Killy Literaturlexikon: Band 9 Os – Roq
 9783110220452, 9783110220445

Table of contents :
Frontmatter
Osang - Oye
Paalzow - Pastor
Pastorius - Peschek
Peschina - Pfennig
Pfenninger - Pirinçci
Piscator - Pollich
Polt - Pückler-Muskau
Pühringer - Quistorp
Raabe - Rappolt
Rappoltsteiner Parzifal - Rehmann
Rehn - Reithard
Reitz - Richey, Johann
Richey, Michael - Risse
Rist - Roquette

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Killy Literaturlexikon

Band 9

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 9 Os – Roq

De Gruyter

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. April 2010

ISBN 978-3-11-022044-5 e-ISBN 978-3-11-022045-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Irmgard Ackermann Kurt Adel Stefan Alker Jan Andres Stefan Andres Alfred Anger Thomas Anz Hermann Ulrich Asemissen Carmen Asshoff Ilse Auer Peter Aufgebauer Friedhelm Auhuber Achim Aurnhammer Martina Backes Petra M. Bagley Michael Baldzuhn Arno Bammé Elwira Bauer Stefan Bauer Birgit Baum Christiane Baumann Günter Baumann Sabina Becker Michael Behnen Sven Behrisch Jan Behrs Roland Berbig Rüdiger Bernhardt Ad den Besten Klaus Binder Heike Bismark Dietrich Blaufuß Hartmut Bobzin Dietrich Bode Knut Böser Klaus Bohnen Gerhard Bolaender Alexander von Bormann Manfred Bosch . Agnieszka Bozek Michael Braun Thomas Brechenmacher Astrid Breith

Kai Bremer Dieter Breuer Gisela Brinker-Gabler Friedhelm Brusniak Dörthe Buchhester Annette Bühler-Dietrich Hans Peter Buohler Gudrun Busch Rémy Charbon David Clarke Sibylle Cramer Heide Crawford Ralf Georg Czapla Annette Daigger Matthias Dall’Asta Julia Danielczyk Karl Deiritz Rudolf Denk Heinrich Detering Nicolas Detering Achim Diehr Karl Dienst Hartmut Dietz Heinrich Dilly Ingeborg Dorchenas Richard Dove Klaus Düwel Joachim Dyck Regina Dyck Sophia Ebert Wynfried Eckel Jürgen Egyptien Heidrun Ehrke-Rotermund Jost Eickmeyer Manfred Eikelmann Norbert Eke Susann El Kholi Markus Engelhardt Clara Ervedosa Bettina Eschenhagen Karl Esselborn Christoph Fasbender Jörg-Ulrich Fechner

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Edith Feistner Gottfried Fischborn Cornelia Fischer Ernst Fischer Thorsten Fitzon Konrad Franke Hans-Edwin Friedrich Cornelia Fritsch Waldemar Fromm Katharina Frühe Ulrich Fülleborn Frank Fürbeth Kurt Gärtner Carsten Gansel Roland Gehrke Walter Gödden Uta Goerlitz Hans-Werner Goetz Walter Grab Katharina Grätz Bernhard Graßl Philipp Gresser Helmuth Grössing Isabel Grübel Hans-Jürgen Günther Julei M. Habisreutinger Rotraut Hackermüller Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Lutz Hagestedt Werner Hahl Andy Hahnemann Peter-Henning Haischer Michael Hansel Volkmar Hansen Matthias Harder Björn-Michael Harms Wolfgang Harms Anneli Hartmann Volker Hartmann Muriel von Hartrott Jens Haustein Ludger Heid Horst Heidtmann Ernst Hellgardt Mechthild Hellmig Johannes Helmrath Gabriele Henkel Nikolaus Henkel Christine Henschel Klaus Hentschel Ulrich Herrmann

Peter Heßelmann Norbert Heukäufer Klaudia Hilgers Alex W. Hinrichsen Achim Hölter Stefan Höppner Torsten Hoffmann Heinz Holeczek Martin Hollender Volker Honemann Christoph Huber Klaus W. Hübner Adrian Hummel Bernhard Iglhaut Stefan Iglhaut Joachim Jacob Jürgen Jacobs Andrea Jäger Christian Jäger Bruno Jahn Johannes Janota Herbert Jaumann Ulrich Joost Renate Jürgensen Winfred Kaminski Carolina Kapraun Elke Kasper Maria-Regina Kecht Torsten Kellner Dirk Kemper Uwe-K. Ketelsen Ulrich Kiehl Dieter Kimpel Dietrich Klein Erich Kleinschmidt Martin Klöker Kathrin Klohs Markus Knecht Reinhard Knodt Hans-Albrecht Koch Peter König Ulrich Köpf Manuel Köppen Rainer Kolk Catharina Koller Hans-Joachim Koppitz Gisela Kornrumpf Fritz Krafft Gerhard Kraiker Thomas Kramer Horst Krause Hannes Krauss Helmut K. Krausse Wilhelm Kreutz

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VII Wynfrid Kriegleder Marcel Krings Hans-Martin Kruckis Dirk Krüger Detlef Krumme Hans Kruschwitz Astrid Kube Primus-Heinz Kucher Gunhild Kübler Wilhelm Kühlmann Hartmut Kugler Lena Kugler Axel Kuhn Josephine Kujau Walther Kummerow Hans Peter Kunisch Edwin Lachnit Sebastian Lalla Birgit Lang Peter Langemeyer Michael Langer Dino Larese Corinna Laude Elisabeth Lebensaft Claude Lecouteux David E. Lee Felix Leibrock Gerald Leitner Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Virginia L. Lewis Ursula Liebertz-Grün Max Liedtke Luise Liefländer-Leskinen Werner Liersch Anke Lindemann Stark Sandra Linden Joachim Linder Andrea Linnebach-Wegner Charles Linsmayer Stephan Lobert Dieter Löffler Claudia Löschner Martin Loew-Cadonna Dieter Lohmeier Sabine Lorenz Stefan Lorenz Raffaele Louis Johanna Ludwig Matthias Luserke Ulrich Maché Bettina Mähler Eberhard Mannack Michael Markel

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hanspeter Marti Matías Martínez Reiner Marx Arno Matschiner Kjeld Matthiessen Beat Mazenauer John A. McCarthy Volker Meid Albert Meier Andreas Meier Ute Mennecke-Haustein Otto Merk Dietrich Meyer Hubert Meyer Matthias Meyer Alain Michel Gerhard Michel Rita Mielke York-Gothart Mix Rudolf Mohr Dirk Moldenhauer Jean Mondot Peter Morris-Keitel Elfriede Moser-Rath Dominik Müller Hans-Harald Müller Inez Müller Jan-Dirk Müller Richard Matthias Müller Ulrich Müller Gunnar Müller-Waldeck Felix Mundt Lothar Mundt Friederike Nüssel Herbert Ohrlinger Walter Olma John Osborne Norbert H. Ott Clemens Ottmers Fiammetta Palladini Walter Pape Georg Patzer Günther Patzig Ina Ulrike Paul Roger Paulin Dietmar Peil Ole Petras Dana Pfeiferová Kristina Pfoser-Schewig Bruno Pieger Ewa Pietrzak Roland Pietsch Jörg Platiel Hans Pörnbacher

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Gesine von Prittwitz Bärbel Puff Uwe Puschner Wolfgang Putschke Frank Quilitzsch Frank Raepke Jürgen Rathje O. F. Raum Martin Rector Philipp Redl Peter Reichel Pia Reinacher Heimo Reinitzer Matthias Richter Ulfert Ricklefs Nicolai Riedel Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl Bernd Roeck Werner Röcke Caroline Roeder Erwin Rotermund Hannelore Rothenburg Franz Rottensteiner Gabriella Rovagnati Arnd Rühle Walter Ruprechter Stefan Christoph Saar Johannes Sachslehner Eda Sagarra Jutta Sandstede Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Gerhard Sauder Mario Scattola Richard Erich Schade Rolf Schäfer Walter E. Schäfer Uta Schäfer-Richter Matthias Schaffrick Michael Scheffel Heinz Scheible Irmgard Scheitler Jürgen Schiewe Jörg Schilling Michael Schilling Wolfgang Schimpf Monika Schlechte Christine Schmidjell Wolf Gerhard Schmidt Wilhelm Schmidt-Biggemann Gerhard Schmidt-Henkel Hanno Schmitt

Christoph Schmitt-Maaß Walter Schmitz Sabine Schmolinsky Thomas F. Schneider Elisabeth Schneider-Böklen Bernhard Schnell Rainer Schönhaar Christian-Erdmann Schott Hermann Schreiber Klaus Peter Schreiner Alexander Schüller Marco Schüller Sonja Schüller Gerhard Schulz Ursula Schulze Heinz Schumacher Thomas B. Schumann Gudrun Schury Eckard Schuster Hans-Rüdiger Schwab Susanne Schwabach-Albrecht Christian Schwarz Reimund B. Sdzuj Gottfried Seebaß Robert Seidel Rolf Selbmann Mark Siemons Franz Günter Sieveke Carrie Smith-Prei Heribert Smolinsky Johann Sonnleitner Günter Spendel Ingeborg Springer-Strand Inken Steen Johann Anselm Steiger Hartmut Steinecke Hajo Steinert Frank Steinmeyer Dick van Stekelenburg Gideon Stiening Eva Stollreiter Gerhard Stumpf Robert Stupperich Andreas Sturies Dieter Sudhoff Elke Suhr Ernst-Friedrich Suhr Anette Syndikus Joachim Telle Reinhard Tenberg Hellmut Thomke Eva Maria Thüne Michael Töteberg Dieter Trempenau

VIII

IX Egon Treppmann Peer Trilcke Bertram Turner Elke Ukena-Best Martin Unkel Reinhard Urbach Christa Veigl Hans Rudolf Velten Tilman Venzl Gabriel Viehhauser Rudolf Vierhaus Dominica Volkert Gisela Vollmann-Profe Herbert Vorgrimler E. Theodor Voss Elisabeth Wagner Bernhard Walcher Gabriela Walde Wolfgang Walliczek Johannes Wallmann Jürgen Wallmann Axel Walter Klaus-Peter Walter Ute Wardenga Ernst Weber Walter Weber Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Christiane Weller

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Markus Wennerhold Horst Wenzel Dirk Werle Walter D. Wetzels Joachim Whaley Heiner Widdig Stefan Wieczorek Hermann Wiegand Jan Wiele Marcus Willand Ulla Williams Werner Williams-Krapp Christoph Willmitzer Ruprecht Wimmer Heinz Wittenbrink Gerhard Wolf Jürgen Wolf Rainer Wolf Jean M. Woods Katrin S. Wozonig Stefan Bodo Würffel Elisabeth Wunderle Dieter Wuttke Christiane Wyrwa Mario Zanucchi Hellmut Zschoch Christoph Zürcher Thomas Zwenger Marek Zybura

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Osang, Alexander, * 30.4.1962 Berlin/ DDR. – Journalist, Romancier. Nach einer Berufsausbildung zum Instandhaltungsmechaniker sowie einem abgebrochenen Studium der Umwelttechnik studierte O. 1983 bis 1987 Journalistik in Leipzig; von 1987 bis 1999 war er in verschiedenen Ressorts der »Berliner Zeitung« tätig; 1999 bis 2006 arbeitete er als Korrespondent für den »Spiegel« in New York. Seitdem lebt u. arbeitet O. in Berlin. Für seine journalist. Arbeiten erhielt er 1993, 1999 u. 2001 den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1995 den TheodorWolff-Preis. O.s erzählerisches Werk umfasst den Erstlingsroman Die Nachrichten (Ffm. 2000, Fernsehverfilmung 2004 durch Matti Geschonneck), den Erzählband Lunkebergs Fest (Ffm. 2003) sowie die Romane Lennon ist tot (Ffm. 2007) u. Königstorkinder (Ffm. 2009). Seit 1992 (Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Bln.) erschienen Sammelbände mit Reportagen, Porträts u. Glossen, die O. zuerst für die »Berliner Zeitung«, den »Spiegel« sowie andere Zeitungen u. Zeitschriften verfasst hatte, beispielsweise die Miniaturensammlungen Schöne neue Welt u. Berlin – New York (Berlin 2001 u. 2004, zusammengefasst Ffm. 2006) sowie die Reportagen Neunundachtzig. Helden-Geschichten (Bln. 2002). Thematisch leitend ist für O.s journalistisches wie literar. Schreiben die aus ostdt. Perspektive reflektierte Erfahrung der »Wende« 1989 u. ihrer Auswirkungen im wiedervereinigten Deutschland. Später tritt eine anders geartete »interkulturelle« Thematik hinzu: die kulturellen Unterschiede u. wechselseitig stereotypen Beschreibungen deutscher u. USamerikan. Lebenswelten. Ein Charakteristikum von O.s Erzählen ist der kalkulierte Einsatz der wechselnd personalen Erzählperspektive. Die Nachrichten montiert häufig wechselnde Erzählperspektiven zu einem vielstimmigen Szenario; in dem Erzählband Lunkebergs Fest wechselt der Blickwinkel bisweilen innerhalb einer Erzählung, u. in der Coming of Age-Geschichte Lennon ist tot wird die Stimme des jugendl. Protagonisten u. IchErzählers gegen Ende überraschend durch die Erzählstimme seines Vaters ergänzt.

Osang

Ähnlich charakteristisch ist der bereits in den Reportagen u. Glossen auftauchende themat. Einbezug von Elementen der Populärkultur (Film- u. Musiktitel), der bisweilen die Narration strukturierende oder handlungsleitende Funktion erhält. Wie bei einem zwischen journalistischem u. literar. Schreiben pendelnden Autor nicht anders zu erwarten, tragen die Kolumnen u. Reportagen literarische, die Erzählungen u. Romane journalist. Züge. Die spärl. Forschungsliteratur hat O. bislang v. a. als »Experten« für die literar. Umsetzung ostdeutscher Befindlichkeiten in den Blick genommen; in den Feuilletons haben sich einige klischeehafte Vorstellungsmuster verfestigt: O. als nachdenklicher, selbstreflexiver Kommentator des Zeitgeschehens, der in der Lage sei, in klugen Momentaufnahmen mit präziser Beobachtungsgabe das Allgemeine im Besonderen sichtbar werden zu lassen. Dem Journalisten O. wurde bisweilen vorgeworfen, mit seiner entlarvenden Beschreibung eine »Berichterstattung der verbrannten Erde« (Saab) zu produzieren. Weitere Werke: Aufsteiger – Absteiger. Karrieren in Dtschld. Bln. 1992. – Die stumpfe Ecke. Alltag in Dtschld. 25 Porträts u. ein Interview. Bln. 1994. – Das Buch der Versuchungen. 20 Porträts u. eine Selbstbezichtigung. Bln. 1996. – Tamara Danz. Legenden. Bln. 1997. – Hannelore auf Kaffeefahrt. Reportagen u. Porträts. Ffm. 1998. – Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen u. Porträts. Bln. 1999. – Den Damen muß man Guten Tag sagen. Ffm. 2004. Literatur: Karim Saab: Sex in der FDJ-Bluse. Wen A. O. porträtiert, der fühlt sich getroffen. Doch Tamara Danz ist tot. Märk. Allg. Ztg., 19.4.1997. – Martin Schönemann: ›Wir haben einfach alle weitergemacht‹. A. O.s Roman ›Die Nachrichten‹. In: WB 48 (2002), S. 132–136. – Ingo Arend: Die losen Zähne der Utopie. A. O.s Ber.e aus der fernen, nahen Welt New York. In: Freitag, 25.1.2002. – Dominic Boyer: Ostalgie and the Politics of the Future in Eastern Germany. In: Public Culture 18 (2006), S. 361–381. – Konrad Heidkamp: Keiner entkommt den Gesch.n. Der Journalist als Zuhörer: A. O. schreibt einen der sympathischsten Romane der Saison. In: Die Zeit, 19.7.2007. Dirk Werle

Osiander

Osiander, Andreas, * 19.12.1496 (?) Gunzenhausen/Altmühltal, † 17.10.1552 Königsberg. – Theologe u. Reformator. O.s Vater, ein Schmied, brachte es wahrscheinlich zu einigem Ansehen u. Wohlstand, doch hat O., der sich am 15.7.1515 an der Ingolstädter Artistenfakultät immatrikulierte, wohl aus Geldmangel weder akadem. Grade erworben noch ein ordentl. Theologiestudium absolviert. Immerhin erwarb er von Zeitgenossen gerühmte Kenntnisse des Griechischen u. Hebräischen. 1520 wurde er Hebräischlehrer am Nürnberger Augustinereremitenkloster (im gleichen Jahr Priesterweihe). Spätestens hier lernte er die Theologie Luthers kennen. Literarisch trat er zunächst mit einer verbesserten lat. Bibel (Biblia sacra. Nürnb. 1522) hervor, bevor er sich an der reformatorischen Publizistik beteiligte (u. a. Eyn Sendbrieff an eyn Christlich Gemayn. Nürnb. 1523. Ain einfürung in den Passion. [Augsb.] 1524). In den folgenden Jahrzehnten wirkte O. als der politisch einflussreichste u. theologisch eigenständigste Vertreter der Reformation in der freien Reichsstadt. Seit 1522 Prediger an St. Lorenz, predigte er 1524 während des Nürnbergaufenthalts des päpstl. Legaten Kardinal Lorenzo Campeggio über den Papst als Antichristen; 1524 gewannen Predigten O.s den Hochmeister des Deutschen Ordens, Markgraf Albrecht von Brandenburg, für die Reformation. 1524 war er an den Beratungen über eine neue Gottesdienstordnung für die Nürnberger Pfarrkirchen beteiligt (dazu: Grundt unnd ursach. Nürnb. 1524), 1525 war er der führende evang. Vertreter bei dem für die Reformation Nürnbergs entscheidenden Religionsgespräch. Ab 1528 wirkte O. neben Johannes Brenz maßgeblich an der Kirchenordnung für Nürnberg u. Ansbach-Kulmbach mit, die der Nürnberger Rat 1533 einführte. Die mit ihr verbundenen Katechismuspredigten stammten aus seiner Feder. Freilich kam es aufgrund der theolog. Kompromisslosigkeit O.s, zu der wohl auch ein unduldsames Temperament beitrug, immer wieder zu Spannungen mit dem eher konservativen Rat wie mit den Wittenberger Reformatoren.

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Als der Nürnberger Rat 1548 durch Gottesdienständerungen dem kaiserl. Interim Folge leistete, verließ O. die Stadt u. ging als Prediger an der Altstädter Kirche u. erster Professor der theolog. Fakultät nach Königsberg. Seine letzten Jahre waren geprägt vom sog. »Osiandrischen Streit« um die Rechtfertigungslehre: Die Parallelisierung der altkirchl. Zweinaturenlehre Christi mit dem reformatorischen Gegensatz von Glaube u. Werken brachte in seine Christologie einen nestorianischen Zug, in die Rechtfertigungslehre einen naturhaften. Beides wurde von philippist. Theologen, aber auch von Gnesiolutheranern u. Reformierten bekämpft. Dem im Ruch der Häresie stehenden Theologen blieb, trotz einer umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit, literar. Nachwirkung weitgehend versagt. Lediglich seine anonym erschienenen Katechismuspredigten (Katechismus oder Kinder predig. Nürnb. 1533) wurden bis ins 19. Jh. immer wieder gedruckt u. schon früh auch in lateinischer, engl., holländ., poln. u. isländ. Sprache verbreitet. Bis zum Beginn der krit. Bibelforschung griff man auf O.s – in Wittenberg abgelehnte – Harmonia evangelica (Basel 1537) zurück, die, ausgehend von der Lehre, dass Gott ganz in sein Wort eingehe, die Aussagen der Evangelisten zu einer Einheit zusammenfügen will. Bekannt blieb auch O.s anonymes Vorwort zu Copernicus’ De revolutionibus, das das neue Weltbild zu einer aus mathemat. Gründen anzunehmenden Hypothese erklärt u. lange Kopernikus selbst zugeschrieben wurde. Ausgabe: A. O. Der Ältere. Gesamtausg. in 10 Bdn. Hg. Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß. Gütersloh 1975 ff. Literatur: Bibliografien: Gottfried Seebaß: Bibliographia Osiandrica. Den Haag 1971. – HansJoachim Köhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1, Bd. 3, Tüb. 1996, Nr. 3621–3645. – Weitere Titel: Wilhelm Möller: A. O. Elberfeld 1870. – Emanuel Hirsch: Die Theologie des A. O. u. ihre geschichtl. Voraussetzungen. Gött. 1919. – G. Seebaß: Das reformator. Werk des A. O. Nürnb. 1967. – Martin Stupperich: O. in Preußen. Bln./New York 1973. – Gerhard Müller: A. O. In: Gestalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Bd. 6, Stgt. u. a. 1981. 21994, S. 59–73. – Rainer Vinke: O. In: Contemporaries. – Claus Bachmann: Die Selbst-

3 herrlichkeit Gottes. Studien zur Theologie des Nürnberger Reformators A. O. Neukirchen-Vluyn 1996. – Gunter Zimmermann: Prediger der Freiheit. A. O. u. der Nürnberger Rat 1522–48. Mannh. 1999. – G. Seebaß: O. In: NDB. – Anna Briskina: Philipp Melanchthon u. A. O. im Ringen um die Rechtfertigungslehre. Ein reformator. Streit aus der ostkirchl. Perspektive. Ffm. 2006. Heinz Wittenbrink / Gottfried Seebaß †

Osius, Hieronymus, * um 1530 Schlotheim/Thüringen, † 1575 Graz (?). – Neulateinischer Dichter.

Osse tenb. 1554. – Carmen de natali Christi. Wittenb. 1557 u. ö. – Historia excidii Hierosolymorum. Wittenb. 1558. – Res gestae [...] Christiani III Regis Daniae. Wittenb. 1563. – Oratio continens enkomion poetices. Regensb. 1566. – Scriptum continens ceu oeconomiam quandam lectionum. Regensb. 1567. – Icones catecheseos Christianae. Wittenb. 1565. 1569. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Johannes Petrus Lotichius: Bibliothecae poeticae pars quarta. Ffm. 1626, S. 93–96. – Georg Waitz: Quellenslg. der Schleswig-Holstein. [...] Gesellsch. für vaterländ. Gesch. Bd. 2, Tl. 1, Kiel 1863, S. 156 ff. – Johann Loserth: Die protestant. Schulen der Steiermark im 16. Jh. Bln. 1916, S. 17–30 u. passim. – Ellinger 2. – Marianne Rozsondai: Über einen autographisch dedizierten O.-Bd. In: Gutenberg-Jb. (1978), S. 309–312. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984 (Register). – Raimund W. Sterl: Magister H. O. u. seine Schulordnung (1567). – Neues zur Schul- u. Musikgesch. Regensburgs im Reformationsjahrhundert. In: Verhandlungen des histor. Vereins für Oberpfalz u. Regensburg 124 (1984), S. 365–369. – Adalbert Elschenbroich: Die dt. u. lat. Fabel in der frühen Neuzeit. Bd. 1, Tüb. 1990, S. 278–281; Bd. 2, S. 269–271. – Fritz Felgentreu: H. O., Heinrich Rantzau u. der Streit nach der Fehde. In: Dithmarschen. Ztschr. für Landeskunde – Kultur – Natur 2 (2004), S.49–56. – Minna Skafte Jensen: Friendship and Poetry. Studies in Danish Neo-Latin Literature. Kopenhagen 2004 (Register). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1456–1460. Hermann Wiegand

1552 wurde O. Magister in Wittenberg, wo er anschließend unterrichtete. Am 2.5.1558 krönte ihn König Christian III. von Dänemark in Kopenhagen zum Poeta laureatus, seit 1560 unterrichtete er in Jena u. war 1565–1567 Rektor des Gymnasiums in Regensburg; anschließend lebte er wieder in Jena u. begleitete David Chytraeus 1573/74 in die Steiermark (dazu: Iter Stirium. In: Nikolaus Reusner: Hodoeporicorum [...] Libri VII. Basel 1580, S. 412 ff.). In Graz übernahm er das Rektorat der protestant. Landschaftsschule. Mit zahlreichen Gelegenheitsgedichten u. lat. Versifizierungen nahm O. an der poet. Produktion der Melanchthon-Schüler teil. Als Auftragsarbeiten Friedrichs II. von Dänemark u. als Dank für die Dichterkrönung entstanden mehrere Gedichte zum Lob Christians III. u. Friedrichs II. sowie O.’ Hauptwerk, eine epische Beschreibung des Osse, Melchior von, * 1506/07 Ossa bei Dithmarscher Kriegs von 1559, die in der Geithain/Sachsen, † 6.4.1557 Altenburg. Tradition der antiken Heldenepik gegen die – Jurist u. Staatsmann. freie Bauernrepublik Dithmarschen gerichtet ist (Historia belli Ditmarsici. Wittenb. 1560 O. stammte aus dem sächs. Dienstadel, imu. ö.). O. übertrug das Gedicht verkürzt ins matrikulierte sich 1518 in Leipzig u. erwarb Deutsche (Wittenb. 1560) – eine Seltenheit in dort 1534 den jurist. Doktortitel. Anschließend wurde er Professor des Codex u. trat in der nlat. Literatur. Beiträge zur neulateinischen Fabelliteratur den Dienst der sächsisch-albertin. Herzöge, u. eine lat. Übertragung des Pseudohomeri- 1542 wechselte er jedoch zu der ernestin. Lischen »Froschmäusekriegs« enthält der Band nie als Kanzler des Kurfürsten Johann FriedPhrygis Aesopi Fabulae carmine elegiaco [...] Item rich des Gutmutigen. 1547 ernannte ihn pugna ranarum et murium Homeri (Wittenb. Kurfürst Moritz zum Hofrichter. 1549 wurde 1564. Erw. Ausg. Ffm. 1574. Internet-Ed.: er Hofrichter des Grafen von Henneberg u. CAMENA). Die Fabeldichtung wird mit Ar- gleichzeitig sächs. Rat der albertin. Linie. 1553 verlor O. seine Stelle in Leipzig, u. 1554 gumenten Melanchthons gerechtfertigt. Weitere Werke: Epicedion de [...] ducis Saxo- entließ ihn auch der Graf von Henneberg. Veranlasst durch den Kurfürsten August niae Electoris Mauricii morte. Wittenb. 1553. – Epicedion scriptum [...] Dominae Sibyllae. Wit- von Sachsen, entwarf O. 1555 ein hand-

Ossenfelder

schriftl. Politisches Testament (Teildr. Ffm. 1606. Lpz. 1922), das er zu einer genauen Beschreibung der Verwaltung eines Territorialstaates ausbaute. Im ersten Teil dieser Schrift werden die Eigenschaften einer guten Regierung dargestellt, die auf die vier Arten der Klugheit oder auf die vier Hauptbereiche fürstlichen Wirkens zurückgehen: Kriegswesen, Ethik, Kameralistik u. Regierung. Im zweiten Teil wird die gesamte Verwaltung eines Gemeinwesens am Beispiel von Kursachsen geschildert. Wegen seines Inhalts gilt die Schrift als eine der ersten Quellen der Politik in dt. Sprache u. als das erste Dokument der kameralist. Literatur. Sie wurde erst 1717 von Christian Thomasius vollständig veröffentlicht, kursierte aber schon im 16. Jh. in vielen Handschriften. Weiteres Werk: Handelbuch. In: Schr.en. Hg. Oswald Artur Hecker. Lpz. 1922, S. 1–267. Literatur: Theodor Distel: O. In: ADB. – Hans Maier: Die ältere dt. Staats- u. Verwaltungslehre. Mchn. 21980, S. 113–119. – Klaus Luig: O. In: HRG Bd. 3, Sp. 1329–1333. – Peter Nitschke: Staatsräson kontra Utopie? Stgt. 1995, S. 139–152. – K. Luig: O. In: NDB. Merio Scattola

Ossenfelder, Heinrich August, * 28.8. 1725 Dresden, † 6.5.1801 Frankfurt/M. – Verfasser von Gelegenheitspoesie; Lustspielautor. Nach seiner Schulzeit auf dem Gymnasium in Bautzen besuchte O. 1741–1746 die Fürstenschule zu Meißen, wo er Lessing kennenlernte, mit dem ihn v. a. die Neigung zum Theater verband. Während des Jurastudiums in Leipzig unternahm er unter dem Einfluss des Gottsched-Kreises erste poetische Versuche u. zeigte durch seine Mitarbeit an mehreren Zeitschriften (»Physikalische Wochenschrift«, »Der Naturforscher«, »Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths«) auch Befähigung zum Kritiker. O. wurde Mitgl. der Jenaischen, dann der Göttinger Deutschen Gesellschaft. Seit 1757 war er Hof- u. Justizkanzleisekretär in Dresden, später ging er über Göttingen, Marburg u. Mainz nach Frankfurt, wo er bis zu seinem Tod privatisierte.

