013. 22 | Zwischen 2007 und 2013 verbrachte die Autorin mehrere Jahre in Kolumbien, wo sie über 350 kolumbianische Filme unterschiedlicher Gattungen und Genres rezipiert und ausgewertet sowie die relevante Fachliteratur zum kolumbianischen Kino aufgearbeitet hat. Vgl. Kapitel I.3. 23 | Zur Übersicht über zentrale Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse vgl. Kapitel II.1.1. 24 | Vgl. Kapitel III.4.1. 25 | Zur Gegenstandbestimmung des Films in der Filmanalyse sowie zur Frage der Bedeutungs­ konstruktion durch den Film vgl. Kapitel II.4.2.2. 26 | Zur These über indirekte Erzählstrategien vgl. Kapitel II.3.1 und II.3.2; zum strategischen Einsatz filmischer Gestaltungsmittel in den untersuchten Filmen vgl. Kapitel IV.2. 27 | Zum Phänomen des „Schweigens“ in Kolumbien vgl. Castillejo Cuéllar 2000, 17.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

an staatlichen Zensur- und Repressionsmaßnahmen28 – interpretiert werden. Die vorliegende Arbeit möchte durch die film- und diskursanalytisch fundierte Untersuchung29 der Filme einen Beitrag zur Sichtbarmachung auch versteckter werkimmanenter Bedeutungspotenziale leisten. Durch die thematisch fokussierte Aufarbeitung der kolumbianischen Filmgeschichte soll außerdem ein Desiderat der internationalen Filmwissenschaft überwunden und, nicht zuletzt, ein Beitrag zur Anerkennung der kolumbianischen Filmemacher geleistet werden, die ihre Augen nicht vor den großen gesellschaftlichen Herausforderungen ihres Landes verschließen. Um eine erste Orientierung innerhalb des wenig erschlossenen Forschungsfeldes zu ermöglichen, soll in Kapitel I.2 zunächst die Geschichte des kolumbianischen Kinos umrissen werden. Dabei werden die wichtigsten Parameter zu dessen wissenschaftlicher Betrachtung vorgestellt sowie der Stand der Forschung dargelegt. In Kapitel II soll ein Untersuchungsansatz erarbeitet werden, der die Frage nach den filmischen Darstellungen des innerkolumbianischen Konflikts und deren Einordnung im Kontext kolumbianischer Gewaltdiskurse in den Mittelpunkt stellt. In diesem Rahmen soll ein Überblick über die historische Semantik des Gewaltbegriffes in Kolumbien sowie über daran anknüpfende Lesarten des landesinternen Konflikts gegeben werden. Diese sollen den diskurs­analytisch informierten, hermeneutisch-interpretativen Filmanalysen in Kapitel III, die das Kernstück der Untersuchung bilden, als Referenzpunkte dienen. In Kapitel IV soll schließlich die zentrale Frage beantwortet werden, wie der innerkolumbianische Konflikt und die damit einhergehende Gewalt in verschiedenen Phasen der kolumbianischen Filmgeschichte dargestellt worden sind und inwiefern die in den Filmen angebotenen Lesarten den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien erweitern und deren Reflexion in konstruktiver Weise vorantreiben können.

28 | Zur Zensur und Autozensur in Kolumbien vgl. Kapitel I.2.3 und II.3.2. 29 | Zur Methodik vgl. Kapitel II.4.

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I.2 G rundl agen I.2.1 Das kolumbianische Kino – regional, national oder transnational? Obwohl zu allen Zeiten inhaltliche und stilistische Parallelen zwischen dem kolumbianischen Kino und dem der Nachbarstaaten ausgemacht werden können30, ist jenes nur selten in Überlegungen zu landesübergreifenden Film­ strömungen – beispielsweise dem sogenannten „Neuen Lateinamerikanischen Kino“31 – mit einbezogen worden. Stattdessen ist es bis ins neue Jahrtausend hinein – ungeachtet der Partizipation internationaler Akteure in der kolumbianischen Filmproduktion32 sowie der Verbreitung transnationaler Diskurse in den Film Studies33 – überwiegend als „nationales Kino“ betrachtet worden. Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass schwer zu fassende Konzepte wie „Nation“34 oder „nationale Identität“35 auf den kolumbianischen Fall, nicht zuletzt aufgrund der starken Regionalität des Landes, schwer anwendbar sind: Die Andenkordilleren und der Río Magdalena sind natürliche Grenzen und unterteilen das Land in geografisch abgetrennte Regionen, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in wirtschaftlicher und infrastruktureller Hinsicht relativ autark entwickelt haben. Abgelegene Berg­ 30 | Überschneidungen bestehen z.B. beim musikalischen Heimatfilm der 1940er und 1950er Jahre, der sich in ganz Lateinamerika am Vorbild der mexikanischen „Rancheras“ orientiert, oder beim „Dritten Kino“ bzw. dem „Kino der Anklage“, einer sozialkritischen Filmströmung der 1960er und 1970er Jahre, die ganz Lateinamerika erfasst. 31 | Orig.: „Nuevo Cine Latinoamericano“. Das Konzept entsteht zunächst in den 1960er und 1970er Jahren, als sich in Brasilien, Kuba, Argentinien und Mexiko ein sozial engagiertes Kino mit einer theoretisch fundierten Ästhetik (z.B. die von Glauber Rocha geprägte „Ästhetik des Hungers“) entwickelt. In jüngster Zeit erfährt der Begriff insbesondere in Bezug auf bestimmte Vertreter des argentinischen und uruguayischen Kinos eine Renaissance. 32 | Zu allen Zeiten der kolumbianischen Filmproduktion kann die Partizipation ausländischer Regisseure, Darsteller und Techniker festgestellt werden. In diesem Sinne ist das kolumbianische Kino von jeher „transnational“. Vgl. Suárez 2009 (1), 205f. 33 | Es ist dort von einem „transnational turn“ die Rede. Siehe Jahn-Sudmann 2009, 15. 34 | Andrew Higson definiert die moderne Nation nach Benedict Anderson (1983) als „imagined community with a secure and shared identity and sense of belonging, on to a carefully demarcated geo-political space“ (Higson 2006, 16) – ein Konzept, das auf den kolumbianischen Kontext, wie noch näher erläutert werden soll, aufgrund des Fehlens einer „sicheren und geteilten Identität“ und eines „sorgsam abgegrenzten geo-­p olitischen Raums“ nicht zutrifft. 35 | Als „nationale Identität“ bezeichnet Higson die Erfahrung, zu einer solchen „coherent, organic community“ (Higson 2006, 16) zu gehören – eine Erfahrung, die angesichts der Regionalität, aber auch angesichts des bewaffneten Konflikts, der mit extremer Gewalt einhergeht, in Kolumbien als wenig verbreitet gelten kann.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

regionen und Urwaldgebiete sind von Modernisierungsprozessen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem im andinen Raum wirtschaftliche und soziokulturelle Veränderungen mit sich bringen36, weitgehend unberührt geblieben. Die unterschiedliche ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in den Regionen37 bringt außerdem kulturelle Unterschiede mit sich, die das regionale Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen stärken und die Herausbildung einer kollektiven nationalen Identität erschweren.38 Juana Suárez bezeichnet Kolumbien als „Mosaik von Regionen und Gemeinschaften, die sich gegenseitig beneiden […], Regionen, die geografisch zerstückelt sind, denen es zwar nicht unbedingt an Nationalgefühl, aber an gemeinsamen Zielen als Nation fehlt.“39 An anderer Stelle weist Suárez, Erna von der Walde zitierend, darauf hin, dass jenes Image Kolumbiens als „Land der Regionen“ im politischen Diskurs bewusst erzeugt worden sein könnte, um gesellschaftliche und kulturelle Prozesse vereinfacht darzustellen und von der Verantwortlichkeit des Staates bei der Vernetzung abgelegener Regionen abzulenken.40 Die Fragmentierung des Landes bestreitet Suárez jedoch ebenso wenig wie den verhältnismäßig geringen kulturellen Austausch der Regionen untereinander sowie auf internationaler Ebene – ein Phänomen, das unter anderem auf die kaum vorhandene Einwanderung nach Kolumbien zurückzuführen ist.41 Die regionalen Unterschiede und, damit zusammenhängend, die regionalen kulturellen Identitäten sind nicht ohne Auswirkung auf das Filmschaffen geblieben: der kolumbianische Filmkritiker Oswaldo Osorio bezeichnet das kolumbianische Kino daher treffend als „Kino der Regionen“42 . Tatsächlich 36 | Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wird in erster Linie Landwirtschaft durch Kleinbauern betrieben, später zeichnet sich eine Verlagerung hin zur Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion durch Monokulturen (Banane, Mais, Soja), zum Abbau von Bodenschätzen (Gold, Nickel) und zur Gewinnung von Treibstoff (Erdöl, Biodiesel), häufig durch multinationale Großkonzerne, ab. In den Bundesstaaten Santander, Boyacá, Cundinamarca, Huila und Tolima kann ab den 1950er Jahren eine rapide Landflucht verzeichnet werden, deren Ursachen in industriellen Prozessen und den Folgen der Violencia zu suchen sind. Siehe Murillo Posada 2007, 268ff. 37  | An den Küsten kann eine hohe Konzentration afrikanisch-stämmiger, im Amazonas­ regenwald oder der Sierra Nevada de Santa Marta von indigener Bevölkerung verzeichnet werden, die ihre Sprachen und Traditionen bis heute weitgehend bewahrt haben. 38 | Vgl. Adler 1982. 39 | Orig.: „un mosaico de regiones y comunidades, celosas mutuamente […], regiones geográficamente fragmentadas y carentes no necesariamente de sentimientos nacionalistas sino de objetivos comunes como nación.“ Suárez 2008, 93. 40 | Siehe von der Walde 2002, 12. Zitiert in: Suárez 2010, 153f. 41  | Siehe Suárez 2010, 154. 42 | Orig.: „un cine de regiones“. Osorio O. 2009, 14.

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hat sich das kolumbianische Kino regional sehr unterschiedlich entwickelt. Zentrum der Filmproduktion ist bis heute die Hauptstadt Bogotá, die bis in die 1990er Jahre hinein als einzige über eine entsprechende Infrastruktur verfügt.43 Auch in den Großstädten Cali und Medellín haben sich bedeutende lokale Filmbewegungen herausgebildet.44 Die einzige ländliche Region mit einer beständigen Filmproduktion ist der karibische Raum, wo aufgrund der Dichte attraktiver Drehorte wie der kolonialen Hafen- und Festungsstadt Cartagena auch internationale Großproduktionen abgedreht worden sind.45 Der kolumbianische Amazonas wurde in den 1980er Jahren von europäischen Filme­ machern als Kulisse für Abenteuer- oder Erotikfilme verwendet46, im kolumbianischen Kino spielt die Region bislang eine untergeordnete Rolle47. Als Folge der Regionalität des kolumbianischen Kinos wird in allen Film­ gesetzen und anderen kulturpolitischen Maßnahmen zur Filmförderung48 der Wunsch nach einem Kino mit „nationaler Identität“ zum Ausdruck gebracht. Bereits in den 1920er Jahren, angeregt durch die Diskussion um die erste bekannt gewordene kolumbianische Filmkritik von 1914, in der sich der Autor, Tomás Carrasquilla, skeptisch zu einer Tendenz der kolumbianischen Filme äußert, ausländische Vorbilder nachzuahmen ohne eigene Konzepte zu entwickeln49, ruft der damals amtierende kolumbianische Präsident Pedro Nel Ospina zur Nationalisierung der Künste auf: „Wir müssen eigene Kunst haben.“50 Dass das Konzept der „eigenen Kunst“ dabei mit der thematischen Konzentration auf nationale Belange gleichgesetzt wird, wird im ersten kolumbianischen Filmgesetz von 1942, dem sogenannten „Neunten Gesetz“51, deutlich: eine Produk43 | Siehe Álvarez L.A./ Gaviria 2003, 31ff. 44 | Z.B. die sogenannte „Cali-Gruppe“ um Luis Ospina, Carlos Mayolo und Andrés Caicedo in den 1970er Jahren. 45 | Z.B. Queimada, Insel des Schreckens (Gillo Pontecorvo, 1969, Italien), Banana Joe (Steno, 1982, Italien), The Mission (Roland Joffé, 1986, UK) oder Cobra Verde (Werner Herzog, 1987, Deutschland). Siehe Burkhardt 2013, 53ff. 46 | Z.B. in Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato, 1981, Italien) oder Dschungel­m ädchen für zwei Halunken (Ernst Hofbauer, 1974, Deutschland). Siehe Burkhardt 2013, 53ff. 47 | Der Amazonas wird erst 2015 von Ciro Guerra mit El abrazo de la serpiente als Schauplatz für einen kolumbianischen Kinofilm erschlossen. 48 | In der kolumbianischen Filmgeschichte gibt es vier Momente staatlicher Förderinitiative: das „Ley Novena“ (dt.: „Neuntes Gesetz“, 1942), das „Ley de Sobreprecio“ (dt.: „Aufpreisgesetz“, 1972-1982), die „Compañia de Fomento Cinematográfico FOCINE“ (dt.: „Gesellschaft zur Filmförderung FOCINE“, 1978-1993) und das „Ley de Cine“ (dt.: „Filmgesetz“, 2003). 49 | Siehe Carrasquilla 1914 (Originalveröffentlichung unbekannt). Zitiert in: Henao Flórez 2005, 188. 50 | Orig.: „Hemos de tener arte propio.“ Zitiert in: Suárez 2007, 79. 51  | Orig.: „Ley Novena“.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

tionsfirma wird diesem zufolge nur dann als kolumbianisch angesehen, wenn das Material, das sie produziert, ausschließlich zur Repräsentation von nationalen Themen und Handlungen bestimmt ist.52 Auch das jüngste Filmgesetz von 2003 verweist ausdrücklich auf die Schlüssel­funktion des Kinos bei der Konstituierung einer nationalen Identität: „Wegen ihrer Eigenschaft, direkt mit dem kulturellen Erbe der Nation und der Herausbildung einer kollektiven Identität verbunden zu sein, ist die filmische Aktivität von gesellschaftlichem Interesse.“53 Die Formulierungen in den Filmgesetzen machen zwei Aspekte deutlich, die Andrew Higson als Kernpunkte des Konzepts eines „nationalen Kinos“ bezeichnet: „On the one hand, a national cinema seems to look inward, reflecting on the nation itself, on its past, present and future, its cultural heritage, its indigenous traditions, its sense of common identity and continuity. On the other hand, a national cinema seems to look out across its borders, asserting its difference from other national cinemas, proclaiming its sense of otherness.“54

Tatsächlich weist das kolumbianische Kino, wie noch erläutert werden soll, einen starken thematischen Fokus auf landesinterne Fragestellungen und Problematiken auf, gleichzeitig offenbart sich der Wunsch nach Abgrenzung des „eigenen“ (des „authentisch kolumbianischen“) vom „anderen“ (beispielsweise vom einflussreichen mexikanischen oder US-amerikanischen) Kino in den zitierten Filmgesetzen und -Kritiken. Zusätzlich zu diesen bei Higson aufgeführten Charakteristika des nationalen Kinos könnte für den kolumbianischen Fall jedoch noch ein weiterer Aspekt entscheidend sein: die Suche nach der Überwindung regionaler Grenzen und Barrieren, der Wunsch nach nationaler – im Sinne von transregionaler – Einheit und Identität. Die Tatsache, dass sich ein Großteil der kolumbianischen Filme mit dem landes­internen Konflikt und dessen Auswirkungen beschäftigt, trägt entscheidend zur Betrachtung des kolumbianischen Kinos als nationalem Kino bei. Bis zum Beginn der „neuen Ära“, die 2003 durch die Einführung des Film­ gesetzes eingeleitet wird und in der sich die kolumbianische Filmproduktion zunehmend internationalisiert 55, sind kolumbianische Filme über die eigenen Landes­grenzen hinaus kaum wahrgenommen worden. Das kolumbianische 52 | Vgl. Artikel 2 des Dekrets 1039 von 1942, zitiert in: Zuluaga 2007, 57. 53 | Orig.: „Por su carácter asociado directo al patrimonio cultural de la Nación y la formación de identidad colectiva, la actividad cinematográfica es de interés social.“ Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimiento 2004 (1), 15. 54 | Higson 2006, 18. 55 | Vgl. Kapitel III.4.2.

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Kino reflektiert bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend nationale Themen für ein nationales Publikum. Dieser Zustand hat sich durch die kulturpolitischen Maßnahmen der späten 90er und beginnenden 2000er Jahre56, durch die die Rahmenbedingungen zur internationalen Koproduktion erheblich verbessert werden, verändert. Tatsächlich weisen viele der neueren Filme Kennzeichen auf, die ihn, einer Definition von Mette Hjort zufolge, zu einem trans­nationalen Film machen: sie sind internationale Koproduktionen, unterstützt durch trans­ nationale Förderinstitutionen, erarbeitet und umgesetzt von national und kulturell heterogen zusammengesetzten Filmteams und vertrieben durch trans­ nationale Institutionen. Sie erreichen ein internationales Publikum und lassen diesem, unabhängig von seiner kulturellen Prägung oder seinem individuellen Erfahrungsschatz, Spielraum für eigene Interpretationen.57 Auch die Definition, die Elizabeth Ezra und Terry Rowden in ihrem einführenden Artikel What is transnational Cinema? liefern, trifft auf viele der international ausgezeichneten kolumbianischen Festivalbeiträge58 zu: „[...], transnational cinema imagines its audiences as consisting of viewers who have expectations and types of cinematic literacy that go beyond the desire for and mindlessly appreciative consumption of national narratives that audiences can identify as their ‚own‘. […] Transnational cinema arises in the interstices between the local and the global.“59

Tatsächlich kann sich der Zuschauer mit Filmen wie El vuelco del cangrejo (Oscar Ruiz Navia, 2010) oder Chocó (Jhonny Hendrix Hinestroza, 2012) identifizieren, selbst wenn er nicht alle in ihnen vermittelten Bezüge zu regionalen Aspekten erkennt, denn die verhandelten Konflikte sind allgemein menschlich und somit universell verständlich. Chocó beispielsweise erzählt die Geschichte einer Afrokolumbianerin, die sich aus der Tyrannei ihres gewalttätigen Ehemanns und damit aus der machistisch-patriarchalischen Gesellschafts­ struktur einer abgelegenen Gemeinde an der kolumbianischen Pazifikküste befreit. Die Lebensgewohnheiten der Dorf bewohner werden dabei ebenso doku­mentiert wie geografische, wirtschaftliche und politische Besonderheiten der Region, welche stark von den Auswirkungen des landesinternen Konflikts gezeichnet ist. Der zentrale menschliche Konflikt des Films – die Befreiung aus gesellschaftlich etablierter Unterdrückung – lässt sich hingegen leicht auf andere kulturelle Kontexte übertragen: Chocó ist die Geschichte einer Frau, die

56 | Vgl. Kapitel I.2.3. 57 | Vgl. Hjort 2010, 13f. 58 | Vgl. Kapitel I.1. 59 | Ezra/Rowden 2006, 3f.

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die Demütigungen durch ihr soziales Umfeld nicht länger hinnehmen will. Es ist die Geschichte einer Emanzipation. Neben diesen Filmen, die auf der Ebene des Werkes sowie der Produktion, der Distribution und der Rezeption Elemente des transnationalen Kinos aufweisen und somit, je nach Häufung und Ausprägung dieser Eigenschaften, „strong or weak forms of transnationality“60 repräsentieren, gibt es auch in der jüngsten Phase des kolumbianischen Films ein ‚nationales Kino‘, das kolumbianisch produziert und realisiert ist und spezifisch kolumbianische Problematiken in den Mittelpunkt stellt.61 Auch wenn sich diese Filme einem nicht kolumbianischen Publikum nicht verwehren, so muss doch angemerkt werden, dass für ein tieferes Verständnis – insbesondere des Humors – gute Landes-­ und Sachkenntnisse unabdingbar sind.62 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das in den Filmgesetzen geforderte Konzept eines Kinos mit „nationaler Identität“ vor dem Hinter­ grund der weltweiten Transnationalisierung (nicht nur der Filmproduktion) und der damit verbundenen „Hybridität von Kultur“63 immer problematischer erscheint. So ist dem kolumbianischen Filmhistoriker Hernando Martínez Pardo beizupflichten, der die Debatte um die Nationalität des Kinos als unnütz verwirft: „Worin besteht die Nationalität? – Darin, was erzählt wird, und in der Form, wie es erzählt wird, nicht in der Herkunft. Andernfalls hätten wir ernsthafte Probleme mit dem Kino weltweit: Ist Chaplins Kino nordamerikanisch, oder wem gehört es? Und als er in England ist, welches Kino macht er da? Ich finde diese Debatte unnütz, ich habe ihr nie Bedeutung zugemessen. Denn mir ist klar, dass das, was der Film erzählt und wie er es erzählt, die Nationalität erzeugt. Heute ist ohnehin weltweit die Koproduktion vorherrschend.“64

60 | Hjort 2010, 13. 61 | Ein Beispiel hierfür ist Retratos en un mar de mentiras (Carlos Gaviria, 2010), auf den in Kapitel III.4.3.2 näher eingegangen wird.

62 | Bei Retratos en un mar de mentiras oder Apocalipsur (dt.: „Apokalypsüden“. Javier Mejía, 2005, Kolumbien) beispielsweise erschließt sich der Humor aufgrund der Vielzahl der verwendeten Wortspiele nur einem landeskundigen Publikum. 63 | Bhabha 1994, 38, zitiert in: Jahn-Sudmann 2009, 18. 64 | Orig.: „¿Dónde está la nacionalidad? En lo que se cuenta y en la forma en la que se cuenta, no en el origen. Si no tendríamos problemas serísimos también con el mismo cine universal: El cine de Chaplin es norteamericano, ¿o de quién es? Entonces cuando está en Inglaterra, ¿qué cine hace? Me parece que es una discusión inútil, no le he visto importancia a la discusión. Porque para mi es muy claro que es lo que cuenta y cómo lo cuenta la pelícu-

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I.2.2 Gewalt und kolumbianisches Kino Ein weiterer Grund für die isolierte Wahrnehmung des kolumbianischen Kinos findet sich in der in den Filmen reflektierten, besonderen innenpolitischen Situation des Landes, die es trotz offensichtlicher historischer Parallelen65 maßgeblich von seinen Nachbarländern unterscheidet: Kolumbien befindet sich seit beinahe 70 Jahren im Krieg. Die Anthropologin María Victoria Uribe, die sich auf die Untersuchung von Tötungspraktiken während der Violencia und den darauf folgenden Gewaltwellen in Kolumbien spezialisiert hat, teilt diese Auffassung: „Während der Violencia, und selbst heute noch, sind wir zu Zeugen der Unmenschlichkeit eines physischen und symbolischen Schlachtens geworden, das bislang beispiellos auf dem amerikanischen Kontinent ist.“66 Dieser Krieg, der von den sogenannten „Violentólogos“ – den Gewalt­forschern, die sich auf das Phänomen der kolumbianischen Violencia spezialisiert haben – dem rhetorischen Trend ihrer Zeit entsprechend auch als „Guerilla-Krieg“, „bewaffneter Konflikt“, „Bürgerkrieg“, „Krieg gegen die Gesellschaft“, „Drogen-­K rieg“ oder „Anti-Terror-Krieg“ bezeichnet worden ist67, hat das Land in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens geprägt. Die zentrale Position, die die organisierte Gewalt und ihre Auswirkungen im kolumbianischen Alltag einnehmen, spiegelt sich auch in der sozial­w issenschaftlichen Fachliteratur wieder, in der Gewalt und Krieg teilweise sogar mit kolumbianischer Identität gleichgesetzt werden, wie Suárez resümiert: „Die Gewalt ist eine Referenz, mit der wir zusammenleben und die Bestandteil dessen ist, was uns definiert.“68 Ausgehend von der sogenannten „klassischen Periode“69 der la, lo que le da la nacionalidad. Hoy en día la coproducción es mundial.“ Quelle: Hernando Martínez Pardo im persönlichen Interview, geführt am 16.06.2011 in Bogotá. 65 | Parallelen finden sich z.B. in der Kolonialgeschichte, den Unabhängigkeitskriegen oder den Militärdiktaturen. 66 | Orig.: „Durante la Violencia, y aún hoy, hemos sido testigos de la inhumanidad de una carnicería física y simbólica que no tiene precedentes en el continente americano.“ Uribe Alarcón 2004, 14. 67 | In ihrem Artikel Cine y Violencia en Colombia: claves para la construcción de un discurso fílmico liefert Juana Suárez einen Überblick über diese und andere sozial­w issenschaftliche Fachtermini zur Bezeichnung des innerkolumbianischen Konflikts, die unter anderem von Daniel Pécaut, Cristina Rojas und Eduardo Posada Carbó geprägt wurden (vgl. Suárez 2008, 88ff). In Kapitel II.1.1.3 wird näher auf die Begriffe und deren Ursprung eingegangen werden. 68 | Orig.: „La violencia es un referente con el que convivimos y hace parte de lo que nos define.“ Suárez 2007, 79. 69 | Je nach Quelle wird die Violencia, die in den 1940er Jahren aus einer Fehde zwischen der liberalen und der konservativen Partei hervorgeht, auf die Jahre zwischen 1945 und 1965 datiert, in denen die Zahl der Todesopfer besonders hoch ist (Marín Taborda 2005),

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

Violencia, während der 200.000 Menschen auf grausame Weise getötet 70 und zwei Millionen von ihren Höfen vertrieben worden sind 71, sind bis heute unzählige neue Gewalt­wellen, die von den Sozialwissenschaftlern ihrer Vielfalt wegen als „violencias“72 (im Plural) bezeichnet werden, über das Land hereingebrochen, deren Ursachen immer schwerer zu erfassen sind. Ein wichtiger Grund für das Fortbestehen des Konflikts ist zweifelsohne dessen Verselbstständigung und der Kontrollverlust der staatlichen Instanzen: Illegale bewaffnete Gruppierungen unterschiedlicher politischer und ideologischer Orientierung (Guerillas, Paramilitärs, Drogenmafia) kontrollieren weite Teile des ländlichen Territoriums. Politischen oder wirtschaftlichen Motiven folgend, liefern sie sich erbitterte Gefechte untereinander oder mit dem kolumbianischen Militär, welches zuletzt unter der Regierung Álvaro Uribe Vélez (20022010) einen harten Konfrontationskurs eingeschlagen hat. Hauptleidtragende des Konflikts, der seinen Ursprung zwar in ländlichen Regionen hat, jedoch in den 1980er Jahren durch den Einfluss der Drogenkartelle auf die Städte übergeschwappt ist, ist nach wie vor die Zivilbevölkerung. In einem Jahresbericht von Amnesty International (2011) wird der Zustand wie folgt beschrieben: „Die Zivilbevölkerung, insbesondere in ländlichen und armen städtischen Gemeinden, trug weiterhin die Hauptlast des anhaltenden bewaffneten Konflikts. Guerillagruppen, Paramilitärs und die Sicherheitskräfte waren für schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter Kriegsverbrechen, verantwortlich. […] Die Konfliktparteien machten auch 2010 keinen Unterschied zwischen Zivilpersonen und Kombattanten. Dies führte zu Vertreibungen, ungesetzlichen Tötungen, Entführungen und zum ‚Verschwindenlassen‘ von Personen. Indigene Bevölkerungsgruppen, Afro-Kolumbianer und Kleinbauerngruppen sowie deren Sprecher waren nach wie vor direkte Angriffsziele der Konfliktparteien. […] Mehr als 280000 Personen waren im Jahr 2010 Opfer von Vertreibung; 2009 lag die Anzahl bei 286000. Insgesamt sind in den vergangenen 25 Jahren 3-5 Mio. Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Im November äußerte sich der Ombudsmann für Menschenrechte (Defensor del Pueblo) besorgt über den Anstieg der Massaker im Jahr 2010. Als Hauptverantwortliche für diese Massaker galten Paramilitärs und Drogen­

oder zwischen 1948, dem Jahr der Ermordung des liberalen Präsidentschaftskandidaten Gaitán, und 1958, dem Beginn des politischen Kompromiss durch eine Zweiparteienlösung (Rojas 2002, xxii), angesiedelt. 70 | Siehe Marín Taborda 2005, 37. Zu Tötungspraktiken und variierenden Zahlen der Todes­ opfer vgl. Guzmán 1977; Blair 2005; Restrepo 2006; Uribe Alarcón 2004. 71  | Siehe Rojas 2002, xxii. 72 | Siehe Rojas 2002, xxii-xxiii.

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 Kino in Kolumbien händler. Bei mehreren Bombenexplosionen in städtischen Gebieten, von denen die Regierung einige den FARC zuschrieb, wurden Zivilpersonen getötet und verwundet.“ 73

Der permanente Kriegszustand hat die kolumbianische Filmproduktion in mehrerer Hinsicht beeinflusst und auch beeinträchtigt, z.B. durch finanzielle Engpässe, Zensur oder ausbleibendes Publikum.74 Die Gewalt, die – in geringerem Maße – auch schon vor dem Ausbruch der Violencia die kolumbianische Geschichte kennzeichnet, hat darüber hinaus die Inhalte der Filme geprägt. Schon der erste kolumbianische Stummfilm, El drama del 15 de octubre 75 (Francesco Di Domenico, 1915), hat ein historisches Gewaltverbrechen zum Thema: den politisch motivierten Mord an General Rafael Uribe am 15. Oktober 1914 in Bogotá, welcher sich unter anderem für die Rechte der unterdrückten Arbeiter­bewegung einsetzte. Auch der verloren geglaubte Stummfilm Garras de oro 76 (P. Jambrina, 1926), der als erster Film in der Geschichte offen Kritik an den imperialistischen Tendenzen der US-Außenpolitik übt, nimmt auf ein historisches Ereignis mit traumatischem Charakter – die Abspaltung Panamas von Kolumbien im Jahre 190377 – Bezug. Bereits im ersten Zwischentitel des Films demonstrieren seine Macher ihre kämpferischen Ambitionen und positionieren sich politisch eindeutig: „Kino-Roman, der eine schöne Episode der Gegenwartsgeschichte dem Vergessen entreißen soll, und der das Glück hat, den ersten Stein gegen denjenigen zu werfen, der unser Schutzschild zerschmettert und unsere Adler heruntergeschossen hat“78. In den 1930er und 1940er Jahren, durch technische Schwierigkeiten mit dem Tonfilm und die 73 | Quelle: http://www.amnesty.de/jahresbericht/2011/kolumbien 74 | In den 1970er und 1980er Jahre müssen zahlreiche Kinosäle wegen des Bomben­t errors der Drogenkartelle schließen. In besonders betroffenen Großstädten wie Medellín oder Cali können Kinos in dieser Phase nur in streng bewachten Shoppingcentern überleben. Siehe Osorio O. 2005, 57. 75 | Dt.: „Das Drama vom 15. Oktober“. 76 | Dawn of Justice. Über die Entstehungsgeschichte dieses Films sowie über die genauen Umstände seiner Vorführung, Zensur sowie seines Verschwindens herrscht bis heute Unklarheit. Im ersten Kapitel ihres Essay-Bandes Cinembargo Colombia fasst Juana Suárez den bisherigen Ermittlungsstand zum Thema zusammen und präsentiert eine Vielzahl von bislang unbekannten Sachverhalten. Vgl. Suárez 2009 (1), 38ff. 77  | Panama gehört bis zu diesem Zeitpunkt zu Kolumbien und wird durch Zahlungen der Vereinigten Staaten eigenständig, welche kurz darauf den Bau des Panama-Kanals veranlassen. Über dessen Hoheitsgewässer, die sogenannte Panamakanalzone, verfügen die USA bis 1999 uneingeschränkt. 78 | Orig.: „Cine-novela para defender del olvido un precioso episodio de la historia contemporánea, que hubo la fortuna de ser piedra inicial contra uno que despedazó nuestro escudo y abatió nuestras águilas.“ Zitiert in: Zuluaga 2007, 44.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

wachsende Konkurrenz durch die Hollywoodkomödie und das mexikanische Melodram bedingt,79 verfallen viele kolumbianische Regisseure der Versuchung, die erfolgreichen internationalen Vorbilder nachzuahmen. Um der daraufhin einsetzenden Abwendung des Publikums entgegenzusteuern, welches das kolumbianische Kino zunehmend als realitätsfremd empfindet, beginnen die Filmemacher, die „soziale Realität“80 des Landes darzustellen und zu problematisieren: stilistisch noch dem Melodram verpflichtet, machen diese Filme mittels der Inszenierung fiktiver Einzelschicksale auf reale gesellschaftliche und soziale Missstände aufmerksam und prangern diese indirekt an.81 Im Zuge der erfolgreichen kubanischen Revolution und des links­gerichteten Klassen­kampfes, der ganz Lateinamerika erfasst, bildet sich auch in Kolumbien in den 1960er und 1970er Jahren ein Kino der sozialen Anklage heraus.82 Etwa zur selben Zeit setzt auch die filmische Aufarbeitung der Violencia ein: Filme wie El río de las tumbas 83 (Julio Luzardo, 1964), Canaguaro 84 (Dunav Kuzmanich, 1981) oder Cóndores no entierran todos los días 85 (Francisco Norden, 1984), die im Rahmen dieser Arbeit noch eingehend betrachtet werden sollen86, beziehen sich direkt auf diese Periode und markieren den Beginn einer intensiven Beschäftigung mit der organisierten, häufig politischen Gewalt in Kolumbien, die bis heute charakteristisch für das kolumbianische Kino ist. In den 1990er Jahren beginnt die filmische Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen „violencias“, insbesondere mit dem Krieg der Drogenkartelle, dem andauernden Territorialkrieg der bewaffneten Gruppen und der urbanen 79 | Siehe Henao Flórez, 174. 80 | Der Begriff „soziale Realität“ ist in diesem Zusammenhang fast gleichbedeutend mit „soziale Ungerechtigkeit“. Er umschreibt die unmenschlichen Lebensbedingungen der unteren Schichten, im Falle Kolumbiens vorwiegend der Bauern und Arbeiter, die in den sozialkritischen Filmen dokumentiert werden. 81 | Frühe Beispiele für die Gattung der sozialkritischen Melodramen sind Flores del valle (dt.: „Blumen aus dem Tal“, Máximo Calvo, 1941) oder El milagro de sal (dt.: „Das Salzwunder“, Luis Moya Sarmento, 1958). Ihnen folgen radikalere, vom italienischen Neo­r ealismus beeinflusste Vorstöße wie Tres cuentos colombianos (dt.: „Drei kolumbianische Erzählungen“, Julio Luzardo/Alberto Mejía, 1962), Raíces de piedra (Roots of stone. José María Arzuaga, 1963) oder Tierra amarga (dt.: „Bittere Erde“, Roberto Ochoa, 1965). 82 | Die wichtigsten Vertreter dieser Strömung sind die beiden Dokumentarfilmer-­P aare Carlos Álvarez und Julia de Álvarez mit ¿Qué es la democracia? (dt.: „Was ist Demokratie?“, 1971) sowie Marta Rodríguez und Jorge Silva mit Chircales (The Brickmakers, 1964-1971) oder Campesinos (Peasants, 1975). 83 | Dt.: „Der Fluss der Gräber“. 84 | Dt.: „Canaguaro“ (Name des Protagonisten). 85 | A Man of Principle. 86 | Vgl. Kapitel III.1 und III.2.

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Kriminalität. Ebenso wie die Konfliktherde selbst stehen auch deren unmittelbare Begleiterscheinungen wie Vertreibung, Armut, Obdachlosigkeit, Korruption, Straffreiheit, jugendliche Kriminalität, Prostitution sowie das Leben in der Marginalität im Zentrum der Filme. Regisseure, deren Werke diese Themen aufgreifen, sind Víctor Gaviria mit Rodrigo D.: No futuro 87 (1988) oder La vendedora de rosas 88 (1998), Luis Alberto Retrepo (La primera noche 89, 2003) oder Rubén Mendoza (La sociedad del semáforo 90, 2010, Kolumbien/Frankreich). Im Hinblick auf die Art der filmischen Umsetzung gesellschaftlicher Missstände, die unter anderem auf den bewaffneten Konflikt zurückzuführen sind, fällt auf, dass die Komödie einen großen Raum einnimmt, wie im Falle von Mamagay 91 (Jorge Gaitán Gómez, 1977), La gente de la Universal92 (Felipe Aljure, 1991, Spanien/UK/Kolumbien/Bulgarien) oder Buscando a Miguel93 (Juan Fisher, 2007). Zynische oder satirische Darstellungen von menschlichem Leid oder Gewalt sind jedoch keine Eigenart des kolumbianischen Films, sondern haben auch im Theater und der Literatur Tradition.94 Neben dem andauernden Kriegszustand haben auch kulturpolitische, technische und wirtschaftliche Faktoren Einfluss auf die Entwicklung des kolumbianischen Kinos gehabt. Diese sollen im folgenden Kapitel über die prägnantesten Phasen der kolumbianischen Filmgeschichte dargestellt und erläutert werden.

87  | Rodrigo D.: No Future. 88 | The Rose Seller. 89 | The First Night. 90 | The Stoplight Society. 91 | Dt.: „Mamagay“. Wortspiel in Anlehnung an den umgangssprachlichen Ausdruck „mamar gallo“ (dt.: „auf die Schippe nehmen“). 92 | Dt.: „Die Leute von der Universal“. 93 | Dt.: „Auf der Suche nach Miguel“. 94 | Beispiele hierfür gibt es viele: In seinem Artikel El teatro de la violencia beschreibt Carlos José Reyes die Arbeit der Kabarettisten Emilio Capos alias „Campitos“ und Enrique Osorio, die zu Zeiten der Violencia das politische Geschehen karikierten (siehe Reyes 1999, 239ff). Auch die Theaterarbeiten von Enrique Buenaventura und Santiago García, Erfinder der sogenannten „creación colectiva“ (dt.: „kollektives Schaffen“), die in ihren Werken die Violencia aufarbeiten, zeichnen sich durch ihren Humor aus (vgl. Reyes 1999, 244ff). Fernando Vallejo, nach Gabriel García Márquez der zweitberühmte Autor des Landes, gilt als Polemiker, dessen zynische Anklagen gegen sein Herkunfts­land vor schwarzem Humor nur so strotzen.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

I.2.3 Filmgeschichtlicher Überblick Die Epoche des kolumbianischen Stummfilms wird von 1915 auf 1937 datiert95 und ist, neben dem aktuellen Filmboom seit 2003, die wirtschaftlich rentabelste Periode der kolumbianischen Filmgeschichte: Allein in den Blüte­jahren zwischen 1922 und 1928 kommen 18 kolumbianische Kinofilme zur Aufführung.96 Der finanzielle Erfolg der beiden größten Produktionsfirmen, der „Sociedad Industrial Cinematográfica Latinoamericana“ (kurz SICLA) und der „Casa Cinematográfica Colombia Acevedo e Hijos“, beide Familien­unternehmen italienischer Einwanderer, basiert neben der Langfilm­produktion auf der Herstellung von Nachrichtenfilmen, die im Wochenschauformat in den Kinos zu sehen sind97 und den Regisseuren Gelegenheit bieten, die Möglichkeiten des neuen Mediums zu erproben98. Zeitzeugenberichten zufolge ist der Kino­­ besuch im Kolumbien der 1920er Jahre ein großes soziales Ereignis, zu dem durch gestaffelte Eintrittspreise und zentrale Vorführorte alle Schichten Zugang erhalten.99 Angespornt durch den Publikumserfolg, den die Verfilmung des kolumbianischen Epochalromans María (Jorge Isaacs, 1867) durch die spanischen Einwanderer Máximo Calvo und Alfredo Del Diestro mit sich bringt (María, 1922)100, werden zahlreiche neue Produktionsfirmen auf Kredit­basis gegründet, die sich in der expandierenden Filmbranche schnelle Erträge erhoffen.101 Viele melden jedoch bereits nach dem ersten Film Konkurs an, da sie sich auf dem hart umkämpften nationalen Markt nicht behaupten können102 . Interessanterweise sind zur Gründerzeit des kolumbianischen Kinos so viele 95 | Den Beginn markiert der erste Stummfilm von 1915, El drama del 15 de octobre, das Ende setzt mit dem Beginn des Tonfilms 1938 ein. 96 | Siehe Zuluaga 2007, 48. 97 | Ab 1924 produziert die „Casa Cinematográfica Colombiana“ das Nachrichten­journal „Noticiero Nacional“ und tritt damit in direkte Konkurrenz zum „SICLA-Journal“ der Familie Di Domenico. Siehe Zuluaga 2007, 47. 98 | Siehe Zuluaga 2007, 48. 99 | Vgl. Martínez Pardo 1978, 24ff; Zuluaga 2007, 31f; Nieto/Rojas 1992, 101. 100  | María gilt als erster kolumbianische Langspielfilm der Geschichte. Leider ist nur ein Bruchstück von 25 Sekunden Länge überliefert, das von der FPFC restauriert wurde. Der dokumentarische Kurzfilm En busca de María (dt.: „Auf der Suche nach María“. Jorge Nieto/Luis Ospina, 1986) nimmt diese Bilder auf und versucht, deren Entstehungs­ geschichte sowie den Verbleib der verloren gegangenen Filmrollen zu klären. Siehe Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano 2005, 21. 101 | Siehe Zuluaga 2007, 39. 102 | Nur wenige Gesellschaften bringen es zu einer gewissen Beständigkeit, z.B. die „Manizales Film Company“ mit Madre (dt.: „Mutter“. Samuel Velásquez, 1924) und Manizales City (dt.: „Manizales Stadt“. Félix R. Restrepo, 1925), sowie die „Colombia Films Company“ mit

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 Kino in Kolumbien

Kleinstädte in die Filmproduktion involviert, wie erst wieder ab dem Beginn der Filmförderung von 2003. Vor allem das heutige Kaffeeanbaugebiet um Pereira und Manizales, aber auch das Department Valle del Cauca um Cali, sind Zentren der frühen Filmproduktion, welche sich später auf Bogotá konzentriert. Die Provinz steht auch thematisch im Zentrum der frühen Stummfilme: in Sittengemälden wie Bajo el cielo antioqueno103 (Arturo Acevedo, 1924) oder Alma provinciana104 (Félix Joaquín Rodríguez, 1925) werden die Vor- und Nach­ teile des Land- und Großstadtlebens gegeneinander ausgespielt. Die erste Krise des kolumbianischen Kinos kündigt sich bereits 1926 an, als die Popularität der hausgemachten Stummfilme abrupt einbricht und das Filmgeschäft an Rentabilität verliert. Hernando Martínez Pardo, der Autor der einzigen so betitelten Historia del cine colombiano105 (1978), führt drei mögliche Gründe für diese Entwicklung an: die fehlende Initiative der Regierung, durch legislative Maßnahmen die Attraktivität der Filmproduktion zu steigern, die Zurückhaltung privater Unternehmen, in den Filmsektor zu investieren, und die Abwanderung des Publikums zur ausländischen Konkurrenz, welche den kolumbianischen Filmemachern signalisieren soll, dass ihre Werke, häufig Literaturadaptionen, die ein idealisiertes Kolumbien zeigen, den Bezug zur Realität verloren haben.106 Auch die Entstehung der kommerziellen Kino­ kette „Cine Colombia“ im Jahre 1927 trägt zu dieser Entwicklung bei, denn der Vorführriese kauft die Produktionsfirma der Di Domenico samt ihrer Film­ laboratorien in Bogotá auf, was die Schließung kleinerer Unternehmen sowie der Laboratorien in Cali zur Folge hat und der kolumbianischen Film­industrie ihre Existenzgrundlage entzieht.107 Das Großunternehmen, das von Beginn an den Vertrieb nordamerikanischer Komödien und Serienspektakel vorantreibt, expandiert schnell und hat landesweit das Vorführmonopol inne.108 Die ausländischen Filme, die den Großteil des Programms ausmachen, sind den kolumbianischen in qualitativer Hinsicht überlegen, und so überrascht es nicht, dass diejenigen, die die nordamerikanischen Modelle zu imitieren versuchen, als mittelmäßige Plagiate empfunden werden.109 Nach Einschätzung von Pedro Adrián Zuluaga, Filmkritiker und Experte auf dem Gebiet der kolumbianischen Filmgeschichte, sind auch die Weltwirtschaftskrise von 1929 sowie die Suerte y azar (dt.: „Glück und Zufall“. Camilo Cantinazzi, 1925) oder Tuya es la culpa (dt.: „Du bist schuld“. Camilo Cantinazzi, 1926). Vgl. Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano, 2005. 103  | Dt.: „Unter dem Himmel von Antioquia“. 104  | Dt.: „Provinzianische Seele“. 105  | Dt.: „Geschichte des kolumbianischen Kinos“. 106  | Siehe Martínez Pardo 1978, 57. 107 | Siehe Zuluaga 2007, 48f. 108  | Siehe Osorio O. 2005, 55f. 109  | Siehe Osorio O. 2005, 55f; Henao Flórez 2005, 174.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

fehlende Infrastruktur zum internationalen Vertrieb kolumbianischer Filme Gründe dafür, dass private Geldgeber von Investitionen in die kolumbianische Filmbranche absehen.110 Die Verbreitung des Radios, das kostengünstig auch ländliche Regionen mit hoher Analphabetenrate erreicht, macht dem kolumbianischen Film zusätzlich Konkurrenz111. Als der deutsche Einwanderer Carlos Schroeder im Jahre 1937 den Tonfilm für Kolumbien entwickelt und gemeinsam mit Gonzalo Acevedo unter dem Arbeitstitel „Erste Übungen zum nationalen Tonfilm“112 in Bogotá präsentiert, beginnt 1938 mit der Gründung von „Ducrane Films“ und „Colombia Films“ eine neue Ära für das kolumbianische Kino. Wie die Namen verlauten lassen, wird großen Wert auf den nationalen Charakter der Film­bewegung gelegt und mit Enthusiasmus der Beginn derselben ausgerufen113: „Die patri­otische Ader pocht in allen Herzen, als verkündet wird, dass wir endlich natio­nales Kino auf dem Niveau Hollywoods haben werden.“114 Die Vertreter des frühen kolumbianischen Tonfilms können mehrheitlich als patriotische Heimat­fi lme bezeichnet werden: Angelehnt an das mexikanische Erfolgs­modell der „Rancheras“ werden in Flores del valle 115 (Máximo Calvo, 1941), Allá en el trapiche 116 (Roberto Saa Silva, 1943) oder Golpe de gracia117 (Emilio Álvarez Correa/Oswaldo Duperly Angueira, 1944) musikalisch unterlegte Tanz­einlagen vor idyllischen Land- oder romantischen Stadtkulissen präsentiert, welche die dargebotenen Liebesgeschichten illustrieren. Zuluaga zufolge werden dabei die konservativen Wertevorstellungen der Stummfilme übernommen und abermals der Anschluss an die kolumbianische Realität verpasst: Zwar nähmen die Filme Bezug auf soziale Problematiken wie den Stadt-Land- oder den Generationenkonflikt, am Ende vermieden sie es jedoch, eine kritische oder analytische Haltung einzunehmen und stellten durch den Einsatz von Humor oder folkloristischen Elementen wieder ein harmonisches Gleich­gewicht her.118 Auch strebe der nationalistische Ansatz der Filme der politischen Grundhaltung der 110 | Siehe Zuluaga 2007, 49. 111 | Siehe Henao Flórez 2005, 177. 112  | Orig.: „Primeros ensayos de cine parlante nacional“. 113 | Luis Ospina bezeichnet die Produktionsfirmen, die an die Vaterlandsliebe der Zuschauer appellieren, treffend als „fábrica de sueños nacionales“ (dt.: „Fabrik für nationale Träume“). Ospina L. 2007, 56. 114 | Orig.: „El sentido patriótico ha hervido en todos los corazones al anuncio de que por fin vamos a tener cine nacional a la altura de Hollywood.“ Unbekannter Autor: Ahora sí tendremos cine. In: El Tiempo, Bogotá, 31.03.1938, 11. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 81. 115 | Dt.: „Blumen aus dem Tal“. 116 | Dt.: „Dort in der Zuckermühle“. 117  | Dt.: „Gnadenstoß“. 118  | Siehe Zuluaga 2007, 64.

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 Kino in Kolumbien

Zeit entgegen, die im Geiste der „República Liberal“, der liberalen Regierungs­ periode unter den Präsidenten Alfonso López Pumarejo, Eduardo Santos Montejo und Alberto Lleras Camargo nach jahrzehntelanger konservativer Hegemonie einen deutlichen Linksrutsch erfährt. Dieser neuen Regierung, die sich für die politische, soziale und kulturelle Öffnung der Gesellschaft einsetzt, ist auch das erste kolumbianische Filmgesetz von 1942, das sogenannte „Neunte Gesetz“119, zu verdanken, das unter anderem die Kosten für den Import von Rohfilmmaterial reguliert und Steuererleichterungen für Kinos, die kolumbianische Filme vorführen, vorsieht.120 Der Gesetzentwurf, der von dem 1938 gegründeten Filmdepartment, welches der „Sección de Cultura Popular“121 des Bildungsministeriums angehört, hervorgebracht wird, bewirkt zwar einen kurzen Anstieg der Produktion zwischen 1942 und 1945, das Ergebnis bleibt jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Im Gegensatz zu seinen Nachbar­ ländern, welche gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der nationalen Film­ produktion ergreifen, verzichtet das kolumbianische Filmgesetz beispielsweise auf die Kontrolle des Vertriebs ausländischer Produktionen und verpasst so die Chance, den Einfluss von Cine Colombia zu begrenzen.122 Hinzu kommen technische und personelle Mängel in der Produktion, die die Gesamtqualität der Filme stark beeinträchtigen und deren Wettbewerbsfähigkeit einschränken. Neben der minimalistischen technischen Ausstattung der Filmteams ist die schlechte – oder nicht vorhandene – Ausbildung des künstlerischen Personals wohl als Hauptursache der unterdurchschnittlichen Resultate anzusehen:123 Zeitzeugenberichten zufolge erfolgten die Drehs ohne Drehplan oder Dreh­ buch, die Rollen wurden von Laien besetzt, die zu den unprofessionellen Anweisungen selbst­ernannter Regisseure improvisierten.124 Dieses Problem wird durch den Einsatz erfahrener Theater­leute oder Radiosprecher zu kompensieren versucht, was eine Vermischung von unterschiedlichen Darstellungs­ konventionen zur Folge hat und den Standard nicht maßgeblich verbessert.125 Das im Filmgesetz von 1942 formulierte Anliegen, die Filme sollten die kolumbianische Identität wider­spiegeln und den Nationalstolz der Kolumbianer entfachen, wird paradoxerweise mit ausländischen Regisseuren und Schau­ spielern umgesetzt. Filme wie Bambucos y corazones126 (Gabriel Martínez, 119 | Orig.: „Ley Novena“. 120 | Siehe Zuluaga 2007, 56. 121  | Dt.: „Abteilung für Volkskultur“. 122 | Siehe Zuluaga 2007, 56f. 123 | Siehe Schumann 1982, 78. 124 | Siehe Zuluaga 2007, 58. 125 | Siehe Osorio O. 2005, 20. 126 | Dt.: „Bambucos und Herzen“. Hinweis: Der Bambuco ist eine kolumbianische Musikund Tanzgattung.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

1945) erreichen zwar eine gewisse Popularität, ihr Appell an nationalpatriotische Gefühle beim Zuschauer erscheint vielen Kritikern jedoch unzeitgemäß und erzwungen.127 In den 1950er Jahren wird das Fernsehen, das 1954 durch den kolumbianischen Militärdiktator General Rojas Pinilla im Land verbreitet wird, zum Zwecke der Werbung und der politischen Propaganda entdeckt, was die Spielfilm­ produktion vorläufig zum Erliegen bringt. Zeitgleich mit dem Beginn der Violencia um 1945, die nach der Ermordung des liberalen Präsidentschafts­ kandidaten Jorge Eliécer Gaitán im April 1948 eskaliert, bricht die produktions­ ärmste Periode des kolumbianischen Kinos an, das zwischen 1945 und 1955 keinen einzigen abendfüllenden Spielfilm hervorbringt.128 Im Zuge der staatlichen Subvention des Fernsehens und der Dominanz des US-Kinos in kolumbianischen Sälen verlagert sich die audiovisuelle Produktion hin zu touristische Filmen und Werbeclips, bis sich gegen Ende der 1950er Jahre ein erster konzeptueller Wechsel in den Inhalten und Darstellungskonventionen der kolum­bianischen Filme anbahnt. Einhergehend mit einer neuen Welle der Reflexion über das Kino, die von Intellektuellen und Künstlern wie Gabriel García Márquez, Hernado Valencia Goelkel, Alejandro Obregón, Álvaro Mutis und Hernando Salcedo Silva getragen wird, welche 1949 zu diesem Zwecke den „Cineclub de Colombia“ in Bogotá gründen,129 wendet sich das Kino wieder der sogenannten „Realität“130 zu. Zwar lehnt das Komitee, das die Filme auf deren Chancen hin prüft, nach dem Dekret 1309 als kolumbianischer Film klassifiziert und folglich von der Steuer befreit zu werden, sozialkritische Filme wie El milagro de sal131 (Luis Moya Sarmiento, 1958) oder Chambú132 (Alejandro Kerk, 1961) mit dem Argument ab, keine „charakteristische Modalität des Landes“133 zu repräsentieren, dennoch gelangen ein paar dieser Filme auf europäische

127 | Der Brasilianer Antonio Paranaguá bezeichnet den „nationalistischen Drang, eine heimische Tradition aufzuwerten oder zu erfinden“ (orig.: „afán nacionalista por valorizar o inventar una tradición local“) als eine Krankheit des lateinamerikanischen Kinos. Paranaguá 2003, 21. Zitiert in: Suárez 2009 (1), 10. 128 | Vgl. Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano 2005. 129 | Siehe Zuluaga 2007, 66. 130 | Mit „Realität“ ist im Kontext des lateinamerikanischen Kinos meist die der untersten sozialen Schichten gemeint. 131 | Dt.: „Das Salzwunder“. 132 | Dt.: „Chambú“: Name eines Dorfes im Süden Kolumbiens und Titel des gleich­n amigen Romans von Guillermo Edmundo Chavez (1946), auf den der Film basiert. 133 | Orig.: „una modalidad característica del país“. Zitiert in: Zuluaga 2007, 68.

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Filmfestivals134 und verschaffen so dem kolumbianischen Kino – und mit ihm der sozialen Problematik des Landes – erstmals Gehör im Ausland. In den 1960er und 1970er Jahren werden die sogenannten „maestros“135 zu Schlüsselfiguren einer „Neuen Welle“ des kolumbianischen Kinos: inspiriert durch ihr Studium im europäischen oder nordamerikanischen Ausland sowie durch das Aufkommen des „Neuen Lateinamerikanischen Kinos“136 verbinden sie in ihren Produktionen professionalisierte Arbeitsprozesse mit inhaltlichen und ästhetischen Experimenten.137 Auch wenn den maestros von manchen Kritikern vorgehalten wird, sozialkritische Argumente kommerziellen Interessen untergeordnet zu haben, herrscht Übereinstimmung darüber, dass das film­­ sprachliche und technische Niveau ihrer Werke die zuvor etablierten Standards übertrifft.138 Für die gemäßigte Linie der maestros bei der Darstellung der sozialen Realität gibt es außer kommerziellen Interessen noch eine andere Erklärung: Die staatlichen Zensurbehörden, die mit Tätigkeitsbezeichnungen wie „Filmklassifizierung“139 oder „Qualitätskontrolle“140 ihren reellen Wirkungs­ grad zu schmälern versuchen, ziehen touristische Werbefilme dem „Kino der Anklage“ vor, wie es beispielsweise von Marta Rodríguez, Jorge Silva oder Carlos Álvarez in den 1970er Jahren produziert wird. Den Filmen, die sich mit der sozialen Ungerechtigkeit oder der Violencia auseinandersetzen, wird der Weg in die Kinos erschwert.141 Auch das Dekret 879 von 1971, eine kultur­ politische Maßnahme, die einen Aufpreis auf die Kinokarte bei der Vorführung ausländischer Filme vorsieht, durch welchen die Produktion kolumbianischer Kurzfilme ermöglicht werden soll,142 kommt Filmemachern mit kommerziellen Interessen stärker zugute als solchen, die „ein negatives Bild des Landes

134 | El milagro de sal gelangt als erster kolumbianischer Film in die Wettbewerbs­k ategorie des Festivals von San Sebastián (Spanien). 135 | Dt.: „Meister“. Pedro Adrián Zuluaga nennt Jorge Pinto, Guillermo Angulo, Francisco Norden, Álvaro González und Julio Luzardo als wichtigste Vertreter der „maestros“. Siehe Zuluaga 2007, 73. 136 | Als wichtigste Vertreter dieser Strömung gelten der Kubaner Tomás Gutiérrez Alea, der Argentinier Fernando Birri sowie der Brasilianer Glauber Rocha. 137 | Z.B. in Raíces de Piedra (Roots of stone. José María Arzuaga, 1963), Pasado el meridiano (Passing the Meridian. José María Arzuaga, 1967), El hermano Caín (dt.: „Der Bruder Kain“. Mario López, 1962) oder El río de las tumbas (dt.: „Der Fluss der Gräber“. Julio Luzardo, 1964). 138 | Siehe Zuluaga 2007, 74. 139 | Orig.: „clasificación de películas“. 140 | Orig.: „revisión de calidad“. 141  | Siehe Zuluaga 2007, 77. 142 | Vgl. Álvarez C. 1982.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

präsentieren oder dessen Institutionen oder nationale Werte diskreditieren“143. In quantitativer Hinsicht kann das sogenannte „Aufpreiskino“144 dennoch als durchschlagender Erfolg für die kolumbianische Filmindustrie gewertet werden, denn zwischen 1972 und 1988 entstehen auf diese Weise 856 Kurz­ filme,145 die als Vorfilme vor ausländischen Spielfilmen im Kino präsentiert werden. Aufgrund der wenig brisanten Inhalte sowie der mangelnden ästhetischen Ambitionen der Macher werden diese jedoch sowohl von der Film­kritik als auch vom Publikum als opportunistische Quotenfilme abgelehnt.146 Als eigentliche Gewinnerin der Kurzfilmära gilt die Kinokette Cine Colombia, der für die Vorführung der Kurzfilme ein Teil des Aufpreises, den die Zuschauer entrichten müssen, zugutekommt.147 Noch während dieser Phase unternimmt der Staat den folgerichtigen Versuch, die industrielle Produktion von Kurz­fi lmen auf den Langfilmsektor auszuweiten, und ruft die „Compañia de Fomento Cinematográfico“148, kurz „FOCINE“, ins Leben. FOCINE finanziert zwischen 1978 und 1993 als Bestandteil des Kommunikations­ministeriums 45 Langspielfilme, 64 Dokumentarfilme und 84 Fernsehfilme.149 In einer ersten Phase vergibt die Institution lediglich günstige Kredite an die Produzenten. Die Mittel hierfür stammen zum Großteil aus dem Aufpreisfond. Da die meisten Filme die Investition jedoch nicht wieder einspielen, verschuldet sich FOCINE zunehmend und geht dazu über, selbst als Produktionsfirma zu agieren.150 Doch nicht nur die Fördergesellschaft, auch die Filmemacher selbst geraten wegen der hohen Ausgaben und der vergleichsweise geringen Erträge in finanzielle Not. Luis Ospina beschreibt die fatalen Auswirkungen des FOCINE-Darlehens für sein Debüt Pura sangre 151 (1982) auf seine weitere Karriere wie folgt:

143 | Orig.: „que presenten una imagen negativa del país o menoscaben las instituciones o los valores nacionales“. Quelle: Dekret 879, zitiert in: Zuluaga 2007, 79. 144 | Orig.: „Cine de Sobreprecio“. 145 | Siehe Zuluaga 2007, 80. 146 | Siehe Schumann 1982, 80. 147 | Siehe Zuluaga 2007, 80. 148 | Dt.: „Filmförderungsgesellschaft“. 149 | Diese Zahlen stammen aus dem Dokumentarfilm De la ilusión al desconcierto (dt.: „Von der Illusion zur Fassungslosigkeit“. Luis Ospina, 2007) und werden von Pedro Adrián Zuluaga ihrer Aktualität wegen übernommen (siehe Zuluaga 2007, 85). Sie weichen geringfügig von denen ab, die Luis Alberto Álvarez in seinem Artikel La nueva versión de un sueño: el largometraje colombiano en la era de FOCINE (1984) oder Patricia Restrepo in ihrer Veröffentlichung Los mediometrajes de FOCINE (1980) anführen. 150 | Siehe Zuluaga 2007, 85. 151  | Pure Blood.

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 Kino in Kolumbien „Der Schatten der Verschuldung beim Staat […] hat mir die Türen zum Film verschlossen, […], und zwang mich dazu, meine Karriere als Filmemacher aufzugeben. […] Das Kino in Kolumbien hat nur Verluste gebracht. Deshalb habe ich ein schlechtes Bild vom kolumbianischen Film, auch wenn alle ein positives Bild des Landes fordern.“152

Der Produktionsgesellschaft, die nicht zuletzt wegen des gesetzlich festgelegten Verzichts auf eigene Vermarktung und Exhibition ihrer Filme im Dezember 1992 mit ihrer Liquidierung beginnen muss, muss zugute gehalten werden, dass sie vielen kolumbianischen Regisseuren zur Realisierung ihres ersten Langfilms verholfen und ein thematisch und ästhetisch breit gefächertes Spektrum an Filmen in ihrer Entstehung unterstützt hat. Sergio Cabrera, der zu den bedeutendsten kolumbianischen Filmemachern zählt, hat seine Karriere mit Técnicas de duelo153 (1988, Kolumbien/Kuba) bei FOCINE begonnen, ebenso Camila Loboguerrero mit Con su música a otra parte 154 (1984) und María Cano155 (1989), die neben Marta Rodríguez die einzige weibliche Regisseurin der kolumbianischen Filmgeschichte ist, deren Werk sich durch jahrzehnte­lange Qualität und Kontinuität auszeichnet. Auch das Kino abseits der Hauptstadt wird unter FOCINE gefördert: Luis Ospina und Carlos Mayolo, die später den Begriff des „Caliwood“ prägen sollten, debütieren in dieser Phase mit Pura sangre und Carne de tu carne 156 (Carlos Mayolo, 1983), und Víctor Gaviria aus Medellín schafft es mit seinem Erstlingsfilm Rodrigo D.: No futuro als erster kolumbianischer Filmemacher in die Wettbewerbskategorie von Cannes. Neben einem kommerziell ausgerichteten Unterhaltungskino, zu dem neben den Familienkomödien von Gustavo Nieto Roa (z.B. El taxista millionario157, 1979, Kolumbien/Mexiko) auch Adaptionsversuche von weniger verbreiteten Genres, z.B. dem Horrorfilm im Falle von Jairo Pinilla (z.B. 27 horas con la muerte 158, 1981) zählen, sticht vor allem die verhältnismäßig große Anzahl von Filmen ins Auge, die sich mit der politischen Violencia159 oder mit der wachsenden Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen und 152 | Orig.: „La sombra de una deuda con el Estado […] me cerró las puertas del cine, […], obligándome a abandonar mi carrera como realizador […]. El cine en Colombia sólo ha dado pérdidas. Por eso tengo una imagen negativa del cine colombiano cuando todo el mundo pide una imagen positiva del país“. Ospina L. 2007, 60. 153 | UK: A Matter of Honour. 154 | Dt.: „Wo anders hin mit eurer Musik“. 155 | Dt.: „María Cano“ (Name der Protagonistin). 156 | Flesh of Your Flesh. 157 | Dt.: „Der millionenschwerer Taxifahrer“. 158 | Dt.: „27 Stunden mit dem Tod“. 159 | Z.B. Canaguaro, Cóndores no entierran todos los días, Pisingaña, El hombre de acero, El potro chusmero, Técnicas de duelo, Carne de tu carne oder Confesión a Laura.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

der daraus resultierenden Verelendung und Gewalt in den Großstädten160 beschäftigen. Diese Filme unterliegen jedoch häufig der Zensur und gelangen in Kolumbien gar nicht oder nur für kurze Zeit in die Kinos.161 Die Fernsehfilme, die im Rahmen des FOCINE-Projekts „Cine en TV“162 entstehen, sind thematisch breit gefächert, und ihre Realisierung bietet den Regisseuren Gelegenheit, sich in neuen Formaten zu erproben. Die strengen finanziellen und terminlichen Auflagen der von FOCINE vorgegebenen Produktions­pläne limitieren jedoch den künstlerischen Schaffensprozess, so dass die Filme weit hinter ihren qualitativen Möglichkeiten zurückbleiben.163 Für Luis Alberto Álvarez, der als Vater der kolumbianischen Filmkritik gilt, bringt die Mischung von Film- und Fernsehproduktion auch stilistische Unsicher­heiten mit sich. Das Hauptproblem von FOCINE besteht ihm zufolge in der unklaren Definition ihrer Ziele: „[…] man weiß nicht, ob das Ziel darin besteht, kommerzielle Produkte mit Aussicht auf Publikumserfolge zu fördern, oder Produkte mit künstlerischer Qualität zu subventionieren […].“164 Mit dem Ende der staatlichen Förderung fällt die Produktion in den 1990er Jahren zunächst von durchschnittlich 6 auf 2,5 Filme pro Jahr ab.165 Die fehlenden Produktionsmittel können seit 1994 zum Teil dadurch ausgeglichen werden, dass eine rechtliche Grundlage für ausländische Koproduktionen geschaffen wird, an die 1997 die Gründung von Ibermedia anschließt, die heute eine der bedeutendsten transnationalen Förderinstitutionen für latein­ amerikanische Filme ist.166 Auch private Fernsehsender wie RCN oder Caracol beteiligen sich zunehmend als Koproduzenten an der Realisierung von kolum­ bianischen Filmen. Die Filmproduktion konzentriert sich immer stärker auf Bogotá, wo nun 98 Prozent aller Filme gedreht und produziert werden.167 Parallel dazu lässt sich eine Verlagerung hin zu urbanen Themen feststellen, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich auch der landesinterne Konflikt, von dem die Filme häufig handeln, immer stärker in den Städten manifestiert.168 Um die Jahrtausendwende verbessert sich die Lage allmählich: Mit der Gründung des Kulturministeriums 1997 und der daran angebundenen 160  | Z.B. Gamín, Pura sangre, Rodrigo D.: No Futuro oder La vendedora de rosas. 161 | Siehe Osorio O. 2001, 23f. 162  | Dt.: „Film im Fernsehen“. 163  | Siehe Zuluaga 2007, 90. 164  | Orig.: „[…] no se sabe si el objeto es fomentar productos comerciales con buen potencial de taquilla o subvencionar productos de calidad artística […]“. Álvarez L.A. 1984, 67.

165  | Siehe Osorio O. 2005, 36. 166  | Ospina X. 2007, 8. 167  | Quelle: Podiumsdiskussion zum Thema „Film in der Provinz“. Museo Nacional de Bogotá, 30.10.2007.

168  | Siehe Osorio O. 2005, 10f.

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Filmabteilung wird von staatlicher Seite die Bedeutung des audiovisuellen Mediums für Kultur und Gesellschaft betont. An das neue Ministerium wird außerdem ein Fond169 angeschlossen, der ausgewählte Filmprojekte mit Preis­ geldern unterstützt und besonders wertvolle Werke mit dem „Premio Nacional de Cine“170 auszeichnet. Diese Maßnahmen machen sich, einer Statistik des Kulturministeriums zufolge, in einem Anstieg der jährlichen Filmproduktion auf durchschnittlich 4,6 zwischen 1997 und 2003 bemerkbar.171 Mit der Eröffnung der Film- und Fernsehhochschule der Universidad Nacional in Bogotá erfährt auch der Ausbildungssektor einen spürbaren Aufschwung. Aufgrund des Ausbleibens einer geregelten staatlichen Finanzierung ist die Realisierung von Filmprojekten jedoch weiterhin mit enormen Anstrengungen und hohen finanziellen Risiken für die Filmemacher verbunden. Interessanterweise liegen die größten Publikumserfolge der späten 1990er Jahre – neben kommerziellen Komödien wie La pena máxima172 (Jorge Echeverri, 2001) oder Te busco173 (Luis Orjuela, 2002) – bei Filmen, die sich mit dem landes­ internen Konflikt und seinen Auswirkungen beschäftigen:174 Edipo Alcalde 175 (Jorge Alí Triana, 1996, Kolumbien/Spanien/Mexiko/Kuba), Golpe de Estadio176 (Sergio Cabrera, 1998, Spanien/Italien/Kolumbien) oder La virgen de los sicarios177 (Barbet Schroeder, 2000, Spanien/Frankreich/Kolumbien) sind Beispiele hierfür. Trotz der relativen finanziellen Unabhängigkeit von staatlichen Mitteln, die während dieser Schaffensphase festgestellt werden kann, ist kein Anstieg von Filmen mit klarer politischer Botschaft feststellbar. Einzig Ciro Durán positioniert sich mit seinem Film La toma de la embajada178 (2000, Kolumbien/Mexiko/Venezuela) relativ eindeutig, indem er die Besetzung der dominikanischen Botschaft im Februar 1980 und die Geiselnahme mehre-

169  | Der sogenannte „Fondo Mixto de Promoción Cinematográfica ‚Promimágenes en Movimiento‘“.

170  | Dt.: „Nationaler Filmpreis“. 171 | Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticas-del-sector/ Documents/Pel%C3%Adculas%20Colombianas%201993%20-%202014%20-%20WebMin.pdf 172  | Maximum Penalty. 173  | Dt.: „Ich suche dich“. 174 | Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticas-del-sector/ Documents/Hist%C3%B3rico%20Pel%C3%Adculas%20Colombianas%201996%20-%20 2013%20-%20%2830-11-14%29.pdf 175  | Oedipus Mayor. 176  | Time Out. 177 | Die Madonna der Mörder. 178  | Dt.: „Die Besetzung der Botschaft“.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

rer Botschafter durch die Guerilla M-19 aus der Sicht der recht sympathisch gezeich­neten Revolutionäre darstellt.179 Der jüngste Versuch von Seiten des Staates, den kolumbianischen Film wettbewerbsfähig zu machen, besteht in der Herausarbeitung des Film­ gesetzes „Ley 814“ von 2003. Es basiert auf der Grundlage einer vierjährigen Untersuchung des kolumbianischen Filmsektors durch Experten180 und zielt darauf ab, durch die Dezentralisierung des Filmsektors eine Basis für eine finanziell rentable Filmindustrie zu schaffen.181 Zum einen sollen die Fehler vermieden werden, die zum Bankrott von FOCINE geführt hatten, zum anderen wird eine Orientierung an den Filmgesetzen anderer latein­amerikanischer Länder angestrebt.182 Das neue Filmgesetz ist in drei Teile untergliedert: der erste erläutert die Zusammensetzung und Funktion des „Fondo para el Desarrollo Cinematográfico“183, kurz FDC, aus dem die Fördergelder an die ausgewählten Filmprojekte ausbezahlt werden. Der zweite soll private Investoren zur Kofinanzierung von Filmen ermutigen, indem er ihnen steuerliche Vorteile einräumt.184 Der dritte schafft eine rechtliche Grundlage dafür, dass Privatleute durch den Kauf von Aktien zu Teilhabern der Filme werden und entsprechend am Gewinn beteiligt werden können.185 Die Ausgaben des FDC sind anteilig per Gesetz festgelegt: 70 Prozent werden für die Produktion und Vermarktung von kolumbianischen Kurz- und Langfilmen aller Art verwendet,186 die übrigen 30 Prozent verteilen sich auf fünf verschiedene „Aktionslinien“187, die den allgemeinen Entwicklungsstand der nationalen Film­industrie verbessern sollen: den Auf bau eines Datensystems mit Informationen und Statistiken zum kolumbianischen Film („Sistema de Información y Registro Cinematográfico“188, kurz SIREC), die filmische Bildung des Publikums, die Ausbildung von spezialisierten Fachleuten zur Stärkung der Produktionskette, technischer Neuerungen sowie des Auf baus filmbezogener Industriezweige 179  | Vgl. Kapitel III.3.3.2. 180 | Vgl. Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2003. 181 | Siehe Araújo Castro 2005, 9. 182 | Siehe Suárez 2007, 81. 183 | Dt.: „Fond für die Weiterentwicklung des Kinos“. Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 7ff.

184 | Private Geldgeber können 125 % des investierten Betrags von ihrer Einkommens­ steuer absetzen. Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 11ff. 185 | Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 13. 186 | Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 9. 187  | Orig.: „lineas de acción“, so bezeichnet vom damaligen Direktor der Film­a bteilung des Kulturministeriums, David Melo Torres, im persönlichen Interview, geführt am 14.02.2008 in Bogotá. 188 | Dt.: „Informations- und Datenerfassungssystem des Films“.

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(z.B. Verleih und Herstellung von Filmtechnik), Anstöße zur Erschließung neuer Märkte sowie die Verwaltung und Kontrolle des Fonds durch „Proimágenes en Movimiento“189 und den „Consejo Nacional de los Artes y la Cultura en Cinematografía“190. Letzterer setzt sich aus Vertretern der Filmproduktion, -distribution und -vorführung sowie des Ministeriums zusammen und soll in transparenten Auswahlverfahren entscheiden, für welche Projekte die Gelder des Fonds verwendet werden.191 Um Unterstützung durch den FDC zu erhalten, müssen die Filme zunächst als „nationale Projekte“192 anerkannt werden. Voraussetzung hierfür ist neben kolumbianischer Beteiligung auch ein detaillierter Finanzierungsplan sowie der Nachweis über ein bereits bestehendes Basiskapital von mindestens 10 Prozent des Gesamtbudgets.193 Qualifizierte Projekte können in den Kategorien Drehbuch, Produktion, Postproduktion sowie Vertrieb und Marketing Preisgelder in Höhe von insgesamt maximal 520 Millionen Pesos (ca. 150.000 Euro) erhalten194, etwa 30 Prozent des durchschnittlichen Gesamtbudgets eines kolumbianischen Films. Die Macher sind somit auf die Einbeziehung von Koproduzenten angewiesen. In Abgrenzung zum Kreditsystem von FOCINE soll auf diese Weise das finanzielle Risiko auf mehrere Schultern verteilt und der staatliche Fond aus der Verantwortung gezogen werden. Der Vorteil für den Filmemacher besteht darin, dass er die Preisgelder, anders als bei FOCINE, nicht zurückzahlen muss und sich somit nicht beim Staat verschuldet. Die Einnahmen des FDC speisen sich neben öffentlichen Steuergeldern aus einer Abgabenquote von 8,5 Prozent, die von Vorführern und Verleihern für das Zeigen ausländischer Filme in kolumbianischen Kinos zu entrichten ist.195 Kinobetreiber wird so indirekt ein Anreiz geboten, mehr kolumbianische Filme zu zeigen, auf die keine Abgabe entrichtet werden muss. 5 Prozent der Nettoeinnahmen von kolumbianischen Filmen auf nationalem Territorium (in keinem Falle weniger als 30 Prozent der gesamten Schaltereinnahmen) fließen 189 | Verein zur Förderung und des Erhalts des kolumbianischen Films, gegründet 1997 in Folge des „Ley General de Cultura“, bestehend aus öffentlichen Amtsinhabern (Vertreter des Kultur-, Erziehungs- und Bildungs-ministeriums und der staatlichen Universitäten) und privaten Teilhabern (z.B. KODAK, Cine Colombia, Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano). Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 10. 190 | Dt.: „Nationaler Rat der Filmkunst und -kultur“. 191 | Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 9. 192 | Orig.: „Proyectos Nacionales“. 193 | Siehe Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento 2004 (1), 12. 194 | Davon maximal 10 Mio. Pesos für Entwicklung und Drehbuch, 270 Mio. Pesos für die Produktion, 120 Mio. Pesos für die Postproduktion und 120 Mio. Pesos für die Vermarktung. Stand: 2007. Siehe Ospina X. 2007, 5. 195 | Siehe Ley de Cine, Artikel 5°, Absatz 1-2.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

außerdem aus der Tasche der Filmproduzenten in den Fond.196 Im Gegensatz zu den Produzenten können die Vorführketten 6,25 Prozent der gesetzlich festgelegten Abgaben einsparen, wenn sie einen zertifizierten kolumbianischen Kurzfilm als Vorfilm vor einem ausländischen Kinofilm zeigen.197 Auf diese Weise sparen sich Vorführkonzerne wie Cine Colombia jährlich ca. 1,5 Millionen Euro198, welche ohne diese Regelung in den FDC geflossen und somit der kolumbianischen Filmproduktion zugute gekommen wären. Für diese Klausel ist das Filmgesetz ebenso kritisiert worden wie für den mangelnden inhaltlichen und künstlerischen Anspruch der zu diesem Zwecke produzierten Vorfilme199. Wie seine Vorgänger, so hat auch das Filmgesetz von 2003 zu einem rapiden Anstieg der Produktion geführt.200 Anders als zuvor wird die einheimische Produktion jedoch von Seiten des kolumbianischen Publikums honoriert: Während zwischen 1996 und 2003 nur durchschnittlich 3,3 Prozent der kolumbianischen Kinobesucher heimische Produktionen im Kino sahen, steigt diese Zahl zwischen 2004 und 2008 auf 10,6 Prozent an und pendelt sich in den Folgejahren zwischen 2009 bis 2014 auf durchschnittlich 5,7 ein.201 Diese Zahlen, die auf ein verhältnismäßig großes Interesse an den kolumbianischen Filmen schließen lassen, werden zwar durch die Tatsache relativiert, dass sich der Anteil der kolumbianischen Filme im Verhältnis zu den ausländischen

196 | Siehe Ley de Cine, Artikel 5°, Absatz 3. 197 | Siehe Ley de Cine, Artikel 14°. 198 | Diese Zahl orientiert sich an der Summe von 4.572.767.303 Pesos, die für das Jahr 2007 berechnet wurden. Quelle: Vortrag des Repräsentanten der Filmvorführer in Kolumbien bei einer Expertensitzung des „Consejo Nacional de los Artes y la Cultura en Cinematografía“ zur Lage des kolumbianischen Kurzfilms am 2. April 2008 in Bogotá. 199 | Carlos Llano, der Direktor der Distribution bei Cine Colombia, beschreibt die gewünschten Kurzfilme folgendermaßen: „Kurzfilme, die uns gefallen, familiär und für jedes Publikum, und die in irgendeiner Weise optimistisch sind. [...] [D]as bedeutet, ihm [dem Publikum] die Möglichkeit zu bieten, eine Komödie zu sehen, und vorher schon lachen zu können.“ (Orig.: „Cortos que nos gusten, familiares y para todo público, y que sean de alguna manera optimistas. [...] [E]s darle la posibilidad de ver una comedia y que se pueda reír antes.“) Kinetoscopio 2007, 77. 200 | Die Jahresproduktion steigt von durchschnittlich 3,3 Filmen zwischen 1993 und 2003 auf 13,1 Filme zwischen 2004 und 2014. Quelle: http://www.mincultura.gov.co/ areas/cinematografia/estadisticas-del-sector/Documents/Estrenos%20Colombianos%20 1993%20-%202014%20-%20WebMin.pdf 201 | Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticas-del-sector/ Documents/Espectadores%20Cine%20en%20Colombia%201996%20-%202014%20-%20 %2830-11-14%29.pdf

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in den betreffenden Jahren allgemein vergrößert hat 202, jedoch haben sicherlich auch die verbesserte Qualität der Filme sowie die umfangreichen Werbe­ strategien des Kulturministeriums203 zu deren Popularität beigetragen. Neben dem Lob, das das Filmgesetz als Wegbereiter eines „Neuen Kolumbianischen Kinos“ von vielen Seiten erfährt, hat es jedoch auch Kritik geerntet. Seinen Verfassern wird vorgeworfen, den Filmsektor nach nord­ amerikanischem Vorbild liberalisieren und kommerzialisieren zu wollen und dabei zu ignorieren, dass der Markt für kolumbianische Filme begrenzt ist 204. Alejandra Jaramillo Morales hält vor allem den Kontrollverlust des Staates durch die Privatisierung des Filmsektors für bedenklich: Das Gesetz eröffne rechtliche Wege, um die Filmproduktion unabhängiger von öffentlichen Mitteln zu machen, und entziehe so dem Staat den Einfluss auf eine angemessene Repräsentation der kulturellen Vielfalt und die Konstituierung einer nationalen Identität, was laut Paragraf 1° des Filmgesetzes angestrebt wird.205 Die Entscheidung, welche Filme den Zuschauern zugänglich gemacht und welche Werte dadurch vermittelt werden, werde in die Hände privater Firmen gelegt, die sich, wirtschaftlichen Interessen folgend, an den Gesetzen des Marktes orientieren, anstatt der Realität des Landes und den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden.206 Das Kulturministerium seinerseits vertritt die These, dass nur auf der Basis einer finanziell rentablen Film­industrie auch eine breit gefächerte, künstlerisch anspruchsvolle und die Nation repräsentierende Kinematografie entstehen könne.207 Es rechtfertigt so die staatlich geförderte Produktion von kommerziellen Komödien, da mit den Erträgen das Autoren­kino gefördert werden könne. Letzteres soll vor allem mithilfe von ausländischen Koproduktionen realisiert werden, bei deren Vermittlung das Ministerium helfen will. Die kommerziellen Filme sollen hingegen verstärkt von

202  |  Ihr Anteil steigt von durchschnittlich 1,5% zwischen 1993 und 2003 auf 6,5% zwischen 2004 und 2014. Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticasdel-sector/Document s/Estrenos%20Colombianos%201993%20-%202014%20-%20 WebMin.pdf 203 | Nach der Einführung des Filmgesetzes finanziert das Kulturministerium zahlreiche Ausstellungen und Kongresse zum kolumbianischen Kino, die das öffentliche Interesse gesteigert haben. 204 | In seinem Artikel La producción en Colombia erörtert Jaime Osorio das Problem des begrenzten Marktes für lateinamerikanische Filme. Osorio befürwortet den gemeinsamen Vertrieb lateinamerikanischer Filme und eine Vereinfachung der Koproduktion unter diesen Staaten. Siehe Osorio J. 2004, 189. 205 | Siehe Ministerio de Cultura de Colombia/Proimágenes en Movimiento 2004 (1), 15. 206 | Siehe Jaramillo Morales 2005, 78f. 207 | Siehe Interview mit David Melo und Claudia Triana. In: Kinetoscopio Nr. 79, 2007, 62ff.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

TV-Sendern unterstützt werden, was durch den Artikel 18° des Filmgesetzes rechtlich ermöglicht wird.208 Ob das Konzept des Kulturministeriums aufgeht, soll eine kurze Bilanz über die Resultate und Auswirkungen des Filmgesetzes in Kapitel III.4.2 zeigen. In diesem Zusammenhang soll auch erläutert werden, inwiefern die sicherheits­ politischen Diskurse der Regierung Uribe, unter deren Schirmherrschaft das Filmgesetz entsteht, in den kolumbianischen Filmen nach 2003 aufgegriffen werden.

I.3 F orschungsstand und Q uellenl age In jüngster Zeit haben Versuche stattgefunden, die bisherige Forschung zum kolumbianischen Kino, die einem unzusammenhängenden Mosaik aus kleinteiligen Fragmenten gleicht, systematisch aufzuarbeiten und zu aktualisieren. Juana Suárez vergleicht zu diesem Zwecke die Ergebnisse der kolumbianischen und der US-amerikanischen Forschung,209 Jaime Correa unterscheidet zwischen unterschiedlichen akademischen Disziplinen und Forschungs­ansätzen.210 Beide Autoren merken an, dass die Erforschung des kolumbianischen Kinos bis in die späten 1990er Jahre überwiegend von Literatur­w issenschaftlern vorangetrieben wird, was eine Vernachlässigung der visuellen Aspekte des Films zur Folge hat.211 Der Mangel an Untersuchungen aus filmwissenschaftlicher Perspektive ist von kolumbianischer Seite damit zu begründen, dass sich diese Disziplin bis heute nicht an den Universitäten etabliert hat. Die englischsprachige Filmforschung hat seit den jüngsten Erfolgen des kolumbianischen Kinos begonnen sich mit diesem auseinanderzusetzen. Ihr Interesse gilt jedoch in erster Linie größeren internationalen Koproduktionen wie La virgen de los sicarios oder María, llena eres de gracia,212 eine umfassende Beschäftigung mit den historischen Schaffensphasen des kolumbianischen Kinos hat bislang nicht stattgefunden. Correa unterteilt die Fachliteratur zum kolumbianischen Kino, in Anlehnung an eine Theorie von Francesco Casetti213, in drei Kategorien: Untersuchungen mit ontologischen, methodologischen oder speziali208 | Siehe Interview mit David Melo und Claudia Triana. In: Kinetoscopio Nr. 79, 2007, 63. 209 | Aus diesen beiden Ländern stammt der Großteil aller Publikationen zum kolumbianischen Kino.

210  | Siehe Correa 2009. 211  | Siehe Suárez 2009 (1), 16; Correa 2009, 12. 212 | Siehe Suárez 2009 (2), 40. 213  | Casetti, Francesco: Les Théories du Cinéma Depuis 1945. Paris, 2005.

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sierten Frage­stellungen.214 Dabei favorisiert Correa letztere, da diese dem Untersuchungs­gegenstand aufgrund der Zusammenführung von kultur- und filmwissenschaftlichen Ansätzen am ehesten gerecht würden.215 Die Zahl der Publikationen zum kolumbianischen Kino, die einen spezialisierten Ansatz verfolgen, ist überschaubar. Zu den wichtigsten Vertretern gehören lateinamerikanische Wissenschaftler, die an nordamerikanischen Universitäten lehren: die Kolumbianerin Juana Suárez mit dem bereits erwähnten Essayband Cinembargo Colombia. Ensayos críticos sobre cine y cultura (2009), in dem sie einschlägige Filme unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert, sowie ihrer Dissertation Sitios de contienda: producción cultural colombiana y el discurso de la violencia (2010), in der sie außer den Filmen über die Gewalt auch literarische und musikalische Werke berücksichtigt; der uruguayische Filmexperte Jorge Ruffinelli, der an der Stanford University Literatur- und Kulturwissenschaft lehrt, mit seiner Arbeit über das Werk von Víctor Gaviria216 sowie der Venezolaner Luis Duno-Gottberg, der ebenfalls zu Gaviria forscht 217. Die Briten Geoffrey Kantaris, Rory O‘Bryen und David Wood haben in Europa und Lateinamerika zum kolumbianischen Kino publiziert.218 Auch von kolumbianischer Seite ist die spezialisierte Forschung vorangetrieben worden, wie z.B. im Falle von Nazly López Werk Miradas esquivas a una nación fragmentada: reflexiones en torno al cine silente de los años veinte y la puesta en escena de la colombianidad (2006), in dem die kolumbianischen Stummfilme einer Neubetrachtung unterzogen werden. Als besonders wertvoll hervorzuheben sind Sammelbände wie Memorias XII Cátedra Anual de Historia: Versiones, subversiones y representaciones del cine colombiano. Investigaciones recientes (Museo Nacional de Colombia, 2008) oder Revista de Estudios Colombianos: Número especial sobre cine colombiano (Asociación de Colombianistas y Wabash College, 2009), in denen aktuelle Artikel von lateinamerikanischen, nordamerikanischen und europäischen Autoren erschienen sind. Erstaunlicherweise existiert bislang keine einzige wissenschaftliche Publikation, die sich der systematischen Aufarbeitung der filmischen Reflexionen des innerkolumbianischen Konflikts annehmen würde. Auch fehlen Veröffentlichungen in deutscher Sprache gänzlich.

214 | Siehe Correa 2009, 13ff. 215  | Siehe Correa 2009, 19ff. 216  | Ruffinelli, Jorge: Víctor Gaviria: los márgenes al centro. Madrid, 2005. 217 | Duno-Gottberg, Luis: Imagen y Subalternidad. El Cine de Víctor Gaviria. Revista Objeto Visual. Caracas: Cinemateca Nacional de Venezuela/Ministerio de Cultura, 2003.

218 | Kantaris und O‘Bryen lehren derzeit an der University of Cambridge, Wood an der Universidad Nacional Autónoma in Mexiko City. Zu ihren Veröffentlichungen vgl. Kapitel V.1.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

Vor der kulturwissenschaftlichen Wende, die in Verbindung mit dem wachsenden internationalen Interesse am kolumbianischen Kino zu einer Neu­ betrachtung des kolumbianischen Kinos geführt hat,219 ist dessen Dokumentation und Erforschung überwiegend durch kolumbianische Autoren erfolgt.220 In einer ersten Phase versuchen diese, ein Inventar des kolumbianischen Kinos zu erstellen und das verloren geglaubte Wissen über die frühen Filme in Form von Chroniken niederzuschreiben.221 Als Hauptvertreter der frühen Aufarbeitung gelten Hernando Salcedo Silva, Hernando Valencia Goelkel, Umberto Valverde und Carlos Álvarez, die sich in den 1970er Jahren mit der kolumbianischen Stummfilmzeit und dem frühen Tonfilm befasst haben222, sowie Luis Alberto Álvarez, der neben Gabriel García Márquez und den bereits erwähnten Pionieren als Vater der Filmkritik in Kolumbien gilt. Ihre überwiegend auf Zeitzeugenberichten basierenden Filmbesprechungen leisten zweifelsohne einen bedeutenden Beitrag zur Rekonstruktion der Filmgeschichte, aufgrund der in ihnen vorgenommenen subjektiven Bewertung der Filme sind sie jedoch eher dem Bereich der Filmkritik als dem der Wissenschaft zuzuordnen.223 Die methodischen und stilistischen Unsicherheiten in der Grundlagen­ forschung zum kolumbianischen Kino bringen Probleme für die analytisch orientierte Forschergeneration mit sich, die sich der paradoxen Situation stellen muss, als unwissenschaftlich wahrgenommen zu werden, wenn sie sich auf die ‚Klassiker‘ beruft. Der erste systematische Ansatz zur Rekonstruktion der kolumbianischen Filmgeschichte stammt aus der Feder des kolumbianischen Geschichts­ wissenschaftlers und Universitätsdozenten Hernando Martínez Pardo. In seiner Historia del cine colombiano (1978) erstellt der Autor eine quantitative und qualitative Analyse des gesamten Filmsektors, bei der er auch auf Aspekte 219  | Siehe Correa 2009, 20. 220 | Ausnahmen stellen einzelne Kapitel über das kolumbianische Kino dar, die in Sammelbänden über das lateinamerikanische Kino erschienen sind, wie z.B. in Lhérminier, Pierre: Les Cinémas de l’ Amerique Latine. Paris, 1981; Schumann, Peter B.: Handbuch des lateinamerikanischen Films. Frankfurt am Main: Vervuert, 1982; King, John: El carrete mágico. Una historia del cine latinoamericano. Mexico D.F.: TM Editores, 1994. 221  | Siehe Acosta 2009, 25. 222 | Salcedo Silvas Crónicas del cine colombiano 1897-1950 (1981) wird als erstes dieser frühen Werke fertiggestellt und als letztes veröffentlicht. Zuvor erscheinen Valencia Goelkels Crónicas de cine (1974) und Valverdes Reportaje Crítico al Cine Colombiano (1978). Der Regisseur Carlos Álvarez veröffentlicht zehn Jahre später sein teils analytisches, teils manifestartiges Sobre cine colombiano y latinoamericano (1989). 223 | Filmgeschichtsschreibung und Filmkritik sind in Kolumbien traditionell eng miteinander verwoben. Die Autoren bedienen sich in ihren Texten beider Stile, ohne dabei eine klare Trennung zu vollziehen. Vgl. Osorio O. 2009, 7.

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wie Distribution, Exhibition, Filmkritik, staatliche Filmförderung und Zensur eingeht.224 Die Unbeständigkeit der kolumbianischen Filmproduktion und die damit verbundene Diskussion um die Existenz dieses Forschungs­­gegenstands empfindet der Autor nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung für seine Arbeit: „Das ist das Interessante an unserem Kino: seine Widersprüche, seine enthusiastischen Momente, seine Niederlagen, sein ständiges geboren werden, sterben und wieder geboren werden. Das ist es, was erklärt werden muss.“225 Neben deskriptiven Darstellungen und sachlichen Erläuterungen enthält auch dieses Werk filmkritische Passagen, die den persönlichen Stand­punkt des Autors wiedergeben. Aufgrund seiner Informationsfülle ist Martínez Pardos Historia del cine colombiano dennoch bis heute das meist zitierte Werk der kolumbianischen Fachliteratur. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sein Erscheinungsdatum vor den beiden produktivsten Phasen des kolumbianischen Filmschaffens – der Ära FOCINE und der aktuellen Periode seit 2003 – liegt, bedarf es jedoch dringend einer Aktualisierung. Einen wichtigen Vorstoß in diese Richtung unternimmt Pedro Adrián Zuluaga mit seinem Text Acción: Cine en Colombia (2007), erschienen im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Museo Nacional in Bogotá. In einigen Punkten, z.B. in der Periodisierung, weicht Zuluaga von Martínez Pardos Fassung ab. Indem er politische und wirtschaftliche Zusammenhänge stärker in den Vordergrund stellt, liefert er eine Neuinterpretation der kolumbianischen Filmgeschichte. Ab den 1970er Jahren hält der Film Einzug an kolumbianischen Universitäten. In Fachbereichen wie Neuere Geschichte und Anthropologie wird der Film in seiner Funktion als kulturelle Ausdrucksform als Primärquelle anerkannt, ab den 90ern wird er auch in Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Kommunikations- und Medienwissenschaften als Untersuchungs­gegenstand berücksichtigt.226 Die Literaturwissenschaft zeigt, wie bereits skizziert, ebensfalls früh Interesse am kolumbianischen Kino, was insbesondere auf den Einfluss von Persönlichkeiten wie Gabriel García Márquez, Andrés Caicedo oder Fernando Vallejo zurückzuführen ist, in deren Schaffen Film und Literatur eng miteinander vernetzt sind.227 Die in diesen Disziplinen entstandenen akademischen (Abschluss-)Arbeiten bilden einen großen Teil der recherchierbaren 224 | Die Recherche zu diesem Buch, bei der aufgrund des Mangels an Fach­z eitschriften Zeitungs­a rchive auf kleinste Meldungen zum Film durchkämmt werden mussten, nahm beinahe sechs Jahre in Anspruch. Quelle: persönliches Interview, geführt am 16.06.2011 in Bogotá. 225 | Orig.: „Eso es lo interesante de nuestro cine: sus contradicciones, sus momentos de entusiasmo, sus fracasos, su continuo nacer, morir y renacer. Eso es lo que hay que explicar.“ Martínez Pardo 1978, 15. 226 | Siehe Acosta 2009, 26f. 227 | Siehe Suárez 2009 (1), 16.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

Literatur zum kolumbianischen Kino,228 sie sind jedoch überwiegend unveröffentlicht geblieben und haben daher den Kanon der Fachliteratur nur unwesentlich beeinflusst.229 Im Rahmen praktisch orientierter Film- und Fernsehstudiengänge230 ist in jüngster Zeit die theoretische Auseinandersetzung mit dem Kino viel­ versprechend vorangetrieben worden. Seit den 1990er Jahren sind Monografien und Sammelbände wie Arte de los noventa231, Movimientos y renovación en el cine 232 oder Documental colombiano: temáticas y discursos233 durch die Universitäten publiziert worden. Neben den Universitäten spielen staatliche oder staatlich subventionierte Institutionen wie das Kulturministerium, der bereits erwähnte Fond „Proimágenes en Movimiento“ oder die „Cinemateca Distrital“234 der Stadt Bogotá eine tragende Rolle beim Vorantreiben der Forschung. Einschlägige Veröffentlichungen aus staatlicher Förderung sind z.B. La presencia de la mujer en el cine colombiano235 oder Hechos colombianos para ojos y oídos de las Américas236. Vielversprechend erscheint auch die Kooperation zwischen dem Kultur­ ministerium und der Universidad Nacional, aus der z.B. die Veröffentlichung

228 | Luisa Fernanda Acosta führt in ihrem Artikel Investigación sobre cine en Colombia. De aficionados a cibernautas eine Liste mit 39 universitären Abschlussarbeiten an, die zwischen 1978 und 2005 an kolumbianischen Universitäten zum Thema eingereicht worden sind. Siehe Acosta 2009, 35f. 229 | Siehe Osorio O. 2009, 10. 230 | Z.B. an der Universidad Nacional (Bogotá), der Universidad del Valle (Cali), der Universidad Pontificia Bolivariana (Medellín), der Universidad Javeriana (Bogotá) oder dem UNITEC (Bogotá). 231 | Universidad Nacional de Colombia (Hg.): Arte de los noventa: cine y televisión. Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, 2004. 232 | Caicedo González, Juan Diego (Hg.): Movimientos y renovación en el cine. Bogotá: Universidad Central, 2005. 233 | Gutiérrez Cortés, Andrés F./Aguilera Toro, Camilo: Documental colombiano: temáticas y discursos. Cali: Universidad del Valle, 2002. 234 | Die „Cinemateca Distrital“ ist eine von der Stadtverwaltung Bogotá getragene Institution, die einen eigenen Kinosaal und eine Filmbibliothek betreibt und für die Realisierung von städtischen Film-, Forschungs- und Weiterbildungsprojekten zuständig ist. 235 | Arboleda Ríos, Paola/Osorio, Diana Patricia: La presencia de la mujer en el cine colombiano. Bogotá: Ministerio de Cultura, 2003. 236 | Mora, Cira Inés/Carrillo, Adriana María: Hechos colombianos para ojos y oídos de las Américas. Bogotá: Ministerio de Cultura, 2003.

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Cine: una industria por hacer en Colombia. Algunas experiencias de producción y marketing 237 hervorgegangen ist. Innerhalb der Fachliteratur stellen Arbeiten zu einzelnen Regisseuren eine bedeutende Gruppe dar. Der zu diesem Zwecke am häufigsten herangezogene kolumbianische Filmemacher ist Víctor Gaviria: Neben den bereits erwähnten nordamerikanischen Publikationen wurden von kolumbianischer Seite mehrere Sammelbände über die Arbeit Gavirias herausgegeben238. Auch das umfangreiche Werk der Dokumentarfilmerin Marta Rodríguez und ihres verstorbenen Lebensgefährten Jorge Silva gilt als weitreichend erforscht und wurde beispielsweise mit einer Spezialausgabe der „Cinemateca Distrital“ gewürdigt.239 Die Filmemacher Carlos Mayolo, Luis Ospina, Gustavo Nieto Roa und Víctor Gaviria haben außerdem autobiografische Texte veröffentlicht, in denen sie ihren eigenen Schaffensprozess reflektieren.240 Die letzte Gruppe der Fachliteratur bilden historische Filmzeitschriften wie Ojo al cine, Guiones, Cinemes, Cinemateca, Cuadro, Cine oder Arcadia va al cine. Zwar konnten sich diese nur kurze Zeit über Wasser halten, die in ihnen veröffentlichten Kritiken und Rezensionen sind aber dennoch wichtige Quellen zum Verständnis der jeweiligen filmischen Epochen. Die einzigen spezialisierten Zeitschriften, die auf eine verhältnismäßig lange Tradition zurück­ blicken können und bis heute bestehen, sind die Cuadernos de cine colombiano, die die „Cinemateca Distrital“ de Bogotá mit kurzen Unterbrechungen seit 1981 herausgibt, sowie die Filmzeitschrift Kinetoscopio, die seit 1990 vom Centro Colombo Americano in Medellín veröffentlicht wird. Letztere publiziert journalistische Artikel und Interviews zum internationalen Filmgeschehen sowie ausführliche Dossiers zum kolumbianischen Kino, während sich Cuadernos de cine colombiano auf längere, analytisch angelegte Artikel zum über­geordneten Thema der jeweiligen Ausgabe spezialisiert hat. Während Kinetoscopio sich in den letzten Jahren gegen den Vorwurf der zunehmend kommerziellen Ausrichtung behaupten muss, haben sich die Cuadernos durch das Heranziehen internationaler Forscher als Gastautoren als wissenschaftliches Magazin etabliert. Als nützlich für die Recherche seien noch die Nachschlagewerke der „Fundación Parimonio Fílmico Colombiano“ (FPFC) erwähnt: Kataloge wie Largometrajes Colombianos en Cine y Video 1915-2004 (2005), Documentales 237 | Ministerio de Cultura/Proimágenes en Movimento/Universidad Nacional de Colombia (Hg.): Cine – una industria por hacer en Colombia. Algunas experiencias de producción y marketing. Bogotá, 2004. 238 | Z.B. Alzate Vargas 2004; Arenas V. 1994; Claver Téllez 1998; Gómez 1994. 239 | Vgl. Cinemateca Distrital de Bogotá (Hg.): Jorge Silva/Marta Rodríguez. 45 años de cine social en Colombia. Retrospectiva integral. Bogotá, 2008. 240 | Vgl. Mayolo 2008, Ospina 2007, Nieto Roa 1997, Gaviria 2009.

I. Das kolumbianische Kino als Forschungsfeld

colombianos 1915-1950 (2007) oder Publicaciones periódicas de cine y video en Colombia. 1908-2007 (2007) geben einen Überblick über die Produktionsdaten der Filme sowie die zugehörigen Zeitungs- und Zeitschriftenrezensionen. Seit 2005 publiziert auch das Kulturministerium Kataloge über die jährliche filmische Produktion in den Bereichen Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilm241, die helfen sollen, den Überblick über die expandierende Filmproduktion zu behalten. Die Primärquellen zur Forschung über das kolumbianische Kino – die Filme selbst – sind teilweise schwer zugänglich. Viele Werke aus der Zeit des Stummfilms und des frühen Tonfilms gelten bis heute als verschollen, andere wurden durch die FPFC restauriert und digitalisiert. Zahlreiche Filme sind jedoch weder in den Archiven einsehbar noch im Handel erhältlich, da urheberrechtliche Fragen ungeklärt sind. Sie können nur privat über die Filmemacher selbst, bzw. über die Erben ihres filmischen Nachlasses, bezogen werden – eine Tatsache, die die Forschung zum kolumbianischen Kino zu einer mühsamen, aber auch abwechslungsreichen Angelegenheit macht. Einige der Filme, die zur Zeit ihrer Entstehung der Zensur zum Opfer gefallen sind, gelten bis heute als verschollen. Die ‚Klassiker‘ der 1960er und 1970er Jahre sowie die erfolgreichsten Vertreter jüngerer Jahrgänge werden in der von „Proimágenes en Movimiento“ ins Leben gerufenen Reihe „Lo mejor del cine colombiano“242 auf DVD herausgegeben. Außerhalb dieser Best-of-Reihe sind viele der vor 2003 entstandenen Filme nicht erhältlich. Dies betrifft auch viele FOCINE-Produktionen, von denen einige wenige im Archiv der FPFC auf VHS archiviert sind. Die kolumbianischen Produktionen und Koproduktionen nach 2003 sind mehrheitlich im kommerziellen Handel erschienen und somit zugänglich.

241  | Ministerio de Cultura de Colombia/Proimágenes en Movimiento (Hg.): Largometrajes/Cortometrajes/Documentales 2005-2009. Catálogo de cine colombiano. Bogotá, 2009. 242 | Dt.: „Das Beste des kolumbianischen Kinos“.

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II. Spezifischer Forschungsansatz Im Rahmen dieser Arbeit soll ein Beitrag zur filmhistorisch und film­ analytisch fundierten Auseinandersetzung mit dem kolumbianischen Kino und zugleich zur Erweiterung des Diskurses über die Gewalt in Kolumbien durch die Filme geleistet werden. Zu diesem Zweck soll eine Analysemethode erarbeitet werden, die hermeneutisch-interpretative Verfahren der Filmanalyse mit diskurs­analytischen Ansätzen verbindet. Zunächst soll jedoch das zentrale Forschungsinteresse vorgestellt und erläutert werden.

II.1 F okus Ziel dieser Arbeit ist es zu ermitteln, wie der innerkolumbianische Konflikt und die damit einhergehende Gewalt in kolumbianischen und koproduzierten Spielfilmen zwischen 1959 und 2015 dargestellt worden sind und inwiefern die Filme durch diese Darstellungen den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien um neue Lesarten und Perspektiven erweitern. Die Filme sollen dabei nicht losgelöst von ihrem Entstehungskontext, sondern im Spannungsfeld ihrer kultur- und innenpolitischen Produktionsbedingungen, der historisch determinierten Lesarten der Gewalt und, damit zusammenhängend, des Diskurses um die Identität des Landes1 interpretiert werden. Wie Juana Suárez bemängelt, ist der Diskurs um die Gewalt in Kolumbien, dessen Kenntnis zum Verständnis der Filme unerlässlich ist und den sie treffend als „hundertköpfiges Monster“2 bezeichnet, in Veröffentlichungen zum kolumbianischen Kino selten differenziert betrachtet worden.3 Konzepte und Begriffe, die von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, aber auch von Politikern und Journalisten geprägt worden sind, wurden meist willkürlich und entkontextualisiert zur Betrachtung der Filme herangezogen. Um diesen Fehler zu vermeiden, soll im folgenden ein Überblick über die historische Semantik des 1 | Auf diesen Zusammenhang wird in Kapitel II.1.1.4 näher eingegangen. 2 | Orig.: „monstruo de cien cabezas“. Suárez 2009 (1), 11. 3 | Siehe Suárez 2009 (1), 11.

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Gewalt- und Konfliktbegriffs im kolumbianischen Kontext gegeben werden, aus dem hervorgeht, wie der Diskurs historisch gewachsen ist, welche Akteure ihn primär gespeist haben und weshalb er für die Untersuchung des kolumbianischen Kinos eine zentrale Rolle spielt.

II.1.1 Der Diskurs um die Gewalt in Kolumbien II.1.1.1 Zu einer Definition des Gewaltbegriffs ‚Gewalt‘ ist ein weitläufiger Begriff und kann unterschiedliche Bedeutungen haben. In der soziologischen Fachliteratur wird zur Abgrenzung häufig zwischen „direkter Gewalt“ (physisch oder psychisch) und „indirekter Gewalt“ – z.B. „struktureller Gewalt“4 bei Johan Galtung oder „symbolischer Gewalt“5 bei Pierre Bourdieu – unterschieden. Galtung weist darauf hin, dass direkte physische Gewalt, die er als „personale Gewalt“6 bezeichnet, häufiger im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, weil sie im Gegensatz zu anderen, subtileren Gewaltformen sichtbar ist 7: personale Gewalt zeigt sich, während strukturelle Gewalt oft nicht einmal von ihren Opfern als solche wahrgenommen wird.8 Diese Gewichtung spiegelt sich auch im Diskurs um die Gewalt in Kolumbien wider. Zwar kann zu vielen Zeitpunkten der kolumbianischen Geschichte ein direkter Zusammenhang zwischen strukturellen Problemen und gewaltsam ausgetragenen Konflikten festgestellt werden9, in der kolumbianischen Fachliteratur wird die soziale Ungerechtigkeit, in der sich struk4 | Strukturelle Gewalt liegt dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1975, 9). Strukturelle Gewalt äußert sich unter anderem in der bewusst herbeigeführten und aufrechterhaltenen Ungleichheit der sozialen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Siehe Galtung 1975, 12f. 5 | Bourdieu zufolge hat Macht immer eine symbolische Dimension, über die sich die bestehenden Machtverhältnisse ausdrücken und weiter verfestigen. Ein wichtiges Ausdrucks­ mittel der symbolischen Gewalt ist die Sprache, aber auch der Körper, in die sich die Machtverhältnisse derart einschreiben, dass sie als „natürlich“, nicht als „gemacht“, wahrgenommen werden. Siehe Krais 2008, 51ff. 6 | Personale Gewalt verfügt im Unterschied zur strukturellen Gewalt über ein personales Subjekt, also über einen oder mehrere Täter, die gezielt Gewalt auf Menschen, Tiere oder Objekte ausüben. Galtung 1975, 12. 7 | Siehe Galtung 1975, 16. 8 | Siehe Galtung 1975, 16. 9 | Das hohe Maß an sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit ist in Kolumbien nach wie vor die Wurzel vieler gewaltsamer Konflikte. Als Hauptursache für den Ausbruch der Violencia gilt beispielsweise die durch die Oligarchie gestoppte Landreform mit dem Ziel der gerechteren Verteilung des Grundbesitzes.

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turelle Gewalt, Galtung zufolge, am offensichtlichsten äußert10, jedoch höchstens als Grund für die anhaltende personale Gewalt angeführt, nicht aber als eigenständige Gewalt­kategorie. Dieser Umstand könnte unter anderem darauf zurück­zuführen sein, dass strukturelle Gewalt ihrer globalen Verbreitung wegen als ‚natürlich‘ hingenommen wird.11 Tatsache ist, dass das Bemerkens­ werte am kolumbianischen Fall für die Gewaltforschung nicht in den strukturellen Ursachen des innerkolumbianischen Konflikts besteht, sondern im Ausmaß der personalen Gewalt. Personale Gewalt wird bei Jan Philipp Reemtsma in drei Gattungen unter­ teilt, die in Kolumbien alle sehr verbreitet sind: lozierende, raptive und auto­ telische Gewalt.12 Lozierende Gewalt definiert der Autor als solche, die sich nicht direkt gegen einen Körper wendet, sondern die eingesetzt wird, um über dessen Platzierung im Raum zu bestimmen.13 Aufgrund ihrer Eigen­ schaft, den Körper als Hindernis, als „wegzuschaffende Masse zwischen dem Akteur und seinem Ziel“14, zu begreifen, bringt Reemtsma sie mit Gewalt im politischen Raum, insbesondere im Rahmen militärischer Kriegsführung, in Verbindung.15 Im kolumbianischen Kontext zeigt sich lozierende Gewalt insbesondere in den andauernden Kämpfen der bewaffneten Gruppen um territoriale Kontrolle sowie in der damit verbundenen massiven Vertreibung von Zivilisten. Unter raptiver Gewalt versteht Reemtsma eine Gewalt, die den Körper nicht aus dem Weg schaffen, sondern ihn besitzen will, „meist, um ihn sexuell zu benutzen“16. Im innerkolumbianischen Konflikt spielt raptive Gewalt einerseits im Kontext der Entführungen und andererseits in dem der systematischen Vergewaltigungen durch die bewaffneten Gruppen eine Rolle. Sie ist nicht zuletzt ein symbolischer Akt, da sie die Aneignung des ‚Fleisch und Blutes‘ des Gegners impliziert. Autotelische Gewalt hingegen zielt „auf die Zerstörung der Integrität des Körpers“17 ab. In Abgrenzung zur lozierenden und raptiven Gewalt, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, zerstört autotelische Gewalt den Körper um ihrer selbst willen: „nicht, weil es dazu kommt, sondern um [...] zu zerstören“18. Aufgrund ihrer Sinnlosigkeit bezeichnet Reemtsma autotelische Gewalt als die verstörendste aller Gewaltformen.19 Der Autor 10  | Siehe Galtung 1975, 13. 11 | Siehe Galtung 1975, 26. 12 | Vgl. Reemtsma 2008, 108ff. 13 | Siehe Reemtsma 2008, 108. 14 | Reemtsma 2008, 108. 15 | Siehe Reemtsma 2008, 108. 16  | Reemtsma 2008, 113. 17  | Reemtsma 2008, 116. 18  | Siehe Reemtsma 2008, 117. 19 | Siehe Reemtsma 2008, 117.

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nimmt bei seiner Definition auf Kriegsverbrechen aus Südamerika und Asien Bezug, bei denen die Zerstückelung, Neuordnung und Ausstellung der Körper im Vordergrund stehen20 – eine Praktik, die sich im innerkolumbianischen Konflikt, wie noch erläutert werden soll, seit der Violencia etabliert hat. Gewalt ist, unabhängig von ihrer äußeren Erscheinungsform, auch in Hinblick auf ihre Motivation, ihren Handlungsraum oder das Verhältnis von Akteur und Adressat klassifiziert worden. Im Folgenden sollen Kategorien aus der Gewaltsoziologie eingeführt und erläutert werden, die sich zur Betrachtung des kolumbianischen Falls besonders eignen: Ein großer Teil der in Kolumbien verübten Gewalt wird als „politische Gewalt“ eingestuft.21 Die unterschiedlichen Formen politischer Gewalt ermittelt Michael Krennerich in Anlehnung an ihr jeweiliges Verhältnis zum Staat und betitelt sie folglich als zwischenstaatlich, staatlich, parastaatlich oder gegen­ staatlich.22 Die von den kolumbianischen Guerillagruppen ausgeübte Gewalt lässt sich in diesem Sinne als gegenstaatlich bezeichnen, die der Paramilitärs als parastaatlich und die des kolumbianischen Militärs als staatlich. Heidrun Zinecker führt zudem noch die Kategorien der extrastaatlichen, mafiotischen und deliquenziösen Gewalt auf, die sowohl politisch als auch kriminell motiviert sein kann.23 Diese Begriffe eignen sich zur Klassifizierung der Gewalt der kolumbianischen Drogenmafia und anderer krimineller Vereinigungen, z.B. die der berüchtigten Auftragskiller („sicarios“). Der Terminus „organisierte Gewalt“ bezieht sich, in Abgrenzung zur soge­nannten „privaten Gewalt“, auf die Herausbildung von staatlichen, para­ staatlichen oder gegenstaatlichen Organisationen, die ihre Ziele unter Einsatz von Gewalt durchzusetzen versuchen oder deren Selbstzweck die ziel­gerichtete Ausübung von Gewalt ist. Die organisierte Gewalt hat im Kontext des inner­ kolumbianischen Konflikts eine lange Tradition. Ihre Akteure (Guerilleros, Paramilitärs, staatliche Akteure oder Anhänger krimineller Vereinigungen) folgen politischen und/oder wirtschaftlichen Motiven und sind mit denen der politischen Gewalt beinahe identisch. Die „private Gewalt“ wird in Abgrenzung zur organisierten Gewalt als spontane, persönlich motivierte Gewalt verstanden. Krennerich zufolge verschwimmen in dieser Kategorie in besonderem Maße die Grenzen zwischen politischer und nicht politischer Gewalt, da sie aufgrund ihrer umfassenden Verbreitung als ‚alltäglich‘ wahrgenommen werde.24 Entgegen einer land­ 20 | Siehe Reemtsma 2008, 118. 21  | Siehe Krennerich 2000, 20. 22 | Siehe Krennerich 2000, 21ff. 23 | Vgl. Zinecker 1999, 14. Zitiert in: Krennerich 2000, 28f. 24 | Siehe Krennerich 2000, 20.

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läufigen Annahme, dass die Feuergefechte zwischen den Konfliktparteien die meisten Todesopfer in Kolumbien forderten, ist Statistiken zufolge die größte Zahl der Gewalttaten mit tödlichem Ausgang der privaten Gewalt zuzuordnen25 – eine These, deren Wahrheitsgehalt aufgrund der hohen Dunkelziffer schwer zu bestimmen ist. Im kolumbianischen Kontext wird häufig auch zwischen „ruraler Gewalt“ und „urbaner Gewalt“ unterschieden. Erstere bezeichnet in erster Linie die politisch motivierten Auseinandersetzungen und Vertreibungen durch die illegalen Konfliktparteien und dem staatlichen Militär in den ländlichen Regionen, letztere bezeichnet einerseits organisierte Gewalttaten durch eben diese Akteure im städtischen Raum (z.B. Bombenanschläge, Attentate oder Besetzungen), andererseits kann auch private Gewalt (z.B. Beschaffungs­ kriminalität) unter diese Bezeichnung fallen. Innerhalb der ruralen Gewalt nimmt die „Gewalt gegen ethnische Minderheiten“ eine Sonderrolle ein, da jene in besonderem Maße von Vertreibungen und Massakern betroffen sind. Innerhalb des Diskurses um die Gewalt in Kolumbien, der in den nach­ folgenden Kapiteln (II.1.1.2-II.1.1.4) unter Beachtung seines Bezugs zum Kino beleuchtet werden soll, liegt überwiegend ein direkter Gewaltbegriff vor, das heißt, im Zentrum der Betrachtungen steht meist die personale organisierte und politische Gewalt sowie die Frage nach deren Ursachen und Auswirkungen.

II.1.1.2 Ausgangspunkt und Bezug zum Kino Obwohl die Violencia der 1940er und 1950er Jahre nicht der erste bürger­ kriegsähnliche Gewaltausbruch in der kolumbianischen Geschichte ist – ihr gehen beispielsweise der „Krieg der Tausend Tage“26 oder die Arbeiter- und Gewerkschaftleraufstände der 1920er Jahre27 voraus – so gilt sie dennoch als 25 | Siehe Arias Trujillo 2007, 335. 26 | Orig.: „Guerra de los Mil Días“: Bürgerkrieg, der zwischen 1899 und 1902 zunächst im Norden Kolumbiens (einschließlich der damaligen Provinz Panama) beginnt und sich im ganzen Land ausbreitet. Als Auslöser gilt eine von der Liberalen Partei angefachte Rebellion gegen die von den Konservativen erzwungene Verfassungsänderung von 1886, die das föderalistische System abschafft und durch ein Zentralregime ersetzt. Angeheizt durch eine akute Wirtschaftskrise, die aus dem dramatischen Abfall des Kaffeepreises hervorgeht, beginnen die Provinzen unter Leitung der Liberalen gegen den Zentralstaat zu rebellieren. Rund 100.000 Menschen verlieren im „Krieg der Tausend Tage“ ihr Leben. 27 | Die kolumbianische Gewerkschaftsbewegung beginnt in den 1920er Jahren mit den Arbeiteraufständen der Bananenpflücker, Eisenbahner und den Erdölarbeitern von Barrancabermeja. Diese werden von bewaffneten Söldnern zur Sicherung der Privilegien der Oberschicht brutal niedergeschlagen. Das Massaker an streikenden Plantagen­a rbeitern der „United Fruit Company“ in Ciénaga, das weltweit für Empörung sorgt, bringt 1928 die Gewerkschafts­b ewegung vorläufig zum Erliegen.

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schwerwiegendste und folgenreichste Episode der kolumbianischen Gewalt­ geschichte. Was die Violencia von allen vorigen Konflikten unterscheidet, ist zum einen ihre schnelle und umfassende Ausbreitung sowie das Ausmaß und die Willkürlichkeit der Gewalt. Der zunächst regional begrenzte Interessen­ konflikt der beiden traditionellen Parteien (Liberale und Konservative) breitet sich nach dem sogenannten „Bogotazo“ – den bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die auf die Ermordung des liberalen Präsidentschaftskandidaten Gaitán am 9. April 1948 in Bogotá folgen – rasch im ganzen Land aus, und die Tötungs­praktiken nehmen beispiellose Formen an. In La violencia en Colombia28 (1962), der ersten umfassenden soziologischen Forschungsarbeit zur Epoche, fassen die Autoren ihre Eindrücke wie folgt zusammen: „Im Hergang der Gewalt ist die Art des Verbrechens durch eine fortschreitende Parabel hin zur Grausamkeit und zum Sadismus gekennzeichnet. Auf diesem Gebiet kann weder bezüglich der Urheber noch der Regionen verallgemeinert werden. […] Sie kastrieren, schänden Leichen, sie verbrennen Agenten, welche zuvor mit Benzin übergossen wurden, bei lebendigem Leibe […]. Sie stecken den Opfern die abgeschnittenen Organe in den Mund; die Frauen werden vergewaltigt und ermordet, und meint man, die blutige Sexualorgie habe die Höchstgrenze erreicht, dann kommt plötzlich diese spezielle Art der Todesbesessenheit auf, die das kolumbianische Verbrechen zu einem gesonderten, insularen Fall macht, fast einzigartig in der Geschichte des Verbrechens.“29

Die Epoche der Violencia ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der organisierten politischen Gewalt im heutigen Kolumbien, nicht, weil sie in unveränderter Form fortbestünde, sondern weil sie eine einschneidende Zäsur im geschichtlichen Verlauf und ein kollektives Trauma für die kolumbianische Nation darstellt.30 Da die wissenschaftliche und die künstlerische Auf­ 28 | Guzmán Campos, Germán/Fals Borda, Orlando/Umaña Luna, Eduardo: La violencia en Colombia: estudio de un proceso social. Bogotá: Punta de Lanza, 1977. 29 | Orig.: „En el proceso de la violencia la forma de crímen marca una parábola progresiva hacia la atrocidad y el sadismo. En este terreno no se puede generalizar ni sobre los autores ni sobre las regiones. […]. Emasculan, profanan cadáveres, queman vivos a agentes previamente rociados con gasolina […]. Los órganos cercenados los colocan en la boca de las víctimas; las mujeres son violentadas y asesinadas y cuando se piensa que la cruenta orgía sexual ha alcanzado límite, irrumpe el tipo de tanatomanía que hace del crímen colombiano un caso aparte, insular, casi único en la historia del crimen.“ Guzmán Campos/Fals Borda/ Umaña Luna 1977, 203f. 30 | Im foucaultschen Sinne könnte die Violencia als Ereignis bezeichnet werden, das die kolumbianische Geschichte in ein Vorher und ein Nachher spaltet, als ein „Schnitt­p unkt zwischen zwei Beständigkeiten, zwei Geschwindigkeiten, zwei Entwicklungen, zwei geschichtlichen Linien“. Foucault 2003, 730. Zitiert in: Ruoff 2007, 109.

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arbeitung der Violencia etwa zeitgleich und mit ähnlicher Intensität einsetzen, ist eine gegenseitige Wahrnehmung und Beeinflussung wahrscheinlich. Um beurteilen zu können, inwiefern historisch determinierte Lesarten des kolumbianischen Gewaltdiskurses in den Filmen wiedergegeben bzw. trans­ formiert werden, sollen im Folgenden der Verlauf des Diskurses skizziert und seine wichtigsten Positionen aufgezeigt werden, welche den exemplarischen Filmanalysen in Kapitel III als Referenzen dienen sollen.

II.1.1.3 Zentrale Konzepte und Positionen Die wissenschaftliche Diskussion um die Gewalt in Kolumbien ist maß­geblich von der Suche nach Gründen, Ursachen und Lösungsansätzen für den andauernden Kriegszustand im Land geprägt. Mónica Zuleta erstellt in ihrem Artikel La violencia en Colombia: avatares de la construcción de un objeto de estudio (2006) ein Chronogramm der wissenschaftlichen Aufarbeitung der klassischen Periode31 der Violencia, welches die Bandbreite der Interpretationen der Autoren veranschaulicht: Das bereits zitierte Werk La violencia en Colombia ist ihr zufolge nicht die erste Veröffentlichung zum Thema, stellt aber den ersten Versuch einer „objektiven Studie“ dar, die „den Prozess aus historisch-politischer und empirischer Perspektive zur Abschreckung gegenwärtiger und zukünftiger Generationen von Kolumbianern analysieren soll“32 . Interessanterweise handelt es sich bei La violencia en Colombia um eine Auftragsarbeit des Militärregimes von Gustavo Rojas Pinilla, welche der Diktator im Anschluss an die Gründung der „Comisión Nacional de Investigación de las Causas Actuales de la Violencia“33 im Jahre 1958 der neu gegründeten soziologischen Fakultät der Universidad Nacional überträgt34. Neben dem Ziel, die Erinnerung an die historischen Ereignisse aufrechtzuerhalten, zeichnet sich das Werk durch seinen therapeutischen Ansatz aus: Mittels der Erarbeitung einer detaillierten Diagnostik versucht es, Wege zur Heilung der historischen Wunde aufzuzeigen.35 Die Bilanz, welche die Autoren bezüglich der Frage nach der Verantwortlichkeit für die Violencia ziehen, ist angesichts der zeitlichen Nähe zu den traumatischen Ereignissen überraschend eindeutig: alle Kolumbianer seien schuldig, denn „durch Aktion 31 | Die Autorin setzt diese Periode auf die Jahre zwischen 1946 und 1964 fest; die von ihr herangezogenen Veröffentlichungen decken eine Zeitspanne von 1950 bis 1985 ab. Siehe Zuleta 2006, 56. 32 | Orig.: „estudio objetivo […] que analizará el proceso desde una perspectiva histórico-­ política y empírica para escarmiento de las presentes y futuras generaciones de colombianos“. Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna 1980, 16. Zitiert in: Zuleta 2006, 57. 33 | Dt.: „Nationale Kommission zur Erforschung der gegenwärtigen Ursachen der Violencia“. 34 | Siehe Zuleta 2006, 57. 35 | Siehe Zuleta 2006, 57.

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oder Enthaltung tragen sie die Verantwortung für das Geschehene, und daher müssen sich alle an der Aufgabe beteiligen, das Übel wiedergutzumachen.“36 Parallel zur empirischen Feldforschung der Soziologen wird von Polito­ logen und Ökonomen die Überlegung angestellt, ob die Violencia der 1940er und 1950er Jahre aus einschneidenden politischen Veränderungen auf nationaler und internationaler Ebene resultiere. Das Modell, das Vernon L. Fluharty37 und Antonio García38 in ihren Texten entwerfen, begründet den Ausbruch der Violencia mit einem Wechsel vom feudalen Herrschaftssystem hin zu einer sozialistischen „Ordnung der Mestizen“39: die alten Eliten, vertreten durch die Konservativen, versuchten ihre Privilegien unter dem Primat der „modernen Demokratie“ aufrechtzuerhalten, während die Liberalen, begünstigt durch den Einfluss der russischen Revolution, in den 1930er Jahren nach einem halben Jahrhundert konservativer Hegemonie die Macht übernahmen.40 Die Welle der sogenannten „Revolución en Marcha“41 und die hohe Popularität des radikalen Liberalismus von Jorge Eliécer Gaitán lösten, laut Fluharty, in Verbindung mit der Gründung kommunistischer Parteien in den 1920er Jahren heftige Reaktionen unter den Ultrakonservativen und Rechten aus. Die Bevölkerung sei, aufgestachelt durch die beiden großen Parteien, in zwei Lager gespalten worden, die sich gegenseitig bekriegten.42 In diesem Zusammenhang wird die Violencia in der Fachliteratur als Klassenkampf diskutiert, als Krieg zwischen der entrechteten Landbevölkerung und den regierenden Oligarchien.43 Für die Bauern, die während der Violencia an Zusammenhalt und Stärke gewinnen und erstmals als bedeutender Teil der Nation wahrgenommen werden, habe der Konflikt, Zuleta zufolge, durchaus soziale Verbesserungen mit sich gebracht.44 Ihr Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, für den sie in Gaitán und der liberalen Partei eine politische Vertretung finden, wird in den frühen theoretischen Studien jedoch meist als Auslöser der Violencia 36 | Orig.: „por acción o por omisión tenían responsabilidad en lo sucedido y, todos, entonces, tenían que ponerse en la tarea de reparar el mal“. Zuleta 2006, 57.

37 | Fluharty, Vernon Lee: La danza de los milliones: Régimen militar y revolución social en Colombia (1930-1956). Bogotá: Ancora Editores, 1957. 38 | García, Antonio: Gaitán y el problema de la revolución colombiana. Bogotá: Movimiento Socialista Colombiano, 1955. 39 | Orig.: „orden de mestizos“. Zuleta 2006, 57. 40 | Siehe Zuleta 2006, 58. 41  | Dt.: „Revolution in Bewegung“: so bezeichneten die Liberalen den Beginn der demokratischen Politik, der mit ihrer ersten Regierungsperiode im 20. Jahrhundert (1934-1938) einsetzt. 42 | Siehe Zuleta 2006, 59. 43 | Siehe Zuleta 2006, 58. 44 | Siehe Zuleta 2006, 59.

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betrachtet, den revolutionsträchtigen Bauern wird so indirekt die Schuld am Krieg gegeben. Die Ambivalenz in der Wahrnehmung der Violencia – einerseits als gewalttätige Reaktion, andererseits als Ausdruck von Befreiung – spiegelt sich in vielen Filmen wider: In Canaguaro (1981) werden die sozialen Missstände der Landbevölkerung offengelegt, welche sich gegen die Unterdrückung durch die Herrschenden zu verteidigen beginnt. In Cóndores no entierran todos los días (1984) oder Técnicas de duelo (1988) wird der politische Standpunkt der Regisseure zwar weniger deutlich, die Ungerechtigkeiten des konservativen Macht­ monopols, das unter anderem aus der Verbündung mit dem staatlichen Militär resultiert, werden jedoch ebenfalls aufgezeigt und das aufständische Verhalten der Bauern somit gerechtfertigt. In den 1970er Jahren findet ein grundlegender Wandel in der Erklärung der Violencia statt: Die bewaffneten Gruppen werden nun nicht mehr als Auslöser der Gewalt angesehen, sondern als deren Konsequenz.45 Zuleta zufolge führt die neue Betrachtungsweise zu einer Entmachtung der Soziologie, deren Methoden als handwerklich empfunden werden, zugunsten einer Aufwertung der Geschichts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften, deren Theorien als wissenschaftlicher wahrgenommen werden.46 Die neuen Experten gehen von einer zu Grunde liegenden Logik aus, die den sich bekriegenden Kräften inhärent sei und die sie durch das Erstellen einer theoretischen Ordnung zwischen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elementen zu ermitteln versuchen.47 Der therapeutische Ansatz der Soziologen, der eine Erleichterung für die Opfer anstrebt, geht in dieser neuen Betrachtungsweise verloren. Von den Veröffentlichungen, die aus diesem neuen Untersuchungsmodus hervorgehen, ist Colombia, violencia y subdesarrollo (1968) von Francisco Posada Díaz hervorzuheben. Er entwickelt darin eine Theorie, die den Beginn des modernen Kapitalismus in Kolumbien für die Violencia verantwortlich macht. Das Wirtschaftssystem der kolumbianischen Kleinbauern sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Gesetzen des globalen kapitalistischen Marktes konfrontiert worden, ohne dass die Gesellschaft für diesen Wandel bereit gewesen sei.48 Der sozialdemokratischen Strömung sei so eine semifeudale Kraft – der kapitalistische Neokolonialismus – entgegengetreten, was den Ausbruch der Violencia zur Folge gehabt habe.49 Posada Díaz‘ Theorie über den Zusammenhang von Wirtschaftsinteressen und Gewalt ist nicht nur für die Erklärung der Violencia, sondern auch für spätere Phasen des innerkolumbianischen Konflikts 45 | Siehe Zuleta 2006, 60. 46 | Siehe Zuleta 2006, 60. 47 | Siehe Zuleta 2006, 60. 48 | Siehe Posada Díaz 1969, 38. 49 | Siehe Posada Díaz 1969, 168.

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bedeutsam: die anhaltenden Vertreibungen und Massaker im Zusammenhang mit dem Drogengeschäft, der Errichtung ertragreicher Monokulturen oder der Ansiedlung multinationaler Bergbaukonzerne sind Beispiele, in denen sich jener Zusammenhang manifestiert.50 Auch in den kolumbianischen Filmen geht es häufig um wirtschaftlich motivierte Gewalt. Zwar werden die ökonomischen Machtstrukturen hinter den gewalttätigen Auseinandersetzungen selten in der Tiefe beleuchtet51, jedoch ist das ‚schnelle Geld‘, welches aus illegalen Geschäften stammt, ein häufiges Handlungsmotiv der Figuren.52 Posada Díaz‘ Theorie hat thematische und methodologische Konsequenzen für die kolumbianische Gewaltforschung: Zum einen prägt der Autor durch seine Annahme, die kolumbianische Gesellschaft sei den Heraus­ forderungen eines modernen, kapitalistischen Staates nicht gewachsen, den Begriff der „Unterentwicklung“, der fortan bedeutsam für die Einordnung des Landes im internationalen Vergleich wird53, zum anderen wird sein Werk wegbereitend für die sogenannte „kalte Analyse“ der Violencia, welche sich durch eine neue Perspektive, den sogenannten „teleskopischen Blick“ – im Gegensatz zum „mikroskopischen Blick“ der Feldforschung – auszeichnet.54 Mit den Veröffentlichungen von Paul Oquist55 und Daniel Pécaut 56, unter anderen, wird das Konzept des „fehlenden Staates“ zum neuen Primat für die Erklärung der Gewalt. Die Violencia wird als Moment des gesellschaftlichen Chaos verstanden, welches die gewaltsame Durchsetzung von individuellen Interessen ermöglicht, weil eine regulierende Kraft ‚von oben‘ fehle.57 Oquist vertritt diesbezüglich die Meinung, der einstmals starke kolumbianische Staat habe seit den 1920er Jahren, als die sozialen Bewegungen aufkamen, sukzessiv an Macht verloren und diese während des Parteienkonflikts, der ihn zusätzlich 50 | Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 118ff. 51  | Ansatzweise geschieht dies in Sumas y restas (Addictions and Subtractions. Víctor Gaviria, 2004, Kolumbien/Spanien) und in La toma de la embajada (2000).

52 | Auch César Augusto Tapias Hernández vertritt diese These: in seinem Artikel „…la plata es lo que nos da la moral“ stellt er anhand der Filme Satanás (Satan. Andrés Baiz, 2007, Kolumbien/Mexiko), Soñar no cuesta nada, Bluff (Felipe Martínez, 2007, Kolumbien) und Sumas y restas dar, wie das Verlangen nach schnellem Reichtum die Handlungen der Protagonisten steuert und alle Mittel rechtfertigt. Vgl. Tapias Hernández 2007, 93ff. 53 | Siehe Zuleta 2006, 61. 54 | Siehe Zuleta 2006, 61. 55 | Oquist, Paul: Violencia, conflicto y política en Colombia. Bogotá: Instituto de Estudios Colombianos, 1978. 56 | Pécaut, Daniel: Orden y Violencia: Colombia 1930-1954. Vol. I und II. Bogotá: Siglo Veintiuno Editores, 1987. 57 | Zuleta zufolge wird diese Meinung von beinahe allen Violencia-Forschern geteilt. Siehe Zuleta 2006, 61.

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schwächte, gänzlich an die streitenden Gruppen abgetreten.58 Pécaut hingegen ist der Auffassung, eine kolumbianische Staatsgewalt habe niemals existiert,59 vielmehr sei die temporär einsetzende demokratische Ordnung, die die Liberalen mit dem Präsidenten Alfonso López Pumarejo (1934-1938) und später mit Gaitán zu etablieren versuchten, durch die traditionellen Macht­haber gewaltsam niedergedrückt worden.60 Pécaut gibt folglich den konservativen Demokratisierungs­gegnern – nicht den Bauern – die Schuld am Ausbruch der Violencia. Verbreitet ist auch die These, der Wegfall einer regulierenden Staats­ macht habe archaische Triebe in der Bevölkerung freigesetzt und so das blutige Gemetzel ermöglicht.61 Die Hypothese über das Fehlen einer staatlichen Autorität spiegelt sich in kolumbianischen Filmen aller Schaffensphasen wider. Insbesondere wird dies in Hinblick auf die Darstellung des kolumbianischen Militärs als Repräsentant der Staatsmacht deutlich: In Soñar no cuesta nada 62 (Rodrigo Triana, 2006, Argentinien/Kolumbien) oder Retratos en un mar de mentiras werden die Soldaten als provinzlerische Kleingeister dargestellt und durch ihr unqualifiziertes Verhalten ins Lächerliche gezogen.63 In keinem der Filme werden die Taten oder Leistungen von Politikern oder Staatsdienern – mit Ausnahme Gaitáns – positiv hervorgehoben. Unter dem Einfluss der marxistischen Dialektik und der weitläufigen Rezeption von Eric Hobsbawms Studie Primitive Rebels 64 über die Rebellion der europäischen Bauern gegen den Kapitalismus kommt die kolumbianische Gewalt­forschung zu dem Schluss, die Violencia als nachträgliche Folge des Kampfes um Grund und Boden zu interpretieren, der seine Wurzeln bereits im 16. Jahrhundert hat.65 Die Erfolge dieses Kampfes, der in Kolumbien von Seiten der Bauern erst im 20. Jahrhundert offensiv geführt wird, seien zunächst der guten Organisation der Bauernschaft zu verdanken, wie sie beispielsweise im „Krieg der Tausend Tage“ evident werde. Die Violencia der 1950er Jahre sei hingegen Ausdruck des Zerfalls dieser Bauernschaft, da sich ihre Mitglieder untereinander zu bekriegen beginnen.66 In Anlehnung daran begreift Gonzalo 58 | Siehe Oquist 1978, 45ff. 59 | Siehe Pécaut 1987, 8. 60 | Siehe Pécaut 1987, 17. 61 | Siehe Zuleta 2006, 61. 62 | A Ton of Luck. 63 | In Soñar no cuesta nada werden die Soldaten als korrupt und primitiv dargestellt, da sie sich am Geld der Guerilla bereichern und das „schmutzige Geld“ in Luxusartikel, Alkohol und Prostitution investieren. Zur Zeichnung der Militärs in Retratos en un mar de mentiras siehe Kapitel III.4.3.2. 64 | Hobsbawm, Eric: Primitive Rebels. New York/London: WW Norton, 1965. 65 | Siehe Zuleta 2006, 62f. 66 | Siehe Zuleta 2006, 63.

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Sánchez Geschichte nicht als linear aufeinanderfolgende Ereignisse, sondern als elliptisch wiederkehrende Abläufe: die kolumbianischen Gewaltwellen der 1920er und 1970er Jahre sowie die der 1930er und 1980er Jahre wiesen signifikante Parallelen auf.67 Die „violencias“ wiederholten sich zyklisch in gesteigerter Intensität, weil die ihnen zugrunde liegenden Probleme ungelöst blieben und sich über die Jahre hinweg potenzierten.68 Als der Territorialkrieg der ländlichen Guerillas in den 1980er Jahren durch den Einstieg ins Drogengeschäft eine neue Dimension annimmt, erfahren die Guerilla-Gruppen eine starke gesellschaftliche Abwertung. Die politischen und sozialen Ambitionen des bewaffneten Kampfes werden den Bauern aberkannt und ihre Motivation auf wirtschaftliche Interessen reduziert. Die Guerilla erlangt so erstmals in ihrer Geschichte den Status einer kriminellen, terroristischen Vereinigung.69 In den 1990er Jahren halten hermeneutische und humanistische Strömungen Einzug in die Violencia-Forschung. Die „Comisión de Estudios de la Violencia“70, eine staatliche Initiative zur Konstatierung der Gewaltsituation in Kolumbien, veröffentlicht 1987 den Bericht Colombia: violencia y democracia71, der die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 als Messlatte für die Bewertung der Gewalt im Land zu Grunde legt.72 In diesem Bericht wird erstmals von einer „Pluralität der violencias“73 gesprochen, deren unterschiedliche Erscheinungsformen klassifiziert werden. Der Begriff der „violencias“ im Plural, der fortan zur Bezeichnung der Gewaltphänomene gebräuchlich wird, spielt auf die Verschiedenartigkeit und Wandelbarkeit derselben an.74 Die Feststellung, dass sich die Gewalt in Kolumbien durch alle regionalen, sozialen und gesellschaftlichen Bereiche zieht, verleitet die Autoren der Forschungskommission darüber hinaus zur Formulierung einer streitbaren These: in Kolumbien existiere eine „Gewaltkultur“, und der Hang zur Gewalt sei eine kolumbianische Eigenschaft.75 Diese Annahme bildet die Grundlage für eine neue, nicht minder streitbare Lesart der kolumbianischen Gewaltgeschichte, nämlich als einer „Geschichte der Barbarei“ aus der Sicht einer „zivilisierten Welt“, welche sich durch ihre Berufung auf das internationale Menschenrecht 67 | Siehe Sánchez 1991, 219. 68 | Siehe Sánchez 1991, 219. 69 | Siehe Zuleta 2006, 63. 70 | Dt.: „Kommission der Violencia-Forschung“. 71  | Arocha, Jaime/Sánchez Gómez, Gonzalo: Colombia: violencia y democracia. Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, 1987. 72 | Siehe Zuleta 2006, 64. 73 | Orig.: „pluralidad de violencias“. 74 | Vgl. Rojas 2002, xxiii. 75 | Siehe Zuleta 2006, 64.

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legitimiert.76 Der Nichtbeachtung der historischen Ursachen für die Gewalt zum Trotz ist sie in der Fachliteratur verbreitet und auch durch eindrückliche Titel untermauert worden: Antropología de la inhumanidad (dt.: „Anthropologie der Unmenschlichkeit“) von María Victoria Uribe (2004) oder No nacimos pa’ semilla (dt. etwa: „Wir sind zum Sterben geboren“) von Alonso Salazar (1991) sind Beispiele hierfür. Die Frage nach der Existenz einer „Gewaltkultur“ mag angesichts der umfassenden Verbreitung der Gewalt berechtigt erscheinen. Wenn jedoch keine Verbindung zwischen der Gewalt und ihren historischen Ursachen hergestellt wird, ist dies problematisch: die Gewalt tritt dann als Primär­phänomen in Erscheinung, als „Naturgewalt“, für die es keine andere Erklärung als ihre eigene ‚Natur‘ gibt. Aus Augenzeugenberichten von Massakern und Vertreibungen geht hervor, dass die Opfer dazu tendieren, die Gewalt zu personifizieren. Aussagen wie „La Violencia killed my family“77 oder „La Violencia took my land“78 sind Beispiele hierfür. Cristina Rojas vertritt die These, dass die Violencia in der Wahrnehmung der kolumbianischen Bevölkerung die Gestalt eines aktiven Täters angenommen habe: „Violence has taken on an identity of its own, turning itself into an actor: la violencia is represented as an overwhelming subject capable of causing painful and devastating events.“79 Neben der Personifi­zierung der Gewalt ist auch die ausweichende Darstellung der Schuld eine Taktik, um die Urheberschaft der Gewalt zu verschleiern80. Diese Erzähl­konvention findet sich in vielen Filmen und auch in der Literatur wieder. Rojas führt als Beispiel Gabriel García Márquez Roman La mala hora81 von 1962 an, in dem er die Schuldigen wie folgt benennt: „It’s the whole town and it isn’t anybody.“82 Die Gleichzeitigkeit von Leugnung und Verallgemeinerung der Schuld – eine Haltung, die Restrepo zufolge auch bei der Aufklärung von Nazi-Verbrechen eingenommen wird 83 – hält die Schuldigen anonym und verhindert deren strafrechtliche Verfolgung. Alejandro Castillejo liefert eine einleuchtende Erklärung für die Zurückhaltung der Kolumbianer bei der Benennung der Ver76 | Siehe Zuleta 2006, 64. 77  | Unbekannter Autor, zitiert in: Rojas 2002, xxiii. 78 | Unbekannter Autor, zitiert in: Rojas 2002, xxiii. 79 | Rojas 2002, xxiii. 80 | Überlebende von Massakern beschreiben die Täter häufig als „Uniformierte“, die sie keiner der Konfliktparteien zuordnen können oder wollen. 81 | Rojas zitiert hier aus der englischsprachigen Version des Buches, The Evil Hour. In Deutschland ist der Roman unter den Titeln Unter dem Stern des Bösen und Die böse Stunde veröffentlicht worden. 82 | Gabriel García Márquez The Evil Hour, zitiert in: Rojas 2002, xxiii. 83 | Vgl. Giorgio Agamben: Lo que queda de Auschwitz. El archivo y el testigo. Valencia, 2000, 99. Zitiert in: Restrepo J.A. 2006, 15.

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antwortlichkeit: „Kolumbien ist ein Territorium, in dem das Schweigen zum Allgemeinzustand geworden ist. Das Zum-Schweigen-­Bringen ist eine militärische Strategie und das Schweigen eine Überlebens­taktik.“84 Neben der Suche nach Erklärungen für die Ursachen und Gründe der Gewalt in Kolumbien ist die Diskussion um deren Terminologisierung ein wichtiger Bestandteil des Gewaltdiskurses. Die Rhetorik, die von Wissenschaftlern, Politikern oder Journalisten zur Bezeichnung des Konflikts und seiner Akteure angewandt wird, ist zur Ermittlung zentraler Deutungs- und Bewertungs­ansätze sehr aussagekräftig. Die Bezeichnung „Violencia“ als Metapher für das bis dahin unübertroffene Ausmaß an personaler Gewalt im Konflikt der 1940er und 1950er Jahre wird in der Fachliteratur sehr einheitlich verwendet, die Begrifflichkeiten zur Benennung späterer Gewaltwellen variieren jedoch stark. Während die von militärischen Auseinandersetzungen betroffene Landbevölkerung schlicht von „Krieg“85 spricht, versuchen Politiker und Journalisten, neutralere – in Castillejos Augen beschönigende86 – Begriffe zu finden. Der gebräuchlichste Terminus zur Benennung des militärischen Konflikts zwischen staatlichem Militär, Guerillas und Paramilitärs lautet „bewaffneter Konflikt“87. Häufig wird dieser Terminus synonym zu „landesinterner Konflikt“ bzw. „innerkolumbianischer Konflikt“88 gebraucht, obwohl diese auch die organisierte Gewalt anderer bewaffneter Akteure – z.B. die der Drogen­mafia – mit einschließen können, da vielfältige Verbindungen zwischen den Gruppierungen bestehen. In jüngster Zeit wird im kolumbianischen Regierungs­diskurs zwischen dem „bewaffneten Konflikt“ als Auseinandersetzung zwischen Guerillas und staatlichen Sicherheitskräften und der sogenannten „organisierten Kriminalität“ durch „kriminelle Banden“89 unterschieden.90 Im Gegensatz zu Formulierungen wie „revolutionärer Kampf“91, wie die Guerillas FARC-EP und ELN ihr militärisches Engagement bezeichnen, oder 84 | Orig.: „Colombia es un territorio donde se vive un estado generalizado de silencio. Silenciar es una estrategia militar, y el silencio una táctica de supervivencia.“ Castillejo Cuéllar 2000, 17. 85 | Orig.: „Guerra“. Siehe Castillejo Cuéllar 2000, 16. 86 | Vgl. Castillejo Cuéllar 2002, 16. 87  | Orig.: „conflicto armado“. Z.B. in: Medina Gallego, Carlos: Conflicto armado y proceso de paz en Colombia. Memoria casos FARC-EP y ELN. Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, 2009. 88 | Orig.: „conflicto interno en Colombia“. Siehe Castillejo Cuéllar 2000, 16. 89 | Orig.: „bandas criminales“ (BACRIM). 90 | Diese Unterscheidung hat vielfältige politische Hintergründe, auf die in Kapitel III.4.1 näher eingegangen wird. 91 | Orig.: „lucha revolucionaria“.