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O.s Hauptwerk, eine Sammlung der poet. Versuche seiner Leipziger Zeit (Oden und Lieder. Dresden/Lpz. 1753), zeigt ihn als akkuraten Gelegenheitsdichter (An Pisendel) u. ambitionierten Nachahmer frz. u. lat. Muster. Am überzeugendsten noch wirkt seine anakreont. Lyrik, die durch alle sprachl. Stilisierung hindurch Kennerschaft verrät. Vor allem ist O. heute dafür bekannt, dass er mit seinem anakreont. Gedicht Der Vampir (1748) die Vampirfigur u. dazugehörende erot. Motive in die europ. Literatur eingeführt hat. Sein Freund Christlob Mylius, der Herausgeber der Zeitschrift »Der Naturforscher«, hatte O. gebeten, ein Gedicht mit einem Vampirthema zu schreiben, das, dem Stil seiner Zeitschrift entsprechend, einem Artikel über den Vampiraberglauben in Mitteleuropa folgen sollte. Während Lessing O.s Werk in der »Berlinischen privilegierten Zeitung« zumindest wohlwollend beurteilte, hatte er für dessen Lustspiele (z.B. Die Weiberstipendien, oder die wohlfeile Miethe der Studenten. Ffm./Lpz. 1751) nicht einmal Spott übrig. Etwas besser gelangen O. satir. Versuche im Stil des Cervantes (Die Geschichte des Frauenzimmer Pantoffels und die Geschichte des Frauenzimmer Schuhes. Dresden 1753). Nach 1757 veröffentlichte er keine weiteren literar. Texte u. trat lediglich als Herausgeber einer Sammlung von Gelegenheitsgedichten des seinerzeit von Gottsched protegierten Gottlieb Fuchs (Gedichte eines ehmahls in Leipzig studirenden Bauers-Sohnes. Dresden/Lpz. 1771) u. als Autor eines Buchs über den Weinbau (Vom Weinbaue in den Chursächsischen Landen. Dresden 1771) hervor. Der Buchladen, ein Lustspiel in fünf Aufzügen (Ffm./Lpz. 1762) wird zwar O. zugeschrieben, seine Autorschaft wird jedoch bezweifelt. Weitere Werke: Die falsche Bediente oder der bestrafte Betrüger, ein Lustsp. des Herrn v. Marivaux. In: Die dt. Schaubühne zu Wien. Bd. 1, Nr. 4, Wien 1749 (Übers.). – Der Faule u. die Vormünder. Ffm./Lpz. 1751 (Lustsp.). – Doris, oder die zärtl. Schäferinn: ein Schäferspiel. Dresden 1752. – Lieder vor eines Freundes Hochzeitsgäste. Dresden 1752. – Die Gesch. des Mann-Stiefets. Dresden 1755. Literatur: Dieter Sturm u. Klaus Völker (Hg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern:

Ossietzky

5 Dichtungen u. Dokumente. Mchn. 1968. – Heide Crawford: The Cultural-Historical Origins of the Literary Vampire in Germany. In: Journal of Dracula Studies 7 (2005), S. 1–7. Wolfgang Schimpf / Heide Crawford

Ossietzky, Carl von, * 3.10.1889 Hamburg, † 4.5.1938 Berlin; Grabstätte: Berlin-Niederschönhausen, Friedhof Buchholzerstraße. – Publizist. Im Schatten der Michaeliskirche, in der Hamburger Neustadt nahe am Hafen wuchs O. auf; er erlebte dort soziales Elend, aber auch Wahlrechtskämpfe u. Streiks der Arbeiterbewegung, die für ihn – bei aller Kritik an ihren Organisationen – zeitlebens der eigentl. Hoffnungsträger für gesellschaftl. Fortschritt bleiben sollte. O. entstammte eher kleinbürgerl. Verhältnissen. Sein Vater, ein ehemaliger preuß. Berufssoldat, war im späten 19. Jh. aus dem kath. Oberschlesien in das protestant. Hamburg gezogen u. arbeitete dort als Büroangestellter. Nebenbei betrieb er eine Speisewirtschaft, die seine Frau weiterführte, als er zwei Jahre nach der Geburt seines einzigen Sohnes starb. 1904 verließ O. ohne Abschluss die Oberrealschule, u. nach zwei vergebl. Anläufen, das Einjährige nachzuholen, wurde er Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Wie viele seiner Altersgenossen, die einen Fluchtweg aus der bedrückenden Enge des wilhelminisch-bürgerl. Lebens suchten, träumte er davon, Dichter zu werden. Unveröffentlichte frühe Gedichte aus dem Nachlass (Ossietzky-Archiv, Universität Oldenburg) zeugen von Überdruss an einem tristen Alltag. Es waren keine literarischen, sondern polit. Beiträge, die er seit 1912 regelmäßig in dem Wochenblatt »Das freie Volk« veröffentlichen konnte, dem Organ der linksbürgerl. »Demokratischen Vereinigung« Theodor Barths. Einer seiner ersten Artikel (Das Erfurter Urteil, 5.7.1913) wandte sich gegen eine überharte Entscheidung der dt. Militärgerichtsbarkeit u. brachte ihm eine Geldstrafe ein, die allerdings später aufgehoben wurde. Bis Aug. 1914 warnte O. in Artikeln vor dem kriegs-

lüsternen Zeitgeist des spätwilhelmin. Deutschland; als sich indessen die Demokratische Vereinigung nach Kriegsausbruch auflöste u. selbst pazifistisch Gesinnte in den vaterländ. Chor einstimmten, konnte sich O. dem allg. Sog nicht ganz entziehen: Er forderte die dt. Theater auf, in ihrer Programmgestaltung mehr Patriotismus zu zeigen. Bei dieser einmaligen nationalist. Anpassung blieb es freilich; bereits 1917 begann er von der Front aus Artikel gegen die Fortsetzung des Kriegs u. gegen die militarist. Monarchie zu schreiben, die in den Organen des Deutschen Monistenbundes erschienen. Eine Republik, in der Militär u. Staatsbürokratie demokratisch kontrolliert u. die Wirtschaft an die Interessen des Gemeinwohls gebunden sind, war für ihn di e gesellschaftlich-staatl. Form, die den Frieden sichern konnte. Die Kämpfe um eine sozialist. Räterepublik betrachtete er aus krit. Distanz; für ihn war der richtige Weg der einer Reformation des Geistes, der sittl. Erneuerung in Verbindung mit der demokrat. Neuordnung der Verhältnisse. Als Lektor des monist. Pfadweiser Verlags in Hamburg veröffentlichte er seine einzige selbständige Publikation: Der Anmarsch der neuen Reformation (Hbg. 1919) – sein Entwurf für die Verwirklichung der jungen Demokratie. Im Sommer 1919 zog O. als Sekretär der »Deutschen Friedensgesellschaft« nach Berlin. Doch bald schon trennte er sich von den organisierten Pazifisten, denen er akadem. Weltfremdheit u. Richtungsstreitigkeiten vorwarf. 1920 wurde O. Redakteur der radikaldemokrat. »Berliner Volks-Zeitung« des Mosse Verlags u. gehörte, wie Kurt Tucholsky u. Albert Einstein, der Nie-wieder-Krieg-Bewegung an. Bis 1926 arbeitete er als Redakteur für Leopold Schwarzschilds u. Stefan Großmanns linksdemokrat. Wochenzeitschrift »Tage-Buch« sowie für den »Montag Morgen«. 1926 wurde er auf Empfehlung Tucholskys Redakteur der »Weltbühne«, deren Leitung er 1927 – bald nach dem Tod ihres Herausgebers Siegfried Jacobsohn – übernahm. Sein Leitartikel Lob der Außenseiter (4.1.1927) umreißt sein polit. Programm dieser Zeit: die großen Parteien aus der

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Fensternische der polit. Unabhängigen her- Moor-Konzentrationslager Esterwegen, wo er auszufordern, »anzupeitschen« im Geiste der unheilbar an Lungentuberkulose erkrankte. Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit Revolution von 1918/19 u. der ersten demoließ ihn das NS-Regime im Mai 1936 in ein krat. Verfassung in Deutschland. Ende der 1920er Jahre trat mehr u. mehr Berliner Krankenhaus überführen u. konnte der Kampf gegen die Zerstörung der Repu- auch nicht verhindern, dass er im selben Jahr blik in den Vordergrund: den radikalen u. den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 erden reformerischen Flügel der Arbeiterbe- hielt. O. starb zwei Jahre später in einem wegung, aber auch die verfemten sozialist. u. kleinen Zimmer des Berliner Krankenhauses demokrat. Splittergruppen zusammenzu- Nordend, das er selbst einen »Zauberberg der bringen an einen »runden Tisch«, zu einem Armen« nannte. Weitere Werke: Rechenschaft. Publizistik [...]. operativen Bündnis gegen den Nationalismus (Ein runder Tisch wartet, 3.5.1932). Zeitweise Hg. Bruno Frei. Bln./Weimar 1970. – Dietger Pforte Sympathie für die junge Sowjetunion brach (Hg.): ›Farbige, weithin leuchtende Signalzeichen‹. Der Briefw. zwischen C. v. O. u. Kurt Tucholsky aus sich immer wieder an den Menschenrechtsdem Jahr 1932. Bln. 1985. – Stefan Berkholz (Hg.): verletzungen dort, u. der dt. Kommunisti- C. v. O. 227 Tage im Gefängnis. Briefe, Texte, Doschen Partei warf er wirklichkeitsfremden kumente. Darmst. 1988. Radikalismus u. geistige Abhängigkeit von Ausgaben: Schr.en I u. II. Hg. Bruno Frei u. Moskau vor. Hans Leonard. Bln./Weimar 1966. – C. v. O. LeseDer berühmte »Weltbühnenprozeß« vor buch. Hg. C.-v.-O.-Forschungsstelle Oldenburg. dem Reichsgericht in Leipzig im Nov. 1931 Hbg. 1989. – Sämtl. Schr.en. Hg. Werner Boldt, war der Höhepunkt einer ganzen Serie von Dirk Grathoff, Gerhard Kraiker, Elke Suhr. 7 Bde. Gerichtsverfahren gegen O. in der Zeit der u. Registerbd., Reinb. 1994 (Oldenburger Ausg.). Literatur: Raimund Koplin: C. v. O. als polit. Weimarer Republik. Anlass war ein Artikel Publizist. Bln./Ffm. 1964. – Kurt G. Grossmann: O. aus dem Jahr 1929, der die heiml. Aufrüstung der dt. Luftfahrt anklagte, die laut Versailler Ein dt. Patriot. Ffm. 1973. – Bruno Frei: C. v. O. Eine polit. Biogr. 2., veränderte u. erw. Aufl. Bln. Vertrag verboten war u. für die zivile Gelder 1978. – Hermann Vinke: C. v. O. Hbg. 1978. – Rizweckentfremdet wurden. O. u. der Autor chard v. Soldenhoff (Hg.): C. v. O. Ein Lebensbild. Walter Kreiser wurden wegen Landesverrats Weinheim/Bln. 1980. – Elke Suhr: C. v. O. Eine u. Verrats militär. Geheimnisse zu je 18 Mo- Biogr. Köln 1988. – Frithjof Trapp, Knut Bergmann naten Gefängnis verurteilt. O. trat am u. Bettina Herre: C. v. O. u. das polit. Exil. Die 10.5.1932 seine Haftstrafe an. Am selben Tag Arbeit des ›Freundeskreises C. v. O.‹ in den Jahren erschien in der »Weltbühne« sein Artikel Re- 1933–36. Hbg. 1988. – Helmut Reinhardt (Hg.): chenschaft, in dem er erklärte, nicht durch Nachdenken über O. Bln./DDR 1989. – Dirk Grathoff u. Gerhard Kraiker (Hg.): C. v. O. u. die Kultur Flucht ins Ausland seine Glaubwürdigkeit der Weimarer Republik. Oldenb. 1990. – E. Suhr: aufs Spiel setzen u. so lange wie möglich ge- C. v. O. Reinb. 1994. – Wilhelm Sternburg: C. v. O. gen den drohenden Nationalsozialismus an- Es ist eine unheiml. Stimmung in Dtschld. Ein treten zu wollen. Seine Beurteilung der na- biogr. Ber. Bln. 2000. Elke Suhr / Gerhard Kraiker tionalsozialist. Bedrohung war widersprüchlich: Einerseits betrachtete er mit Entsetzen den steten Verfall der polit. Kultur in Ossowski, Leonie, eigentl.: Jolanthe Deutschland, andererseits hoffte er, dass die Kurtz-Solowjew, geb. von Brandenstein, NSDAP an der Macht bald abwirtschaften auch: Jo von Tiedemann, * 15.8.1925 ´ würde. Diese Hoffnung war es wohl auch, die Ober-Röhrsdorf (heute: Osowa Sien/Polen). – Autorin von Romanen, DrehbüO. nach seiner Amnestierung Weihnachten chern u. Dokumentationen für Film u. 1932 u. noch nach dem 30.1.1933 in Fernsehen. Deutschland ausharren ließ. In der Nacht des Reichstagsbrands wurde er verhaftet, seine Die Tochter eines Landwirts u. Gutsbesitzers Odyssee durch nationalsozialist. »Schutz- besuchte das Internat Salem am Bodensee u. haftanstalten« endete in dem berüchtigten absolvierte anschließend eine landwirt-

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schaftl. Lehre auf dem elterl. Gutshof. 1945 floh die Familie zuerst nach Thüringen, dann nach Oberschwaben. Neben Gelegenheitsarbeiten als Fabrikarbeiterin, Verkäuferin u. Fotolaborantin schrieb sie Kurzgeschichten, die über eine Agentur an Kundenzeitschriften vertrieben wurden. Anfang der 1950er Jahre erhielt O. von der DDR-Filmgesellschaft DEFA zwei Aufträge für Filmdrehbücher. Zwei Mütter wurde 1957 realisiert, Stern ohne Himmel erschien 1958 (Bln./DDR) u. wurde 1961 in Greifswald als Theaterstück uraufgeführt. 1978 kürzte u. überarbeitete sie ihren Roman Stern ohne Himmel (Weinheim), der die Geschichte von fünf Jugendlichen in den letzten Jahren der NS-Herrschaft erzählt, u. verfasste auch das Drehbuch zur Verfilmung dieses Buches (1981), um eine versöhnl. Diskussionsbasis zwischen Jugendlichen u. Eltern über die NS-Zeit anzubieten. 1958 zog sie nach Mannheim, u. erst nach langer Schreibpause entstanden Ende der 1960er Jahre das Drehbuch zum Tatort-Krimi Auf offener Straße (ARD 1971), das Hörspiel Autoknacker u. der Roman Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (Mchn. 1967). Dieses zunächst wenig erfolgreiche Buch handelt von einem jungen Mädchen, das versucht, dem Leben in einem Heim zu entfliehen. Das Drehbuch zu diesem Stoff fand zwar keinen Produzenten, brachte ihr jedoch eine Drehbuchprämie des dt. Innenministeriums ein. Über ihre Tätigkeit am Mannheimer Jugendgefängnis als ehrenamtl. Bewährungshelferin, als aktives Mitgl. des Gefängnisbeirats u. über die Gründung eines Wohnkollektivs für strafentlassene Jugendliche verfasste O. engagierte Berichte. Die 1972 entstandene Dokumentation Zur Bewährung ausgesetzt (Mchn.) fand sowohl als Dokumentarfilm (1973) als auch als Theaterstück (u. d. T. Mitschuldig. Urauff. Mannh. 1973) Beachtung. In elf kurzen Geschichten stellt sie in den Mannheimer Erzählungen (Mchn. 1974) Schlüsselepisoden im Leben jugendl. Außenseiter dar. Mit dem Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg wurde der Bestseller Die große Flatter (Weinheim 1977. Fernsehfilm, ARD 1979) ausgezeichnet, ein Bericht über zwei Jugendliche, die in einer Westberliner Obdachlosensiedlung leben u. kriminell

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werden. Die in der Sozialarbeit gewonnenen Erfahrungen werden hier detailgetreu u. überzeugend in spannende Jugendliteratur umgesetzt. 1974 besuchte O. erstmals wieder das elterl. Gut in Niederschlesien. Der dreimonatige Aufenthalt schlägt sich in dem Roman Weichselkirschen (Mchn. 1976. Fernsehfilm, ZDF 1979) nieder, der am Beispiel des Dorfes u. des Schicksals seiner ehemaligen u. jetzigen Bewohner das dt.-poln. Verhältnis darstellt. Der als autobiografisch betrachtete Roman macht den Leser durch die Ängste u. Erinnerungen der Hauptfigur, einer Journalistin, nicht nur mit den alltägl. Problemen in Polen vertraut. Die Reise nach Polen ist vielmehr eine Reise in die Heimat. O. macht jedoch deutlich, dass Heimat nicht mit dem Besitz von Land u. Gut zu verwechseln ist. Heimat ist Teil ihrer Kindheit u. Jugend, den ihr niemand wegnehmen kann. Anna, die Hauptfigur des Romans, beschäftigt sich mit der Gegenwart ihrer Heimat, dennoch kommen ihr »Erinnerungen, die sich in ihrem Hirn fortsetzen und die Gegenwart schwermachen«. Es folgten Wolfsbeeren (Hbg. 1987) u. Holunderzeit (Hbg. 1991). O. hatte keine Fortsetzung zu Weichselkirschen geplant u. gedacht, sie habe mit Schlesien abgeschlossen. Durch die Reaktion der Vertriebenenverbände auf ihren Roman u. auf ihr Heimatverständnis fühlte sie sich gezwungen, die Geschichte als ausgleichende Gerechtigkeit darzustellen. In Wolfsbeeren (der Roman ist als erster Teil der »Schlesier-Trilogie« anzusehen) thematisiert O. die Verantwortung der schles. Großgrundbesitzer, die, wie sie in einem Interview sagt, zwar gegen Hitler gewesen, aber von Hitler still gekauft worden seien. Somit tritt die Frage der Schuld in den Vordergrund. Auch 40 Jahre nach dem Besuch in der Heimat wird Anna von der Geschichte eingeholt (Holunderzeit). Annas Tochter erfährt, dass sie die Tochter des poln. Zwangsarbeiters Ludwik ist. Der als vierter Teil des schles. Romanzyklus angesehene Roman Dienerzimmer (Hbg. 1999) geht der Frage der persönl. Verantwortung nach. Zwei Zwangsarbeiterinnen u. Schwestern finden Schutz auf dem Gut in Rohrdorf. Teresa u. Halina, die denselben Mann lieben, wohnen

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O.s Werk wurde u. a. mit dem Adolfin dem Dienerzimmer des Herrenhauses. Während Halina fleißig für die Herrschaften Grimme-Preis 1980, dem Schiller-Preis der arbeitet, gibt sich Teresa ihren Träumen von Stadt Mannheim 1983, dem Brüder-Grimmdem Geliebten hin. Auch wenn die Liebesge- Preis des Landes Berlin 1985 u. der Hermannschichte vordergründig erscheint, ist für O. Kesten-Medaille 2006 ausgezeichnet. Für ihre die Frage genauso wichtig, warum sie u. ihre Verdienste für die dt.-poln. Verständigung u. Eltern damals nie nach dem Leben der beiden Versöhnung erhielt O. die Medaille »Verdient um die polnische Kultur« 2007. Schwestern gefragt haben. Krieg, Vertreibung u. v.a. die Frage, welche Weitere Werke: Blumen für Magritte. Mchn. Spuren sie in der menschl. Seele hinterlassen, 1978 (E.en). – Liebe ist kein Argument. Mchn. 1981 versucht O. in den Romanen Die Maklerin (R.). – Wilhelm Meisters Abschied. Weinheim 1982 (Hbg. 1994) u. Herrn Rudolfs Vermächtnis (Hbg. (R.). – Littel fasst einen Entschluss u. a. E.en. 1997) dem Leser näher zu bringen. Dora Bo- Weinheim 1983. – Neben der Zärtlichkeit. Hbg. tag, erfolgreiche Immobilienmaklerin, wird 1984 (R.). – Voll auf der Rolle. Ein Theaterstück des GRIPS-Theaters zur Ausländerfeindlichkeit. von ihrer Vergangenheit eingeholt u. flieht in Mchn./Bln. 1984. Verfilmt 1987. – Mein Lesebuch. die Anonymität, die sie in der Obdachlosig- Ffm. 1986. – Das Zinnparadies. Stgt. 1988 (E.). – keit findet. Ein Erbe (Herrn Rudolfs Vermächt- Von Gewalt keine Rede: Zwei E.en. Mchn. 1992. – nis) weckt Hass, Schmerz u. Erinnerungen Der Löwe im Zinnparadies: Eine Wiederbegegaufs Neue. Die Flucht, der Hunger u. der Tod, nung. Mchn. 2003. – Espenlaub. Mchn. 2003 (R.). die gemeinsamen Erfahrungen der WaisenLiteratur: Brigitte Weyhmann: ›Neben der kinder, gehen in das Schweigen u. die Ab- Zärtlichkeit‹. In: NDH, H. 4 (1985), S. 831–833. – schottung über. Jetzt soll ein Erbe Versöh- U. Strauch: Ein Jugendbuch als Lese- u. Unterrichtserlebnis. Zu ›Die große Flatter‹. In: DD 15 nung stiften. O. wählt keine einfachen Themen für ihre (1984). – Herbert Glossner: O. In: KLG. – Vera RoRomane, sie will ihrer polit. u. gesellschaftl. sigkeit u. Stefan Schneider: Null Hoffnung. GeVerantwortung gerecht werden, weil sie ihre spräch mit L. O. Bln. 1994. – L. O. im Gespräch mit Marta Kijowska. ZDF 2000 (Video). – Elwira PaLeser bewegen u. Fragen stellen möchte. In chura: Polen – die verlorene Heimat. Zur Heimatihren Unterhaltungsromanen ist immer eine problematik bei Horst Bienek, L. O., Christa Wolf, Botschaft zu finden, die gesellschaftlich u. Christine Brückner. Stgt. 2002. – Jutta Ressel: L. O. politisch relevant ist. Sie selbst hat, wie sie In: LGL. Regina Dyck / Elwira Bauer sagt, die Flucht zu einem polit. Menschen gemacht, u. sie möchte diese schmerzl. Erfahrung nicht missen. O.s Romane haben Osten, Hedwig von der, verh. Burgsdorff, immer auch eine pädagog. Absicht, so z.B. Die * 21.3.1613 Woldenburg, † 1676 Küstrin. schöne Gegenwart (Mchn. 2001). Die 69-jährige – Verfasserin geistlicher Lieder u. einer Nele Ungureit, von ihrem Mann verlassen, Autobiografie. erbt eine Stadtvilla, in der sie nach einigen Auseinandersetzungen eine Wohngemein- »Ich bin vor Leid verdorret fast / und steck in schaft für Senioren gründet. Das Älterwerden vielen Plagen« – die abschließenden Verse bedeutet keine passive Lebensphase, in der von O.s Autobiografie sind Bilanz ihres auch man sich nur dem Willen der eigenen Kinder infolge des Dreißigjährigen Krieges durch zu beugen hat. Zum 15. Jahrestag des Mau- persönl. Verluste geprägten Lebens. Nach erfalls erschien der Roman Der einarmige Engel dem Tod von Bruder u. Vater vermählte sich (Mchn. 2004), der sich mit der dt.-dt. Ge- O. 1633 in Stettin mit dem brandenburgischichte auseinandersetzt. Die Wiederverei- schen Oberstleutnant, später Komtur von nigung wird aus der Sicht der Zwillingsbrü- Schivelbein u. Gouverneur von Küstrin, Geder Ludwig u. Conrad von Scherkow be- org Ehrenreich von Burgsdorff. Früh verwittrachtet. Die Tatsache, dass es keine Grenze wet, erlebte sie den Tod von neun ihrer zehn mehr zwischen den beiden dt. Staaten gibt, Kinder. Trost fand sie im Schreiben geistliweckt in den Brüdern die Hoffnung, ihre cher Lieder u. Betrachtungen. Ihre wohl in Brandenburger Schlösser wiederzugewinnen. den letzten Lebensjahren entstandene Auto-

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biografie, die durch Bibelzitate u. Reflexion des eigenen Erlebens auf die Geschichte Hiobs teilweise Predigtcharakter trägt, ist Ausdruck unbedingten Gottvertrauens. Der ihr von der älteren Literatur zugeschriebene Tractat von unserem Erlöser Jesu Christo ist nicht überliefert, zudem ist die Zuschreibung unsicher. Ausgaben: Geistl. Trost-brun, in drey u. dreissig liebl. Trost-Quellen u. siebenzehen andächtigen Betrachtungen bestehend [...]. Alten Stettin 1667. – Geisterquickende Trost-Quelle [...]. Nebst einem Vorber. Lpz. 1754 (enthält Abschnitte des Lebenslaufs). – Lebenslauf der Frau H. v. Burgsdorff geb. v. d. O., geb. 1613, gest. 1676, v. ihr selbst aufgesetzt. Bln. 1873. Literatur: Zedler, Bd. 25, Sp. 2248–2249. – Johann Carl Conrad Oelrichs: Histor. Nachrichten v. Pommerschen gelehrten Frauenzimmern. In: Ders.: Histor.-Diplomat. Beyträge zur Gesch. der Gelahrtheit, bes. im Herzogtum Pommern. Bln. 1767, S. 14–19. – v. Bülow: H. v. d. O. In: ADB. – Pataky, Bd. 1, S. 117. – Jean Woods u. Maria Fürstenwald: H. v. Borchstorff. In: Dies.: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 7 f. – Monika Schneikart: Frauen u. Lit. in der Region Pommern. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur in Stadt u. Region. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 601–620. Dörthe Buchhester