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„gesellschaftliche Säuberung“92, wie rechtsgerichtete Paramilitärs ihre Morde an Andersdenkenden betiteln,93 erwecken Formulierungen wie „landes­interner Konflikt“ oder „innerkolumbianischer Konflikt“ den Anschein von politischer Neutralität. Hinsichtlich der Begrenztheit des Konflikts auf das nationale Territorium und des Fehlens klarer innerer Fronten sind die Begriffe durchaus praktikabel, sie lenken jedoch vom politischen Charakter des Konflikts ab. Pararallel zur Bezeichnung des Konflikts werden auch seine Akteure häufig neutral mit dem Terminus „Akteure des Konflikts“94 umschrieben. In Anbe­tracht dessen, dass die Konfliktparteien ihre Männer (im Fall der Guerilla auch Frauen) überwiegend aus den untersten sozialen Schichten rekrutieren und die Truppenzugehörigkeit aufgrund des finanziellen Anreizes95 recht willkürlich sein kann,96 erscheint auch dieser Begriff sinngemäß. Filme wie Golpe de estadio 97 (Sergio Cabrera, 1998, Spanien/Italien/Kolumbien) oder Los actores del conflicto 98 (Lisandro Duque, 2008, Kolumbien/Venezuela) thematisieren die Entpolitisierung der Kriegsakteure und verdeutlichen, dass Vertreter oppositioneller Gruppen außerhalb des Gefechts nicht unbedingt Feinde sein müssen.99

92 | Orig.: „limpieza social“. 93 | Von Paramilitärs ausgeführte „gesellschaftliche Säuberungen“ beginnen in den 1980er Jahren in den Randbezirken kolumbianischer Großstädte, wo Todes­s chwadronen unter Decknamen wie „Terminator“, „KanKil“ oder „Mano Negra“ die „gesellschaftlich Unerwünschten“ töten. Siehe Castaño H. 1994, 11f. 94 | Orig.: „los actores del conflicto“. 95 | Ein paramilitärischer Söldner bezieht 1998 rund 400 Dollar monatlich (Vargas Meza 1998, 26. Zitiert in: Fischer/Cubides C. 2000, 123). Dies entspricht beinahe dem Vierfachen des gesetzlich geltenden Mindestlohns für das betreffende Jahr (203.825 Kolumbianische Pesos = 104,96 US-Dollar). Guerilleros bekommen keinen Sold, dafür aber Kost und Logis (inklusive Genussmittel) sowie medizinische Versorgung. Quellen: http://www.gerencie. com/historico-del-salario-minimo-y-del-auxilio-de-transporte-­en-colombia.html; http://fxtop. com/de/historische-wechselkurse.php 96 | Der Eintritt in die bewaffneten Gruppen erfolgt nicht immer aus politischer Überzeugung: in ländlichen Regionen werden Heranwachsende gewaltsam rekrutiert (vgl. dazu den Animations-Dokumentarfilm Pequeñas voces); manche Kämpfer laufen aus ökonomischen Motiven zur oppositionellen Gruppe über (vgl. Fischer/Cubides C. 2000, 123). Wie aus Dokumentarfilmen wie Vencer o morir (dt.: „Siegen oder sterben“. Jorge Enrique Botero, 2011, Kolumbien/Venezuela) oder Guerrilla Girl (Frank Piasechi Poulsen, 2005, Dänemark) hervorgeht, verfügen die FARC jedoch nach wie vor über politisch überzeugte Kämpfer. 97 | Time Out. 98 | Dt.: „Die Akteure des Konflikts“. 99 | Los actores del conflicto handelt von einer jungen Guerillakämpferin, die sich in ein Entführungsopfer verliebt und schließlich den bewaffneten Kampf, von dem sie anfänglich

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Die Tatsache, dass sich Truppen von Kolumbianern auf ihrem eigenen Territorium bekriegen, hat fälschlicherweise zur Einstufung des bewaffneten Konflikts als „Bürgerkrieg“ geführt. Da die Konfrontation jedoch nicht aus einer kulturellen, religiösen oder gesellschaftlichen Spaltung der Bevölkerung resultiert, kann er im klassischen Sinne nicht als solcher angesehen werden.100 In Abgrenzung zum Begriff des Bürgerkriegs führt Daniel Pécaut, angesichts der zunehmenden Kriegsverdrossenheit der Bevölkerung und des Popularitäts­verlustes der bewaffneten Gruppen, den Terminus „Krieg gegen die Gesellschaft“101 ein: ein Krieg, der gegen die Bevölkerung gerichtet ist, anstatt von dieser auszugehen.102 Einerseits erscheint diese Bezeichnung zutreffend, da sie die Ziel- und Sinnlosigkeit der Gewalt unterstreicht. Andererseits legt sie irreführenderweise nahe, dass die Bevölkerung ausschließlich Leidtragende des Konfliktes sei, nicht aber gleichzeitig dessen Urheberin. Eine weitere von Pécaut geprägte Bezeichnung der kolumbianischen Situation ist der Begriff der „generalisierten Gewalt“103. Dieser hebt den Aspekt hervor, dass sich die Gewalt verselbstständigt hat und zum permanenten Zustand geworden ist. Wie auch der Terminus „Krieg gegen die Gesellschaft“ verdeckt er jedoch die Ursachen und Urheberschaft der Gewalt. Neben physischer Gewalt, um die der Diskurs primär kreist, ist auch psychische Gewalt im innerkolumbianischen Konflikt weit verbreitet. Unter diese Kategorie fallen beispielsweise die Androhung und Ankündigung von Morden, Vertreibungen oder Massakern, die einer psychischen Folter vor dem Vollzug des physischen Gewaltakts gleichkommen.104 Für die Psychologin Bertha Lucía Castaño ist die Praktik des des „Verschwinden-Lassens“ der gravierendste Akt der psychischen Folter: „Im Falle der Familienangehörigen von Verschwundenen ist die Folter chronisch, sie begleitet die Person und deren Gruppe ihr ganzes Leben lang, die Spur, die sie hinterlässt, ist unauslöschlich, denn immer

überzeugt scheint, gegen eine Liebesbeziehung und ein ‚normales‘ Leben in der Stadt eintauscht. Zu Golpe de estadio vgl. Kapitel III.3.3.1. 100  | Vgl. Posada Carbó, Eduardo: Guerra civil? El lenguaje del conflicto en Colombia. Bogotá: Alfaomega Colombiana, 2001. 101 | Orig.: „guerra contra la sociedad“. Vgl. Pécaut, Daniel: Guerra contra la sociedad. Bogotá: Espasa, 2001. 102  | Auch Cecilia Castro Lee deutet die Violencia als „Bewegung gegen die Gesellschaft“ (orig.: „antimovimiento social“), im Gegensatz zur mexikanischen Revolution, die allgemein als Bewegung für das Volk angesehen wird. Siehe Castro Lee 2005, 12. 103  | Orig.: „violencia generalizada“. Pécaut 2001, zitiert in: Suárez 2010, 31. 104  | Vgl. Castaño H. 1994, 66ff (Kapitel 5: „Más allá de la tortura física“).

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wird die Ungewissheit darüber bleiben, was mit der verschwundenen Person geschehen ist.“105 In Filmen wird psychische Gewalt oft zum Element der Spannungs­ erzeugung, wie im Falle des Thrillers Saluda al Diablo de mi parte 106 (Juan Felipe Orozco, 2011, Kolumbien/Mexiko/USA)107. Seit 2003 nimmt auch die Zahl der Filme zu, die die psychische Gewalt in den Vordergrund stellen, indem sie den Zuschauer in psychische Traumata der Opfer einfühlen.108 Nach den Vorfällen des 11. September wird der innerkolumbianische Konflikt häufig im Kontext der Debatte um den internationalen Terrorismus diskutiert.109 Viele Wissenschaftler sehen in 9/11 den Ausgangspunkt für einen grundlegenden Wandel in kolumbianischen Regierungsdiskursen. Seit dem Amtsantritt von Álvaro Uribe (2002) sei im Bezug auf die Guerilla-Gruppen nicht mehr von Rebellen, sondern von Terroristen die Rede.110 Diese These unterliegt jedoch einem Irrtum, denn schon zuvor sind kolumbianische Konflikt­parteien von den Regierungen als „Terroristen“ bezeichnet worden: 1988 taucht der Terminus zum ersten Mal im Kontext der Aktivitäten des Medellín-Kartells in Regierungsdiskursen auf.111 Obwohl den FARC und der ELN bereits seit Mitte der 1980er Jahre Verbindungen zum Drogenhandel nachgewiesen werden können, sieht die Regierung Betancur (1982-1986) zu diesem Zeitpunkt von dieser Rhetorik ab, um die laufenden Friedensverhandlungen mit der Guerilla nicht zu gefährden.112 Erst die Regierung Gaviria (1990-1994) bricht nach der Einstellung des Friedensdialogs mit dieser Haltung und bezichtigt die Guerilla offiziell „terroristischer Aktivitäten“ bzw. „terroristischer Attacken“, die sich z.B. in Form von Entführungen oder Überfällen auf Bauern, Minderjährige, Militär und Polizei manifestierten.113 Während neuer Friedens­verhandlungen mit den FARC (Regierung Pastrana, 105  | Orig.: „En el caso de los familiares de desaperecidos, la tortura es crónica, acompaña a la persona y al grupo durante toda la vida, la huella que deja es imborrable ya que siempre existirá la incertidumbre por saber que pasó con la persona desaparecida.“ Castaño H. 1994, 69. 106  | Greetings to the Devil. 107 | In diesem Film wird ein ehemaliger Guerillero von einem früheren Entführungs­o pfer unter Androhung des Mordes an seiner Tochter erpresst. Die Ungewissheit über den Verbleib seines Kindes – die psychische Folter – treibt den Protagonisten zu un- und über­m enschlichen Taten an, für die er im Wettlauf gegen die Zeit sein Leben lässt. 108  | Vgl. Kapitel III.4.3. 109  | Siehe von Dungen 2011, 349. 110 | Siehe von Dungen 2011, 349. 111 | Siehe von Dungen 2011, 352. 112  | Siehe von Dungen 2011, 353. 113 | Siehe von Dungen 2011, 353.

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1998-2002) und den Demobilisierungs­verhandlungen mit dem paramilitärischen Dachverband AUC (Regierung Uribe, 2002-2010) wird der Begriff wieder zurück­genommen bzw. abgeschwächt.114 In Hinblick auf die Gründe der zyklisch wieder­kehrenden, punktuellen Verschärfung oder Entschärfung der Terrorismusdebatte ist innenpolitischen Faktoren also ein weitaus größeres Gewicht beizumessen als global diskutierten Ereignissen wie dem 11. September.115 Nichts desto trotz ist ein bewusster Umgang kolumbianischer Regierungen mit der global geführten Terrorismusdebatte erkennbar: Die Regierung Pastrana beruft sich auf den vom UN-Sicherheitsrat nach dem 11. September legitimierten Kampf gegen den internationalen Terrorismus, um „[...] die trans­ nationale Dimension des kolumbianischen Konflikts und die gemeinsame Verantwortung der Staatengemeinschaft zu betonen“116. Die Regierung Uribe geht noch einen Schritt weiter, indem sie den Terrorismusdiskurs heranzieht, um ihren harten militärischen Kurs gegen die FARC zu legitimieren und gleichzeitig um die Solidarität der Staatengemeinschaft im Kampf gegen den „Guerilla-Terror“ zu werben.117 Uribe leugnet die Existenz eines politischen Konflikts in Kolumbien und bezeichnet den Kampf der Guerilla in Anlehnung an 9/11 als „Terrorismus gegen die Zivilbevölkerung“118. Zudem erfährt der Begriff des „Drogenterrorismus“119, der in den 1990er Jahren auf die Gewalt der Drogenkartelle angewendet worden war, unter Uribe eine Renaissance als Bezeichnung für die Guerilla, deren Zielsetzungen so semantisch mit denen der Drogenbosse gleichgesetzt und entsprechend entpolitisiert werden.120 Abschließend soll auf eine weitere Linie in der kolumbianischen Gewalt­ forschung hingewiesen werden, die das Phänomen aus anthropologischen, philosophischen, kunst- oder kulturwissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet. Diese Untersuchungen konzentrieren sich auf die Offenlegung der symbolischen, metaphorischen oder ästhetischen Dimension der Gewalt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Veröffentlichungen von Alejandro Castillejo Cuéllar, Elsa Blair und José Alejandro Restrepo.121 Die 114 | Siehe von Dungen 2011, 352-360. 115 | Siehe von Dungen 2011, 360. 116 | Von Dungen 2011, 355. 117  | Siehe von Dungen 2011, 357. 118 | Álvaro Uribe bei einer Rede vor der Iberoamerikanischen Ministerversammlung am 22.11.2002. Zitiert in: von Dungen 2011, 357. 119 | Orig.: „narcoterrorismo“. 120 | Siehe von Dungen 2011, 358. 121  | Castillejo Cuéllar, Alejandro: Poética de lo otro. Antropología de la guerra, la soledad y el exilio interno en Colombia. Bogotá: Colciencias, 2000; Blair, Elsa: Muertes violentas. La teatralización del exceso. Medellín: Editorial Universidad de Antioquia, 2005; Restrepo,

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Autoren haben gemein, dass sie die Tötungspraktiken im Kontext des inner­ kolumbianischen Konflikts als rituelle, symbolische Akte verstehen, mittels derer die historische Bedeutung des Krieges in die Körper der Opfer eingeschrieben werde122 . In Anlehnung an Foucault formuliert Restrepo diesbezüglich folgende These: „[…] es ist immer möglich, diese Körper grammatikalisch zu lesen, als Sender von Zeichen und als Oberflächen der Einschreibung.“123 In der Herleitung zu seiner Theorie eines „grammatikalischen Körpers“124 weist Restrepo zunächst darauf hin, dass es sich bei den Massakern der Violencia keineswegs um blindes, ‚kopfloses‘ Morden, sondern um eine strukturierte, kalkulierte und durchdachte Praktik des Terrors handle, die immer nach demselben Muster von statten geht.125 María Victoria Uribe unterteilt dieses „Ritual“ in drei Phasen: eine Vorbereitungsphase, während der die Ankündigung der Massakers erfolgt, eine Durchführungsphase, welche Folter und Tötung beinhaltet, und schließlich eine Nachbereitungs­phase, in der die Körper an sichtbaren Orten „in Szene gesetzt“ werden.126 Für Elsa Blair haben die Tötungs­praktiken eine theatrale Dimension. Sie identifiziert vier Ebenen des Rituals, die Inszenierungscharakter haben: der Tatort als „szenischer Raum“, die klare zeitliche Struktur des Ablaufs, die Akteure mit verschiedenen, definierten Rollen sowie die Anordnung von Symbolen im Raum.127 Der Autorin zufolge wird der Symbolgehalt des Mordens durch diese Mise en Scène deutlich.128 Castillejo zitierend vertritt sie die Ansicht, dass in Kolumbien nicht nur „ein Kreuzfeuer von Kugeln, sondern auch von Sinn­gehalten und Rollen

José Alejandro: Cuerpo gramatical. Cuerpo, arte y violencia. Bogotá: Universidad de Los Andes, 2006. 122 | Die Theorie der symbolischen Einschreibung von Macht in die Körper erinnert an Pierre Bourdieus Konzept der „symbolischen Gewalt“: er spricht in diesem Zusammen­ hang von einer „Somatisierung der Herrschaft“ (vgl. Krais 2008, 55). Dennoch ist Bourdieus Konzept, das die symbolische Verankerung der Herrschaftsverhältnisse im „Habitus“ der Menschen aufzuzeigen versucht, von der symbolischen Deutung der sichtbaren Resultate von Gewalttaten, wie sie bei Restrepo versucht wird, zu unterscheiden. 123 | Org.: „[…] siempre es posible leer estos cuerpos gramaticalmente, como emisores de signos y como superficies de inscripción.“ Restrepo J.A. 2006, 13. 124 | Orig.: „cuerpo gramatical“. 125 | Siehe Restrepo J.A. 2006, 15. 126 | Siehe Uribe Alarcón 1990, 162ff. 127 | Siehe Blair 2005, 141. 128 | Siehe Blair 2005, xvii.

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innerhalb des Bedeutungssystems“129 existiere. Der Tod sei das Resultat des Austauschs dieser Sinnbilder und deren Deutungen.130 Beispiele, anhand derer die Symbolkraft der Massaker deutlich wird, liefern die Autoren von La violencia en Colombia im Kapitel „Consignas y ‚cortes‘“131, wo die Zerstückelungsbräuche in der Epoche der politischen Violencia auch durch Fotos veranschaulicht werden. Restrepo resümiert das Repertoire von „Schnitten“ und deren teils makabre Bezeichnungen folgendermaßen: „Aus den Höhlen herausgelöste Augäpfel – abgeschnittene Ohren – amputierte Brüste – abgeschnittene Hoden, in den Mund gestopft – die Zunge unter dem Kinn heraushängen lassen (Krawattenschnitt) – abgetrennter Kopf, zwischen die Hände aufs Schambein gelegt (Affenschnitt) – […] – Arme und Beine in den [geöffneten] Oberkörper gesteckt (Blumenvasenschnitt) – herausgerissene Eingeweide – Pfählen – Tötung von Kindern (nicht einmal den Samen übrig lassen) – dem Opfer bei lebendigem Leibe die Kopfhaut abziehen (französischer Schnitt) – Zerstückelung des Körpers (fürs Tamal [typisches kolumbianisches Frühstück] kleinschneiden).“132

Wie Blair interpretiert Restrepo die Zerstückelung und Neusortierung der Körper als „Exzess“, als eine „gewaltsame Übertretung der Sinne“, oder, angelehnt an Bataille, als „Ekstase“133: Angesichts der Obszönität, die den meisten der oben aufgeführten „Schnitte“ inhärent ist, würden im Bild des geschändeten Toten die Grenzen zwischen Tod und Erotik verschwimmen, der Zuschauer oszilliere zwischen Abstoßung und Faszination.134 Dieser Gedanke ist fundamental für das Verständnis vieler kolumbianischer Filme: Zwar wer-

129 | Orig.: „un cruce de balas, sino un cruce de sentidos y roles dentro de un sistema de significados“. Castillejo 2000, 23. Zitiert in: Blair 2005, xviii. 130 | Orig.: „la muerte es […] producto de un intercambio de sentidos y de símbolos“. Castillejo 2000, 23. Zitiert in: Blair 2005, xviii. 131 | Dt.: „Parolen und ‚Schnitte‘“: Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna 1977, 204ff. 132 | Orig.: „ojos fuera de sus cuencas – orejas cortadas – senos amputados – testículos cortados y puestos en la boca- lengua afuera por debajo del mentón (corte de corbata) – cabeza cortada y dispuesta entre las manos en el pubis (corte de mica) – corte de tendones y músculos y cabeza hacia atrás (corte de franela) – […] – brazos y piernas dentro del tronco (corte de florero)- vísceras afuera- empalamiento – asesinato de ninos (no dejar ni la semilla) – despojar del cuero cabelludo a la víctima viva (corte francés) – descuartizamiento (picar para tamal).“ Restrepo J.A. 2006, 19. 133 | Siehe Restrepo J.A. 2006, 19f. 134 | Restrepo stützt sich hier auf Bataille, George: El Erotismo. Barcelona: Tusquets Editores, 1980.

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den in den wenigsten Filmen Zerstückelungspraktiken inszeniert135, jedoch wird häufig ein Spannungsverhältnis zwischen Tod und Erotik, zwischen Illegalität und (physischer) Anziehung hergestellt.136 Geoffrey Kantaris zufolge wird im kolum­bianischen Kino insbesondere die urbane Gewalt fetischisiert, indem die Akteure, die meist den unteren sozialen Schichten angehören, im Zusammen­hang mit Gewaltverbrechen erotisiert würden.137 Blair kritisiert in diesem Zusammen­hang die Darstellungskonventionen der kolumbianischen Massen­medien, die die Gewalt zu einem öffentlichen Spektakel auf bauschten, wobei das Leid der Betroffenen hinter der Schaulust des Publikums und der Effekthascherei der Medienredakteure verblasse.138 Um dem „obszönen Spektakel des Todes und/oder der Gewalt“139 nicht zu verfallen, sollte, der Autorin zufolge, eine Perspektive vom Rande des Phänomens aus eingenommen werden, wie es María Victoria Uribe in ihrer Veröffentlichung Desde los márgenes a la cultura140 vorschlägt: von der Peripherie aus würden die Formen der Symbolisierung und Repräsentierung deutlich, mit denen die Kolumbianer dem Tod und dem Schmerz begegneten.141 Blair plädiert für eine kultur­ wissenschaftliche Reflexion über die subjektiven Aspekte der Gewalt, ungeachtet ihrer Ursachen, Gründe und politischer Dimensionen. Sie stützt sich hierbei auf Clifford Geertz‘ Veröffentlichung La interpretación de las culturas (1997), in der die These aufgestellt wird, sich mit der symbolischen Dimension gesellschaftlicher Ausdrucks­formen wie Kunst, Religion, Moral oder Gesetz zu befassen bedeute nicht, sich von den existentiellen Problemen des Lebens zu entfernen, sondern im Gegenteil, sich in deren Zentrum zu begeben.142 Der von Blair, Restrepo und Uribe vorgeschlagene Ansatz erweitert den Horizont der Filmbetrachtungen dahingehend, dass er auf eine bild­sprachliche, symbolische Deutung der Gewalt abzielt und sich somit von den vorherrschenden soziologischen Deutungsansätzen absetzt.

135 | Eine Ausnahme ist z.B. Perro come perro (Dog Eat Dog. Carlos Moreno, 2008, Kolumbien).

136 | Besonders ausgeprägt ist dies in Filmen wie Rosario Tijeras, La virgen de los sicarios oder Perder es cuestión de método (The Art of Losing. Sergio Cabrera, 2004, Kolumbien/ Spanien): die Protagonisten, die sich in unterschiedlichen Gewaltmilieus bewegen, werden hier zum sexuellen Fetisch. 137 | Siehe Kantaris 2008, 113. 138 | Siehe Blair 2005, xxvii. 139 | Orig.: „el espectáculo obsceno de la muerte y/o la violencia“. Blair 2005, xvii. 140 | Vgl. Uribe Alarcón 1999, 285. 141  | Siehe Blair 2005, xvii. 142 | Vgl. Geertz 1997, 40. Zitiert in: Blair 2005, xvi.

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II.1.1.4 Gewalt und nationale Identität Wie in Kapitel I.2.1 dargestellt, geht aus den kolumbianischen Filmgesetzen der Wunsch nach einem nationalen Kino hervor, welches die nationale Identität widerspiegle bzw. zu deren Herausbildung beitrage. Der Diskurs um die nationale Identität der Kolumbianer und deren authentische Repräsentation weist Verschränkungen143 mit dem kolumbianischen Gewaltdiskurs auf. Die offensichtlichste Überschneidung der beiden Diskurse besteht in der These, in Kolumbien existiere eine „Gewaltkultur“, die Gewalt sei das Element, das alle Kolumbianer verbinde.144 Wie der Politologe Carlos Alberto Patiño Villa in seinem Artikel El mito de la nación violenta (2003) veranschaulicht, ist die Vorstellung, die kolumbianische Identität ergebe sich aus der Gewalt­geschichte, im wissenschaftlichen Diskurs verankert:145 den Beginn eines kollektiven National­gefühls habe das Land der Violencia zu verdanken, einer Epoche, in der die Gewalt landesweit zu einem kollektiven Verhaltensmuster wird, „[…] das von institutionalisierten Sektoren wie den Parteien, lokalen und regionalen Staatsfunktionären, lokalen und regionalen Geschäftsleuten und politischen Führern sowie Kirchenmitgliedern unterschiedlichen hierarchischen Ranges akzeptiert, angeleitet und selbstverständlich von tausenden von Personen nachgeahmt wird.“146

In den Jahren nach ihrer offiziellen Beendigung entwickelt sich die Violencia in den Künsten und in den Unterhaltungsmedien zum thematischen Leit­ motiv, auch in diversen TV-Formaten.147 Sie wird, so Patiño Villa, zu einem nationalen Mythos, zur „Erzählung, die im politischen Bewusstsein den Bruch mit dem Regionalismus rechtfertigt“148. Die Violencia habe auf diese Weise erstmals „ein Netz von gemeinsamen Elementen und einen Diskurs um die nationale Identität [geschaffen], der […] die Entstehung einer kolumbianischen

143 | Siegfried Jäger benennt so die enge Verbindung eines Diskurses mit einem anderen. Siehe Jäger 2004, 166f. 144 | Siehe Cobo Borda 2005, 31. Der Autor stellt außerdem eine „Armutskultur“ und eine „Drogenkultur“ fest, an welchen aber, im Gegensatz zur Gewaltkultur, nicht alle Kolumbianer gleichermaßen teilhätten. 145 | Siehe Patiño Villa 2003, 31. 146 | Orig.: „[…] aceptado, animado por sectores institucionalizados como los partidos políticos, funcionarios locales y regionales del Estado, comerciantes y dirigentes políticos locales y regionales y miembros de diferentes niveles de jerarquía de la Iglesia, seguido con naturalidad por miles de personas.“ Patiño Villa 2003, 27. 147 | Siehe Patiño Villa 2003, 27. 148 | Orig.: „el relato que justifica en la conciencia política la ruptura del regionalismo“. Patiño Villa 2003, 27.

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Persönlichkeit voraussetzt.“149 Dieser Theorie zufolge ist die Gewalt für die Kolumbianer also nicht nur ein kollektives Verhaltensmuster, sondern auch ein identitätsstiftendes Element. Auch wenn diese und ähnliche Theorien, die einen nationalen Identitäts­ begriff voraussetzen und kolumbianische Identität mit „Gewaltkultur“ gleichsetzen wollen, in Bezug auf das kolumbianische Kino viel diskutiert worden sind und bis heute vereinzelt diskutiert werden, möchte ich mich an dieser Stelle von diesen Interpretationsansätzen distanzieren. Wie in Kapitel I.2.1 erläutert, ist das Konzept der nationalen Identität schwer auf den kolumbianischen Fall anwendbar, aus heutiger Sicht kann es vor dem Hintergrund umfassender Transnationalisierungsprozesse ohnehin als überholt angesehen werden.150 Der Drang der kolumbianischen Filmemacher, sich mit dem landesinternen Konflikt auseinanderzusetzen, soll folglich nicht als Appell an das Nationalgefühl der Kolumbianer, sondern als Wunsch nach Reflexion und Aufarbeitung interpretiert werden.

II.2 E ingrenzung des U ntersuchungsgegenstands Auch wenn die kolumbianische Filmindustrie verhältnismäßig klein ist, übersteigt die Zahl der Filme, die für den Forschungsschwerpunkt relevant sind, die Analysekapazitäten dieser Arbeit bei weitem.151 Es ist folglich unumgänglich, den Corpus der zu untersuchenden Filme zeitlich, thematisch und formal einzugrenzen. Die wichtigste thematische Prämisse für die Auswahl der Filme ist, dass diese sich explizit mit der direkten Gewalt im Kontext des inner­kolumbianischen Konflikts auseinandersetzen müssen. Dies bringt automatisch eine zeitliche Zäsur der zu betrachtenden Filmgeschichte mit sich, da der Ausbruch der Violencia, die als Ausgangspunkt des landesinternen Konflikts gilt, je nach Quelle auf 1945 oder 1948 datiert wird und somit nur Filme in Betracht kommen, die nach diesem Datum entstanden sind. Faktisch setzt die Beschäftigung mit der Violencia erst im darauf folgenden Jahrzehnt ein, zunächst im Kurz­fi lm 149 | Orig.: „[…] una red de elementos comunes y un discurso de identidad nacional, que […], supone la aparición de una personalidad del colombiano.“ Patiño Villa 2003, 31. 150 | Grundlegend für die Verwerfung des nationalkulturellen Ansatzes sind die Theorien der Transkulturalität (nach Wolfgang Welsch) und der Hybridität (nach Homi Bhabha). Siehe Jahn-Sudmann 2009, 17ff. 151  | Im Rahmen der Forschung zur vorliegenden Arbeit wurden über 350 teilweise schwer zugängliche kolumbianische Spielfilme, Dokumentarfilme und Kurzfilme gesichtet und, sofern möglich, angeschafft. Etwa zwei Drittel dieser Filme sind für den Forschungsschwerpunkt relevant.

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(Esta fue mi vereda152, Gonzalo Canal Ramírez, 1959) und etwas später im Lang­ spielfilm (El río de las tumbas153, Julio Luzardo, 1964). Der zu untersuchende Zeitraum der kolumbianischen Filmgeschichte ist also auf die Jahre zwischen 1959, dem Beginn der filmischen Auseinandersetzung mit der Violencia, und 2015, dem Jahr der Festlegung des Untersuchungscorpus, begrenzt. Bei der Filmauswahl sollen Werke bevorzugt werden, die einen innovativen Umgang mit der Thematik aufweisen und den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien um neue Perspektiven erweitern. Filme, die lediglich die strukturelle Gewalt154 beleuchten, ohne einen direkten Bezug zur direkten Gewalt im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts herzustellen155, stehen nicht im Mittelpunkt der Untersuchung. Grundsätzlich ist auch die filmsprachliche, technische und ästhetische Qualität der Filme ein Auswahlkriterium. Eine weitere Eingrenzung wird in Bezug auf die Gattungszugehörigkeit der Filme notwendig: Im Zentrum der Untersuchung sollen Spielfilme in abend­ füllender Länge stehen, die auf internationalen Festivals oder im kommerziellen Kino gezeigt wurden156. In Ausnahmefällen wird auch auf Kurz­fi lme eingegangen, wenn diese als repräsentativ für die jeweilige Schaffens­phase angesehen werden können. Der Dokumentarfilm wird aus den Film­analysen ausgeklammert, zum einen zum Zwecke der Übersichtlichkeit und des besseren Vergleichs, zum anderen aufgrund der naheliegenden Vermutung, dass der fiktionale Film den Regisseuren größere Freiheiten bietet, ihre Vorstellungen und Interpretationen von der Gewalt, auch in indirekter oder subtiler Form, zum Ausdruck zu bringen.157

152 | Dt.: „Dies war mein Dorf“. 153 | Dt.: „Der Fluss der Gräber“. 154 | Siehe Galtung 1975, 9ff, näher erläutert in Kapitel II.1.1.1. 155 | Hierzu gehören Filme wie Raices de piedra oder Pasado el meridiano. 156 | Hierzu zählen auch Filme, die digital gedreht und später auf Film kopiert wurden, wie z.B. La sombra del caminante. 157 | Diese Vermutung begründet sich dadurch, dass dokumentarische Formate, die häufig auf Archivmaterial und Interviews mit real existierenden Personen zurückgreifen, meist als Belege für bestimmte Sachverhalte wahrgenommen werden, nicht aber als Ausdruck eines kreativen Umgangs mit einem Thema – obgleich außer Frage steht, dass auch der Dokumentarfilm eine durch den Filmemacher konstruierte ‚Realität‘ präsentiert.

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II.3 Thesen und F r agestellungen II.3.1 Zentrale Thesen und Argumentation Die zentralen Thesen, die die vorliegende Untersuchung leiten, sollen im Folgenden durch aufeinander auf bauende Überlegungen hergeleitet und argumentativ verknüpft werden: Ausgangspunkt der Überlegungen ist der empirische Befund, dass sich das kolumbianische Kino, wie in Kapitel I.2.2 und I.2.3 dargestellt, in hohem Maße mit landesspezifischen Problematiken auseinandersetzt. Diese Tendenz, die bereits in der kolumbianischen Stummfilmzeit ausgemacht werden kann, steigert sich mit dem Ausbruch der Violencia, welche ab den 1960er Jahren zum zentralen Gegenstand des kolumbianischen Films und anderer Künste wird.158 Aus dem für den Forschungsschwerpunkt relevanten Material159 geht hervor, dass die kolumbianischen Filmemacher unter dem Einfluss landes- und kulturpolitischer, wirtschaftlicher und technischer Veränderungen unterschiedliche Strategien entwickelt haben, um den komplexen Stoff, den der mit der Violencia einsetzende landesinterne Konflikt in seinem Verlauf liefert, filmisch zu reflektieren. Indem sie sich die vielfältigen Ausdrucks­möglichkeiten der Filmsprache160 zu Nutze machen, entwerfen die Filmemacher viel­schichtige, kontrastreiche Porträts des Konflikts, seiner Akteure und der Betroffenen. Dabei greifen sie nicht nur zentrale Positionen und Deutungs­muster kolumbianischer Gewaltdiskurse (dargestellt in Kapitel II.1.1.3) auf, sondern erweitern diese um neue Perspektiven und alternative Lesarten. Auch die Frage nach den Gewaltursachen und, damit zusammenhängend, der Verantwortlichkeit wird häufig neu ausgehandelt. Durch den Einsatz indirekter, subtiler Erzähl­ strategien gelingt es den Filmemachern darüber hinaus, vermeintliche historische ‚Wahrheiten‘ im Kontext des landesinternen Konflikts – bzw. den Wahrheits­bildungs­prozess an sich – in einem Umfeld mangelnder Meinungsfreiheit kritisch zu hinterfragen. Das kolumbianische Kino, das als Austragungsort eines gesellschaftlichen Kampfes um Lesarten sowie um die Konstruktion von Wahrheiten angesehen werden kann, ist folglich in konstruktiver Weise an der Reflexion und Aufarbeitung des innerkolumbianischen Konflikts und der damit einhergehenden Gewalt beteiligt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Beschäftigung mit den Filmen zu einem umfassenderen und differenzierteren Verständnis des

158 | Vgl. Kapitel I.2.2 und I.2.3. 159 | Gemeint sind Fachliteratur, Interviews mit Experten und Vertretern der Film­b ranche sowie natürlich die Filme selbst. 160  | Vgl. Kapitel I.1 sowie Kapitel IV.2.

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innerkolumbianischen Konflikts sowie seiner Ursachen und Auswirkungen beitragen kann.

II.3.2 Besondere Problemstellungen Bei der Untersuchung des kolumbianischen Kinos über den landesinternen Konflikt muss die besondere innenpolitische Situation des Landes berücksichtigt werden, denn die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und illegalen Konfliktakteuren dauern bis heute an. Die Tatsache, dass sich das kolumbianische Kino in Zeiten fortdauernder Kriegshandlungen mit diesen auseinandersetzt, hat zur Konsequenz, dass die Möglichkeit der Zensur bzw. Autozensur bei der Analyse der Filme stets in Betracht gezogen werden muss. Es soll daher ein besonderes Augenmerk auf Auslassungen oder indirekte Erzählstrategien161 gelegt werden, durch die sich die Filmemacher möglicherweise vor Sanktionsmaßnahmen oder persönlichen Konsequenzen zu schützen versuchen. Ferner muss berücksichtigt werden, dass sich die kolumbianische Film­ produktion in einem Spannungsfeld zwischen den jeweiligen Produktions­ bedingungen, den Anforderungen des nationalen und internationalen Marktes sowie den Interessen der Regierungen in Bezug auf die filmische Repräsentation und das Image162 des Landes bewegt. Die filmischen Darstellungen des landesinternen Konflikts könnten diesen und anderen äußeren Faktoren Rechnung tragen und von der persönlichen Sicht der Filmemacher abweichen. Diese Wahrscheinlichkeit muss bei der Analyse der Filme mit einkalkuliert und im Einzelfall näher bestimmt werden.163

II.3.3 Fragestellungen für die Analyse der Filme Die vorliegende Untersuchung verfolgt zwei übergeordnete Ziele: Erstens die Ermittlung der filmischen Darstellungen des innerkolumbianischen Konflikts im Untersuchungszeitraum (1), und zweitens den Vergleich dieser filmischen Darstellungen mit zentralen Positionen und Deutungsmustern in kolumbianischen Gewaltdiskursen (2). Daraus ergeben sich für die Analyse der Filme folgende übergeordnete Fragestellungen:

161 | Vgl. Kapitel IV.2. 162  | Vgl. hierzu die Debatte um die nationale Identität des Landes sowie des kolumbianischen Kinos (Kapitel I.2.1). 163  | Hierzu sind persönliche Interviews mit den Filmemachern hilfreich, aus denen sich die Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Vorhaben der Regisseure und den jeweiligen Endprodukten zumindest ansatzweise ermitteln lässt.

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Zu (1): • Wie wird der landesinterne Konflikt in verschiedenen Phasen der kolumbianischen (Film-)Geschichte dargestellt? • Welcher Gewaltbegriff liegt diesen Darstellungen zugrunde? • Welche filmischen Erzählstrategien und Gestaltungsmittel werden eingesetzt und wie wirken diese? Zu (2): • Welche zentralen Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse greifen die Filme auf? • Wie positionieren sich die filmischen Darstellungen zu diesen? • Welche neuen Perspektiven und Lesarten bieten die Filme an? Inwiefern erweitern sie den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien? Bei der Analyse der Filme soll ein besonderes Augenmerk auf den Einsatz der filmischen Gestaltungsmittel gelegt werden. Aus diesem Interesse ergeben sich weitere untergeordnete Fragen an den Untersuchungsgegenstand164: Welche filmischen Gestaltungsmittel werden zur Darstellung des landesinternen Konflikts häufig eingesetzt? Aus welcher Perspektive erzählen die Filme, welcher zeitlichen oder räumlichen Logik folgen sie? Was wird durch die Figuren und deren Beziehung zueinander über die Erscheinungsformen und Hinter­ gründe des innerkolumbianischen Konflikts ausgesagt? Welche (Sinn-)Bilder, Symbole, Metaphern oder Allegorien werden in den Filmen verwendet, und welche Assoziationen könnten durch diese beim Betrachter geweckt werden? Welche Funktion übernehmen Schnitt und Montage bei der Darstellung von Gewalt oder bei der Vermittlung komplexer Zusammenhänge im Kontext des landes­internen Konflikts? Welche Atmosphäre vermitteln die Filme, und durch welche Gestaltungsmittel wird sie vermittelt? Lassen sich die Filme bestimmten Genres zurechnen, oder spielen sie mit den Darstellungs­konventionen eines Genres? Wie wird personale Gewalt dargestellt oder vermittelt, und welche Gründe könnte es für den jeweils gewählten Grad der Explizitheit geben? Zur Kontextualisierung und Einordnung der Filme sind zusätzlich Über­legungen zu folgenden Fragen hilfreich: Auf welche Phase des inner­ kolumbianischen Konflikts beziehen sich die Filme, und welcher zeitliche Abstand liegt zwischen dem Zeitpunkt der Handlung und dem Zeitpunkt der Realisation? Können die Filme einer bestimmten Tradition zugerechnet werden oder sind prägnante Einflüsse erkennbar? Wie positionieren sich die kolumbianischen Filme zu Bearbeitungen in anderen Kunstgattungen oder

164  | Vgl. dazu Kapitel II.4.2.2 zur hermeneutischen Filmanalyse.

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zu nicht kolumbianischen Film- und Fernsehproduktionen165 mit demselben Thema? Es sei darauf hingewiesen, dass in den exemplarischen Filmanalysen in Kapitel III. nicht auf alle untergeordneten Fragen Antwort gegeben werden kann. Ihre Auflistung soll lediglich das Spektrum der Überlegungen umreißen, die für die Betrachtung der Filme unter dem spezifischen Forschungs­ schwerpunkt relevant sind und die bei der Auswertung im Gedächtnis behalten werden sollen.

II.4 Theore tischer und me thodologischer R ahmen Nachdem im vorangegangenen Kapitel erläutert wurde, was den Gegenstand der Forschung bildet und welche Fragestellungen die Untersuchung leiten, soll dieses Kapitel Auskunft darüber geben, wie die Untersuchung durchgeführt und auf welche Weise die Zielsetzung erreicht werden soll. Zu diesem Zwecke sollen die theoretischen Ansätze, Methoden und Analysetechniken vorgestellt werden, derer sich die Autorin bedient.

II.4.1 Der transdisziplinäre Ansatz der Cultural Studies In seinem Artikel La constitución del cine colombiano como objeto de estudio: entre los estudios cinematográficos y culturales (2009) schlägt Jaime Correa den transdisziplinären Ansatz der Cultural Studies als geeignete Herangehensweise an das kolumbianische Kino vor.166 Dies hat verschiedene Hintergründe: Wie in Kapitel I.3 skizziert, sind bis in die 1990er Jahre hinein die meisten Veröffentlichungen zum kolumbianischen Kino von ontologischen Frage­ stellungen mit dem Ziel der Identifikation eines nationalen Filmstils dominiert. Correa kritisiert diesen Ansatz, da er die Autoren zu pauschalisierenden Aussagen über das kolumbianische Kino verleite: „Der Versuch, die Essenz eines Untersuchungsgegenstandes wie dem kolumbianischen Kino offenzulegen […], kann dazu führen, monolithische und einseitige Definitionen wie ‚das kolumbianische Kino ist im Wesentlichen ein Kino der Gewalt‘; ‚es ist ein realistisches oder realistisch-traumhaftes Kino‘; ‚ein Kino, das die melodramatische Essenz des Kolumbianischen widerspiegelt‘ aufzustellen; […]. Anstatt die Diskussion voran-

165  | Beispiele hierfür sind der Spielfilm Dr. Alemán (Tom Schreiber, 2008, D) oder die TV-Serie Narcos (2015, USA). 166  | Vgl. Correa 2009, 12.

II. Spezifischer Forschungsansat z zutreiben, kann dies ihre Konsolidierung und den Beginn einer ernsthaften und reifen Reflexion noch weiter verzögern.“167

Die Methoden der nordamerikanischen Film Studies, die ab der Jahrtausend­ wende Einzug in die kolumbianische Filmforschung halten, haben eine Verlagerung hin zu methodologischen Ansätzen mit sich gebracht, die auf die Beleuchtung einzelner gestalterischer oder technischer Aspekte abzielen168. In Bezug auf diese Untersuchungen ist Correa zuzustimmen, dass die politische und gesellschaftliche Dimension der Filme darin häufig zu kurz kommen.169 Als Alternative schlägt Correa den transdisziplinären Ansatz der Cultural Studies zur Betrachtung des kolumbianischen Kinos vor.170 In Anlehnung an Graeme Turner beschreibt er diese schwer zu fassende Disziplin171 als „[…] inter­ disziplinäres Feld, wo bestimmte Anliegen und Methoden konvergieren; der Nutzen dieser Konvergenz besteht darin, dass Phänomene und Zusammen­ hänge begreif bar werden, die mit den bestehenden Disziplinen nicht zugänglich gemacht werden konnten.“172 Tatsächlich erscheint zur Untersuchung des kolumbianischen Kinos ein inter- bzw. transdisziplinärer Ansatz im Sinne Correas vielversprechend, da jener eine Verbindung von film­w issenschaftlichen, sozial­ wissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven und Frage­ stellungen erlaubt. Die Filme können damit als in sich geschlossene Zeichen­ systeme nach inhaltlichen und ästhetischen Gesichtspunkten analysiert und gleichzeitig im Spannungsverhältnis zu ihren sozialen, politischen, wirtschaft­ lichen und kulturellen Entstehungsbedingungen interpretiert werden. Der Ansatz der Cultural Studies soll jedoch auch aus anderen Gründen als Forschungsperspektive für die Untersuchung des kolumbianischen Konflikt­ 167  | Orig.: „Tratar de revelar la esencia de un objeto de estudio como el cine colombiano […] puede llevarnos a establecer definiciones monolíticas y simplistas del tipo: ‚el cine colombiano es esencialmente un cine de la violencia’; ‚es un cine de lo real o de lo real-maravilloso’; ‚un cine que refleja la esencia melodramática del ser colombiano’; […]. Esto, en lugar de hacer avanzar la cuestión, puede retrasar aún más su consolidación y el despegue de una reflexión seria y madura.” Correa 2009, 15. 168  | Z.B. „die Lichtsetzung“, „die Frau“ oder „die Stadt Bogotá“ im kolumbianischen Kino. Vgl. Correa 2009, 16f. 169  | Vgl. Correa 2009, 12. 170  | Vgl. Correa 2009, 18. 171 | Zur kontrovers geführten Debatte um die Gegenstandsbestimmung und die disziplinäre Verortung der Cultural Studies vgl. Hepp 2010, 16ff. 172  | Orig.: „[…] campo interdisciplinario donde convergen ciertas preocupaciones y ciertos métodos; la utilidad de esta convergencia consiste en habernos permitido comprender fenómenos y relaciones que no eran accesibles a través de las disciplinas existentes“. Turner 2003, 9. Zitiert in: Correa 2009, 20.

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kinos übernommen werden: Wie Andreas Hepp in Rückbezug auf Stuart Halls konstruktivistische Arbeiten der 1970er Jahre173 betont, geht es den Cultural Studies „um eine kritische Auseinandersetzung mit Kultur und Macht [...], in der Medien eine zentrale Rolle spielen, da sie in gegenwärtigen Gesellschaften herausragende Instanzen der Bedeutungsproduktion sind.“174 Der macht- bzw. wahrheitskritische Ansatz ist für die vorliegende Untersuchung von entscheidender Bedeutung, da die Filme nicht zuletzt als Produkte ihrer gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Entstehungs­ bedingungen betrachtet werden, welche ebenso wie die Filme Gegenstand der Untersuchung sind. Wie in Bezug auf den diskursanalytischen Ansatz (Kapitel II.4.2.1) noch näher erläutert wird, werden die Filme in der vorliegenden Arbeit als kulturelle Produkte verstanden, die zentrale Positionen gesellschaftlicher Diskurse transportieren, gleichzeitig aber selbst Bestandteil dieser Diskurse sind. Die Analyse der Filme soll demnach nicht nur werkimmanente Bedeutungs­potenziale sichtbar machen, sondern auch die äußeren Umstände und Bedingungen der Bedeutungsproduktion kritisch reflektieren. In Übereinstimmung mit Ien Ang werden die Cultural Studies in dieser Arbeit als Projekt aufgefasst, das sich mit „historisch entstandenen und spezifischen Bedeutungen“175 im Kontext kultureller Produktion befasst und dabei „eher prozess- als ergebnisorientiert und [...] interpretativ statt erklärend“176 verfährt. Zugleich wird Lawrence Grossbergs Verständnis einer „radikalen Kontextualität“177 der Cultural Studies übernommen: demnach sind kulturelle Produkte wie der Film nur unter Berücksichtigung aller relevanten Kontexte, Einflüsse und Interessen zu erfassen178. Für die Untersuchung der kolumbianischen Filme bedeutet dies, dass nicht nur die Intentionen der Filme­ macher, sondern auch andere Einflussfaktoren wie die marktwirtschaftlichen Gesetze des Filmsektors, die Erwartungen und Anforderungen der Film­ förderinstitutionen, der Verlauf des innerkolumbianischen Konflikts oder die Politiken der kolumbianischen Regierungen berücksichtigt werden müssen.

173  | Beispielhaft ist Stuart Halls Studie Policing the Crisis (1978) über die mediale Konstruk­t ion des ‚mugging‘. 174 | Hepp 2010, 16. 175  | Ang 1999, 318; siehe Hepp 2010, 21. 176  | Ang 1999, 318. 177 | Grossberg 1999. 178  | Siehe Hepp 2010, 18.

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II.4.2 Angewandte Methoden Zum Zwecke der Beantwortung der zentralen Forschungsfragen, welche einerseits auf die filmischen Darstellungen des innerkolumbianischen Konflikts und andererseits auf die darin angebotenen Lesarten und Deutungsansätze sowie deren Verhältnis zu zentralen Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse abzielen, sollen im Rahmen der Untersuchung zwei verschiedene Methoden – die Diskursanalyse und die hermeneutische Filmanalyse – zur Anwendung kommen. Eine methodologische Triangulation, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wird, dient Uwe Flick zufolge dem Zweck, Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen zu gewinnen und dadurch zu einem tieferen Verständnis des Forschungsfeldes zu gelangen.179 Da die Wahl der Methode gleichsam den Gegenstand der Untersuchung konstituiert, liefert die Tri­an­gu­lation Flick zufolge nicht verschiedene Abbilder desselben Gegenstands, sondern unterschiedliche Konstruktionen eines Phänomens.180 Es sei angemerkt, dass der Mehrwert, der durch die Verbindung verschiedener Methoden in Bezug auf die Qualität der Ergebnisse zu erwarten ist, nicht in einer Zunahme der Objektivität oder Wahrhaftigkeit der Befunde besteht, sondern in einer Zunahme ihrer Vielschichtigkeit: die Ergebnisse überlappen und ergänzen sich, müssen aber nicht kongruent sein.181 Im Folgenden werden die Ansätze der Diskursanalyse und der hermeneutischen Filmanalyse skizziert. Dabei wird auch über mögliche Probleme und Grenzen der Methoden sowie ihrer Verknüpfung reflektiert. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die erkenntnistheoretischen Debatten um konstruktivistische bzw. hermeneutisch-interpretative Ansätze aus Gründen des begrenzten Umfangs dieser Arbeit hier nicht erschöpfend behandelt werden können.

II.4.2.1 Diskursanalyse Die in dieser Arbeit vorgenommene diskursanalytische Betrachtung der kolumbianischen Filme orientiert sich am Modell der kritischen Diskurs­analyse nach Siegfried Jäger (2000), der wiederum auf Michel Foucaults Diskurs­ theorie zurückgreift. Im Zentrum der kritischen Diskursanalyse steht die Frage nach dem Zustandekommen von jeweils gültigem „Wissen“ und den Auswirkungen dieses Wissens auf die Entwicklung einer Gesellschaft.182 Eine zentrale Grundannahme der Diskurstheorie besteht darin, dass Wissen „nicht 179  | Siehe Flick 2011, 12. 180 | Siehe Flick 2011, 17. 181 | Siehe Flick 2011, 15 ff.; vgl. analog Burzan 2016, 23ff. 182 | Siehe Jäger 2000, 1.

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irgendwie diskurs-extern vorgegeben [ist], sondern [...] jeweils erst historisch-­ diskursiv erzeugt [wird].“183 Wissen existiert dieser Auffassung zufolge also nicht a priori, sondern als historisch determinierter diskursiver Effekt:184 Wie zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext über ein Ereignis gesprochen wird, bestimmt das jeweilige „Wissen“ darüber. Diskurse sind demnach „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“185 Die kritische Diskursanalyse zielt darauf ab, „das (jeweils gültige) Wissen der Diskurse […] zu ermitteln, den konkret jeweiligen Zusammenhang von Wissen und Macht zu erkunden und einer Kritik zu unterziehen.“186 Es geht mit anderen Worten darum, „die Produktion von Wahrheit(en) zu rekonstruieren und aufzudecken“187. Bei der Analyse von Diskursen ist eine wahrnehmende, interesselose, beschreibende Grundhaltung einzunehmen, die einen kühlen, nüchternen Blick auf diskursive Formationen erlaubt.188 (Herrschende) Diskurse können, Jäger zufolge, kritisiert und problematisiert werden, indem „ihre Wider­ sprüche und ihr Verschweigen bzw. die Grenzen der durch sie abgesteckten Sag- und Machbarkeits­felder“189 aufgezeigt werden. Dabei ist zu beachten, dass der Analysierende nicht außerhalb der zu analysierenden Diskurse steht, sondern selbst den Einflüssen diskursiver Prozesse unterworfen ist.190 In Anlehnung an den hier skizzierten Ansatz zielt die diskursanalytische Betrachtung der kolumbianischen Filme in dieser Arbeit darauf ab, einerseits das in den Filmen transportierte „Wissen“ über den innerkolumbianischen Konflikt anhand der filmischen Darstellungen zu ermitteln („Wie wird der Konflikt dargestellt?“) und dieses „Wissen“ andererseits einer kritischen Betrachtung bezüglich seiner gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen, Wirkungen und Funktionen zu unterziehen („Wie ist dieses Wissen entstanden? Was bewirkt es? Wem nützt oder schadet es?“). Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf Auslassungen und Tarnungsstrategien gelegt

183 | Jäger 2004, 129. 184 | Jäger 2004, 129. 185 | Foucault 1981, 74. Zitiert in: Ruoff 2007, 92. 186 | Jäger 2000, 1. 187  | von Dungen 2011, 352. 188 | Siehe Konersmann 1991, 77; analog vgl. Ruoff 2007, 100. 189 | Jäger 2000, 2. 190 | Siehe Jäger 2000, 2.

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werden, durch die die Filmemacher ggf. Bereiche des Nicht-Sagbaren oder des Nicht-Zeigbaren zu umschiffen versuchen191. Darüber hinaus soll unter Einbezug der Befunde aus der hermeneutischen Filmanalyse, deren Techniken im folgenden Kapitel erläutert werden, heraus­ gearbeitet werden, welche Haltungen zum vorherrschenden „Wissen“ über den innerkolumbianischen Konflikt die Filmemacher durch ihre Darstellungen einzunehmen scheinen und welchen Beitrag die Filme selbst zur Produktion von „Wissen“ leisten.

II.4.2.2 Hermeneutische Filmanalyse Die filmanalytische Betrachtung der kolumbianischen Filme orientiert sich im Folgenden am Ansatz der hermeneutischen Filmanalyse nach Knut Hickethier (2007). In seiner Gegenstandsbestimmung definiert dieser den Film, in Anlehnung an die frühen Filmtheoretiker der 1920er Jahre192, als Kunst, als gestaltete Einheit und ästhetisches Produkt, welches in der Regel Resultat eines kollektiven und meist institutionalisierten Arbeitsprozesses ist.193 Darüber hinaus schließt sich Hickethier der aus der Kommunikationstheorie abgeleiteten Definition des Films als Medium194 bzw. als Kommunikat195 an und betont so den potenziell kommunikativen Charakter des Films. In seiner Medien­definition nimmt Hickethier Abstand vom Sender-Produkt-Empfänger-Modell der 1960er Jahre, das Kommunikation als einseitigen, linearen Vorgang beschreibt196, und betont stattdessen die Bedeutung der individuellen Sinn­ konstruktion durch den Zuschauer197. Bedeutung wird diesem Ansatz zufolge nicht durch das Produkt bzw. Kommunikat allein, sondern erst durch die kognitive und emotionale Mitarbeit des Zuschauers erzeugt198. Die individuelle Bedeutungs­ konstruktion beim Rezipieren eines Films ist somit unter anderem abhängig von den individuellen Rezeptionsvoraussetzungen des Zuschauers199. Durch die individuell verschiedenen Rezeptionsvoraussetzungen – gemeint sind 191 | Zu den Grenzen filmischer Gewaltrepräsentationen vgl. auch Elsaesser 2015; Köhne/ Ballhausen 2012. 192 | Frühe Filmtheoretiker wie Béla Balázs und Rudolf Arnheim etablierten den Film als Neue Kunst und verwiesen bereits auf dessen Potenziale zum Ausdruck und zur Mitteilung. Vgl. Balázs 1924; vgl. Arnheim 1932. 193 | Hickethier 2007, 5f. 194 | Siehe Hickethier 2007, 6. 195 | Siehe Hickethier 2007, 6. Zur Filmanalyse als Kommunikatanalyse vgl. Kuchen­b uch 2005, 24. 196 | Vgl. Maletzke 1963; vgl. Jäckel 2015. 197 | Siehe Hickethier 2007, 9ff. 198 | Vgl. Schmidt 2000; vgl. Merten 1994. 199 | Siehe Hickethier 2007, 10f.; vgl. analog Bordwell 1989.

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unterschiedlicher Erfahrungsschatz und Vorwissen, aber auch Faktoren wie Alter, Herkunft, Geschlecht – entsteht ein gewisser Interpretationsspielraum, der verschiedene Deutungen eines Films zulässt 200. Vor diesem Hintergrund muss von der Vorstellung, ein Film könne eine eindeutige Botschaft trans­ portieren, Abstand genommen werden. Andererseits ist der Interpretations­ spielraum des Zuschauers nicht beliebig dehnbar: wie Bordwell argumentiert, beruht filmisches Erzählen auf dem Einsatz bewusst gesetzter, salienter cues, die die Interpretationsmöglichkeiten des Zuschauers in gewissem Maße lenken, auch wenn eine vollständige Kontrolle aller semantischen Deutungsfelder durch den Filmemacher ausgeschlossen ist 201. Für den Interpretierenden bedeutet dies, dass er sich der Subjektivität seiner Deutung stets bewusst sein und diese auch transparent machen muss. Gleichzeitig ist Bordwell zufolge davon auszugehen, dass der Zuschauer bei der Identifizierung von cues auf konventionalisierte, allgemein verständliche Wissensstrukturen, sogenannte schemes, zurückgreift 202 . Das Setzen von cues durch die Filmemacher und die Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten erfolgen demnach auf der Grundlage einer gemeinsamen Schnittmenge im Bereich des kollektiven Wissens- und Erfahrungsschatzes. Demzufolge ist die individuelle Interpretation eines Films zwar von bestimmten individuellen Faktoren abhängig, jedoch keineswegs willkürlich. Hickethier setzt an diesem Verständnis an, indem er ein Analyse­verfahren befürwortet, das einerseits die Mehrdeutigkeit filmischen Erzählens und andererseits die bewusste Gestaltung des filmischen Werkes betont. Zur Ermittlung der im Film angelegten Bedeutungspotenziale wird zunächst durch einen Prozess der Beschreibung bzw. „Versprachlichung“203 die „sinnliche Gesamtgestalt“204 des Films aufgebrochen. Die bewusste Gestaltung des Films bzw. die Komposition der filmischen Gestaltungsmittel wird transparent gemacht, indem der Film in seine Grundbausteine – in kleinste gestaltete Einheiten, bestehend aus visuellen und akustischen Zeichen – zerlegt wird. Die Beschaffenheit, die Abfolge und das Zusammenspiel dieser Einheiten werden kleinteilig beschrieben und unter Berücksichtigung kunst- und filmhistorisch gewachsener Darstellungs- und Erzählkonventionen und relevanter inhaltlicher Kontexte gedeutet.205 Die „Destruktion der sinnlichen Gesamtgestalt“206 dient dem Zweck, „[…] die sinnliche Suggestion, die emotionale Wirksamkeit, die 200 | Siehe Hickethier 2007, 6; vgl. Bordwell 1989. 201 | Siehe Bordwell 1989, 270. 202 | Siehe Bordwell 1989, 249. 203 | Hickethier 2007, 26. 204 | Hickethier 2007, 26. 205 | Hickethier 2007, 30. 206 | Hickethier 2007, 26.

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Mehrdeutigkeit des Gezeigten aus dem Zustand des unbewusst Erfahrenen in den des bewusst Erlebten zu heben.“207 Die Offenlegung der spezifischen Gestaltung soll das Verständnis „gerade auch nichtsprachliche[r] Mitteilungs­ ebenen“ und „zusätzlich noch vorhandene[r] Bedeutungsebenen und Sinn­ potenziale“208 ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch den Prozess der Versprach­lichung ein Sekundärtext entsteht, der sich vom Primär­text, dem filmischen Text, unterscheidet. Interpretationen, die sich an der Versprach­ lichung eines Films orientieren, müssen sich also immer wieder am ursprünglichen filmischen Text messen, um sich ihrer Stimmigkeit zu vergewissern. Für den Prozess der Deutung filmischer Gestaltungsmittel unterscheidet Hickethier zwischen Techniken zur Analyse des Visuellen, des Auditiven, des Narrativen und des Schauspielerischen.209 Diese Kategorien werden für die Analyse der kolumbianischen Filme übernommen, wobei folgende Aspekte besonders berücksichtigt werden: • • • • • • • • •

dramaturgische Grundstruktur Chronologie (sujet und fabula210) Erzählperspektive Figurenkonstellation Bildgestaltung (Perspektive, framing, Einstellung, Farbe, Licht, Raum, Bewegung, Blick, etc.) Ton (Sprache, Musik, Geräusch, Atmo) Schnitt und Montage Schauspiel Format und Genre

Die Analyse des filmischen Textes anhand dieser Kriterien trägt, Hickethier zufolge, auch dazu bei, „die ‚hermeneutische Differenz‘ zwischen dem ‚Eigen­ sinn‘ des Textes […], dem vom produzierenden Subjekt gemeinten und dem vom rezipierenden Subjekt aufgefassten Sinn zu reduzieren, auch wenn diese Differenz letztlich nie völlig aufgehoben werden kann.“211 Hickethier bezeichnet sein Verfahren auch deshalb als „hermeneutisch“, da es indirekt an das Modell des hermeneutischen Zirkels anknüpft: so kann der Erkenntnisprozess bei der Analyse eines Films niemals als abgeschlossen angesehen werden, da jede neue Erkenntnis das individuelle Vorverständnis des Interpretierenden und damit die Deutung des Films verändert. Der Interpretierende sollte 207 | Hickethier 2007, 27. 208 | Hickethier 2007, 26. 209 | Siehe Hickethier 2007, 25-180. 210  | Vgl. Eder 2000, 8ff. 211  | Hickethier 2007, 31.

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den Film daher immer wieder aufs Neue – in einem „‚zirkuläre[n]‘ Verfahren“212 – befragen und ihn seinen Interpretationen prüfend gegenüberstellen.213 Hickethier zitiert in diesem Zusammenhang Thomas Koebner, der die „wiederholte Anschau­ung und wiederholte Kontrolle der Beschreibung durch den Blick auf den Gegenstand“214 sowie „die Fähigkeit zur Einfühlung und Abstraktion, der ausreichenden Begründung und der Veranschaulichung am Beispiel“215 als Kennzeichen der hermeneutischen Filmanalyse bezeichnet. Das hier skizzierte Analyseverfahren soll im Folgenden als Methode zur Ermittlung der werkimmanenten Sinn- und Bedeutungspotenziale der kolumbianischen Filme sowie ihrer kommunikativen Potenziale angewandt werden. Für eine gut informierte Deutung der kolumbianischen Filme, die hoch komplexe und landesspezifische Vorgänge zum Thema haben, ist der Einbezug werk­externer Dokumente und Quellen unerlässlich.216 Um die Qualität der Deutungen zu erhöhen, wird im Falle der vorliegenden Untersuchung daher kontextualisierend auf filmhistorische217 und gewaltsoziologische218 Fach­literatur sowie auf persönliche Interviews mit Vertretern aus dem kolumbianischen Filmsektor zurückgegriffen. Diese Quellen sollen ein breites, werk­externes Bezugsfeld bilden, an dem sich sowohl die hermeneutische Interpretation als auch die diskursanalytische Betrachtung orientieren können.

II.4.3 Vorgehen beim Analysieren der Filme Um beurteilen zu können, worin die Besonderheit eines Films bei der Darstellung des landesinternen Konflikts besteht und welchen Beitrag er zur Erweiterung des Gewaltdiskurses leistet, erfolgt in einem ersten Schritt eine grobe Inhalts- und Strukturanalyse der Filme, die Auskunft über den Plot, die Dramaturgie, das Genre und ästhetische Grundtendenzen geben soll. Auf der Basis dieser Untersuchung wird entschieden, worin der individuelle Wert eines Films in Bezug auf den Untersuchungsschwerpunkt liegt. Anschließend werden Schlüsselsequenzen ermittelt, in denen die spezifischen Merkmale des Films ersichtlich werden. Diese Sequenzen werden unter Anwendung des in Kapitel II.4.2.2 beschriebenen Verfahrens analysiert und gedeutet. Die Deutungen greifen dabei auf werkexterne Quellen (filmhistorische und soziologi212 | Hickethier 2007, 30. 213  | Siehe Hickethier 2007, 30f. 214 | Koebner 1990, 7. Zitiert in: Hickethier 2007, 31. 215  | Koebner 1990, 7. Zitiert in: Hickethier 2007, 31. 216  | Zur Notwendigkeit des Einbezugs werkexterner Quellen vgl. Hickethier 2007, 28. 217 | Vgl. Kapitel I.3. 218 | Siehe Kapitel II.1.1.3.

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sche Fachliteratur, persönliche Interviews) zurück, welche zur späteren Über­ prüfung der Interpretationen erneut herangezogen werden können.219 Anhand der filmanalytisch fundierten Interpretationen werden anschließend die durch den Film transportierten Lesarten, Erklärungsansätze und Bewertungen der Gewalt ermittelt und mit zentralen Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse verglichen. Dabei wird der Frage nachgegangen, auf welches diskursiv erzeugte „Wissen“ der Film bei seiner Darstellung zurückgreift und welches „Wissen“ er wiederum durch seine Darstellung (bestätigend, ergänzend oder widersprechend) generiert. Am Ende jeder Filmanalyse soll zusammenfassend festgehalten werden, welche Lesarten der Film zur Deutung und Bewertung der Gewalt in Kolumbien anbietet und inwiefern er den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien erweitert. Es sei darauf hingewiesen, dass alle Untersuchungsfilme nach dem hier skizzierten Schema und unter Einbeziehung der in Kapitel II.3.3 aufgeworfenen Fragen analysiert werden. Die Präsentation der Ergebnisse kann jedoch in Umfang und Reihenfolge variieren.

II.5 E rl äuterungen zum A ufbau der A rbeit Der Analyseteil der Arbeit gliedert sich in vier Kapitel, welche den chronologisch aufeinanderfolgenden Phasen der kolumbianischen Film­geschichte zwischen 1959 und 2015 entsprechen. Die Periodisierung, die durch diese Einteilung vorgenommen wird, orientiert sich einerseits an den Produktions­ bedingungen, andererseits an inhaltlich-thematischen Schwerpunkten der Filme. Zu Beginn jedes Kapitels soll auf das Verhältnis zwischen der jeweils behandelten geschichtlichen Epoche und der Entstehungszeit der Filme eingegangen werden, denn für die Betrachtung der Werke ist relevant, welcher Abstand zwischen den Hintergründen der Handlung und ihrer filmischen Aufarbeitung liegt und in welchem politischen Umfeld sie entstanden sind. Das erste Kapitel umfasst die erste Phase der filmischen Auseinander­ setzung mit der politischen Violencia, welche sich in produktionstechnischer Hinsicht durch eine relative Unabhängigkeit von staatlichen Einflüssen auszeichnet. Den Beginn dieser Phase markiert der Kurzfilm Esta fue mi vereda220 (Gonzalo Canal Ramírez, 1959), der nur ein Jahr nach der offiziellen Beendigung der Violencia durch die Konstituierung der liberal-konservativen Wechsel­ regierung „Frente Nacional“ erscheint. Das Kapitel endet mit der

219  | Bis zu diesem Punkt ist das Vorgehen an Hickethiers „Fünf Schritte der Film­a nalyse“ angelehnt. Vgl. Hickethier 2007, 32. 220 | Dt.: „Dies war mein Dorf“.

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Gründung der staatlichen Produktionsgesellschaft FOCINE im Jahre 1978, welche die kolumbianische Filmproduktion in erheblichem Maße verändert. Das zweite Kapitel widmet sich der zweiten Welle der filmischen Aufarbeitung der Violencia, einer Ära der staatlich subventionierten und gleichzeitig reglementierten Filmproduktion. Zwischen 1978 und 1993 kommen mithilfe von FOCINE die ‚Klassiker‘ des Violencia-Kinos zur Aufführung, welche dem Thema auch erstmals Gehör auf ausländischen Festivals verschaffen. Neben der beginnenden Annäherung des kolumbianischen Kinos an internationale technische Standards findet während FOCINE eine Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln und die regionale Identität der Filmemacher statt, was die Entstehung von regionalen Filmbewegungen wie der „Cali-Gruppe“ zur Folge hat. Thematisch wird am Ende dieser Ära von der Violencia zu den „violencias“ übergeleitet, die zum vorherrschenden Handlungsgegenstand der Filme im nachfolgenden Kapitel werden. Die Eckdaten für das dritte Kapitel resultieren aus dem Ende von FOCINE 1993 und dem Inkrafttreten des Filmgesetzes im Jahre 2003. In der dazwischen liegenden Dekade der staatlichen Abwendung, in dem sich das kolumbianische Kino nur durch die internationale Koproduktion über Wasser halten kann, entsteht eine Vielzahl von Filmen, die die Allgegenwart der Gewalt in der kolumbianischen Gesellschaft thematisieren. Die Filme von Víctor Gaviria zeichnen ein drastisches Bild dessen, was Pécaut als Zustand einer „generalisierten Gewalt“ bezeichnet. Daneben zeichnet sich im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Pastrana und den FARC ein Trend zur Reflexion über einen möglichen Ausstieg aus dem bewaffneten Konflikt ab. Die hoffnungsvolle Grundstimmung dieser Filme soll herausgearbeitet und den Gewaltszenarien in den zuvor präsentierten Filmen kontrastierend gegenübergestellt werden. Während der vierten Schaffensphase (2003 bis 2015) erreicht die kolumbianische Filmproduktion dank der staatlichen Filmförderung im Rahmen des Filmgesetzes ihren bisherigen Höhepunkt: nie zuvor war das Spektrum der Ansätze zur Darstellung und zur Reflexion des innerkolumbianischen Konflikts breiter gefächert. Zur Veranschaulichung sollen in diesem Kapitel zwei Tendenzen herausgegriffen werden, die in besonderem Maße zur Erweiterung des filmischen Diskurses über die Gewalt in Kolumbien beigetragen haben: zum einen eine Strömung von Filmen, die die Perspektive der Opfer der Gewalt in den Mittelpunkt stellen, und zum anderen eine Strömung von Filmen, die – in Abgrenzung zu den größtenteils nationalen Produktionen der zuletzt genannten Strömung – in Hinblick auf Produktion, Vertrieb und Rezeption als transnationales Kino221 bezeichnet werden können und neue Perspektiven auf das Land und den Konflikt bieten. 221  | Zu einer Definition des transnationalen Kinos siehe Kapitel I.2.1.

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Abschließend sollen die Ergebnisse der Filmanalysen in Hinblick auf die aufgeworfenen Forschungsfragen zusammengefasst werden.222 Dabei soll unter anderem über den Beitrag des kolumbianischen Kinos zur Reflexion und Aufarbeitung der Gewalt sowie über zukünftige Forschungsperspektiven reflektiert werden.

222 | Siehe Kapitel IV.

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III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film III.1 D ie „V iolencia“ und der B eginn ihrer filmischen V er arbeitung : nationale P roduk tionen ohne staatliche F örderung (1959-1978) Die erste Phase der filmischen Aufarbeitung der politischen Violencia setzt fast unmittelbar nach deren offizieller Beendigung im Jahre 1957 ein, als die Militärdiktatur des Generals Rojas Pinilla durch ein Regierungsabkommen zwischen den Liberalen und den Konservativen – die sogenannte „Frente Nacional“1 – abgelöst und der Zweiparteienstreit beigelegt wird. Zunächst im Kurz- und Dokumentarfilm, ab den 1960er Jahren auch im fiktionalen Langfilm, entwerfen die kolumbianischen Filmemacher erste Versuche, ihre frischen Eindrücke dieser bis dato düstersten Periode der Landesgeschichte im Film einzufangen. Um die Zusammenhänge zwischen den äußeren Rahmen­ bedingungen dieser Schaffensphase und den jeweiligen Darstellungs­ansätzen der betreffenden Filme verständlich zu machen, soll das folgende Kapitel einerseits Aufschluss über politische und gesellschaftliche Besonderheiten der Epoche, von der die Filme handeln, liefern und andererseits das soziokulturelle Panorama während der „Frente Nacional“ (1958-1974) umreißen, während der diese erste Welle der filmischen Aufarbeitung der Violencia stattgefunden hat.

III.1.1 Vom Zweiparteienkonflikt zur „Frente Nacional“ Der innerkolumbianische Konflikt der 1940er und 1950er Jahre kann als radikalisierte Fortsetzung des bereits bestehenden Parteienstreits angesehen werden, dessen Wurzeln in den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts liegen. Der „vererbte Hass“2 zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern, der sich über mehrere Generationen hinweg fortgepflanzt hat, wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem politischen Parteienzugehörigkeitsgefühl überlagert, welches als wichtigstes Merkmal der nationalen Identität in der ersten Hälfte 1 | Dt.: „Nationale Front“. 2 | Orig.: „odios heredados“. Marín Taborda 2005, 40.

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des 20. Jahrhunderts angesehen wird.3 1930 gewinnt die liberale Partei unter Führung des Präsidenten Enrique Olaya Herrera (1930-1934) zum ersten Mal nach 50 Jahren konservativer Hegemonie die Präsidentschaftswahlen. Die Präsidenten der sogenannten „República Liberal“4, die bis 1946 fortbesteht, versuchen das Land ihren politischen Überzeugungen gemäß zu reformieren: Steuer- und Agrarreformen zugunsten der Unter- und Mittelschicht, die Wiederherstellung der Gewerkschafts- und Streikrechte sowie die strikte Trennung von Staat und Kirche in allen öffentlichen Institutionen gehören zu ihren wichtigsten Aktionslinien.5 Die Konservativen, welche gestützt von der Kirche und den wirtschaftlichen Eliten diese Reformen als „liberalen Angriff auf die katholische Moral“6 verurteilen, holen Ende der 1930er Jahre zu einer „Gegen­ revolution mit Merkmalen eines politisch-religiösen Kreuzzuges, durchgeführt von jenen Teilen der extremen Rechten, die sich stolz als Katholiken, Konservative, Nationalisten und Reaktionäre bezeichneten“7, aus. Angesichts des zunehmenden Machtzuwachses der Konservativen und der beginnenden politischen Verfolgung schlägt der liberale Präsident Eduardo Santos (19381943) einen Versöhnungskurs ein und unterbricht die laufenden Reformen.8 Die liberale Partei spaltet sich daraufhin in ein gemäßigtes Lager unter der Leitung von Santos und einen radikalen Flügel unter der Führung des an Popularität gewinnenden Jorge Eliécer Gaitán. Diesem gelingt es als erstem kolumbianischen Präsidentschaftskandidaten, die unteren Bevölkerungsschichten, ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit, in die politische Debatte zu integrieren: Im Februar 1948 organisiert er aus Protest gegen die politische Verfolgung und Gewalt die berühmte „Marcha del Silencio“9, eine Großdemonstration in Bogotá, bei der er die soziale Ungerechtigkeit anprangert und radikale Land­ reformen ankündigt.10 „Was Gaitán gelingt, ist endlich das Volk in die kolumbianische Demokratie hineinzuschmuggeln“11, so erklärt Jorge Iván Marín Taborda den Gaitanismus, der als größte politische Massenbewegung in der 3 | Siehe Arias Trujillo 2007, 323. 4 | Dt.: „Liberale Republik“. 5 | Siehe Murillo Posada 2007, 288ff. 6 | Orig.: „amenaza liberal contra la moral católica“. Murillo Posada 2007, 291. 7 | Orig.: „,contrarevolución‘, con características de cruzada político-religiosa, llevada a cabo por aquellos sectores de la extrema derecha que se proclamaban con orgullo ‚católicos, conservadores, nacionalistas y reaccionarios‘“. Daniel Pécaut, zitiert in: Murillo Posada 2007, 291. 8 | Siehe Murillo Posada 2007, 290. 9 | Dt.: „Marsch der Stille“. 10  | Siehe Murillo Posada 2007, 294. 11 | Orig.: „Lo que hace Gaitán es meterle pueblo a la democracia colombiana“. Marín Taborda 2005, 43.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

kolumbianischen Geschichte gilt.12 Als die USA im Zuge des beginnenden Kalten Krieges auf der 9. Panamerikanischen Konferenz in Bogotá zum internationalen Kampf gegen den Kommunismus aufrufen, verschärft sich der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter, bis es am 9. April 1948 zur Ermordung Gaitáns durch die radikale Rechte kommt. Das gewaltsame Ende des Repräsentanten der „Stimme des Volkes“ löst beispiellose Wut und Schmerz bei seinen Anhängern aus, welche zu sofortigen Zerstörungs- und Racheakten im Zentrum von Bogotá ausholen. Mittels Live-Übertragungen des „Bogotazo“ durch das Radio verbreitet sich die Nachricht über den Tod Gaitáns sowie auch über die Kampf bereitschaft der aufgebrachten Bevölkerung unmittelbar im ganzen Land. In manchen Kleinstädten bilden sich alter­ native Regierungen der Gaitanisten, deren Aktionen auch als „9 de abril en provincia“13 bekannt werden.14 Bei den Wahlen von 1949 verweigern sich die Liberalen und werfen dem Kongress angesichts der tobenden Gewalt im ganzen Land Regierungsunfähigkeit vor. Der amtierende konservative Präsident, Mariano Ospina Pérez (1946-1950), löst daraufhin das Parlament auf, zensiert die Presse, verhängt eine Ausgangssperre und bringt tausende von liberalen Gewerkschaftlern und Politikern ins Gefängnis.15 Geschichtsanalytiker bezeichnen die Zeit nach 1950, als der Konservative Laureano Gómez (1950-1953) die Präsidentschaft übernimmt, als „[…] zivile Diktatur, gestützt auf die Streitkräfte, die ‚chulavita‘-Polizei [bewaffnete konservative Sondereinsatztruppen] sowie katholische Geistliche hohen und niederen Ranges, eine Diktatur, die beabsichtigte mit dem Modell der liberalen, modernen Demokratie zu brechen und eine ‚soziale christliche Ordnung‘ nach dem Vorbild des franquistischen Spaniens einzuführen.“16

Studien von Daniel Pécaut und Paul Oquist zufolge können allein während der dreijährigen Amtsperiode von Laureano Gómez 50.000 politische Morde an liberalen Parteianhängern verzeichnet werden.17 Diese treten reihenweise von ihren Ämtern zurück oder müssen ins ausländische Exil, um ihr Leben zu retten. Ausgelöst durch die Teilnahme kolumbianischer Streitkräfte am 12 | Siehe Murillo Posada 2007, 294. 13 | Dt.: „9. April in der Provinz“. 14 | Siehe Murillo Posada 2007, 294ff. 15 | Siehe Murillo Posada 2007, 296. 16  | Orig.: „[…] dictadura civil apoyada en el ejército, en la policía „chulavita“ y en los altos y bajos clérigos católicos, una dictadura que se proponía romper el modelo de la democracia liberal moderna e instaurar un „orden social cristiano“ y un régimen corporativo, al estilo de la España franquista.“ Murillo Posada 2007, 296. 17  | Vgl. Murillo Posada 2007, 297.

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Korea-­K rieg 1952 auf Drängen der US-Alliierten kommt der Gedanke auf, eine Militärdiktatur könnte die außer Kontrolle geratene Situation in Kolumbien befrieden.18 1953 erfolgt schließlich der Militärputsch des Generals Gustavo Rojas Pinilla, der die zivile Regierung für vier Jahre ablöst und das Land in vielfacher Hinsicht positiv beeinflusst19, bevor er es 1957 – ohne Blutvergießen – wieder an eine Zivilregierung übergibt. Ein großes Paradox in der kolumbianischen Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht in der Tatsache, dass die beiden traditionellen Parteien, deren politische Divergenzen ausschlaggebend für das Blutbad der Violencia geworden sind, sich 1957 gemeinsam gegen die Militärregierung von Rojas Pinilla verbünden und, zumindest kurzfristig, den von diesem herbeigeführten Zustand des relativen Friedens aufrechterhalten:20 „Die Rivalität wurde durch friedliche Zusammenarbeit, der Kampf um das Monopol des bürokratischen Apparats durch die institutionelle Aufteilung der Macht ersetzt“21, so fasst der Politologe Gonzalo Sánchez den plötzlichen Sinneswandel der Parteien in seiner Studie über die Auswirkungen der Violencia auf das politische System in Kolumbien zusammen. In der offiziellen Geschichtsschreibung ist die „Frente Nacional“, während der sich die Präsidentschaftskandidaten der Liberalen und der Konservativen vertraglich alle vier Jahre mit dem Regieren abwechseln, oft als Rückkehr der Demokratie nach der Militärdiktatur dargestellt worden. Die Tatsache, dass es dem sogenannten Diktator gelungen ist, die Zahl der gewaltsamen Morde in Kolumbien von 22.000 (1952-1953) auf nur 1.900 (19541955) zu dezimieren,22 indem er die politische Verfolgung unterband, die bewaffneten Gruppen mittels Amnestieangeboten zur Niederlegung der Waffen bewegte und demokratische Grundrechte wie die Pressefreiheit gewährleistete,23 lässt jedoch auch kritischere Lesarten zu: Die Versöhnung der traditionellen Parteien kann als „Pakt der Oligarchie“24 im Kampf um die Erhaltung des Machtmonopols interpretiert werden, welches jene angesichts der Erfolge Rojas

18 | Siehe Murillo Posada 2007, 296. 19 | Unter dem Slogan „Paz, justicia y libertad“ (dt.: „Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit“) gelingt es dem Diktator, weite Teile des Landes zu befrieden, wichtige Grund­r echte wieder einzuführen und nicht zuletzt technische und kulturelle Innovationen wie das Fernsehen oder international expandierende Theaterschulen im Land zu etablieren. 20 | Siehe Murillo Posada 2007, 301. 21  | Orig.: „La rivalidad fue sustituida por la cooperación pacífica, y la lucha por el monopolio del aparato burocrático fue reemplazada por la repartición institucional del poder“. Sánchez 1976, 3. 22 | Siehe Murillo Posada 2007, 301. 23 | Siehe Murillo Posada 2007, 300f. 24 | Orig.: „pacto oligárquico“. Arias Trujillo 2007, 314.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Pinillas langfristig gefährdet sahen.25 Kritiker der Zweiparteienregierung, wie z.B. Alfonso López Michelsen, erster demokratisch gewählter Präsident nach der Auflösung der „Frente Nacional“ (1974-1978), sehen die Koalition der traditionellen Parteien sogar als Hauptursache für die Herausbildung kommunistischer Guerillas in den 1960er Jahren an: Durch den systematischen Ausschluss oppositioneller Parteien26 von der Politik gleiche die Zweiparteien­ regierung einem neuen autoritären Regime, das die Notwendigkeit der Durch­ führung von Reformen zur Verbesserung der sozialen Problematik und insbesondere zur Landverteilung ignoriert und somit den benachteiligten Bevölkerungs­gruppen zur Durchsetzung ihrer Ziele keinen anderen Ausweg als den bewaffneten Kampf lässt.27 Dieser wiederum erfährt während der „Frente Nacional“ einen grund­ sätzlichen Wandel. Während die bewaffneten Gruppen zu Zeiten der Violencia quasi als militärische Flügel der streitenden traditionellen Parteien angesehen werden können und, fast ausnahmslos, nach der offiziellen Beendigung des Zweiparteienkonflikts die Waffen niederlegen,28 treten die linken Guerillas der 1960er und 1970er Jahre für die Interessen der von der Politik ausgeschlossenen Massen ein, welche sie durch die liberalen und konservativen Eliten verraten sehen. Inspiriert vom Marxismus, der erfolgreichen kubanischen Revolution sowie kollektiven Revolutionsbestrebungen in ganz Lateinamerika lebt auch in Kolumbien die Hoffnung auf, den Sieg des Volkes gegen die Oligarchien doch noch auf militärischem Wege durchsetzen zu können. Dabei sind die ideologischen und praktischen Ansätze der verschiedenen Guerilla-Gruppen zunächst sehr unterschiedlich: Die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“29, kurz FARC, entstehen 1964 als reine Bauernbewegung zum Ziel der Selbst­ verteidigung ihres Landes, welches Präsident Guillermo León Valencia (19621966) zur Vorbeugung gegen die „kommunistische Bedrohung“ bombardieren lässt.30 In abgelegenen Teilen der Bundesstaaten Tolima, Meta, Guaviare und Caquetá, „das heißt, in peripheren Gebieten, weit entfernt vom Zentrum

25 | Siehe Arias Trujillo 2007, 314. 26 | Kurz nach Inkrafttreten der „Frente Nacional“ entsteht die linksgerichtete Partei MRL („Movimiento Revolucionario Liberal“) unter Führung von López Michelsen sowie die ANAPO („Alianza Nacional Popular“) des Ex-Diktators Rojas Pinilla, welcher die Wahlen von 1970, bei denen der „Frente Nacional“ massiver Wahlbetrug vorgeworfen wird, beinahe gewinnt. Siehe Arias Trujillo 2007, 324-332. 27 | Siehe Arias Trujillo 2007, 314. 28 | Siehe Murillo Posada 2007, 300ff. 29 | Dt.: „Revolutionäre Bewaffnete Streitkräfte Kolumbiens“. 30 | Siehe Arias Trujillo 2007, 331.

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des Landes und mit geringer oder gar keiner staatlichen Präsenz“31, erreichen die Kämpfer Einfluss unter der ländlichen Bevölkerung, stellen aber zunächst keine ernsthafte Gefahr für den kolumbianischen Staat dar. Die ELN, „Ejercito de Liberación Nacional“32, entsteht ebenfalls in den frühen 1960er Jahren. Ihre Verbreitung bleibt zunächst auf das Department Santander begrenzt, wo traditionell Öl gefördert wird und in den 1940er Jahren eine starke Präsenz der liberalen Guerilla verzeichnet werden kann. Im Gegensatz zu den FARC sind ihre Anführer studierte, radikale Linke mit politischer oder gewerkschaftlicher Erfahrung, die die Machtübernahme auf nationaler Ebene mit dem Ziel der sozialistischen Revolution anstreben.33 Auch wenn die militärische Reichweite der ELN sehr begrenzt ist, wird sie von der „Frente Nacional“ früh als Gefahr empfunden. Präsident Carlos Lleras Restrepo (1966-1970) legalisiert daher die Formierung sogenannter „Autodefensas Civiles“34, paramilitärischer Söldner­ truppen zum Zwecke der Verteidigung von Großgrundbesitzern und Großkonzernen gegen die linken Rebellen.35 1970 entsteht schließlich das „Movimiento 19 de abril“36, kurz M-19, die wohl populärste Guerilla der kolumbianischen Geschichte. Als Reaktion auf den offensichtlichen Wahlbetrug der „Frente Nacional“ von 1970 und die undurchsichtige Durchsetzung ihres Kandidaten Misael Pastrana (1970-1974) gegen den Ex-Diktator Rojas Pinilla und seine Partei ANAPO schließen sich überzeugte Demokraten unterschiedlicher politischer Gesinnung zu einer urbanen Protestbewegung gegen die „Frente Nacional“ zusammen, um auf den desaströsen Zustand der kolumbianischen Demokratie aufmerksam zu machen.37 Da die M-19 weder mit kommunistischem Dogmatismus behaftet ist noch ausschließlich die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen vertritt, gelingt es dieser Guerilla schnell, Sympathisanten aus unterschiedlichen Schichten um sich zu scharen. Mit spektakulären Aktionen, wie z.B. der Besetzung der Dominikanischen Botschaft 1980 oder des Justizpalastes 1985, inszeniert die M-19 ihren Einfluss und ihr militäri31 | Orig.: „es decir, territorios periféricos, alejados del centro del país y con poca o nula presencia del Estado“. Arias Trujillo 2007, 331. 32 | Dt.: „Nationale Befreiungsarmee“. 33 | Siehe Arias Trujillo 2007, 331. 34 | Dt.: „Zivile Selbstverteidiger“. Vor dem Hintergrund politischer Morde und Verflechtungen der „autodefensas“ mit der Drogenmafia wird dem organisierten Para­m ilitarismus bald darauf die gesetzliche Grundlage entzogen. Bereits 1994 wird die Bewaffnung von Selbstverteidigungsorganisationen, die sich nun „CONVIVIR“ nennen, wieder legalisiert. 1995 gründet sich ein nationaler Dachverband der paramilitärischen Gruppen (AUC) unter der Führung von Carlos Castaño. Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 115ff. 35 | Siehe Arias Trujillo 2007, 332. 36 | Dt.: „Bewegung 19. April“. 37 | Siehe Arias Trujillo 2007, 333.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

sches Geschick. Als Folge des Massenmordes an Beteiligten und Unbeteiligten, mit dem das kolumbianische Militär auf die Besetzung des Justizpalastes bei ihrem Evakuierungseinsatz reagiert, wandelt sich die M-19 1991 in eine politische Partei um, die jedoch heute keine bedeutende Rolle spielt. Anders als in anderen Staaten Südamerikas, wo sich die Hoffnungen auf die sozialistische Revolution bereits 1967 nach dem Tod Che Guevaras aufzulösen beginnen und durch die Militärputschs der 1970er Jahre in Chile, Uruguay und Argentinien vollends zerstört werden, erreichen die Guerillas im Kolumbien der 1970er Jahre den Höchststand ihrer Beliebtheit bei der Bevölkerung.38 Die sozialen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts sowie deren Hauptursache – die ungerechte Landverteilung – werden von der „Frente Nacional“ nicht gelöst: wie auch während der vorangegangenen Regierungen werden strittige Fragen zu Gunsten der Oligarchien entschieden39 und somit weiterhin der Nährboden für den politischen Ungehorsam der Massen gelegt. Nicht nur in politischer Hinsicht sind die 1950er und 1960er Jahre in Kolumbien von Umbrüchen geprägt, auch im gesellschaftlichen Sektor finden tiefgreifende Veränderungen statt. Zwischen 1951 und 1975 verdoppelt sich die kolumbianische Bevölkerung von 11,5 auf 22 Millionen.40 Bogotá überschreitet zu Beginn der 1960er Jahre als erste kolumbianische Großstadt die Millionengrenze, gefolgt von Barranquilla, Medellín und Cali, die es auf über 500.000 Einwohner bringen.41 Parallel zu dieser Entwicklung findet eine Umverteilung in der wirtschaftlichen Struktur statt: Kolumbien wird vom Agrarland zum vorwiegend urbanen Land, ein großer Teil der Beschäftigten sattelt von landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf Dienstleistungen im Bereich der Kommunikation, des Transports, des Finanzsektors oder der Industrie um.42 Neben der Violencia nennt Ricardo Arias Trujillo auch die Attraktivität der Städte als Grund für die massive Landflucht, die ab den 1950er Jahren vor allem in der Andenregion zu verzeichnen ist.43 Beflügelt von der moralischen und sexuellen Revolution durch die beginnenden Studentenbewegungen in Europa und den USA sowie angefacht vom Geiste der gelungenen kubanischen Revolution und Umbruchsbestrebungen in ganz Lateinamerika findet im Kolumbien der 1960er Jahre auch ein Wandel in der Wahrnehmung der Familie und insbe38 | Siehe Arias Trujillo 2007, 333. 39 | Beispielsweise werden die zaghaften Landverteilungsprozesse der liberalen Regierungen in der Amtsperiode von Misael Pastrana (1979-1974) mittels des „Pacto de Chicoral“ gestoppt und rückgängig gemacht. Siehe Arias Trujillo 2007, 332. 40 | Siehe Arias Trujillo 2007, 317. 41  | Siehe Arias Trujillo 2007, 317. 42 | Siehe Arias Trujillo 2007, 318. 43 | Siehe Arias Trujillo 2007, 318.

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sondere der Rolle der Frau statt.44 In einer Stimmung des gesellschaftlichen Auf bruchs und des relativen Friedens nach der offiziellen Beendigung der Violencia, die nur durch die immer deutlicher werdende soziale Problematik der unteren Schichten getrübt wird, setzt eine intensive Beschäftigung mit der Epoche der politischen Gewalt in allen Künsten ein. Eine Vorreiterrolle nehmen dabei bildende Künstler wie Alejandro Obregón, Enrique Grau, Débora Arango oder Pedro Nel Gómez ein, die bereits während der Violencia mit ihren Gemälden auf Ereignisse wie den „Bogotazo“ oder politisch motivierte Massaker reagieren und deren Werke zu Zeiten der „Frente Nacional“ noch an Ausdruckskraft und Stärke gewinnen.45 Auch im Bereich der Literatur beginnen Autoren wie Carlos Castro Saavedra oder Rogelio Echavarría (Lyrik) sowie Jorge Zalamea, Eduardo Caballero Calderón, Manuel Zapata Olivella, Manuel Mejía Vallejo oder Gabriel García Márquez (Prosa) sich der Thematik anzunehmen.46 Mithilfe einer selbst entwickelten kollektiven Inszenierungsmethode47 bringen die alternativen Theatergruppen „La Candelaria“ und „Teatro Experimental de Cali“ unter der Leitung von Santiago García und Enrique Buenaventura zur Mitte der 1960er Jahre Theaterstücke hervor, die die Violencia reflektieren und deren Ursachen offen anprangern.48 Die ersten Annäherungen des kolumbianischen Kinos an die politische Violencia werden in der Fachliteratur hingegen häufig als zaghaft, unentschieden oder zu wenig radikal beschrieben.49 Dieses Urteil mag angesichts der zeitlichen Nähe zu den traumatischen Ereignissen der 1940er und 1950er Jahre hart erscheinen, es begründet sich jedoch durch das gleichzeitige Aufkommen des politischen Kinos in Lateinamerika, welches folglich zum Maßstab für die Betrachtung der lateinamerikanischen Filme wird. Die Bewegung, die auch unter dem Namen „Neues Lateinamerikanisches Kino“ bekannt wird50 und zu 44 | Tatsächlich gehört Kolumbien in den 1960er Jahren zu den fortschrittlichsten Ländern in Lateinamerika, was Bildung, Selbstentscheidung und Geburtenkontrolle der Frau betrifft. Siehe Arias Trujillo 2007, 319f. 45 | Vgl. Medina 1999, 10-77. 46 | Vgl. Aristizábal 1999, 184-207. 47 | Die „creación colectiva“ (dt.: „kollektive Kreation“), die in Kolumbien entwickelt und für ganz Lateinamerika bedeutend wird, wird von der deutschen Theater­w issenschaftlerin Kati Röttger in ihrem Artikel Creación Colectiva – Mode oder Methode im Prozess der nationalen Theaterentwicklung in Lateinamerika? (1991) sowie in ihrer Dissertation Kollektives Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität. La Candelaria und das neue kolumbianische Theater (1992) erläutert. 48 | Vgl. Reyes 1999, 254-267. 49 | Vgl. Pulecio 1999, 153 sowie Suárez 2009 (1), 59. 50 | Michael Chanan und Ana María López zufolge sollte der Begriff besser im Plural stehen, denn eigentlich sei das „Neue Lateinamerikanische Kino“ keine kollektive Strömung,

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dessen Schlüsselfiguren der Argentinier Fernando Birri, der Kubaner Tomás Gutiérrez sowie der Brasilianer Glauber Rocha zählen, zeichnet sich unter anderem durch ihre hohen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Ziele aus: „Die Filme des Neuen Lateinamerikanischen Kinos waren revolutionär, explizit politisch und riefen zur Beendigung der Unterentwicklung, der Armut, der Unterdrückung, des Hungers, der Ausbeutung, des Analphabetismus, der Ignoranz auf“51, erklärt die kubanische Filmwissenschaftlerin Ana María López. Oswaldo Osorio zufolge kann das kolumbianische Kino der 1960er Jahre, gemessen an den ambitionierten Inhalten der Manifeste der südamerikanischen Kollegen, höchstens als „soziales Kino“52 bezeichnet werden, denn es bilde zwar soziale Realitäten ab und kritisiere somit indirekt die Politik, der entscheidende Schritt zum „politischen Kino“53, der in der Transzendierung der Beschreibung und in der ästhetischen Kreation einer neuen Realität bestehe, werde von den kolumbianischen Filmemachern aber nicht vollzogen.54 Auch als Teil des „Dritten Kinos“55, wie es die Argentinier Octavio Getino und Pino Solanas im nachfolgenden Zitat aus ihrem Manifest von 1969 beschreiben, werden die kolumbianischen Filme der 1960er und frühen 1970er Jahre selten wahrgenommen: „Wirkliche Alternativen, die sich von denen, die das System anbietet, abgrenzen, sind nur möglich, wenn eine der beiden folgenden Voraussetzungen erfüllt wird: Filme zu machen, die das System nicht erfassen kann und die seinen Bedürfnissen fremd sind, oder Filme zu machen, die direkt und explizit das System angreifen. Keine dieser Voraus­ setzungen ist mit den Alternativen kompatibel, die das Zweite Kino noch anbietet, aber sie können in der revolutionären Öffnung hin zu einem marginalen Kino gegen das System gefunden werden, im Kino der Befreiung, dem Dritten Kino.“56 sondern eine Reihe von gleichzeitig entstandenen Filmen in unterschiedlichen Ländern, die wegen ihrer politischen Nähe zum Geist der kubanischen Revolution in eine Schublade gesteckt würden. Vgl. Suárez 2009 (1), 60. 51  | Orig.: „Las películas del Nuevo Cine Latinoamericano fueron revolucionarias, explícitamente políticas y apelaban por acabar con el subdesarrollo, la pobreza, la opresión, el hambre, la explotación, el analfabetismo, la ignorancia“. López 1997, 150. Zitiert in: Suárez 2009 (1), 61. 52 | Orig.: „cine social“. Osorio O. 2001, 21. 53 | Orig.: „cine político“. Oswaldo O. 2001, 21. 54 | Siehe Osorio O. 2001, 21. 55 | Orig.: „Tercer Cine“. Begriff in Abgrenzung zum „Ersten Kino“ (dem kommerziellen Film) und dem „Zweiten Kino“ (dem Autorenfilm). 56 | Orig.: „Verdaderas alternativas diferentes de aquellas ofrecidas por el sistema sólo son posibles si se cumple uno de dos requisitos: hacer películas que el sistema no pueda asimilar y que sean extrañas a sus necesidades, o hacer películas que directa y explícitamente

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Den Grundsätzen des politischen Kinos widersprechend, sind die kolumbianischen Filme der betreffenden Phase weder ‚von unten‘, also vom ‚Volk‘ aus konzipiert, wie es beispielsweise Glauber Rocha 1965 in seiner berühmten „Ästhetik des Hungers“ fordert 57, noch greifen sie explizit das System an. Der von Getino und Solanas vorgeschlagenen Klassifikation zufolge sind die kolumbianischen Filme am ehesten dem „Ersten“, dem kommerziellen Kino zuzuordnen, denn trotz ihrer brisanten Inhalte bleiben sie klassischen Genres und Erzählkonventionen treu und werden mehrheitlich von der kommerziellen Kinokette Cine Colombia vermarktet.58 Die kolumbianischen Regisseure, die sich der Aufarbeitung der Violencia als Erste annehmen, stammen vornehmlich aus der Oberschicht und haben im europäischen oder nordamerikanischen Ausland Film studiert, bevor sie in den 1960er Jahren in ihre Heimat zurückkehren. Obwohl sie auf ihren Bildungsreisen Gelegenheit haben, wichtige Vertreter des politischen Kinos in Lateinamerika kennenzulernen,59 ist von diesem Einfluss in ihren Werken wenig zu spüren. Juana Suárez stellt zur Erklärung dieses Sachverhalts die These auf, dass sich in der Haltung der kolumbianischen Regisseure keine Identifikation mit ihrem Land zeige und dass sie dieses sogar mit einem gewissen Exotismus betrachteten, welcher den Vertretern des Neuen Lateinamerikanischen Kinos fremd sei.60 Hernando Martínez Pardo zufolge könnte jedoch auch die Zensur sozialkritischer Filme wie Raíces de piedra (1963) oder El río de las tumbas (1964) bewirkt haben, dass es – außer im Dokumentarfilm61 – im Verlauf der 1960er und 1970er Jahren keine ausgeprägten Versuche eines politischen Kinos in Kolumbien gibt.62

combatan al sistema. Ninguno de estos requisitos es compatible con las alternativas que todavía ofrece el segundo cine, pero pueden encontrarse en la apertura revolucionaria hacia un cine marginal y en contra del sistema, un cine de la liberación, el tercer cine.“ Fernando Solanas und Octavio Getino, zitiert in: King 1994, 102 [Hervorhebung im Original]. 57 | Vgl. Larrain 2005. 58 | Z.B. im Falle von El rio de las tumbas, Bajo la tierra (dt.: „Unter der Erde“. Santiago García, 1968, Kolumbien), Tres cuentos colombianos und Aquileo Venganza (dt.: „Aquileo Rache“. Ciro Durán, 1968, Kolumbien). Vgl. Martínez Pardo 1978. 59 | Siehe Suárez 2009 (1), 64. 60 | Siehe Suárez 2009 (1), 64. 61 | Die Dokumentarfilmer Marta Rodríguez, Jorge Silva und Carlos Álvarez sind die wichtigsten Vertreter des politischen Kinos in Kolumbien. 62 | Siehe Martínez Pardo 1978, 316.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

III.1.2 E xemplarische Filmanalysen Im Verlauf dieses Kapitels soll anhand der Analyse von vier ausgewählten Filmen dargestellt werden, wie das Thema der politischen Violencia Einzug in die kolumbianische Kinematografie hält und welche Wege die Filmemacher wählen, um die noch weitgehend unverarbeitete Periode filmisch darzustellen. Allgemein kann eine steigende Intensität in der Inszenierung der Gewalt, aber auch der Analyse ihrer Ursachen innerhalb dieser ersten Phase der filmischen Aufarbeitung festgestellt werden, welche 1959 einsetzt und mit dem Inkrafttreten der staatlichen Filmförderung FOCINE im Jahre 1978 und dem damit verbundenen Wandel der Produktionsbedingungen endet. Zunächst soll auf den Kurzfilm Esta fue mi vereda 63 (Gonzalo Canal Ramírez, 1959, Kolumbien) eingegangen werden, da dieser als erster die Violencia und deren verheerende Auswirkungen auf das rurale Kolumbien thematisiert. Der erste Langfilm zum Thema, El hermano Caín 64 (Mario López, 1962, Kolumbien), unterliegt nach seiner Fertigstellung „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“65 der Zensur, da die Erinnerungen an die Violencia noch zu frisch seien.66 Er gilt bis heute als verschollen und steht daher nicht für die Unter­ suchung zur Verfügung. Stattdessen soll El río de las tumbas 67 (Julio Luzardo, 1964, Kolumbien) besprochen werden, der als Meilenstein des kolumbianischen Kinos gilt und außerdem der erste überlieferte Langfilm mit Bezug zur politischen Violencia ist. Es folgen die Analysen der Filme Bajo la tierra 68 (Santiago García, 1968, Kolumbien) und Aquileo Venganza 69 (Ciro Durán, 1968, Kolumbien), welche das gewalttätige Ambiente der Epoche in Form des sozial­ kritischen Melodrams bzw. des Western wiedergeben.

III.1.2.1 Esta fue mi vereda (dt.: „Dies war mein Dorf“. Gonzalo Canal Ramírez, 1959, Kolumbien, Kurzfilm) Hernando Martínez Pardo zufolge ist der zwanzigminütige Kurzfilm Esta fue mi vereda70 als Teil eines kollektiven Moments der Suche und der Neu­ orientierung im kolumbianischen Kino zu begreifen, die 1953 zeitgleich mit 63 | Dt.: „Dies war mein Dorf“. 64 | Dt.: „Der Bruder Kain“. 65 | Orig.: „por motivos de orden publico“. Martínez Pardo 1978, 278. 66 | Siehe Martínez Pardo 1978, 278. 67 | Dt.: „Der Fluss der Gräber“. 68 | Dt.: „Unter der Erde“. 69 | Dt.: „Aquileo Rache“. 70 | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Originalfassung, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“. Dieser Film ist nicht im kommerziellen Handel verfügbar.

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der Militär­diktatur einsetzt: Filme wie El milagro de sal71 (Luis Moya Sarmento, 1958, Kolumbien) oder Chambú72 (Alejandro Kerk, 1961, Kolumbien), die fast zeitgleich entstehen, wenden sich bewusst von ausländischen Vorbildern ab und konfrontieren den Zuschauer mit nationalen Themen.73 Während in den genannten Langfilmen die soziale Problematik im Mittelpunkt steht, beschreibt Esta fue mi vereda, wie die Violencia in ein friedliches Bergdorf vordringt und dem harmonischen Zusammenleben seiner Bewohner ein Ende setzt. Im Verlauf der ersten 16 Minuten des Films inszeniert der Regisseur, der selbst aus einer von der Violencia betroffenen Region stammt 74, das Bild einer perfekten ländlichen Idylle. Während eine männliche Erzählerstimme mittels Voice-Over die alltäglichen Arbeits- und Freizeitaktivitäten der Dorf bewohner beschreibt, werden Panoramaaufnahmen der hügeligen Landschaft, Totalen mit grasendem Vieh und fröhlichen Feldarbeitern sowie Nahaufnahmen von verliebten Pärchen, lachenden Kindern oder geschichtenerzählenden Alten eingeblendet. Aussagen wie „Hier lebten wir in Ruhe“75, „im Gesicht die Zufrieden­heit der Arbeit und die Abwesenheit von Furcht“76 oder „die Kirch­ türme waren Symbol des Friedens“77 lassen keinen Zweifel am friedlichen Charakter des ländlichen Zusammenlebens, das der Erzähler, der sich als ehemaliger Bewohner des dargestellten Dorfes zu erkennen gibt, in nostalgischer Weise erinnert. Auch die musikalische Untermalung der Szenen, die zwischen sehnsüchtig anmutenden Geigentönen und fröhlicher, folkloristischer Tanzmusik variiert, betont die Vollkommenheit des Idylls. Schon während der Anfangs-Credits wird die bevorstehende Zerstörung der heilen Welt mittels der Einblendung eines symbolisch aufgeladenen Hintergrundbildes (HN)78 – eine Blume, die von einem lodernden Feuer aufgefressen wird 79 – angekündigt. Der Erzähler deutet die Katastrofe auch verbal voraus, als er das Treiben der Kinder

71  | Dt.: „Das Salzwunder“. 72 | Dt: „Chambú“. 73 | Siehe Martínez Pardo 1978, 458. 74 | Canal Ramírez wächst in Gramalote, einem kleinen Dorf im Norden des Bundes­s taates Santander, auf. Später studiert er Philosophie in Rom, Jura in Bogota, Soziologie in Buenos Aires sowie zeitgenössische Philosophie in Perugia. Esta fue mi vereda ist sein erster und einziger Film. Siehe Martínez Pardo 1978, 201f. 75 | Orig.: „Aquí vivíamos tranquilos“ (01:30). 76 | Orig.: „en su rostro la satisfacción del trabajo y la ausencia del temor“ (03:35). 77  | Orig.: „Las torres de la iglesia eran símbolo de paz“ (11:45). 78 | Zur Abkürzung von Einstellungsgrößen vgl. Hickethier 2007, 55ff. 79 | 00:00-00:38.

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auf dem Schulhof kommentiert: „Wir waren die Hoffnung unserer Zukunft – eine Zukunft, die für einige von uns niemals kam.“80 Der dramaturgische Wendepunkt des Filmes – die Ankunft der Gewalt im Dorf – wird sowohl verbal als auch auf der Bildebene eingeleitet: Während der Erzähler die Beschreibung der Idylle beendet und zur Chronik der Zerstörung überleitet („So war mein Dorf: reiner Himmel, reine Seelen. Aber eines Tages zogen sich die Wolken über dem Dorf zusammen und brachten Vorboten des Verhängnisses.“81), erfolgt ein Abwärtsschwenk vom Wipfel einer Palme vor dem blauen Himmel (HN) zum Stamm der Palme, auf den das Gesicht eines Mannes als Zielscheibe aufgemalt ist (N). Mit einem kurzen Zwischenschnitt auf die Detailaufnahme eines abfeuernden Revolvers wird klar, dass mit dem „Verhängnis“, von dem der Erzähler spricht, der bewaffnete Konflikt gemeint ist. Die Ankunft der Gewalt wird zunächst anhand der Veränderungen im Alltags­ leben der Menschen erzählt. Als Reaktion auf das ungeklärte Verschwinden und den Tod von Mitbürgern, die „ohne zu wissen warum“82 von „Schüssen unbekannter Herkunft“83 niedergestreckt werden, beginnen die Dorf bewohner nachts die Türen zu verrammeln und ihre zuvor nur zur Jagd gebrauchten Waffen zur Selbstverteidigung bei sich zu tragen. Ein Klima der Angst und des Misstrauens breitet sich aus, welches filmsprachlich auch durch eine Steigerung des Schnittrhythmus und dramatisierende Musik ausgedrückt wird. Der erste Mord wird parallel zur Voice-Over-Erzählung auch inszeniert: Ein Arbeiter wird beim Überqueren eines Baches aus dem Hinterhalt erschossen und bricht tot über einem Baumstamm zusammen (T).84 Darauf schwenkt die Kamera von einer halbtotalen Ansicht des Toten nach unten zum Wasser,85 dessen beständiges Fließen den unaufhörlichen Lauf der Geschichte – bzw. der Violencia – versinnbildlichen könnte. Auch das nächste Opfer findet sein Grab vor der Kulisse eines Gewässers, dem Dorfteich, wo sich, wie im ersten Teil des Films dargestellt, traditionell Liebespaare zum Austausch von Zärtlichkeiten zusammenfinden. Ein junger Mann wird mitten in der Umarmung mit seiner Geliebten (N) von vermummten Banditen erschossen, welche anschließend in einer typischen Westerneinstellung („Amerikanisch“) gezeigt werden.86 Der begleitende Kommentar des Erzählers („Dieses Mal waren die Opfer zwei un80 | Orig.: „Eramos la esperanza de nuestro futuro – futuro que para algunos de nosotros no llegó nunca.“ 08:25. 81 | Orig.: „Así era mi vereda: limpio cielo, limpias almas. Pero, un día, las nubes sobre la vereda se abatieron y trajeron presagios de fatalidad.“ 15:50. 82 | Orig.: „sin saber por qué“ (16:05). 83 | Orig.: „disparos de origen desconocido“ (16:10). 84 | 16:50-16:58. 85 | 16:58. 86 | 17:15-17:35.

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schuldige Bauern, die keine andere Flagge als die der Liebe trugen.“87) wirft Fragen nach der Motivation der Mörder auf, denn die konservative und die liberale Partei, die sich während der Violencia gegenseitig massakrieren, werden gemeinhin mit den Farben ihrer Flaggen (blau und rot) assoziiert. Die Anspielung auf die „Flagge der Liebe“, die das Pärchen trägt, verweist auf dessen Ferne zum politischen Konflikt: die Liebenden werden zu Opfern, obwohl sie nicht in den politischen Disput involviert sind. Andererseits könnte gerade ihre politische Neutralität, die mit der Weigerung einhergeht, sich zur roten oder blauen Flagge zu bekennen, der Grund für ihre Ermordung sein. Die anschließende Inszenierung des Überfalls auf das Dorf wird in der Fachliteratur einhellig als Schwachpunkt des Films beschrieben.88 Der bis zu diesem Moment dokumentarisch anmutende Darstellungsduktus wird durch die überzeichnete, offensichtlich als Fake zu erkennende Mise en Scène des Angriffs der Banditen und durch deren klischeehafte Cowboy-Verkleidung gebrochen: mit karierten Tüchern und tiefsitzenden Hüten vermummt, zünden die Männer Häuser an und schießen ziellos umher. Die Angriffssequenz, während der der Erzähler schweigt, dauert nur eine knappe Minute,89 darauf folgt die Dokumentation der Aufräumarbeiten und Leichenbeseitigung.90 Die Schlusssequenz, die die letzten 90 Sekunden des Films in Anspruch nimmt, handelt von der Rückkehr des Ich-Erzählers nach vielen Jahren in sein Heimatdorf, „oder besser gesagt, in das Ödland, das [sein] Dorf nun war“91: Der Weg, der zu den Häusern führt, ist von Grabkreuzen gesäumt, die Häuser verlassen, die Gärten von Unkraut überwuchert. Der Erzähler, der nun zum ersten Mal im Bild zu verorten ist, reitet durch die Ruinen seines Dorfes und trifft schließlich auf eine Frau, die vor einem Haus sitzt und scheinbar betet.92 Als der Heimkehrer näher tritt, wird der Zuschauer gewahr, dass die Frau nicht betet, sondern Erinnerungen an ihr Trauma vor sich hin murmelt: „Sie haben sie verbrannt, sie haben sie verbrannt.“93 Eine gestalterische Klammer bildend, endet der Film, wie er angefangen hat: mit den Credits vor dem Bild der Flammen. Gemessen am filmischen Standard seiner Zeit kann Esta fue mi vereda sicherlich nicht als herausragend angesehen werden. Besonders auffällig sind seine 87  | Orig.: „Esta vez, las víctimas fueron dos campesinos inocentes que no tenían más bandera que la de su amor.“ 17:27.

88 | Vgl. Martínez Pardo 1978, 234. 89 | 17:30-18:25. 90 | 18:25-18:57. 91 | Orig.: „o, mejor dicho, al yermo de lo que fue mi vereda“. 19:03-19:10. 92 | 20:10. 93 | Orig.: „Los quemaron, los quemaron.“ 20:18.

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technischen Mängel, die sich beispielsweise im Fehlen des Originaltons äußern: sowohl die Erzählerstimme als auch die musikalische Untermalung sind asynchron und im Nachhinein über die Filmaufnahmen gelegt.94 Dennoch ist Esta fue mi vereda ein wichtiges Zeitdokument. Ramiro Andrade, Autor einer Zeitungsrezension aus dem Jahre 1960, lobt den Film aus diesem Grunde: „Gonzalo Canal Ramírez hat einen 21-minütigen Film mit einem eindrucksvollen und manchmal grausamen Zeugnis gegen die Violencia geschaffen, der vielleicht um einiges dichter ist als die reichlich vorhandene Literatur, die über ein Thema, das derartig tief mit dem nationalen Leben verwickelt ist, im Land verbreitet wird.“95

Hält man sich vor Augen, dass sich auch die zeitgleich einsetzende Violencia-­ Forschung in erster Linie mit dem Sammeln von Augenzeugenberichten beschäftigt, um auf diese Weise eine erste Bestandsaufnahme der Ereignisse und Folgen des Krieges zu erstellen, erscheint Canal Ramírez filmische Annäherung zeitgemäß. Umso erstaunlicher ist es, dass der Hauptkritikpunkt der Presse in dem Vorwurf besteht, der Regisseur würde sich eines analytischen Blickes auf die Violencia verweigern.96 Auch wenn dies der Wahrheit entspricht, überrascht die fordernde Haltung der Kritiker, gemessen am Stand der Aufarbeitung in anderen Künsten oder den Wissenschaften. Tatsächlich weist Canal Ramírez Darstellung der Violencia Parallelen zu Augenzeugen­berichten auf, wie sie beispielsweise in der bereits zitierten Studie La violencia en Colombia veröffentlicht sind. Die eklatanteste Ähnlichkeit besteht in der Wahrnehmung der Violencia durch die Betroffenen als eine Art Natur­katastrofe, die grundlos und unangekündigt, wie eine Seuche, über die Menschen hereinbricht.97 Mit dieser Perspektive geht eine Verschleierung der Urheberschaft der Gewalt und somit der Schuld einher: In Esta fue mi vereda sowie auch in den meisten Augenzeugenberichten der Zeit bleiben die Täter anonym. Ihre Kostümierung und ihr Agieren zeichnen sie als cowboyartige, bewaffnete Banditen aus, es werden jedoch keine Hinweise auf eine Parteien­zugehörigkeit gegeben. Auch der Erzähler hält sich mit konkreten Schuld­zuweisungen zurück. So kann letztlich nur die „Violencia“, die „Gewalt“ selbst, personifiziert durch anonyme bewaffnete Gestalten, als Täter identifiziert werden – eine verbreite94 | Probleme mit dem Ton sind im kolumbianischen Kino bis in die späten 1960er Jahre keine Seltenheit. Vgl. dazu Kapitel I.2.3. 95 | Orig.: „Gonzalo Canal Ramírez ha logrado una película de 21 minutos, con un impresionante y a veces cruel testimonio contra la violencia, quizá mucho más denso que la copiosa literatura vertida en el país sobre un tema de tan honda implicación en la vida nacional.“ Andrade 1960, 8. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 201f. 96 | Siehe Andrade 1960, 8. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 201f. 97 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

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te Tendenz in der Wahrnehmung der Violencia durch die Opfer, die u.a. bei Cristina Rojas erläutert wird.98 Die Verweigerung der Schuldzuweisung hat Straffreiheit für die Täter zur Folge, was auch in Esta fue mi vereda angedeutet wird: dem Erzähler zufolge schämt sich der Polizist, die Sicherheit im Dorf nicht mehr garantieren zu können. Als er schließlich ein schriftliches Ultimatum von Seiten der Banditen erhält, flieht er und überlässt das Dorf seinem Schicksal.99 Indirekt werden durch den Abgang des Polizisten, des einzigen Repräsentanten der staatlichen Gewalt, die Thesen Pécauts und Oquists belegt, welche unter anderem die Nicht-Existenz einer staatlichen Kontrolle für die Eskalation der Violencia verantwortlich machen.100 Canal Ramírez Zurückhaltung in Bezug auf eine politische Positionierung geht so weit, dass er sogar die naheliegende Thematisierung des Landverteilungs­konfliktes vermeidet. Bereits in der ersten Minute des Films, als der Erzähler das friedliche Zusammenleben der Dorf bewohner beschreibt, wird erwähnt, dass das Land nicht den Feldarbeitern gehöre, sondern einem Großgrundbesitzer. Dieser Umstand bedrücke jedoch niemanden: „Es war nicht unser eigenes Land […], aber wir alle lebten davon.“101 Auch später, als die Dorfschule vorgestellt wird, welche im Kollektiv erbaut wurde und in der die Kinder des „Patrón“102 zusammen mit denen der Arbeiter studieren, wird der Eindruck eines perfekten, symbiotischen Zusammenlebens zwischen Herren und Bauern geschaffen und indirekt Galtungs und Bourdieus Thesen einer strukturellen bzw. symbolischen Gewalt bestätigt, die nicht einmal von den Beherrschten als solche wahrgenommen wird.103 Die Zerstörung des Dorfes durch die bewaffnete Gruppierung wird zu keinem Zeitpunkt als revolutionärer Kampf zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern gekennzeichnet, auch wenn eine politische Motivation der Banditen nicht ausgeschlossen wird. Der Versuch, den Angriff als Attacke der Liberalen gegen ein konservatives Dorf zu interpretieren, würde zu dem Ergebnis führen, dass die Kleinbauern in Esta fue mi vereda diese Initiative nicht unterstützen. Für sie bestehen Recht und Ordnung in der Aufrechterhaltung der Verhältnisse, die sie gewohnt sind – selbst wenn diese, neben Harmonie und Frieden, auch soziale Ungleichheit beinhalten. Diese Interpretation entspräche dem wissenschaftlichen Betrachtungsstandard der späten 1950er Jahre, wiedergegeben beispielsweise von Fluharty und García: Die Schuld an der Violencia sei denen

98 | Vgl. Rojas 2002, xxiii, erläutert in Kapitel II.1.1.3. 99 | 18:30-18:42. 100  | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 101 | Orig.: „No era tierra propia […], pero de ella vivíamos todos.“ 01:00-01:13. 102  | Dt. (etwa): „Herr“; „Chef“. 103  | Siehe Kapitel II.1.1.1.

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zuzuschieben, die sich gegen den bisherigen status quo auflehnten und so die etablierte Ordnung gefährdeten.104 Über die Motivationen für die in Esta fue mi vereda dargestellte Gewalt gibt der Film nicht explizit Auskunft. Dies ist jedoch weniger mit der vermeintlichen Feigheit des Regisseurs, die die Presse unterstellt,105 als vielmehr mit seiner Erzählperspektive zu erklären. Für Canal Ramírez stehen die Opfer, nicht die Täter, im Mittelpunkt. Liebevoll und etwas melancholisch erinnert er die Menschen, die das Leben des Erzählers vor dem Krieg geprägt haben, wie z.B. Doña Juana, die Bäckerin Virginia oder den Dorfarzt. Denjenigen, die diese heile Welt zerstört haben, schenkt er ebenso wenig Aufmerksamkeit wie ihren möglichen Beweggründen. Nicht zuletzt durch das Fehlen klar umrissener Protagonisten106 und die dokumentarisch anmutende Inszenierung wird keine Identifikation des Zuschauers mit den Figuren erreicht. Dennoch erzeugt die Tatsache, dass die Violencia dem gewohnten Leben der Dorf bewohner ein Ende setzt, ohne neue Perspektiven zu schaffen, Betroffenheit beim Zuschauer. Insbesondere der Verlust des kollektiven Schaffens und Erlebens, welches im Film unter anderem durch die Dokumentation unterschiedlicher traditioneller Feierlichkeiten illustriert wird, welche die Bewohner gemeinsam organisieren und zelebrieren,107 stellt einen tiefen Einschnitt für die Überlebenden dar, deren Kultur durch den Wegfall der Kollektivität zerbricht. Der These des Gewalt- bzw. Identitäts­diskurses, die Violencia habe den Kolumbianern erst zu einem kollektiven Gemeinschaftssinn verholfen,108 widerspricht der Film somit entschieden. Anstatt Identität zu konstruieren, zerstört die Violencia regionale Identitäten. Zurück bleiben einsame, zerstörte Existenzen, wie die des Ich-Erzählers oder die der Frau, auf die er am Ende des Filmes trifft. Gemessen am tatsächlichen Ausmaß der Grausamkeiten, wie sie durch die Veröffentlichung von La violencia en Colombia bekannt geworden sind, erscheint die Gewaltdarstellung in Esta fue mi vereda sehr zurückhaltend. Die meisten Morde werden symbolisch angedeutet109 oder verbal wiedergegeben, die wenigen Ausnahmen werden in totalen Einstellungen mit großer – auch 104  | Siehe Kapitel II.1.1.3. 105  | Siehe Andrade 1960, 8. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 201f. 106  | Der Film hat – außer dem Erzähler – keine handlungsrelevanten Protagonisten. Jedoch werden einige Dorfbewohner als „unvergessliche typische Persönlichkeiten“ (orig.: „inolvidables personajes típicos“, 08:40) eingeführt, anhand derer Canal Ramírez den Dorfalltag illustriert. 107 | 11:00-16:00. 108  | Vgl. Patiño Villa 2003, 27ff, zitiert in Kapitel II.1.1.4. 109  | Z.B. durch die Detailaufnahme eines abfeuernden Revolvers (15:58) oder eines umfallenden Maikreuzes (16:04).

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emotionaler – Distanz in Szene gesetzt. Auch andere kolumbianische Filme, die sich bis 1978 mit der Thematik auseinandersetzen, bestätigen diesen Trend. Einzig Fernando Vallejo, aus seiner mexikanischen Wahlheimat auf sein Land zurückblickend, inszeniert das Töten explizit als exzessives Schlachten, was ausschlaggebend für die Zensur seiner Filme in Kolumbien wird.110 Welche Perspektiven und Strategien Julio Luzardo mit El río de la tumbas entwirft, um der Zensur zu entgehen, soll im nächsten Kapitel erläutert werden.

III.1.2.2 El río de las tumbas (dt.: „Der Fluss der Gräber“. Julio Luzardo, 1964, Kolumbien) El río de las tumbas111 gilt als Klassiker des kolumbianischen Kinos. Zum einen gehört sein Regisseur, Julio Luzardo, der Generation der sogenannten „maestros“ an, die in den 1960er Jahren das vom Zusammenbruch bedrohte kolumbianische Kino wiederbeleben,112 zum anderen gilt sein Debut als erster Langspielfilm, der die Violencia zum Thema hat und trotzdem von der kommerziellen Kinokette Cine Colombia vertrieben wird.113 Als wichtigster Verdienst Luzardos wird in der Fachliteratur hervorgehoben, dass es ihm gelingt, mit filmsprachlichen Mitteln ein Ambiente zu kreieren, das über die bloße Wiedergabe einer Anekdote hinausgeht.114 Wie schon in seinen Kurzfilmen Tiempo de sequía115 und La Sarda116, erschienen in der Kurzfilmkompilation Tres cuentos colombianos117 (Julio Luzardo/Alberto Mejía, 1963, Kolumbien), stellt der Regisseur diese Fähigkeit in El río de las tumbas erneut unter Beweis: Luzardo entführt den Zuschauer in ein kleines, verschlafenes Dörfchen am Magdalena-Fluss, an dessen Ufer eines Tages eine gefesselte, geknebelte Leiche angespült wird. Enrique Pulecio zufolge erzeugt der Regisseur ein Klima der Gewalt, ohne diese explizit, z.B. in Form von Gefechten, zu zeigen.118 Stattdessen erstelle er „ […] ein Gesellschaftsporträt eines Dorfes mit tropischem Klima,

110 | Vgl. Kapitel III.2.5. 111 | Die Analyse dieses Films basiert auf der digitalisierten Fassung des Originalfilms, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“.

112  | Vgl. Kapitel I.2.3. 113 | Siehe Martínez Pardo 1978, 327. 114 | Vgl. Martínez Pardo 1978, 280; Pulecio 1999, 161; Osorio O. 2005, 25; Zuluaga 2007, 74. 115 | Dt.: „Trockenzeit“. 116 | Dt.: „Die Sardin“. 117  | Dt.: „Drei kolumbianische Erzählungen“. 118 | Siehe Pulecio 1999, 161.

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mit gut gezeichneten Figuren, die innerhalb der Anordnung der narrativen Räume in ihren entsprechenden Beziehungen erarbeitet werden.“119 El río de las tumbas wird in Villavieja im Department Huila, in der Nähe des „freien Territoriums“ Marquetalia, gedreht, ein Gebiet ohne staatliche Kontrolle, das nach Beendigung des Zweiparteienkonflikts zum Rückzugsort für kommunistische Guerillakämpfer wird und wo sich 1964, unter Führung von Manuel Marulanda und Jacobo Arenas, die FARC gründen.120 Der Titel des Films ist an die Übersetzung des Wortes „Huacahayo“121 angelehnt, das in der Sprache der indigenen Ureinwohner der Region das Phänomen der Wasser­leichen bezeichnet, die während der Violencia zu tausenden den Magdalena und den Cauca hinunter treiben.122 Luzardos Idee für den Film war es, das komplexe Phänomen der Violencia anhand eines exemplarische Ortes zu illustrieren, dessen Mikrostruktur zur Metapher für die Makrostruktur werden sollte: „Ich habe ihn [den Film] im Bewusstsein gemacht, dass ich das Land zeigen wollte. […] Das Dorf ist das Land, die Violencia sind die Leichen, die keiner haben will.“123 Um sich an der Realität zu inspirieren, dreht Luzardo den Film in einer vom bewaffneten Konflikt stark betroffenen Region, er räumt jedoch ein, auch aus seiner Phantasie geschöpft zu haben: „Ich habe vieles vom Land mit dem Film kennengelernt, und da ich die Violencia nicht selbst erlebt hatte, erfand ich Dinge, obwohl ich letztlich nicht viel erfinden musste, denn die Gewalt sah man überall, auch wenn die Leute versuchten, sie zu verstecken, als existiere sie nicht.“124 Die Vermischung von Erfundenem und Realem in Verbindung mit der Kreation eines authentischen Ambientes bezeichnet Martínez Pardo treffend als „[…] Stimmungscollage auf der Grundlage kleiner Situationen, die sich in die Länge ziehen, um die Trägheit eines Dorfes auszudrücken, seine

119 | Orig.: „[...] un retrato social de un pueblo de tierra caliente, con sus personajes bien delineados, dentro de la organización de los espacios narrativos trabajados en sus relaciones pertinentes.“ Pulecio 1999, 161. 120 | Vgl. Zuluaga 2011, 31. 121  | Zur Herleitung: „huaca“ bedeutet „tumba“ (dt.: Grab); „hayo“ bedeutet „río“ (dt.: Fluss). 122 | Siehe Zuluaga 2011, 31. 123 | Orig.: „La hice con la conciencia de lo que quería era mostrar el país. […] El pueblo es el país, la violencia son los cadáveres que nadie quiere.“ Julio Luzardo, zitiert in: Suárez 2009 (1), 65. 124 | Orig.: „Era conocer mucho del país con la película, y como no viví la violencia, me inventaba las cosas, aunque no me tocaba inventar mucho, porque la violencia era algo que se veía en todas partes, así la gente tratara de taparla como si no existiera.“ Julio Luzardo, zitiert in: Suárez 2009 (1), 64.

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augenscheinliche Ruhe, die die Spannung der Gewalt verdeckt“125. Anders als Canal Ramírez bringt Luzardo Kritik an der kolumbianischen Gesellschaft zum Ausdruck. In parodistischer Weise nimmt er seine Figuren, die Prototypen des ländlichen Kolumbiens repräsentieren126, auf die Schippe. Vor allem ihre kriminelle Energie, die sich in ihrem Hang zur physischen und verbalen Gewalt, zur Korruption, zur Erpressung, zur Lüge oder zur Verleugnung manifestiert, werden zum Element der Komik: das fehlende Pflichtbewusstsein des Polizisten, des Bürgermeisters oder seines Sekretärs, ihr Einfalls­reichtum bei der Umgehung ihrer Pflichten, die slapstickartigen Verfolgungsjagden oder der sinnlose Kampf des Dorfpfarrers gegen die politische Linke sind Beispiele hierfür. Juana Suárez bemängelt, dass der Film, gemessen an den Manifesten des Neuen Lateinamerikanischen Kinos, in seiner Darstellung der Violencia zu zurückhaltend sei: es handle sich eher um eine persönliche als um eine politische Annäherung.127 Luzardo muss hingegen zugutegehalten werden, dass er – im Gegensatz zu Canal Ramírez – explizite Bezüge zur Landes­geschichte und insbesondere zum Zweiparteienkonflikt herstellt. Der erste Hinweis für einen direkten geschichtlichen Bezug ist ein politisches Werbeplakat, das Chocho, der geistig behinderte Bruder der weiblichen Protagonistin Rosa María, auf seinem morgendlichen Weg zum Fluss entdeckt.128 Es handelt sich um eine Wahlkampfwerbung für den liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán, der mit erhobener Faust und entschlossenem Gesicht neben dem Wahlmotto „¡Adelante!“129 posiert. Die zweite Anspielung auf den Zweiparteien­konflikt findet sich in der Rede des Dorfpfarrers (Santiago García130),der in einer Moralpredigt an die Gemeinde die konservative Position gegen die von den Liberalen propagierte moderne Lebensweise verteidigt: der alte, konservative Bürgermeister sei zwar schlecht gewesen, der Neue aber habe sich die Stimmen durch die Ankündigung eines Schönheits­wettbewerbs auf dem traditionellen Erntefest der Pitaya131 respektlos erbeutet. Der Schönheits­ wettbewerb, auf dem sich die Teilnehmerinnen nach Ansicht des Pfarrers vor 125 | Orig.: „[…] collage ambiental a base de pequeñas situaciones que se alargan para definir la indolencia de un pueblo, su calma aparente que oculta la tension de la violencia“. Martínez Pardo 1978, 280. 126 | Z.B. der korrupte Politiker, der faule Polizist, der Säufer oder der „Dorftrottel“. 127 | Siehe Suárez 2008, 91f. 128 | 12:40-13:10. 129 | Dt.: „Vorwärts!“. 130 | Santiago García ist ein berühmter kolumbianischer Theaterregisseur und Leiter des legendären Theaterensembles „La Candelaria“ in Bogotá. Im Film Bajo la tierra führt er Regie. 131 | Die Pitaya ist eine Drachenfrucht, die von bestimmten Kakteen-Arten hevorgebracht wird.

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der Dorfgemeinde prostituierten, sei denselben unmoralischen Mechanismen unterlegen wie die Wahl des liberalen Bürgermeisters.132 Mit einer direkten Schuldzuweisung an die Gemeinde, die für den Liberalen gestimmt hat, bringt der Pfarrer seine politische Überzeugung zum Ausdruck: „Nun haben wir einen neuen Bürgermeister, und: schlechter! Und schuld daran seid ihr, die ihr auf den Wechsel bestanden habt.“133 Im späteren Verlauf des Films stiftet der Pfarrer seinen Messdiener und ein paar Kinder an, gegen Bezahlung die Gaitán-­Plakate abzureißen und ihm auszuhändigen.134 Die enge Zusammenarbeit von Klerus und konservativer Partei, von der auch Murillo Posada in Bezug auf die Machtstrukturen innerhalb der konservativen Hegemonie spricht,135 wird in dieser Szene verdeutlicht. Ein weiteres Indiz zur Ermittlung des historisch-politischen Kontextes der Filmhandlung liefert die allmähliche Aufklärung der Herkunft des Protagonisten-­Paares: Rosa María, die Schwester des „Dorftrottels“ Chocho, sowie ihr Verehrer, Víctor Manuel, stammen, wie der Zuschauer zunächst aus Vermutungen des Sekretärs erfährt, aus den Llanos Orientales, wo sich die liberale Guerilla zuerst formiert hat. Víctor Manuel sei dort Guerillero gewesen.136 Aus den Flashbacks, die die Vorgeschichte des Paares in den Llanos Orientales wiedergeben, wird zum einen deutlich, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprechen, und zum anderen, dass Víctor Manuel desertiert ist, um Rosa María, deren Hof von seiner Einheit überfallen werden sollte, zu retten.137 Víctor Manuel wird als leidenschaftlich und jähzornig, gleichzeitig aber als sensibel und ehrenwert charakterisiert. Wie im Falle der Banditen aus Esta fue mi vereda weisen seine Gepflogenheiten138 sowie seine äußere Erscheinung Parallelen zu denen des klassischen Western-Helden auf. In Kontrast zu sei132 | 23:30-24:20. 133 | Orig.: „Ahora lo que sucede es que tenemos nuevo alcalde: ¡y peor! Por culpa de ustedes que se empeñaron en cambiar.“ 21:53-22:03. 134 | 1:02:35-1:04:30. 135 | Siehe Murillo Posada 2007, 291. 136 | Als der Bürgermeister Víctor Manuel eine Strafe wegen Ruhestörung verhängen will, rät der Sekretär ihm angstvoll zur Zurückhaltung, da jener Guerillero in den Llanos Orientales gewesen sei. 35:30-35:35. 137 | Diese Information kann sich der Zuschauer aus der Aussage des Sekretärs, Víctor Manuel und Rosa María seien vor etwa 10 Monaten im selben Zeitraum zugezogen (39:2039:30), sowie aus einem Flashback, in dem Víctor Manuel sich dem Vorschlag der anderen Guerilleros verweigert, den Hof seiner heimlichen Geliebten zu überfallen (44:18-44:30), zusammenreimen. 138 | Trotz Verbots galoppiert er morgens durchs Dorf, zettelt aus Eifersucht eine Massen­ schlägerei in Rosa Marías Bar an und zieht sich gelegentlich einsam mit seiner Gitarre aufs Feld zurück.

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nen rüden Verhaltensweisen vertritt er jedoch noble Grundsätze, die ihn, wie der folgende Dialog zeigen soll, von den anderen Guerilleros seiner Einheit unterscheiden: Víctor Manuel: Anführer: Víctor Manuel: Anführer:

„Aber wozu überfallen wir diese Leute?“ „Bist du ein Angsthase?“ „Ihr wisst, dass ich keine Angst vor niemandem habe. Ich kämpfe, mit wem zu kämpfen ist. Aber ich töte keine wehrlosen Menschen.“ „Du steckst schon mitten drin und kannst nicht mehr zurück. Du weißt ja, was mit Weicheiern passiert.“139

Wie die gesichtslosen Banditen in Esta fue mi vereda werden die Guerilleros in El río de las tumbas – mit Ausnahme Víctor Manuels – als Kriminelle gezeichnet, die grundlos zerstören und plündern. Eine politische Motivation ist ihren Äußerungen nicht zu entnehmen, auch der geplante Überfall auf die Bauernfamilie scheint keinen politischen Leitsätzen zu folgen. Angesichts der vorherrschenden Darstellung der liberalen Guerilla in der Fachliteratur der 1960er und 1970er Jahre als politischer Bewegung140 überrascht Luzardos ent­ politisierte Darstellung, zumal der Bezug zur gaitanistischen Bewegung durch das Plakat hergestellt wird. An anderen Stellen des Films werden bewaffnete Akteure eingeführt, die keiner der Konfliktparteien zugeordnet werden können. Am Anfang der Exposition wird der Zuschauer Zeuge, wie bewaffnete Banditen einen gefesselten, verwundeten Mann von einer Autobrücke in den Magdalena-Fluss werfen (W).141 Die Banditen unterhalten sich zuvor im Auto über die bevorstehende Tat, der Zuschauer erfährt jedoch nichts über Sinn und Zweck des Mordes. Auch als sie sich später im Film über den Verbleib ihres zweiten Opfers – eine weitere Flussleiche – unterhalten,142 wird nicht ersichtlich, auf welcher Seite die Männer stehen. Auch am Schluss des Filmes, als sie Víctor Manuel gezielt ermorden,143 bleibt die Unklarheit erhalten: entweder sind die Mörder Konservative auf der Jagd nach liberalen Guerilleros, oder aber sie sind Guerilleros, die den Deserteur für seine Flucht bestrafen.

139 | Orig.: „¿Pero para qué atacamos a esa gente?“ – „¿Miedoso?“ – „Ustedes saben que yo no le tengo miedo a nadie. Yo peleo con los que pelean. Pero no mato a gente indefensa.“ – „Ya está metido y no puede salir. Ya sabe que le pasa a los flojos.“ 44:18-44:40. 140 | Siehe Gómez Martínez 2006; vgl. Kapitel II.1.1.3. 141  | 00:30-01:45. 142 | 50:00-50:10. 143 | 1:25:40-1:26:30.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Der bewaffnete Konflikt zwischen liberalen und konservativen Partei­ anhängern wird nicht als solcher inszeniert. Die Auswirkungen der beginnenden Violencia gelangen jedoch in Form der Wasserleichen ins Dorf und somit ins Bewusstsein der Menschen. Wie bereits angemerkt, zielt Luzardo mit seiner filmischen Annäherung nicht auf eine Analyse der historischen Gründe und Ursachen des Konflikts ab. Stattdessen legt er es darauf an, anhand des Umgangs der Dorf bewohner und insbesondere der höheren Amtsträger mit dem Ereignis gesellschaftliche und politische Mechanismen aufzuzeigen, die mit dafür verantwortlich sind, dass sich die Gewalt in ganz Kolumbien ausbreiten konnte. Diese Mechanismen sollen im Folgenden anhand von drei Problemen, die mit dem Eintreffen der Toten einhergehen und denen sich die Dorf ­bewohner stellen müssen, erläutert werden: das Problem der Konfrontation (das Problem wird festgestellt und als solches benannt), das Problem der Zuständigkeit und das Problem der Aufklärung: Ausgerechnet Chocho, der geistig behinderte Bruder Rosa Marías, entdeckt die erste Wasserleiche, als er sich mit seinem Esel ans Ufer des Flusses begibt, um Wasser zu holen. Als er sich über die Böschung beugt, blickt er direkt in die weit aufgerissenen Augen eines Toten, der von der Strömung zum Ufer seines Dorfes getragen worden ist. Mit einem schnellen Zoom auf das Gesicht des Toten (von HN nach G) empfindet die Kamera Chochos Subjektive nach.144 Darauf folgt ein Reaction-Shot auf Chocho (HN)145, dessen Gesichtsausdruck zwischen Entsetzen und Fassungslosigkeit schwankt. Mit unterschiedlichen totalen Einstellungen wird Chochos Weg zurück zum Dorf in Szene gesetzt, auf dem er, der eilig den schrecklichen Fund den zuständigen Beamten melden möchte, mehrere Hindernisse überwinden muss: Auf den ersten Metern seiner Flucht vom Fluss zum Dorf muss er am Grundstück einer alten Frau vorbei, die ihn bereits auf dem Hinweg schimpfend verfolgt hatte. Mit einem Stock auf ihn einprügelnd, treibt sie den von Natur aus Humpelnden den steinigen Weg entlang bis zum Dorfeingang.146 In einer Kurve stößt Chocho mit einem Fahrradfahrer zusammen und reißt ihn mit sich zu Boden.147 Die Unannehmlich­keiten, die Chocho bis zu seiner ersten Anlaufstelle, dem Haus des Bürgermeisters, in Kauf nehmen muss, scheinen den schwierigen Zugang zum kolumbianischen Justizsystem zu versinnbildlichen, welches sich einem Benachteiligten wie Chocho erst recht verschließt. Beim Haus des Bürgermeisters angekommen, klopft Chocho aufgeregt ans Fenster und stößt es, als keine Reaktion erfolgt, auf. Drinnen räkelt sich der offenbar verkaterte Bürgermeister in seinen verschwitzten Laken und schlägt 144 | 15:24. 145 | 15:25-15:28. 146 | 15:45-16:10. 147 | 15:14.

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Chocho das Fenster vor der Nase zu.148 Um die Nutzlosigkeit eines weiteren Versuches wissend, macht der Humpelnde kehrt und läuft zum Dorfplatz, wo er auf den ebenfalls schlafenden Polizisten trifft. Da es ihm nicht gelingt, diesen zu wecken,149 eilt er in Richtung Kirche. Der Fahrradfahrer, der die mühseligen Kommunikationsversuche Chochos nach seinem Sturz verfolgt hat, zeigt keine Intentionen, den Grund für dessen Aufregung zu erfahren. Er, der sich aufgrund seiner Sprachfähigkeit (Chocho ist Stotterer) problemlos Gehör beim Bürgermeister oder dem Polizisten verschaffen könnte, möchte sich offenbar nicht in die Angelegenheit einmischen. Sein Verhalten zeugt von mangelnder Zivilcourage, welche entweder aus Angst, aus fehlendem Gemeinschafts­ gefühl oder aus Desinteresse resultieren könnte. Die Reaktion des Polizisten, der kurz nach Chochos Abgang schlafend von der Bank fällt und vom beobachtenden Fahrradfahrer ausgelacht wird, bringt die von Luzardo inszenierte Gesellschaftsparodie zu einem vorläufigen Höhepunkt: Wütend setzt der Polizist dem Fahrradfahrer nach, um sich an diesem zu rächen.150 Dass sich der ‚Freund und Helfer‘ einem so belanglosen Vergehen wie dem Spott eines Mitbürgers, nicht aber dem Mord, den Chocho melden möchte, annimmt, kann als Parabel für die Ignoranz staatlicher Instanzen in Bezug auf die landesinterne Gewalt bzw. für die fehlende Ahndung derselben angesehen werden.151 Chochos nächste Anlaufstelle ist der Dorfpfarrer. Dieser, vor seiner Kirche patrouillierend und Passanten zur Teilnahme an der Messe anhaltend, schenkt dem Anliegen des wild gestikulierenden Stotterers keine Beachtung. Stattdessen packt er ihn grob am Arm und zerrt ihn in sein Gotteshaus.152 Im Folgenden wird Chocho gezwungen, sich zu setzen und zu beten. Einen Flucht­versuch vereitelt der Pfarrer mit einer tadelnden Geste.153 Auch die versammelte Kirchengemeinde beäugt Chocho wie einen Sünder. Als er schließlich vor dem Altar niederkniet und sich Genugtuung in den Gesichtern der Leute ausbreitet,154 verstärkt sich dieser Eindruck: Chocho, der eigentlich Zeuge eines Verbrechens ist, wird in dieser Sequnez sinnbildlich zum Angeklagten, zum Schuldigen degradiert. Der Pfarrer, ebenso wie die weltlichen 148 | 17:00-17:08. 149 | 17:20-17:37. 150 | 17:55-18:05. 151  | Der Dokumentarfilm Bagatela (dt.: „Bagatelle“. Jorge Caballero Ramos, 2009, Kolumbien) illustriert eindrücklich die Straffreiheit der Großkriminalität im Kontrast zur effektiven Ahndung im Bereich der Kleinkriminalität. Quelle: http://www.elespectador.com/entretenimiento/agenda/ cine/imagen-bagatela-documental-de-jorge-caballero-ramos 152 | 18:05-18:10. 153 | 18:36. 154 | 19:10-19:25.

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Machtrepräsentanten des Dorfes, stellt unter Beweis, dass er für die wahren Sorgen seiner Schäfchen nicht zur Verfügung steht – eine weitere Parabel für die Ignoranz der Gewalt durch staatliche und geistliche Instanzen. Auch Rosa María schimpft zunächst mit dem Stotterer, der ohne Esel und Wasser vom Fluss zurückkehrt, anstatt ihm Gehör zu schenken. Als seine Schwester spürt sie jedoch seine Verzweiflung und hilft ihm bei der mühsamen Geburt der Worte. Nachdem das anfängliche Missverständnis behoben werden kann, der Esel sei tot, versteht Rosa María endlich, dass ihr Bruder einen toten Mann gefunden hat.155 Auch sie läuft die offiziellen Stellen in derselben Reihenfolge wie ihr Bruder an, hat zunächst jedoch ebenso wenig Erfolg. Der immer noch ruhende Bürgermeister wimmelt sie mit den Worten: „Dafür bin ich nicht zuständig, such den Pfarrer oder den Polizisten“156 ab, der Pfarrer ist beschäftigt, und auch der Polizist weist die Zuständigkeit von sich157. Luzardo parodiert in dieser Sequenz einerseits das völlige Versagen der staatlichen und geistlichen Instanzen bei der Konfrontation der Violencia, von dem auch Pécaut und Oquist sprechen,158 andererseits die sprichwörtliche Faulheit der kolumbianischen Beamten. Dadurch, dass Luzardo ausgerechnet einem Stotterer die Aufgabe zukommen lässt, das Unsagbare auszusprechen, schafft der Regisseur ein treffendes Sinnbild für das Problem der Konfrontation. Auch kommt Chochos Unfähigkeit zu sprechen den Verdrängungsbestrebungen seiner Mitmenschen zugute, denn solange die Benennung der Gewalt ausbleibt, gelingt es den Betroffenen, deren Existenz auszublenden. Der Bürgermeister ist der erste unter den Offiziellen, der schließlich seiner Pflicht nachkommt und dem Polizisten befiehlt, die Bergung der Leiche zu organisieren.159 Begleitet von seinem Sekretär, Chocho und einem obdachlosen Trinker, der für diese Arbeit angeheuert wird, marschieren sie zum Fluss.160 Auf der Tonebene wird diese Prozession von heiterer Marschmusik begleitet, was der Sequenz einen komischen Unterton verleiht und Assoziationen zu militärischen Organisationen weckt. Beim Anblick des Toten161 winkt der Bürger­meister angewidert ab. Im anschließenden Gespräch mit seinem Sekretär erfährt er, dass es sich bei der Leiche um einen Unbekannten handle, der vermutlich nicht aus der Gegend stamme. Da er eine gewaltsame Todes­ 155 | 19:30-19:55. 156 | Orig.: „Esto no me toca a mí, busca al cura o al cabo.“ 157 | Mit dem Fahrrad beschäftigt, das er dessen Besitzer abnehmen konnte, ignoriert er Rosa Marías Nachricht, ihr Bruder habe einen Toten im Fluss gefunden, schlicht. 25:00-25:10. 158 | Siehe Kapitel II.1.1.3. 159 | 25:10-25:20. 160  | 26:20-27:55. 161 | Dieser wird nun nicht mehr im Bild gezeigt, stattdessen werden die Reaktionen der Betrachter eingefangen (HT). 27:55-28:05.