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bezeichneten jungen Adligen. Ob O. darüber hinaus historiografisch tätig wurde, ist nicht nachweisbar. Nach dem Studium in Greifswald (immatrikuliert am 2.5.1504) u. Frankfurt/O. wurde J. als »canonicus caminensis« u. Begleiter des pommerschen Herzogssohns Barnim IX. 1518 in der Matrikel der Universität Wittenberg verzeichnet. Sein Bruder Alexander widmete ihm eine Grabschrift. Ausgaben: Epitaph auf Barnim III. In: Johannes Bugenhagens Pomerania. Faks.-Druck u. Übers. der Hs. v. 1517/18. Hg. Norbert Buske. Schwerin 2008, S. 240. – Joannes de Os, Pomeranus, eques, juventuti Saxoniae. In: Ulrich Huttens Klagen gegen Wedeg Loetz u. dessen Sohn Henning, zwei Bücher aus einer höchst seltenen Druckschr. des sechszehnten Jh. Hg. Gottlieb Christian Friedrich Mohnike. Greifsw. 1816, S. 410 f. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Zedler, Bd. 25, Sp. 2222. – Hans Ebel: Pommersche Dichtung v. ihren Anfängen bis zum Beginn des 18. Jh. In: Monatsblätter der Gesellsch. für Pommersche Geschichte u. Altertumskunde 42 (1928), S. 189–194. – Hans Wätjen: Von der Osten. Ein pommersches Geschlecht im Wandel der Jh. Eine geschichtl. Darstellung bis zur Gegenwart mit 56 Stammtafeln u. 75 Abb. Braunschw. 1960, S. 92 f., 98. Dörthe Buchhester

Osterfrank, Ostrofrancus, eigentl.: Lorenz Albrecht, auch: Laurentius Albertus (so in der neueren Literatur), * um 1540 NeuOsten, Johann von der, † 12.1.1519 Witstadt an der fränkischen Saale, † nach tenberg. – Humanistischer Dichter. 1589 Wien (?). – Grammatiker. »Si fata te non invida provehent in longa vitae tempora« – diese Hoffnung von Eoban Hessus erfüllte sich nicht. 1519 in Wittenberg jung verstorben, wurde O. bereits von Zeitgenossen aufgrund seiner Schriften gerühmt. Ulrich von Hutten erwähnte ihn in seiner Elegie Ad Poetas Germanos u. widmete ihm u. seinem Bruder Alexander seine Ars versificandi. Eoban Hessus richtete zwei Gedichte an »Jo. Osthenio Suo«. Von O. selbst sind nur zwei Texte erhalten: Philipp Melanchthon druckte sein Gedicht an die Juventuti Saxoniae als Beigabe zu seiner 1518 veröffentlichten Rede De corrigendis adolescentiae studiis (Basel). Ein in der Pomerania von Johannes Bugenhagen enthaltenes Epitaph auf Herzog Barnim III. von Pommern stammt wohl ebenfalls aus der Feder des von Bugenhagen als Freund

Am 22.6.1557 immatrikulierte sich O. an der Wittenberger Universität. 1564–1573 war er u. a. als Leiter der Bibliothek des Domherrn Johann Egolf von Knöringen in Würzburg tätig. Fürstbischof Friedrich von Wirsberg nahm O., der noch 1563 in einer Streitschrift Luther gegen Zwinglianer u. Calvinisten verteidigt hatte, 1568 in die kath. Kirche auf u. berief ihn an sein Pädagogium. Im Juni 1573 zum lateranischen Pfalzgrafen ernannt, erwarb O. im August in Siena die Doktorwürde. Nach dem Tod Bischof Friedrichs u. der Wahl Knöringens zum Bischof von Augsburg folgte er diesem dorthin, ging nach Knöringens Tod 1575 zu Herzog Albrecht nach Bayern u., als dieser 1579 starb, nach

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Literatur: Bibliografien: Klaiber, Nr. 57–65. – Wien, wo er sich zunächst als Advokat nieVD 16. – Weitere Titel: Alexander Reifferscheid: O. derließ. 1583 erhielt er die geistl. Weihen. O.s ihrem Anreger Knöringen gewidmete In: ADB. – N. Paulus: Laurentius Albertus. In: Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst (Augsb. Histor.-polit. Blätter für das kath. Dtschld. 119 (1897), S. 549–560, 625–637 (mit Werkverz.). – Karl 1573) wird heute allg. als erste Grammatik Schellhaas: Zur Lebensgesch. des Laurentius Alder dt. Sprache anerkannt. O.s normative bertus. In: Quellen u. Forsch.en aus ital. Archiven Grammatik will der Instabilität der frühnhd. u. Bibl.en 8 (1905), S. 174–195. – Max Hermann Sprachform u. ihrer dialektalen Zerrissenheit Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik. Halbbd. 1, entgegenwirken sowie eine Lernhilfe für die Heidelb. 1913, S. 62 ff. – Otto Basler: L. Albertus. Schuljugend bieten, der die Kenntnis der In: NDB. – DDL. – Nicola McLelland: Albertus muttersprachl. Grammatik den Zugang zu (1573) and Ölinger (1574) Creating the First Grammars of German. In: Historiographia Linden klass. Sprachen erleichtern soll. O. erfasst den Sprachbestand mit den da- guistica 28 (2001), S. 7–38. – Miriam Ravetto: Le transformazioni sintattiche del ›Frühneuhochmals allein verbindl. Kategorien der antiken deutsch‹ valutate da tre grammatici del tempo. In: u. vor allem durch Melanchthon vermittelten Linguistica e filologia 21 (2005), S. 85–111. Grammatik. Sein Werk enthält die traditioIngeborg Dorchenas / Red. nellen vier Teile Orthografie, Etymologie, Syntax u. Prosodie, wobei die Etymologie die Specifica der Wortarten, die Syntax deren Ostermaier, Albert, * 30.11.1967 MünKonstruktion behandelt. O. bezieht Fragen chen. – Dramatiker, Lyriker u. Prosa-Auder Wortbildung u. älterer Sprachformen so- tor. wie mundartl. Besonderheiten ein. O.s Grammatik erschien nachweislich vor Albert O. wuchs in München auf, schrieb sich dort Ölingers Underricht der hoch teuchtschen Spraach nacheinander für verschiedene Studiengänge (Straßb. 1573). Mehr als der eher praktisch ein u. brach schließlich sein Studium zuorientierte Ölinger ist O. an grammatischen gunsten einer Schriftstellerkarriere ab, die u. log. Begriffen orientiert. Das Verdienst von seit 1990 durch verschiedene Stipendien geÖlingers, nur in Einzelheiten von O. abhän- fördert wurde. Voraussetzung dafür waren gigem Werk ist v. a. die lange unübertroffene erste, seit 1988 erschienene, aber wenig beDarstellung von Verbkonjugation, Adjektiv- achtete lyr. Arbeiten. Breite Aufmerksamkeit erfuhr O. erst nach dem Wechsel zum Suhrdeklination u. Zahlwörtern. kamp-Verlag mit Herz Vers Sagen (Ffm. 1995). Weitere Werke: Christl. trewe Warnunge, an die Stedte Wormbs, Speier, Landaw u. andere In den folgenden Jahren erschienen in rascher Stendte [...]. Oberursel 1563. – Propositiones ali- Folge weitere Gedicht-Bände, die teilweise quot, in quibus [...] demonstratur, cur Laurentius auch für den Hörfunk inszeniert wurden – Albertus abiecta Lutheranorum causa, omnes hae- einigen Gedichtausgaben liegt eine CD bei, reticos errores, quos olim fovebat et defendebat, etwa bei Heartcore (Ffm. 1999) u. Autokino revocarit, ac in gremium Catholicae Ecclesiae sese (Ffm. 2001). Die Vertonungen sind künstlereceperit. Ingolst. 1570. – Absurda Lutheranorum risch eigenständig; dafür sorgen Sprecher[...]. Ingolst. 1570. – Chronick. Das ist, Kurtzer wechsel, Collagen aus verschiedenen Gedichaußzug u. begriff der fürnembsten geschicht der ten u. die eigens für die Aufnahmen von Bert Francken [...]. Köln 1571. – Q. Septimii Florentis Wrede komponierte Musik, die O.s metrische Tertulliani Certae [...] praescriptiones adversus u. themat. Anspielungen in erster Linie auf haereses omnes [...] verteutscht [...]. Dillingen die Populärkultur aufnimmt u. weiterentwi1572. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Bericht vom Bapst Johanne dem achten. Welcher soll ein Weib ckelt. Auch als Dramatiker setzte sich O. seit gewesen sein [...]. Dillingen 1572. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Verthädigung unnd Schutzschrifft Mitte der 1990er durch. Gleich sein erstes [...]. Dillingen 1574. – Predicanten Practic. Pro- Stück Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie gnostic [...]. Mchn. 1589. wurde erfolgreich inszeniert (Urauff. Mchn. Ausgabe: Die dt. Grammatik des Laurentius Al- 1995). Dazu trug bei, dass mit André Wilms ein prominenter Regisseur gewonnen werden bertus. Hg. Carl Müller-Fraureuth. Straßb. 1895.

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konnte. Das gilt ebenso für O.s zweites Stück, Deutungshoheit. In: Text + Kritik Sonderbd. 11, Zuckersüss & Leichenbitter (Urauff. München Theater fürs 21. Jh. (2004), S. 81–100. Kai Bremer 1997), bei dem Udo Samel Regie führte u. die Hauptrolle spielte. In den folgenden Jahren Osterspiel von Muri. – Ältestes deutsches wurde O. u. a. Hausdramatiker des Nationalgeistliches Schauspiel aus der Mitte des theaters Mannheim, des Bayerischen Staats13. Jh. schauspiels u. des Burgtheaters Wien. Inzwischen wird er auch außerhalb des dt. Der fragmentarisch überlieferte Text (heute in der Kantonsbibliothek Aarau) ist auf PerSprachraums gespielt. O.s Texte, die in viele Sprachen übersetzt gamentstreifen erhalten, die im 15. Jh. zum sind, zeugen von breitem literaturgeschichtl. Einbinden einer zweibändigen gedruckten Wissen u. setzen sich mit kanonischen Wer- Bibel dienten. Diese war 1527 im Besitz des ken der Antike, Shakespeares oder Goethes Züricher Bürgers Jakob Geilinger (1501–1546 auseinander. Im Zentrum der literar. Rezep- Kaplan am Großmünster) u. gelangte erst tion O.s steht der dt. Expressionismus (Ernst später in die Bibliothek des 1841 aufgehobeToller, Bertolt Brecht). 2005 wurde O. zum nen Klosters Muri, das als Herkunftsort kaum Leiter des Augsburger Brecht-Festivals beru- in Frage kommt. Inhaltliche Indizien sprefen u. erwies sich dort als erfolgreicher chen für die Entstehung u. Aufführung im Grenzgänger zwischen U- u. E-Kultur. Ähn- Rahmen einer Stadt, wahrscheinlich Zürich. Die vier Fragmente umfassen mit 612 dt. lich vielfältig engagiert sich O. für die Fußballkultur – u. zwar schriftstellerisch (Titel- Versen etwa die Hälfte des gesamten Textes. kampf. Fußballgeschichten der deutschen Autoren- Das Pergament ist zweispaltig auf der Vordernationalmannschaft. Hg. Ralf Bönt, A. O. u. u. Rückseite beschrieben, es bildete urMoritz Rinke. Ffm. 2008), sportlich (O. ist sprünglich eine Rolle für den Gebrauch zur Torwart der Autorennationalmannschaft) u. Probe u. Aufführung. Nur zwei lat. Gesänge kulturpolitisch (O. ist seit 2007 Kurator der sind annotiert, die Verwendung weiterer ist DFB-Kulturstiftung). Mit dem Roman Zephyr wahrscheinlich. Regieanweisungen enthält (Ffm. 2008) wandte sich O. nach einigen die Aufzeichnung nicht. Anfang u. Ende des Spiels fehlen, auch die kürzeren Erzählungen erstmals ausführlich der Prosa zu. Wegen seiner Reminiszenzen an folgenden Szenen sind z.T. unvollständig. den Film Noir darf der Roman als typisch für Der Text beginnt mit mehreren WächterO.s Arbeitsweise gelten, auch wenn er sich bzw. Pilatusszenenteilen: Pilatus verhandelt damit einer von ihm bis dahin nicht erprob- mit zwölf Rittern u. den Juden über die Bewachung des Grabes Jesu; die Wächter beten Gattung zugewandt hat. Weitere Werke: Theaterstücke: Radio Noir. ziehen Position. Pilatus kündigt einen GeUrauff. Mannheim 1998. – The Making Of. B.- richtstag an. Danach erfolgt die AufersteMovie. Urauff. München 1999. – Tatar Titus. hung, wortlos von Donner u. Blitz begleitet; Urauff. Mannheim 1999. – Death Valley Junction. die Grabwächter fliehen u. tauschen ihre Urauff. Hamburg 2000. – Auf Sand. Urauff. Ham- Eindrücke aus. Eine weitere Verhandlung burg 2003. – Vatersprache. Urauff. Essen 2002. zwischen Pilatus, den Wächtern u. den Juden Ffm. 2003. – Nach den Klippen. Urauff. Wien 2005. sowie die Zahlung einer hohen Bestechungs– Prosa: Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut. summe sollen verhindern, dass die AufersteFfm. 2006. – Lyrik: fremdkörper hautnah. Ffm. 1997. – Solarplexus. Ffm. 2004. – Polar. Ffm. 2006. hung bekannt wird. Mit dem Pilatusteil sind die Auftritte eines Krämers verzahnt: Nach– Für den Anfang der Nacht. Ffm. 2007. Literatur: Enno Stahl: A. O. In: KLG. – Daniel dem dieser auf dem Gerichtstag eine VerDrascek: A. O. In: LGL. – Jochen Hörisch: Wegela- kaufsberechtigung erworben hat, preist er – gerer u. Flaneur. A. O. hat seinen eigenen Sound. an die Zuschauer gewandt – seine Waren an. In: Merkur 58 (2004), S. 259–262. – Franziska Drei Frauen (wohl wie in anderen Spielen alle Schößler: A. O. – Medienkriege u. der Kampf um mit Namen Maria), die den Leichnam Jesu einbalsamieren wollen, kaufen drei Büchsen Salböl. Vor dem Salbenkauf erfolgt die Höl-

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lenfahrt (»Descensus«), indem der Aufer- Auferstandenen exemplarisch die Erlösungsstandene die Seelen der Verstorbenen, die notwendigkeit aller Menschen. Das in vieler Hinsicht außerordentl. Spiel ihm gedient haben, aus der Macht des Teufels befreit. Die drei Marien gehen zum Grab u. hat in der weiteren Geschichte der Gattung finden es leer (»Visitatio sepulchri«). Ein En- keine Nachfolge gefunden. gel berichtet ihnen von der Auferstehung u. Ausgaben: Friedrich Ranke: Das O. nach den fordert sie auf, den Jüngern in Galiläa die alten u. neuen Fragmenten. Aarau 1944. – Rudolf Botschaft zu verkünden. In der letzten er- Meier (Hg.): Das Innsbrucker Osterspiel. Das O. v. haltenen Szene erscheint der Auferstandene M. Stgt. 1962 (mit Übers. u. Lit.). – Das O. v. M. Maria Magdalena (»Hortulanusszene«, die Faksimiledr. der Fragmente u. Rekonstruktion der Annahme, er sei der Gärtner, ist nicht erhal- Pergamentrolle. Hg. unter dem Patronat des Regierungsrates des Kt. Aargau. Basel 1967. ten). Als sie Jesus erkennt, wendet sie sich in Literatur: David Brett-Evans: Höfisch-ritterl. einer langen gebethaften, stark emotional Elemente im dt. geistl. Spiel des MA. Lahr 1952. – geprägten Rede an ihn. Nach sechs Versen der Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des Antwort des Auferstandenen bricht das MA. Köln/Wien 1970, S. 53–59. – Rolf Bergmann: Fragment ab. Wahrscheinlich folgten noch Studien zu Entstehung u. Gesch. der dt. Passionsdie Auferstehungsbotschaft an die Apostel u. spiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972, S. 62, 102–104. der Gang von Petrus u. Johannes zum Grab – Ursula Hennig: Die Klage der Maria Magdalena (»Jüngerlauf«). in den dt. Osterspielen. In: ZfdPh 94 (1975), SonDie neutestamentl. Quellenvorgaben u. das derh., S. 108–138. – Arne Holtorf: Höf. Theologie apokryphe Nikodemusevangelium für die im O. v. M. In: PBB 97 (1975), S. 339–364. – R. Höllenfahrtszene, die in lat. Osterspielen Bergmann: Überlieferung, Interpr. u. literaturgeverarbeitet sind, erhalten im O. sprach- schichtl. Stellung des O. v. M. In: IASL 9 (1984), S. 1–21. – Joachim Heinzle: Gesch. der dt. Lit. v. künstlerisch (vierhebige, an der dt. höf. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 2,2, Dichtung orientierte Verse mit reinen Rei- Königst./Ts. 1984, S. 200–203. – R. Bergmann: Kat. men) sowie inszenatorisch einen eigenen der deutschsprachigen geistl. Spiele u. MarienklaCharakter. Das literarisch anspruchsvolle gen des MA. Mchn. 1986. – Max Wehrli: Das O. v. Spiel impliziert eine intensive religiöse Ver- M. In: VL. – Johannes Janota: Das O. v. M. In: Eine kündigung. Die Auferstehungs- u. Erlö- neue Gesch. der dt. Lit. Hg. David E. Wellbery u. a. sungsbotschaft wird auf verschiedenen Ebe- Dt. Ausg. Bln. 2007, S. 183–192. Ursula Schulze nen beglaubigt: durch Donner u. Blitz, durch die Aussagen der Wächter, die AbwehrreakOsterwald, Karl Wilhelm, * 23.2.1820 tion des Pilatus u. der Juden, die Marien am Bretsch/Altmark, † 25.3.1887 Mühlhauleeren Grab u. die Verkündigung des Engels. sen/Thüringen. – Pädagoge, SchriftstelDer Auferstandene erscheint selbst als Retter ler. in der Hölle, u. in der Begegnung mit Maria Magdalena wird seine Erlösungskraft in die- O. studierte von 1840 bis 1844 Philologie mit ser Welt für alle sündigen Menschen ver- Schwerpunkt auf den klass. Sprachen u. deutlicht. Weitere Zeichen dürften am Deutsch an der Universität Halle. Nach dem Schluss hinzugekommen sein. Komische Studium nahm er zunächst seine LehrtätigElemente wie in späteren Spielen gibt es im keit in Halle auf. Ab 1850 war er Konrektor O. nicht in Form derber Motive, sondern als am Domgymnasium in Merseburg, ab 1865 Bloßstellung übersteigerten Gewinnstrebens Direktor des Gymnasiums in Mühlhausen u. u. des Luxuslebens der städtischen, an höf. ab 1880 zusätzlich Leiter des dortigen RealLebensformen orientierten Gesellschaft (der progymnasiums. Krämer bietet Aphrodisiaka, Schminke u. O.s Arbeiten entspringen einem für seine Schmuckaccessoires feil u. wartet auf »min- Zeit typischen, aus der Romantik gewachsenere geile«). In Konfrontation mit dem hei- nen Interesse am MA. So verarbeiten seine ligen Erlösungsgeschehen werden die weltl. zahlreichen Erzählungen für die Jugend vorInteressen als teufl. Gefahr entlarvt. Maria wiegend Themen aus der Sagenwelt des MAs Magdalena reflektiert in ihrer Rede an den u. zeugen von seinen pädagog. Bemühungen.

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Auch seine Dramen Rüdiger von Bechlaren Ostini, Fritz Frhr. von, auch: Biedermeier (Halle 1849) und Walther und Hildegunde mit ei, * 27.7.1861 München, † 1.6.1927 (Mühlhausen 1867) verarbeiten Themen der Pöcking/Starnberger See. – Journalist u. mittelalterl. Heldenepik. Sein Gedicht König Schriftsteller. Alfred (Bln. 1855) steht in der Titurelstrophe. Schon während des Jurastudiums in MünDer größte Teil seines lyr. Werks besteht jechen, zu dem er sich nur auf väterl. Drängen doch aus Natur- u. Liebeslyrik. O.s patriot. entschlossen hatte, widmete sich O. zunehEinstellung kommt bes. deutlich im Gemend seinen literar. u. künstlerischen Neidichtband Deutschlands Auferstehung. Vaterlängungen, schrieb sich an der Kunstakademie dische Gedichte aus dem Jahre 1870 (Halle 1871) ein u. arbeitete für die »Süddeutsche Presse«. zum Ausdruck. Seine wiss. Arbeiten widmen Er brach das Studium ab u. wandte sich bald sich mytholog. Themen. So versucht er in ganz dem Journalismus zu. Seit 1887 fester Iwein. Ein keltischer Frühlingsgott. Ein Beitrag zur Mitarbeiter der »Münchner Neuesten Nachkomparativen Mythologie (Jahresber. über das richten«, übernahm O. die Redaktion des Gymnasium zu Merseburg, 1853, S. 3–66) Feuilletons u. machte sich insbes. als Förderer Parallelen zwischen Hartmanns von Aue Epos der Secessionsbewegung in München einen mit kelt. Naturmythen aufzuzeigen. Namen. Mit Gründung der »Jugend« wurde O.s Zeitgenossen bewunderten seine inteler 1896 deren erster leitender Redakteur u. lektuelle Brillanz u. seine vielseitige Bildung. machte die Münchner Wochenschrift, die sich Den größten Einfluss übte er als Pädagoge v. a. dem Kampf gegen die Dekadenz veraus, wie auch der Erfolg seiner Jugendliteraschrieben hatte, zu einer der einflussreichsten tur zeigt, während seine wiss. Arbeiten nur Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende. geringe Aufmerksamkeit erregten. Von seiSeine humoristischen u. satir. Gedichte zu nen Gedichten wurden zu seinen Lebzeiten tagespolit. u. allg. Themen, deren bekannrund 70 vertont, hervorzuheben sind die teste zuerst unter dem Pseud. »Biedermeier Kompositionen des aus Halle stammenden mit ei« (auch als Buchtitel: Stgt. 1904. 21908) Komponisten Robert Franz (1815–1892). erschienen, zeichnen sich durch pointierten Weitere Werke: Lyrik: Im Grünen. Bln. 1853. – Witz u. stilist. Eleganz aus. Im Freien. 7., gänzlich umgearbeitete Aufl. v. Daneben wurde O. durch eine Vielzahl poSanders Betrachtungen über die Güte u. Weisheit Gottes in der Natur. Lpz. 1862. – Prosa: Erzählun- pulärer Künstlermonografien zur Malerei des gen aus der alten Dt. Welt. 8 Tle., Halle 1848–66. – 18. Jh. bekannt. Er gilt als bedeutender FörSang u. Sage. Erzählungen aus Dtschld.s Vorzeit. derer Münchens als Kunststadt. Kreuznach 1890. – Forschung: Homerische Forsch.en. Halle 1853. Literatur: Karl L. Leimbach: K. W. O. In: Die dt. Dichter der Neuzeit u. Gegenwart. Biogr.n, Charakteristiken u. Ausw. ihrer Dichtungen. 6. Bd. Hg. ders. Lpz./Ffm. 1896, S. 443–461 (inkl. Werkverz.). – Werner Baumgarten: K. W. O. In: Mitteldt. Lebensbilder. Bd. 1: Lebensbilder des 19. Jh. Hg. Histor. Kommission für die Provinz Sachsen u. für Anhalt. Magdeb. 1926, S. 252–257. – Dieter Fechner: K. W. O. (1820–87). Direktor des Gymnasiums u. Dichter. In: Moment 10 (2006), S. 14 f. Björn-Michael Harms

Weitere Werke: Grosses u. Kleines. Mchn. 1888. – Schwarmgeister. Stgt. 1908 (L.). – Buch der Torheit. Lpz. 1910. – Tat u. Schuld. Lpz. 1919 (R.). Literatur: Wilhelm Zils (Hg.): Geistiges u. künstlerisches München in Selbstbiogr.n. Mchn. 1913, S. 260 f. – Kosch. Jörg Platiel / Red.

Ostorodt, Osterode, Osthorot, Christoph, latinisiert: Christophorus Ostorodus, Paschasius, Paschalodus, † 9.8.1611 Buscow. – Sozinianer. O. wurde als Sohn eines Pastors, mutmaßlich in den 1560er Jahren, nahe Goslar geboren. Nach dem Theologiestudium in Königsberg wurde er Schulrektor in Schlochau. 1585 ließ er sich auf der sozinian. Synode in Chmielnik wiedertaufen u. vertrat von da an entspre-

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chendes Gedankengut so intensiv, dass er seines Rektorenamtes enthoben wurde. O. setzte seine Karriere anschließend innerhalb der sozinianisch-antitrinitar. Gemeinde fort: zunächst wurde er Pastor in Smigl, dann Superintendent in Racow, einer Hochburg des Sozianismus. Seine Streitschrift über christolog. Fragen Disputatio [...] wider Georgen Tradeln. Von der Gottheit des Sohns Gottes [...] [1598] (Racow 1625) zeugt vom theolog. Profil, das ihm einen herausragenden Platz unter den poln. Antitrinitariern verschaffte. Die (original unauffindliche) Korrespondenz mit Fausto Sozzini seit 1594 (Fausti Socini [...] [a]d amicos epistolae. [Hg. v. Valentin Smalcius.] Racow 1618) lässt deren Verhältnis rekonstruieren. O.s Hauptwerk, der biblizistisch-sozinian. Katechismus Unterrichtung von den vornemsten Hauptpuncten der Christlichen Religion [...] (Racow 1604) zog Polemiken etwa von Johann Leuckenroth (Treuherzige und nothwendige Warnung. Königsb. 1604), Jacobus ad Portum (Orthodoxae fidei defensio. Genf 1613), Georg Rost (Gründtlicher Bericht von den newen Photinianen. Magdeb. 1613), Albert Grawer (Examen Praecipuarum Sophisticationum. Jena 1613) u. Justus Feurborn (Anti-Ostorodus. Marburg 1628) nach sich. Die Bodleiana (Ms. Marshall 105) verwahrt das Manuskript einer lat. Unterrichtung; die Übersetzung geht vielleicht auf John Prideaux zurück.

das er später, ermuntert durch Felix Holländer, zu dem Roman Vagabonden (Bln. 1900. Neuausg. u. d. T. Vagabunden. Ein autobiographischer Roman. Ffm./New York 1980) umarbeitete. Mit diesem »ersten und echten deutschen, halb autobiographischen Landstreicherroman« (Ostwald) hatte er großen Erfolg, sodass er seit 1898 bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller in Berlin leben konnte. Der Absicht, »unsere Kultur von unten zu beleuchten«, blieb O. in allen folgenden Werken verpflichtet. Er wurde zu einem der produktivsten Chronisten der unteren sozialen Klassen u. gesellschaftlichen Randgruppen (Das Berliner Dirnentum. 10 Bde., Lpz. 1905–07. Die deutschen Landstreicher. Bln. 1906) sowie zu einem der wichtigsten populärwiss. Kulturhistoriker Berlins (Kultur- und Sittengeschichte Berlins. Bln. 1924. Sittengeschichte der Inflation. Kulturdokument aus den Jahren des Marktsturzes. Bln. 1931). Weitere Werke: Zwei Gesellen. Bln. 1904 (R.). – Herausgeber: Großstadt-Dokumente. Bln./Lpz. 1905–08. – Lieder aus dem Rinnstein. Bln. 1903–08. Literatur: Peter Fritzsche: Vagabond in the Fugitive City. H. O.’s Imperial Berlin and the ›Großstadt-Dokumente‹. In: Journal of Contemporary History 29 (1994), H. 3, S. 385–402. – Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. H. O. u. die ›Großstadt-Dokumente‹ (1904–08). Köln 2006. Sabina Becker / Red.

Literatur: G. Frank: O. In: ADB. – Eugène Ensfelder: Christophe O. Sa vie et son principal écrit. Straßb. 1859. – Henryk Gmiterek: Antitrinitaires Polonais III. Marcin Czechowic, Jan Niemojewski, C. O. Baden-Baden u. Bouxwiller 1992.

Ostwald, Wilhelm (Friedrich), * 21.8. bzw. 2.9.1853 Riga, † 3.4.1932 Großenbothen bei Leipzig; Grabstätte: ebd., im Garten Philipp Redl seines Landhauses »Energie« (heute Sitz des Ostwald-Archivs). – Chemiker.

Ostwald, Hans, * 31.7.1873 Berlin, † 8.2. 1940 Berlin. – Erzähler, Dramatiker, Kulturhistoriker. O., Sohn eines Schmieds, wuchs in Stargard/ Pommern auf. Nach einer Lehre als Goldschmied arbeitete er einige Jahre in diesem Beruf, bis er 1893 arbeitslos wurde. Als »wandernder Handwerksbursche« vagabundierte er danach für mehr als drei Jahre durch Norddeutschland. Über seine Erlebnisse im Landstreichermilieu führte er ein Tagebuch,

Der Sohn eines Böttchers u. einer Bäckerstochter studierte ab 1872 Chemie in Dorpat (Diss. 1878 mit volumchem. Studien). 1882 erhielt er eine Professur am Polytechnikum in Riga. Hier entstand sein Lehrbuch der allgemeinen Chemie (2 Bde., Lpz. 1885 u. 1887), in dem er sein neue physikal. Sichtweise darlegte, die durch die ebenfalls neuartigen Arbeiten des befreundeten Arrhenius über elektrolyt. Dissoziation von 1884 bestärkt worden war. 1887 gründete O. die rasch anerkannte »Zeitschrift für physikalische Chemie« (bis

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1905 von ihm herausgegeben), gemeinsam »Annalen der Naturphilosophie«); sein mit van’t Hoff, dem dritten Pionier dieses Kampf gegen die Bevormundung der Naturmodernen Wissenschaftszweiges. 1892 er- wissenschaft durch Kirche u. Religion u. jegl. hielt er den damals einzigen Lehrstuhl für Klerikalismus brachte ihn in die Nähe des Physikalische Chemie in Leipzig; 1897 wurde »Monistenbundes« Haeckels, den er 1911 bis ihm hier ein neues Institut eingerichtet. 1906 zum Kriegsausbruch in der Leitung ablöste ließ er sich in den Ruhestand versetzen u. zog (ab 1911 erschienen regelmäßig seine »Mosich nach Großenbothen zurück; ab 1914 ar- nistischen Sonntagspredigten«, die er ab beitete er an einer Farbtheorie, die wissen- Aug. 1914 zu »Kriegspredigten« umorienschaftlich begründet u. zgl. praktisch an- tierte), u. der Kirchenaustrittsbewegung. Dawendbar sein sollte (u. a. Die Farbenfibel. Lpz. neben setzte er sich für eine internat. Wissenschaftssprache u. eine Gewichtsverlage1917. Farbnormen-Atlas. Lpz. 1923/24). O. hatte sich seit dem Studium physika- rung im höheren Schulunterricht zu den lisch-chem. Aufgabenstellungen gewidmet, Naturwissenschaften hin ein. bes. Problemen der Affinität u. ElektrocheWeitere Werke: Abh.en u. Vorträge allg. Inmie, nahm dann die Ionentheorie Johann halts (1887–1903). Lpz. 1904. – Lebenslinien. Eine Wilhelm Hittorfs auf u. konnte so neue Ein- Selbstbiogr. 3 Bde., Bln. 1926/27. – Wiss. contra sichten in die Geschwindigkeit chem. Reak- Gottesglauben. Aus den atheist. Schr.en des großen tionen, ihre Abhängigkeit von der Ionen- Chemikers. Hg. Friedrich Herneck. Lpz. u. Jena konzentration (u. a. O.’sches Verdünnungs- 1960. – Briefe: Aus dem wiss. Briefw. W. O.s. Hg. Hans-Günther Körber. 2 Bde., Bln./DDR 1961 u. gesetz) u. ihren teilweise stufenweisen Ablauf 1969. – W. O. u. Paul Walden in ihren Briefen. Hg. (O.’sche Stufenregel) gewinnen. Im neuen Regina Zott. Bln. 1994. – Fritz Haber in seiner Institut betrieb er v. a. chem. Kinetik- u. Ka- Korrespondenz mit W. O. Hg. dies. Bln. 1997. – talyseforschung, womit er insbes. der indu- Arthur Rudolf Hantzsch im Briefw. mit W. O. Hg. striellen Chemie zum Aufschwung verhalf. Joachim Stocklöv. Bln. 1998. – ›Substanzmonis1909 mit dem Nobelpreis für seine anfangs mus‹ u., oder ›Energetik‹. Der Briefw. v. Ernst höchst umstrittenen Arbeiten zur Katalyse Haeckel u. W. O. (1910 bis 1918). Hg. Rosemarie geehrt, legte O. sein Hauptaugenmerk auf die Nöthlich. Bln. 2006. Literatur: N. I. Rodnyj u. J. I. Solowjew: W. O. Verbreitung der neuen Ideen, nicht zuletzt durch seinen experimentellen, in die selb- Moskau 1969. Dt. Lpz. 1977. – Jan-Peter Domschke ständige Forschung einführenden Unter- u. Peter Lewandrowski: W. O. Leben, Wirken u. Gesellschaftsauffassungen. Lpz. 1977. – Dies.: W. richt. O. Chemiker, Wissenschaftstheoretiker, OrganisaSeine Arbeiten zur Geschichte der Chemie tor. Lpz./Jena/Bln. 1982 u. Köln 1982. – Erwin dienten v. a. einer Herleitung der eigenen Hiebert u. Hans-Günther Kröber: O. In: DSB. Standpunkte (Elektrochemie, ihre Geschichte und Fritz Krafft Lehre. Lpz. 1896. Große Männer. Lpz. 1909. 4 1927); 1889 begründete er die noch heute Oswald. – Mittelalterliche Erzähltradition fortbestehende kommentierte Reihe »Ostum den nordhumbrischen Missions- u. walds Klassiker der exakten Wissenschaften«. Märtyrerkönig St. Oswald (604–642). Über die Naturwissenschaft hinaus wurde O. bekannt durch seine naturphilosoph. Versu- Von der historisch-legendären Gestalt des che, in Ersetzung der mechanist. Naturauf- Heiligen, dessen Fest am 5. August gefeiert fassung alles Sein auf Zustände der Energie u. wird, berichtet zuerst der Angelsachse Beda deren Wandel zurückzuführen, was ihn zeit- (672–735) in seiner Historia ecclesiastica gentis weilig sogar die Existenz von Atomen leug- Anglorum: Im schott. Exil von irischen Mönnen ließ – Energie »hat sich als die letzte chen erzogen, gelang es Oswald nach seiner Realität erwiesen« (u. a. Die Überwindung des Rückkehr in die Heimat, die Briten aus dem wissenschaftlichen Materialismus. Lpz. 1895. Norden des Landes zu verdrängen, seine Vorlesungen über Naturphilosophie. Lpz. 1902. Herrschaft auszudehnen u. die iroschott. 4 1907. Energetische Grundlagen der Kulturwis- Mission zu fördern. Er heiratete Cyneburg, senschaft. Lpz. 1909. 1902 gründete er die Tochter des Westsachsen Cynegilsus, bei

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dessen Taufe er Pate stand. 642 fiel er in einer Schlacht gegen den Heidenkönig Penda von Mercia. Beda teilt mit, dass an Oswalds Todesstatt zahlreiche Wunder geschahen u. weist darauf hin, dass der Oswald-Kult auch auf das Festland überging. Über den Nordhumbrier Willibrord kamen 690 erstmals Oswald-Reliquien nach Deutschland (Friesland). Von den Welfen seit etwa 1070 gefördert, fand die Oswald-Verehrung in Deutschland einen Höhepunkt im 12. Jh. u. breitete sich vom 13. Jh. an weiter nach Süden aus. Wesentliche Bestandteile der mhd. Erzähltradition sind bereits in Bedas Bericht enthalten. Während sich jedoch die Legendentradition um Oswald in England sowohl in lat. als auch volkssprachl. Ausprägungen (u. a. Ælfric) eng an Beda hält – eine Ausnahme bildet die Vita S. Oswaldi regis et martyris des engl. Mönchs Reginald von 1165, wo, vielleicht aus mündl. Tradition, neue Züge eingeführt werden –, wird der Stoff in Deutschland weitgehend umgeformt u. weiterentwickelt. Die durchwegs anonymen Textzeugen dieser Erzähltradition gehören dem SpätMA an, dürften jedoch auf ein nicht erhaltenes, um 1170 vermutlich in Regensburg entstandenes weltl. dt. Kurzepos zurückgehen, das den Stoff im Rahmen des verbreiteten Brautwerbungsschemas neu erzählte. Als Kernstück der dt. Tradition u. authentischster Vertreter dieses Epos gilt der in mehreren Handschriften des 15. Jh. überlieferte sog. Münchner Oswald (v. a. Curschmann, anders Bräuer): In 3564 paargereimten, überwiegend vierhebigen Versen wird die Brautwerbung Oswalds um Paug/Pamige, die Tochter des Heidenkönigs Aron, die heimlich an Gott glaubt, erzählt. Aron, der alle Freier seiner Tochter töten lässt, da er sie später selbst heiraten möchte, muss überlistet werden. Nachdem ein Bote – ein sprechender Rabe – die Zusage der Umworbenen eingeholt hat, segelt Oswald mit einem gewaltigen Christenheer in Arons Land. Schließlich gelingt die Entführung der Braut, u. mit Gottes Hilfe werden bei der Verfolgung alle Heiden außer Aron getötet. Die durch ein Wunder wiedererweckten Heiden werden von Oswald ge-

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tauft u. sterben – auf eigenen Wunsch – gleich darauf wieder. Selbst Aron wird zum Christentum bekehrt. In England prüft Christus als Bettler Oswalds »milte« u. »triuwe« gegen Gott: Als der König auf Reich u. Braut verzichtet, gibt Christus sich zu erkennen, Oswald erhält Herrschaft u. Frau zurück, soll aber die Ehe – die er urspr. auf Drängen seiner Ratgeber zur Sicherung eines Erben angestrebt hat – nicht vollziehen. Wie vorhergesagt, stirbt das Paar nach zwei Jahren keuschen Ehelebens u. geht ins Paradies ein. Diese Heiligenlegende im Brautwerbungsschema wird aufgrund von themat. Aspekten, Handlungsformeln u. Motiven der Gruppe der sog. Spielmannsepen (vgl. Herzog Ernst, König Rother, Orendel u. Salman und Morolf) zugerechnet; thematische u. motivische Parallelen bestehen auch zur Kudrun u. zum Ortnit. Den komischen Handlungselementen – v. a. die Auftritte des Raben, aber auch der Sprung der Eheleute in einen mit kaltem Wasser gefüllten Bottich am Bettende zur Abtötung sexueller Lust – steht das Programm eines gottgefälligen Lebens in einer beispielhaften Heiligenvita gegenüber. Die Komik kann die Gattungsschemata, nicht aber den Vorbildcharakter der Protagonisten relativieren. Der Stoff wird in der deutschsprachigen Literatur des MA auch in einer weiteren Versfassung, dem in drei Handschriften des 15. Jh. überlieferten sog. Wiener Oswald (1465 Verse), in drei Prosafassungen u. einem fragmentarisch überlieferten Legendenepos gestaltet. Das knapp 300 Verse umfassende Fragment, der sog. Linzer Oswald, scheint sich eng an Bedas Darstellung zu halten. Die übrigen Textzeugen sind »spielmännisch« geprägte Legendenerzählungen, welche die für den Münchner Oswald skizzierte Handlung in Einzelheiten variieren. Der – wohl in Schlesien entstandene – Wiener Oswald dürfte aus dem Münchner Oswald geschöpft haben, doch erwägt man auch eine mögl. Priorität der Wiener Fassung (Bräuer). In der Wiener Fassung liegt Oswalds Reich in Deutschland, die Braut heißt Spange u. muss erst vom Raben zum Christentum bekehrt werden; der getaufte Heidenkönig kehrt zur Missionierung seines Volkes in sein Reich zurück. Der

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Wiener Oswald betont stärker als die anderen Fassungen die geistlich-legendarischen Züge der Erzähltradition. Besondere Züge bieten die späten Prosafassungen, die mit zieml. Wahrscheinlichkeit auf den im Münchner Oswald repräsentierten Typus zurückgehen: Eine um 1400 entstandene Fassung ist eine Nacherzählung des Stoffs für die Nürnberger Legendensammlung Der Heiligen Leben, die im ersten Teil in etwa das Handlungsgerüst des Münchner Oswalds wiedergibt, während der Rest der schon in Beda vorgezeichneten hagiograf. Legende folgt, mit einer Zurücknahme der »spielmännischen« Züge u. dem Verzicht auf die in Beda noch nicht enthaltenen Motive der Versuchung des Heiligen u. seiner keuschen Ehe. Diese Prosafassung ist für die weitere Verbreitung des Stoffs auch in Richtung Norden hin von großer Bedeutung; so geht aus der niederdt. Fassung des Legendars später eine isländ. Bearbeitung hervor, die u. d. T. Osvalds saga konungs hins helga bekannt geworden ist. Interessante Aufschlüsse über ein Interesse der Pflege des OswaldKults über den Adel hinaus, bei Stadtpatriziat u. Großbürgertum, bietet die Prosafassung des sog. Budapester Oswald, der der Geschichte eine genealog. Einleitung u. einen kirchengeschichtl. Ausblick hinzufügt; diese Version ist, in Überlieferungsgemeinschaft mit der Heiligenlegende Alexius, im SpätMA in Bürgerhaushalten im oberdt. Sprachraum nachgewiesen. Eine »moderne« Fassung des 15. Jh., der sog. Berliner Oswald, legt das Gewicht auf die Brautwerbung u. lässt die Erzählung in einer Ehe mit Kindern enden. Mit der bes. Verknüpfung von Brautwerbungsschema u. fantastisch-fabulösen u. komisch-unterhaltsamen Zügen, die zur Einordnung der dt. Oswald-Dichtungen in die sog. Spielmannsdichtung geführt haben, wird dem traditionellen hagiograf. Stoff nicht nur ein anhaltender Erfolg beim zunächst adligen Publikum garantiert; er »überlebt« in dieser bes. Ausprägung auch in Prosafassungen, findet so seinen Weg in oberdt. Bürgerhaushalte u. gelangt im SpätMA über den niederdt. Sprachraum schließlich auch nach Skandinavien.

Oswald Ausgaben: Münchner und Berliner Oswald: Michael Curschmann (Hg.): Der Münchner O. Mit einem Anhang: Die ostschwäb. Prosabearb. des 15. Jh. Tüb. 1974. – Wiener Oswald: Georg Baesecke (Hg.): Der Wiener O. Heidelb. 1912. – Gertrud Fuchs: Der Wiener O. Breslau 1920. – Prosafassung aus ›Der Heiligen Leben‹: Ignaz v. Zingerle: Die Oswaldlegende u. ihre Beziehung zur dt. Mythologie. Stgt./ Mchn. 1856, S. 41–69. – Budapester Oswald: András Vizkelety: Der Budapester O. In: PBB (Halle) 86 (1964), S. 107–188 (Textabdr. S. 151–188). – Linzer Oswald: M. Curschmann: ›Sant Oswald v. Norwegen‹: ein Fragment eines Legendenepos. In: ZfdA 102 (1973), S. 101–114. Literatur: A. Berger: Die Oswaldlegende in der dt. Lit., ihre Entwicklung u. ihre Verbreitung. In: PBB 11 (1886), S. 365–469. – Georg Baesecke: Der Münchner O. Text u. Abh. Breslau 1907. – Walter J. Schröder: Spielmannsepik. Stgt. 21967, bes. S. 51–62. – Michael Curschmann: Spielmannsepik. Stgt. 1968 (Forschungsber.). – Rolf Bräuer: Das Problem des ›Spielmännischen‹ aus der Sicht der St.-Oswald-Überlieferung. Bln. 1969. – Ders.: Literatursoziologie u. epische Struktur der dt. ›Spielmanns‹- u. Heldendichtung. Bln. 1970. – Walter Haug: Struktur u. Gesch. In: GRM N. F. 23 (1973), S. 129–152. – Nikolaus Miller: Brautwerbung u. Heiligkeit. In: DVjs 52 (1978), S. 226–240. – András Vizkelety: Eine wiedergefundene Hs. des sog. Spielmannsepos ›St. Oswald‹. In: FS Karl Mollay. Budapest 1978, S. 331–341. – W. Haug: Das Komische u. das Heilige. In: Wolfram-Studien 7 (1982), S. 8–31. – Maria Dobozy: The Structure of the Crusade Epic and the Function of the King. In: Neoph. 67 (1983), S. 90–107. – Achim Masser u. Max Siller: Der Kult des hl. Oswald in Tirol [...]. In: Der Schlern 57 (1983), S. 55- 91. – M. Curschmann: Linzer O. In: VL. – Ders.: Münchner O. In: VL. – Ders.: O. (Prosafassungen). In: VL. – Marianne Kalinke: Osvalds saga konungs. In: The Audience of the Sagas. Göteborg 1991, S. 268–277. – Claudia Bornholdt: Engaging Moments. The Origins of Medieval Bridal-Quest Narrative. Bln./New York 2005. – Marianne E. Kalinke: St. Oswald of Northumbria: Continental Metamorphosis. Tempe 2005. – Paolo Chiesa: Il re che divenne martire. Oswald di Northumbria fra storia e leggenda. In: Un Santo inglese a Sauris. Il culto e il mito di Sant’Osvaldo nei territori alpini e in Europa. Sauris 2006, S. 27–54. – Claudia Händl: S. Osvaldo protagonista della poesia giullaresca. In: Testi agiografici e omiletici del medioevo germanico. Hg. Maria Adele Cipolla u. Mosè Nicoli. Verona 2006, S. 179–203. – Christian Kiening: Hl. Brautwerbung. Überlegungen zum ›Wiener Oswald‹. In: Dt.

Oswald von Wolkenstein Lit. u. Sprache im Donauraum. Hg. Christine Pfau u. Kristy´na Slámová. Olmütz 2006, S. 87–99. – Florian Kragl: Wer hat den Hirsch zum Köder gemacht? Der ›Münchner Oswald‹, spiritualiter gelesen. In: ABäG 63 (2007), S. 157–178. Claudia Händl

Oswald von Wolkenstein, * 1376/78 Südtirol, † 2.8.1445 Meran. – Liederautor. O. gilt heute als bedeutendster deutschsprachiger Lyriker u. Liederautor zwischen Walther von der Vogelweide u. Goethe; er steht am Ende der mittelalterl. Tradition der okzitan. Trobadors, nordfrz. Trouvères u. mhd. Lyriker, vereinigt also die dort weitgehend übl. Funktionen des Text- u. Melodie-Autors sowie des Vortragenden. Der insg. sehr problematische u. irreführende Begriff »Minnesänger«, der im MA übrigens, im Gegensatz zu »Trobador«/»Trouvère«, kaum vorkommt u. erst seit dem 19. Jh. häufig verwendet wurde, kann auf ihn nicht (mehr) angewendet werden. O. war Angehöriger einer Südtiroler Landadelsfamilie u. hatte ein ereignisreiches, aber für seinen Stand nicht völlig ungewöhnl. Leben; gelegentlich hat er sich selbst als »Ritter« bezeichnet, wobei der Begriff in seinem Fall nicht den sozial niederen Einschild-Ritter meint, sondern allgemein den Stand des berittenen u. damit über die entsprechende Ausrüstung verfügenden Kriegers u. dessen Ideologie eines »miles Christianus«. O. gehört zu den adligen Autoren, die nicht – wie die zahlreichen Berufssänger – ihre Werke zur existentiellen Absicherung, als Lohnabhängige verfassten u. vortrugen. Er ist in fast 700 Urkunden unterschiedlicher Art historisch bezeugt, des Weiteren sind viele seiner Lieder autobiografisch oder enthalten zumindest autobiogr. Mitteilungen. Dennoch bietet die Rekonstruktion seiner Biografie eine grundsätzl. Schwierigkeit: Die Urkunden bezeugen fast ausschließlich seine Tätigkeiten in der Landes- u. Reichspolitik sowie seine Mitwirkung in eigenen u. fremden Rechtsangelegenheiten, zeigen also nur einen Ausschnitt; bei den Liedern hingegen ist zu berücksichtigen, dass sie – wie grundsätzlich alle autobiogr. Texte – erlebte Wirklichkeit jeweils entsprechend der poet. Tra-

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dition u. der einzelnen Funktion mehr oder minder stark stilisieren. Das bedeutet, dass beide Textsorten genau unterschieden werden müssen, da sie in ihrer Aussage sowohl einseitig als auch mehrdeutig sein können u. daher hinsichtlich der Biografie des Autors der Interpretation bedürfen. Allerdings muss betont werden, dass der derzeitige Forschungstrend, radikal zwischen lyrischem u. biogr. Ich zu trennen, insg. wohl ein Irrweg ist (Müller 2002): Von Sappho u. Catull über Walther u. O. bis hin zu Goethe u. in die unmittelbare Gegenwart liegt speziell in der Lyrik (aber keineswegs nur dort) stets eine Mischung von Autobiografischem u. poetisch Stilisiertem vor, wobei die Mischungsverhältnisse jeweils sehr verschieden sind; das lesende u. zuhörende Publikum, u. dies nachweislich auch im MA, neigte u. neigt aber zu einem autobiogr. Verständnis poetischer Texte. Leben u. Werk O.s wurden v. a. seit den 1960er Jahren intensiv untersucht; die Fachliteratur ist entsprechend umfangreich geworden u. präsentiert immer wieder auch kontroverse Meinungen. Das dichterische u. musikal. Werk ist durch Editionen, Faksimile-Ausgaben u. Übersetzungen gut erschlossen, doch besteht Bedarf an einer integrativen Gesamtausgabe von Texten u. Melodien. Die Lebenszeugnisse werden derzeit ediert u. sind mit einem hervorragenden Kommentar (von Ute Schwob) versehen. Neuere Gesamtdarstellungen gibt es von Jones (1973), Robertshaw (1977), Röll (1981), Joschko (1985), Baasch/Nürnberger (1986), Spicker (2007), Müller/Springeth (im Druck) sowie von Schwob (1977) eine O.-Biografie; neben zahlreichen Monografien u. Einzelbeiträgen ist auf einige Sammelbände (Kühebacher 1974, Mück/Müller 1978, Müller 1980) einschließlich der seit 1980/81 erscheinenden Jahrbücher der Oswald-vonWolkenstein-Gesellschaft hinzuweisen. Eine eindrucksvolle Synthese von Biografie, Interpretation, Sachbuch u. persönl. Annäherung gelang dem dt. Schriftsteller u. Germanisten Dieter Kühn (1977) mit einer für eine solche Thematik erstaunl. Gesamtauflage von bisher knapp 140.000 Exemplaren. O. wurde 1376/78 als zweiter Sohn des Südtiroler Landadligen Friedrich von Wol-

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kenstein u. seiner Ehefrau Katharina von Vilanders-Trostburg geboren, möglicherweise auf der Trostburg (Eisacktal) oder Burg Schöneck (Pustertal). Nur aus seinen Liedern lassen sich eine abenteuerreiche »Lehrzeit« als Knappe, zahlreiche Reisen u. erste militärische Dienste für König Rupprecht u. dessen Nachfolger König Sigmund erschließen. 1400 wird O. in einer Urkunde, 1403 als »Gotteshausmann« des Brixener Bischofs erwähnt. Für 1404 ist der misslungene Versuch der beiden jüngeren Brüder Wolkenstein überliefert, der Frau des ältesten Bruders u. Familienoberhauptes Michael Kleinodien zu rauben u. dadurch ihre finanzielle Lage als später Geborene aufzubessern, sowie überdies Michaels Ehefrau als Ehebrecherin zu verleumden; O. deutet dieses für ihn wenig ruhmvolle Ereignis, bei dem er von seinem Bruder Michael lebensgefährlich verletzt wurde, in einem seiner Lieder vielleicht an (Kl 23 II). Wie u. wann O.s rechtes Auge verletzt wurde, ist nicht bekannt, wohl nicht in jenem Zusammenhang. Nachdem die Habsburger ab 1363 als Herren von Tirol den Wittelsbachern gefolgt waren, erhielt Friedrich IV. 1406 Tirol u. die Vorlande als »Herzog in Tirol«, u. wie alle Landadligen befand sich auch O. in einem lebenslangen Intereressenskonflikt u. polit. Kampf mit seinem Landesherren, der zeitweise gefährl. Ausmaße annahm. Bei der Aufteilung des Familienvermögens 1407 erhielt O. u. a. ein Drittel der Burg Hauenstein u. erbte damit gleichzeitig einen schon älteren Besitzstreit mit Martin Jäger von Tisens u. dessen Ehefrau Barbara, der später dramat. Formen annehmen sollte. In diesen Streit war auch Anna Hausmann, Tochter des verstorbenen Hans Hausmann, bischöfl. Schulmeister u. zeitweilig Bürgermeister in Brixen, verwickelt. 1409 urkundlich erwähnt, war sie nach Aussagen O.s seine Geliebte, die dann später (1421) bei seiner Gefangennahme u. Folterung in dem Besitzstreit beteiligt war; in der Wolkenstein-Rezeption seit dem 19. Jh. spielte Anna Hausmann unter dem ihr fälschlicherweise durch Beda Weber (1850), dem ersten O.-Biografen, zugeordneten Namen »Sabina« lange Zeit als romant. Femme fatale eine wirkungsvolle u. oft behandelte