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ursache nicht ausschließen kann, beschließt der Bürgermeister, die Hauptstadt zu verständigen.162 Am nächsten Tag trifft ein Ermittler ein, der fortan die Untersuchungen leitet. Wie auch im Falle der übrigen Dorf bewohner – mit Ausnahme des Protagonistenpaares und Chocho – wird in keinem Moment des Films sein Name bekannt. Luzardos Entscheidung, seine Figuren zu entpersonalisieren, indem er sie gemäß ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Funktion benennt („der Pfarrer“, „der Bürgermeister“, „der Sekretär“, „der Polizist“, „der Ermittler“, etc.), deutet darauf hin, dass sie allegorisch für ihren gesamten Berufs­stand bzw. für ihre gesellschaftliche Funktion stehen. Erleichtert, sich durch die Ankunft des Ermittlers der Verantwortung entzogen zu haben, veranlasst der Bürgermeister die schnelle Beseitigung des Leichnams. Es soll auf dem Friedhof beigesetzt werden. Der Pfarrer, der durch das Aufkommen liberaler Regierungen in der Region um seinen Ein­fluss bangt, vereitelt jedoch das Begräbnis. Da die Todesumstände sowie die Herkunft des Toten nicht eindeutig geklärt seien, könne dieser nicht in der geweihten Friedhofserde begraben werden. „Aber es ist ein Befehl des Bürger­ meisters“163, entgegnet der Polizist. „Das ist mir egal“, antwortet der Pfarrer. „Er bestimmt dort. Aber auf dem Friedhof bestimme ich.“164 Anstatt sich um das Seelenheil des Getöteten zu sorgen, verfolgt der Pfarrer politische Ziele: er will seine Machtposition in der Gemeinde in Zeiten des politischen Wandels gegen den Bürgermeister verteidigen. Der Konkurrenzkampf zwischen Klerus und liberaler Politik wird an anderer Stelle mittels eines Blickduells in Szene gesetzt: Der Pfarrer und der Bürgermeister starren sich stumm über die Straße hinweg, von ihren jeweiligen Arbeitsplätzen aus, an. Darauf schließt der Bürgermeister wütend das Fenster seiner Amtsstube, der Pfarrer schlägt im Gegenzug entschlossen seine Bibel zu.165 Die politische Dimension ihres Streits wird an mehreren Stellen des Films deutlich, z.B. in der bereits erwähnten Ansprache des Pfarrers gegen den Bürgermeister oder durch dessen Sabotage­versuche während der Wahlkampfrede eines liberalen Politikers, der zum Anlass des Erntefestes aus der Hauptstadt anreist. Am Beispiel des Bürgermeisters und des Polizisten macht der Film deutlich, dass sich auch die staatlichen Vertreter der Macht nur dann zu ihren Zuständigkeiten bekennen, wenn persönliche Motivationen vorliegen. Dem Bürgermeister ist Víctor Manuel, der durch morgendliches Galoppieren regel­ mäßig seinen Schlaf stört, ein Dorn im Auge. Er ist besessen von der Idee, ihn für diese – gemessen an den übrigen Vorkommnissen – unbedeutende Tat zu verurteilen, was ihm nach einer Massenschlägerei, in die der ehemalige 162  | 28:14-28:35. 163  | Orig.: „Pero son órdenes del alcalde“. 38:18-38:21. 164  | Orig.: „No importa. Él manda allá. Pero en el cementerio mando yo.“ 38:21-38:36. 165  | 37:05-37:28.

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Guerillero involviert ist, gelingt.166 Auch der Polizist kann nur durch persönliche Motive zum Walten seines Amtes bewegt werden, wie am Beispiel der Streitigkeiten mit dem Fahrradfahrer deutlich geworden ist.167 Als Chocho ihm hingegen von einem neuen Toten im Fluss erzählt, während er seinen Mittags­ schlaf halten will, ist von dieser Motivation nichts zu spüren: erfolglos versucht der Polizist, den Fall auf den Bürgermeister abzuwälzen, und geht dann wider­ willig mit Chocho zum Fluss, wo ein gefesselter Toter mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt.168 Nach kurzem Zögern stößt der Polizist die Leiche mit einem Stock vom Ufer los, so dass sie vom Strom davongetragen wird: „Für den Bürgermeister des nächsten Dorfes“169, kommentiert er diese in keinerlei Hinsicht vertretbare Aktion. Die Strafe für sein Vergehen folgt jedoch unmittelbar. Der obdachlose Trinker hat ihn beim Fortstoßen des Toten beobachtet und erpresst ihn fortan: „Da habe ich mir wohl gerade ein Fläschchen Schnaps verdient – wer früh aufsteht, dem hilft Gott!“170 Dass schließlich selbst der Ermittler aus der Hauptstadt seiner Pflicht entsagt, bildet den Höhepunkt der von Luzardo entworfenen Satire über die Verantwortungslosigkeit der Offiziellen. Als das Dorffest in vollem Gange ist, versucht der Obdachlose, auch den Ermittler mit der Nachricht über die neue Flussleiche zu erpressen, welcher nach Abschluss seiner Aufklärungsarbeiten das Dorffest und die Präsenz der Schönheitsköniginnen genießt: „Wie viel bezahlen Sie mir, wenn ich Ihnen die Angaben zu einem neuen Toten gebe, Herr Doktor?“171 Zur Überraschung des Erpressers – und nicht zuletzt des Zuschauers – antwortet der zuvor als pflichtbewusst charakterisierte Kriminalbeamte: „Wenn du mir das Fest mit einem neuen Toten verdirbst, dann lasse ich dich ins Gefängnis stecken!“172 Luzardo prangert hier neben der Verantwortungslosigkeit auch die Korruption an, die nicht nur bei Politikern, sondern auch insbesondere bei der Polizei weit verbreitet ist. In El río de las tumbas sind jedoch nicht nur Amtsträger, sondern auch Vertreter des gemeinen Volkes korrupt. Dies wird bei den Tanzszenen173 deutlich, in denen die angereisten Politiker aus Bogotá dem Bürgermeister und dem Sekretär hohe Ämter versprechen, wenn diese ihnen zum Wahlerfolg in ihrem Dorf verhelfen. Die Schönheits­ 166  | 45:20-45:35. 167  | 17:55-18:05. 168  | 52:20. 169  | Orig.: „Para el alcalde del otro pueblo“. 52:30-52:37. 170  | Orig.: „Ganandome una botellita de aguardiente – a quién madruga Dios lo ayuda.“ 52:55-53:04. 171 | Orig.: „¿Cuánto me paga si le doy los datos de otro muerto, doctor?“ 1:17:44-1:17:48. 172  | Orig.: „Si me daña las fiestas con otro muerto lo hago llegar a la cárcel.“ 1:18:501:18:54. 173  | 1:18:45-1:21:40.

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kandidatinnen ihrerseits versuchen, durch besondere Aufmerksamkeiten die Jury zu bestechen, bei der Wahl für sie zu stimmen. Die Voraussage des Pfarrers, der Schönheitswettbewerb würde denselben Mechanismen unterliegen wie die politische Wahl, scheint sich somit zu bewahrheiten. Das Bild, das Luzardo am Beispiel des Dorfes von der kolumbianischen Gesellschaft entwirft, ist das eines von Ignoranz, Faulheit, Egoismus, Oberflächlichkeit und kriminellen Energien geprägten Zusammenlebens. Auf die Verantwortlichkeit der öffentlichen Institutionen ist ebenso wenig Verlass wie auf zwischenmenschliche Beziehungen, welche – außer im Falle von Rosa María und Víctor Manuel – als gefühlsarm und respektlos dargestellt werden. Aufgrund der Tatsache, dass die Gewaltbereitschaft der Dorf bewohner in Luzardos Inszenierung schon vor der Ankunft der Violencia hoch ist174, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Luzardos Film die These, in Kolumbien herrsche eine „Gewaltkultur“, die den Alltag der Menschen maßgeblich bestimme,175 bestätigt. Auch Luzardos Inszenierung der Aufklärung stellt die Ineffizienz der kolumbianischen Justiz in parodistischer Weise zur Schau. Das Verhör der Dorf­ bewohner, zu dem der Ermittler als erstem Schritt seiner Untersuchung aufruft, ist im Schuss-Gegenschuss-Verfahren inszeniert, wobei auf jede Frage ein anderer Dorf bewohner Rede und Antwort steht.176 Die standardisierten Fragen, die der Ermittler mit wachsender Verzweiflung vorträgt, stehen in krassem Gegensatz zu den Antworten der Bauern, die mit offenem Amüsement auf den Ernst des Verhörs reagieren. Anhand des folgenden Ausschnitts aus der Befragung soll deutlich gemacht werden, welche Haltung die Dorf­ bewohner gegenüber dem Offiziellen aus der Hauptstadt einnehmen: Ermittler: Bauer 1: Ermittler: Bauer 1: Ermittler: Bauer 2: Ermittler: Der Trinker:

„Was haben Sie gestern gemacht?“ „Dasselbe wie vorgestern.“ „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“ (lacht) „Hm – nichts, Herr Doktor.“ „Wie oft waren Sie im Gefängnis?“ (lachend) „Da ist doch nie Platz…“ „Kennen Sie diesen Toten?“ (ernst) „Ja, ich kenne ihn.“

174 | Der gewalttätige Umgang der Dorfbewohner untereinander wird beispielsweise durch die steinewerfende alte Frau am Fluss, die Massenschlägerei in Rosa Marías Bar, die Kinder, die mit Feuerwerkskörpern auf Passanten werfen, oder den groben Umgang mit dem behinderten Chocho offenbar. 175  | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 176  | 34:43-35:47.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film Ermittler: „Wo haben Sie ihn kennengelernt?“ D er Trinker: „Gestern, als wir ihn aus dem Fluss gezogen haben.“ Ermittler: „Idiot!“177

Abgesehen davon, dass das Verhör an sich unsinnig ist, weil die Fragen darauf ausgerichtet sind, den Schuldigen unter den Dorf bewohnern zu finden, was angesichts der Tatsache, dass die Leiche vom Fluss angespült wurde, eher abwegig ist, wird durch den Kontrast zwischen Befrager und Befragten die Kluft offensichtlich, die sich zwischen der Zentralregierung in Bogotá und den fernab der Hauptstadt gelegenen Provinzen auftut. Die Bürokratensprache und die förmliche Sachlichkeit des Ermittlers stehen in krassem Gegensatz zur volkstümlichen Situationskomik, mit der die Dorf bewohner auf das Verhör reagieren. Abermals verdeutlicht Luzardo die Unfähigkeit des kolumbianischen Staates, die Bevölkerung zu kontrollieren oder Einfluss auf diese zu üben. Anstatt die umliegenden Dörfer flussaufwärts zu besuchen, um die Identität des Toten herauszufinden, erklärt der resignierte Ermittler seine Arbeit für beendet und möchte noch am selben Tag abreisen. Von Rosa María lässt er sich jedoch überreden, bis zum Fest der Pitaya zu bleiben.178 Der Bürgermeister bietet zu diesem Zwecke an zu unterschreiben, dass die Ermittlungen bis nach dem Dorffest angedauert hätten, damit der Ermittler von seinem Auftraggeber während der ganzen Reise bezahlt würde.179 In dieser Szene wird deutlich, dass der Kriminalbeamte schon nach einem Tag, von der Hitze des Dorfes überwältigt, von der Epidemie der Nachlässigkeit angesteckt wird. Im Verlauf des Dorffestes beginnt der Ermittler, Reue über sein verant­ wortungs­loses Handeln zu empfinden. Im Dialog mit einem Politiker aus Bogotá erklärt er, wohl zu seiner Verteidigung, der Fall sei äußerst kompliziert, voller Indizien, aber ohne Spuren. Um den Ermittler zu beruhigen, schlägt der Politiker vor, den Fall als Selbstmord auszugeben. Aufgebracht entgegnet ihm der Kriminalbeamte: „Aber es ist ein Verbrechen. Es darf nicht unbestraft bleiben.“180 Die Antwort des Politikers auf diese Stellungnahme zeigt, wie sehr sich die Menschen an die Gewalt im Land gewöhnt haben: „Mein lieber Herr Doktor, es gibt zu viele ungestrafte Verbrechen...“181 Die Einordnung des Verbrechens als Normalzustand und die damit einhergehende Resignation vor 177 | Orig.: „¿Qué hizo ayer? – Lo mismo que anteayer. – ¿Y qué hizo anteayer? – Hm – nada, doctor. – ¿Cuántas veces ha estado en la cárcel? – Cómo nunca hay puesto... – ¿Conocen a este muerto? – Sí, y lo conozco. – ¿Dónde lo conoció? – Ayer, cuando lo sacamos del río. – ¡Idiota!“ 35:08-35:33. 178  | 40:40-40:53. 179  | 40:53-41:00. 180 | Orig.: „Pero es un crimen. No puede quedar impune.“ 1:22:35-1:22:40. 181 | Orig.: „Mi querido doctor, hay demasiados crímenes impunes...“ 1:22:40-1:22:47.

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der Gewalt entspricht der von Pécaut geprägten Vorstellung einer „generalisierten Gewalt“182 . Diese Bezeichnung setzt, wie auch die Hypothese über das Vorhanden­sein einer „Gewaltkultur“, eine Verdrängung der Ursachen der Gewalt sowie eine Verallgemeinerung der Schuld voraus, was wiederum die Täter anonym hält und eine strafrechtliche Verfolgung verhindert.183 Das Schweigen, das sich um die Gewalt und deren Ursachen ausgebreitet hat und das in El río de las tumbas als kollektive Verhaltensweise der Dorf bewohner thematisiert wird, wird von Alejandro Castillejo auch als vorherrschende Verdrängungsund Überlebenstaktik bezeichnet.184 Luzardo stellt diese gesellschaftlichen Mechanismen in seinem Erstlingsfilm heraus und macht dabei, unter dem Deck­mantel der Komödie, erste Schritte zur politischen und historischen Analyse der Violencia. Der „mikroskopische Blick“185 auf einen Ort und seine Bewohner ist typisch für die erste Welle der Aufarbeitung der Violencia, Luzardos Perspektive geht jedoch über die beschreibende und zusammenfassende Form der Aufarbeitung durch die frühe Gewaltforschung hinaus: anstatt zu dokumentieren, kritisiert er auf humorvolle Weise die gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die eine Eskalation der Violencia mit ermöglicht haben. Für Enrique Pulecio ist El río de las tumbas der erste kolumbianische Film mit geschichtlichem Bewusstsein.186 Außerdem ist er der erste, der eine Kongruenz von Filmsprache und Inhalt aufweist: der Erzählrhythmus ist so träge und langsam wie der Alltag der Dorf bewohner und die Aufklärung der Morde, die langen Einstellungen spiegeln die quälende Hitze wider, die sich in den Gesichtern der Menschen sowie in deren Verhaltensweisen niederschlägt. Der Film lässt sich keinem Genre zuordnen, er ist eine eigene Mischung aus Humor und Realität, aus Gesellschaftskritik und Unterhaltung. Anstatt detailliert die historischen Ereignisse wiederzugeben, erstellt er ein Gesellschaftsporträt, das die politische und rechtliche Misswirtschaft aufzeigt. Indirekt schiebt er so den staatlichen und geistlichen Institutionen einen großen Teil der Schuld zu. Zwar kann El río de las tumbas nicht im engeren Sinne als politisches Kino bezeichnet werden, Pulecio lobt ihn jedoch wegen seiner innovativen Verbindung von Realität und Fiktion: „Er geht mit Ehrlichkeit an das Thema heran, indem er es innerhalb eines politischen, gesellschaftlichen und konzeptuellen

182 | Orig.: „violencia generalizada“. Pécaut 2001, zitiert in Suárez 2010, 31. 183 | Siehe Rojas 2002, xxiii; vgl. Kapitel II.1.1.3. 184 | Siehe Castillejo Cuéllar 2000, 17; vgl. Kapitel II.1.1.3. 185 | Vgl. Zuleta 2006, 61. 186 | Siehe Pulecio 1999, 161.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Rahmen versteht, mit einem neuen Realismus und einer gänzlich gelungenen Atmosphäre.“187

III.1.2.3 Bajo la tierra (dt.: „Unter der Erde“. Santiago García, 1968, Kolumbien) und Aquileo Venganza (dt.: „Aquileo Rache“. Ciro Durán, 1968, Kolumbien) Bajo la tierra und Aquileo Venganza188, beide im Jahre 1968 im kommerziellen kolumbianischen Kino vorgeführt, sind im Gegensatz zu El río de las tumbas meist aus wissenschaftlichen Untersuchungen ausgeklammert worden. Außer in Hernando Martínez Pardos umfassender Filmgeschichte von 1978 finden sie in der Fachliteratur kaum Erwähnung. Die Gründe für eine Aufnahme oder einen Ausschluss von Filmen aus dem gängigen Kanon sind undurchsichtig. Die Stellung der Regisseure innerhalb des kolumbianischen Filmsektors könnte eine Rolle spielen189, die Publikumsresonanz scheint hingegen nicht entscheidend zu sein: wie Luzardo berichtet, ist die Premiere von El río de las tumbas ein Flop. Das Publikum bleibt kalt und apathisch und lacht nur an den Stellen, an denen Regiefehler offensichtlich werden.190 Der finanzielle Erfolg lässt ebenfalls zu wünschen übrig, denn der Film spielt lediglich die Inversion ein, bringt aber keine Gewinne.191 Dennoch gilt das Werk heute als Meilenstein der kolumbianischen Filmgeschichte. Bajo la tierra stellt einen beispiellosen Misserfolg für Cine Colombia dar, der noch Jahre später negative Auswirkungen auf die Besucherzahlen der kolumbianischen Filme hat.192 Sein filmhistorischer Wert wird, Pedro Adrián Zuluaga zufolge, jedoch unterschätzt.193 Aquileo Venganza kann an den Kino­

187  | Orig.: „Aborda el tema con honestidad, comprendiendolo dentro de un marco político, social y conceptual con un nuevo realismo y una atmósfera plenamente lograda.“ Pulecio 1999, 161. 188 | Die Analyse dieser Filme basiert auf der digitalisierten Fassung der Original­f ilme, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“. 189 | Julio Luzardo, der sich als Regisseur, Cutter, Kameramann, Drehbuchautor und Werbefilmer einen Namen macht, wird von staatlichen Institutionen wie dem Kultur­m inisterium oder „Proimagenes en Movimiento“ rasch als kolumbianische Filmgröße postuliert. Ciro Durán, dessen filmisches Gesamtwerk nicht minder umfangreich ist und der auch auf internationaler Ebene Erfolge verzeichnen kann, ist öffentlich weniger wahrgenommen worden. Santiago Garcías wichtigste Arbeiten liegen im Bereich der Theaterregie, mit der er primär in Verbindung gebracht wird. 190 | Siehe Martínez Pardo 1978, 279. 191 | Siehe Martínez Pardo 1978, 326. 192 | Siehe Martínez Pardo 1978, 320. 193 | Vgl. Zuluaga 2007, 75.

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kassen194 Erfolge verzeichnen, dennoch wird ihm in der Fachliteratur keinerlei Bedeutung zugeschrieben. Im Zusammenhang mit der filmischen Verarbeitung des innerkolumbianischen Konflikts sind Bajo la tierra und Aquileo Venganza beide interessant, denn sie sprechen stärker als Esta fue mi vereda oder El río de las tumbas dessen Ursachen an. Im Folgenden sollen die jeweiligen Besonderheiten der Filme im Umgang mit der Violencia anhand ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die Filme haben gemein, dass sie zu Beginn kollektive soziale und politische Themen aufgreifen, diese jedoch im Verlauf des Films von den individuellen Konflikten der jeweiligen Protagonisten überlagert werden. Im Falle von Bajo la tierra wird das Handeln der Hauptfigur Ambrosio Múnera, der vor der zunehmenden Gewalt und der Arbeitslosigkeit in Ibagué zu den Goldminen von Segovia im Bundesstaat Antioquia flüchtet, mehr und mehr durch dessen Liebes­beziehung zu Inés, der Tochter des Wirts, bestimmt. Am Ende des Films verlässt er das Dorf nicht in erster Linie aufgrund der miserablen Lebens­ bedingungen und der Gewalt, sondern wegen der wiederholten Untreue seiner Geliebten. In Aquileo Venganza erfolgt der Bruch zwischen Gesellschafts­ kritik, politischer Anklage und der anschließenden persönlich motivierten Handlungskette noch drastischer: Der Film beginnt mit der Inszenierung des systematischen Auslöschens zweier Familien von Kleingrundbesitzern, denen ein Großgrundbesitzer mithilfe des Bürgermeisters sowie einer Gruppe bewaffneter Söldner den Landbesitz abnehmen will. Aquileo, der einzige Über­lebende des Anschlags auf seine Familie, holt daraufhin zum Rachefeldzug gegen die Mörder seiner Angehörigen aus. Margarita de la Vega zufolge verliert der Film in diesem Moment den Bezug zu dem zunächst glaubhaft dargestellten historischen Problem der Landverteilung und wird zu einem Abklatsch des Western-Genres, das Ciro Durán bewusst für seine Annäherung an den inner­kolumbianischen Konflikt wählt.195 Auch wenn sich der Western nach Einschätzung von Martínez Pardo zur Behandlung der Violencia eignen kann,196 muss in diesem Fall festgehalten werden, dass die genretypischen Erzähl­muster, wie z.B. die Gegenüberstellung eines durchweg ‚guten‘ Helden mit den ‚bösen‘ Banditen oder das Übermaß aktionsgeladener „Ballerszenen“, der Geschichtsdarstellung ihre Authentizität nehmen. Der Regisseur ist sich dieses Mangels durchaus bewusst: in einem Interview mit Margarita de la Vega gibt er zu, das historische Problem verliere an Glaubhaftigkeit,

194 | Vgl. Martínez Pardo 1978, 265 f.; 320. 195 | Siehe De la Vega 1968, 7. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 265. 196 | Siehe Martínez Pardo 1978, 266.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film „[…] denn nachdem ein kollektives Problem […] angeschnitten wird, folgt man einer Einzelperson, die es löst, indem sie es zu einem individuellen Problem macht und die so zum klassischen Filmhelden wird, der mehr dem Mythos als der Realität angehört. Ich hätte eine andere Lösung anbieten sollen, in der Aquileo sein Problem dem Volk mitgeteilt hätte und dieses in seine Rache mit einbezogen hätte.“197

Eine ähnliche Kritik könnte auch für Bajo la tierra formuliert werden: Die Sozialkritik, die im ersten Teil des Films anhand der dokumentarisch anmutenden Inszenierung des Alltags der Minenarbeiter, der Ausbeutung durch das nordamerikanische Großunternehmen sowie der Perspektivlosigkeit der Dorf bewohner mit aller Deutlichkeit vermittelt wird, wird in seinem Verlauf von melodramatischen Elementen überlagert, und die kollektive Anklage verkommt zu einem individuellen Gefühlsdrama. Selbst der angedeutete Klassen­ kampf unter den Arbeitern – die „Männer unter der Erde“198, vertreten durch den traditionellen Minenarbeiter Pedro, und die „Männer der Oberfläche“199, vertreten durch Múnera, der ein höheres Bildungsniveau aufweist und daher für Aufseher- oder Verwaltungstätigkeiten eingesetzt wird – wird auf eine persönliche Ebene transferiert. Das von Pedro angefachte Konkurrenzverhältnis zu Múnera, bei dem es zunächst um die individuelle Eignung geht, verwandelt sich zum Streit um die attraktive Inés, die sich zu Múnera hingezogen zeigt. Martínez Pardo bezeichnet den Film aufgrund dieser Tendenzen als Eifer­ suchtsdrama, welches zufällig in einer Mine spielt und dessen Protagonist zufällig ein Bauer sei, der vor der Violencia fliehen musste.200 Dieses Urteil kann revidiert werden, wenn man sich die Vielzahl der Sequenzen ins Gedächtnis ruft, die unmittelbar von der Violencia und insbesondere von den zugrunde liegenden Ursachen handeln: Nach Ablauf der ersten 15 Minuten, die von Múneras Ankunft in Segovia handeln, erfährt der Zuschauer zunächst verbal von der tobenden Gewalt im Land. Múnera wird von anderen Minenarbeitern eingeladen, die Nacht mit ihnen im Zimmer zu verbringen.201 Dort erzählt der Protagonist, wie er und seine Familie von ihrem Land vertrieben wurden und wie er mit anderen 197 | Orig.: „[…] una vez planteado un problema colectivo […], se sigue una sola persona que lo resuelve convirtiéndose en un problema individual y caendo en el héroe cinematográfico común, perteneciente más al mito que a la realidad. Habría que haberle dado otra solución en la cual Aquileo hubiera comunicado al pueblo su problema y los hubiera incorporado a su venganza.“ Ciro Durán im Interview mit Margarita de la Vega, zitiert in: Martínez Pardo 1978, 266. 198 | Orig.: „los hombre bajo la tierra“. 199 | Orig.: „los hombres de la superficie“. 200 | Siehe Martínez Pardo 1978, 268. 201 | 14:05-14:15.

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Überlebenden des Anschlags nach Ibagué kam, wo sie in einem Flüchtlingsviertel Unterschlupf fanden.202 Da sie extreme Not und Hunger litten und er, im Gegensatz zu seinem Vater, keine Arbeit fand, fühlte er sich als Last und wanderte nach Medellín zu Verwandten, die ihm rieten, sein Glück in den Goldminen von Segovia zu suchen.203 Múneras Bericht wird überwiegend mit Nah- und Großaufnahmen illustriert, unterbrochen durch Schwenks auf die Zimmergenossen, die mit Verweisen auf eigene Erfahrungen und Zeitungs­ berichte bestätigen, dass Múneras Geschichte stellvertretend für viele andere steht. Zwar lässt die Sequenz keine Rückschlüsse auf die Urheberschaft oder eine politische Motivation der Gewalt in der Region zu, der Bezug zur politischen Violencia wird jedoch durch den Ablauf des beschriebenen Massakers an Múneras Familie nahegelegt. Im weiteren Verlauf des Films wird der Alltag der Minenarbeiter inszeniert. Anhand der Schilderungen des Alten, der Múnera in seine Arbeit als Überwacher der Mine einweist, erfährt der Zuschauer, dass das nord­ amerikanische Großunternehmen „Frontino Gold Mines“ die Lizenzen für die Mine gekauft habe, dass die Bewohner der Region, die seit jeher vom Bergbau leben, des Nachts jedoch in die Mine einzudringen versuchten, um dort selbst nach Gold zu schürfen. Múneras Aufgabe soll darin bestehen, diese Versuche zu vereiteln und anzuzeigen. In Verbindung mit den Sequenzen in der Bar von Don Félix, die das Ambiente der Gewalt unter den ungleich gestellten Minen­arbeitern illustrieren, stellt der Film einen klaren Bezug zwischen dem Einzug des Groß­kapitalismus durch ausländische Firmen und der Gewalt in den betreffenden Regionen her, deren ursprüngliches gesellschaftliches und ökonomisches Gleichgewicht durch diese Veränderung gestört wird. Diese Perspektive weist Parallelen zu der von Francisco Posada Díaz aufgestellten Hypothese auf, die Violencia sei eine Folge der allmählichen Verstrickung des kolumbianischen Wirtschaftssystems mit dem modernen kapitalistischen Markt, der die kolumbianische Gesellschaft nicht gewachsen gewesen sei.204 Neben dieser Lesart bietet der Film noch andere Erklärungen für die Gewalt, die das Leben um die Mine bestimmt: die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiter, die zu Perspektivlosigkeit und Werteverfall führen, der Konkurrenzkampf zwischen alteingesessenen Minenarbeitern und Neuankömmlingen, die von den Modernisierungs­prozessen durch die ausländische Firma und den so geschaffenen Arbeitsplätzen „über der Erde“ profitieren, und schließlich die im ganzen Land tobende politische Gewalt, die Binnenmigration, Armut und Gesetzlosigkeit zur Folge hat. Das Ineinandergreifen dieser Faktoren erzeugt 202 | 14:25-16:39. 203 | 16:40-17:10. 204 | Siehe Posada Díaz 1969, 38. Seine Schrift Colombia, violencia y subdesarrollo entsteht tatsächlich im selben Zeitraum wie der Film und wird ein Jahr nach ihm veröffentlicht.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

einen Teufelskreis der Gewalt, dessen Mechanismen García mit diesem Film verdeutlicht. Da sich die Ursachen der Gewalt gegenseitig bedingen, gibt es für die Minenarbeiter in Bajo la tierra kein Entrinnen. Besonders anschaulich werden die Wut und die Verzweiflung über die ausweglose Situation in der Figur des Pedro offenbar. Seine Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten gegenüber Múnera führen in beinahe leitmotivischer Weise durch den Film. Bereits vor Múneras Ankunft im Dorf bezeugt Pedro, betrunken an der Theke in Félix Bar lehnend, seine Verzweiflung über das Leben: „Unter Schreien rufe ich den Tod, Doch der Tod mag mich nicht hören. Es scheint, dass selbst der Tod Mich leiden sehen will.“205

Die Tatsache, dass dieser Ausspruch in Reimform erfolgt, ist einerseits seiner literarischen Vorlage, dem Roman El hombre bajo la tierra von Jose Antonio Osorio Lizarazo (1944), zuzuschreiben, aus dem der Film zitiert, andererseits offenbart sich, wie auch im Over-Acting der Darsteller, Garcías Prägung als Theaterregisseur. Wie keine andere Figur in Bajo la tierra lässt Pedro seinen Emotionen freien Lauf. Fast ununterbrochen wiederholt er die Worte: „Ich habe Wut“206 und fordert Múnera, auf den er dieses Gefühl aufgrund seiner besseren Herkunft projiziert, mehrmals zum Messerduell heraus. Dieser zeigt sich zunächst pazifistisch, lässt sich jedoch von seinen Kollegen überzeugen, ein Messer bei sich zu tragen: „Hier kann man nicht so einfach auf Gott vertrauend umherlaufen. […] Wenn einer hier nicht schon einen Mord auf dem Gewissen hat, dann sind es zwei.“207 Neben der permanenten Bedrohung durch Pedro, den Múnera am Ende des Films in Notwehr tötet, manifestiert sich die Gewalt jedoch auch durch die Häufung mysteriöser Morde an Minenarbeitern, deren Leichen, in weiße Laken gehüllt, zur Totenwache auf der Terrasse von Félix Bar ausgelegt werden. Auf Múneras Frage beim Anblick des ersten Toten, dem die Eingeweide herausgeholt worden waren208, wer für diese Schreckenstat verantwortlich sei, antwortet ein Arbeiter: „Ich weiß es nicht. Niemand weiß etwas. 205 | Orig.: „A la muerte llamo a gritos / Pero no me quiere oír. / Parece que hasta la muerte / Le gusta verme sufrir.“ 04:27-04:40. 206 | Orig.: „Yo tengo una rabia“. 07:22. 207 | Orig.: „Aquí no se anda así en la buena de Dios. […] Quién no debe una muerte por aquí es que debe dos.“ 29:30-29:47. 208 | Akte von autotelischer Gewalt (vgl. Reemtsma 2008, 117ff), die auf die vollkommene Zerstörung und Entstellung von Körpern abzielen, sind typisch für die frühe Phase der politischen Violencia. Vgl. Restrepo J.A. 2006, 19.

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Wir sind hier keine Petzen.“209 Die Gleichzeitigkeit der Totenwache und des all­abendlichen Trinkgelages in der Bar, welches lautstark im Hintergrund zu hören ist,210 verdeutlicht die Normalität und die Allgegenwart des Todes an der Mine. Auch das routinierte Vorgehen des Ermittlers, der den Fall zu Protokoll nimmt, vermittelt den Eindruck, dass er regelmäßig in dieser Mission im Einsatz ist. Mit leiernder Stimme verliest er den standardmäßig formulierten Bericht über den Leichenfund 211 und schließt seine Ansprache mit den Worten: „Also gut, fertig. Wir gehen dann.“212 Múnera kann dem Teufelskreis der Gewalt ebenso wenig entkommen wie den anderen Gewohnheiten, die das Leben an der Mine mit sich bringt. Er wird vom fleißigen, aufrichtigen Arbeiter zum Trinker und Mörder. Seine Flucht aus dem Dorf zeugt zwar von seinem Willen, eine Veränderung seiner Lebensumstände herbeizuführen, sein Alternativplan, wie Millionen anderer Flüchtlinge in der Hauptstadt sein Glück zu suchen, klingt jedoch nicht besonders vielversprechend. García entwirft anhand von Múneras Beispiel ein Bild von Kolumbien zu Zeiten der Violencia, das von Elend, Armut und Gewalt dominiert ist. Auch wenn die melodramatische Struktur der Romanvorlage und der sentimentale Grundtonus des Films die sozialkritische Analyse überlagern mögen,213 ist Bajo la tierra der erste Film, der nicht nur überzeugend das gewalttätige Ambiente wiedergibt, sondern gleichzeitig die Ursachen der Gewalt andeutet, die neben dem politischen Konflikt in den Folgen der Armut, der Ausbeutung und der fehlenden staatlichen Unterstützung zu suchen sind. Zwar erzeugt die mangelnde Erfahrung des Regisseurs mit dem Medium Film, die sich beispielsweise in harten Schnitten, Achsensprüngen und Over-Acting niederschlägt, zuweilen ein Gefühl der Irritation, jedoch lässt sich nicht bestreiten, dass der Film einen wichtigen Beitrag zur Vervollständigung des Bildes, das die kolumbianischen Filmemacher der 1960er und 1970er Jahre von der Violencia entwerfen, liefert. Aquileo Venganza konzentriert sich noch stärker als Bajo la tierra auf die Darstellung der Ursachen der Gewalt und stellt dabei das Problem der ungerechten Landverteilung sowie der unrechtmäßigen Enteignung von Kleinbauern durch Großgrundbesitzer und Unternehmer in den Mittelpunkt. Ciro Durán zollt der verbreiteten These Tribut, die Violencia als Folge des Kampfes um Grund und Boden zu interpretieren, der seine Wurzeln bereits im 16. Jahr-

209 | Orig.: „No sé. Nadie sabe nada. Aquí no somos soplones.“ 45:15-45:22. 210  | 44:30-45:30. 211  | 51:10-52:15. 212 | Orig.: „Bueno, ya está. Nos vamos.“ 52:10-52:16. 213  | Siehe Zuluaga 2007, 75.

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hundert hat.214 Dabei umgeht er eine direkte Stellungnahme zur politischen Violencia, indem er die Handlung auf das Jahr 1906, kurz nach Beendigung des „Kriegs der Tausend Tage“, transferiert. In einem Zwischentitel umschreibt er diese Zeit als „Tage der Nach-Bürgerkriegszeit voller Verwirrung und Raub, wo das Gesetz des Revolvers regiert“215, als „Tage des Gesetzes des Stärkeren“216. Dass diese Beschreibung, ebenso wie die nachfolgend einsetzende Handlung, auch auf die Violencia der 1940er und 1950er Jahre zutreffen könnte, wird im Film nicht explizit erwähnt, aufgrund seines Erscheinens zehn Jahre nach der offiziellen Beendigung des Zweiparteienkonflikts und mitten in einer nationalen Welle der Aufarbeitung desselben in verschiedenen Kunstgattungen ist der Zuschauer jedoch geneigt einen Zusammenhang herzustellen. Interessanter­ weise lässt sich die Filmhandlung sogar auf die heutige Situation beziehen, denn die gewaltsame Vertreibung der Landbevölkerung, wie sie Durán in Aquileo Venganza darstellt, hält in unveränderter Weise an. Die Handlung setzt damit ein, dass ein Großgrundbesitzer in das Büro des Bürgermeisters eindringt und diesem anhand einer Landkarte veranschaulicht, dass ihn die Parzellen einiger Kleinbauern am Anlegen einer Gersten­ monokultur behindern.217 Er erläutert die Reihenfolge, in der er die Familien, welchen die betreffenden Parzellen gehören, zum Verkauf ihres Landes bewegen will. In befehlshaberischem Tonfall weist der Großgrundbesitzer den Bürgermeister dazu an, ihm die Felder schnellstmöglich zu beschaffen.218 Die Eingangssequenz macht deutlich, dass die Macht über die Region der Groß­ grundbesitzer innehat, nicht der Bürgermeister als offizieller Repräsentant der staatlichen Gewalt. Das erste Opfer der Enteignung ist die Familie Amaya. Auf den Vorschlag des Großgrundbesitzers, das Land freiwillig zu verkaufen, entgegnet Herr Amaya entschieden: „Hier sind wir verwurzelt wie ein Baum in der Erde. Ich kann nicht verkaufen.“219 Die Rechnung für ihren Ungehorsam bekommt die Familie noch in derselben Nacht. Vermummte Männer begießen einen Heu­ haufen mit Benzin und zünden das Gehöft an. Sie lassen Pferde und Kühe frei und nehmen sie mit sich. Die Familie kommt jedoch mit dem Leben davon.220 214 | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 215  | Orig.: „días de post-guerra civil de gran confusión y rapiña donde impera la ley del revolver“. 01:17. 216  | Orig.: „días de la ley del más fuerte“. 01:18. 217 | 02:00-02:20. 218 | „¡Consigame esas parcelas rápidamente!“ (dt.: „Beschaffe mir diese Parzellen schnell!“) 2:30-02:33. 219  | Orig.: „Aquí estamos enraizados como un árbol en la tierra. Yo no se la puedo vender.“ 02:45-02:50. 220 | 03:00-04:08.

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Am nächsten Tag trifft Herr Amaya im Dorf auf den Großgrundbesitzer. Dieser bietet sich scheinheilig an, ihm trotz des entstandenen Schadens das Gehöft abzukaufen, doch Amaya lehnt ab.221 Daraufhin erhält er eine schriftliche Morddrohung. Eine Holztafel wird von einem vermummten Reiter, an einem Speer befestigt, gegen den Eingangsbalken des Hauses geschleudert. Der Text ist voller Rechtschreibfehler, in Reimform verfasst und trägt als Absender die Zeichnung eines Sarges: „Damit du von hier fortgehst Geben wir dir 24 Stunden. Und wenn du das nicht tust, holen wir dir die Eingeweide heraus.“222

Die Übermacht der Angreifer wird durch deren unheimliche äußere Erscheinung versinnbildlicht, als sich der vermummte Reiter in der Dämmerung an den vor seinem Haus wachenden Amaya annähert.223 Damit das Opfer nicht vom Hufgetrappel vorgewarnt wird, trägt das Pferd gepolsterte Leinensäcke um die Hufe. Diese, ebenso wie die weiße Kapuzenmaske des Reiters, welche an die des Ku-Klux-Klan erinnert, leuchten hell im Mondlicht. Pferd und Reiter wirken beinahe gespenstisch, als entsprängen sie einem bösen Traum oder einem Horrorfilm. Auf der Tonebene wird die Spannung durch Trommel­ schläge verstärkt. Die Bedrohung durch die Banditen scheint in dieser Sequenz beinahe übernatürlich: die durch das Konglomerat von Großgrund­besitzern, Staatsvertretern und Söldnern hervorgerufene Gewalt erscheint als meta­ physische Kraft, gegen die die einfache Bauernfamilie trotz aller Sicherheits­ vorkehrungen nichts ausrichten kann. Bei Anbruch der Morgendämmerung reitet Amaya ins Dorf und sucht den Bürgermeister auf. Er bittet ihn um Schutz vor den Banditen. Jener bietet dem Hilfesuchenden scheinheilig an, sein Land zu kaufen, um es besser gegen Angriffe verteidigen zu können, gesteht ihm schließlich aber die gewünschte Schutztruppe zu.224 Diese trifft am Abend ein. Unter dem Vorwand, im Innern des Hauses ihre Strategie zu besprechen, werden die Männer, unter denen sich auch der Großgrundbesitzer befindet, von den Amayas in die Wohnstube gebeten. Auf ein Zeichen ziehen sie gleichzeitig ihre Waffen und zwingen Herrn Amaya, die Verkaufspapiere zu unterzeichnen.225 Am nächsten Morgen verlässt 221  | 04:30-04:56. 222 | Orig.: „Pa que te bayas de aqui / 24 horas te damos / Pues si no lo aces así / las tripas te baciamos [sic]“ 05:24. 223 | 05:12-05:25. 224 | 05:50-06:08. 225 | 06:50-07:38.

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die Familie mit wenigen Habseligkeiten den Hof, gefolgt von den bewaffneten Männern. An einem Fluss, an dem sich die Vertriebenen vom langen Marsch erfrischen, werden sie von ihren Peinigern aus dem Hinterhalt erschossen, damit sie den Betrug nicht verraten.226 Die Banditen ähneln in ihren Motiven und ihrem Auftreten den paramilitärischen Söldnertruppen, die in den 1960er Jahren entstehen und sich 1995 zur AUC zusammenschließen. Dieser können noch im 21. Jahrhundert – beispielsweise unter der Regierung von Álvaro Uribe – enge Verbindungen zur kolumbianischen Regierung nachgewiesen werden.227 Auch wenn das äußerliche Erscheinungsbild der Banditen in Aquileo Venganza von den Darstellungskonventionen des Western beeinflusst ist228, ist Duráns Anspielung auf die Söldnertruppen eindeutig. Die zweite Familie, die den Interessen des Großgrundbesitzers zum Opfer fällt, ist die Familie Bernal. Ihre Beseitigung gestaltet sich jedoch schwieriger, da der alte Bernal viele ausgewachsene Söhne hat, die über die Region hinaus als hervorragende Schützen bekannt sind. Da die Bernals dem Großgrund­ besitzer zu verstehen geben, dass sie um ihr Land kämpfen werden, sucht dieser Verstärkung bei dem gefürchteten Banditen „Cara Cortada“229, damit dieser die Bernals einzeln töten solle, „sauber und ohne Verdacht zu erwecken“230. Aquileo Bernal soll Cara Cortadas erstes Opfer sein. Bei einem Hahnenkampf fordert er ihn zum Duell heraus, welches der junge Bernal jedoch gewinnt. In einer klassisch inszenierten Duell-Szene, in der Aquileo schneller zieht als sein Herausforderer, sinkt dieser tot neben dem Hahn, auf den er gesetzt hatte, zu Boden.231 Nach dieser Niederlage nimmt der Großgrundbesitzer einen Strategie­ wechsel vor. Er lässt den alten Bernal ermorden und plant ein Massaker an der gesamten Familie bei dessen Beerdigung. Seine Rechnung geht weitgehend auf. Die Bernals begeben sich geschlossen auf den Friedhof, um das Grab ihres Vaters zu schaufeln, was in einer totalen Einstellung dargestellt wird. Plötzlich werden Gewehrläufe im unteren Teil des Filmbildes sichtbar.232 Im Gegenschuss fängt die Kamera nun ein, wie sich neun weiß vermummte

226 | 07:40-08:35. 227 | Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 120. Gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe läuft seit 2013 ein Verfahren wegen „parapolítica“ (dt.: „Para-Politik“), wie die enge Zusammen­a rbeit von Politikern und Paramilitärs umgangssprachlich bezeichnet wird. 228 | Wie die Banditen in Esta fue mi vereda oder die Guerilleros in El río de las tumbas erscheinen sie im klassischen Cowboy-Look, mit Lederweste, Hut und Halstuch. 229 | Dt.: „Zerschnittenes Gesicht“. 230 | Orig.: „limpiamente y sin despertar sospechas“. 11:58-12:02. 231 | 13:13-16:28. 232 | 17:42.

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Köpfe über die Friedhofsmauer schieben (T)233 und anschließend, wieder im Gegenschuss inszeniert, wie die Bernals im Kugelhagel zu Boden sinken.234 Aquileo entkommt als einziger stark verwundet und findet Zuflucht im Kloster, wo eine Feier mit anschließender Prozession abgehalten wird. Der Pfarrer lässt die Banditen, die sich als Leute des Bürgermeisters ausgeben, jedoch ein, und es beginnt eine Verfolgungsjagd im Innern des Klosters, bei der Aquileo, als Mönch verkleidet, entkommt. Die schwarzen Masken der Mönche bilden einen farblichen Kontrast zu den weißen der Banditen, was als Symbol für eine Abgrenzung der Geistlichen von den Söldnern interpretiert werden könnte. Durch das zwiespältige Verhalten des Pfarrers, dessen Kloster nach Einlass der Mörder keinen Schutz für Aquileo mehr bietet, wird jedoch angedeutet, dass der Klerus auf derselben Seite stehen könnte wie die Banditen. Nach Ablauf der ersten 19 Minuten, die mit Aquileos Flucht enden, verschwindet der geschichtliche Bezug aus dem Film. Stattdessen nimmt Aquileos persönliche Rache ihren Lauf. Indem er sich, bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, als Bruder von Cara Cortada ausgibt, der sich an Aquileo rächen wolle, mischt er sich unter seine Widersacher. In einer Verfolgungsjagd durch die Wüste, bei der er sich schließlich als Aquileo zu erkennen gibt, erledigt er die Banditen, einen nach dem anderen. Die Schlusssequenz, in der Aquileo die Verfolger in einen Canyon lockt und schließlich als letzten den Großgrund­­ besitzer tötet,235 erinnert abermals an eine Standardszene des Westerns, bei der sich am Ende ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zum Duell gegenüberstehen. Auch der Drehort – das wüstenähnliche Gebiet um Villa de Leyva im Bundesstaat Boyacá – eignet sich hervorragend als Schauplatz des Western. Martínez Pardo bemängelt jedoch, dass Durán das Genre nicht für seine Zwecke transformiere: er presse die kolumbianische Problematik in eine äußere Form, die nur sich selbst genüge und der angeschnittenen nationalen Thematik nicht Rechnung trage.236 Diese Einschätzung erscheint plausibel, dennoch darf die politische Dimension von Aquileo Venganza nicht unterschätzt werden: in einem Moment, als der Zweiparteienkonflikt offiziell als überwunden gilt, greift Durán das Problem der Landverteilung auf. Dieses ist ein Hauptanliegen der FARC, welche zur Entstehungszeit des Films ihre politischen Anliegen publik zu machen beginnen. Noch während der Regierung der „Frente Nacional“, die als Zusammenschluss der Oligarchien zum Zwecke ihres Machterhalts interpretiert werden kann,237 wagt Durán eine Reflexion über die Wurzeln des Para­ militarismus und der „Para-Politik“ und macht so darauf aufmerksam, dass 233 | 17:48. 234 | 17:53. 235 | 1:00:00-1:07:25. 236 | Siehe Martínez Pardo 1978, 266. 237 | Siehe Arias Trujillo 2007, 314; vgl. Kapitel II.1.1.3.

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der Gewalt kein Ende gesetzt werden kann, wenn sich die zugrunde liegenden Mechanismen – in diesem Falle die ungerechte Landverteilung und die Verbrüderung von Oberschicht, Politikern und bewaffneten Söldnern – nicht ändern. Durán stellt sich somit indirekt auf die Seite der extremen Linken, indem er den Hauptaktionspunkt der FARC-Agenda (die Landverteilung) zu einem Zeitpunkt thematisiert, da diese an Einfluss gewinnen, gleichzeitig jedoch den Widerstand der politisch und gesellschaftlich Privilegierten gegen sich auf­ bringen. Die Übertragung der kolumbianischen Grund-und-Boden-Thematik auf ein Genre wie den Western, das sich in den 1960er Jahren international großer Beliebtheit erfreut, könnte als Tarnungsstrategie gedeutet werden: das kommerzielle Kino repräsentierend und direkte Anspielungen auf die Violencia vermeidend, umgeht Durán die Zensur, welche nur sechs Jahre zuvor den Film El hermano Caín verboten hatte. Gerade weil die Erzählkonventionen des Genres die zu anfangs angedeutete politische Analyse im Laufe des Films überlagert, schafft es Durán, seine Kritik an der Zensur vorbeizuschleusen. Das Resultat ist eine eigenwillige Mischung aus kolumbianischer Realität und kommerziellem Kino, die zu Duráns Markenzeichen geworden ist.238 Sowohl in seinem Filmdebüt als auch in seinem späteren Werk ist es der versteckte, jedoch eindeutig politische Standpunkt, der Durán von vielen kolumbianischen Regisseuren unterscheidet.

III.2 D ie „V iolencia“ im staatlich subventionierten K ino : die Ä r a FOCINE (1978-1993) In den 1970er Jahren, als fast ganz Südamerika im Griff der Militär­diktaturen steckt, unternehmen die zivilen Regierungen in Kolumbien und Venezuela den Versuch, mithilfe staatlicher Filmgesetze einen Aufschwung der Film­ produktion zu bewirken.239 Im Falle Kolumbiens ist die Gründung der „Compañia de Fomento Cinematográfico“240, kurz FOCINE, als direkte Folge des Aufpreisgesetzes zu bewerten, mithilfe dessen ab 1971 hunderte von Kurz­ filmen produziert und im kommerziellen Kino vorgeführt werden.241 Der Erfolg des Aufpreisgesetzes für die Kurzfilmproduktion erweckt den Wunsch des kolumbianischen Staates nach einer nationalen Filmindustrie zu neuem

238 | Ähnlich geschieht dies in Nieve Tropical (Tropical Snow. Ciro Durán, 1988, Kolumbien/­ USA) und La toma de la embajada (dt.: „Die Besetzung der Botschaft“. Ciro Durán, 2000, Kolumbien/Mexiko/Venezuela), der in Kapitel III.3 noch näher beleuchtet werden soll. 239 | Siehe King 1994, 291. 240 | Dt.: „Filmfördergesellschaft“. 241  | Vgl. Kapitel I.2.3.

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Leben.242 Zunächst auf der Basis günstiger Kredite, später als eigenständige Produktionsfirma, ermöglicht FOCINE die Realisierung von fast 200 Filmen unterschiedlicher Formate,243 bevor sie aufgrund ihres unklaren künstlerischen Auftrags sowie der Misswirtschaft innerhalb des aufwendigen Verwaltungs­ apparats 1993 bankrott geht.244 Trotz der konzeptionellen Fehler, von denen FOCINE durchzogen ist und auf die in Kapitel III.2.2 zu sprechen gekommen werden soll, muss dem kolumbianischen Staat die „massive und sicherlich gut gemeinte Beteiligung“245 am Auf bau einer Filmindustrie zugutegehalten werden, wie sie in diesem Umfang beispiellos im Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre ist.246 Aufgrund der Tatsache, dass FOCINE, als Teil des Kommunikations­ ministeriums, das Kino in seiner Funktion als Sprachrohr der Gesellschaft wahrnehmen und unterstützen muss,247 ermöglicht die Fördergesellschaft auch eine Intensivierung der filmischen Aufarbeitung der Violencia. Tatsächlich entstehen in der Ära FOCINE die ‚Klassiker‘ des Violencia-Kinos, deren Vorführung im eigenen Land paradoxerweise zwar durch dieselben staatlichen Instanzen erschwert oder verhindert wird, die ihre Realisierung ermöglicht haben, die dafür jedoch als erste kolumbianische Filme auf inter­nationale Bühnen gelangen. Während die Filmemacher der ersten Aufarbeitungswelle zwischen 1959 und 1978 noch mit enormen Schwierigkeiten bei der Finanzierung und Vermarktung ihrer Projekte zu kämpfen haben, können die Regisseure der zweiten Welle dank FOCINE auf Darlehen bis zu 70 Prozent der Gesamt­produktions­kosten zurückgreifen bzw. ab 1985 eine vollständige Kosten­übernahme durch die Förderungsanstalt erreichen.248 Die erleichterten Produktionsbedingungen, in Verbindung mit der wachsenden zeitlichen Distanz zu den traumatischen Ereignissen des Zweiparteienkonflikts, haben sicherlich dazu beigetragen, dass die 1980er Jahre den Höhepunkt der filmischen Auseinander­setzung mit der Violencia darstellen. Während das Land von neuen Konflikten wie dem Drogenkrieg oder dem zunehmenden Para­ militarismus heimgesucht wird und die Gewaltforscher von einem Übergang der Violencia in mehrere „violencias“ zu sprechen beginnen249, leiten die Filme­ macher thematisch von der Darstellung der „ersten violencia“, dem politisch motivierten Parteienkonflikt, zur „zweiten violencia“, dem ruralen Konflikt 242 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 54. 243 | Vgl. Kapitel I.2.3. 244 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 54ff. 245 | Orig.: „la participación masiva, y seguramente bienintencionada“. Álvarez L.A. 1984, 54. 246 | Siehe Osorio O. 2001, 23. 247 | Siehe Zuluaga 2007, 85. 248 | Siehe Henao Flórez 2005, 184. 249 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

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zwischen Guerillas, Militärpolizei und Paramilitärs und der daraus resultierenden massiven Landflucht, über.250 Die „dritte violencia“, unter der Jeoffrey Kantaris in erster Linie die urbane Gewalt versteht, die unter dem Einfluss der Drogenmafias seit den 1980er Jahren eskaliert,251 setzt etwa zu Beginn der Ära FOCINE ein und gelangt zu deren Ende zu einem vorläufigen Höhepunkt. Die urbane Problematik wird jedoch erst in der darauffolgenden Schaffensperiode, dem Jahrzehnt zwischen dem Ende von FOCINE 1993 und dem Inkrafttreten des Filmgesetzes 2003, zum zentralen Thema der filmischen Aufarbeitung. Bevor anhand von Filmbeispielen veranschaulicht werden soll, wie sich die filmische Annäherungen an die Violencia unter dem Einfluss von FOCINE im Vergleich zur staatlich unabhängigen Filmproduktion der 1960er und 1970er Jahre entwickelt hat, soll ein kurzer historischer Überblick Klarheit über die hoch brisante politische Lage geben, auf deren Hintergrund die FOCINE-Produktionen entstanden sind und die den Blickwinkel der Regisseure auf die Landesgeschichte geprägt haben.

III.2.1 Von der „Violencia“ zu den „violencias“ Die 1980er Jahre werden von Historikern häufig als „verlorenes Jahrzehnt“252 für Lateinamerika bezeichnet, denn ausgelöst durch sinkende Öl- und Exportgüter­ preise, die Explosion der Auslandsverschuldung und einer galoppierenden Inflation wird der südliche Teil des Kontinents von einer tiefen Wirtschafts­krise erfasst.253 Als Folge der sozioökonomischen Regression sehen sich Unternehmer zu Gehaltskürzungen und Massenentlassungen gezwungen, während die Regierungen die Inversion öffentlicher Mittel auf ein Minimum reduzieren.254 Die Konsequenzen dieser Sparmaßnahmen für die Bevölkerung beschreibt der Geschichtswissenschaftler Ricardo Arias Trujillo als „[…] niederschmetternd: die soziale Ungleichheit schoss derartig in die Höhe, dass 200 Millionen Lateinamerikaner, das heißt, die Hälfte der Bevölkerung des Kontinents, unter der Armutsgrenze lebten“.255 Den latein­ 250 | Unter Berufung auf Enrique Pulecios Einteilung des innerkolumbianischen Konflikts in drei Phasen (der Zweiparteienkonflikt, der Guerilla-Kampf, der Terror der Drogen­kartelle und die Zuspitzung der urbanen Gewalt. Siehe Pulecio 1999, 161) führt Geoffrey Kantaris den Begriff der ersten, zweiten und dritten violencia für die Betrachtung der Filme ein. Vgl. Kantaris 2008, 110. 251  | Siehe Kantaris 2008, 110. 252 | Orig.: „década perdida“. Arias Trujillo 2007, 333. 253 | Siehe Arias Trujillo 2007, 334. 254 | Siehe Arias Trujillo 2007, 334. 255 | Orig.: „[…] apabullante: la desigualdad social se disparó a tal punto que 200 milliones de latinoamericanos, es decir la mitad de la población del continente, vivía debajo de la pobreza“. Arias Trujillo 2007, 334.

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amerikanischen Staaten, die sich aus eigener Kraft nicht aus der akuten Wirtschaftskrise befreien können, bleibt nichts anderes übrig, als die auferlegten Reformen der internationalen Finanzinstitute zu akzeptieren und sich in das neoliberale System einzugliedern, was ihre Abhängigkeit von den westlichen Industrie­­nationen weiter zementiert.256 In Kolumbien, das wie Chile durch den Umstieg auf alternative Export­güter und die Begrenzung der Neuverschuldung weitgehend unbeschadet aus der Wirtschaftskrise hervorgeht,257 sind andere Faktoren dafür ausschlag­gebend, dass das Land dennoch in den 1980er Jahren in eine tiefe Krise gerät, die alle staatlichen Organe sowie die gesamte Gesellschaft erfasst. An erster Stelle nennt Arias Trujillo in diesem Zusammenhang die Zuspitzung der Gewalt durch die militärische Stärkung der Guerilla und das Aufkommen des organisierten Paramilitarismus.258 Die Machtübernahme illegaler Gruppierungen in immer größeren Teilen des Landes, deren Durchsetzung mit Massakern, Vertreibungen und anderen Menschenrechtsverletzungen einhergeht,259 sowie der Kontrollverlust der staatlichen Instanzen über die betreffenden Regionen führen außerdem zu einer umfassenden Schwächung der Demokratie, deren gewählte Vertreter faktisch am Rande der Regierungsunfähigkeit stehen.260 Um die kritische Lage der staatlichen Autorität wissend, beschließt Präsident Julio César Turbay (1978-1982) eine militärische Lösung des Problems: die Guerilla, der die Alleinschuld an der Eskalation der Gewalt gegeben wird, soll „militärische Gerechtigkeit“261 erfahren und gewaltsam zur Niederlegung ihrer Waffen gezwungen werden.262 Beim Versuch der Umsetzung seines Plans verletzt Turbay die Menschenrechte jedoch so gravierend, dass er unter anderem von Amnesty International angezeigt wird.263 Eingeschüchtert durch die Ankündigung wirtschaftlicher Sanktionen und den wachsenden Druck der oberen Gesellschaftsschichten, die das skandalöse Ausmaß der Korruption für eine neue Inflation verantwortlich machen, stimmt Turbay schließlich der Bildung einer Friedenskommission mit dem Ziel einer friedlichen Beilegung des Guerilla-Kampfes zu, welche jedoch an der fehlenden Bereitschaft der Regierung, sich am Dialog zu beteiligen, sowie am Widerstand der Militärs, den Guerilleros Generalamnestien zu erteilen, scheitert.264 256 | Siehe Arias Trujillo 2007, 334. 257 | Siehe Arias Trujillo 2007, 335. 258 | Siehe Arias Trujillo 2007, 335; Fischer/Cubides C. 2000, 118ff. 259 | Vgl. Castro Lee 2005, 16f. 260 | Vgl. Arias Trujillo 2007, 335f. 261 | Orig.: „justicia militar“. 262 | Siehe Arias Trujillo 2007, 335. 263 | Siehe Arias Trujillo 2007, 336. 264  | Siehe Arias Trujillo 2007, 336.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

1982 wird die Frage der Friedenspolitik zum entscheidenden Wahlkampf­ thema. Belisario Betancur (1982-1986), der als erster kolumbianischer Präsident die Guerilla nicht als „Problem der öffentlichen Ordnung“265 abtut, sondern ihrer Existenz eine Reihe „objektiver Ursachen“266, wie z.B. die soziale Ungerechtig­keit oder die Exklusivität der politischen Debatte, zu Grunde legt, setzt sich mit seinem Friedensplan, der den Dialog mit der Guerilla, Sozial­reformen sowie eine Öffnung der Politik beinhaltet, gegen seine rechts­ konservativen Konkurrenten durch.267 Auch wenn Betancurs Friedenspolitik schon bald erste Erfolge zeigt – einen temporären Waffenstillstand, die Verabschiedung eines Gesetzes zur Direktwahl des Bürgermeisters durch die Bevölkerung oder die Gründung der „Unión Patriótica“ (UP) als politische Vertretung der FARC – starten Vertreter der Wirtschaft, der katholischen Kirche und der Presse eine massive Vernichtungskampagne gegen den Präsidenten und erreichen 1985, im Zuge der Besetzung des Justizpalastes durch ein Kommando der Guerilla M-19, die Beendigung des Friedensdialogs. Die historische Bedeutung der Friedenspolitik Betancurs ist dennoch unumstritten: zum einen erreicht er vor seinem Abtritt die gewaltfreie Demobilisierung unterschiedlicher bewaffneter Gruppen, zum anderen hat sein Ansatz viele Nachahmer, auch außerhalb Kolumbiens, gefunden und zu einem Umdenken in der Lösung bewaffneter Konflikte auf dem Kontinent angeregt.268 Für Eduardo Pizarro, der den kolumbianischen Friedensprozess mit anderen Beispielen in der Region vergleicht, ist Betancurs Ansatz der einzige mögliche Weg zum Frieden: „der Rückgang der bewaffneten Konflikte [...] hat vor allem erfolgreiche Friedens­prozesse zur Grundlage gehabt, und nicht den militärischen Triumpf eines der Pole des Konflikts.“269 In den 1990er Jahren steigert sich die Gewalt durch drei Faktoren auf ein bis dato unübertroffenes Ausmaß. Zum einen gelingt den FARC, gestärkt durch ihre zunehmende Finanzierung aus dem Drogenhandel, die Macht­übernahme in strategisch wichtigen Gebieten wie der Kaffeezone, dem Einzugs­gebiet der Großstädte, den Landesgrenzen sowie der Küsten.270 Gleich­ zeitig lässt sich eine zunehmende Verrohung ihrer Anhänger feststellen, die aufgrund der großen Diskrepanz zwischen den erklärten Zielen und deren praktischer Umsetzung mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verlieren: 265 | Orig.: „problema de orden público“. 266 | Orig.: „causas objetivas“. 267 | Siehe Arias Trujillo 2007, 336. 268 | Vgl. Arias Trujillo 2007, 337. 269 | Orig.: „la disminución de los conflictos armados [...] ha tenido como origen ante todo procesos de paz exitosos y no el triunfo militar de uno de los polos del conflicto“. Pizarro 2004, 42f. 270 | Siehe Arias Trujillo 2007, 339.

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 Kino in Kolumbien „Die Guerilla behauptet, für die Interessen des Volkes und für die Wiederherstellung der Demokratie zu kämpfen, aber was man tagtäglich beobachtet, sind eindeutig kriminelle Handlungen, die wenig mit den revolutionären Idealen zu tun haben: Entführungen, wahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die permanente Verletzung der Menschenrechte sowie des internationalen Völkerrechts.“271

Zum anderen schwingen sich paramilitärische Vereinigungen, von Groß­ grund­­ besitzern als Gegengewicht zur mächtiger werdenden Guerilla eingesetzt und von staatlicher Seite gebilligt, zu militärischen Machthabern in bestimmten Regionen auf: ausgehend von der Hafenstadt Puerto Boyacá am Magdalena-Fluss bringen sie nach und nach auch Teile Córdobas, Urabás und Antioquias unter ihre Kontrolle.272 Der Terror, den sie auf die Zivilbevölkerung ausüben, überschreitet, Cecilia Castro Lee zufolge, den der zurückgedrängten Guerilla bei weitem.273 In den Worten Daniel Pécauts führen die Paramilitärs, die sich ebenfalls zunehmend aus dem Drogenhandel finanzieren, einen „intensiven Krieg gegen die Gesellschaft“274, unterstützt von rechten Politikern und Großgrundbesitzern, die unter den Bauern potenzielle Anhänger der linken Guerilla vermuten. Thomas Fischer zitiert in diesem Zusammenhang Carlos Castaño, den Anführer des paramilitärischen Dachverbandes AUC, der die willkürlichen Morde wie folgt rechtfertigt: „In diesem Krieg sterben viele Zivilpersonen, und wissen Sie warum? Weil zwei Drittel der effektiven Kraft der Guerilla keine Waffen besitzen und als Zivilbevölkerung agieren.“275 Unter der Regierung von Virgilio Barco (1986-1990) nimmt ein para­ militärischer Kreuzzug gegen linke Politiker, Guerilleros, Journalisten, Richter und Menschenrechtler seinen Lauf, dessen Ausmaß das des konservativen Rundumschlags gegen die Liberalen in den 1930er Jahren276 noch übertrifft. Den Höhepunkt stellt der systematische Massenmord an Aktivisten und Partei­ mitgliedern der UP dar, die bei ihren ersten Wahlen 1986 mit fünf Senatoren, neun Vertretern des Repräsentantenhauses, 14 Abgeordneten der Bundes­ staaten, 351 Stadträten und der Ernennung von 23 Bezirksbürgermeistern als 271 | Orig.: „La guerrilla dice luchar por los intereses del pueblo y por el restablecimiento de la democracia, pero lo que se aprecia al diario son actos claramente criminales que poco tienen que ver con los ideales revolucionarios: secuestros, ataques indiscriminados a la población civil y violación permanente de los derechos humanos y del derecho internacional humanitario.“ Arias Trujillo 2007, 339f. 272 | Siehe Arias Trujillo 2007, 340. 273 | Siehe Castro Lee 2005, 16. 274 | Orig.: „intensa guerra contra la sociedad“. Pécaut, Daniel: Guerra contra la sociedad. Bogotá, 2001. Zitiert in: Castro Lee 2005, 16. 275 | Castro Caycedo 1996, 177. Zitiert in: Fischer/Cubides C. 2000, 119. 276 | Vgl. Kapitel III.1.1.

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erfolgreiche Kraft hervorgehen.277 Der vom kolumbianischen Staat gebilligte und von Todesschwadronen in dessen Auftrag ausgeführte Massenmord, der als größter politisch motivierter Genozid des ausklingenden 20. Jahrhunderts weltweit gilt, hat bis 1994 etwa 20.000 Menschen das Leben gekostet.278 Wie aus offenen Briefen der FARC an den Präsidenten Virgilio Barco hervorgeht, wäre die Guerilla nach der Gründung der UP durchaus zur Niederlegung ihrer Waffen bereit gewesen, jedoch unter der Bedingung, dass die Regierung ihre Todesschwadronen zurückpfeife und Maßnahmen gegen den Hunger der Landbevölkerung ergreife.279 Aus der Fachliteratur geht hervor, dass die Schuldfrage im Falle der Gewalt­ eskalation der 1980er und 1990er Jahre nicht eindeutig geklärt werden kann. Tatsache ist jedoch, dass das Aufkommen des organisierten Paramilitarismus den bereits bestehenden bewaffneten Konflikt nicht abschwächt, sondern verschärft.280 Anstatt den Einfluss der Guerilla zu schmälern, werden neue Schreckens­regime neben den bereits bestehenden etabliert.281 Die Tatsache, dass es sich bei den Paramilitärs um Söldner handelt, die – im Gegensatz zur Guerilla – oft keinen persönlichen Bezug zu ihren lokalen Einsatzorten haben, erklärt partiell die zunehmende Grausamkeit ihrer Tötungspraktiken.282 Der Versuch der paramilitärischen Vereinigungen, sich als politische Akteure hervorzutun, um in den Friedensprozess miteinbezogen zu werden, kann aufgrund des Fehlens eines stringenten Diskurses, der über die Beschreibung ihrer militärischen Funktionalität hinausgeht, so Fischer, als gescheitert angesehen werden: die paramilitärische Bewegung habe „offensichtlich Mühe, übergreifende, für eine breite Öffentlichkeit gedachte Zusammenhänge zu formulieren“283, und tue sich schwer, „a posteriori eine angemessene Programmatik zu konstruieren, welche die Ausweitung ihres Kampfes auf das ganze Land rechtfertigt.“284 Die 1980er und 1990er Jahre gelten insofern als Wendepunkt im inner­ kolumbianischen Konflikt, da die Gewalt aufhört, ein militärisches Mittel zur Durchsetzung politischer oder ideologischer Ziele zu sein, sondern zum

277  | Quelle: Bericht der „Defensoría del Pueblo“, 1992, S.65. Zitiert in: Medina Gallego 2009, 72. 278 | Vgl. Medina Gallego 2009, 80. 279 | Quelle: Offener Brief der FARC an die Regierung Virgilio Barco, unterzeichnet in La Uribe am 26. Juni 1987. Zitiert in: Medina Gallego 2009, 80f. 280 | Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 130. 281 | Siehe Arias Trujillo 2007, 343f. 282 | Vgl. Uribe Alarcón 2004, 112ff. 283 | Fischer/Cubides C. 2000, 124. 284  | Fischer/Cubides C. 2000, 125.

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eigentlichen Inhalt des Krieges wird 285. Die Präsenz von autotelischer Gewalt ist zwar schon während der Violencia der 1950er Jahre in umfassendem Maße zu verzeichnen, in den 80ern erreicht sie jedoch im Kontext des Krieges der Drogenkartelle eine neue Dimension. Wie Johannes von Dungen offenlegt,286 ist im kolumbianischen Regierungsdiskurs seither immer häufiger von „Terrorismus“ bzw. von „Drogenterrorismus“287 die Rede, wenn es um die Gewalt­ akte der bewaffneten Gruppen geht, welche einerseits den Drogenhandel überwachen und sich andererseits zunehmend aus diesem finanzieren288. In dieser Phase erklärt US-Präsident Ronald Reagan „[...] den Drogenhandel erstmals zur Gefahr für die nationale Sicherheit und ermächtigte das Pentagon, in die Anti-Drogen-Politik anderer Staaten einzugreifen.“289 In den Folgejahren integrieren die USA Kolumbien in ihr „Zertifizierungsprogramm“290 und intervenieren in die kolumbianische Anti-Drogen-Politik, z.B. bei der Zerschlagung des Medellín-Kartells oder der Aufdeckung von Korruptionsskandalen im Zusammen­hang mit den Kartellen.291 Der Drogenhandel, den Arias Trujillo als dritten und schwerwiegendsten Grund für die umfassende Staatskrise der 1980er Jahre anführt,292 hat in wirtschaftlicher, politischer und, nicht zuletzt, gesellschaftlicher Hinsicht fatale Folgen für Kolumbien. Manche Ökonomen, die den durchschnittlichen jährlichen Umsatz des Drogengeschäfts auf 2.000 Millionen Dollar kalkulieren, was den Umsatz des Kaffeeexports bei weitem übersteigt,293 sprechen zwar von kurzfristigen Verbesserungen der wirtschaftlichen Gesamtlage durch das illegale Exportgeschäft, denn der Anbau, die Weiterverarbeitung und der Schmug285 | Medina Gallego führt in diesem Zusammenhang Kalyvas Stathis These an, die Gewalt dürfe nicht als Resultat, sondern müsse als Prozess verstanden werden. Im Falle Kolumbiens falle dabei auf, dass der Konflikt kaum mehr von der Gewalt im Konflikt zu trennen sei. Die Gewalt sei zum eigentlichen Sinn und Zweck des Krieges geworden. Stathis, Kalyvas: La violencia en medio de la Guerra civil. Esbozo de una teoría. In: IEPRI-UN (Hg.): Análisis político. Nr. 42, Januar – April, Bogotá, 2001. Zitiert in: Medina Gallego 2009, 39. 286 | Siehe von Dungen 2011, 352ff. 287  | Orig.: „narcoterrorismo“. 288 | Zwischen 1991 und 1996 finanzieren sich die FARC, mit einer Gesamtsumme von 470 Millionen Dollar, zu 41% aus dem Drogenhandel, die Paramilitärischen Vereinigungen mit 200 Millionen Dollar zu 70%. Quelle: Pizarro 2004, 193; zitiert in: Arias Trujillo 2007, 344. 289 | Von Dungen 2011, 350. 290 | Innerhalb dieses Programms werden die betreffenden Staaten finanziell für ihre Kooperation belohnt bzw. für ihre Weigerung sanktioniert. 291 | Beispielsweise der „Prozess 8.000“, bei dem die Regierung Samper der Zusammen­ arbeit mit dem Cali-Kartell überführt wird. 292 | Vgl. Arias Trujillo 2007, 344ff. 293 | Siehe Arias Trujillo 2007, 345.

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gel der Droge habe unzählige Arbeitsplätze geschaffen und zu einem ra­piden Aufschwung, vor allem im Bau- und Konsumgewerbe, geführt.294 Mittelund langfristig überwiegen jedoch die negativen Folgen, da das schnelle Geld in erster Linie in Luxusgüter und Börsenspekulation flössen, was ein nachhaltiges Wachstum verhindere, und der Schmuggel außerdem eine ungleiche Konkurrenz zu legalen Industriezweigen darstelle, welche durch ihn geschwächt würden.295 Auch das Problem der ungleichen Landverteilung erfährt durch den Drogenhandel eine Verschärfung: neben den bewaffneten Gruppen, die im Kampf um Territorium zum Anbau von Koka sowohl Bauern als auch Großgrundbesitzer gewaltsam von ihren Höfen verdrängen, kaufen Drogen­ barone ganze Landstriche auf, um dort gigantische Viehzuchten zu errichten.296 Die neuen Mega-Besitztümer, die den Drogenbossen als Status­symbol dienen, richten enorme landwirtschaftliche Schäden an und vergrößern die sozialen Probleme der Landbevölkerung, die zu tausenden in die Großstädte abwandert.297 Die Strukturen der Mafia dringen in alle sozialen Schichten und Lebensbereiche vor: Korruption, Kriminalität, Schaulust und Verschwendung kennzeichnen den Lebensstil der Drogenmillionäre und werden zum Leitbild einer Gesellschaft, in der der schnelle Reichtum die einzige Alternative zu Armut und Elend darstellt. Die Gelder aus dem Drogen­handel fließen auch in sportliche und kulturelle Großveranstaltungen, mit denen sich die Mafia profiliert, sowie in die Politik, wo die Wahlkampagnen kooperativer Kandidaten mit „Narco-Geldern“ unterstützt werden298. Zusätzlich zur „Para-Kultur“, von der Castro Lee in Hinblick auf die Käuflichkeit und Entpolitisierung der Auftragsmörder spricht, setzt sich in den 1980er Jahren eine „Narco-Kultur“ durch, die von Werteverfall und Gesetzlosigkeit durch das schnelle, schmutzige Geld gekennzeichnet ist.299 Die Drogenmafia stellt außerdem, neben der Guerilla und den Paramilitärs, eine dritte bewaffnete Kraft dar, die die Souveränität des kolumbianischen Staates gefährdet. Vor allem in den Großstädten Cali und Medellín, wo die beiden großen Kartelle ihren Sitz haben, sowie in den traditionellen Anbau- und Weiterverarbeitungsgebieten im Süden des Landes setzt sich

294 | Siehe Arias Trujillo 2007, 345f. 295 | Siehe Arias Trujillo 2007, 346. 296 | Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 118ff. 297 | Siehe Arias Trujillo 2007, 346. 298 | Selbst vor den höchsten politischen Ämtern macht die Korruption nicht halt. So wird Ernesto Samper, kolumbianischer Präsident von 1998 bis 2002, angeklagt, immense Summen vom Cali-Kartell für seine Wahlkampagne kassiert zu haben. Siehe Arias Trujillo 2007, 345. 299 | Vgl. Castro Lee 2005, 16.

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die Mafia mithilfe von Terrorattentaten, die häufig direkt gegen die Polizei oder staatliche Organe gerichtet sind, gegen den Einfluss der Regierungen durch300. Es kann festgehalten werden, dass sich die kolumbianische Krise der 1980er Jahre durch einen umfassenden Verlust der staatlichen Kontrolle auszeichnet, welche faktisch an drei illegale Fraktionen abgetreten wird, die ihre jeweiligen Interessen unter Einsatz von Gewalt durchzusetzen versuchen. Diese dritte Phase des innerkolumbianischen Konflikts301 unterscheidet sich von den vorherigen dadurch, dass sich die bewaffneten Gruppen wegen ihres gemeinsamen Geschäfts, dem Drogenhandel, einerseits erbitterte Kämpfe um Ware und Absatzmärkte liefern, andererseits jedoch in ein finanzielles Abhängigkeits­ verhältnis geraten, das sie zu Diplomatie untereinander zwingt und dem Einfluss des Staates noch weiter entrückt 302 . Neben politischen Motiven sind finanzielle Interessen zur wichtigsten Triebfeder des bewaffneten Konflikts geworden. Durch das Aufkommen der Kartelle rücken die Großstädte ins Zentrum der Auseinandersetzungen, und Mord wird, den Jahressttatistiken des DANE303 zufolge, ab 1989 zur häufigsten Todesursache in Kolumbien.304 Angesichts der Tatsache, dass der kolumbianische Staat in den 1980er und 1990er Jahren in politischer und militärischer Hinsicht die Kontrolle über das Land verliert, erscheint es umso interessanter, dass er sich dafür um den kulturellen Sektor bemüht und zur Triebfeder für die Entstehung der bis dato bedeutendsten Periode des kolumbianischen Kinos wird. Welche Ziel­setzungen der Staat mit der Gründung von FOCINE verfolgt und inwiefern er die kreativen Prozesse der Filmemacher aktiv beeinflusst, die sich in Zeiten neuer Gewaltwellen mit der politischen Violencia und deren Auswirkungen auf die Gegenwart auseinandersetzen, soll folgender kurzer Überblick skizzieren.

300 | Dies wird deutlich am Beispiel des Präsidenten César Gaviria, dessen Regierung sich aufgrund des wachsenden Terrors auf direkte Verhandlungen mit dem Medellín-­K artell einlässt und von diesem schließlich die Bedingungen für die Übergabe Pablo Escobars auferlegt bekommt. Vgl. Arias Trujillo 2007, 347. 301 | Nach einer bereits zitierten Einteilung von Enrique Pulecio. Siehe Pulecio 1999, 161. 302 | Die Drogenmafia ist auf Lieferungen aus Gebieten angewiesen, die von den FARC oder Paramilitärs kontrolliert werden. Diese brauchen ihrerseits gute Beziehungen zu den Kartellen, um die Ware absetzen zu können. 303 | Das DANE (Departamento Administrativo Nacional de Estadística) ist die kolumbianische Entsprechung des Statistischen Bundesamts (Destatis). 304 | Quelle: http://www.dane.gov.co/index.php/esp/poblacion-y-demografia/nacimientosy-defunciones/118-demograficas/estadisticas-vitales/2877-defunciones-no-fetales

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III.2.2 Das Für und Wider von FOCINE Über die Erfolge und Misserfolge von FOCINE sowie über die Bedeutung der staatlichen Filmförderung für die Verarbeitung der Violencia wird in der Fach­ literatur äußerst kontrovers diskutiert. Zwar besteht Einigkeit darüber, dass die Erhöhung der zuvor quasi inexistenten Produktion auf durchschnittlich sechs Langfilme im Jahr den kolumbianischen Filmsektor in seiner Gesamtheit voranbringt.305 Der kolumbianische Filmkritiker Luis Alberto Álvarez ist der Auffassung, dass es in der Pflicht des Staates stehe „[…] die Kunst auf solide Weise zu unterstützen und zu ermöglichen, dass ein Kino mit nationaler Identität entsteht, ein Kino, das auf die beste Weise unsere Welt reflektiert und das jenseits des Konsums Bestand hat.“306 Ähnlich wie Álvarez hebt auch Isabel Sánchez den kulturellen Auftrag staatlicher Subventionen hervor, der auch in vielen anderen Ländern vor kommerziellen Absichten Vorrang habe: „Außer der nord­ amerikanischen und der indischen Filmindustrie haben alle anderen staatliche Unterstützung erhalten, nicht um aus dem Kino eine Einkommens­ quelle zu machen, sondern um die kulturellen Werte zu bewahren, die dieses repräsentiert.“307 Genau in diesem Punkt jedoch ist FOCINE von Wider­ sprüchen durchzogen, die auch die Meinungen der Experten spalten. Während sich Befürworter der Institution auf deren erklärte Zielsetzung berufen, dem Land dabei helfen zu wollen, sich selbst in Bildern auszudrücken,308 wird die Einführung der staatlichen Filmförderung von Kritikern als Vorwand angesehen, um die Inhalte und die Rezeption der Filme kontrollieren zu können. Der Vorwurf begründet sich vor allem in der Tatsache, dass FOCINE über einen institutionsinternen „Qualitätsrat“309 verfügt, der sowohl über die Realisierung von Filmprojekten als auch über deren Vorführung innerhalb Kolumbiens entscheidet: „Obwohl es thematische Freiheit gab, beinhaltete der Rat auf die eine oder andere Weise die Existenz eines Filters für mögliche Filme mit Themen, die vielleicht nicht 305 | Siehe Osorio O. 2005, 31. 306 | Orig.: „[…] apoyar sólidamente el arte y permitir que surja un cine de identidad nacional, un cine que refleje de la mejor manera nuestro mundo y que tenga permanencia más allá del consumo“. Álvarez L.A.1984, 55. 307 | Orig.: „Salvo la industria cinematográfica norteamerikana e Indú [sic], todas las demás han tenido apoyo estatal no para hacer del cine un fuente de ingresos, sino para salvaguardar los valors culturales que éste representa.“ Sánchez Méndez 1987, 14. 308 | Vgl. Osorio O. 2005, 31. Wie Álvarez verteidigt Osorio FOCINE jedoch nicht uneingeschränkt. 309 | Orig.: „junta de calidad“.

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 Kino in Kolumbien dazu geeignet waren, dem Publikum vorgeführt zu werden. Von Anfang an und in ihrem Fundament schloss die Kompanie, indem sie diese Spielregeln aufstellte, Themen oder Bearbeitungs­w eisen aus, die einen politischen Blick auf die Probleme des Landes versprachen.“310

Paradoxerweise finanziert die Förderinstitution eine Reihe von Filmen über die Violencia, deren Rezeption innerhalb Kolumbiens sie begrenzt oder verhindert, wie im Falle von Canaguaro oder Cóndores no entierran todos los días. Von einem politisch militanten Kino, dessen Zensur angesichts des Macht­ zuwachses der Guerilla in gewisser Weise nachvollziehbar gewesen wäre, kann jedoch bei keinem der betreffenden Filme gesprochen werden. Juana Suárez deklariert sie überwiegend als „illustrativ“, als „vereinzelte Erzählungen, denen […] es nicht gelingt, ein filmisches Ensemble anzubieten, das den status quo herausfordert“311. Diese Einschätzung ist nicht unumstritten, denn Canaguaro kann durchaus als Kritik an der kolumbianischen Innenpolitik sowie als Rechtfertigung der Guerilla gelesen werden,312 jedoch ruft er weder direkt zum bewaffneten Kampf auf noch richtet er sich in appellierender Weise ans Publikum. Gemäßigtere FOCINE-Kritiker führen auch die kommerziellen Absichten der Kompanie als Grund für die Existenz des „Qualitätsrats“ an: Ausgehend von der Idee, eine nachhaltige Filmindustrie aufzubauen, suche FOCINE den Kontakt zu einem breiten Publikum, das die Wiedereinspielung der Inversion an den Kinokassen garantieren soll. Wie Álvarez es formuliert, werde dabei jedoch kein Austausch mit diesem Publikum angestrebt, stattdessen interessiere vordergründig dessen zahlenmäßiges Erscheinen.313 Um die Attraktivität nationaler Produktionen für das kolumbianische Publikum zu steigern, achte die Qualitätsjury bei der Auswahl der Filme in erster Linie auf deren Unterhaltungswert sowie auf den Wiedererkennungswert ihrer Inhalte.314 Insbesondere die Komödien von Gustavo Nieto Roa, die aufgrund ihres Erfolgs beim Publikum bald als „garantierte kommerzielle Formel“315 gelten, werden Filmen über die soziale oder politische Realität vorgezogen. Álvarez be310 | Orig.: „Aunque había libertad temática, la junta implicaba de una u otra forma la existencia de un filtro para posibles películas de temas quizá no aptos para ser presentados al público. Desde el principio y por su base, la Compañía al establecer estas reglas del juego excluía temas o tratamientos que comprometieran una mirada política sobre los problemas del país.“ Pulecio 1999, 167. 311 | Orig.: „relatos aislados que […] no consiguen ofrecer un conjunto cinemático que desafie el statu quo“. Suárez 2009 (1), 87 [Hervorhebung im Original]. 312 | Vgl. Kapitel III.2.3.1. 313 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 56. 314 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 56. 315 | Orig.: „formula comercial garantizada“. Álvarez L.A. 1984, 64.

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fürwortet prinzipiell die Existenz eines kommerziellen Kinos, bemängelt aber, dass dieses das Kino der geschichtlichen Aufarbeitung aus der Förderung verdränge.316 Als FOCINE 1990 Konkurs anmeldet und die Produktion abrupt einbricht, wird die Förderung von Filmen über die Gewalt ganz eingestellt.317 Für die Filmemacher hat dies zur Folge, sich kommerzielleren Inhalten zuwenden zu müssen oder ihr Glück wieder in der staatlich unabhängigen Produktion zu suchen. Dass die Filminhalte und deren Umsetzung stark von den jeweiligen Produktionsbedingungen abhängen, bekräftigt auch Luis Alberto Álvarez: „[…] die Struktur von FOCINE selbst, aber auch die unseres Vertriebs- und Vorführ­ systems, sind auch ‚Autoren‘ unserer Filme, sie leiten sie zu einem erheblichen Teil in ihrer Ästhetik und ihrer Thematik.“318 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es dem kolumbianischen Staat mit FOCINE gelingt, die Filmproduktion anzukurbeln, technische Verbesserungen zu erzielen sowie die Diversität der Inhalte und Formate zu vergrößern. Das Problem, dem sich die Fördergesellschaft nicht ausreichend stellt und an dem sie schließlich scheitert, besteht Experten zufolge nicht in der Produktion selbst, sondern am Fehlen eines adäquaten Marktes und von Vermarktungs­wegen: da weder innerhalb Lateinamerikas noch in die USA oder Europa eine Exporttradition besteht, müssen die Kosten für die Filme im eigenen Land eingespielt werden.319 Da die großen Kinoketten wie Cine Colombia jedoch an Kassenschlagern interessiert sind, verschwinden die kolum­ bianischen Filme – mit Ausnahme der kommerziellen Komödien – schon nach wenigen Vorführtagen aus dem Programm. „So gelangte man in die absurde Lage, Langfilme zu produzieren, obwohl man wusste, dass diese nicht einmal im besten Falle profitabel wären, und was noch schlimmer ist, dass sie dazu verdammt waren, nach wenigen Tagen Mindestspielzeit aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden.“320 Auch der Versuch, sich durch die Verlagerung der Filmproduktion aufs Fernsehen aus der finanziellen Bredouille zu befreien, schlägt fehl. Pedro Adrián Zuluaga vermutet, dass die Filme

316  | Siehe Álvarez L.A. 1984, 64. 317 | Siehe Pulecio 1999, 178. 318 | Orig.: „[…] la estructura misma de FOCINE, pero también la de nuestros sistemas de distribución y exhibición, son también ‚autores‘ de nuestras películas, las guían en buena parte en su estética y en su temática.“ Álvarez L.A. 1984, 55. 319  | Siehe Henao Flórez 2005, 184. 320 | Orig.: „Se llegó entonces a la absurda situación de producir largometrajes a sabiendas de que ni en el mejor de los casos serían rentables y, lo que es peor, condenados a desaparecer de la conciencia pública después de unos días mínimos de exhibición.“ Álvarez L.A. 1984, 55.

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aus der Reihe „Cine en TV“321, bedingt durch die strengen finanziellen und terminlichen Auflagen der von FOCINE vorgegebenen Produktionspläne, weit hinter ihren qualitativen Möglichkeiten zurückbleiben.322 Álvarez und Henao Flórez führen auch ästhetische Gründe für den Misserfolg des kolumbianischen Fernsehfilms an: der Glaube, dass sich ein Medium problemlos auf ein anderes übertragen ließe, führe zu einer unklaren Mischung von Film- und Fernsehästhetik, auf das sich das Publikum nicht einlasse.323 Für Pulecio ist die chaotische Planung und Verwaltung der Fördergesellschaft schuld an deren Bankrott. FOCINE habe sich nach dem Motto ‚learning by doing‘ ständig neu erfunden, was sich auch in der Häufigkeit der Kurs- und Personalwechsel – Pulecio spricht von 19 Vorsitzenden in 14 Jahren – niederschlage.324 So negativ das Urteil über die staatliche Institution selbst ausfallen mag, so positiv wird in weiten Teilen der Fachliteratur über die Filme geurteilt, die mithilfe von FOCINE entstanden sind. Besonders hervorgehoben wird die Bemühung der Filmemacher, eine eigene Filmsprache im Umgang mit nationalen Themen zu finden.325 Auch die regionalen Akzente eines „Kinos aus der Provinz“, die Regisseure wie Luis Ospina, Carlos Mayolo, Víctor Gaviria oder Lisandro Duque in Abgrenzung zum Kino aus der Hauptstadt setzen, werden als Ausdruck wachsender Authentizität interpretiert.326 Diese entstehe „im genauen, aufrichtigen und ehrlichen Abbild unserer Realität“327, meint Pulecio, dem die kolumbianischen Filmemacher, insbesondere bei der Darstellung der Violencia, allgemein zu unentschieden erscheinen. Welche Aspekte des innerkolumbianischen Konflikts die Regisseure in der Ära FOCINE herausgreifen und wie sich die filmischen Abbilder zu den historischen Ereignissen positionieren, die sie behandeln, soll im Folgenden anhand von exemplarischen Filmanalysen veranschaulicht werden.

III.2.3 E xemplarische Filmanalysen Im Vergleich zur ersten Phase der filmischen Aufarbeitung der Violencia328 ist während FOCINE eine Weiterentwicklung hin zu eindeutigeren geschichtlichen Bezügen und politischen Positionierungen zu verzeichnen. Während die Filmemacher der 1960er und 1970er Jahre dazu tendieren, die Violencia 321  | Vgl. Kapitel I.2.3. 322 | Siehe Zuluaga 2007, 90. 323 | Siehe Henao Flórez 2005, 184. 324 | Siehe Pulecio 1999, 166. 325 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 58. 326 | Siehe Álvarez L.A. 1984, 58. 327 | Orig.: „en el reflejo exacto, sincero y honesto de nustra realidad“. Pulecio 1999, 179. 328 | Siehe Kapitel III.1.

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eher beiläufig zu behandeln, wird sie zum zentralen Handlungs­gegenstand im kolumbianischen Kino der 1980er Jahre. In einer Zeit, in der der Zwei­ parteienkonflikt als überwunden gilt, seine Konsequenzen sich jedoch in Form von unkontrollierbaren Gewaltwellen auf dem Land und in der Stadt mani­ festieren, greifen die Regisseure gezielt die Thematik der Violencia auf.329 Vor allem in den Anfangsjahren von FOCINE scheint der Staat den Filme­machern große inhaltliche Freiheiten zu gewähren: Der erste von FOCINE geförderte Film ist Canaguaro330 (1981, Kolumbien), das Langfilmdebüt des emigrierten chilenischen Regisseurs Dunav Kuzmanich. Mit seiner besonderen Position als Flüchtling vor der chilenischen Diktatur und als Ausländer in Kolumbien zusammenhängend, ist sein Debüt von einer unverschleiert politischen Agenda gezeichnet. Canaguaro erzählt aus der Sicht der liberalen Guerilla, die sich in den Llanos Orientales zur Zeit der Violencia bildet, wie sich diese für eine eigenständige Fortsetzung des bewaffneten Kampfes entscheidet, als sie sich nach dem parteilich gebilligten Militärputsch von Rojas Pinilla von den Liberalen verraten fühlt. Als erster Langspielfilm der kolumbianischen Filmgeschichte, der als klare Verteidigung der Guerilla gelesen werden kann, soll Canaguaro unter dem Gesichtspunkt des Perspektivwechsels analysiert werden. Das nächste Kapitel widmet sich der Betrachtung von Cóndores no entierran todos los días331 (Francisco Norden, 1984, Kolumbien). Nordens Adaption des gleichnamigen Romans von Gustavo Álvarez Gardeazábal (1972), der als einer der erfolgreichsten kolumbianischen Filme aller Zeiten gilt, vereint gleich mehrere Merkmale, die charakteristisch für die Ära FOCINE sind: die Auf­arbeitung des politischen Konflikts anhand einer historischen Figur – dem „Kondor“, dem Anführer der sogenannten „pájaros“332 – und die film­ technischen Verbesserungen des Gesamtwerks, die sich speziell in den Bereichen Ton, Drehbuch, Schnitt und Schauspielführung bemerkbar machen. Als drittes soll Pisingaña333 (Leopoldo Pinzón, 1985, Kolumbien) stellvertretend für diejenigen FOCINE-Produktionen behandelt werden, anhand derer sich der allmähliche Übergang von der ruralen zur urbanen Thematik abzeichnet. Der Film erzählt die Leidensgeschichte eines Bauernmädchens, das nach einem bewaffneten Übergriff auf ihren Hof nach Bogotá flieht, wo es erneut zum Opfer von Gewalt und Ausbeutung wird. Der historische Handlungs­ zeitraum lässt sich nicht so exakt bestimmen wie bei Canaguaro oder Cóndores, vermutlich liegt er jedoch innerhalb der „zweiten violencia“, dem bewaffneten 329 | Siehe Pulecio 1999, 173. 330 | Dt.: „Canaguaro“ (Eigenname). 331 | A Man of Principle. 332 | Dt.: „Vögel“. Bezeichnung für die Todesschwadronen der konservativen Partei während der Violencia im Bundesstaat Valle del Cauca, andernorts als „chulavitas“ bekannt.

333 | Hopscotch/The Spider Game.

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Konflikt auf dem Land zwischen 1965 und 1985. Der Film leistet einen Beitrag zum Verständnis der Transformation und Ausbreitung der Gewalt, indem er die Wechselwirkungen zwischen dem bewaffneten Konflikt und der modernen urbanen Gesellschaft thematisiert. Pisingaña zeigt, wie personale Gewalt, Machismus und die Gesetze der modernen Konsumgesellschaft zusammenhängen und wie durch den Verfall gesellschaftlicher Grundwerte besonders Frauen und Kinder zu Opfern werden. Es folgt ein gesondertes Kapitel (III.2.4) über die Arbeit der „Cali-Gruppe“ als Beispiel einer regionalen Filmbewegung, deren zentrales Werk durch FOCINE gefördert wurde. Exemplarisch wird der Film Carne de tu carne (Carlos Mayolo, 1983) herausgegriffen, da er sich expliziter als die übrigen Filme der Cali-­ Gruppe auf den Zweiparteienkonflikt bezieht. In Form eines Exkurses (Kapitel III.2.5) soll abschließend das Kino des kolumbianischen Romanautors Fernando Vallejo behandelt werden, das im selben Zeitraum wie die FOCINE-Produktionen, jedoch ohne Unterstützung der kolumbianischen Förderinstitution im mexikanischen Exil entstanden ist. Mit En la tormenta334 (1982, Mexiko), der exemplarisch für Vallejos Filmschaffen analysiert werden soll, liefert der Autor einerseits eine kritische Analyse des Zweiparteienkonflikts und andererseits eine der explizitesten Gewalt­ inszenierungen der kolumbianischen Filmgeschichte. Obwohl mithilfe von FOCINE auch viele Kurzfilme über den bewaffneten Konflikt entstanden sind335, soll aus Gründen des begrenzten Umfangs dieser Arbeit auf deren Analyse verzichtet werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Kurzfilme El hombre de acero336 (Carlos Duplat, 1985, Kolumbien), El potro chusmero337 (Luis Alfredo Sánchez, 1985, Kolumbien) und La mejor de mis navajas338 (Carl West, 1986, Kolumbien), ähnlich wie Canaguaro, aus der Perspektive der Guerilla argumentieren.

III.2.3.1 Canaguaro (dt.: „Canaguaro“. Dunav Kuzmanich, 1981, Kolumbien) In der Legislaturperiode des Präsidenten Turbay, während der ein harter militärischer Kurs gegen die stärker werdende Guerilla eingeschlagen und der Friedensdialog für gescheitert erklärt wird,339 debütiert Dunav Kuzmanich mit

334 | Dt.: „Im Unwetter“. 335 | Viele davon im Rahmen von „Cine en TV“. 336 | Dt.: „Der Mann aus Stahl“. 337 | Dt.: „Das Fohlen der ‚Chusmeros‘“. 338 | Dt.: „Das Beste meiner Klappmesser“. 339 | Vgl. Kapitel III.2.1.

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Canaguaro340, dem einzigen kolumbianischen Kinofilm, der in unverschleierter Weise revolutionäres Gedankengut postuliert. Aufgrund dieser Eigenschaft ist Kuzmanichs Erstlingswerk, das 1978 mithilfe von FOCINE fertiggestellt, aber erst 1981 uraufgeführt wird, auch der erste kolumbianische Film, der im Sinne des „Neuen Lateinamerikanischen Kinos“341 – trotz Verspätung – als politisches Kino bezeichnet werden könnte. Der revolutionäre Kampf wird in Canaguaro nicht nur historisch verankert und begründet, er wird, wie noch erläutert werden soll, auch heroisiert. Angesichts der staatlichen Repression der Guerilla zur Entstehungszeit des Films überrascht die Entschiedenheit, mit der der Regisseur deren Kampf verteidigt, und umso mehr, dass FOCINE zu seiner Entstehung beigetragen hat. Kuzmanich trifft mit seinem Debüt zweifelsohne den Nerv der Zeit, denn nur ein Jahr nach der Uraufführung des Films gewinnt Belisario Betancur aufgrund der Ankündigung neuer Friedens­ dialoge und Landreformen die Präsidentschaftswahlen, im Zuge derer mehrere Einheiten der Guerilla die Waffen niederlegen und die UP als politische Vertretung der FARC entsteht.342 In Canaguaro geht es im weitesten Sinne um die Frage, ob sich die liberale Guerilla auf die Loyalität der liberalen Politiker verlassen kann oder ob sie sich zur Erlangung ihrer Ziele von diesen abspalten sollte. Indem Kuzmanich den Verrat der liberalen Partei an der von ihr ins Leben gerufenen Guerilla nach der offiziellen Beendigung des Parteienstreits aus der Sicht der betrogenen Kämpfer inszeniert, legt der Film die Schluss­ folgerung nahe, dass letzteres die bessere Alternative darstellt. Der Vorspann343 beginnt mit Archivbildern des „Bogotazo“ in Sepia-Tönen, zu denen eine Erzählerstimme aus dem Off die Zerstörungswut der Menschen erklärt, welche, verzweifelt über die Ermordung Gaitáns, zu tausenden ins Zentrum der Hauptstadt einfallen, „[…] auf der Suche nach jemandem, an dem sie sich rächen, an dem sie ihre Wut entladen können, der für den Tod ihrer unmittelbarsten Hoffnungen bezahlen soll“344. Der Erzähler klassifiziert die Gewalt, die sich nach dem „Bogotazo“ binnen fünf Jahren im ganzen Land ausbreitet und im Archivmaterial eindrücklich veranschaulicht wird, als eine blinde Gewalt, „eine Situation ohne Richtung und ohne Ziel“345, als „anarchischen Krieg“, den ein zutiefst gedemütigtes und verletztes Volk gegen das „politische 340 | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Fassung des Originalfilms, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“.

341  | Vgl. Kapitel III.1.1. 342 | Vgl. Kapitel III.2.1. 343 | 0:00-1:50. 344 | Orig.: „[…] buscando en quién vengarse, en quién descargar su ira, a quién hacer pagar por muerte de sus más inmediatas esperanzas“. 0:37-0:46. 345 | Orig.: „una situación sin derrotero ni destino“. 1:10-1:12.

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Chaos“ zu führen beginnt, „obwohl es nicht genau weiß, was es sucht, was es will, wohin es geht“346. Eingeleitet durch einen Kameraschwenk vom Treppen­ haus eines zerstörten Hauses auf eine tote Frau, die unter einem Türrahmen in den Trümmern liegt, bricht der Erzähler die Schilderung der ziellosen Zerstörung ab und berichtet von dem historischen „[…] Moment, als diese enorme Anzahl von Toten aus den Reihen des kolumbianischen Volkes anfing, dem Kampf einen Sinn zu geben, anfing einen Weg aufzuzeigen, anfing zu sagen ‚es reicht‘“347, und sich in den Llanos Orientales eine der wichtigsten Fronten bildet, „um den Weg zum Ziel des Volkes zu finden“348. Während der Guerilla von Seiten der Regierung Turbay die Alleinschuld an der Gewalt im Land in die Schuhe geschoben wird, vermittelt Kuzmanich bereits durch die Anfangs­ montage des Films, dass er auf deren Seite steht. Seiner Darstellung zufolge kommt der Guerilla der Verdienst zu, die ohnehin existierende, sinnlose Gewalt in eine produktive Richtung gelenkt zu haben. Unmittelbar an diese Aussage anknüpfend setzen die Anfangscredits ein: im Hintergrund des Schriftzugs „Canaguaro“ erscheint ein Film-Still, das Vertreter der Guerilla unter Führung Canaguaros zu Pferde zeigt349, gefolgt von weiteren Stills mit prägnanten Filmszenen. Durch das direkte Aufeinanderprallen der Archivbilder des „Bogotazo“ mit den Film-Stills sowie durch die Ähnlichkeit der Bildästhetik und des Formats350 wird der Eindruck erweckt, dass es sich bei letzteren ebenfalls um Archivmaterial handle. Mittels der Montage suggeriert Kuzmanich dem Zuschauer, dass der Realitätsgehalt der Filmhandlung den Zeit­dokumenten entspräche. Noch vor dem Einsetzen des Plots wird die Hauptfigur, durch Einblendung des Filmtitels auf dem Hintergrund der Film-Stills und heroischer Musik, zum historischen Helden stilisiert. Juana Suárez zufolge äußern sich in der Anfangsmontage auch die epischen Züge des Films, den sie aufgrund narrativer und ästhetischer Ähnlichkeiten auch mit dem mexikanischen oder sowjetischen Revolutionskino, den brasilianischen „cangaceiro“-Filmen und dem Western vergleicht:351 in Verbindung mit den Zwischentiteln, der

346 | Orig.: „guerra anárquica“; „chaos político“; „aunque sin saber claramente qué es lo que busca, qué es lo que quiere, hacia dónde va“. 1:13-1:25. 347 | Orig.: „[…] momento en que ese imenso número de muertos del pueblo colombiano empezó a dar un sentido a la lucha, empezó a señalar un camino, empezó a decir, basta ya‘“. 1:25-1:37. 348 | Orig.: „por encontrar el camino hacia el destino del pueblo“. 1:43-1:47. 349 | 1:48. 350 | Das erste Still, das Canguaro mit seinen Mitkämpfern zeigt, ist, wie die Archiv­b ilder, in Sepia gehalten, außerdem wird das Seitenverhältnis von 4:3 übernommen. Alle übrigen Stills erscheinen jedoch in Farbe, was ihre Fiktionalität verdeutlicht. 351  | Siehe Suárez 2009 (1), 77.

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Erzählerstimme, der für die Region charakteristischen Harfenmusik 352 und der Tatsache, dass der Name des Protagonisten, wie wir unmittelbar nach dem Vor­spann erfahren, auch der seines Heimatdorfes ist353, vermittelt der Regisseur, dass Canaguaro nicht die Geschichte eines Einzelnen, sondern die eines Volkes ist.354 Die Dramaturgie des Films ist linear und chronologisch, unterbrochen von kurzen Rückblenden, in denen die Protagonisten ihre individuellen Beweg­ gründe für den Beitritt zur Guerilla erinnern. Die Haupthandlung beschreibt, wie eine Einheit der liberalen Guerilla unter der Führung Canaguaros im Auftrag der liberalen Partei zur venezolanischen Grenze reitet, um eine Waffen­lieferung in Empfang zu nehmen, mit deren Hilfe die letzte Schlacht gegen die konservative Regierung und deren Milizen, die „chulavita“-­Polizei, gewonnen werden soll. Die Handlung wird meist aus der Sicht Canaguaros widergegeben, der als Ich-Erzähler auftritt und das Geschehen aus dem Off kommentiert. In den Rückblenden werden die subjektiven Perspektiven anderer Mitstreiter, z.B. die Antonios, des Dorflehrers oder Gabrielas, eingenommen. Auch wenn der sprunghafte Wechsel zwischen der Haupt­ handlung, den Flashbacks und den jeweiligen Perspektiven als verwirrend empfunden werden kann355, ermöglichen die klaren historischen Bezüge dem Zuschauer eine gute Orientierung innerhalb der geschichtlichen Thematik. Bereits im ersten Zwischentitel nach den Credits werden Ort und Zeit der Handlung eindeutig bestimmt: „Llanos Orientales, 1953“. Im Gegensatz zu Filmen wie Esta fue mi vereda oder El río de las tumbas, wo die Handlung erst nach und nach anhand bestimmter Indizien lokal und temporal eingeordnet werden kann, weiß der Zuschauer in Canaguaro von Beginn an, dass die Erzählung in den letzten Zügen der politischen Violencia in einer der am härtesten umkämpften Regionen Kolumbiens spielt.356 Histori352 | Die „música llanera“ (dt.: „Musik der Llanos“) zeichnet sich, wie der „Vallenato“ oder der „Corrido“, innerhalb der kolumbianischen Musikgenres einerseits durch ihren starken regionalen Bezug und andererseits durch ihre Eigenart aus, reale Ereignisse in den Liedtexten wiederzugeben und zu kommentieren. 353 | „Mein Name ist Canaguaro. Er wurde mir gegeben, weil ich im Höfeverbund ‚Canaguaro‘ geboren wurde, und auch, weil ich gut im kämpfen bin.“ (Orig.: „Mi nombre es Canaguaro. Me lo pusieron porque nací en la vereda de ‚Canaguaro‘, y también porque soy bueno para pelear.“) 2:48-3:01. 354 | Suárez übernimmt diese These von Luis Alberto Álvarez. Siehe Suárez 2009 (1), 76. 355 | Sich auf L.A. Álvarez berufend, urteilt Juana Suárez, in Canaguaro würden zwar sämtliche Elemente der Mise-en-Scène dazu gebraucht, den Zuschauer zu informieren, seine technischen und narrativen Fehler machten den Film jedoch letztlich unbrauchbar. Siehe Suárez 2009 (1), 77. 356 | Vgl. Kapitel III.1.1.

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sche Namen werden in Canaguaro jedoch selten explizit angeführt, sondern mit Anspielungen angedeutet: mit „Doctór Vargas“ beispielsweise, wie im Film der liberale Politiker genannt wird, der an der Planung der Waffen­übergabe beteiligt ist, kann nur Virgilio Barco (kolumbianischer Präsident von 1986 bis 1990) gemeint sein, dessen zweiter Nachname Vargas ist und der maßgeblich an der Ausarbeitung der „Frente Nacional“ beteiligt war. Auch auf Guadalupe Salcedo, den berühmtesten Kommandeur der liberalen Guerilla, der nach seinem Tode zu einer zeitlosen Legende und Kultfigur aufsteigt357, spielt der Film an: ein mysteriöser Reiter mit Schnurrbart und Hut erscheint als Retter in der Not, als Canguaros Einsatztruppe der „chulavita“-Polizei zu unterliegen droht.358 Aufgrund seines äußeren Erscheinungsbilds, des bedingungslosen Gehorsams der übrigen Guerilleros359 sowie der Überzeugungskraft seiner Ansprache an die Bevölkerung360 ist naheliegend, die Figur mit Salcedo zu assozi­ieren.361 Auch auf die historischen Hintergründe seines Todes spielt der Film an. Auf die Versprechen der Regierung vertrauend, unterzeichnet der Guerilla-­Führer im September 1953 ein nationales Friedensabkommen, was von vielen seiner Mitstreiter, die im Film durch Canaguaro und sein engstes Gefolge verkörpert sind, als Verrat an der revolutionären Sache angesehen wird.362 Tatsächlich stellt sich Salcedos Handeln als Fehler heraus, denn in den darauf­folgenden Jahren werden er und viele andere reintegrierte Guerilleros von staatlichen Spezialeinheiten ermordet.363 Salcedos Tod wird am Ende des 357 | Guadalupe Salcedo sollen an die 10.000 Guerilleros unterstellt gewesen sein, zu einer Zeit, als Kolumbien rund 11 Millionen Einwohner hatte und die Gesamt­b evölkerung der Llanos Orientales 100.000 nicht überstieg. Siehe Molano Bravo 2012. 358 | 1:00:07. 359 | Eine wortlose Geste Salcedos genügt, um die Guerilleros zur Einstellung des Feuers zu bewegen. Anschließend bewegt sich Salcedo mit ausdrucksloser Mine nach vorn, bis sein Gesicht vor dem Kameraauge verschwimmt (G). Durch diese entfremdende Darstellung des berühmten Anführers verleiht Kuzmanich dessen Status als „Legende“ Ausdruck. 1:00:131:00:32. 360 | In seiner Ansprache definiert Salcedo die Grundsätze und Ziele der Guerilla: sie seien keine Banditen, sie vergriffen sich nicht an der Bevölkerung, sondern kämpften „für ein freies Vaterland, wo alle gleichgestellt sind, alle dieselben Möglichkeiten haben, wo alle wie Brüder leben“ (orig.: „por una patria libre, donde todos seamos iguales, tengamos las mismas oportunidades, donde todos vivamos como hermanos“). 1:00:33-1:01:15. 361 | Diese Einschätzung teilt auch Juana Suárez. Vgl. Suárez 2009 (1), 77. 362 | Quelle: http://www.banrepcultural.org/blaavirtual/revistas/credencial/octubre2006/ guerrilla.htm 363 | Salcedo wurde am 6. Juni 1957 in Bogotá von der kolumbianischen Polizei ermordet, vier Jahre nachdem er den Frieden mit der Regierung unterzeichnet hatte. Augenzeugenberichten zufolge soll er mit erhobenen Händen um die Respektierung des Abkommens gebeten

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Films, wie der von „Comandante Santos“ und Antonio, als Veranschaulichung des Vertragsbruchs der Regierung inszeniert: kurze, illustrative Sequenzen zeigen, wie die zurückgetretenen „chusmeros“364 beim Essen, Musizieren oder Spazierengehen von Kugeln unbekannter Herkunft getötet werden.365 Zwischen den einzelnen Erschießungsszenen werden Totalen eingeblendet, die Canaguaro und zwei seiner Kämpfer zu Pferde zeigen: die Guerilleros galoppieren, bewaffnet und mit dem für die Guerilla typischen roten Hals­ tuch ausgestattet, durch einen Flusslauf.366 Das Bild suggeriert Freiheit und Entschlossen­heit. In Verbindung mit dem Erzählertext („So töteten sie, einen nach dem anderen, die Gefährten, die ihnen geglaubt und die Waffen abgegeben hatten.“367) und der gleichzeitig einsetzenden Musik wird der im Vorspann vermittelte Eindruck des Heldenepos bestätigt. Kuzmanich lässt angesichts der Schluss-Montage keinen Zweifel an der Kernaussage seiner Geschichts­ interpretation: Die Rechte der Landbevölkerung werden von den Regierenden, die nur am eigenen Machterhalt interessiert sind, mit Füßen getreten und müssen daher von der Bevölkerung in Eigeninitiative verteidigt werden. Das Fortbestehen der Guerilla, so könnte ein Fazit aus Canaguaro lauten, ist also nicht nur nachvollziehbar, sondern zwingend notwendig. Auch die Schuldfrage bezüglich des Ausbruchs und Fortbestehens der Violencia wird in Canaguaro aus der Sicht der Guerilla beantwortet. Schon zu Beginn des Films wird auf die negativen Erfahrungen der Revolutionäre mit staatlich geleiteten Friedensverhandlungen angespielt, als Comandante Santos den Vorschlag von Dóctor Vargas, die bevorstehenden Gespräche in Bogotá abzuwarten, entschieden ablehnt: „Bezüglich dieser ‚Abkommen‘ musst du dir bewusst machen, dass wir bei verschiedenen Gelegenheiten unsere Bedingungen festgelegt haben. Und unter diesen Bedingungen sind wir nicht bereit, irgendetwas zu tun.“368 Trotz begründeter Zweifel geht ein Großteil der Guerilla schließlich auf das Friedensangebot der Regierung ein und akzeptiert deren Bedingungen. Der Vertragsbruch durch die Regierung, der im Film durch die haben, bevor er auf offener Straße erschossen wird. Quelle: http://www.elespectador.com/ opinion/columna-352196-guadalupe-salcedo-unda-general-del-llano 364  | Umgangssprachlicher Ausdruck zur Bezeichnung linksgerichteter Guerilla-Kämpfer während der politischen Violencia. 365 | 1:22:59-1:24:50. 366 | 1:24:50. 367 | Orig.: „Uno a uno fueron matando a los compañeros que creyeron y entregaron las armas.“ 1:24:38-1:24:46. 368 | Orig.: „Frente a esos ‚acuerdos‘ tienes que tener muy en cuenta que en varias oportunidades hemos fijado nuestras condiciones. Y de estas condiciones no estamos dispuestos a hacer absolutamente nada.“ 05:28-05:43.

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Inszenierung der Morde an den zurückgetretenen Guerilleros hervorgehoben wird, erscheint in der narrativen Ereigniskette als durchschlagendes Argument für die Fortführung des bewaffneten Kampfes. Die Guerilleros sind zweifels­ ohne die Sympathieträger des Films, die Regierung geht als Verantwortliche für das Scheitern des Friedensdialogs und, nicht zuletzt, als moralische Verliererin hervor. Indem Kuzmanich mit Canaguaro einen Perspektivwechsel in der Geschichtsdarstellung, die die Guerilla häufig als Täter verurteilt, vollzieht, rechtfertigt er nicht nur die Ziele und Mittel der Guerilla, sondern humanisiert auch gleichzeitig deren Anhänger. Canaguaro verdeutlicht, dass die Guerilla nicht gegen, sondern für die Bevölkerung kämpft.369 Insbesondere wird dies im Kontrast zur Inszenierung der konservativen „chulavita“-Polizei deutlich, die wahllos die Zivilbevölkerung massakriert, Häuser anzündet und Frauen vergewaltigt. Der Film ist voller Anspielungen und expliziter Darstellungen, die die Verbrechen der staatlichen Polizei veranschaulichen. Don Luis, ein einfacher, freundlicher Bauer, auf dessen Grund und Boden Canaguaro und seine Truppe auf dem Weg zur Grenze übernachten wollen, richtet sich mit folgenden Worten an sie: „Wenn Sie vielleicht ein Streichholz hätten, das sie mir geben könnten, dann mache ich Ihnen einen Kaffee. Denn zu all der Armut hier kamen gestern noch die von der Regierung und haben sogar das Salz mitgenommen, alles haben sie mitgenommen.“370 Dass die Regierung die verarmte Landbevölkerung ihrer einfachsten Grundnahrungsmittel beraubt, anstatt sich für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände einzusetzen, rechtfertigt die Gegenwehr der Bauern-Guerilla. Das Ausmaß der konservativen Schreckens­ herrschaft und deren Zusammenhang mit dem Handeln der Guerilla werden noch eindrücklicher in der Sequenz vermittelt, als die „chulavitas“ das Dorf überfallen, in dem sich Yolima, eine Vertraute der Guerilleros, mit Nachricht an den „Culebrero“ versteckt hält:371 Die Militärpolizei beschuldigt unter derben Beschimpfungen die Dorf bewohner, mit der Guerilla zu kooperieren. Zur Einschüchterung zerren sie einen Gefangenen, der sich als der „Culebrero“ entpuppt, gefesselt hinter einem Pferd über den staubigen Wüsten­boden. Die Kamera fängt zunächst das Gesicht des leidenden Mannes ein (G)372, danach schwenkt sie nach oben auf die Gewehrläufe der Polizisten, deren Gesichter unter den Uniformen unkenntlich bleiben.373 Einer der Bewaffneten pirscht 369 | Entgegen dem von Daniel Pécaut (in Bezug auf die Paramilitärs) geprägten Begriff „Krieg gegen die Gesellschaft“. Vgl. Kapitel II.1.1.3. 370 | Orig.: „Si tienen un fosforito me lo pueden dar que yo les preparo un cafecito. Porque con esta pobreza por aquí, llegaron los del gobierno y se llevaron hasta la sal, todo se lo llevaron.“ 16:49-17:02. 371  | 48:11-52:25. 372 | 48:24. 373 | 48:30.

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sich an eine Strohhütte heran, öffnet die Tür und findet darin Yolima, die auf eine Gelegenheit gewartet hatte, dem „Culebrero“ die Nachricht über Ort und Zeitpunkt der Waffenübergabe zu übermitteln. Sofort ruft er Verstärkung herbei, und die Frau wird von mehreren Soldaten vergewaltigt. Die Inszenierung der Vergewaltigung erfolgt vordergründig über die Tonspur, auf der die verzweifelten Schreie Yolimas zu hören sind. Gleichzeitig schwenkt die Kamera von rechts nach links über die Gesichter der Dorf bewohner hinweg (G)374, die von den „chulavitas“ mit Gewehren kontrolliert werden. Die Blicke der Bauern verraten Anteilnahme und Entsetzen, aber auch Ratlosigkeit und Gelähmtheit. Der Einzige, der aus der Starre ausbricht, ist ein offenbar geistig Behinderter, der der Frau zu Hilfe eilen will. Er wird umgehend erschossen.375 Kurz nach dem Überfall findet Canaguaros Einheit den Körper ihrer Informantin, der leblos über dem Rücken eines freilaufenden Pferdes baumelt.376 Parallel zu den Großaufnahmen der Dorf bewohner werden nun die Minen der Guerilleros beim Anblick der Toten fokussiert (G), die sie würdevoll beerdigen. Gleich­ zeitig setzt ein Lied ein, dessen Text, gemäß der musikalischen Tradition der Llanos, das reale Ereignis in poetischer Weise wiedergibt und ihm gleichzeitig eine politische Dimension verleiht: „Weil sie ein Bauernmädchen war, Ay, eine Bäuerin, pur und voller Unschuld, verhedderte sich Yolima eines Tages, Das muss man wissen, in den Schlingen der Violencia. Da sie Geliebte und Vertraute war Von Männern und Dingen, die sie nicht einmal verstand, Fiel sie in die Hände der Regierung, Und schon war ein weiterer Mord der Polizei geschehen. Ich, der ich sie liebte, wie viele sie geliebt haben, Meine Zeit mit ihr verweile in Stille, einen Regenschirm über ihre Anmut, Aber ich schwöre dir bei dieser Sonne, die mir leuchtet, dass wir den Krieg gewinnen werden und dass es Frieden über deinem Grab geben wird, Ay, meine Yolima.“377 374 | 49:15-49:35. 375 | 49:40. 376 | 50:00. 377 | Orig.: „Por ser moza campesina / Ay campesina pura y llena de inocencia / Un día se enredó Yolima / Hay que saberlo, en los lazos de la Violencia. / Quien va amante y confidente / De Hombres y cosas que ni siquiera entendía / Caió en manos del gobierno / Ya se acabó un asesino la policia. / Yo que la quise como la quisieron tantos / Mi turno espere en silencio, paraguas a sus encantos / Pero te juro por este sol que me alumbra / Que ganaremos la guerra y que habrá paz sobre tu tumba / Ay mi Yolima.“ 51:25-52:15.

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Juana Suárez zufolge interagiert die Musik mit der Handlung, indem die Texte den Plot kommentierten und die Melodien den heroischen Charakter des Films verstärken.378 Tatsächlich können die Liedtexte als epischer Kommentar zu den geschichtlichen Ereignissen gelesen werden, die in Canaguaro thematisiert sind. Darüber hinaus ist jedoch die regionale Komponente für die Deutung des Musikeinsatzes entscheidend: die música llanera ist fundamentaler Bestandteil der volkstümlichen Tradition der Llanos und tief in der Identität der Bewohner verwurzelt. In den Liedern werden Belange der Bevölkerung aus deren Sicht vorgetragen, die Musikanten entstammen demselben kulturellen und sozialen Umfeld wie ihr Publikum, nämlich der Bauernschaft aus dem östlichen Tief­land Kolumbiens, das auch für seine Rinder- und Pferde­ zuchten bekannt ist. Die Erzählperspektive der Lieder deckt sich mit der der einfachen Land­bevölkerung sowie auch der des Films: Canaguaro ist eine Geschichts­interpretation ‚von unten‘ und widersetzt sich ‚von oben‘ konstruierten Darstellungen des Konflikts, wie sie insbesondere in Regierungs­ diskursen vorherrschend sind.379 Kuzmanich scheint im Sinne der Revolution an die regionale Identität der Kolumbianer zu appellieren, die in Canaguaro neben dem gemeinsamen politischen Ziel zum verbindenden Element für die Bevölkerung wird.380 Der breite Rückhalt, den die Guerilla im Film bei der ländlichen Bevölkerung genießt, wird bei deren Ankunft im Dorf Méndez deutlich, wo die Kämpfer wie heimkehrende Helden gefeiert werden.381 Die Dorf bewohner vertrauen den Guerilleros auch ihre Sorgen an, was die soziale Problematik sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen des andauernden Krieges betrifft. Eine Mutter wendet sich hilfesuchend an den ehemaligen Dorflehrer, der sich unter Canaguaros Kämpfern befindet. Im Dorf gäbe es keine Männer mehr, und die Jugend sei ohne Bildung und Vorbilder perspektivlos ihrem Schicksal überlassen. Ihr eigener Sohn sei in seiner Entwicklung stehengeblieben „[…] ohne zu wissen, welchen Weg er einschlagen solle“382 . Canaguaro vertröstet die Mutter mit der Hoffnung auf einen baldigen Sieg, und der Dorflehrer fügt hinzu: „Bald wird es Zeit dafür geben […]. Aber zuerst muss diese Sache hier verändert werden, denn wenn nicht, was zum Donnerwetter bringt all das, was

378 | Vgl. Suárez 2009 (1), 77. 379 | Vgl. Suárez 2010, 25. 380 | Tatsächlich verfolgt die Guerilla in den Llanos Orientales separatistische Ziele, die sich 1953 durch die Gründung eines eigenen Kleinstaates verwirklichen, der dem „Ley del Llano“ (dt.: „Gesetz der Llanos“), einer eigenen Verfassung, die von der Guerilla verteidigt wird, unterstellt ist. 381 | 38:15-39:10. 382 | Orig.: „[…] sin saber qué camino agarrar“. 40:10-40:17.

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ich unterrichte.“383 Der Dialog macht die individuellen Opfer erkennbar, die die Bevölkerung im Kampf für die gemeinsame Sache zu bringen bereit ist. Die Tatsache, dass sich selbst Frauen und Kinder der revolutionären Bewegung anschließen384, spricht zum einen für deren kollektiven Zusammenhalt, zum anderen manifestiert sich darin ein gesellschaftlicher Umbruch, der sich in den 1960er und 1970er Jahren in den Großstädten vollzieht und der auch Veränderungen der Geschlechterrollen mit sich bringt.385 Im Dialog zweier liberaler Großgrundbesitzer, die die Botin, die in Méndez auf sie trifft, als Gabriela, eine ehemalige Prostituierte, identifizieren, wird zunächst die machistische Grundhaltung deutlich, gegen die sich engagierte Frauen nach wie vor behaupten müssen: Liberaler 1: Liberaler 2: Liberaler 1: Liberaler 2: Liberaler 1:

„Sogar die Nutten sind schon dabei.“ „Als ob es nichts Schlimmeres gäbe…“ „Aber die Alte sieht verdammt gut aus. Ich glaube, dass sie auf diesem Ausflug ihren Spaß haben wird.“ „Das Einzige, was nicht geht, ist die Zeit mit Dummheiten zu verlieren, mein Freund.“ „Klar, das sagst du, der du deine Süße auf diesen Ausflug mitgebracht hast…“386

Aus den Kommentaren der Oberschicht-Liberalen geht hervor, dass sie Frauen keine andere Funktion als die Befriedigung sexueller Bedürfnisse zu­schreiben. Anders ist die Haltung Canaguaros, der Gabriela zwar mit Verwunderung, aber mit Respekt entgegentritt und sie ebenbürtig behandelt. Nachdem er ihre Nachricht entgegengenommen hat, nimmt er sie in seine Reihen auf und spendiert ihr ein Bier, mit dem sich Gabriela zu den trinkenden Guerilleros gesellt.387 Ihre Uniform und ihre breitbeinige Sitzhaltung lassen sie neben ihren Kameraden maskulin und, im übertragenen Sinne, gleichberechtigt erscheinen. Der Zusammenhang von bewaffnetem Kampf und weiblicher 383 | Orig.: „Ya habrá tiempo […]. Pero primero hay que cambiar esta vaina porque si no para que carajo sirve lo que yo enseñe.“ 40:20-40:28. 384  | Ein heranwachsender Junge offeriert sich der Guerilla und wird von Canaguaro für seinen Mut gelobt; die Nachricht, auf die die Guerilleros im Dorf Méndez warten, wird zu deren Überraschung von einer bewaffneten Frau überbracht. 42:00-43:23. 385 | Vgl. Kapitel III.1.1. 386 | Orig.: „Hasta las putas andan en esto. – Ojalá fuera eso lo peor... – Pero la vieja está muy buena. Yo creo que vaya a pasar bien en este paseo. – Lo único que no hay que hacer es perder el tiempo en pendejadas, hermano. – Claro, como usted trajo a su chimbita para este paseito...“ 44:15-44:45. 387  | 43:50.

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Emanzipation wird anschließend mithilfe eines Flashbacks vertieft, der Gabrielas Beweggründe zum Eintritt in die Guerilla offenlegt.388 Dramaturgisch wird die Rückblende durch einen offensiven nächtlichen Annäherungs­versuch des liberalen Großgrundbesitzers eingeleitet, der von seinem althergebrachten Recht als „Patrón“ Gebrauch machen will. Gabriela weist ihn mit Berufung auf den gesellschaftlichen Wandel und die veränderten Machtverhältnisse in den Llanos zurück: „Vorsicht, Herr León. Die Zeiten sind nicht mehr, wie sie einmal waren. […] Die Dinge haben sich geändert.“389 Als junges Mädchen war Gabriela, wie der Zuschauer nachfolgend erfährt, von einem Polizei-Leutnant vergewaltigt worden. Als einzige Lebensperspektive blieb ihr die Prostitution. Auf einer Feier trifft sie, viele Jahre später, als Leiterin eines Bordells auf ihren Widersacher, der mit seiner Einheit die Dienste ihres Etablissements in Anspruch nehmen möchte. Indem sie ihm ihre Zuneigung vorheuchelt, gelingt es ihr, den Leutnant auf ihr Zimmer zu führen, wo sie ihn ermordet. Um die bevorstehende Ahndung ihres Racheaktes wissend, taucht Gabriela in den Untergrund ab und schließt sich der Guerilla an. Ihr Handeln ist das einer emanzipierten Frau, die sich aus der materiellen und sexuellen Unter­ drückung befreit und ihre Rechte in der ‚revolutionären Sache‘ vertreten sieht. Der Darstellung in Canaguaro zufolge kann die Guerilla also auch insofern als revolutionär angesehen werden, als dass sie die patriarchalischen Strukturen innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft, der Politik und des Militärs unterwandert390. Kuzmanich schreibt ihr somit Erfolge bei der Umsetzung konkreter gesamtgesellschaftlicher Reformen zu. Der dramaturgische Höhepunkt des Films beschreibt den historischen Moment der Abspaltung der Guerilla von der liberalen Partei und thematisiert die schwerwiegende Entscheidung der Guerilleros, als ihnen am vereinbarten Treff­ punkt anstatt der Waffen der Frieden angeboten wird. Die Parteiloyalen berufen sich, neben ihrer Treue zur Partei, vor allem auf die Zermürbung angesichts der Strapazen des Krieges sowie auf die Attraktivität des Regierungs­angebots, das ihnen „Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit“391 sowie die Anerkennung ihres militärischen Engagements fürs Vaterland verspricht. Aus den Argumen388 | 1:04:55-1:10:18. 389 | Orig.: „Ten cuidado, don León. Los tiempos ya nos son como antes. […] Las cosas han cambiado.“ 1:04:39-1:04:48. 390 | Tatsächlich zeichnen sich die FARC, im Gegensatz zu paramilitärischen Vereinigungen, bis heute durch ihre heterogene Zusammensetzung aus: sie verfügen über Mitglieder unterschiedlicher Geschlechter, Klassen, Altersgruppen, ethnischer und sogar nationaler Herkunft. 391 | Orig.: „Paz, justicia y libertad“. Mit diesem Slogan wirbt Rojas Pinilla für das Friedensabkommen.

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ten des Dorflehrers und Canaguaros, die zu Fürsprechern der oppositionellen Seite werden, spricht hingegen die politische Überzeugung für ihre Sache: für sie kann der Kampf erst beendet werden, wenn sich die Lebens­bedingungen der Landbevölkerung geändert haben. Den Aufruf der Liberalen, in ihre Häuser zurückzukehren und sich um Frauen und Kinder zu kümmern,392 da „nur in der Wärme der Häuser das Saatkorn des Friedens sprießen“393 könne, weisen sie wütend zurück. Der Dorflehrer macht einerseits die unüberwindbaren Differenzen zwischen der liberalen Oligarchie und den Bauern deutlich, andererseits betont er die Unwiderruflichkeit des Kampfes und verkündet die Unabhängigkeit der Guerilla von liberalen Interessen: „Schauen Sie, Doktor Vargas, ich glaube nicht, dass wir gekämpft haben, um wieder zu unserem Leben von vorher zurückzukehren. Oder wissen Sie, wie unser Leben vorher aussah? Hunger, Leid, Elend. […] Oder glauben Sie, dass Gabriela in ihr altes Leben zurückkehren kann? Oder dass Canaguaro seinen Vater wieder zum Leben erwecken kann? […], sie haben ihn umgebracht! Und Antonio hat nicht einmal mehr ein Dorf, da es nicht mehr existiert, sie haben es abgebrannt. […] Wir verhandeln das hier, wir entscheiden, verstehen Sie?“394

Die Ansichten des Dorflehrers bekräftigend, beschimpft Canaguaro diejenigen, die dem Beispiel der liberalen Großgrundbesitzer folgend ihre Waffen zu Boden werfen, und verkündet: „Ihr Idioten! Mich könnt ihr nicht verarschen. Ich übergebe meine Waffe nicht.“395 Mehrere seiner Männer folgen umgehend seinem Beispiel. Den inneren Kampf der übrigen Guerilleros angesichts der schwerwiegenden Entscheidung inszeniert Kuzmanich mithilfe von Groß­aufnahmen: sowohl während der Ansprache von Dóctor Vargas als auch während der anschließenden Diskussion unter den Guerilleros schwenkt die Kamera fahrig zwischen den Gesichtern hin und her, als suche sie in ihnen die richtige Antwort. Die Mehrzahl der Kämpfer, unter ihnen auch Gabriela, entscheiden sich schließlich zur Niederlegung der Waffen. Die liberalen Großgrundbesitzer steigen zur Bekräftigung des Friedenspakts zu Doctór Vargas 392 | 1:17:12-1:17:30. 393 | Orig.: „solo al calor de vuestros hogares podrá germinar la semilla de la paz“. 1:17:301:17:37. 394 | Orig.: „Mire, Dóctor Vargas, yo creo que no hemos peleado para volver a la vida de antes. ¿O usted sabe como era la vida de antes de nosotros? Hambre, sufrimiento, miseria. […]¿O usted cree que Gabriela puede volver a la vida de antes? ¿O que Canaguaro puede resucitar a su padre? […], ¡lo mataron! Y Antonio, ni pueblo tiene porque ya no existe, lo quemaron. […] Aquí esto lo hablamos nosotros, lo decidimos nosotros, ¿entiende?“ 1:18:26-1:19:05. 395 | Orig.: „¡Pendejos! A mí no me joden. Yo mi arma no la entrego.“ 1:20:47-1:20:56.

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ins Boot und posieren mit ihm, Hüte schwenkend, wie für ein Pressefoto.396 Bevor das Boot abfährt, befiehlt einer der Großgrundbesitzer einem am Ufer verweilenden Guerillero mit einer herrischen Geste, ihm sein Pferd nach Méndez zu bringen.397 Die Sequenz macht das unveränderte Machtverhältnis zwischen Herren und Knechten sichtbar, das durch den Pakt mit den Liberalen abermals zementiert wird und gegen das sich nur wenige Männer, die bei Canaguaro bleiben, auflehnen. Canaguaro ist ein Film über eine selten thematisierte Episode der kolumbianischen Geschichte, die er – gemessen an anderen kolumbianischen Filmen seiner Generation – aus einer ungewöhnlichen Perspektive wiedergibt. Entgegen einer verbreiteten Tendenz in den kolumbianischen Sozialwissenschaften, die Guerilla nach ihrer Abspaltung von der liberalen Partei zu kriminalisieren, legitimiert Kuzmanich sie durch die Politisierung ihrer Ziele und Motive. Von anderen FOCINE-Produktionen hebt sich Canaguaro durch die Heroisierung und Idealisierung der Guerilla ab. Der Film kann dennoch als charakteristisch für die Schaffensphase angesehen werden, da er Elemente eines Autorenkinos mit ausgeprägten regionalen Bezügen aufweist398: Canaguaro ist eine Ode auf die Llanos Orientales, auf deren Landschaften, Menschen und Gebräuche, die in Form von dokumentarisch anmutenden visuellen Exkursen in das Helden­ epos integriert werden.

III.2.3.2 Cóndores no entierran todos los días (A Man of Principle. Francisco Norden, 1984, Kolumbien) Cóndores no entierran todos los días399 ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans des kolumbianischen Autors Gustavo Álvarez Gardeazábal (1971), der sich in seinen Werken häufig mit der Violencia, der sozialen Ungerechtigkeit und der Korruption in Kolumbien auseinandersetzt.400 Francisco Norden, der in den späten 1950er Jahren an der IDHEC in Paris Filmregie studiert, kehrt 1962 nach Kolumbien zurück, wo er sich zunächst mit Dokumentarfilmen einen Namen macht. Sein Frühwerk ist von zwei gegensätzlichen Tendenzen gekennzeichnet: Auf der einen Seite filmt Norden patriotische Werbefilme

396 | 1:22:01. 397 | „Junge! Bring mir mein Pferd nach Méndez.“ (Orig.: „¡Chino! Traigame mi caballo para Méndez.“) 1:21:49-1:21:51. 398 | Dies ist außerdem der Fall beim Kino der „Cali-Gruppe“ (Luis Ospina und Carlos Mayolo) sowie beim Kino Víctor Gavirias. 399 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Proimagenes Colombia (Hg.): Cóndores no entierran todos los días. Reihe: „Lo mejor del cine colombiano“. 400 | Quelle: http://www.banrepcultural.org/blaavirtual/biografias/alvarezgus.htm

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wie Las murallas de Cartagena 401 (1962) oder Se llamaría Colombia 402 (1970), die von der kolumbianischen Filmkritik als „vulgär“ und „touristisch“403 bzw. als „Propagandakino“404 bezeichnet werden, zum anderen setzt er sich in Filmen wie Camilo, el cura guerrillero405 (1974) oder Cóndores no entierran todos los días mit der politischen Gewalt in Kolumbien auseinander. Während in Camilo, el cura guerrillero die historische Figur des Camilo Torres, Mitbegründer der Befreiungstheologie und Ikone der militanten Linken in Kolumbien406, mithilfe einer Interview-Collage aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird, rückt Norden in Cóndores no entierran todos los días eine historische Figur aus dem politisch entgegengesetzten Lager ins Zentrum der Handlung: León Maria Lozano, Anführer der „pájaros“, einer bewaffneten Gruppierung, die im Auftrag der konservativen Partei in den 1940er und 1950er Jahren das Städtchen Tuluá und die umliegenden Gebiete im Valle del Cauca kontrolliert und terrorisiert hat. Aufgrund der besseren Infrastruktur407 verlagert Norden die Handlung vom tropischen Tuluá auf die cundi-boyacensische Hochebene nördlich der Hauptstadt Bogotá. Diese Entscheidung wirkt sich unter anderem auf die Ästhetik des Films aus, dessen düstere, unheimliche Grundstimmung durch eine Vielzahl nächtlicher Außenaufnahmen bei Dunkelheit und Nebel übermittelt wird.408 Die ursprünglichen lokalen Bezugspunkte des Romans – die Namen der Dörfer und andere regionale Besonderheiten – werden im Film übernommen, was den ortskundigen Zuschauer zwar irritiert, die Glaub­ würdigkeit des Films, Suárez zufolge, jedoch nicht schmälert.409

401 | Dt.: „Die Stadtmauern von Cartagena“. 402 | Dt.: „Es würde Kolumbien heißen“. 403 | Umberto Valverde in 23 años de cine colombiano. Zitiert in: Martínez Pardo 1978, 293. 404 | Carlos Álvarez in einem Artikel der venezolanischen Zeitschrift Cine al día. Zitiert in: Martínz Pardo 1978, 293. 405 | Dt.: „Camilo, der Guerilla-Priester“. 406 | Camilo Torres Restrepo, der unter anderem in Deutschland studiert, gelebt und gelehrt hat, war katholischer Priester, Dozent der Universidad Nacional in Bogotá und Initiator der christlich-kommunistischen Bewegung in Kolumbien. 1966 schließt er sich der Guerilla ELN an und kommt bei seinem ersten Feuergefecht gegen das kolumbianische Militär ums Leben. In der linken Studentenbewegung wird Torres bis heute als kolumbianischer Che Guevara verehrt. 407 | Über die technischen Schwierigkeiten beim Dreh fernab der Hauptstadt schreiben Luis Alberto Álvarez und Víctor Gaviria in ihrem Artikel Las latas en el fondo del río. Vgl. Álvarez L.A./Gaviria 1981, 33ff. 408 | Vgl. Suárez 2009 (1), 72. 409 | Siehe Suárez 2009 (1), 72.

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Der literarischen Vorlage weitgehend treu erzählt der Film, wie das politische Kräfteverhältnis in Tuluá nach der Ermordung Gaitáns ins Wanken gerät und die konservative Regierung unter Ospina Pérez (1946-1950) und Laureano Gómez (1950-1953) mithilfe paramilitärischer Söldnertruppen eine Schreckens­herrschaft in der Zone errichtet. Liberale und politisch Neutrale werden bedroht, vertrieben und ermordet, die Friedhöfe füllen sich mit Leichen bekannter und unbekannter Herkunft, nächtliche Ausgangssperren werden verhängt und die mediale Berichterstattung wird manipuliert oder gänzlich verhindert. Die Ausbreitung der konservativen Herrschaft wird in Film und Buch gleicher­maßen mit der Lebensgeschichte des Protagonisten, León Maria Lozano, und dessen allmählicher Verstrickung in den Konflikt verwoben. Der unscheinbare Gelegenheitsarbeiter und Familienvater, der im Film als „Mann mit Prinzipien“410, im Roman als „blinder Verteidiger der Kirche“411 charakterisiert wird, wirft am Tage des „Bogotazo“ einen Dynamitsprengsatz auf die demonstrierenden Liberalen Tuluás und statuiert damit ein Exempel, das ihm über­regionalen Ruhm und die Übertragung der Befehlsgewalt über die „pájaros“ durch die konservative Parteispitze einbringt. Während der Roman dieses Ereignis als Kehrtwende in Lozanos Leben zeichnet und den Wandel psychologisch mit dessen ökonomischem und sozialem Aufstieg begründet – seine spontane Tat lässt ihn vom unscheinbaren Angestellten zum mächtigen Anführer einer Mördertruppe avancieren – inszeniert der Film Lozanos Charakter als doppel­bödig: in seinem persönlichen Umfeld vertritt der gläubige Katholik strenge puritanische und patriarchalische Moralvorstellungen, denen sich seine Frau Agripina und seine Töchter412 aus Gründen des „Prinzips“ unterordnen müssen413. In seinem Doppelleben als „Kondor“414 hingegen „[…] steuerte León Maria Lozano das ganze Valle mit seinem kleinen Finger und wurde zum Anführer eines Heeres Vermummter und übel Bewaffneter, die keiner anderen Disziplin 410  | An mehreren Stellen im Film kommentiert Lozano sein privates und politisches Handeln mit den Worten: „Es una cuestión de principios“ (dt.: „Es ist eine Frage des Prinzips“). Auch der internationale Verleihtitel des Films lautet A Man of Principle. 411  | Orig.: „defensor ciego de la iglesia“. Álvarez Gardeazábal 1971, 10. 412  | Im Roman stammen die Töchter aus Lozanos unehelichem Verhältnis mit der Schwester Agripinas, die im Kindbett stirbt, bevor Lozano Agripina heiratet und ihr die Obhut der Kinder überträgt. Der Film thematisiert die familiären Verhältnisse nicht. 413  | Lozano verbietet Agripina, ohne Begleitung ihrer Tante das Haus zu verlassen, Fremde auf der Straße zu grüßen oder sich ungefragt vor ihm zu entblößen. Das sei „eine Frage des Prinzips“ (orig.: „una cuestión de principios“, 16:50-17:20). Als er merkt, dass seine Tochter einen Verehrer hat, schickt er sie ins Internat nach Manizales. 35:05-36:40. 414  | Orig: „cóndor de los pájaros“. Der Kondor ist ein Sinnbild für den Größten unter den Vögeln.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film folgten als der des Schnapses, motorisiert und mit dem einzigen Ideal, so viele liberale Parteimitglieder umzubringen, wie ihren Weg kreuzten.“415

Was der Soziologe Daniel Pécaut als typische „Bewusstseinsspaltung der Akteure der Violencia“416 bezeichnet, setzt Norden bei der Inszenierung Lozanos visuell um. Auffallend häufig fängt die Kamera Lozanos Blick in Spiegelbildern ein, wie z.B. in der Sequenz, als sich dieser in seinem Badezimmer rasiert und gleichzeitig einem Radiobericht über den Triumph der Konservativen nach der liberalen Regierungsperiode lauscht:417 In einem Two-Shot (N) werden Lozanos Gesicht und dessen Abbild im Spiegel zunächst gleichstark hervorgehoben. Als der Radiosprecher beginnt, von den unschuldigen konservativen Opfern während der liberalen Hegemonie zu sprechen, fährt die Kamera näher an den Spiegel heran, so dass Lozanos Abbild in Großaufnahme sichtbar wird, während sein Körper gänzlich aus dem Filmbild verschwindet.418 Durch die Lobpreisungen des Radiosprechers auf die konservative Partei untermalt, veräußert Lozanos kalter, starrer Gesichtsausdruck im Spiegel dessen Entschlossenheit, Teil des konservativen Triumphzugs zu werden. Die visuelle Gegen­ über­stellung des Normalbürgers León Maria Lozano, symbolisiert durch den Akt des morgendlichen Rasierens, und des gewaltbereiten Parteianhängers und zukünftigen Führers der „pájaros“, angedeutet durch sein Spiegelbild, suggeriert das Vorhandensein zweier gegensätzlicher Persönlichkeitsanteile, die durch Lozanos christliche Moral und Prinzipienliebe zusammengehalten werden. Tatsächlich verfolgt León Maria seine ‚beruflichen‘ Ziele mit derselben Konsequenz und Unerbittlichkeit wie seine privaten Grundsätze. Seine Radikalität in der Umsetzung politischer und moralischer Überzeugungen unterscheidet ihn von seinen Mitmenschen, die ihn gleichzeitig bewundern und fürchten, und qualifiziert ihn für sein Amt als Vollstrecker des konservativen Rachefeldzugs gegen die Liberalen. Im Gegensatz zum Roman rollt der Film den Zweiparteienkonflikt anhand des persönlichen Spannungsverhältnisses zwischen Lozano als Vertreter der Konservativen und seiner Gegenspielerin Gertrúdiz als Vertreterin der Libe415  | Orig.: „[…] León Maria Lozano manejó con el dedo meñique a todo el Valle y se tornó en el jefe de un ejército de enruanados mal encarados sin disciplina distinta a la del aguardiente, motorizados y con el único ideal de acabar con cuanta cédula liberal encontraran en su camino.“ Álvarez Gardeazábal 1971, 45. 416  | Orig.: „desdoblamiento de los actores de La Violencia“. Pécaut spielt hier auf die Tatsache an, dass viele Parteianhänger, die während der Violencia brutale Massaker verübten, außerhalb dieser Aktivitäten ein normales bürgerliches Leben führten. Pécaut 2003, 8. Zitiert in: Suárez 2009 (1), 72. 417 | 08:15-08:40. 418  | 08:26-08:40.

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ralen auf. Die veränderten politischen Verhältnisse, herbeigeführt durch die Ermordung Gaitáns und die anschließende Machtübernahme der Konservativen, spiegeln sich in der Umverteilung des Einflusses der Antagonisten auf ihr Städtchen wider. Während Lozano die liberale Parteimatriarchin zu Beginn des Films um einen Job an der Käsetheke der städtischen Markthalle anbetteln muss und diese jenem – über dessen oppositionelle Parteizugehörigkeit großzügig hinwegsehend – gewährt, wird Gertrúdiz nach Lozanos Kommando­ übernahme zunehmend machtloser. Dass der unscheinbare Normalbürger den ersten Stein gegen die liberalen Demonstranten wirft und zur Anheizung der Stimmung im Dorf nicht identifizierbare Leichen aus angrenzenden Gemeinden anliefern lässt419, scheint Gertrúdiz noch zu imponieren, denn sie bedenkt den Käsehändler mit ironischen Anerkennungen wie „León Maria Lozano, ein Held“420 oder „Der Chef [der ‚pájaros‘] hier ist ein Kondor“421. Als jedoch auf Lozanos Anweisung der erste politische Mord in Tuluá verübt wird422, beraumt Gertrúdiz eine Unterredung der führenden Liberalen und Lozano an, um diesem die Stärke ihrer Partei zu demonstrieren und mit Konsequenzen zu drohen. Indem Lozano der Einladung nicht nachkommt und stattdessen durch den Bürgermeister eine nächtliche Ausgangssperre verhängen lässt, macht er seine Überlegenheit deutlich. Trotz des offenen Konkurrenz­kampfes, bei dem es Lozano um die Aufrechterhaltung der konservativen Kontrolle und Gertrúdiz zunehmend um die Erlangung des Friedens in Tuluá geht, ist das Verhältnis der beiden Antagonisten im Film von Respekt und gegenseitiger Bewunderung geprägt. Beiden imponiert die Entschlossenheit, mit der der andere seine Ziele verfolgt. Norden zeichnet das Verhältnis der beiden Führungs­personen, anders als der Roman es vorgibt, als eine Art Hass-Liebe, innerhalb derer die Machtverhältnisse ständig neu austariert werden müssen. Im Gegen­satz zur traditionellen, patriarchalen Rollenverteilung, wie sie in Lozanos Ehe mit Agripina vorherrscht, befinden sich die beiden Hass-Liebenden auf Augenhöhe. So bereitet es Lozano zwar sichtlich Vergnügen, Gertrúdiz mit „kleinen Drohbriefchen“423 zu necken, jedoch ist er Gentleman genug, um die Drohung nicht 419  | Zum Trost dafür, dass seine mordlustigen „pájaros“ vorerst keine Stadtbewohner umbringen dürfen, schlägt der Kondor ihnen vor, die Opfer von Massakern aus der ländlichen Umgebung nach Tuluá zu schaffen: „Holen wir ein paar Tote von dort, damit sie sehen, dass die Sache ernst ist.“ (Orig.: „Traigamos unos muerticos de por allá para que vean que la cosa es en serio.“) 28:07-28:11. 420 | Orig.: „León Maria Lozano, un héroe“. 22:25-22:29. 421  | Orig.: „El jefe de los [‚pájaros‘] de aquí es un Cóndor.“ 50:40-50:45. 422 | Das Opfer ist Rosendo, ein Bankangestellter, der Informationen über Zahlungen der Konservativen an Lozano an die Presse weitergegeben hat. 423 | Offenbar geschmeichelt von der Nachricht, dass Gertrúdiz ihn öffentlich als Kondor bezeichnet, gibt Lozano, liebevoll schmunzelnd, einem „pájaro“ den Auftrag, seiner

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in die Tat umzusetzen. Gertrúdiz kontert mit öffentlichen Anschuldigungen gegen den Kondor, um diesen in seine Schranken zu weisen424. Während Lozanos konservative Prinzipien ihm verbieten, dem vermeintlich schwachen Geschlecht Gewalt anzutun, entspringt Gertrúdiz Aufmüpfigkeit ihrer liberalen Überzeugung. Gerade weil Gertrúdiz die althergebrachten Geschlechter­ rollen übertritt, indem sie als einzige versucht, dem Kondor die Stirn zu bieten, erntet sie seine Bewunderung. Durch die Inszenierung ihres Verhältnisses als bipolare Hass-Liebe bietet Norden ein ungewöhnliches Bild des Zweiparteien­ konflikts an, in dem sich die beiden Seiten zu brauchen, zu bedingen und zu ergänzen scheinen. Der traditionelle Machtkampf zwischen Liberalen und Konservativen in Cóndores gleicht einem wechselseitigen Katz-und-MausSpiel, innerhalb dessen ein Kräftegleichgewicht besteht, solange bestimmte Spiel­regeln eingehalten werden. Werden die ungeschriebenen moralischen Grund­sätze gewaltsam übertreten, bricht die bestehende Ordnung zusammen. Für eine Neuordnung der Kräfte bieten sich zwei unterschiedliche Lösungen an: die Entmachtung oder totale Eliminierung der gegnerischen Partei, angestrebt von Lozano, oder eine diplomatische Einigung, propagiert von Gertrúdiz. Am Ende des Films entscheiden die Politiker in Bogotá über den Ausgang des regionalen Machtkampfs in Tuluá, indem die Militär­regierung den Parteien­konflikt offiziell beendet und die „Frente Nacional“ als Zwei­ parteienregierung eingesetzt wird. Für die Ausgewogenheit der Machtverhältnisse zu Beginn des Films, die von wechselseitiger Gewalt zwischen den Anhängern beider Parteien gekennzeichnet sind, findet Norden ein treffendes Bild: ein roter und ein blauer Drachen, farbsymbolisch als stellvertretend für die liberale und die konservative Partei zu deuten, liegen nach einem Massaker an einer unschuldigen Bauern­ familie zerschossen nebeneinander am Boden (N).425 Die beiden Parteien, so könnte die Symbolik des Bildes interpretiert werden, unterscheiden sich zwar oberflächlich (sie haben unterschiedliche Farben), jedoch verbindet sie ihre Wesensverwandtschaft (beide sind Drachen) und ihr gemeinsames Schicksal (beide liegen zerstört am Boden). Auch die zunehmende Gewaltbereitschaft, die sich aufgrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und der ländlichen Massaker unter den Parteianhängern in Tuluá ausbreitet, setzt Norden durch Kontrahentin einen Drohbrief zukommen zu lassen: „Aufmüpfig, die Alte, nicht wahr? Gut, wir werden ihr ein Kärtchen schicken. Aber nur um sie zu erschrecken…“ (Orig.: „¿Rebelde la vieja, no? Bueno, vamos a hacerle su boletica. Pero sólo para asustarla…“) 1:10:06-1:10:19. 424 | Während der Messe bittet Gertrúdiz den Pfarrer, der Gemeinde Lozanos Drohbrief vorzulesen, was dieser verweigert. In Folge verfasst sie eine offene Anklageschrift der Liberalen von Tuluá gegen die „pájaros“, die in der Zeitung veröffentlicht wird. 1:10:25-1:12:12. 425 | 03:12. Vgl. Suárez 2009 (1), 72.

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Farbsymbolik in Szene: als Lozano bei seiner Arbeit an der Käsetheke von dem Liberalen Rosendo wegen seiner Parteizugehörigkeit beleidigt wird,426 greift er zu einem Messer und hackt es entschieden in einen roten Hollandkäse (D)427. Mit diesem Bild macht der Regisseur klar, dass der Protagonist den Liberalen, für die die Farbe Rot steht, den Krieg erklärt. Die Barriere zur physischen Gewalt, deren Einhaltung Tuluá bis zu den Ereignissen des „Bogotazo“ vor einem Zusammenbruch des bestehenden Kräftegleichgewichts bewahrt hat, überschreitet Lozano, als er den Dynamit­ sprengsatz auf die Demonstranten wirft. Die zunehmende Intensität der Gewalt­akte gegen die Liberalen veranschaulicht Norden durch immer explizitere und detailliertere Mordinszenierungen. Don Rosendo, das erste Opfer, geht auf einem erhöhten Bürgersteig, im Bild von links nach rechts, die Straße entlang. Die Kamera, die etwas unterhalb des Gehwegs auf der gegenüber­ liegenden Straßenseite positioniert ist, verfolgt seine Bewegung mit einem Schwenk (T)428. Plötzlich wird er von einer Kugel unbekannten Ursprungs getroffen und fällt zu Boden (HT)429. Die Kamera verweilt einen Augenblick auf dem Toten, ohne jedoch näher an diesen heranzufahren oder sich nach dem Täter umzublicken.430 Auf diese Weise stellt Norden eine relativ große Distanz zwischen Handlung und Zuschauer her, welcher den Mord registriert, ohne emotional involviert zu werden. Nordens distanzierte Inszenierung scheint den Erzähltonus des Romanautors aufzugreifen, der den Hergang des Mordes an Rosendo, ähnlich einer Zeitungsnachricht, faktisch und mit genauen Ortsund Zeitangeben versehen wiedergibt: „Tuluá hatte den ersten offiziellen Toten auf seinen Straßen. Es war der 22. Oktober 1949. Sechs Uhr zweiunddreißig.“ 431 Bei der Darstellung des nächsten Mordes432 greift Norden auf subtilere Distanzierungsmechanismen zurück und ermöglicht so eine höhere Anteil­ nahme des Zuschauers. Täterschaft, Motiv sowie der genaue Tathergang sind nun erkennbar: Ein „pájaro“, äußerlich durch seine elegante schwarze Kleidung und den schwarzen Hut als solcher zu identifizieren, verschafft sich Zutritt zum Büro eines liberalen Parteiaktivisten, der sich außer Haus befindet. Missbilligend betrachtet er ein Wandplakat, auf dem Gaitán in gewohnt kämpferischer Pose mit erhobener Faust abgebildet ist (N). Die Kamera folgt dem „pájaro“ zunächst in den Büroraum und nimmt anschließend seinen subjek426 | 10:18-10:22. 427 | 10:31. 428 | 38:35-38:45. 429 | 38:47. 430 | 38:53. 431 | Orig.: „Tuluá tenía el primer muerto oficial en sus calles. Era el 22 de octubre de 1949. Seis y treinta y dos minutos.“ Álvarez Gardeazábal 1971, 41f. 432 | 39:58-40:55.

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tiven Blick durchs Fenster nach draußen auf, wo er sein Opfer kommen hört (HT).433 Als dieses den Raum betritt, positioniert sich die Kamera draußen im Hof. Durch das vergitterte Fenster hindurch nimmt sie auf, wie sich der „pájaro“ zu dem Eintretenden umdreht und diesen ohne Vorankündigung in den Bauch schließt (HN).434 Nachdem der Liberale vor seinem Schreibtisch zu Boden gegangen ist, wendet sich der Täter noch einmal dem Gaitán-Plakat zu und imitiert dessen kampfeslustige Geste mit der Faust (N). Die Kamera, im Innern des Raumes nahe der Eingangstür auf dem Boden platziert, fängt nun eine Detailansicht der schwarzen Anzugsbeine des Mörders ein, der über sein Opfer hinweg aus dem Raum geht.435 Wie in der ersten Mordsequenz verweilt der Kamerablick einen Moment statisch auf dem Opfer (T)436. Durch die Fenster­inszenierung wird dem Zuschauer suggeriert, aktiver Beobachter des Unrechts zu sein, das im Innern des Büros vonstatten geht. Die Arglosigkeit des Opfers beim Betreten des Raums und das berechnende Kalkül, mit dem der Mörder seine Tat begeht, begünstigen eine Parteiergreifung des Zuschauers zu Gunsten des Hingerichteten. Das Verhältnis der beiden Gegenspieler zu ihrer jeweiligen Partei und die Funktion, welche sie in dieser einnehmen, sind grundverschieden: Der Kondor sieht sich als Vollstrecker eines göttlich-moralischen Auftrags, den er im Sinne seiner Vorgesetzten bedingungslos auszuführen bereit ist. Seine Macht­ position innerhalb des bewaffneten Konflikts bringt ihm darüber hinaus gesellschaftliche Anerkennung ein. Durch die Ausübung von Gewalt erfährt er eine Aufwertung seiner Person und eine Neudefinition seines sozialen Status. Bei Gertrúdiz verhält es sich entgegengesetzt: vor der Neuordnung der Macht­ verhältnisse gehört sie der politischen Elite an und ist eine der einflussreichsten Personen der Stadt. Trotz politischer Differenzen ist sie den Grundsätzen der Demokratie verpflichtet, welche durch die subversive Gruppierung der „pájaros“ unterwandert wird. Ihre Mittel sind ‚politisch korrekt‘, ihre Handlungen diplomatisch. Beim Versuch, ohne Blutvergießen Recht und Ordnung herzustellen, appelliert sie an alle weltlichen und geistlichen Instanzen, welche sich ihr jedoch versagen: der Pfarrer, der als Repräsentant der katholischen Kirche mit den Konservativen sympathisiert, weigert sich, Lozanos Drohbrief an Gertrúdiz, als schriftlichen Beweis für das ihr widerfahrene Unrecht, der Gemeinde vorzulesen,437 der von Gertrúdiz aufgesetzte Zeitungsleserbrief der Liberalen, in dem die Verbrechen der „pájaros“ aufgeführt werden, hat für alle 433 | 40:19. 434 | 40:31. 435 | 40:51. 436 | 40:54. 437 | 1:11:08-1:11:11.

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Unterzeichner – außer für die Autorin – tödliche Konsequenzen. Auch wenn Gertrúdiz in ihrem Engagement als Bürgerin, Politikerin und Diplomatin große innere Stärke beweist, könnte man die These aufstellen, dass die Violencia ihren persönlichen und gesellschaftlichen Status nach und nach zerstört. So wirkt sie am Ende des Films gebrochen und von schmerzhaften Verlusten gezeichnet. Die Tatsache, dass Norden ihre Figur, anders als in der literarischen Vorlage, nicht nur als Gegengewicht zu Lozano hervorhebt, sondern sie aufgrund ihrer selbstlosen Friedensbemühungen zur Sympathieträgerin und Identifikationsfigur des Films avancieren lässt, könnte ein Hinweis auf eine politische Positionierung des Regisseurs sein: ähnlich wie in Canaguaro sind die Liberalen in Cóndores die gemäßigtere und bevölkerungsnähere Partei, während die Konservativen, unterstützt von Staat und Kirche, als skrupellose Banditen dargestellt werden.438 Im Gegensatz zu Dunav Kuzmanich verweist Norden jedoch nicht auf die Legitimität des Guerilla-Kampfes als Antwort auf das repressive Regime, sondern auf die Möglichkeit zum Friedensdialog, wie er in den 1980er Jahren, zur Entstehungszeit des Films, von der Regierung Betancur vorangetrieben wird.439 Vielleicht um die Bedeutsamkeit dieser Bemühungen hervorzuheben, macht Norden die von Gertrúdiz initiierte Friedens­ versammlung zum dramaturgischen Wendepunkt des Films: Die Nachricht über ein Massaker der „pájaros“ an Frauen und Kindern, das dem Kondor in die Schuhe geschoben wird, löst die Friedensversammlung zwar auf,440 leitet gleichzeitig aber Lozanos Niedergang ein. Dem Anführer wird bewusst, dass er die Kontrolle über seine Auftragsmörder verloren hat. Gleichzeitig steigt seine Angst vor einem Lynchmord durch die aufgebrachte Gemeinde, welcher jedoch vorläufig durch die Nachricht über den Militärputsch in Bogotá verhindert wird.441 Die Ermordung Lozanos am Ende des Films, die als Auflösung des Plots angesehen werden kann, empfindet der Zuschauer angesichts seiner Verbrechen als gerecht. Lozanos Ende resultiert einerseits aus der erneuten Veränderung der politischen Verhältnisse, als der konservativen Herrschaft durch Rojas Pinilla ein Ende gesetzt wird, andererseits erfüllt sich in ihm die Voraussagung eines schamanischen Arztes, den jener in seiner Kindheit wegen gravierender asthmatischer Beschwerden aufgesucht hatte. Der Prophezeiung zufolge soll Lozano während eines Asthmaanfalls auf offener Straße den Tod finden. Roman und Film legen gleichermaßen einen metaphorischen Zusammenhang 438 | Dunav Kuzmanich, der Regisseur von Canaguaro, war auch am Erstellen des Drehbuchs zu Cóndores beteiligt. 439 | Vgl. Kapitel III.2.1. 440 | 1:15:45-1:16:08. 441  | 1:17:20-1:18:27.

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zwischen dem Zweiparteienkonflikt und dem Asthma als vererbter Krankheit nahe442 . Neben der naheliegenden Deutung des Asthmas als Metapher für die Fortführung des Parteienkrieges, an dem die Betroffenen im wahrsten Sinn des Wortes ersticken, könnte es auch Ausdruck einer – ebenfalls vererbten – krankhaft veränderten psychischen Grundverfassung sein, die die Akteure zu Gewalttaten antreibt und die Álvarez Gardeazábal als „Depression in der Tiefe der Brust, Leere im Leben und Todeswunsch“443 beschreibt. Das Asthma steht also für die Verbindung zwischen Lozanos psychischem und physischem Leid. Gleichzeitig entreißt das Sinnbild der erblichen Krankheit den politischen Konflikt seiner rationalen Deutungsgrundlage und verleiht ihm jene meta­ physische Dimension, die aus Augenzeugenberichten der vom Konflikt betroffenen Landbevölkerung häufig hervorgeht.444 Während im Roman die konservative Parteiführung dem Kondor nach dem Machtwechsel zur Flucht nach Pereira verhilft, wo dieser erst einige Zeit später ermordet wird,445 ereilt ihn sein Schicksal im Film unmittelbar am Tag des Militärputsches. Norden inszeniert Lozanos Tod als logische Konsequenz aus seinen Taten, als Erfüllung seines Schicksals und als Akt der Sühne: Entgegen dem Rat der Parteiführung, sofort die Stadt zu verlassen, begibt sich Lozano in die Kirche, wo er sich allein vor dem offensichtlich geschändeten Altar446 zum Beten niederkniet (N).447 Großaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven (Over-Shoulder, Profil, Frontal) illustrieren, wie er sich, erleuchtet nur vom Schein der Kerzen, mit ehrlichem Blick und offenbar reinem Gewissen ein letztes Mal Gott zuwendet.448 Die bevorstehende Erfüllung der schamanischen Prophezeiung wird auf der Tonspur durch das Hufgetrappel eines apokalyptischen Reiters, der im Roman im Zusammenhang mit der Schilderung eines Massakers erwähnt wird,449 angedeutet.450 Eine Großaufnahme Lozanos verbildlicht, wie sich dieser in Todesangst nach dem imaginären Reiter umblickt.451 Gleichzeitig bahnt sich ein asthmatischer Anfall an, und die Furcht vor dem Eintreten der Voraussagung, welcher er bislang durch Flucht in geschlossene Innenräume zu entkommen versucht hatte, steigt in ihm auf. Um 442 | Schon Lozanos Vater war an Asthma gestorben. Siehe Álvarez Gardeazábal 1971, 7f. 443 | Orig.: „una depresión en lo profundo del pecho, un vacío de vida y un deseo de muerte“. Álvarez Gardeazábal 1971, 6.

444 | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 445 | Vgl. Álvarez Gardeazábal 1971, 80f. 446 | Das Kreuz ist umgestoßen und die Dekoration heruntergerissen. 1:20:03-1:20:12. 447 | 1:20:28. 448 | 1:20:34-1:20:55. 449 | Vgl. Álvarez Gardeazábal 1971, 6. 450 | 1:20:53-1:21:04. 451  | 1:21:33-1:21:40.

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die Erfüllung seiner parteilichen Mission wissend, begibt er sich angstvoll, aber seinem Schicksal ergeben auf die nächtliche Straße.452 Vom Asthma geplagt hält er an einer Hauswand inne (HN) und geht dann aufrecht weiter bis zur Mitte der Straße, wo er von einer Kugel getroffen wird (HT).453 In den letzten Sekunden seines Lebens hört er noch einmal das Hufgetrappel und richtet seinen Blick suchend nach oben, als wolle er dem Urheber seines Schicksals ins Auge sehen (HN).454 Als sein Kopf zu Boden sinkt und gleichzeitig das Hufgetrappel verstummt, fährt die Kamera diagonal nach hinten-oben zurück, bis der Tote im Zentrum einer totalen Einstellung (Vogelperspektive) auf der nächtlichen Straße zu verorten ist und die Schlusscredits einsetzen.455 Mit der allmählichen Distanzierung des Kamerablicks vom Protagonisten scheint Norden den – im Gegensatz zur filmischen Inszenierung – distanzierten Blick des Romanautors einzunehmen, der als allwissender Erzähler zuweilen sachlich, zuweilen ironisch die Handlung kommentiert.456 Während die filmische Version dem Zuschauer nahelegt, Lozano individuell als Verantwortlichen für die Gewalt und seinen Tod als gerechte Strafe für seine Taten zu interpretieren, scheint Álvarez Gardeazábal die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit anzuklagen. Insbesondere prangert er die Unfähigkeit der Dorf bewohner zu rationalem Denken und Handeln an. Besonders deutlich wird dies in der Sequenz, in der Lozano die marschierenden Liberalen mit Dynamitsprengsätzen in die Flucht schlägt.457 Während der Film das Ereignis faktisch und nüchtern aus der Täterperspektive wiedergibt458, wird es im Roman aus der Sicht der abergläubischen Bevölkerung geschildert, welche die Vorkommnisse mystifiziert (der Dynamitsprengsatz habe ein Loch in die Straße geschlagen, aus dem die Opfer der Violencia nachts emporstiegen459) und Lozano zur Legende erhöht (ausgestattet mit übermenschlicher Stärke habe er allein tausende von Demonstranten in die Flucht geschlagen460). Aus dem 452 | 1:21:45-1:22:00. 453 | 1:22:07-1:22:28. 454 | 1:22:40-1:22:53. 455 | 1:23:02-1:23:35. 456 | Anders als der Roman, der zwischen den zeitlichen Erzählebenen hin- und herspringt und die Figuren nur oberflächlich charakterisiert, erzählt der Film die Ereignisse chronologisch und anhand der inneren Entwicklung der Protagonisten. 457 | 21:18-21:48. 458 | Dunkle, nächtliche Außenaufnahmen zeigen, wie die „pájaros“, angeführt von Lozano, zum Schauplatz eilen, wo sie die liberalen Demonstranten vermuten (HT). Diese marschieren auf sie zu (T), Lozano schwenkt den angezündeten Dynamitsprengsatz in seiner Hand (D) und wirft ihn auf die Demonstranten (HN), welche davonlaufen (T). 459 | Siehe Álvaez Gardeazábal 1971, 4. 460 | Siehe Álvaez Gardeazábal 1971, 4.

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spöttischen Tonfall, mit dem Álvarez Gardeazábal die Interpretation der Stadt­ bewohner wiedergibt, lässt sich seine Abneigung gegenüber der Mystifizierung und der daraus resultierenden Schicksalsergebenheit ableiten. Neben seiner expliziten Kritik an der Korruption innerhalb der kolumbianischen Politik461 problematisiert er auch das Stillschweigen, mit dem Staat und Bürger versuchen, die Violencia aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. In Bezug auf die Verdrängungsmechanismen der Stadtbewohner beim Bekanntwerden der Tatsache, dass Lozano hinter dem ersten Mordfall stecke, witzelt Álvarez Gardeazábal: „Tuluá weiß es nicht, denn sein Gedächtnis ähnelt stark dem eines Huhns.“462 Ferner kritisiert der Romanautor die mediale Berichterstattung über die Violencia, die durch Romantisierung und Verschleierung der Realität eine ehrliche Aufarbeitung verhindere: „Viele werden Artikel schreiben, die an seine [Lozanos] legendäre Figur erinnern, aber keiner wird die Wahrheit sagen, da das erzwungene Vergessen […] andauert und die Vergangenheit, so übersät sie auch von Kreuzen sein mag, nicht ausgelöscht werden kann.“463 Im Gegensatz zu Álvarez Gardeazábal, der der Gleichgültigkeit und Feigheit der Stadtbewohner die Schuld am Aufstieg der „pájaros“ gibt, setzt Norden in seiner Adaption einen starken Akzent auf die Illustration der Zivilcourage einzelner Bürger. Neben Gertrúdiz erhebt der Regisseur die Figur des Indio Arango zur zentralen Figur des Widerstands. Als ein „pájaro“ dem Kleinbauern einen Drohbrief des Kondors übergibt, in dem ihm ein Ultimatum zum Verlassen seines Hofes gestellt wird, greift dieser den Boten mit seiner Machete an und entgegnet: „Ihr wollt mich von hier vertreiben? Das wird man sehen. […] Sag deinen Leuten, dass ihr mich nur über meine Leiche von hier fort kriegt. Aber zuerst reiß ich die Hälfte deiner Leute mit in den Tod.“464 Die „pájaros“ berichten dem Kondor, dass der Indio Arango das Dorf gegen sie aufhetze.465 Lozano wird bange, und er befiehlt eine Hetzjagd nach dem Aufrührer.466 Irrtümlicher­weise fällt jedoch der Dorfjournalist der Jagd zum 461 | Der Romanautor prangert an, dass die ehemaligen Anführer der bewaffneten Gruppen, die während der Violencia agierten, im „neuen Regime des Verständnisses zwischen Konservativen und Liberalen“ (orig.: „nuevo régimen de entendimiento entre conservadores y liberales“) mit hohen Ämtern bedacht wurden. Siehe Álvarez Gardeazábal 1971, 80. 462 | Orig.: „Tuluá no lo sabe porque su memoria se acerca mucho a la de la gallina.“ Álvarez Gradeazábal 1971, 35. 463 | Orig.: „Muchos escribirán artículos recordando su figura legendaria, pero nadie dirá la verdad porque llevamos […] olvido obligado y el pasado, por más que esté lleno de cruces, no puede ser removido.“ Álvarez Gardeazábal 1971, 81. 464  | Orig.: „¿Me van a sacar de aquí? Eso hay que verlo. […] Digale a su gente que aquí no me sacan sino muerto. Pero primero me llevo la mitad de ustedes.“ 1:06:30-1:06:45. 465 | 1:07:05-1:07:20. 466 | 1:07:20-1:07:28.

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Opfer, und der Indio Arango entkommt.467 Die Tatsache, dass Norden dem Wider­stand einen weitaus größeren Platz einräumt, als dies im Roman der Fall ist, könnte als Appell zur Gegenwehr verstanden werden. Andererseits könnte Norden die mutige Rebellion einzelner Vertreter der Landbevölkerung würdigen wollen, die zu allen Zeiten des innerkolumbianischen Konflikts versucht haben, den bewaffneten Gruppen zu trotzen und sich, unter Einsatz ihres Lebens, ein Mini­mum an Menschenwürde zu bewahren. Cóndores no entierran todos los días ist der erste kolumbianische Kinofilm, der in einer bedeutenden Sektion eines internationalen Festivals („Un certain regard“, Cannes) präsentiert wurde. Dies ist zum einen dem verhältnismäßig hohen technischen Niveau, der Klarheit der dramaturgischen Struktur und der stimmigen Gesamtästhetik zu verdanken, zum anderen ist sicherlich das vergleichsweise hohe schauspielerische Niveau für den Erfolg des Films ausschlaggebend. Während in anderen FOCINE-Produktionen nach wie vor mit Laien-, Theater- oder namenlosen TV-Darstellern gearbeitet wird468, besticht Cóndores mit Frank Ramírez in der Hauptrolle, der neben Humberto Dorado zu den bedeutendsten kolumbianischen Filmschauspielern aller Zeiten zählt, sowie der renommierten mexikanischen Schauspielerin Isabela Corona als Gertrúdiz, die zum Zeitpunkt des Drehs bereits auf über 40 Jahre Berufs­ erfahrung zurückblickt469. Norden gelingt es, mit Cóndores no entierran todos los días die Legende über den „Kondor der ‚pájaros‘“, León Maria Lozano, zu entmystifizieren, indem er die historischen Ereignisse in eine logische, kausale Handlungskette einbindet und an psychologisch stringente Aktionen und Reaktionen der Akteure knüpft. Er widerspricht somit der verbreiteten Wahrnehmung der Violencia als übermenschlicher Kraft oder Naturgewalt. Anstatt für eine Verallgemeinerung der Schuld einzutreten, wie es der Roman, ähnlich wie García Márquez‘ La mala hola 470, nahelegt, verweist Norden auf die individuelle Schuld einzelner Akteure und wirkt somit auch der Anonymisierung der Verantwortlichkeit entgegen. Indem er außerdem auf eine urteilende Haltung verzichtet, leistet er einen Beitrag zur Erweiterung der filmischen Geschichtsinterpretation im kolumbianischen Spielfilm.

467 | 1:07:30-1:09:30. 468 | Canguaro ist mit unbekannten Laiendarstellern gedreht, in Pisingaña überwiegen namenlose TV-Darsteller, Luis Ospina und Carlos Mayolo spielen ihre Rollen überwiegend selbst oder engagieren Freunde und Bekannte. 469 | Quelle: http://www.imdb.com/name/nm0180556/?ref_=tt_ov_st 470 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

III.2.3.3 Pisingaña (Hopscotch/The Spider Game. Leopoldo Pinzón, 1985, Kolumbien) Während sich Canaguaro und Cóndores no entierran todos los días inhaltlich mit der „ersten violencia“471, dem politisch motivierten Konflikt der traditionellen Parteien und der daraus resultierenden Bildung links- und rechtsgerichteter illegaler Gruppierungen, beschäftigen, spielt Pisingaña 472 zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt während der „zweiten violencia“, als sich die Gewalt auf dem Land im Zuge der massiven Bekämpfung der Guerilla durch staatliche Einsatzkräfte erneut zuspitzt und eine massive Landflucht auslöst. Als erster kolumbianischer Regisseur stellt Leopoldo Pinzón die Geschichte eines zivilen Opfers der Gewalt in den Mittelpunkt und zeigt, wie sich dessen Leidens­geschichte nach seiner Vertreibung vom Land in Bogotá fortsetzt473. Der existentiellen Not des verwaisten Bauernmädchen Graciela (July Pedraza), die Opfer einer Vergewaltigung durch das staatliche Militär wird und daher Zuflucht in der Hauptstadt sucht, wird die sinnleere Alltagsrealität des Familien­vaters und Büroangestellten Jorge (Carlos Babosa) gegenübergestellt, der Graciela als Dienstmädchen in sein Haus aufnimmt, sie verführt und nach Auffliegen der Affäre wieder ihrem Schicksal überlässt. Die Kritik von Juana Suárez, der Film entbehre jeglicher politischer oder ideologischer Motivation und sei daher nur eine zögerliche Annäherung, nicht aber eine fundierte Auseinandersetzung mit der Violencia,474 ist insofern berechtigt, als dass der Film nur spärliche Informationen über die politischen und historischen Hintergründe der Gewalt liefert, die die Protagonistin erfährt. Indem Pisingaña jedoch einen kausalen Zusammenhang zwischen der anhaltenden Gewalt auf dem Land und der von rassistischen, klassistischen und machistischen Denkweisen durchzogenen urbanen Mittelstandsmentalität herstellt, zeigt er als erster kolumbianischer Film gesellschaftliche Missstände auf, die mit den „violencias“ in Verbindung zu stehen scheinen. Indem Pinzón das kolonialistische Gedankengut einer städtischen Klasse aufzeigt, die sich selbst in Abgrenzung zur Land­bevölkerung als modern und zivilisiert betrachtet und sich daher ermächtigt fühlt, über diese zu richten, bereichert er den filmischen Gewaltdiskurs um ein neues Element. Pinzón zeigt die Kluft auf, die zwischen den Menschen in den ruralen Konfliktgebieten, der bürgerlichen Stadtbevölkerung und der herrschenden Elite liegt und macht deutlich, wie nationaler Zusammen471 | Vgl. Kantaris 2008, 110. 472 | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Originalfassung, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“. 473 | Erst 20 Jahre später hält diese Thematik mit La primera noche (Luis Alberto Restrepo, 2003) Einzug ins kolumbianische Kino. 474 | Siehe Suárez 2009 (1), 83.

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halt, Solidarität und gegenseitige Fürsorge durch postkoloniale Gesellschafts­ strukturen und einen fragwürdigen Modernitätsbegriff unterbunden werden. Ferner problematisiert der Regisseur die Gefahr der Identifikation der Opfer mit dieser Rolle, die ihnen den Ausbruch aus der krisenhaften Situation zusätzlich erschwert475. Im Folgenden soll analysiert werden, wie Pinzón seine Gesellschaftskritik mit der Inszenierung von Gracielas Gewalt- und Missbrauchserfahrungen verwebt und welches Gesamtbild des innerkolumbianischen Konflikts sich hieraus ergibt. Das Zusammenleben der vierköpfigen Familie, die Graciela als Haus­angestellte bei sich aufnimmt, ist von bürgerlich-konservativen Strukturen bestimmt. Jorge ist Alleinverdiener und verwaltet das Haushaltseinkommen476, Hélena, seine Frau, bedient ihn und die beiden Söhne und versorgt den Haushalt477. Wie es sich, in Jorges Augen, für eine tugendhafte Ehefrau gehört, verlässt Hélena das Haus kaum, während Jorge diesbezüglich alle Freiheiten genießt478: er unterhält eine Affäre mit einer Sekretärin und gehört dem sogenannten „Club der Frauenbeobachter“479 an, dessen Selbstzweck darin besteht, Frauen auf offener Straße und in gastronomischen Etablissements mit Anzüglich­ keiten zu belästigen480. Wie der Zuschauer aus den lieblosen Umgangsformen und Dialogen schließen kann, befindet sich das Ehepaar seit geraumer Zeit in einer Krise, die mit individuellen Sinnkrisen einhergeht. In auffälliger Weise wird mittels der Ausstattung der Innenräume sowie der Dialoge der gehobene Lebensstandard der Familie und deren ‚moderne‘ Lebensweise hervorgehoben: 475 | Jan Philipp Reemtsma beschreibt in Vertrauen und Gewalt eine Tendenz, Gewalt­ opfern indirekt eine Mitschuld an ihrem Schicksal zuzuschreiben. Die Opfer spüren diese Ablehnung und erfahren sie als Bestätigung ihrer „Kontaminierung“ durch das Gewalterlebnis. Siehe Reemtsma 2008, 488f. 476 | Hélena muss Jorge täglich um Haushaltsgeld bitten, welches dieser ihr mit missmutigen Gesten überreicht. 09:03-09:13. 477 | Die Inszenierung eines typischen Morgens zeigt, wie Hélena das Frühstück zubereitet und serviert, ihrem Mann das Handtuch in die Dusche reicht und für ihre Langsamkeit von Jorge beschimpft wird. Vgl. 07:09-07:48. 478 | Die Frauen in Pisingaña tolerieren die Untreue des Mannes: Wie ihre Schwieger­m utter ist Hélena der Ansicht, dass Männer außerhalb des Hauses tun könnten, was sie wollten. 21:34-21:42. 479 | Orig.: „club de observadores de mujeres“. 480 | Der von den Club-Mitgliedern geführte Diskurs über das andere Geschlecht ist von einer tiefen Doppelmoral durchzogen: einerseits verurteilen sie die Soldaten, die Graciela vergewaltigt haben (46:10-46:13), ihr Verhalten gegenüber den Bedienungen, die sie begrapschen, oder ihren Ehefrauen, die sie gelegentlich schlagen, ist jedoch ebenso respektlos.

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in der Küche wimmelt es von Elektrogeräten481, im Wohnzimmer stapeln sich die Illustrierten, und beim Frühstück diskutiert das Ehepaar die Nebeneffekte hormoneller Verhütungsmethoden482 . Einer Anregung ihrer Schwiegermutter folgend stellt Hélena Graciela als Dienstmädchen ein, um sich zu entlasten und gleichzeitig die Außenwelt über die akuten finanziellen Probleme der Familie hinwegzutäuschen. Suárez zufolge ist das Mädchen in diesem Umfeld „noch ein Objekt“483, das die Familie sich anschafft, um der Mittelschicht-Etikette Genüge zu leisten. Gracielas Ankunft wird von David Wood als „gewaltsames Eindringen“484 eines Fremdkörpers in das starre Familiengefüge beschrieben, ihr unergründliches Wesen als Ausdruck ihres „Andersseins“485, das den städtischen status quo gefährde. Wood nimmt auf die Dualitäten Land und Stadt bzw. „Wildnis“ und „Zivilisation“ Bezug, die der Film zur Umschreibung des Spannungsfelds anbietet, das sich zwischen Graciela und ihrer Gastfamilie auftut. Die Familien­ mitglieder bezeichnen Graciela als „Indianerin“486, als „Tier“487 und sogar als „eine Art Tarzan“488. Die Vorurteile der weißen Mittelschicht gegenüber der indigenen Landbevölkerung kommen besonders deutlich in den rassistischen Kommentaren von Jorges Mutter gegenüber ihrer eigenen indigenen Haus­angestellten zum Tragen: sie sei dumm, faul, gefräßig und kriminell.489 Graciela wird diesem Bild, in den Augen der „Zivilisierten“, aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit in der neuen Umgebung gerecht: sie erschrickt vor dem Staubsauger490, kennt kein WC 491, besitzt kaum Kleidung492 und verirrt sich beim Einkaufen im Labyrinth der Häuserblocks493. Neben dem Spott der Söhne und dem Mitleid der Eheleute494 ist von Anfang an eine 481 | Vgl. Suárez 2009 (1), 83. 482 | 18:50-19:00. 483 | Orig.: „un objeto más“. Suárez 2009 (1), 83. 484  | Orig.: „irrupción violenta“. Wood 2009, 49. 485 | Orig.: „anormalidad“. Wood 2009, 49. 486 | Orig.: „india“. 23:55. 487  | Orig.: „animal“ 33:18. 488 | Orig.: „una especie de Tarzán“. 44:10-44:13. 489 | 23:18-24:42. 490 | 31:10. 491 | 31:42-31:59. 492 | Dies wird von Hélena, die respektlos Gracielas persönlichen Besitz durchsucht, festgestellt und zur Sprache gebracht. 43:00-43:43.

493 | 38:10-38:30. 494 | Die Söhne lachen, weil Graciela vor den Elektrogeräten erschrickt (32:38-32:42). Hélena verteidigt sie (32:42-32:45) und besorgt ihr neue Kleidung (43:44-44:00), Jorge redet ihr ihre Scham aus, als sie sich nach dem Einkaufen verlaufen hat (38:10-38:30).

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Erotisierung des Mädchens als Reaktion auf ihr „exotisches“ Anderssein bei allen Familien­mitgliedern zu verzeichnen. Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass Graciela als Dienstmädchen die Funktion eines potenziellen Objekts der Begierde für die männlichen Familienmitglieder zu erfüllen hat. Schon vor ihrer Einstellung spricht Jorge diesen Aspekt offen gegenüber seiner Frau an: „Und, ist die kleine Dienerin wenigstens jung und hübsch? – Ich sage das nicht wegen mir, sondern der Buben wegen. Ein hübsches Dienstmädchen erspart ihnen eine Jugend irgendwo da draußen, versteckt in einem Klo.“495 Hélena scheint Jorges wachsende Begierde gegenüber Graciela sogar zu fördern, denn sie kauft ihr schöne, modische Kleidung und kommentiert dies mit den Worten: „[…] denn Don Jorge mag keine schmutzigen Dienstmädchen, hast du gehört?“496 Graciela begegnet Jorges Zuneigung mit ambivalenten Gefühlen: einerseits ist sie von der Vergewaltigung durch die Soldaten traumatisiert und fürchtet einen erneuten Übergriff, andererseits ist sie bemüht, den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen und auch die durchaus zärtliche Zuwendung ihres Gastvaters – in Abgrenzung zur brutalen Vergewaltigung – als eigene sexuelle Erfahrung zu begreifen und zu genießen. Die Ambivalenz ihrer und Jorges Gefühle zeigt sich am stärksten in den beiden Sequenzen, in denen es zu körperlicher Nähe kommt: bei Jorges erstem Verführungsversuch, als Hélena mit den Söhnen außer Haus ist497, und bei seinem nächtlichen Besuch in Gracielas Kammer, wo die beiden von Hélena überrascht werden498. Die erstgenannte Sequenz ist wie eine klassische Verführungsszene angelegt: Graciela, die Jorges Vorhaben zu erahnen scheint, malt ein Bild von ihm in ihr Tagebuch, als sei sie verliebt und erwarte ihn sehnsüchtig.499 Als Jorge nach Hause kommt, empfängt sie ihn, in ihren neuen Klamotten und Stiefeln, mit Blumen im Arm im Hausflur.500 Nach kurzem Zögern nimmt Jorge ihre Hand, küsst sie und drängt das Mädchen rückwärts die Treppe nach oben.501 Als er sie zu küssen beginnt, verfällt sie in eine Starre und wird ohnmächtig.502 Sie erwacht panisch, von traumatischen Erinnerungen geplagt, und droht sich

495 | Orig.: „¿Y la sirvientica será por lo menos joven y bonita? – No lo digo por mí, digo por los muchachos. Una sirvienta bonita les ahorra toda una adolecencia por allá, escondidos en un baño.“ 21:20-21:30. 496 | Orig.: „[…] porque a don Jorge no le gustan las sucias muchachas de servicio, ¿oyó?“ 44:00-44:05. 497 | 49:08-57:20. 498 | 1:06:11-1:11:25. 499 | 49:08-49:20. 500 | 50:55-51:02. 501 | 51:28-51:35. 502 | 51:48-52:06.

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aus dem Fenster zu stürzen, wenn er sich nähern sollte.503 Da Jorge schwört, sich lieber die Hände abzuhacken, als ihr etwas anzutun,504 fasst sie erneut Vertrauen. Indem er sich verständnisvoll zeigt und versucht, sich auf ihrer Seite – der Seite der Opfer – zu positionieren („Ich weiß, dass du sehr gelitten hast. Ich mag dich, Graciela, ich habe auch viel gelitten. Weniger als du, aber dafür länger als du.“505), gewinnt er ihre Solidarität. Dass die Langeweile von Jorges Familien- und Büroalltag in dieser Szene mit Gracielas Gewalttrauma auf eine Stufe gestellt wird, ist von der Filmkritik als anmaßend empfunden worden. Wood bezeichnet Pisingaña als „spießbürgerlich, maskulinistisch und ausschließend“506, womit er auch auf andere Sequenzen anspielt, in denen rassistische oder sexistische Diskurse anklingen. Dem kann widersprochen werden, wenn man davon ausgeht, dass der Film diese Diskurse nur aufzeigt, um ihre Schädlichkeit für die Gesellschaft hervorzuheben. Woods These unterstützend kann jedoch angeführt werden, dass die Figur der Graciela nicht gegen diese Strukturen auf begehrt und – im Gegensatz zur Haus­angestellten von Jorges Mutter507 – kein rebellisches Verhalten entwickelt. Graciela, wie auch alle anderen Frauenfiguren in Pisingaña, tragen durch die Annahme der etablierten Werte auch indirekt zu deren Fortbestehen bei. Für die Richtigkeit von Woods Einschätzung spricht auch, dass sich der Plot in Laufe des Films von Graciela ab- und Jorge zuwendet. Der Film beginnt mit einer detaillierten Inszenierung der staatlichen Gewalt, der Garciela und ihr Vater zum Opfer fallen, zeigt die Flüchtlingsströme und die Schwierigkeit, als Vertriebene in einer Großstadt Fuß zu fassen, verlagert den Fokus dann aber auf die Darstellung der aus Langeweile und Wohlstand resultierenden Sinnkrise eines alternden Büroangestellten. Woods Urteil kann jedoch entgegengehalten werden, dass Pinzón offensichtlich bemüht ist, die Mitschuld der Stadtbevölkerung an der Verdammnis der Vertriebenen aufzeigen. Dafür spricht zum einen die eindrückliche und explizite Inszenierung der Vergewaltigung als brutale Realität, der die scheinheilige Welt des Bürgertums gegenübergestellt wird508, zum anderen thematisiert der Film die finanzielle und sexuelle Ausbeutung des

503 | 52:50-53:05. 504  | 53:06-53:10. 505 | Orig.: „Sé que usted ha sufrido mucho. Yo la quiero, Graciela, yo también he sufrido mucho. Menos que usted, pero más años que usted.“ 53:10-53:25. 506 | Orig.: „burgués, masculinista y excluyente“. Wood 2009, 50. Zitiert in: Suárez 2009 (1), 83. 507 | Diese trotzt den anhaltenden Demütigungen durch ihre ‚Herrin‘, indem sie ihr heimlich in den Kakao furzt. 1:15:58-1:16:08. 508 | Hierauf wird noch ausführlich eingegangen werden.

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Dienst­mädchens509 durch die vermeintlich mitfühlende Gastfamilie. Jorges Ego­zentrik wird besonders am Beispiel seines nächtlichen Übergriffs deutlich: Obwohl die Sequenz, quasi als Fortsetzung der vorangegangenen Verführungs­ szene, als klassische Liebesszene inszeniert ist – romantische Klaviermusik, weiches Licht, bedeutungsschwere Liebesbekenntnisse510 und eine Schwarz­ blende im Moment des Liebesvollzugs sprechen für diese Interpretation – verrät Jorge die durch die Inszenierung suggerierte Liebe, indem er den Betrunkenen mimt, als Hélena plötzlich in der Tür steht: „Zum Donnerwetter, wo bin ich? Was ist hier los, Liebling? Ich weiß nicht, welche von den beiden Hélena ist.“511 Von der Unerschütterlichkeit der bürgerlichen Strukturen, unter denen Jorge leidet, aus denen er jedoch nicht ausbricht, ist Graciela derart überzeugt, dass sie Jorge sogar mit Mitleid bedenkt: „Ich gehe wenigstens. Aber du Armer musst bleiben.“512 Dass die zu Bemitleidende vielmehr sie selbst ist, die rückhaltlos ihrem Schicksal überlassen wird und dieses, wie Jorge zwei Jahre später aus der Zeitung erfährt, in ihrer Not durch Selbstmord beendet, sieht Graciela, die das Verhalten ihres Gastvaters als gesellschaftliche Norm akzeptiert, nicht. Auch Jorges Bewertung des plötzlichen Endes ihrer Affäre als Sieg des Guten über das Böse513 nimmt sie an. Graciela hat ihre Rolle als Opfer so sehr verinnerlicht, dass sie ihr Schicksal als natürlich und angemessen empfindet.514 Die Möglichkeit des Zusammenbruchs der bürgerlichen Strukturen wird im Film durch das Sinnbild eines „Bebens“ angedeutet – ein Beben, von dem Hélena träumt und das Jorge mehrfach zu spüren glaubt.515 Am Ende des Films, als Jorge, von Schuldgefühlen geplagt, in Gedanken auf Gracielas Beerdigung spricht und sie als „Heldin“ ehrt, weil sie einen Lichtstrahl in sein Leben gebracht habe,516 fängt die Erde für einige Sekunden tatsächlich zu beben an.517 Jorge nimmt dies kaum zur Kenntnis, da er über den Inhalt ihres Abschieds­briefes nachdenkt, in dem Graciela bittet, dass sich jemand ihres Kin509 | Mit dem Argument, man müsse ihr alles beibringen, erhält Graciela nur die Hälfte des üblichen Tarifs. 32:50-33:13. 510  | Graciela zu Jorge: „Ich habe immer gewusst, dass ich für dich bestimmt bin. Wie zu wissen, dass ich sterben würde.“ (Orig.: „Yo sabía que era para usted. Como saber que me voy a morir.“) 1:08:39-1:08:44. 511  | Orig.: „Aí carajo, ¿pero dónde me metí? ¿Cómo es la vaina, mi amor? No sé cual de las dos es Hélena.“ 1:10:15-1:10:25. 512  | Orig.: „Al fin y al cabo yo me voy. Pero pobre usted que se queda.“ 1:11:16-1:11:26. 513  | Orig.: „El bien siempre gana.“ (dt.: „Das Gute gewinnt immer.“) 1:11:12-1:11:14. 514  | Über die Identifizierung mit der Opferrolle bei Gewaltopfern vgl. Reemtsma 2008, 488f. 515  | Kurz vor seinem ersten Verführungsversuch berichtet Jorge Hélena zum ersten Mal von dem gefühlten Beben. 49:20-49:24. 516  | 1:30:20-1:31:15. 517 | 1:31:15-1:32:05.

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des annehme. Aus Wut darüber, dass das Mädchen ihn in ihrem Aufruf nicht namentlich erwähnt, entscheidet sich Jorge gegen den naheliegenden Schritt, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen und so seine Schuld zu schmälern518. Beleidigt schließt er seine Affäre mit einer Anspielung auf seine enttäuschten Illusionen ab: „Es war also nur ein kleines, beschissenes Beben.“519 Der innerkolumbianische Konflikt – im Film dargestellt durch den bewaffneten Konflikt auf dem Land, die Vertreibungen und die soziale Problematik der Gewaltopfer – erscheint in Pisingaña zwar primär als zerstörerisch, er könnte jedoch, im Zusammenhang mit der durch das Beben angedeuteten Möglichkeit zum Einsturz der Gesellschaftsstrukturen, auch als nationales Problem interpretiert werden, in dessen Lösung das Potenzial zu kollektiven gesellschaftlichen Veränderungen liegen könnte. In dieser Hinsicht weist Pisingaña eine Parallele zu Jaime Osorios Film Confesión a Laura520 (1990, Kolumbien/ Kuba/Spanien) auf, der erzählt, wie es einem mittelständischen Mann mittleren Alters gelingt, das Chaos des „Bogotazo“ auszunutzen, um, angeregt durch eine wundersame Begegnung mit seiner Nachbarin Laura (Vicky Hernández), aus seiner frustrierten bürgerlichen Ehe auszubrechen und ein neues Leben zu beginnen. Ohne vordergründig die politische Sprengkraft des „Bogotazo“ zu behandeln, weist Osorio mit Confesión a Laura auf die Möglichkeit zu individuellen Veränderungen durch den kollektiven Ausnahmezustand hin und ruft indirekt zum gesellschaftlichen Wandel auf. Anders als Santiago (Gustavo Londoño), der Protagonist aus Confesión a Laura, nutzt Jorge die ihm dargebotene Chance zur Veränderung nicht. Im Gegensatz zu Osorios ambivalentem Porträt der Violencia – einerseits als gewalttätige Reaktion, andererseits als Ausdruck von Befreiung521 – ist Pinzóns Fazit bezüglich der Reformierbarkeit der kolumbianischen Gesellschaft düster. Die Gewalt ist ein fester Bestandteil im Alltag sowie in der kollektiven Erinnerung der Stadt- und Land­bevölkerung. Ähnlich wie die konservative Werteordnung wird sie von Generation zu Generation weitergegeben522 und ist Teil einer unveränderbaren, statischen Realität, vor der die Menschen resignieren, obwohl sie unter ihr leiden. Neben der Tatsache, dass Pinzón als erster kolumbianischer Regisseur einen Eindruck dessen vermittelt, was Pécaut später als Zustand einer „gene518  | Jorges Berechnungen zufolge kann das Kind zwar nicht von ihm stammen, der Film lässt diese Möglichkeit jedoch offen. 519  | Orig.: „Entonces no fue sino un temblorcito de mierda.“ 1:33:00-1:33:03. 520 | Bekenntnis an Laura. 521  | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 522 | Im Film geht dies aus Reflexionen von Jorges Mutter über die Gewalt- und Sitten­ entwicklung hervor. Vgl. 25:21-25:43 über die Violencia oder 1:16:43-1:17:35 über die Untreue der Männer.

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ralisierten Gewalt“523 bezeichnet, ist er auch der erste, der den Hergang der Gewalt explizit inszeniert 524 . Anders als Luzardo, der in El rio de las tumbas zwar die Flussleichen als Resultat der Gewalt, nicht aber die Gewalttaten selbst in Szene setzt, und anders als Norden in Cóndores no entierran todos los días, der durch die Verwendung totaler Einstellungsgrößen in den Mord­sequenzen eine große emotionale Distanz zum Zuschauer herstellt, macht Pinzón die physische und psychische Gewalt, die Graciela erfährt, durch eine nahe Inszenierung und den Einsatz der Handkamera fühlbar: Vier bewaffnete Soldaten halten das weinende Mädchen fest, während ihre bescheidene Hütte im Hintergrund nach Spuren der Guerilla durchkämmt wird (HT).525 Unter dem Vorwand, Graciela nach Waffen der „Subversiven“ durchsuchen zu müssen, beginnen die Soldaten sie auszuziehen und abzutasten (HT).526 Den wahren Hintergrund dieser Aktion erahnend fleht Graciela die Männer an, ihr „dieses Übel“ nicht anzutun.527 Diese reißen ihr lachend das Kleid herunter und finden dabei ihre Ersparnisse, die sie am Körper trägt. Der Soldat, der das Geld zählt, kommentiert den Fund mit den Worten: „Aha! Schöne Banditen-Bank“528 und liefert so ein fadenscheiniges Indiz für Gracielas vermeintliche Zugehörigkeit zur Guerilla, um die bevorstehende Vergewaltigung zu rechtfertigen. Gleichzeitig wird durch die Anspielungen auf „Banditen“ und „Subversive“ deutlich, dass es sich bei der Truppe um Soldaten der kolumbianischen Armee oder um paramilitärische Söldner handeln muss, die sich auf der Jagd nach Guerilleros befinden. Wie schon in Canaguaro und Cóndores geht die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Pisingaña nicht von den linken Rebellen, sondern von staatlichen Einheiten oder rechtsgerichteten Todesschwadronen aus. Während Gracielas Hütte von einem Teil der Soldaten zerstört wird, wird das Mädchen von den übrigen unter Anfeuerungsrufen („Es ist genug für alle da!“529) auf einen Feldweg gezerrt (T). Ein Soldat stolpert, Graciela kann sich losreißen und flüchtet einen Hang hinauf. Die weite Panoramaeinstellung, die Pinzón zur Inszenierung der aussichtslosen Flucht wählt, hebt die Hilflosigkeit des Mädchens hervor, das als kleiner Punkt in der weiten Landschaft erscheint, gefolgt von zehn Soldaten, deren Abstand sich kontinuierlich verkürzt (W).530 Das Linienmuster, das sich auf dem Hang abzeichnet, erinnert entfernt an ein 523 | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 524 | Die einzige Ausnahme ist Fernando Vallejo, der seine Filme in Mexiko und ohne Unterstützung des kolumbianischen Staates gedreht hat. Vgl. Kapitel III.2.5.

525 | 33:45. 526 | 34:00. 527 | Orig.: „No me hagan este mal.“ 34:10. 528 | Orig.: „¡Aha! ¡Bonito banco de bandoleros!“ 34:20. 529 | Orig.: „Hay para todos.“ 34:36. 530 | 35:23.

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Spinnennetz und könnte als vorausgreifender Verweis auf das „Spinnenspiel“ (orig.: „Pisingaña“531) interpretiert werden, das Jorge erfindet, um Graciela die Angst vor seinen Berührungen zu nehmen. Der nächste Teil der Vergewaltigungssequenz zeigt, wie Graciela, die bereits am Boden liegt, von mehreren Soldaten geküsst und grob angefasst wird.532 Detail- und Groß­aufnahmen zeigen die Hände der Soldaten auf ihrer Brust und an ihrem Hals, Graciela kneift verzweifelt Augen und Mund zusammen (G).533 Der letzte Teil der Vergewaltigungssequenz schließt in der Montage an Jorges ersten Verführungs­versuch an.534 Wieder werden Nah- und Großaufnahmen eingesetzt, deren Fokus auf Gracielas Gesicht ruht, als sie von mehreren Soldaten vergewaltigt wird. Dabei wird ihr, in einer Detailaufnahme eingeblendet, der abgetrennte Kopf ihres Vaters vorgeführt, den ein Soldat in die Höhe hält.535 Der Gewaltakt, bei dem raptive und autotelische Gewalt536 auf grauenvolle Weise miteinander kombiniert werden, lässt sich aufgrund des Fehlens einer instrumentellen Funktion als Akt der Grausamkeit um ihrer selbst willen deuten. In Anbetracht der ritualhaften Strukturen der Gewalttat 537 könnte diese jedoch auch als symbolischer Akt gedeutet werden, mittels dessen die historische Bedeutung der Violencia in die Körper und Erinnerungen der Opfer eingeschrieben wird:538 Gracielas Vater wird noch über seinen Tod hinaus gedemütigt, indem er – symbolisch vertreten durch seinen abgetrennten Kopf – das Verbrechen an seiner Tochter im übertragenen Sinne mit ansehen muss; Graciela wird auf dem Höhepunkt ihrer Demütigung mit dem Anblick ihres zerstückelten Vaters konfrontiert, was einerseits ihr Grauen steigert und andererseits ihre Scham durch die Zeugenschaft des Vaters vergrößert. Die Gewalt an Graciela und ihrem Vater lässt sich aufgrund der arrangierten Symbolik als Teil einer langen Tradition der systematischen physischen und psychischen Erniedrigung und Zerstörung begreifen. Die Tat lässt keine politischen Hinter­gründe erkennen, ihr Zweck besteht in der Fortführung und Aufrechter­haltung der grausamen Tradition. 531 | Das Motiv der Spinne wird später im Film zu einer doppeldeutigen Metapher für sexuelle Gewalt einerseits und sexuelle Anziehungskraft andererseits: Graciela ist der Begierde der Männer ausgeliefert wie eine Mücke im Netz, andererseits vergleicht Jorge sie mit einer Spinne, da er sich ihren Reizen ebenso ausgeliefert fühlt. 532 | 39:00. 533 | 39:04. 534 | 53:38-54:03. 535 | 53:46. 536 | Vgl. Kapitel II.1.1.1. 537 | Die Ankündigung der Gewalt (Graciela wartet vergeblich auf ihren Vater), die Durchführung (der Mord am Vater bzw. die Vergewaltigung Gracielas) und die Nachbereitung (die Ausstellung der verstümmelten Leiche des Vaters). 538 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

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Suárez zufolge macht die Übergriffigkeit der Soldaten auf die Protagonistin auch nicht vor der Hauptdarstellerin, der zur Drehzeit erst zwölfjährigen Laienschauspielerin July Pedraza, halt, welche ihrer Zugehörigkeit zur kolumbianischen Unterschicht wegen ausgewählt worden sei539 und für die die Darstellung der groben Vergewaltigungsszenen eine „traumatische Situation, die sie mithilfe ihres Vaters meistern konnte“540, dargestellt habe. Pinzón bediene sich, so Suárez, eben jener ausbeuterischer und diskriminierender Strukturen, die er in seinem Film kritisiert, indem er Pisingaña auf Kosten des Scham­ gefühls eines jungen, unerfahrenen Mädchens aus der Unterschicht dreht.541 In semantischer Hinsicht ist die Fragmentierung der Vergewaltigungs­ sequenz in mehrere Teile von elementarer Bedeutung für den Film, denn die Bilder der Gewalt werden kontrastierend, meist durch schnelle, harte Schnitte von der Haupthandlung abgehoben, mit Szenen aus Jorges Alltag montiert: den oberflächlichen Tischgesprächen der Familie, dem rassistischen Diskurs der Großmutter, Jorges Koketterie mit der Sekretärin oder den sexistischen Dialogen der Mitglieder des „Frauenbeobachter-Clubs“. Ungeachtet der dramaturgischen Defizite des Drehbuchs542, die sich im Film in einem unregelmäßigen, sprunghaften Rhythmus bemerkbar machen, gelingt es Pinzón, durch die Montage einen kausalen Zusammenhang zwischen dem bewaffneten Konflikt auf dem Land und der subtileren, aber nicht minder grausamen Gewalt innerhalb der städtischen Mittel- und Oberschicht herzustellen und so eine indirekte, aber scharfe Gesellschaftskritik zu formulieren. David Wood bringt deren Kernaussage folgendermaßen auf den Punkt: „[…] die Gewalt ist ein grundlegender Bestandteil des Komforts der Mittelklasse: die physische Realität des Lands ist die psychische Realität der Stadt, wo die Opfer des ruralen Traumas zu Quellen des sexuellen und finanziellen Kapitals werden.“543 Durch die explizite Inszenierung der Vergewaltigung bricht Pinzón mit einem Tabu des kolumbianischen Kinos der frühen 1980er Jahre, in dem bis dato weder Nahaufnahmen von Nacktheit noch von Gewalt üblich sind. Wäh539 | Siehe Suárez 2009 (1), 81f. 540 | Orig.: „una situación traumática que su padre le ayudó a dominar“. Leopoldo Pinzón, zitiert in: Suárez 2009 (1), 82. 541  | Siehe Suárez 2009 (1), 82. 542 | Das Drehbuch stammt von Pinzóns Bruder Germán, der es in Anlehnung an seinen nadaistischen Roman El terremoto (dt.: „Das Erdbeben“) entwirft. Quelle: http://www.banrepcultural.org/ blaavirtual/literatura/oficio/oficio20.htm. Suárez kritisiert das Drehbuch vor allem wegen seiner Abschweifungen und der fehlenden Konzentration auf das Gewaltthema. Vgl. Suárez 2009 (1), 83. 543 | Orig.: „[…] la violencia es una parte constituyente del confort de la clase media: la realidad física del campo es la realidad síquica [sic] de la ciudad, donde las víctimas del trauma rural se convierten en las fuentes de capital sexual y financiero“. Wood 2009, 49. Zitiert in: Suárez 2009 (1), 84.

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rend die Vergewaltigungen in Canaguaro indirekt inszeniert sind – der Zuschauer hört die Schreie der Opfer im Off und kann die Schrecken in den Gesichtern der Umstehenden erahnen – ist die Mise en Scène in Pisingaña auf eine direkte Konfrontation und eine Einfühlung des Zuschauers ausgelegt. Dies wird durch die steigende Spannung in der Anfangssequenz eingeleitet, als Graciela von ihrem Vater vor möglichen Überfällen gewarnt wird und sich anschließend, allein zu Hause, beobachtet und verfolgt fühlt. Als Graciela ihren Vater tot auf seinem Esel auffindet, spitzt sich die Spannung zu und gipfelt schließlich in der Vergewaltigungssequenz, in der dem Zuschauer zusätzlich durch den Einsatz der Handkamera ein Gefühl des Dabeiseins suggeriert wird. Der Realismus der Verfolgungsszene durch die Soldaten wird jedoch durch den subtilen Einsatz von Horrorfilmelementen abgeschwächt, die die zunächst dokumentarisch anmutende Inszenierung des Landlebens, gleichzeitig mit dem Näherkommen der Soldaten, verfremden. Zu disharmonischen, unheimlichen Zupfgeräuschen einer Geige im off werden zunächst Aufnahmen der ländlichen Umgebung eingeblendet: Palmenblätter (D), gackernde Hühner (D), dann ein kurzer Zwischentitel („Pisingaña“) und schließlich ein schlafendes, weißes Huhn (D), vor dem mit Tarnhosen und Armeestiefeln (D) bekleidete Soldaten vorüberziehen.544 Plötzlich wird das Huhn von Schüssen zerfetzt (D).545 Der Zuschauer bringt das Unheil, das von der Ankunft der Soldaten ausgeht, unweigerlich mit der unheimlichen Klangcollage546 in Verbindung, die in der ländlichen Idylle ebenso deplatziert wirkt wie die Militär­ uniformen. Auch die Sequenz, in der Graciela am Fluss wäscht und sich zunehmend beobachtet fühlt,547 ähnelt einem Szenarium aus dem Horrofilm: mit weiten Aufnahmen aus der Vogelperspektive ahmt die Kamera den subjektiven Blick der Verfolger nach; ein unterdrückter Schrei schreckt Gracielas Hund auf; verzerrte Geigenklänge untermalen Detailaufnahmen von nicht identifizierbaren, im Wasser treibenden Objekten, die ein spezialisiertes Publikum mit dem Motiv der Flussleichen assoziieren könnte548. Unheimlich und schockierend zugleich wirkt die Szene, als Graciela ihren toten Vater findet:549 einer gespenstischen Erscheinung gleich steht sein Esel mit verbundenen Augen 544 | 00:25-01:00. 545 | 01:01-01:13. 546 | Die spezielle Tonuntermalung kehrt im Verlauf des Films leitmotivisch wieder, wenn Graciela akute Gefahr droht oder sie genötigt wird, das „Spinnenspiel“ zu spielen. Das Motiv der Spinne kann als klassisches Motiv des Schreckens angesehen werden, das in den 1970er und 1980er Jahren auch vom Horrorgenre aufgegriffen wird (z.B. in The Giant Spider Invasion. Bill Rebane, 1975, USA). 547 | 10:38-12:42. 548 | Vgl. Zuluaga 2011, 31ff. 549 | 17:48-18:27.

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vor Gracielas Hütte, der Vater sitzt regungslos, mit mehreren Kartoffelsäcken verhangen, im Sattel (HT). Das Mädchen nähert sich ängstlich, entfernt zögernd den Sack und schließlich den Hut des Vaters. Darunter kommt ein verkohlter Halsstumpf ohne Kopf zum Vorschein (D), auf der Tonebene wird der Schockmoment durch eine Steigerung von Tempo und Lautstärke verstärkt. Die Anlehnung der Filmsprache an Erzählkonventionen des Horrorfilms, auf die Pinzón hier zurückgreift, entspricht einem Trend der FOCINE-Ära. Neben Jairo Pinilla, dem Pionier des kolumbianischen Trash-Horrorfilms550, haben auch Luis Ospina und Carlos Mayolo vor Pinzón Horror- und Fantasyelemente als Metaphern für die Grauen der Violencia eingesetzt 551. Pinzón scheint ihre Werke in Pisingaña indirekt zu zitieren, auch wenn er im Genre dem sozialen Drama verpflichtet bleibt. Es kann festgehalten werden, dass sich Pisingaña einer klaren politischen Aussage verweigert. Auch wenn Enrique Pulecio dem Regisseur einen „gewissen Grad an Verbindlichkeit gegenüber der Idee, ein Kino mit sozialer Besorgnis zu verwirklichen, wo die Gewalt nicht mehr von den Parteien oder der Guerilla ausgeht“552, zuspricht, so fällt im Vergleich zu Canaguaro oder Cóndores auf, dass Pinzón zwar auf eine bestimmte geschichtliche Phase Bezug zu nehmen scheint – namentlich auf die Legislaturperiode der Regierung Turbay (1978-1982), während der der Staat nach dem Scheitern des Friedensdialogs eine militärische Lösung anstrebt –, seine Anspielungen jedoch nicht präzisiert und sich somit gegen den möglichen Vorwurf der Staatskritik absichert. Wie viele andere FOCINE-Regisseure könnte Pinzón diese Verschleierungstaktik angewandt haben, um seinen Film an der staatlichen Zensur vorbei in die Kinosäle zu schleusen.

III.2.4 „Caliwood“ und „Tropische Gotik“ – das Kino der Cali-Gruppe Was Luis Ospina und Carlos Mayolo von den meisten kolumbianischen Regisseuren unterscheidet, ist ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die das Filmund Kunstverständnis ihrer Mitglieder in kollektiver Weise geprägt hat: die sogenannte „Cali-Gruppe“553. Gegründet 1972 von Carlos Mayolo und Andrés Caicedo, einem talentierten jungen Schriftsteller, dessen Gesamtwerk erst nach seinem überraschenden Selbstmord im März 1977 zu internationaler 550 | Vgl. Kapitel I.2.3. 551  | Hierauf wird in Kapitel III.2.4. noch näher eingegangen. 552 | Orig.: „cierto grado de compromiso con la idea de realizar un cine con preocupaciones sociales, en donde la violencia ya no es partidista, ni guerrillera“. Pulecio 1999, 175.

553 | Orig.: „Grupo de Cali“.

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Berühmt­heit gelangt, wird die Gruppe schnell zum wichtigsten Treffpunkt für Intellektuelle, Künstler und Filmliebhaber aus dem politisch linksgerichteten Spektrum Calis. 1972 stößt Luis Ospina nach Abschluss seines Filmstudiums in Kalifornien zur Gruppe hinzu und gründet gemeinsam mit Andrés Caicedo, Ramiro Arbeláez und Hernando Guerrero den „Cineclub de Cali“554 (19721977), wo neben Filmklassikern insbesondere Grusel-, Horror- und Fantasyfilme zur Aufführung gebracht werden.555 Neben dem Filmclub betreibt die Cali-Gruppe die Produktionsfirma „Cine al ojo“556 und gibt von 1974 bis 1977 die auf Film­kritik spezialisierte Fachzeitschrift „Ojo al cine“557 heraus.558 Was den rebellischen Linksaktivisten Mayolo, den wortgewandten Intellektuellen Ospina und den schüchternen Poeten Caicedo559 im Geiste verbindet, ist zum einen ihre ausgeprägte Cinephilie und zum anderen ihr Bestreben, den Blick auf die gesellschaftliche und politische Realität ihres Landes durch eigenwillige filmische Annäherungen zu verändern. Auf der Suche nach einem „nicht dema­gogischen kolumbianischen Kino, […] das sich wie eine zweite Haut an die kolumbianische Realität anschmiegen sollte“560, einem in produktions­ technischer wie inhaltlicher Hinsicht marginalen Kino,561 einem Kino mit regionaler Identität, das ihrer Heimatstadt Cali mit ihrer mestizischen Kultur Tribut zollen sollte,562 entwerfen sie ein eigenes Filmgenre, die „Tropische Gotik“563, in dem die Gewalt und das feuchttropische Klima mit ihrem Lieblings­genre, dem Horrorfilm, fusionieren. Die Konzeption des Genres ist von der surrealistischen Kurzgeschichte La mansión de Araucaíma des kolumbianischen Schriftstellers Álvaro Mutis inspiriert, der dieser den Untertitel „gotische Erzählung im heißen Klima“564 gibt. Luis Buñuel, dem Mutis das Werk nach gemeinsamen Gesprächen über das Gotik-Genre widmet, lehnt eine Verfilmung jedoch ab, da eine gotische Handlung ein ebensolches Am554 | Dt.: „Filmclub von Cali“. 555 | Siehe Ospina L. 2005, 32. 556 | Dt.: „Film aufs Auge“. 557 | Dt.: „Ein Auge auf den Film“, umgangssprachlich auch „Aufgepasst, Kino!“. 558 | Siehe Mayolo 2008, 104. 559 | Charakterisierung nach Gómez 2007, 21. 560 | Orig.: „un cine colombiano no demagógico, [sino] que se adhiriera como una segunda piel a la realidad colombiana“. Mayolo 2008, 104. 561 | Siehe Interview mit Carlos Mayolo. In: Kinetoscopio, Vol. 13, Nr. 64, Medellín, 2003, 76-79. 562 | In Bezug auf die musikalische Tradition des Salsa, die eng mit der calenischen Kultur verwoben ist, wünscht sich Mayolo ein „fröhliches, mestizisches Kino, mit einem Takt aus Honig“ (orig.: „un cine alegre, mestizo, con cadencia de miel“). Mayolo 2008, 108. 563 | Orig.: „gótico tropical“. 564  | Orig.: „relato gótico de tierra caliente“. Zitiert in: Bustillo 1994, 142.

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biente voraussetze und eine Verlagerung in die Tropen undenkbar sei.565 Der Ablehnung durch den Meister des surrealistischen Kinos zum Trotz übernimmt Mayolo selbst die Verfilmung der gotisch-tropischen Erzählung: der Spielfilm La mansión de Araucaíma566 (1986, Kolumbien), der wie Mayolos Debüt Carne de tu carne von FOCINE produziert wird, ist sein zweiter und letzter Film, bevor sich der Regisseur, ebenso wie Ospina, wegen finanzieller Eng­ pässe vorläufig aus dem Spielfilm-Business zurückzieht 567. Trotz des raschen Zerfalls der Cali-Gruppe nach dem Tod Caicedos, der Auflösung des Filmclubs und der Kommune „Ciudad Solar“568, in der die Künstler gemeinsam lebten und arbeiteten, besteht kein Zweifel, dass die „Caliwood“-Regisseure, wie sie aufgrund der Beliebtheit und der Regionalität ihres Frühwerks bezeichnet werden, das kolumbianische Kino revolutioniert haben. Neben dem Bekenntnis zu den kulturellen Wurzeln ihrer Heimat 569 zeichnet sich das Kino der Cali-Gruppe durch seine Intertextualität aus, denn mittels inhaltlicher oder ästhetischer Zitate wird häufig Bezug zu anderen Filmen genommen.570 Aufgrund ihrer definierten Haltung zur kolumbianischen Geschichte und Politik sowie ihres innovativen Inszenierungsstils gelten Ospina und Mayolo als Pioniere des kolumbianischen Autorenfilms.571 Für Mayolo hängt die Akzentuierung des Visuellen in den Filmen Caliwoods mit historisch bedingten Veränderungen in den Sehgewohnheiten zusammen: „Wir sind eine Generation, die durch das Bild, nicht durch das Wort geformt wurde. Wir sind umgeben von Bildern, Werbesymbolen und Fernsehen aufgewachsen, und wir denken in Bildern.“572 Ospina sieht den Grund für den Erfolg der Cali-Gruppe, deren Mitglieder er wie folgt beschreibt, in den politischen Idealen der Epoche: „Ikonoklasten, Intellektuelle, ewig Heranwachsende, obsessive Filmliebhaber, beeinflusst vom Denken und den Utopien der sechziger Jahre. […] Lebend in der Orkanmündung, den zeitgenössischen Umwälzungen, aber 565 | Quelle: http://cvc.cervantes.es/lengua/thesaurus/pdf/49/TH_49_001_150_0.pdf 566 | Dt.: „Das Herrenhaus von Araucaíma“. 567 | Mayolo findet seinen weiteren Berufsweg beim Fernsehen, wo er insbesondere in Serien Regie führt; Ospina bleibt dem Film treu, auch wenn er sich nach der finanziellen Pleite von Pura Sangre vom Zelluloid verabschiedet und auf digitale Formate umsteigt. 568 | Dt.: „Sonnenstadt“. 569 | Auch in andere amerikanischen Staaten findet in den 70ern eine Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln statt, z.B. im US-amerikanischen Western, im indigenen Kino von Jorge Sanjinés (Bolivien) oder im brasilianischen Cinema Novo. Vgl. Mayolo 2008, 111. 570 | Vgl. Mayolo 2008, 104ff. 571  | Siehe Gómez 2007, 21. 572 | Orig.: „Somos una generación formada por la imagen, no por la palabra. Hemos crecido rodeados de imágenes, de símbolos publicitarios, de televisión, y pensamos en imágenes.“ Carlos Mayolo, zitiert in: Martínez Pardo 1978, 284.

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verloren, so wie alle, in einem Winkel der Dritten Welt.“573 Für Martínez Pardo heben sich die „Caliwood“-Regisseure insbesondere durch ihre Versiertheit auf dem Gebiet der theoretischen Reflexion von den anderen ab, da ihre Filme „[…] eine Position bezüglich des Verhältnisses Kino – Realität, eine beständige Reflexion darüber, was produziert wurde, und eine wohldefinierte Haltung gegenüber dem Zuschauer“574 kenntlich machten. Das Frühwerk Ospinas und Mayolos ist von enger Zusammenarbeit gekenn­ zeichnet: Während des Aufpreisgesetzes (1972-1982) dirigieren Ospina und Mayolo in Koregie die Kurzfilme Oiga Vea575 (1972), Cali, de Película576 (1973) und Agarrando Pueblo577 (1977), in denen ihre Freude an der Sozial­kritik, der Satire und an intertextuellen Querverweisen bereits erkennbar sind578. Auch wenn sie in ihren Langfilmdebüts nicht mehr gemeinsam Regie führen, weisen die Werke Parallelen auf: beide greifen auf ein reales mediales Ereignis zurück und verfremden dieses durch den Transfer auf das Horror-Genre579. Auch beim künstlerischen, technischen und darstellerischen Personal werden breite Überlappungen deutlich, zu denen auch die Auftritte der Regisseure in den Filmen zählen580. So können Pura sangre, Carne de tu carne und La mansión de Araucaíma, ihrer inhaltlichen, darstellerischen und ästhetischen Gemeinsam­ keiten wegen, als Trilogie der „Tropischen Gotik“ verstanden werden.

573 | „Iconoclastas, intelectuales, adolecentes perpetuos, cinéfilos obsesivos, influidos por el pensamiento y las utopías de la década del sesenta. […] Viviendo en el ojo de huracán, de las convulsiones contemporáneas, pero perdidos, como todos, en una esquina der Tercer Mundo.“ Ospina 2007. 574 | Orig.: „[…] una posición ante la relación cine-realidad, una reflexión continua sobre lo que se ha producido y una actitud definida ante el espectador“. Martínez Pardo 1978, 284. 575 | Dt.: „Hör mal, schau mal“. 576 | Dt.: „Cali beim Film“. 577 | The Vampires of Poverty. 578 | Vor allem Agarrando pueblo, eine Fake-Dokumentation über die visuelle Ausbeutung der „Dritten Welt“ durch voyeuristische Dokumentarfilme mit dem Ziel der Zurschau­ stellung von Armut in der „Ersten Welt“, ist wegweisend für Ospinas und Mayolos weitere Karriere. Für ihre zynisch-satirische Inszenierung eines Filmdrehs in Armuts­vierteln von Cali und Bogotá, in der sie selbst die voyeuristischen Ausbeuter verkörpern und die Mode der „Elendspornografie“ (orig.: „pornomiseria“) auf die Schippe nehmen, sind die Regisseure auch auf europäischen Festivals ausgezeichnet worden, z.B. in Bilbao (1978) und Oberhausen (1979). 579 | Pura sangre nimmt auf eine ungeklärte Mordserie in Cali Bezug, Carne de tu carne auf die sogenannte „Explosion von Cali“, die noch näher erläutert werden soll. 580 | Ospina spielt in Carne de tu carne einen Geist; Mayolo übernimmt die tragenden Rollen des Perfecto in Pura Sangre und des Ever in seinem eigenen Langfilmdebüt.

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Da sich Mayolos Carne de tu carne expliziter als die beiden anderen Filme auf die Violencia und den Zweiparteienkonflikt bezieht, soll er im folgenden Kapitel stellvertretend für die Strömung analysiert werden. Auf Pura sangre, der die Gewalt und Machtverhältnisse innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft im Rahmen einer modernen Vampirgeschichte behandelt, wird stellen­ weise vergleichend Bezug genommen, La mansión de Araucaíma wird hingegen aufgrund des weniger deutlichen Bezugs zum innerkolumbianischen Konflikt ausgeklammert.

III.2.4.1 Carne de tu carne (Flesh of Your Flesh. Carlos Mayolo, 1983, Kolumbien) In Carne de tu carne581 wird auf mehrere historische Ereignisse Bezug genommen, die für den Verlauf des innerkolumbianischen Konflikts von elementarer Bedeutung sind: die politische Violencia der 1950er Jahre, die Militär­diktatur von General Rojas Pinilla sowie der „Pakt von Benidorm“582, bei dem sich der Liberale Alberto Lleras Camargo und der Konservative Laureano Gómez gegen den Diktator verbünden und den Grundstein für die „Frente Nacional“ legen, unter der Liberale und Konservative das Land 16 Jahre lang abwechselnd regieren. Das zentrale geschichtliche Ereignis, das die Filmhandlung in Gang bringt, ist jedoch die im Kontext der Violencia weniger diskutierte „Explosion von Cali“583, bei der in den frühen Morgenstunden des 7. August 1956 mehrere mit Dynamit beladene Militärlastwagen im Zentrum der Pazifik­metropole explodieren, weite Teile der Innenstadt verwüsten und mehrere tausend Tote und Verletzte zurücklassen.584 Wie Mayolo in seiner post mortem veröffentlichten Autobiografie Mi vida de mi cine y mi televisión beschreibt, ist die Cali-­Explosion für ihn prägend gewesen, da sich in diesem Ereignis das politische Panorama seiner Kindheit – die Gewalt, das Chaos, die Undurchsichtigkeit der politischen Akteure und die Ohnmacht der staatlichen Sicherheitsorgane – manifestiere.585 María Inés Martínez zufolge, aus deren Feder der einzige einschlägige Artikel über die Darstellung der Violencia in Carne de tu carne stammt 586, kann die Explosion von Cali, die in der offiziellen Geschichtsschreibung überwiegend 581 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Proimagenes Colombia (Hg.): Carne de tu carne. Reihe: „Lo mejor del cine colombiano“. 582 | Orig.: „Pacto de Benidorm“, unterzeichnet am 24. Juli 1956 in Spanien. 583 | Orig.: „Explosión de Cali“. 584  | Siehe Ayala Diago 1999. 585 | Siehe Mayolo 2008, 43. 586 | Martínez, María Inés: Incesto, vampiros y animales: La Violencia colombiana en Carne de tu carne de Carlos Mayolo. In: Asociación de Colombianistas y Wabash College (Hg.): Revista de Estudios Colombianos: Número especial sobre cine colombiano. Nr. 33/34, 2009, 62-77.

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als tragischer Unfall dargestellt wird, sogar als Wendepunkt der Diktatur angesehen werden: diese gerät nämlich in eine tiefe Krise, als öffentliche Spekulationen über die Schuld an der Tragödie oppositionellen Politikern Anlass bieten, die Militärjunta anzuprangern und in der Bevölkerung für die Macht­ übernahme durch eine Zivilregierung zu werben587. Im Gegenzug wirft der Diktator der sich konstituierenden „Frente Nacional“, die ihm zufolge hinter dem Anschlag stecke, Sabotage vor.588 Mayolo nimmt das Ereignis einerseits zum Anlass, die Risse in der bürgerlichen Ordnung der calenischen Ober­ schicht, die seit Generationen unter Anwendung von Gewalt die Macht im Department Valle del Cauca auf sich konzentriert, aufzuzeigen, andererseits inszeniert er die Explosion als Ereignis, das in der Gesellschaft schlummernde böse Energien freisetzt, welche von den Protagonisten, den Halbgeschwistern Andrés Alfonso und Margaret, Besitz ergreifen und sie zur Weiterführung zweier fragwürdiger Familientraditionen bewegen – dem Geschwister­inzest und der Gewalt gegen die Landbevölkerung. Von Beginn des Filmes an wird das Verhältnis von Margaret, die mit ihrer Mutter Ana in den USA lebt und anlässlich des Begräbnisses ihrer verstorbenen Großmutter, María Josefa, nach Cali eingeflogen wird, und Andrés Alfonso, der bei seinem Vater Carlos (Santiago García), einem konservativen Großgrund­ besitzer, als Sprössling der calenischen Elite aufwächst, als Liebesbeziehung inszeniert: gleich nach Margarets Ankunft tanzen sie eng umschlungen zu Elvis Presleys „Love me tender“,589 Margaret tröstet ihren Bruder nach einem Streit mit seinem Vater, indem sie sich auf ihn setzt und kitzelt,590 und auch die Kindheitsaufnahmen aus dem privaten Filmarchiv der Familie Velasco,591 die anlässlich von María Josefas Testamentseröffnung vorgeführt werden, zeigen die Geschwister in verdächtiger Eintracht.592 Nach der Cali-Explosion, die auf die Nacht nach der Testamentsverlesung fällt und die Familie zur Flucht auf ihren Landsitz zwingt, steigert sich die erotische Spannung zwischen den 587  | Die Zielsetzung der Militärdiktatur – die Beendigung der Violencia und die Wieder­ einführung der staatlichen Ordnung durch eine Regierung der „harten Hand“ – sei angesichts der Katastrofe von Cali als gescheitert zu bewerten, so das Hauptargument der liberalen und konservativen Parteispitzen, die sich für die Absetzung des Diktators einsetzen. Siehe Martínez 2009, 65. 588 | Siehe Martínez 2009, 65. 589 | 12:48-13:00. Das Lied wird zum musikalischen Leitmotiv der Geschwisterliebe. 590 | 20:13-20:25. 591 | Typisch für das Kino der Cali-Gruppe ist die Thematisierung des Mediums Film im Film, hier durch die Super-8-Aufnahmen, die aus einem persönlichem Familienarchiv zu stammen scheinen. 592 | Z.B. 17:45-17:53.

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Geschwistern bis zum tatsächlichen Vollzug des Inzests, der ihr Abdriften in die Welt der Geister kennzeichnet und ihre Transformation in blutrünstige Zombies einleitet. Ihr Ausflug zum nahegelegenen Bauernhof „La Emma“, wo die Geschwister frisches Obst und Gemüse abholen sollen, wird zu einer Reise in die Geheimnisse ihrer Familie. Auf dem Weg zum Haus ihres Groß­onkels Enrique, den sie – seiner Ächtung durch die Familie zum Trotz – von La Emma aus besuchen, wird ihr allmähliches Austreten aus der ‚Zivilisation‘ und ihre Annäherung an die ‚Wildnis‘ deutlich. Auf eine traumähnliche Sequenz, in der sich Margaret und Andrés Alfonso auf einer Drehschaukel, die dem Zuschauer bereits aus den Aufnahmen aus dem Familienarchiv bekannt ist,593 zu einer im Off erklingenden klassischen Version von „Love me tender“ im Kreise drehen (HT),594 folgt eine Sequenz, die den Weg der Heran­wachsenden durch ein üppig bewachsenes Waldstück illustriert. Das Vordringen in die Natur wird dabei semantisch mit dem Voranschreiten der inzestuösen Liebes­ beziehung verknüpft: mit überdimensionalen Blättern umherwedelnd schlagen sich die Geschwister auf einem bewachsenen Trampelpfad durch den Wald, wobei sie gelegentlich tuschelnd und kichernd stehenbleiben.595 Margaret lässt sich kokettierend hinter einem Busch zum Urinieren nieder, während ihr Bruder, den sie gebeten hatte sich abzuwenden, sie heimlich beobachtet.596 Nach einem Bad in einem Bach zieht Margaret ihr nasses Hemd aus und bittet ihren Bruder, eine Spinne von ihrem nackten Rücken zu entfernen (HN).597 Zur Verdeutlichung von Andrés Alfonsos Begehren nimmt die Kamera beim Gang durch den Wald häufig seinen subjektiven Blick ein, der wiederholt an Margarets weiblichen Körperformen haften bleibt.598 Mithilfe der Sequenz, in der sich der Junge beim Brombeerpflücken an einer Dorne sticht und Margaret das Blut von seinem Finger ableckt,599 schafft Mayolo eine filmische Metapher, in der sich die Elemente Natur und Inzest semantisch mit der Metapher des Vampirismus verbinden, der auch in Ospinas Pura sangre von zentraler Bedeutung ist600: Das Bild, in dem sich der Brombeersaft an Margarets Lippen mit dem Blut ihres Halbbruders vermischt und sie beides in sich aufnimmt (N),601 symbolisiert sowohl den bevorstehenden Vollzug des Inzests (die Ver593 | 19:00-19:19. 594 | 30:40-31:35. 595 | 31:37-31:58. 596 | 32:00-32:31. 597 | 32:34-32:49. 598 | Z.B. 32:00-32:31. 599 | 32:50-33:11. 600 | Pura sangre ist eine moderne Adaption des Dracula-Mythos, wobei das Aussaugen des Blutes zur Metapher für die Ausbeutung der kolumbianischen Unterschicht wird.

601 | 32:59.

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mischung des ‚Familienblutes‘) als auch die Machtübernahme der ‚Natur‘ (des Triebes) über die ‚Zivilisation‘ (die Vernunft) und die bevorstehende Transformation der Protagonisten in blutdürstige Zombies. Der aufsteigende Nebel, den der nachfolgende Panoramaschwenk über die tropische Hügellandschaft zeigt und der das bislang sonnige Ambiente des Ausflugs abrupt verdüstert,602 kann als Vorausdeutung des Unheils interpretiert werden, das die Protagonisten im Haus ihres Großonkels ereilt. In der Figur des Großonkels Enrique, der sich selbst als „schwarzes Schaf der Familie“603 charakterisiert, werden die beiden zentralen Spannungsfelder des Films zusammengeführt: der Inzest und der Zweiparteienkonflikt, die beide – wie noch erläutert werden soll – zum Reichtum und Einfluss der Familie Velasco beigetragen haben. Wie der Zuschauer aus dem Gespräch der Geschwister mit Enrique folgern kann, hat dieser ebenfalls ein Verhältnis mit seiner Schwester, der unlängst verstorbenen María Josefa, gehabt. Als er von deren Tod erfährt, zitiert er unwissentlich ihre letzten Worte, welche sie zu Beginn des Films Andrés Alfonso im Sterbebett anvertraut hatte: „Fleisch meines Fleisches und Blut meines Blutes“604. In dem Maße, in dem die Geschwister hinter Enriques Geheimnis kommen, scheinen sie in die Rollen des Groß­ onkels und seiner verstorbenen Geliebten zu schlüpfen. Dies wird verbildlicht, als sie ihre nassen Klamotten ablegen und durch Kleidungsstücke aus Enriques Besitz ersetzen: Andrés Alfonso kleidet sich in Hemd und Hose des Großonkels, seine Schwester wählt ein weißes Rüschenkleid, das einst María Josefa gehört hat.605 Bevor sich Enrique – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Ruhe begibt und stirbt606, überlässt er den Geschwistern eine Truhe mit alten Fotos und Briefen, die „die ganze Wahrheit der Familie“607 enthalte. Als Andrés Alfonso darin einen Liebesbrief der Großtante an Enrique findet und ihn Margaret vorliest, wird die Parallele zwischen den Geschwisterbeziehungen offensichtlich: „Du warst nicht nur mein Bruder, sondern...“608. Dass Margaret ihren Bruder als Reaktion auf das Vorgetragene innig küsst, symbolisiert den Antritt des fragwürdigen Erbes. Der Inzest ist jedoch nicht das einzige Geheimnis der Familie Velasco, das Enrique vor seinem Tode lüftet. Seine Ächtung innerhalb der Familie, so er602 | 33:11-33:20. 603 | Orig.: „la oveja negra de la familia“. 39:10. 604  | Orig.: „Carne de mi carne y sangre de mi sangre“. 36:10-36:14. 605 | 36:23-38:06. 606 | Ein Selbstmord wird im Film angedeutet, da Enrique vor dem Zu-Bett-Gehen gehen eine Substanz aus einem Döschen inhaliert (41:50-41:55). Es könnte sich dabei aber auch um eine ungiftige Substanz handeln. 607 | Orig.: „toda la verdad de la familia“. 41:06-41:08. 608 | Orig.: „Tu no solamente has sido mi hermano, sino...“ 42:38-42:40.

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fährt der Zuschauer in einem Gespräch mit den Geschwistern, liegt nicht in seinem Verhältnis mit María Josefa begründet – die Inzesttradition scheint von den Familienmitgliedern nicht nur gebilligt, sondern sogar gefördert zu werden609 – sondern in seiner politischen Gesinnung: im Gegensatz zu den anderen Familien­mitgliedern, die den Konservativen (Carlos und Julia) bzw. den Liberalen (Ana) zugeordnet werden können, ist Enrique ein „Freidenker“610, der sich keiner der beiden Parteien verpflichtet fühlt. Aufgrund des Verdachts des Kommunismus, der gegen ihn gehegt wird, hatte man ihm einen Anschlag auf Andrés Alfonsos Vater Carlos in die Schuhe schieben wollen, der mithilfe bewaffneter Söldnertruppen, den „pájaros“611, die Landbevölkerung gewaltsam enteignete. María Josefa hatte Enrique daraufhin auf ihrem Hof versteckt und vor dem Tode bewahrt. Obwohl sich der Großonkel zu keiner Partei bekennt, wird anhand seiner wohlwollenden Beschreibung von Margarets Vater, dem US-­amerikanischen Industriellen Jaime, den er, im Gegensatz zu Carlos, der ein betrügerischer Weiberheld sei, als gewitzten Geschäftsmann mit liberalem Welt­bild charakterisiert,612 deutlich, welcher Seite er politisch nähersteht. Enriques Ächtung innerhalb der überwiegend konservativen Familie ist jedoch keine Strafe für diese Haltung, sondern dafür, dass er sich durch sein Frei­denker­tum dem Zweiparteienschema, und somit den Spielregeln der gesellschaftlichen und politischen Elite, entzieht. Er vertritt die Interessen des gemeinen Volkes, was von der Familie Velasco als Verrat an der Oberschicht aufgefasst wird. Martínez interpretiert Enriques Ausschluss aus dem Familienverbund folgerichtig als Sinnbild für den Ausschluss jeglicher oppositioneller Kräfte aus dem Macht­konglomerat der beiden großen Parteien während der „Frente Nacional“613. Im Gespräch über die Ursachen und Folgen der Cali-Explosion, das die Familie im Garten ihres Landsitzes in Erwartung des Abendessens führt,614 wird ihre gespaltene Haltung in Bezug auf das aktuelle politische Geschehen offenkundig. Neben der unterschiedlichen Parteienzugehörigkeit – Margarets Mutter Ana verficht eine liberale Weltanschauung, während ihre Schwester Julia und ihr Ex-Mann Carlos, die ein Verhältnis zu haben scheinen, mit der 609 | Der offenkundigen Anziehung zwischen Andrés Alfonso und Margaret wird an keiner Stelle entgegengewirkt. Die Familienarchiv-Aufnahmen zeigen sogar, wie die beiden Geschwister von einer Tante angehalten werden, sich zu küssen. 17:45-17:53. 610 | Orig.: „libre pensador“. 39:10-39:13. 611 | Wie in Cóndores no entierran todos los días handelt es sich bei den konservativen Todesschwadronen um die „pájaros“ (dt.: „Vögel“), eine lokale Söldnertruppe während der Violencia. 612 | 39:35-40:25. 613 | Siehe Martínez 2009, 73; vgl. Kapitel III.1.1. 614 | 43:02-50:02.

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konservativen Parteispitze verkehren615 – spiegeln auch ihre unterschiedlichen internationalen Vorbilder ihre politische Haltung wider: Anas Einstellung zu ihrem Heimatland, dem sie seit ihrer Emigration in die USA den Rücken zugekehrt hat, ist von Mitleid gegenüber der einfachen Bevölkerung und Verachtung gegenüber den Herrschenden geprägt. Im Gespräch über die Militär­ regierung, die von allen Familienmitgliedern gleichermaßen abgelehnt wird, und über die Cali-Exlosion, die Carlos staatsdienerisch als „Unfall“ abtut,616 kontert sie: „Das soll ein Unfall gewesen sein? Wie kommen die dazu, mit Dynamit beladene Lastwagen mitten in der Stadt abzustellen? So etwas darf hier nicht passieren. Angesichts dessen bin ich ziemlich froh darum, drüben zu leben.“617 Ihr Sohn, der ihrer zweiten Ehe mit Jaime entspringt und für dessen Rolle Mayolo einen Albino-Jungen gecastet hat, wohl um die weitgehende Abwesenheit von mestizischem Blut in diesem Charakter optisch hervorzuheben, lehnt – wie zur Bestätigung der Ablehnung der kolumbianischen Kultur durch seine Mutter – die von der dunkelhäutigen Haushälterin servierte haus­gemachte Limonade ab und bekommt stattdessen ein importiertes Erfrischungs­getränk.618 Der hier aufgeworfene Rassendiskurs, der sowohl in Carne de tu carne als auch in Pura Sangre mit der Blut-Metapher verbunden wird619, wird im letzten Drittel des Films wieder aufgegriffen, wenn die zu Zombies transformierten Halbgeschwister, als Vertreter ihres privilegierten Geschlechts, den mestizischen Bauern nach dem Leben trachten. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Weltanschauung der Familien­mitglieder werden noch deutlicher, als Benjamin (gespielt von Luis Ospinas Bruder Sebastián), der „Soldat in der Familie“620, in seinem US-amerikanischen Geländewagen vorfährt und seinen Verwandten als Gastgeschenk zwei Dosen mit importiertem Schmelzkäse überreicht, dessen Geschmack von 615 | Julia berichtet vom gemeinsamen Treffen mit Carlos und Laureano Gómez in Spanien. 47:58-48:00. 616 | 43:30-43:32. 617  | Orig.: „¿Cómo va a ser un accidente? ¿Cómo es que dejan esos camiones cargados de dinamita en medio de la ciudad? Eso no puede pasar aquí. En medio de todo, me siento muy tranquila allá.“ 43:33-43:45. 618 | 43:46-43:48. 619 | In Pura sangre wird das Leben eines alten, kranken Wirtschaftsmagnaten künstlich erhalten, indem er Konserven vom Blut junger Männer verabreicht bekommt, welche aus der Unterschicht rekrutiert und eigens zu diesem Zwecke von seinen Angestellten (darunter Mayolo) getötet werden. Auch hier müssen die Armen – in Pura sangre ausnahmslos Mestizen und Mulatten – mit ihrem Leben für das Wohl der Oligarchie bezahlen. 620 | Ana betont bei Benjamins Eintreffen, wie gut es doch sei, einen Soldaten in der Familie zu haben. Julia fügt in Anspielung auf Rojas Pinilla hinzu: „Ja. Aber nicht an der Macht.“ (orig.: „No hay como tener un militar en la familia.“ – „Sí. Pero no en el poder.“) 45:30-45:40.

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Ana hoch gelobt, von Julia und Carlos lediglich als „nicht schlecht“621 abgetan wird. Wie beiläufig erwähnt wird, entstammen die Dosen einer Hilfsgüter­ lieferung,622 was ihre Anwesenheit auf der fürstlich gedeckten Tafel noch grotesker erscheinen lässt. Anhand des politisch konnotierten Gesprächs über Käse – der spanische Manchego übertrifft nach Julias Meinung den Camembert und erst recht den amerikanischen Dosenkäse623 – wird deutlich, dass Julias Ideal nicht die USA, sondern das ‚Alte Europa‘ ist. Auch sympathisiert sie offen mit Francos Spanien, wo neben gutem Wein und Käse „Fortschritt und Ordnung“624 herrschten. Mayolo drückt seine persönliche Haltung zu diesem Diskurs sinnbildlich aus, indem er (in seiner Rolle als Ever im Hintergrund zu sehen) eine Mango schält (HN),625 die typische Frucht der Region und Grund­ nahrungsmittel vieler Kleinbauern. Er verweist so einerseits auf die regionale Identität der „caleños“626, andererseits kritisiert er indirekt jene „[…] ebenso wohlhabende wie sich vor ihren eigenen Lebensumständen fürchtende Gesellschafts­schicht, die sich ihrer kreolischen Wurzeln schämt und voller Vorurteile ist gegenüber jeglicher volkskultureller Ausdrucksform, die nicht die Herrschaftsmethoden aufrechterhält.“627 Wie wichtig die Zugehörigkeit zum Familienclan für die Identität seiner Mitglieder ist, wird anhand des Sprüchleins deutlich, dass die merklich beschwipste Julia am Ende der Sequenz aufsagt: „Bevor Gott Gott war und die Felsblöcke Felsblöcke waren die Quiróz schon Quiróz und die Velascos Velascos.“628

Für Julia ist der Name ihrer Familie das Maß aller Dinge. Sie definiert sich an oberster Stelle über ihren Familien-Clan, nicht über ihre Nationalität oder ihre Parteizugehörigkeit. Während sie die Verse zweimal rezitiert, werden eine 621  | Orig.: „No está mal.“ 47:37. 622 | 46:56-47:08. 623 | 48:10-48:25. 624 | Orig.: „progreso en orden“, eine Anspielung auf die auf „Fortschritt und Ordnung“ („orden y progreso“) ausgerichteten lateinamerikanischen Diktaturen.

625 | 48:42. 626 | Bewohner Calis. 627 | Orig.: „[…] clase social tan acaudalada como temerosa de su propia condición, avergonzada de sus raices criollas y llena de prejuicio ante cualquier expresión popular que no perpetuara los modos de dominación.“ Carlos Mayolo, zitiert in: Gómez 2007, 18. 628 | Orig.: „Antes que Dios fuera Dios / y los peñascos, peñascos / los Qiróz eran Quiróz / y los Velasco, Velasco.“ 49:26-49:39.

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Aufnahme des Albino-Jungen mit seiner Import-Limonade (HN) und eine der mestizischen Landarbeiter mit Pferden und Kühen (W) eingeblendet.629 Der darauf folgende Panorama-Shot auf den rötlich gefärbten Abendhimmel630 bekräftigt den Eindruck der Endgültigkeit der vom ersten Lebenstag an besiegelten Schicht- bzw. Clan-Zugehörigkeit. Wie Martínez in ihrem Artikel ausführt, ist der Inzest innerhalb der Familie Velasco ein fester Bestandteil ihrer Strategien zum Erhalt und zur Erweiterung ihrer Macht im Valle del Cauca.631 Als theoretische Grundlage ihrer These führt die Autorin Lévi-Strauss und das Inzestverbot an, das als eine der wichtigsten Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gilt: durch Eheschließung außerhalb der eigenen Familie werde der Austausch und die Verbindung zwischen unterschiedlichen Clans gewährleistet, was zu langfristigem Frieden und Wohlstand beitrage.632 Da die Familie Velasco durch den Inzest den symbolischen und materiellen Austausch mit anderen Familien verhindert, schadet sie, so Martínez, sich selbst und der ganzen Gesellschaft.633 Mit Foucault argumentierend, demzufolge sexuelle Beziehungen innerhalb der sie umgebenden Machtstrukturen analysiert werden müssen,634 folgert Martínez im Umkehrschluss, dass der Inzest mit der Idee zusammen­hänge, die Machtprivilegien der eigenen Familie durch claninterne Ehen zu stärken, was jedoch zur gesellschaftlichen Isolation der betreffenden Familien führe.635 Tatsächlich zeigen die Velascos den gesamten Film hindurch keinerlei Interesse am Austausch mit Personen außerhalb ihres Clans. Selbst nach der Cali-­ Explosion, einer kollektiv erfahrenen Katastrofe, die ihr Schicksal kurz­fristig mit dem ihrer Nachbarn verbindet, sind die Velascos nur um das Wohl ihrer eigenen Familienmitglieder besorgt und ziehen sich, kaum dass sie sich von deren Unversehrt­heit überzeugt haben, gemeinsam auf ihren Landsitz zurück, wo sie sich selbst mit Lebensmitteln versorgen und vom Rest der Welt unabhängig sind. Diese Interpretation der Bedeutung des Inzest in Carne de tu carne erscheint umso schlüssiger, vergegenwärtigt man sich die im Film angelegte enge Verbindung zwischen dem Inzest und der Violencia. Martínez führt in diesem Kontext René Girards These an, es bestehe ein kausaler Zusammen­hang zwischen Inzest und Gewalt in Gesellschaften.636 Die Autorin folgert daraus für den kolumbianischen Fall, der Konflikt dauere deshalb an, weil sich die 629 | 49:42-49:53. 630 | 50:00-50:02. 631 | Siehe Martínez 2009, 68ff. 632 | Vgl. Lévi-Strauss I968, 34ff. Zitiert in: Martínez 2009, 68. 633 | Siehe Martínez 2009, 68. 634 | Siehe Martínez 2009, 69. 635 | Siehe Martínez 2009, 69. 636 | Siehe Girard 1972, 265ff. Zitiert in: Martínez 2009, 68f.

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Klassen unfähig zeigten, untereinander Bündnisse einzugehen.637 Diese These lässt sich anhand vieler historischer Beispiele belegen, in denen die Oligarchie ein gewaltsames Vorgehen einem Dialog mit der Bevölkerung vorgezogen hat638. John King bringt den Aspekt folgendermaßen auf den Punkt: „In Carne de tu carne, incest between brothers symbolizes the solitude and the introspection of a class which survives through violence [...] and domination.“639 Wie sehr der Reichtum der Velascos auf Gewalt gründet, wird schon zu Beginn des Films unmissverständlich klar: Ever plündert gemeinsam mit einem Trupp bewaffneter Söldner eine indigene Grabstädte, aus der sie unter anderem Keramik und Goldschmuck bergen.640 Der Stacheldrahtzaun, den Ever um das Grundstück errichtet, markiert seinen Besitzanspruch auf die Beute. Im Hintergrund werden die Leichen der Bauernfamilie deutlich, denen die Parzelle gehört hat und die für die dort verborgenen Schätze ihr Leben lassen musste. Dass das Massaker im Kontext der politischen Violencia gelesen werden muss, wird deutlich, als Ever einen Truthahn aufgrund der Farben seiner Kopfhaut erschießt: „Ich konnte Truthähne noch nie leiden. Die Hälfte der Zeit sind sie blau. Die andere Hälfte rot. Ich habe ihnen immer misstraut.“641 Das Bild, wie Ever seinen Gewehrlauf über den Schnabel des Truthahns schiebt, abdrückt und den zweifarbigen Kopf zerfetzt (N),642 symbolisiert die Un­mög­lich­keit des Neben- oder Miteinanders der Liberalen (rot) und Konservativen (blau). Martínez zufolge kann diese Sequenz, in Anbetracht des historischen Moments der Filmhandlung, als klares Statement gegen die sich formierende „Frente Nacional“ und die Beendigung des Zweiparteienkonflikts interpretiert werden:643 Ever ist der Anführer einer Gruppe konservativer Todes­schwadronen, er schöpft seinen Lebensunterhalt und seinen Selbstwert aus der politischen Violencia. Eine Beendigung des Konflikts durch einen Friedensschluss zwischen den beiden Parteien erscheint ihm nicht nur unvorstellbar, sondern auch wenig erstrebenswert. Ohne die Gewalt wäre er ein einfacher Bauer, der sich seine Existenz mit harter Feldarbeit verdienen müsste. Die Macht über 637 | Martínez 2009, 69. 638 | Martínez beruft sich unter anderem auf Pécaut in Orden y violencia. Siehe Martínez 2009, 69.

639 | King 2000, 213. Zitiert in: Martínez 2009, 69. Anmerkung: Martínez zitiert aus der neu aufgelegten englischen Version des bereits in dieser Arbeit zitierten Werks El carrete mágico (King 1994). 640 | 01:50-05:55. 641 | Orig.: „Siempre me han caido gordo los pavos. La mitad del tiempo son azules. La otra mitad son rojos. Siempre he desconfiado de ellos.“ 04:39-04:50. 642 | 05:47. 643 | Siehe Martínez 2009, 74.

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seines­gleichen, die ihm durch seine Rolle als Anführer der „pájaros“ zuteil wird, erhebt ihn über die Kondition seiner Klasse: obwohl er selbst der Bauern­ schaft entspringt, richtet er im Auftrag der Oligarchie über deren Leben. In diesem Sinne bestärkt die Figur des Ever die These von Patiño Villa, die Violencia sei das wichtigste identitätsstiftende Element für Generationen von Kolumbianern gewesen.644 Bei Carlos, Evers Auftraggeber, verhält es sich anders. Für ihn ist die Gewalt fern und abstrakt. Er nimmt sie für den Einfluss und Reichtum seiner Familie in Kauf, möchte jedoch nicht direkt mit ihr konfrontiert werden. Als Ever in sein Büro kommt, wo bereits eine stattliche Sammlung von indigenen Kulturschätzen ausgestellt ist, und ihm die Beute sowie eine Dose mit den abgeschnittenen Ohren der getöteten Bauern als Beweis für die erfolgreiche Durchführung seines Auftrags überreicht, wendet sich Carlos angewidert ab und schimpft, man solle ihm solche Widerwärtigkeiten nicht ins Haus bringen.645 Carlos Identität, so lässt sich festhalten, speist sich nicht aus der Ausübung von personeller Gewalt, wohl aber aus dem Ruhm seiner Familie, für den er jene als Mittel zum Zweck in Kauf nimmt. Während die Erwachsenen auf dem Landgut über die politische Situation diskutieren und Ever ausgesandt wird, die Kinder zu suchen, geben sich diese in Enriques Haus weiter ihrer Liebe hin. Als sie zum ersten Mal miteinander schlafen, erwachen die Geister ihrer verstorbenen Ahnen zum Leben.646 Aufgeschreckt durch die erste Erscheinung – die der Leiche ihres toten Groß­ onkels, begleitet von dessen schallendem Gelächter (HT, Ton asynchron)647 – bricht Margaret den Liebesakt erschrocken ab und geleitet Andrés Alfonso in Enriques Schlafzimmer, wo sie dessen Tod feststellen.648 Als Margaret am Bett des Toten die Hand ihres Bruders fasst und ihn an sich ziehen will, wird ein Chor von betenden Stimmen hörbar.649 Zunächst über einen Reaction-Shot auf Andrés inszeniert (HN),650 der mit schreckgeweiteten Augen in die Wohn­ stube blickt, aus der die Stimmen kommen, werden im darauf­folgenden Bild im Gegenlicht die Umrisse der dort versammelten Ahnengeister erkennbar (T).651 Margaret tritt hinter ihren erschrockenen Bruder, zieht ihn an sich und küsst ihn unter Beobachtung der Ahnen leidenschaftlich (HN), was die644 | Vgl. Kapitel II.1.1.4. 645 | 06:56-07:28. 646 | Durch kurze, parallel montierte Einschübe unterbrochen, erstreckt sich diese Sequenz von 50:22 bis 57:38. 647 | 51:38. 648 | 52:16-52:35. 649 | 52:35. 650 | 52:36. 651  | 52:38.

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se, einzeln als Reaction-Shots (HN) eingeblendet und auf der Tonspur asynchron mit Gewimmer untermalt, mit ausdrucksloser Mine zur Kenntnis nehmen.652 Als die Geschwister sich unbehelligt weiterküssen, schlägt das Wimmern in Gelächter um, und anstatt der Ahnen sitzen plötzlich eine Gans, ein Schwein und ein Ziegenbock auf den Sitzgelegenheiten des Wohnzimmers (HT).653 Während Andrés Alfonso von Unbehagen überfallen wird, fühlt sich Margaret durch das gruselige Schauspiel angespornt und verführt ihren Bruder unter dem erregten Blick eines wiedergekehrten Ahnengeistes (gespielt von Luis Ospina).654 Das vom Inzest ausgelöste Erscheinen der Geister geht mit unheimlichen Vorgängen in den Häusern der ortsansässigen Bauern einher, was durch eine Parallelmontage vermittelt wird: das Ehepaar, das zur Instandhaltung von La Emma angestellt ist, wird nachts von unheimlichen Geräuschen aus dem Schlaf geschreckt und findet in einer von unsichtbarer Hand geschaukelten Babyhängematte eine schwarze Voodoopuppe;655 draußen öffnet sich das Hoftor von alleine und die Scheinwerfer des im Hof geparkten Autos leuchten auf, obwohl niemand im Fahrzeug zu sehen ist.656 Während die verängstigt wirkenden Kinder im Garten des Hauses ihr Erbe – Enriques alte Briefe – verbrennen, erscheinen abermals die Geister und versuchen, sie durch obszöne Gesten zur Weiterführung des Inzests zu bewegen.657 Dazwischen werden Detailaufnahmen der tropischen Vegetation aus ungewöhnlichen Kamera­perspektiven eingeblendet, die mal als Subjektive der Geister, mal als die der Geschwister gedeutet werden können.658 Margeret flüchtet ins Innere des Hauses, wo sie sich mit einer weißen Puppe unter einem Tisch versteckt und sie in den Armen wiegt659. Ihr Bruder, auf den ihre Besessenheit übergegangen zu sein scheint, erhängt die Puppe symbolisch an einem vom Tisch herunter baumelnden Seil, zerrt seine weinende Schwester unter dem Tisch hervor, legt sich auf sie und küsst sie in vampirischer Manier am Hals.660 Während er mit der teilnahmslosen Margaret schläft, erscheinen die Ahnen 652 | 53:00-53:20. 653 | 53:38. 654 | 53:44-53:50. 655 | 54:00-54:31. 656 | 54:32-54:52. 657 | 55:06-55:56. 658 | Eine Aufnahme zeigt die Geschwister aus der Vogelperspektive, im Vordergrund ist ein überdimensionales Blatt zu sehen, das die Kinder teilweise verdeckt (55:28); eine andere Aufnahme zeigt zwei überdimensionierte blaue Doldenblüten vor dem schwarzen Nachthimmel aus der Froschperspektive (55:36). 659 | Die Puppe könnte als Margarets Wunsch interpretiert werden, die Familien­t radition an ein eigenes Kind – die nächste Generation – weiterzugeben. 56:15. 660 | 56:20-57:07.

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und beobachten sie wohlwollend durch ein Giebelfenster.661 In der Geister-­ Sequenz wird besonders deutlich, was Mayolo unter „Tropischer Gotik“ versteht, denn die gruseligen Elemente der Gothic Novel, von der Carne de tu carne inspiriert ist662, verschmelzen mit dem tropischen Ambiente des Schau­ platzes ebenso wie mit den Riten der Landbevölkerung: der schwarzen Magie und dem Voodoo-Zauber. Folgt man Martínez These, dass Mayolo die gotisch-­ tropische Ästhetik nicht allein dazu verwendet, Horror beim Zuschauer zu erzeugen, sondern um mit ihrer Hilfe Kritik an der Violencia und insbesondere an der Rolle der kolumbianischen Oberschicht zu üben,663 dann erlangt die Geister-Sequenz zentrale Bedeutung für den Film: durch die Verknüpfung der Inzest-Metapher mit dem Aufkommen der übernatürlichen Bedrohung, die von der Transformation der Geschwister ausgeht, formuliert Mayolo die These, dass die Schrecken der Violencia auf das selbstsüchtige und abnormale Verhalten der Oberschicht gegenüber der restlichen Gesellschaft zurückzuführen sind. Weitere kritische Aussageabsichten Mayolos werden durch den Einsatz von surrealistischen Elementen in dieser Sequenz nahegelegt. Wie Martínez in Berufung auf eine Definition von Michel Carrouges664 hervorhebt, wird die surrealistische Ästhetik im Film häufig dazu genutzt, um durch eine bewusste Übertretung der gewohnten Wahrnehmungskoordinaten eine kritische Lesart des Gewöhnlichen zu ermöglichen.665 André Breton zufolge sollten die surrealistischen Bilder das Unterbewusste ins Bewusstsein rufen und Analogien zwischen verschiedenen Realitäten herstellen.666 In der Geister­sequenz in Carne de tu carne geschieht dies an mehreren Stellen: zunächst bei der Erscheinung der Ahnen im Wohnzimmer, wenn mittels des kontrastierenden Einsatzes von Bild und Ton ein surrealer Bruch in der Kontinuität der Film­ handlung erzeugt wird (die Gesichter der Geister sind starr und unbewegt, ihr Lachen und Raunen wird asynchron aus dem off eingespielt), dann bei den Detail­aufnahmen der tropischen Blätter und Blüten, wenn durch ungewöhnliche Kamera­perspektiven und -bewegungen sowie schnelle Wechsel des subjektiven Kamerablicks die Verlässlichkeit der räumlichen und personellen Orientierung der Protagonisten sowie des Zuschauers in Frage gestellt wird, und schließlich bei der Verwandlung der Ahnen in landwirtschaftliche Nutz­ tiere, deren Platzierung auf der Polstergarnitur des Wohnzimmers an Szenen 661 | 57:18-57:38. 662 | Nicht umsonst ist Carne de tu carne neben Roman Polanski auch Roger Corman gewidmet, der besonders für seine Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen bekannt geworden ist.

663 | Vgl. Martínez 2009, 72. 664  | Vgl. Carrouges, Michel (1950): André Breton et les données fondamentales du surréalisme. Zitiert in: Martínez 2009, 70f.

665 | Siehe Martínez 2009, 70f. 666 | Siehe Martínez 2009, 71.

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aus Buñuels L‘âge d‘or (1930, Frankreich) erinnert.667 Durch die Verbindung der surrealen Ästhetik mit tropischen Elementen einerseits (gemeint sind nicht nur die tropische Vegetation, sondern auch lokale kulturelle Riten wie der Voodoo-Kult) und gotischen Elementen andererseits (Enriques Haus ist voll von Kerzen, Masken, Flaschen, Truhen, Briefen, Fotos, Amuletts, etc.)668 schafft Mayolo eine kritische Ästhetik mit regionaler Identität, die die gewohnten Seh­ gewohnheiten des Zuschauers unterwandert und so zur Neubetrachtung der gesellschaftlichen Bedingungen des dargestellten historischen Moments beiträgt. Der weitere Verlauf der Filmhandlung kann anhand von analogen Symbolen und Metaphern interpretiert werden: nachdem die Ahnengeister – allen voran ein General mit einer rot-blauen Schärpe als Repräsentant des Zwei­ parteienmodells – die Fortführung der Familientradition durch die Geschwister abgesegnet haben, ist deren Transformation in blutrünstige Zombies vollzogen. Ihr erstes Opfer ist Ever, der nach den Kindern suchend auf der Veranda von Enriques Haus erscheint und von Margaret mit einem Gewehr erschossen wird.669 Margaret leckt das Blut von seiner Wunde und wird dann von Andrés Alfonso geküsst, sodass sich Evers Blut in ihre beiden Münder verteilt.670 Auf sinnbildlicher Ebene nehmen sie mit dem Blut des „pájaro“-Anführers die politische Violencia in sich auf. Evers Tod könnte, so Martínez, aber auch das Ende des Zweiparteienkonflikts symbolisieren, der von der „Frente Nacional“ als Ergebnis der „Inzucht“ der beiden Parteien abgelöst wird.671 Gegen Ende des Films, als sich die Zombie-Geschwister auf die Jagd nach den Bauern machen, nehmen auch die übernatürlichen Vorkommnisse auf deren Höfen überhand. Ein Baby verschwindet und wird nebst einer schwarzen Voodoo-Puppe auf einer Toilette wiedergefunden, Hühner sterben und Pflanzen vertrocknen unvermittelt. Interessanterweise verdächtigen die Bauern neben volksmythologischen Figuren auch die Guerilla: dadurch dass sie „die chusma“672 im selben Atemzug mit Zwergen und anderen Fabelwesen als mögliche Täter benennen,673 prangert Mayolo die abergläubische Haltung der kolumbianischen Landbevölkerung an, die der sachlichen Aufklärung von Gewaltverbrechen im Wege steht. Gleichzeitig wird deutlich, dass die liberale Guerilla, die sich angeblich für die Bauern einsetzt, paradoxerweise von diesen gefürchtet wird. Mayolo könnte damit auf die verfehlte Zielsetzung und die mangelnde Legitimierung der liberalen Guerilla aufmerksam machen wollen. 667 | Vgl. Martínez 2009, 72. 668 | Vgl. Martínez 2009, 71. 669 | 1:05:15-1:05:56. 670 | 1:06:33-1:07:28. 671 | Siehe Martínez 2009, 74. 672 | Umgangssprachlich für die liberale Guerilla. 673 | 1:08:59-1:10:11.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Es sei darauf hingewiesen, dass die einfache Landbevölkerung in Carne de tu carne im Vergleich zu den zuvor analysierten Filmen äußerst passiv gezeichnet ist. Selbst als Carlos am Ende des Films einen unschuldigen Bauern als Sünden­bock für das Verschwinden der Geschwister bestrafen will, was nur durch Anas Einschreiten verhindert wird, leistet sie keinen Widerstand.674 Im Sinne von Galtung oder Bourdieu könnte diese gefügige Haltung als Einverständnis der Untergebenen mit den Herrschaftsverhältnissen interpretiert werden.675 Mayolo scheint den Bauern durch seine Darstellung so eine Mitschuld an ihren Lebensbedingungen einzuräumen. Nachdem die Zombie-Geschwister ein neugeborenes Baby in ihre Gewalt gebracht haben und sich mit diesem in einem Gebüsch verstecken, werden sie von dem mit einer Hacke bewaffneten Vater aufgespürt und, wie eine darauf folgende Schwarzblende vermuten lässt, getötet.676 Die Schlusssequenz beginnt mit einer rückwärts abgespielten Aufnahme des Waldbodens (N), in der zu sehen ist, wie Rauch in das Erdloch hineinfließt, in dem die Geschwister begraben sind. Ein vorbeiziehender Bauer bemerkt dies, steckt seine Machete neben das Erdloch in den Boden (D) und spricht: „Das hier sieht nicht nach einer Grabstätte aus.“677 Aus seinem Radio, das er ebenfalls neben dem Erdloch abstellt, ertönt ein Bericht über die Massenbestattung der Opfer der Cali-­Explosion.678 Als der Radiosprecher in Anspielung auf die sich formierende „Frente Nacional“ darauf hinweist, dass aus der kollektiven Anstrengung des Begräbnisses auch die Hoffnung darauf spreche, dass bald Frieden und Gerechtigkeit regieren würden, reckt sich eine blutige Hand aus dem Grab, ergreift den Arm des Bauern und versucht, diesen hinabzuziehen (D). Der Bauer entkommt, doch aus dem mit Farnen behangenen Grab erheben sich die Zombies (HN). Die letzte Einstellung des Films679 zeigt die zerlumpten und verdreckten Geschwister (Hinteransicht) vor der Kulisse der hügeligen Land­ schaft. Auf einer kleinen Anhöhe verweilend, blicken sie der untergehenden Sonne entgegen, während Nebelschwaden aufsteigen (T). Die symbolische Bedeutung des Schlussbilds ist relativ eindeutig: die Geschwister stehen für die Violencia, die durch die Beendigung des Zweiparteienkonflikts, auf die im Radio angespielt und die durch das Bild der niedergelegten Machete symbolisiert wird, offiziell ihr Ende findet. Mit der Tatsache, dass sie zu Untoten geworden sind, die jederzeit aufstehen und erneut zuschlagen können, drückt 674 | 1:19:34-1:21:40. 675 | Vgl. Kapitel II.1.1.1. 676 | 1:16:08-1:17:34. 677  | Orig.: „Esto no parece una guaca.“ 1:22:26-1:22:28. 678 | 1:22:46-1:23:20. 679 | 1:24:03-1:24:26.

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Mayolo seine Überzeugung aus, dass die Gewalt über die „Frente Nacional“ hinaus weiterleben wird: „Am Ende verbleiben die beiden blutrünstigen Liebenden aufrecht vor ihrem Grabe stehen und blicken ins Unendliche. Im Nebel verbirgt sich eine Bösartigkeit, die bis in unsere Tage reicht. Sie leben.“680

III.2.5 E xkurs: Das E xil-Kino von Fernando Vallejo Fernando Vallejo, der in erster Linie für seine Romane bekannt geworden ist, ist gebürtiger Kolumbianer und emigriert aus persönlicher Überzeugung im Jahre 1971 nach Mexiko City, wo er bis heute lebt. 2007 erhält er die mexikanische Staatsbürgerschaft und legt noch im selben Jahr die kolumbianische ab. Seine Begründung für diese Entscheidung zeugt von derselben verächtlichen Haltung gegenüber seinem Geburtsland, die auch aus seinen literarischen und filmischen Werken spricht, die fast ausnahmslos in seinem freiwilligen Exil verfasst bzw. produziert worden sind: „Seit meiner Kindheit weiß ich, dass Kolumbien ein mörderisches Land ist, das mörderischste der Welt, das Jahr für Jahr unangefochten die Statistiken der Schändlichkeit anführt. Später habe ich durch eigene Erfahrung begriffen, dass es außer mörderisch auch rücksichtslos und kleinlich ist. Und als Uribe wiedergewählt wurde, habe ich entdeckt, dass es ein dummes Land ist. Daraufhin habe ich einen Antrag auf Einbürgerung in Mexiko gestellt, der letzte Woche bewilligt wurde. Damit nun ein für allemal klar sei: dieses schlechte Heimatland ist nicht mehr meins, und ich will nichts mehr von ihm wissen. Die mir verbleibende Zeit möchte ich in Mexiko leben, und hier gedenke ich zu sterben.“681

Die Kritik des bekennenden Homosexuellen aus der Medellíner Ober­ schicht richtet sich auf die katholische Kirche, auf die von dieser vertretenen Moralvorstellungen und insbesondere auf die korrupte kolumbianische Poli680 | Orig.: „Al final, quedan los dos amantes sanguinarios erguidos en frente de su tumba, mirando al infinito. Entre la niebla, se oculta una maldad, que llega hasta nustros dias. Están vivos.“ Mayolo 2008, 128. 681 | Orig.: „Desde niño sabía que Colombia era un país asesino, el más asesino de la tierra, encabezando año tras año, imbatible, las estadísticas de la infamia. Después, por experiencia propia, fui entendiendo que además de asesino era atropellador y mezquino. Y cuando reeligieron a Uribe descubrí que era un país imbécil. Entonces solicité mi nacionalización en México, que me dieron la semana pasada. Así que quede claro: esa mala patria de Colombia ya no es la mía y no quiero volver a saber de ella. Lo que me reste de vida lo quiero vivir en México y aquí me pienso morir.“ Zitiert aus Vallejos Abschiedsansprache an Kolumbien, veröffentlicht bei Caracol Radio am 07.05.2007. Quelle: http://www.caracol.com.co/noticias/ actualidad/el-escritor-fernando-vallejo-renuncia-a-la-nacionalidad-colombiana/20070507/ nota/423741.aspx

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

tik. Vallejo, der außer Cineast, Roman- und Drehbuchautor auch Literatur­ wissenschaftler und Pianist ist, hat wegen provokanter Thesen und Diskurse während seiner gesamten Lauf bahn für Aufsehen gesorgt. Empörung ruft beispielsweise seine Kampagne gegen die menschliche Fortpflanzung hervor, welche er als unverantwortlich ablehnt und der er offen mit Hass und Verachtung entgegentritt.682 Für seine Kritik am kolumbianischen Staat und an dessen umfassender Verbrechen an der kolumbianischen Bevölkerung ist er vielfach ausgezeichnet worden.683 Das filmische Gesamtwerk Vallejos, welches seinem literarischen Werk vorausgeht, besteht aus zwei Kurzfilmen aus den späten 1960er Jahren684 sowie drei Langspielfilmen, die zwischen 1979 und 1982 in Mexiko gedreht und produziert wurden685. Enttäuscht von den begrenzten Möglichkeiten dieses Mediums, welches er heute auch wegen seiner aufwendigen Finanzierung verabscheut,686 wendet er sich nach der Fertigstellung von En la tormenta vom Film ab. In seiner berühmten Abrechnung mit dem Kino wird der polemische Unterton deutlich, der bezeichnend für Vallejos Diskurse ist: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Kino […] ein künstliches, verlogenes Genre ist, verdammt zum Altern mit dem traurigsten aller Lebensabende, und zum Verschwinden.“687 Vallejos Filme sind im Gegensatz zu seinen schriftstellerischen Werken weitgehend unbekannt geblieben. Verlogenheit kann ihnen jedoch schwerlich unterstellt werden: in der kolumbianischen Filmgeschichte gibt es kein Werk, das annähernd so radikal und unbeschönigend die Gewalt während der politischen Violencia darstellt. Es liegt auf der Hand, dass eben diese Unver­ blümtheit zur Zensur von Vallejos Filmen in Kolumbien geführt hat. Juana Suárez zufolge wurden die Filme vom damals zuständigen Kommunikations­ ministerium aufgrund einer Tendenz zur Gewaltverherrlichung verboten.688 Die Zensur der Filme ist der Hauptgrund dafür, dass sie von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden sind. Erst seit ihrer Einbeziehung in wissen682 | Vallejo hasst selbst seine eigenen Eltern für das „Verbrechen“, sich fortgepflanzt zu haben. Siehe Astutti 2003, 4. 683 | Den Höhepunkt der Ehrungen stellt der von der Universidad Nacional de Colombia verliehene Ehren-Doktortitel „Honoris Causa“, am 24. September 2009 in Bogotá, dar. 684  | Un hombre y un pueblo (dt.: „Ein Mann und ein Volk“, 1968) und Una via hacía e desarrollo (dt.: „Ein Weg hin zur Entwicklung“, 1969). 685 | Crónica Roja (1979), Barrio de campeones (1981) und En la tormenta (1982). 686 | Siehe Súarez 2009 (1), 67. 687  | Orig.: „He llegado a la conclusión de que el cine […] es un género artificioso, mentiroso, condenado a envejecer con la vejez más triste y a desaparecer.“ Quelle: http://www.frasecelebre. net/Frases_De_Cine_De_Fernando_Vallejo/he_llegado_a_la_conclusion_de_que_el_cine_ es_como_la.html, konsultiert am 08.03.2013 688 | Siehe Suárez 2009 (1), 67.

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schaftliche Artikel über die filmische Verarbeitung der Violencia, z.B. in Cine y violencia en Colombia von Enrique Pulecio (1999) oder in Cine y Violencia en Colombia: claves para la construcción de un discurso fílmico von Juana Suárez (2007), erfreuen sich Vallejos Filme in Expertenkreisen wachsender Bekanntheit. Im Gegensatz zu Vallejo selbst, der nicht nur sein eigenes filmisches Werk, sondern das kolumbianische Kino in seiner Gesamtheit verurteilt689, ist die kolumbianische Filmkritik seinen Filmen sehr wohlgesonnen: Pulecio bezeichnet En la tormenta als „einen ebenso entmutigenden wie bewegenden Film“690, als „einen der bedeutendsten Beiträge zum Kino über die Violencia, wegen der Funktionsweise seines thematischen Diskurses auf expressiver und politischer Ebene“691. Suárez klassifiziert En la tormenta und Crónica roja als „zwei der visuell stärksten und außerdem extrem grafischen Darstellungen der blutigen Geschichte der Violencia“692 . Beide Autoren sind sich darüber einig, dass die Tatsache, dass die Filme mit mexikanischen Schauspielern gedreht wurden, deren Herkunft sich eindeutig im Dialekt niederschlägt, der Darstellung nichts von ihrer Glaubwürdigkeit nehme, da Vallejos fundierte Kenntnis der behandelten Epoche aus den Dialogen spreche.693 Im Folgenden soll anhand der Analyse von En la tormenta erläutert werden, wie es Vallejo gelingt, den „thematischen Diskurs“, von dem Pulecio spricht, mit jener „visuellen Stärke“ umzusetzen, die Suárez als innovatives Element seines Inszenierungs-­ stils hervorhebt.

689 | Juana Suárez zitiert aus Vallejos Roman Años de indulgencia (1989), in dem er seine Beziehung zum kolumbianischen Kino folgendermaßen beschreibt: „Die Geschichte des kolumbianischen Kinos ist ein großes Fiasko, ein unermessliches Fiasko vor mir und ein unermessliches Fiasko nach mir. Ich stehe, sie teilend, in ihrer Mitte.“ (Orig.: „La historia del cine colombiano es un gran fracaso, un inmenso fracaso antes de mí y un inmenso fracaso después de mí. Yo estoy en el medio de ella, dividiéndola.“) Fernando Vallejo, zitiert in: Suárez 2009 (1), 67. 690 | Orig.: „una película tan desoladora como conmovedora“. Pulecio 1999, 161. 691 | Orig.: „uno de los aportes más significativos al cine de la violencia por la manera como funciona su discurso temático a nivel expresivo y político“. Pulecio 1999, 161. 692 | Orig.: „dos de las representaciones visuales más intensas, por demás extremadamente gráficas de la sangrienta historia de La Violencia“. Suárez 2009 (1), 68. 693 | Vgl. Suárez 2009 (1), 68; Pulecio 1999, 162.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

III.2.5.1 En la tormenta (dt.: „Im Unwetter“. Fernando Vallejo, 1982, Mexiko) Wie in keinem anderen Film wird in En la tormenta 694 der politische Diskurs der beiden streitenden Parteien aufgerollt. Dies geschieht vordergründig anhand der Dialoge der Fahrgäste eines Überlandbusses, der von Ibagué über Cajamarca nach Calarcá unterwegs ist. Die beiden Initiatoren der Konversation, Don Bernardo, der Vorsitzende der Liberalen in Calarcá, und sein Freund Don Martín, ein überzeugter Konservativer, unterhalten sich während der Fahrt über ihre politischen Überzeugungen. Dabei werden unterschiedliche Konzepte über die Bedeutung der Parteienzugehörigkeit sowie über die Inhalte der jeweiligen Politik offenbar. Noch bevor sie in den Bus einsteigen, stellt Don Bernardo die These auf, die Affinität zu einer der beiden Parteien trage man im Blut: die einen hätten lauwarmes Blut und seien daher liberal, die anderen hätten dünnflüssiges, heißes Blut und seien deshalb konservativ. Er beschuldige niemanden wegen seiner politischen Gesinnung, denn die Parteien­zugehörigkeit sei Schicksal.695 Don Martín belächelt diese Einschätzung und tut sie als Theorie des Determinismus ab.696 Der Liberale kontert, indem er sich selbst als Mensch des Fortschritts mit ehrlichen, gesunden Moralvorstellungen im Kontrast zum überholten Weltbild der Konservativen charakterisiert: „Ich frequentiere weder Kirchen noch Bordelle: ich bin ein gesunder Mensch.“697 Der Konservative, der insgesamt zurückhaltender als der von Revolutions­gedanken beflügelte Liberale agiert, wirft der liberalen Partei Regierungsunfähigkeit vor: die Konservativen hätten die „Liberale Republik“ abgelöst, da während dieser jegliche staatliche Autorität verlorengegangen sei.698 Mit Berufung auf die Verfassung versuche die konservative Regierung nun, die durch die „Revolución en marcha“699 aufgeworfenen Reformversuche, insbesondere das „Monster der Agrarreform“700, zum Wohle der Nation wieder rückgängig zu machen. Der Liberale hingegen wirft den Konservativen vor, gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu regieren.701 In der politischen Diskussion zwischen Martín und Bernardo werden einerseits die Positionen und Zielsetzungen der beiden Parteien deutlich, andererseits auch deren Vorurteile. Im Verlauf ihrer Unterhaltung, während der 694 | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Originalfassung. Dieser Film ist nicht im kommerziellen Handel verfügbar. 695 | 04:00-04:15. 696 | 04:20-04:24. 697 | Orig.: „No frecuento ni iglesias ni burdeles: soy gente sana.“ 04:50-04:56. 698 | 30:38-30:48. 699 | Vgl. Kapitel III.1.1. 700 | Orig.: „monstruo de la reforma agraria“. 33:12-33:14. 701 | 12.59-13:01.

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sie sich systematisch betrinken, tritt die Ambivalenz ihres Verhältnisses immer klarer zu Tage: einerseits sind sie Freunde und Nachbarn, deren Umgang von Kameradschaftlichkeit geprägt ist, andererseits zeigen die gegenseitigen Anschuldigungen und insbesondere ihr Hohn702 ihre politische Gegnerschaft. Während der Dialog der beiden Parteianhänger den Zuschauer über Aspekte des politischen Diskurses informiert, dienen die Anekdoten der übrigen Reisenden dazu, das Ausmaß der politischen Gewalt in der Region zu veranschaulichen sowie die Haltung der betroffenen Landbevölkerung aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang stellt Vallejo die Kinder in den Mittelpunkt. In spielerischer Weise unterhalten sie sich z.B. über enthauptete Leichen, die nahe Cajamarca im Fluss gefunden wurden.703 Durch ihr differenziertes Wissen über die Tötungspraktiken der jeweiligen Parteianhänger – die Konservativen würden enthauptet, den Liberalen würde die Zunge herausgeschnitten – wird deutlich, wie sehr die Gewalt bereits in den Alltag der Zivilbevölkerung vorgedrungen ist.704 Durch die Figuren von Doña Antonia und ihrer Haus­ angestellten Ana werden weitere Positionen zum politischen Konflikt etabliert. Ana ist Opfer eines Anschlags der Liberalen geworden, bei dem ihr Mann ums Leben gekommen ist. Sie hat alles verloren und fühlt sich von der Gesellschaft im Stich gelassen.705 Ihr Hass gegenüber den Liberalen geht so weit, dass sie längere Wege und höhere Preise in Kauf nimmt, um ihre Einkäufe im Geschäft eines Konservativen erledigen zu können.706 Anhand von Anas Haltung wird der Mechanismus der Verallgemeinerung offenbar, der zur Spaltung der Bevölkerung in zwei Lager geführt hat: den Hass, den sie den Mördern ihres Mannes entgegenbringt, überträgt sie pauschal auf alle Liberalen. Doña Antonia vertritt hingegen, ähnlich wie Don Bernardo und Don Martín, eine gemäßigtere Position. Sie gehört der konservativen Partei an, unterscheidet jedoch zwischen Persönlichem und Politischem. Im Streit mit ihrer Angestellten, welche gehässig die These aufstellt, Christus sei von Liberalen getötet 702 | Als Bernardo stolz verkündet, bei der nächsten Wahl käme seine Partei auf 5.000 Stimmen in Calarcá, erwidert Martín belustigt, dass die Liberalen dazu die Toten wieder zum Leben erwecken und zur Wahlurne führen müssten, aber selbst dazu sei diese wundervolle Partei fähig (11:50-12:05). Mit schwarzem Humor spielt er so auf die konservativen Massaker an, die die Zahl der Liberalen dezimiert haben, andererseits unterstellt er indirekt einen Wahlbetrug der Liberalen. 703 | 03:33-03:35. 704 | 09:03-09:30. 705 | Als die Männer anzügliche Witze über Ana machen, erzählt diese aufgebracht von ihrem Schicksal, der Violencia und dem Tod ihres Mannes. Sie schließt mit den Worten: „Aber das ist ja egal.“ (orig.: „Pero esto no importa.“) Auf diese Weise kritisiert sie die fehlende Hilfestellung von Seiten des Staates und ihrer Mitmenschen. 07:02-07:15. 706 | 15:37-15:55.

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worden, antwortet Antonia vehement: „Christus ist für alle gestorben, für Liberale und Konservative gleichermaßen.“707 Auch nimmt sie einen Schnaps von Don Bernardo an, wofür sie von Ana scharf verurteilt wird.708 Des Weiteren wird ein konservatives Ehepaar mit neun Kindern vorgestellt, das sich mehrfach in die Gespräche einklinkt, um seine Besorgnis über die Zunahme liberaler Massaker in der Region zum Ausdruck zu bringen. In Anbetracht der Berichte anderer Reisender, die von gezielten Morden an konservativen Klein­ bauern gehört haben, schlägt die besorgte Ehefrau und Mutter vor, nach Caldas auszuwandern, wo die Konservativen noch in der Überzahl seien.709 Ihr Ehe­ mann stimmt ihr erleichtert zu. Er wird jedoch von einem fremden Mitreisenden, der sich als Unternehmer und Vater von neun Kindern vorstellt, eines besseren belehrt: „Nein, mein Freund. Die Konservativen bestimmen nicht mehr im Bundesstaat Caldas. […] Aber ich verstehe nichts von Politik. Ich habe nichts gesagt.“710 Mit der Figur des Unternehmers, der immer wieder Informationen einstreut, ohne sich politisch klar zu positionieren, schleust Vallejo eine undurchsichtige, unberechenbare Variable in das Gefüge der übrigen Reisenden ein, welche sich untereinander kennen. Ihr Verhalten gegenüber dem Unbekannten, der sich insbesondere den Kindern zuwendet, schwankt demzufolge zwischen Kameradschaftlichkeit und Misstrauen. Bis zum Ende des Films bleibt seine Mission undurchsichtig und sein Agieren ambivalent. Bei einer Kontrolle des Busses durch die Militärpolizei wird bei ihm eine Waffe gefunden, was ihn gefährlich erscheinen lässt, beim anschließend stattfindenden Angriff der liberalen Guerilla auf den Bus wird er jedoch als erster getötet. Auf die Frage der Banditen, welcher Politik er angehöre, antwortet er ausweichend, seine einzige Politik seien seine Frau und seine neun Kinder. Daraufhin wird er unter schallendem Gelächter mit den Worten „einer weniger zu ernähren“711 erschossen. Wie in Esta fue mi vereda müssen nicht nur gegnerische Partei­ anhänger sterben, sondern auch solche, die sich nicht eindeutig positionieren. Neben der Perspektive der von der Gewalt betroffenen Zivilbevölkerung stellt Vallejo in En la tormenta auch die Sicht derer dar, die die Gewalt ausüben. In Form einer Parallelmontage, die sich durch den ganzen Film zieht, werden weitere, zunächst voneinander unabhängig erscheinende Handlungs­stränge aufgebaut, die mit den Sequenzen im Inneren des Busses montiert werden.

707 | Orig.: „Cristo murió por todos, liberales y conservadores por igual.“ 17:02-17:05. 708 | 21:48-22:29. 709 | 38:12-38:19. 710  | Orig.: „No amigo. Ya los conservadores no mandan en el departamento de Caldas. […] Pero yo no sé de políticas. No he dicho nada.“ 38:20-38:32. 711  | Orig.: „uno menos para alimentar“. 1:05:48-1:06:36.

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Zunächst wird Pedro Rubiano712 alias „Pajarito“713 als Figur eingeführt, die neben Bernardo und Martín als Hauptfigur angesehen werden kann714. Bereits bei seiner ersten Erscheinung wird seine Zugehörigkeit zur Front der Liberalen vermittelt und ein direkter Bezug zur Geschichte hergestellt: Pajarito betrachtet gemeinsam mit einem Freund ein Plakat, auf dem unterschiedlich hohe Kopfgelder für die Anführer der bewaffneten Gruppen aufgeführt werden.715 Die Namen der Gesuchten sind Pseudonyme berühmter Banditen während der Violencia. Ganz oben auf der Liste steht der Liberale „Sangre Negra“716, auf den 100.000 Pesos ausgesetzt sind, für den Kopf des Konservativen „Melco“ werden nur 35.000 geboten. Pajaritos Freund zeigt sich über die Ungleichheit entrüstet: „Wir werden diskriminiert!“717 Pajarito erwidert jedoch: „Ganz im Gegenteil, mein Bruder. Es ist eine Ehre, eine Anerkennung der liberalen Partei.“718 Sie treten in eine Bar ein. Zwei Männer erheben sich von ihren Stühlen, und einer sagt anerkennend: „Sie sind also der sogenannte ‚Pajarito‘“.719 Die ehrfürchtige Haltung, die Pajarito den Männern entgegenbringt, lässt vermuten, dass es sich um Anführer der liberalen Guerilla handelt. Die Beweggründe für den Eintritt Pajaritos in die liberale Guerilla werden kurz darauf offengelegt: Mittels eines Flashbacks erfährt der Zuschauer, dass Pajarito in seiner Kindheit Opfer eines bewaffneten Überfalls der Konservativen geworden ist.720 Aus mehreren Rückblenden, die in ihrer Länge variieren und im Verlauf des Films in die Handlung eingestreut werden, lassen sich die traumatischen Ereignisse, die Pajarito erinnert, wie folgt rekonstruieren 721: 712 | Zunächst wird Pajarito als Pedro Rubiano vorgestellt, später identifiziert ihn ein ehemaliger Nachbar als Manuel Castañera. Warum Pseudonyme so wichtig für die Banditen sind, erklärt einer der Anführer der liberalen Guerilla wie folgt: „Mit den Namen ist es wie mit der dreckigen Wäsche: man legt sie ab, wenn sie sehr dreckig sind.“ (Orig.: „Esto de los nombres es como la ropa sucia: uno se la quita cuando está muy sucia.“) 20:19-20:23. 713 | Dt.: „Vögelchen“. Anspielung auf die sogenannten „pájaros“, die konservativen Banditen während der Violencia. 714  | Die Figuren von Don Bernardo und Don Martín dienen in erster Linie dazu, die zentralen Positionen der Parteien wiederzugeben. Pajarito hingegen macht im Laufe des Films eine innere Entwicklung durch: er wird vom Opfer zum Täter. 715  | 07:52. 716 | Dt.: „Schwarzes Blut“. 717  | Orig.: „Nos están discriminando.“ 08:08-08:12. 718 | Orig.: „Todo lo contrario, hermano. Es un honor, un reconocimiento al partido liberal.“ 08:12-08:15. 719 | Orig.: „Así que usted es el llamado ‚Pajarito‘.“ 08:42-08:44. 720 | 14:30-14:58. 721  | Der umfangreichste dieser Flashbacks wird eingefügt, bevor die Bewaffnung der liberalen Guerilleros in der Wirtschaft von Don Manuel ihren Lauf nimmt. 42:35-45:30.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Es ist Nacht. Vor der Kulisse brennender Häuser werden im Schlaf überraschte Familien von bewaffneten Männern ins Freie getrieben. Pajaritos Eltern und seine Geschwister treten aus ihrem brennenden Haus. Draußen werden sie von den Banditen gefragt, welcher Partei sie angehörten. Etwas unsicher behauptet der Vater, sie seien Konservative. Ein Junge, der mit den Banditen zusammenarbeitet und den diese „Alcides“722 nennen, verrät jedoch, dass sie Liberale seien. Daraufhin hackt einer der Banditen dem Vater, der ein Baby auf dem Arm trägt, mit der Machete ins Genick. Er bricht tot zusammen, das Baby krabbelt über seinen leblosen Körper. Die Mutter erleidet dasselbe Schicksal. Eine konservative Nachbarsfamilie darf fliehen, alle übrigen werden zusammengetrieben und erschossen. Frauen und Kinder stürzen tot übereinander zusammen. Pajarito entkommt in sein brennendes Haus, wo seine kleine Schwerster weinend im Flammenmeer auf ihrem Bett steht. Pajarito will durch ein Fenster entkommen, zögert jedoch einen Moment in der Überlegung, ob er die Schwester retten könne. Bevor er etwas unternehmen kann, bricht das brennende Haus über dem kleinen Mädchen zusammen. Der Hass des Protagonisten auf die Konservativen, der aus dem Kindheitstrauma resultiert, erklärt dessen Rachegelüste und macht seine aktive Mitarbeit in der liberalen Guerilla nachvollziehbar. Die Nebenhandlungsstränge, die allesamt die Vorbereitungen des bewaffneten Überfalls der Liberalen auf den Bus am Ende des Films dokumentieren, laufen schließlich mit dem Haupthandlungsstrang zusammen. Der Bus, der nach zwei größeren Pannen verspätet in Cajamarca eintrifft, wo einige Passagiere aussteigen, setzt seine Fahrt trotz Dunkelheit und diverser Vorwarnungen in Richtung Calarcá fort. Um zum Ziel zu gelangen, muss die zentrale Andenkordillere überquert werden, deren höchster Punkt unter dem Namen „el alto de la linea“723 bekannt ist. Da die enge Passstraße, die Cajamarca und Calarcá verbindet, an dieser Stelle leicht zu kontrollieren ist, ist sie im bewaffneten Konflikt häufig zum Schauplatz von Überfällen geworden. Die „Linie“ gilt daher als einer der gefährlichsten Orte Kolumbiens. Die Nennung dieses Ortes dient an mehreren Stellen im Film dazu, die Gefahr vorauszudeuten und die wachsende Besorgnis der Reisenden zu verdeutlichen. Als der Bus in Cajamarca eintrifft, verlautet einer der dort aussteigenden Reisegäste: „Um mich mache ich mir keine Sorgen mehr, denn ich bleibe in Cajamarca. Sorgen müssen sich die, die weiterfahren.“724 Die Spannung, die durch die Akkumulierung schlechter Vorzeichen wie Motorpannen, schwarze Vögel oder Rauch 722 | Alcides ist ein anderer Name für den griechischen Gott Herakles bzw. Herkules. 723 | Dt.: „Die Anhöhe der Linie“. 724 | Orig.: „Yo por mí no me preocupo porque me quedo en Cajamarca. Que se preocupen los que siguen.“ 40:35-40:40.

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an der „Linie“ erzeugt wird, wird auf der Bildebene durch unheimlich anmutende Naturaufnahmen verstärkt: dunkle Berge, undurchdringliches Gehölz und dichte Nebelschwaden bilden das Panorama, durch das sich der Bus auf der steinigen Bergstraße bewegt.725 Auch der beschleunigende Rhythmus der Parallelmontage, die die Busfahrt mit den Vorbereitungen des Massakers verbindet, sorgt für Spannungssteigerung. Während die Nervosität der Reise­gäste weiter zunimmt – die Männer versuchen verkrampft, ihre Angst zu über­ spielen, die Frauen schweigen oder beten – sind die Vorbereitungen auf den Überfall in vollem Gange. Die Protagonisten der Nebenhandlungsstränge finden sich in der Hütte von Don Manuel ein, der eine kleine Wirtschaft betreibt. Alle fragen nach Don Jacinto und setzen sich. Schließlich erscheint dieser: es handelt sich um Sangre Negra, den liberalen Guerilla-Führer.726 Dieser erklärt den Anwesenden, dass in dieser Nacht eine alte Schuld beglichen werden soll. Anschließend beginnt die Bewaffnung der Kämpfer unter Leitung von Don Manuel. Ein älterer Mann, der sich als Aurelio Martínez vorstellt, erzählt Pajarito, dass er aus demselben Dorf stamme wie er und ebenfalls dem Massaker entkommen sei.727 Es wird deutlich, dass Pajarito nicht der einzige ist, der in dieser Nacht unter Sangre Negras Führung Rache an den Konservativen nehmen will. Noch vor der Inszenierung des Massakers macht Vallejo so die persönlichen Hintergründe der Täter deutlich. Der blutige Racheakt, den die ehemaligen Opfer nun an unschuldigen Zivilisten verüben wollen, wird auf diese Weise zwar nicht gerechtfertigt, jedoch wird der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt als Erklärung für den Fortgang der Violencia nahegelegt. Die Spannungskurve erfährt einen vorläufigen Höhepunkt, als der Bus vor dem Eintreffen an der „Linie“ von Militärs angehalten und durchsucht wird.728 Die gleichzeitige Ankunft eines Autos, in dem ein Priester sowie drei hohe Politiker der konservativen Partei sitzen, wird den Busreisenden zum Verhängnis: die Militärpolizei beschließt, die Politiker nach Cajamarca zu eskortieren, anstatt den Bus auf seiner gefährlichen Überquerung der „Linie“ zu begleiten.729 Vallejo übt mit dieser Darstellung Kritik am Vorgehen des kolumbianischen Staates, der die Zivilbevölkerung – im Gegensatz zu den konservativen Amtsträgern – nicht schützt. Im Gegensatz zu El río de las tumbas oder Bajo la tierra, in denen die Ignoranz der Gewalt durch staatliche Instanzen lediglich aufgezeigt wird, macht Vallejo durch seine Darstellung die Sicherheitsbeamten direkt für den Tod der zivilen Reisenden verantwortlich. Durch die Tatsache, dass die Militärs außerdem die Pistole des Unternehmers konfiszieren und 725 | 57:25-58:00. 726 | 41:25-41:42. 727 | 45:40. 728 | 53:25. 729 | 57:00-57:15.