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Rolle. Um 1400 nahm O. möglicherweise an zwei Kriegszügen im Deutschordensland Preußen gegen die Litauer teil u. um 1410 an einer Pilgerreise nach Palästina. Zuerst im Dienst des Brixener Bischofs, dann König Sigmunds war O. 1415 beim großen Konzil von Konstanz (1414–1418) u. unternahm von dort im Auftrag des Königs eine längere diplomat. Reise auf die iber. Halbinsel u. nach Frankreich, möglicherweise über England u. Schottland. In Perpignan wurde er in den renommierten Greifen- bzw. Kannenorden von Aragon aufgenommen, u. wenig später wurde er von der frz. Königin in Paris ausgezeichnet; er berichtet auch (Kl 26, 12), dass er bei der portugies. Eroberung von Cëuta in Nordafrika (21.8.1415) beteiligt war (das heute noch eine iber. Enklave ist). Diese Tätigkeiten sind nicht aus Urkunden, sondern nur aus O.s Liedern bekannt; das Abzeichen des aragones. Ritterordens ist überdies auf den Abbildungen in den Hss. A u. B zu sehen. Die Auszeichnungen auf dieser Reise, die er möglicherweise auch als narrenhafte Groteske darstellt (Kl 18 III, Kl 19 XX, XXI, XXIV), hat er mehrfach als Höhepunkte seines Lebens erwähnt. Wohl 1417 heiratete O. Margarete von Schwangau (Kl 110, 10: »Stolze Swäbin«). Zur gleichen Zeit wurde er in den Streit zwischen dem König, dem Herzog u. dem Landadel hineingezogen. 1420 beteiligte er sich an den Kämpfen gegen die Hussiten. In Südtirol eskalierte der von ihm rücksichtslos geführte Streit um Hauenstein, in dessen Folge er 1421 von Martin Jäger u. dessen Verbündeten gefangen genommen, misshandelt u. schließlich an Herzog Friedrich IV. überstellt wurde. Der politisch brisante Streit endete 1427 mit einer erzwungenen vollständigen Unterwerfung O.s, doch hatte er noch lebenslang an den Folgen dieser Auseinandersetzung zu leiden. In seinen Gefangenschaftsliedern wird dies alles bedrückend thematisiert. Nach dem bereits 1425 erfolgten Friedensschluss zwischen König u. Herzog erlebte O. schwierige Jahre, in denen ihm auch Audienzen bei Sigmund u. eine große Reise zu den Femgerichten nach Westfalen (wo O. Freischöffe wurde) keine entscheidende Erleichterung brachten. Ab 1430 ist er mehrfach wieder im Dienst von

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Sigmund bezeugt (Nürnberg, Konstanz, Piacenza, Rom, Basel u. Ulm, teilweise auch in den Liedern erwähnt), der ihn in den elitären Drachenorden aufnahm. Doch konzentrierten sich O.s Tätigkeiten zunehmend auf Südtirol, wo er als angesehener Landherr u. jurist. Fachmann an Einfluss gewann. Nach dem Tod von Herzog Friedrich IV. 1439 (König Sigmund, seit 1433 Kaiser, war bereits 1437 verstorben) gehörte er zu den wichtigen Parteigängern von dessen Nachfolger, dem unmündigen Herzog Sigmund. Am 2.8.1445 starb O. in Meran im Beisein seiner Frau Margarete, die von Hauenstein zu ihm geeilt war, u. wurde in der Stiftskirche von Neustift bestattet, was er kurz vor seinem Tod noch mit dem Kloster, der traditionellen Begräbnisstätte seiner Familie, vertraglich fixiert hatte. 1973 wurde dort sein mutmaßliches u. später zerstörtes Grab wieder entdeckt, u. es begann die geradezu groteske »letzte Reise« O.s, bis er am 1.10.1988 in Neustift seine endgültig letzte Ruhe fand (Müller 2003). O. war, wie er selbst sagt, auf seinen Nachruhm sehr bedacht (Kl 117, 1–5). Er ließ seine Texte u. die dazugehörigen Melodien in zwei kostbaren u. sicherlich teuren Pergament-Handschriften sammeln: Handschrift A (heute in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Cod. Vind. 2777) wurde weitgehend 1425, die spätere Handschrift B (heute in der Universitätsbibliothek Innsbruck, ohne Signatur) weitgehend 1432 abgeschlossen, doch kamen jeweils Nachträge hinzu. Beide Handschriften enthalten auch Bilder des Autors, ein Vollbild (Hs. A) u. ein qualitativ herausragendes Porträt (Hs. B), das in Oberitalien im Umkreis von Pisanello entstand oder auch durch diesen selbst, der u. a. König Sigmund porträtierte; das O.Porträt von Hs. B, das auch die Abzeichen seiner beiden Ordensmitgliedschaften zeigt, ist das erste Individualporträt eines deutschsprachigen Autors. Nach O.s Tod entstand im Familienkreis eine Papierhandschrift (Hs. c, heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, FB 1950), die aber nur die Texte enthält. Eine nicht sehr umfangreiche Streuüberlieferung zeigt, dass O. mit einigen Liedern auch außerhalb seiner engeren Umgebung bekannt war. Es sind noch weitere

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Bild-Darstellungen von ihm überliefert, darunter der überlebensgroße Gedenkstein im Alten Friedhof am Dom in Brixen, der ihn als Kreuzfahrer abbildet. Eine sorgfältige Sammeltätigkeit bezeugen auch seine Urkunden, u. offenkundig wurde in der Familie der Wolkensteiner die Erinnerung an ihn ausdrücklich gepflegt. Einer allmählich immer breiter werdenden Öffentlichkeit wurde O. erst seit Mitte des 19. Jh. bekannt. Das überlieferte Werk O.s besteht aus zwei Reimpaargedichten (Kl 67 u. 112; dazu den kurzen Spruch Kl 133) sowie v. a. aus 130 Liedern, die alle für einen gesungenen Vortrag bestimmt waren. Für insg. 39 Lieder sind mehrstimmige Liedsätze überliefert. O. hat dafür des Öfteren damals populäre polyphone Sätze aus Frankreich u. Oberitalien übernommen u. sie neu textiert, also »kontrafaziert«; für mindestens 16 Lieder ließ sich dies bisher nachweisen. Er hat aber wohl auch ältere Formen der Mehrstimmigkeit verwendet. Nach dem Mönch von Salzburg ist O. der erste deutschsprachige Autor, von dem in größerer Anzahl mehrstimmige Lieder überliefert sind. Dabei ist zu beachten, dass mehrstimmige Liedsätze geistlicher u. weltl. Art in den roman. Ländern schon lange, etwa seit 1200, verbreitet waren, die moderne Polyfonie, die zu einem Spezifikum der europ. Musik werden sollte, aber im deutschsprachigen Raum erst spät rezipiert wurde; einfache Techniken wie das sog. »Übersingen« oder improvisierendes Umspielen einer Liedmelodie durch evtl. Begleitinstrumente wird es aber auch dort gegeben haben. Die Melodien der einstimmigen Lieder stammen wohl zum größten Teil von O. selbst, doch hat er einzelne Melodien auch mehrfach verwendet. Vom musikal. Stil u. vom Inhalt sind die Lieder sehr vielfältig, so als habe O. alles, was die damalige Tradition anbot, ausprobieren u. weiterentwickeln wollen. Inhalt u. Melodietyp stehen in vielen Fällen durchaus in Beziehung, u. der Vortrag wird dies noch verstärkt haben; doch sind es keine »Individuallieder« (so Stäblein 1970/72) im modernen Sinn. Die Melodien u. damit auch die Strophen sind sehr vielfältig, sie reichen von Gassenhauerähnlichem bis zu raffinierten mehrteiligen Großformen. Nur die lyr.

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Prunkform des Leichs, also eines sangbaren Werks aus unterschiedlich gebauten u. variierend wiederholten Strophen, hat er nicht aufgenommen; dessen letztes bekanntes Beispiel stammt vom Mönch von Salzburg. Das Publikum dürfte das seiner näheren Umgebung gewesen sein, was sich sowohl aus der relativ schmalen Streuüberlieferung als auch aus den reichhaltigen Anspielungen, ja Verschlüsselungen in den autobiogr. Liedern erschließen lässt; deutlich wird diese Besonderheit, wenn man O.s autobiografisch-polit. Lieder etwa mit denen des wenig später dichtenden Berufssängers Michel Beheim vergleicht (Müller 1974). O. kannte sich offenbar in der Lyrik-Tradition gut aus; es finden sich bei ihm Anspielungen auf Neidhart, Tanhuser, Frauenlob, Peter von Arberg u. den Mönch von Salzburg. Eine durchgehende Datierung der Werke O.s, also eine Chronologie, wie sie Salmen (1953) versucht hat, ist nicht möglich; zwar enthalten die Lieder mit autobiografischen oder histor. Inhalten oft durchaus verlässl. Hinweise für eine Datierung, aber der Großteil der Werke enthält keinerlei solche Indizien, u. stilist. Merkmale sind in dieser Hinsicht nicht brauchbar. Man muss die Lieder O.s vielmehr nach formalen oder nach inhaltl. Kriterien in Gruppen gliedern, wobei es häufig, wenn auch nicht immer, Beziehungen zwischen Inhalt, Strophenform u. damit Melodietyp gibt. Folgende inhaltl. Gruppen lassen sich unterscheiden, wobei die Zuordnung u. Abgrenzung unterschiedlich vorgenommen werden kann: 1. Liebeslieder, die von Klage- u. Werbeliedern der traditionellen »Hohen Minne« bis zu deutlich erotischen, teilweise höchst anzüglichen, ja früher als »obszön« geltenden Texten reichen, allerdings stets ausgezeichnet durch eine elegante Raffinesse. Eine bes. Gruppe stellen die Lieder an u. über O.s Verlobte u. Ehefrau Margarete von Schwangau dar, die mehrfach namentlich genannt oder direkt angesprochen wird; die Lieder zeigen Margarete, je nach Gattungstyp u. Wirkungsabsicht, nicht nur als Ziel von erot. Wünschen, sondern auch als familiären »Hausdrachen«, die ihre Kinder gegenüber dem erbosten Vater handgreiflich verteidigt

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(Kl 44). Eine eigene Gruppe bilden die kunstvoll-mehrsprachigen Lieder (Kl 69, Kl 119) sowie insbes. die zahlreichen Tagelieder, eine Variationsreihe über das speziell in der mhd. Liebeslyrik beliebte Thema der Trennung eines Paares nach einer heiml. Liebesnacht; als erzählende Liebeslieder damit verwandt ist die Untergattung der Pastourelle (Kl 76, Kl 83), die v. a. bei den Trouvères beliebt war. 2. Autobiografische Lieder, darunter v. a. Lieder, in denen Reiseerlebnisse u. die bedrängenden Erfahrungen u. Ängste seiner beiden Gefangenschaften thematisiert werden (»Reiselieder«, »Gefangenschaftslieder«). Auch hier ist die stilist. Spannbreite groß: Glanzpunkte der Reisen u. überhaupt die hohe Politik werden als Narreteien dargestellt (bes. Kl 18 III, Kl 19), die Gefangenschaften als Grund für Todesängste (insbes. Kl 1, Kl 2, Kl 6, Kl 7), Frauenschelte (Kl 3), Altersklage (Kl 4), ferner als Gegenstand eines sarkast. Bilderbogens (Kl 26) u. sogar eines misslungenen Fastnachtstanzes (Kl 60); zu nennen ist hier auch das erste erhaltene »moderne« Naturgedicht deutscher Sprache (Kl 116), in dem der Frühling nicht mit dem traditionellen stilisierten Naturbild gezeigt wird, sondern ganz ausdrücklich die Frühlingslandschaft Südtirols zwischen Seiser Alm u. dem Eisacktal zur Zeit der Schneeschmelze vorgeführt wird, gesehen von O.s Burg Hauenstein am Bergmassiv des Schlern. 3. Lieder mit ganz unterschiedlichem geistl. bzw. religiösem Inhalt, die vom Tischgebet (Kl 14 u. 15) über Marienlieder, teilweise aus dem Lateinischen übersetzt, bis zum allg. Sündenbekenntnis u. Beichtspiegel (Kl 39) reichen, u. zu denen man auch einen Teil der »Gefangenschaftslieder« rechnen kann. 4. Lieder, die grundsätzliche u. allg. Probleme der richtigen u./oder falschen Lebensführung zum Thema haben. Dazu kommen kleinere, aber deutlich ausgeprägte Textgruppen, etwa 5. Trinklieder, 6. ein Text mit ausgesprochen lehrhaftem juristischem Inhalt (Kl 112) u. 7. zwei virtuose Kunststücke, in denen der Heiligenkalender in Form des im MA immer wieder anzutreffenden »Cisioianus« in ein Lied (Kl 28) u. einen gesprochenen Reimpaartext (Kl 67) »verreimt« wird. Auch formal sind die Lieder von einer großen Vielfalt: O.

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verwendete Strophenformen der unterschiedlichsten Art u. Länge, teilweise mit virtuoser Reimtechnik. Und da die Metrik die musikal. Strukturen widerspiegelt, zeigen, wie erwähnt, auch die Melodietypen unterschiedlichste Formen von erstaunl. Vielfalt. Der sprachl. Ausdruck zeichnet sich durch große u. kraftvolle Anschaulichkeit aus, die noch heute wirksam ist. Eine bes. Vorliebe O.s galt raffinierten u. hintergründigen Wort- u. Sprachspielen. Sprachgeschichtlich stehen die Texte im Grenzbereich von Spätmittelhochdeutsch u. Frühneuhochdeutsch; die damit zusammenhängende u. oft wiederholte stilist. Positionierung O.s auf der Grenze zwischen MA u. Renaissance ist allzu plakativ u. muss eigentlich für jedes der Werke neu bestimmt werden. Trotz eines ungewöhnlich umfangreichen Wortschatzes, teilweise mit Wörtern aus fremden Sprachen sowie offenbar auch aus seinem heimischen Dialekt, sind sie grosso modo von anschaul. Verständlichkeit, bereiten allerdings bei dem Versuch einer genauen Übersetzung oft beträchtl. Schwierigkeiten. Die moderne Rezeption seit den 1960er Jahren zeigt, dass O. noch heute zu faszinieren weiß (dazu Mück 1978 u. Müller in Müller/Springeth 2010): Dies bezeugen zum einen Lyriker wie Paul Wiens, Günter Eich, H.C. Artmann, Norbert C. Kaser oder Thomas Kling sowie Roman-Autoren wie Hubert Mumelter (Zwei ohne Gnade, 1931, zuletzt 1976) u. Anita Pichler (Wie die Monate das Jahr, 1989), zum anderen die beiden WolkensteinOpern von Cesar Bresgen (Der Wolkensteiner, 1952; Neufassung: Visio Amantis. Der Wolkensteiner, 1962) u. Wilfried Hiller/Felix Mitterer (Wolkenstein. Eine Lebensballade, 2004). Besondere Anzeichen dafür sind der bereits erwähnte ungewöhnl. Erfolg des WolkensteinBuches von Kühn (1977), ferner die zahlreichen MA-Konzerte sowie LPs u. CDs mit Liedern O.s – insg. ist er sicherlich derjenige »weltliche« Liederdichter des gesamten europ. MA, der die größte Zahl von modernen »Solo-Alben« aufzuweisen hat. Bei diesen Aufführungen u. Einspielungen ist allerdings zu beachten, dass die mittelalterl. Melodieüberlieferung keine Angaben zu Tempo, Ausdruck, Stimmlage oder der Art eventuel-

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ler Instrumentalbegleitung enthält u. bei den einstimmigen Liedern auch keine genauen Hinweise zum Rhythmus: Daher ist die Bandbreite der modernen Aufführungen sehr groß, von »ausgesprochen schön« bis hin zu »spielmännisch-wild«, bei den Männerstimmen vom gepflegten Countertenor (Altus) bis zum expressiven Bariton; vieles war damals u. ist noch heute der Improvisation u. Individualität des/der Vortragenden überlassen, u. auch moderne Hörgewohnheiten spielen hier, das ist unvermeidlich, eine große Rolle. Faksimiles und Ausgaben: Faksimiles: Abb.en zur Überlieferung I: Die Innsbrucker WolkensteinHs. B. Hg. Hans Moser u. Ulrich Müller. Göpp. 1972. – Abb.en zur Überlieferung II: Die Innsbrucker Wolkenstein-Hs. c. Hg. H. Moser, U. Müller u. Franz Viktor Spechtler. Mit einem Anhang zum ›Wolfenbütteler Porträt‹ u. zur Todesnachricht O.s v. Hans-Dieter Mück. Göpp. 1973. – Hs. A. In Abb. hg. v. U. Müller u. F. V. Spechtler. Privatdr. Stgt. 1974. – Hs. A. Vollst. Faks.-Ausg. im Originalformat des Codex Vindobonensis 2777 der Österr. Nationalbibl. Komm. v. Francesco Delbono. Graz 1977. – Abb.en zur Überlieferung IV: Die Streuüberlieferung. Hg. H.-D. Mück. Göpp. 1977. – Liederhs. B. Farbmikrofiche-Ed. der Hs. Innsbruck, Universitätsbibl., o. Sign. Einf. u. kodikolog. Beschreibung v. Walter Neuhauser. Mchn. 1987. – Hs. B: Internet: www.literature.at (nur mäßige Qualität!). – Editionen: Geistl. u. weltl. Lieder. Ein- u. mehrstimmig. Bearb. v. Josef Schatz (Text) u. Oswald Koller (Musik). Wien 1902. Nachdr. Graz 1959. – Die Gedichte O.s v. W. Hg. J. Schatz. 2., verb. Ausg. des in den Publikationen der Gesellsch. zur Herausgabe der Denkmäler der Tonkunst in Österreich veröffentlichten Textes. Gött. 1904. – Die Lieder O.s v. W. Unter Mitwirkung v. Walter Weiss u. Notburga Wolf hg. v. Karl Kurt Klein. Musikanhang v. Walter Salmen. Tüb. 1962. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. v. H. Moser, Norbert Richard Wolf u. N. Wolf. Tüb. 1987; danach hier zitiert: Kl. – Die Lieder mhd.-dt. In Text u. Melodien neu übertragen u. komm. v. Klaus J. Schönmetzler. Mchn. 1979. – H.-D. Mück: Untersuchungen zur Überlieferung u. Rezeption spätmittelalterl. Lieder u. Spruchgedichte im 15. u. 16. Jh.: Die ›Streuüberlieferung‹ v. Liedern u. Reimpaarrede O.s v. W. Bd. II: Synopt. Ed. Göpp. 1980 (dazu Bd. I: Untersuchungen, 1980). – Ivana Pelnar (Hg.): Die mehrstimmigen Lieder O.s v. W. Ed. Tutzing 1981 (dazu Textbd., 1981). – Die Lebenszeugnisse O.s v. W. Ed. u. Komm. Bd. 1–3: 1382–1437. Hg. Anton Schwob unter Mitarb. v. Karin Kranich-Hofbauer u.

23 Brigitte Spreitzer, komm. v. Ute Monika Schwob. Wien u. a. 1999–2004 (weitere Bände in Vorb.). – Elke Maria Loenertz: Text u. Musik bei O. v. W. Ed. u. Interpr. der 40 einstimmigen, einfach textierten Lieder in Fassung der Hs. B. Ffm. u. a. 2003. Übersetzungen: Sämtl. Lieder u. Gedichte. Ins Neuhochdeutsche übers. v. Wernfried Hofmeister. Göpp. 1989. – Sämtl. Gedichte. Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen v. Franz Viktor Spechtler. Klagenf./Celovec 2007. – Gerhard Ruiss: ›Und wenn ich nun noch länger schwieg’‹. Lieder. Nachdichtungen 1. Mit den Originaltexten im Anhang. Wien/Bozen 2007. – Ders.: Herz, dein Verlangen. Lieder. Nachdichtungen II. Mit den Originaltexten im Anhang. Wien/Bozen 2008. – The Poems of O. v. W. An English Translation of the Complete Works (1376/77–1445). Bearb. v. Albrecht Classen. Basingstoke u. a. 2008. – G. Ruiss: ›So sie mir pfiff zum Katzenlohn‹. Lieder. Nachdichtungen III. Wien u. a. 2010. – Editionen und Übersetzungen ausgewählter Gedichte: ›um dieser welten lust‹. Leib- u. Lebenslieder des O. v. W. Aus dem Altdeutschen übertragen u. hg. v. Hubert Witt. Lpz. 1968. – Frölich geschray so well wir machen. Melodien u. Texte ausgew., übertragen u. erprobt v. Johannes Heimrath u. Michael Korth. Erl. v. Ulrich Müller u. Lambertus Okken. Mchn. 1975. Wieder u. d. T.: Lieder aus dem MA. Texte u. Noten. Ffm. 1979. – O. v. W.-Liederbuch. Eine Ausw. v. Melodien. Hg. Hans Ganser u. Rainer Herpichböhm. Göpp. 1978. – H. Witt: Leib- u. Lebenslieder. Aus dem Altdeutschen ausgew. u. übertragen. Neu durchges. Lpz. 1982. – Lyrik des späten MA. Hg. Burghart Wachinger. Ffm. 2006. – Lieder. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgew. Texte hg., übers. u. komm. v. B. Wachinger. Melodien u. Tonsätze hg. u. komm. v. Horst Brunner. Stgt. 2007 (zur Einf. bes. geeignet). – Eine ital. Übers. ausgew. Lieder ist in Vorb. (v. Patrizia Mazzadi). Literatur: Vollständige Bibliografie: Ulrich Müller u. Margarethe Springeth: O. v. W. Leben – Werk – Rezeption (in Vorb.). – Sammelbände: O. v. W. Beiträge der philologisch-musikwiss. Tagung in Neustift bei Brixen 1973. Hg. Egon Kühebacher. Innsbr. 1974. – Ges. Vorträge der 600-Jahrfeier O.s v. W. Seis am Schlern 1977. – ›Dem Edeln unserm sunderlieben getrewn Hern Oswaltten v. Wolkchenstein‹. Hg. Hans-Dieter Mück u. U. Müller. Göpp. 1978. – O. v. W. Hg. U. Müller. Darmst. 1980. – JOWG, Bd. 1–6 (1980–1990/91) hg. v. H.-D. Mück u. U. Müller, seit Bd. 7 (1992/93) v. Sieglinde Hartmann u. U. Müller. Marbach/N. (seit 2009: Wiesb.). – Müller/Springeth (in Vorb.), s. o. – Monografien und Beiträge: Walter Salmen: Werdegang u.

Oswald von Wolkenstein Lebensfülle des O. v. W. In: Musica Disciplina (1953), S. 147–173. – Norbert Mayr: Die Reiselieder u. Reisen O.s v. W. Innsbr. 1961. – U. Müller: ›Dichtung‹ u. ›Wahrheit‹ in den Liedern O.s v. W.: Die autobiogr. Lieder v. den Reisen. Göpp. 1968. – Bruno Stäblein: O. v. W., der Schöpfer des Individualliedes. In: DVjs 46 (1972), S. 113–160. – Erika Timm: Die Überlieferung der Lieder O.s v. W. Lübeck/Hbg. 1972. – George F. Jones: O. v. W. New York 1973. – Ders., H.-D. Mück u. U. Müller: Verskonkordanz zu den Liedern O.s v. W. (Hss. B u. A). 2 Bde., Göpp. 1973. – U. Müller: Beobachtungen über den Zusammenhang v. Stand, Werk, Publikum u. Überlieferung mhd. Lyriker: O. v. W. u. Michel Beheim – ein Vergleich. In: Sammelbd. Neustift 1974, S. 167–181. – Wolfgang Kersken: ›Genner beschnaid‹. Die Kalendergedichte u. der Neumondkalender des O. v. W. Überlieferung – Text – Deutung. Göpp. 1975. – Dieter Kühn: Ich Wolkenstein. Eine Biogr. Ffm. 1977 u. ö. Erw. Ausg. Ffm. 1980. 91993. Überarb. (u. leicht gekürzte) Ausg. Ffm. 1996 u. ö. – Alan Robertshaw: O. v. W.: The Myth and the Man. Göpp. 1977. – Anton Schwob: O. v. W. Eine Biogr. Bozen 1977 u. ö. – H.D. Mück: O. v. W. zwischen Verehrung u. Vermarktung. Formen der Rezeption 1835–1976. Mit einem Anhang: Dokumentation des WolkensteinJahres 1977. In: Sammelbd. O. v. W. 1978, S. 483–540. – S. Hartmann: Altersdichtung u. Selbstdarstellung bei O. v. W. Die Lieder Kl 1 bis 7 im spätmittelalterl. Kontext. Göpp. 1980. – H.-D. Mück u. Lambertus Okken: Die satir. Lieder O.s v. W. wider die Bauern. Untersuchungen zum Wortschatz u. zur literarhistor. Einordnung. Göpp. 1981. – Walter Röll: O. v. W. Darmst. 1981. – Günther Schweikle: Zur literarhistor. Stellung O.s v. W. In: JOWG 2 (1982/83), S. 193–217. – Hans Pörnbacher: Margareta v. Schwangau. Herrn O.s v. W. Gemahlin. Weißenhorn 1983. – Dirk Joschko: O. v. W. Eine Monogr. zu Person, Werk u. Forschungsgesch. Göpp. 1985. – Burghart Wachinger: O. v. W. In: VL. – Karen Baasch u. Helmuth Nürnberger: O. v. W. Mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1986. – Lorenz Welker: Mehrstimmige Sätze bei O. v. W.: Eine komm. Übersicht. In: JOWG 6 (1990/91), S. 255–266. – G. Schweikle: Prämissen der Textkritik u. Editionsmethode der Lachmann-Schule überprüft an der Lyrik O.s v. W. In: Methoden u. Probleme der Ed. mittelalterl. dt. Texte. Bamberger Fachtagung 1991. Plenumsreferate. Hg. Rolf Bergmann u. a. Tüb. 1993, S. 120–136. – Werner Marold: Komm. zu den Liedern O.s v. W. Bearb. u. hg. v. A. Robertshaw. Innsbr. 1995. – U. Müller: Die letzte Reise O.s, oder: Das zweimalige Begräbnis des Wolkensteiners. In: Erkundung u. Beschreibung der Welt: Zur

Oswald Poetik der Reise- u. Länderber.e. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums 2000 an der JustusLiebig-Univ. Gießen. Hg. Xenja v. Erzdorff u. Gerhart Giesemann u. a. Amsterd. u. a. 2003, S. 163–183. – Ders.: Minnesang – eine mittelalterl. Form der Erlebnislyrik. Essai zur Interpr. mittelalterl. Liebeslyrik. In: Literar. Leben: Rollentwürfe in der Lit. des Hoch- u. SpätMA. FS Volker Mertens. Hg. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer. Tüb. 2002, S. 597–617. – Fritz Peter Knapp: Zeman Gesch., Bd. 2/2: Die Lit. des SpätMA in Österr. Graz 2004, S. 551–572. – Johannes Spicker: O. v. W.: Die Lieder. Bln. 2007. – Sigrid Rachonig: ›Wir tun kund und lassen dich wissen‹. Briefe, Urkunden u. Akten als spätmittelalterl. Grundformen schriftl. Kommunikation, dagestellt anhand der Lebenszeugnisse O.s v. W. Ffm. u. a. 2009. – Gustav Pfeifer u. Kurt Andermann (Hg.): Die Wolkensteiner. Facetten des Tiroler Adels im SpätMA. Innsbr. 2009. – Einspielungen: siehe u. a. Helmut Lomnitzer in: Sammelbd. (Hg. Müller, 1980), s. o.; Martin J. Schubert in: Müller/Springeth (in Vorb.), s. o. (mit ausführl. Diskografie). Ulrich Müller

Oswald, Georg M. (Martin), * 5.8.1963 München. – Erzähler, Romanautor.

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ten Lebens an die Seite gestellt. Die Medien Fernsehen u. Internet werden literarisch problematisiert u. parodiert. Party Boy. Eine Karriere (Mchn. 1998) besteht zur Hälfte aus Internetberichten über den Mörder des Modedesigners Gianni Versace, die von zwei Journalisten-Stimmen medien- u. fiktionskritisch kommentiert werden. Am breitesten wurde O.s in mehrere Sprachen übersetzter Roman Alles was zählt (Mchn./Wien 2000) rezipiert. Der Identitätsverlust eines Bankangestellten, dessen aufstrebende Karriere an wirtschaftlichen u. beruflichen Ansprüchen scheitert u. in einer skurrilen Kleinkriminellenszene endet, bildet eine zuweilen entlarvende Antwort auf die Oberflächenästhetik der Popliteratur einerseits u. die New Economy der 1990er Jahre andererseits. Der teils schlichten Sprache stehen experimentelle Anverwandlungen des juristisch-konjunktivischen Protokollstils (Lichtenbergs Fall) oder des popliterarisch geprägten, präsentischen Erzählens (Alles was zählt) gegenüber. Weiteres Werk: Im Himmel. Reinb. 2003 (R.). Literatur: Wieland Freund: G. M. O. In: LGL. – Christian Kremer: Milieu u. Performativität. Dt. Gegenwartsprosa v. John von Düffel, G. M. O. u. Kathrin Röggla. Marburg 2008.

O. wuchs im katholisch u. konservativ geprägten Weßling in Oberbayern auf. Nach einem Jurastudium (1985–1990) u. dem folgenden Referendariat ließ sich O. in MünMatthias Schaffrick chen als Rechtsanwalt für Arbeits- u. Gesellschaftsrecht nieder. Otfrid von Weißenburg, * um 800, † um 1993 erhielt er das Literaturstipendium der 870 Weißenburg (Wissembourg)/NordelStadt München, aus dessen Förderung sein sass. – Mönch, Lehrer, Theologe; Verfaserster u. bislang einziger Band mit Erzähser eines althochdeutschen Bibelepos. lungen, Das Loch. Neun Romane aus der Nachbarschaft (Mchn. 1995), hervorging. Die O. gehört zu den wenigen ahd. Autoren, deKombination von Literatur u. Recht kommt ren Namen überliefert sind. Auch sein Leben in den Themen, Milieus u. der Sprache der ist, zumindest in Umrissen, rekonstruierbar, Romane Lichtenbergs Fall (Mchn. 1997) u. Vom hauptsächlich aufgrund der vier WidmunGeist der Gesetze (Reinb. 2007) bes. zum Aus- gen, die er seinem Liber evangeliorum / Evangedruck. O.s mit verschiedenen Auszeichnun- lienbuch (Eb.) beigegeben hat: an König Ludgen gewürdigte satir. Medien- u. Gesell- wig den Deutschen, Erzbischof Liutbert von schaftskritik thematisiert polit. Skandale u. Mainz, Bischof Salomo I. von Konstanz u. die wirtschaftl. Korruption, Wellness- u. Life- St. Galler Mönche Hartmut u. Werinbert. style-Mentalität sowie den Leistungsdruck Weitere Hinweise geben karoling. Codices der profitorientierten, kapitalist. Gesell- aus Weißenburg: Nachdem es gelungen ist, schaft, in der Figuren zumeist als stereotype in acht oder neun von ihnen O.s Hand zu Repräsentanten ihres Berufs oder ihres Mi- identifizieren (Kleiber), lassen sich aus den lieus auftreten. Der aktuellen Diagnose des von ihm geschriebenen Texten seine TätigSozialen werden in iron. Brechung die Desil- keit als Grammatiklehrer, Leiter des Skriplusionierungen der Arbeitswelt u. des priva- toriums u. der Bibliothek sowie Umfang u.

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Zielsetzung seiner theolog. Arbeit näher bestimmen. Lebenszeugnisse sind auch zwei Weißenburger Urkunden von O.s Hand, eine davon datiert (851). O. dürfte um 807 als »puer oblatus« in das Weißenburger Kloster aufgenommen worden sein, hat dort offenbar eine gründl. Ausbildung erhalten u. wurde vermutlich um 830 zum Priester geweiht. Gute Gründe sprechen dafür, dass sich daran der vom Autor (»Ad Liutbertum«) erwähnte Studienaufenthalt in Fulda anschloss. Dort war er Schüler des Hrabanus Maurus. Möglicherweise war O. nach Abschluss seiner Studien in der Hofkapelle Ludwigs des Deutschen tätig, bevor er nach Weißenburg zurückkehrte (Haubrichs). O.s Abt Grimald, der engste Vertraute u. spätere Erzkanzler Ludwigs, könnte dem König das vielversprechende Mitgl. seines Konvents empfohlen haben. Eine zeitweilige Tatigkeit in der »Capella regis« würde sowohl den Ton warmer Hochschätzung erklären, der in der Ludwigs-Widmung durch die traditionelle Preistopik durchschlägt, als auch die rhetorisch-diplomat. Gewandtheit, mit der in dieser Zuschrift u. in Kap. I,1 des Eb. Ludwigs Politik unterstützt wird. Am Hof könnte er auch die Bekanntschaft Salomos I. von Konstanz gemacht haben, dem er im Widmungsschreiben als seinem weisen u. gütigen Lehrer dankt. Denkbar wäre ferner, dass O. nach Weißenburg zurückging, als Grimald 847 wieder die Leitung der Abtei übernahm, die er 838 einem Parteigänger des Westfranken Lothar hatte überlassen müssen. Jedenfalls ist O. seit 847 wieder in Weißenburg nachweisbar, wo er in den 850er u. 860er Jahren rege Tätigkeit entfaltete. Unter seiner Leitung wurden fähige Schreiber herangebildet, die – mit ihm zusammen – die Klosterbibliothek bedeutend erweiterten. Ferner wirkte er als Grammatiklehrer: In eine von ihm u. einem Schüler geschriebene Handschrift des lat. Grammatikers Priscian trug er selbst mehrere tausend lat. u. an die 160 ahd. Worterklärungen ein. Sein Hauptarbeitsgebiet war jedoch die Theologie, worunter man im 9. Jh. v. a. die allegor. Bibelerklärung auf der Basis der älteren u. der zeitgenöss. Kommentarliteratur verstand. Mit deren Hauptwerken u. der anzuwendenden

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Exzerpierungsmethode in Fulda vertraut gemacht, nahm O. in Weißenburg eine durchgehende Kommentierung der gesamten Hl. Schrift in Angriff. Noch heute sind als Autografe O.s fünf Codices mit den Kommentaren zu Jesaia, Jeremia, 12 Propheten, Evangelien, Apostelgeschichte bis Offenbarung erhalten. Bes. reich kommentiert sind die vier Evangelien, wo O. für Johannes v. a. Ercanbert von Fulda u. Alkuin, für Markus u. Lukas hauptsächlich Beda folgte, während er für Matthäus mehr als ein halbes Dutzend Vorlagen verarbeitete. Im Bezugsfeld seiner Bemühungen um ein vertieftes Bibelverständnis ist auch O.s dt. Evangeliendichtung zu sehen, die seinen Ruhm bis heute ausmacht. Wann er mit der Arbeit am Eb. begonnen hat, ist nicht genau zu bestimmen, doch machen allein Umfang u. Schwierigkeit des Unternehmens eine längere Entstehungszeit wahrscheinlich. Veränderungen in Sprachstil u. Verstechnik bestätigen diese Annahme. Die Fertigstellung muss zwischen 863 (Liutberts Inthronisation) u. 871 (Salomos Tod) erfolgt sein. Die in der Ludwigs-Widmung sich spiegelnde polit. Situation spricht fur einen Abschluss des Werks in den Jahren 867/68. Der als Prachthandschrift angelegte älteste Textzeuge wurde noch unter O.s Aufsicht geschrieben u. vom Autor selbst sorgfältig durchkorrigiert. In dem wenig jüngeren, ebenfalls aus Weißenburg stammenden Heidelberger Codex P lässt sich O.s Hand dagegen nicht mehr nachweisen – vermutlich, weil der Autor inzwischen verstorben war. O.s Eb. ist eine sog. »Evangelienharmonie«, d.h. ein aus den vier Evangelien kompiliertes, chronologisch geordnetes Leben Jesu wie das von dem syr. Kirchenschriftsteller Tatian im 2. Jh. geschaffene Diatessaron, dessen lat. Version in Fulda unter Hraban ins Deutsche übersetzt worden war, u. der dem Tatian verpflichtete Heliand. Ähnlich dem Heliand bietet das Eb. jedoch mehr als eine verkürzende Wiedergabe der bibl. Texte. Über die schon mit der Auswahl gegebenen Akzentsetzungen hinaus hebt O. ihm wichtig Erscheinendes bes. hervor, sei es durch formale Auszeichnung (z.B. den Einsatz des Stabreims bei der Schilderung des Verkündi-

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gungsengels), sei es durch sachl. Erweiterungen, wie z.B. psycholog. Überlegungen zur Figur des Petrus in Gethsemane. Manche, das Gefühl bes. ansprechende Passagen können dabei bis zu »Andachtsbildern« (Haubrichs) gesteigert werden, wie etwa die Schilderung der Gottesmutter mit ihrem neugeborenen Kind. Außerdem weicht O. auch darin von den Evangelien ab, dass er den dort wiedergegebenen Zeitraum von Christi Erdenleben in eine heilsgeschichtl. Gesamtperspektive stellt: Er beginnt seine Erzählung mit der Erwähnung der fünf Weltalter, die der Erlösung vorausgingen, u. endet mit der Schilderung der ewigen Seligkeit u. der ewigen Verdammnis. Vor allem aber unterscheidet sich O.s Eb. von der bibl. Vorlage – u. von den beiden anderen dt. Leben-Jesu-Darstellungen des 9. Jh., Tatian u. Heliand – dadurch, dass die Ereignisse nicht nur berichtet, sondern auch gedeutet werden. Durch Zusätze in den erzählenden Partien u. eigene, meist mystice oder spiritaliter überschriebene Deutungskapitel sucht O. den Hörer/Leser in das geistl. Schriftverständnis einzuführen. O. gliedert seinen Stoff in fünf Bücher: Von Christi Geburt bis zur Taufe (I) – Berufung der Jünger u. Beginn der Lehrtätigkeit (II) – Wunder u. Gleichnisse (III) – Passion (IV) – Auferstehung u. Jüngstes Gericht (V). Jedes Buch wird durch Einleitungs- bzw. Schlussabschnitte (oft in Gebetsform) abgerundet. Beginn u. Abschluss des Gesamtwerks nehmen durch ihren Publikumsbezug eine Sonderstellung ein: In I,1 möchte O. die Hörer gewinnen, indem er den Ruhm der Franken verkündet u. zgl. auf die Vergrößerung dieses Ruhms durch das angekündigte Werk hinweist; das Schlussgebet (V,24) sucht mögl. Einwänden gegen das Eb. zu begegnen u. Kritiker abzuwehren. Das Streben nach Ausgewogenheit u. Überschaubarkeit bestimmt auch die Gliederung der einzelnen Bücher. Diese sind in Kapitel unterteilt, die durchnummeriert u. mit lat. Überschriften versehen sind; sie verweisen in der Regel durch Anzitieren der entsprechenden Evangelienstelle auf die bibl. Grundlage des Textes. Die Kapitel bestehen aus Strophen zu je zwei Langzeilen mit einer Initiale am Strophenbeginn. Innerhalb der Kapitel können meh-

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rere Strophen zu Gruppen zusammengefasst werden, deren Beginn durch Strophengruppeninitialen (Kleiber) markiert wird. In dem von O. autorisierten Exemplar des Eb. wird der eigentl. Text »gerahmt« von den hierarchisch angeordneten Widmungen: Vor dem Text stehen die Dedikationen an König, Erzbischof, Bischof; auf das Schlussgebet folgt die Widmung an die Mitbrüder. Alle Dedikationen nehmen auf das Werk Bezug, bes. ausführlich der Liutbert-Brief, wo O. über Grenzen u. Möglichkeiten der Muttersprache im Verhältnis zu den literar. Leistungen der Griechen u. Römer reflektiert. Die Widmungen, die programmat. Äußerungen u. die Kritikerabwehr zeigen, dass O. sich nicht – wie der Heliand-Dichter – in der Rolle des anonymen, von Gott berufenen »vates«-»Sehers« sieht, sondern sich als einen in der lat. Schriftkultur beheimateten Autor versteht, der ein bestimmtes Konzept entwirft u. durchführt. Das Konzept des Eb. bestand darin, geistlich-theologisch ausgerichtete, »schöne« Literatur in fränk. Sprache zu schaffen. Geistliche, d.h. religiös-seelsorgerl. Intentionen sind nach O.s eigener Aussage die wichtigste Motivation u. Rechtfertigung für sein Schreiben: Wenn die Menschen Gottes Wort in ihrer eigenen Sprache vernehmen, werden sie tiefer durchdrungen werden von der »Süße der evangelischen Botschaft« (»dulcedine evangeliorum« [Liutbertbrief]). Die dichterische Form diente dabei auch dem Ziel, die geistl. Botschaft denjenigen nahezubringen, die sich bislang an den »obsceni cantus laicorum« (»unzüchtigen Gesängen der Laien« [Liutbertbrief]) ergötzt hatten. Gleichzeitig setzt O. jedoch auch ein bestimmtes Maß an gelehrt-theolog. Schriftverständnis voraus. So führte er in seine Dichtung die Schriftallegorese ein, jene Deutungsform also, die zu seiner Zeit als der Gipfel theolog. Bildung galt u. deren Anwendung in der Predigt den Bischöfen vorbehalten war. Hinter der Übernahme der v. a. in den großen patrist. Kommentarwerken eines Ambrosius, Augustinus u. Gregor des Großen durchgeführten allegor. Bibelerklärung wird aber auch der zweite Programmpunkt der O.’schen Konzeption sichtbar: die ange-

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strebte Literarizität in der Tradition der Antike. Sie manifestiert sich in der Verwendung von Quellenschriften ebenso wie in dem schon erwähnten bewussten Heraustreten aus der Anonymität u. dem Nachdenken über das eigene Tun. Sie zeigt sich auch in einer veränderten Sprache: Formelhaftigkeit u. überschaubare syntakt. Einheiten mündl. Dichtung werden ersetzt durch das Bemühen um präzisen Ausdruck u. vers-, ja strophenübergreifende Satz- u. Gedankenbögen, die sich an der Differenziertheit der lat. Syntax orientieren. Ebenso wandelt sich die Erzählhaltung. An die Stelle der Konzentration auf den Augenblick der Entscheidung tritt die (heils)geschichtl. Gesamtperspektive. Die Realisation eines solchen Programms in fränk. Sprache war kein leichtes Unterfangen. O. beklagt im Liutbert-Brief das Fehlen einer geregelten Orthografie ebenso wie das einer systemat. Grammatik, zeigt dabei jedoch trotz der grundsätzl. Orientierung am Lateinischen ein feines Gespür für die Eigengesetzlichkeit der Muttersprache. Er sieht im Fränkischen alle Anlagen für eine positive Entwicklung vorhanden, doch seien die Franken bisher an der Kultivierung ihrer Sprache nicht interessiert. Wenn er feststellt: Sie »überliefern nicht, wie viele andere Völker, die Geschichte der eigenen Vorfahren der Nachwelt, u. sie verherrlichen auch nicht deren Taten u. Leben in liebevoller Bewunderung ihres verdienten Ruhms«, macht dies ein weiteres Mal deutlich, dass ernstzunehmende dichterische Leistung für O. nur in schriftliterar. Kulturtradition denkbar war. Sein eigenes Werk – zu verstehen als Fortführung des anspruchsvollsten literar. Genus der Antike, des Heldenepos – sollte wenigstens teilweise diese Lücke schließen. Es berichtete zwar von den hl. Taten Christi, diente damit aber doch nach O.s Auffassung indirekt auch der Verherrlichung des fränk. Volkes, das sich im Glauben an Christus angeschlossen u. dadurch geistig-sittlich sich weit über Griechen u. Römer erhoben hatte. Zgl. eröffnete sich durch ein Leben nach dem Evangelium den Franken die Möglichkeit zu religiös-eth. »Heldentaten« – so wie die dichterische Vergegenwärtigung des Erlöserlebens »in frenkisga zungun« O. gleichzeitig zum

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Sänger fränk. Vortrefflichkeit u. fränk. Berufung machte. Adaption des lat. Vorgegebenen an die Möglichkeiten der Volkssprache u. eines volkssprachigen Publikums kennzeichnet auch O.s Methode. Sie wird deutlich in der Art der Quellennutzung. Der Typ »Evangelienharmonie« setzt den Tatian voraus, die epische Gestaltung die lat. Bibelepik, insbes. Juvencus’ Libri evangeliorum; in Auswahl u. Abfolge der Erzählabschnitte schimmert die Perikopenordnung der Liturgie durch – aber alle »Quellen« werden O.s Intentionen eingepasst. Er entnimmt ihnen, was ihm für sein Zielpublikum wichtig u. nützlich zu sein scheint. Gleiches gilt für die exeget. Quellen. Die intensive Bemühung früherer Forschung, die Quelle für O.s Schrifterklärung zu finden, musste scheitern, weil es eine solche nicht gibt. Vielmehr haben exemplarische Untersuchungen (Hellgardt) deutlich gemacht, dass O. im Eb. nicht einmal auf sein eigenes Werk, den lat. Katenenkommentar im Cod. 26 Weiss., zurückgriff, sondern eine neue, den Bedürfnissen laikaler Hörer angemessene Auswahl aus der lat. Kommentarliteratur traf. Aus einem Prozess der Anverwandlung entstand auch die bedeutendste formale Neuerung des Eb., der O.-Vers. Anders als im german. Stabreimvers, den noch der Heliand verwendete, reimen in der O.’schen Langzeile die beiden Enden von An- u. Abvers; beide Vershälften sind gleichförmig gebaut, im Prinzip vierhebig u. alternierend, sodass die Zeile zum gereimten Kurzverspaar tendiert. Neuere Forschungen (Patzlaff, Ernst) haben nachgewiesen, dass diese Versform aus der ambrosian. Hymnenstrophe irisch-angelsächs. Prägung (gereimte Vierheber) hervorgegangen ist. Ob O. sie als Erster in dt. Sprache gebraucht hat, ist umstritten – ungeklärt ist v. a. das zeitl. Verhältnis zwischen Eb. u. dem formal verwandten Petruslied. Sicher jedoch ist, dass diese binnengereimte Langzeile im Eb. erstmals zur Grundlage eines umfangreichen Werks gemacht u. darüber hinaus als formale Neuerung reflektiert u. begründet wurde (Liutbertbrief). O. wendet sich erklärtermaßen an das gesamte Frankenvolk, dem er verkünden will,

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»was Gott ihm gebiete« (Ludwigs-Widmung). Dies bedeutet, dass er sehr unterschiedl. Rezipienten(gruppen) anvisierte: Menschen, die die Evangelien nur in der Muttersprache u. mehrheitlich wohl nur in Vortragsform aufnehmen konnten, andererseits ein Publikum, das lese- u. damit lateinkundig war u. zumindest teilweise Zugang zu einer Bibliothek hatte, wo man O.s wiederholter Aufforderung zu weiterführender Lektüre nachkommen konnte. Das Eb. war also sowohl zum Vortrag bestimmt (etwa vor einer klösterl. Gemeinschaft, vor der »familia« eines Bischofs u. nicht zuletzt am Hof Ludwigs d. Deutschen) wie zur privaten Lektüre (hierfür bietet die Überlieferung sogar den Namen einer intensiven Leserin: »die schöne Gisela« [»Kicila diu scona min filu las«, vermerkt die Handschrift P]). In welchem Umfang das Werk freilich tatsächlich zum Vortrag kam u. wie weit es vom Publikum akzeptiert wurde, ist schwer abzuschätzen; die Unterschiede zwischen Produzentenintention u. Rezipientenerwartung dürften beträchtlich gewesen sein. Die weitere Entwicklung zeigt, dass erst nach rund 200 Jahren sich im Rahmen allg. Veränderungen auch das Publikumsinteresse so gewandelt hatte, dass die Volkssprache sich mit Erfolg, wenn auch in kleinen Schritten, auf das von O. programmatisch formulierte Ziel zubewegte. O.s Leistung hat sich in der älteren Forschung manchen Tadel gefallen lassen müssen, der gewöhnlich von modernen ästhet. Vorstellungen diktiert war. Die O.-Forschung der letzten Jahrzehnte hat diese Urteile gründlich revidiert – u. dies im Kontext eines insg. veränderten Mittelalterbildes, das etwa zur Neubewertung der allegor. Schriftdeutung führte, die Originalität als poet. Norm relativierte u. die Wandelbarkeit ästhet. Maßstäbe überhaupt betonte. An die Stelle des frommen Mönchs, der mit großem Fleiß u. in guter Absicht, aber mit erkennbarer Mühe sich seine Verse abringt, trat der »Poeta doctus«, ausgestattet mit einem sicheren Gespür für notwendig gewordene formale Neuentwicklungen u. einem beachtl. pädagog. Talent. Darüber hinaus lernte man in ihm einen Autor sehen, der die polit. Konstellationen seiner Zeit zu beurteilen verstand

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(vgl. Ludwigswidmung u. Kap I,1). Wenn die Diskussion um O.s Leistung trotzdem nicht ganz verstummt, liegt das v. a. an des Autors eigenem Anspruch. Er wollte ein großes Epos schaffen in Konkurrenz zur lat. Epik. Dies war ein utop. Ziel angesichts der allg., keineswegs nur persönl. Voraussetzungen. Dennoch hat er erstaunlich viel erreicht: Er hat für sein schriftfernes Fränkisch eine konsequente Schreibweise entwickelt, hat sich mit einigem Erfolg bemüht, es zu einem angemessenen Ausdrucksmittel für neue Inhalte zu machen, hat für seine Muttersprache einen Vers eingeführt oder durchgesetzt, den diese auf Dauer als den ihr gemäßen Epenvers verwendete, u. er hat schließlich eine beachtl. Stoffmenge zu übersichtl. Form gebändigt. Vor allem aber hat er deutlich erkannt, dass die Überführung von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit mehr bedeutet als das bloße Aufzeichnen von bislang nicht schriftlich Fixiertem, dass es hier vielmehr im Grunde um eine neue Form dichterischer Weltbewältigung geht. Trotz der relativ reichen Überlieferung ist O.s Wirkung schwer zu beurteilen; sein Einfluss auf einige kleinere ahd. Reimgedichte wird immer noch diskutiert. Eine weiterreichende Wirkung ist nicht erkennbar – v. a. deswegen, weil Volkssprache u. Schriftkultur etwa vom Beginn des 10. bis zur Mitte des 11. Jh. noch einmal weitgehend getrennte Wege gingen. Das Eb. ist in drei vollständigen Handschriften überliefert: Wien, cod. 2687 = V(indobonensis); Heidelberg, cod. Pal. lat. 52 = P(alatinus); München, cgm 14 = F(risingensis). Von einer vierten Handschrift haben sich nur wenige, auf mehrere Bibliotheken verstreute Blätter erhalten (Codex discissus = D). Die aus Weißenburg stammenden Handschriften V u. P sind von den gleichen Schreibern geschrieben; der von O. eigenhändig korrigierte Codex V ist mit vier ganzseitigen, mehrfarbigen Bildern geschmückt: Labyrinth, Einzug in Jerusalem, Letztes Abendmahl u. Kreuzigung. V war möglicherweise die Vorlage für die Abschrift, die Bischof Waldo von Freising zu Beginn des 10. Jh. anfertigen ließ. In F fehlen die Widmungen, u. O.s südrheinfränk. Dialekt ist ins

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Bairische umgesetzt. Die Fragmente sind die jüngsten Überlieferungsträger: D entstand erst Ende des 10. Jh. in Fulda (Bernhard Bischoff: Paläographische Fragen deutscher Denkmäler der Karolingerzeit. In: FMSt 5, 1971, S. 104 f.). Ausgaben: Hans Butzmann (Hg.): Faks.-Ausg. des Codex Vindobonensis 2687 der Österr. Nationalbibl. Graz 1972. – Johann Kelle (Hg.): I. Text u. Einl. Regensb. 1856. II. Die Formen- u. Lautlehre der Sprache O.s. Ebd. 1869. III. Glossar der Sprache O.s. Ebd. 1881. Neudr. Aalen 1963. – Paul Piper (Hg.): I. Einl. u. Text. Freib. i. Br./Tüb. 21882. II. Glossar u. Abriss der Grammatik. Ebd. 21887. – Oskar Erdmann (Hg.). Halle 1882 (mit Erklärungen). – Ders. (Hg.). Tüb. 1882. 6. Aufl., besorgt v. Ludwig Wolff. Tüb. 1973. – Gisela Vollmann-Profe (Hg.): Ahd./Nhd. Stgt. 1987 (Ausw.). – Karin Pivernetz (Hg.): O. v. W. Das ›Evangelienbuch‹ in der Überlieferung der Freisinger Hs. (Bayer. Staatsbibl. Mchn., cgm. 14). Bd. I: Ed., Bd. II: Untersuchungen. Göpp. 2000. – Wolfgang Kleiber u. Ernst Hellgardt (Hg.): O. v. W., Evangelienbuch. Bd. I (hg. v. W. Kleiber unter Mitarbeit v. Rita Heuser): Ed. nach dem Wiener Codex 2687. Tl. 1: Text, Tl. 2: Einl. u. Apparat. Tüb. 2004. Bd. II (hg. u. bearb. v. W. Kleiber unter Mitarbeit v. R. Heuser): Ed. der Heidelberger Hs. P u. der Hs. D. Tl. 1: Texte (P, D). Tüb. 2006. Literatur: Bibliografie: Johanna Belkin u. Jürgen Meier: Bibliogr. zu O. v. W. u. zur altsächs. Bibeldichtung (Heliand u. Genesis). Bln. 1975. – Weitere Titel: Wolfgang Haubrichs: Ordo als Form. Strukturstudien zur Zahlenkomposition bei O. v. W. u. in karoling. Lit. Tüb. 1969. – Wolfgang Kleiber: O. v. W. Untersuchungen zur handschriftl. Überlieferung u. Studien zum Aufbau des Evangelienbuches. Bern/Mchn. 1971. – Ulrich Ernst: Der Liber Evangeliorum O.s v. W. Literarästhetik u. Verstechnik im Lichte der Tradition. Köln/Wien 1975. – Reinildis Hartmann: Allegor. Wörterbuch zu O.s v. W. Evangeliendichtung. Mchn. 1975. – Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Mchn. 1975. – Rainer Patzlaff: O. v. W. u. die mittelalterl. versus-Tradition. Tüb. 1975. – Gisela Vollmann-Profe: Komm. zu O.s Evangelienbuch. Tl. I: Buch I,1–11. Bonn 1976. – W. Kleiber (Hg.): O. v. W. Darmst. 1978. – Paul Michel u. Alexander Schwarz: Unz in obanentig. Aus der Werkstatt der karoling. Exegeten Alcuin, Erkanbert u. O. v. W. Bonn 1978. – W. Haubrichs: Nekrolog. Notizen zu O. v. W. Prosopograph. Studien zum sozialen Umfeld u. zur Rezeption des Evangelienbuches. In: Adelsherrschaft u. Lit. Hg. Horst Wenzel. Bern/Ffm./Las Vegas 1980, S. 7–113. – Ernst Hellgardt: Die exeget.