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ihm damit die Möglichkeit zur Selbstverteidigung nehmen, treibt Vallejo seine Darstellung der Schutzlosigkeit der Normalbevölkerung auf die Spitze. Die Inszenierung des Überfalls der liberalen Guerilla auf den Bus lässt mehrere Lesarten zu. Zum einen kann das Massaker als seitenverkehrte Wieder­ holung von Pajaritos traumatischer Kindheitserinnerung gelesen werden: Wieder gibt es einen „Alcides“, der die politische Zugehörigkeit der Menschen an die Banditen verrät und damit deren Todesurteil ausspricht. Wieder werden unschuldige Familien zusammengedrängt und brutal niedergemetzelt, abermals gibt es Kinder, die zu entkommen versuchen. Ausgerechnet Pajarito bemerkt die Flucht eines etwa sechsjährigen Jungen, folgt ihm in den Nebel und hackt ihm mit der Machete den Kopf ab.730 Im übertragenen Sinne tötet er damit sich selbst: er befreit sich von seinem Trauma, indem er von der Seite der Opfer zu der der Täter wechselt. Zugleich könnte Pajarito durch den Mord verhindern wollen, dass sich der Teufelskreis der Rache fortsetzt: bevor er den Jungen tötet, leuchtet er ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht und mustert ihn scharf, als prüfe er, ob es für den Kleinen besser sei zu sterben oder, wie er selbst, als Waise weiterzuleben und Rache üben zu müssen. Er entscheidet sich für ersteres. Dass sich das Massaker der Konservativen aus Pajaritos Erinnerung nun in veränderten Rollen wiederholt, macht deutlich, dass beide Parteien gleichermaßen unmenschlich und grausam agieren, beide also Opfer und Täter zugleich sind. Beide Parteien üben Rache im biblischen Sinne („Auge um Auge, Zahn um Zahn“), die zu begleichende Rechnung wird in gleicher Münze und in gleichem Wert zurückgezahlt. Vallejos Inszenierung des liberalen Rachefeldzugs lässt jedoch noch eine weitere Lesart zu. Elsa Blair zufolge lässt sich das „Ritual“ des Massakers in vier Ebenen unterteilen: ein Tatort als „szenischer Raum“, eine klare zeitliche Struktur des Ablaufs, Akteure mit klar definierten Rollen sowie eine spezifische Anordnung von Symbolen im Raum.731 Diese Einteilung eignet sich, um das Massaker in En la tormenta zu beschreiben: die Tat erfolgt an einem spezifischen, mit Bedeutung aufgeladenen Ort (dem „alto de la linea“), der zeitliche Ablauf ist klar strukturiert (Befragung und Einschüchterung der Passagiere, Einteilung der Reisenden gemäß ihrer Parteienzugehörigkeit, Einsammeln der Wertgegenstände, individuelle Hinrichtung der Aufmüpfigen und kollektive Hinrichtung der Übrigen), die Akteure sind für personalisierte, klar umrissene Aufgaben zuständig (Alcides verrät die Parteienzugehörigkeit der Reisenden, Sangre Negra fällt die Entscheidungen, ohne selbst zu töten, der Betrunkene heizt den Gewaltakt durch zynische Bemerkungen und Witze an, 730 | 1:16:05-1:16:30. 731 | Siehe Blair 2005, 141; vgl. Kapitel II.1.1.3.

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der Guerillero mit dem Hut ist für die individuellen Hinrichtungen mit der Machete zuständig, etc.), und die Tat geschieht vor dem Hintergrund mehrerer symbolischer Objekte (die nebligen Berge, die Macheten, das Werbeplakat der nationalen Biermarke „Aguila“, vor dem die Reisenden hingerichtet werden). Die Interpretation des Massakers als feierliches Ritual wird bereits vor dem Eintreffen des Busses an der „Linie“ nahegelegt, als zwei neu zugestiegene Musi­kanten von Don Bernardo aufgefordert werden, gegen die wachsende Angst der Fahrgäste ein Lied anzustimmen.732 Die Stimmung im Bus steigt unmittelbar, auch die streitenden Freunde Bernardo und Martín singen inbrünstig mit. Es liegt nahe, diesen Moment als eine Art Henkersmahlzeit vor der bevorstehenden Hinrichtung zu deuten, welche visuell durch die Außenaufnahmen von Nacht und Nebel angedeutet wird.733 Als der Bus an der „Linie“ ankommt, verdichtet sich der Nebel und es werden Steinblöcke auf der Straße sichtbar, die die Weiterfahrt verhindern.734 Die durch das Lied hervorgerufene festliche Grundstimmung setzt sich auf der visuellen Ebene durch das Erscheinen des Werbeplakats fort, bis die Guerilleros dahinter hervortreten.735 Die Banditen umzingeln den Bus, die Insassen werden aufgefordert auszusteigen und ihre Identifikationen und Parteimitgliedsausweise hervorzuholen. Sie werden mit Alcides Hilfe in konservative und liberale Lager eingeteilt, ausgeraubt und daraufhin freigelassen (im Falle der Liberalen) oder umgebracht (im Falle der Konservativen). Die tragische Dimension der Selektion wird am Beispiel der Freunde Bernardo und Martín besonders evident. Als Bernardo erkennt, dass es sich beim Anführer der Banditen um Sangre Negra handelt, unternimmt er einen verzweifelten Versuch, das Leben seines Freundes Martín zu retten. Nachdem Alcides ihn als Vorsitzenden der Liberalen in Calarcá ausgewiesen hat, gewährt Sangre Negra ihm großzügig das Wort. Bernardo erklärt dem Anführer seine Loyalität, und dieser erwidert, dass Bernardo und seine Patei­genossen nichts zu befürchten hätten und gehen könnten.736 Bernardo versucht, auch die anderen Reisenden freizusprechen, Sangre Negra wiederholt jedoch, dass die Konservativen bleiben müssten. Verzweifelt winkt Bernardo seinen Freund zu sich und geheißt ihn, mit ihm zu gehen.737 Doch Sangre Negra wittert den Schwindel und fragt Alcides, wer der andere sei. Dieser verrät ihn als Konservativen, als „Freund der Pfarrers und Feind der Liberalen“738. Bernardo verteidigt Martín, er habe in Zeiten der politischen 732 | 58:25-58:28. 733 | 1:01:21-1:01:30. 734 | 1:02:50. 735 | 1:03:00. 736 | 1:00:00-1:00:10. 737 | 1:09:30. 738 | Orig.: „amigo del cura y enemigo de los liberales“. 1:09:35-1:09:39.

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Verfolgung Liberale in seinem Haus versteckt, der Moment sei daher gekommen, ihn für diese gute Tat zu entlohnen.739 Martín, der die Gefahr erkennt, in die sich sein Freund seinetwillen begibt, tritt zurück. Bernardo solle an seine Familie denken und gehen.740 Als Bernardo zögert, wird er unvermittelt von einem Guerillero (dem Guerillero mit Hut) enthauptet.741 Martín wird von einem anderen (dem Betrunkenen) in die Brust geschossen und fällt auf seinen toten Freund.742 Beide Mörder lachen schallend. Für sie ist das Blutbad ein Fest, ein Moment der Euphorie und des Exzesses. Dieser Eindruck verstärkt sich, als die Musiker von dem betrunkenen Guerillero aufgefordert werden, das Morden mit einem Ständchen zu begleiten.743 Zum Klang der Gitarren fallen nun die konservativen Reisegäste der Reihe nach den Macheten zum Opfer. Die darauffolgenden Einstellungen (N, HN) zeigen, wie ein Guerillero Doña Antonia die Kehle aufschlitzt,744 wie Alcides die konservative Familie mit den vielen Kindern verrät 745 und diese gemeinsam mit den anderen Konservativen vor dem Bierwerbeschild (ein klares Symbol des Festes bzw. der Orgie) aufgestellt werden.746 Der Vater der neunköpfigen Familie, der ein Baby auf dem Arm trägt, wird als erster niedergemetzelt. Das Bild, wie er mit dem weinenden Baby zu Boden sinkt, stellt eine direkte Parallele zum Hergang der Ermordung von Pajaritos Vater dar, der dem Zuschauer aus den Flashbacks bekannt ist. Ebenfalls dem Massaker aus Pajaritos Kindheit entsprechend, wird Ana von zwei Männern fortgeschleppt und vergewaltigt.747 Pajarito, der bisher tatenlos zusieht, wird aus seiner Passivität gerissen, als er den kleinen Jungen flüchten sieht und ermordet.748 Blut spritzt ihm ins Gesicht, wie auch beim Massaker an seiner eigenen Familie.749 Durch den Bruch mit seiner Opfer­rolle – oder durch den Kontakt mit dem Blut – gerät Pajarito in eine mörderische Ekstase: unvermittelt stürmt er auf die Musiker zu und hackt mit der Machete auf sie ein.750 Als er wieder zur Ruhe kommt, rügt ihn der Betrunkene, der die Musiker zum Spielen animiert hatte, für seinen Ausbruch: „Du hast die Par-

739 | 1:09:50-1:10:35. 740 | 1:10:40-1:10:50. 741 | 1:10:55. 742 | 1:10:59. 743 | 1:11:30. 744 | 1:12:03. 745 | 1:12:39. 746 | 1:14:48. 747 | 1:15:50-1:16:02. 748 | 1:16:26. 749 | 1:16:29. 750 | 1:16:55.

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ty kaputt gemacht, Bruder.“751 Die Darstellung des Massakers als rauschartige Extase kann mit Jose Alejandro Restrepos Interpretation der Gewalt als exzessive Übertretung der Sinne erklärt werden, die zu einem Zustand der Ekstase führe.752 Angeheizt durch ein Gefühl der Allmacht und gerechtfertigt durch das Konzept der Blutrache und der Wiederherstellung der Ehre erleben die Akteure durch das Blutbad eine Art Katharsis, eine Reinigung ihrer Seele von den selbst durchlebten Traumata. Für Juana Suárez geht der ekstatische Charakter des Festes auch mit einer symbolischen Überhöhung der Mordwaffe, der Machete, einher, die den historischen Kreislauf von Rache und Wiederherstellung der Ehre verkörpere.753 Zur Verdeutlichung zitiert sie aus Vallejos Roman Los días azules 754 (1985), welches auch Luis Ospina in seinem Dokumentarfilm La desazón suprema – retrato incesante de Fernando Vallejo 755 (Luis Ospina, 2003, Kolumbien) zur Erläuterung der Sequenz, als Pajarito die Machete gegen die Konservativen erhebt, verwendet: „[…] die Machete erhob sich wütend, da ihre Stunde gekommen war. Im Herzen des Berges, in der Blindheit des Hasses, im Heulen des Windes, Herr der Wege, Eigentümer des Kreuzzugs, Vergewaltiger der Nacht, lass dein metallisches Klingeln hören, das schon verstummt. Lass deinen Glanz sehen, wenn du den Mond zerteilst. Schwarze Seele, Schwarzes Blut, Kapitän Gift, Kopfabschneider, König des Reichs des Thanatos, Herr Kolumbiens, erhebe dich! Hebe meinen Arm, denn ich werde töten.“ 756

Die Machete, das Werkzeug der Bauern, das während der Violencia zur Waffe avanciert, wird Suárez zufolge zum „heiligen Gral“ des innerkolumbianischen Konflikts: weitergegeben von Generation zu Generation übernehme sie die symbolische Aufgabe „Rache zu üben und die Selbstachtung wieder herzustellen“757. Die Besonderheit von Vallejos filmischer Annäherung an die Violencia liegt zweifellos in der Explizitheit der Gewaltdarstellungen. Sowohl bei der Inszenierung der Flashbacks als auch bei der des Massakers bleibt nichts der Phan751  | Orig.: „Se tiró la fiesta, hermano.“ 1:17:10-1:17:13. 752 | Vgl. Siehe Restrepo J.A. 2006, 19f; vgl. Kapitel II.1.1.3. 753 | Siehe Suárez 2009 (1), 69. 754 | Dt.: „Die blauen Tage“. 755 | Dt.: „Das allerhöchste Unbehagen – ein rastloses Porträt von Fernando Vallejo“. 756 | Orig.: „[…] el machete se levantó enfurecido porque le había llegado la hora. En el corazón del monte, en la ceguedad del odio, en el rugir del viento, Amo de los Caminos, Dueño de la Encrucijada, Violador de la Noche, deja oír tu timbre metálico que ya enmudece. Deja ver tu brillo partiendo la luna. Alma Negra, Sangre Negra, Capitán Veneno, Cortador de Cabezas, Rey del Reino de Thánatos, Señor de Colombia, ¡álzate! ¡Levanta mi brazo que voy a matar!“ Vallejo 2003, 73. 757 | Orig.: „cobrar venganza y restaurar la dignidad“. Suárez 2009 (1), 69.

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tasie des Zuschauers überlassen. Besonders grausam wirkt das Schlachten in Einstellungen, welche die Ermordung von Frauen, Kindern und sogar Babys zeigen. Der Teufelskreis der Gewalt wird anhand der Zeugenschaft der Kinder verdeutlicht, mit denen eine neue Generation von traumatisierten Mördern heranwächst: Zu Beginn des Films unterhalten sich die Jungen im Bus noch angeregt über die Morde.758 Während der ersten Minuten des Überfalls auf den Bus beginnt sich ihre Sensationslust allmählich mit Angst zu mischen.759 Als das erste Todesopfer – der Unternehmer – neben dem Bus zu Boden sinkt, fängt die Kamera das Gesicht eines Jungen ein (G), der auch an den angeregten Gesprächen beteiligt war. Die Szene aus dem Inneren des Busses beobachtend, füllen sich seine Augen mit Tränen.760 Er versteckt sich auf dem Dach des Gefährts, von wo aus er Zeuge des Massakers wird. Als der Bus von anderen Kindern, die mit den Liberalen zusammenarbeiten, in Brand gesteckt wird und die Banditen das Schlachtfeld verlassen, klettert er herunter und will davonlaufen.761 Er hält jedoch inne, da er im Innern des Busses ein Mädchen weinen hört. In dem Moment, als er das Mädchen am Fenster sieht, explodiert der Bus.762 Der Junge weint und hält sich die Augen zu. Er bleibt alleine an der Unglücksstelle zurück, von der sich die Guerilleros entfernen.763 In seiner Figur wird das historische Trauma weitergegeben, und ein neuer Zyklus der Rache wird eingeleitet. Die Rufe der abziehenden Banditen („Es lebe die große liberale Partei! Tod den konservativen Hurensöhnen!“764) wirken grotesk angesichts der Schreckens­tat, die sie begangen haben. Der Zuschauer ist Zeuge eines Massen­ mords geworden, der in seiner Motivation und Durchführung jeglicher politischer Argumentation entbehrt. Auch wenn er als Rache für vorausgegangene Massaker der Konservativen angesehen werden kann, scheint sich Vallejo über den Widerspruch zwischen liberaler Politik und deren praktischer Umsetzung lustig zu machen. Anstatt für die Bauernschaft einzutreten, rauben die Guerilleros diese aus, und anstatt die Landbevölkerung von Landreformen und der liberalen Revolution zu überzeugen, ermorden sie diese kaltblütig. Vallejo gibt keiner der beiden Parteien den Vorzug, seine Kritik gilt der linken Guerilla und den rechten Todesschwadronen gleichermaßen. Wie aus Luis Ospinas Dokumentarfilm über Vallejo hervorgeht, sind für diesen alle Verantwortlichen der Gewalt in Kolumbien, von den FARC über Pablo Escobar bis hin zu 758 | 09:00-09:33. 759 | 1:09:39-1:09:48. 760 | 1:06:25-1:06:32. 761 | 1:18:30-1:19:40. 762 | 1:18:56. 763 | 1:19:15-1:19:25. 764 | Orig.: „¡Que viva el gran partido liberal! ¡Mueran godos hijueputas!“ 1:18:20-1:18:25.

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Ex-Präsident Álvaro Uribe, Teil der Schande, die sich als Konstante durch die kolumbianische Geschichte ziehe 765: „Welche Schande? Dieselbe wie immer. Die Unbenannte. Die, die wir alle erleiden, auf die aber niemand zeigt, als ob keiner sie sehen würde, als sei sie unsichtbar, und die niemand benennt, als ob sie keinen Namen hätte. Und dennoch hat sie einen, und man sieht sie. Es ist eine Frage des Nennen-Wollens und Sehen-Wollens.“ 766

III.3 D ie „violencias “ im K ino der internationalen K oproduk tion (1993-2003) Die dritte Phase der filmischen Auseinandersetzung mit dem inner­ kolumbianischen Konflikt beginnt 1993 mit dem Ende von FOCINE und endet mit der Etablierung eines neuen Modells der staatlichen Subvention im Rahmen des Filmgesetzes 2003. In diesen politisch hoch brisanten Jahren, in denen die Zahl der gewaltsam herbeigeführten Todesfälle auf ein bislang unerreichtes Rekordhoch ansteigt,767 droht die kolumbianische Film­produktion zunächst den erschwerten Produktionsbedingungen zu erliegen. Bis zur Erlassung des „Allgemeinen Kulturgesetzes“768 1997, in dessen Rahmen ein Film­ department innerhalb des neu gegründeten Kulturministeriums eingerichtet und die rechtliche Grundlage zur Förderung internationaler Koproduktionen gelegt wird,769 bleibt den Filmemachern als einzige Möglichkeit die private Finanzierung durch in- und ausländische Sponsoren.770 Durch den Beginn von Ibermedia und anderen Programmen für lateinamerikanische Ko­ produktionen schwingt sich die kolumbianische Filmproduktion ab 1998 von 1,5 auf durchschnittlich 5,1 Filme pro Jahr empor.771 Der schwachen Ausgangs­ lage der Filmindustrie zum Trotz gelingt dem kolumbianischen Kino in den 1990er Jahren der internationale Durchbruch, beispielsweise mit La estrate-

765 | Vgl. La desazón suprema, 55:25-1:00:11. 766 | Orig.: „¿Cuál infamia? La de siempre. La inominada. La que todos padecemos pero que nadie señala, como si nadie la viera porque fuera invisible, y la que nadie nombra como si no tuviera nombre. Y sin embargo sí lo tiene y sí se ve. Es cuestión de querer nombrarla y verla.“ Fernando Vallejo in La desazón suprema, 55:00-55:19. 767 | Siehe Viviescas Monsalve 2004, 17. 768 | Orig.: „Ley General de Cultura“ (Ley 397). 769 | Siehe Ospina X. 2007, 8. 770  | Siehe Zapata 2004, 56. 771 | Siehe Ospina X. 2007, 8.

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gia del caracol772 (Sergio Cabrera, 1993, Italien/Kolumbien/Frankreich) oder La vendedora de rosas 773 (Víctor Gaviria, 1998, Kolumbien). In einer Phase großer politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, gekennzeichnet unter anderem durch die Auswirkungen der neuen Verfassung von 1991, den Eintritt Kolumbiens in eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die Ausweitung der internationalen Strategien im Kampf gegen die kolumbianischen Drogen­kartelle und die intensiven, wenn auch erfolglosen Friedensbemühungen der Regierung Pastrana, wenden sich die kolumbianischen Filmemacher von der Aufarbeitung der politischen Violencia der 40er und 1950er Jahre ab und nehmen die neuen Fronten des sich wandelnden Konflikts in den Fokus. Dabei fällt auf, dass das aktuelle politische und gesellschaftliche Geschehen unmittelbarer in die Filme mit einfließt, als dies in den ersten beiden Phasen der Aufarbeitung der Fall gewesen ist: Ein Teil der neuen Filme porträtiert den Zustand des „umfassenden Krieges“774 bzw. der „generalisierten Gewalt“775, in dem sich das Land angesichts der systematischen Menschenrechts­verletzungen von Seiten der bewaffneten Gruppen, der Drogenmafia und des Staates sowie angesichts der steigenden privaten Gewalt, besonders im urbanen Raum, befindet; der andere Teil greift die hoffnungsvolle Stimmung angesichts der laufenden Friedens­ verhandlungen auf und entwirft unterschiedliche Visionen eines möglichen Ausstiegs aus der Gewaltspirale. Im Folgenden soll das gesellschaftliche und politische Ambiente jener turbulenten Jahre skizziert werden, in denen die zu analysierenden Filme entstanden sind und auf die sie sich unmittelbar beziehen.

III.3.1 Vom „umfassenden Krieg“ zum Frieden? In den 1990er Jahren steigt die organisierte Gewalt in Kolumbien weiter an. Als Folge der gescheiterten Friedensbemühungen der Regierung Betancur (1982-1986) rüsten die FARC wirtschaftlich und militärisch auf und erobern strategische Gebiete, Arias Trujillo zufolge nicht länger mit dem Ziel der Agrarre­form, sondern mit dem der Herrschaft.776 Die parallel dazu erfolgende Ausbreitung des Paramilitarismus hängt in mehrerlei Hinsicht mit der der Guerilla zusammen: einerseits werden paramilitärische Söldner von Großgrundbesitzern, der Drogenmafia und der Regierung eingesetzt, um die vorrückende Guerilla aus den umkämpften Gebieten zurückzudrängen, umgekehrt kann der Aufschwung der Paramilitärs aber auch als Konsequenz der 772  | Die Strategie der Schnecke. 773  | The Rose Seller. 774 | Orig.: „guerra integral“, ausgerufen von Präsident César Gaviria im Jahre 1992. 775  | Daniel Pécaut, vgl. Kapitel II.1.1.3. 776 | Siehe Arias Trujillo 2006, 338f.

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Friedens­verhandlungen Betancurs gelesen werden, der den Guerilleros politisches Mitspracherecht zugesteht und somit die Ängste der regierenden Eliten schürt, von populären linken Politikern aus ihren Ämtern verdrängt zu werden.777 Auf die Regierung Virgilio Barco (1986-1990), der als Präsident der Menschenrechts­verstöße in die Geschichte eingeht,778 folgt die von César Gaviria (1990-1994), der einerseits den Friedensdialog mit der Guerilla wieder aufnimmt und die Demobilisierung der EPL, Teilen der ELN und der indigenen Aufstandsbewegung „Quintin Lame“ erreicht, andererseits aber den FARC den „umfassenden Krieg“ erklärt 779 und die sogenannten „Convivir“ als paramilitärisch organisierte Bürgerwehren zum Schutz gegen die Guerilla legalisiert.780 Gaviria gerät ins Kreuzfeuer der Kritik, als er auf dem Höhepunkt des Terrors der Drogenkartelle ein Gesetz zur Begnadigung von geständigen Mafiosi erlässt, mit dessen Hilfe die führenden Köpfe des Medellín- und Cali-­ Kartells Immunität erlangen und ihre Geschäfte frei von rechtlichen Konsequenzen auf entlegenen Landsitzen fortführen.781 Die Erwartungen in die Regierung Gaviria, die mit dem Slogan „Kolumbianer: willkommen in der Zukunft“782 für ihr neoliberales Wirtschaftskonzept wirbt und die 1991 die neue Verfassung beschließt, die Kolumbien – zumindest auf dem Papier – in einen sozialen Rechtsstaat verwandelt,783 werden angesichts der sich verschlechternden Gewaltbilanz herb enttäuscht: „Die Regierung Gaviria hinterlässt einen Saldo von 14.856 gewaltsamen Todesfällen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und politischen Konflikt sowie 5.043 politische Gefangene. Die Regierung von Barco hatte einen etwas niedrigeren Saldo hinterlassen: 13.635 Opfer aus denselben Gründen.“784 Auch der Wahlkampf, aus dem Gaviria 1990 als Sieger hervorgeht, gilt als der blutigste der kolumbianischen Geschichte: gleich drei aussichtsreiche Präsidentschafts­kandidaten aus dem linken Spektrum – der Liberale Luis Carlos Galán, der Ex-Kommandant der demobilisierten Guerilla M-19 Carlos Pizarro Leongómez sowie der Präsident der UP, Bernardo Jaramillo Ossa – werden 777  | Siehe Arias Trujillo 2006, 340f. 778  | Vgl. Kapitel III.2.1. 779  | Vgl. Medina Gallego 2009, 82ff. 780 | Siehe Fischer/Cubides C. 2000, 115ff. 781 | Vgl. Arias Trujillo 2007, 347. 782 | Orig.: „Colombianos: bienvenidos al futuro“. Gil/Cifuentes 2003. 783 | Vgl. Arias Trujillo 2006, 348ff. 784  | Orig.: „De la administración Gaviria queda un saldo de 14.856 muertes violentas relacionadas con el conflicto social y político, así como 5.043 prisioneros políticos. El gobierno de Barco había dejado un saldo un poco inferior: 13.635 víctimas por las mismas causas.“ Giraldo Moreno 1994. Dem Autor zufolge forderte die Regierung Gaviria mehr Todes­o pfer als die jeweiligen Militärdiktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay oder Brasilien.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

von Auftragsmördern aus dem Weg geräumt. Auch die Regierungsperiode von Ernesto Samper (1994-1998) ist von politischen Skandalen gekennzeichnet. Neben gewissen Errungenschaften im Zuge des von Samper in Aussicht gestellten „sozialen Sprungs“785 – zu nennen sind in diesem Zusammenhang z.B. die Gründung von Sozialprogrammen und einem System zur Identifikation von potenziell Bedürftigen (SÍSBEN) – sorgt Sampers Kabinett im Zuge des „Prozess 8000“786 für Schlagzeilen, in dessen Verlauf die Mitfinanzierung seiner Wahlkampagne durch das Cali-Kartell bewiesen wird. Zahlreiche Senatoren und Minister werden im Rahmen der Korruptionsaffäre ihres Amtes enthoben oder verhaftet. Samper selbst kann keine Mittäter- oder Mitwissenschaft nachgewiesen werden, und er entkommt straflos.787 Die beiden politischen Ereignisse, die im fraglichen Zeitraum das Land – und mit ihm die Filmproduktion – am nachhaltigsten beeinflusst haben, sind die Einsetzung der Verfassung von 1991 einerseits und die Friedens-­ verhandlungen zwischen der Regierung Pastrana (1998-2002) und den FARC andererseits. Die neue Verfassung entsteht vor dem Hintergrund von Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen in ganz Lateinamerika als notwendige Konsequenz aus den radikalen Veränderungen in der Rolle des Staates und des Finanzsystems sowie aus der Verschärfung der sozialen Problematik durch den Eintritt Kolumbiens ins neoliberale Wirtschaftssystem.788 Die von Gaviria einberufene Nationalversammlung „Asamblea Nacional Constituyente“ (ANC), die mit der Erarbeitung der Verfassung betraut wird, muss sich zwar von Beginn an gegen den Vorwurf der fehlenden Legitimation behaupten, da die Wahlbeteiligung bei der Wahl zu ihrer Zusammensetzung nur 26 Prozent beträgt,789 ihr kann jedoch zugute gehalten werden, dass sie sich der Kontrolle der traditionellen Parteien entzieht und sowohl Abgeordnete der demobilisierten Guerilla-Gruppen790 als auch der ethnischen und religiösen Minderheiten, der Gewerkschaften und der sozialen Verbände vertreten sind. Als wichtigste Aktionslinien beschließt die ANC die Erweiterung der Rechte und Freiheiten der Bürger (z.B. das Recht auf Leben, Privatsphäre und Gleichheit sowie die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und des Ausdrucks) sowie eine allgemeine Stärkung der Demokratie durch mehr direkte Teilhabe, die Vereinfachung von Parteigründungen, die Integration der ethnischen Minderheiten in 785 | Orig.: „salto social“. 786 | Orig.: „proceso 8000“. 787  | Quelle: http://www.semana.com/especiales/articulo/el-proceso-8000/32798-3 788 | Siehe Arias Trujillo 2006, 350ff. 789 | Siehe Arias Trujillo 2006, 353. 790 | Die Partei der demobilisierten M-19 wird zweitstärkste Fraktion nach den Liberalen, aber vor den Konservativen. Siehe Arias Trujillo 2006, 354.

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politische Entscheidungsgremien, die Einführung des zweiten Wahlgangs bei Präsidentschaftswahlen zur Erlangung einer absoluten Mehrheit sowie eine Vergrößerung der regionalen Autonomien.791 Hervorzuheben ist auch die in der Verfassung formulierte Wertschätzung der kulturellen Pluralität und Diversität, welche insbesondere der indigenen Bevölkerung eine Vielzahl neuer Rechte einräumt.792 Auf dem Papier, so Arias Trujillo, wird mit der neuen Verfassung der konfessionelle Staat durch einen modernen sozialen Rechtsstaat ersetzt, was in der Realität jedoch weder die soziale Problematik geschmälert noch sichtbare Fortschritte in Bezug auf Chancengleichheit oder die Ein­ haltung der Menschenrechte mit sich gebracht habe.793 Fernando Viviescas Monsalve zufolge hat die neue Verfassung zumindest den kulturellen Sektor maßgeblich reformiert: zunächst in Bogotá, später auch in anderen Großstädten, habe das neue Bewusstsein für individuelle Freiheiten und Rechte (z.B. das Recht auf Lebensqualität, Freizeit und Muße) zu einer „kulturellen Revolution“794 geführt, die sich im steigenden Aktivismus für Umwelt, Frieden und Bürgerrechte (z.B. für Frauen, Kinder, Homosexuelle) und einer Hinwendung zu kulturellen Ereignissen manifestiere, zu denen erstmals auch die unteren Schichten Zugang haben.795 Die Verbreitung der „urbanen Kultur“ ist von Regierungsinstanzen, insbesondere von den jeweiligen Stadtverwaltungen, nachhaltig gefördert worden, z.B. im Falle von kulturellen Großveranstaltungen796, sowie die Errichtung eines Netzes von öffentlichen Bibliotheken, die auch bildungsfernen Schichten Zugang zum Internet und anderen Medien gewähren.797 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Verfassung von 1991 entscheidenden Einfluss auf die kolumbianische Gesellschaft der 1990er Jahre hatte. Auch die Gründung der ersten universitären Filmstudiengänge, z.B. an der Universidad Nacional in Bogotá, kann auf den erhöhten Stellenwert, der den kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen durch die Verfassung zugestanden wird, zurückgeführt werden. Der Friedensprozess unter der Regierung Pastrana kann ebenfalls als Produkt jener gesellschaftlicher Umbrüche gedeutet werden, denn obwohl die 791 | Siehe Arias Trujillo 2006, 354f. 792 | Siehe Arias Trujillo 2006, 355. 793 | Siehe Arias Trujillo 2006, 356f. 794 | Orig.: „revolución cultural“. Viviescas Monsalve 2004, 22. 795 | Siehe Viviescas Monsalve 2004, 23ff. 796 | In Bogotá, das in den 90ern zum Zentrum der urbanen Kultur avanciert, sind die jährlich stattfindende Buchmesse, das Internationale Theaterfestival sowie das Musik­festival „Rock al Parque“ die wichtigsten Events dieser Art. 797 | Siehe Viviescas Monsalve 2004, 27.

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Formulierung der Menschenrechte in der Verfassung nicht immer zu deren Umsetzung geführt hat, so kann sie doch als hoffnungsvolles Signal für eine politische Lösung des landesinternen Konflikts gedeutet werden. Für eine solche wirbt Pastrana im Wahlkampf 1998, als er die Ausarbeitung einer „gemeinsamen Agenda“798 in Kooperation mit den FARC ankündigt. Sein Wahl­ erfolg macht den Friedensdurst der kolumbianischen Bevölkerung deutlich, welche sich in den vorangegangenen Legislaturperioden von der Ineffizienz des harten Kurses gegen die Guerilla überzeugen konnte. Die Rahmen­ bedingungen der Friedensverhandlungen, welche am 07.01.1999 eröffnet und am 20.02.2002 durch die Regierung beendet werden, sind so schwierig wie kurios, denn zum Zwecke der Gespräche wird kein Waffenstillstand vereinbart, sondern der Kriegszustand im ganzen Land aufrechterhalten, mit Ausnahme der sogenannten „geräumten Zone“799, die der Guerilla als zeitlich befristetes Hoheitsgebiet zugesprochen wird und in deren Schutz die Verhandlungen stattfinden sollen.800 Die Genehmigung der entmilitarisierten Zone, die mit 42.000 Quadratmetern eine Fläche von der Größe der Schweiz umfasst 801, wird schnell zum Hauptargument der Kritiker Pastranas: der Präsident gewähre der Guerilla einen straffreien Raum zur Ausübung und Erweiterung ihrer terroristischen Aktivitäten802 . Um seinem Glauben an die Erfolgs­aussichten der Friedensverhandlungen Nachdruck zu verleihen, erkennt Pastrana als erster kolumbianischer Präsident den politischen Charakter der Guerilla-­Organisation an.803 Dennoch starten die Verhandlungen schon beim Eröffnungsakt am 07.01.1998 mit Komplikationen, denn FARC-Chef Manuel Marulanda bleibt der Zeremonie fern, was die Entstehung des berühmten Pressebildes des „leeren Stuhls“804 zur Folge hat 805. Die Ziele der Regierung, die Guerilla zum Gefangenen­austausch oder gar zur Niederlegung der Waffen zu bewegen, rü798 | Orig.: „agenda común“. Medina Gallego 2009, 88. 799 | Orig.: „zona despejada“. Medina Gallego 2009, 89. 800 | Vgl. Medina Gallego 2009, 89f. 801 | Die Zone ist etwa 150 km südlich von Bogotá in den Departments Meta und Caquetá gelegen und umfasst die fünf Gemeinden La Uribe, Mesetas, La Macarena, Vistahermosa und San Vicente del Caguán. 802 | In vielen Darstellungen wird der Vorwurf, die FARC habe die Zone für ihre Zwecke missbraucht, als unumstrittene Tatsache dargestellt, beispielsweise im Wikipedia-­Artikel zu diesem Thema. Quelle: http://es.wikipedia.org/wiki/Di%C3%A1logos_de_paz_entre_el_gobierno_ Pastrana_y_las_FARC 803 | Siehe Medina Gallego 2009, 90. 804  | Orig.: „la silla vacía“. 805 | Nach Aussagen der FARC bleibt ihr Chef der Eröffnung wegen diverser Mord­d rohungen fern, die Regierung dementiert dies und unterstellt ihm mangelnde Verhandlungs­ bereitschaft.

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cken bereits in der ersten Verhandlungsrunde in weite Ferne, als die FARC ihre Forderung hervorbringen, als gleichwertige Armee und Regierung in den von ihnen besetzten Zonen anerkannt zu werden.806 Neben der Herausforderung, die politischen Differenzen zu überwinden, werden die Friedens­ verhandlungen fortlaufend von Nachrichten über Kriegs­handlungen außerhalb der entmilitarisierten Zone erschüttert: die Entführung und Hinrichtung dreier US-amerikanischer Anthropologen durch die FARC, die Entführung eines Avianca-Flugzeugs durch die ELN, der angebliche Einmarsch paramilitärischer Truppen in die geräumte Zone, die Entführung der linken Politikerin Piedad Córdoba durch paramilitärische Einheiten oder die Ermordung der Politikerfamilie Turbay, die den FARC angehängt wird, sind Beispiele hierfür.807 Um die Verhandlungen den Turbulenzen zum Trotz aufrecht­zuerhalten, wird im März 1999 der „Consejo Nacional de Paz“808 gegründet, der die Regierung Pastrana beraten und sich mit anderen Politikern und FARC-­Vertretern austauschen soll.809 Als erstes Resultat der Verhandlungen präsentieren Pastrana und Marulanda im Mai 1999 die Inhalte einer „gemeinsamen Agenda“810, in der unter anderem das Streben nach einer politischen Lösung des Konflikts, dem Schutz der Menschenrechte und der natürlichen Ressourcen, einer integralen Agrarpolitik, einer verbesserten Einbindung Kolumbiens in die lateinamerikanische Außenpolitik sowie der gemeinsame Kampf gegen Korruption und Drogenhandel festgeschrieben werden.811 Da es wiederholt zu Streits um angebliche Vorkommnisse in der geräumten Zone kommt – die Guerilla wirft der Regierung militärische und paramilitärische Präsenz und damit Vertragsbruch vor, die Regierung prangert die FARC wegen Missbrauchs der Zone als „Kriegslaboratorium“ an, mit dessen Hilfe sie ihr „Terrorregime“ ausweiten wolle812 – wird die Kontrolle der Verhandlungen und insbesondere der Zone durch unabhängige internationale Beobachter nötig, und die „Comisión Facilitadora del Grupo de Países Amigos“813, an der neben zahlreichen europäischen Staaten auch die UNO beteiligt ist, wird ins Leben gerufen.814 Trotz daraus resultierender Verhandlungserfolge (ein partieller Gefangenen­ austausch, die Freilassung von minderjährigen Kämpfern aus den Reihen der FARC und die Aushandlung eines möglichen sechs­monatigen 806 | Siehe Medina Gallego 2009, 92f. 807 | Vgl. Medina Gallego 2009, 93ff. 808 | Dt.: „Nationaler Friedensrat“. 809 | Vgl. Medina Gallego 2009, 94f. 810 | Orig.: „Agenda Común“. 811 | Vgl. Medina Gallego 2009, 98ff. 812 | Siehe Medina Gallego 2009, 103. 813 | Dt.: „Unterstützende Kommission der Gruppe befreundeter Staaten“. 814 | Siehe Medina Gallego 2009, 116ff.

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Waffenstillstands zur Schaffung eines besseren Gesprächsklimas) gerät der Dialog aufgrund des Diskonsens in zwei zentralen Punkten immer wieder ins Wanken: dem Umgang mit dem Paramilitarismus und den Strategien zur Bekämpfung des Drogenhandels.815 Die FARC beschuldigen den kolumbianischen Staat, keine ausreichenden Maßnahmen gegen die para­militärische Gewalt zu ergreifen, die zunehmend im Auftrag von internationalen Großkonzernen erfolge816, und lehnen eine Feuerpause ab, solange die Regierung die Paramilitärs nicht zur Einstellung der Gewalt bewege.817 Gleichzeitig weiten sich die Interventionen der USA in die kolumbianische Drogen­politik während der Regierung Pastrana weiter aus, und die kolumbianischen Guerillas werden 1997 der Liste der „Foreign Terrorist Organizations“ hinzugefügt.818 Die FARC wehren sich heftig gegen den 1998 von Clinton und Pastrana unterzeichneten „Plan Colombia“, der eine Reduzierung des Cocaanbaus und ­-handels, unter anderem durch die Zerstörung vorhandener Plantagen aus der Luft, vorsieht.819 Als Alternative zu diesen Plänen, die die Umwelt nachhaltig zerstören und die Bauern ihrer Lebensgrundlage berauben, bieten die FARC einen Modellversuch zur umweltgerechten Umwandlung der Cocaplantagen in landwirtschaftliche Nutzflächen an, auf den die Regierung jedoch nicht eingeht.820 Nachdem Pastrana sich zunächst auf die in der „Vereinbarung von San Francisco de la Sombra“ formulierten Bedingungen der FARC zur Fortführung der Gespräche einlässt – hierzu gehören eine Stellungnahme des Staates bezüglich des US-amerikanischen Terrorismusvorwurfes, eine klare Absage an den Paramilitarismus und die Einstellung der Kontrollflüge über der Zone –, erklärt der kolumbianische Präsident den Friedensdialog am 20.02.2002 unerwartet für beendet.821 Der Grund dafür sei der Fund von „infrastrukturellen Bauarbeiten für die Entwicklung der Drogenindustrie“822 in der Zone. Außerdem seien Pläne zu einer Belagerung Bogotás durch die Guerilla gefunden worden823. Die FARC dementieren diese Vorwürfe: sie hätten lediglich die notwen815 | Siehe Medina Gallego 2009, 120ff. 816 | Z.B. im Department Amazonas, wo zwischen 1999 und 2001 ein rapider Anstieg von Morden an Gewerkschaftern mit paramilitärischem Hintergrund zu verzeichnen ist. Siehe Medina Gallego 2009, 122. 817  | Siehe Medina Gallego 2009, 138f. 818 | Siehe von Dungen 2011, 349. 819  | Vgl. von Dungen 2011, 351. 820 | Siehe Medina Gallego 2009, 153. 821  | Siehe Medina Gallego 2009, 152f. 822 | Orig.: „obras de infraestructura para el desarrollo de la industria del narcotráfico“. Medina Gallego 2009, 153. 823 | Tatsächlich gelingt es den FARC zwischen 2000 und 2002, sich mit mehreren Einheiten von verschiedenen Himmelsrichtungen aus der Hauptstadt anzunähern. Zur angeblich

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digen Straßen- und Brückenbauarbeiten in der Zone durchgeführt, die der Staat in den vergangenen 36 Jahren zu realisieren versäumt habe.824 Die Bilder von angeblichen Drogendepots, die in den Medien kursierten, seien gefälscht und dienten der Regierung zur Verwirklichung ihrer wahren Ziele: der militärischen und paramilitärischen Durchsetzung der US-amerikanischen Anti-Terror- und Anti-Drogenpolitik sowie der Interessen der internationalen Großkonzerne.825 Auch wenn diese Sachverhalte bis heute nicht vollständig aufgeklärt werden konnten, kann festgehalten werden, dass die historischen Friedens­ verhandlungen Pastrana-Marulanda gescheitert sind, nicht zuletzt an den schwierigen äußeren Bedingungen. Die Europäische Union stellt sich nach Bekanntwerden der Aufgabe der Gespräche geschlossen hinter Pastranas Entscheidung, einzig Kofi Annan drückt sein Bedauern aus und erklärt seine Bereitschaft zur Mithilfe bei der Wiederaufnahme des Dialogs. Der im Anschluss stattfindende Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl 2002 ist von einer starken Polarisierung zwischen Krieg und Frieden gezeichnet, wobei sich die kolumbianische Bevölkerung mit der Wahl von Álvaro Uribe Vélez, der zum militärischen Vernichtungsschlag gegen die Guerilla ausholt und den Einflussbereich der USA durch die Errichtung von Militärbasen auf kolumbianischen Staatsgebiet weiter ausweitet, für den Krieg entscheidet.

III.3.2 Vom Zustand einer „generalisierten Gewalt“ – exemplarische Filmanalysen In den 1990er Jahren verschärft sich der bereits während FOCINE gesetzte Trend zur filmischen Darstellung der „violencias“ als Szenarien des allgegenwärtigen Terrors und Krieges, als unterschiedlich geartete Manifestationen der organisierten politischen, aber auch zunehmend der privaten Gewalt. Diese Werke stehen im Kontrast zu einer Welle von Filmen, die die Hoffnung in die Friedensverhandlungen zwischen Pastrana und Marulanda aufgreifen, welche in Kapitel III.3.3 behandelt werden sollen. Das Bild, das die erstgenannte Gruppe von Filmen vom Kolumbien der 1990er Jahre zeichnet, lässt sich treffend mit Daniel Pécauts Begriff der „generalisierten Gewalt“ umschreiben, denn die Gewalt ist, den Darstellungen zufolge, in allen Regionen, Schichten und Lebensbereichen präsent. Insbesondere die urbane Gewalt rückt immer stärker ins Zentrum der filmischen Betrachtungen. Dies spiegelt zum einen die Tatsache wider, dass sich die organisierte Gewalt unter dem wachsenden Einfluss der Drogenkartelle zugeplanten „Belagerung Bogotás“ (orig.: „el cerco de Bogotá“) kommt es jedoch nie. Siehe León J. 2004. 824 | Siehe Medina Gallego 2009, 154. 825 | Siehe Medina Gallego 2009, 154f.

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nehmend vom Land in die Städte verlagert, zum anderen könnte diese Entwicklung mit der in Kapitel III.3.1 beschriebenen Aufwertung der urbanen Kultur zusammenhängen, die die Filmemacher zur vermehrten Darstellung des urbanen Lebensraums inspiriert. In der Zeit zwischen 1993 und 2003 ist insbesondere eine Häufung von Filmen über die urbane Gewalt in Medellín zu verzeichnen, was dem Umstand Rechnung trägt, dass die sogenannte „Stadt des ewigen Frühlings“ auf dem Höhepunkt der Macht des Medellín-Kartells zur gefährlichsten Stadt Kolumbiens avanciert. Die „Gewaltkultur“826, die sich ausgehend von der Drogenmafia insbesondere auf männliche Jugendliche aus den untersten sozialen Schichten überträgt, die von der Mafia als Handlanger eingesetzt werden, wird auch zum zentralen Gegenstand der kolumbianischen Literatur. Besonders bedeutsam sind in diesem Zusammenhang einerseits die populär-soziologisch angelegten Veröffentlichen des Journalisten Alonso Salazar827 über die jugendlichen Auftragskiller aus den Slums von Medellín und andererseits eine Reihe von Romanen zum selben Thema, für die der Gattungsbegriff „novela sicaresca“828 ins Leben gerufen wird. Das Interesse der Unterhaltungsbranche am „sicario“829 oder „pistoloco“830 als neuem (Anti-)Helden manifestiert sich alsbald in der erfolgreichen Übertragung des Genres auf Film und Fernsehen, wie z.B. im Falle der Verfilmung von La virgen de los sicarios 831 (Fernando Vallejo, 1994) durch Barbet Schroeder (2000) oder der Adaption des Romans Rosario Tijeras 832 (Jorge Franco, 1999) durch den Franko-Mexikaner Emilio Maillé (2005), die zu den größten finanziellen Erfolgen des kolumbianischen Kinos zählt 833.

826 | Vgl. Kapitel III.2.1. 827 | Z.B. No nacimos pa’ semilla (1993) oder La cola del Lagarto. Drogas y narcotráfico en la sociedad colombiana (1998).

828 | Wortspiel aus der literarischen Gattungsbezeichnung „novela picaresca“ (dt.: Schelmenroman) und „sicario“ (dt.: Auftragskiller). Geprägt wurde diese Gattung durch die kolumbianischen Autoren Fernando Vallejo (La virgen de los sicarios, 1994), Óscar Collazos (Morir con Papá, 1997), Jorge Franco (Rosario Tijeras, 1999) und Arturo Alape (Sangre ajena, 2000). Quelle: http://ir.uiowa.edu/etd/186/ 829 | Dt.: Auftragskiller. 830 | Wortspiel aus „pistola“ (dt.: Pistole) und „loco“ (dt.: verrückt). 831 | Die Madonna der Mörder. 832 | Die Scherenfrau: Rosario Tijeras. 833 | Nach Soñar no cuesta nada (A Ton of Luck. Rodrigo Triana, 2006, Argentinien/Kolumbien) ist Rosario Tijeras mit über einer Million Zuschauern allein in kolumbianischen Kinos der zweiterfolgreichste kolumbianische Film seit der Einführung des Ley de Cine. Siehe Ospina X. 2007, 6.

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Aufgrund der nachhaltigen Bedeutung der auch als „sicaresca paisa“834 bezeichneten Strömung sollen im Folgenden, zur Illustration des Szenariums der „generalisierten Gewalt“, zwei Filme herangezogen werden, die sich mit der urbanen Gewalt in Medellín beschäftigen. Der erste, La vendedora de rosas, kann als zweiter Teil einer Trilogie verstanden werden, in der der Regisseur Víctor Gaviria unterschiedliche soziale Milieus im Umfeld der Drogenmafia mithilfe von Laiendarstellern porträtiert, die selbst den dargestellten Kontexten angehören. La vendedora de rosas ist einer der wenigen Filme mit einer weiblichen Hauptfigur innerhalb der „sicaresca“ und liefert deshalb einen andersartigen Zugang zum meist männlich dominierten Thema der Gewalt unter den marginalisierten Kindern und Jugendlichen. Als zweiter Film soll La virgen de los sicarios analysiert werden, der in seiner Eigenschaft als internationale Koproduktion und Literatur-Adaption einerseits sehr repräsentativ für die filmische Periode ist 835 und andererseits aufgrund seiner ungewöhnlichen Erzählperspektive, die sich aus Vallejos Ich-Erzählung (der Romanvorlage) und Schroeders filmischer Interpretation derselben (als ausländischer Regisseur, der einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Kolumbien verbracht hat) ergibt, neue Perspektiven eröffnet. Es sei darauf hingewiesen, dass sich prinzipiell auch Filme über den bewaffneten Konflikt auf dem Land zur Illustration des Konzepts der „generalisierten Gewalt“ eigen würden. Edipo Alcalde 836 (Jorge Alí Triana, 1996, Kolumbien/ Spanien/Mexiko/Kuba) beispielsweise, verfilmt nach einer von García Márquez ausgearbeiteten Drehbuch-Adaption des antiken Ödipus-Dramas, handelt von einer hart umkämpften Konfliktregion im Landesinneren, die ein engagierter neuer Bürgermeister entgegen aller Warnungen und Vorhersagen durch vermittelndes Eingreifen befrieden will. Wie in Sophokles Drama bringt er jedoch Unheil über die Stadt, und sein Erscheinen lässt den Konflikt trotz guter Absichten eskalieren. Auch wenn der Vergleich zwischen Theben und der kolumbianischen Konfliktregion zweifellos hinkt – es drängt sich die Frage auf, was der unwissentliche Inzest des Bürgermeisters und dessen Mutter mit den Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Gruppen zu tun haben soll –, 834 | Synonym für das oben skizzierte Genre, das den Ort der Handlung im Bundes­s taat Antioquia und dessen Hauptstadt Medellín hervorhebt, deren Bewohner sowie deren Dialekt umgangssprachlich als „paisa“ bezeichnet werden. 835 | Wie bereits skizziert zeichnen sich die 1990er Jahre durch eine Zunahme der internationalen Koproduktion aus. Nicht selten handelt es sich dabei um Literatur-­A daptionen, z.B. im Fall von Ilona llega con la lluvia (Ilona Arrives with the Rain. Sergio Cabrera, 1996, Kolumbien/Italien/Spanien) oder Edipo Alcalde (Jorge Alí Triana, 1996, Kolumbien/Spanien/ Mexiko/Kuba). 836 | Oedipus Mayor.

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entwirft der Film ein Bild des Konflikts als aussichtsloses Gewalt­szenarium. Die Worte, mit denen der Protagonist beim Amtsantritt im Dorf begrüßt wird, bringen die Botschaft des Films auf den Punkt: „Hier ist nichts zu machen, dreißig Jahre der Zermürbung sind zu viele. Mit einer derart verzwickten Situation und so wenig politischem Willen zu deren Lösung ist der Frieden ferner denn je.“837 Ähnlich düster ist die Aussage von La primera noche 838 (Luis Alberto Restrepo, 2003). Das Drama handelt von einer jungen Frau, die nach einem para­militärischen Massaker in ihrem Heimatdorf, welches von den dort stationierten staatlichen Militärs bewusst nicht vereitelt worden ist, mit ihren beiden Babys in Begleitung ihres desertierten Schwagers nach Bogotá flieht, um dort Arbeit zu finden. Wie der Titel andeutet, handelt der Film von der ersten Nacht als obdachlose Vertriebene auf den Straßen der kalten, regnerischen und anonymen Großstadt, welche sich den Geflohenen zunächst von ihrer dunkelsten Seite präsentiert: als sie in ihrer Not die Babys in einer Straßen­ ecke zur Ruhe legen, kommentieren die Passanten dies mit Überheblichkeit, und ein Polizist nimmt ihnen wegen fehlender Papiere die letzten Ersparnisse ab. Auch ein Altpapier­sammler, der sein Essen mit ihnen teilt, erweist sich als falscher Freund: er bietet der jungen Mutter Geld an, damit sie sich ein Weilchen mit ihm „vergnüge“. Seine Annäherungsversuche werden vom eifersüchtigen Schwager der Frau vereitelt, der den Altpapiersammler angreift. Beide Männer werden im Zweikampf schwer verletzt. Der Film endet mit Aufnahmen der traumatisierten Frau, die allein mit ihren Babys im Arm ziel- und hoffnungs­los in den menschenleeren Straßen das Weite sucht. Restrepo porträtiert mit seinem Debut die aussichtslose Situation der vom Krieg betroffenen Land­bevölkerung, die zwischen einem Leben inmitten der bewaffneten Auseinander­setzungen oder dem Elend als Vertriebene in einer feindlich gesinnten Großstadt wählen müssen.

III.3.2.1 La vendedora de rosas (The Rose Seller. Víctor Gaviria, 1998, Kolumbien) Víctor Gaviria zählt, neben Marta Rodríguez, Luis Ospina und Carlos Mayolo, zu den von wissenschaftlicher Seite am meisten beachteten Regisseuren Kolumbiens. Dies ist zum einen dem internationalen Erfolg seiner Filme geschuldet – Rodrigo D.: No futuro (1990, Kolumbien) und La vendedora de rosas 839 sind 837 | Orig.: „Aquí no hay nada que hacer, treinta años de desgaste son demasiados. Con una situación tan embrollada y con tan poca voluntad política para resolverla, la paz está más lejos que nunca.“ Zitiert in: Oswaldo O. 2010, 37. 838 | The First Night. 839 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Venevision (Hg.): La vendedora de rosas. 2003.

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die einzigen kolumbianischen Filme, die je um die Goldene Palme in Cannes konkurriert haben –, zum anderen seiner besonderen Arbeitsweise: anstatt die Milieus, in denen seine Filme spielen, mithilfe professioneller Schauspieler nachzustellen, konstruiert er seine Geschichten gemeinsam mit Personen aus den betreffenden Kontexten, welche die Rollen auch selbst verkörpern. Sein Kino­debüt Rodrigo D.: No futuro spielt in der Punkszene der Slums von Medellín und thematisiert die Perspektivlosigkeit der marginalisierten Jugendlichen. Sumas y restas 840 (2004, Kolumbien/Spanien), Gavirias bislang letzter Film, stellt die Verstrickungen der Mittel- und Oberschicht in die Drogen­ geschäfte des Medellín-Kartells dar. Mit La vendedora de rosas wagt sich Gaviria ebenfalls an eine schwer zugängliche Personengruppe heran: die der obdach­ losen und überwiegend drogenabhängigen Straßenkinder Medellíns. Um der Lebens- und Denkweise dieser Heranwachsenden auf den Grund zu gehen, begleitet Gaviria einige von ihnen über mehrere Jahre hinweg, persönlich und mit der Kamera. Er besucht sie, interviewt sie, filmt sie und lebt schließlich während der Proben- und Dreharbeiten zu La vendedora de rosas ein Jahr lang mit ihnen in einem Haus zusammen841. Über die nervenaufreibende Arbeit mit den pubertierenden, unter Drogeneinfluss stehenden, analphabetischen Laiendarstellern berichten der Regisseur und sein engeres Team – Produzent Erwin Goggel, Kameramann Rodrigo Lalinde und Kodrehbuchautor Carlos Henau – in zahlreichen Berichten und Interviews842 . Eine der großen Heraus­ forderungen des Drehs bestand darin, das Überleben der Darsteller zumindest für die Dauer der Zusammenarbeit zu gewährleisten – eine Aufgabe, an der das Team jedoch scheitert. Mónica Rodríguez, das Straßenmädchen, von dessen Lebensgeschichte das Drehbuch maßgeblich inspiriert ist und das Gaviria mit der Mehrzahl der Protagonisten bekannt gemacht hat, stirbt noch vor Beginn der Dreharbeiten einen gewaltsamen Tod;843 zum Zeitpunkt der Uraufführung in Cannes, so berichtet Hauptdarstellerin Leidy Tabares, leben einige der männlichen Darsteller nur noch auf der Leinwand.844 Auch Leidy Tabares Leben ist nach dem Filmerfolg, der ihr internationale Schauspiel­ auszeichnungen eingebracht hat 845, weiter von Armut und Gewalt geprägt: nach der Ermordung ihres Ehemannes, der im Film die Rolle des Don Héctor spielt, lebt sie als verwitwete Mutter von zwei Kindern im mütterlichen Haus840 | Addictions and Subtractions. 841 | Siehe Montoya 1997, 58ff. Die Zeit des Zusammenlebens ist auch in dem Dokumentar­ film Cómo poner a actuar pájaros (Erwin Goggel/Sergio Navarro/Víctor Gaviria, 1998, Kolumbien) dokumentiert. 842 | Vgl. Montoya 1997; Gaviria 1996; Ruffinelli 2005. 843 | Siehe Montoya 1997, 58. 844 | Siehe Ruffinelli 2005, 237. 845 | Z.B. beim Festival de Cine de Viña del Mar (Chile, 1998).

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halt, wo sie, von einem Gericht begnadigt, einen Teil ihrer Haftstrafe wegen Mordes an einem Taxifahrer zu Hause absitzt.846 Die überwältigende Mehrheit ihrer einstigen Darstellerkollegen, von denen im Mai 2014 nur noch drei am Leben sind,847 haben jedoch nicht einmal ihr 20. Lebensjahr erreicht. Trotz der schockierenden Realität der Kinder und Jugendlichen in La vendedora de rosas ist der Film, wie Jorge Ruffinelli anmerkt, weder ein „Porträt der Hoffnungslosigkeit“848 noch, wie oftmals behauptet, eine kolumbianische Adaption des italienischen Neorealismus849: Gavirias Porträt der marginalisierten Bevölkerung sei insgesamt optimistischer, da er neben der Gewalt auch den Zusammenhalt, die Moral und die gegenseitige Fürsorge unter den Straßen­kindern thematisiere.850 Auch der Regisseur hebt diesen Aspekt hervor: der Film wolle „ein Fenster zur Menschlichkeit“ sein, „[...] denn wenn wir die Welt schon letztlich nicht zu unserem Gefallen verändern können [...], so können wir wenigstens unseren Blick verändern, ihn bereichern, ihn menschlicher machen, in allen Belangen.“851 Das Drehbuch von La vendedora de rosas entsteht als Montage von Situationen und Dialogen, die Gaviria mit den Kindern und Jugendlichen erlebt hat oder die ihm von diesen überliefert worden sind 852 . Ursprünglich ist der Film jedoch von Hans Christian Andersens Märchen Das Mädchen mit den Schwefel­ hölzern inspiriert. Die Verwandtschaft mit dem Märchen äußert sich vor allem am Ende des Films: Ähnlich wie das Mädchen bei Andersen, dem im Licht der Zündhölzer zunächst ein warmer Kachelofen und schließlich die verstorbene Großmutter erscheinen, die es zu sich in den Himmel holt, halluziniert 846 | Quelle: http://www.semana.com/nacion/articulo/lady-tabares-salio-de-la-carcel/ 386390-3

847 | Quelle: http://www.semana.com/nacion/articulo/lady-tabares-salio-de-la-carcel/ 386390-3

848 | Orig.: „retrato de la desesperanza“. Ruffinelli 2005, 161. 849 | Es sei erwähnt, dass La vendedora de rosas durchaus neorealistische Elemente aufweist, z.B. die Arbeit mit Laiendarstellern an Originalschauplätzen oder der Protagonismus der unteren Schichten. Gavirias Film ist in seiner Dramaturgie und Inszenierung jedoch konventioneller, z.B. was den emotionalisierenden Einsatz von Musik betrifft. Vgl. Gómez 2005, 73. 850 | Vgl. Ruffinelli 2005, 161. 851  | Orig.: „[...] una ventana de humanidad. Porque si al fin no podemos cambiar el mundo a nuestro gusto [...], por lo menos podemos cambiar nuestra mirada, enriquecerla, humanizarla con todos los matices.“ Gaviria 1998, 40. 852 | Gaviria erstellt zunächst, wie schon in Rodrigo D., ein Situationen-Drehbuch ohne feste Dialoge, um den Darstellern einen möglichst großen Spielraum zur Improvisation zu lassen. Um Erwin Goggel als Produzenten zu gewinnen, muss er später die Dialoge im Drehbuch festschreiben. Siehe Montoya 1997, 63.

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Gavirias Protagonistin Mónica von ihrer Großmutter, die dem Waisenmädchen vor ihrem Tod ein einfaches, aber liebevolles Zuhause geboten hat. Wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das in der Silvesternacht aus Angst vor der elterlichen Schelte allein auf der Straße erfriert, stirbt auch Mónica einen vermeidbaren und brutalen Tod, den sie ebenfalls als Wiedersehen mit der Großmutter und als Befreiung von ihrem irdischen Dasein erlebt. Am Weihnachts­abend wird das etwa zwölfjährige Mädchen vor der Ruine der großmütterlichen Hütte von einem Mitglied der Bande, die in ihrem Viertel das Sagen hat, getötet. Im Gegensatz zu Andersens Märchen ist es jedoch nicht die Kälte, die die trost­spendenden Halluzinationen auslöst, sondern die Inhalation von Industrie­k lebstoff, einer verbreiteten Droge unter den Straßenkindern. Mónicas Mörder „El Zarco“ ist dramaturgisch zwar als ‚böser‘ Antagonist zur ‚guten‘ Protagonistin angelegt, jedoch macht die Inszenierung seines schwierigen Umfeldes deutlich, dass auch ihn keine Schuld an seiner gewalttätigen Gesinnung trifft, welche als logische Konsequenz aus seinen Lebensbedingungen resultiert. Für El Zarco gilt, wie für alle anderen Figuren in La vendedora de rosas, dass „ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“853. Dieser Definition Galtungs zufolge sind sie Opfer von „struktureller Gewalt“, von Lebensumständen, die sie an ihrer freien Entfaltung hindern. Sie sind somit Opfer und Täter zugleich. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Víctor Gaviria: „Diese Kids sind nicht arm an Menschlichkeit, sie sind arm an Möglichkeiten.“854 Ihre in die Filmdialoge eingestreuten philosophischen Reflexionen, die überwiegend aus den im Vorfeld des Drehs geführten Interviews stammen,855 zeugen von jenem Potenzial, das der Regisseur hinter den gezeichneten Gesichtern seiner Darsteller zum Vorschein zu bringen versucht 856. Aufgrund der Tatsache, dass La vendedora de rosas einerseits eine konstruierte dramatische Handlung aufweist, andererseits aber um eine authentische, beinahe dokumentarische Darstellung der Lebensumstände der Kinder bemüht ist, ist der Film häufig als eine Art fiktionale Milieustudie wahrgenommen worden. Oswaldo Osorio ordnet den Film dem „Kino der Marginalität“,

853 | Galtung 1975, 9. 854 | Orig.: „Estos pelados no tienen pobreza humana, tienen pobreza de oportunidades.“ Víctor Gaviria, zitiert in: Montoya 1997, 63. 855 | Siehe Montoya 1997, 60. 856 | Als Beispiel für die Philosophie der Straßenkinder wird in der Fachliteratur häufig die Antwort eines barfüßigen, klebstoffschnüffelnden Straßenjungen („La Chinga“) zitiert, der auf Mónicas Frage, warum er die Schuhe nicht trage, die sie ihm geschenkt hat, entgegnet: „Wozu Schuhe, wenn es kein Zuhause gibt.“ (Orig.: „Pa‘ qué zapatos si no hay casa.“). 1:06:14-1:06:16.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

genauer dem „Schmutzigen Realismus“ zu 857, den Christian León folgendermaßen definiert: „Der schmutzige Realismus war eine Bezeichnung, mit der eine Reihe von Filmen über die urbane Gewalt zusammengefasst wurden, die mithilfe von dokumentarischen Verfahren die dramatische Handlung von Figuren rekonstruierten, die gesellschaftlich marginalisiert und vom Konsum ausgeschlossen waren. In diesen Filmen werden Waisen, Vergessene, Arbeitslose und Kriminelle ohne die pittoresken und patriarchalischen Betrachtungs­ weisen des goldenen Zeitalters des Melodrams und des Musicals betrachtet.“858

Die meisten Untersuchungen setzen sich, diesem Ansatz entsprechend, mit den Lebensbedingungen der Kinder in La vendedora de rosas bzw. mit der Inszenierung und Darstellung des Marginalen auseinander. Juana Suárez legt dabei, ebenso wie Geoffrey Kantaris859, einen besonderen Schwerpunkt auf die sprachliche Ebene des Films, in der sich die Übertragung der mafiotischen Gewalt­ kultur auf die unteren sozialen Schichten zeige860. Auch die drastische Wandlung der Familien- und Gesellschaftsstrukturen durch die „Narco-Kultur“861, wie sie im Film anhand der Alltagserfahrung der Kinder und Jugendlichen deutlich wird, wird bei Suárez vertieft.862 Andere Untersuchungen konzentrieren sich auf die Abgrenzung von dokumentarischen und fiktionalen Elementen in Gavirias Werk sowie auf die Analyse seiner besonderen Arbeitsweise.863 In der nun folgenden Analyse soll, wie es der Schwerpunkt dieser Arbeit nahelegt, ein besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen Formen und Ebenen der Gewalt gelegt werden, die den Alltag der Protagonistinnen prägen. Dabei sollen drei unterschiedliche Kontexte betrachtet werden, in denen die Mädchen Gewalt erfahren, Gewalt ausüben oder mit Gewalt auf Gewalt reagieren: erstens ihr familiärer Kontext, dem sie aus unterschiedlichen Gründen 857 | Siehe Osorio O. 2010, 80. 858 | Orig.: „El realismo sucio fue una denominación con la que se agrupó a una serie de filmes de violencia urbana que a través de procedimientos documentales reconstruyen el relato dramático de personajes marginados socialmente y excluidos del consumo. En estas películas, los huérfanos, los olvidados, los desempleados, los delincuentes son mirados sin las consideraciones pintorescas y paternalistas de la era de oro del melodrama y el musical.“ León C. 2006. 859 | Vgl. Kantaris 2008, 123. 860 | Der sogenannte „parlache“, der spezifische Slang der Straßenkinder, ist zunächst nur im direkten Umfeld der Mafia gebräuchlich, geht in den 1980er Jahren jedoch auch auf andere Bevölkerungsgruppen über. Siehe Suárez 2009 (1), 99. 861 | Vgl. Kapitel III.2.1. 862 | Vgl. Suárez 2009 (1), 97ff. 863 | Vgl. Smith 2005, Kapitel 1, 3.

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entfliehen, zweitens die selbst gewählte Gemeinschaft der Straßenkinder, die sie trotz aller Widrigkeiten dem familiären Kontext vorziehen, und drittens die Gruppe der männlichen Heranwachsenden, die im Umfeld der Drogenmafia agieren und mit denen die Mädchen sich ihren Aktionsraum teilen. Dabei soll der Paradigmenwechsel veranschaulicht werden, der sich in Bezug auf die filmische Darstellung von Gewalt im innerkolumbianischen Kontext gegen Ende der 1990er Jahre vollzieht: nicht die organisierte politische Gewalt der bewaffneten Gruppen steht im Vordergrund, sondern eine generalisierte, alltägliche, private Gewalt, die einerseits aus der strukturellen Gewalt resultiert, von der die marginalisierten Bevölkerungsgruppen betroffen sind, und andererseits durch die mafiotische Gewalt bedingt ist, die zu Zeiten des Kartell-Terrors den urbanen Raum fest im Griff hat. Interessanterweise stellt Gavirias Inszenierung nicht die materielle Not der Straßenkinder als entscheidende Ursache ihres Mangels an Möglichkeiten und, damit zusammenhängend, ihrer Verhaltensweisen in den Vordergrund, sondern ihre emotionale Not, hervorgerufen durch das Fehlen eines liebevollen Zuhauses. Während sich ihre materiellen Wünsche in der Darstellung des Films zum größten Teil erfüllen864, finden ihre emotionalen Bedürfnisse nur in ihren durch Klebstoffinhalation herbeigeführten Halluzinationen Befriedigung. mithilfe der Droge versetzen sie sich in ferne Momente familiärer Geborgenheit zurück. Mónica träumt im Rausch von ihrer Großmutter, die am Küchentisch sitzt und sich über den Kakao freut, den sie ihr serviert;865 am Weihnachtsabend, kurz vor ihrem Tod, erscheinen ihr Szenen einer rauschenden Weihnachtsfeier im Kreis der Familie.866 Auch Claudia, die sich mit Mónica und drei anderen Mädchen – Judy, Andrea und „Cachetona“867 – eine Unterkunft teilt, halluziniert im Klebstoffrausch mit einer Ikone kindlicher Geborgenheit: im Halbschlaf meint sie mit ihrem verloren geglaubten Teddybär zu schmusen, in Wirklichkeit ist dieser jedoch ihre Zimmer- und Bettgenossin Cachetona, die sich der Umarmungen zu erwehren versucht.868 Gaviria zufolge suchen die Straßenkinder mithilfe des Klebstoffs den Zugang zu den

864  | Wenn die Jugendlichen Geld benötigen, wird es durch Arbeit, Verkauf oder Dieb­s tahl „aufgetrieben“. Sogar für gewisse Luxusgüter wie Festtagsklamotten oder größere Mengen Feuerwerkskörper reicht ihr „Einkommen“ aus. 865 | Diese Traumsequenz (1:00:00-1:01:00) ist auf der Tonebene durch meta­d iegetische Chorgesänge als solche gekennzeichnet. 866 | Diese schöne Fantasie verwandelt sich in einen Horrortrip, als sich der frittierte Schweinebauch – ein typisches Weihnachtsessen – zu bewegen beginnt. 1:46:43-1:47:41. 867 | Dt.: „die Pausbäckige“. 868 | 1:08:28-1:09:40.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

„Ursprüngen der Liebe“869, der elterlichen Liebe, die ihnen seit frühester Kindheit verwehrt oder entzogen worden ist.870 Die Klebstoffflaschen, an denen die Kinder hängen wie Säuglinge an der Mutterbrust, werden im übertragenen Sinne zum Bindeglied zwischen den seelisch verwaisten Kindern und deren Wunsch nach elterlicher Geborgenheit. Gaviria zufolge erinnert die Präsenz der Klebstoffflaschen an die Abwesenheit der Personen, die sie einst gesäugt oder ihnen das Fläschchen gegeben haben.871 Der Hauptgrund, aus dem sich die Protagonistinnen trotz dieser Sehnsucht für die Straße entscheiden, ist die zu Hause erfahrene Gewalt 872 . Im Vergleich zu ihren Eltern­häusern, wo sie beschimpft, eingesperrt, geschlagen oder sexuell missbraucht werden, bietet ihnen die Straße, wie der Regisseur erklärt, ein gewisses Maß an Selbstbestimmung, Freiheit und Würde.873 Der Film macht dies an mehreren Stellen deutlich, z.B. als Mónica nach der sexuellen Belästigung im Haus ihrer Tante Viviana niedergeschlagen ihr Heimatviertel verlässt,874 und kurz darauf im Stadtzentrum, aufgemuntert durch die Begegnungen mit ihren Bekannten, mit einem selbstbewussten Lächeln durch die belebten Straßen geht.875 Für Judy, die den strengen Haushalt ihrer alleinerziehenden Mutter ihrer persönlichen Freiheit willen verlassen hat, ist das von zu Hause Abhauen eine notwendige Maßnahme zur „Erziehung“ der Mutter: „Mütter sind das Schlimmste überhaupt, man muss ihnen Respekt beibringen.“876 Besonders anschaulich inszeniert Gaviria die innerfamiliäre Gewalt und die damit verbundene Rebellion der Kinder anhand von Andreas Geschichte. Der Film beginnt mit einer Sequenz, in der das zehnjährige Mädchen von der Mutter beschuldigt wird, das Radio kaputt gemacht zu haben. Obwohl Andrea ihre Schuld leugnet, schimpft die Mutter heftig und schlägt sie schließlich, worauf das Mädchen durch ein Fenster in die anbrechende Dunkelheit entflieht.877 Auf ihrem Weg durch die weihnachtlich geschmückte Wellblechsiedlung und über eine an869 | Orig.: „fuentes del amor“. Víctor Gaviria, zitiert in: Montoya 1997, 60. 870  | Siehe Montoya 1997, 59. 871 | Siehe Gaviria 1996, 6. 872  | Im Falle Mónicas und Andreas wird die innerfamiliäre Gewalt direkt inszeniert, bei Judy, Claudia und Cachetona in Dialogen andeutet. 873  | Siehe Gaviria 1998, 40ff. 874 | 1:02:10-1:02:30. 875  | Der Kontrast zur Beklemmung und Angst, die Mónica im familiären Umfeld verspürt, wird in dieser Sequenz durch den Einsatz einer freudiger Musik noch verstärkt. 1:05:011:06:00. 876 | Orig.: „Las mamás son muy gonorreas [vulgäres Schimpfwort, wörtlich: Tripper], hay que hacerlas respetar.“ 09:06-09:10. 877  | Die Auseinandersetzung ist nur auf der Tonebene inszeniert. Auf der Bildebene werden Aufnahmen der Siedlung, der belebten Gassen sowie deren Bewohner eingeblendet, die

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grenzende Zufahrtsstraße wird deutlich, dass körperliche Gewalt nicht nur in Andreas Elternhaus zum Umgangston gehört. Zögerlich passiert das Mädchen eine Gruppe betrunkener Männer – es handelt sich dabei, wie der Zuschauer später erfährt, um eine einflussreiche Bande, die in Drogen­geschäfte und Auftragsmorde verwickelt ist –, wobei einer der Männer (El Zarco) ohne ersichtlichen Anlass nach ihr tritt. Als die Bande weiterzieht, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, bekreuzigt sich Andrea erleichtert darüber, dass sie mit einem Tritt davongekommen ist.878 Gemeinsam mit der frisch entlaufenen Andrea lernt der Zuschauer die Gruppe der Straßenmädchen kennen. Auch wenn Andrea sofortige Solidarität von der Gemeinschaft erfährt 879, muss sie feststellen, dass gewalttätige Auseinander­setzungen auch hier zur Tagesordnung gehören und dass die Fürsorge ihrer neuen Verbündeten ebenso unzuverlässig ist wie die der Mutter: Mónica wird beim Rosenverkaufen von einem patrouillierenden Polizisten geschlagen und deswegen von Judy, die dem Polizisten entkommt, gehässig ausgelacht;880 Cachetona lässt Andrea nach der Arbeit in einer dunklen Gasse alleine, worauf diese beinahe Opfer einer Vergewaltigung wird;881 Judy, die Mónica im Stich lässt, sobald sie männliche Gesellschaft findet, wird von einem potenziellen Freier angeschossen, als sie nicht auf dessen Wünsche eingehen will.882 Auch die jugendlichen Drogenverkäufer an der 70. Straße, mit denen die Mädchen befreundet sind, bieten ihnen nur bedingt Schutz. Zwar verteidigen sie sie gegen übergriffige Fremde (sie schlagen Andreas Verfolger in die Flucht, lynchen dann jedoch versehentlich einen Unschuldigen883), als Gegenleistung erwarten sie jedoch die körperliche Zuwendung der Mädchen. Am deutlichsten wird dies bei Anderson884, der Mónicas Gefühle für ihn ausnutzt und die zehnjährige Andrea zu verführen versucht, welche die Annährungs­versuche zutiefst verunsichern.885 dem Streit lauschen. Erst als Andrea das Haus verlässt und die Straße betritt, richtet sich der Kamerablick auf sie. 00:30-01:05. 878  | 01:20-01:30. 879  | Andrea darf mit den Mädchen Rosen verkaufen und das Zimmer teilen. 880 | 07:20-07:45. 881 | 33:00-40:46. 882 | 1:35:00-1:35:57. 883 | 40:25-41:55. 884  | Gaviria zufolge wurde der Name Anderson einerseits als Hommage auf den Märchenautor Hans Christian Andersen gewählt, andererseits greift er einen Trend der 1990er Jahre auf, demzufolge gerade Kindern aus den untersten Gesellschaftsschichten nordamerikanische Namen zuteil werden, welche ggf. in ihrer Schreibweise der spanischen Aussprache angepasst werden. Siehe Montoya 1997, 60. 885 | 1:34:32-1:36:32.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Neben der Gewalt, die, wie aus diesen Beispielen hervorgeht, von außen auf die Mädchen einwirkt, ist auch das Verhalten der Mädchen untereinander von subtiler Gewalt, oder zumindest von Boshaftigkeiten, geprägt. Beleidigungen886 gehören ebenso zum Umgangston wie rücksichtsloses, selbstsüchtiges Verhalten: Judy hilft Andrea, die Rollschuhe ihrer Schwester zu verkaufen, betrügt sie dann aber um einen Teil des Erlöses; Marcela, eines der älteren Straßenmädchen, spannt Mónica mit Judys Hilfe Anderson aus, obwohl beide wissen, dass sie Mónica damit verletzen. Mónica fühlt sich häufig von ihren älteren Zimmergenossinnen zurückgestoßen, weil diese gemeinsame Verabredungen wegen verheißungsvolleren Angeboten platzen lassen. Mónica selbst versetzt jedoch die jüngere Andrea, der sie versprochen hat, sie zum Abholen ihrer Sachen nach Hause zu begleiten. Die Beispiele lassen eine hierarchische Ordnung nach Alter und Erfahrung unter den Mädchen erkennen. Ein ungeschriebenes Gesetz scheint den Älteren das Recht zuzusprechen, ohne Rücksicht auf die Jüngeren zum eigenen Vorteil zu handeln. Dass dieses gruppeninterne Wertesystem auf eine gesellschaftlich etablierte Norm zurückgeht, lässt ein Kommentar von Judy vermuten, als sie von Cachetona dafür kritisiert wird, dass sie Andrea zu Dienstbotengängen abkommandiere887: „Was glaubst du eigentlich, in welchem Land wir hier sind...“888 Die Fähigkeit der Mädchen, auch schwere Enttäuschungen schnell zu verzeihen, deutet auf ihre diesbezügliche Abhärtung hin: Als Judy Andrea und Mónica Klamotten schenkt, die sie ohne vorherige Absprache vom Erlös der Rollschuhe erworben hat, und die beleidigten jüngeren Mädchen anschließend fragt, ob sie nun Freundinnen oder Feindinnen seien,889 ist Mónicas Antwort, der persönlichen Enttäuschung zum Trotz, eindeutig: „Freundinnen.“890 Mónica und Judy umarmen sich versöhnlich (N), und Andrea lässt sich aufatmend auf ihr Bett zurückfallen (G). Die Großaufnahme, mit der die Kamera Andreas Erleichterung über die Wieder­ herstellung der Freundschaft einfängt, verleiht dem übergroßen Bedürfnis der Kinder nach verlässlicher Liebe und Zusammenhalt Ausdruck. Der Moment, als Judy und Mónica Andrea in ihre Umarmung miteinschließen (Three-Shot, Nah), stellt den Höhepunkt der emotionalen Erfüllung der Protagonistinnen im gesamten Film dar. Die Tatsache, dass sie diesen Augenblick des Glücks weder in der Familie noch mit ihren Liebhabern, sondern in ihrer eigenen kleinen Gemeinschaft erfahren, relativiert den Eindruck der unzuverlässigen 886 | Das umgangssprachliche Schimpfwort „gonorrea“, das in jedem Dialog dieses Films mindestens einmal vorkommt, richten die Mädchen auch gegeneinander. 887  | Andrea muss für Judy das Zimmer putzen und Zigaretten holen. 1:10:02-1:10:32. 888 | Orig.: „Y que cree en que país estamos...“ 1:10:25-1:10:32. 889 | Orig.: „Pero de todas maneras, como vamos a quedar: ¿como amigas, o como enemigas?“ 1:19:02-1:19:06. 890 | Orig.: „Como amigas.“ 1:19:07-1:19:09.

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Freundschaft und macht ihre Entscheidung für das gefährliche Leben auf der Straße verständlich. Im Gegensatz zu Mónica, deren Entscheidung aufgrund des Fehlens von Eltern oder Großeltern alternativlos erscheint, ist Andrea zwischen zwei Übeln – der Gewalt zu Hause und der Gewalt auf der Straße – hin- und hergerissen. In der Sequenz, in der sie am Morgen nach ihrem Verschwinden das Haus der Mutter aufsucht,891 wird ihr Zwiespalt besonders deutlich. Bevor sie die Wohnung durch das Fenster betritt, ruft sie zögerlich nach ihrer Mutter. Die Rosen, die sie mitgebracht hat, deuten darauf hin, dass sie sich gerne versöhnen würde. Doch anstatt sich über die Rückkehr der Tochter zu freuen, tobt die Mutter wie am Abend zuvor: grob packt sie Andrea am Arm und möchte unter Beschimpfungen wissen, wo sie sich herumgetrieben habe.892 Andrea, die ihr zu entkommen versucht, bittet sie, sie nicht zu schlagen, aber die Mutter ist nicht zu bremsen: „Ich soll dich nicht schlagen?“ – sie schlägt sie – „Setzt dich hier her, nimm dies, damit du lernst zu respektieren, du Göre.“893 Im Versuch, der Mutter auszuweichen, sucht Andrea abwechselnd auf ihrem eigenen Bett und dem ihrer jüngeren Halbschwester Schutz. Die von Hand geführte, unruhige Kamera folgt ihr hin und her durch den engen Wohnraum, was die Dramatik der Szene noch erhöht. Andreas wütende Frage „Und warum schlägst du die andere nicht, du Hure?“894 macht deutlich, dass Andrea weniger unter der Tatsache ihrer körperlichen Misshandlung als unter der Bevorzugung der jüngeren Schwester leidet. Im darauffolgenden Schlagabtausch wechselseitiger Beschimpfungen lässt auch Andrea ihrer Wut freien Lauf. Als die Mutter zur Arbeit auf bricht und sich vor dem Haus lautstark bei der Nachbarin über ihre „missratene Göre“ beschwert, die die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen ist, senkt Andrea schuldbewusst den Kopf (N)895. Die Antwort der Nachbarin verblüfft die lauschende Andrea ebenso wie den Zuschauer, der in diesem Film nur selten mit vernünftigen Äußerungen von Seiten eines Erwachsenen konfrontiert wird: „Behandeln Sie sie gut, Doña Magnolia. […] Es ist vorzuziehen, eine rebellische Tochter daheim zu haben, als dass sie auf die Straße geht und auf die schiefe Bahn gerät.“896 Als die Mutter verschwunden ist, öffnet Andrea den Vorhang zum Bett ihrer Schwester und betrachtet die von Kuscheltieren umringte Schlafende (N). 891 | 49:58-51:26. 892 | 50:18-50:29. 893 | Orig.: „¿Cómo que no me pegue? - Sientese aquí, tome esto, pa‘ que respete, culicagada.“ 50:35-50:41.

894 | Orig.: „Y usted a la otra ¿por qué no la pega, malparida?“ 50:43-50:45. 895 | 51:00-51:04. 896 | Orig.: „Pero tratela bien, Doña Magnolia. […] Es preferible tener una nina rebelde en la casa a que se le vaya a la calle a coger vicio.“ 51:02-51:12.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Anschließend schließt sie den Vorhang, wirft sich auf ihr eigenes Bett und vergräbt den Kopf im Kissen (HT). Der durch die Montage ausgedrückte Wunsch, sich ebenso geborgen fühlen zu dürfen wie die kleine Schwester, wird auf der Tonebene zusätzlich durch das Erklingen einer Kinderspieluhr untermalt.897 Im weiteren Verlauf der Sequenz, welche durch eine Parallelmontage semantisch mit der Sequenz verbunden wird, in der Mónica ihre Tante Viviana besucht und dort der sexuellen Belästigung durch deren Ehemann zum Opfer fällt 898, wird der Zuschauer Zeuge, wie Andrea ihre Wut in einer Attacke gegen den leiblichen Vater ihrer Schwester entlädt, dem sie ihre familiäre Situation zuschreibt. Zunächst beschimpft sie den noch im Bett liegenden Stiefvater, der sie, wie ein subjektiver Kamerablick suggeriert, vom Bett aus lüstern betrachtet 899. Andrea beschuldigt ihn unter anderem, die Mutter auszubeuten, die sich für ihn zu Tode schufte.900 Als er entgegnet, diese Angelegenheit gehe nur ihn und ihre Mutter etwas an, mit ihr hingegen wolle er nichts zu tun haben, schlägt Andrea mit einem Besen auf ihn ein.901 Paradoxerweise verteidigt Andrea im Streit mit dem Stiefvater ihre gewalttätige Mutter, als hoffe sie, die Abwesende als Verbündete gewinnen zu können: „Was meine Mutter angeht, geht auch mich an, verstanden?“902 Die nächste Adressatin ihrer Wut ist die Halbschwester, welche auf Rollschuhen zur Tür hereinkommt, als Andrea ihre spärliche Habe in einen Pappkarton packt.903 Das Bild der neuen, leuchtend grünen Rollschuhe, die vor der Kulisse der ärmlichen Behausung wie ein Fremdkörper wirken und von der Kamera mit einer Detailaufnahme gewürdigt werden,904 macht die privilegierte Stellung der kleineren Schwester unmissverständlich klar. Um ihre Rolle wissend („Ich bin die Kleinere und meine Mama hat mich mehr lieb.“905), begrüßt das Mädchen Andrea ebenfalls mit Beschimpfungen, worauf diese sie brutal aus der Wohnung stößt. Auch Andrea beruft sich dabei auf ihre Privilegien als Ältere: „Ich bin die Ältere, ich

897 | 51:20-51:25. 898 | Als Mónica sich auf dem Bett der Tante ausruhen möchte, kommt ihr Onkel herein, betatscht sie und möchte wissen, wie viel sie und ihre Freundinnen für einen „Blow-Job“ verlangten. Mónica kann den Eindringling abwehren und flieht auf die Straße. 1:01:00-1:01:35. 899 | Gaviria stellt hier eine unmittelbare Verbindung zwischen Andreas und Mónicas Missbrauchs­g eschichten her, als er diesen Teil der Sequenz (57:01-57:03) und die Szene, in der Mónica vom Onkel belästigt wird, direkt aneinander montiert. 900 | 57:36-57:39. 901 | 57:40-57:59. 902 | Orig.: „Lo que es con mi mamá es conmigo, ¿oyó?“ 57:45-57:47. 903 | 58:01-59:26. 904  | 58:22-58:25. 905 | Orig.: „Yo soy la menor y mi mamá me quiere más a mí.“ 58:59-59:00.

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darf dich herumkommandieren.“906 Die Sequenz veranschaulicht das „Gesetz des Stärkeren“, welches innerhalb des Viertels, der Familie sowie der Gemeinschaft der Straßenkinder vor allen anderen Regeln zu gelten scheint. Zum anderen wird der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt veranschaulicht, in dem alle Protagonisten, einschließlich der Mitglieder von Don Héctors Bande, gefangen sind: wer Gewalt von oben erfährt, gibt diese nach unten weiter, und wer es wagt, gegen höher Gestellte zu rebellieren – wie El Zarco gegen Don Héctor oder Andrea gegen die Mutter –, wird dafür bestraft. Im Gegensatz zu Andreas und Cachetonas Geschichte, die im Verlauf des Films nach Hause zurückfinden907, nimmt Mónicas Schicksal eine tragische Wendung. Ausgerechnet die großzügige Geste eines betrunkenen Mittelstands­ bürgers, der Mónica aus Mitleid eine Kinderarmbanduhr schenkt,908 wird für das Mädchen zum Verhängnis. El Zarco, der die Uhr an ihrem Arm entdeckt und seinem Neffen zu Weihnachten schenken will, nimmt sie ihr gewaltsam ab und tauscht sie gegen die Uhr seines letzten Mordopfers ein.909 Dass die Uhr eines Ermordeten Unglück bringe, wird an mehreren Stellen im Film, als Vorausdeutung auf Mónicas Schicksal, erwähnt.910 Beim Duschen ruiniert Norman911 – so El Zarcos bürgerlicher Name – die Kinderuhr versehentlich. Aus Wut über seinen Fehler droht er Mónica mit dem Tode, wenn sie ihm seine alte Uhr nicht zurückgebe.912 Kurz darauf erhält er jedoch selbst eine Mord­drohung, überbracht von einem Mitglied seiner Bande: Don Héctor, der das wiederholte eigenmächtige Handeln El Zarcos als Missachtung seiner Befehls­gewalt begreift, hat seine Ermordung befohlen. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern entdeckt El Zarco Mónica, die in den Trümmern des großmütterlichen Hauses auf dem Boden kauert und im Licht einer Wunderkerze halluziniert. Da sie ihm seine Uhr nicht zurückgeben kann (sie hat sie gegen Feuerwerk eingetauscht), tötet er sie durch Fußtritte, und, wie eine flüchtige Detail­aufnahme andeutet, 906 | „Yo soy la mayor, yo la puedo mangonear por allá.“ 58:57-58:59. 907 | Andrea wird am Weihnachtsabend wieder von der Mutter aufgenommen, die sich bei ihr entschuldigt und ihr ihre Liebe versichert; Cachetona wird unter den neidvollen Blicken ihrer Zimmergenossinnen von ihrem Vater abgeholt, der sich ebenfalls bei ihr entschuldigt und es als einer der wenigen Figuren in La vendedora de rosas schafft, sein Ziel (die Tochter mit sich zu nehmen) ohne Gewaltanwendung zu erreichen. 908 | 23:50-24:30. 909 | 48:28-49:55. 910 | Der Händler beispielsweise, bei dem Mónica die Uhr gegen Feuerwerk eintauschen will, möchte sie aus diesem Grund zunächst nicht haben. 1:23:22-1:23:52. 911 | Eine Anspielung auf Hitchcocks Psycho ist bei der Namensgebung naheliegend. Siehe Ruffinelli 2005, 160. 912 | 1:28:00-1:29:12.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

mit einem Messer,913 unmittelbar bevor er selbst durch die Kugel eines minderjährigen Schützen aus Don Héctors Reihen stirbt.914 Seine Ermordung ist aus der Perspektive Don Héctors und seiner Bande gerechtfertigt, denn das kriegsinvalide Bandenoberhaupt bangt um seine Autorität im Viertel und lässt daher jeden töten, der sie untergräbt. Seine Untergebenen beschützt Don Héctor im Gegenzug für ihre Treue, deshalb rächt er Mónicas Cousin Giovani, den El Zarco mit einem Messer angegriffen und an der Hand verletzt hat. Mónicas Tod, der durch den Stillstand der Kinderuhr im Vorfeld symbolisch angedeutet wird, ist als tragische und zugleich erlösende Fügung des Schicksals inszeniert. Ihr Tod steht dabei metaphorisch für die lang ersehnte Rückkehr zur verstorbenen Großmutter. Mónica geht auf die Großmutter zu (HN), die sie mit geöffneten Armen erwartet (N). Die Großmutter nimmt sie auf den Arm,915 Mónicas Gesichtsausdruck verrät Erleichterung und Glück­ seligkeit (G).916 Während ihr Körper in den Armen der alten Frau leblos zusammensackt (Topshot, N) und sie die Augen schließt (G),917 sind auf der Tonebene Kirchenglocken und verheißungsvolle Chorgesänge zu hören.918 Auf die Großaufnahme der Sterbenden folgt ein Kameraschwenk von unten nach oben (W), welcher ein Bild der ärmlichen Ziegelbehausung, die einst Mónicas Zuhause war, in eine Ansicht des Nachthimmels überleitet, an dem sich das weihnachtliche Feuerwerk abspielt.919 Der Schwenk, ebenso wie die Inszenierung des Todesmoments als Topshot, erwecken den Eindruck einer göttlichen Vorher­sehung, die endlich in Erfüllung geht. Auch die Schlusssequenz des Films, in der die beiden Leichen von spielenden Kindern gefunden werden, lässt eine symbolisch-metaphorische Deutung zu. Am Ufer eines Kanals stoßen zwei Jungen auf die Leiche von El Zarco, der blutüberströmt, mit offenen Augen und ausgebreiteten Armen, in der von Müll gesäumten Kanalböschung liegt (G).920 Ein wacklig ausgeführter Schwenk (Handkamera) nach oben zum Rand der Böschung lässt einen Zufluss aus einer Gasse des Viertels sichtbar werden, aus dem weiteres Blut in den Kanal

913 | 1:48:35. 914 | Wie der Mord an Mónica wird auch dieser mithilfe von dunklen, schnell wechselnden Einstellungen stark fragmentiert inszeniert. Einzig der Todesschütze, ein etwa zehnjähriger Junge in der typischen Kleidung der mexikanischen Mariachis, ist deutlich zu erkennen (N). 1:48:15-1:48:48. 915 | Eine Detailaufnahme zeigt, wie Mónicas Füße vom Boden abheben. 1:48:53. 916 | 1:48:58. 917  | 1:49:10. 918 | 1:48:48-1:49:40. 919 | 1:49:25-1:49:30. 920 | 1:50:10.

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fließt und sich dort mit dem der Leiche mischt – ein Symbol für die Allgegenwart der Gewalt in diesem und allen anderen Slums von Medellín.921 Die Vererbung der Gewalt an die nachkommende Generation wird zum einen durch den Umstand angedeutet, dass Kinder El Zarcos Leiche finden, zum anderen sorgt dieser am Vorabend seiner Ermordung, wohl aus weiser Voraussicht, selbst für deren Ahndung, als er seinen etwa sechsjährigen, andächtig lauschenden Neffen instruiert, ihn gegebenenfalls zu rächen: „Du musst für mich aufkommen und mir den Rücken decken. […] Und wenn mich jemand tötet, wirst du wachsen, und wenn du groß bist, wirst du dich erinnern, wer mich getötet hat, weil du mir den Rücken decken musst. […] Und von heute an wirst du mir immer den Rücken decken, immer...“922 Dass auch sein Mörder ein Kind ist, das bei Don Héctor zum Auftragsmörder ‚ausgebildet‘ wird923, verweist ebenfalls auf die Vererbung der Gewalt – und der damit zusammenhängenden Racheakte – auf die jüngere Generation. Auch Mónicas Leiche wird von Kindern gefunden, die jene beim Balancieren über eine Mauer in den Trümmern entdecken. Im Gegensatz zu Normans Leiche bietet die von Mónica keinen erschreckenden Anblick: das Mädchen sieht so friedlich aus, dass die Kinder es zunächst für schlafend halten.924 Erst als die Kamera von einer halbtotalen Einstellung bis zur Großaufnahme an Mónica heranzoomt (Topshot), wird eine Wunde an ihrer Brust sowie eine Blutspur an ihrem Mund sichtbar. Mit dem nun einsetzenden Titelsong – eine Ode an eine schöne Rosenverkäuferin, die das Herz des Sängers mit sich genommen hat – und dem Wechsel auf eine Totale des Nachthimmels, in deren Mitte ein Vollmond prangt, setzt Gaviria Mónica und all den anderen Straßenkindern dieser Welt ein Denkmal. Aufgrund der Tatsache, dass Rodrigo D.: No futuro und La vendedora de rosas die Allgegenwart der Gewalt im Medellín der 1990er Jahre – zumindest innerhalb der sozial benachteiligten Schichten, die zahlenmäßig den größten Teil der kolumbianischen Bevölkerung ausmachen – eindrucksvoll illustrieren, während das daneben existierende Medellín der ‚Schönen und Reichen‘ mit seiner

921  | 1:50:13-1:50:22. 922 | Orig.: „Usted tiene que responder por mi y cuidar mi espalda. […] Y si alguien me mata, usted va a crecer, y cuando crezca usted pilló quien me mató, porque usted debe cuidar mi espalda. […] Y a partir de hoy, siempre me va a cuidar la espalda, siempre...“ 1:25:121:25:35. 923 | Der Junge wird zuvor gezeigt, als er Dienstbotengänge für Don Héctor ausführt und von diesem ein großes Potenzial bescheinigt bekommt. 47:37-48:05. 924 | 1:50:28-1:50:57.

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boomenden Textilindustrie und seiner Metro925 keinen Platz in diesem Film bekommt, haben Gavirias Werke landesintern auch Kritik geerntet: die Filme seien gewaltverherrlichend und beschmutzten das Image der Stadt und des Landes.926 Außerdem sei die Vermischung von Dokumentation und Realität bedenklich, da sie eine gewisse Komik auf Kosten der unprofessionellen Darsteller erzeuge.927 Dem Vorwurf der Gewaltverherrlichung kann klar entgegengesetzt werden, dass Gaviria physische Gewalt weder ausstellt noch beschönigt, im Gegenteil: wenn sie überhaupt im Bild dargestellt wird, dann sorgen dunkle Lichtverhältnisse, verrissene Handkameraaufnahmen und Zwischen­ schnitte für einen subtilen Inszenierungstil, der in scharfem Kontrast zu den effekthascherischen oder fetischisierenden Darstellungen steht, wie sie in TV-Serien oder kommerziell ausgerichteten Kinofilmen mit ähnlichem Sujet präsentiert worden sind928. Darüber hinaus sind die weiblichen Sympathieträgerinnen des Films vorwiegend Opfer der Gewalt. Da der Zuschauer mit den Mädchen mitfühlt, neigt er dazu, die Gewalt, die von ihren Widersachern ausgeht, zu verurteilen. Suárez zufolge können Gavirias Filme auch als Antwort auf seinen eigenen kritischen Text Las latas en el fondo del río (1981) aus den frühen 1980er Jahren gelesen werden, in welchem er, gemeinsam mit Coautor Luis Alberto Álvarez, mit der zentralistisch strukturierten Filmproduktion der Hauptstadt abrechnet.929 Tatsächlich entspricht Gavirias Medellín-Trilogie der dort proklamierten Vorstellung von einem Kino mit regionaler Identität, denn die Wahl realer Schauplätze verhindert einen kulissenhaften Eindruck der Drehorte, während die Arbeit mit milieuinternen Darstellern ohne Eingriff in deren Ausdrucksformen und Lebensgewohnheiten ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit der Figuren mit sich bringt.930 In La vendedora de rosas wird mithilfe der Verstrickung von Mónicas und El Zarcos Geschichten ein Zusammenhang zwischen der mafiotischen Auftrags­ gewalt und der ‚alltäglichen‘, privaten Gewalt hergestellt. Ihre Schicksale sind, wie der Regisseur betont, letztlich Produkte des Zufalls:931 Hätte Mónica nicht die Uhr geschenkt bekommen, wäre sie nicht ermordet worden, und hätte El 925 | Medellín ist die einzige kolumbianische Stadt mit Metro-System. Dieses ist daher ein Statussymbol der Stadt und wird im Film häufig entsprechend in Szene gesetzt. 926 | Für Juana Suárez ist die „kolumbianische Besessenheit“ (orig.: „la obsesión colombiana“) auf ein gutes Image im Ausland für die negative Kritik an Gavirias Kino verantwortlich. Siehe Suárez 2009 (1), 100. 927 | Vgl. Zapata 2004, 66f. 928 | Z.B. in der bereits erwähnten internationalen Großproduktion Rosario Tijeras (Emilio Maillé, 2005). 929 | Siehe Juárez 2009 (1), 90. 930 | Siehe Juárez 2009 (1), 90. 931 | Siehe Montoya 1997, 59.

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Zarco auf seiner Flucht vor seinen Verfolgern nicht innegehalten, um Mónica zu töten, wäre er womöglich entkommen. Die Gewalt in La vendedora de rosas hat viele Gesichter: sie ist politisch und unpolitisch, organisiert und privat, strukturell und personal, physisch und psychisch, urban und universell. Der Film kann als differenziertes Porträt einer allgegenwärtigen und vielschichtigen Gewalt im Medellín der späten 1990er Jahre angesehen werden, der keiner der Protagonisten – und tragischerweise auch keiner der Darsteller – zu entkommen vermag. Es sei angemerkt, dass in der nun folgenden Analyse von La virgen de los sicarios noch vergleichend auf die besondere Verwendung und Bedeutung der Umgangssprache in La vendedora de rosas eingegangen werden wird.

III.3.2.2 La virgen de los sicarios (Die Madonna der Mörder. Barbet Schroeder, 2000, Spanien/Frankreich/Kolumbien) Nicht zuletzt aufgrund des internationalen Renommees von Barbet Schroeder, der in den 1960er Jahren als Produzent von Eric Rohmer bekannt wird und 1992 mit dem von Columbia Pictures produzierten Thriller Weiblich, ledig, jung sucht… (USA) für den Oscar im Bereich Regie nominiert wird, ist La virgen de los sicarios932 neben dem Berlinale-Preisträger María, llena eres de gracia933 (Joshua Marston, 2004, Kolumbien/USA/Ecuador) die international bekannteste kolumbianische Koproduktion. Anders als bei Marstons Film ist der Groß­ teil von Schroeders künstlerischem und technischem Team kolumbianisch, mit Ausnahme des in Teheran gebürtigen Regisseurs selbst, der jedoch einen Großteil seiner Kindheit in Kolumbien verbracht hat und sich nach eigener Aussage sehr mit dem Land verbunden fühlt: „[…] it’s the country of my heart, the country of my childhood, I identify with Colombia much more than any other country. Childhood is, in many respects, a secret private place. Whatever you’ve tasted in your childhood, you want to keep tasting for the rest of your life.“934 Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Affinität zu Kolumbien ist nachvollziehbar, warum der erfolgreiche Regisseur und Produzent die finanziellen und persönlichen Risiken dieses Low-Budget-Projekts auf sich nimmt.935 Doch auch Schroeders Vorliebe für skandalöse Schriftstellerpersönlichkeiten, die er bereits 1987 mit der Verfilmung von Charles Bukowskis Barfly 936 unter Beweis stellt, könnte seine Motivation begründen. Die Arbeiten von Bukowski und Fernando Vallejo, aus dessen Feder die Romanvorlage zu La virgen de los sicarios 932 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Paramount (Hg.): Our Lady of the Assassins. 2002.

933 | Maria voll der Gnade. 934 | Barbet Schroeder, zitiert in: Foster 2001. 935 | Siehe Foster 2001. 936 | Szenen eines wüsten Lebens. Barbet Schroeder, USA.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

stammt und der zwischen 1977 und 1983 selbst als Filmregisseur tätig war,937 weisen durchaus Parallelen auf, z.B. in Hinblick auf die autobiografischen Anteile und den Zynismus, der die Werke durchdringt. Beide Autoren haben, gemeinsam mit Schroeder, aktiv an der Erstellung der jeweiligen Drehbuch­fassung mitgewirkt. Über die fruchtbare Zusammenarbeit mit Vallejo berichtet der Regisseur: „It’s great to work with someone who is so good with dialogue. It’s very exciting to be in the midst of a creative flow, rather than simply adapting a book to the screen.“938 Tatsächlich ist Vallejos Handschrift den ganzen Film hindurch spürbar. Schroeders Film ist eine recht werkgetreue Adaption, die nur in wenigen Punkten – beispielsweise in leichten Veränderungen des sujets939 oder in der Anzahl der dargestellten Morde940 – von der Roman­vorlage abweicht. Auch die subjektive Erzählperspektive des Romans, dessen Protagonist und Erzähler der Autor selbst ist, wird für den Film übernommen. Zwar verzichtet Schroeder auf den Einsatz einer Ich-Erzählerstimme mittels Voice-­ Over, die Ereignisse werden jedoch aus der Sicht des Protagonisten Fernando (Germán Jaramillo) wiedergegeben, der diese gegenüber seinen jugendlichen Liebhabern Alexis (Anderson Ballesteros) und Wílmar (Juan David Restrepo) kommentiert und bewertet. Die subjektive Erzählperspektive wird dabei nicht durch eine durchgehend subjektive Kameraperspektive markiert, sondern erschließt sich durch die Tatsache, dass die Kamera den Protagonisten in keinem Moment des Films verlässt: in allen Einstellungen, die nicht Fernandos Subjektive wiedergeben, steht er selbst im Mittelpunkt. La virgen de los sicarios ist somit nicht, wie häufig behauptet, primär ein Film über jugendliche Auftrags­ killer, sondern ein Film über die Sinnkrise eines alternden Exil-Kolumbianers, der in seine Heimatstadt Medellín zurückkehrt, „um zu sterben“941. Fernandos Innenleben, seine Gedanken, Gefühle und Stimmungen, werden durch die Dialoge sowie durch Germán Jaramillos Schauspiel ausgedrückt, welches mitunter durch dezenten, nicht-diegetischen Musikeinsatz untermalt wird942 . Der 937 | Vgl. Kapitel III.2.5. 938 | Barbet Schreoder, zitiert in: Foster 2001. 939 | Das sujet bezeichnet die Reihenfolge der Ereignisdarstellung im Werk, in Abgren­ zung zur fabula als kausalchronologisch geordneter Rekonstruktion der Ereignisse. Vgl. Eder 2000, 8ff. 940 | Im Roman sind 18 Morde zu zählen, im Film werden auf Schroeders Drängen ein paar herausgenommen: „When you kill somebody in the movies, it matters, whereas in literature it can be allegorical.“ Barbet Schreoder, zitiert in Foster 2001. 941  | Orig.: „A morir.“ Diese Antwort gibt Fernando Alexis zu Beginn des Films auf seine Frage, warum er nach Medellín zurückgekommen sei. 03:36-03:39. 942 | Dies ist beispielsweise in der Schlusssequenz des Films der Fall, als Fernando Wílmars Leiche identifizieren muss (1:36:29-1:37:40). Insgesamt überwiegt jedoch der Einsatz von diegetischer Musik: die Lautquelle ist im Bild zu verorten (z.B. die Musik­a nlage in Fer-

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besondere Reiz des Romans, den Schroeder auf den Film zu überragen versucht, besteht diesem zufolge gerade in jener subjektiv gefärbten, neurotisch verzerrten Sicht auf die Stadt, die dem Zuschauer, besser als eine ‚objektive‘ oder ‚realistische‘ Darstellung, das Lebensgefühl der Bewohner Medellíns zur der Hochphase des Kartellterrors nahebringen könne.943 Da der Zuschauer die Stadt alternativlos aus dem nostalgischen, neurotischen Blickwinkel des eher unsympathisch gezeichneten Protagonisten wahrnimmt,944 erlangten Roman und Film, so Schroeder, eine geradezu „sinnestäuschende Qualität“945. Das Bild Medellíns, das sich für den Zuschauer auf diese Weise erschließt, ist das einer „Realität, die verrückt geworden ist“946 und die sich stets mit der Erinnerung an die mehr oder weniger heile Welt messen muss, die der Protagonist, selbst aus einer wohlhabenden Oberschichtfamilie stammend, 30 Jahre zuvor verlassen hat. Anders als Víctor Gaviria, der sich im Falle von La vendedora de rosas in die Realität der Protagonisten hineinbegibt, ohne diese zu bewerten947, wird in La virgen de los sicarios ein außenstehender, analytischer und zuweilen wertender Standpunkt eingenommen. Wie Schroeder erklärt, ist die persönliche Beziehung des Protagonisten und Romanautors zu seiner Heimatstadt äußerst ambivalent: „He‘s been living in an apartment in Mexico, but in his head, he was always in Medellín – always. Everything he writes is about Medellín. He is to Colombia what Thomas Bernhard is to Austria: a great writer who has a love-­hate relationship with his country.“948 Aus dieser Ambivalenz heraus liefert der Film Reflexionen über die urbane Gewalt im Umfeld der Drogen­mafia, die den bislang in dieser Arbeit ermittelten Diskurs um die Gewalt in Kolumbien erweitern. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zum einen die Reflexionen über den Wandel der Umgangssprache als Indikator der durch den Drogenhandel ausgelösten gesellschaftlichen Transformationen, zum anderen die von Fernando angestellten Vergleiche zwischen der Violencia der 1950er Jahre (dem ruralen Krieg seiner Kindheit) und den „violencias“ der 1990er Jahre (dem urbanen Krieg seiner jugendlichen Liebhaber). Zudem suggeriert der Film einen engen Zusammenhang zwischen Gewalt und Konsum, zu lesen

nandos Wohnung oder die Tube-Box in der Bar von Sabaneta) oder erschließt sich logisch aus dem jeweiligen Ort der Handlung (z.B. die aufgedrehten Auto­r adios der Taxifahrer oder die Hintergrundmusik in der Tango-Bar). 943 | Siehe Foster 2001. 944 | Vgl. Suárez 2009 (1), 110. 945 | Orig.: „a hallucinatory quality“. Barbet Schreoder, zitiert in: Foster 2001. 946 | Orig.: „a reality that became mad“. Barbet Schroeder, zitiert in: Foster 2001. 947 | Vgl. Kapitel III.3.2.1. 948 | Barbet Schreoder, zitiert in: Foster 2001.

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einerseits im Kontext der „Kultur des schnellen Geldes“949 und andererseits in dem der zunehmenden Liberalisierung der kolumbianischen Wirtschaft durch die Regierung Gaviria.950 Die Analyse von La virgen de los sicarios soll sich folglich auf diese drei Aspekte konzentrieren. Direkt nach seiner Ankunft in Medellín stellt der Schriftsteller Fernando, der sich selbst als „letzter Grammatiker Kolumbiens“951 bezeichnet und keine Gelegen­heit verstreichen lässt, die grammatikalischen Fehler seiner Gegenüber zu korrigieren, umfassende Veränderungen der Umgangssprache fest. Die ersten neuen Vokabeln lernt Fernando von Alexis, seinem ersten Lieb­ haber. Sie beschreiben metaphorisch die Metamorphose, die sich in Fernandos Abwesenheit an der einst friedlichen Provinzstadt vollzogen hat. Anhand des nachfolgenden Dialogs des ungleichen Paares wird auch Fernandos zynischer Charakter offenkundig: Fernando: Alexis: Fernando: Alexis: Fernando: Alexis: Fernando:

„Und von woher kommst du, Junge?“ „Von hier, aus Medallo [span.: ‚medalla‘; dt.: ‚Medaille‘].“ „Das hier heißt jetzt Medallo?“ „Und auch Metrallo [span.: ‚metralleta‘; dt.: ‚Maschinenpistole‘].“ „So wie Maschinenpistole? Wie Maschinengewehr [span.: ‚ametralladora‘]?“ „Mhm.“ „Ich finde es gut, dass der Name geändert wurde. Medellín war schon sehr abgenutzt.“952

Die neuen Spitznamen für die ehemalige „Stadt des ewigen Frühlings“ sind im Kontext der Aktivitäten des Medellínkartells in den 1980er und 1990er Jahren unschwer zu deuten: Medallo, die Stadt des Geldes, und Metrallo, die Stadt der Waffengewalt und des Terrors. Neben der Tatsache, dass ein Zusammenhang zwischen Geld und Gewalt bereits auf der phonetischen Ebene ausgedrückt wird – Medallo und Matrallo reimen sich –, legt auch der Handlungskontext, in dem der oben zitierte Dialog zu verorten ist, diesen Zusammenhang nahe. Der Auftragsmörder Alexis wird Fernando von einem alten Freund, der ein luxuriöses Vergnügungsetablissement für Homosexuelle leitet, wie eine wertvolle Ware angepriesen: „Hier habe ich das größte Geschenk, das man dir machen 949 | Siehe Kapitel II.1.1.3 und III.2.1. 950 | Siehe Kapitel III.3.1. 951  | 42:44-42:46. 952 | Orig.: „¿Y de dónde sos, nino? – De acá, de Medallo. – ¿Ya llaman a esto Medallo? – Y también Metrallo. – ¿Como metralleta? ¿Como ametralladora? – Aha. – Me parece bien que le hayan cambiado el nombre a esto. Medellín estaba muy gastado.“ 03:00-03:16.

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könnte. Er ist der Phantastischste von ganz Medellín.“953 Fernando, der sofort Gefallen an Alexis findet, willigt in den Handel ein, indem er dem Jungen ins Zimmer folgt.954 Obwohl Schauspiel und Inszenierung eine natürliche Anziehung zwischen den beiden suggerieren, beginnt ihre Beziehung de facto als geschäftliches Verhältnis: Alexis erbringt eine Dienstleistung (er geht mit Fernando ins Bett), und dieser bezahlt ihn dafür. Dieses Verhältnis setzt sich auch dann noch fort, als sie ein Paar werden und Alexis bei Fernando einzieht, denn der wohlhabende Schriftsteller erfüllt als Gegenleistung für die Liebe des Jungen dessen materielle Wünsche. Kantaris zufolge sind Fernandos jugendliche Liebhaber ebenso austauschbar wie die Konsumgüter, mit denen er sie belohnt.955 Tatsächlich gleichen sich Alexis und sein Nachfolger Wílmar in vielerlei Hinsicht: sie haben denselben Kleidungsstil (sportliche Markenware), die gleichen Angewohnheiten (laut Musik hören und fernsehen, beten, morden) und sogar die selben Wünsche (eine Musikanlage Marke aiwa, einen Kühl­ schrank Marke Whirlpool und eine „mini-uzi“956). Was die Markenartikel für die Jungen sind, sind diese für Fernando: wertvolle, aber austauschbare Konsum­ güter.957 Kantaris deutet die im Film angelegten Querbezüge zwischen dem Auftragsmorden und der Konsumgesellschaft noch auf einer anderen Ebene. Ihm zufolge verbildlichen die Lebensweise und -philosophie der jugendlichen Auftragsmörder die Prinzipien der modernen Konsumgesellschaft.958 Zur Verdeutlichung zitiert er aus Alonso Salazars No nacimos pa‘ semilla959: „Der sicario hat den schnelllebigen Sinn der Zeit unserer Epoche in sich aufgenommen. Das Leben ist der Augenblick. Weder Vergangenheit noch Zukunft existieren. […] Der sicario treibt die Konsumgesellschaft zum äußersten: er verwandelt das Leben, sein eigenes und das seiner Opfer, in ein Geschäftsobjekt, in ein Wegwerfobjekt.“960

953 | Orig.: „Aquí le tengo el mejor regalo que le pudieran dar. Es el más fantástico de Medellín.“ 02:10-02:22. 954 | 03:43-04:05. 955 | Siehe Kantaris 2008, 120. 956 | Eine Mini-Uzi ist, wie Alexis erklärt, eine kleine Maschinenpistole. 19:05-19:12. 957 | Dies wird besonders deutlich, als Wílmar die begehrten Markenartikel auf einem langen Wunschzettel notiert, während Fernando nur ein einziges Wort auf seinen Wunschzettel schreibt: „Wílmar“. 1:22:05-1:23:01. 958 | Siehe Kantaris 2008, 119. 959 | In dieser Veröffentlichung porträtiert Salazar jugendliche Bandenmitglieder und Auftragsmörder in den Slums von Medellín. Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel Totgeboren in Medellín (Wuppertal: Hammer, 1991) erschienen. 960 | Orig.: „El sicario ha incorporado el sentido efímero del tiempo propio de nuestra época. La vida es el instante. Ni el pasado ni el futuro existen. […] El sicario lleva la sociedad del

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Das Morden im Auftrag der Mafia sei für die marginalisierten Jugendlichen der einzige Zugang zur Konsumgesellschaft. Einen „Job“ zu erledigen gebe ihnen das Gefühl, nützlich zu sein und gebraucht zu werden.961 Während des Drehs stellt Schroeder, der für die Darstellung der „sicarios“ auch Laien aus dem entsprechenden Milieu castet962, ähnliche Überlegungen an: „For the first time in their lives, they [the actors] found themselves with an important responsibility on their shoulders that could change their lives. Maybe, when these boys in the hill towns of Medellín are contacted by drug traffickers who hire them as professional killers, maybe this is suddenly a responsibility – they have a job to do and it makes them feel good. So I was there at least to offer another type of responsibility.“963

Interessanterweise erklärt der Film das Ausmaß des alltäglichen Terrors auf den Straßen nicht, wie zu erwarten wäre, mit der Aktivität des Medellín-­ Kartells, sondern im Gegenteil mit dessen allmählichem Zusammenbruch nach der Ergreifung Pablo Escobars. Alexis zufolge, der dem schockierten Fernando das Massaker zu erklären versucht, welches sich bei ihrem Ausflug nach Sabaneta vor ihren Augen ereignet,964 bekriegen sich die „sicarios“ nun gegenseitig, da sie nach Escobars Tod ohne „Arbeit“ zurückgeblieben seien.965 Fernandos zynische Antwort hierauf impliziert eine Kritik am kolumbianischen Staat und der ungerechten Güterverteilung: „Schau mal an, wie sagt man so schön: ein großer Arbeitgeber des Volkes. […] Armer Pablo. In diesem Land lassen Sie niemanden aufsteigen.“966 Im Roman stellt Vallejo zusätzlich einen Zusammenhang zwischen dem Untergang des „Berufsfeldes“ der Auftrags­mörder

consumo al extremo: convierte la vida, la propia y la de las víctimas, en objeto de transacción económica, en objeto desechable.“ Salazar 1993, 200 [sic], zitiert in: Kantaris 2008, 119. 961 | Siehe Salazar 1990 [sic], zitiert in: Smith 2005, Conclusión: La cultura de la violencia en La virgen de los sicarios y el papel del sicario en el imaginario de los jóvenes empobrecidos de Medellín. 962 | Am Casting der Laiendarsteller war Víctor Gaviria beteiligt. Vallejos Kontakte zur Homosexuellenszene erwiesen sich ebenfalls als hilfreich: Der Bordellbetreiber, der Vallejo im echten Leben mit einem Jungen namens Alexis bekannt gemacht hat, soll den Kontakt zu dem Straßenjungen Anderson Ballesteros geliefert haben, der Alexis verkörpert. Siehe Foster 2001. 963 | Barbet Schreoder, zitiert in: Foster 2001. 964  | 14:20-14:43. 965 | 15:56-16:02. 966 | Orig.: „Vea pues, como quién dice: un gran empleador del pueblo. […] Pobre Pablo. En este país no le dejan levantar cabeza a nadie.“ 16:02-16:12.

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und dem Verlust der nationalen Identität her, die sich über die organisierte Gewalt definiere967: „[…] hier stirbt der Beruf des sicario praktisch aus. […] Ohne feste Arbeit schwärmten sie in die Stadt aus und begannen zu entführen, zu überfallen, zu rauben. Und ein sicario, der nur in eigener Sache und auf eigene Verantwortung arbeitet, ist kein sicario mehr: er ist ein freies Unternehmen, die private Initiative. Noch eine unserer eigenen Institutionen also, die wir verlieren. In diesem Schiffbruch Kolumbiens, in diesem Verlust unserer Identität, bleibt uns jetzt nichts mehr.“968

Tatsächlich ist Pablo Escobar für viele Kolumbianer eine Art Nationalheld, ein kolumbianischer Robin Hood. Selbst aus armen Verhältnissen stammend, sei Escobar, wie bei Salazar beschrieben, durch seinen sprich­ wörtlichen Kampfgeist zum Vorbild geworden. Seine Bewunderer pilgerten zu tausenden zum Grab des „guten Mannes“, der sich für Gerechtigkeit und soziale Gleichheit eingesetzt und sogar Wunder vollbracht haben soll.969 Den verheerenden Begleiteffekten des Drogengeschäfts zum Trotz kann nicht geleugnet werden, dass dieses viele Billionen Dollar ins Land geschwemmt, Arbeitsplätze geschaffen und zum sozialen Aufstieg seiner „Beschäftigten“ und deren Angehörigen beigetragen hat.970 Der Anstieg der Kaufkraft macht sich ab den späten 1980er Jahren vor allem im Bereich der Immobilien- und Konsumgüter-Branche bemerkbar. Die Regierungen nehmen die gute wirtschaftliche Lage zum Anlass, für eine Liberalisierung zu werben.971 Auf diese Zusammenhänge spielt der Film durch die hohe Präsenz von öffentlichen Räumen an, an denen Güter angeboten oder konsumiert werden: Einkaufs­zentren und -passagen, Klamotten- und Elektrogeschäfte, Restaurants, Konditoreien und Bars. In der Sequenz, in der Fernando Alexis die gewünschte Musik­anlage kauft und nebenbei darüber aufklärt, dass er seinen Wohlstand seiner verstorbenen Schwester zu verdanken habe, die mit einem Drogenboss verheiratet gewesen sei,972 wird der Zusammenhang besonders deutlich: Ein Teil des Ge-

967 | Siehe Kapitel II.1.1.4. 968 | „[…] aquí prácticamente la profesión de sicario se acabó. […] Sin trabajo fijo se dispersaron sobre la ciudad y se pusieron a secuestrar, a atracar, a robar. Y sicario que trabaja solo por su cuenta y riesgo ya no es sicario: es libre empresa, la iniciativa privada. Otra institución pues nuestra que se nos va. En el naufragio de Colombia, en esta pérdida de nuestra identidad ya no nos va quedando nada.“ Vallejo 2010, 34f. 969 | Siehe Salazar 1998, 89. 970 | Siehe Salazar 1998, 92f. 971  | Vgl. Kapitel III.3.1. 972 | 17:40-19:18.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

sprächs findet auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe statt.973 Die Kamera zeigt Alexis und Fernando zunächst von vorn aus der Frosch­perspektive (HN), so dass die prächtige koloniale Deckenarchitektur des Gebäudes über ihnen sichtbar wird.974 Als sie unten ankommen, kippt die Kamera zur Normalsicht, so dass im Hintergrund die hell erleuchteten Läden, Cafés und Casinos sichtbar werden, von denen der zum Einkaufzentrum umfunktionierte Altbau erfüllt ist.975 Währenddessen erzählt Fernando, wie seine Schwester ihren Ehe­ mann ermordet und ein Millionenerbe angetreten habe, welches ihre Söhne in Kokain verschleuderten.976 Auf der Bildebene inszeniert Schroeder in dieser Sequenz die Verwandlung des alten Medellín ins neue Medallo, durch die Montage von Bild und Ton deutet er auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Drogengeschäft und Gewalt, zwischen schnellem Reichtum und sinnentleertem Konsumverhalten hin. Fernando, der sich eigentlich „auf die Ruhe des Grabes“ vorbereiten will, fühlt sich nach kürzester Zeit von Alexis Musik so gestört, dass er die neue Anlage vom Balkon wirft.977 Das – im wahrsten Sinn des Wortes – zum Fenster hinaus geworfene Geld interessiert ihn ebenso wenig wie die Frage, ob bei seiner impulsiven Aktion jemand zu Schaden gekommen sein könnte.978 Alexis gerät angesichts dieser Tat das einzige Mal im ganzen Film in Rage. Wütend schnauzt er Fernando an: „Du hast einen aiwa zerstört! […] Bist du verrückt oder was?“979 Später im Film knüpft Alexis an den Vandalismus an, als er eine Kugel auf den Fernseher abfeuert, in dem gerade eine Ansprache des Präsidenten Gaviria zu sehen ist.980 Als Fernando sich köstlich darüber amüsiert, wirft Alexis auch die neue Musikanlage, die den aiwa ersetzen sollte, zum Fenster hinaus.981 Diese Sequenzen nehmen auf das Phänomen des Überflusses durch das ‚schnelle Geld‘ und der damit einhergehenden mangelnden Wertschätzung Bezug. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Vergänglichkeit, auch der des eigenen Lebens, hat bei Fernando und Alexis zwar unterschiedliche Hinter­ gründe – Fernando möchte seiner akuten Sinn- und Schaffenskrise durch seinen Tod ein Ende setzen, Alexis hat ohnehin keine Aussicht auf ein erfülltes Leben –, jedoch scheint gerade dieses Gefühl sie zu einen. Alexis und Wílmar 973 | 18:01-19:38. 974 | 18:07-18:30. 975 | 18:34:18:50. 976 | 18:08-18:44. 977 | 22:50-23:25. 978 | Erst als die Anlage unten aufgeschlagen ist, erkundigt sich Fernando bei Alexis, der fassungslos nach unten schaut, ob er jemanden getroffen habe. 23:19-23:22. 979 | Orig: „¡Quebraste un aiwa! […] ¿Vos sos loco o qué?“ 23:13-23:34. 980 | 28:17-28:58. 981 | 28:59-29:12.

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sind Fernandos Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart, im Gegenzug bietet er ihnen Einblicke in eine Vergangenheit, die für die Jungen ohne ihn ebenso wenig existieren würde wie eine Zukunft.982 Die Kirchen, die sie auf ihren gemeinsamen Spaziergängen aufsuchen, werden als Orte der Ruhe inszeniert, im Kontrast zum schnellen, lauten und gefährlichen Leben außerhalb ihrer Mauern. Kantaris zufolge stehen die Kirchenbesuche für den Versuch, eine Brücke zu Fernandos Erinnerung zu schlagen,983 zu einem Medellín, das er auf den Straßen von Metrallo nicht wiederfinden kann. Mit dem Vergleich des alten und neuen Medellín geht der Vergleich der alten und neuen „violencia“ einher. Häufig wird dieser Vergleich verbal gezogen, wenn Fernando zynisch die Morde kommentiert, die sich vor seinen Augen ereignen. Als Reaktion auf die Schießerei in Sabaneta stellt er fest: „Aber diese Rasse hat sich sehr zivilisiert in meiner Abwesenheit. Früher haben wir uns mit der Machete erledigt, heute mit dem Duft von Feuerwerk.“984 Dieser „Fortschritt“ wird kurz darauf von Alexis demonstriert: schnell und effektiv erschießt er einen Taxifahrer, der Fernando und ihn im Streit mit einer Machete bedroht.985 Im Roman geht Vallejo bei seinem Vergleich noch weiter, als er die Effizienz seines „sicario“ mit der der berüchtigsten Massenmörder während der Violencia misst: „Als Alexis bei hundert [Morden] ankam, habe ich definitiv den Überblick verloren. […] Aber um Ihnen eine wage Idee seiner Heldentaten zu geben, sagen wir, dass er einige weniger umgelegt hat als der liberale Bandit Jacinto Cruz Usma alias ‚Sangrenegra‘, der 500 umgebracht hat, aber viele mehr als der konservative Bandit Efraín Gonzales, der 100 umgebracht hat.“986

Fernandos Haltung zu den Morden seiner Geliebten verändert sich im Laufe des Films: während er anfangs noch über die Geringfügigkeit der Anlässe

982 | Eine gemeinsame Zukunft, am besten außerhalb Kolumbiens, strebt Fernando sowohl mit Alexis als auch mit Wílmar an, jedoch kommt den Plänen in beiden Fällen der Tod zuvor. 983 | Siehe Kantaris 2008, 119f. 984  | Orig.: „Pero esta raza se ha civilizado mucho en mi ausencia. Antes nos despachamos a machete, ahora con olor a pólvora.“ 14:47-15:15. 985 | 39:45-40:34. 986 | Orig.: „Cuando Alexis llegó a los cien [asesinatos] definitivamente perdí la cuenta. […] Mas para darles una somera idea de sus hazañas digamos que se despachó a muchos menos que el bandolero liberal Jacinto Cruz Usma ‚Sangrenegra‘, que mató a quinientos, pero a bastantes más que el bandolero conservador Efraín Gonzalez, que mató a cien.“ Vallejo 2010, 79f.

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schockiert ist, aus denen seine Schutzengel zur Waffe greifen,987 und sie zu bekehren versucht, stumpft er angesichts der Allgegenwart der Gewalt zunehmend ab. Nach Alexis Tod ist Fernandos Desensibilisierung so weit fortgeschritten, dass er Wílmars Mord an einem pfeifenden Fußgänger als „göttliche Gerechtigkeit“988 bewertet, da er glaubt, den Mann ein paar Wochen zuvor bei einem Autodiebstahl beobachtet zu haben. Im Roman wird diese Interpretation noch expliziter formuliert: „Mein Junge war der Abgesandte des Satans, der gekommen war, um für Ordnung in dieser Welt zu sorgen, mit der Gott es nicht aufnimmt.“989 Am Ende des Films scheint der Protagonist die Spiel­regeln Metrallos gänzlich verinnerlicht zu haben. So akzeptiert er nach anfänglichem Ringen den Mord an Alexis und begibt sich wissentlich in eine Zukunft mit dessen Mörder Wílmar, da er dessen Beweggründe für den Mord an Alexis – dieser hatte Wílmars Bruder getötet – versteht. Kanataris zufolge überträgt sich Fernandos Abstumpfung auch auf den Zuschauer, welcher über seine eigene Reaktion erschrecke.990 Der zentrale Wendepunkt des Films, an dem die Abstumpfung der Protagonisten sowie des Zuschauers durchbrochen werden soll, ist die Sequenz, in der Fernando und Alexis einen schwer verletzten Hund in einer Kanalböschung entdecken und der Massenmörder vor der Aufgabe resigniert, dem Hund den Gnadenschuss zu verpassen.991 Fernando, der keine Menschen töten kann, erlöst das Tier aus Mitleid und hält sich im Affekt selbst die Pistole an den Kopf. Indem er ihm die Waffe aus der Hand schlägt, vereitelt Alexis den Selbstmord und besiegelt gleichzeitig sein eigenes Schicksal, da er dabei seine Waffe verliert und sich beim nächsten Anschlag der gegnerischen „sicarios“ nicht verteidigen kann. Die eigentlich als Herz­ stück des Films geplante Sequenz gilt bei vielen Kritikern als dessen Schwach­ stelle: zu unglaubwürdig erscheine die Wendung, dass Alexis emotional mit der Erschießung des Hundes überfordert ist.992 Schroeder erklärt die Haltung des Jungen aus der Psychologie des Auftragsmörders heraus:

987  | Alexis erschießt einen Nachbarn, dessen nächtliches Schlagzeug-Spielen Fernando gestört hatte, ebenso wie zwei Männer, die sich über Fernandos überhebliches Verhalten in der Metro echauffieren. Von seinem Versuch, eine unhöfliche Restaurant-­B edienung zu erschießen, kann Fernando ihn gerade noch abhalten: „Sie ist es nicht wert, Junge.“ (orig.: „No vale la pena niño.“). 45:08-45:25. 988 | Orig.: „justicia divina“. 1:25:50. 989 | Orig.: „Mi niño era el enviado de Satanás que había venido a poner orden en este mundo con el que Dios no puede.“ Vallejo 2010, 105. 990 | Siehe Kantaris 2008, 119. 991 | 1:01:35-1:04:32. 992 | Siehe Foster 2001.

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 Kino in Kolumbien „He kills as a business. He doesn’t kill out of charity. For him to be able to kill it has to be business, or to help somebody he loves. […] But a dog that has not done anything – he does not understand the dog’s suffering. He doesn’t think the same way that the writer does, and for him killing the dog is something awful. Naturally the audience agrees.“993

Neben dem Versuch, die innere Logik der „sicarios“ offenzulegen, inszeniert Schroeder auch deren äußere Merkmale und Gewohnheiten. Insbesondere die sprachlichen Eigenheiten werden akzentuiert und in Kontrast zu der vom Aussterben bedrohten ‚Hochsprache‘ Fernandos gesetzt. Ein weiterer Schwer­ punkt wird auf die Darstellung von Ritualen gesetzt, die ursprünglich in der katholischen Religion verankert sind. Dass Alexis ins Mordgeschäft involviert ist, wird bereits bei seiner ersten Nacht mit Fernando angedeutet, als beim Ent­ kleiden ein vernarbtes Einschussloch an der Brust des Jungen zum Vorschein kommt und kurz darauf seine Pistole zu Boden fällt (D).994 Alexis Erklärung, weshalb er die Waffe bei sich trage, ist mit milieutypischen Slang-­Wörtern gespickt, die Fernando nur mithilfe des Jungen dechiffrieren kann: sein „Popcorn“995 (die Pistole) trage er bei sich, da ein paar Jungs in ihn „verliebt“996 seien (es auf ihn abgesehen hätten) und ihn „knacken“997 (töten) wollten.998 Alexis spricht den sogenannten „parlache“999, den Slang der Jugendbanden im Umfeld der kolumbianischen Drogenmafia, „eine Sprache, die aus den dunklen Zonen der Gesellschaft hervorgegangen und in geworden ist.“1000 Salazar zufolge spiegelt dieser Slang die „Perversion der Kultur“1001 wider: der „parlache“ kenne 37 Wörter für Waffe, 42 für Gewalt, 73 für Tod oder töten, 25 für Kugeln oder Munition, 53 Schimpfwörter, aber nur 13 lobende Worte.1002 Mit der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung und Anerkennung der der Drogen­mafia in den 1990er Jahren haben einzelne Slang-Wörter auch Eingang in die Jugendsprache der Mittel- und Oberschicht gefunden.1003 Nach La 993 | Barbet Schreoder, zitiert in: Foster 2001. 994 | 04:23-04:58. 995 | Orig.: „el tote“. 996 | Orig.: „enamorados“. 997 | Orig.: „cascar“. 998 | 04:58-05:15. 999 | In Salazars No nacimos pa‘ semilla werden die wichtigsten Wörter des „parlache“ in einem Glossar aufgeführt und übersetzt. Auch Suárez liefert Interpretations­a nsätze zum „parlache“. Vgl. Suárez 2009 (1), 99. 1000 | Orig.: „un lenguaje que brotó de las zonas oscuras de la sociedad y que se ha vuelto in.“ Salazar 1998, 102. 1001 | Orig.: „la perversión de la cultura“. Salazar 1998, 102. 1002 | Siehe Salazar 1998, 102f. 1003 | Siehe Suárez 2009 (1), 99.

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vendedora de rosas, der die Ausweitung des Mafia-Slangs auf die Straßenkinder veranschaulicht, macht La virgen de los sicarios die Ausbreitung auf die Normal­ bevölkerung deutlich, beispielsweise in den Reaktionen der Passanten auf die Morde, die sich am helllichten Tage auf der Straße ereignen. So ruft ein etwa siebenjähriger Junge seine Freunde herbei, um die „Puppe“ (die Leiche) zu bestaunen.1004 Auch auf den Einfluss der nordamerikanischen und europäischen Sprache(n) auf den „parlache“, bedingt durch die Emigrationswelle der 1980er Jahre und die Handelsverbindungen der Drogenmafia in diese Länder, spielen beide Filme an.1005 In La virgen de los sicarios wird die sprachliche Globalisierung beispielsweise in der Szene veranschaulicht, als Fernando Wílmars Namen zu erraten versucht und dabei auf Faber, Eder, Tyson Alexander, Jason und Wilfer tippt1006 – und damit der Wahrheit recht nahekommt. Die Heiligenbilder von Jesus und Maria, die Alexis als Talisman an einer Kette um seinen Hals trägt (D),1007 deuten ebenso wie seine Ausdrucksweise auf die Zugehörigkeit zur Bandenkultur hin: wie bei Kantaris beschrieben, huldigen die „sicarios“ bestimmten Heiligen der katholischen Kirche, von denen sie sich Schutz und gutes Gelingen bei der Durchführung ihrer Aufträge erhoffen.1008 Auf mehrere dieser abergläubisch-religiösen Gebräuche wird im Laufe des Films angespielt, z.B. als Alexis behauptet, dass seine Skapuliere ihn vor dem Tod bewahrt hätten, als er von einer Kugel in die Brust getroffen worden sei,1009 oder als Alexis gewarnt wird, dass seine Verfolger bei ihrem nächsten Anschlag „gesegnete Kugeln, die nicht versagen“1010, verwenden würden. Anders als in La vendedora de rosas, in dem sowohl der „parlache“ als auch die religiösen Konnotationen in den Äußerungen und Handlungen der Straßen­ mädchen1011 unkommentiert für sich sprechen, werden diese in La virgen de los sicarios durch Fernando hinterfragt, analysiert und bewertet. Während sich die Sprache und Lebensgewohnheiten der Straßenkinder in Gavirias Darstellung zu einem eigenen subkulturellen Kosmos verdichten, aus dem heraus sich die Handlung entwickelt, zeichnen sich Schroeders „sicarios“, Kantaris zufolge, 1004  | Orig.: „Vengan, vengan muchachos, ¡vamos a ver el muñeco!“ 20:10-20:14. 1005 | Siehe Suárez 2009 (1), 112. 1006 | 1:17:25-1:17:44. 1007 | 04:28. 1008 | Siehe Kantaris 2008, 119f. 1009 | Fernando, für den das Einschussloch eher einen Beweis für das Versagen des Talisman darstellt, kommentiert Alexis Interpretation kopfschüttelnd: „Angesichts dieser Logik ist jede Diskussion zwecklos.“ (Orig.: „Contra esta lógica sí no hay nada que discutir.“) 04:48-04:50. 1010  | Orig.: „balas rezadas que no fallan“. 57:35-57:37. 1011  | Beispielsweise sucht Mónica im Rausch häufig eine Marien-Statue auf, die sich in ihrer Fantasie in die Großmutter verwandelt.

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durch die Abwesenheit von Kultur aus: sie folgen den Regeln der Konsumgesellschaft, fetischisieren bestimmte Objekte und suchen Halt in (pseudo) religiösen Ritualen.1012 Fernando ist die ironische Instanz, die sie von außen betrachtet und beurteilt. Während der „parlache“ in La virgen de los sicarios Ausdruck der Klassendifferenz ist, die den „letzten Grammatiker Kolumbiens“ und „Erfinder des Proverbs“ von seinen weniger gebildeten Mitmenschen unterscheidet,1013 ist er bei Gaviria eine lebendige Kultur voller poetischer Metaphern, in die die Geschichte der Kinder eingeschrieben ist: „Die Sprache ist viel wichtiger als der Film selbst, denn dort manifestiert sich die Geschichte (die der Stadt, die der Jugendlichen, die der Toten, die der Ungerechtigkeit, die der Lebenserfahrungen, die der Solidarität und der Identität).“1014 Juana Suárez, die Kantaris Einschätzung teilt, bewundert Gavirias Annäherung, da der sogenannte „menschliche Abfall“ und der von diesem gesprochene Slang darin zur „Hegemonie des Blickes“ würden, während sie bei Schroeder in voyeuristischer Manier ausgestellt würden.1015 Schroeders Film generiert ein Ambiente der permanenten akuten Bedrohung, der Unberechenbarkeit, der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Die Kamera, geführt von Víctor Gavirias Kameramann Rodrigo Lalinde, nimmt die Haltung eines „Flaneurs“1016 ein, die eines beobachtenden Heimkehrers. Sie ist nicht allwissend, sie eilt der Handlung nicht voraus, sondern wird gemeinsam mit Fernando von den Gewalttaten überrollt. Die Anschläge der motorrad­ fahrenden „sicarios“ auf Alexis beispielsweise kündigen sich zuerst durch lautes Motorengeräusch auf der Tonspur an. Die Kamera nimmt Fernandos ruckartige Hinwendung zur Schallquelle durch schnelle, verrissene Schwenks auf und imitiert seinen subjektiven Blick.1017 Die Angriffssequenzen zeichnen sich außerdem durch wacklige Handkameraaufnahmen, eine schnelle Schnitt­ frequenz und einen überlauten, nicht kontinuierlich aufgenommenen Originalton aus, welche das Geschehen gleichzeitig fragmentieren und dynamisieren. Dass dem Zuschauer außerdem durch schnelle Wechsel der Perspektiven 1012 | Siehe Kantaris 2008, 123. 1013 | Analog wird die Differenz von „Populärkultur“ und „Hochkultur“ über die Musik ausgedrückt: die „sicarios“ hören Punk, die Taxifahrer folkloristische Populärmusik, Fernando hingegen bevorzugt Operngesänge. 1014 | Orig.: „Ese lenguaje es mucho más importante que la película misma porque allí está la historia (la de la ciudad, la de los muchachos, la de los muertos, la de la injusticia, la de las experiencias de vida, la de la solidaridad y la identidad).“ Víctor Gaviria, zitiert in: Kantaris 2008, 123. 1015 | Siehe Suárez 2009 (1), 112. 1016 | Suárez 2009 (1), 111. 1017  | Z.B. 58:44-58:48.

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und Einstellungsgrößen die räumliche Orientierung erschwert wird, verstärkt das Gefühl des Überrolltwerdens und des Ausgeliefertseins, das das Lebens­ gefühl im Medellín der 90er nach Darstellung des Films charakterisiert. Auch das Problem der Straflosigkeit wird indirekt thematisiert, denn keiner der Morde wird von offizieller Seite geahndet. Auch Alexis, der am hell­lichten Tag vor mehreren Zeugen, auf offener Straße oder in der Metro Menschen hinrichtet, entkommt unverfolgt und ungestraft. Damit entspricht die Darstellung weitgehend den historischen Tatsachen, denn zur Zeit des Kartell-Krieges blieben 98 Prozent aller Morde in Medellín ungeahndet.1018 In ästhetischer sowie produktionstechnischer Hinsicht hat Schroeder mit La virgen de los sicarios die Weichen für eine neue Ära des Filmschaffens gestellt, denn als erster Regisseur der Filmgeschichte überhaupt dreht er einen Kino­ film ausschließlich digital. Die Wahl für HD-Video hatte verschiedene Gründe: zum einen gehört ein großer Tiefenschärfebereich, der bei analogem Film durch spezielle Linsen herbeigeführt wird und digital verhältnismäßig einfach erzeugt werden kann, zum persönlichen Stil des Filmemachers, zum anderen waren sicherheitstechnische Aspekte ausschlaggebend. In nur 40 Drehtagen sollte an 80 verschiedenen Originalschauplätzen in der ganzen Stadt gedreht werden, und aufgrund der hohen Überfall- und Diebstahlgefahr wollten die kolumbianischen Versicherungen das Equipment zu keinem Preis versichern.1019 Der Video-Dreh reduzierte das finanzielle Risiko und ermöglichte das spätere digitale Ausbügeln von Unstimmigkeiten, z.B. der vom Sonnenstand abhängigen unterschiedlichen Lichtstimmungen, die durch den Zeitdruck beim Dreh entstanden waren.1020 Auch andere visuelle Effekte wie das Feuerwerk, welches Fernando und Alexis auf dem Balkon betrachten und das die Freude der „Narcos“ über eine gelungene Wareneinfuhr in die USA zum Ausdruck bringt,1021 konnten kostengünstig in der Postproduktion erzeugt werden.1022 Mehr noch als Gavirias Filme, die die kolumbianische Presse lediglich in Kritiker und Bewunderer spalten, sorgte La virgen de los sicarios für einen wahrhaften Skandal in Kolumbien. Kritiker der Zeitschriften Diners Club und Semana, die den Film bei seiner Premiere in Venedig gesehen hatten, riefen zum nationalen Boykott auf und wollten die Vorführung in Kolumbien verbieten.1023 Insbesondere empörten sie sich über die „Respektlosigkeiten“ in Vallejos Roman, die Schroeder mithilfe des Films weiter in der Welt verbreite:

1018 | Siehe Kantaris 2008, 118. 1019 | Siehe Foster 2001. 1020 | Siehe Foster 2001. 1021  | 26:10-26:25. 1022 | Siehe Foster 2001. 1023 | Siehe Foster 2001.

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Dass durch eine Zensur des Films das Grundrecht der Meinungsfreiheit untergraben würde, welches in der neuen Verfassung von 1991 ausdrücklich festgeschrieben wurde,1025 stört Germán Santamaría, den Autor des zitierten Artikels, nicht. Er rechtfertigt den Boykott-Aufruf mit den vermeintlich negativen Effekten, die Vallejos bzw. Schroeders provokante Darstellung einer von Gewalt zerrütteten, verrohten kolumbianischen Gesellschaft auf diese habe: „Vallejo sollte man eigentlich ignorieren, wenn da nicht der Schaden und die Desorientierung wären, die er bei bestimmten kolumbianischen Jugendlichen säen kann. Oder die Art, wie er eine Nation beleidigt, die leidet. […]. Hoffentlich kann man ihn [den Film] verbieten, denn es ist genug mit so vielen hochentwickelten Freiheiten in einem Land, das sich im Krieg befindet.“1026

Die Sorge Santamariás, Vallejos Abrechnung mit staatlichen und geistlichen Autoritäten könne Sympathisanten und Nachahmer in den Reihen des Kino­ publikums finden, zeugen von seinen Zweifeln an der Mündigkeit der kolumbianischen Bevölkerung sowie von seiner Angst vor den Konsequenzen, die eine solche Mündigkeit mit sich bringen könnte. Im Grunde entlarvt sich der Autor durch den Titel seines Artikels – (dt.: „Den ‚sicario‘ verbieten“) – selbst als ignorant, da sein Zensurvorhaben sich nicht nur gegen die Art der Realitäts­ darstellung richtet, sondern gegen die Realität selbst, die er nicht wahrhaben und darum tabuisieren möchte. Der Regierung Pastrana, die sich zum Zeitpunkt des Filmstarts von La virgen de los sicarios in Friedensverhandlungen mit den FARC befindet, kann jedenfalls zugutegehalten werden, dass sie Santamarías Zensur-Aufruf ignoriert und der Film im November 2000 regulär in den Spielplan aufgenommen wird. Im Vergleich zur Ära FOCINE, als selbst Filme wie Cóndores no entierran 1024  | Orig.: „Se acuestan, se matan, matan y reducen a Simón Bolívar, al Papa, a los últimos presidentes de Colombia, a todos los antioqueños, a los colombianos en general, y por supuesto a Dios […]. Incluso se invita al magnicidio contra los ex presidentes César Gaviria y Ernesto Samper.“ Santamaría 2000. 1025 | Siehe Kapitel III.3.1. 1026 | Orig.: „A Vallejo se le debería ignorar si no fuera por el daño y la desorientación que puede sembrar en cierta juventud colombiana. O por la forma como ofende a una nación que sufre. […] Ojalá pudiera prohibirse [la película], porque también basta ya de tantas libertades sofisticadas en un país que está en guerra.“ Santamaría 2000.

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todos los días an der Aufführung gehindert wurden, die den kolumbianischen Staat weder offen kritisieren noch denunzieren1027, kann bei den internationalen Koproduktionen der 1990er Jahre hinsichtlich der Meinungsfreiheit der Filmemacher also von einem deutlichen Fortschritt gesprochen werden.

III.3.3 Der Traum vom Frieden – exemplarische Filmanalysen Auch wenn die Friedensverhandlungen der Regierung Pastrana von Turbulenzen gezeichnet sind, steht außer Frage, dass der international begleitete Dialog mit bis dato beispielloser Ernsthaftigkeit und Ausdauer vorangetrieben wird und von großen gegenseitigen Zugeständnissen gezeichnet ist.1028 So scheint es verständlich, dass innerhalb der kolumbianischen Bevölkerung die Hoffnung wächst, dass der landesinterne Konflikt doch noch beigelegt werden könne. Der Traum von einem Leben in Frieden – ein Traum, der bislang nur durch Emigration ins Ausland verwirklicht werden kann1029 – bewirkt eine euphorische Auf bruchstimmung, die von einem Teil der Filmemacher aufgegriffen wird, um ein Gegengewicht zu den düsteren Porträts der „generalisierten Gewalt“1030 zu setzen: Bereits während der Vorbereitungsphase des Dialogs entsteht Sergio Cabreras Golpe de Estadio1031 (1998, Spanien/Italien/Kolumbien), eine satirische Komödie, die einen Waffenstillstand zwischen der Guerilla und den staatlichen Truppen zum Zweck der gemeinsamen Sichtung der WM-Qualifikationsspiele auf dem einzigen Fernsehbildschirm in der Region zum Thema hat. Cabrera appelliert, wie die nachfolgende Analyse seines Films veranschaulichen soll, vor dem Hintergrund der Friedensbemühungen an das Gemeinschaftsgefühl der Kolumbianer und wirft die These auf, dass die Akteure des Konflikts letztendlich mehr verbindet als sie voneinander trennt. Auch Ciro Duráns Film La toma de la embajada1032 (2000, Kolumbien/­ Mexiko/Venezuela), der von der Besetzung der dominikanischen Botschaft 1980 durch die Guerilla M-19 handelt1033, kann als Antwort auf den Friedens­ dialog gelesen werden: indem Durán auf dieses – im Vergleich zur Besetzung des Justizpalastes glimpflich verlaufene – historische Ereignis Bezug nimmt, 1027 | Vgl. Kapitel III.2.3.2. 1028 | Vgl. Kapitel III.3.1. 1029 | Von der Emigration in die USA handeln z.B. die Filme La nave de los sueños (Ship of Dreams. Ciro Durán, 1996, Venezuela/Mexiko/Kolumbien) oder El séptimo cielo (dt.: „Der siebte Himmel“. Juan Fischer, 1999, Kolumbien). 1030 | Vgl. Kapitel III.3.2. 1031 | Time Out. 1032 | Dt.: „Die Besetzung der Botschaft“. 1033 | Vgl. Kapitel III.1.1.

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welches die Regierung Turbay dazu veranlasste, unter der Aufsicht von internationalen Beobachtern mit der Guerilla-Gruppe in Verhandlungen zu treten, verweist er auf die Möglichkeit zur Lösung innenpolitischer Probleme durch den Dialog. Gleichzeitig generiert er anhand des Beispiels der M-19, die 1990 die Waffen niederlegt und zur politischen Partei konvertiert, die Hoffnung, dass die FARC als Ergebnis des Friedensdialogs diesem Beispiel folgen könnten. Außer ihrer jahrzehntelangen Erfahrung im Filmemachen eint Sergio Cabrera und Ciro Durán ihre Zugehörigkeit zum politisch linken Spektrum.1034 Ihre unmittelbare Reaktion auf die Friedensverhandlungen könnte daher mit ihrer biografisch begründeten Sensibilität für die politischen Ziele der Guerilla und dem Wunsch nach deren Umsetzung erklärt werden. Die Tatsache, dass ihre Filme in denselben Jahren wie die zuvor analysierten Filme über die „generalisierte Gewalt“ – La vendedora de rosas (1998) und La virgen de los sicarios (2000) – erscheinen, veranschaulicht das zeitliche Nebeneinander der Desillusionierung und der Hoffnung, welche das Ambiente im Kolumbien der 1990er Jahre bestimmen.

III.3.3.1 Golpe de estadio (Time Out. Sergio Cabrera, 1998, Spanien/Italien/Kolumbien) Sergio Cabrera ist einer der produktivsten und zugleich erfolgreichsten Filme­ macher Kolumbiens. Seit den 1980er Jahren hat er sieben Kinofilme gedreht und in einer Vielzahl von TV-Serien und Dokumentarfilmen Regie geführt. Cabreras Spielfilme setzen sich mehrheitlich mit der innenpolitischen und gesellschaftlichen Situation in Kolumbien auseinander, häufig werden Allegorien oder Parabeln für historische Sachverhalte geschaffen: Cabreras Debüt Técnicas de duelo: Una cuestión de honor 1035 (1988, Kolumbien/Kuba) spielt in einem kolumbianischen Bergdorf zu Zeiten der politischen Violencia und handelt von zwei befreundeten Oppositionellen, die aus Liebe zur selben Frau in Streit geraten und diesen in Form eines Duells auf Leben und Tod klären wollen. Die erschütterte Öffentlichkeit muss das blutige Spektakel tatenlos mit ansehen, da die Ordnungskräfte, denen es zugutekommt, dass sich die Oppositionellen gegenseitig dezimieren, nicht einschreiten. Mithilfe dieser Parabel, in der die private Gewalt der beiden Duellierenden für die politische Gewalt im Kontext der Violencia steht, prangert der Regisseur die parteiische Haltung der staatlichen Sicherheitskräfte zu Gunsten der Konservativen an, welche sich mit deren Hilfe den Machterhalt sichern. Cabreras berühmtester Film, La estrategia del caracol1036 (1993, Italien/Kolumbien/Frankreich), ist eine Geschichte 1034  | Cabrera war als Jugendlicher in der Guerilla aktiv, Duráns politische Einstellung erschließt sich wie die Cabreras aus seinen Filmen.

1035 | UK: A Matter of Honour. 1036 | Die Strategie der Schnecke.

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über die erfolgreiche Unterwanderung der staatlichen Macht, die Geschichte einer kleinen Revolution: die Bewohner eines Hauses, das zu Restaurierungszwecken geräumt werden soll, wehren sich gegen ihre Vertreibung, indem sie das Haus in nächtlicher Arbeit hinter seiner Fassade Stück für Stück abtragen und an einer anderen Stelle wieder auf bauen. Der Film nimmt indirekt auf die Vertreibungs- und Flüchtlingsproblematik Bezug und kann als Aufruf zum organisierten, gewaltfreien Widerstand interpretiert werden. Cabrera zufolge ist der Film auch eine Antwort auf sein eigenes Scheitern im Versuch, die Welt durch den bewaffneten Kampf zu verbessern: „Ich sagte mir: ‚Da ich nicht fähig war, die Revolution zu machen, werde ich die Revolution im Kleinen inszenieren.‘“1037 Tatsächlich kämpfte Cabrera als Heran­wachsender gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in den Reihen der maoistisch-­leninistischmarxistischen EPL („Ejercito Popular de Liberación“)1038, der damals drittstärksten Guerilla des Landes, welche seit ihrer partiellen Demo­bilisierung 1991 jedoch keine tragende Rolle mehr im bewaffneten Konflikt spielt. Cabrera, der aufgrund der Aktivitäten seines Vaters in der Kommunistischen Partei einen Teil seiner Kindheit und Jugend im maoistischen China im Exil verlebt, verlässt im Alter von 22 Jahren die Guerilla, da er am Sinn des bewaffneten Kampfes zweifelt: „Ich gehöre jener Generation an, die Bernardo Bertolucci sehr gut definiert hat: man ging ins Bett und dachte, dass sich die Welt beim Erwachen verändert haben könnte, jetzt wissen wir bereits, dass das nicht möglich ist.“1039 Obwohl die Chancen für eine demokratische Durchsetzung seiner politischen Ziele aufgrund der Unterdrückung der links­politischen Kräfte zum Zeit seines Austritts eher schlecht stehen,1040 kommt Cabrera zu dem Schluss, dass der bewaffnete Kampf angesichts der zunehmenden Schädigung der Landbevölkerung keine Lösung sein kann.1041 Er verlässt die EPL mit Erlaubnis seines Kommandanten und widmet sich einem Filmstudium in London. Zurück in Kolumbien beginnt, in der Ära FOCINE, seine Lauf bahn als Filmregisseur. 1997, im Anschluss an die Dreharbeiten zu Golpe de estadio1042, den Cabrera selbst als eine „politische Erklärung“1043, bezeichnet, die sein Leben in eine an1037 | Orig.: „Me dije: ‚Como no fui capaz de hacer la revolución, voy a montar la revolución en miniatura.‘“ Sergio Cabrera, zitiert in: Amat 2012. 1038 | Siehe Amat 2012. 1039 | Orig.: „Yo soy de aquella generación que Bernardo Bertolucci definió muy bien: uno se acostaba pensando que al amanecer el mundo podia haber cambiado y ahora ya sabemos que eso no es posible.“ Sergio Cabrera, zitiert in: Amat 2012. 1040  | Siehe Kapitel III.1.1. 1041  | Siehe Amat 2012. 1042  | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Originalfassung, zugänglich im Archiv der „Fundación Patrimonio Fílmico Colombiano“. 1043  | Orig.: „declaración política“.

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dere Richtung gelenkt habe,1044 bietet sich ihm die Gelegenheit zum Einstieg in die offizielle Politik: Juan Lozano, Führer der politischen Bewegung „Colombia Siempre“, lädt den Filmemacher zu einem Untersuchungsausschuss hinzu, um gemeinsam die Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem bewaffneten Konflikt zu eruieren.1045 Als Ergebnis seiner Partizipation kandidiert Cabrera 1998 selbst für den Kongress und wird zum 2. Vorsitzenden des Repräsentantenhauses gewählt. Doch auch die offizielle Politik erweist sich als Sackgasse, denn noch im selben Jahr muss der Filme­macher, wie viele andere Politiker aus dem linken Spektrum, aufgrund massiver Morddrohungen sein Mandat niederlegen. Er flüchtet ins spanische Exil, wo er einige Jahre fürs Fernsehen arbeitet.1046 Cabreras Biografie belegt anschaulich die Optionslosigkeit der politischen Linken in Kolumbien, die bis weit in die 1990er Jahre hinein gewaltsam aus der Demokratie verdrängt wird. Gleichzeitig belegt sie die These, dass der Film und andere Künste in diesem Ambiente der Repression und der Verfolgung eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung, zur Reflexion und zur Kritik schaffen. Inwiefern Cabrera seinen Film als politisches Sprachrohr nutzt und welche Hoffnungen und Befürchtungen er darin bezüglich der nahenden Friedensverhandlungen formuliert, soll durch die Analyse von Golpe de estadio offengelegt werden. Zwar ist die Handlung des Films frei erfunden, sie nimmt jedoch auf mehrere historische Gegebenheiten Bezug: auf die zunehmende Präsenz der ausländischen Großkonzerne, die im Zuge der Öffnung der kolumbianischen Wirtschaft in den 1990er Jahren gute Konditionen für ihre Geschäfte vorfinden und vom staatlichen Militär vor Anschlägen der Guerilla geschützt werden, auf die Erfolge der kolumbianischen Fußballnationalmannschaft in der Qualifikations­r unde für die WM 1994 in den USA, auf die „Asamblea Nacional Constituyente“ und die neue Verfassung von 1991, die der Bevölkerung mehr Bürgerrechte und Demokratie versprechen,1047 sowie indirekt auf den Friedensdialog, der zum Zeitpunkt des Filmstarts in San Vicente del Caguán beginnt. Golpe de estadio erscheint, so Carlos Giraldo, gerade in dem Moment, als der bewaffnete Konflikt auf dem Land, durch die massive Medienberichterstattung über den Friedensdialog begünstigt, für die Stadtbevölkerung aufhört, ein fernes, abstraktes Konstrukt zu sein, sondern im Bewusstsein eines jeden einzelnen angekommen ist.1048 Im Gegensatz zur Berichterstattung der Boulevard­ 1044  | Siehe Salamanca Rozo 2014. 1045  | Siehe Salamanca Rozo 2014. 1046  | Siehe Salamanca Rozo 2014. 1047 | Vgl. Kapitel III.3.1. 1048  | Siehe Giraldo 2001, 26.

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presse und den privaten Rundfunkanstalten, deren Erfolgsrezept sich, Giraldo zufolge, mit der Formel „Massaker, Sport und Ärsche“1049 umschreiben lässt, „[...] entfernt [der Film] sich von der leicht bekömmlichen Manichäer­analyse [...] und berührt präzise Punkte des Krieges.“1050 Letzteres ist sicherlich zutreffend, jedoch muss Giraldo insofern widersprochen werden, als dass auch Cabrera sich, zumindest vordergründig, die oben genannte Erfolgsformel des Boulevardjournalismus und der Unterhaltungsindustrie zu Nutze macht. Golpe de estadio ist ein auf kommerziellen Erfolg ausgerichteter Film, der eine Vielzahl von Elementen vereint, die in Kolumbien – und nicht nur dort – ein großes Publikum in die Kinos locken: eine Komödie „mit einem Humor im Stil der Fernsehserie Sábados Felices“1051, eine Liebesgeschichte nach dem Vor­bild von Romeo und Julia, verkörpert von bekannten spanischen und latein­ amerikanischen Film- und Fernsehdarstellern, leichtbekleidete Frauen, die für die entsprechende Erotik sorgen, sowie die mit Archivmaterial unter­fütterte Wiederbelebung eines sportlichen und nationalpatriotischen Höhepunktes der kolumbianischen Geschichte – der unerwartete 5:0 Sieg der kolumbianischen Nationalmannschaft gegen Argentinien am 5. September 1993.1052 Dieses Ereignis, welches zum Zeitpunkt des Filmdrehs erst vier Jahre zurückliegt, ermöglicht in Golpe de estadio einen Waffenstillstand zwischen einer Guerillaeinheit, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein nordamerikanisches Erdöl­unternehmen aus ihrem Gebiet zu vertreiben, und den kolumbianischen Streitkräften, welche die Industriellen verteidigen. Die Euphorie um die starke Leistung der Kolumbianer in der WM-Qualifikationsrunde lässt im Film das scheinbar Unmögliche wahr werden. Die Guerillaeinheit und das staatliche Einsatzkommando schaffen gemeinsam, ohne das Wissen ihrer obersten Befehlshaber, die Infrastruktur für ein kollektives Public-Viewing-Event und zelebrieren schließlich einträchtig den historischen Sieg ihrer Mannschaft. Das auf diese Weise hervorgerufene Zusammengehörigkeitsgefühl der beiden Lager kann zwar den jahrzehntelangen Krieg nicht beenden – am nächsten Morgen werden die Gefechte wie gewohnt fortgesetzt –, die innere Einstellung zum vermeintlichen Gegner hat sich für beide Seiten jedoch tiefgreifend verändert. Die zentrale Botschaft, die Cabrera mittels der hier skizzierten Kern­ story des Films vermittelt, ist eindeutig: Die kolumbianische Bevölkerung ist 1049  | Orig.: „masacres, deportes y culos“. Giraldo 2001, 27. 1050 | Orig.: „[...] se aleja del análisis ligero y maniqueo [...] y toca puntos precisos de la guerra.“ Giraldo 2001, 27. 1051  | Orig.: „[...] con un humor al mejor estilo del seriado de televisión Sábados Felices“. Die von Caracol-TV produzierte Comedy-Show Sábados Felices (dt.: „Glückliche Samstage“) wird seit über 40 Jahre zur Primetime im kolumbianischen Fernsehen ausgestrahlt. Quelle: http://www.semana.com/cultura/articulo/golpe-de-estadio/38476-3 1052 | Quelle: http://www.semana.com/cultura/articulo/golpe-de-estadio/38476-3

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eins, es ist an der Zeit, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, Feindbilder über Bord zu werfen und das Kriegsbeil zu begraben. Cabrera begnügt sich jedoch nicht damit, den Zusammenhalt innerhalb der filmischen Diegese zu inszenieren, sondern versucht auf verschiedene Art und Weise, die Gefühle und Erkenntnisse der Protagonisten aufs Publikum zu übertragen und bei diesem ebenfalls den Wunsch nach Aussöhnung und Frieden zu verstärken. Dies geschieht, wie bereits angedeutet, zum einen durch das Herauf beschwören patriotischer Gefühle im Zusammenhang mit dem Fußballereignis, welches das Kinopublikum auf der Leinwand erneut durchlebt, zum anderen über den satirischen Humor, mit dem Cabrera auf das Kriegsszenarium blickt: Golpe de estadio ist „[…] eine Parodie auf den kolumbianischen Krieg, in der jede Figur, egal ob Polizist oder Guerillakämpfer, Unternehmer oder Pfarrer, Waffenhändler oder Bordellbesitzer, eine Karikatur ist, oder besser gesagt, eine Verspottung ihrer selbst, mit allen zugehörigen Klischees und Manieriertheiten.“1053

Indem der Regisseur, wie im Zitat angesprochen, die Handlungen und Motive aller am Konflikt beteiligten Parteien ins Lächerliche zieht, bezieht er einerseits eine politisch neutrale Position, andererseits unterstreicht er die Absurdität dieses Krieges, bei dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, obwohl sie im Grunde die selben Interessen und Ziele haben: Liebe, Familie, Spaß (hier: Fußball, Sex und Alkohol) und natürlich „ein besseres Kolumbien“1054. Bereits in der Exposition des Films1055 werden auf satirische Weise die Gemeinsamkeiten der Konfliktakteure vorgeführt und, damit zusammen­ hängend, die Sinnlosigkeit des Krieges verdeutlicht. Die Sequenz zeigt ein heftiges Gefecht zwischen einer Sondereinheit der Guerilla, die einen von der Erdölfirma errichteten Turm sprengen will, und den Soldaten, die dies zu verhindern versuchen. Die Kampfhandlungen werden auf beiden Seiten durch die mangelnde Konzentration der Kämpfer erschwert, welche während des Einsatzes die Radioübertragung des Länderspiels zwischen Kolumbien und Paraguay verfolgen. Der erste Schusswechsel wird von einem Soldaten ausgelöst, der aus Angst vor einem Angriff der Guerilla eine Salve auf einen Baum 1053 | Orig.: „[…] una parodia sobre la guerra colombiana en la que cada personaje, bien sea policía o guerrillero, empresario o párroco, traficante de armas o propietario de lupanar, es una caricatura, o mejor, una ridiculización de sí mismo, con todos los clisés y amaneramientos del caso.“ Quelle: http://www.semana.com/cultura/articulo/golpe-de-estadio/38476-3 1054  | Orig.: „una Colombia mejor“. An mehreren Stellen im Film berufen sich Kämpfer beider Lager auf dieses Ziel. 1055 | 00:00-16:40.

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abgefeuert, in dem er eine Bewegung entdeckt hat.1056 Tatsächlich befinden sich Guerilleros auf dem Baum, sie sind jedoch nicht mit der Vorbereitung eines Angriffs, sondern mit der Installation einer Radioantenne beschäftigt.1057 Die Attacke hat zur Konsequenz, dass keine der beiden Parteien das Fußball­ spiel genießen kann: während aus dem Radio die kolumbianische National­ hymne erklingt, erfolgt heftiger gegenseitiger Beschuss und die Kämpfer werden von ihren Befehlshabern mehrmals ermahnt, die Radios abzuschalten.1058 Als die Guerilla Handgranaten auf das hinter Sandsäcken verschanzte Militär feuert, nutzt die Guerilla-Subkommandantin María (Emma Suárez), die den Einsatz anführt, den Moment der Ablenkung, um sich an den Turm heranzupirschen. Carlos (Nicolás Montero), bei dem es sich, wie sich später herausstellt, um einen Spitzel der Polizei handelt, gibt ihr Rückendeckung.1059 Plötzlich wird María von den Soldaten entdeckt, welche das Feuer auf sie eröffnen. Carlos, der sich in María verliebt hat, kommt ihr zu Hilfe und beschießt vom Turm aus die Soldaten, während María die Sprengsätze anbringt. Im selben Moment bricht der Beschuss ab, da sich im Fußballspiel, das beide Parteien über Funk verfolgen, eine Torchance für Kolumbien abzeichnet. Die Kämpfer verlassen augenblicklich ihre Positionen und drängen sich an die Radios.1060 Ihr Gesichtsausdruck, von der Kamera mit einem Schwenk (G) eingefangen,1061 verrät höchste Anspannung, als ginge es bei diesem Spiel um Leben und Tod. Dass ihr Leben tatsächlich auf dem Spiel steht, ist für Soldaten wie Guerilleros in diesem Moment zweitrangig. „Was ist los?“1062, fragt María, die die Übertragung vom Turm aus nicht hören kann, verwirrt angesichts der unerwarteten Feuerpause. Erneut erklingt eine Variation der kolumbianischen Nationalhymne, dieses Mal jedoch nicht als diegetische Musik aus den Radios, sondern als nicht diegetische Musik aus dem off.1063 Durch die Kombination von äußerer Handlung – das Interesse am nationalsportlichen Ereignis führt zu einer Feuerpause – mit dem eingespielten musikalischen Leitmotiv, das als Symbol für die nationale Einheit interpretiert werden kann, formuliert Cabrera eine weitere Kernaussage des Films: Kolumbianer, hört auf, euch sinnlos zu bekriegen, dann könnt ihr die schönen Dinge des Lebens (hier: den Fußball) in Frieden genießen.

1056 | 07:17-07:25. 1057 | 07:08-07:16. 1058 | 09:30-10:36. 1059 | 11:15-11:48. 1060 | 12:34-12:40. 1061 | 12:52-12:57. 1062 | Orig.: „¿Qué pasa?“ 12:40. 1063 | 12:40-12:43.

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Als María und Carlos sich vom Turm entfernen, schneidet ihnen der Kommandant des staatlichen Militärs, Sargento García (César Mora), gefolgt von einem seiner Männer, der als einziger seiner militärischen Pflicht nachkommt, den Weg ab und eröffnet das Feuer.1064 Bei dem Schusswechsel werden María und der Sargento angeschossen. Die Kampfszene ist, entsprechend der visuellen Ästhetik des gesamten Films, schnell und rhythmisch geschnitten. Eine Handkamera wird eingesetzt, wodurch der Zuschauer stärker in die Handlung involviert wird. Allgemein erzeugt Cabrera durch das hohe Tempo der Schnitte, Dialoge und Handlungsabfolgen beim Betrachter ein Gefühl der Unübersichtlichkeit: der Zuschauer wird Zeuge eines Schlagabtausches von Worten, Aktionen und Kugeln und hat Mühe, die vielen deutungsrelevanten Details zu erfassen. Dieser Umstand versinnbildlicht die tatsächliche Unübersichtlichkeit und Komplexität des landesinternen Konfliktes, dessen Ursachen und Hintergründe selbst von spezialisierten Gewaltforschern nicht hinreichend erklärt werden können.1065 Gleichzeitig könnte Cabrera mittels dieser Ästhetik den Live-Charakter in der Berichterstattung der Massenmedien zu persiflieren versuchen, auf deren Unglaubwürdigkeit er im weiteren Verlauf des Films insbesondere mittels der Figur der italienischen Journalistin Bárbara anspielt: diese gibt vor, eine Reportage über die Guerilla zu drehen, in Wirklichkeit aber versucht sie mithilfe ihrer weiblichen Reize Comandante Felipe zu korrumpieren und, im Sinne ihres Auftraggebers Sr. Mauser, zur Freilassung von Gefangenen zu bewegen. Im weiteren Verlauf des Gefechts lassen die Soldaten ihren verletzten Sargento im Stich, um der Fußballübertragung folgen zu können.1066 Der einzige Soldat, der seinem Vorgesetzten widerwillig in die Schlacht folgt, erkundigt sich bei seiner Rückkehr zur Einheit sofort nach dem Spielstand. Es wird deutlich, dass der bewaffnete Kampf und die damit verbundenen Ziele für die Soldaten eine untergeordnete Priorität haben. Witzigerweise ist diese Haltung in Cabreras Darstellung auch bei der Guerilla vorherrschend, die im Gegensatz zum staatlichen Militär, welches auch Wehrdienstpflichtige beschäftigt, angeblich aus politischer Überzeugung kämpft: María, Carlos und ihr Kommandant Felipe arbeiten als einzige konzentriert am Gelingen ihrer Operation, während die übrigen mit dem Spiel beschäftigt sind. Einer der Guerilleros erleidet sogar eine Herzattacke, als Paraguay beinahe ein Tor schießt, und muss auf einer Trage zurück ins Camp befördert werden.1067 Als er unter Schmerzen den Wunsch äußert, das Ende des Spiels im Camp verfolgen zu dürfen, und dafür von seinen Kameraden lauten Beifall erntet, weist ihn Comandante Felipe 1064  | 13:35-13:55. 1065 | Siehe Kapitel I.2.2 und I.2.3. 1066 | 13:56-14:12. 1067  | 17:28-18:25.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

zurecht, Fußball sei eine Ausgeburt des Imperialismus, und er solle sich auf ihre politischen Ziele besinnen. Das Bild, das Cabrera hier vom bewaffneten Konflikt entwirft, ist das eines sinnentleerten, lächerlichen Kampfes, der von niemandem, außer von den ideologisch argumentierenden Kommandanten der jeweiligen Truppen, ernst genommen wird. Die Kämpfer – die kolumbianische Bevölkerung – folgen den Anordnungen ihrer Vorgesetzten aus reiner Gewohnheit. Der Krieg ist fester Bestandteil ihres Lebens und ihres Weltbildes, das Kämpfen eine Beschäftigung, die sie quasi nebenbei ausführen, ohne über Sinn, Zweck und Nutzen nachzudenken. Die Pointe der Exposition besteht darin, dass der Turm letztendlich nicht von der Guerilla, sondern vom kolumbianischen Militär gesprengt wird: der Pilot eines Militärhubschraubers, der seine Kreise über dem Kampfgebiet zieht, löst den Abwurf eines Geschosses aus, als er, aus Euphorie über ein Tor der Kolumbianer jubelnd, aus Versehen den entsprechenden Knopf drückt.1068 Der anschließende Kommentar des Kopiloten („Ich glaube, wir haben es verschissen, mein Kapitän.“1069) setzt der Pointe noch eine Spitze auf: die umgangs­ sprachliche Floskel („wir haben es verschissen“) nimmt Bezug auf die Populär­ kultur, der die dargestellten Soldaten offensichtlich zugehören, und bildet einen Kontrast zur offiziellen Rhetorik des Militärs, welche die entpersonalisierte Anrede mittels des militärischen Ranges („mein Kapitän“) vorschreibt.1070 Da es beiden Seiten zugutekommt, wird die Sprengung des Turms offiziell der Guerilla zugeschrieben: der Pilot entkommt so der Schelte seiner Vorgesetzten, María und Carlos können sich als Helden feiern lassen. Cabrera spielt an dieser Stelle auf die Unzuverlässigkeit der offiziellen Konflikt­darstellungen an und gleichzeitig auf die Schwierigkeit für einen Außenstehenden, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Auch die Verwicklung der Zivilbevölkerung in die militärischen Auseinandersetzungen wird bereits in der Exposition thematisiert. Die Bäuerin Juana, die allein mit ihrem Sohn im Konfliktgebiet wohnt, erweist der Guerilla, welche sie für ihre Kollaboration entlohnt, manchen Gefallen, gerät aber in einen Gewissenskonflikt, als sie sich in einen stationierten Soldaten verliebt und eine Beziehung zu ihm eingeht. Während des oben beschriebenen Gefechts werden eines ihrer Schweine sowie der Fußball ihres Sohnes von Kugeln durchlöchert. Als die Guerilla Juana das Schwein ersetzen will, protestiert der Junge: „Und mein Ball, wer ersetzt den?“1071 Cabrera verdeutlicht, dass der sinnlose 1068 | 15:33-16:17. 1069 | Orig.: „Creo que la cagamos, mi Capitán.“ 16:24-16:27. 1070 | Cabrera persifliert an vielen Stellen des Films die Kriegsrhetorik, um die militärischen Strukturen, auch innerhalb der Guerilla, ins Lächerliche zu ziehen.

1071 | Orig.: „Y por mi balón, ¿quién responde?“ 27:48-27:49.

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Krieg insbesondere auf Kosten der Kinder ausgetragen wird. Der Zugewinn an Lebensqualität, den der Frieden für die Zivil­bevölkerung mit sich bringen würde, wird im Laufe des Films über die Metapher des Fußball­spielens veranschaulicht: Während Juana ihren Sohn zu Beginn des Films noch ermahnen muss, dass Fußballspielen während des Gefechts verboten ist,1072 können die Kinder des Dorfes am Ende des Films, als Guerilla und Militärs inoffiziell Frieden geschlossen haben, auf der Fläche neben dem gesprengten Turm Fußball spielen.1073 Dabei trifft der Ball die Überreste des Turms, und plötzlich sprudelt Erdöl aus dem Boden hervor1074 – entgegen der Prognose des ausländischen Unternehmens, das seine Arbeit am Standort mittlerweile eingestellt hat. Auch wenn Comandante Felipe spontane Freude über die erneute Möglichkeit zur Fortführung seines Kampfes gegen die Erdölfirma äußert („Jetzt müssen sie die Ölpipeline doch noch bauen. Wir werden Arbeit haben, Jungs!“1075), ist die Aussage des Erdölaufkommens dennoch eindeutig: der Frieden fördert nicht nur das Recht der Kinder auf unbeschwertes Spielen, sondern auch den Wohlstand des Landes – vorausgesetzt, dieser wird nicht zum Anlass für neue kriegerische Auseinandersetzungen genommen, wie von Comandante Felipe angedeutet. Im Anschluss an die Exposition folgt eine Parallelmontage, die die Reaktionen der Kämpfer und ihrer Kommandanten in den jeweiligen Militärcamps dokumentiert.1076 Durch den beinahe identischen Ablauf in beiden Lagern (die Kommandanten echauffieren sich über das mangelnde Pflichtbewusstsein und die fehlende Arbeitsmoral der Kämpfer und wollen die Fußballübertragungen verbieten, die Kämpfer organisieren ihren Protest gegen das Verbot und leiten technische Vorbereitungen für den Empfang der Fernsehübertragung ein) wird abermals deutlich, dass Guerilla und Militärs sich im Grunde nur unwesentlich unterscheiden. Nach hitzigen Diskussionen im Guerilla-Camp, bei denen Comandante Felipe seine Leute an ihre Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse und der „Asamblea Permanente“ erinnert, kommen María und Carlos zu der Erkenntnis, dass es ebenso unmöglich ist, den Fußball zu verbieten wie den Krieg zu beenden.1077 Auf der Tonebene wird die Tragweite dieser Einsicht abermals durch eine Variation des wiederkehrenden musikalischen Leitmotivs, der kolumbianischen Nationalhymne, verdeutlicht.

1072 | Orig.: „¡No te he dicho que en combate no se juega!“ 08:00-08:01. 1073 | 1:54:12-1:54:28. 1074 | 1:55:30-1:56:38. 1075 | Orig.: „Ahora sí van a tener que construir el oleoducto. ¡Vamos a tener trabajo, muchachos!“ 1:56:24-1:56:26.

1076 | 17:28-25:14. 1077 | 25:11-25:16.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

María schlägt Comandante Felipe einen befristeten Waffenstillstand während der Spiele vor, welchen dieser unter der Bedingung bewilligt, dass die obersten Kommandeure nichts davon erführen.1078 Sargento García, der den Vorschlag für eine Falle hält, bestraft seine jubelnden Soldaten, indem er den „Fernsehbetrieb […] bis auf weiteres suspendiert“.1079 Statt auf das Angebot der Guerilla einzugehen, plant er einen Überraschungsangriff, den er dem Pfarrer (Humberto Dorado) beichtet.1080 Cabrera thematisiert an dieser Stelle das Problem des gegenseitigen Misstrauens, das auch die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Pastrana und den FARC überlagert und letztendlich zum Scheitern bringt.1081 In der darauffolgenden Sequenz1082 überlisten die Soldaten ihren Befehls­ haber, indem sie ihn beim Gang auf die Toilette entwaffnen. Anschließend konfrontieren sie ihn mit ihrem Entschluss zum Streik. Witzigerweise ist ihre oberste Forderung die Aufhebung des Fernsehverbots und die Waffenruhe, die ihnen eine sorgenfreie WM verspricht, noch vor der Einforderung zentraler Arbeitsrechte, die ihnen während ihres Einsatzes unter Sargento García verwehrt worden sind.1083 Indem Cabrera die Soldaten zur Bekräftigung ihrer Entschlossenheit den Schlachtruf des lateinamerikanischen Klassenkampfes („El pueblo unido jamás será vencido“1084) in einer auf die Soldaten umgemünzten Variation rezitieren lässt („La policía unida jamás será vencida“1085), könnte er entweder den Opportunismus der Soldaten persiflieren, die sich der Methoden ihrer vermeintlichen Feinde bedienen, oder aber, wie schon in La estrategia del caracol, indirekt zur Rebellion gegen staatliche Autoritäten aufrufen. Tatsächlich ist der kleine Staatsstreich der Soldaten, auf den auch der Titel des Filmes anspielt1086, von Erfolg gekrönt: der Sargento bewilligt die Waffen­ ruhe und bestellt zur Wiedergutmachung einen ganzen Bus voller Prostituier-

1078 | 25:19-25:47. 1079 | Orig.: „[…] queda suspendido el servicio de televisión hasta nueva orden.“ 29:00-29:03. 1080 | 29:45-30:08. 1081 | Wie in Kapitel III.3.1 beschrieben, unterstellen sich Guerilla und Regierung während des Dialogs gegenseitig den Missbrauch der entmilitarisierten Zone und reagieren auf jeden vermeintlichen Vertragsbruch der anderen Seite mit Vergeltungsschlägen. 1082 | 30:11-32:40. 1083 | Wie aus ihren Forderungen hervorgeht, haben die Soldaten seit drei Monaten keinen Lohn und seit sieben Monaten keinen Heimaturlaub bekommen. 1084  | Dt.: „Das vereinte Volk kann niemals besiegt werden.“ 1085 | Dt.: „Die vereinte Polizei kann niemals besiegt werden“. 32:20-32:34. 1086 | Golpe de estadio ist eine Anspielung auf den Ausdruck „golpe de estado“ (dt.: „Staatsstreich“, „Putschversuch“), der sich aus den Einzelbegriffen „golpe“ (dt.: „Schlag“, aber auch „Coup“) und „estadio“ (dt.: „Stadion“) zusammensetzt.

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te ein, die während der Spiele im Camp gastieren sollen.1087 Als Sargento García gerade mit dem Zuhälter über den Preis verhandelt, erscheint eine Gruppe Vertriebener, die ihn um Quartier bittet. Einer der Vertriebenen erzählt, sie seien vor einem Massaker geflohen, bzw. vor den vielen Helfern, die sich nach dem Massaker im Dorf breitgemacht hätten.1088 Der Sargento, der vermeiden will, dass das Eintreffen der Notleidenden die Festtagsstimmung im Camp trübt, schickt einen seiner Männer zum Sprecher der Vertriebenen: Soldat: Vertriebener: Soldat: Vertriebener: Soldat: Vertriebener:

„Deine Papiere, mein Freund.“ „Papiere?“ […] „Zeig mir deine Identifikation.“ „Meine Identifikation? [er zieht eine Machete hervor] Diese Machete ist meine Identifikation.“[…] „Vorsicht, ich bin das Gesetz.“ „Hier ist das Gesetz jeder Einzelne! Hier in diesem Dorf ist jeder Einzelne das Gesetz, merk dir das.“1089

Die Aussagen des Vertriebenen lassen Verbindungen zu unterschiedlichen Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse erkennen, z.B. zur These, dass sich die kolumbianische Landbevölkerung über ihre Rolle in der Violencia der 1950er Jahre identifiziere (der Vertriebene nennt die Machete seine Identifikation1090) oder dass die fehlende staatliche Autorität anarchistische Macht­ strukturen und Selbstjustiz herbeigeführt habe (jeder Einzelne ist das Gesetz1091). Dadurch, dass Cabrera diesen Diskurs in eine Szene einbettet, in der die staatliche Autorität – repräsentiert durch Sargento García und seine Männer – ihr eigenes dekadentes Vergnügungsangebot (das fahrende Bordell) für wichtiger erachtet als die Sicherung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung (die Vertriebenen), legitimiert der Regisseur indirekt den Kampf der Bauern bzw. der Guerilla. Durch den satirischen Charakter der Szene tarnt er seine Kritik jedoch im Deckmantel der Komödie und sichert sich so gegen mögliche Vorwürfe ab.

1087  | 33:05-36:45. 1088 | Cabrera scheint mit dieser Aussage auf die unzureichende oder schlecht eingesetzte Hilfe für die Opfer des Konflikts anzuspielen. 1089 | Orig.: „Sus papeles, amigo. – ¿Papeles? […] – Muéstrame tu identificación. – ¿Mi identificación? Este machete es mi indentificación. – […] – Cuidadito que yo soy la ley. – Aquí la ley es cada uno. Aquí en este pueblo cada cual es la ley, acuerdate de eso.“ 35:05-35:28. 1090 | Bezüglich der Symbolik der Machete vgl. die Filmanalysen zu En la tormenta, Cóndores bo entierran todos los días, Carne de tu carne und La virgen de los sicarios. 1091 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Die Sichtung des nächsten Qualifikationsspiels der kolumbianischen Mannschaft gegen Peru, welches Militärs und Guerilla getrennt voneinander in ihren jeweiligen Camps verfolgen, wird auf beiden Seiten durch technische Komplikationen erschwert. Besonders hart ist die Guerilla betroffen: Sr. Mauser, der gemeinsam mit der italienischen Journalistin versucht, die Guerilla zur Freilassung von Geiseln aus den Reihen der Ölfirmaarbeiter zu bewegen, demonstriert den Kämpfern die Effektivität der Waffen, die das Unternehmen zum Tausch gegen die Gefangenen anbietet, und trifft dabei ausgerechnet die Rundfunkantenne.1092 Den Guerilla-Kämpfern gelingt es gerade noch rechtzeitig, die Antenne bis zum Anpfiff zu reparieren, so dass sie gemeinsam das Spiel verfolgen können – mit Ausnahme von María und Carlos, die die „zwei Halbzeiten a 45 Minuten und die ca. 20 Minuten Pause“1093 für ein Liebes­abenteuer nutzen.1094 Abermals ist es das Fußballereignis, das den Menschen Zeit für die schönen Dinge des Lebens gewährt. Im Anschluss an das Spiel überschlagen sich die Ereignisse: der Guerilla-­ Oberkommandant „Tio Pepe“1095, gespielt von Cabreras Vater Fausto Cabrera, selbst Ex-Guerillero und Führer der Kommunistischen Partei,1096 erreicht das Camp, wo er sich als erstes nach dem Spielstand erkundigt und sich über den 4:0 Endstand freut.1097 Carlos, der als Spion der Geheimpolizei in die Guerilla­ einheit infiltriert wurde, meldet seinen Vorgesetzten in der Hauptstadt per Funk die Ankunft des „Königs des Dschungels“ und bittet María unter Vorwänden, ihm in ein gemeinsames Leben abseits des Kampfes zu folgen, da er um einen Militärschlag fürchtet.1098 María ist vom Sinn ihres Kampfes jedoch so überzeugt, dass sie Carlos „Romantik“ lediglich belächelt. Carlos flieht und stellt sich der Militäreinheit von Sargento García, welcher seine Zugehörigkeit zur Polizei jedoch anzweifelt und ihn als vermeintlichen Guerillero einsperrt.1099 Als die Guerilla die Nachricht erreicht, die Militärs hätten den Waffenstillstand gebrochen und Carlos gefangen genommen, leitet María ein Befreiungskommando ein. Während sie einen Sprengsatz an Carlos Zellentür anbringt, beichtet dieser ihr sein Geheimnis, worauf die leidenschaftliche Revolutionärin geschockt die Befreiungsaktion abbricht. Um ihr Leben zu retten, schleudert Carlos in letzter Sekunde den bereits gezündeten Sprengsatz von 1092 | 42:18-43:25. 1093 | Orig.: „Dos tiempos de 45 minutos, más el entremedio que es como de 20.“ 47:4047:45. 1094 | 47:24-49:12. 1095 | Dt.: „Onkel Pepe“. 1096 | Siehe Amat 2012. 1097 | 50:04-50:08. 1098 | 55:23-57:18. 1099 | 1:00:24-1:03:13.

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der Zellentür weg in den Vorraum, wo er mit dem Fernseher explodiert.1100 Die Zerstörung des TV-Geräts, das für die Soldaten den einzigen Zugang zur WM-Übertragung darstellt, inspiriert jene zu einem Vergeltungsschlag: „Auge um Auge“1101 nehmen sie Rache an der Guerilla, indem sie im Rahmen eines nächtlichen Überfalls einen gezielten Schuss auf deren Fernsehgerät abfeuern.1102 Zu spät bemerken sie, dass sie damit auch sich selbst die letzte Möglichkeit genommen haben, das entscheidende Spiel gegen Argentinien zu sehen. In einer Unterredung mit dem Pfarrer und Sr. Mauser, denen während der laufenden Verhandlungen um die Ölfirma-Geiseln an einer Einhaltung der Waffenruhe gelegen ist, entsteht der Plan, mit den Bruchstücken der beiden zerbombten Fernsehgeräte einen funktionstüchtigen Apparat zu konstruieren und das Spiel gemeinsam anzusehen.1103 Der symbolische Gehalt der Idee ist offenkundig: Cabrera deutet in Bezug auf die Friedensverhandlungen Pastrana-Marulanda an, dass die Folgen der gegenseitigen Verletzungen, der Zerstörung und der Gewalt nur durch gemeinsame Bemühungen wiedergutgemacht werden können. In der nachfolgenden Sequenz inszeniert Cabrera die Friedensverhandlungen im Mikrokosmos von „Nueva Texas“1104, dem Schauplatz der Handlung: In einer ersten Phase finden mithilfe des Pfarrers sowie Sr. Mauser und Bárbara, die als internationale Beobachter fungieren, Sondierungsgespräche zwischen den Repräsentanten beider Parteien statt.1105 Mit einem Motorroller, an dessen Lenker die rote Fahne der Guerilla, die kolumbianische Flagge sowie die Friedens­flagge gehisst sind, fährt der Geistliche vermittelnd auf dem staubigen Fußballplatz der Gemeinde zwischen den beiden Toren hin und her, in denen die jeweiligen Truppenvertreter sitzen. Die Bedingungen des Waffen­stillstands sowie die Details zur Durchführung des Fußballevents werden auf diese Weise ausgehandelt. Die Prozedur zieht sich aufgrund haarsträubender Forderungen beider Seiten jedoch in die Länge: die Guerilla fordert, „von links“ zum Spiel einmarschieren zu dürfen, weil dies ihrer politischen Position entspreche; die Militärs bestehen im Gegenzug darauf, aufgrund ihrer Stellung als offizielle 1100 | 1:03:52-1:06:48. 1101  | Orig.: „Ojo por ojo.“ 1:07:50-1:07:52. 1102 | 1:09:11-1:10:03. 1103 | 1:11:04-1:12:32. 1104 | Der an „Nueva York“ (New York) angelehnte Name persifliert den Besitzanspruch der nordamerikanischen Ölfirma auf die rohstoffreiche Region. An einer anderen Stelle des Films verlangt der Chef der Ölfirma, dass ihm der Nationalpark von Bogotá als Bauplatz zur Verfügung gestellt werde. Er argumentiert, dass die Regierung bereits das halbe Land an ihn abgetreten habe, da käme es auf jenes Fleckchen Erde auch nicht mehr an. 20:42-21:26. 1105 | 1:12:34-1:13:51.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Ordnungskräfte als erste einmarschieren zu dürfen. Als Reaktion hierauf weigert sich die Guerilla, die Militärs als „Kräfte der Ordnung“ anzuerkennen, da der Terminus impliziere, dass es sich bei den Subversiven um „Kräfte der Unordnung“ handle. Mit viel Humor und Selbstironie persifliert Carbrera in dieser Sequenz eine Guerilla, die krampfhaft an der Symbolik und Rhetorik einer alternden Ideologie festhält, und verdeutlicht so seine eigene Distanz zu dieser. Gleichzeitig scheint er davor zu warnen, dass der reale Friedens­dialog an der Sturheit und Prinzipienreiterei der Konflikt­parteien scheitern könnte. Im Film wird letztendlich jedoch eine Einigung in Bezug auf die strittigen Details erzielt, was als positives Signal Cabreras an die realen Verhandlungen interpretiert werden könnte. Während zwei abgesandte Techniker – ein Guerillero und ein Militär – unter stetigen Sticheleien mit der aufwendigen Reparatur des Fernsehgerätes beginnen, nehmen auf dem Fußballplatz die Phasen 2 und 3 des Waffen­stillstands ihren Lauf:1106 der Einmarsch der Truppen, der von Seiten der Guerilla mit einem heroischen Gesang verbunden wird, was Sargenta García aufs Äußerste provoziert, sowie die Entmilitarisierung der „Zone“ (hier: der Fußballplatz und die Kirche), durchgeführt von den internationalen Beobachtern. Es liegt auf der Hand, dass Cabrera hiermit auf die Pläne zur Entmilitarisierung der Zone um San Vicente de Caguán durch die Regierung Pastrana anspielt.1107 Ähnlich wie die realen Friedensverhandlungen ist auch der Waffen­ stillstand in Golpe de estadio von internen Machtkämpfen geprägt: während der Fußballübertragung streiten sich die Truppen um die besten Sitzplätze und weigern sich, Aufforderungen von Vertretern der gegnerischen Partei – beispielsweise sich zu setzen – nachzukommen.1108 Die Stimmung bessert sich jedoch mit jedem Tor der kolumbianischen Mannschaft, und schon bald liegen sich Soldaten, Militärs, Ölunternehmer, Journalisten und Prostituierte gegenseitig in den Armen. Sargento García und Comandante Felipe schließen eine innige Männerfreundschaft, die sie durch exzessives Trinken, gemeinsames Pinkeln und gemeinsames Einschlafen im Arm der selben Frau besiegeln. Auch María und Carlos finden in der Euphorie um den Sieg wieder zueinander. Carlos überzeugt María davon, dass sie außer den jeweiligen ideologischen Floskeln nichts voneinander trennt, und sie desertieren gemeinsam, um sich abseits des Konflikts ein neues Leben aufzubauen. Am Ende des Films erblickt ein Hubschrauberpilot die Flüchtigen, als diese sich, befreit vom Ballast ihrer Militäruniformen, inmitten eines Flusses innig küssen.1109 Sein

1106 | 1:17:26-1:20:25. 1107  | Vgl. Kapitel III.3.1. 1108 | Z.B. 1:28:10-1:28:30. 1109 | 1:37:30-1:37:35.

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neidvoller Kommentar bezüglich dieses Anblicks bringt die Kernaussage der Liebesgeschichte auf den Punkt: „Das ist wahres Leben.“1110 Das während des Spiels und der anschließenden Siegesfeier aufgebaute Zusammengehörigkeits­gefühl entsteht jedoch nicht nur über den gemeinsam zelebrierten Nationalstolz, sondern auch über eine Abgrenzung und Aufwertung gegenüber anderen Nationen. Besonders deutlich wird dies angesichts der Reaktionen auf eine eingespielte Archivaufnahme des argentinischen Fußball­ stars Diego Armando Maradona, der im Vorfeld des Spiels eine vermeintlich unveränderbare historische Gegebenheit prognostiziert: „Argentinien oben, Kolumbien unten.“1111 So sehr sich die kolumbianischen Zuschauer, Guerilleros wie Soldaten, über diese Überheblichkeit aufregen, umso größer ist ihre Freude am Ende des Spiels über den erbrachten Beweis, dass es ihrer Mannschaft gelungen ist, die Fußballgeschichte neu zu schreiben. Dass die argentinischen Fans im Stadion den Kolumbianern zujubeln und schließlich auch Maradona, sichtlich geschockt, in die Kamera applaudiert, vollendet ihren Triumph: „Die Argentinier applaudieren uns!“1112, bringt einer der Soldaten zu Tränen gerührt hervor, bevor alle mit dem Einsatz der Nationalhymne in Jubel ausbrechen. Die emotionale Reaktion über die erfahrene Wertschätzung durch die Argentinier könnte auf ein latentes Gefühl der Minderwertigkeit anspielen, das nicht zuletzt aus den landläufig mit Kolumbien assoziierten Klischees – das Land der Drogenbarone, Auftragskiller und Kidnapper – resultiert. Cabrera inszeniert den Fußballsieg folglich als Metapher für das Potenzial Kolumbiens, welches sich in diesem Film immer dann entfaltet, wenn die Waffen ruhen. Es sei darauf hingewiesen, dass eine Aufwertung der Kolumbianer in diesem Film analog auch gegenüber den nordamerikanischen Erdöl­unternehmern erreicht wird, welche sich durch ihr korruptes, skrupelloses und eigennütziges Handeln als die wahren Bösewichte identifizieren lassen. Am Tag nach der rauschenden Feier beginnt mit Phase 5 des Waffenstillstands – die Rückgabe der Waffen – auch die Rückkehr zum Kriegsalltag.1113 Das alte Misstrauen und die Streitigkeiten setzen umgehend wieder ein, als die Guerilla den Versuch unternimmt, den Fernseher zu entwenden. Ein heftiger Streit entbrennt, der mit dem Herunterfallen und Zerbrechen des Geräts endet. Eine dramaturgische Klammer bildend, inszeniert Cabrera die nun einsetzende Wiederaufnahme der Kampfhandlungen auf dieselbe Art und Weise wie in der Anfangssequenz: während die Kämpfer Position an ihren Fronten beziehen und Sargento García per Funk die Position der Guerilla an einen 1110 | Orig.: „Esto sí es vida.“ [Hervorhebung durch die Autorin] 1:57:40. 1111 | Orig.: „Argentina arriba, Colombia abajo.“ 1:26:40-1:26:42. 1112  | Orig.: „¡Los argentinos nos están aplaudiendo!“ 1:39:03-1:39:05. 1113 | 1:47:00-1:53:32.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Hubschrauber­piloten durchgibt, wird das treibende musikalische Leitmotiv aus der Exposition wieder aufgegriffen. Abermals sorgen schnelle, rhythmische Schnitte und Handkameraaufnahmen für Dynamik, wieder entsteht ein Gefühl der Unübersichtlichkeit für den Zuschauer. Für kurze Zeit entsteht der Eindruck, als habe sich durch das gemeinschaftliche Erlebnis und die geschlossenen Freundschaften nichts am Verhältnis der Truppen verändert, als könnten 50 Jahre der Feindschaft nicht in einer Nacht der kollektiven Euphorie vergessen gemacht werden. Die überraschende Wende setzt ein, als sich Sargento García, angesichts der Vielzahl der eintreffenden Militärhubschrauber und dem klaren militärischen Vorteil der staatlichen Armee, dazu entschließt, die Guerilla zu warnen, denn „[…] man muss es auch nicht übertreiben“1114 . Rufend und wild in die Luft feuernd vermittelt er den Revolutionären, dass sie sich unter den Bäumen verstecken sollten. Anschließend befiehlt er den Hubschraubern den Rückzug, indem er den Piloten vorwirft zu spät gekommen zu sein. Als Comandante Felipe begreift, dass der Sargento ihnen das Leben gerettet hat, pfeift er in letzter Sekunde seine eigenen Leute zurück, die das Militär bereits umzingelt haben. Vor dem Auseinandergehen verabschiedet sich die Guerilla mit einem entschlossenen „Bis zum nächsten Mal.“1115 Dass es ein nächstes Mal geben wird und sogar soll, erklärt Sargento García seinen Soldaten auf deren Frage, warum er die Guerilla gewarnt habe: „Wenn wir den Feind vernichten, gegen wen sollen wir dann kämpfen? Dann haben wir keine Arbeit mehr, stimmt’s oder habe ich Recht?“1116 Mittels der Darstellung des innerkolumbianischen Konflikts als einem institutionalisierten, wirtschaftlich rentablen Katz-undMaus-Spiel stellt Cabrera noch einen weiteren Bezug zum Nationalsport Fuß­ ball her: die sich bekriegenden Truppen gleichen konkurrierenden Fußball­ mannschaften, die in zyklischen Abständen zum Duell aufeinandertreffen. Im Gegensatz zum bewaffneten Konflikt, dem auch politische Differenzen zu Grunde liegen, geht es im Fußball vordergründig um Leistung, Ruhm, Ehre und Geld. Durch die Gleichsetzung von konkurrierenden Fußballteams und den Konfliktparteien bringt Cabrera zum Ausdruck, dass der bewaffnete Kampf seine politischen Hintergründe verloren hat und zu einer Art makaberem Nationalsport geworden ist, bei dem verschiedene kolumbianische Teams gegeneinander antreten anstatt sich zu einem zusammenzuschließen. Indem er das Publikum zum Auftakt der Friedensverhandlungen mit seiner satirischen Analyse dieses Krieges konfrontiert, schärft er den Blick für die Sinn-

1114 | Orig.: „[…] tampoco hay que exagerar, hola.“ 1:50:04-1:50:06. 1115 | Orig.: „Hasta la próxima.“ 1:53:18. 1116 | Orig.: „Si acabamos con el enemigo, ¿contra quién vamos a pelear? Se nos acaba el trabajo, ¿sí o no?“ 1:53:53-1:54:00.

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losigkeit des Blutvergießens und lädt dazu ein, kollektiv über die Fehler der vergangenen Jahrzehnte zu lachen und einen Neuanfang zu wagen. Abschließend sei angemerkt, dass auch die jüngsten Friedensverhandlungen – die der Regierung Santos mit den FARC – von fußballerischen Höchstleistungen des kolumbianischen Teams begleitet worden sind. Diesem gelingt bei der WM 2014 erstmals der Einzug ins Viertelfinale, und James Rodríguez (Kolumbien) wird vor Thomas Müller (Deutschland) und Lionel Messi (Argentinien) Torschützenkönig.1117 Leider haben die WM-Erfolge von 1994 und 2014 in der Realität nicht zum Frieden, sondern zu noch mehr Gewalt beigetragen. In ihrem Artikel Kolumbiens WM-Fans und die Gewalt: Feiern bis der Arzt kommt vergleicht Spiegel-Autorin Karen Naundorf die traurige Gewaltbilanz der beiden WM: „Vielleicht wurde der Fußball im Land zum letzten Mal so ekstatisch gefeiert, als Kolumbien 1993 Argentinien in der WM-Qualifikation 5:0 schlug. Die Bilanz damals: Ein gewonnenes Spiel, Hunderte von Schlägereien, 912 Verletzte, 76 Tote. Kurz: Wenn Kolumbien feiert, wird es gefährlich. Das ist bis heute nicht anders […]. Nach dem 3:0-Sieg gegen Griechenland gab es 3000 Schlägereien, neun Tote und 15 Verletzte.“1118

Weitere acht Tote und 34 Verletzte folgen allein in der Hauptstadt auf den darauf folgenden 2:0 Sieg gegen Uruguay.1119 Auch vor den gefeierten Nationalhelden, den Fußballspielern, macht die Gewalt nicht Halt: Der kolumbianische National­spieler Andrés Escobar, der mit seinem Eigentor das Ausscheiden Kolumbiens aus der WM 1994 besiegelt, wird wenige Tage später in Medellín gelyncht.1120 Es bleibt zu hoffen, dass die vergleichende Bilanz der beiden Friedens­verhandlungen erfreulicher ausfallen möge als die der zeitgleich verlaufenden WM.

1117  | Quelle: http://www.weltfussball.de/torjaeger/wm-2014-in-brasilien/ 1118  | Naundorf 2014. 1119 | Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/wm-2014-acht-tote-in-kolumbien-nachsieg-im-achtelfinale-ueber-uruguay-a-978218.html

1120  | Quelle: http://www.welt.de/sport/fussball/wm-2014/article129345347/Nach-diesemEigentor-wurde-Escobar-ermordet.html

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

III.3.3.2 La toma de la embajada (dt.: „Die Besetzung der Botschaft“. Ciro Durán, 2000, Kolumbien/Mexiko/Venezuela) Als einzigem kolumbianischem Regisseur gelingt es Ciro Durán in der produktions­-armen Dekade zwischen 1990 und 2000 gleich zwei Filme fertigzustellen: La nave de los sueños1121 (1996) und La toma de la embajada1122 (2000) entstehen im Rahmen der sogenannten „G-3“, einer internationalen Allianz aus mexikanischen, venezolanischen und kolumbianischen Produzenten mit dem Ziel der kooperativen Produktion und Vermarktung von Kinofilmen in den drei Mitgliedsstaaten.1123 Das Konzept der G-3 geht insofern auf, als dass mithilfe von privaten Geldgebern (im Falle von La toma de la embajada auch Ibermedia) eine Reihe von Filmen mit geringem oder mittlerem Budget produziert und in allen drei Staaten im kommerziellen Kino vorgeführt werden können. Durán zufolge spielen die G-3-Filme durch die kombinierte Ausnutzung mehrerer nationaler Märkte das in sie investierte Geld wieder ein und können, wie das Beispiel von La toma de la embajada mit 350.000 Zuschauern zeigt1124, auch Gewinne verbuchen.1125 Wie Sergio Cabrera, der mit Golpe de Estadio den kommerziell erfolgreichsten kolumbianischen Film der 1990er Jahre hervorbringt1126, widerlegt Duráns Film die verbreitete Behauptung, das kolumbianische Publikum sei der Filme über den landesinternen Konflikt überdrüssig. La toma de la embajada wird darüber hinaus als einziger Film der Dekade von kolumbianischen Kritikern als explizit politisch eingestuft, da er durch das Aufgreifen des historischen Ereignisses der Besetzung der Dominikanischen Botschaft durch die M-19 und des erfolgreichen Dialogs der Regierung Turbay 1121  | Ship of Dreams. 1122 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Proimagenes Colombia (Hg.): La toma de la embajada. Reihe: „Lo mejor del cine colombiano“. 1123 | Interview mit Ciro Durán: Entrevista con Ciro Durán. De tomas, halcones y palomas. In: Kinetoscopio, Vol. 11-12, Nr. 56/57. Medellín: Centro Colombo Americano, 2000/2001, 30-33. 1124 | Einer Statistik des Kulturministeriums zufolge waren es 100.000 Zuschauer allein in Kolumbien. Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticas-delsector/Documents/Hist%C3%B3rico%20Pel%C3%Adculas%20Colombianas%201996%20 -%202013%20-%20%2830-11-14%29.pdf 1125 | Siehe Interview mit Ciro Durán: Entrevista con Ciro Durán. De tomas, halcones y palomas. In: Kinetoscopio, Vol. 11-12, Nr. 56/57. Medellín: Centro Colombo Americano, 2000/2001, 30-33. 1126 | Mit 700.000 Kinozuschauern in Kolumbien ist Golpe de Estadio der erfolgreichste kolumbianische Film der 1990er Jahre, vor La vendedora de rosas mit 630.000. Quelle: http://www.mincultura.gov.co/areas/cinematografia/estadisticas-del-sector/Documents/ Hist%C3%B3rico%20Pel%C3%Adculas%20Colombianas%201996%20-%202013%20 -%20%2830-11-14%29.pdf

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mit dieser Guerilla-Einheit einen direkten „Beitrag zum Friedensprozess“1127 der Regierung Pastrana mit den FARC leiste, der zur Zeit des Filmdrehs bereits in vollem Gange ist.1128 Wie die folgende Analyse des Films zeigen soll, kann diese These über die friedensfördernden Intentionen des Regisseurs bestätigt werden. Die Besetzung der Dominikanischen Botschaft in Bogotá am 27. Februar 1980 gilt als erste von zwei militärischen Großoperationen in der zwanzigjährigen Geschichte der M-19 als Guerilla, neben der Besetzung des Justizpalastes am 6. November 1985. Zwar gleichen sich die beiden Aktionen in Bezug auf ihre Spektakularität, denn in beiden Fällen ist es der Guerilla gelungen, in gut bewachte staatliche Gebäude vorzudringen und dort einflussreiche Amtsinhaber als Geiseln zu nehmen, jedoch unterscheiden sich die Ereignisse im Hinblick auf ihren Verlauf, ihre Folgen und ihre historische Bedeutung grundlegend. Während die Besetzung der Botschaft nach 61 Tagen durch einen einvernehmlichen Kompromiss zwischen Regierung und Guerilla beendet wird und die Geiseln unversehrt in Freiheit gelangen, setzt das kolumbianische Militär der Besetzung des Justizpalastes ein gewaltsames Ende: „Die Guerilleros fordern Verhandlungen. Doch dazu kommt es nicht. Stattdessen reagiert das Militär mit einem gigantischen Aufgebot an Panzern, Truppen und Gewehrsalven. 28 Stunden dauern die blutigen Auseinandersetzung im Justizpalast, der am Ende mit samt seinen Archiven in Flammen aufgeht.“1129 Das „Massaker im Justizpalast“, wie das Ereignis später vom Interamerikanischen Menschen­ rechtsgerichtshof in Costa Rica bezeichnet wird,1130 hinterlässt einen Saldo von 101 Toten, unter ihnen elf hohe Beamte des Obersten Gerichts, zahlreiche Angestellte und Zivilisten sowie die 35 Guerilleros.1131 Die 2005 gegründete Wahrheitskommission, welche zahlreiche Ungereimtheiten im Ablauf des Ereignisses klären sowie der Frage nach der Verantwortung auf den Grund gehen soll1132, kommt in ihrem Abschlussbericht zu folgendem Schluss: „Der 1127 | Orig.: „aporte al proceso de paz“. Giraldo 2001, 26. 1128 | Siehe Osorio O. 2000/2001, 144. 1129 | Herrberg 2010. 1130 | Siehe Herrberg 2010. 1131 | Siehe Herrberg 2010. 1132 | Hinweise darauf, dass Überlebende des Massakers vom Militär gefangengenommen, unter Folter verhört und anschließend beseitigt worden sind, konnten durch die Kommission eindeutig belegt werden, ihre Leichen sind bis heute verschollen. Es konnte außerdem bewiesen werden, dass Polizei und Militär eigenmächtig gehandelt haben, von Präsident Betancur jedoch auch nicht aufgehalten wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass die Regierung Kenntnis von den Plänen der M-19 hatte und die Besetzung des Justizpalastes in Kauf nahm, um mehrere Richter auslöschen zu können, die in Prozesse gegen hohe Militärs und Drogen-

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

kolumbianische Staat muss die Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Das steht außer Zweifel. Es gab einen Gewaltexzess durch Militär und Polizei. Der Staat hat im Vorfeld versäumt, für Sicherheit zu sorgen. Mit Waffen wurden der Rechtsstaat und der Respekt für das Leben untergraben.“1133 Anstatt einen Film über dieses von der Guerilla provozierte und vom staatlichen Militär vollzogene Massaker zu drehen und die Erinnerung an unsagbare Gewalt und Zerstörung wachzurütteln – einen Film also, der zwar die Menschenrechts­verletzungen durch den kolumbianischen Staat denunzieren und der Vertuschung derselben entgegenwirken, gleichzeitig jedoch ein pessimistisches Signal an die laufenden Friedensbemühungen senden würde –, entscheidet sich Durán für die Verfilmung des Ereignisses, bei dem es Regierung und Guerilla gelungen ist, gemeinsam an einer akzeptablen Lösung für alle Beteiligten zu arbeiten und einen friedlichen Ausgang herbeizuführen. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ – so könnte die Botschaft lauten, die der Regisseur in Rückblick auf das zur Zeit des Drehs genau 20 Jahre zurückliegende Ereignis an die Verhandelnden in San Vicente del Caguán zu senden beabsichtigt. Bei der Adaption der historischen Ereignisse ins Drehbuch1134 legt Durán großen Wert auf eine möglichst wahrheitsgetreue Rekonstruktion derselben, nach eigenen Angaben entspricht seine Darstellung zu 98 Prozent den überlieferten Fakten.1135 Bei der Inszenierung setzt der Filmemacher einen Schwerpunkt auf die Perspektive der Botschafter und Guerilleros, welche zwei Monate im umstellten Botschaftsgebäude zubringen. Dies spiegelt sich auch im filmischen Raum wider: der Erzählraum bleibt auf die Vorgänge im Inneren der Botschaft bzw. in deren Vorhof, in dem die Verhandlungen stattfinden, beschränkt. Der Informationsstand des Zuschauers bezüglich der Regierungspläne entspricht daher dem der Insassen der Botschaft, die die meiste Zeit von der Außenwelt abgeschnitten sind und nur durch zensierte Medienberichte über etwaige Pläne der Regierung unterrichtet werden. Durán wechselt zwischen der Perspektive der Botschafter und der der Guerilla hin und her, deren Haltungen durch autobiografische Erlebnisberichte überliefert sind1136. In einem Interview betont Durán seine Neutralität bei der Auf bereitung der Ereignisse: „Dies ist webosse involviert waren. Gerüchte, denen zufolge das Medellín-Kartell die Operation der M-19 finanziert habe, konnten weder bestätigt noch widerlegt werden. Siehe Herrberg 2010. 1133 | Zitiert in: Herrberg 2010. 1134 | Aufgrund des niedrigen Budgets musste Durán diese schwierige Aufgabe alleine meistern, obgleich er lieber einen Co-Autor zur Seite gehabt hätte. Siehe Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002. 1135 | Siehe Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002, 32. 1136 | Die Bücher des M-19-Kommandanten Rosemberg Pabón sowie der Guerillera-Kämpferinnen „La Negra Emilia“ und Olga Behar wurden veröffentlicht, ebenso die des venezolani-

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der der Film der M-19 noch der der Regierung noch der der Botschafter. Es ist eine Summe von Dingen, die sich in der Botschaft ereignet haben und über die wir sehr gut unterrichtet sind.“1137 Dem politischen Konflikt – die Forderungen der Guerilla, die Reaktionen der Regierung, der Verlauf der Verhandlungen sowie deren Ergebnis – wird dabei ebenso Rechnung getragen wie den persönlichen und moralischen Konflikten der Geiselnehmer und Geiseln, deren Sensibilität und Solidarität entscheidend zur Lösung des politischen Konflikts beigetragen haben. In Bezug auf die Figuren in La toma de la embajada erklärt Durán, er habe sie sich als eine Konstellation aus „Tauben gegen Falken“1138, als Friedens­tauben gegen Raubvögel gedacht: so betont er die menschliche Seite von Personen wie Rosemberg Pabón, dem Ersten Kommandanten der Guerilla-Einheit, Carmenza Londoño alias „La Chiqui“, Pabóns Geliebte und Sprecherin der M-19 bei den Verhandlungen, oder Ricardo Galán, dem mexikanischen Botschafter, der den Verhandlungen als Unparteiischer beiwohnt und die M-19 im Sinne der Botschafter berät, und stellt diesen radikale Hardliner-Persönlichkeiten wie den M-19 Sicherheits-Chef „El Tupa“ oder den kolumbianischen Außen­ minister Diego Uribe Vargas gegenüber, denen die Demonstration ihrer Macht mehr bedeutet als die auf dem Spiel stehenden Menschenleben. Durán betont, dass es in allen kolumbianischen Konfliktparteien „Raubvögel“ gebe. Der Frieden – und das habe er mit diesem Film zeigen wollen – könne nur durch eine Verdrängung dieser Personen von den Machtpositionen und durch eine Aufwertung menschlicher Werte erreicht werden: „Der Krieg endet, sobald wir uns im Innern verändern, an dem Tag, an dem wir in Betracht ziehen, dass der Mensch über dem Machtspiel steht, an diesem Tag wird der Krieg vorbei sein. Aber wenn Macht die Mittel rechtfertigt, wie es derzeit in Kolumbien geschieht, dann erreicht man die Extreme, die wir derzeit erleben.“1139

schen, des mexikanischen und des guatemaltekischen Botschafters. Siehe Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002, 32. 1137 | Orig.: „Esta no es la película del M-19, ni es la del gobierno, ni es la de los embajadores. Es una suma de cosas que ocurrieron en la embajada, de las cuales estamos muy bien documentados.“ Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002. 32. 1138 | Orig.: „las palomas versus los halcones“. Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002. 1139 | Orig.: „La guerra se acaba cuando cambiemos por dentro, el día que uno considere que el ser humano está por encima del juego del poder, ese día se acaba la guerra. Pero si el poder justifica los medios, como está ocurriendo en Colombia, se llega a los extremos que estamos viendo.“ Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002, 32.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Die „Tauben“, insbesondere La Chiqui, die ihre Mitstreiter davon überzeugen kann, einen Teil ihrer Forderungen zugunsten einer friedlichen Lösung zurückzustellen, sind die Helden dieses „Anti-Kriegsfilms“1140, die „Falken“, wie z.B. El Tupa, der für die bedingungslose Durchsetzung der Forderungen zu morden und zu sterben bereit ist, sind die Schurken. La toma de la embajada leistet jedoch nicht nur, wie hier skizziert, einen Beitrag zum Friedensdialog mit den FARC, sondern erweitert außerdem den Diskurs um das dargestellte Ereignis – die Besetzung der Botschaft – in mehrfacher Hinsicht: Giraldo zufolge werden eine Vielzahl von Fakten und Zusammenhängen zur Sprache gebracht, die auch einem spezialisierten Publikum nicht bekannt sein dürften.1141 Dies könnte in der Erzählperspektive begründet sein, die dem Zuschauer erlaubt, die Besetzung der Botschaft von innen zu verfolgen und die komplexe Vernetzung von zwischenmenschlichen und politischen Vorgängen nachzuvollziehen, die den Verlauf des Ereignisses bestimmt haben. Die durch Schauspieler nachgestellten Szenen im Inneren der Botschaft werden, vor allem in der ersten Hälfte des Films1142, mit historischem Archivmaterial montiert, welches die Vorgänge außerhalb der Botschaft ergänzend dokumentiert. Die Originalaufnahmen, die dem Zuschauer aus der massiven Live-Berichterstattung über das Ereignis bekannt sein sollten1143, dienen Durán zum einen dazu, seine Interpretation der Geschehnisse zu legitimieren und die Inszenierung zu authentisieren, zum anderen setzt er sie ein, um die Medienberichterstattung – und damit die ‚offizielle‘ Version der Geschichte – durch die Montage mit den nachgestellten Szenen zu kommentieren oder als falsch zu entlarven. Im Folgenden soll Duráns Montage­ prinzip und die mit dessen Hilfe getroffenen Aussagen anhand von Beispielen aus der ersten Hälfte des Films, in der die Botschaft besetzt und gegen militärische Befreiungs­schläge der Regierung verteidigt wird, erläutert werden. Anschließend soll bei der Betrachtung der zweiten Filmhälfte1144 auf die zwischenmenschlichen Konflikte und Beziehungen von Geiseln und Geisel­ nehmern eingegangen werden. Dabei sollen die menschlichen Eigenschaften

1140 | Orig.: „Es una película antibélica“. Interview mit Ciro Durán. Kinetoscopio Nr. 56/57, 2000/2002, 32. 1141  | Siehe Giraldo 2001, 28. 1142 | 00:00-55:55. 1143 | Aus dem um die belagerte Botschaft errichteten Presse-Camp, welches den Namen „Villa Chiva“ erhielt, wurde während der gesamten Dauer des Ereignisses von internationalen Presseteams Bericht erstattet. Um den Informationsfluss an die Guerilla zu kontrollieren, unterlagen die Nachrichten der Zensur durch die kolumbianische Regierung. Siehe García C. 2010; Vásquez 2010. 1144 | 55:56-1:40:14.

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und Verhaltens­weisen herausgearbeitet werden, die, Duráns Darstellung zufolge, den Weg zum Frieden geebnet haben. Der Film beginnt mit einem Text-Insert vor schwarzem Hintergrund: „Dieser Film basiert auf realen Gegebenheiten, jedoch ist er die freie Interpretation seines Autors.“1145 Es erfolgt ein harter Schnitt auf eine Detailansicht des Eingangsschildes der dominikanischen Botschaft, gefolgt von einer schnellen Rückwärtsfahrt mit Zoom, die den Blick auf den Eingangsbereich der Botschaft öffnet (HT), wo ein blaues Auto hält. Ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Bodyguard öffnet dem mexikanischen Botschafter die Wagentür, bevor dieser aussteigt und die feierlich geschmückte, belebte Empfangshalle des Gebäudes betritt, wo er vom Gastgeber begrüßt wird.1146 Die Kamera verweilt einen Moment, fahrig umherschwenkend, im Inneren der Botschaft, dann erfolgt ein Schauplatzwechsel nach draußen, wo das Auto des US-­ amerikanischen Botschafters vorfährt. Dieser wird von vier schwer bewaffneten Bodyguards eskortiert, die sich in alle Richtungen nach potenziellen Gefahren umsehen.1147 Die Kamera, die unruhig zwischen den plaudernden Gästen im Inneren der Botschaft und den vorfahrenden Autos hin und her springt, sowie die schnelle Schnittfrequenz der nun einsetzenden Konvergenz­ montage1148 erzeugen eine höchst gespannte Atmosphäre: während der Sektempfang im Inneren der Botschaft seinen Lauf nimmt, treffen draußen die Guerilleros ein und besprechen letzte Details des bevorstehenden Angriffs. Besorgt gibt eine Kämpferin zu bedenken, dass es zu Ausschreitungen in der nahe gelegenen Universidad Nacional gekommen und diese von Polizisten umstellt sei, eingeblendete Nachrichten-Archivbilder von den Studentenprotesten belegen diese Nachricht. Der Ernst der allgemeinen Sicherheitslage wird von einem der nordamerikanischen Bodyguards auf den Punkt gebracht, der vor der Botschaft wartend mit einem neuen Kollegen plaudert: „Watch out man, this is a fucking dangerous country.“1149 Im nächsten Augenblick betritt der erste Kommandant der M-19 gemeinsam mit zwei fein gekleideten Guerilleras, als Gäste getarnt, das Botschaftsgebäude und eröffnet das Feuer.1150 Draußen stürmen die übrigen Guerilleros, die dort als Schüler verkleidet Fußball gespielt hatten, unter dem Beschuss der Bodyguards das Gebäude. Mehrere Leib­wächter und

1145 | Orig.: „Esta película se basa en hechos reales, pero es libre interpretación de su autor.“ 00:50. 1146 | 01:26-01:41. 1147 | 01:48-02:10. 1148 | 02:12-06:01. 1149 | 05:34-05:37. 1150 | 06:12-06:28.

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ein Guerillero (Carlos Arturo Sandoval alias „Camilo“1151) kommen bei dem Gefecht ums Leben, einige Botschafter werden im Kugelhagel verwundet.1152 Nachdem die Guerilleros das Erdgeschoss in ihre Gewalt gebracht haben, arbeiten sie sich in den ersten Stock vor. Die Kamera schwenkt, über die Köpfe der am Boden liegenden Botschafter hinweg, auf ein laufendes Fernsehgerät, in dem nun die ersten Live-Bilder vom Sturm auf die Botschaft gesendet werden. Nach einer kurzen Aufnahme des laufenden Bildschirms (HT), die dazu dient, die nun folgenden historischen Archivbilder innerhalb der Diegese zu verankern, wird direkt auf jene geschnitten:1153 Ein Nachrichten­sprecher fasst die Ereignisse zusammen und leitet verbal zu den Bildern der Kameraleute über, die, ebenso wie zahlreiche Polizisten, die von der Universidad Nacional zur Botschaft auf brechen, als sie dort Schüsse hören. Es folgt eine Montage aus wackligen Handkameraaufnahmen in schwarz-weiß, von denen die meisten aufgrund des abweichenden Formats und der geminderten Bildqualität als historisches Archivmaterial identifiziert werden können. Die erste der Aufnahmen zeigt einen Kameramann, der hinter einer Straßenecke in Deckung geht.1154 Trotz des schwarz-weißen Bildes und der historischen Kamera, die der Journalist trägt, ist es aufgrund der vergleichsweise guten Bildqualität und dem verwendeten Bildformat (dem des Farbfilms) wahrscheinlich, dass es sich hierbei um eine Inszenierung, um ‚gefälschtes‘ Archivmaterial, handelt. Die filmsprachliche Gestaltung dieses Takes – ein verrissener Schwenk, eine verkantete Kamera – erzeugt beim Betrachter den Eindruck einer spontanen Aufnahme eines unvorhersehbaren, turbulenten Geschehens. Es folgen Original­aufnahmen aus der historischen Live-Berichterstattung, die zeigen, wie einzelne Polizisten unter Beschuss die Straße entlang rennen und in Richtung des rechten Bildrands feuern (T), wo der Zuschauer die Botschaft vermutet.1155 Die nächste Einstellung – eine nachgestellte Aufnahme in Farbe – zeigt eine vermummte Guerillera am Fenster der Botschaft (HN, Untersicht), die das Feuer in die Richtung erwidert, wo der vorherigen Einstellung zufolge die Polizisten stehen müssten.1156 Durch die Montage entsteht der Eindruck, als reagiere die Guerillera in Duráns Fiktion, verkörpert durch eine bereits zuvor eingeführte Darstellerin, auf die echten Schüsse in den Archivbildern. Die anschließende Archivaufnahme zeigt, wie ein Soldat in Richtung Bild­ hintergrund zurückweicht (T), scheinbar also vor dem Beschuss der Kämp-

1151  | Siehe Vásquez 2010. 1152 | 06:20-08:20. 1153 | 08:24. 1154 | 08:27-08:40. 1155 | 08:28-08:52. 1156 | 08:53.

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ferin am Fenster flüchtet.1157 Indem Durán in der Montage eine vermeintliche Interaktion zwischen dem Geschehen im Archivmaterial und dem in seiner Inszenierung herstellt, erzeugt er eine Art filmischen Dialog über das Geschehen, in dem sich die Version der Medienberichterstattung und seine eigene Rekonstruktion der Ereignisse ergänzen. Durch die Gleichbehandlung von dokumentarischem und nachgestelltem Material vermittelt der Regisseur, dass beide Versionen gleichermaßen wahr bzw. historisch korrekt sind. Andererseits betont er durch das Aneinanderschneiden von historischem Archiv­material (schwarz-weiß, abweichendes Format) und nachgestelltem Archivmaterial (schwarz-weiß, Format des Farbfilms) die Konstruiertheit und Manipulierbarkeit jeglicher filmischer Darstellung und stellt somit auch den Wahrheitsgehalt der ‚offiziellen‘ Version in Frage. Gleichzeitig trägt der Live-Charakter der Originalbilder zweifelsohne zur Steigerung der Spannung beim Zuschauer bei, welcher sich aufgrund der suggerierten Aktualität der Ereignisse stärker in die Filmhandlung involviert fühlt. Im weiteren Verlauf der Anfangssequenz nutzt Durán die hier skizzierte Montageform, um indirekt Kritik am Vorgehen des kolumbianischen Militärs zu üben. Als der Beschuss durch Polizei- und und Militäreinheiten zunimmt, die neben Panzern und Scharfschützen auch Tränengas einsetzen1158, trifft der Erste Kommandant die Entscheidung, die Botschafter als menschliche Schutzschilde an den Fenstern zu platzieren und so das Ende des Beschusses zu erzwingen.1159 Die nun folgende Teilsequenz1160 zeigt, wie einzelne Botschafter von energisch agierenden Guerilleros unter Androhung der sofortigen Hinrichtung an die Fenster geschoben werden, wo die Diplomaten versuchen, die Militärs durch Zurufe zur Einstellung des Feuers zu bewegen. Doch keines der von ihnen hervorgebrachten Argumente findet Gehör, ihr Flehen wird mit weiteren Schüssen beantwortet. Der Botschafter von Mexiko versucht als erster sein Glück: „Nicht schießen, wir sind Diplomaten!“1161 – Schuss. Es folgt der US-Botschafter, an seinen Status als Repräsentant einer Großmacht appellierend: „Ich bin der Botschafter der Vereinigten Staaten. Hören Sie auf zu schießen!“1162 – Schuss. „Respektieren Sie! Dies hier ist ausländisches Territorium!“1163 – Schuss. Ein Geistlicher wird von La Chiqui ans Fenster gezerrt

1157  | 08:53-08:58. 1158 | Das Vorgehen der Polizei wird ebenfalls aus Archivmaterial, nachgestelltem Archivmaterial und Spielfilmszenen rekonstruiert.

1159 | 09:52-09:57. 1160 | 10:10-13:12. 1161 | Orig.: „¡No disparen!, somos diplomáticos.“ 1162 | Orig.: „Soy el embajador de los Estados Unidos. ¡No disparen!“ 1163 | Orig.: „¡Respeten, esto es territorio extranjero!“

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

und spricht: „Im Namen des Papstes: hört auf zu schießen!“1164 – Schuss. Die einzige weibliche Botschafterin, gespielt von Vicky Hernández, appelliert an ihren geschlechtsspezifischen Sonderstatus: „Ich bin die Botschafterin von Costa Rica. Respektieren Sie die Frauen!“1165 – Schuss. Durán inszeniert mit diesem Dialog aus Worten und Schüssen, wie das kolumbianische Militär menschliche Rechte und Werte, im wahrsten Sinn des Wortes, ‚über den Haufen schießt‘. Er bekräftigt so die an mehreren Stellen des Films hervorgebrachte Rechtfertigung der Guerilleros für ihr militärisches Engagement: „In diesem Land hat sich bewiesen, dass ohne Gewaltanwendung kein Dialog zu Stande kommt.“1166 Mit den Mitteln der Montage legitimiert der Regisseur indirekt die Aktivitäten der M-19, welche sich als „[...] patriotische und nationalistische Organisation, die für eine echte Demokratie in Kolumbien kämpft“1167, begreift. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Durán die inszenierten Aufnahmen der Botschafter an den Fenstern mit teils echten, teils gefaketen Archivbildern montiert, die die schießenden Soldaten und ihre Panzer zeigen, könnte die Sequenz im übertragenen Sinne auch als Metapher für die monopolistische Wahrheitsgenerierung im öffentlichen Diskurs um den inner­ kolumbianischen Konflikt gedeutet werden: Die Version der staatlich zensierten Medienberichterstattung, repräsentiert durch die Archivbilder, wird aggressiv behauptet und lässt keine anderen Versionen, hier repräsentiert durch Duráns Inszenierung, neben sich existieren. Der Film transportiert so eine versteckte Kritik an der einseitigen, staatlich kontrollierten Berichterstattung in den kolumbianischen Massenmedien. Angesichts der lebensbedrohlichen Lage der Verwundeten1168 überwindet sich der mexikanische Botschafter noch einmal ans weiterhin beschossene Fenster zu treten. Als er den Militärs wütend androht, sie international für das bevorstehende Massaker in der Botschaft verantwortlich zu machen, stellen diese endlich das Feuer ein.1169 Abermals scheint Duráns Inszenierung die 1164  | Orig.: „En el nombre del Papa: ¡no disparen!“ 1165 | Orig.: „Soy la embajadora de Costa Rica. ¡Que respeten a la mujer!“ 1166 | Orig.: „En este país es demostrado que si no es a la fuerza, no se puede dialogar.“ So argumentiert La Chiqui in der ersten Verhandlungsrunde mit der Regierung (47:32-47:35). An anderer Stelle erklärt der Erste Kommandant gegenüber dem Menschenrechts­b eauftragten Vásquez: „In diesem Land gibt es für die Bevölkerung keine andere Möglichkeit sich Gehör zu verschaffen, als Gewaltakte wie diesen hervorzubringen.“ (Orig.: „Es que en este país, para el pueblo no hay otra manera de hacerse escuchar si no produciendo actos de fuerza como este.“ 26:10-26:16). 1167 | Orig.: „[...] organización patriótica y nacionalista que lucha por una auténtica democracia en Colombia“. 16:57-17:02. 1168 | Die verwundeten Botschafter werden hier in Nahaufnahmen eingeblendet. 11:51-12:01. 1169 | 12:04-12:40.

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These der Guerilla zu belegen, dass ohne Gewalt – oder zumindest deren Androhung – nicht mit der kolumbianischen Obrigkeit dialogisiert werden kann. Erleichtert stellen sich nun alle Botschafter, mit weißen Taschentüchern winkend, an den Fenstern auf.1170 Das uneigennützige Handeln des mexikanischen Botschafters – eine spontane emotionale Reaktion – führt in dieser Sequenz nicht nur zur Entspannung der Situation, sondern schafft auch die Voraussetzung für die Aufnahme der Verhandlungen. Sein Mitgefühl mit den verletzten Kollegen ist ein Beispiel für jene Menschlichkeit, welche Durán in den Figuren, die zum friedlichen Ausgang der Botschaftsbesetzung beigetragen haben, hervorheben wollte. Die M-19 gewährt nun einem Arzt und einem unabhängigen Vermittler, dem Präsidenten der kolumbianischen Menschenrechtskommission Vásquez Carrizosa, Einlass in die Botschaft, wo sie letzterem ihre Forderungen diktiert: den Abzug der draußen postierten Truppen, die Freilassung von 311 politischen Gefangenen und die Zahlung von 50 Millionen Dollar im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln sowie eine Pressemitteilung, in der sich der kolumbianische Staat öffentlich zu Menschenrechtsverletzungen und anderen Staatsverbrechen bekennt.1171 Zum Zeichen seines guten Willens, mit der Regierung zu verhandeln, kommt der Erste Kommandant dem Gesuch des Menschenrechtsvertreters nach, die Verletzten sowie die 15 weiblichen Geiseln (darunter 14 einfache Angestellte) freizulassen.1172 Nach einer kalten, schlaflosen Nacht – Durán inszeniert die Unruhe der wachenden Botschafter, die dezenten Provokationen des Militärs und die Wachablösungen der Guerilleros in ungemütlich anmutendem grün-blauen Licht, akustisch untermalt durch ein düster-melancholisches musikalisches Leitmotiv1173 – sorgt am nächsten Morgen ein Beitrag des Senders Radio Bogotá für Freude und Erleichterung bei den Guerilleros: der Berichterstattung zufolge „[...] ist die Besetzung der Botschaft kein isolierter Umstand, hervorgebracht durch die Bösartigkeit irgendwelcher Terroristen, sondern eine logische Folge innerhalb der Dialektik der Gewalt, die die Oligarchie in Kolumbien installiert hat.“1174 Die Regierung, so folgern 1170  | 12:41-13:03. 1171 | 23:49-27:34. 1172  | Es sei erwähnt, dass hierauf ein heftiger Konflikt zwischen dem Kommandanten und La Chiqui entbrennt, welche Pabóns Entschluss zur Freilassung der Frauen als Akt der Ungleich­ behandlung der Geschlechter bewertet. Pabón gesteht den Fehler ein und ernennt La Chiqui zur Verhandlungssprecherin. 44:45-45:50. 1173  | Es handelt sich hierbei um die erste von drei Sequenzen, in denen nicht diegetische Musik eingesetzt und emotionalisierend verwendet wird. 1174 | Orig.: „[...] la toma de la embajada no es un hecho aislado producto de la maldad de unos terroristas, sino un episodio lógico dentro de la dialéctica de la violencia que la oligarchía ha instaurado en Colombia.“ 35:43-35:53.

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die Guerilleros, räumt ihre Schuld ein und ist zu Verhandlungen bereit. Wie die beteiligte M-19-Kämpferin „Comandante María“ später gegenüber der Zeitschrift El Espectador berichtet, war nicht nur das beidseitige Entgegenkommen (die Guerilla lässt die weiblichen Geiseln frei, die Regierung bekennt sich mitverantwortlich für die Gewalt), sondern auch insbesondere die Neubewertung der Guerilla ausschlaggebend für den positiven Verlauf der Verhandlungen: „Es muss beachtet werden, dass sich dieser Prozess in der Regierung von Turbay vollzog, gegenüber einer starken, heftigen Streitmacht, mit so vielen Verschwundenen, mit so vielen politischen Gefangenen. Das ursprüngliche Ziel der M war es, die politischen Gefangenen zu befreien. Aber es entwickelte sich fort bis hin zu einem entscheidenden Punkt: der Anerkennung der M von Seiten der Regierung als einer kriegsführenden Streitmacht. […] Sie [die Verhandlung] war schön, weil weder versucht wurde, die Regierung dumm dastehen zu lassen, noch die Guerilleros als Terroristen abzustempeln. Es gab gegenseitigen Respekt.“1175

Auch in Duráns Darstellung ist Respekt der Dreh- und Angelpunkt, der über den Verlauf der Verhandlungen – und damit auch über das körperliche und seelische Wohl der Gefangenen – entscheidet: Respektlosigkeiten und Vertrauens­brüche jeglicher Art wirken sich verheerend auf die Stimmung in der Botschaft und auf die Situation der Geiseln aus, deren Gemüts­verfassung zwischen Optimismus und blanker Todesangst schwankt. Beispiele für diese Dynamik gibt es viele: Beim ersten Verhandlungstreffen1176 gibt sich der Regierungssprecher herablassend und arrogant,1177 die überforderte Chiqui reagiert mit wütenden Beschimpfungen. In Folge der unverblümt kommunizierten gegenseitigen Verachtung bleibt das erste Gespräch unfruchtbar. Die Regierung weigert sich unter Berufung auf unterschiedliche Paragrafen, auf die Forderungen der Guerilla einzugehen, die Freilassung der politischen Gefangenen beispielsweise sei rechtlich ausgeschlossen, da die Exekutive nicht über Belange der Justiz entscheiden könne. La Chiqui lässt ihrer Wut über 1175  | Orig.: „Hay que tener en cuenta que fue un proceso que se dio en el gobierno de Turbay, frente a una fuerza militar fuerte, contundente, con tanto desaparecido, con tanto preso político. El objetivo inicial del Eme fue sacar los presos políticos. Pero se fue desarrollando hasta alcanzar un punto crucial: el reconocimiento por parte del gobierno de que el Eme era una fuerza beligerante. […] Fue bonita [la negociación] porque no se intentó hacer quedar al gobierno como un zapato ni que los guerrilleros pasaran por terroristas. Fue de respeto mutuo.“ Comandante María, zitiert in: Pérez 2015. 1176 | 47:01-50:24. 1177 | Der Sprecher macht sich über La Chiquis Maskierung lustig und nennt sie überheblich „jovencita“ (dt.: „kleines Fräulein“). Dadurch gibt er ihr zu verstehen, dass er sie als Verhandlungspartnerin nicht ernst nimmt.

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die Souveränität ihrer Gegenüber freien Lauf und verliert sich in ideologisch gefärbten Phrasen über Unrecht und Ausbeutung. Bei der anschließenden Krisensitzung der Guerilla mit den beratenden Botschaftern1178 kritisiert der mexikanische Botschafter zunächst die Ungeduld von La Chiqui während der Verhandlung und erläutert dann einen möglichen Ausweg aus dem gemeinsamen Dilemma: wenn die Regierung den Belagerungszustand ausrufen würde, wäre sie von den verfassungsrechtlichen Problemen befreit und könnte auf die Forderungen der M-19 eingehen. Obwohl der US-Botschafter einwirft, die Regierung würde in diesem Falle einen Militärputsch riskieren, beschließt die Guerilla der Regierung diesen Vorschlag zu unterbreiten. Doch in der nächsten Verhandlungsrunde1179, in der La Chiqui sachlicher und förmlicher auftritt, geschieht etwas Unvorhergesehenes: gerade als der Regierungssprecher den Vorschlag der Guerilla anerkennend nickend und sichtlich beeindruckt notiert, beginnen Militärhubschrauber und Kampfflugzeuge über der Botschaft zu kreisen. Der Lärm lässt die Verhandelnden aufschrecken, draußen befiehlt der Erste Kommandant seinem Sicherheitschef, mit dem US-­Botschafter als Geisel aufs Dach zu steigen. Gerade als sich das Verhandlungsklima durch sachlich-konstruktive Beiträge und einen respektvolleren Umgangston zu verbessern beginnt, bewirkt der Vertragsbruch der Regierung eine neue Eskalation. Abermals werden Geiseln als menschliche Schutzschilde eingesetzt, abermals droht die Guerilla mit einem Massaker. Der mexikanische Botschafter folgt La Chiqui aus dem Verhandlungswagen1180 und brüllt den Militärs seine Wut entgegen: „Dies ist eine unerhörte Provokation! Sie agieren in unverantwortlicher Weise, Herren Soldaten!“1181 Der venezolanische Botschafter, ein persönlicher Freund des Innenministers, fordert diesen drinnen am Telefon energisch auf, den Militäreinsatz zu beenden, da dieser das Leben der Geiseln gefährde. Draußen tritt La Chiqui unterdessen dem Heer von Journalisten entgegen, welche von bewaffneten Militärs zurückgehalten werden. Während die Hubschrauber noch über der Botschaft kreisen, fordert die M-19-Sprecherin die Presse auf zu bezeugen, dass der Regierung nicht an einer friedlichen Lösung des Problems gelegen ist, dass Präsident Turbay die Verantwortung für ein mögliches Massaker trage und dass die M-19 bis zuletzt für die Befreiung der inhaftierten politischen Gefangenen kämpfen werde: „Unsere Mission ist siegen oder sterben.“1182 Im Hintergrund folgt ihr der 1178  | Dem Komitee gehören neben den Guerilla-Kommandanten der mexikanische, der venezolanische und der US-amerikanische Botschafter an. 51:09-53:29. 1179  | 53:30-55:48. 1180 | Die Verhandlungen finden in einem weißen Pick-Up draußen vor der Botschaft statt. 1181 | Orig.: „¡Esto es una provocación inaudita! ¡Ustedes están actuando de forma irresponsable, señores militares!“ 54:26-54:33. 1182 | Orig.: „Nuestra misión es vencer, o morir.“ 55:46-55:47.

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mexikanische Botschafter zielstrebig vor die blitzenden Kameras, als wolle er sie mit seiner Anwesenheit bestärken und gleichzeitig vor einem möglichen Attentat beschützen. Seine entschlossene Mine, seine aufrechte Haltung sowie seine Positionierung innerhalb der Filmbildes (HT, leicht versetzt hinter der Guerillera) machen deutlich, dass er in diesem Augenblick – im wahrsten Sinn des Wortes – hinter der Guerilla und deren Reaktion auf die Provokationen der Regierung steht. Wie wichtig die Szene, in der der unabhängige Beobachter Partei für seine Entführer ergreift, für den Gesamtfilm ist, wird auch anhand der Tatsache deutlich, dass Durán eine Nahaufnahme von La Chiqui bei ihrer spontanen Pressemitteilung als Motiv für das Filmplakat und die DVD verwendet. Im Hintergrund des DVD-Menüs läuft in bewegten Bildern sogar die ganze Einstellung ab, in der La Chiqui und der mexikanische Botschafter auf die Journalisten zugehen. Durch die Betonung dieses Moments, in dem sich die Guerilla verbal gegen die aggressive Machtdemonstration des Militärs zur Wehr setzt und dafür Solidarität von internationaler Seite erfährt, trifft Durán ein eindeutiges Statement zu Gunsten der Guerilla, deren Aktivitäten durch die Szene legitimiert werden. Am darauf folgenden Tag gibt die Regierung per Pressemeldung bekannt, dass der Dialog beendet sei. Wie zur Bekräftigung sind auch die Telefon­ leitungen abgestellt, was die Botschafter aufs Äußerste erzürnt. Von der Regierung im Stich gelassen, schmieden einige der Botschafter autonome Flucht­pläne: das Küchenteam spielt mit dem Gedanken, die wachhabende Guerillera bei der Zubereitung des Frühstücks zu erstechen und durchs Fenster zu fliehen,1183 der uruguayische Botschafter entkommt im Alleingang, indem er sich aus dem Toilettenfenster an einer Stoffleine abseilt.1184 Die Intrigen der Geiseln gegen die Guerilla haben, ebenso wie die Vertragsbrüche der Regierung, eine Verschlechterung der Lebensbedingungen in der Gefangenschaft zufolge: El Tupa ordnet eine Zunahme der Überwachung an, die in menschen­ unwürdigen Durchsuchungen und Strafen mündet.1185 Die Stimmung in der

1183 | Die Botschafter erarbeiten ihren Fluchtplan im Rahmen eines improvisierten Perkussions-Konzerts, bei dem sie mit Küchengeräten einen Samba-Rhythmus spielen und dazu in englischer Sprache über die Flucht singen. Die Wachhabende, die der englischen Sprache nicht mächtig ist, schöpft zunächst keinen Verdacht und wippt im Takt, dann aber unterbindet sie energisch das Konzert. Die Mordpläne der Botschafter werden schon zuvor durch die Kameraarbeit angedeutet, z.B. durch Detailaufnahmen des Messers beim Zwiebel­ schneiden. 59:19-1:00:57. 1184 | 1:05:59-1:06:56. 1185 | Die Toilette darf nur noch mit offener Türe benutzt werden, ungehorsame Geiseln werden stundenlang gefesselt aufs Dach gelegt, bei einer Zimmerdurchsuchung sollen sich die Botschafter sogar entkleiden. 1:06:57-1:16:45.

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Botschaft ist zunehmend von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt, und gegenseitige Verachtung breitet sich aus. Der Wendepunkt der aussichtslos erscheinenden Situation tritt am 24. März ein, fast einen Monat nach Beginn der Geiselnahme: das Telefon klingelt und die Regierung teilt mit, eine direkte Linie zum Außenministerium eingerichtet zu haben.1186 Der venezolanische Botschafter wird ans Telefon gerufen und erhält einen gesungenen Geburtstagsgruß von mehreren Gratulanten, unter ihnen seine Frau. Der Erste Kommandant, dem die Freudentränen des Diplomaten nicht verborgen bleiben, schlägt ein Geburtstagsfest in der Botschaft vor, zu dem auch die Ehefrauen eingeladen werden sollen.1187 Der Vorschlag löst euphorische Reaktionen bei den Botschaftsinsassen aus, gefolgt von Wut und Unverständnis, als der Außenminister mitteilt, er könne die Feier aus Sicherheitsgründen nicht genehmigen. Der wütende Venezolaner wirft dem Minister daraufhin mangelnde Nächstenliebe vor: „Ihr könnt uns nicht wie einfache Bauern beim Schach in diesem Machtspiel einsetzen. Für uns Christen ist das Wichtigste das Leben, nicht die Staatsräson.“1188 Darauf legt der Minister auf. Der Erste Kommandant und El Tupa nutzen den Moment, um die fehlende Solidarität der Regierung anzuprangern und für Sympathien bei den Gefangenen zu werben. In Wut und Enttäuschung spricht der venezolanische Botschafter daraufhin die Worte aus, die die Guerilla, Duráns Rekonstruktion der Zusammenhänge zufolge, zum Einlenken bringen und eine Lösung des Geiseldramas ermöglichen: „Ihr habt keinerlei moralische Befugnis, um hier von Solidarität zu sprechen, und noch viel weniger von Nächstenliebe. Weil ihr hinter der Macht her seid, ohne euch einen Dreck für die Menschenleben zu interessieren, die wir hier diesen Todeskampf führen, am Ende erweist ihr euch als gleich wie der Minister: ihr habt die Macht über das Leben gestellt.“1189

In ihrer Betroffenheit genehmigt die M-19 das Anliegen der übrigen Botschafter, trotz des Verbots den Geburtstag zu feiern. Bei Sekt, Torte und verhältnismäßig guter Stimmung willigt die Guerilla schließlich ein, die Verhandlungen 1186 | 1:16:46-1:17:15. 1187 | 1:17:16-1:18:40. 1188 | Orig.: „Ustedes no nos pueden estar tratando como simples peones de ajedrez en este juego de poder. Para nosotros, los cristianos, lo más importante es la vida, no la razón de Estado.“ 1:19:50-1:20:00. 1189 | Orig.: „Ustedes no tienen ninguna autoridad moral para estar hablando aquí de solidaridad, y mucho menos del amor al prójimo. Por estar detrás del poder, sin importarles un carajo la vida humana, los que estamos viviendo esta agonía, al final ustedes resultaron igual que el canciller: pusieron el poder por encima de la vida misma.“ 1:20:28-1:20:49.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

wieder aufzunehmen. Ähnlich wie in Golpe de Estadio ist eine gemeinsam zelebrierte Feier, bei der auch größere Mengen Alkohol fließen, ausschlaggebend für eine persönliche Annäherung der gegnerischen Parteien. Durch die innere Wandlung der Guerilleros, die sich zunehmend außer Stande fühlen, ihren Geiseln, zu denen sie persönliche Beziehungen aufgebaut haben, autoritär oder gar gewalttätig entgegenzutreten,1190 wächst das gegenseitige Vertrauen. Der bedingungslose Zusammenhalt der Botschafter steigert außerdem das Mitgefühl der Kämpfer mit ihren Geiseln: als der venezolanische Botschafter wegen einer Herzattacke in ein Krankenhaus verlegt werden soll, sich jedoch aus Solidarität mit seinen Kollegen fürs Bleiben entscheidet, tauschen der Erste Kommandant und La Chiqui Blicke der tiefen Bewunderung aus.1191 So kommt es, dass sich die M-19 und die Botschafter miteinander solidarisieren und bei der Vorbereitung der neuen Verhandlungs­ runden kooperieren. Bei den Gesprächen zeigen sich Regierung und Guerilla bereit, von ihren ursprünglichen Positionen teilweise abzurücken und so Einigungen zu erzielen. Präsident Turbay geht auf den Vorschlag der M-19 ein und ruft den Belagerungs­ zustand aus. Dies ermöglicht die Ausreise aller Botschaftsinsassen nach Kuba, wo die Geiseln in Freiheit gesetzt werden und die Geisel­ nehmer Amnestien erhalten. Auf die Befreiung der 311 politischen Gefangenen verzichtet die Guerilla vorläufig, Lösegeldzahlungen sollen jedoch geflossen sein.1192 Die Botschafter und die M-19-Kämpfer, welche einen bedeutenden Teil ihrer politischen Ziele dem Wohl ihrer Geiseln unterordnen, gehen, wie am Ende des Films mit Archivbildern von der Ankunft am Flughafen von La Havanna und Original-Interviews mit Guerilleros und Diplomaten veranschaulicht wird, als Freunde auseinander.1193 Text-Inserts geben Auskunft über den weiteren Werdegang der im Bild gezeigten Personen. Auf diese Weise erfährt der Zuschauer, dass der Erste Kommandant nach Kolumbien zurück-

1190  | Diese Wandlung wird besonders deutlich, als El Tupa den israelischen Botschafter wegen Ungehorsams fesseln lassen will, La Chiqui sich jedoch weigert, den Befehl auszuführen. Eine Krisensitzung der M-19 wird einberufen, bei der mehrere Kämpfer zugeben, im Ernstfall nicht mehr zur Erschießung der Gefangenen fähig zu sein. El Tupa möchte unter Berufung auf die soziale Ungerechtigkeit, für die sie kämpfen, am harten Kurs festhalten, seine Haltung erfährt jedoch wenig Zuspruch. 1:26:45-1:30:14. 1191 | 1:25:08-1:26:44. 1192  | Über die genaue Summe besteht keine Klarheit (Quelle: Textinsert La toma de la embajada, 1:33:10), ebenso wenig wie über die Herkunft des Geldes. Carlos Carcía (La Semana) zufolge zahlte die israelische Regierung das Geld an die Regierung Turbay, welche es an die M-19 weiterleitete. Siehe García C. 2010. 1193  | 1:33:23-1:34:28.

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kehrt, um dort eine spektakuläre Politikerlauf bahn einzuschlagen,1194 La Chiqui hingegen widmet sich weiter dem bewaffneten Kampf und stirbt ein Jahr später bei einem Gefecht.1195 Die letzte von Durán nachgestellte Szene geht den abschließenden Archiv­ aufnahmen voraus und zeigt, wie Geiseln und Geiselnehmer – lachend und händeschüttelnd – die Botschaft verlassen.1196 Auf der Tonebene werden die freudigen Bilder von einer asynchron eingespielten a cappella Version der kolumbianischen Nationalhymne untermalt, welche von mehreren Stimmen gesungen wird. Auf den ersten Blick scheint es, als würde die Hymne von den Guerilleros und Botschaftern beim Verlassen der Botschaft gemeinsam gesungen. Die Inszenierung dieses Abgangs als Happy End unterstreicht die eingangs formulierte These, dass Durán mit La toma de la embajada ein optimistisches Signal an die laufenden Friedensverhandlungen mit den FARC senden wollte, ebenso wie an die kolumbianische Bevölkerung, die zum Zeitpunkt des Filmstarts bereits seit über 50 Jahren auf den Frieden wartet. Wie die M-19-Kämpferin Emilia später konstatiert, stellte „[d]ie gemeinsame Bemühung von Gefangenen und Kidnappern, eine friedlichen Lösung zu finden, [...] einen grundlegenden Faktor für die schlussendliche Lösung“1197 dar. Die Ex-Guerillera „Comandante María“ lobt auch die Regierung Turbay, die am Ende Wort hält, obwohl sie die M-19 beim Eintreffen in Kuba leicht hätte massakrieren können.1198 Präsident Turbay erklärt sich mit dem Ergebnis der Verhandlungen ebenfalls zufrieden: es sei „[...] eine Lösung zwischen Kolumbianern“1199 erzielt worden, bei der es „weder Sieger noch Besiegte gab“1200: „Wir haben alle gewonnen.“1201 In Hinblick auf die fünf Jahre später erfolgte Besetzung des Justizpalastes – einer „[...] Aktion, bei der alle verloren haben“1202 – weist Emilia darauf hin, dass das Massaker vermieden worden wäre, wenn 1194  | Nach der Eingliederung der M-19 wird Pabón zum Bürgermeister in seiner Heimat­ stadt Yumbo gewählt (1:34:57). 2003 wird er Senator. 2006 bricht er mit der Linken und wechselt zur Ultrarechten. Von Álvaro Uribe wird er zur Präsidentschaft des Departamento Administrativo Nacional de la Economía Solidaria, DanSocial, berufen, welche er bis heute innehat. Siehe García C. 2010. 1195  | 1:35:12. 1196  | 1:32:50-1:33:16. 1197 | Orig.: „el esfuerzo conjunto de retenidos y captones por encontrar una solucion política [...] un factor fundamental para el acuerdo final“. Vásquez 2010. 1198  | Siehe Pérez 2015. 1199  | Orig.: „un acuerdo entre colombianos“. Vásquez 2010. 1200 | Orig.: „[...] no hubo vencedores ni vencidos.“ Präsident Turbay, indirekt zitiert in: Vásquez 2010. 1201 | Orig.: „Ganamos todos.“ Präsident Turbay, zitiert in: Vásquez 2010. 1202 | Orig.: „[...] acción en la que perdimos todos.“ Vásquez 2010.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

die Regierung auf das im Zuge der Botschaftsbefreiung vorgeschlagene Angebot von M-19-Oberkommandant Jaime Bateman Cayón eingegangen wäre: ein Treffen der Sprecher aller kolumbianischen Guerillas und der Regierung, an dem der Frieden endgültig ausgehandelt werden sollte.1203 Durán stellt in seinem Film zwar keinen direkten Zusammenhang zwischen der Ablehnung dieses Vorschlags durch die Regierung und der infolgedessen durchgeführten Besetzung des Justizpalastes her, jedoch scheint er indirekt auf einen solchen anzuspielen: mithilfe von Archivmaterial rekonstruiert der Regisseur eine Fernsehnachrichtenmeldung, in der Bateman für das Auftakttreffen zu umfassenden Friedensverhandlungen wirbt.1204 Durán hebt auf diese Weise die Bereitschaft der Guerilla an Gesprächen hervor, welche in der Realität jedoch nicht erwidert wird. Auch auf die Ausarbeitung der neuen Verfassung von 1991, die im Anschluss an die Botschaftsbesetzung entscheidend vorangetrieben wird, spielt Durán mithilfe von Archivmaterial an. Im Abspann des Films erscheint ein Interview mit Rosemberg Pabón, aufgenommen bei der Ankunft der Botschafter in Kuba, bei dem er den Verhandlungserfolg mit der schriftlichen Zusage internationaler Institutionen und der Regierung begründet, „gesetzliche Prozesse zu realisieren“1205. Durán betont an dieser Stelle die tragende Rolle der M-19 bei der gemeinschaftlichen Ausarbeitung der Verfassung, die das Land – zumindest auf dem Papier – in einen sozialen Rechtsstaat verwandelt.1206 Duráns Film verdeutlicht, dass Konflikte von Menschen gemacht sind und nur von Menschen gelöst werden können. Durch die Betonung menschlicher Aspekte und die Einnahme einer humanistischen Perspektive greift der Regisseur einen zentralen Punkt der Gewaltdiskurse der 1990er Jahre auf, der durch die Anwendung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ als Messlatte zur Bewertung der kolumbianischen Situation eine Neubetrachtung erfährt.1207 In filmhistorischer Hinsicht setzt Durán durch die Betonung des Menschlichen bei der Darstellung des innerkolumbianischen Konflikts Akzente, die den Tonus der Filme der darauf folgenden Epoche ab 2003, die im nächsten Kapitel behandelt werden soll, maßgeblich bestimmen.

1203 | Siehe García C. 2010. 1204  | 1:30:24-1:31:19. 1205 | Orig.: „que se realicen procesos en forma legal“. 1:34:51-1:34:54. 1206 | Siehe Kapitel III.3.1. 1207 | Siehe Zuleta 2006, 64; vgl. Kapitel II.1.1.3.

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III.4 D er innerkolumbianische K onflik t im (tr ans -) nationalen K ino der G egenwart (2003-2015) Die jüngste Phase der kolumbianischen Filmgeschichte, die 2003 mit der Einführung des Gesetzes 814 zur staatlichen Filmförderung einsetzt, zeichnet sich im Vergleich zu früheren Phasen durch eine wachsende, rentable und diverse Filmproduktion aus. In den ersten 10 Jahren der neuen Ära wurden 135 kolumbianische Produktionen und Koproduktionen fertiggestellt und zur Aufführung gebracht1208, mit steigender Tendenz. Die Beschäftigung der Regisseure mit der anhaltenden politischen Gewalt und deren Auswirkungen ebbt auch im Zuge der Transnationalisierung des Kinos1209 sowie des Konfliktes selbst1210 nicht ab: in kolumbianischen Produktionen und Koproduktionen stellt der Konflikt nach wie vor den häufigsten Handlungsgegenstand dar. Im Gegensatz zur Ära FOCINE, in der Filme über die Violencia zwar produziert, jedoch an der Aufführung gehindert worden sind, sind im Rahmen des neuen Filmgesetzes auch Filme, die den Krieg und das Leid der betroffenen Zivilbevölkerung auf schonungslose und kritische Weise zeigen, in allen Phasen der Produktion und des Vertriebs mit Geldern aus dem staatlichen Filmförderungs-Fond, dem FDC1211, unterstützt worden, unabhängig davon, ob die Filme eher auf ein nationales oder internationales Publikum ausgerichtet waren. Ähnlich wie in der Periode der staatlich unabhängigen Koproduktionen der 1990er Jahre nehmen die Filmemacher der neuen Ära auf aktuelle Ereignisse und Diskurse unmittelbarer Bezug, als dies während FOCINE der Fall war. Die innenpolitischen Umbrüche des einsetzenden neuen Jahr­ tausends, markiert durch die polarisierenden nationalpatriotischen Kriegsbzw. Friedens-­Diskurse der Regierungen Uribe (2002-2010) und Santos (seit 2010), sowie die fortschreitende Liberalisierung und Transnationalisierung der kolumbianischen Wirtschaft, aber auch der kolumbianischen Sicherheits­ politik, haben Einfluss auf die Inhalte und Darstellungsweisen der Filme gehabt. Die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Epoche sollen daher im nachfolgenden Kapitel erläutert werden. Anschließend sollen die Auswirkungen des Filmgesetzes auf den kolumbianischen Filmsektor in einem gesonderten Kapitel dargestellt werden, bevor 1208 | Berücksichtigt wurden Spiel- und Dokumentar-Kinofilme in abendfüllender Länge, unabhängig davon, ob sie staatliche Förderung erhalten haben oder nicht. Quelle: http:// w w w.mincultura.gov.co/areas/cinematograf ia/est adisticas-del-sector/Document s/ Pel%C3%Adculas%20Colombianas%201993%20-%202014%20-%20WebMin.pdf 1209 | Vgl. Kapitel I.2.1. 1210  | Hierauf wird in Kapitel III.4.1 noch näher eingegangen. 1211  | „Fondo para el Desarrollo Cinematográfico“. Dt.: „Fond für die Weiter­e ntwicklung des Kinos“.

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zu den exemplarischen Filmanalysen übergeleitet wird. Bei der Auswahl der Analysefilme wurde zwischen nationalen Produktionen, die keine Unter­ stützung durch den FDC erhalten haben, und transnationalen Produktionen mit Förderung durch das Filmgesetz unterschieden. Neben den produktions­ bedingten Unterschieden weisen die Filme auch große Differenzen in Bezug auf ihre inhaltliche Fokussierung, ihr ästhetisches Konzept sowie den Grad der emotionalen Einbindung des Zuschauers auf, was ihre Zuteilung zu den in Kapitel III.4.3 und III.4.4 beschriebenen Strömungen rechtfertigt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht alle Filme der neuen Ära diesem Schema zugeordnet werden können und dass auch andere Einteilungen möglich gewesen wären.

III.4.1 „Colombia es pasión“? – Von Nationalpopulismus und (trans-)nationaler Sicherheitspolitik Als Folge der erneut eskalierenden Gewalt nach dem Scheitern des Friedens­ dialogs der Regierung Pastrana mit den FARC konnte Álvaro Uribe Vélez mit seinem Kurs der „harten Hand“1212 gegen die Guerilla bei der Präsidentschafts­ wahl 2002 einen triumphalen Sieg einfahren. Als Legitimation für die massiven Militäreinsätze gegen die FARC auf kolumbianischem, aber auch ecuadorianischem und venezolanischem Territorium1213 beruft sich die Regierung Uribe einerseits auf den Abschlussbericht der Vorgängerregierung, in welchem Pastrana die FARC als böswillig und hinterlistig beurteilt,1214 und andererseits auf die Deklarierung der kolumbianischen Guerillas FARC und ELN als terroristische Organisationen durch die USA und die EU.1215 Im Gegensatz zur Regierung Betancur, die in den 1980er Jahren auf „[...] einen engen 1212 | Orig.: „mano dura“. 1213  | Während Uribes Amtszeit kam es wiederholt zu Unruhen an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze, wenn kolumbianisches Militär auf der Suche nach FARC-­E inheiten auf venezolanisches Gebiet vorgedrungen war. Den Höhepunkt der Übergriffe stellt im März 2008 die „Operation Fenix“ dar, bei der das kolumbianische Militär eine FARC-Einheit auf ecuadorianischem Boden aus der Luft bombardiert und dabei neben FARC-Kommandant Raúl Reyes und mehreren Guerilleros auch ecuadorianische und mexikanische Zivilisten tötet. Die Militäroffensive, die unter der Führung des damaligen Verteidigungsministers und heutigen Präsidenten Juan Manuel Santos durchgeführt wurde, führt zu einer tiefen diplomatischen Krise Kolumbiens mit den beiden Nachbar­s taaten. Die Beteiligung des US-Geheimdienstes CIA an der Operation Fenix gilt als wahrscheinlich. Vgl. Haule 2013. 1214  | Dem Bericht zufolge haben die FARC „trotz der Großzügigkeit der kolumbianischen Bevölkerung und des guten Willens der Regierung den Frieden zu erreichen ihre wahren Absichten gezeigt“. Präsident Pastrana, zitiert in: von Dungen 2011, 356. 1215  | Siehe von Dungen 2011, 356.

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Zusammen­hang zwischen Gewalt und Armut“1216 hingewiesen hatte, leugnet Uribe, so Arias Trujillo, „[...] jegliche Verbindung zwischen dem Guerilla-Kampf und der sozialen Ungerechtigkeit. Für Uribe ist die Gewalt einzig die Folge von ‚terroristischen‘ Aktionen, ausgeführt von kriminellen Gruppen, die die kolumbianische Demokratie vernichten wollen.“1217 Als Antwort auf die vermeintliche Bedrohung betitelt Uribe seine Politik der militärischen Aufrüstung und Aggression beschönigend als „Demokratische Sicherheit“1218, ein rhetorischer Schachzug, der die Guerilla als Störenfried in einem ansonsten funktionierenden Rechtsstaat erscheinen lässt. All jene ungelösten Probleme, die zur Aufnahme und Aufrechterhaltung des Guerilla-Kampfes beigetragen haben, werden darin ebenso verleugnet wie die Tatsache, dass oppositionelle politische Kräfte systematisch von der Teilnahme an der Demokratie ausgeschlossen worden sind.1219 Durch die rechts-konservative Position der Regierung Uribe isoliert sich Kolumbien vom Rest Lateinamerikas, wo sich mehrheitlich sozialistische bzw. linksgerichtete Regierungen bilden haben1220. Rückhalt erfährt Uribe hingegen von der internationalen Gemeinschaft der westlichen Industrie­ nationen, welche im Zuge der Terrorismusdebatte nach 9/11 die Bekämpfung sogenannter „transnationaler Terrornetzwerke“, denen auch die FARC zugerechnet werden, als ihre Verpflichtung begreift.1221 Unter der US-Administration von George W. Bush werden die im Rahmen des „Plan Colombia“ zur Bekämpfung des Drogen­handels bereitgestellten US-Mittel (damals jährlich 780 Millionen Dollar) neu verteilt, fortan werden 80 Prozent der Summe für Militärausgaben zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung verwendet.1222 Gleichzeitig wird die Zahl der in Kolumbien stationierten US-Truppen „bis knapp unter die zulässige Obergrenze von 800 Soldaten aufgestockt“1223. 2004 wird zusätzlich zum „Plan Colombia“ der von Uribe und Bush gemeinsam ausgearbeitete „Plan Patriota“ ins Leben gerufen, der die Eroberung traditioneller Einflussgebiete der FARC im Süden und Osten Kolumbiens mithilfe

1216  | Orig.: „[...] una estrecha relación entre violencia y pobreza“. Arias Trujillo 2007, 357. 1217 | Orig.: „[...] cualquier vínculo entre la lucha guerrillera y la injusticia social. Para Uribe, la violencia es únicamente el resultado de las acciones ‚terroristas‘llevadas a cabo por grupos criminales que buscan acabar con la democracia colombiana.“ Arias Trujillo 2007, 357. 1218  | Orig.: „Seguridad Democrática“. 1219  | Vgl. Kapitel III.1.1, III.2.1 und III.3.1. 1220 | Z.B. die Regierungen von Hugo Chávez in Venezuela, von Evo Morales in Bolivien, von Rafael Correa in Ecuador oder von Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien. 1221  | Siehe von Dungen 2011, 359. 1222 | Siehe Amnesty International 2006, 263. 1223 | von Dungen 2011, 351.

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breit angelegter Militär­operationen zum Ziel hat.1224 Der Großoffensive fallen führende FARC-­Kommandanten wie Luis Edgar Devia Silva alias „Raúl Reyes“ (2008) oder Víctor Julio Suárez Rojas alias „Mono Jojoy“ (2010) zum Opfer. 2008 stirbt der legendäre FARC-Anführer Manuel Marulanda alias „Tirofijo“, der die Verhandlungen mit Pastrana geleitet hatte, eines natürlichen Todes, was die Guerilla, die sich in immer entlegenere Gebiete zurückziehen muss,1225 zusätzlich schwächt. Die militärische Kooperation der US-Regierungen mit der Regierung Uribe gipfelt im sogenannten „Defense Cooperation Agreement“ vom Oktober 2009, das von der Regierung Obama unterzeichnet wird: für die Dauer von vorläufig zehn Jahren erlaubt es den USA die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärbasen – eine massive Militärpräsenz auf latein­amerikanischem Boden, die insbesondere Hugo Chávez als akute Bedrohung interpretierte.1226 Die finanzielle Unterstützung der kolumbianischen Aufstands­bekämpfung durch die USA läuft auch unter der Regierung Santos weiter: im Jahre 2012 sind 281 von insgesamt 482 Millionen US-Dollar für Militär­ausgaben verwendet worden.1227 Am Ende seiner ersten Amtszeit, welche Uribe mithilfe einer Verfassungs­ änderung um weitere vier Jahre verlängern kann,1228 verabschiedet der kolumbianische Kongress das von der Regierung vorgelegte Gesetz 975 von 2005, genannt „Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden“1229. Dieses sollte eine rechtliche Grundlage zur Demobilisierung bewaffneter oppositioneller Gruppen schaffen, indem es ihnen im Gegenzug für ein umfassendes Geständnis eine deutliche Reduzierung der Haftstrafen – maximal acht Jahre Haft auch für schwerste Menschenrechtsverletzungen – gewährte.1230 Dass dieses Gesetz, in Widerspruch zu seinem Namen, de facto wenig zur Gerechtigkeit beiträgt, zeigt sich bereits an der Tatsache, dass es überwiegend zur Demobilisierung der AUC und anderer paramilitärischer Gruppen angewendet worden ist:1231 während die Guerilla mit Unterstützung der US-Regierung militärisch zerschlagen wird, wird den Paramilitärs ein legaler Fluchtweg aus der Bekämpfung des internationalen Terrorismus geebnet, welchem sie seit dem 10. September 2001, dem Vortag der Anschläge auf das World Trade Center, offiziell 1224 | Siehe von Dungen 2011, 351. 1225 | Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laender­- infos/ Kolumbien/Innenpolitik_node.html

1226 | Siehe von Dungen 2011, 351. 1227 | Quelle: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2013/kolumbien 1228 | Wie sich im Juni 2008 herausstellte, hatte er für diese Verfassungsänderung zahlreiche stimmberechtigte Senatoren bestochen. Siehe Martínez 2008. 1229 | Orig.: „Ley de Justicia y Paz“. 1230 | Siehe Knecht 2009. 1231 | Siehe Knecht 2009.

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zugerechnet werden.1232 Laut Amnesty International schafft das Gesetz eine umfassende Amnestie für Menschenrechts­verletzer in Kolumbien.1233 Auch Arias Trujillo kritisiert das Gesetz, da durch die fehlende Ahndung schwerwiegender Gewalttaten und anderer Verbrechen elementare Werte wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung auf der Strecke blieben.1234 In der Wieder­ eingliederung der paramilitärischen Schwerverbrecher sieht der Autor zudem die Gefahr langfristiger gesellschaftlicher Schäden: „[...] wenn sie erst in die Zivilgesellschaft zurückkehren, die ehemaligen Kämpfer, die weder bestraft noch von der Justiz zur Rückgabe der Güter gezwungen wurden, die sie durch Terror erlangt haben, dann können sie einen immensen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben.“1235 Das Wohlwollen, das die Regierung Uribe den para­ militärischen Vereinigungen entgegenbringt, sowie die nachgewiesene militärische, politische und wirtschaftliche Kooperation in mehreren Fällen hat Uribe den Vorwurf der „Parapolitik“ – der politischen Zusammenarbeit mit den Paramilitärs – eingebracht.1236 Wie Amnesty International beklagt, hat die Demobilisierung der AUC, die im Rahmen des „Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden“ 2006 offiziell abgeschlossen wird, zur Folge, dass Opfer para­ militärischer Gewalt nicht mehr im Rahmen von staatlichen Programmen entschädigt werden können, da Paramilitärs von der kolumbianischen Regierung nicht mehr als Akteure des Konflikts angesehen werden.1237 Dass die para­ militärischen Gruppen in Wahrheit ebenso fortbestehen wie die von ihnen ver-

1232 | Die AUC werden von den USA an diesem Datum zur Liste der „Foreign Terrorist Organizations“ hinzugefügt (siehe von Dungen 2011, 349). Dieser Zufall erscheint im Hinblick auf Verschwörungstheorien, die den USA die Mitwisserschaft über die Anschläge von 9/11 unterstellen, wahrhaft kurios. 1233 | Siehe Amnesty International 2006, 259. 1234 | Siehe Arias Trujillo 2007, 357f. 1235 | Orig.: „[…] una vez regresan a la sociedad civil, los ex-combatientes, que no han sido castigados ni obligados por la justicia a devolver los bienes que adquirieron por medio del terror, están en capacidad de ejercer una enorme influencia en la sociedad.“ Arias Trujillo 2007, 358. 1236 | Dem Senator Iván Sepeda, kolumbianischer Menschenrechtsanwalt und Sprecher der „Nationalen Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen“ MOVICE, gelingt am 04.08.2014 die Durchsetzung einer Debatte im kolumbianischen Parlament, in der Uribe sich den Vorwürfen der Parapolitik stellen muss. (Quelle: http://www.elespectador.com/noticias/politica/ presidente-del-senado-confirma-debate-contra-uribe-para-articulo-508517). Im Internet gibt es außerdem zahlreiche Nachrichtenplattformen und Blogs, in denen Politiker und Menschen­r echtsaktivisten Beweise für die Parapolitik der Regierung Uribe zusammentragen (z.B. unter http://www.cronicon.net/paginas/juicioauribe/Sec-Parapolitica.htm). 1237 | Quelle: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2013/kolumbien

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übten Gewalttaten, belegen die Berichte von Augenzeugen, Menschenrechts­ organisationen und internationalen Beobachtern: „Trotz ihrer angeblichen Demobilisierung waren die paramilitärischen Gruppierungen, die von der Regierung als ‚kriminelle Banden‘ (Bandas criminales - Bacrim) bezeichnet werden, für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Dazu gehörten Morde, Verschwindenlassen und ‚soziale Säuberungen‘ in Stadtvierteln mit armer Bevölkerung. Einige dieser Verbrechen wurden in Absprache oder mit stillschweigender Billigung der Sicherheitskräfte durchgeführt.“1238

In Hinblick auf das von Kritikern befürchtete Problem der Straflosigkeit ist die Bilanz des Gesetzes niederschmetternd, denn „Angaben der Generalstaats­ anwaltschaft zufolge waren bis 1. Dezember 2012 im Rahmen des Prozesses für Gerechtigkeit und Frieden nur vier Paramilitärs wegen Menschenrechtsverstößen verurteilt worden.“1239 Trotz alledem erfreut sich die Regierung Uribe, die im Wahljahr 2006 mit absoluter Mehrheit wiedergewählt wird, großer Beliebtheit bei Teilen der kolumbianischen Bevölkerung, insbesondere bei der gehobenen Mittel- und Oberschicht, welche z.B. von den neuen Möglichkeiten des nationalen Tourismus profitiert: die von Uribe ins Leben gerufenen „touristischen Karawanen“1240, in denen Ausflügler und Urlauber, vom Militär eskortiert, auch gefährliche Landstriche im Privatauto passieren können, erhöhen nicht nur das Sicherheitsniveau auf entlegenen Straßenabschnitten, sondern sind Ausdruck einer „Rückeroberung der nationalen Geografie“1241, welche Suárez – in Anlehnung an die Verdrängung der Guerilla aus ihren Hoheitsgebieten – als Leitmotiv in Uribes Innenpolitik bezeichnet.1242 Wie die Autorin offenlegt, appellieren Uribe und seine Partei „Partido de La U“, die auf ihrer Homepage mit dem Slogan „Vereint, so wie es sein soll!“1243 um Stimmen wirbt, an den National­stolz der Kolumbianer, um das aggressive Vorgehen gegen die Guerilla, die angeblich die nationale Einheit gefährdet, zu legitimieren.1244 Die Regierung generiert in diesem Zusammenhang eine Reihe staatlicher Kampagnen, die ein neues, positives Image des vermeintlich befriedeten Landes generieren und verbreiten sollen. Beispiele hierfür sind die bereits erwähnte Reise-­K ampagne mit

1238 | Quelle: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2013/kolumbien 1239 | Quelle: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2013/kolumbien 1240 | Orig.: „caravanas turisticas“. 1241  | Orig.: „reapropiación de la geografía nacional“. Suárez 2010, 157. 1242 | Siehe Suárez 2010, 157. 1243 | Orig.: „¡Unidos, como debe ser!“ Quelle: www.partidodelau.com/ 1244 | Siehe Suárez 2010, 156ff.

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dem Werbespruch „Erlebe Kolumbien, bereise es!“1245 oder die staatlich organisierte Herstellung und Vermarktung von Schmuck, Textilien und anderen Accessoires in den Farben der kolumbianischen Flagge und dem Aufdruck: „Erlebe Kolumbien, fühle seine Flagge!“1246 Mit dem Markenlabel „Colombia es pasión“1247, welches durch seine Bildsymbolik auf das „Sagrado Corazón de Jesús“1248 anspielt, und seinem Begleitslogan „Das Risiko ist, dass du bleiben möchtest“1249 möchte die Regierung Uribe eine „Landes-Marke“1250 schaffen, deren Sinn und Zweck sie folgendermaßen beschreibt: „[...] eine eigene Marke zu haben bedeutet, eine Identität zu haben, einen Namen, einen Ruf. In der heutigen Konjunktur der Globalisierung ist es sehr wichtig, dass sich die Länder von anderen abheben, um auf dem internationalen Markt zu konkurrieren. Letztendlich sind Länder Produkte, welche Personen, Firmen und sogar andere Länder an drei Fronten konsumieren: Export, Tourismus und Investition.“1251

Die gezielte Steigerung der Attraktivität des Landes für ausländische Investoren geht mit der Bewerbung Kolumbiens um eine Teilnahme am Freihandelsabkommen mit den USA (TLC) einher, welches seit Mai 2012 in Kraft ist.1252 Seit August 2013 besteht auch ein Freihandelsabkommen mit der EU1253, welches „bei europäischen Unternehmen zu jährlichen Einsparungen von mehr als 500 Millionen Euro führen wird“1254. Diese Erweiterung der trans­ nationalen Wirtschaftsbeziehungen hat der kolumbianischen Bevölkerung und insbesondere den ethnischen Minderheiten bislang jedoch nicht den versprochenen Wohlstand, sondern im Gegenteil noch mehr Gewalt eingebracht. 1245 | Orig.: „¡Vive Clombia, viaja por ella!“ Siehe Suárez 2010, 157. 1246 | Orig.: „¡Vive Colombia, siente su bandera!“ Siehe Suárez 2010, 157. 1247 | Dt.: „Kolumbien ist Leidenschaft“. 1248 | Dt.: „Heiligstes Herz Jesu“. 1249 | Orig.: „El riesgo es que te quieras quedar“. 1250 | Orig.: „marca país“. 1251  | Orig.: [...] tener una marca propia es poseer una identidad, un nombre y una reputación. En la coyuntura actual de globalización, es muy importante que los países se diferencien de otros para así competir en el mercado internacional. Finalmente los países son productos que las personas, las empresas y hasta otros países consumen a través de tres frentes: Exportación, Turismo e Inversión. Quelle: www.colombiaespasion.com, zitiert in: Suárez 2010, 159. 1252 | Zu den fatalen Auswirkungen des Freihandelsabkommen TLC für Kolumbiens Wirtschaft und Staatssouveränität vgl. Weber 2011. 1253 | Neben Kolumbien wurde auch Peru, das wie Kolumbien rechts-konservativ regiert wird, in das Freihandelsabkommen aufgenommen. 1254 | Quelle: http://ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/11595_de.htm

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Das ständige Völkertribunal, das 2005 eine Sammelklage wegen Genozid an den indigenen Völkern gegen 43 multinationale Großunternehmen annimmt, darunter vor allem US-amerikanische und europäische Nahrungsmittel-, Bergbau- und Erdölkonzerne, stellt bei den Anhörungen 2008 fest, dass „[…] die Regierung Kolumbiens eine Politik durchsetzt, welche im Dienste der Interessen der grossen [sic] multinationalen Unternehmen steht. Das Resultat ist die Verletzung der Rechte der indigenen Völker und die Durchsetzung von Grossprojekten [sic] zur Ausbeutung von Bodenschätzen und Rohstoffen, von agroindustriellen Komplexen, von Tourismus- und Infrastrukturprojekten, welche in schwerster Weise die indigenen Völker in Mitleidenschaft ziehen.“1255

Ferner ermittelt die Kommission, dass sich die Zahl der Morde an indigenen Führungspersonen seit dem Amtsantritt von Uribe auf 146 pro Jahr verdoppelt hat.1256 In Bezug auf die angeblich demobilisierten paramilitärischen Verbände hält sie fest, dass „die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen des Paramilitarismus intakt geblieben sind“1257. Die umfassenden Menschen- und Bürgerrechte, die in der Verfassung von 1991 verankert und von der Regierung unterzeichnet und ratifiziert worden sind,1258 werden von multinationalen Großunternehmen, dem Bericht des Völkertribunals zufolge, systematisch missachtet1259. Besonders schwerwiegend erscheint hierbei, „dass die Mehrzahl dieser Verletzungen die Konsequenz von Politiken [sic] und Entscheidungen der Regierung Kolumbiens selber sind, deren Haltung völlig unvereinbar ist mit der Verpflichtung zum Schutz der eigenen Bevölkerung“1260. Anders als seine propagandistischen Werbekampagnen verlauten lassen, hat Uribes Politik zweifellos eine Verschärfung des Kriegszustands in den Einzugs­gebieten der Guerilla sowie eine Eskalation der paramilitärischen Gewalt im Umfeld der multinationalen Konzerne herbeigeführt. Der nachfolgende Präsident Juan Manuel Santos setzt Uribes Politik in vielerlei Hinsicht fort – auch er setzt auf die bedingungslose Öffnung der kolumbianischen Wirtschaft und auf nationalpatriotische Diskurse – jedoch distanziert er sich in einigen zentralen Punkten deutlich von seinem Vorgänger. Gleich nach seiner Wahl entschärft Santos die von Uribe herbeigeführte diplomatische Krise mit den 1255 | Rütsche 2008. 1256 | Siehe Rütsche 2008. 1257 | Rütsche 2008. 1258 | Vgl. Kapitel III.3.1. 1259 | Suárez zufolge hat die neue Verfassung zwar zu einer besseren Sichtbarkeit der Belange indigener und afrokolumbianischer Völker geführt, dies habe sie jedoch erst recht zur Zielscheibe für Übergriffe durch die Konflikt-Akteure gemacht. Siehe Suárez 2010, 152f. 1260 | Rütsche 2008.

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Nachbarstaaten Venezuela und Ecuador, 2011 verabschiedet er das sogenannte „Landrückgabe- und Opferentschädigungsgesetz“1261, welches erstmals die Opfer des Konfliktes definiert und eine rechtliche Grundlage für eine Entschädigung durch den Staat schafft.1262 Demnach haben Menschen, die nach 1985 Opfer von Gewalt im Kontext des bewaffneten Konflikts (einschließlich staatlicher und ausländischer Streitkräfte) geworden sind, Anrecht auf finanzielle Entschädigung. Menschen, die nach 1991 gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden, haben Anrecht auf die Rückerstattung oder den Ersatz dieses Landes.1263 Ausgenommen sind Opfer der sogenannten „organisierten Kriminalität“1264, der auch die Drogenmafia und die neuerdings so betitelten „Bacrim“1265 („kriminelle Banden“) zugeordnet werden. Da die Paramilitärs seit der Demobilisierung der AUC nicht mehr den Konfliktakteuren, sondern den „Bacrim“ zugerechnet werden, kann das Gesetz auf Opfer paramilitärischer Gewalttaten nach 2006 nicht angewandt werden. Hierfür, sowie für seine begrenzte Laufzeit auf nur 10 Jahre, ist das Gesetz scharf kritisiert worden. Insbesondere wird bemängelt, dass es keinerlei Maßnahmen zur Linderung der psychischen Verletzungen der Opfer bereitstelle, die ihre schwerwiegenden Traumata ohne psychologische Unterstützung bewältigen müssen.1266 Trotz seiner offensichtlichen Mängel darf jedoch die symbolische Bedeutung des Gesetzes für die Opfer, welche erstmals als solche anerkannt und – in begrenztem Maße – entschädigt werden, nicht unterschätzt werden.1267 Das entscheidende Thema, das dem ehemaligen Verteidigungsminister Santos trotz schwerwiegender öffentlicher Skandale1268 2010 die Präsidentschaft und 2014 die Wiederwahl einbringt, ist sein Vorstoß zu neuen, umfassenden Friedensverhandlungen mit den FARC. Uribes Rhetorik der nationalen Einheit 1261 | Orig.: „Ley de Víctimas y Restitución de Tierras“ (ley 1448). 1262 | Vgl. Ministerio del Interior y de Justicia/Républica de Colombia 2011. 1263 | Quelle: http://www.semana.com/especiales/proyectovictimas/ley-de-victimas/diezpreguntas-sobre-la-ley-de-victimas.html 1264 | Orig.: „crimen organizado“. 1265 | Kurzform für „bandas criminales“. 1266 | Vgl. Calle 2014. 1267 | Wie in Kapitel III.4.3 verdeutlicht werden soll, hat sich das neue Bewusstsein über die Opfer, in dessen Geiste das Entschädigungsgesetz entstanden ist, in der Erzähl­ perspektive der Filme niedergeschlagen. 1268 | Während seiner Amtszeit als Verteidigungsminister ist Santos wiederholt wegen Beteiligung an gravierenden Menschenrechtsverletzungen, z.B. im Skandal um die sogenannten „falsos positivos“, in Verruf geraten. Quelle: http://www.tagblatt.de/Home/ nachrichten/ueberregional/politik _ar tikel,-Armee-brachte-tausende-junge-Maennerfuer-die-Statistik-um-Ex-Verteidigungsminister-hat-dennoch-gute-_arid,103657.html

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übernehmend, der Politik der „harten Hand“ jedoch widersprechend, ruft Santos zur „Einheit für den Frieden“1269 auf und untermalt seine Kampagne mit einem neuen, symbolisch aufgeladenen Markenzeichen: drei sich überlappende Silhouetten von Friedenstauben, in den drei Farben der kolumbianischen Flagge.1270 Auf der Agenda der Friedensverhandlungen, die 2012 in Oslo beginnen und in Havanna mithilfe kubanischer und norwegischer Vermittler weitergeführt werden, stehen die Punkte „ländliche Entwicklung“, „politische Teilhabe“, „Drogenproblematik“, „Opferentschädigung“ und „Beendigung des bewaffneten Konflikts“.1271 Wie die vorangegangenen Friedensdialoge ist auch dieser von Komplikationen durchzogen: Im Mai 2015 töten Militär und Polizei bei gezielten Einsätzen aus der Luft über 40 Guerilla-Kämpfer, darunter einen Delegierten der Friedensgespräche, was einen Gegenangriff der Guerilla und die vorübergehende Geiselnahme eines Soldaten zur Folge hat.1272 Den Turbulenzen und der Debatte um eine zunehmende „Uribisierung“1273 der Friedens­gespräche zum Trotz werden die Verhandlungen jedoch fortgesetzt und führen schließlich zu einer Übereinkunft zwischen den Dialogpartnern: die bereits im Januar 2015 in Aussicht gestellte Möglichkeit eines „beidseitigen und endgültigen Waffenstillstands“1274 kommt am 23.06.2016 zur Unterzeichnung und wird am 26.09.2016 durch die Ratifizierung eines Friedensvertrags zwischen Präsident Juan Manuel Santos und FARC-Chef Rodrigo Londoño alias „Timochenko“ bestätigt.1275 Die Befürworter des historischen Abkommens, welches dem seit über 50 Jahren tobenden bewaffneten Konflikt ein Ende bereiten sollte, erfahren jedoch eine herbe Enttäuschung, als die kolumbianische Bevölkerung sich am 02.10.2016 per Volksentscheid mehrheitlich gegen den Friedensschluss ausspricht.1276 Die Tatsache, dass 1269 | Orig.: „Unidad por la paz“. 1270 | Quelle: http://www.santospresidente.com/propuestas-0/plan-de-gobierno/ 1271  | Sowohl auf der Homepage der Regierung Santos als auch der der FARC ist der Hergang des Friedensprozesses umfangreich dokumentiert. Quellen: http://www.santospresidente. com/cosas-de-paz/; http://www.pazfarc-ep.org/ 1272 | Siehe Dießelmann 2015. 1273 | Dießelmann 2015. 1274 | Orig.: „cese al fuego bilateral y definitivo.“ Quelle: http://www.reconciliacioncolombia. com/historias/detalle/636 1275 | Quelle: http://www.tagesschau.de/ausland/kolumbien-friedensvertrag-105.html 1276 | Das Ergebnis fiel mit 50,21% zu 49,78% sehr knapp aus und kann aufgrund der geringen Wahlbeteiligung von nur 37,43% nicht als repräsentatives Meinungsbild bewertet werden (Quelle: http://www.morgenpost.de/politik/ausland/­a rticle208339097/­F riedensvertrag-­ in-­K olumbien-gescheitert.html). Insbesondere in den kaum vom Konflikt betroffenen Groß­ städten stimmte die Bevölkerung mehrheitlich gegen das Abkommen, während die Bewohner

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Ex-­Präsident Uribe, der das Lager der „Nein“-Sager anführt und für seinen harten Konfrontationskurs gegen die Guerilla bekannt ist, aufgrund dieses Votums in die weiterführenden Verhandlungen mit einbezogen werden muss, erschwert die Einigung zusätzlich, ebenso wie die fortdauernden Aktivitäten der übrigen bewaffneten Gruppen – der Paramilitärs, der kriminellen Banden und der ELN. Auch nach der erfolgreichen Verabschiedung des überarbeiteten Friedens­abkommens durch das kolumbianische Parlament am 01.12.2016 schmälern die polarisierende Debatte um die gesellschaftliche Wieder­ eingliederung der ehemaligen Kämpfer und deren angemessene Bestrafung1277 derzeit den Glauben an ein nachhaltiges Ende der politischen Gewalt.1278 Bleibt zu hoffen, dass Präsident Santos sein 2014 proklamiertes Regierungsvorhaben umsetzt, „[...] für soziale Gerechtigkeit zu arbeiten“1279, was für einen nachhaltigen Frieden unabdingbar scheint. Des weiteren bleibt zu hoffen, dass die von den FARC angestrebte Umwandlung in eine politische Partei und deren Integration in die politische Debatte dieses Mal gelingen möge. Diese Sorge teilt auch Südamerika-Korrespondent Jürgen Vogt: „Mitte der 1980er Jahre versuchte die Farc schon einmal, sich zu legalisieren. Doch eine mörderische Komplizenschaft aus Paramilitärs und staatlichen Akteuren machte der von ihr gegründeten Unión Patriótica einen blutigen Garaus: Mehr als 5.000 Partei­ mitglieder und Sympathisanten wurden getötet. Diese Gefahr lauert in Kolumbien auch heute noch.“1280

der am meisten betroffenen Gebiete mit großer Mehrheit für „Ja“ stimmten (Quelle: http:// www.semana.com/nacion/articulo/plebiscito-por-la-paz-victimas-del-conflicto-votaronpor-el-si/496571). 1277 | Vorgesehen sind die Einrichtung eines eigenen Justizwesens zur Aufarbeitung der Verbrechen des Konflikts sowie weitreichende Amnestien für politische Straftaten. Ex-President Uribe hetzt aus diesem Grunde gegen das Friedensabkommen, welches er als Freibrief für den Terror bewertet. Quelle: http://www.tagesschau.de/ausland/kolumbien-­friedensvertrag-­105.html 1278 | Stand: 13.02.2018. 1279 | Orig.: „es el momento de trabajar por la justicia social“. Quelle: http://www.semana.com/ nacion/elecciones-2014/articulo/juan-manuel-santos-llamo-la-unidad-por-la-paz/392061-3 1280 | Vogt 2016.

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III.4.2 Auswirkungen der Filmgesetze 814 von 2003 und 1556 von 2012 auf den kolumbianischen Filmsektor Die Einführung der staatlich organisierten Filmförderung durch das Gesetz 814 von 2003 hat, wie bereits in anderen Zusammenhängen erläutert,1281 zu einem rapiden Anstieg der jährlichen Filmproduktion und der Publikums­ zahlen innerhalb Kolumbiens sowie zu einer erhöhten Sichtbarkeit und Wertschätzung kolumbianischer Produktionen und Koproduktionen auf internationaler Ebene geführt. Über die Nachhaltigkeit dieses Aufschwungs und die Zukunft des kolumbianischen Films kann bislang nur spekuliert werden, ein erstes Resümee über die unmittelbaren Auswirkungen des Gesetzes auf den Filmsektor und die Filme lässt sich jedoch bereits ziehen. Zunächst kann festgehalten werden, dass mithilfe des staatlichen Fonds (FDC) nicht nur deutlich mehr Filme produziert und kommerzialisiert werden als je zuvor; die aktiv vorangetriebene Weiterbildung und Vernetzung der Filmemacher1282 hat auch zu einer merklichen Professionalisierung des künstlerischen und technischen Personals sowie zu einer Annäherung an internationale Standards und Trends beigetragen. Insbesondere Vertreter des transnationalen Kinos1283 sind in jüngster Zeit beim Filmfestival von Cannes ausgezeichnet worden.1284 Die Erfolge des kolumbianischen Kinos werden in Medienberichten meist als Folge der verbesserten Produktionsbedingungen durch das Filmgesetz interpretiert. Dieser Meinung ist auch Ximena Ospina, die 2007 in einer Zwischen­bilanz zum Filmgesetz insbesondere die verbesserte technische Qualität der Werke als Ergebnis der beständigen Produktion anpreist.1285 Die positiven Meldungen zum Stand der einheimischen Produktion werden kurz vor dem hundertjährigen Jahrestag der Ankunft des Films in Kolumbien publik, welcher mit einer Reihe öffentlicher Vorträge, Ausstellungen und Kongresse1286 1281 | Vgl. Kapitel I.1, I.2.1 und I.2.3. 1282 | Im Rahmen des Filmgesetzes wird die Teilnahme an internationalen Festivals, Filmmärkten, Workshops und Programmen zur Nachwuchsförderung in einer gesonderten Wettbewerbskategorie gefördert. 1283 | Vgl. Kapitel I.2.1. 1284 | Vgl. Kapitel I.1. 1285 | Siehe Ospina X. 2007, 4ff. 1286 | In Erinnerung an die erste Vorführung eines kolumbianischen Kurzfilms am 19. Mai 1907 öffnet im Oktober 2007 die Ausstellung „¡Acción! Cine en Colombia“ im Museo Nacional de Bogotá ihre Pforten. Die hundertjährige Geschichte des kolumbianischen Kinos ist im gleichnamigen Katalog (vgl. Zuluaga 2007) dokumentiert. Auch die jährlich stattfindende Geschichtstagung des Museo Nacional („Cátedra anual de historia“) wird 2007 zum Thema

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zelebriert wird. Die Regierung Uribe, unter deren Schirmherrschaft das Film­ gesetz entsteht, nutzt die neue Popularität des kolumbianischen Kinos und gliedert es in ihre nationalpatriotischen Werbekampagnen ein. Filme, die die Vorstellung eines schönen, sicheren Kolumbiens untermalen, die Uribe mit dem Label „Colombia es pasión“ propagiert,1287 werden durch die Landesmarke gesponsert. Das Logo von „Colombia es pasión“, das im Vor- und Abspann dieser Filme zu sehen ist, wirbt so gleichzeitig für ein neues, positiveres kolumbianisches Kino und für ein neues Landesimage, welches nicht zuletzt durch die Filme geformt werden soll. In einer Informationsbroschüre, die das Kultur­ ministerium zur Erklärung des Filmgesetzes und seiner Möglichkeiten herausgibt, wird dieses auch als Schlüssel zur Ausschöpfung wirtschaftlicher Potenziale angepriesen, die sich im kulturellen Reichtum des Landes verbergen: „Dieses Gesetz kann zum wichtigsten in der Geschichte des Films in Kolumbien werden,[…]. Dank ihm kann der Film – verstanden als Ausdruck unserer kulturellen Identität – heute auf Unterstützung zählen, die ihm die große Möglichkeit eröffnet, eine bedeutende Dynamik zu erlangen und sich finanziell zu positionieren. Nun ist es nötig, dass besagte Möglichkeit gut ausgenutzt wird und dass sich die unendlich reiche ‚Kolumbianität‘ in zahlreichen Filmen potenzieren und multiplizieren kann.“1288

Sinngemäß, wenngleich etwas weniger pathetisch, beschreibt David Melo den Ansatz des Filmgesetzes, welches er als Direktor des Filmdepartments maßgeblich mitgestaltet hat: „Unser Vorschlag setzt sich für die Vielfalt, die Durchführbarkeit und, ganz besonders, die Qualität der Filme ein, in allen ihren Genres oder Erzählformaten.“1289 Gemessen an dieser Zielsetzung können schon wenige Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes eindeutige Erfolge verbucht werden: Zwischen Januar 2004 und Juli 2008 sind knapp des kolumbianischen Kinos ausgerichtet. Das MAMBO („Museo de Arte Moderno de Bogotá“) bietet zeitgleich ein öffentliches Seminar zum neuen kolumbianischen Film mit dem Namen „Cine Colombiano al fondo“ an. 1287  | Siehe Kapitel III.4.1. 1288 | Orig.: „Esta Ley puede llegar a ser la más importante en la historia de la cinematografía en Colombia, […]. Gracias a ella, hoy el cine -entendido como expresión de nuestra identidad cultural- cuenta con un sustento que le brinda una gran oportunidad para adquirir mayor dinamismo y posicionarse económicamente. Es ahora necesario que dicha oportunidad sea bien aprovechada y que la infinitamente rica ‚colombianidad‘ se pueda potenciar y multiplicar en numersas películas.“ Ministerio de Cultura de Colombia/­P roimágenes en Movimiento 2004 (1), 5f. 1289 | Orig.: „Nuestra apuesta es por la diversidad, por la viabilidad y, muy especialmente, por la calidad de las películas, en cualquiera de los géneros o tratamientos narrativos.“ Interview mit David Melo und Claudia Triana. Kinetoscopio Nr. 79, 2007, 67.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

40 kolumbianische Langspielfilme mithilfe der staatlichen Förderung fertig­ gestellt und vorgeführt worden. Beinahe die Hälfte dieser Werke (18 von 39) sind Regie-­Debüts, was dafür spricht, dass die Förderung junge, unerfahrene Filmemacher zu einer Umsetzung ihrer Ideen motiviert oder diese erstmals ermöglicht. Auch in Bezug auf Inhalt, Ästhetik und Genre der Filme lässt sich eine steigende Vielfalt konstatieren. Suárez, die die junge kolumbianische Filmgeneration sogar mit der erfolgreichen argentinischen vergleicht,1290 teilt diese Meinung: „Bluff (2007), eine schwarze Komödie von Felipe Martínez; Al final del espectro (2006), ein Horrorfilm von Juan Felipe Orozco, und Yo soy otro (2008), ein Essayfilm von Óscar Campo, sind Beispiele für das Interesse der kolumbianischen Cineasten, weniger erkundete Genres wiederzubeleben und/oder sich auf filmische Ansätze einzulassen, die bis jetzt in der Tradition des Landes sehr ungewöhnlich waren.“1291

Wachsende Diversität lässt sich auch in Bezug auf die in den Filmen vertretenen Ethnien –zumindest vor der Kamera1292 – sowie die der Drehorte feststellen: die Helden von La Playa D.C., El vuelco del cangrejo oder Chocó sind Afrokolumbianer, die von El abrazo de la serpiente Indigene. Nie zuvor gezeigte Regionen, wie die am südlichsten Zipfel der kolumbianischen Anden gelegene Lagune La Cocha (in La Sirga) oder die abgelegene Pazifik-Gemeinde La Barra (in El vuelo del cangrejo) werden in staatlich geförderten Filmprojekten für die Leinwand erschlossen. Auch die Rolle der Frau hat durch Filme wie Karen llora en un bus1293 (Gabriel Rojas Vera, 2011, Kolumbien) oder Chocó, in denen Beispiele weiblicher Emanzipation inszeniert werden, eine gewisse Aufwertung erfahren. In den meisten kolumbianischen Filmen, insbesondere in solchen über die Gewalt, einem vornehmlich männlich konnotierten Thema, wird Frauen jedoch überwiegend die Rolle des Opfers und/oder des sexuellen Lust­ objekts (z.B. in Rosario Tijeras oder La Sirga) zugeschrieben. Die Zahl der kolumbianischen Regisseurinnen ist gegenüber der ihrer männlichen Kollegen gering, wenngleich sie zwischen 2004 und 2008 auf zehn Prozent angestiegen ist – mit steigender Tendenz. Im Juni 2015 sind erstmals zwei von Frauen 1290 | Siehe Suárez 2009 (1), 210. 1291 | Orig.: „Bluff (2007), una comedia negra de Felipe Martínez; Al final del espectro (2006), una película de horror de Juan Felipe Orozco, y Yo soy otro (2008), como película-­ensayo de Óscar Campo, son ejemplos del interés de los cineastas colombianos en reactivar géneros menos explorados y/o aventurarse por enfoques fílmicos no muy comunes hasta ahora en la tradición del país.“ Suárez 2009 (1), 210. 1292 | Afrokolumbianische Regisseure sind weiterhin eine große Seltenheit. Eine der wenigen Ausnahmen ist Jhonny Hendrix, der Regisseur von Chocó. 1293 | Karen cries on the bus.