Otloh von St. Emmeram Quellen v. O.s Evangelienbuch [ ... ]. Mit einem Kap. über die Weißenburger Bibl. des MA u. der Otfridzeit. Tüb. 1981. – Albrecht Greule: Valenz, Satz u. Text. Syntakt. Untersuchungen zum Evangelienbuch O.s v. W. auf der Grundlage des Codex Vindobonensis 2687. Mchn. 1982. – Dennis H. Green: Zur primären Rezeption v. O.s Evangelienbuch. In: FS Rudolf Schützeichel. Bd. 1, Heidelb. 1987, S. 737–771. – Susanne Greiner: Das Marienbild O.s v. W. Köln 1987. – Werner Schröder: O. v. W. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Mathias Bielitz: Die Neumen in O.s Evangelienharmonie. Zum Verhältnis v. Geistlich u. Weltlich in der Musik des Frühen MA sowie zur Entstehung der raumanalogen Notenschrift. Heidelb. 1989. – Masahiro Shimbo: Wortindex zu O.s Evangelienbuch. Mit alphabet. u. rückläufigem Wortregister. Tüb. 1990. – W. Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (ca. 700 bis 1050/60). Tüb. 21995, bes. S. 261–272, 292–312. – Ders. u. a. (Hg.): Theodisca. Beiträge zur ahd. u. altniederländ. Sprache u. Lit. in der Kultur des frühen MA. Bln./New York 2000. – Ders.: Ludwig der Deutsche u. die volksprachige Lit. In: Ludwig der Deutsche u. seine Zeit. Hg. Wilfried Hartmann. Darmst. 2004. – Heiko Hartmann: O. v. W. Evangelienbuch. Aus dem Ahd. übertragen u. mit einer Einf., Anmerkungen u. einer Auswahlbibliogr. vers. v. dems. Bd. 1: Widmungsbriefe, Liber primus. Herne 2005. – Norbert Kössinger: O.s ›Evangelienbuch‹ in der Frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der dt. Philologie. Tüb. 2009. Gisela Vollmann-Profe

Otloh von St. Emmeram. – Kopist u. Verfasser lateinischer Schriften theologischen Inhalts u. eines althochdeutschen Gebetes, etwa 1010–1070. Otloh ist eine interessante u. eigenwillige Gestalt im literar. Betrieb des 11. Jh., sowohl in seiner äußerst produktiven Tätigkeit als Kopist von Büchern als auch als Verfasser zahlreicher Schriften, die sich in unterschiedl. Weise mit Fragen der Theologie u. des religiösen Lebens auseinandersetzen. Diese Schriften enthalten auch zahlreiche autobiogr. Passagen, die die hauptsächl. Informationsquelle für sein Leben sind. Daneben ist O. auch durch Nekrologeinträge, durch eine Schenkungsurkunde für das Kloster Tegernsee u. durch Bemerkungen bei Wilhelm von Hirsau greifbar. Er wurde um 1010 im Bistum Freising geboren u. stammt

Otloh von St. Emmeram

aus einer angesehenen u. begüterten Familie. Sehr früh wurde er zur schulischen Ausbildung in das Kloster Tegernsee gebracht. Sein Interesse für das Schreiben war, schon bevor er Unterricht darin erhielt, so groß, dass er sich diese Kunst selbst aneignete, sich dabei allerdings eine falsche Schreibhaltung angewöhnte. Trotzdem wurde er später ein bekannter u. begehrter Kopist (eine Übersicht über die Handschriften, die ganz oder z.T. von O. stammen bei Bischoff 1967, S. 89–93). So arbeitete er schon 1024 als Schreiber im Kloster Hersfeld, bald wurde er unter Bischof Meginhard (1019–1034) zu Schreibtätigkeiten nach Würzburg gerufen. Er war dann als Weltgeistlicher in der Nähe von Freising tätig, eine Zeit, die er später als von weltl. Genüssen u. Lastern geprägt schildert. Ein Streit mit dem Erzpriester Werinhar zwang ihn, die Diözese Freising u. damit, wie aus Versen in seinem Werk De doctrina spirituali hervorgeht, wohl auch Frau u. Kind(er) zu verlassen. Er fand als Gast Aufnahme im Benediktinerkloster St. Emmeram in Regensburg. Wie er v. a. im Liber de temptatione beschreibt, waren diese Jahre geprägt von seelischen u. körperl. Leiden u. von Zweifeln, sogar an Gott selbst. Schließlich trat er als Mönch in das Kloster ein u. löste damit ein Gelübde ein, das er in ganz jungen Jahren abgelegt hatte. Bald wurde er auch zum Leiter der Klosterschule; er verfasste zahlreiche Werke u. war weiter als Kopist tätig. Er unternahm Reisen, u. a. nach Fulda (1054) u. Montecassino (wohl vor 1049). 1062 ging er, nach Streitigkeiten mit dem Abt u. dem Regensburger Bischof, für einige Jahre nach Fulda. 1067 nach St. Emmeram zurückgekehrt, starb er dort bald nach 1070. Die schriftstellerische Tätigkeit O.s lässt sich aufgrund der zu einem großen Teil autografen Überlieferung u. der Liste seiner Werke, die O. im Liber de temptatione übermittelt, ziemlich sicher fassen. Das erste erhaltene Werk, De doctrina spirituali, ist ein 39 Kapitel umfassendes hexametr. Lehrgedicht. Die genaue Entstehungszeit ist nicht bekannt (vielleicht bald nach 1032 oder einige Jahre vor 1049). Geistlichen u. Laien soll die rechte Lehre vermittelt werden, die sie zum ewigen Leben führt. Unter anderem wird vor der

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Hinwendung an weltl. Dinge gewarnt, so auch vor dem Studium der heidn. antiken Schriftsteller. O. führt als Beispiel dafür seinen eigenen Lebensweg an, der ihn weg von dieser Gefahr u. hin zum Studium der Hl. Schrift führte. Zentrales Thema des um 1055 entstandenen Dialogus de tribus quaestionibus ist Gottes Gnade u. Gerechtigkeit, die Problematik der Willensfreiheit des Menschen. Auch das Geheimnis der Trinität wird erläutert u. dabei die Zahlensymbolik zu Hilfe genommen. Gesprächspartner ist der Reichenauer Mönch Heinrich, der 1054 und 1055 in St. Emmeram weilte. Im Liber visionum, der in Fulda seine endgültige Form erhielt, sind 23 von O. selbst erlebte, von Gewährsleuten berichtete u. von Bonifatius u. Beda in ihren Schriften bezeugte Visionen zusammengefasst. Diese Visionen führen bei vielen der betroffenen Personen zu einer Umkehr u. zu einer anderen, gottgefälligen Lebensführung. Wichtigstes Vorbild für diese Schrift waren die Dialogi Gregors des Großen. O.s letztes größeres Werk ist der mit autobiogr. Elementen durchsetzte Liber de temptatione cuiusdam monachi. Im ersten Teil dieser Schrift findet sich u. a. die Erzählung von der Versuchung die er erleiden musste, als er sich dem Studium der Hl. Schrift zuwandte. Er übernimmt hier Elemente aus seinem etwas früher (zwischen 1068 u. 1070) verfassten Werk, De cursu spirituali, dessen Thema die rechte Beschäftigung mit der Hl. Schrift ist. Teil 2 enthält einen Katalog der von O. verfassten Werke, Teil 3 ein Liste der von O. kopierten Bücher. Neben weiteren geistl. Schriften zur Belehrung u. Erbauung von Geistlichen u. Laien schrieb O. Heiligenviten (z.B. Vita S. Wolfkangi), Sermones, Hymnen, Sequenzen u. Gebete. Vieles spricht dafür, dass er auch die gefälschte Geschichte der Überführung der Gebeine des hl. Dionysius nach St. Emmeram (Translatio I) verfasst hat. All diese Werke sind in lat. Sprache abgefasst. Nur ein einziges volkssprachliches Werk O.s ist erhalten, sein ahd. Gebet. Dieses ist auf der Grundlage seiner in mehreren Redaktionen überlieferten lat. Oratio cuiusdam peccatoris verfasst. Das lat. Gebet ist ein Beispiel für den Umgang O.s mit seinen Werken: Er hat sie selbst, wie z.B. eigenhändige Kor-

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rekturen zeigen, z.T. mehrmals verändert, wahrscheinlich um sie an die jeweiligen Rezipienten anzupassen. Mit diesem Blick auf den Leser kann der auf Klarheit u. Verständlichkeit gerichtete Stil seiner Werke erklärt werden (vgl. Bischoff 1967, S. 100). O.s Werke, die anonym überliefert sind, haben, wie die Überlieferungslage zeigt, zunächst keinen großen Nachhall gefunden, auch nicht im Kloster St. Emmeram selbst. Erst durch die Veröffentlichung der Schriften durch Pez (1723) wurden O. u. sein Werk allmählich in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Ausgaben: Othloni Monachi S. Emmerammi opera omnia. In: PL 146, Sp. 27–434. – Paul Gerhard Schmidt (Hg.): O. v. St. E., Liber visionum. In: MGH Quellen zur Geistesgesch. des MA 13. Weimar 1989 (mit Bibliogr. S. 28–30). – Sabine Gäbe (Hg.): Liber de temptatione cuiusdam monachi. Untersuchung, krit. Ed. u. Übers. Bern u. a. 1999. – Eine Übersicht über alle Werke O.s u. die Editionen bei Vollmann (s. u.). Literatur: Ernst Dümmler: Über den Mönch O. v. St. E. Sitzungsber.e Berlin 48 (1895), S. 1071–1102. – Bernhard Bischoff: O. In: VL (1. Aufl.). – Helga Schauwecker: O. v. St. E. In: Studien u. Mitt.en zur Gesch. des Benediktiner-Ordens 74 (1964), S. 5–240. – B. Bischoff: Literar. u. künstler. Leben in St. Emmeram (Regensburg) während des frühen u. hohen MA. In: Mittelalterl. Studien 2, Stgt. 1967, S. 77–115. Zuerst in: Studien u. Mitt.en zur Gesch. des Benediktiner-Ordens u. seiner Zweige 51 (1933), S. 102–142. – Hedwig Röckelein: O., Gottschalk, Tnugdal. Ffm. 1987. – Werner Goez: O. v. St. E. Mönch, Kopist, Literat. In: Ders.: Lebensbilder aus dem MA. 2., überarb. u. erw. Aufl. Darmst. 1998, S. 168–177. – Benedikt Konrad Vollmann in: VL (2. Aufl.). – Ellen Joyce: Speaking of Spiritual Matters: Visions and the Rhethoric of Reform in the Liber visionum of O. of S. E. In: Manuscripts and Monastic Culture. Hg. Alison I. Beach. Turnhout 2007, S. 69–98. Elisabeth Wunderle

Ott, Arnold, * 5.12.1840 Vevey/Kt. Waadt, † 30.9.1910 Luzern. – Dramatiker, Lyriker. Der Handwerkersohn wuchs als Pflegekind bei Verwandten in Schaffhausen auf u. studierte ab 1856 Architektur, Chemie u. Medizin in Stuttgart, Tübingen u. Zürich (Dr.

med. 1867). Anschließend führte der Vater von sechs Kindern zunächst in Neuhausen/ Kt. Schaffhausen u. ab 1876 in Luzern eine Praxis als Augenarzt. Nachdem er bis dahin nur Gedichte u. Theaterkritiken publiziert hatte, sah er 1887, beeindruckt durch ein Basler Gastspiel des Meininger Hoftheaters, seine Stunde als Dramatiker gekommen. In wenigen Wochen beendete er seine bereits früher entworfene Tragödie Konradin (Erstdr. in der Gesamtausg. Bern 1945–49) u. übersandte sie dem Herzog von Meiningen. Obwohl er mit dem bilderbogenartigen Historienspiel Deutschland eine »Gegengabe für den Tell« bieten u. jener »Verherrlichung schweizerischen Freiheitssinns« eine »Schilderung deutschen Heldentums und deutscher Treue« (an Gottfried Keller) gegenüberstellen wollte, stieß er in Meiningen auf Ablehnung, erreichte dann jedoch während einer persönl. Begegnung mit dem Herzog in Seelisberg für 1889 eine Aufführung seines zweiten Stücks, Agnes Bernauer (Stgt. 1889). Anders als Hebbel, der die Machtlosigkeit des Einzelnen einer unbarmherzigen Staatsräson gegenüber fassbar machte, beschränkte sich O. auf die nicht standesgemäße, tragisch endende Liebesbeziehung, beließ die Figuren aber ebenso schemenhaft-blutleer wie die Handlung statisch u. ohne zwingenden Ablauf. Für sein drittes Stück, die von Josef Viktor Widmann begeistert begrüßte Völkerwanderungstragödie Rosamunde (Bern 1892), fand er zwar einen Verlag, aber keine Bühne, weshalb er sich von da an stärker dem Laientheater zuwandte. Nationale Berühmtheit erlangte er dabei mit dem allegorisch-kantatenhaften Festakt zur Enthüllung des Telldenkmals (Altdorf 1895), während er mit Karl der Kühne und die Eidgenossen (Luzern 1897), einem Festspiel, das die drei großen Schlachten der Schweizer gegen den Burgunderherzog in tumultuar. Massenszenen auf die Bühne brachte, in Diessenhofen/Kt. Thurgau u. Wiedikon/Kt. Zürich 1900 u. 1904/05 einen großen Publikumserfolg erzielte. Größte Hoffnungen setzte O. auf die sentimentalblutrünstige »Sagen-Tragödie« Grabesstreiter (Luzern 1898), die dann aber nicht nur bei den Meiningern, sondern auch bei Widmann keine Gnade mehr fand. O.s eher maleri-

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schem als dramat. Talent wiederum besser adäquat war das revueartige Festdrama zur 4. Jahrhundertfeier des Eintritts Schaffhausens in den Bund der Eidgenossen (Schaffh. 1901), das im Sommer 1901 auf einer riesigen Freilichtbühne bei Herblingen Triumphe feierte. O.s letzte Arbeiten waren das Napoleon-Stück St. Helena (Zürich 1904), das in Bern u. Basel Aufführungen erlebte, sowie die zu Lebzeiten ungedruckte Tragödie Hans Waldmann. Obwohl sein Œuvre insg. nur noch von histor. Interesse ist, zeugen doch einzelne Szenen wie der in Urner Dialekt gehaltene zweite Akt von Karl dem Kühnen, Die Hochzeit in Uri, oder der vierte Akt von Konradin, der als Die Frangipani (Luzern 1897) auch in Meiningen erfolgreich gespielt wurde, vom genialen, wenngleich nicht wirklich zur Entfaltung gelangten Talent des Dichters. Ausgaben: Dichtungen. Hg. Karl Emil Hoffmann. 6 Bde., Bern 1945–49. – Nachlass: Schweizer. Landesbibl. Bern. Literatur: Eduard Haug: A. O. Eine Dichtertragödie. Zürich 1924. – Werner Günther: A. O. In: Dichter der neueren Schweiz I. Bern 1963. – Eric Winkler: A. O. Arzt u. Dichter. Diss. med. Zürich 1983. – Hellmut Thomke: Patriot. Dramatiker des ausgehenden 19. Jh. Der junge Rudolf v. Tavel u. A. O. In: Auf dem Weg zu einer schweizerischen Identität 1848–1914. Hg. François de Capitani. Freiburg/Schweiz 1987, S. 337–351. Charles Linsmayer / Red.

Ott, Karl-Heinz, * 14.9.1957 Ehringen/ Donau. – Prosa-Autor, Dramatiker u. Essayist. O. wuchs in Oberschwaben auf, besuchte ein kath. Internat u. studierte Philosophie, Germanistik u. Musikwissenschaft. Er arbeitete als (Opern-)Dramaturg in Esslingen, Freiburg i. Br., Basel u. Zürich. Als Prosa-Autor debütierte er 1998 mit seinem autobiografisch gefärbten Roman Ins Offene (Salzb./Wien). 2005 u. 2008 folgten seine Romane Endlich Stille (Hbg.) u. Ob wir wollen oder nicht (Hbg.). In Zusammenarbeit mit Theresia Walser adaptierte O. den Roman Die Geierwally von Wilhelmine von Hillern für die Bühne (Urauff. Karlsr. 2003). Mit Yoko Tawada schrieb er die sog. Flughafenoper Arabische Pferde (Urauff. 2003 Hann.). Zu seinen zahl-

reichen essayist. Arbeiten gehören Heimatkunde Baden (Hbg. 2007), in der er mit schwäbischem Blick den historischen, literarisch-philosoph. u. kulinar. Entwicklungen Badens nachspürt, sowie der Band Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel (Hbg. 2008), in dem sich O. weniger den Details des Händel’schen Lebenslaufs widmet als vielmehr der Auseinandersetzung mit dem Barock, von der Ablehnung der Barockmusik bei Adorno bis zu ihrer Wiederentdeckung im Zuge neuer Aufführungspraktiken. Ausgezeichnet wurde O. u. a. mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg (1999), dem Taddäus-Troll-Preis (1999), dem Alemannischen Literaturpreis (2005), dem Candide Preis (2006) u. dem Preis der LiteraTour Nord (2006). Seit 2006 ist O. Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. O. ist, wie in der Rezeption immer wieder hervorgehoben, eine Vituosität der Sprache eigen, die seiner Poetik einer »formgewordenen Gedankenmusik« (Albrecht Puhlmann, Laudatio für O. anlässlich der Verleihung des LiteraTour Nord-Preises) Rechnung trägt. Die literar. Sprache solle – so O. – als Atmosphärisches wahrgenommen werden, eine Vibration erzeugen, die allem Verstehen vorausgehe (»Literatur, aber keine Moral«. In: Allmende Jg. 27, Nr. 79, 2007, S. 75–81, 76). Während Ins Offene die Auseinandersetzung u. den Versuch der Befreiung des Sohnes aus den (sprachlich-gewalttätigen) Fängen der sterbenden Mutter beschreibt – Handkes Wunschloses Unglück klingt hier an –, entwickelt sich die Handlung der zwei (Kriminal-)Romane aus einer kafkaesk anmutenden Situation heraus. Endlich Stille beschreibt den Versuch eines in Basel ansässigen Philosophieprofessors u. Spinoza-Experten, sich dem Zugriff u. Redestrom einer zufälligen Reisebekanntschaft zu entziehen. Durch die Vernichtung dieses doppelgängerischen Doppel-Ichs (dessen Name Friedrich Grävenich enthält das Ich gleich zweimal), verspricht sich der Ich-Erzähler eine Rettung vor dem eigenen Verstummen. In Ob wir wollen oder nicht versucht der in Untersuchungshaft sitzende desillusionierte Alt-68er Richard T. (das Ich ebenfalls im Namen führend), ehe-

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mals Tankstellenpächter u. Liebhaber der verschwundenen Kneipenwirtin, die Umstände u. Gründe des von ihm angeblich verübten Verbrechens auszuloten. O.s Romane, in denen der jeweils männl. Protagonist nahezu zwanghaft über die Ausweglosigkeit u. Beklemmung seiner Lebenssituation räsoniert, erinnern in ihrem Sprachduktus, den syntakt. Verschachtelungen, den Aufzählungen u. Wiederholungen streckenweise an Thomas Bernhard. Bei O. desavouiert der nahezu manisch geführte, innere Monolog die beabsichtigte Welt- u. Selbsterkenntnis als die widersprüchliche, hohle Phrase eines heillos in die eigenen Unzulänglichkeiten verstrickten Ichs. Doch die Desorientierung des Protagonisten, die durch die teils provinzielle, teils räuml. Enge, vor deren Hintergrund sich das Geschehen abspielt, bes. pointiert wirkt, wird immer wieder konsequent ironisch gebrochen. Der spielerischspött. Ton fängt die Demontierung stets geschickt auf u. hält die Welt u. die sie bevölkernden Figuren jenseits eindeutiger Verortungen für Neuinterpretationen offen.

modernem nihilist. techn. Krieg. Ihr unpolit. Selbstverständnis nimmt die nationalsozialist. Instrumentalisierung nicht wahr. Der Weltkrieg bedeutet das Ende des preußischdt. Militarismus. Der Folgeroman Die Männer und die Seejungfrau (Hbg./Wien 1960) behandelt die Folgen des Krieges: Traumata, Zerfall von Familien, vergebl. Sinnsuche. Die nach langer Pause vorgelegte Cronsberg-Trilogie (Ein Schloß in Preußen. Mchn./Wien 1981; Die Grafen Cronsberg. Mchn./Wien 1983; Der junge Cronsberg. Mchn./Wien 1984) erzählt die Geschichte einer adeligen ostpreuß. Familie im Wechsel vom wilhelmin. Deutschland zur Weimarer Republik. Der Abenteuerroman Amazonas (Mchn./Wien 1987) behandelt das Erbe eines nach dem Krieg nach Brasilien ausgewanderten nationalist. dt. Industriellen. Das verbindende Thema der Romane ist die Geschichte, der Untergang u. die Verantwortung des wilhelminischen nationalkonservativen Bürgers im 20. Jh.

Weiteres Werk: Endlich Gäste. Urauff. Freib. i. Br. 2002.

Literatur: Hans-Edwin Friedrich: ›Ihr Geist und ihr Körper hatten sich an die Angst gewöhnt‹. Wahrnehmung des Krieges in W. O.s Roman ›Haie und kleine Fische‹. In: Treibhaus 3 (2007), S. 19–38. Hans-Edwin Friedrich

Literatur: Gert Füger: Avantgarde u. Barfußmoral. Eine Entgegnung auf K.-H. O.s ›Tutzinger Poetik‹ in allmende 79. In: Allmende 27 (2007), H. 80, S. 63–67. Christiane Weller

Weitere Werke: Villa K. Hbg./Wien 1962 (R.). – Das Mannequin. Bergisch Gladbach 1980 (Kriminal-R.).

Ott, Wolfgang, * 23.6.1923 Pforzheim. – Journalist u. Romancier.

Otte. – Autor des Eraclius, eines legendenhaften Romans mit chronikalischen Elementen, erstes Drittel des 13. Jh. (?).

O. war Marineoffizier im Zweiten Weltkrieg. Seit 1948 arbeitete er als Journalist in Stuttgart u. Frankfurt/M., ab 1953 war er zunächst freier Journalist, dann freier Schriftsteller in Stuttgart. Sein Bestseller Haie und kleine Fische (Mchn. 1956 u. ö., zuletzt 2003) galt als Paradigma des Seekriegsromans; er wurde 1957 verfilmt (Regie: Frank Wysbar). In dokumentarischem Realismus, der die authent. Darstellung der Kriegserfahrung leisten sollte, erzählte O. vom Schicksal junger Freiwilliger, die am U-Boot-Krieg teilnehmen. Der Kriegsalltag wird drastisch, ohne symbolische Überhöhung u. entmystifizierend beschrieben. Die Soldaten kämpfen im Konflikt von traditionellem preuß. Soldatenethos u.