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inszenierte Filme gleichzeitig im Spielplan der kolumbianischen Kinos zu sehen gewesen – Ella1294 von Libia Stella Gómez und der Dokumentarfilm Don Ca1295 von Patricia Ayala. Die Tatsache, dass diese Filme – beide sind Low-­ Budget-­Produktionen mit geringen kommerziellen Erfolgsaussichten – überhaupt in den von Hollywood dominierten Spielplan aufgenommen wurden, kann als Anzeichen für eine steigende Diversität auch im Bereich der Filmvorführung gewertet werden. Auch thematisch ist das neue kolumbianische Kino breit gefächert. Zwar bilden der innerkolumbianische Konflikt und seine Folgen nach wie vor den häufigsten Handlungsgegenstand, es mehren sich jedoch Filme über Lebens­ bereiche abseits der organisierten Gewalt, z.B. in Gordo, calvo y bajito1296 (Carlos Osuna 2011, Kolumbien), einem Animationsfilm über einen mit Komplexen behafteten Büroangestellten, der durch die Erfahrungen mit einem ebenso hässlichen wie erfolgreichen neuen Mitarbeiter sein Leben umzukrempeln beginnt, oder in Los viajes del viento1297 (Ciro Guerra, 2009, Kolumbien/­Deutschland/Argentinien/Niederlande), der auf sehr poetische Weise die Rückkehr eines Akkordeonspielers zu seinen musikalischen und persönlichen Wurzeln, der Tradition des Vallenato in der Region der kolumbianischen Atlantikküste, beschreibt. Bei der Betrachtung des kolumbianischen Kinos ab 2003 ist zu beachten, dass nicht alle Filme im Rahmen der staatlichen Förderung produziert werden: Während Filmemacher, deren Projekte nicht in die Förderung aufgenommen wurden, sich notgedrungen nach Alternativen umsehen, entscheiden sich andere bewusst für staatlich unabhängige Finanzierungsmodelle. Häufige Gründe hierfür sind Misstrauen gegenüber dem Auswahlkomitee, dessen Zusammensetzung, Arbeitsweise und Auswahlkriterien wenig transparent erscheinen1298, oder die Frustration über unzureichend begründete Ablehnungen bei früheren Bewerbungen. Carlos Gaviria hat bei seinem Regie-­ Debüt Retratos en un mar de mentiras, nach eigener Aussage, bewusst auf eine Bewerbung beim FDC verzichtet, da diese aufgrund der in seinem Film vorgenommenen Problematisierung der paramilitärischen Gewalt – vor dem Hintergrund des Vorwurfs der „Parapolitik“ gegen die Regierung Uribe – aussichtslos 1294 | Dt.: „Sie“. Kolumbien, 2015. 1295 | Dt.: „Herr Ca“. 2012, Kolumbien. 1296 | Fat Bald Short Men. 1297 | Die Reisen des Windes. 1298 | Auf den Web-Portalen der betreffenden Institutionen findet sich nur vage und zudem veraltete Information über die Auswahlmodalitäten der Filmförderung, wie beispiels­w eise auf der Seite des Sinic („Sistema Nacional de Información Cultural“). Quelle: http://www. sinic.gov.co/SINIC/SNC/PaginaDetalleSNCPar ticipacion.aspx?Id=13&AREID=5&SECID =16&SERID=&NIV_ID=N

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gewesen sei.1299 Gaviria geht also von einer politisch motivierten, inhaltlichen Zensur der Projekte aus und unterstellt den Funktionären des Kultur­ ministeriums die bewusste Beschneidung der filmischen Ausdrucks­freiheit durch Ausschluss aus der Förderung. Auch der Film­kritiker, Hochschul­dozent und Dokumentarfilmer Juan Diego Caicedo ist davon überzeugt, dass die Jury die Projekte zensiert bzw. die Autoren indirekt zur Auto-Zensur zwingt. Ihre Kriterien zur Disqualifikation seien jedoch nicht inhaltlicher, sondern wirtschaftlich-­ökonomischer Natur: „Die Zensur und die Autozensur existieren in anderen, viel gefährlicheren Bereichen: hier ist man der Ansicht, dass es [ein Filmprojekt], wenn es nicht rentabel ist, auch keine Unterstützung verdient.“1300 So würden Filme über die Gewalt, die stets ein sensationshungriges internationales Publikum fänden, eher gefördert als „ein Filmprojekt, das von Freundschaft handelt, von Zuneigung, familiären Dramen, wichtigen Momenten und Persönlichkeiten aus Geschichte und Kultur, von Dingen mit einer gewissen Bedeutung im ethischen, künstlerischen und spirituellen Spektrum“1301. Gaviria und Caicedo sind mit ihrer Kritik an der Umsetzung des Filmgesetzes nicht alleine. Ciro Guerra zufolge ist das Gesetz Wegbereiter für ein nicht nachhaltiges, kurzlebiges „Jury-Kino“, dessen Realisierung von der Laune der Jurymitglieder abhänge – oder von deren Bestechlichkeit.1302 Alejandra Jaramillo Morales bemängelt ebenfalls die einseitige Ausrichtung der Förder­ praxis: aufgrund des hohen Einflusses der Kinobetreiber und Verleiher innerhalb der Jury seien kommerzielle Erfolgsaussichten das Hauptkriterium für die Auswahl, der künstlerische oder kulturelle Wert der Projekte spiele eine untergeordnete Rolle. Künstlerisch ambitionierte Filme hätten zwar eine Chance auf Produktionsförderung, würden jedoch letztlich nicht vermarktet: „All dies beschneidet die Entwicklungsfreiheit des nationalen Kinos, im Unterschied zu Ländern wie Argentinien, Mexiko oder Brasilien, in denen es möglich ist, dass ein

1299 | Quelle: Aussage von Carlos Gaviria im Publikumsgespräch, am 27.02.2010 beim Internationalen Filmfestival von Cartagena. 1300 | Orig.: „La censura y la autocensura se dan pues en otros campos, mucho más peligrosos: aquí se considera que no es rentable, y por lo tanto, no merece ningún apoyo“. Quelle: Persönliches Interview mit Juan Diego Ciacedo, durchgeführt via E-Mail am 16.08.2011. 1301 | Orig.: „[...] un proyecto cinematográfico que hable de amistad, afectos, dramas familiares, momentos y personajes importantes de la Historia y la cultura, cosas de algún vuelo en los planos éticos, artístico y espiritual [sic]“. Quelle: Persönliches Interview mit Juan Diego Ciacedo, durchgeführt via E-Mail am 16.08.2011. 1302 | Quelle: Ciro Guerra im Interview mit Kinetoscopio. Siehe Figueroa 2004, 64f.

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 Kino in Kolumbien Dreh­b uch mit Inhalten, die von den hegemonialen – denen des Marktes – abweichen, eine komplette Finanzierung des Projekts erreichen kann.“1303

Auch über die Kompetenz der Funktionäre im Filmdepartment des Kultur­ ministeriums, die dem Auswahlgremium übergeordnet sind, wird diskutiert. Henao Flórez bemängelt die mangelnde Praxisnähe der Amtsinhaber: „Welcher wahre Künstler ist Kulturminister gewesen, welcher Cineast ist Leiter des Film­ departments oder des Fondo Mixto Proimágenes en Movimiento gewesen?“1304 Die hohe Beteiligung von Ökonomen und Betriebswirtschaftlern bei der Ausarbeitung des Filmgesetzes, gegen die Henao Flórez protestiert, manifestiert sich insbesondere in Kapitel III des Filmgesetzes, das auf eine zunehmende Liberalisierung des Filmsektors und die Gewinnmaximierung für private Investoren abzielt.1305 Von Artikel 16° des Filmgesetzes, der es privaten Investoren erlaubt, den in ein Filmprojekt investierten Betrag zu 125 Prozent von der Einkommensteuer abzusetzen,1306 wurde einer Statistik des Kultur­ ministeriums zufolge zwischen 2004 und 2011 immerhin in 97 Fällen Gebrauch gemacht.1307 Dass das kolumbianische Filmgeschäft dennoch weit vom angestrebten Ziel, sich als industrieller Wirtschaftssektor zu etablieren, entfernt ist, zeigt die Tatsache, dass von der Möglichkeit der Börsenspekulation mit Filmwertpapieren noch nicht Gebrauch gemacht wird. Hingegen offenbart die beständig wachsende Nachfrage von Fördergeldern aus dem FDC den Bedarf an staatlicher Zuwendung.1308 Dieser wird, Kritikern zufolge, durch das Gesetz nicht ansatzweise gedeckt: Augusto Bernal, Filmexperte und Leiter der Film­schule „Black María“ in Bogotá, vergleicht das Filmgesetz mit einem Schnuller, den man einem hungrigen Baby reicht, damit es nicht weint.1309 Tatsächlich sind die Fördersummen, gemessen auch am hohen bürokratischen Aufwand der Bewerbung, recht gering: zwischen 2004 und 2011 wur1303 | Orig.: „Todo esto corta la libertad del desarrollo del cine nacional, a diferencia de países como Argentina, México o Brasil, en los que es posible que un guión con contenidos diversos a los hegemónicos – del mercado – pueda conseguir una financiación completa del proyecto.“ Jaramillo Morales 2005, 80. 1304 | Orig.: „¿Qué verdadero artista ha sido Ministro de Cultura, qué cineasta ha estado al frente de la Dirección de Cinematografía o el Fondo Mixto Proimágenes en Movimento?“ Henao Flórez 2005, 189. 1305 | Vgl. Kapitel I.2.3. 1306 | Nach Meining des Kulturministeriums sei damit ein bislang in Lateinamerika beispielloser Anreiz zur privaten Investition in Filmprojekte geschaffen worden. Siehe Interview mit David Melo und Claudia Triana, Kinetoscopio Nr. 79, 2007, 62. 1307 | Quelle: http://www.proimagenescolombia.com/secciones/fdc/estadisticas_fdc.php 1308 | Quelle: http://www.proimagenescolombia.com/secciones/ fdc/estadisticas_fdc.php 1309 | Quelle: Persönliches Interview mit Augusto Bernal, geführt am 06.11.2007 in Bogotá.

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den 465 Projekte in unterschiedlichen Entwicklungsstadien mit insgesamt 49.101.212.438 Pesos (ca. 14,5 Millionen Euro) bezuschusst,1310 das entspricht einer durchschnittlichen Fördersumme von rund 31.200 Euro pro berücksichtigter Bewerbung. Bernal zufolge erhöht diese „Starthilfe“ aus dem FDC die Möglichkeiten zur Koproduktion, mit deren Hilfe deutlich mehr Filme realisiert werden können als zuvor. Der Behauptung aus den Reihen des Film­ departments, dass eine quantitative Steigerung der Produktion automatisch eine Steigerung der Qualität nach sich ziehe, widerspricht Bernal, indem er einleuchtende – wenn auch etwas eigenwillige – Vergleiche anführt: wenn eine Kuh mehr Milch produziere, produziere sie deshalb nicht bessere Milch; und nur weil ein Land viele Fußball­vereine habe, werde es noch lange nicht Weltmeister.1311 Bernal zufolge definiert sich eine Filmkultur nicht über die Quantität, sondern die Qualität der Filme, dem Filmgesetz fehle ein Wertekonzept, welches dieser Logik Rechnung trage. Dieser Meinung ist auch Henao Flórez, der den Machern des Gesetzes mangelnde Reflexion und den Ausschluss der Öffentlichkeit aus der exklusiv geführten Debatte vorwirft: „Der Verfassung von 91 fehlt ein nationales Projekt, das sie trägt, und dem Filmgesetz ein Filmprojekt, das es trägt. Es mangelt an Reflexion über das Kino, das gemacht werden soll: es ist nicht so einfach wie ‚macht eine Industrie‘ und fertig. […] Welches ist das Land, das wir wollen, welches? Wir wissen es nicht, denn wir haben es nicht diskutiert, weil es so aussieht, als werde das Land, das wir wollen, von denen definiert, die die Gesetze erlassen, einschließlich dieses Gesetzes.“1312

Der Autor scheint hier auf den ersten Abschnitt der bereits zitierten Informations­broschüre zum Filmgesetz anzuspielen, in der die kolumbianischen Film­schaffenden aufgerufen werden, aus dem Kino eine Industrie zu machen und „[...] ein demokratisches Werkzeug, das dabei helfen soll das Land zu erschaffen, das wir wollen.“1313 Die Bedeutung, die die Regierung Uribe dem Kino bei der Herausbildung einer nationalen Identität beimisst, wird anhand dieser Formulierung ebenso deutlich wie der implizite Aufruf zu einer 1310 | Quelle: http://www.proimagenescolombia.com/secciones/fdc/estadisticas_fdc.php 1311 | Quelle: Persönliches Interview mit Augusto Bernal, geführt am 06.11.2007 in Bogotá. 1312 | Orig.: „Le falta a la Constitución del 91 un proyecto de nación que la sustente y a la Ley del Cine un proyecto de cine que la sustente. Falta reflexión sobre el cine que debe hacerse: no es tan sencillo como ‚hagan una industria’ y ya.[…] ¿Cuál es el país que queremos?, ¿cuál? No lo sabemos porque no lo hemos discutido, porque parece que el país que queremos es definido por quienes legislan, incluyendo esta ley.“ Henao Flórez 2005, 189. 1313 | Orig.: „[…] una herramienta democrática para ayudar a construir el país que queremos“. Ministerio de Cultura de Colombia/Proimágenes en Movimiento 2004 (1), 5.

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Verbesserung des Landes­images durch Filme, die ein Kolumbien abseits der etablierten Stereo­type im Zusammenhang mit dem Guerilla-Krieg und dem Drogen­handel zeigen. Das Streben nach einer Aufwertung Kolumbiens und einem damit verbundenen Anstieg der ausländischen Investition findet seinen höchsten Ausdruck im sogenannten „Zweiten Filmgesetz“1314, dem Gesetz Nr. 1556 vom 9. Juli 2012, erlassen von der Regierung Santos, „durch welches die Bereitstellung des nationalen Territoriums als Schauplatz für den Dreh filmischer Werke gefördert wird“1315. De facto bietet das Gesetz ausländischen Filmteams finanzielle Anreize für den Dreh in Kolumbien. Auf staatlichen Internetportalen wie „locationcolombia“1316 oder „shootcolombia“1317 werden die begehrten Gäste eingeladen, das Land kennen zu lernen, das „[...] durch die Natur in spezieller Weise dazu geschaffen scheint, die Träume eines Filmregisseurs zu nähren, der gerne ein breit gefächertes Sortiment an schönen Drehorten in einer einzigen Region vereint vorfinden würde, um einen großartigen Film zu drehen“1318. Auf dem Internetportal der „Comisión Fílmica“ können Interessierte unterschiedliche geografische Regionen anklicken und sich auf Fotos und Videos von der angepriesenen lanschaftlichen, kulturellen, klimatischen und ethnischen Vielfalt, von historischen und modernen Städtearchitekturen sowie von den vergleichsweise geringen Produktionskosten überzeugen.1319 Mit der Begrüßungsformel „Willkommen in Kolumbien, ein Land, das nicht so ist, wie Sie gehört haben, sondern wie Sie es sehen!“1320 wird der Besucher aufgeordert, seine Vorurteile über Bord zu werfen und sich selbst ein Bild von den vermeintlich paradiesischen Zuständen zu machen. Dass sich der Dreh in Ko1314 | Orig.: „segunda ley de cine“. 1315  | Orig.: „por la cual se fomenta el territorio nacional como escenario para el rodaje de obras cinematográficas“. Zitat aus dem Gesetz Nr. 1556 vom 9. Juli 2012. Quelle: http://www.cancilleria.gov.co/sites/default/files/tramites_ser vicios/visas/archivos/ ley155609072012.pdf 1316  | Dieses Portal gehört zur „Comisión Fílmica Colombiana“, einer staatlichen Institution. 1317 | Hierbei handelt es sich um eine private Firma, die von dem privaten TV-Sender RCN unterstützt wird. 1318 | Orig.: „[…] parece creado de manera especial por la naturaleza para alimentar los sueños de un director de cine que quisiera encontrar reunidos en una sola región un surtido abanico de hermosos escenarios para hacer una magnífica película“. Quelle: http://www. locationcolombia.com/secciones/colombia/bienvenidos.php 1319  | Quelle: http://locationcolombia.com/?page_id=11 1320 | Orig.: „¡Bienvenidos a Colombia! un país que no es como usted ha oído sino como usted ve“. Quelle: http://www.locationcolombia.com/oldsite_2014/secciones/comision_ filmica/introduccion.php

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lumbien und insbesondere die Koproduktion mit einer kolumbianischen Firma für den ausländischen Interessenten rentiert, wird durch steuerliche Frei­ beträge und staatliche Preisgelder garatiert. Auf der Seite von „shoot colombia“, wo in Einklang mit Uribes rhetorischer Tradition mit dem Slogan „We won’t shoot you, you will shoot us“1321 um die Gunst der Ausländer geworben wird, ist in einer Auflistung der Vorteile für die Filmteams auch die „gute Sicherheits­ lage“ aufgeführt, die Uribe durch massive militärische Präsenz vor allem in touristischen Regionen erreicht hat. Vor dem Hintergrund der alarmierenden Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die seit der Amtsperiode von Uribe einen erneuten Zuwachs der Gewalt, insbesondere gegen die ethnischen Minder­heiten, verzeichnen,1322 erscheinen die idyllischen Hochglanzbilder auf den hier zitierten Portalen wie ein makaberer Witz. Hat die kolumbianische Regierung nur deshalb Teile des Landes militärisch gesichert, um den Weg für ausländische Investoren und Devisen zu ebnen? Könnte dieses Interesse eine Erklärung dafür sein, dass das Kulturministerium staatliche Steuergelder an ausländische Filmteams ausbezahlt, anstatt sie in die wesentlich bedürftigere eigene Produktion fließen zu lassen? – Aufgrund der sich aufdrängenden Fragen sowie der offensichtlichen konzeptionellen Parallelen zwischen „Location Colombia“ und „Colombia es pasión“ ist das „Zweite Film­ gesetz“ sehr kritisch aufgenommen worden. Juana Suárez sieht in ihm eine Weiterführung des Ausverkaufs staatlichen Territoriums an europäische Siedler im 18. und 19. Jahrhundert: „die terra incognita zum Besiedeln, Kaufen und Ver­ kaufen ist nun nicht mehr die Landschaft, sondern die Leinwand.“1323 Es liegt auf der Hand, dass ein Vergleich mit dem aktuellen Ausverkauf der landes­­eigenen Ressourcen an internationale Großkonzerne ebenfalls naheliegend wäre. In einem anderen Zusammenhang stellt Juana Suárez die These auf, Uribes beschönigende Landespropaganda habe entgegen seiner eigentlichen Absicht dazu geführt, dass die kolumbianischen Regisseure erst recht in die Thematisierung und Problematisierung des landesinternen Konflikts insistierten, quasi als eine Form des Widerstands gegen Uribes politischen Diskurs.1324 Angesichts der Intensität, mit der eine wachsende Zahl von Regisseuren die komplexen Zusammenhänge und Folgen der Gewalt mit subtilen, vielschichtigen und stimmungsvollen Darstellungen durchdringt, kann dieser Meinung durchaus zugestimmt werden. Frühere Urteile kolumbianischer Kritiker, die dem kolumbianischen Film Feigheit, Gefälligkeit und fehlenden Mut unter1321  | Quelle: www.shootcolombia.com 1322 | Siehe Kapitel III.4.1. 1323 | Orig.: „[...] la terra incognita a poblar, a comprar y a vender ya no es el paisaje sino la pantalla.“ Suárez 2009 (1), 203 [Hervorhebung im Original]. 1324  | Siehe Suárez 2009 (1), 217.

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stellten,1325 müssen angesichts dessen revidiert werden: noch nie haben sich die kolumbianischen Filmemacher der schmerzlichen Realität des landes­internen Konflikts, aber auch der Aufarbeitung und Überwindung dieses Schmerzes so entschlossen gestellt wie in der jüngsten Vergangenheit. Diese These soll in Kapitel III.4.3 mittels der Analyse von nationalen Produktionen, die die Opfer des Konflikts in den Mittelpunkt stellen, belegt werden. In Kapitel III.4.4 soll dann auf internationale Koproduktionen eingegangen werden, die den nationalen Konflikt auf einer universelleren Ebene verhandeln und als Vertreter eines transnationalen Kinos bezeichnet werden können.

III.4.3 Das nationale Kino der Erinnerung und Aufarbeitung – exemplarische Filmanalysen Innerhalb der jüngsten kolumbianischen Filmproduktion fällt auf, dass häufig die Opfer des Konflikts im Mittelpunkt stehen – und zwar nicht als Objekt, sondern Subjekt der filmischen Erzählung. Anders als in Pisingaña (1985), in dem eine Einfühlung des Zuschauers in das Innenleben der Protagonistin aufgrund der Dominanz der Perspektive ihres Gastvaters begrenzt oder gar verhindert wird,1326 wird der Zuschauer in den Filmen der neuen Strömung stark in die Rolle der Protagonisten versetzt. Anstatt von außen die politischen und sozialen Hintergründe des Konflikts zu analysieren, lassen diese Filme den Zuschauer innerlich nachempfinden, was Krieg und Gewalt für die Betroffenen bedeuten könnten.1327 Im Gegensatz zu Golpe de estadio (1998) und La toma de la embajada (2000), die die Ursachen des bewaffneten Konflikts trotz einer deutlichen Akzentuierung menschlicher Werte auf einer politischen Ebene verhandeln, steht in Filmen wie La sombra del caminante 1328 (Ciro Guerra, 2004, Kolumbien) oder Retratos en un mar de mentiras1329 (Carlos Gaviria, 2010, Kolumbien), die in diesem Kapitel exemplarisch für die Strömung analysiert werden sollen, die emotionale und psychologische Dimension individueller Schicksale im Vordergrund: die persönlichen Erfahrungen der Protagonisten mit Krieg und Gewalt, ihre Versuche, mit Verletzungen fertig zu werden, ihre Hoffnungen und ihr Scheitern. Die Täter sowie deren Identität geraten in diesen Filmen ebenso in den Hintergrund wie ihre politischen Beweggründe. Die Werke hinterlassen beim Zuschauer starke Betroffenheit

1325 | Vgl. Tapias Hernández 2007, 97. 1326 | Vgl. Kapitel III.2.3.3. 1327  | Zur Darstellung von Trauma im Film vgl. Köhne/Ballhausen 2012. 1328 | Dt.: „Der Schatten des Wanderers“; F: L’ombre de Bogotá. 1329 | Dt.: „Bildnisse in einem Lügenmeer“.

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sowie Gefühle der Verzweiflung und Hilflosigkeit1330 und legen nahe, dass Gewalt, die derartiges menschliches Leid zur Folge hat, durch nichts zu recht­ fertigen ist. Gleichzeitig laden sie zur Reflexion ein, nicht nur über die Gewalt im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts, sondern über die Auswirkungen traumatischer Gewalterfahrungen im Allgemeinen. Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Häufung von Filmen, die die Opfer des Konflikts in den Mittelpunkt stellen, zeitlich in etwa mit der Erlassung des Opferentschädigungsgesetzes von 2011 zusammenfällt, welches – seiner Mängel zum Trotz1331 – eine Geste von Seiten der kolumbianischen Regierung darstellt, das Vorhandensein eines politischen bewaffneten Konflikts sowie die Verantwortung des Staates gegenüber der betroffenen Bevölkerung anzu­ erkennen. Die Hinwendung der Filmemacher zu den Geschichten der Opfer ist dabei nicht als Folge des Gesetzes zu interpretieren, denn viele der Filme erschienen vorher oder zeitgleich, sondern ist als Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Haltung im Kontext der Wieder­aufnahme des Friedensdialogs zu begreifen, aus dem sowohl die Filme als auch das Gesetz hervorgehen. Die potenzielle Wirkung dieser Filme kann als ambivalent beschrieben werden: Auf der einen Seite schaffen die Filme, im Kontrast etwa zur sensations­ hungrigen oder sachlich-nüchternen Berichterstattung in den Nachrichten­medien, einen Raum zur vertieften emotionalen Auseinandersetzung mit der Gewalt. Sie bieten dem Zuschauer Gelegenheit, sich in die Protagonisten hinein­zuversetzen und die daraus erwachsenden Emotionen – gewissermaßen kathartisch – zu entladen. Darüber hinaus könnten die Filme Empathie beim Betrachter hervorrufen und ggf. eine stärkere Solidarisierung mit den Opfern bewirken. Auf der anderen Seite lenkt die Konzentration auf die emotionale Dimension menschlicher Gewalterfahrung von den politischen Hinter­gründen des innerkolumbianischen Konflikts ab. Die Fokussierung auf allgemein menschliche Gefühle könnte dabei entweder als Teil einer marktwirtschaftlichen Strategie aufgefasst werden, die auf eine Verbesserung der internationalen Verständlichkeit der Filme abzielt, oder aber als bewusster Versuch der Verschleierung, beispielsweise um von der staatlichen und gesellschaftlichen Verantwortung für die Opfer abzulenken. Auch wenn die Frage nach den Gründen für die neuen Darstellungstendenzen hier nicht abschließend beantwortet werden kann, sollen diese Überlegungen bei der Analyse der Filme im Hinterkopf behalten werden.

1330 | Diese These stützt sich auf Beobachtungen bei öffentlichen Vorführungen dieser Filme und anschließenden Publikumsgesprächen in Kolumbien. 1331  | Vgl. Kapitel III.4.1.

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Der erste Film, der stellvertretend für die hier skizzierte Strömung analysiert werden soll, ist La sombra del caminante, das Erstlingswerk des später mit Los viajes del viento (2009) und El abrazo de la serpiente (2015) berühmt gewordenen Regisseurs Ciro Guerra. Seiner Jugendlichkeit und der damit einhergehenden mangelnden Professionalität zum Trotz – La sombra del camnante ist ein universitärer No-Budget-Film – gelingt dem gerade einmal 22-Jährigen ein subtiles, vielschichtiges und bewegendes Drama über die beginnende Freundschaft zweier einsamer, vom Krieg erschütterter Existenzen, deren Wege sich als Binnenflüchtlinge in Bogotá kreuzen und deren wachsende Kenntnis über die Vergangenheit des anderen die Möglichkeit ihrer Freundschaft immer stärker in Frage stellt. Als zweiter Film soll Retratos en un mar de mentiras von Carlos Gaviria einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Sein Erstlingswerk erzählt die Geschichte einer schwer traumatisierten jungen Frau, die als kleines Mädchen Zeugin des Massakers an ihrer Familie geworden ist. Auf einer Reise durch das Land, zu der sie aufgrund einer Erbschaft mit ihrem extrovertierten Cousin aufbricht, gelangt sie zurück zu den Wurzeln ihres Traumas, welches sie am Ende der Fahrt sowohl in ihrer Erinnerung als auch in der Realität erneut durchlebt. Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass auch die Filme Pequeñas voces1332 (Jairo Eduardo Carrillo/Óscar Andrade, 2011, Kolumbien) und Los colores de la montaña (The Colors of the Mountain. Carlos César Arbeláez, 2011, Kolumbien/ Panama) zur Veranschaulichung der Strömung herangezogen werden könnten. Ersterer weicht zwar in Bezug auf seine Gattung von den anderen Filmen des Corpus ab, denn es handelt sich um eine dokumentarische Animation, den ersten lateinamerikanischen 3D-Film der Geschichte. Er verbindet die selbst gesprochenen Erlebnisberichte von Kindern zwischen 8 und 13 Jahren, die auf unterschiedliche Weise Opfer oder Täter im bewaffneten Konflikt geworden sind1333, mit animierten Bildern, die aus den Originalzeichnungen der Kinder entwickelt wurden. Wie kein anderer kolumbianischer Kinofilm gibt er den schwächsten und verletzlichsten Mitgliedern der Gesellschaft – den Kindern – eine Stimme, um die Erinnerung an das ihnen widerfahrene Unrecht zu zementieren. Der Film hebt neben den brutalen Rekrutierungspraktiken der Guerilla jedoch auch die Einsätze des staatlichen Militärs im Zuge von Uribes Anti-Guerrilla-Kreuzzug hervor, denen ebenfalls unschuldige Kinder und ihre 1332 | Dt.: „Kleine Stimmen“; F: Les petites voix. 1333 | Ein Junge erzählt die Geschichte seiner Rekrutierung durch die Guerilla, seiner Ausbildung an der Waffe und seiner traumatischen Erfahrungen im Gefecht. Ein Mädchen berichtet, wie es mit seiner Familie unter schweren Verlusten vor den Angriffen und Bombardements des Militärs fliehen mussten. Ein anderer Junge berichtet, wie er bei seiner Flucht Opfer einer Landmine wurde, durch die er schwer verwundet wurde.

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Familien zum Opfer fallen. Pequeñas voces positioniert sich nicht politisch: weder die Täter noch deren politische Ausrichtung oder Zielsetzung stehen im Vordergrund, sondern die Schicksale der Betroffenen. Wie die anderen Filme, die der Strömung zugeordnet werden können, zielt Pequeñas voces auf die Einfühlung des Publikums ab, welches den Kinosaal schwerlich trockenen Auges verlässt. Die Unschuld und Klarheit der kindlichen Perspektive, authentisch vermittelt durch die Originalstimmen und Zeichnungen, steigern die Betroffenheit des Zuschauers zusätzlich. Der Film macht die meist nüchtern vermittelten und rezipierten Fakten über die anhaltende Gewalt in Kolumbien1334 emotional erfahrbar und trägt damit zur Sensibilisierung gegenüber dieser Realität bei. Auch in Carlos César Arbeláez Kinodebüt Los colores de la montaña stehen Kinder, deren idyllisches Leben auf dem Lande durch die Ankunft des bewaffneten Konflikts auseinandergerissen und zerstört wird, im Mittelpunkt. Der Film erzählt aus der Perspektive des etwa achtjährigen Manuel, dessen Traum von einer Karriere als Torwart abrupt endet, als sein Fußball in einem abgesperrten Minenfeld landet. Nach und nach werden immer mehr Räume, in denen die Kinder sich spielerisch entfalten können, aufgrund der drohenden Gefahr durch sich zuspitzende Auseinandersetzungen zwischen Militär und Guerilla geschlossen. Als auch die letzte gewaltfreie Zone, die Dorfschule, nicht mehr sicher ist und die einst unerschrockene Lehrerin panisch abreist, entschließt sich Manuels Familie zur Flucht. Doch für Manuels Vater ist es bereits zu spät. Auch dieser Film erzeugt eine intensive Einfühlung des Zuschauers in die Situation der Opfer, zum einen durch den Protagonismus der Kinder, die um ihr elementares Recht auf Schutz und eine unbeschwerte Entwicklung gebracht werden, zum anderen durch die Akzentuierung der Machtlosigkeit der Erwachsenen, die, wie die Lehrerin oder Manuels Vater, die Rechte der Kinder zu schützen versuchen und scheitern. Der Regisseur findet starke Bilder für den hoffnungslosen Kampf der Dorf bewohner für ein Leben in Frieden, z.B. als die Kinder auf Initiative der Lehrerin die Hauswand der Schule bunt bemalen, ihre lebensfrohen Zeichnungen jedoch alsbald von mörderischen Parolen und Drohungen der Kriegsparteien überpinselt werden.

1334  | In einem Text-Insert wird zu Beginn des Films darauf hingewiesen, dass allein in den vergangenen 15 Jahren 1 Millionen Kinder vor dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien fliehen mussten.

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III.4.3.1 La sombra del caminante (dt.: „Der Schatten des Wanderers“. Ciro Guerra, 2004, Kolumbien) Die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte von Ciro Guerras Langfilm-Debüt ist wahrhaft kurios: mit nur 19 Jahren beginnt der Regisseur, der zu dieser Zeit noch an der Universidad Nacional in Bogotá Film und Fernehen studiert, mit der Arbeit am Drehbuch, von dem er insgesamt 14 Versionen erstellt. Ein Jahr später beginnt er gemeinsam mit einem Team von ebenso unerfahrenen Kommilitonen mit der Verfilmung seiner favorisierten Fassung: „Ich hatte die Gelegenheit, dass die Universität mir Kameras lieh, und ich hatte Kommilitonen, die mir helfen konnten. […] Wenn nicht in diesem Moment, dann nie.“1335 Mit einem Budget von nur 8 Millionen Pesos (damals ca. 2.800 Euro), die Guerra bei einer Fernsehshow gewinnt,1336 und einem engagierten, unentgeltlich arbeitenden Team1337 werden unter schwierigsten Bedingungen1338 an 42 Drehtagen die Aufnahmen realisiert, die der Autor und Regisseur in den darauf folgenden Monaten zu einer ersten Version des Films von fast drei Stunden Länge zusammenschneidet. Mit diesem Material geht Guerra zu Jaime Osorio, dem Produzenten von La Virgen de los sicarios und María, llena eres de gracia, der sich dem Projekt anschließt und eine kürzere Version mit umfassenden dramaturgischen Veränderungen erstellt.1339 Diese schickt Osorio zum internationalen Filmfestival nach San Sebastián, wo der Film 2003 völlig unerwartet den begehrten Preis „Cine en Construcción“ gewinnt. So kommt es, dass der No-Budget-Film mit einer Postproduktion im Wert von 200.000 Euro fertiggestellt wird.1340 Die internationale Anerkennung hat zur Folge, dass La sombra del caminante 1341 später noch in die Förderung des Film­ gesetzes aufgenommen wird, von der er zunächst zurückgewiesen worden 1335 | Orig.: „Tenía la oportunidad de que la universidad me prestara las cámaras y tenía compañeros que me podían ayudar. […] Si no era en ese momento no era nunca.“ Quelle: http://www.colarte.com/colarte/conspintores.asp?idartista=15514 1336 | Quelle: http://www.comohacercine.com/articulo.php?id_art=1156&id_cat=2 1337 | Alle Mitarbeiter sind Teilhaber des Films, so dass sie erst im Nachhinein von dessen Erfolg profitieren. Quelle: http://www.comohacercine.com/articulo.php?id_art=1156&id_ cat=2 1338 | Bei den Dreharbeiten in Vierteln wie La Perseverancia lief das Team täglich Gefahr, überfallen und ausgeraubt zu werden. Quelle: http://www.comohacercine.com/articulo. php?id_art=1156&id_cat=2 1339 | Siehe Figueroa 2004. 1340 | Der Preis „Cine en Construcción“ besteht in der vollständigen Finanzierung der Postproduktion durch die Filmtechnik-Firmen, die den Preis stellen. Etwa 10.000 Euro des Betrags werden dem Produzenten in bar ausgezahlt. Quelle: Ciro Guerra im persönlichen Interview. 1341 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Proimagenes Colombia (Hg.): La sombra del caminante. Reihe: „Lo mejor del cine colombiano“.

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war.1342 Auch die kommerzielle Kinokette Cine Colombia wittert ihre Chance, an Guerras Erfolg teilzuhaben, und übernimmt völlig unerwartet den Vertrieb des Films innerhalb Kolumbiens.1343 Die Resonanz, die La sombra del caminante auf seiner Tour durch über 60 internationale Filmfestivals erfährt, ist zu diesem Zeitpunkt beispiellos in der kolumbianischen Filmgeschichte. Der Regisseur kann seinen Erfolg kaum fassen: „Es war unglaublich, denn dies ist ein Film, der unter absolut lachhaften Bedingungen gedreht und an der Seite der besten Filme der Welt vorgeführt wurde, auf Augenhöhe. In Istanbul, Türkei, liefen wir in derselben Sektion wie Jean-Luc Godard und Peter Greenaway.“1344 Als erster kolumbianischer Film wird La sombra von einem europäischen Vertreiber, der Distributionsfirma KMBO Films, entdeckt und für den kommerziellen Vertrieb in Frankreich ausgewählt. Ihre Entscheidung begründet die Firma mit der ungewöhnlichen Perspektive des Films auf das Land: „Wir glauben, dass La sombra del caminante eine Öffnung gegenüber dem Autoren­f ilm in Kolumbien und, allgemeiner, gegenüber der kolumbianischen Kultur sein könnte, welche bis heute durch die Vorführung von Filmen, die sich an Themen wie dem Krieg oder dem Drogenhandel orientieren, marginalisiert wird. Dieser Streifen bietet uns eine menschliche, freundschaftliche und intime Vision von Kolumbien. […] Wir wollen erreichen, dass Frankreich Kolumbien fernab der ‚Klischees‘ entdeckt, durch die Vorführung eines Films über Freundschaft, Würde und zwischenmenschliche Beziehungen.“1345

Tatsächlich ist La sombra del caminante, im Gegensatz zu La virgen de los sicarios, Golpe de estadio oder La toma de la embajada, in denen die Gewalt in Form von Feuergefechten inszeniert wird, ein ruhiger, subtiler Film über das für den innerkolumbianischen Konflikt zentrale Thema von Schuld und Vergebung. 1342 | Der FDC, der während der Arbeit an La sombra del caminante entsteht, unterstützt das Projekt nachträglich in den Kategorien „Internationale Teilnahme“ und „Vertrieb von Langspielfilmen in Kolumbien“. 1343 | Siehe Figueroa 2004. 1344  | Orig.: „Ha sido increíble, porque esta es una película que se rodó en condiciones absolutamente risibles y ha sido presentada al lado del mejor cine del mundo, de igual a igual. […] En Estambul, Turquía, estuvimos en la misma sección que Jean-Luc Godard y Peter Greenaway.“ Gómez Muñoz 2005, 191. 1345 | Orig.: „La sombra del caminante creemos que es una apertura hacia un cine de autor de Colombia y, más generalmente, a la cultura Colombiana, hasta ahora marginados por la emisión de películas orientadas a temas relacionados con la guerra o el tráfico de drogas. Esta cinta nos ofrece una visión humana, socia e íntima de Colombia. […] Lo que pretendemos es que Francia descubra a Colombia lejos de los ‚clichés‘ y a través del estreno de una película sobre la amistad, la dignidad y las relaciones humanas.“ Quelle: http://www. proimagenescolombia.com/secciones/pantalla_colombia/breves_plantilla.php?id_noticia=880

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Die Frage, ob oder unter welchen Bedingungen physische und seelische Verletzungen, die aus der Gewalt resultieren, individuell verziehen werden können, wird in diesem Film anhand der Bekanntschaft zweier einsamer, vom Konflikt gezeichneter Männer aufgeworfen, die beide aus dem umkämpften Gebiet von Caquetá nach Bogotá geflohen sind, wo sie ihren unterschiedlich gearteten traumatischen Erinnerungen zu entkommen versuchen: Mañe (César Badillo1346) hat bei einem Massaker in seinem Heimatdorf seine Familie sowie ein Bein verloren; Mansalva (Ignacio Prieto1347), der seinen Lebensunterhalt bestreitet, indem er Passanten auf seinem Rücken durch die Straßen von Bogotá trägt, ist als Kind gewaltsam von einer bewaffneten Gruppe rekrutiert worden und hat später als Anführer seiner Einheit zahllose Massaker verübt – auch das an Mañes Familie, wie Mansalva nach und nach erkennt. Der unwissende Mañe, der nicht akzeptieren will, dass sein einziger Freund sich zurückzieht, zwingt diesen, die Wahrheit über seine Vergangenheit preiszugeben. Die in zwei Schritten erfolgende Erkenntnis – Mañe erfährt zunächst, dass Mansalva ein Massenmörder ist, später erst, dass er seine Familie auf dem Gewissen hat – stellt Mañe vor eine schwierige Entscheidung: verzeiht er Mansalva, behält er seinen einzigen Freund; verzeiht er ihm nicht, verteidigt er zwar seine Ehre, ist aber, wie vor der Bekanntschaft, der feindlich gesinnten Großstadt schutzlos ausgeliefert. Im letzten und entscheidenden Dialog des Films1348 wird deutlich, dass die Realisierung von Mañes Wunsch, dem Freund zu verzeihen, an seiner persönlichen Betroffenheit scheitert. Bevor Mañe erfährt, dass Mansalva der Mörder seiner Familie ist, fällt ihm das Verzeihen leichter: Von seinem schlechten Gewissen getrieben – Mañe hatte die Pflanze, deren Tee Mansalva am Leben erhält, gestohlen und damit bewirkt, dass sich dessen Gesundheitszustand bedrohlich verschlechtert hat – sucht er den Stuhlträger auf, um ihm seine Freundschaft zu versichern: „Mich interessieren die Leute nicht mehr, die du umgebracht hast, Bruder. Du bist mein Freund, es ist mir egal, was du vorher gemacht hast.“1349 Mansalva, der verhindern möchte, dass Mañe sich für seinen bevorstehenden Tod verantwortlich fühlt, beichtet ihm darauf die ganze Wahrheit und nimmt alle Schuld auf sich. Er erzählt, dass er den Überfall auf Mañes Dorf angeführt hat. Dieser sei die Antwort auf die Ermittlungen des staatlichen Militärs, angeführt von Sargento James, gewesen, der es auf seine Einheit abgesehen hatte. Der Angriff auf das Dorf sei außer Kontrolle geraten und habe in einem Gewaltexzess geendet, für den Mansalva verantwortlich 1346 | César Badillo ist Schauspieler am Theater „La Candelaria“ in Bogotá. 1347 | Ignacio Prieto ist Anthropologe und Laiendarsteller. 1348 | 01:12:58-01:20:46. 1349 | Orig.: „Ya no me importa la gente que usted haya matado, hermano. Usted es mi amigo, no me importa lo que usted haya hecho.“ 01:14:18-01:14:21.

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gemacht und mit einer (missglückten) Hinrichtung per Kopfschuss bestraft wurde. Als Mañe begreift, dass Mansalva den Tod seiner Familie, den Verlust seines Beines und somit die Zerstörung seiner Existenz zu verantworten hat, stößt er an die Grenzen seiner Empathie: „Du glaubst, dass ich dir so verzeihen kann?“1350 Mansalva, aus dessen Ohr in diesem Augenblick Blut herauszulaufen beginnt, ist sich bewusst, dass seine Taten unverzeihlich sind. Bevor er sich aufrichtet und geht, gibt er seinem Freund die tragische Antwort auf dessen Frage: „Es gibt keine Vergebung. Es gibt keine Vergebung für uns.“1351 Diese Sequenz, die den emotionalen Höhepunkt des Films darstellt, spricht ein zentrales menschliches Dilemma an, das mit verantwortlich für das Fortdauern der Gewalt in Kolumbien ist: persönliche Betroffenheit verhindert Aussöhnung, wer extreme Gewalt am eigenen Leib erfahren hat, ist zur Vergebung nicht im Stande. Wut, Hass und der Wunsch nach Vergeltung, die sich stattdessen ausbreiten, verhindern jedoch nicht nur die Aussöhnung, sondern steigern auch die Gewaltbereitschaft – ein Teufelskreis, aus dem auszubrechen beinahe unmöglich erscheint. Der Wandel, der sich in Mañe durch die letzte Erkenntnis und die damit zusammenhängende emotionale Verwicklung vollzieht, veranschaulicht den Unterschied zwischen Vergebung im abstrakten und im konkreten Fall. So ist Mañe im Stande, den Massenmord an Fremden zu verzeihen, von dem er durch ein Medium (das Videoband) erfährt, nicht aber den an seiner eigenen Familie, den er selbst miterlebt hat. La sombra del caminante, so könnte man schlussfolgern, verweist darauf, dass der innerkolumbianische Konflikt letztendlich nicht politisch (von unbeteiligten Repräsentanten), sondern nur menschlich (von den beteiligten Individuen) gelöst werden kann. Für die Notwendigkeit der Annäherung von Opfern und Tätern spricht sich Ciro Guerra bereits während der Amtsperiode von Uribe aus, als Bemühungen zur staatlichen Opferentschädigung sowie Friedensverhandlungen mit den FARC noch in weiter Ferne stehen: „Der Konflikt in Kolumbien geht schon so lange, er hat sich so vertieft und die Gesellschaft so verdorben, dass es für keinen mehr eine politische Frage ist, sondern einfach eine menschliche Frage. Ich wollte Schuldzuweisungen vermeiden, denn wir sind alle Opfer. Es ist ein Konflikt, der uns alle mit sich gerissen hat, und heute weiß niemand mehr, warum es ihn gibt. […] Es gibt die Verantwortung, die jeder Einzelne für seine Taten trägt, aber als Land haben wir noch einen weiten Weg vor uns, um eine Aussöhnung zu erreichen, und dafür muss es eine Annäherung von Opfern und Tätern geben. Die Ver-

1350 | Orig.: „¿Usted cree que así le voy a perdonar?“ 01:20:14-01:20:16. 1351  | Orig.: „No hay perdón. No hay perdón para nosotros.“ 01:20:28-01:20:34.

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 Kino in Kolumbien gebung kann nur von den Opfern kommen, und die Opfer werden vom Friedensprozess ausgeschlossen, den die Regierung gerade erfindet.“1352

Ob Mañe seinem sterbenden Weggefährten letztendlich vergibt, lässt das Filmende offen. Zunächst scheint es, als räche sich Mañe an Mansalva, denn er lässt den schwer Verletzten allein im Wald zurück. Die darauffolgende Sequenz1353 zeigt jedoch, wie Mañe ein Grab schaufelt, aus dem Latten von Mansalvas selbstgezimmertem Tragegestell (D) herausragen. Das Bild des begrabenen Tragegestells nimmt Bezug auf den Auftakt des Films1354, der der eigentlichen Exposition voransteht: in fragmentarisch aneinandergereihten Detail­aufnahmen wird dort gezeigt, wie Mansalva den Stuhl aus den Latten eines Sarges zimmert. Das Begräbnis von Mansalvas Stuhl könnte symbolisch für das Begräbnis seines Erbauers bzw. der Last seiner Vergangenheit stehen. Zunächst scheint es so, als würde Mañe auch das Video-Band begraben, das den einzigen Beweis für Mansalvas Taten darstellt. Doch nach kurzem Zögern steckt er es wieder in seine Tasche. Bevor Mañe sich abwendet und in Richtung Stadt auf bricht, hinterlässt er eine selbstgebastelte Papierfigur auf dem Grabhügel. Das Niederlegen der Figur, die schon zuvor als Symbol für Mañes Zuneigung zu Mansalva etabliert worden ist1355, könnte als Zeichen seiner Freundschaft – und damit seiner Vergebung – interpretiert werden. Unklar bleibt, ob Mañe auch den Leichnam seines Freundes begraben hat. In diesem Fall hätte er Mansalva einen Freundschaftsdienst erwiesen, denn dieser hatte die Vorstellung, dass niemand ihn begraben würde, als seine größte Sorge bezeichnet.1356 Hat Mañe ihn nicht begraben, so hat er sich an ihm gerächt und durch die Vergeltung vielleicht erst die Voraussetzungen für eine spätere Vergebung geschaffen. 1352 | Orig: „En Colombia el conflicto lleva tanto tiempo, se ha profundizado tanto y ha degradado tanto la sociedad que ya no es una cuestión política para nadie, es simplemente una cuestión humana. Quise esquivar el echar culpas, porque todos somos víctimas. Es un conflicto que nos arrastró a todos y que nadie sabe hoy por qué ocurre. […] Existe la responsabilidad de cada persona por los actos que comete, pero como país tenemos un camino largo que recorrer para encontrar una reconciliación, y para eso tiene que haber un acercamiento entre víctimas y verdugos. El perdón sólo puede venir de las víctimas, y las victimas están siendo excluidas del proceso de paz que el gobierno está inventando.“ Quelle: Toulouse aplaude (AFP, 14.03.2005). In: CD-Rom mit Pressematerial zu La sombra del caminante, herausgegeben von Jaime E. Manrique, Laboratorios Black Velvet. 1353 | 01:22:24-01:23:05. 1354 | 00:20-01:55. 1355 | Mañe will Mansalva bereits zuvor die Figur schenken, dieser nimmt sie jedoch nicht an, da er die tragischen Verbindungen zwischen ihnen bereits erkannt hat. 1356 | 00:49:31.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Auch die Frage nach der Schuld wird in La sombra del caminante nicht abschließend geklärt, denn beide Protagonisten sind Opfer und Täter zugleich: Mañe ist ein Opfer des bewaffneten Konflikts sowie der Diskriminierung durch Teile der urbanen Gesellschaft, andererseits ist er Täter, da er für seine Interessen buchstäblich über Leichen geht. Im Gegensatz zu Mansalva will er Sargento James bei dessen Herzattacke nicht helfen, da er Schulden bei ihm hat und diese nicht bezahlen kann, außerdem setzt er Mansalvas Leben aufs Spiel, um die Wahrheit über ihn herauszufinden. Mansalva ist einerseits Opfer gewaltsamer Rekrutierungspraktiken, andererseits ein skrupelloser Serien­killer. Im selben Maße, wie sich der Film verweigert, die Protagonisten pauschal zu bewerten oder zu verurteilen, lehnt er auch eine politische Positionierung für oder gegen eine der Konfliktparteien ab. So bleibt unklar, ob Mansalva Guerillero oder Paramilitär war, auch Mañe weiß nicht, welche der bewaffneten Gruppen seine Familie auf dem Gewissen hat: „Zuerst hieß es, es sei die Guerilla gewesen, dann wieder nein, es seien Paramilitärs gewesen, dann die Drogenmafia, dann das Militär... Aber im Endeffekt, was man weiß ist, dass sie tot sind, mein Bruder. So wie ich.“1357 Das Zitat bringt die in Kapitel III.4.3 formulierte These auf den Punkt, dass viele kolumbianischen Filme der neuen Generation die politische Dimension des Konfliktes zugunsten einer Konzentration auf die Perspektive der Opfer in den Hintergrund stellen. La sombra del caminante betont, dass letztendlich weder durch die Identifizierung der Täter noch durch deren Bestrafung, noch durch eine staatliche Entschädigung die Verluste wettgemacht werden können, die die Opfer erlitten haben. La sombra del caminante schafft jedoch nicht nur Momente der Einfühlung in das Schicksal der Opfer, sondern regt den Zuschauer auch zum Nachdenken an. Juana Suárez, die den Film wegen seiner „tiefen Reflexion […] über die Nation in der Krise“1358 auch mit Tomás Gutiérrez Aleas Memorias del subdesarrollo (1968, Kuba) vergleicht,1359 bezeichnet Guerras Erstlingswerk als „ästhetische[n] Vorschlag über das Wie des Schauens“1360. Anstatt den bewaffneten Konflikt, z.B. in Form von Rückblenden, zu inszenieren, wie dies z.B. in La primera noche (Luis Alberto Restrepo, 2003) der Fall ist,1361 lässt der Regisseur den Zuschauer an den Reflexionsprozessen der Protagonisten über ein 1357 | Orig.: „Dijeron primero que eran guerrillos, después que no, que paracos, después que narcos, después que el ejercito... Pero al fin de cuentas, lo que uno sabe es que están muertos, hermano. Como yo.“ 48:15-48:33. 1358 | Orig.: „reflexión profunda […] sobre la nación en crisis“. Suárez 2009 (1), 192. 1359 | Siehe Suárez 2009 (1), 192. 1360 | Orig.: „propuesta estética sobre cómo mirar“. Suárez 2009 (1), 202 [Hervor­h ebung im Original]. 1361 | Vgl. Kapitel III.3.2.

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Land teilhaben, „in dem sich jeder, auf die eine oder andere Weise, in den Folgen der Violencia wiederfindet“1362 . Tatsächlich ist La sombra del caminante ein ruhiger, entschleunigter Film, der gezielt Momente der Reflexion für den Zuschauer kreiert. Immer dann, wenn die beiden Protagonisten über ihre persönlichen Erfahrungen mit der Gewalt sprechen, setzt die Handlung aus, und die Dialoge werden von einem melancholischen Piano-Motiv1363 abgelöst. Auf der Bildebene werden diese Momente häufig durch den Übergang von nahen oder großen Einstellungen zu Totalen oder Panorama-Einstellungen markiert, die die Protagonisten klein vor der grauen Kulisse der Großstadt oder des wolken­verhangenen Himmels abheben und den Zuschauer von der Handlung distanzieren. Da die Musik die Innenwelt der Protagonisten, ihren Schmerz und ihre Hoffnungslosigkeit, wiederzugeben scheint, werden die Reflexions­ momente nicht als Brüche innerhalb der Handlung empfunden. Vielmehr versetzen sie den Zuschauer in eine Position, aus der er die Reflexionsanstöße der Protagonisten aufnehmen und weiterführen kann. Suárez zufolge wird der Originalton der Dialoge immer dann zugunsten der einsetzenden Musik zurückgenommen, wenn die Möglichkeit der Kommunikation betont werden soll.1364 Die Musik steht somit auch für die Tabuisierung des landesinternen Konflikts, sie wird zum Stellvertreter für das nicht Gesagte oder Unsagbare, das zwischen den Protagonisten steht. Guerra macht mithilfe des Musikeinsatzes auf das Phänomen des kollektiven Schweigens aufmerksam, das Castillejo als Allgemeinzustand und Überlebenstaktik der Kolumbianer bezeichnet hat.1365 Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Regisseur auf diese Weise Kritik an der Haltung der Regierung Uribe äußert, welche die Existenz eines politischen Konflikts in Kolumbien ebenso verleugnet wie die Realität von über vier Millionen Opfern. Die fiktionale Ebene – die Handlungen der Protagonisten und die durch sie angestoßenen Reflexionen – wird in La sombra del caminante durch eine dokumentarische Ebene ergänzt. Der Film spielt überwiegend an real existierenden urbanen Schauplätzen, in die beim Dreh kaum eingegriffen wird. Indem der Regisseur die Hauptstadt zu einem weiteren Protagonisten des Films macht, lässt er den urbanen Raum für sich selbst sprechen.1366 Aus diesem Ansatz he1362 | Orig.: „donde todo el mundo se encuentra, de un modo u otro, en las consecuencias de la violencia“. Suárez 2009 (1), 193. 1363 | Der Soundtrack des Films (Original Motion Picture Soundtrack) setzt sich aus klassischen Musikkompositionen von Richard Córdoba [u.a.] zusammen. Das Piano-­Motiv, das in den Reflexionsmomenten am häufigsten eingesetzt wird, heißt „Sonata en la Mayor Andantino“. 1364  | Siehe Suárez 2009 (1), 193. 1365 | Siehe Castillejo Cuéllar 2000, 17. 1366 | Siehe Suárez 2009 (1), 193.

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raus resultiert auch Guerras Entscheidung für den Dreh in digitalem Video, denn die Aufnahmen an den Originalschauplätzen und die Interaktion mit den Passanten wären mit der weitaus größeren analogen Filmkamera schwer zu realisieren gewesen. Der Film sollte den Charakter eines fotografischen Doku­ments annehmen, das sich gleichzeitig über das Konkrete erhebe: „Ich wollte, dass der Film sehr nackt und sehr direkt sein würde. Ich glaube, dass das Schwarz-Weiß diese Straße [die Carrera 7], die du jeden Tag in Bogotá siehst, in etwas verwandelt, das nicht nur diese Straße ist, sondern etwas darüber hinaus.“1367 Bereits in der Exposition1368 wird der reale urbane Raum in die Film­ handlung integriert, als Mansalva an seinem ersten „Arbeitstag“ auf der Suche nach Kundschaft die geschäftige Carrera 7 hinabgeht. Neben den Verkäufern und Passanten, die mehrheitlich auf die skurrile Erscheinung des mit einer schwarzen Pilotenbrille maskierten Stuhlträgers (bzw. auf das Filmteam) reagieren, hebt die dokumentarisch registrierende Handkamera insbesondere den Gang des Protagonisten hervor: die erste Einstellung1369 zeigt eine Detail­ aufnahme seiner Füße und seines Schattens auf dem betonierten Untergrund der Straße und verweist so auf den Titel des Films („Der Schatten des Wanderers“), wobei der Schatten ein Sinnbild für die dunkle Vergangenheit des Flüchtigen sein könnte. Die Präsenz dieses „Schattens“, den er durch den Neu­anfang abzuschütteln versucht, wird bei der Inszenierung seines Gangs durch die Straßen mithilfe von Verfremdungseffekten hervorgehoben, die immer dann einsetzen, wenn die Kamera Mansalvas Subjektive wiedergibt. Die Auf­nahmen der gaffenden Passanten, der Verkäufer und deren Waren werden in Zeitlupe abgespielt, die Geräusche der Menschenmenge, der vorbeifahrenden Autos, einer schlagenden Kirchturmuhr und eines bellenden Hundes werden mit Hall unterlegt und mit nicht diegetischen Geräuschen vermischt, z.B. dem Flügelschlagen auffliegender Vögel oder einzelnen dissonanten Tönen1370. Mansalvas Innenwahrnehmung, die durch die Verfremdungseffekte angedeutet wird, wird dem lebendigen Treiben auf der Straße, welches mit objektiver Kamera wiedergegeben wird, kontrastiv gegenübergestellt. Mansalva, so suggeriert die Inszenierung, ist in dieser Stadt und in dieser Gesellschaft ein Fremdkörper. Die Dienstleistung, Leute auf seinem Rücken zu befördern, 1367 | Orig.: „Me interesaba que la película fuera muy desnuda y muy directa. Me parece que el blanco y negro convierte esa calle que ves todos los días en Bogotá en algo que no es sólo esa calle sino que es algo más.“ Figueroa 2004. 1368 | 01:56-04:08. 1369 | 01:56-02:03. 1370 | Diese Geräusche werden in der Sequenz wieder aufgenommen, in der Mañe nach dem Genuss von Mansalvas Tee halluziniert und das Massaker in symbolisch aufgeladenen Traumbildern erneut durchlebt (31:03-32:53).

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symbolisiert den niedrigen Stellenwert des vom Lande Vertriebenen innerhalb der modernen städtischen Klassengesellschaft, die ihn als öffentliches Transportmittel akzeptiert. Der Akt des Tragens ist für Mansalva auch ein Akt der Buße: das zentner­ schwere Gewicht der Menschen auf seinen Schultern steht für das Gewicht der Schuld, die er durch den Mord an unzähligen Menschen auf sich genommen hat. Mansalvas Tätigkeit ist jedoch nicht ausschließlich metaphorisch zu deuten, denn die Idee für den ungewöhnlichen Beruf entspringt einer Kindheits­ erinnerung des Regisseurs, in dessen Heimatdorf früher tatsächlich Personen von menschlichen Trägern über den Fluss befördert wurden.1371 Durch den Transfer dieses regionalen Berufs auf den Kontext der Metropole, wo Mansalvas Angebot Irritation hervorruft, spielt Guerra einerseits auf die durch massive Binnenflucht hervorgerufenen Umsiedlungsprozesse an, andererseits auf die regionalen Unterschiede, auf das infrastrukturelle Gefälle zwischen Stadt und Land, und somit auf die faktische Abwesenheit der von Uribe proklamierten „Nation“.1372 Die Tatsache, dass die Dienstleistung in Guerras Inszenierung tatsächlich von Teilen der sogenannten modernen Gesellschaft beansprucht wird (einer von Mansalvas Passagieren ist wie ein Büroangestellter mit Hemd und Krawatte gekleidet), kann als Hinweis für eine Kritik an klassistischen und menschenverachtenden Tendenzen innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft gedeutet werden. Die Kameraarbeit in La sombra del caminante zeichnet sich durch subjektive Einstellungen sowie Großaufnahmen und Detailaufnahmen aus, die häufig symbolisch bzw. metaphorisch gedeutet werden können. Die vielen Details, denen der Regisseur seine Aufmerksamkeit schenkt (z.B. die Faltfiguren aus Papier, die Mañe zu verkaufen versucht, das Blechgefäß, in dem der Stuhl­träger seinen lebenserhaltenden Tee kocht, die selbstgemalten Schilder, mit denen beide Protagonisten ihre Dienstleistungen anbieten), bieten dem Zuschauer einen intimen Zugang zu den Protagonisten, ihren Lebens­bedingungen und -gewohnheiten. Durch das nachhaltige Interesse, mit dem die Kamera die Tätigkeiten der Protagonisten verfolgt und somit ihren Wert betont, wird ein zentrales Thema des Films vermittelt: Die Würde des Menschen ist auch angesichts schwieriger Lebensumstände – oder einer individuellen Schuld – nicht antastbar. Mañe, der wegen seiner Behinderung keine Arbeit findet und zahlreiche Erniedrigungen erleidet, fasst diese Botschaft in Worte. Als ihm Doña Marelvis, die Schwester seines Vermieters Sargento James1373, nahelegt, in ein 1371  | Siehe Moreno Sarmiento 2004. 1372 | Vgl. Kapitel III.4.1. 1373 | Sargento James ist ein vom Dienst suspendierten Sergeant der staatlichen Armee, der ebenfalls in das Massaker in Mañes Dorf involviert war.

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Auffanglager für Vertriebene zu gehen, damit sich um ihn gekümmert werde, erwidert Mañe entschieden: „Ich habe meine Würde. Es mag sein, dass ich sonst nichts habe, aber ich habe meine Würde.“1374 Wie bereits in der Analyse der Exposition angedeutet, sind Detail­aufnahmen der Schritte der Figuren ein wiederkehrendes Motiv in La sombra del caminante. Wir erkennen die Last der Passagiere auf dem Rücken des Stuhlträgers an seinem schleppenden, stockenden Gang, wir identifizieren Mañe aufgrund seines humpelnden Gangs inmitten der Menschenmassen. Die mühsamen Schritte der Protagonisten stehen sinnbildlich für den schweren Weg der Opfer des Konflikts, die weder vom Staat noch von ihren Mitbürgern Unterstützung erhalten: „In diesem beschissenen Land hilft keiner keinem.“1375 Das Motiv des fehlenden – oder zumindest teilnahmslosen – Staates, das sich seit den 1960er Jahren in der Mehrzahl der kolumbianischen Filme wiederfindet, ist in den Filmen der jüngsten Schaffensphase weiterhin präsent.1376 Auch der jeweilige Untergrund, über den die Protagonisten gehen und der durch die Detailaufnahmen der Beine besonders hervorgehoben wird, kann symbolisch gedeutet werden. Der lange, steile Weg zu Mansalvas Lager, der über grasige, erdige Pfade führt, verdeutlicht die Distanz zwischen den beiden Geflohenen und der städtischen Gesellschaft: ihre Erfahrungen mit dem bewaffneten Konflikt machen sie zu Aussätzigen, ihre Reintegration in die zivile Gesellschaft – angestrebt in Uribes „Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden“1377 – erscheint nicht praktikabel. Auf der Tonebene wird der Kontrast zwischen Stadt und Land verstärkt, indem die Lautstärke in den Sequenzen außerhalb der Stadt stark zurückgenommen wird, während der Ton in den Stadt­sequenzen überproportional laut oder verfremdet ist. Die traumatischen Erinnerungen an das Massaker, die zuweilen über Mañe hereinbrechen, werden mithilfe von symbolischen Naturbildern wie Blitzen, Platzregen oder stechender Höhensonne zum Ausdruck gebracht, wie z.B. in der Sequenz, als Mañe, vom Tee des Stuhlträgers berauscht, halluziniert:1378 Die Kamera fährt dicht über den regennassen Betonboden. Dort sind zunächst Gewehr­patronen, dann ein Revolver, die Hand eines Toten, ein Messer sowie aufschlagende Regen­tropfen zu sehen. Unheilvolle Töne begleiten die Bildmontage, die symbolisch den Verlauf des Massakers beschreibt. Die Kamera schwenkt aufwärts auf Mañe (T), der mit ausgebreiteten Armen, der Kamera den Rücken zuwendend, im 1374 | Orig.: „Yo tengo mi dignidad. Yo puedo no tener nada, pero tengo mi dignidad.“ 06:07-06:11. 1375 | Orig.: „En este hijodeputa país nadie ayuda a nadie.“ 23:20-23:22. 1376 | Auch Retratos en un mar de mentiras, Pequeñas voces und Los colores de la montaña bestätigen diese These. 1377 | Siehe Kapitel III.4.1. 1378 | 31:03-32:53.

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Gegenlicht auf den grell erleuchteten Horizont zuläuft, der sich am Ende eines Feldweges abzeichnet. Das beinahe weiße Sonnenlicht, mit dem Mañe zu verschmelzen scheint, könnte seinen (seelischen) Tod symbolisieren. Es folgt eine nahe Einstellung Mañes, der mit geschlossenen Augen die Regentropfen mit dem Mund auffängt – ein Bild, das neuen Lebensmut oder Hoffnung verkörpern könnte. Es folgt eine in Zeitraffer abgespielte Aufnahme fliegender Wolken am Himmel, gefolgt von einer Schar schwarzer Vögel, die von rechts nach links das Bild kreuzen – ein filmsprachliches Mittel, das für gewöhnlich Gefahr andeutet und ein Vorzeichen dafür darstellen könnte, dass Mañes Leben, oder zumindest sein Lebensmut, erneut bedroht ist. In der bereits in einem anderen Kontext gedeuteten Sequenz, in der die Prota­gonisten zum letzten Mal aufeinandertreffen, wird der bewaffnete Konflikt visuell mit dem ländlichen Raum in Verbindung gebracht. Als Mansalva über den Tod von Mañes Familie berichtet, liegt er auf dem Boden, eine Groß­ aufnahme (Topshot)1379 zeigt sein Gesicht vor dem grasbewachsenen Unter­ grund der andinen Berglandschaft, die gleich hinter dem Stadtzentrum beginnt. Es folgt eine Detailaufnahme seines Ohres,1380 aus dem Blut auf die Erde tropft. Während Mansalvas Geständnis blickt Mañe den Hang hinab in Richtung Stadt (HT). Er wendet sich nicht nur vom Mörder seiner Familie, sondern im übertragenen Sinne auch vom Land ab, wo sich das Massaker ereignet hat. Als Mansalva fortgeht, um allein im Wald zu sterben, verfolgt die Kamera seine Schritte (D).1381 Sie fährt über den grasbewachsenen Boden, kehrt wieder um und zeigt die Blutspur auf der Erde, die von Mansalvas Kopfverletzung herrührt. Der blutbefleckte Waldboden wird zum Symbol für den Krieg auf dem Land, an dem Mansalva aktiv beteiligt war. Als das melancholische Piano-Leitmotiv einsetzt, das die Reflexions­ momente des Films begleitet, wendet sich die Kamera Mañe zu. Er steht mit dem Rücken zum sich in entgegengesetzter Richtung entfernenden Stuhl­ träger (T), was die Unmöglichkeit ihrer Freundschaft verbildlicht. Es folgt eine Großaufnahme Mañes vor dem waldigen Hintergrund, die seine Tränen zeigt.1382 Er weint, so scheint es, um alles, was er mit dem Land verbindet: um seine Familie, die Gewalt und um seinen einzigen Freund. Es erfolgt ein Schnitt auf eine Totale, die Mañe beim Schaufeln des Grabes vor der Kulisse der nächtlichen Lichter der Großstadt zeigt.1383 Er begräbt, was ihn an Mansalva – und damit an den bewaffneten Konflikt – erinnert, bevor er sich einer ungewissen Zukunft in der im Hintergrund sichtbaren Stadt zuwen1379 | 01:14:23. 1380 | 01:20:23. 1381  | 01:21:38-01:21:56. 1382 | 01:22:05. 1383 | 01:22:24.

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det. Dass er das Video, den Beweis für Mansalvas Taten, nicht begräbt, sondern mit sich nimmt, kann als Statement für die Notwendigkeit der Zementierung von Erinnerung und die Ahndung von Gewaltverbrechen interpretiert werden. Das Video ist ein Beweisstück für Mansalvas Taten, welche – unabhängig von der Frage nach seiner individuellen Schuld – weder in Vergessenheit geraten noch ungesühnt bleiben dürfen. Abermals könnte der Regisseur damit Kritik am umstrittenen „Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden“ üben, welches geständigen Massenmördern Generalamnestien verschafft und somit das Recht der Opfer auf die Aufklärung und Ahndung der erlittenen Menschenrechts­ verletzungen untergräbt. Dem tragischen Ausgang der Freundschaft zum Trotz generiert die Schluss­ sequenz des Films die leise Hoffnung, dass Mañe durch die Konfrontation mit seinem Trauma und der damit verbundenen Entwicklung seiner Persönlichkeit einen Weg gefunden hat, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. Der Film endet, ähnlich wie er begonnen hat, mit dokumentarisch anmutenden Aufnahmen in der Carrara 7, im Herzen Bogotás. Im Gegensatz zur Exposition, in der die Inszenierung Mansalvas Subjektive in verzerrter Weise wiedergibt und so veranschaulicht, dass der „Schatten“ seiner Vergangenheit ihn von den übrigen Menschen trennt, erzählt die Schlussszene1384 von Mañes allmählicher Verschmelzung mit der heterogenen Menschenmasse, und damit von seiner Eingliederung in die urbane Gesellschaft. Die Kamera nimmt zunächst Mañes subjektiven Blick auf (zunächst noch durch Zeitlupe verfremdet), der eine Darbietung von Straßenartisten verfolgt, bei der eine Artistin einen waghalsigen Salto schlägt – ein Sinnbild für den Mut, den Mañe für sein Leben in der Stadt benötigt. Mit objektiver Kamera wird anschließend Mañe gezeigt, wie er mit Mansalvas Pflanze in der Hand weiterhumpelt. Plötzlich hält er inne, nimmt seine Brille ab und steckt sie in die Hemdtasche. Dieser Akt könnte metaphorisch für seinen Entschluss stehen, die städtische Umgebung ‚mit anderen Augen‘ wahrzunehmen und die letzte Barriere zwischen sich und der Stadt niederzureißen. Im selben Moment, in dem Mañe die Brille abnimmt, ertönt ein Saxophon, welches die Kamera erst in der darauf folgenden Einstellung im Bild verortet: es gehört zu einem Straßenmusikanten, der hingebungsvoll auf seinem Instrument improvisiert. Im Gegensatz zur übrigen Musik in La sombra del caminante, die stets einen melancholischen Charakter hat und extra- bzw. metadiegetisch eingesetzt wird1385, handelt es sich hier um diegetische Musik. Das Saxophon-Motiv ist lebhaft und abwechslungsreich, unregelmäßig 1384  | 01:23:35-01:25:36. 1385 | Die Musik in den Reflexions-Momenten ist einerseits extradiegetisch, da sie in der äußeren Handlung nicht motiviert ist, sie könnte aber als metadiegetisch bezeichnet werden, da sie die Emotionen und Gedanken der Protagonisten wiederzugeben scheint.

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und offen. Es beschreibt musikalisch Mañes Neuorientierung: er hat mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und öffnet sich der Gegenwart. Die nächste Einstellung zeigt die Schritte der vorbeiziehenden Menschen, in denen sich die humpelnden Schritte Mañes langsam verlieren (D). Er ist zu einem Teil der Metropole geworden. In der letzten Einstellung, in der das Saxophon auf der Tonebene dominiert und die Atmo – die Geräusche der belebten Straße – allmählich ausgeblendet wird, fährt die Kamera an eine Zeichnung heran (D), die ein Straßenkünstler zum Verkauf auf dem Boden ausgestellt hat. Sie zeigt Mansalva mit seinem Stuhl auf dem Rücken, seiner schwarzen Brille und seinem Sonnenschirm. Auch Mansalvas Geschichte wird so in den Kontext der Metropole eingebettet, in der tausende von Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen aus unter­ schiedlichen Regionen Kolumbiens zusammenkommen. Gleich­zeitig wird mithilfe des Porträts ausgedrückt, dass die individuellen Geschichten im Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner weiterleben und dass sie Spuren hinterlassen, die, so klein sie auch sein mögen, nicht auszulöschen sind. Am Ende des Films betont Guerra so ein letztes Mal die Bedeutung jedes einzelnen individuellen Schicksals für die kollektive Aufarbeitung des inner­kolumbianischen Konflikts.

III.4.3.2 Retratos en un mar de mentiras (dt.: „Bildnisse in einem Lügenmeer“. Carlos Gaviria, 2010, Kolumbien) Wie viele andere kolumbianische Filme der jüngsten Schaffensphase ist auch Retratos en un mar de mentiras1386 ein Erstlingswerk, zumindest im Bereich der Spielfilm-Regie. In anderen Bereichen ist Carlos Gaviria alles andere als unerfahren: der 1956 in Bogotá geborene und in New York studierte Filme­macher hat seit den 1990er Jahren in zahlreichen TV-Serien und Dokumentar­fi lmen Regie geführt und war in kolumbianischen und US-amerikanischen Spielfilmproduktionen – darunter Confidential (Stefani Ames, 1997, USA) – für die Kamera zuständig.1387 Trotz seiner hohen Qualifikation verzichtet er aus politischen Gründen auf eine Bewerbung um Produktionsmittel beim FDC1388 und legt sein Projekt in die Hände des erfahrenen kolumbianisch-­­schweizerischen Produzenten Erwin Goggel, der auch Víctor Gavirias La vendedora de rosas produziert hat.1389 Wie sein Namensvetter Víctor, so möchte auch Carlos Gaviria 1386 | Die Analyse dieses Films beruht auf der digitalisierten Originalfassung. Dieser Film ist nicht im kommerziellen Handel verfügbar. 1387  | Quelle: http://www.proimagenescolombia.com//secciones/cine_colombiano/perfiles/ perfil_persona.php?id_perfil=3882 1388 | Vgl. Kapitel III.4.2. 1389 | Retratos en un mar de mentiras wird ohne Hilfe des FDC fertiggestellt, erhält jedoch Unterstützung beim Vertrieb in Kolumbien. Quelle: http://www.proimagenescolombia.com/ secciones/fdc/estadisticas_fdc.php

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„den Zuschauer an die kolumbianische Realität heranführen“1390 und ihm seine „persönliche Vision des Landes“1391 vermitteln. Letzteres ist durch seine umfassende Autorenschaft in beinahe allen am kreativen Prozess beteiligten Bereichen der Filmproduktion gewährleistet. Gaviria ist nicht nur Regisseur, sondern auch Drehbuchautor und Cutter in seinem Debüt, das auf dem Internationalen Filmfestival von Guadalajara (Mexiko) mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet wird.1392 Retratos en un mar de mentiras bereichert den filmischen Diskurs um die Gewalt in Kolumbien in dreierlei Hinsicht: erstens ist er der erste kolumbianische Film, der das psychische Trauma eines Gewaltopfers sowie den repressiven bzw. evasiven Umgang mit diesem durch das familiäre und gesellschaftliche Umfeld zum zentralen Gegenstand der Handlung macht; zweitens ist er der erste von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommene kolumbianische Kinofilm, in dem paramilitärische Gewalt inszeniert wird1393; drittens übt er systematisch und explizit Kritik an der Politik der Regierung Uribe, insbesondere an deren touristischer Propaganda, der fehlenden Anerkennung und Entschädigung der Opfer sowie an der „Parapolitik“1394. Die Analyse des Films soll sich daher insbesondere auf die Herausarbeitung dieser drei Aspekte konzentrieren. Carlos Gaviria erzählt in seinem Debüt die Geschichte einer jungen Frau, Marina, die als kleines Mädchen bei einem paramilitärischen Massaker in ihrem Heimatdorf an der nordwestlichen Atlantikküste ihre Familie verloren hat und seither mit ihrem cholerischen Großvater, der das Massaker ebenfalls überlebt hat, in einer ärmlichen Hütte in der Peripherie der kolumbianischen Hauptstadt lebt. Marina ist schwer traumatisiert, spricht nicht und leidet unter Gedächtnisverlust. Von den verbliebenen Familienmitgliedern, die um ihr Schicksal wissen und ebenfalls von ihren Höfen vertrieben worden sind, erhält sie jedoch weder Verständnis noch emotionalen Halt. Ihre Tante und ihr Groß­ vater benutzen Marina als billige Haushaltskraft, beschimpfen sie wegen ihrer 1390 | Orig.: „lleva al espectador a ver la realidad colombiana“. Quelle: http://www. pr oimagenescolombia.com//secciones/cine_colombiano/per f iles/per f il_ per sona. php?id_perfil=3882 1391  | Orig.: „mi visión personal del país“. Quelle: http://www.proimagenescolombia. com//secciones/cine_colombiano/perfiles/perfil_persona.php?id_perfil=3882 1392 | Vgl. Kapitel I.1. Auch auf der 60. Berlinale war der Film in der offiziellen Sektion „Generation“ zu sehen. Quelle: http://www.proimagenescolombia.com//secciones/cine_ colombiano/perfiles/perfil_persona.php?id_perfil=3882 1393 | Auch im 2006 vollendeten Spielfilm Heridas (dt.: „Verletzungen“. Roberto Flores) steht die paramilitärische Gewalt im Vordergrund, er wurde in Kolumbien jedoch nicht kommerziell vertrieben und fand dadurch nur ein kleines Publikum. 1394 | Vgl. Kapitel III.4.1.

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Verhaltensauffälligkeiten und schrecken auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück.1395 Auch ihr Cousin Jairo (Julián Román), der im Laufe des Films ihr Vertrauen gewinnt, entschuldigt Marinas anormales Verhalten gegenüber Dritten meist damit, sie sei dumm oder verrückt, anstatt die wahren Hinter­gründe zu benennen. Die Erinnerungen an ihre Kindheit sowie an den Ursprung ihres Traumas, welche in Form von Erinnerungs-Flashbacks in die Handlung eingestreut werden, haben in Marinas sozialem Umfeld – das macht der Film sehr deutlich – keine Daseinsberechtigung. Ihr Schweigen sowie ihre Teil­amnesie erscheinen daher als logische Folge der systematischen Tabuisierung der Umstände, die zu ihrer Traumatisierung geführt haben. Dafür, dass es Marina im Gegensatz zu Jairo, der ebenfalls mit Schicksalsschlägen fertig werden muss1396, nicht gelingt, sich an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen, wird sie von ihrem Umfeld bestraft, denn ihre Stummheit, ihre Freudlosigkeit und ihre Passivität erinnern die übrigen Familienmitglieder tagtäglich an die Realität, die sie auszublenden versuchen. Während die Tante sich in eine Fixierung auf überflüssige materielle Güter flüchtet1397, sucht der Großvater Erlösung im Alkoholexzess1398. Jairos Taktik zur Ausblendung und Verschleierung unangenehmer Realitäten wird besonders anschaulich in Szene gesetzt. Bereits in der Exposition1399, in der auch die geistesabwesende Marina und ihre rabiate Tante, Jairos Mutter, als Figuren eingeführt werden, wird deutlich, dass Jairo sich sein Leben in einer künstlichen Scheinwelt – im Titel des Films als „Lügenmeer“1400 bezeichnet – eingerichtet hat: auf der Terrasse des Hauses, wo Marina, in Erinnerung an ihre Kindheit am wirklichen Meer schwelgend, die Wäsche der Tante zum Trocknen aufhängt, macht Jairo fotografische Auf­ nahmen mit einem weiblichen Modell in Bikini, welches vor einer zu die1395 | Der Großvater geht in einem Anflug von Jähzorn mit der Machete auf Marina los und wirft eine Glasflasche nach ihr (08:19-09:39), die Tante stößt Marina unsanft, als sie bei der Beerdigung ihres Opas in einen Tagtraum verfällt (13:27-14:02). 1396 | Auf ihrer Reise im Auto erzählt Jairo Marina („um das Eis zu brechen“), dass sein Vater die Familie verlassen hat, als er noch ein Kind war, und dass er sich früh alleine durchschlagen musste. 1397 | Das von ihr organisierte, verhältnismäßig luxuriöse Begräbnis des Großvaters, das in hartem Kontrast zum schmutzigen, ärmlichen Viertel und seinen Bewohnern steht, sowie die teure Kleidung, die sie zu diesem Anlass trägt, sind Indizien, die auf eine solche Fixierung schließen lassen. 1398 | Die Erinnerung an die ermordete Familie, die er mithilfe eines verblichenen Familien­ fotos am Leben erhält, ist für den Großvater so schmerzhaft, dass sie Wahn­v orstellungen auslöst: im Alkoholrausch jagt er mit einer Machete bewaffnet die Täter, die er unter seinem Bett vermutet. 08:19-09:39. 1399 | 00:12-05:22. 1400 | Orig.: „mar de mentiras“.

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sem Zwecke aufgestellten Kulisse posiert, die einen idyllischen Sandstrand mit Palmen zeigt. Unecht ist jedoch nicht nur der abgebildete Strand, wie ein Aufwärts­schwenk der Kamera über den Rand der Kulisse hinaus verrät, der eine totale Ansicht des wahren Schauplatzes der Handlung – eine triste Ziegelbausiedlung in der Peripherie Bogotás – preisgibt1401, unwahr sind auch die Intentionen des Fotografen, der das junge Mädchen, das für ein professionelles Model zu rundlich scheint, lediglich verführen möchte. Der Zuschauer nimmt die Sequenz, in der Jairo das Modell auffordert, sich mithilfe eines Schnapses, ein paar Lockerungsübungen und seinen Küssen zu entspannen, aus der Perspektive Marinas wahr, die den Vorgang von ihrem Standpunkt zwischen den aufgehängten Leintüchern aus beobachtet. Die Reaction-Shots auf Marina (G) machen deutlich, dass sie beim Anblick der aggressiv wirkenden Annäherungs­versuche ihres Cousins Angst und Verachtung, aber auch Neugier empfindet. Als sie entdeckt wird, verlässt sie das Dach und begibt sich ins Innere des Hauses. Von Neugier getrieben öffnet sich die Tür zu Jairos Zimmer, die einen Spalt breit offen steht und den Blick auf ein farbiges Poster mit einem halbnackten Pin-up-Girl freigibt. Als Marina eintritt, erfolgt ein Perspektivwechsel der Kamera, welche sie nun von vorne in einer halbnahen Einstellung zeigt.1402 Im Hintergrund an der Zimmerwand hängen zwei weitere, größere Poster mit Pin-up-Girls, deren lüsterne Blicke und aufreizende Körperhaltungen einen Kontrast zu Marinas scheuem, ernsten Ausdruck und ihrem von weiten, zerlumpten Kleidern verhüllten Körper bilden. Die nächste Einstellung1403 gibt Marinas subjektiven Blick wieder, der auf Jairos Bett fällt und die dort ausgebreiteten Fotos verschiedener Bikini-Mädchen vor der Strandkulisse einfängt. Interessiert betrachtet Marina eine der Fotografien (D). Von der Detailaufnahme des Fotos ausgehend setzt eine Film- und Fotomontage ein, die illustriert, wie aus den Aufnahmen verschiedener posierender Mädchen vor der Kulisse die Fotos entstehen, die Marina betrachtet. Gleichzeitig mit den Anfangscredits setzt der Titelsong („¿Adónde van?“1404) des prägnanten Soundtracks ein, der den Film begleitet. Dieser stammt überwiegend aus der Feder der kolumbianischen Sängerin Diana Hernández alias „María Mulata“, deren musikalischer Stil sich durch den Einsatz traditioneller Rhythmen und Instrumente der kolumbianischen Karibikküste auszeichnet. Der Titelsong lässt sich in Verbindung mit den Bildern der posierenden Mädchen als Anspielung auf die Verleugnung des landesinternen Konflikts und seiner Opfer durch die Regierung Uribe interpretieren: die Explizitheit des mit großer Emotionalität vorgetragenen Songtextes konterkariert 1401 | 02:29. 1402 | 03:21. 1403 | 03:24. 1404 | Dt.: „Wohin gehen sie?“.

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die Bilder des vermeintlich idyllischen Kolumbiens (hier symbolisiert durch die Strand­k ulisse und die unbekümmerten Mädchen und Frauen), die von der Regierung zur Image-Verbesserung des Landes verbreitet werden:1405 „Wohin führen die Spuren, die zurückgeblieben sind? Was sagt uns das Wasser mit seinem Lied? […] Wohin gehen die Stimmen, die ich in meinen Träumen höre? Wer versteckt, was sie zum Schweigen gebracht hat? […] Wohin gehen die Träume, die durch das Weggehen vergessen wurden? Wohin führen die Fußspuren, die vom Schmerz verfolgt werden? Wohin gehen die Seelen, die so viel Leben mit sich gerissen haben? Wohin gehen die Tränen, die aus Wut vergossen wurden?“1406

Die in dieser Sequenz vollzogene Darstellung der Mädchen als willige bzw. käufliche Lustobjekte – das von Jairo bezirzte Model folgt ihm schließlich aufs Zimmer, weil es sich dadurch Chancen auf eine erfolgreiche Karriere verspricht – spielt deutlich auf den Slogan „Colombia es pasión“1407 an, der insbesondere ausländische Touristen anspricht und, neben seiner christlichen Konnotation, eine klare erotische Konnotation aufweist. Gleichzeitig wird das propagierte Bild des idyllischen Kolumbiens durch die Ärmlichkeit des Schau­ platzes und die Mittelmäßigkeit des Fotografen sowie des Modells dekonstruiert. Der Traum von Geld, Ruhm und Glamour, dem Jairo und das Modell nacheifern, scheint ebenso weit von diesem Schauplatz entfernt wie das echte Meer, zu dem Marina in ihren Erinnerungen zurückkehrt. Auch der propagandistische Charakter von Uribes Kampagnen wird in der Exposition hervorgehoben und persifliert: Jairo, der mit dem befangenen Gesichts­ausdruck seines Modells nicht zufrieden ist, fordert das Mädchen auf ihm nachzusprechen: „Ich fühle das Meer.“1408 Als diese Maßnahme nicht den gewünschten Effekt zeigt, muss das Mädchen den Satz brüllen: „Ich fühle das Meer, ich fühle das Meer!“ Doch die autosuggestive Methode scheitert erneut, zum einen angesichts der Kälte, die die leicht bekleidete Frau auf dem andinen Hochplateau erleiden muss, zum anderen an der Tatsache, dass sie noch nie das Meer gesehen hat, wie sie beleidigt und resigniert erklärt: „Was kann ich 1405 | Siehe Kapitel III.4.1. 1406 | Orig.: „¿Adónde van las huellas que atrás quedaron? / ¿Qué nos dice el agua con su canción? […] / ¿Adónde van las voces que oigo en mis sueños? / ¿Quién oculta aquel que las silenció? […] / ¿Adónde van los sueños que se olvidaron trás la partida? / ¿Adónde van las pisadas perseguidas por el dolor? / ¿Adónde van las almas que han arrastrado con tanta vida? / ¿Adónde van las lagrimas derramadas por el rencor?“ 03:28-04:30. 1407 | Dt.: „Kolumbien ist Leidenschaft“. Vgl. Kapitel III.4.1. 1408 | Orig.: „Siento el mar.“ 01:56-02:05.

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dafür, wenn ich das Meer nicht kenne!“1409 Indem der Regisseur einerseits die Spaltung des Landes in seine Regionen und andererseits die Exklusivität der Reisemöglichkeit betont, entlarvt er sowohl den Mythos der geeinten Nation als auch den des verbreiteten Tourismus als Lüge. Marina, deren Name „zum Meer gehörend“ bzw. „am Meer lebend“1410 bedeutet, wird den ganzen Film hindurch mit dem Meer, und allgemein mit dem Element Wasser, in Verbindung gebracht. Dies geschieht einerseits über die im Laufe des Films an Sättigung gewinnenden Blautöne ihrer Kleidung und andererseits über ihren häufigen physischen Kontakt mit dem Element. Im Gegensatz zu Jairo und den anderen Familienmitgliedern, die das „Lügen­ meer“ als ihren Lebensraum akzeptieren und aktiv zu dessen Erhalt beitragen, ist Marina die Repräsentantin des „echten“ Meeres, im übertragenen Sinne der Wahrheit und der Reinheit. Bereits die erste Einstellung des Films1411 zeigt sie beim Wäschewaschen. Auf eine Detailaufnahme des Seifenschaums, der sich im Wasser der Waschschüssel wellenförmig bewegt,1412 folgt ein Match-Cut auf eine Detailaufnahme der Gischt auf der Oberfläche des Meeres,1413 in dem Marina und ihre Geschwister als Kinder spielen. Es handelt sich dabei um einen der Flashbacks, die den Zuschauer an Marinas Erinnerungen teilhaben lassen. Wie in diesem Beispiel erfolgen Marinas Erinnerungen meist assoziativ auf ein Ereignis in der Gegenwart. Als Marina das Haus der Tante verlässt, gerät sie in einen Wolkenbruch, der sie bis auf die Haut durchnässt; auch in ihrem ärmlich eingerichteten Zimmer ist es nass, da das mit Plastikplanen bespannte Dach dem Regen nicht standhält. Stefan Bauer zufolge ist Wasser „nicht nur im physischen Sinn lebens­notwendig, sondern steht symbolisch auch für das geistige Leben und Überleben“1414. Wasser kann jedoch auch mit Gefahr (die Möglichkeit des Ertrinkens), mit Zerstörung (Wasser kann Dinge einreißen oder mit sich reißen) oder mit Bestrafung (z.B. als Sintflut) assoziiert werden.1415 In Bogotá, fernab ihrer Heimat, droht Marina tatsächlich mental und emotional ‚unter­ zugehen‘, zu ‚ertrinken‘. Je näher sie im Laufe der Reise, die sie mit Jairo in dessen klapprigem Renault antritt, dem Meer und damit ihrer Heimat kommt, desto größer werden ihr Erinnerungsvermögen und ihr Selbstbewusstsein. Im übertragenen Sinne lernt Marina durch die Rückkehr zum Meer (und damit 1409 | Orig.: „¡Yo que culpa si no conozco el mar!“ 02:23-02:26. 1410  | Quelle: http://www.namen-namensbedeutung.de/Namen/Namen-Marina.html 1411  | 00:12-00:18. 1412  | 01:24. 1413  | 01:26. 1414 | Bauer 2006, 43. 1415  | Siehe Bauer 2006, 43.

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zu ihren Wurzeln) zu „schwimmen“, sich im „Meer der Lügen“ zu behaupten ohne unterzugehen. Am Ende des Films offenbart sich auch die zerstörerische Kraft des Meeres, denn im karibischen Heimatdorf angekommen werden Marina und Jairo von Paramilitärs entführt, die verhindern wollen, dass sie ihr rechtmäßig geerbtes Land zurückfordern. Jairo, der durch seinen Leichtsinn maßgeblich hierzu beigetragen hat, verhilft Marina zur Flucht und muss dafür mit dem Leben bezahlen. In der Schlusssequenz übergibt Marina Jairos Leichnam den Wellen des Meeres, die ihn fort tragen, während Marina im flachen Wasser stehend zurückbleibt.1416 Zuletzt wird auch Jairo, der Marina kurz vor seinem Tod aufrichtig um Verzeihung bittet, der grausamen Realität gewahr, die sich hinter der Kulisse der scheinbaren Idylle verbirgt. Er stirbt in Erkenntnis der Wahrheit, symbolisiert durch das Eintauchen in das „echte“ Meer, im Kontrast zur Meereskulisse, dem „Lügenmeer“, vor deren Hintergrund seine Figur in der Exposition eingeführt wurde. Marinas Vereinigung mit dem Meer könnte hingegen einen Neubeginn symbolisieren, denn Wasser ist nicht nur ein Symbol für Leben und Überleben, sondern auch für Erneuerung.1417 Durch die Rückkehr zum Ort ihrer Kindheit erlangt Marina wieder, was sie verloren hatte: ihre Erinnerung, ihre Identität sowie die Papiere, die sie als Erbin des Landes identifizieren, von dem sie gewaltsam vertrieben worden ist. Retratos en un mar de mentiras ist häufig als Roadmovie bezeichnet worden.1418 Tatsächlich weist der Film Kennzeichen des Genres auf, denn er handelt von einer Reise, die als Metapher für die Suche nach Freiheit und Identität der Protagonisten interpretiert werden kann.1419 Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte einer gemeinsam durchlaufenen Initiation mit unterschiedlichem Ausgang: auf ihrem weiten Weg von Bogotá an die Küste dringen die beiden Protagonisten immer tiefer ins Konfliktgebiet und gleichzeitig in ihre Erinnerungen vor. Jairo gelangt durch die Gewalterfahrungen im Laufe der Reise vom Zustand der Verblendung zur Einsicht, für die er tragischer Weise mit dem Leben bezahlt. Bei Marina hingegen bewirkt die Konfrontation mit der Gewalt die Rückkehr ihrer Erinnerung und damit die Bewältigung ihres Traumas. Im Gegensatz zu Jairo, der an der Gewalt stirbt, erwacht Marina gewissermaßen zum Leben, denn das Bewusstsein über die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit befreit sie aus ihrer Starre. Die hier skizzierte Ent1416  | 01:24:26-01:25:20. 1417 | Vgl. Bauer 2006, 43. 1418  | Dieser Ansicht ist z.B. der kolumbianische Filmkritiker Oswaldo Osorio. Quelle: http:// www.cinefagos.net/index.php?option=com_content&view=article&id=754:retratos-­e n-­u nmar-de-mentiras-de-carlos-gaviria&catid=16:cine-colombiano&Itemid=38 1419  | Diese Eigenschaft wird dem Roadmovie, einem ursprünglich nordamerikanischen Genre, laut per Definition zugeschrieben. Siehe Stiglegger 2002, 514.

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wicklung der Hauptfiguren erfolgt allmählich, kontinuierlich und parallel und lässt sich anhand von Schlüsselszenen nachvollziehen, die im Folgenden zur Veranschaulichung herausgegriffen werden sollen: Der ungleiche Ausgangspunkt der beiden Charaktere wird in der ersten Sequenz, in der sie gemeinsam mit physischer Gewalt konfrontiert werden,1420 veranschaulicht: Nach der Beerdigung des Großvaters, der in Folge eines Erdrutsches in seiner einstürzenden Hütte den Tod findet1421, soll Marina Jairo beim Fotografieren assistieren, um zur Finanzierung der geplanten Reise beizutragen. Auf einem belebten Marktplatz wird eine gemalte Kulisse einer Wüsten­ landschaft aufgestellt, vor der Passanten für ein Erinnerungsfoto posieren können. Während Jairo mit erheiternden Sprüchen die Kundschaft animiert, erkundet Marina, die in Gedanken bereits abgeschweift ist1422, den bevölkerten Marktplatz. Ihre subjektive Sicht wiedergebend, fängt die Kamera Arme, Verkrüppelte und Kranke auf der Suche nach einer Verdienstmöglichkeit ein. Der Kontext legt nahe, dass es sich bei diesen Menschen ebenfalls um Vertriebene handeln könnte, die in der Hauptstadt Zuflucht suchen. Abermals Marinas Subjektive wiedergebend, schwenkt die Kamera zügig von der halbtotalen Ansicht eines verkrüppelten Mannes weg, als ertrage sie den erschütternden Anblick nicht.1423 Marinas Blick streift weiter über eine Reihe vollbusiger Schaufensterpuppen, die hautenge Tops und T-Shirts zur Schau tragen, womit erneut auf den Kontrast zwischen der Wirklichkeit (der allgegenwärtigen Not der Vertriebenen) und dem „Lügenmeer“ (der sexualisierten Konsumwelt) angespielt wird. Marinas Interesse gilt einem Stand mit Heiligenfiguren1424 und anderen Gegenständen mit christlicher Glaubenssymbolik, an dem sie fasziniert verweilt, bevor sie zu Jairos Stand zurückkehrt. In diesem Moment fängt die Kamera einen Vorfall ein, der sich ein paar Meter neben der Fotowand ereignet: ein Junge entreißt einer elegant gekleideten Dame die Handtasche und versucht durch die Marktstände zu entkommen. Am Fotostand wird er von Jairo und zwei seiner Kunden gefasst und überwältigt. Die Männer rufen die Polizei und treten brutal auf den am Boden liegenden Jungen ein.1425 Die bestohlene Frau echauffiert sich darüber, dass ihr Land so schön sein könne, wenn es nicht so viel „Müll“ gäbe – womit sie sich auf den jungen Dieb bezieht. 1420 | 15:10-18:03. 1421  | Das Element Wasser zeigt sich hier von seiner zerstörerischen Seite. 1422 | Dies wird auf der Tonebene durch den Einsatz von nicht diegetischer, choraler Kirchenmusik angedeutet, die die gesamte Sequenz begleitet und den Originalton der Straße weitgehend überdeckt. 1423 | 16:03-16:05. 1424 | Wie bereits zuvor gezeigt wurde, bewahrt Marina in ihrem Zimmer eine ebensolche Heiligenfigur auf, bei der sie gelegentlich Trost sucht. 1425 | 16:39-17:15.

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Eine männliche Stimme fügt hinzu, dass anständige Menschen wie sie wegen solcher „Ratten“ keine Arbeit fänden. Während der ganzen Szene verweilt die Kamera bei Marina: die Tritte, die den wehrlosen, etwa zehn­jährigen Jungen treffen, werden aus Marinas Perspektive gezeigt, anschließend wechselt die Kamera in eine objektive Einstellung (N) und verfolgt mit einem langsamen Abwärtsschwenk, wie Marina neben einer Gemüsekiste vor der gemalten Kulisse zu Boden sinkt. Ihre Mimik spiegelt die Verzweiflung wider, die beim Anblick der physischen Gewalt von ihr Besitz ergreift, bevor sie in eine trance­ artige Starre verfällt und die Augen schließt. Die subjektive Kamera verdeutlicht ihre Ohnmacht durch eine langsame Schwarzblende, die mit dem Ende der choralen Kirchenmusik zusammenfällt, die bis dahin die Tonebene der Sequenz dominiert und ihr etwas Mystisches, Schicksalhaftes verleiht. Die Konfrontation mit der Gewalt löst bei Marina einen Schock aus, und sie fällt in Ohnmacht. Im Gegensatz zu späteren Gewalterfahrungen ruft diese keine Erinnerungen an ihr kindheitliches Trauma hervor. Marina schützt sich durch Flucht in die Amnesie vor der Wucht ihres Schmerzes. Nach einer langsamen Auf blende schwenkt die subjektive Kamera von einer Detailansicht des Bodens hoch zu Jairo (G), der sich besorgt nach Marinas Befinden und nach der Häufigkeit ihrer Ohnmachtzustände erkundigt.1426 Als er keine Antwort bekommt, schlussfolgert er, dass eine Schwangerschaft vorliegen müsse, und droht, sie in diesem Fall von der Reise auszuschließen. Als Marina, noch immer sichtlich verstört, weiter schweigt, schließt Jairo den Vorfall mit der sarkastischen Bemerkung: „Verdammt, mit dir hab ich wirklich die Lotterie gewonnen.“1427 Jairos Reaktion macht deutlich, dass er die Realität des bewaffneten Konflikts und dessen Folgen konsequent ausblendet: weder die Armut der Vertriebenen auf dem Marktplatz, die als naheliegendes Motiv für den Diebstahl angesehen werden kann, noch die psychologisch nachvollziehbaren Hintergründe für Marinas Zusammenbruch möchte er wahrhaben. Stattdessen schließt er aus seinen eigenen Lebensgewohnheiten (häufige sexuelle Kontakte) auf die vermeintliche Ursache für Marinas Zusammenbruch (Schwangerschaft) – eine Phantasie, die angesichts von Marinas sozialer Isolation recht abwegig erscheint. Jairos Tendenz zur Ausblendung von unangenehmen Tatsachen und Gefahren – in anderen Worten: seine Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung des Schönen und Guten – wird im Laufe der Reise mehrfach in Szene gesetzt. Während aus dem Autoradio ein Bericht über die massive Zerstörung des Lebens­ raums der indigenen Bevölkerung durch großflächig eingesetzte Pestizide zur Vernichtung von Coca-Anbauflächen ertönt1428 – eine Maßnahme, die Uribe 1426 | 17:15-18:04. 1427 | Orig.: „Ay la berraca, me saqué la lotería con usted.“ 17:45-17:47. 1428 | 21:23-22:20.

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gemeinsam mit US-Präsident Bush im Rahmen des „Plan Colombia“ intensiv vorangetrieben hat1429 – kommentiert Jairo die Schönheit eines Wasser­falls, an dessen Fuß sie rasten: „Dieses Land ist der Wahnsinn, oder? Egal wie wir versuchen, es uns zu verscheißen, wir schaffen es nicht. Was für ein toller Ort zum Leben.“1430 Dass der Regisseur anderer Meinung ist, wird in der nachfolgenden Einstellung unmissverständlich klar, als ein schöner, alter Baum, der den Wasserfall säumt, von Arbeitern mit einer Motorsäge gefällt wird und der Eindruck der Idylle dekonstruiert wird.1431 Während Jairo am Auto hantiert und die Fällung des Baumes nicht einmal registriert, beobachtet Marina sie aufmerksam und mit Bestürzung. Die unterschiedlichen Haltungen der Protagonisten im Umgang mit der Realität ihres Landes werden so erneut verdeutlicht. Der weitere Verlauf der Reise führt über einen engen, kurvigen Pass durch die Berge. Während Jairo, dessen Augen von einer Sonnenbrille – ein Symbol für seine Verblendung – verdeckt werden, die waghalsigen Überholmanöver der Lastwagenfahrer sowie die steil abfallenden Klippen ignoriert und von seinem Traum als Starfotograf in den Reihen der Schönheitsköniginnen berichtet, wird Marina von Panik erfasst. Als sie in einer besonders engen Kurve, in die Jairo viel zu schnell hineinsteuert, aufschreit,1432 hält dieser sie wütend zur Ruhe an: „Schrei nicht, Marina, das macht mich nervös!“ Vorwurfsvoll fügt er hinzu: „Du sprichst nicht, und wenn, dann schreist du...“1433 Auch angesichts offensichtlichster Gefahren hat Marina, wie die Sequenz zeigt, kein Recht auf ihre Ängste, sondern wird für ihr Gefahrenbewusstsein bestraft. Beim Abendessen in ihrem ersten Nachtquartier, einem einfachen Motel, versucht Jairo Marina von seiner Lebensphilosophie zu überzeugen. Auf einen laufenden Fernsehbildschirm verweisend, auf dem ein Video mit einer erotisch tanzenden, vollbusigen Frau zu sehen ist, rät Jairo seiner Cousine Spaß zu haben, da das Leben rasch vergehe.1434 Während Jairo mit Blicken bereits Kontakt zu einer Prostituierten an der Bar aufnimmt, gibt sich Marina Mühe, dem Cousin zu gefallen, und trinkt sogar einen Schnaps mit ihm. Jairo verlässt sie jedoch, um mit der Prostituierten zu tanzen. Der Anblick der eng Umschlungenen scheint Marina zu ärgern, und die Prostituierte, die Marina mit einem siegessicheren Blick fixiert, scheint sich dessen bewusst zu sein.1435 Der 1429 | Siehe Kapitel II.4.1. 1430 | Orig.: „Este país es una berraquera, ¿no? Con más que intentemos cagarnoslo, no podemos. Que vivero tan bueno.“ 22:04-22:14. 1431 | 22:20-22:38. 1432 | 26:28. 1433 | Orig.: „¡No grite Marina, me pone nervioso! No habla, y caundo habla grita...“ 26:30-26:37. 1434 | 30:52-30:57. 1435 | 32:24-32:58.

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nun einsetzende Erinnerungs-Flashback1436 legt jedoch nahe, dass Marinas Entschlossenheit, Jairos Liebelei zu sabotieren, nicht allein mit Eifersucht zu begründen ist. Die Rückblende zeigt eine Feier unter freiem Himmel in Marinas Kindheit, bei der Marinas Mutter singt und eine junge Frau mit einem Guerillero tanzt, welcher durch seine militärische Kleidung und seine rote Armbinde als solcher gekennzeichnet ist. Die Tatsache, dass mehrere mit Maschinengewehren bewaffnete Guerilla-Kämpfer die Tanzenden bewachen, deutet darauf hin, dass sie sich in einem umkämpften Gebiet befinden, wo jederzeit mit militärischen Konfrontationen zu rechnen ist. Die Kamera folgt der kleinen Marina an einen Holztisch, wo mehrere in zivil gekleidete Bauern Bier trinken. Ein Guerillero erscheint und schwingt eine riesige, rohe Rinderhaxe auf den Tisch. Einer der Bauern dankt dem Guerillero freudig, andere, darunter Marinas Opa, blicken besorgt drein. Es erfolgt ein Gegen­schuss auf Marina (HN), die die blutige Haxe – ein klares Symbol für die „rohe“ Gewalt, die ihrer Familie bevorsteht – mit Furcht betrachtet. Sie wendet sich ab und begibt sich zu den tanzenden Dorf bewohnern, die im Hintergrund zu sehen sind. Während sie ebenfalls zu tanzen beginnt, haftet sich ihr Blick an das tanzende Paar aus der ersten Einstellung – das Bauernmädchen und der Guerillero. In erzähltechnischer Hinsicht übernimmt diese Rückblende zwei Funktionen. Zum einen trägt sie zum Verständnis der Dynamik des bewaffneten Konflikts in Marinas Dorf bei: Eine bewaffnete Gruppe (hier die Guerilla) buhlt um die Gunst der Bauern, indem sie deren Fest mit Essensgeschenken und Schutzmaßnahmen unterstützt. Die so entstehenden Verbindungen zur Zivilbevölkerung (hier symbolisiert durch den Tanz) berauben diese jedoch ihrer Neutralität, so dass sie ebenfalls ins Visier feindlicher bewaffneter Gruppierungen (in diesem Fall der Paramilitärs) geraten.1437 Zum anderen liefert die Rückblende den psychologischen Hintergrund für Marinas Weigerung, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten oder sich zu amüsieren: aufgrund der in der Rückblende dargestellten Erfahrungen assoziiert Marina Akte zwischen­menschlicher Annäherung, insbesondere zwischen Frau und Mann, mit Gefahr. Dass sie, im Anschluss an die Erinnerungs-Sequenz, das Fenster zu Jairos Hotelzimmer, wo dieser sich mit der Prostituierten vergnügen will, mit einem Stein einwirft,1438 zeugt also nicht nur von ihrer Eifersucht, sondern auch von ihrem Bedürfnis, Jairo vor Gefahr zu schützen. Gleichzeitig ist der Steinwurf der erste Wendepunkt in der Entwicklung der beiden Protagonisten. Jairo muss erkennen, dass er sich sowohl in seiner Partnerin, deren professio1436 | 32:58-33:41. 1437 | In der letzten Rückblende des Films, in der Marina das Massaker erneut durchlebt, wird deutlich, dass die paramilitärischen Angreifer die Familie aufgrund ihrer Verbindungen zu den Guerilleros ermorden. 1438 | 33:41-35:52.

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nelle Dienste er für echte Zuneigung gehalten hatte, als auch in seiner Cousine, die er für dumm gehalten hatte, getäuscht hat. Dies kann als erster Schritt auf seinem Weg zur Erkenntnis gewertet werden. Bei Marina hingegen hat die wiederkehrende Erinnerung bewirkt, dass sie sich erstmals aus ihrer Passivität befreit und ihren Emotionen gemäß handelt. Ihre Zufriedenheit über den Ausgang ihrer Aktion (die Prostituierte lässt den wütenden Jairo ohne Vollendung ihrer Dienstleistung in seinem Zimmer zurück) fängt die Kamera mit einer Nahaufnahme von Marinas erstem Lächeln ein.1439 In der nächsten Schlüsselsequenz1440 werden Jairo und Marina in einen Schusswechsel zwischen einer Guerilla-Einheit und dem staatlichen Militär verwickelt. Nachdem sie auf der bergigen Straße mehrere militärische Stütz­ punkte passiert haben und auch kontrolliert worden sind, kommt der Verkehr aufgrund eines Staus zum Erliegen. Von anderen Reisenden erfahren sie, dass die Guerilla weiter oben eine Straßensperre errichtet habe. Während Jairo sich in unbekümmertem Plauderton über die möglichen Folgen unterhält, fährt ein voll besetzter Militärlaster heran, und schwer bewaffnete Soldaten stürmen die Straße. Ohne Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung, die hinter ihren Fahrzeugen Schutz sucht, eröffnen die Militärs das Feuer auf den beinahe unsicht­baren Feind, der im Grün der üppigen Vegetation gut getarnt ist. Als die Soldaten direkt neben Marina und Jairo aus der Deckung ihres Renaults hinaus feuern, wird Jairo beinahe von einer Kugel getroffen. Zitternd vor Angst drücken sich die Cousins aneinander. Jairo bedankt sich bei Marina, die ihm das Leben gerettet hat, indem sie ihn auf die andere Seite des Autos gezogen hat. Als Jairo die Deckung erneut verlässt, um Fotos vom Gefecht zu schießen, wird Marina von Panik erfasst. Sie nimmt eine embryonale Haltung ein und rollt sich unter dem Auto zusammen. Eine lange Einstellung in Groß­ aufnahme, die aufgrund der Seitenlage des Gesichts irritierend auf den Zuschauer wirkt, zeigt ihre Angst und die aufsteigenden Tränen.1441 Die liegende Haltung und das lautstarke Gewehrfeuer lösen bei Marina eine erste Erinnerung an den Hergang des Massakers an ihrer Familie aus, welche in Form einer Rückblende1442 erzählt wird: Marina liegt mit ihren Eltern im Bett, als sie von Schüssen und harschen Stimmen aus dem Schlaf geschreckt werden. Die Mutter befiehlt ihr, sich unter dem Bett zu verstecken. Mit subjektiver Kamera wird Marinas Blickfeld unter dem Bett wiedergegeben. Mehrere Männer in Militärstiefeln und Tarnhosen betreten die einfache Hütte und treiben die Familie unter Beschimpfungen ins Freie. Es erfolgt ein Umschnitt zurück in die 1439 | 35:47. 1440 | 42:40-45:51. 1441  | 43:54-44:06. 1442 | 44:07-44:28. Abermals dient ein Match-Cut als Überleitung zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

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Gegenwart der Handlung. Eine halbtotale Einstellung (Topshot) zeigt Marina, die in unveränderter Haltung und mit geschlossenen Augen wie tot unter dem Renault liegt. Die Schießerei ist vorüber, und die Reisenden kriechen unter ihren Autos hervor. Ein Reisender in Jairos Alter zeigt sich schockiert über die Missachtung der anwesenden Zivilbevölkerung durch die Konflikt­parteien: „Diesen Leuten ist es scheißegal, ob jemand in der Nähe ist.“1443 Darauf bekundet sein älterer Mitreisender beinahe entschuldigend gegenüber Jairo, dass dies die erste Straßen­blockade für seinen Freund sei. Jairo wittert seine Chance und schlägt dem Jungen zu einem Wucherpreis ein Erinnerungsfoto vor einem Graffiti mit dem Wortlaut „FARC-EP“ vor, das auf der anderen Straßen­ seite an einer Felswand prangt. Der junge Mann und sein älterer Freund, der schon mehrere Gefechte erlebt hat, sind von der Idee begeistert. Indem Carlos Gaviria den jungen Mann in einer Weise vor dem FARC-Graffiti posieren lässt, als handle es sich um ein Urlaubsfoto vor einer berühmten Sehenswürdigkeit, persifliert er erneut Uribes Tourismus-Kampagne. Das Bild, das der Regisseur mittels der Autofahrt und der verschiedenen Stationen vom „Reiseland“ Kolumbien kreiert, könnte, in Abgrenzung zu Uribes Werbekampagne, jedoch allenfalls durch den Slogan „Colombia es pelígro – el riesgo es que te mueras acá“1444 umschrieben werden. Die Schönheit der Landschaften, die beispielsweise auf den Werbeseiten des „Zweiten Filmgesetzes“ als Anreiz für ausländische Filmteams angepriesen wird,1445 wird in Retratos en un mar de mentiras zwar durchaus in Szene gesetzt1446, jedoch wird der positive Eindruck relativiert durch Bilder hungernder Vertriebener, abgründiger Straßenverläufe oder militärischer Einsatztruppen sowie durch die kontrastierenden Songtexte im Soundtrack von María Mulata. Erst als Jairo sich mit dem Erinnerungsfoto in der Hand zu seinem Wagen umdreht, nimmt er von Marina Notiz, die immer noch ohnmächtig am Boden liegt. Anhand seiner heftigen emotionalen Reaktion – er hält sie für tot – wird deutlich, dass sich ihre Beziehung verändert hat. Zum ersten Mal erhält Marina keinen Tadel für ihren abwesenden Zustand, auch nicht, als Jairo mit größter Erleichterung feststellt, dass seine Cousine lebt. Die gemeinsam durchlebte Gewalterfahrung hat bei Jairo bewirkt, dass er die Ursache für Marinas Trau1443 | Orig.: „A esta gente le importa un culo que uno está por ahí.“ 44:44-44:46. 1444 | Dt.: „Kolumbien ist Gefahr – das Risiko ist, dass du hier stirbst“, in Abgrenzung zum Originalslogan „Kolumbien ist Leidenschaft – das Risiko ist, dass du hier bleiben willst“. 1445 | Siehe Kapitel III.4.1. 1446 | Aus dem fahrenden Auto hinaus dokumentiert die Kamera, häufig Marinas Subjektive wiedergebend, eine Vielfalt von Landschaften, z.B. den hoch in den Anden gelegenen „páramo“ mit seiner spezifischen Vegetation (21:02-21:10) oder die Küsten­r egion mit ihren Flüssen und der roten Erde (50:55-51:42). Die Aufnahmen der Land­s chaften werden stets vom stimmungsvollen Soundtrack begleitet.

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ma anzuerkennen und ihr Verhalten als angemessen zu akzeptieren beginnt. Bei Marina bewirkt die Konfrontation erstens die allmähliche Rückkehr ihrer Erinnerung und zweitens die Fähigkeit, mit einem Menschen in Kontakt zu treten: als Jairo sie aus ihrer Ohnmacht weckt, suchen ihre Hände intuitiv seinen Hals, und sie klammert sich fest an ihn. Die Umarmung ist ein Zeichen für Marinas allmählich erwachende Fähigkeit zu vertrauen und zu lieben. Auf der Weiterfahrt berichtet Marina Jairo von der Rückkehr ihrer Erinnerung: „Ich habe mich erinnert, wie sie gekommen sind, um uns zu töten.“1447 Ihre Stimme klingt ungewohnt fest und selbstsicher, was ihre wachsende Entschlossenheit verdeutlicht, der Vergangenheit ins Auge zu sehen. Jairo erschrickt und rät ihr eindringlich, alles wieder zu vergessen. Mit dem Argument, sie könne nicht ihr ganzes Leben damit zubringen, sich an schreckliche Dinge zu erinnern, möchte er das Thema beenden. Zur Bekräftigung verweist er auf bettelnde Kinder am Straßenrand, denen es noch schlechter gehe als ihnen. Der Refrain des eingespielten Soundtracks („Tengo un dolor“1448) scheint Jairos Auffassung zu widersprechen, indem er die Notwendigkeit der Erinnerung und der damit verbundenen Trauerarbeit für die seelische Genesung der Opfer hervorhebt. Auch die Bedeutsamkeit gegenseitiger Solidarität unter den Opfern betont der Film, als der Wagen kurz darauf von einer Frau angehalten wird, die ein ähnliches Schicksal wie Marina erlitten hat.1449 Ihr kleiner Sohn, dessen Vater ebenfalls ermordet wurde, geht auf Marina zu und nimmt ihre Hand. Entgegen ihrer Gewohnheit blickt Marina ihm direkt in die Augen und lächelt, der Junge erwidert sowohl den Blick als auch das Lächeln. Da zieht Marina ihre zerlöcherte Baumwolljacke aus und schenkt sie ihm. Anders als Jairos Reaktion (er wirft der vertriebenen Frau sichtlich angewidert ein paar Münzen zu) spiegelt sich in Marinas Begegnung mit dem Jungen tiefe gegenseitige Anteilnahme und Fürsorge wider – ein indirekter Aufruf des Regisseurs den Opfern mehr Solidarität, oder wenigstens Menschlichkeit, entgegenzubringen. Der immer deutlicher spürbare Eintritt der Protagonisten ins Zentrum der Konflikt­region wird von einem Automechaniker bestätigt, der sie vor der Weiter­ reise nach La Ceiba warnt: an diesem Ort gebe es nur „Sünder und Mörder“1450. Bei der Ankunft in Marinas Heimatdorf überwiegt jedoch zunächst die Freude des Wiedersehens und Wiedererkennens: selig lächelnd erkennt Marina den Dorfladen, wo sie als Kind eingekauft hat. Doch der neue Ladenbesitzer

1447 | Orig.: „Me acordé como nos vinieron a matar.“ 46:08-46:10. 1448 | Dt.: „Ich fühle einen Schmerz“. 1449 | 46:49-47:53. 1450 | Orig.: „pecadores y asesinos“. 49:15-49:17.

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kommentiert ihre freudige Feststellung „Dies ist der Laden von Don Juan“1451 mit einem abschätzigen Lächeln, in seiner Antwort schwingt ein gefährlicher Unterton mit: „Von wegen Don Juan, Mädchen, dieser [Laden] gehört mir.“1452 In diesem Moment tritt Don Juan aus einem Nebenzimmer in den Laden und blickt Marina ausdruckslos an. Er ist bleich und hat eine Schusswunde am Bauch. Es besteht kein Zweifel, dass Marina den Geist eines Toten sieht. Geschockt lässt sie sich von Jairo, der ihren Zustand bemerkt, aus dem Laden nach draußen zerren, wo sich das Schauspiel jedoch wiederholt. Zwischen den bunt gekleideten Teilnehmern einer Festtagsprozession, die sich die Straße entlang bewegt, marschieren bleiche und verwundete Totengeister, die Marina ausdruckslos anstarren. Während Marina Jairo an der Erkenntnis teilhaben lässt, dass viele ihrer früheren Freunde und Bekannte tot sind, ist dieser bereits damit beschäftigt, sich mit einer Flasche Rum in Festtagsstimmung zu versetzen. Seine nachhaltige Weigerung, die Gefahr wahrzunehmen („Genug der Trauer, genug der Toten!“1453) führt schließlich dazu, dass er sich unwissentlich zu einer Gruppe trinkender Paramilitärs gesellt und sich von deren attraktiven weiblichen Begleiterinnen aushorchen lässt.1454 So erfahren die Paramilitärs nicht nur, dass er das Land seines verstorbenen Großvaters zurückfordern will, sondern auch, dass er Zugang zu den Dokumenten habe, die sein Anrecht auf das Land beweisen. Den Dialog zwischen Jairo und den Paramilitärs verfolgt der Zuschauer mit Schaudern: aufgrund des Informationsvorsprungs des Zuschauers, der bereits weiß, wie gefährlich Jairos Gesprächspartner sind1455, entsteht Suspense. Aus den Fragen und Reaktionen der Paramilitärs kann der aufmerksame Zuschauer, im Gegensatz zu Jairo, deren Identität sowie deren böse Absichten ablesen. Als Jairo vom Land seines Großvaters erzählt und auf Nachfrage der Paramilitärs richtigstellt, seine Familie habe das Land nicht verkauft, sondern sei geflohen, weil es zu gefährlich wurde, lächeln die Paramilitärs selbstgefällig.1456 Der betrunkene Jairo setzt seinen Bericht jedoch unbeirrt fort: „Ich habe gehört, dass die Regierung das Land zurückgibt, also bin ich gekommen, um meins zu holen“1457, und liefert damit eine klare An­spielung auf das Opferentschädigungsgesetz, das zum Zeitpunkt des Filmdrehs ausgearbeitet wird. Einer der Paramilitärs entgegnet mit einem zynischen Lächeln: 1451  | Orig.: „Esta es la tienda de Don Juan.“ 32:24. 1452 | Orig.: „Cuál Don Juan, mija, si esto es mío.“ 32:29. 1453 | Orig.: „Ya no más tristeza, ya no más muertos.“ 54:05. 1454 | 57:20-01:01:01. 1455 | In einer parallel montierten Sequenz trifft Marina auf eine alte Bekannte, die sie vor jenen Männern warnt. 1456 | 59:05-59:07. 1457 | Orig.: „Escuché que el gobierno está devolviendo las tierritas, así que vine por lo mío.“ 59:09-59:12.

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„Endlich haben wir in diesem Land eine ernstzunehmende Regierung, eine Regierung für [orig.: „para“] das Volk.“1458 Die überdeutliche Betonung des Wortes „para“ – eine explizite Anspielung auf den Paramilitarismus und die „Para-Politik“ der Regierung Uribe – lässt selbst den naiven Jairo aufhorchen, und er fragt nach: „Für wen?“1459 Die entschärfende Betonung in der Antwort des Paramilitärs („Für das Volk“1460) scheint Jairo jedoch zu beruhigen, und er widmet sich wieder dem Flirt mit seiner Nebensitzerin. Im Gegensatz zur Guerilla, die, wie bereits skizziert, in diesem Film sogar während des Kampf­ einsatzes unsichtbar bleibt, wird die Präsenz und Macht der als böse und hinterhältig gezeichneten Paramilitärs explizit hervorgehoben. Auch durch den unterschiedlichen Umgang des staatlichen Militärs mit den illegalen bewaffneten Gruppierungen verdeutlicht Gaviria in diesem Film die „Para-Politik“ der Regierung Uribe: während die Straßenblockade der FARC einen Großeinsatz der Regierungstruppen nach sich zieht, scheint die Okkupation von Marinas Heimatdorf durch die Paramilitärs geduldet zu werden. Dafür spricht die Tatsache, dass die dort stationierten Soldaten die Para­militärs freundlich grüßen und deren Anführer sogar mit „Chef“1461 ansprechen. Aus heutiger Sicht betrachtet deutet Gavirias Darstellung eine Schwäche des Opferentschädigungsgesetzes voraus, welchem zufolge die Opfer von paramilitärischen Gewalttaten nach 2006 von der staatlichen Entschädigung ausgeschlossen werden. Jairos Hoffnung auf eine Rückerstattung des Landes durch den Staat bleibt unerfüllt, ebenso wie der Schutz der Zivil­ bevölkerung durch das im Dorf stationierte Militär. Auf Jairos Gespräch mit den paramilitärischen Anführern folgt eine Parallel­ montage1462, in der Aufnahmen des ausgelassenen Dorffestes mit der Sequenz verbunden werden, in der Marina und Jairo zum Hotel gelangen und dort von den Paramilitärs überfallen und entführt werden. Die in den Handlungsstrang der Entführung eingestreuten Bilder der Feier, in der die Menschen im rötlichen Schein von Kerzen und Fackeln zu wilder Trommelmusik tanzen und singen, verleihen dem Vorgang der gewaltsamen Entführung einen beinahe rituellen Charakter. Die Gewalt, so legt die Montage nahe, hat in Kolumbien ebenso Tradition wie traditionelle Feierlichkeiten. Gleichzeitig betont die Parallel­montage, dass die feiernden Dorf bewohner blind für die gewaltsamen Vorgänge in ihrem Dorf sind, oder aber, dass sie diese billigend hinnehmen. Auch der Gedanke, die Parallelmontage transportiere einen intendierten, iro1458 | Orig.: „Por fin en este país tenemos un gobierno serio, un gobierno para la gente.“ 59:13-59:18. 1459 | Orig.: „¿Para quién?“ 59:18-59:19. 1460 | Orig.: „Para la gente.“ 59:20. 1461 | Orig.: „Jefe“. 01:07:47-01:07:52. 1462 | 01:01:01-01:07:54.

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nischen Kommentar zum Slogan „Colombia es pasión“ erscheint nicht völlig abwegig: Kolumbien feiert leidenschaftlich, während das Morden weitergeht. Auf ihrer Fahrt zum Landstück des Großvaters, wo die Eigentumspapiere begraben sind, wird sich Jairo seiner Naivität und Verblendung bewusst, die ihn und Marina in Lebensgefahr gebracht hat. Die Kamera nimmt zur Verdeutlichung seiner Reue immer wieder seine subjektive Perspektive ein, aus der heraus er den quälenden Anblick des trinkenden Paramilitärs neben Marina ertragen muss, der diese die ganze Fahrt hindurch lüstern betrachtet. Um Marina vor der bevorstehenden Vergewaltigung zu bewahren, riskiert Jairo schließlich sein Leben. In einem günstigen Augenblick tritt er einen der Para­ militärs, und Marina läuft in den Wald. Auch Jairo kann entkommen, wird bei der Flucht aber angeschossen. Die Paramilitärs sind sich sicher, dass sie die beiden für immer vertrieben haben, und treten die Rückfahrt an. In der darauffolgenden Sequenz1463, die den emotionalen Höhepunkt des Films darstellt, lässt Marina den verletzten Jairo zurück, um die Eigentums­ papiere auf dem Land des Großvaters zu suchen und zu bergen. Auf ihrem Weg dorthin betont die Inszenierung zunächst die friedliche Idylle des tropischen Waldes: Vögel zwitschern, ein Faultier räkelt sich in einem Baum – möglicherweise eine Anspielung auf die staatlich propagierte „Landesmarke“ (Colombia es pasión), die Kolumbien auch als Land der Biodiversität hervorhebt.1464 Als Marina die Ruinen ihrer elterlichen Hütte erblickt, setzt ihre Erinnerung ein: sie sieht die Familienmitglieder bei der Arbeit, ihre Mutter ruft, sie solle ihr helfen, und Marina kommt näher, als würde sie tatsächlich angesprochen.1465 Es folgt eine Parallelmontage1466, in der Marinas Erinnerungen (aus der subjektiven Perspektive der erwachsenen Marina, die die Erinnerungsbilder „sieht“) mit ihren Reaktionen auf diese Erinnerungen (in objektiver Kamera, als Reaction-Shots) verbunden werden. Eine Erinnerung zeigt, wie der Großvater die Papiere im Inneren der Hütte vergräbt, daraufhin beginnt Marina (in der Gegenwart) an der Stelle zu graben, wo sie diese vermutet.1467 Beim Graben – ein Sinnbild auch für das „Graben“ in ihrer Erinnerung – erscheinen die Toten­geister ihrer ermordeten Familienmitglieder. Sie alle sind bleich und blutbeschmiert und starren Marina an. Wie schon während des Schusswechsels zwischen der Guerilla und den Militärs verfällt Marina in eine Starre und rollt sich in embryonaler Haltung am Boden zusammen. Abermals leitet ein Match-Cut zu der Erinnerung über, in der sie unter dem elterlichen Bett den Überfall der Paramilitärs beobachtet. Ein Paramilitär kommt näher und zerrt 1463 | 01:10:43-01:18:22. 1464 | Quelle: http://www.colombia.co/ 1465 | 01:12:01-01:12:56. 1466 | 01:12:56-01:17:18. 1467 | 01:13:08-01:13:33.

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Marina hinter dem Bett hervor, draußen kauert die Familie am Boden, die umstehenden Männer haben Gewehre auf sie gerichtet. Es folgt eine Groß­ aufnahme der Mutter, die Marina (bzw. die Kamera) direkt anblickt. Darauf erfolgt ein Umschnitt zu einer Einstellung von Marina (in der Gegenwart), die der Heftigkeit der Erinnerung nicht standhält, aufspringt und weglaufen will. Doch die Erinnerung hält an, was in den Aufnahmen der Gegenwart durch die Konstanz der Tonebene aus der Erinnerungssequenz zum Ausdruck gebracht wird, in der die Schreie der Familie, die Stimmen der Soldaten und ein trauriges Musikmotiv dominieren. Marina (in der Gegenwart) schaut fassungs­los zu, wie sie sich als kleines Mädchen ihrer weinenden, hilflosen Mutter schutzsuchend in die Arme wirft. Die Paramilitärs packen einen jungen Mann (vermutlich Marinas Bruder) und erschießen ihn. Während die Mutter schreiend über ihrem toten Sohn zusammenbricht, zünden die Paramilitärs die Hütte an. Auf der Tonspur dominieren unnatürlich verzerrte Schreie, die in Verbindung mit den Bildern der Flammen die Assoziation einer Hexenverbrennung hervorrufen. Als die Mutter in die brennende Hütte läuft, um darin nach den Papieren zu graben,1468 steigert sich der Rhythmus der Montage, bei der nach wie vor zwischen den Erinnerungsbildern und Marinas Reaktionen hin und her geschnitten wird. Dabei scheinen die Figuren der erwachsenen Marina und des Mädchens Marina immer mehr zu verschmelzen, was durch Match-Cuts und die Parallelität ihrer Gefühlsregungen, ersichtlich in Mimik und Körperhaltung, veranschaulicht wird. Montage und Inszenierung machen deutlich, dass Marina (in der Gegenwart) ihren Erinnerungen nun nicht mehr zusieht, sondern sie erneut durchlebt: sie steht vor dem brennenden Haus, ihr Vater, der von den Paramilitärs umstellt ist, befielt ihr sich von den Flammen zu entfernen. Verzweifelt ruft Marina (in der Erinnerung sowie auch in der Gegen­ wart) nach ihrer Mutter, die im Inneren der Hütte verbrennt. Die Schreie der Mutter, als die Flammen sie erfassen, dominieren die Tonebene, gefolgt von den Schreien ihres Vaters, Marina solle weglaufen. Es ertönt ein Schuss, der wahrscheinlich von der Erschießung des Vaters herrührt. Das Kind Marina rennt los, die erwachsene Marina jedoch bleibt stehen. Immer verzweifelter weinend sieht und hört sie, wie die Mutter im Haus verbrennt. Es folgt eine halbtotale Einstellung, die die Heiligenfigur, die Marina in Bogotá in ihrem Zimmer auf bewahrt hatte und die sie auch mit auf die Reise genommen hat, auf einem Podest vor der brennenden Hütte zeigt1469 – ein deutliches Bild für das Versagen Gottes, bzw. des Glaubens im Allgemeinen, angesichts des Schreckens, den die Protagonistin, stellvertretend für 4,5 Millionen Kolumbianer mit

1468 | 01:15:06. 1469 | 01:16:54-01:16:56.

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ähnlichen Schicksalen, durchlebt. Als die Erinnerung vorbei ist, bricht Marina zusammen und schläft ein.1470 Als sie erwacht, scheint sie geläutert. Rasch gräbt sie die Papiere aus und nimmt sie an sich, ebenso eine Halskette, die ihrer Mutter gehört hat. An deren Stelle begräbt sie die Heiligenfigur, die ihre Familie nicht hatte beschützen können, und bricht auf, um Jairo ins Krankenhaus zu bringen. Die Rollen­ verhältnisse haben sich durch die Erfahrungen der Reise umgedreht: Marina ist durch die Wiedererlangung ihrer Erinnerung und die Überwindung ihres Traumas erstarkt, ihr Mut zur Wahrheit wird am Ende des Films belohnt. Jairo hingegen muss dafür büßen, dem „Lügenmeer“ auf den Leim gegangen zu sein, und wird dafür gewissermaßen mit dem Tode bestraft. Beide haben am Ende des Films zu sich selbst gefunden und gelernt, den anderen zu erkennen und zu lieben. Wie bereits skizziert, endet der Film in den Wellen des „echten“ Meeres, die für beide das Ende dieses Erkenntnisprozesses, für Marina möglicherweise auch einen Neuanfang bedeuten. Es kann festgehalten werden, dass Retratos en un mar de mentiras mit einem Tabu in der bisherigen filmischen Darstellung des landesinternen Konflikts bricht – dem der emotionalen Einfühlung in die traumatischen Gewalt­ erfahrungen der Opfer. Gemeinsam mit Marina ist der Zuschauer in der finalen Erinnerungs­sequenz gezwungen, die traumatisierenden Ereignisse nachzuempfinden. Die Inszenierung der traumatischen Erinnerung provoziert eine derart starke Einfühlung, dass auch eine gewisse Traumatisierung des Rezipienten nicht ausgeschlossen scheint. Gleichzeitig, dessen können wir uns in Augenzeugenberichten von Opfern vergewissern1471, überliefert Retratos en un mar de mentiras ein gut recherchiertes Sammelsurium von Fakten über die Hintergründe und Dynamiken des innerkolumbianischen Konflikts, insbesondere in Hinblick auf die Vertreibungen und die Situation der Opfer. Im Gegensatz zu La sombra del caminante, der ebenfalls die psychologische Komponente der Gewalt für die Betroffenen hervorhebt, ist Retratos en un mar de mentiras jedoch auch explizit politisch: wie kein anderer Film kritisiert und persifliert er die Politik der Regierung Uribe, wie kein anderer stellt er das Phänomen des Paramilitarismus und der Para-Politik an den Pranger. Gaviria sensibilisiert das Publikum für die Situation der Opfer und ruft gleichzeitig zur schonungslosen Aufklärung und Aufarbeitung auf. Die Metapher der „Bildnisse“1472 im Titel des Films steht für all die wahren Geschichten der Betroffenen, die ans Licht der Öffentlichkeit gelangen müssen, um der Gefahr 1470 | 01:16:58-01:17:17. 1471 | Beispielsweise überliefert im dokumentarischen Animationsfilm Pequeñas voces (Jairo Eduardo Carrillo/Óscar Andrade, 2011).

1472 | Orig.: „retratos“.

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entgegenzusteuern, in einem „Meer aus Lügen“ – womit insbesondere, aber nicht ausschließlich die Regierung Uribe gemeint ist – unterzugehen.

III.4.4 Perspektiven des transnationalen Kinos – exemplarische Filmanalysen „The more local, the more international“ – so lautet der Leitspruch des World Cinema Fund (WCF), der sich in den letzten zehn Jahren als „eine der führenden Institutionen im Bereich der internationalen Filmförderung anspruchs­voller Produktionen“1473 etabliert hat und insbesondere für Filmemacher aus Afrika, Lateinamerika, dem Mittleren Osten sowie Zentral- und Südostasien zu einem wichtigen Partner geworden ist. Auch wenn bislang nur zwei kolumbianische Koproduktionen mithilfe dieser Institution entstanden sind1474, scheint ihr Leitspruch auch auf die anderen kolumbianischen Regiearbeiten zuzutreffen, die in den letzten Jahren auf europäischen Filmfestivals prämiert worden sind und Unterstützung von anderen transnationalen Förder­institutionen erhalten haben: sie sind „lokal“, da sie die spezifischen Lebensumstände und -gewohnheiten der Menschen in unterschiedlichen Regionen Kolumbiens porträtieren, und sie sind „international“, da sie ein internationales Publikum ansprechen, das sie unter anderem in ihrer Funktion als „Fenster zur Welt“ mit besonderem Interesse honoriert. Im Interview bei der Berlinale 2015 erläutert Vincenzo Bugno, Projektmanager beim World Cinema Fund, den besonderen Ansatz seiner Förderinstitution: „Es ging uns [...] von Anfang an um sowohl inhaltlich als auch künstlerisch sehr ambitionierte Filmprojekte. Wir setzen auf Authentizität, und es ist uns sehr wichtig, möglichst nah an der kulturellen Identität der Förderregion zu arbeiten. Wir setzen uns nicht für globalisierte, marktkonforme Produktionen und Inhalte ein, sondern versuchen uns sehr differenziert und kontextualisiert mit den Inhalten und Geschichten zu befassen.“1475

Auch die Global Film Initiative, ein US-amerikanisches Äquivalent zum deutschen WCF oder dem französischen Sud Cinema Funds (SCF), setzt auf die Förderung von Filmen mit „artistic excellence“ aus Staaten mit weniger entwickelten Filmindustrien, die dem amerikanischen Publikum Zugang zu „a variety of cultural perspectives on daily life around the world“ sowie „diverse 1473 | Quelle: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2015/06b_berlinale­_themen _2015/wcf_2015.html

1474 | Los viajes del viento (Die Reisen des Windes. Ciro Guerra, 2009) und Los hongos (dt.: „Die Pilze“. Oscar Ruiz Navia, 2014).

1475 | Quelle: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2015/06b_berlinale_themen _2015/wcf_2015.html

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interpretations of the human experience“ bieten.1476 Auf ihrer Homepage argumentiert die Institution für die Notwendigkeit transnationaler Filmförderung für die sogenannten „Entwicklungsländer“, denn: „authentic self-­representation can be a vibrant partner to economic growth, providing a structure to understand global change while remaining true to a rich cultural heritage“1477. Es kann festgehalten werden, dass der Großteil der international ausgezeichneten kolumbianischen Koproduktionen der letzten zehn Jahre dem hier skizzierten „World Cinema“, einem transnationalen Kino mit ausgeprägter regionaler Identität und kultureller Authentizität, zugerechnet werden können.1478 Auch in Bezug auf die Arbeitsweise der Regisseure, ihren filmischen Stil und die Inhalte dieser Koproduktionen können, Pablo Goldbarg zufolge, Gemeinsamkeiten ausgemacht werden: „viel Einsatz, wenig Budget, […], großartige Kameraarbeit […], Laiendarsteller, Sozialkritik und der Blick auf das Alltägliche auf einfache, aber tiefgründige Weise“1479. Hinzugefügt werden könnten auch die Tendenz zur Vermischung von fiktionalen und dokumentarischen Elementen, der Verzicht auf einen klassischen Handlungsauf bau zugunsten der Konstruktion von Atmosphäre, ein ruhiger Montage­rhythmus, lange Einstellungen sowie schwer greif bare, schablonenhafte Figuren, die dem Zuschauer wenig Raum zur emotionalen Einfühlung, dafür aber zur distanzierten Reflexion bieten. Prominente Beispiele unter den kolumbianischen Koproduktionen, die diese Eigenschaften aufweisen, sind Ciro Guerras Los viajes del viento (2009) und El abrazo de la serpiente (2015), die dem Zuschauer spektakuläre Einblicke in die Landschaften, Kulturen und Traditionen der kinematografisch kaum erschlossenen Departments La Guajira und Amazonas gewähren, oder Oscar Ruiz Navias El vuelco del cangrejo (2010) und William Vegas La Sirga (2012), die in den Gemeinden La Barra (Department Valle del Cauca, Pazifikküste) bzw. La Cocha (Department Nariño, andines Hoch­plateau) spielen und in diesem Kapitel stellvertretend für die Strömung analysiert werden sollen. Was die beiden zuletzt genannten Beispiele von ersteren unterscheidet, ist die Tatsache, dass der innerkolumbianische Konflikt und dessen Auswirkungen in ihnen einen wesentlich größeren Raum einnehmen. Dies ist einerseits den unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten geschuldet, die die Regisseure gesetzt haben: Ciro Guerra interessiert sich in Los viajes del viento insbe1476 | Quelle: http://www.globalfilm.org/programs.htm 1477 | Quelle: http://www.globalfilm.org/programs.htm 1478 | Dies gilt in ähnlicher Weise auch für das argentinische, uruguaische oder paraguaische Kino. 1479 | Orig.: „mucho esfuerzo, poco presupuesto, […], gran cinematografía […], actores no profesionales, denuncia social y mirada a lo cotidiano de una manera simple pero profunda“. Goldbarg 2010.

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sondere für die musikalischen, in El abrazo de la serpiente für die spirituellen Traditionen der Regionen, während El vuelco del cangrejo und insbesondere La Sirga die Präsenz des landesinternen Konflikts und dessen Einfluss auf die betroffenen Gemeinden hervorheben. Dieser Fokus ergibt sich jedoch auch direkt aus dem Grad der Verwicklung der Regionen in den landesinternen Konflikt: während die in Guerras Filmen porträtierten Regionen von der „Sala de Atención Humanitaria“ (OCHA) 2013 als „grüne Zone“ (Amazonas) und „orangene Zone“ (La Guajira) eingestuft wurden, handelt es sich bei den Departments Valle del Cauca und Nariño um sogenannte „rote Zonen“, also um Regionen mit dem höchsten Aufkommen von „bewaffnete[r] Gewalt“ durch „Akteure [des] organisierte[n] oder gewöhnliche[n] Verbrechen[s]“1480. Ein Film, der bemüht ist, das Leben der Menschen in dieser Zone authentisch darzustellen, kann den landesinternen Konflikt demnach schwerlich ausklammern. El vuelco del cangrejo und La Sirga haben hinsichtlich der Darstellungsweise des bewaffneten Konflikts gemein, dass sie diesen nicht explizit, beispielsweise in Form von Gefechten oder körperlicher Gewalt, inszenieren. Seine Präsenz wird stattdessen über eine düstere Grundstimmung sowie durch Andeutungen und Metaphern vermittelt. Im Gegensatz zu den in Kapitel III.4.3 analysierten Filmen, die eine klassische Dramaturgie mit psychologisch stringenten Figuren aufweisen, die sich parallel zur fortschreitenden Handlung entwickeln, erzählen El vuelco del cangrejo und La Sirga elliptisch, anekdotisch, atmosphärisch. Unterschiede bestehen hinsichtlich der geografischen und kulturellen Ver­schieden­heit der porträtierten Regionen sowie im Grad der Explizitheit, in der Bezüge zum landesinternen Konflikt hergestellt werden. Jene überwiegt in William Vegas Film, dessen Protagonistin als Überlebende eines Massakers, als Vertriebene und Schutzsuchende charakterisiert wird. In Oscar Ruiz Navias Film hingegen bleibt vieles der Interpretation des Zuschauers überlassen, einschließlich der Frage nach Herkunft und Ziel des undurchsichtigen Protagonisten Daniel, der für einige Tage in der Pazifik-Gemeinde La Barra festsitzt, wo er auf ein Motorboot wartet, das ihn von dort fortbringe: einfach nur „weg“.

III.4.4.1 El vuelco del cangrejo (Crab Trap. Oscar Ruiz Navia, 2010, Kolumbien/Frankreich) Am Langfilmdebüt des jungen kolumbianischen Regisseurs und Produzenten Oscar Ruiz Navia, dessen zweiter Film Los Hongos1481 (Kolumbien/Frankreich/­ Argentinien/Deutschland u.a., 2014) kürzlich in Locarno uraufgeführt und mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet worden ist, scheiden sich die Geister. Der Kulturjournalist Ricardo Silva Romero feiert ihn als lang ersehn1480 | Orig.: „violencia armada“; „actores [de] violencia organizada y común“. Quelle: http://www.kienyke.com/politica/las-zonas-de-mas-violencia-en-colombia/ 1481 | Dt.: „Die Pilze“.

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ten Anschlusstreffer an internationale Maßstäbe, der das kolumbianische Kino endlich von seinem nationalen Stigma befreie: „El vuelco del cangrejo ist nicht kolumbiansches Kino. Er ist ein Film, der in Kolumbien gemacht wurde, und der das Adjektiv abstreift. Er ist einfach Kino.“1482 Der Filmkritiker Pedro Susz K. beurteilt ihn als „typischen Problemfilm“1483, da er keine fabula aufweise und stattdessen „eine beliebige Anekdote auf die Dauer eines Langfilms [ausdehne]“1484. Dem Autor zufolge muss sich Ruiz Navia nicht zuletzt dem Vorwurf der Feigheit stellen, „in dem Sinne, als dass der plastische Glanz nur ein Vorwand ist, um die Weigerung, Partei zu ergreifen – für welche Sache auch immer – zu verschleiern, um sich in Richtung der pasteurisierten Paradiese der ideologischen Enthaltsamkeit zu verdrücken“1485. Silva Romero hingegen lobt den Film gerade dafür, dass er „in keiner Weise Partei ergreift“1486, dass er „nicht der Versuchung erliegt, uns die kulturellen Gesten zu erklären“1487, dass bis hin zum Titel alles „eine Metapher [ist], die auf jegliche Weise interpretiert werden kann“1488. Dass El vuelco del cangrejo1489 tatsächlich vielfältig auslegbar ist, beweist ein Blick auf verschiedene Inhaltsangaben zum Film: Während im Filmdatenblatt der Berlinale „das Aufeinandertreffen von westlicher Zivilisation und den Bewohnern eines abgelegenen Dorfs am Rand des Regen­ walds“1490 hervorgehoben wird und der Film als „eine Parabel über das ‚richtige‘ Verhältnis von Geben und Nehmen, über die Macht des Geldes, Modernität und Tradition, Fremdheit und Verbundenheit“1491 eingestuft wird, stellt die kolumbianische Filmbehörde „Proimágenes Colombia“ in ihrem Datenblatt den politischen, sozialen und gesellschaftlichen Konflikt in den Vordergrund: 1482 | Orig.: „El vuelco del cangrejo no es cine colombiano. Es una película hecha en Colombia que se saca de encima el adjetivo. Es, simplemente, cine.“ Silva Romero 2010.

1483 | Orig.: „la típica película-problema“. Susz K. 2012. 1484 | Orig.: „a fin de estirar cualquier anécdota a la duración de un largo“. Susz K. 2012. 1485 | Orig.: „en el entendido de que el lucimiento plástico es tan sólo una coartada para encubrir la negativa a tomar partido – por la cuestión que sea –, escabullendo el bulto hacia los pasteurizados paraísos de la abstinencia ideológica“. Susz K. 2012. 1486 | Orig.: „sin tomar partidos de ninguna clase“. Silva Romero 2010. 1487 | Orig.: „sin caer en la tentación de exlicarnos los gestos culturales“. Silva Romero 2010. 1488 | Orig.: „una metáfora que puede ser interpretada de cualquier manera“. Silva Romero 2010. 1489 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Cameo (Hg.): El vuelco del cangrejo. 2011. 1490 | Quelle: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2010/02_programm_ 2010/02_Filmdatenblatt_2010_20100649.php#tab=filmStills 1491 | Quelle: https://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2010/02_programm_ 2010/02_Filmdatenblatt_2010_20100649.php#tab=filmStills

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

„Cerebro, […] ein Anführer der Eingeborenen afrikanischer Abstammung, unterhält heftige Konfrontationen mit El Paisa, einem Grundbesitzer, der den Bau eines Hotels am Strand plant“1492 . Entscheidend für die individuelle Auslegung des Films scheinen unter anderem der kulturelle Kontext und das jeweilige Vorwissen des Interpretierenden zu sein. El vuelco del cangrejo ist ein klassischer Vertreter des transnationalen Kinos, da er aufgrund seiner Vielschichtigkeit – seines starken lokalen Bezugs zum Trotz – einem internationalen Publikum Raum für unterschiedliche Interpretationen und Deutungen bietet. Die folgende Analyse des Films soll sich, dem Fokus der Untersuchung ent-sprechend, auf die Herausarbeitung der Bezüge zum inner­ kolumbianischen Konflikt konzentrieren, andere mögliche Lesarten werden weitgehend ausgeklammert. Die Präsenz des landesinternen Konflikts wird in El vuelco del cangrejo auf unterschiedlichen Ebenen kommuniziert, ohne physische Gewalt zu inszenieren. Bei Daniels Ankunft in La Barra wird eine nicht näher bestimmte, allgegenwärtige Gefahr zunächst durch Äußerungen der älteren Dorf­ bewohner angedeutet: ein Greis, der Daniel trotz seines hohen Alters nach wenigen Metern gemeinsamen Fußwegs abhängt, ermahnt ihn auf sich aufzupassen, da „dieser Ort nicht mehr so [sei] wie früher“1493. Cerebro1494, ein alteingesessener Sprecher des Dorfes, zeigt sich über Daniels Vorschlag, für Unterkunft und Essen nicht zu bezahlen, sondern zu arbeiten, zwar wenig begeistert, fügt jedoch freundlich hinzu: „Das Gute ist, dass du lebend hier angekommen bist, und ohne Probleme.“1495 Dass mit „Problemen“ nicht nur die gesellschaftlichen Veränderungen gemeint sind, die sich durch die Ankunft des sogenannten „Fortschritts“ (z.B. in Form von Elektrizität) im Dorf vollziehen, wird anhand der Fernseh- und Radio-Berichte, die über die ständig laufenden Geräte auf die Dorf bewohner einströmen, unmissverständlich klar: bei Daniels Ankunft läuft in Cerebros Hütte eine TV-Reportage über den Fund eines Massengrabs, in dem die Leichen von etwa 50 FARC-Kämpfern und Soldaten der kolumbianischen Armee geborgen wurden, gefolgt von einem Aufruf der Regierung an die Bevölkerung, bei der Festnahme der „Verbrecher“ (gemeint sind die Guerilleros) mitzuwirken;1496 ein paar im Schatten der Dorf baracken 1492 | Orig.: „[...] Cerebro, líder de los nativos afrodescendientes, mantiene fuertes enfrentamientos con El Paisa, terrateniente que planea la construcción de un hotel en la playa“. Quelle: http://www.proimagenescolombia.com//secciones/cine_colombiano/peliculas_ colombianas/pelicula_plantilla.php?id_pelicula=1757 1493 | Orig.: „Cuidese mucho que este sitio ya no está como antes“. 03:25-03:29. 1494 | Dt.: „Gehirn“. 1495 | Orig.: „Lo bueno es que llegó con vida y sin ningún problema.“ 09:29-09:31. 1496 | 10:35-11:13.

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herumlungernde Kinder und Heranwachsende lauschen einem Radio-Werbespot des staatlichen Militärs, in dem die Zuhörer aufgefordert werden, einen Beitrag zur nationalen Sicherheit zu leisten und Fälle von Kidnapping zu denunzieren;1497 während der „Paisa“ eine Pause bei den schweißtreibenden Rodungs­arbeiten auf seinem Grundstück einlegt, lauscht er einem Fernsehbericht über den bundesweit organisierten Protestmarsch der indigenen Bauern, die den amtierenden Präsidenten Uribe auffordern, die Vertreibungen zu beenden und mit ihnen in Dialog zu treten.1498 Die eingestreuten Medienberichte erfüllen in Ruiz Navias Film jedoch nicht nur die Funktion, dem Zuschauer den innen­politischen Kontext zur Zeit des Filmdrehs ins Gedächtnis zu rufen, sondern verdeutlichen durch die Montage mit Bildern aus dem Alltag der Dorf ­bewohner auch die Kluft zwischen dem Agieren der Regierung und den realen Bedürfnissen der Menschen in der marginalisierten Pazifik-Kommune. Insbesondere die Aufrufe zur Mithilfe bei der Bekämpfung der Guerilla, welche in La Barra nicht präsent zu sein scheint, wirken angesichts der existentiellen Nöte der Dorfgemeinschaft grotesk: die traditionell vom Fischfang lebenden Bewohner leiden unter chronischer Unterernährung, die, wie Cerebro an einer Stelle des Films erläutert,1499 auf die Plünderung der Meere durch ausländische Großfischereien zurückzuführen ist. Hinzu kommt der fehlende Zugang der Bewohner zu Bildung, Kommunikation und Verdienstmöglichkeiten, im Film verkörpert durch die Figur der Lucía – ein etwa zehnjähriges Mädchen, das Daniel unter dem Vorwand, schulfrei zu haben, begleitet und ihn zum Kauf eines Mittagessens bei seiner Mutter überreden will – und den beiden jungen Männern Miguel und Israel, die von einem ‚modernen‘ Leben in der Stadt träumen und jede Arbeit zu verrichten bereit sind, die sie diesem Ziel näher bringt. Im Gegensatz zu Cerebros Generation, die für den Erhalt und die Autonomie der Afrokolumbianer kämpft, lassen sich die Heran­ wachsenden auf Geschäfte mit dem „Paisa“ ein, der sie jedoch, ebenso wie Cerebros schöne Nichte Jazmín, nach Strich und Faden ausbeutet. Ähnlich wie Daniel drückt sich auch der „Paisa“ darum, die Ortsansässigen für ihre Dienstleistungen – die Heranwachsenden helfen ihm bei geheimnisvollen nächtlichen Ausfahrten auf seinem Motorboot und gehen ihm bei Bauarbeiten zur Hand, Jazmín prostituiert sich – in fester Währung zu bezahlen, stattdessen entlohnt er die Ausgehungerten mit Fisch, welchen er in grotsken Mengen tiefgekühlt in seinem Haus hortet1500 – eine klare Metapher für die ungleiche Güterverteilung 1497 | 18:45-19:05. 1498 | 29:06-29:44. 1499 | 1:04:55-1:05:32. 1500 | Dies wirkt besonders grotesk in der Szene, als Jazmín mit dem „Paisa“ inmitten seiner Fischkisten eng umschlungen Reggaeton tanzt und sich in Erwartung eines Fisches von ihm betatschen lässt. 1:26:54-1:28:19.

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in Kolumbien und auf der ganzen Welt. Der Regisseur verdeutlicht anhand der Figurenkonstellation das politische Machtgefüge in Kolumbien, welches nach wie vor auf Ausgrenzung und Ausbeutung der ethnischen Minderheiten basiert. Gleichzeitig hebt er die Rolle der Massenmedien und des Fernsehens hervor, das insbesondere bei jugendlichen Zuschauern den Wunsch hervorruft, Teil der attraktiven städtischen Konsumgesellschaft zu werden, was häufig die Ablehnung ihrer kulturellen Werte und Traditionen zur Folge hat. Ruiz Navia hat in der dreijährigen Vorbereitungsphase des Films viel Zeit in La Barra verbracht und sich mit den Darstellern angefreundet, die, mit Ausnahme von Jazmín und den weißen Darstellern, alle ortsansässige Laien sind. Über Miguel und Israel sagt er in einem Interview: „Sie sind Jugendliche, die das Dorf nicht mehr mögen, die dort keine Zukunft mehr sehen, […]. Sie wollen nicht mehr fischen, sie wollen kein Holz mehr hacken. Sie wollen in die Stadt ziehen, aufgrund des Fernsehens, aufgrund dessen, was sie in den Fernseh­ apparaten sehen, fasziniert von den Filmen aus Hollywood.“1501

Ihre vermeintliche Brücke zu dieser ersehnten Welt sehen die Jungen in dem „Paisa“, der im Gegensatz zu den Dorf bewohnern über Bildung und Kapital verfügt, mit der begehrtesten Frau des Dorfes schläft und dessen täglich über den Strand dröhnende Musik – ein Song aus dem Genre des Reggaeton, in dem eine stöhnende Frauenstimme dem Zuhörer versichert, dass sie „gleich komme“ – all das verkörpert, wovon die beiden träumen: „Diskos, Flirts, Ärsche, Party-Leute...“1502 . Die unheilvolle Grundstimmung des Films resultiert jedoch nicht nur aus den hier skizzierten sozialen und zwischenmenschlichen Konflikten – der Ausbeutung, der kulturellen Entwurzelung und dem damit einhergehenden Generationenkonflikt – sondern aus der latent spürbaren Bedrohung der Gemeinde durch den „Paisa“, der sich in rücksichtsloser Weise des Territoriums und seiner Bewohner bemächtigt. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Neuankömmling über die etablierten gesellschaftlichen Regeln der Gemeinde hinwegsetzt, zeugen einerseits von seinem rassistischen und klassistischen Gesellschaftsbild (er fühlt sich als Weißer über die Farbigen erhaben, die er, sein Weltbild bekräftigend, auch mit „mein Neger“1503 anspricht), andererseits lässt sein Auftreten vermuten, dass er mächtige Verbündete hat, mit deren Hil1501 | Orig.: „Son jóvenes que ya no quieren el pueblo, que ya no ven un futuro ahí, [...]. Ya no quieren pescar, ya no quieren cortar la leña, y lo que quieren es ir para la ciudad, debido a la televisión, debido a lo que están viendo en los televisores, embobados viendo las películas de Hollywood.“ García A. 2010. 1502 | Orig.: „los discos, los guerreos, los culos, los parches festivos...“ 40:54-40:56. 1503 | Orig.: „mi negro“.

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fe er seine Ziele gegebenenfalls mit Gewalt durchsetzen kann. Dass er nicht nur dazu bereit ist, die Gemeindemitglieder durch fehlende Rücksichtnahme um ihren Schlaf zu bringen (die voll aufgedrehte Musikanlage läuft Tag und Nacht), sondern auch um ihr Leben, wird erst gegen Ende des Films angedeutet, als es zu einer verbalen Konfrontation zwischen Cerebro und dem „Paisa“ kommt. Ohne die Zustimmung des Gemeinderates einzuholen, hat der „Paisa“ mit dem Bau eines Zaunes begonnen, der „seinen“ Teil des Strandes vom Rest abgrenzt, Miguel und Israel helfen ihm dabei. Cerebro, der gemeinsam mit Daniel von einer Ausfahrt durch die urwüchsigen Mangrovenwälder zurückkehrt – eine ruhige, beinahe meditative Sequenz, in der der Alteingesessene über das Leben im Einklang mit der Natur reflektiert1504 – gerät beim Anblick des Zauns in Rage. Wütend weist er die beiden Helfer zurecht, die ihn aufgrund der ohren­ betäubenden Musik zunächst überhören und dann ausweichend antworten: Cerebro: Miguel: Cerebro: Miguel:

„Wem gehört der Strand?“ [zögerlich] „Uns allen.“ „Und du findest es in Ordnung, dass deine Vorfahren, deine Großeltern, deine Eltern ermordet wurden dafür, dass jetzt ein Fremder daherkommt und sich den Strand nimmt? Wie findest du das?“ „Ich weiß nicht...“1505

Anhand ihres verlegenen Ausdrucks wird deutlich, dass die Jungen sich dafür schämen, Verrat an ihren Wurzeln begangen zu haben. Doch Cerebro zeigt keine Nachsicht. Stattdessen befiehlt er dem „Paisa“, den Bau des Zaunes sofort rückgängig zu machen. Dieser gibt sich überrascht und erklärt, sie bauten die Absperrung nur, damit den Jungen beim Fußballspielen nicht der Ball ins Wasser fiele. Cerebro lässt sich nicht beirren und fragt mit Nachdruck, wen er um Erlaubnis gefragt habe. Der „Paisa“ zeigt sich betroffen angesichts des Zorns des Gemeindesprechers. Er erwidert Cerebros festen Blick mit ernster Mine, zittert jedoch sichtlich dabei. Im anschließenden Dialog, der im Schuss-Gegenschuss-Verfahren inszeniert ist und den konfrontativen Charakter des Gesprächs durch Achsensprünge verstärkt, wirkt Cerebro zwar entschlossener und (in charakterlicher Hinsicht) stärker als sein Kontrahent, jedoch sind sich beide der faktischen Machtverhältnisse bewusst, die Cerebro im Dialog explizit formuliert:

1504 | 1:05:32-1:12:42. 1505 | Orig.: „¿De quién es la playa? – De todos nosotros. – ¿Está viendo que la playa es de la comunidad? ¿Le parece que mataron a sus ancestros, sus abuelos, sus padres, para que ahora venga alguién de otro lado, y ahí de quién será la playa? ¿Cómo le parece eso? – No sé...“

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film „Paisa“: „Aber was ist los, mein Neger, was ist passiert?“ Cerebro: „Du weißt nicht, mit wem du dich einlässt, und sag nicht ‚mein Neger‘ zu mir, denn ich bin nicht dein Neger.“ „Paisa“: „Und wie ist dann der Stand der Dinge?“ Cerebro: „Wenn ich dir etwas tue, bringst du mich um.“1506

Dass Cerebro tatsächlich Gefahr läuft, Opfer eines gewaltsamen Übergriffs zu werden, wird durch das Auftauchen dreier weiterer weißer Männer angedeutet, die am Abend in der Strandbar des „Paisa“ zu Gast sind und recht eindeutig als Paramilitärs identifiziert werden können:1507 Als Daniel die Bar betritt, um mit dem „Paisa“ zu sprechen1508, trifft er stattdessen die drei Männer an, die an einem Tisch sitzen und Schnaps trinken (HT). Sie scheinen auf Daniel gewartet zu haben, denn bei seinem Eintreffen lachen sie selbstgefällig und verspotten ihn hinter seinem Rücken. Im Hintergrund schallt zum ersten und einzigen Mal nicht der übliche Reggaeton aus den Boxentürmen, sondern ein sogenannter „Corrido Prohibido“1509, ein ursprünglich mexikanisches Genre, das sich unter anderem durch seine Texte über die ‚Heldentaten‘ der Drogen­ mafia und anderer Akteure der organisierten Gewalt charakterisiert. Ähnlich wie die Paramilitärs in Retratos en un mar de mentiras, die den leichtgläubigen Jairo aushorchen, gebieten die trinkenden Männer Daniel mit einem Unterton, der keine Widerrede zulässt, sich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen zu trinken. Sein zaghafter Versuch, die Einladung zurückzuweisen (er trinkt den hingehaltenen Schnaps im Stehen und möchte weitergehen), werden übergangen. Die wackligen, dokumentarisch anmutenden Handkameraaufnahmen der trinkenden Männern illustrieren den Songtext des „Corrido Prohibido“, der dem Zuschauer die unsympathischen Gäste vorzustellen scheint: „Man nennt mich den Hund Und mein Chef ist Carlos Castaño [Gründer und Führer des paramilitärischen Verbundes AUC] Ich kann sehr gut schießen […].

1506 | Orig.: „Pero cómo así mi negro, ¿qué pasó? – Usted no sabe con quien se está metiendo, y a mí no me diga ‚mi negro‘ que yo no soy su negro. – Entonces, ¿cómo es la vuelta? – Si yo le hago algo a usted, usted a mí me mata.“ 1:13:50-1:13:57. 1507 | 1:21:12-1:22:23. 1508 | Was genau besprochen werden soll, bleibt unklar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Daniel den „Paisa“ dazu bewegen will, ihm ein Motorboot zu besorgen. 1509 | Dt. (etwa): „verbotenes Lied“.

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 Kino in Kolumbien Ich komme aus Montería und ich leugne nicht: ich bin ein Paramilitär.“1510

Auch wenn der Film keinen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen der Konfrontation mit Cerebro und dem Auftauchen der Paramilitärs herstellt, so liegt doch die Vermutung nahe, dass die Paramilitärs vom „Paisa“ zum Zwecke der Einschüchterung einbestellt worden sind. Die Verstrickungen des „Paisa“ in den Paramilitarismus werden – wenn auch unterschwelliger – an mehreren Stellen des Films angedeutet, nicht zuletzt durch seinen Namen, der ihn als Bewohner des Departments Antioquia auszeichnet1511, der Heimat von Ex-Präsident Álvaro Uribe, der der „Para-­ Politik“ beschuldigt und überführt worden ist.1512 In der Figur des aggressiven, rücksichtslosen und selbstsüchtigen „Paisa“ werden darüber hinaus noch weitere Aspekte der Politik der Regierung Uribe zusammengeführt, wie der territoriale Expansionismus, die Öffnung der Wirtschaft für ausländische (hier weiße) Investoren, der Ausverkauf der natürlichen Ressourcen an Großunternehmen (hier Großfischereien), die systematische Ausbeutung und Unterdrückung der ethnischen Minderheiten (hier durch die fehlende Anerkennung ihres Territoriums und ihrer Organisationsformen), die Vertreibung der Landbevölkerung zu Zwecken der privaten oder empresarialen Bereicherung (hier zum Zwecke des Tourismus) – im Zweifelsfall durch den Einsatz von Gewalt.1513 Ähnlich wie Gaviria in Retratos en un mar de mentiras scheint auch Ruiz Navia das nationale Markenlabel „Colombia es pasión“ und die damit zusammen­ hängende Tourismus-Kampagne zu persiflieren: zwar wird die in der Kampagne angepriesene Schönheit des Landes, einschließlich der erotischen Komponente, im Film in Szene gesetzt (z.B. durch lange Einstellungen des endlosen Strandes, des beeindruckenden Tropenhimmels und der Mangrovenwälder, aber auch durch dokumentarisch anmutende Porträts der Gesichter der jugendlichen Fußballspieler, der mal ernsten, mal lachenden Lucía oder der attraktiven Jazmín), andererseits wird dieses paradiesische Bild durch die Offen­ legung der sozialen Missstände und der Atmosphäre der latenten Bedrohung dekonstruiert. Auch der Mythos der touristischen Erschließung des Landes, die laut Werbekampagne durch die militärischen Strategien der Regierung

1510  | Orig.: „A mi me [llaman] El Perro / y mi patrón es Carlos Castaño / soy muy bueno para el tiro […] / vengo desde Montería / y yo no niego / soy un paraco.“ 1:21:12-1:21:43. 1511  | Die Bewohner von Antioquia werden umgangssprachlich als „Paisa“ bezeichnet. 1512  | Vgl. Kapitel III.4.1. 1513  | Vgl. Kapitel III.4.1.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Uribe erreicht geworden ist1514, wird im Fall von La Barra als falsch entlarvt. Zum einen fehlt jegliche Infrastruktur zur Beförderung der Touristen in die Zone, An- und Abreise werden zusätzlich durch Risiken, die mit der Präsenz von Konfliktakteuren einhergehen, erschwert. Zum anderen ist die Möglichkeit, ein touristisches Unternehmen aufzubauen, der weißen Oberschicht mit ‚Beziehungen‘ (hier: der „Paisa“) vorbehalten, während es den Einheimischen sowohl an Budget als auch an Erfahrung und Know-How im Umgang mit Touristen mangelt.1515 Das Ende des Films – der Gemeinderat beschließt unter Cerebros Leitung den kollektiven Widerstand gegen die weißen Eindringlinge und ihre Pläne – lässt unterschiedliche Bezüge zum landesinternen Konflikt erkennen. Mithilfe der Figur Daniels, der den Zuschauer als neutraler, meist passiver Beobachter durch den Film führt und der am Ende von der afrokolumbianischen Gemeinde aufgrund seiner unfreiwilligen Zecherei mit den Para­militärs verstoßen wird, spielt der Film auf die Schwierigkeit der Neutralität im inner­ kolumbianischen Konflikt an. Daniel gerät zwischen die Fronten, da er, seinen eigenen Interesse folgend, im Konflikt zwischen Cerebro und dem „Paisa“ nicht Partei ergreift. Cerebro, der Daniel bei sich aufgenommen hat, bestraft ihn für seinen Besuch beim „Paisa“ mit dem Ausschluss aus dem Dorf, und auch der „Paisa“ droht Daniel indirekt mit Konsequenzen, wenn er nicht mit ihm zusammenarbeitet1516. Daniel, den der Regisseur in einem Interview als Prototypen des jungen Städters beschreibt, der vor seinen persönlichen Problemen davonzulaufen versucht,1517 ist ebenso wie die junge Generation von La Barra frei von politischem Ehrgeiz und ideologischen Prinzipien. Seine Unfähigkeit, seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen, unterscheidet ihn von Cerebro und den anderen Vertretern der älteren Generation. Die Metapher der „Krebsfalle“, deren Funktionsweise von Lucía demonstriert wird1518 und die durch den Titel des Films (Crab Trap) zentrale Bedeutung erhält, wird zum Sinn­ 1514  | Vgl. Kapitel III.4.1. 1515 | Letzteres äußert sich z.B. dadurch, dass Miguel und Israel, aber auch Lucía und ihre Schwestern, Daniel in derart penetranter Weise zur Kasse bitten, dass er sich selbst dann nicht wohlfühlen würde, wenn er wirklich ein zahlungsfähiger Tourist wäre. 1516  | Nach der Konfrontation mit Cerebro spricht der „Paisa“ Daniel auf seine zerstörte Musik-Anlage an und legt ihm nahe, ihm bei der Reparatur zu helfen anstatt für Carebro Müll aufzusammeln. Indirekt verlangt er von ihm, sich auf seine Seite zu schlagen. Sein Vorgehen wirkt so bedrohlich, dass Lucía Daniel ängstlich fortzieht. Daniel reagiert ausweichend und sucht den „Paisa“ am Abend in seiner Bar auf, wo er von den Paramilitärs erwartet wird. 1:18:28-1:19:10. 1517 | Siehe García A. 2010. 1518  | 48:57-50:54.

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bild für die Lebenssituation von Daniel, und im übertragenen Sinne für eine ganze Generation: „[...] wie ein Krebs, der festsitzt, unbeweglich, und es ist egal, wohin er geht oder woher er kommt, es geht um eine Person, der es nicht gut geht, die fort will. [Es geht um] diese Sorte von Leuten, die verloren sind; sie sind das Spiegelbild vieler Heranwachsender in Kolumbien, die in derselben Situation sind, denen es nicht gut geht, […], die von einer Menge Probleme umgeben sind.“1519

Im Gegensatz zur Hilflosigkeit und der Passivität des gefangenen Krebses steht die kämpferische Haltung Cerebros und der älteren Dorf bewohner, die in der letzten Einstellung des Films – mit Macheten bewaffnet und einen traditionellen Gesang anstimmend, der ihrer kulturellen Identität Ausdruck verleiht – der Mauer des „Paisa“ entgegentreten und diese niederschlagen:1520 anders als der prinzipien- und identitätslose Daniel haben sie ein kollektives politisches Ziel – ihre Freiheit und Autonomie –, für das sie unter Einsatz ihres Lebens zu kämpfen bereit sind. Auch Daniel setzt sein Leben aufs Spiel, als er schließlich mit dem Motorboot des „Paisa“, zu dem Lucía ihm verhilft, aufs offene Meer hinaustreibt. Im Gegensatz zu Cerebro opfert er sein Leben jedoch nicht für eine politische Sache, sondern sinnlos. Auch auf das Problem der ungerechten Landverteilung, das als Ausgangs­ punkt für die Violencia der 1940er Jahre angesehen wird,1521 scheint das Filmende anzuspielen: wie die Bauern, die während der Violencia aufgrund der ausbleibenden Landreform zur Machete griffen, um für ihre Rechte zu kämpfen, erheben die afrokolumbianischen Gemeindesprecher am Ende des Films symbolisch die Waffe gegen die unrechtmäßige Aneignung ihres Strandes durch den weißen Grundbesitzer. Ruiz Navia macht durch dieses Ende auf einen bis heute bestehenden Missstand im kolumbianischen Landrecht aufmerksam, den Cerebro an einer Stelle des Films erläutert:1522 die Gemeinde kann nicht rechtlich gegen das rücksichtslose Treiben des „Paisa“ vorgehen, da dieser das Land vom Staat gekauft hat und dies durch eine Besitzurkunde nachweisen kann – im Gegensatz zu den Afrokolumbianern von La Barra, de1519  | Orig.: „[...] como un cangrejo ubicado allí en el sitio, inmóvil y no importa para donde va o por donde viene, la cuestión es la de una persona que no está bien, que quiere irse. Este tipo de seres humanos que están perdidos, son el reflejo de muchos jóvenes de Colombia a los que pasa eso, […] y alrededor suyo hay una cantidad de cosas.“ Oscar Ruiz Navia, zitiert in: García A. 2010. 1520 | Das Zerschlagen der Mauer ist nur auf der Tonspur zu hören; auf der Bildebene wird ins Black geschnitten. Danach setzen die Schlusscredits ein. 1:31:53-1:32:34. 1521  | Siehe Kapitel II.1.1.2 und II.1.1.3. 1522 | 32:08-32:32.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

ren Vorfahren nach der Abschaffung der Sklaverei in dieser abgelegenen und infrastrukturschwachen Region angesiedelt worden sind, denen jedoch bis heute von offizieller Seite der Besitzanspruch auf dieses Land verwehrt wird, das sie seit Generationen bewohnen.1523 Dieser Umstand, auf den Ruiz Navia auch durch den eingespielten Nachrichtenbeitrag über den Protestmarsch der indigenen Kleinbauern Bezug nimmt, hat während der Regierung Uribe zu massiven (nach Darstellung der Regierung legalen) Vertreibungen der ethnischen Minderheiten aus ihren Gebieten geführt.1524 Die kämpferische Haltung, die die afrokolumbianischen Sprecher am Ende des Films einnehmen, könnte folglich als politisches Statement des Regisseurs gewertet werden: als Aufruf für den organisierten Widerstand der ethnischen Minderheiten, und, in Bezug zur Passivität Daniels, der als Repräsentant der ‚modernen‘ städtischen Gesellschaft angesehen werden kann, als Aufruf zur Solidarisierung mit diesen Menschen und dem Kampf für ihre Rechte.

III.4.4.2 La Sirga (The Towrope. William Vega, 2012, Kolumbien/Frankreich/Mexiko) William Vegas Erstlingswerk, das 2012 in Cannes (Sektion: Quinzaine des Réalisateurs) uraufgeführt wird, weist in Hinblick auf seinen Produktions­ prozess einige Parallelen zu El vuelco del cangrejo auf. Zu nennen ist zum einen die Produktion durch die jungen kolumbianischen Produktionsfirmen Contravía Films und Burning Blue (Diana Bustamante) sowie die Förderung durch nationale und transnationale Institutionen (im Falle von La Sirga durch den FDC, Ibermedia und den französischen Sud Cinema Fonds), zum anderen fallen in Bezug auf die Besetzung der künstlerischen Positionen mehrere Überschneidungen auf: William Vega war Regie-Assistent in Oscar Ruiz Navias Debüt, wobei er sich von der Arbeitsweise seines Freundes inspirieren ließ und bestimmte Aspekte auf La Sirga1525 übertrug, wie z.B. die Arbeit mit professionellen Darstellern und ortsansässigen Laien, die kollektive Erarbeitung des Drehbuchs oder die Improvisation der Sequenzen und Dialoge durch die Darsteller, denen nur ihre Rolle in der Geschichte, nicht aber der Plot als Ganzer bekannt war.1526 Ruiz Navia seinerseits hat La Sirga produziert und die Dreh­ arbeiten als Assistent begleitet. Eine weitere personelle Überschneidung findet 1523 | Cerebro geht hierauf während der bereits erwähnten Ausfahrt mit Daniel durch die Mangrovenwälder ein. 1524 | Siehe Kapitel III.4.1. 1525 | Die Analyse dieses Films basiert auf folgender Fassung: Filmmovements (Hg.): La Sirga. 1526 | Diese Arbeitsweise erzeugt, Ruiz Navia zufolge, beabsichtigte Momente der Unsicherheit oder der Überraschung bei den Darstellern und sorgt so für mehr Authentizität im Schauspiel. Siehe García A. 2010.

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sich in Sofía Oggioni1527 an der Kamera: Die junge kolumbianische Kamera­ frau – eine der wenigen in diesem eher männlich dominierten Metier – ist für die viel gelobte Ausdruckskraft der stimmungsvollen Bilder sowohl in El vuelco del cangrejo als auch in La Sirga verantwortlich. Ihr Talent wird ergänzt durch das von Marcela Gómez, die in beiden Filmen als Art Director fungiert und das detailliert gearbeitete Ambiente der Innenräume gestaltet hat.1528 Eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich in Bezug auf das Publikum feststellen: beide Filme haben Anerkennung im Ausland erfahren, wo sie von internationalen Institutionen gefördert und auf bedeutenden Festivals prämiert worden sind. Der zu erwartende Erfolg an den kolumbianischen Kinokassen ist jedoch ausgeblieben1529 – zum Leidwesen der Regisseure, die es bedauern, dass ihre Bemühungen, den entlegenen Regionen ihres Landes und seinen Bewohnern einen Platz auf der großen Leinwand einzuräumen, vom heimischen Kinopublikum kaum honoriert werden.1530 In dieser Hinsicht teilen El vuelco del cangrejo und La Sirga das Schicksal vieler sogenannter „Festivalfilme“ überall auf der Welt, die aufgrund ihres eher künstlerischen als unterhaltenden Anspruchs kaum kommerzielle Erfolgsaussichten haben. Wie Ruiz Navias Film weist auch La Sirga keinen klassischen Handlungs­ auf bau auf, sondern erzählt in fragmentierten, unabgeschlossen wirkenden Sequenzen, in denen meist zwei der fünf namentlich etablierten Figuren (Alicia, Oscar, Flora, Mirichis und Freddy) in wechselnden Konstellationen miteinander in Kontakt treten – oder miteinander schweigen. Die Figuren selbst, ihre Motivationen und Absichten, sind genauso undurchsichtig wie die wolken­ verhangene, neblige Landschaft der Lagune „La Cocha“, die in 2680 Metern Höhe in der zentralen Andenkordillere im Südwesten Kolumbiens gelegen ist. Die Lagune und die mit ihr verbundenen Mythen sind, William Vega zufolge, wichtige Bezugspunkte für Handlung und Figuren:

1527 | Sofía Oggionis Karriere beginnt als Kameraassistentin in kolumbianischen Produktionen wie El Rey (Antonio Dorado, 2004) oder La historia del baúl rosado (Libia Stella Gómez, 2005). Später ist sie in erfolgreichen Koproduktionen wie La sociedad del semáforo (Rubén Mendoza, 2010) selbst hinter der Kamera, für El vuelco del cangrejo, La Sirga und Los hongos (2014) übernimmt sie zusätzlich die Kameraregie. 1528 | Das Gästehaus „La Sirga“ wurde eigens für den Film gebaut und ausgestattet. Quelle: La Sirga Presskit english. In: DVD mit Pressematerial zu La Sirga, herausgegeben von Viviana Andriani zur Präsentation auf dem 65. Festival von Cannes (2012). 1529 | El vuelco del cangrejo lockt in Kolumbien gerade einmal 8.000 Zuschauer ins Kino (siehe García A. 2010), La Sirga, der als erster kolumbianischer Film in Kolumbien eine Onlinepremiere feiert, nur knapp 6.000 (Quelle: http://cinecolombiano.com/taquilla_1962_2015/ total-1962-a-2013/). 1530 | Siehe García A. 2010.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film „The Lake, being one of the seven energized points on the earth, is one of the principal characters of La Sirga. It is the only one always present; she will always be there, like an accomplice, a witness, a provider. Her mirror reflects the characters’ inner universe, [...] which is tacitly drawn on their faces.“1531

Die einzigartige Stimmung dieses für die indigene Bevölkerung heiligen Ortes fängt Sofía Oggioni in langen, meist unbewegten Totalen oder Panorama­ einstellungen ein, durch die sich die Protagonisten zu Fuß oder auf Booten fortbewegen. Das sichtbar raue und kalte Klima wird bei den Außen­aufnahmen durch eine Atmo aus Wasserplätschern, Windrauschen, hölzernem Knarzen und gelegentlichem Donnergrollen untermalt. Das auf diese Weise erzeugte Ambiente wirkt latent bedrohlich. In Verbindung mit der vermeintlichen Ereignis­losigkeit, die die ruhigen, langen Einstellungen vermitteln, ruft der Film die Assoziation einer ‚Ruhe vor dem Sturm‘ hervor. Die dunklen, kargen Innenräume des verfallenden Gästehauses „La Sirga“, in dem der Film überwiegend spielt, erzeugen beim Zuschauer ein Gefühl von beinahe klaustrophobischer Enge. Die Begegnungen der Figuren werden von einem geheimnisvollen und zugleich unheilvollen Schweigen begleitet, das nur selten ohne triftigen äußeren Anlass gebrochen wird. Auch wenn die Bewohner den Schein eines normalen Arbeitsalltags aufrechterhalten – sie widmen sich dem Kohleabbau und -transport, der Fischzucht und den Vorbereitungen auf das Eintreffen des lang ersehnten Tourismus (eine weitere Parallele zu El vuelco) – häufen sich die Anzeichen auf das Näherrücken des bewaffneten Konflikts, auf das sie sich insgeheim vorbereiten. An diesen unwirtlichen Ort gelangt Alicia (verkörpert durch die indigene Schauspielerin Joghis Arias), eine junge Frau, deren Dorf von einer bewaffneten Gruppe niedergebrannt wurde und die Unterschlupf bei ihrem Onkel Oscar (Julio César Roble) sucht, der am Ufer der Lagune lebt. Die Exposition des Films1532 dokumentiert ihren hindernisreichen Weg durch den „páramo“, eine spezielle Form der andinen Hochlandschaft, und beschreibt ihre Ankunft an der Lagune, wo sie vor Erschöpfung zusammenbricht und von Mirichis (Davíd Fernando Guacas), einem jungen Bootsmann, aufgefunden und zu ihrem Onkel gebracht wird. Bereits in der ersten Einstellung1533 der Exposition wird die bevorstehende Ankunft des bewaffneten Konflikts in der Region symbolisch vorausgedeutet: Eine Totale zeigt einen Mast inmitten einer nebligen Gras­ landschaft, an dem die Leiche eines jungen Mannes hängt. Der Anblick erinnert entfernt an den einer Vogelscheuche, als diente der ausgestellte Leichnam der Abschreckung. Die Untersicht, aus der die Aufnahme geschossen wurde, 1531 | William Vega in: La Sirga Presskit english. 1532 | 00:50-06:50. 1533 | 00:51-01:05.

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verstärkt die bedrohliche Wirkung des Bildes. Es folgt eine totale Aufnahme der schilf bewachsenen Böschung der Lagune, an deren Ufer ein eigenartiger, kleiner Grashügel wie von Geisterhand getrieben von links nach rechts durchs Bild zieht.1534 Darauf wird ins Black geschnitten, und der Titel des Films – „La Sirga“1535 – wird eingeblendet. Durch die Montage dieser Einstellungen etabliert Vega einerseits das Glaubenssystem des Films (die metaphysische Realität der sagenumwobenen Lagune) und liefert gleichzeitig Hinweise auf das zentrale Thema des Films (die politische Gewalt, symbolisiert durch das intentionale Ausstellen der Leiche am Mast) und die Art der filmischen Umsetzung dieses Themas durch Symbole und Metaphern sowie durch stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen, die das Innenleben der Protagonisten wiedergeben. Ähnlich wie in El vuelco del cangrejo wird die Gewalt in La Sirga nicht im Bild inszeniert, sondern assoziativ über die Tonebene vermittelt: „The war reaches us through sound asociations. […] it is a sound film where dialogs, the ambiente, the noise and the quite inform in a way independent from the visual.“1536 Die durch den Sound erzeugten Stimmungen sind ebenso ambivalent wie die Figuren selbst: die Stille im Inneren von „La Sirga“ wirkt einerseits beruhigend, da sie im Gegensatz zum peitschenden Wind und Regen draußen Sicherheit und Geborgenheit suggeriert, andererseits jedoch unheimlich, leer und kalt, da sie das Fehlen zwischenmenschlicher Wärme und die Weigerung zur direkten Kommunikation verdeutlicht, die den gegenseitigen Umgang der Bewohner bestimmen. In der Inszenierung von Alicias Ankunft im Haus ihres Onkels1537 werden einerseits die durch den Sound suggerierten Stimmungen und andererseits die befremdlich wortkarge, indirekte Kommunikation der Protagonisten deutlich. Zunächst wird die auf dem Sofa schlafende Alicia im Top-Shot1538 (HT) gezeigt – das Mädchen war von Mirichis ohnmächtig abgeliefert worden –, im Hintergrund ist dezent das Prasseln eines Kaminfeuers zu hören. Der Anblick der bunten Strickdecke, auf der Alicia liegt, erzeugt in Verbindung mit dem Feuerknistern den Eindruck relativer Geborgenheit. Es folgen Außenaufnahmen der Lagune im sanften Licht der Dämmerung, die gemeinsam mit dem leisen Pflätschern des Wassers ebenfalls beruhigend wirken. Als es tagt, erwacht Alicia und setzt sich im Sofa auf. Oscar betritt mit einer Axt und Feuerholz den Raum, nimmt sich einen Stuhl und setzt sich grußlos zu ihr in die dunkle Ecke, in der das Sofa steht. Es breitet sich eine Stille 1534 | 01:06-01:55. 1535 | Im Presskit zu La Sirga wird folgende Übersetzung angegeben: „Juggling action to throw fishing nets, to tug boats from land, principally in river navigation“. 1536 | Quelle: La Sirga Presskit english. 1537 | 06:56-10:13. 1538 | An mehreren Stellen des Films werden Top-Shots zur Veranschaulichung von todesnahen Momenten oder Gefahr verwendet.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

aus, die angesichts der angespannten Gesprächs­haltung beider Dialog­partner bedrückend wirkt. Die Stille wird durch ein bedrohliches Donner­grollen unterbrochen, als Alicia dem Onkel den Grund für ihr Kommen nennt: „Sie haben Siberia [Name eines Dorfes] abgebrannt.“1539 Der nachfolgende Dialog ist in Großaufnahmen inszeniert, die im Schuss-­Gegenschuss-­Verfahren montiert sind. Die Intimität, die durch diese Inszenierung entsteht, wird gebrochen, als Oscar als Antwort auf Alicias Frage, ob sie bleiben dürfe, aufsteht und entgegnet: „Ich habe dir doch gesagt, dass es [die Situation] hier sehr schwierig ist.“1540 Ebenso wie der Zuschauer interpretiert Alicia die Worte des Onkels als Zurückweisung, und sie wendet sich zum Gehen. Doch Oscar hält sie mit den Worten zurück, sie solle essen und sich im mittleren Schlafzimmer des Untergeschosses einrichten. Ebenso unterschwellig, wie er seine Zustimmung zur Aufnahme seiner Nichte kommuniziert, gibt Oscar während des kurzen Gesprächs auch seine Haltung zu Alicias Familie preis. Als das Mädchen sich zu Beginn des Gesprächs als seine Nichte vorstellt und damit an seinen familiären Verantwortungssinn appelliert, erwidert er mit finsterer Mine, dass er lange nichts von seinem Bruder gehört habe.1541 Der Zuschauer kann daraus schließen, dass er sich seinem Gegenüber zu keinem Gefallen verpflichtet fühlt. Als er erfährt, dass Alicias Mutter beim Angriff auf das Dorf im Haus verbrannt ist, breitet sich eine Regung des Schmerzes in seinem Gesicht aus1542, auch wenn er dieses Gefühl, ebenso wie Alicia, die tapfer gegen die heraufsteigenden Tränen ankämpft, zu unterdrücken versucht. Der bewaffnete Konflikt und das damit verbundene Grauen – das wird an dieser Stelle klar – sind für die Protagonisten ein Tabu-Thema, auf das sie weder verbal noch emotional eingehen, auch dann nicht, wenn eigene Familien­angehörige betroffen sind. Das Bild, das sich dem Zuschauer auf der Grundlage der einsilbigen Schilderungen Alicias vom Hergang des Massakers erschließt, bleibt verschwommen, nebulös und voller offener Fragen: Alicia: Oscar: Alicia: Oscar:

„Sie haben alles in Brand gesetzt.“ „Wer war es?“ „Ich weiß es nicht.“ „Welche Farbe hatte ihre Armbinde?“

1539 | Orig.: „Quemaron Siberia.“ 08:20-08:32. 1540 | Orig.: „Ya le dije que por aquí está muy jodido.“ 09:37-09:42. 1541  | 07:53-08:20. 1542 | Das nuancierte Schauspiel von Julio César Roble vermittelt dem Zuschauer indirekt, dass Oscar in Alicias Mutter verliebt war und aus diesem Grunde den Kontakt zu seinem Bruder abgebrochen haben könnte.

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 Kino in Kolumbien Alicia: „Ich weiß es nicht.“ Oscar: „Der Berg soll sie verschlucken...“1543

Ähnlich wie in vielen frühen Filmen über die Violencia der 1950er Jahre, in deren Darstellung die Urheberschaft der Gewalt ebenso unklar bleibt wie deren Hintergründe,1544 hat die Gewalt in La Sirga das Gesicht einer unberechenbaren Naturgewalt, die in unvorhersehbarer Weise über die schutzlose Bevölkerung hereinbricht. Dies wird an mehreren Stellen des Films über die Metapher des Donnergrollens versinnbildlicht, welches das nahende „Unwetter“ ankündigt.1545 Die scheue Art, in der Alicia dem Onkel vom Schicksal ihrer Eltern berichtet, zeugt davon, dass sie weder mit Mitleid noch mit Hilfe rechnet. Ihre Bemühung, den der Situation angemessenen Schmerz beim Sprechen zu unterdrücken, deutet darauf hin, dass sie sich sogar schuldig fühlt und fürchtet, bestraft zu werden. Ähnlich wie Marina, die traumatisierte Protagonistin in Retratos en un mar de mentiras, hat Alicia kein Recht auf ihren Schmerz. Die Bewohner der Lagune wollen die Realität des bewaffneten Konfliktes nicht wahrhaben und versuchen sich durch ihr Schweigen gegen seine Existenz aufzulehnen. Die Lesart, dass dieses Verhalten auf einem Aberglauben beruhen könnte – z.B. dass die Dinge erst Gestalt annehmen, wenn sie benannt werden – ist in Vegas Film durchaus angelegt.1546 Darüber hinaus ist das Schweigen eine klare Metapher für die verbreitete Tabuisierung des Konflikts in der Bevölkerung – jeder weiß davon, aber man spricht nicht darüber.1547 Anstatt Alicia durch eine Geste der Solidarität oder Anteilnahme zu trösten, wie es von einem Familienmitglied zu erwarten wäre, bestätigt Oscar durch seine schroffe Art und sein abweisendes Verhalten Alicias Schuldgefühle. Er gibt ihr zu verstehen, dass sie zwar geduldet, aber nicht willkommen ist. Seine Gründe hierfür sind einerseits persönlicher Natur (er führt ein eremitisches Einzelgängerdasein, welches er durch Alicias Ankunft gefährdet sieht), andererseits nennt Oscar finanzielle Probleme: der Kohlepreis sei zurückgegangen

1543 | Orig.: „Metieron candela a todo. – Quiénes fueron? – No sé. – ¿De qué color era el brazolete? – No sé. – Que se los trage el monte...“ 08:40-09:06. 1544 | Z.B. in Esta fue mi vereda oder El río de las tumbas. Vgl. Kapitel I.1.2. 1545 | In einem Gespräch zwischen Freddy und Alicia, bei dem jener der Cousine von seinen Sorgen um den Vater erzählt, wird die Metapher des Unwetters besonders deutlich. Es donnert in der Ferne, darauf beklagt Alicia, dass es wieder regnen werde. Doch Freddy erwidert sorgenvoll: „Das ist kein Donner.“ (Orig.: „Eso no son truenos.“) 1:00:00-1:00:02. 1546 | An mehreren Stellen des Films werden abergläubische Rituale der Lagunenbewohner in Szene gesetzt, z.B. wenn Oscar sich allabendlich mit einer Skorpion-Tinktur einreibt. 1547 | Es sei an dieser Stelle an Castillejo Cuéllar erinnert, der das Schweigen im kolumbianischen Kontext als Überlebenstaktik bezeichnet hat. Siehe Castillejo Cuéllar 2000, 17.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

und die Lage sei dementsprechend schwierig.1548 Auf subtile Weise spielt der Film auf den Zusammenhang von wirtschaftlichen Problemen und den gesellschaftlichen Herausforderungen an, die sich aus dem bewaffneten Konflikt und der damit verbundenen Binnenflüchtlingsproblematik ergeben. Für die Bewohner der infrastrukturschwachen ländlichen Regionen, in denen die Mehrzahl der Kampfhandlungen stattfinden, stellt die Aufnahme von Flüchtigen eine unzumutbare Belastung dar. Den Vertriebenen bleibt daher oftmals nur die Abwanderung in die ohnehin überfüllten Vororte der Großstädte – eine Option, die Alicias undurchsichtiger Cousin Freddy (Heraldo Romero), der wenige Tage nach ihrer Ankunft eintrifft, dem Mädchen und Oscar eröffnet. Der Film liefert eine Reihe indirekter, aber unmissverständlicher Hinweise darauf, dass Oscars Sohn Freddy in einer bewaffneten Gruppierung – vermutlich in der Guerilla – aktiv ist. Dafür sprechen seine Verletzung am Arm, für die er keine glaubwürdige Erklärung anführen kann,1549 seine Fähigkeit zu kochen, die Oscar grimmig mit „und selbst das […] haben sie dir beigebracht“1550 kommentiert, sein Wissen darüber, dass ein Angriff auf La Cocha geplant ist, sowie seine eindringlichen Versuche, den trotzigen Vater und die miss­trauische Alicia zu überreden, sich durch eine Flucht in die Stadt zu retten. Auch Mirichis, der Alicia verehrt und zu gelegentlichen Ausflügen abholt, scheint einer Konfliktpartei anzugehören oder den Kampf zumindest zu unterstützen. Die mehrfach durch die Inszenierung suggerierte Vermutung, dass Mirichis neben Kohle und anderen Gütern auch Waffen über den See transportiert, bestätigt sich, als eine Detailaufnahme seiner Fracht mehrere Gewehrkolben erkennen lässt.1551 Auch Mirichis scheint über den geplanten Überfall auf die Siedlung unterrichtet zu sein, denn auch er bittet Alicia mit ihm zu kommen, sobald er vor Ort alles „erledigt“ habe. Alicia, die seine Zuneigung erwidert, scheint diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, auch wenn sie sich nicht festlegen will. Als Mirichis seinem Angebot Nachdruck verleiht, indem er ihr ein Holzpüppchen schenken will, das ihn selbst darstellt – ein klares Liebes­bekenntnis –, vertröstet sie ihn mit einem Lächeln auf „morgen“.1552 Die Inszenierung ihres Auseinandergehens – Mirichis Boot treibt langsam vom Ufer weg, an dem Alicia zurückbleibt – deutet jedoch an, dass der Abschied definitiv sein könnte.

1548 | 09:10-09:14. 1549 | Er habe „etwas Dummes“ getan und eine Zigarette in der Nähe vom Benzin angezündet. 57:30-57:38. 1550 | Orig.: „Y hasta cocinar me le han enseñado.“ 55:44-55:45. 1551  | 33:08-33:25. 1552 | 1:17:38-1:18:36.

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Die übernächste Einstellung1553 ist aus einer kleinen Wasserstraße im meterhohen Schilf heraus gefilmt, die an einer Stelle den Blick auf den offenen See freigibt. Durch die Öffnung im Schilf kann der Zuschauer beobachten, wie Mirichis auf seinem Ruderboot durch den See kreuzt. Die Fahrtrichtung des Bootes von rechts nach links, die unserer gewohnten Leserichtung (von links nach rechts) widerspricht – ein subtiles, aber häufig eingesetztes filmisches Stilmittel –, lässt den Zuschauer aufhorchen und signalisiert ihm, dass Gefahr droht. Kurz darauf sind lauter werdende Motorengeräusche zu hören, und es erscheint ein Motorboot, das Mirichis Ruderboot in hoher Geschwindigkeit nachsetzt. Auch wenn der Fahrer des Motorbootes nicht zu erkennen ist, kann geschlussfolgert werden, dass es sich um Freddy handeln muss: dieser hatte zuvor das Motorboot seines Vaters geliehen und sich damit in einer Gasse im Schilf versteckt, die er am Tag zuvor eigenhändig geschlagen hat. In der darauffolgenden Nacht packt Freddy hastig seine Sachen und betritt Alicias Kammer, wo er sie brutal aus dem Schlaf reißt1554 und eindringlich auffordert, diesen Ort zu verlassen. Am nächsten Tag wartet Alicia vergeblich auf Mirichis. Als dieser nicht erscheint, betritt sie verbotenerweise Feddys Zimmer. Auf seinem Bett findet sie das Holzpüppchen, das Mirichis ihr am Tag zuvor schenken wollte.1555 Der Verdacht, dass Freddy ihren Freund ermordet haben könnte1556, erhärtet sich, als Oscar am nächsten Tag eine auf einem Mast trapierte Leiche erblickt, die aus dem hohen Schilf ragt und aufgrund der Kleidung als Mirichis identifiziert werden könnte1557 – dieselbe, die in der ersten Einstellung des Films als symbolische Vorausdeutung der Gewalt zu sehen ist. Die vorletzte Einstellung des Films zeigt Alicia mit einem gepackten Bündel vor dem Haus des Onkels (T),1558 das sie während ihres Aufenthalts, gemeinsam mit der Nachbarin Flora, für die Ankunft etwaiger Touristen renoviert und geschmückt hat. Sie betrachtet lange ihr Werk. Es erfolgt ein Schnitt auf eine nahe Einstellung1559, die Alicia mit den beiden Holzpüppchen zeigt, 1553 | 1:19:00-1:19:39. 1554 | Die Kamera bleibt während der gesamten Sequenz in Freddys Kammer, so dass der Zuschauer den nächtlichen Überfall nur über die Tonspur verfolgen kann. Obwohl sich die Vermutung, Freddy könnte Alicia vergewaltigen, nicht bewahrheitet, wirkt Freddys Vorgehen – er hält ihr den Mund zu, damit sie nicht schreit – gewalttätig. 1:20:43-1:22:17. 1555 | 1:23:42-1:24:07. 1556 | Freddy wird mithilfe von Bildmetaphern schon zuvor als potenzieller Mörder inszeniert, z.B. als er mit einer riesigen Sense das Schilf mäht (1:04:27-1:05:10) oder als angedeutet wird, dass er einem Huhn mit der bloßen Hand den Hals brechen wird (1:02:451:03:27). 1557 | 1:24:08-1:24:46. 1558 | 1:24:48-1:24:55. 1559 | 1:24:56-1:25:52.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

die sie und Mirichis darstellen. Entschlossen steckt sie sie in ihr Bündel und wendet sich zum Gehen. Zwar steht das Mädchen am Ende des Films erneut vor einem Neuanfang: wieder wird sie vertrieben, wieder hat sie einen nahestehenden Menschen verloren, wieder ist sie allein und weiß nicht, wohin sie gehen soll. Dennoch scheint sie im Vergleich zum Anfang des Films gefestigt. Durch die Arbeit in „La Sirga“ hat sie Vertrauen in sich und ihre eigenen Fähigkeiten gewonnen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Renovierung des Hauses angesichts der ausbleibenden Touristen und der nahenden Zerstörung umsonst war – eine Arbeit, die in ihrer Sinnlosigkeit an den Sisyphos-Mythos erinnert, die letztendlich aber der persönlichen Weiterentwicklung der Protagonistin gedient hat. Durch die Begegnung mit Mirichis und den Annäherungsprozess mit ihrem Onkel, dessen Zuneigung zu Alicia, wie noch erläutert werden soll, äußerst ambivalent inszeniert ist, der sich aber als zuverlässiger Beschützer erweist, hat das Mädchen das Vertrauen in andere Menschen zurückgewonnen. Die Möglichkeit, zukünftige Beziehungen eingehen zu können, wird durch die beiden Holzpüppchen angedeutet, die sie mit sich nimmt. Der Text des mit den Schlusscredits einsetzenden Titelsongs – ein traditionelles Volkslied aus der Region, interpretiert von den Bewohnern der Lagune, die in einer anderen Sequenz des Films musizierend auftreten1560 – handelt von einem Bauern, der sein Land verlassen musste, nach zehn Jahren dorthin zurückkehrt und feststellen muss, dass nichts von dem mehr existiert, was er einst aufgebaut hatte: Haus, Felder und Freundeskreis.1561 Der Text stellt einen Zusammenhang her zwischen Alicias Schicksal und dem von Millionen von Kleinbauern, die von ihrem Land vertrieben worden sind. Gleichzeitig vermittelt er, dass der Abschied für die Vertriebenen endgültig ist: selbst wenn sie nach Jahren der Abwesenheit an ihren früheren Wohnsitz zurückkehren – eine Möglichkeit, die das Opferentschädigungsgesetz von 2011 den Vertriebenen rechtlich ermöglicht1562 – so kann das alte Leben dennoch nicht wieder hergestellt werden. Das Ende von La Sirga betont die Existenz des opferreichen Konflikts, die im Film über lange Strecken vom Schweigen überdeckt wird, und erinnert gleichzeitig daran, dass der ärgste Verlust für die Vertriebenen nicht in materiellen Gütern besteht, sondern in dem Verlust ihrer Heimat – ein Verlust, der durch Zahlungen oder Rückerstattungsmaßnahmen nicht wiedergutzumachen ist.

1560 | 36:48-37:46. 1561 | 1:25:55-1:30:09. 1562 | Siehe Kapitel III.4.1.

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Durch die Figur der Alicia, die auch aus den eigenen Erfahrungen der Haupt­ darstellerin als Vertriebene gespeist wird1563, reflektiert der Regisseur auch über die Rolle der Frauen im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts. Dabei ist es Vega wichtig, aus dem Klischee der weiblichen Opferrolle auszubrechen: Für ihn ist La Sirga „[…] a story that distances itself from the paternal vision of the victims of an armed conflict to live alongside the qualities and defects of a human being. […] Alicia is my mother and my daughter, my sister and my wife. She is the survivor of her own mistakes and of the evil in men; beautiful and turbid; generous and destructive.“1564

Tatsächlich sind die beiden Frauen im Film – Alicia und Flora – äußerst starke Frauen. Von den Männern allein gelassen, die entweder in einer Konfliktpartei kämpfen, tot sind oder, wie im Fall von Floras Mann angedeutet wird, auf den Cocafeldern beschäftigt sind1565, übernehmen sie neben ihren traditionellen Aufgaben klassische Männerarbeiten: sie reparieren Dächer, schleifen Dielen ab, ersetzen Balken und hantieren mit schwerem Werkzeug. Dass Alicia mit diesen Aufgaben zunächst überfordert ist, kommuniziert der Film durch zahlreiche kleinere Unfälle. Alicia bricht mit dem Fuß durch eine morsche Boden­ planke und verletzt sich am Bein; bei den Reparaturarbeiten am Dach, die während strömendem Regen stattfinden, erkältet sie sich schwer. Insbesondere in Alicias Momenten der Schwäche lässt sich der spröde Oscar zu Gesten der Fürsorge und des Mitgefühls gegenüber seiner Nichte erweichen: er bestreicht ihr verletztes Bein mit einer Heilsalbe;1566 er flößt ihr heißen Tee ein, als sie krank im Bett liegt.1567 Beide Sequenzen weisen eine sexuelle Konnotation auf. Das Einreiben des Beines, das die Kamerafrau in einer langen Detail­einstellung im warmen Licht mehrerer Kerzen festhält, dauert länger, als es zur Versorgung der Verletzung nötig gewesen wäre. Die Art, wie Oscars Hand Knie und Ober­ schenkel der Patientin massiert, ist leidenschaftlich und begierig. Als Oscar Alicia den Tee bringt, zieht sich Alicia mit nervösen Gesten die Decke bis zur Nasenspitze hoch, als wolle sie verhindern, dass er sie zudecke und ihr dabei zu nahe komme. Die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs durch den 1563 | Joghis Arias wurde als Kind aus Florida, einem Dorf im Department Valle del Cauca, vertrieben. Ihr Vater und Großvater wurden ermordet. Für sie ist die Figur der Alicia ein Mädchen, wie es in Kolumbien in jedem Dorf und in jeder Straße eins gebe: „Alicia is the metaphor of the beginning, and the starting over again.“ Quelle: La Sirga Presskit english. 1564 | Quelle: La Sirga Presskit english. 1565 | Der Zuschauer erfährt, dass Floras Mann Saisonarbeiter im Department Putumayo sei – eine der wichtigsten Coca-Anbaugebiete des Landes. 1566 | 31:44-32:28. 1567 | 49:56-50:52.

III. Der innerkolumbianische Konflikt im Film

Onkel oder den Cousin wird an mehreren Stellen des Films suggeriert, wenn Alicia sich in ihrer Kammer umzieht und die beiden Männer sie durch die Ritzen der Bretterwand hindurch beobachten.1568 Die Erwartung eines sexu­ ellen Übergriffs erfüllt sich jedoch nicht. Als Oscar eines Abends Besuch von den befreundeten Musikern erhält, die mit zunehmender Betrunkenheit nach Alicias Anwesenheit verlangen, verteidigt und beschützt der Onkel seine Nichte zuverlässig, die vor Angst zitternd in ihrer Kammer auf dem Bett liegt. Alicias Vertrauen zu Oscar wird deutlich, als sie ihn später in der Nacht in seiner Kammer aufsucht und ihn bittet, bei ihm schlafen zu dürfen, weil sie sich vor den fremden Männern fürchte. Durch die ambivalente Inszenierung des Verhältnisses zwischen Alicia und Oscar, der einerseits als fürsorgliche Vater­ figur, andererseits als lüsterner Spanner charakterisiert wird, schafft der Film eine Metapher für die Ungewissheit, die Verunsicherung und das Misstrauen im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts: gemeinsam mit Alicia wird der Zuschauer in eine Welt eingeführt, in der es schwer ist zu entscheiden, wer gut und wer böse ist, wem man trauen kann und wem nicht. Alicia, und mit ihr der Zuschauer, werden lange Zeit im Unklaren darüber gelassen, ob die Gerüchte über das Näherkommen des Konflikts wahr sind oder nicht. Hat der undurchsichtige Freddy recht damit, dass Oscar und Alicia fliehen sollten, oder hat er ein anderes Motiv, um sie in die Stadt zu locken? Oder ist der bodenständigen Flora zu glauben, die sich, wie ihre Festtags­ kleidung am Tag vor Alicias Abreise beweist, bis zuletzt an den Gedanken klammert, dass die Touristen eintreffen würden? Alicia ist diesbezüglich in einem Zwiespalt gefangen und ändert ihre Einstellung zur grundsätzlichen Frage des Films (bleiben oder gehen?) mit jeder neuen Information, die sie von den anderen erhält. Die Ruhe und das Schweigen nehmen zunehmend den Charakter eines angespannten, unbestimmten Wartens an. Durch die gleichzeitige Vorbereitung des Hauses für die Touristen und die Verdichtung der Vorboten des Krieges werden die beiden möglichen Ausgänge des Wartens auf geschickte Weise miteinander verknüpft. Erst zum Schluss des Films, als Oscar die Leiche am Mast sichtet, wird klar, dass nicht die Touristen kommen werden, sondern der bewaffnete Konflikt. Das festlich geschmückte Gästehaus wird zu einem Symbol für das ‚Schön-Reden‘ und die Verleugnung des Konflikts, und gleichzeitig, ähnlich wie in El vuelco del cangrejo, für das groteske Trugbild der Landes­marke „Colombia es pasión“. Sowohl in El vuelco del cangrejo als auch in La Sirga ist der inner­kolumbianische Konflikt unsichtbar, aber omnipräsent. Über Metaphern, Symbole und Allegorien reflektieren die Filme die komplexe Lebenssituation der Menschen inmitten des Krieges. Dabei erweitern sie den filmischen Diskurs um die Gewalt 1568 | Z.B. 1:00:08-1:01:06.

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in Kolumbien insbesondere um das Thema der Gewalt gegen die ethnischen Minderheiten, deren Traditionen und Kulturen ebenso veranschaulicht werden wie ihre Benachteiligung (in El vuelco del cangrejo in Bezug auf die fehlende Anerkennung der Landbesitzrechte, in La Sirga in Bezug auf das Ausgeliefertsein gegenüber einer Gewalt, deren Akteure und Hintergründe die Bewohner nicht kennen, aber hinnehmen müssen). Die metaphorische Erzählweise wird hier jedoch nicht, wie in früheren Phasen des kolumbianischen Kinos, gewählt, um einer Zensur der Filme zu entgehen, sondern vor allem, um dem voyeuristischen Ausschlachten des Krieges auf der Leinwand – in La Sirga versinn­bildlicht in den Beobachtungsszenen – ein Gegengewicht zu setzen.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs und sein Beitrag zur Reflexion der Gewalt in Kolumbien In dieser Arbeit ist der Versuch unternommen worden, mittels der Analyse ausgewählter kolumbianischer Spielfilme zwischen 1959 und 2015 den filmischen Diskurs um die meist organisierte, politisch motivierte Gewalt in Kolumbien zu ermitteln und mit zentralen Positionen kolumbianischer Gewaltdiskurse zu vergleichen. Die zugrunde liegende Annahme, dass das kolumbianische Kino diese Positionen nicht nur aufgreift, sondern den Diskurs in konstruktiver Weise erweitert, konnte durch die Untersuchung, wie im Laufe dieses Kapitels verdeutlicht werden soll, bestätigt werden. Zum Zwecke der Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse soll zunächst der filmische Diskurs um die Gewalt in Kolumbien im Verlauf der vier betrachteten Produktionsphasen nachgezeichnet werden. Die filmisch vermittelten Auffassungen von der Gewalt und die damit verbundenen Interpretationen des landesinternen Konflikts sollen dabei herausgearbeitet und im Kontext kolumbianischer Gewaltdiskurse verortet werden, ebenso wie die filmisch vermittelten Deutungen der Konfliktursachen, der Schuld und der Verantwortung. Zur Orientierung dient die umseitig abgebildete Grafik (Abb. 1), in der die Film-, Diskurs- und Konfliktgeschichte in Form von parallel verlaufenden Zeitachsen gegenübergestellt werden.1 In einem zweiten Schritt soll verdeutlicht werden, wie die jeweiligen Les­ arten der Gewalt filmisch vermittelt werden und welche Funktion der Film­ sprache in Hinblick auf eine Erweiterung des Gewaltdiskurses zukommt.

1 | Ausgehend von den im Hauptteil der Arbeit analysierten Filmen – diese sind auf der Zeitachse der Filmgeschichte aufgeführt – können mithilfe der Grafik die zentrale Positionen des Gewaltdiskurses nachvollzogen werden, die die Entstehungszeit der Filme geprägt haben, und gleichzeitig – mit Blick auf die Zeitachse der Konflikt­g eschichte – die jeweils vorherrschende Phase des Konflikts abgelesen und kontextualisierend herangezogen werden.

Quelle: Grafik erstellt von Anne Burkhardt in Zusammenarbeit mit Maryam Bolouri. Tübingen, 2015

Abbildung 1: Geschichtlicher Verlauf: Konflikt/Diskurs/Film (parallel) 370  Kino in Kolumbien

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

Anschließend soll das Potenzial der Filme zur Dokumentation, Aufarbeitung und Überwindung der Gewalt in Kolumbien diskutiert werden. Daran anknüpfend sollen die Möglichkeiten einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Filmwissenschaft aufgezeigt werden, die sich, wie im Falle dieser Arbeit, mit komplexen gesellschaftlichen Phänomenen im Rahmen regionaler Kino­ kulturen beschäftigt.

IV.1 D er filmische G e waltdiskurs : Tendenzen zur I nterpre tation und B e wertung des innerkolumbianischen K onflik ts Die filmisch vermittelten Lesarten des innerkolumbianischen Konflikts und der damit einhergehenden Gewalt variieren im untersuchten Zeitraum, abhängig von der jeweiligen Phase des Konflikts und den vorherrschenden Deutungs­ansätzen in kolumbianischen Gewaltdiskursen, stark. Ebenso variieren auch die jeweils zugrunde liegenden Gewaltbegriffe, denen die Filme Rechnung tragen: Zu Beginn der ersten Phase der filmischen Aufarbeitung (Kapitel III.1) wird die Gewalt als zerstörerische, urheberlose, beinahe metaphysische Kraft eingeführt, die gleich einem Unwetter über das Land hereinbricht und dem friedlichen Leben der Menschen ein abruptes Ende bereitet. Die heute geläufige politische Lesart der „ersten violencia“ als Kampf zweier rivalisierender Parteien spielt in den analysierten Filmen der ersten Periode keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Auffällig ist auch, dass die Filme die Perspektive der einfachen Landbevölkerung als Opfer des Konflikts einnehmen – nicht die der Konfliktakteure, welche in der zweiten Schaffensphase meist im Fokus stehen. Der erste untersuchte Film, Esta fue mi vereda, begnügt sich hinsichtlich der filmischen Umsetzung der Gewalt mit der Dokumentation der Zerstörung, die durch eine bewaffnete Gruppe unbekannter Zugehörigkeit in einem Dorf angerichtet wurde. Der Akt der Zerstörung als solcher wird dabei ebenso wenig beleuchtet wie die Identität der Täter. Der Methode der soziologischen Feldforschung entsprechend, von der die frühen wissenschaftlichen Untersuchungen der Violencia geprägt sind, ist der Gestus des Films beobachtend und registrierend. Eine Analyse der Hintergründe der Gewalt bleibt aus, ebenso wie eine Zuschreibung von Täterschaft oder Schuld. Stattdessen werden Leid und Zerstörung als Resultate einer sinnlosen, übermächtigen Gewalt präsentiert, die die anfangs inszenierte vorkonfliktive Idylle vernichtet. Der zweite Film, El río de las tumbas, thematisiert chronologisch folgerichtig die Ausbreitung des Konflikts im ländlichen Raum und porträtiert exemplarisch am Beispiel eines betroffenen Dorfes die Reaktionen unterschiedlicher gesellschaftlicher, staatlicher und geistlicher Akteure auf die ersten Anzeichen

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der Violencia. Der metaphysische Gewaltbegriff aus Esta fue mi vereda wird auch in diesem Film aufgegriffen, denn wie von Geisterhand erscheinen Leichen unbekannter Herkunft am Ufer des Flusses. Er wird jedoch durch das Verhalten der Handlungsakteure, welche sich weigern, die offenkundig politischen Hintergründe der Morde, auf die der Film mehrfach anspielt, sowie den damit verbundenen Handlungsbedarf anzuerkennen, persifliert und kritisch hinterfragt. Indem der Film die gesellschaftliche Unfähigkeit und den staatlichen Unwillen, den Konflikt anzuerkennen, die Hintergründe zu erörtern und sich lösungsorientiert mit der neuen Situation auseinanderzusetzen, hervorhebt, gibt er sowohl den Bürgern als auch den staatlichen Funktionären die Schuld an der Ausbreitung der Gewalt. Der Film trägt somit einer frühen Auffassung der soziologischen Gewaltforschung Rechnung, welche die kolumbianische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit für die Violencia verantwortlich macht.2 Diesen Deutungsansatz bekräftigt der Film auch durch die Hervorhebung charakterlicher Defizite der Figuren, wie Gleichgültigkeit, Faulheit, Vergnügungssucht oder Korruptheit, die die Ausbreitung der Gewalt begünstigen. Obwohl El río de las tumbas, ebenso wie Esta fue mi vereda, der registrierend-­ dokumentierenden Tradition des „mikroskopischen Blicks“ der Feldforschung verpflichtet bleibt, weist ersterer bereits Elemente einer analytisch ausgerichteten Betrachtungsweise (des „teleskopischen Blicks“) auf, welche die Filme der späten 1960er Jahre auszeichnet. Wie die politik- und wirtschafts­ wissenschaftlich ausgerichtete Violencia-Forschung ihrer Zeit richten auch Bajo la tierra und Aquileo Venganza ihr Augenmerk auf die Ermittlung möglicher Gewaltursachen. Die Darstellungen beider Filme scheinen die 1968 von Posada Díaz hervorgebrachte These aufzugreifen, dass die Durchsetzung eines kapitalistisch-imperialistischen Wirtschaftssystems die Kräfte­verhältnisse im Land durcheinandergebracht habe und die Violencia als gewaltsame Reaktion auf die Überforderung der kolumbianischen Gesellschaft mit dieser Dynamik zu interpretieren sei.3 In Bajo la tierra generiert die strukturelle Gewalt (vermittelt durch die ungleichen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten eines multinationalen Bergbauunternehmens) ein Klima des Hasses und der Missgunst unter den Arbeitern. Die Übergänge zwischen politischer und privater Gewalt sind nach Darstellung des Films fließend, da die Anschläge und Morde, die sich in der Mine abspielen, sowohl durch die soziale Ungleichheit im Kontext der betrieblich etablierten Zwei-Klassen-Gesellschaft (die Arbeiter über und unter der Erde) als auch den daraus resultierenden persönlichen Neid begründet sein könnten. Auch wenn die Täter überwiegend anonym bleiben, verliert die Gewalt angesichts der Transparenz der Beweggründe – die strukturelle, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit – ihren metaphysischen Cha2 | Vgl. Zuleta 2006, 57; zitiert in Kapitel II.1.1.3. 3 | Siehe Kapitel II.1.1.3.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

rakter. Anlass zu einer Interpretation der Violencia als Zweiparteienkonflikt zwischen Liberalen und Konservativen liefert die Darstellung in Bajo la tierra jedoch ebenso wenig wie die der zuvor analysierten Filme. Auch in Aquileo Venganza wird die ungleiche Macht- und Güter­verteilung anstelle des politischen Parteienkonflikts als Ursache der Gewalt angeführt. Regisseur Durán geht mit seiner Darstellung noch einen Schritt weiter als García in Bajo la tierra, indem er die Analyse der Gewaltursachen um eine indirekt formulierte Schuldzuweisung erweitert. Während García die Gewaltverhältnisse verdeutlicht, in denen die Betroffenen Täter und Opfer zugleich sind, trennt Durán klar zwischen Tätern und Opfern, zwischen Gut und Böse. Indem er Aquileos rechtschaffene Familie als wehrlose Opfer des hab­gierigen Großgrund­ besitzers und dessen Söldnertruppen darstellt, legitimiert er Aquileos blutigen Rachefeldzug, welcher zur Parabel für die Rebellion der entrechteten Bauern gegen die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes wird und als Legitimation der Guerilla und deren Kampf für eine gerechtere Land­verteilung interpretiert werden kann. Durán positioniert sich somit auf der Seite der (vom Vorbild Kubas beflügelten) „Revolutionäre“ bzw. Revolutions­befürworter, die den ungelösten Konflikt um Grund und Boden als Haupt­ursache der Gewalt betrachten und den Machtinhabern, die um den Erhalt ihrer Privilegien ringen, die Schuld an der Violencia geben. Aquileo Venganza setzt so einen Trend innerhalb des kolumbianischen Filmschaffens hin zu einer ideologisch geprägten Interpretation der Violencia, die in der zweiten Phase der filmischen Aufarbeitung (Kapitel III.2) insbesondere von Regisseuren aus dem politisch linken Spektrum fortgesetzt wird. Die zweite Phase der Aufarbeitung – die Ära FOCINE – zeichnet sich im Vergleich zur ersten durch eine zunehmend politische und ideologische Aufladung des in den Filmen vermittelten Gewaltbegriffs sowie durch eine erkennbar politische Positionierung der Filmemacher aus. Die Violencia der 1940er und 1950er Jahre, die bereits während der ersten Aufarbeitungsphase als überwunden gilt und nun aus einer vergleichsweise großen zeitlichen Distanz von bis zu 35 Jahren betrachtet wird4, wird in der zweiten Periode als politisch motivierter und gewaltsam ausgetragener Konflikt zwischen den Konservativen und den Liberalen bzw. zwischen deren Anhängern dargestellt. Im Gegensatz zur ersten Schaffensphase stehen nun die Konfliktakteure, nicht deren Opfer, im Zentrum der Betrachtungen – mit Ausnahme von Pisingaña, der sich auf die Phase der „zweiten violencia“ bezieht und auf den noch gesondert eingegangen wird. 4 | Innerhalb des Kinos über die Violencia variiert die Distanz zwischen der dargestellten Zeit und dem Zeitpunkt der Darstellung zwischen ca. 10 Jahren (im Falle von Esta fue mi vereda) und ca. 35 Jahren (im Falle von Cóndores no entierran todos los días).

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Die Filme der zweiten Aufarbeitungsphase lassen einen analytischen Blick auf die Ursachen der Gewalt sowie auf die vermeintlich Verantwortlichen erkennen, welche immer konkreter benannt und auch denunziert werden. Die Umsetzungen weisen nicht mehr den registrierend-dokumentierenden Charakter der früheren Filme auf, sondern zeichnen sich durch einen politischen Standpunkt aus, von dem aus die Gewalt betrachtet und bewertet wird. Da sich die durch die Filme vermittelten Konfliktinterpretationen deutlich von denen der zeitgleich amtierenden rechts-konservativen Regierungen unterscheiden5, können die staatlich geförderten Filme der zweiten Periode paradoxerweise nicht nur als politisch, sondern sogar als subversiv bezeichnet werden, was auch deren Zensur in Kolumbien erklärt6. Im Gegensatz zu den Filmen der ersten Phase, deren Plot und Figuren fiktional sind und keine Entsprechung in der Realität haben, charakterisieren sich die Filme der zweiten Phase durch ihren klaren Geschichtsbezug: Canaguaro erzählt die Geschichte der liberalen Guerilla, die sich unter der Führung von Guadalupe Salcedo in den Llanos Orientales formiert und sich von der liberalen Parteispitze in Bogotá verraten fühlt, als diese einen Friedenspakt mit den Konservativen schließt. Die Literaturverfilmung Cóndores no entierran todos los días behandelt die Schreckensherrschaft der „pájaros“ unter der Leitung des „Cóndor“ León Maria Gozano, der im Auftrag der konservativen Regierung von Laureano Gómez zur Kontrolle des Departments Valle del Cauca eingesetzt wird. Carne de tu carne beschreibt das politische Chaos um das Ereignis der „Cali-Explosion“ und verurteilt das Regierungsabkommen der „Frente Nacional“ als Ausgeburt von familiärer und politischer Inzucht. In En la tormenta wird der politische Diskurs der beiden rivalisierenden Parteien aufgerollt und die Planung und Durchführung eines Massakers an konservativen Zivilisten durch den berüchtigten liberalen Banditen „Sangre Negra“ inszeniert. Durch die Verankerung der Handlungen im realgeschichtlichen und ­-politischen Kontext wird der metaphysische Gewaltbegriff von einem politischen Gewaltbegriff abgelöst: die Gewalt erscheint nun als strategisches Mittel zur Durchsetzung von politischen Zielen. Auch die damit verbundene Organisation der Gewaltakteure wird in den Filmen deutlich. So werden die Gewalt­ taten nicht, wie in den früheren Filmen, von unbekannter Hand verübt, sondern von konkreten, benennbaren Gruppierungen: der liberalen Guerilla, der „chulavita“-Polizei, den „pájaros“ oder – wie in Pisingaña – dem staatlichen Militär. Neben der organisierten politischen Gewalt tritt auch autotelische Gewalt (als Gewalt um ihrer selbst willen) in den Filmen der zweiten Schaffens­phase 5 | Diese geben den „aufständischen“ Bauern (der liberalen Guerilla) die Schuld an der Violencia und legitimieren das Vorgehen der konservativen Todesschwadronen mit dem Argument der Notwehr. 6 | Zur Zensur der FOCINE-Filme vgl. Kapitel III.2.2.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

in Erscheinung. Insbesondere die Gewalt der rechts-konservativen Söldner wird nach Darstellung der Filme als autotelisch präsentiert, wie im Fall von Canaguaro, in dem die „chulavita“-Polizei wahllos mordet, brandschatzt und vergewaltigt, während die Guerilla die wehrlose Bevölkerung zu beschützen versucht, oder in Cóndores, in dem die Gewalt von den Konservativen ausgeht, während die Liberalen eine diplomatische Konfliktlösung anstreben. Dem widerspricht einzig Vallejos Darstellung in En la tormenta, in dem liberale Gewalt­akteure eine regelrechte Gewaltorgie zelebrieren und damit den zuvor in Gesprächen etablierten politischen Gewaltbegriff als Erklärung für den Konflikt entkräften. Eine direkte Folge der geschichtlichen Verankerung und Benennung der Gewaltakteure ist neben der Entmystifizierung der Gewalt auch die zunehmende Sichtbarkeit der Gewalttaten im Filmbild. Dabei scheint die Explizitheit der Darstellungen auch vom zugrunde liegenden Gewaltbegriff abzuhängen: Während in Canaguaro und Cóndores, die einem politischen Gewaltbegriff Rechnung tragen, die Morde aus distanzierten Kameraperspektiven (z.B. Totalen) wiedergegeben oder durch indirekte Inszenierungsformen (z.B. durch Reaction-Shots auf die Zeugen der Tat) ersetzt werden, wird die autotelische Gewalt in En la tormenta in nahen Einstellungen und expliziten Bildern festgehalten. Auch Pisingaña, der als einziger Film der zweiten Periode den Fortgang des ländlichen Konflikts nach der offiziellen Beendigung der Violencia thematisiert, stellt hinsichtlich der Sichtbarkeit der Gewalt keine Ausnahme dar: die Massenvergewaltigung der minderjährigen Protagonistin durch mehrere Soldaten ist – gemessen an den kolumbianischen Standards der 1980er Jahre – sehr explizit inszeniert und sorgt, ebenso wie die Bilder ihres enthaupteten Vaters, für Skandale.7 Den filmischen Gewaltdiskurs erweitert Pisingaña nicht nur dadurch, dass raptive Gewalt im Kontext des bewaffneten Konflikts auf dem Land thematisiert wird, sondern insbesondere dadurch, dass eine Verbindung zwischen der gesellschaftlichen Akzeptanz von sexueller Gewalt – auch im ‚modernen‘ großstädtischen Bürgertum – und deren Anwendung durch die bewaffneten Gruppen hergestellt wird. Ähnlich wie En la tormenta kann Pisingaña als Absage an den politischen Gewaltbegriff interpretiert werden: die Gewalt der Soldaten ist, ebenso wie die des Gastvaters, der seine minder­ jährige Angestellte sexuell und materiell ausbeutet, privat motiviert. Durch die Begründung der Gewalt aus der Gesellschaft bzw. aus dem einzelnen Individuum heraus schlägt Pisingaña eine Brücke zu den Darstellungen der dritten Phase der filmischen Aufarbeitung (Kapitel II.3), die dem von Pécaut geprägten Begriff einer „generalisierten Gewalt“ Rechnung tragen bzw. das Vorhanden­ sein einer „Gewaltkultur“ proklamieren.

7 | Vgl. Kapitel III.2.3.3.

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Die Filme der dritten Phase knüpfen mit nur leichter zeitlicher Verzögerung an die veränderte Beurteilung des landesinternen Konflikts in Gewalt­diskursen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre an, der zufolge die zeitgenössischen kolumbianischen Gewaltphänomene ihrer Vielgesichtigkeit wegen als „violencias“ und ihrer Allgegenwärtigkeit wegen als „generalisierte Gewalt“ bezeichnet werden. Die filmischen Darstellungen spiegeln die Offenheit dieses Gewaltbegriffes wider: sie zeichnen die Gewalt als personal und strukturell, organisiert und privat, politisch und mafiotisch, lozierend, raptiv und auto­ telisch; sie wirkt physisch und psychisch, ist rural und urban verbreitet und dominiert unterschiedliche Lebensbereiche wie Familie, Religion, Konsum, Musik, Mode und Sprache. Im Gegensatz zu den Filmen der ersten Phase, in denen die Gewalt Entsetzen und Schrecken bei der Bevölkerung hervorruft, oder den Filmen der zweiten Phase, in denen sie zur Durchsetzung von politischen Zielen eingesetzt wird, wird sie in den Filmen der dritten Phase als ‚natürlicher‘ Zustand und als integrativer Bestandteil des Lebensraums der Figuren aufgefasst. Die wachsende Unübersichtlichkeit des landesinternen Konflikts durch den Eintritt neuer Akteure wie der Drogenmafia, den para­ militärischen Vereinigungen und weiterer Guerilla-Gruppen findet insofern in den Filmen Ausdruck, als dass auf die Analyse der komplexen Gewalt­ursachen und die Benennung möglicher Schuldiger verzichtet wird. Stattdessen wird eine Gesellschaft vorgestellt, deren Umgangsformen und Verhaltensweisen von der anhaltenden Gewalt geprägt und strukturiert werden. Auffällig ist, dass es sich bei den zentralen Figuren nicht mehr, wie im Falle von Canaguaro, Cóndores oder En la tormenta, um Drahtzieher der organisierten Gewalt handelt, sondern um ‚gewöhnliche‘ Menschen, die in deren Peripherie agieren. Eine Einteilung der Figuren in Gut und Böse bzw. Opfer und Täter erfolgt in diesen Filmen ebenso wenig wie eine Verurteilung der Gewalttaten, da diese sich logisch aus den Lebensumständen ergeben und den status quo markieren. Die Filme der dritten Periode unterscheiden sich zum einen durch ihren thematischen Fokus voneinander (La vendedora de rosas und La virgen de los sicarios handeln vordergründig von der privaten bzw. mafiotischen Gewalt unter marginalisierten Jugendlichen in Medellín, Golpe de estadio und La toma de la embajada von militärischen Konflikten zwischen Guerilla-Gruppen und staatlichen Akteuren), zum anderen heben sich die Filme durch die Haltung, die zum Zustand der generalisierten Gewalt eingenommen wird, voneinander ab: Während sich Vívtor Gaviria in La vendedora de rosas dokumentierend und urteilsfrei in die Lebenswelt der Straßenkinder begibt und dabei menschliche Werte, Moral, Freundschaft und Schönheit hinter der Kulisse des Schreckens und des Leids hervorzuheben versucht, gibt der Regisseur Barbet Schroeder (bzw. der Romanautor Fernando Vallejo) mit La virgen de los sicarios einen durch und durch dystopischen Blick auf eine verloren scheinende Gesellschaft preis, die sich, der Darstellung des Films zufolge, ihrer Realität nur durch zy-

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

nische Distanz – oder besser noch: den Tod – erwehren kann. Einem Trend der kolumbianischen Romanliteratur (der „novela sicaresca“) folgend, zeigen beide Filme die Bandenstrukturen in den Slums von Medellín, die schwierigen Lebensbedingungen der Jugendlichen, deren geringe Lebenserwartung aufgrund der sie umgebenden Gewalt sowie die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Gavirias Film widersetzt sich jedoch einer Verurteilung oder Dämonisierung der dargestellten Personengruppen, indem er verdeutlicht, dass die sogenannte „Gewaltkultur“ der sozial benachteiligten Schichten nicht mit „Unmenschlichkeit“ oder „Barbarei“ – zwei weitere zentrale Begriffe der kolumbianischen Gewaltdiskurse der 1990er Jahre8 – gleichzusetzen ist. La virgen de los sicarios zeichnet das Leben in der „Gewaltkultur“ zuweilen sogar als höchst unterhaltsam, indem er sie als Konsum- und Erlebniskultur, erwachsen aus dem ‚schnellen Geld‘ der Drogenindustrie, inszeniert. Im Gegensatz zu La vendedora de rosas, der zur Einnahme einer mitfühlenden Haltung anregt, kann La virgen de los sicarios als gnadenlose Abrechnung mit einer verhassten Gesellschaft interpretiert werden, und damit als Appell, das ‚sinkende Schiff‘ (Kolumbien) zu verlassen. Der Auffassung von Gaviria und Schroeder widersprechend, die die „generalisierte Gewalt“ als bedauerlichen, aber unabänderlichen Zustand darstellen, nehmen die Regisseure von Golpe de Estadio und La toma de la embajada eine kämpferische Haltung gegenüber der festgefahrenen Situation ein: indem sie auf kollektive Interessen und Gemeinsamkeiten der Kolumbianer abseits der Gewalt hinweisen (Golpe de estadio) oder durch die Heranziehung eines historischen Verhandlungserfolgs mit der M-19 Mut für die Friedensverhandlungen mit den FARC generieren (La toma de la embajada), verleihen sie ihrem Glauben an die Möglichkeit einer Lösung des bewaffneten Konflikts und einem Ausstieg aus der Gewaltspirale Ausdruck. Obwohl die Filme, im Gegensatz zu La vendedora de rosas und La virgen de los sicarios, von einer politisch motivierten, gegenstaatlichen Guerilla-Gewalt handeln, widersprechen die Darstellungen einem politischen Gewaltverständnis. Stattdessen wird die These formuliert, dass das oppositionelle Verhältnis zwischen Guerillas und Regierungen auf der gewohnheitsmäßigen Aufrechterhaltung von (überholten) ideologischen Konzepten beruht und die Kontrahenten in Wirklichkeit mehr verbindet als sie unterscheidet. Beide Filme betonen die Rolle menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Empathie, Respekt oder Fairness für die Konfliktlösung und zeigen, wie Egoismus, Machtgier und Arroganz – stärker als innen­ politische Differenzen – eine Annäherung der Konfliktparteien gefährden können. Diese Darstellung nimmt auf einen Ansatz der Gewalt­forschung der

8 | Vgl. Kapitel II.1.1.3.

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1990er Jahre Bezug, demzufolge der Mensch bzw. die Menschlichkeit zum Maßstab der Beurteilung von Gewalt wird.9 Anders als die Filme über die Gewalt in Medellín bleiben Golpe de estadio und La toma de la embajada dem analytischen Ansatz der FOCINE-Filme verpflichtet, anders als diese suchen sie jedoch nicht nach Konfliktursachen, sondern nach Lösungen oder Verbesserungen. Indem sie Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden und eine nationale Identität jenseits der „Gewaltkultur“ generieren, rufen sie indirekt zur Beilegung des Hasses und zur Aussöhnung der kolumbianischen Bevölkerung auf: durch Austausch, Verhandlungsbereitschaft und Diplomatie, aber auch durch die Rückbesinnung auf kollektive Wünsche, Ziele und Werte als Nation. In noch stärkerem Maße als das Kino der dritten Periode zeichnet sich das der vierten Aufarbeitungsphase (Kapitel III.4) durch die Unmittelbarkeit und Aktualität seiner Bezüge zum Konflikt aus. Beispiele hierfür finden sich in den Anspielungen auf die Politik der Regierung Uribe, den neu erstarkenden Paramilitarismus und die damit zusammenhängenden Vertreibungen, oder aber auf die nationalpatriotische Kampagne „Colombia es pasión“ und das sogenannte „Opferentschädigungsgesetz“. Im Vergleich zur dritten Phase, in der es keine staatliche Filmförderung gibt, werden diese Bezüge filmisch jedoch weniger explizit vermittelt.10 Dieser Umstand lässt sich unter anderem auf die veränderten Produktionsbedingungen durch die Filmgesetze von 2003 und 2012 zurückführen, in deren Rahmen die Filmemacher zur Verbesserung des nationalen Images aufgerufen sind und sich dadurch im Einzelfall zur Selbst­ zensur gezwungen sehen.11 Einer Tendenz der Gewaltdiskurse um die Jahrtausendwende entsprechend, nicht nur die konkreten Erscheinungsformen der Gewalt, sondern auch deren symbolische Dimension zu reflektieren, zeichnen sich die Filme der vierten Phase durch abstrakte, symbolische und metaphorische Gewalt­­darstellungen aus: Mit Ausnahme von Retratos en un mar de mentiras, in dem die Erinnerungen der Protagonistin an ein traumatisches Gewalterlebnis ihrer Kindheit in expliziten Bildern inszeniert werden, wird physische Gewalt in diesen Filmen nicht im Bild gezeigt. Stattdessen rückt die psychologische bzw. emotionale Dimension 9 | Vgl. Kapitel II.1.1.3. 10  | Dies gilt insbesondere für Anspielungen auf Politiker: Während die Protagonisten in La virgen de los sicarios offen über Präsident Gaviria schimpfen und eine Kugel auf sein Bild im Fernsehen feuern oder die Regierung Turbay in La toma de la embajada als wortbrüchig und fahrlässig dargestellt wird, werden die Bezüge zu Uribe nur indirekt – z.B. über Metaphern, Wortspiele oder mehrdeutige Bildmontagen – vermittelt. Hierauf wird in Kapitel IV.2 näher eingegangen. 11 | Vgl. Kapitel III.4.2.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

der Gewalterfahrung in den Vordergrund – eine Entwicklung, die eine aktuelle gesellschaftliche und politische Tendenz zur Anerkennung der Opfer des Konflikts aufgreift, aus der auch das „Opfer­entschädigungsgesetz“ hervorgeht.12 In La sombra del caminante und Retratos en un mar de mentiras, die in dieser Arbeit als Vertreter eines „nationalen Kinos der Erinnerung und Aufarbeitung“ identifiziert werden13, wird zu diesem Zweck eine Identifikation des Zuschauers mit den Protagonisten herbeigeführt, welche Opfer (im Falle von La sombra auch Täter) von extremer Gewalt sind. Beide Filme zeigen die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der schwerwiegenden Traumatisierung der Betroffenen sowie die damit verbundene Schwierigkeit der Überwindung der Traumata und der Reintegration der Opfer und Täter ins gesellschaftliche Leben. La sombra del caminante legt den Fokus auf den Aspekt der schwierigen bzw. unmöglichen Vergebung durch die Opfer und knüpft damit an eine Tendenz der letzten beiden Filme der dritten Phase an, denen zufolge (zwischen) menschliche Faktoren, stärker als politische, über den Ausgang des Konflikts entscheiden. Auch wenn der Film die Frage über die Möglichkeit der Vergebung nicht gänzlich verneint und zuweilen hoffnungsvolle Momente generiert, ist er von einer traurig-melancholischen Stimmung dominiert, die das menschliche Leid, das der Krieg mit sich bringt, verdeutlicht. Die Darstellung der Gewalt in Retratos en un mar de mentiras zielt ebenfalls auf eine starke emotionale Einbindung des Zuschauers ab. Dieser muss am Ende des Films das Massaker an der Familie der Protagonistin aus deren kindlicher Perspektive mitverfolgen. Aufgrund der stetigen, dramaturgisch fokussierten Heranführung des Zuschauers an die Innenwelt der Protagonistin im Laufe des Films wird die Einnahme einer distanzierten Rezeptions­haltung während der finalen Schlüsselszene (dem Massaker) erschwert und eine Identifikation mit der Protagonistin provoziert. Die Darstellung der Gewalt in Retratos en un mar de mentiras kann daher als vergleichsweise unmittelbar bezeichnet werden, auch wenn außer Frage steht, dass die Wirkung der finalen Szene auf den Zuschauer (z.B. als potenziell verstörend oder traumatisierend) individuell verschieden ausfallen kann. Dadurch, dass die Protagonistin mit der Rückkehr ihrer Erinnerung an die traumatischen Ereignisse ihr verlorenes Selbstbewusstsein wiedererlangt, betont der Film aber auch die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Gewalt sowie die der individuellen und kollektiven Trauerarbeit. Er setzt damit ein indirekt formuliertes, aber deutliches Zeichen gegen die Verschleierungspolitik der Regierung Uribe, die die Existenz des bewaffneten Konflikts leugnet und das

12 | Siehe Kapitel III.4.1. 13 | Vgl. Kapitel III.4.3. Zum Stand lateinamerikanischer Erinnerungsdiskurse im Kontext von Gewalt vgl. auch Huffschmid 2015.

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Leid der Betroffenen hinter touristischen Hochglanz-Werbekampagnen über die Schönheit des Landes zu verstecken versucht. Den filmischen Gewaltdiskurs erweitert Retratos en un mar de mentiras darüber hinaus durch die offene Thematisierung der organisierten para­ militärischen Gewalt nach der vermeintlichen Demobilisierung der AUC. Indem die Guerilla in diesem Film unsichtbar bleibt, während die Vorherrschaft der Paramilitärs veranschaulicht wird, formuliert Regisseur Carlos Gaviria ein klares Statement gegen Uribes Postulat eines angeblichen „Guerilla-Terrors“. Ähnlich wie Canaguaro kann die in Retratos en un mar de mentiras zum Ausdruck gebrachte Haltung, deren aufklärerische und denunzierende Absicht bereits im Filmtitel deutlich wird, als regierungskritisch bezeichnet werden. Die Konzentration der Filme auf die menschlich-psychologische Dimension des Krieges führt einerseits zu einer stärkeren Sichtbarkeit der Opfer und deren Belange, mitunter aber, wie im Fall von La sombra del caminante, auch zu einer Vernachlässigung der politischen Hintergründe des landesinternen Konflikts. Dieser Kritik sind auch die Vertreter des künstlerisch anspruchsvollen „transnationalen Kinos“14 – El vuelco del cangrejo und La Sirga – ausgesetzt, die, vergleichbar mit der Darstellung in La vendedora de rosas, von einer politischen Lesart der Gewalt als Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessengruppen Abstand nehmen und stattdessen die subtilen Wirkungsebenen der Gewalt im gesellschaftlichen Leben beleuchten. Obwohl die Gewalt bei den Vertretern des transnationalen Kinos unsichtbar bleibt – sie wird nicht als physische Gewalt inszeniert, sondern über Metaphern und filmisch erzeugte Stimmungen suggeriert –, wirkt sie allgegenwärtig und bedrohlich. Ebenso wie La sombra del caminante und Retratos en un mar de mentiras stellen die beiden Filme die Opfer des Konflikts – hier die sozial benachteiligten ethnischen Minderheiten in unterschiedlichen abgelegenen Regionen des Landes – in den Vordergrund, anders als bei jenen wird jedoch keine Einfühlung in die Opfer angestrebt: aufgrund der Unsichtbarkeit und Verschwiegenheit der Figuren, welche meist in langen, ruhigen Einstellungen gezeigt werden, kann der Zuschauer eine gewisse emotionale Distanz aufrechterhalten und gleichzeitig diverse Gefühle und Haltungen in die Figuren hineininterpretieren. Obwohl die Filme an konkreten Orten in Kolumbien spielen und auf spezifische lokale oder regionale Konflikte Bezug nehmen, erscheint die Situation der Protagonisten auf andere Kontexte übertragbar. Aufgrund der Tatsache, dass die Gewalt, und insbesondere die Täter, kein konkretes Gesicht haben, ihre Nähe aber stets spürbar ist, weist der zugrundeliegende Gewaltbegriff Ähnlichkeit mit dem der frühen Filme der ersten Aufarbeitungsphase auf, in denen die Gewalt als metaphysische

14 | Siehe Kapitel III.4.4.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

Kraft erscheint.15 In Anbetracht dieser Ähnlichkeit kann die These aufgestellt werden, dass der filmische Diskurs um die Gewalt in Kolumbien am Ende in gewisser Hinsicht wieder zu seinen Anfängen zurückkehrt: anstatt nach Ursachen, Gründen, Schuldigen oder Lösungen zu forschen, widmen sich die zeitgenössischen Filmemacher zunehmend wieder der Dokumentation der von der Gewalt gezeichneten Lebenssituation der einfachen Landbevölkerung, die nach wie vor Hauptleidtragende des Konfliktes ist. Ähnlich wie Pisingaña thematisieren sowohl El vuelco del cangrejo als auch La Sirga die besondere Vulnerablilität der Frau im Kontext des landesinternen Konflikts und zeigen dabei die Verschränkungen zwischen der organisierten und der privaten Gewalt (als sexueller Gewalt) auf. Darüber hinaus erweitern sie den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien durch die Darstellung der systematischen Entrechtung und Ausbeutung der ethnischen Minderheiten, die überproportional häufig zu Opfern der organisierten Gewalt im Kampf um Territorium und Ressourcen werden. Aus den hier skizzierten Erkenntnissen über den Verlauf des filmischen Gewalt­diskurses in den einzelnen Phasen der Aufarbeitung können phasen­ übergreifende Ergebnisse abgeleitet werden, von denen im Folgenden drei als besonders zentral hervorgehoben werden sollen: Zum einen fällt auf, dass innerhalb der untersuchten Filme bestimmte Phasen und Akteure des Konflikts häufiger und intensiver behandelt worden sind als andere: die politische Violencia der 1950er Jahre, die urbane Gewalt der 1990er Jahre sowie der „Guerilla-Krieg“ auf dem Land werden häufig behandelt, während der Paramilitarismus, die staatliche Gewalt oder die Interventionen der USA wenig oder gar nicht behandelt werden. Insbesondere in den 1990er Jahren, in denen der organisierte Paramilitarismus seinen Höhe­ punkt erreicht, kann eine einseitige Fokussierung der Filmemacher auf die Guerilla sowie auf die Akteure der mafiotischen Gewalt verzeichnet werden. Dies ändert sich erst in der vierten filmischen Aufarbeitungsphase, als das Thema des Paramilitarismus im Zuge der Demobilisierung der AUC und der Ermittlungen gegen die der „Para-Politik“ bezichtigten Regierung Uribe Einzug in die öffentliche Debatte hält. Die organisierte Gewalt staatlicher Akteure gegen die Zivilbevölkerung, wie beispielsweise der Massenmord an den sogenannten „falsos positivos“16, ist im kolumbianischen Spielfilm jedoch 15 | Am augenscheinlichsten tritt dies in La Sirga zu Tage, in dem der näher rückende bewaffnete Konflikt durch ein aufziehendes Unwetter versinnbildlicht wird. Vgl. Kapitel III.4.4.2. 16  | Dt.: „falsche Positive“. Juan Manuel Santos, Verteidigungsminister unter Uribe und seit 2010 kolumbianischer Präsident, setzte zwischen 2008 und 2010 per Gesetz ein Kopfgeld auf Guerilleros aus. Teile der kolumbianischen Armee und Polizei töteten daraufhin unschuldige Zivilisten, überwiegend aus der Peripherie der Großstädte, verklei-

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ebenso wenig behandelt worden wie die sogenannte „limpieza social“17 durch para­militärische Truppen. Die kolumbianischen Streitkräfte werden zwar im Film dargestellt (z.B. in Golpe de estadio), jedoch nicht als Urheber oder Triebfeder der organisierten Gewalt, sondern als (latent überforderte und daher zu belächelnde) staatliche Einsatztruppe im Kampf gegen die ungleich stärkeren illegalen Gruppen. Eine an diese Arbeit anknüpfende Forschung könnte sich mit den hier skizzierten Grenzen des filmischen Diskurses sowie den ausschlaggebenden Faktoren für diese Begrenzung auseinandersetzen oder sich anderen Film­ gattungen wie dem Dokumentar- oder Kurzfilm zuwenden, in dem diese Felder des Nicht-Sagbaren stärker reflektiert worden sind.18 Als zweites übergeordnetes Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich der filmische Diskurs hinsichtlich der Bewertung der Konfliktakteure durchaus von zentralen Positionen anderer Gewaltdiskurse absetzt: während die Rolle der Guerilla, beispielsweise im sozialwissenschaftlichen und im politischen Diskurs, sehr kontrovers diskutiert worden ist – als Revolutionäre, gesetzlose Rebellen, habgierige Drogenhändler, Entführer oder Terroristen –, heben die Filme meist den politischen Charakter des Guerilla-Kampfes hervor und wirken so einer Tendenz zur Kriminalisierung der Guerilla-Gruppen entgegen. Dies ist besonders auffällig in Phasen des Friedensdialogs, als Filmemacher diesen Prozess zu stützen suchen, oder in Momenten der staatlichen Aggression gegen die Guerilla, in denen die Regisseure zum Ausdruck bringen, dass der der Guerilla unterstellte „Terror“ nicht zuletzt von den konservativen Todes­schwadronen bzw. den Paramilitärs – im Auftrag oder mit Billigung der Regierung – ausgeht.

deten die Leichen als Guerilleros und kassierten das Kopfgeld. Trotz Bekanntwerden des Massenmords sind die Hauptverantwortlichen bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Das Phänomen wurde bislang nur im kolumbianischen Dokumentar- und Kurzfilm behandelt, z.B. in El Chichipato (dt.: „Der Mann ohne Bedeutung“. Felipe Moreno, 2010, Kolumbien, Kurzfilm). 17  | Orig.: „gesellschaftliche Säuberung“. Bezeichnung für die gezielte Ermordung von Obdachlosen, Prostituierten, Drogenabhängigen, Künstlern und politisch aktiven Personen aus dem linken Spektrum durch Paramilitärs, insbesondere in den Großstädten. 18 | Z.B. im umfassenden Werk der Dokumentarfilmerin Marta Rodríguez oder in dokumentarischen Videos, aufgezeichnet unter anderem durch die Opfer der staatlichen bzw. parastaatlichen Gewalt (z.B. in Somos alzados en bastones de mando. Dt.: „Wir haben die Kommando­s täbe erhoben“. Kollektiv Nasaacin, 2006, Kolumbien. Abrufbar unter http:// www.youtube.com/watch?v=As0YKt_zFB8). Für weiterführende bibliografische Hinweise vgl. Cinemateca Distrital de Bogotá (Hg.) 2012.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

Auch hinsichtlich der Charakterisierung der Konfliktakteure brechen die Filme mit vorherrschenden Mustern: während die konservativen bzw. para­ militärischen Todesschwadronen in den Filmen aller Phasen als niederträchtige, habgierige und gewalttätige Kriminelle gezeichnet werden, treten die meist als Entführer, Drogenhändler und Terroristen verschrieenen Guerilleros als tapfere Volkshelden (Canaguaro), als politische Gerechtigkeitskämpfer (La toma de la embajada) oder als harmlose, idealistische Spinner (Golpe de estadio) in Erscheinung. Die Guerilla erfährt durch diese Darstellung also eine Aufwertung, die Paramilitärs sowie die Mehrzahl der staatlichen Akteure hingegen eine Abwertung. Das offenkundige Bedürfnis der Filmemacher, ein Gegengewicht zur vorherrschenden Bewertung der Konfliktakteure und des Konfliktes selbst zu schaffen, deutet auf ein Ungleichgewicht im gesellschaftlichen Diskurs hin, das die Filmemacher durch ihre Darstellungen auszugleichen versuchen: Wie auch am Beispiel der Unterzeichnung des Friedensabkommens durch die Regierung Santos und die FARC-Führung im September 2016 deutlich wurde, welche als historischer Moment der Wiedererlangung des nationalen Friedens gefeiert wird19, wird der innerkolumbianische Konflikt häufig auf den Konflikt mit der Guerilla reduziert. Dabei wird ausgeblendet, dass diese in den vergangenen Jahren nur für einen Bruchteil der Gewalttaten in Kolumbien verantwortlich war und die schwerwiegendsten Vergehen auf paramilitärische, staatliche, kriminelle oder auch private Gewaltakteure zurückgehen.20 Eine an diese Überlegungen angrenzende Forschung könnte sich vertiefend mit der Frage auseinandersetzen, ob im kolumbianischen Fall von einer filmischen bzw. künstlerischen Gegenöffentlichkeit die Rede sein könnte, die den staatlich bzw. medial intendierten Wahrheitsbildungsprozess zu korrigieren versucht. Als drittes übergeordnetes Ergebnis kann festgehalten werden, dass innerhalb der vier untersuchten filmischen Schaffensphasen zwar historisch determinierte Unterschiede bezüglich der Konfliktdarstellung und -interpretation ausgemacht werden können, dass diese jedoch stärker von den jeweils vorherrschenden Lesarten innerhalb der kolumbianischen Gewaltdiskurse abhängen als von den jeweiligen Produktionsbedingungen. Die Filme reagieren unmittelbar auf vorherrschende Lesarten der Gewalt, auf Ereignisse im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts sowie auf die Kriegs- bzw. Friedenspolitik und -rhetorik der Regierungen, indem sie diese aufgreifen, bestätigen, kommentie19 | Am 26.09.2016 unterzeichnen Präsident Juan Manuel Santos und FARC-Anführer Rodrigo Londoño alias „Timochenko“ den Friedensvertrag im Rahmen einer symbolisch und emotional stark aufgeladenen Feierlichkeit in Cartagena. Vgl. Fajardo 2016. 20 | Vgl. Kapitel III.4.1.

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ren oder widerlegen. Der in den einzelnen Phasen variierende Einfluss des Staates auf die Filmproduktion prägt die in den Filmen vermittelten Positionen hingegen nur unwesentlich: in allen vier Phasen der filmischen Aufarbeitung finden sich regierungskritische Filme, die den Postulaten der Regierungen zur Bewertung des Konfliktes widersprechen. Auch die Tendenz der Filme zur indirekten Kommunikation bestimmter Sachverhalte oder Haltungen ist für alle Phasen der filmischen Aufarbeitung charakteristisch. Dies könnte entweder dafür sprechen, dass eine Autozensur durch die Filmemacher unabhängig von der Möglichkeit einer staatlichen Förderung oder Zensur erfolgt 21, oder aber dafür, dass die Strategien der indirekten Kommunikation schlicht als Ausdruck eines künstlerischen, kreativen Umgangs mit dem landesinternen Konflikt zu bewerten sind.

IV.2 Ü ber die M öglichkeiten der F ilmspr ache In der Einleitung dieser Arbeit ist die These aufgestellt worden, dass die Unter­suchung der kolumbianischen Filme neue Erkenntnisse über den inner­ kolumbianischen Konflikt selbst, aber auch über die komplexen Hintergründe und Wirkungsebenen der Gewalt im Allgemeinen hervorbringen kann. Die vielseitigen Erkenntnisse, die aus den exemplarischen Filmanalysen gewonnen werden konnten, sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme. Im Folgenden soll anhand von Beispielen verdeutlicht werden, worin die Potenziale des Films für den Erkenntnisgewinn des Betrachters liegen und welche Bedeutung den spezifischen Ausdrucksmitteln der Filmsprache dabei zukommt. Es sei darauf hingewiesen, dass ein Vergleich mit den kommunikativen Potenzialen anderer Medien und Formate an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Aus den exemplarischen Filmanalysen geht hervor, dass Problemfelder im Kontext des innerkolumbianischen Konflikts in den Filmen nicht vereinfacht, sondern in ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit dargestellt werden. Dies wird beispielsweise durch den Einsatz von filmischen Metaphern und Symbolen erreicht, die komplizierte Sachverhalte umschreiben, wie etwa in La sombra del caminante, in dem der „Stuhlträger“ zum Sinnbild der Gleichzeitigkeit von Täter- und Opferschaft, von Schuld und Unschuld wird, oder in El vuelco del cangrejo, in dem die Metapher der Krebsfalle zur Verdeutlichung der Situation der Protagonisten herangezogen wird, welche in ihrem gleichsam para21  | Es sei angemerkt, dass Ausmaß und Ursache der Selbstzensur durch die Filme­m acher schwer zu bestimmen sind. Interviews mit den Regisseuren geben zwar Aufschluss über deren Haltung, nicht jedoch über eventuell unterbewusst ablaufende Entscheidungs­p rozesse, die sich auf die filmischen Darstellungen auswirken können.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

diesischen wie gefährlichen Lebensraum förmlich in der Falle sitzen. Auch das „Spinnenspiel“ in Pisingaña und das „Fischernetz“ in La Sirga sind solche Metaphern: sie umschreiben die schwierige Situation vertriebener Frauen, die im Spannungsfeld von Hilfsbedürftigkeit und gleichzeitiger Abhängigkeit leicht zu Opfern von materieller und sexueller Ausbeutung werden. In ähnlicher Weise werden in La vendedora de rosas die Klebstoffflaschen, an denen die Straßen­kinder schnüffeln, zu Stellvertretern für die nährende und trostspendende Mutterbrust – ein Symbol für Geborgenheit und Fürsorge, deren Abwesenheit durch den zerstörerischen Charakter der Droge betont wird. Am Beispiel der Symbole und Metaphern wird das Potenzial des Films evident, auf subtile Weise Verbindungen zwischen Diskursen herzustellen oder auf Verschränkungen aufmerksam zu machen. So wird der filmische Gewalt­ diskurs, der in dieser Arbeit im Zentrum des Interesses steht, in La sombra del caminante durch die mehrdeutige Metapher des „Stuhlträgers“ mit der Debatte um Schuld, Vergebung und Wiedergutmachung verbunden, während in Pisingaña und La Sirga eine Verbindung zu Geschlechter- und Macht­diskursen hergestellt wird. La vendedora de rosas hingegen bedient sich psychologischer Argumentationen, als das Abrutschen der Jugendlichen in die Kriminalität mit grundlegenden emotionalen und familiären Defiziten erklärt wird. Indem über die Halluzinationen der Straßenkinder eine Analogie zu Andersens Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern hergestellt wird, wird darüber hinaus eine Verbindung zur gesellschaftlichen Debatte um soziale Ungleichheit geschaffen. Durch die Verknüpfung verschiedener Argumentations- und Deutungs­ felder, welche häufig durch Metaphern, durch bestimmte Montageformen (z.B. Analogiemontagen oder symbolische Montagen) oder durch visuelle und akustische Leitmotive hergestellt wird, weisen die Filme auch auf mögliche Hintergründe der Gewalt hin, wie im Fall von La virgen de los sicarios, in dem über das Leitmotiv des Konsumierens (von Artikeln, Liebhabern, aber auch Leichen) ein Zusammenhang zwischen dem kapitalistischen Wirtschafts­ system und dem organisierten Verbrechen bzw. der „Gewaltkultur“ hergestellt wird, oder in Bajo la tierra und La vendedora de rosas, in denen die Debatte um soziale Ungleichheit zur Begründung der Gewalt herangezogen wird. In mehreren Filmen wird, beispielsweise durch Parallelmontagen oder kontra­ punktisch gestalteten Musikeinsatz, eine enge Verbindung von Gewalt, Euphorie und Exzess nahegelegt, wie z.B. in En la tormenta, Bajo la tierra, Retratos en un mar de mentiras oder La Sirga. Diese Filme betonen den ekstatischen Aspekt des Gewaltexzesses, also die berauschende Wirkung des Kontrollverlustes und der Maßlosigkeit auf die Täter. Auch das gezielte Spiel mit Genrekonventionen wird zur Verknüpfung von Diskursen und zur Vermittlung von Gewaltursachen herangezogen. Dies ist der Fall in Aquileo Venganza, in dem die kolumbianische Grund-und-­Boden-

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Problematik durch die Übertragung ins Western-Genre – ein Genre, das für seine spezifische Umsetzung der territorialen Konflikte im Kontext der Besiedlung des ‚Wilden Westens‘ bekannt ist – als zentrale Gewaltursache hervorgehoben wird, oder in Carne de tu carne, in dem durch den Transfer ins Horrorgenre eine Betonung der ‚gruseligen‘, grauenerweckenden Seite der Gewalt erreicht sowie eine Kritik am perfiden, voyeuristischen Interesse des Betrachters an dieser Gewalt formuliert wird. Eine weiteres Potenzial der Filmsprache besteht darin, durch den Einsatz von Strategien der indirekten Kommunikation auf unverfängliche Weise Kritik zu üben oder sich politisch zu positionieren. Dies ist der Fall in Carne de tu carne, der im Deckmantel des Horrorfilms die Regierungspolitiker und Konflikt­akteure als dekadente Geister bzw. blutrünstige Zombies darstellt und das Machtmonopol der kolumbianischen Eliten durch die Metapher des Inzests denunziert, ebenso wie in El vuelco del cangrejo und La Sirga, in denen das vergebliche Warten auf die Touristen zur leitmotivischen Metapher wird, die Uribes Prophezeiung von Internationalisierung, strukturellem Wandel und Wohlstand als falsch entlarvt. Noch deutlicher wird die Kritik in Retratos en und mar de mentiras, in dem in der Anfangsmontage – eine Fotomontage, in der mittelmäßige Models vor einer stümperhaft aufgebauten Kulisse eines Sandstrandes posieren, in deren Hintergrund sich die baufälligen Fassaden einer ärmlichen Backsteinsiedlung abzeichnen – die Regierungskampagne „Colombia es pasión“ persifliert und der Lüge überführt wird oder durch Wort­ spiele auf die „Para-Politik“ der Regierung Uribe angespielt wird. Neben dem Einsatz von Metaphern, Allegorien und Symbolen werden in den analysierten Filmen noch weitere Strategien der indirekten Kommunikation offenbar. Hierzu gehören z.B. der Transfer eines brisanten aktuellen Ereignisses in eine vergangene Zeit (Aquileo Venganza, La toma de la embajada), die Verankerung eines Plots in ein filmisches Genre mit starken filmhistorisch gewachsenen Darstellungskonventionen, die von der Brisanz der vermittelten Inhalte ablenken (der Western bei Aquileo Venganza, das Melodram bei Bajo la tierra, die Komödie bzw. der Sportfilm bei Golpe de estadio), die kontrastierende Montage von echtem und „gefälschtem“ Archivmaterial zur kritischen Hinterfragung vermeintlicher historischer Wahrheiten (Canaguaro, La toma de la embajada) sowie der Einsatz von Musik aus spezifischen regionalen Genres, die einer oralen Überlieferungstradition verpflichtet sind und über deren Texte brisante Inhalte vermittelt werden (die „música llanera“ in Canaguaro, der „corrido prohibido“ in El vuelco, die „música andina“ in La Sirga, die „música del pacífico“ in Retratos und El vuelco). Während der Einsatz indirekter Erzählstrategien einerseits die (verhältnismäßig unverfängliche) Darlegung kritischer Positionen ermöglicht, regt die Mehrdeutigkeit filmischen Erzählens andererseits die

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

aktive Mitarbeit des Zuschauers an, welcher die filmischen Zeichen während des Rezeptionsvorgangs „liest“ und deutet.22 Eine weiteres Potenzial des Films wird in der dramaturgisch und gestalterisch forcierten emotionalen Einbindung des Zuschauers evident. Durch die Kombination unterschiedlicher Erzählstrategien und Gestaltungsmittel (z.B. Figurenkonstellation und -entwicklung; Bildgestaltung und Musikeinsatz) werden Stimmungen erzeugt, die die Emotionen des Zuschauers beim Betrachten lenken und ihm eine bestimmte Haltung zum Gezeigten nahelegen. Häufig wird in den analysierten Filmen auf diese Weise Mitgefühl, insbesondere für die Opfer des Konflikts, generiert (Pisingaña, La sombra del caminante oder Retratos en un mar de mentiras), mitunter aber auch Verständnis für die Akteure des Konflikts geschaffen (Canaguaro, La toma de la embajada, La sombra del caminante). Andere Filme evozieren Gefühle der Abneigung oder Abscheu gegenüber den grausam gezeichneten Gewalttätern (En la tormenta, Pisingaña oder Retratos en un mar de mentiras) oder Resignation angesichts der Omnipräsenz und Unabänderlichkeit der Gewalt (La virgen de los sicarios, La vendedora de rosas). Über die emotionale Einbindung des Zuschauers lenken die Filme auch dessen Sympathie oder Antipathie für die Figuren, und damit in gewissem Maße auch die individuelle Bewertung der Figuren und deren Handeln. Wie bereits in anderen Zusammenhängen erläutert, wird so etwa Verständnis für die sympathisch gezeichneten Guerilleros oder Abneigung gegenüber den skrupellos agierenden Konservativen und Paramilitärs generiert. Die Opfer der Gewalt sind meist sympathisch gezeichnet und ziehen so das Mitgefühl des Zuschauers auf sich, insbesondere dann, wenn sie gleichzeitig Protagonisten und Identifikationsfiguren der Filme sind und in einem antagonistischen Verhältnis zu den Gewaltakteuren stehen.23 Ein anderer Effekt wird im Falle der Dystopie La virgen de los sicarios erzielt, in der alle Figuren latent unsympathisch erscheinen und so, im übertragenen Sinne, mit der kolumbianischen Gesellschaft als Ganzer abgerechnet wird, oder in Golpe de estadio, in dem alle Figuren – Zivilisten ebenso wie Guerilleros und Militärs – sympathisch gezeichnet sind und so die Möglichkeit der Versöhnung betont wird. Schlussendlich zeichnen sich die analysierten Filme durch ihre Viel­ perspektivität aus: so werden im Wechsel die subjektiven Perspektiven unterschiedlicher Figuren eingenommen, welche auf unterschiedliche Weise in den innerkolumbianischen Konflikt involviert sind – als Täter, Opfer oder Zeugen der Gewalt, als Repräsentanten verschiedener Regionen, sozialer Klassen, Eth22 | Siehe Kapitel II.4.2.2. 23 | Dies ist der Fall in Esta fue mi vereda, Bajo la tierra, Aquileo Venganza, En la tormenta, Pisingaña, La vendedora de rosas, La sombra del caminante, Retratos en un mar de mentiras, El vuelco del cangrejo und La Sirga.

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nien, Generationen und Geschlechter. Dadurch erhält der Zuschauer Einblick in diverse, teils konträre Blickwinkel und Standpunkte und erkennt die jeweiligen Hintergründe und Motivationen für das Handeln der Figuren. Dies könnte eine differenziertere Beurteilung des innerkolumbianischen Konflikts und der Dynamik der Gewalt begünstigen.

IV.3 P otenziale des K inos zur D okumentation , A ufarbeitung und Ü berwindung der G e walt In ihrer Monografie Filme, die Geschichte(n) erzählen. Filmanalyse als Medien­ kultur­analyse (2011) schreibt Waltraud Wende über die Rolle des Films für die Prägung des kollektiven Geschichtsbildes, der Vorstellung also, die die Mitglieder einer Gesellschaft von geschichtlichen Ereignissen und Zusammen­ hängen haben. Grundlegend für ihre Auseinandersetzung ist die Annahme, dass die „von Kino und Fernsehen erzählten ‚fiktionalen‘ Geschichten aus der Geschichte und die damit verbundenen Dramatisierungen, Personalisierungen, Individualisierungen und Emotionalisierungen [...] ein essenzieller Baustein der Erinnerungskultur einer Gesellschaft“24 sind, unabhängig vom Grad der Übereinstimmung mit den jüngsten Erkenntnissen der Geschichtsforschung. Medial vermittelte öffentliche Bilder, fiktionale ebenso wie dokumentarische, ersetzen, so Wende, nach und nach die persönlichen Erinnerungen an geschichtliche Ereignisse und prägen so das soziokulturelle Gedächtnis.25 In ähnlicher Weise beschreibt auch Susan Sontag in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten (2005) diesen Sachverhalt: „Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können.“26 Ob dieser Ansatz auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit übertragbar ist, ob die analysierten Filme über den landesinternen Konflikt also das Geschichtsbild der Kolumbianer bzw. der Weltöffentlichkeit in kollektiver Weise prägen, ist insofern zu hinterfragen, als dass das kolumbianische Kino keineswegs als Massenmedium gelten kann: früher wie heute werden kolumbianische Filme – mit Ausnahme der Familienkomödien von (oder im Stil von) Dago García – innerhalb Kolumbiens nur von einer spezialisierten Minderheit wahrgenommen.27 Auch außerhalb des Landes ist die Sichtbarkeit kolumbianischer Filme bislang begrenzt, da nur wenige den Sprung von den Festivals in die kommerziellen Kinos schaffen.28 Nichtsdestotrotz kann 24 | Wende 2011, 10. 25 | Siehe Wende 2011, 11. 26 | Sontag 2005, 104. 27 | Vgl. Osorio J. 2004, 189ff sowie Kapitel I.2.1 und III.4.4.2 in diesem Buch. 28 | Vgl. Kapitel I.1 und III.4.4.

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das Potenzial der Filme, zu einer Vertiefung der individuellen Auseinander­ setzung und zu einer Erhöhung des Verständnisses des innerkolumbianischen Konflikts beizutragen, als hoch eingestuft werden: Wie in Kapitel IV.1 und IV.2 ausgeführt wurde, reflektieren und erweitern die Filme den Diskurs um die Gewalt in Kolumbien und verschaffen dem Betrachter auf vielschichtige Weise Zugang zur Thematik des Krieges und der Gewalt. Jenes Potenzial soll im Folgenden auf drei Ebenen – der Ebene der Dokumentation und Sichtbarmachung, der Ebene der Aufarbeitung und der Ebene der Überwindung der Gewalt durch die Filme – veranschaulicht werden. In Hinblick auf den Beitrag der Filme zur Dokumentation und Sichtbarmachung ist zunächst hervorzuheben, dass die Filme geschichtliche Ereignisse meist aus ungewohnten oder peripheren Perspektiven wiedergeben und somit die ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung (das diskursiv erzeugte „Wissen“) ergänzen oder in Frage stellen. Dies ist beispielsweise in Canaguaro der Fall, in dem eine Geschichtsinterpretation ‚von unten‘, aus der Sicht der einfachen Land­bevölkerung, erfolgt, ebenso wie in La toma de la embajada, in dem eine Innen­perspektive auf ein überwiegend von außen dokumentiertes Ereignis (die Botschaftsbesetzung) rekonstruiert wird. Auch die Filme über die para­ militärische Gewalt (Retratos en un mar de mentiras, El vuelco del cangrejo) leisten in diesem Sinne einen Beitrag zur Dokumentation und Sichtbarmachung, da sie an das Fortbestehen des organisierten Paramilitarismus erinnern, welches von offizieller Seite geleugnet wird.29 Ebenso kann die explizite, ‚blutige‘ Inszenierung von Gewaltpraktiken – dem Vorwurf der Gewaltverherrlichung oder der Menschenverachtung zum Trotz30 – als Beitrag zur Dokumentation der Gewalt gedeutet werden, da deren Ausblendung und Verleugnung durch den nachhaltigen Eindruck dieser Filme erschwert wird. Besonders hervorzuheben ist ferner das Potenzial der Filme zur Sichtbar­ machung der Situation der marginalisierten und besonders von der Gewalt betroffenen Bevölkerungsgruppen, deren Belange im öffentlichen Diskurs meist unzureichend zur Kenntnis genommen werden: die ethnischen Minderheiten (La Sirga, El vuelco del cangrejo), die einfachen Bauern und Arbeiter (Esta fue mi vereda, Bajo la tierra, Canaguaro), die Vertriebenen und Geflohenen, von denen insbesondere Frauen, Kinder und behinderte Menschen Armut und Not leiden (La Sirga, Pisingaña, La sombra del caminante), sowie die sozial benachteiligten Schichten, die in der Peripherie der Großstädte ums Überleben kämpfen (La vendedora de rosas, La virgen de los sicarios). Die Filme bieten dem Zuschauer tiefe Einblicke in die Lebensumstände dieser Gruppen und können so zur Anerkennung ihrer Belange beitragen. Häufig lernt der Rezipient über 29 | Vgl. Kapitel III.4.1. 30 | Vgl. Kapitel III.2.3.3 (zu Pisingaña) sowie Kapitel III.2.5.1 (zu En la tormenta).

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die Filme auch den geografischen und kulturellen Reichtum der betreffenden Schau­plätze kennen. Indem die Filme die Ambivalenz und Diversität – und nicht selten auch die Schönheit – der dargestellten ländlichen und urbanen ‚Brenn­punkte‘ hervorheben, wirken sie einer Stigmatisierung Kolumbiens als „Land der Gewalt“ und der Kolumbianer als „gewalttätiges Volk“ entgegen, ohne jedoch vorhandene Probleme zu verleugnen. Das Potenzial der Filme zur Aufarbeitung des Konflikts lässt sich in den Bereich der faktischen Aufarbeitung und den der emotionalen Aufarbeitung unterteilen. Erstere wird durch die Filme vorangetrieben, indem historisch determinierte politische und gesellschaftliche Diskurse aufgerollt werden, so dass sich der Zuschauer ein Bild von den Standpunkten unterschiedlicher Akteure machen kann (z.B. in En la tormenta, Cóndores no entierran todos los días, Pisingaña oder Carne de tu carne), oder indem diskursiv erzeugtes historisches „Wissen“ – oder die Praxis des Wahrheitsbildungsprozesses selbst – kritisch hinterfragt oder widerlegt werden (z.B. in La toma de la embajada, Canaguaro oder Carne de tu carne). Auch die Tatsache, dass der Zuschauer durch die filmische Umsetzung Einblick in das Innenleben der Figuren erhält, könnte zum Verständnis der Gewalt beitragen: durch die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Beweggründe der Figuren – politische ebenso wie persönliche – wird dem Rezipienten ein Gespür für die Komplexität und Vieldimensionalität des innerkolumbianischen Konflikts vermittelt, was der Herausbildung vereinfachender Deutungen (z.B. als Guerilla-Krieg oder Anti-Terror-Krieg) entgegenwirken könnte. Impulse zur emotionalen Aufarbeitung liefern die Filme insbesondere dadurch, dass sie den Zuschauer mit der schmerzhaften Realität des Krieges und der Gewalt konfrontieren – eine Realität, die im Alltag häufig ausgeblendet wird. Bei der Rezeption eines Films erhält der Zuschauer die Möglichkeit, das Dargestellte auf mehreren Ebenen – senso-motorisch, emotional, kognitiv und reflexiv31 – zu „erleben“. Betrachtet man den Rezeptionsprozess in diesem Sinne als umfassendes Rezeptionserlebnis32, könnten die Filme zu einer intensiven individuellen Auseinandersetzung mit der Gewalt – und ggf. auch mit eigenen Gewalterfahrungen – anregen. Dabei steht natürlich außer Frage, dass die schwierige Aufgabe der Überwindung individueller Gewalttraumata, die im Rahmen der staatlich intendierten Aufarbeitung in Kolumbien (beispielsweise durch Programme zur psychologischen Betreuung der Opfer) noch zu

31 | Siehe Hausmanninger 2002. 32 | Für Hausmanninger (2002) handelt es sich bei der filmischen Rezeption um ein ganzheitliches Unterhaltungserlebnis, bei dem neben unseren Sinnen und Emotionen auch unser Denken und Urteilsvermögen angesprochen werden.

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

wenig vorangetrieben wird33, nicht allein durch den hier skizzierten Effekt der Filmrezeption gemeistert werden kann. Eine zentrale und zugleich unerwartete Erkenntnis aus der Untersuchung besteht darin, dass die Filme den Betrachter auch zur Überwindung der Gewalt anregen könnten. In Golpe de estadio und La toma de la embajada beispielsweise wird innerhalb der Diegese Mut zur Beendigung der bewaffneten Auseinander­setzungen generiert, ferner werden Anstöße zu einer diplomatischen Lösung des Konflikts gegeben. Indem diese Filme eine hoffnungsfrohe Auf bruchstimmung vermitteln und gleichzeitig an das Nationalgefühl der Kolumbianer appellieren34, rufen sie indirekt zum gemeinsamen Aktivismus für den Frieden auf. Die Filme, die auf eine Identifikation des Zuschauers mit den Opfern der Gewalt abzielen, appellieren auch an dessen Hilfsbereitschaft: indem sie starkes Mitgefühl mit den Opfern und Abscheu gegenüber den Tätern hervorrufen, könnten sie die Bereitschaft des Zuschauers erhöhen, Gewalt als Handlungsalternative kategorisch zurückzuweisen und sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen. La sombra del caminante regt darüber hinaus zur Reflexion über die Voraussetzungen für eine Überwindung der Gewalt an: er wirft die Frage nach der Möglichkeit von Vergebung auf und betont so die Notwendigkeit der zwischen­ menschlichen Aussöhnung parallel zu einem politisch-diplomatischen Annäherungsprozess – ein Ansatz, der auch die Opfer des Konflikts in die Verantwortung zieht. Einen Vorstoß zur Überwindung der Gewalt liefern auch diejenigen Filme, die Verständnis für die Konfliktakteure generieren. Die humanisierende Darstellung der Guerilla, aber auch der jugendlichen Gewaltakteure im Umfeld der Drogenmafia könnte einen Beitrag zur Entdämonisierung der Konfliktakteure in der öffentlichen Wahrnehmung leisten. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer Aussöhnung der Konfliktparteien sowie der kolumbianischen Bevölkerung, die nicht zuletzt aufgrund der polarisierenden Regierungs­diskurse der vergangenen Jahrzehnte zutiefst gespalten ist.35 Indem die Filme die Menschlichkeit aller Beteiligten betonen, liefern sie einen Anstoß, bestehende Feindbilder zu relativieren oder über Bord zu werfen. Die Mehrzahl der Filme legt darüber hinaus die enge Vernetzung unterschiedlicher Gewaltformen (z.B. politische Gewalt, private Gewalt, mafiotische Gewalt oder Gewalt gegen Minderheiten) in der kolumbianischen Gesellschaft offen und verdeutlicht, dass diese sich gegenseitig bedingen oder aufeinander 33 | Vgl. Calle 2014. 34 | Siehe Kapitel IV.1. 35 | Diese Polarisierung spiegelt sich auch im Ausgang des Volksentscheids über den Friedensvertrag Santos-FARC wider. Vgl. Kapitel III.4.1.

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auf bauen. Die filmischen Darstellungen veranschaulichen, dass Gewalt nicht nur im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen existiert, sondern tief in den sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen verwurzelt ist. Sie schaffen so ein Bewusstsein dafür, dass die Überwindung der Gewalt nicht einseitig bei der Bekämpfung bzw. Befriedung der Konflikt­ akteure ansetzen darf – ein Ansatz, den auch die aktuelle Friedenspolitik der Regierung Santos im Rahmen der Verhandlungen mit den FARC verfolgt –, sondern gesellschaftlich und staatlich etablierte bzw. tolerierte Gewalt­formen mit einschließen muss. Wie am Beispiel des Volksentscheids über den von der Regierung Santos und den FARC ausgehandelten Friedensvertrag vom 02.10.2016 deutlich geworden ist, in dem sich eine knappe Mehrheit der Kolumbianer gegen den eingeschlagenen Weg des Kompromisses und der gegenseitigen Annäherung aussprach und damit ihr Misstrauen bzw. ihre Missgunst gegenüber den Vertrags­partnern zum Ausdruck brachte36, kann die große Herausforderung der Aussöhnung und der Vergebung nicht von den politischen Akteuren allein gemeistert werden, sondern erfordert die Bereitschaft und Mithilfe der kolumbianischen Bevölkerung. Dieser Ansicht ist auch Tatiana A., die am Tag nach dem Volks­entscheid in den sozialen Netzwerken postet: „It feels very sad today, my country cut in two equal opposite sides, it feels emptiness and uncertainty. Voting yes for the peace agreements would not be enough to end this war, but it would be the less worse, a small possibility to change this deeply unequal society at least a little bit. I expect we can think as a nation at least once for peace. Mean­w hile the only thing we can do is trying to be better human beings every day, respect each other and tolerate our differences, peace starts with us“37.

– ein Grundsatz, der sich vom kolumbianischen Fall zweifelsohne auf andere Kontexte übertragen lässt.

IV.4 A usblick : F ilmwissenschaf t als G esellschaf tswissenschaf t ? Die Vielschichtigkeit der Erkenntnisse, die aus der Untersuchung des kolumbianischen Kinos über den landesinternen Konflikt, aber auch über die kolumbianische Gesellschaft und die Wirkungsebenen von Gewalt im Allgemeinen gewonnen werden konnten, gibt Anlass zu Überlegungen über 36 | Vgl. Kapitel III.4.1. 37 | Gepostet von Tatiana A. am 03.10.2016 auf Facebook. Quelle: https://www.facebook. com/TatoLAndIA/posts/10153985846231586

IV. Fazit: Der filmische Gewaltdiskurs

die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Filmwissenschaft zur Unter­suchung von Gesellschaften und Kulturen. Tatsächlich hat sich die film­analytische Herangehensweise – in diesem Fall in Verbindung mit diskurs­­­ analytischen Methoden und vor dem Hintergrund der sozial­ wissenschaftlichen Gewaltforschung – als äußerst fruchtbar zur Reflexion des inner­kolumbianischen Konflikts erwiesen. Eine bedeutsame Perspektive für die Filmwissenschaft könnte folglich darin liegen, die sozialwissenschaftliche Forschung durch ihren besonderen Zugang zu komplexen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen zu ergänzen und zu bereichern.

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V.4 P ressematerial Toulouse aplaude (AFP, 14.03.2005). In: CD-Rom mit Pressematerial zu La sombra del caminante, herausgegeben von Jaime E. Manrique, Laboratorios Black Velvet.

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La Sirga Presskit english. In: DVD mit Pressematerial zu La Sirga, herausgegeben von Viviana Andriani zur Präsentation auf dem 65. Internationalen Filmfestival von Cannes (2012).

V.5 Z itierte F ilme (entstehungschronologisch) El drama del 15 de octubre (dt.: „Das Drama vom 15. Oktober“. Francesco Di Domenico, 1915, Kolumbien) María (dt.: „María“. Máximo Calvo/Alfredo Del Diestro, 1922, Kolumbien) Bajo el cielo antioqueño (dt.: „Unter dem Himmel von Antioquia“. Arturo Acevedo, 1924, Kolumbien) Madre (dt.: „Mutter“. Samuel Velásquez, 1924, Kolumbien) Alma provinciana (dt.: „Provinzianische Seele“. Félix Joaquín Rodríguez, 1925, Kolumbien) Manizales City (dt.: „Manizales Stadt“. Félix R. Restrepo, 1925, Kolumbien) Suerte y azar (dt.: „Glück und Zufall“. Camilo Cantinazzi, 1925, Kolumbien) Garras de oro (USA: Dawn of Justice. P. Jambrina, 1926, Kolumbien) Tuya es la culpa (dt.: „Du bist schuld“. Camilo Cantinazzi, 1926, Kolumbien) Flores del valle (dt.: „Blumen aus dem Tal“. Máximo Calvo, 1941, Kolumbien) Allá en el trapiche (dt.: „Dort in der Zuckermühle“. Roberto Saa Silva, 1943, Kolumbien) Golpe de gracia (dt.: „Gnadenstoß“. Emilio Álvarez Correa/Oswaldo Duperly Angueira, 1944, Kolumbien) Bambucos y corazones (dt.: „Bambucos und Herzen“. Gabriel Martínez, 1945, Kolumbien) El milagro de sal (dt.: „Das Salzwunder“. Luis Moya Sarmento, 1958, Kolumbien) Esta fue mi vereda (dt.: „Dies war mein Dorf “. Gonzalo Canal Ramírez, 1959, Kolumbien, Kurzfilm) Chambú (dt: „Chambú“. Alejandro Kerk, 1961, Kolumbien) El hermano Caín (dt.: „Der Bruder Kain“. Mario López, 1962, Kolumbien) Las murallas de Cartagena (dt.: „Die Stadtmauern von Cartagena“. Francisco Norden, 1962, Kolumbien) Raíces de piedra (international: Roots of stone. José María Arzuaga, 1963, Kolumbien) Tres cuentos colombianos (dt.: „Drei kolumbianische Erzählungen“. Julio Luzardo/Alberto Mejía, 1963, Kolumbien) El río de las tumbas (dt.: „Der Fluss der Gräber“. Julio Luzardo, 1964, Kolumbien) Tierra amarga (dt.: „Bittere Erde“. Roberto Ochoa, 1965, Kolumbien) Pasado el meridiano (USA: Passing the Meridian. José María Arzuaga, 1967, Kolumbien) Aquileo Venganza (dt.: „Aquileo Rache“. Ciro Durán, 1968, Kolumbien)

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 Kino in Kolumbien

Bajo la tierra (dt.: „Unter der Erde“. Santiago García, 1968, Kolumbien) Chircales (international: The Brickmakers. Marta Rodríguez/Jorge Silva, 19641971, Kolumbien) Se llamaría Colombia (dt.: „Es würde Kolumbien heißen“. Francisco Norden, 1970, Kolumbien) Qué es la democracia? (dt.: „Was ist Demokratie?“. Carlos Álvarez, 1971, Kolumbien) Cali, de película (dt.: „Cali beim Film“. Luis Ospina/Carlos Mayolo, 1972, Kolumbien, Kurzfilm) Oiga Vea (dt.: „Hör mal, schau mal“. Luis Ospina/Carlos Mayolo, 1972, Kolumbien, Kurzfilm) Camilo, el cura guerrillero (dt.: „Camilo, der Guerilla-Priester“. Francisco Norden, 1974, Kolumbien) Campesinos (international: Peasants. Marta Rodríguez/Jorge Silva, 1975, Kolumbien) Agarrando Pueblo (international: The Vampires of Poverty. Luis Ospina/Carlos Mayolo, 1977, Kolumbien, Kurzfilm) Crónica Roja (dt.: „Rote Chronik“. Fernando Vallejo, 1977, Mexiko) Mamagay (dt.: „Mamagay“. Jorge Gaitán Gómez, 1977, Kolumbien) Gamín (international: Waif. Ciro Durán, 1978, Frankreich/Kolumbien) El taxista millionario (dt.: „Der millionenschwere Taxifahrer“. Gustavo Nieto Roa, 1979, Kolumbien/Mexiko) Canaguaro (dt.: „Canaguaro“. Dunav Kuzmanich, 1981, Kolumbien) 27 horas con la muerte (dt.: „27 Stunden mit dem Tod“. Jairo Pinilla, 1981, Kolumbien) En la tormenta (dt.: „Im Unwetter“. Fernando Vallejo, 1982, Mexiko) Pura Sangre (international: Pure Blood. Luis Ospina, 1982, Kolumbien) Carne de tu carne (USA: Flesh of Your Flesh. Carlos Mayolo, 1983, Kolumbien) Cóndores no entierran todos los días (international: A Man of Principle. Francisco Norden, 1984, Kolumbien) Con su música a otra parte (dt.: „Wo anders hin mit eurer Musik“. Camila Loboguerrero, 1984, Kolumbien) El hombre de acero (dt.: „Der Mann aus Stahl“. Carlos Duplat, 1985, Kolumbien, Kurzfilm) El potro chusmero (dt.: „Das Fohlen der ‚Chusmeros‘“. Luis Alfredo Sánchez, 1985, Kolumbien, Kurzfilm) Pisingaña (international: Hopscotch/The Spider Game. Leopoldo Pinzón, 1985, Kolumbien) En busca de María (dt.: „Auf der Suche nach María“. Jorge Nieto/Luis Ospina, 1986, Kolumbien, Dokumentarfilm/Kurzfilm) La mansión de Araucaíma (dt.: „Das Herrenhaus von Araucaíma“. Carlos Mayolo, 1986, Kolumbien)

V. Quellenverzeichnis

La mejor de mis navajas (dt.: „Das Beste meiner Klappmesser“. Carl West, 1986, Kolumbien, Kurzfilm) Nieve tropical (international: Tropical Snow. Ciro Durán, 1988, Kolumbien/USA) Rodrigo D.: No futuro (international: Rodrigo D.: No Future. Víctor Gaviria, 1988, Kolumbien) Técnicas de duelo: Una cuestión de honor (UK: A Matter of Honour. Sergio Cabrera, 1988, Kolumbien/Kuba) María Cano (dt.: „María Cano“, Camila Loboguerrero, 1989, Kolumbien) Confesión a Laura (D: Bekenntnis an Laura. Jaime Osorio, 1990, Kolumbien/ Kuba/Spanien) La gente de la Universal (dt.: „Die Leute von der Universal“. Felipe Aljure, 1991, Spanien/UK/Kolumbien/Bulgarien) La estrategia del caracol (D: Die Strategie der Schnecke. Sergio Cabrera, 1993, Italien/Kolumbien/Frankreich) Edipo Alcalde (international: Oedipus Mayor. Jorge Alí Triana, 1996, Kolumbien/Spanien/Mexiko/Kuba) Ilona llega con la lluvia (international: Ilona Arrives with the Rain. Sergio Cabrera, 1996, Kolumbien/Italien/Spanien) La nave de los sueños (international: Ship of Dreams. Ciro Durán, 1996, Venezuela/Mexiko/Kolumbien) Cómo poner a actuar pájaros (dt.: „Wie man Vögel zum Schauspielen bringt“. Erwin Goggel/Sergio Navarro/Víctor Gaviria, 1998, Kolumbien, Dokumentarfilm) Golpe de estadio (international: Time Out. Sergio Cabrera, 1998, Spanien/Italien/Kolumbien) La vendedora de rosas (international: The Rose Seller. Víctor Gaviria, 1998, Kolumbien) El séptimo cielo (dt.: „Der siebte Himmel“. Juan Fischer, 1999, Kolumbien) Es mejor ser rico que pobre. (dt.: „Es ist besser reich zu sein als arm“. Ricardo Coral-Dorado, 1999, Kolumbien) La toma de la embajada (dt.: „Die Besetzung der Botschaft“. Ciro Durán, 2000, Kolumbien/Mexiko/Venezuela) La virgen de los sicarios (D: Die Madonna der Mörder. Barbet Schroeder, 2000, Spanien/Frankreich/Kolumbien) La pena máxima (USA: Maximum Penalty. Jorge Echeverri, 2001, Kolumbien) Te busco (dt.: „Ich suche dich“. Luis Orjuela, 2002, Kolumbien) El carro (dt.: „Das Auto“. Luis Orjuela, 2003, Kolumbien) La desazón suprema – retrato incesante de Fernando Vallejo (dt.: „Das allerhöchste Unbehagen – ein rastloses Porträt von Fernando Vallejo“. Luis Ospina, 2003, Kolumbien, Dokumentarfilm) La primera noche (international: The First Night. Luis Alberto Restrepo, 2003, Kolumbien)

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Memoria de los silenciados: El baile rojo (dt.: „Erinnerung der Zum-Schweigen-Gebrachten: Der rote Tanz“. Yezid Campos, 2003, Kolumbien, Dokumentarfilm) El Rey (international: The King. Antonio Dorado, 2004, Kolumbien/Frankreich/Spanien) La sombra del caminante (dt.: „Der Schatten des Wanderers“; F: L’ombre de Bogotá. Ciro Guerra, 2004, Kolumbien) María, llena eres de gracia (D: Maria voll der Gnade. Joshua Marston, 2004, Kolumbien/USA/Ecuador) Perder es cuestión de método (international: The Art of Losing. Sergio Cabrera, 2004, Kolumbien/Spanien) Sumas y restas (international: Addictions and Subtractions. Víctor Gaviria, 2004, Kolumbien/Spanien) Guerrilla Girl (Frank Piasechi Poulsen, 2005, Dänemark, Dokumentarfilm) La historia del baúl rosado (dt.: „Die Geschichte des rosa Koffers“. Libia Stella Gómez, 2005, Kolumbien/Mexiko/Spanien) Rosario Tijeras (D: Rosario, die Scherenfrau. Emilio Maillé, 2005, Kolumbien/ Mexiko/Spanien/Brasilien) Somos alzados en bastones de mando (dt.: „Wir haben die Kommandostäbe erhoben“. Kollektiv Nasaacin, 2006, Kolumbien, Dokumentarfilm) Soñar no cuesta nada (USA: A Ton of Luck. Rodrigo Triana, 2006, Argentinien/ Kolumbien) Apocalipsur (dt.: „Apokalypsüden“. Javier Mejía, 2007, Kolumbien) Bluff (international: Bluff. Felipe Martínez, 2007, Kolumbien) Buscando a Miguel (dt.: „Auf der Suche nach Miguel“. Juan Fisher, 2007, Kolumbien) De la ilusión al desconcierto (dt.: „Von der Illusion zur Fassungslosigkeit“. Luis Ospina, 2007, Kolumbien, Dokumentarfilm) Satanás (international: Satan. Andrés Baiz, 2007, Kolumbien/Mexiko) El ángel del acordeón (international: Music Angels. María Camila Lizarazo, 2008, Kolumbien) Los actores del conflicto (dt.: „Die Akteure des Konflikts“. Lisandro Duque, 2008, Kolumbien/Venezuela) Perro come perro (international: Dog Eat Dog. Carlos Moreno, 2008, Kolumbien) La pasión de Gabriel (international: Gabriel’s Passion. Luis Alberto Restrepo, 2009, Kolumbien) La sangre y la lluvia (international: Blood and Rain. Jorge Navas, 2009, Kolumbien/Argentinien) Los viajes del viento (D: Die Reisen des Windes. Ciro Guerra, 2009, Kolumbien/ Deutschland/Argentinien/Niederlande) El Chichipato (dt.: „Der Mann ohne Bedeutung“. Felipe Moreno, 2010, Kolumbien, Kurzfilm)

V. Quellenverzeichnis

El vuelco del cangrejo (international: Crab Trap. Oscar Ruiz Navia, 2010, Kolumbien/Frankreich) La sociedad del semáforo (international: The Stoplight Society. Rubén Mendoza, 2010, Kolumbien/Frankreich) Retratos en un mar de mentiras (dt.: „Bildnisse in einem Lügenmeer“. Carlos Gaviria, 2010, Kolumbien) Gordo, calvo y bajito (international: Fat Bald Short Men. Carlos Osuna, 2011, Kolumbien) Karen llora en un bus (international: Karen cries on the bus. Gabriel Rojas Vera, 2011, Kolumbien) Los colores de la montaña (international: The Colors of the Mountain. Carlos César Arbeláez, 2011, Kolumbien/Panama) Pequeñas voces (dt.: „Kleine Stimmen“. Jairo Eduardo Carrillo/Óscar Andrade, 2011, Kolumbien) Saluda al Diablo de mi parte (international: Greetings to the Devil. Juan Felipe Orozco, 2011, Kolumbien/Mexiko/USA) Vencer o morir (dt.: „Siegen oder sterben“. Jorge Enrique Botero, 2011, Kolumbien/Venezuela, Dokumentarfilm) Chocó (international: Choco. Jhonny Hendrix Hinestroza, 2012, Kolumbien) Don Ca (dt.: „Herr Ca“. Patricia Ayala, 2012, Kolumbien) La Sirga (international: The Towrope. William Vega, 2012, Kolumbien/Frankreich/Mexiko) La playa D.C. (dt.: „Der Strand D.C.“. Juan Andrés Arango, 2012, Kolumbien/ Brasilien/Frankreich) Leidi (international: Leidi. Simón Mesa Soto, 2014, Kolumbien/UK, Kurzfilm) Los hongos (dt.: „Die Pilze“. Oscar Ruiz Navia, 2014, Kolumbien/Frankreich/ Argentinien/Deutschland/Italien/Niederlande/USA) El abrazo de la serpiente (international: Embrace of the Serpent. Ciro Guerra, 2015, Kolumbien/Venezuela/Argentinien) Ella (dt.: „Sie“. Libia Stella Gómez, 2015, Kolumbien)

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Medienwissenschaft Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus, Martina Thiele, Julia Elena Goldmann (Hg.)

Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 2/2017 – Mobile Digital Practices January 2018, 272 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3821-9 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3821-3

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0

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