O. ist nur als Dichter des Eraclius bekannt. Weder über seine Herkunft noch über seine Auftraggeber kann Gesichertes ausgesagt werden. Das Werk ist in zwei Handschriften jeweils innerhalb einer Chronik erhalten: in einer Handschrift der Kaiserchronik (cod. Vindob. 2693, Ende des 13. Jh.) bzw. der Weltchronik Heinrichs von München (cod. Gothanus Chart. A3, Wende 14./15. Jh.). Die einzige selbständige Fassung, in der Handschrift nach Veldekes Eneit (cgm 57, 13. oder 14. Jh.), überliefert auch den Prolog mit der Autornennung, bricht aber während des Schlussteils ab. Das Werk umfasst rd. 5400 Verse. Die Entstehungszeit wird zwischen 1190 u. 1230

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angesetzt. Es handelt sich um die Bearbeitung des von Gautier d’Arras um 1176/81 verfassten Eracle, einer höf. Dichtung um den 610–641 als Nachfolger des Phokas regierenden byzantin. Kaiser Herakleios, der Jerusalem u. das Hl. Kreuz Christi aus der Hand des Sassaniden Chosrau II. kurzfristig noch einmal zurückeroberte u. so als erster »Kreuzfahrer« in die u. a. schon von Hrabanus Maurus verbreitete Legende zum Fest der exaltatio crucis (14. Sept.) einging. Erzählt wird zunächst von der wunderbaren Geburt des Eraclius, von der ihm durch Gott verliehenen Gabe, den verborgenen Wert von Steinen, Pferden u. Frauen zu erkennen, u. von seinem dadurch bedingten Aufstieg zum Berater des Kaisers Focas. Der Mittelteil berichtet, wie Focas, der durch Eraclius’ Hilfe glücklich mit der armen, aber an inneren Vorzügen reichen Athanaïs verheiratet ist, den Rat des Eraclius missachtend, seine unbescholtene Frau aus Eifersucht in einen Turm einsperrt, als er zum Kriegszug Rom verlassen muss. Den dadurch provozierten Ehebruch der Athanaïs mit Parides deckt Eraclius auf, bringt aber auch Focas dazu, seine eigene Schuld zu erkennen, sodass Athanaïs mit Parides ein zufriedenes, wenngleich ärml. Leben führen kann. Im chronikal. Formelstil geht O. nach dem Bericht vom Tod des Focas zum Regierungsantritt des Eraclius über u. lässt, die von der Chanson de geste geprägte frz. Vorlage weitgehend aufgebend, den Kampf um das Hl. Kreuz folgen, bei dem er Legenden- u. Chroniktradition verknüpft. Gegenüber Gautier setzt er (vermutlich in Anlehnung an Otto von Freising) die Lebensgeschichte des Eraclius bis zu dessen Tod fort. Insg. gehen bei O., der weit weniger als andere dt. Bearbeiter von frz. Quellen die höf. Stilisierung zu bewahren sucht, die chronikal. Prägung u. die Einführung histor. Exkurse Hand in Hand mit einer geistl. Färbung. So verleiht er dem Werk seine Eigenart – nicht nur dort, wo er die erzählte Geschichte verändert (etwa indem er Gautiers unhistor. Kaiser Laïs durch den histor. Focas ersetzt). Er tut dies ebenfalls durch die verstärkte religiöse Stilisierung des Märchenmotivs von den drei Gaben oder durch die die

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Minnemagie überlagernden moralisierenden Reflexionen der Athanaïs, die überdies anders als bei Gautier nach dem Ehebruch (obwohl Focas die Hauptschuld daran trägt) wenigstens materielle Einbußen hinzunehmen hat. Neben Anspielungen in weiteren Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München u. neben der wohl zumindest indirekt auf O. fußenden Erzählung in der Weltchronik des Jans Enikel bezeugt ein Bilderzyklus in der Kirche zu Fraurombach/ Hessen (erste Hälfte des 14. Jh.) die Wirkung des Eraclius. Ausgaben: Eraclius. Dt. u. frz. Gedicht des 12. Jh. Hg. Hans F. Massmann. Quedlinb./Lpz. 1842 (nach cgm 57). – Eraclius. Dt. Gedicht des 13. Jh. Hg. Harald Graef. Straßb. 1883 (nach cod. Vindob. 2693). – Eraclius. Hg. Winfried Frey. Göpp. 1983 (synopt. Abdr. aller drei Hss.). Übersetzung: Der ›Eraclius‹ des O. Übers., mit Einf., Erläuterungen u. Anmerkungen vers. v. Winfried Frey. Essen 1990. Literatur: Eberhard Nellmann: Die Reichsidee in dt. Dichtungen der Salier- u. frühen Stauferzeit. Bln. 1963, S. 11–31. – Winfried Frey: Textkrit. Untersuchungen zu O.s ›Eraclius‹. Diss. Ffm. 1970 (auch online). – Karen Pratt: Meister O.’s ›Eraclius‹ as an Adaptation of ›Eracle‹ by Gautier d’Arras. Göpp. 1987. – Edith Feistner: O.s ›Eraclius‹ vor dem Hintergrund der frz. Quelle. Göpp. 1987 (mit Forschungsber. u. Bibliogr.). – Wolfgang Walliczek: O. In: VL. – W. Frey: O.s ›Eraclius‹ in der ›Kaiserchronik‹ u. in der ›Weltchronik‹ Heinrichs v. München. In: Chroniques nationales et Chroniques universelles. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1990, S. 79–95. – Silvia Schmitz: ›Der vil wol erchennen chan‹. Zu Gautiers u. O.s ›Eraclius‹. In: GRM 73 (1992), S. 129–150. – Maryvonne Hagby: Gesch. in der Dichtung. Überlegungen zur Rolle der Historizität des Helden im Rezeptionsprozess des mhd. ›Eraclius‹. In: Literatur – Gesch. – Literaturgesch. FS Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. a. Ffm. u. a. 2003, S. 149–166. – E. Feistner: Eracle / Eraclius. In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Bd. 4: Histor. u. religiöse Erzählungen, Tl. 3: Religiöse Erzählungen. Hg. Geert Claassens u. Hartmut Kugler. Bln./New York (in Vorb.). Edith Feistner / Red.

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Otten, Karl, * 29.7.1889 Oberkrüchten bei Aachen, † 20.3.1963 Locarno-Muralto; Grabstätte: Minusio, Friedhof. – Lyriker, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Dramen u. Drehbüchern, Publizist u. Herausgeber. O. stammt aus kath. Milieu; die Vorfahren waren Handwerker u. Bauern, der Vater Zollbeamter. O. betrachtete Köln als seine Heimatstadt. Umzüge führten ihn 1906 nach Dortmund u. Bochum, wo er Richard Huelsenbeck kennenlernte, u. 1907 nach Aachen. Am dortigen Kaiser-Wilhelms-Gymnasium traf der Schüler auf einen Kreis gleichgesinnter, die saturierte wilhelmin. Gesellschaft verachtender, angehender Schriftsteller: Walter Hasenclever, Ludwig Strauß, Philipp Keller, Jules Talbot Keller; mit ihnen fand er in dem wenig älteren Kunsthistoriker u. Sammler moderner Kunst Edwin Suermondt einen Mentor, der sie mit der Kunst u. Literatur der europ. Moderne vertraut machte. Die Bekanntschaft mit dem kath. Sozialkritiker u. Reformer Carl Sonnenschein schärfte O.s Blick für soziales Unrecht. Zum Studium übersiedelte O. 1910 nach München, wo er Freundschaften mit Wedekind, Heinrich Mann, Blei, Otto Gross u. Mühsam schloss, in dessen anarchistischer »Gruppe Tat« er mitarbeitete. Er studierte für kurze Zeit Volkswirtschaft, dann Kunstgeschichte u. unternahm Reisen nach Frankreich, Italien, Albanien u. Griechenland. 1913 wechselte O. an die Universität Bonn, wo er Anschluss an die Künstlergruppe der rheinischen Expressionisten (Macke, Ernst, Seehaus, Franz Henseler, Engert, Nauen, Marc) fand, u., nach seiner Relegation in Bonn, im Sommer 1914 an die Universität Straßburg. Nach Kriegsausbruch wurde O. als Anarchist u. Pazifist verhaftet, in Tübingen interniert, dann bei der Postüberwachungsstelle Trier eingesetzt, ohne dass er seine regimekritische publizist. Tätigkeit aufgegeben hätte. Nach Erscheinen seiner pazifist. Lyriksammlung Thronerhebung des Herzens (Bln. 1917) erneut verhaftet u. zu Festungshaft in Koblenz verurteilt, wurde er am 8.11.1918 von Revolutionären befreit u. zog mit seiner Ehefrau Rosalie, geb. Friedmann, noch 1918

Otten

nach Wien; von dort aus versuchte er über eine Reihe von neu gegründeten literarischpolit. Zeitschriften auf die revolutionäre Umgestaltung Deutschlands im Sinne des Aktivismus u. messian. Kommunismus hinzuwirken. Hier wurde er mit Joseph Roth, Polgar, Musil sowie mit Freud bekannt, dessen Vorlesungen er besuchte. 1922 trennte O. sich von Frau u. Sohn u. ging nach Berlin, wo er bis 1933 als Journalist für zahlreiche demokrat. Zeitungen arbeitete u. als Romanautor, Dramatiker u. Drehbuchautor hervortrat, sich am freiheitl. Sozialismus Ossietzkys orientierend u. für eine antifaschist. Einheitsfront von Arbeitern u. Intellektuellen eintretend. Am 12.3.1933 flüchtete er ins Exil über Spanien u. Frankreich zuletzt nach London, noch im selben Jahr in NS-Deutschland ausgebürgert. Neben literar. Arbeiten, die größtenteils unveröffentlicht blieben, setzte er seine aufklärerische journalist. Tätigkeit unbeirrt fort, als Mitarbeiter der BBC, in deutsch- u. englischsprachigen Zeitschriften, v. a. aber in einer umfangreichen soziolog. Analyse des Faschismus, die 1942 in engl. Übersetzung erschien (A Combine of Aggression. Masses, Elite and Dictatorship in Germany. Dt.: Geplante Illusionen. Ffm. 1989). Seine Erblindung 1944 minderte dank der selbstlosen Mithilfe seiner zweiten Frau Ellen, geb. Kroner, die weitere umfangreiche Arbeit nicht. Seit 1947 brit. Staatsbürger, war er einer der Ersten, die ihre Aufgabe darin sahen, die verfemte Moderne, die Literatur des Expressionismus u. der ermordeten dt. Juden, im Nachkriegsdeutschland wieder heimisch zu machen: durch Anthologien u. Editionen, Vorträge, Rundfunksendungen u. Essays. Seit 1958 lebte er in Minusio bei Locarno, geehrt durch Mitgliedschaften der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt sowie verschiedene Literaturpreise. Seit den literar. Anfängen in Philipp Kellers »Aachener Almanach« (1910) ist O. der sozial engagierte, unbeirrbar für humanere Lebensverhältnisse eintretende Lyriker u. Prosaist geblieben. Seine Lyrik, insbes. die in der Zeitschrift »Die Aktion« (seit 1914; mit O.-

Ottenheimer

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Sonderh. 1917) veröffentlichte, ist dem ex- Theater. Neuwied 1959. – Das leere Haus. Prosa pressionist. Zeitstil, den rhetorischen Lang- jüd. Dichter. Stgt. 1959. – Albert Ehrenstein: Geformen des Neuen Pathos verpflichtet, wäh- dichte u. Prosa. Neuwied 1961. – Expressionismus rend die späte Sammlung Herbstgesang (Neu- – Grotesk. Zürich 1962. – Schofar. Lieder u. Legenden jüd. Dichter. Neuwied 1962. – Ego u. Eros. wied 1961), typisch für den Zeitstil der Meistererzählungen des Expressionismus. Stgt. Nachkriegszeit, die Rückkehr zu Naturbild u. 1963. – Umfangreicher Nachlass im Deutschen Liklass. Form zeigt. Eigene Wege ging O. als teraturarchiv Marbach. Erzähler: Seine Reiseerzählung Die Reise durch Literatur: Kasimir Edschmid: Gedenkwort für Albanien 1912 (Mchn. 1912. Die Reise durch Al- K. O. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. banien und andere Prosa. Hg. Ellen Otten u. Dichtung (1963), S. 159–162. – Eva Kolinsky: EnHermann Ruch. Zürich 1989) mit Illustra- gagierter Expressionismus. Stgt. 1970. – Dieter tionen seines Freundes Henseler sowie der Breuer: Pragmat. Textverstehen am Beispiel der Erzählband Der Sprung aus dem Fenster (in Kurt Erzählung ›Die Siebenschläfer‹ v. K. O. In: LiLi, Wolffs Reihe Der jüngste Tag. Lpz. 1918) sind Beih. 6 (1977), S. 161–190. – K. O. Werk u. Leben. Meisterwerke expressionistischer Prosa, die Texte, Ber.e, Bibliogr. Hg. Bernhard Zeller u. Ellen Otten. Mainz 1982. – Werner Jung: K. O. Ein Pornie den Bezug auf die hellsichtig erfasste sotrait. In: Juni. Magazin für Kultur u. Politik 4 ziale Wirklichkeit verlieren. Gedämpfter im (1987), S. 19–30. – Gregor Ackermann: K. O. u. der Stil, aber nicht weniger engagiert u. kritisch ›Montag Morgen‹. Fundstücke zur O.-Bibliogr. sind seine Zeitromane der 1920er u. 1930er Ebd., S. 34–39. – J. M. Ritchie: K. O. from ExpresJahre: Lona (Wien 1920), Prüfung zur Reife (Lpz. sionism to Exile. With an Appendix of Unpub1928), Der unbekannte Zivilist (1932. Aus dem lished Cabaret-Songs. In: Between Two Languages. Nachl. hg. v. E. Otten. Stgt. 1981), Torquema- German-speaking Exiles in Great Britain 1933–45. das Schatten (Stockholm 1938. Neuausg. Hbg. Hg. William Abbey u. a. Stgt. 1995, S. 198–214. – D. 1980), aber auch die dokumentarischen Ar- Breuer: Modernisierung u. NS. K. O.s Analyse v. 1941. In: Moderne u. NS im Rheinland. Hg. ders. u. beiten Der Fall Strauß (Bln. 1925) u. Der G. Cepl-Kaufmann. Paderb. 1997, S. 35–43. – Rischwarze Napoleon (Bln. 1931, auch als Drama chard Dove: ›Fremd ist die Stadt und leer ...‹. Fünf u. d. T. Die Expedition nach San Domingo) u. die dt. u. österr. Schriftsteller im Exil 1933–45. Bln. Dramen Paris 6. Mai 1932 (zus. mit Stephan 2004, S. 34–39, 126–143, 227–233. Dieter Breuer Fingal. 1932) u. Der Ölkomplex (Emsdetten 1958), sowie die Romane der Nachkriegszeit, Die Botschaft (Darmst. 1957) u. Wurzeln (Neu- Ottenheimer, Henriette, * 10.9.1807 wied 1963). Wache Zeitgenossenschaft, Ein- Stuttgart, † 26.3.1883 Regensburg; forderung der Freiheitsrechte des Einzelnen Grabstätte: ebd., Friedhof Schillerstraße. gegen alle Freiheitsfeinde, moralische Ein- – Lyrikerin u. Erzählerin. bindung dieser Freiheit u. Menschenfreundlichkeit leiten aber auch den Publizisten O. in Die von Kindheit an kränkliche u. seit ihrem Aufrufen, Essays, Feuilletons, Glossen für sechsten Lebensjahr teilweise gelähmte Zeitschriften, die er z.T. mit herausgab (»Die Tochter des herzoglich-württembergischen Neue Kunst«, 1913/14. »Der Gegner«, 1919 u. kaiserl. Hoffaktors Jakob Ottenheimer u. bis 1922), für Zeitungen (58 Feuilletons allein seiner Frau Sara wurde im Alter von zehn in der Berliner Zeitung »Der Montag Mor- Jahren in das 1818 gegründete Königin-Kagen«) u. Rundfunk u. geben dem Gesamt- tharina-Stift in Stuttgart aufgenommen u. werk inneren Zusammenhalt u. eigenes Ge- erhielt dort ihre Schulbildung. 1833 veröffentlichte O. Bilder und Lieder (Stgt. 1833), die sicht über alle Epochenumbrüche hinweg. sie den Prinzessinnen von Württemberg Weitere Werke: Der ewige Esel. Zürich 1949. – widmete u. in welchen sie 37 Erzählungen u. Das tägl. Gesicht der Zeit. Eine Flaschenpost aus den Zwanzigern. Hg. Gregor Ackermann u. Werner Gedichte meist religiösen Inhalts versamJung. Aachen 1989 (Feuilleton-Ausw.). – K. O.: Le- melte. Diese propagieren die christl. Tugensebuch. Hg. Enno Stahl. Köln 2007. – Herausgeber: den u. treten für ein friedl. Miteinander der Ahnung u. Aufbruch. Expressionist. Prosa. Neu- Religionen ein, wie z.B. Feindesliebe, Die wied 1957. – Schrei u. Bekenntnis. Expressionist. Kennzeichen, Des Sultans Töchter oder Die Stadt

Otto IV. mit dem Pfeil

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der Gefallenen zeigen. Schwärmerische Frömmigkeit sowie ein ausgeprägter Jenseitsglaube bestimmen sowohl ihre Kleinen Erzählungen (Stgt. 1834) als auch einen weiteren Band mit Erzählungen (Lpz. 1841); beiden Bänden sind ferner einige Gedichte beigegeben. Weitere Gedichte u. Novellen veröffentlichte O. im »Morgenblatt für gebildete Stände«, in der Zeitschrift »Europa« von August Lewald, in Eduard Dullers »Phönix« sowie der »DamenZeitung« von Karl Spindler. Als literar. Vorbilder scheinen u. a. Jean Paul, Novalis u. Tieck durch; E. T. A. Hoffmann indes lehnte O. ab, wie die Erzählung Hoffmann’s Manier zeigt. Das Dasein als Schriftstellerin reflektiert O. in der Erzählung Des Rezensenten Gattin. Den »Mährchentraum« Der Kettenschmied (Stgt. 1835) widmete O. Ludwig Uhland, mit dem sie – ebenso wie mit Friedrich Rückert u. Michael Beer – in freundschaftlicher Verbindung stand. Uhland besuchte O. 1838 in Regensburg, wo sie nach dem Tod ihrer Eltern u. einem Aufenthalt in Jena – mittlerweile nahezu vollständig gelähmt – spätestens seit 1860 dauerhaft bei einer ihrer Schwestern wohnte. Weitere Werke: Gedichte. Stgt. 1832. – Karl Ferdinand Draexler u. H. O.: Ausgew. Gedichte, Prosaisches. New York/Hildburghausen [um 1853] (Meyer’s Groschen-Bibl. der Deutschen Classiker für alle Stände 265). Literatur: Eliakim Carmoly: Oholiba: Erzählungen u. Skizzen. Rödelheim 1863, S. 97 f. – Meyer Kayserling: Die jüd. Frauen in der Gesch., Lit. u. Kunst. Lpz. 1879, S. 238–240. – Rudolf Krauß: Schwäb. Litteraturgesch. Bd. 2: Die württemberg. Litt. im neunzehnten Jh. Freib. i. Br. u. a. 1899, S. 159 f. – Salomon Wininger: Grosse Jüd. National-Biogr. Bd. 4, Cernauti 1930, S. 494–496. – Siegfried Wittmer: Regensburger Juden: jüd. Leben v. 1519 bis 1990. Regensb. 1996, S. 193–198. Hans Peter Buohler

Otto IV. mit dem Pfeil, Markgraf von Brandenburg, * um 1238, † 1308. – Minnesänger. O. war der zweite Sohn Markgraf Johanns I. u. ein Enkel König Waldemars II. von Dänemark; sein Beiname rührt von der Verwundung durch einen Pfeil während der Belagerung von Staßfurt südlich von Magdeburg

(1278) her, dessen Spitze sich lange nicht aus O.s Haupt entfernen ließ. O. regierte die geteilte Mark nach dem Tod seines Vaters (1266) u. des Onkels Otto III. (1267) zus. mit seinen Brüdern u. Vettern. Ihm kam, seit 1281 auch nach außen sichtbar, die führende Rolle unter den zahlreichen Mitregenten zu. So übte er bei den Königswahlen 1292 u. 1298 das Kurrecht aus; 1308 ist seine eigene Wahl zumindest erörtert worden. Unter O. erreichte die Mark ihre größte Ausdehnung während der Herrschaft der Askanier. Diese endete freilich schon wenige Jahre, nachdem er erbenlos gestorben war, mit dem Tod seiner Neffen Waldemar (1319) u. Heinrich II. (1320). Brandenburger Markgrafen aus drei Generationen werden in Leich- u. Sangspruchdichtung gerühmt (speziell O. preist der Meißner in XVII, 9; seinen Tod beklagt Regenbogen). Als Dichter ist nur O. bezeugt, u. zwar durch die Große Heidelberger Liederhandschrift. Doch steht er als fürstl. Dilettant in seiner Zeit keineswegs allein: Seine sieben Minnelieder sind zwischen Strophen König Wenzels II. von Böhmen, Herzog Heinrichs IV. von Breslau u. Markgraf Heinrichs III. von Meißen überliefert; die zugehörige Miniatur zeigt O. beim Schachspiel mit seiner Dame u. unten vier Musikanten. O. bevorzugt in den Liedern leichte Formen; manche Wendungen verraten Kenntnis Walthers von der Vogelweide u. bes. Heinrichs von Morungen, teilweise vielleicht vermittelt über nachklass. Minnesang, etwa des älteren Heinrich III. von Meißen. Bekannte Motive sind anmutig variiert. Am schwungvollsten wirkt Lied V (»Rûmt den wec der mînen lieben frouwen«). Ganz lehrhaft gibt sich Lied IV über »minne« u. »unminne«. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 1, S. 11 f. – KLD 1, S. 317–320 (zitiert). – Ostdt. Minnesang. Ausw. u. Übertragung v. Margarete Lang. Lindau/ Konstanz 1958, S. 42–47 (II, III, V), 121. – Gedichte v. den Anfängen bis 1300. Hg. Werner Höver u. Eva Kiepe. Mchn. 1978 (22001), S. 462 f. (V, mit Übers.). Literatur: Friedrich Heinrich v. der Hagen, Tl. 4, a. a. O., S. 25–29. – Konrad Burdach: O. v. B. In: Ders.: Reinmar der Alte u. Walther v. der Vogelweide. Halle 21928, S. 417–419. – Hermann

Otto von Botenlauben Krabbo u. Georg Winter: Regesten der Markgrafen v. Brandenburg aus askan. Hause. Bln. 1955, bes. Nr. 2105. – KLD 2, S. 380–382. – Johannes Schultze: Die Mark Brandenburg. Bd. 1, Bln. 1961. – Eberhard Schmidt: Die Mark Brandenburg unter den Askaniern (1134–1320). Köln/Wien 1973. – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Mchn. 1979, bes. S. 224–227, 408 f. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982 (Register). – Ingeborg Glier: O. IV. v. B. In: VL (Lit.). – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988. – Eva B. Scheer: ›daz geschach mir durch ein schouwen‹. Wahrnehmung durch Sehen [...]. Ffm. 1990, S. 100. – Eva Willms: Liebesleid u. Sangeslust. Mchn. 1990, S. 192, 278. – Hans-Joachim Behr: Landesherren als Minnesänger. Zur Lieddichtung Markgraf O.s IV. v. B. (m. d. P.), Hzg. Heinrichs IV. v. Breslau u. König Wenzels II. v. Böhmen. In: JOWG 6 (1990/91), S. 85–92. – Dagmar Hoffmann-Axthelm: ›Markgraf O. v. B. m. d. Pfeile‹ (Codex Manesse, fol. 13). Zum höf. Minne-, Schach- u. Instrumentalspiel im frühen 14. Jh. In: Musikal. Ikonographie. Hg. Harald Heckmann u. a. Laaber 1994, S. 157–170. – Felix Escher: O. IV. ›m. d. P.‹, Markgraf v. B. In: NDB. – Andrea Seidel: Markgraf u. Minnesänger O. IV. v. B. In: ›Dô tagte ez‹. Hg. dies. u. Hans-Joachim Solms. Dössel 2003, S. 71–76. – Carola L. Gottzmann: Die Lieder Wenzels u. der böhm. Hof als Zentrum der regierenden Fürsten im Osten. In: Böhmen als ein kulturelles Zentrum dt. Lit. Hg. Petra Hörner. Ffm. 2004, S. 7–44, bes. S. 23–27. Gisela Kornrumpf

Otto von Botenlauben, † vor dem 7.2. 1245; Grabmal: Frauenroth, Dorfkirche. – Minnesänger. Der vierte Sohn Graf Poppos VI. von Henneberg ist 1197–1244 in zahlreichen Urkunden bezeugt, zunächst unter dem Namen »Otto comes de Henneberg«, dann, ab 1206, nach der Burg über Kissingen, als »comes de Botenlouben«. Wie sein Vater stand er in enger Beziehung zum Stauferhof: Er ist bei Heinrich VI., Friedrich II. u. Heinrich (VII.) bezeugt. In Syrien, wo er 1208 u. 1220 urkundete, ging er eine vorteilhafte Ehe mit Beatrix, einer Tochter Joscelins III. von Courtenay, Seneschalls von Jerusalem, ein u. hielt sich dort mit Unterbrechungen bis 1220 auf. Nach seiner Heimkehr unterhielt er gute Beziehungen zu Würzburger Geistlichen, insbes. zum Fürstbischof Hermann I. O. u. Beatrix gründeten 1231 das Zisterzienserin-

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nenkloster Frauenrode bei Kissingen u. statteten es in der Folge durch großzügige Zuwendungen aus. 1234 verkauften sie die Burg Botenlauben an den Würzburger Bischof u. widmeten sich ganz der Förderung des Klosters. Am 7.2.1245 wird Beatrix als Witwe genannt. O.s in der Hauptsache in den großen alemann. Liederhandschriften Ende des 13. u. Anfang des 14. Jh. überlieferte Minnelyrik, darunter ein Leich, entstand vermutlich vor 1230. Seine 22 Strophen (Jaehrling: 24) gruppieren sich in einstrophige (I, II, VI-X), zweistrophige (IV, XII, XIV) u. dreistrophige (III, V, XIII) Lieder in Kanzonenform; IX u. IV werden von den Herausgebern entgegen der Überlieferung aufgrund des engen themat. Zusammenhangs u. der weitgehenden Tongleichheit zu einem Lied zusammengefasst. Mit seinen Liedern in der formalen u. themat. Tradition der stauf. Minnesänger um Friedrich von Hausen greift O. die gängigen Liedtypen seiner Zeit mit z.T. reizvollen Neuerungen auf. Neben Werbeliedern (I, II, V-VII; X an Frau Minne), Frauenmonolog (VIII) u. Kreuzlied-Wechsel (XII) hat er in seinem Repertoire Wächtertagelieder, die in Situation u. Redeverteilung variieren: III, ein WächterRitter-Dialog, u. XIII (mit Refrain), in dem Wächter, Ritter u. Dame zu Wort kommen, inszenieren wie traditionelle Tagelieder den Abschied der Liebenden nach gemeinsam verbrachter Nacht, während IX, IV u. XIV mit dem übl. Personal, aber in veränderter Situation, das Warten auf den Liebhaber, Einlass u. Begrüßung thematisieren. Der Minneleich (IX) in der Tradition romanischer Lais u. Descorts basiert formal auf der zweitaktigen Lai-Zeile; die Versikel unterscheiden sich nur in der verschiedenen Zusammenstellung solcher Lai-Zeilen u. durch gelegentl. Viertakter (Kuhn). Anders als in den Liedern mit meist schlichter Sprache u. knappem Stil werden hier typische Minnesituationen um Preis u. Klage, Freude u. Leid in kunstvoller formaler Gestaltung ausführlicher durchgespielt. Wie Minnesangkunst vom Verhalten der Dame abhängt, drückt der Sänger pointiert am Schluss des Leichs aus: »wie suoze ich danne singe und seitenspil erklinge, /

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Otto von Freising

swenn ich frœlîche ob allen fröiden swebe!« Otto von Diemeringen ! Mandeville, (XI, 118 f.). Jean de Mit seinem schmalen, konturenreichen Œuvre kann O. in einer stauf. Traditionslinie Otto von Freising, * um 1112/13, † 22.9. höf. Kavaliersdichtung als Übergangsgestalt 1158 Morimond; Grabstätte: ebd., Abzwischen dem Hausenkreis u. den späthöf. teikirche. – Bischof von Freising (1138 bis schwäb. Sängern gesehen werden. Mit seinen 1158), Geschichtsschreiber. Tageliedern, insbes. aber mit dem Leich, dürfte er v. a. auf Ulrich von Winterstetten Als fünfter Sohn des babenbergischen Markgewirkt haben. Die Dichterkollegen kennen grafen Leopold III. von Österreich (Ostmark) seinen Namen: Gottfried von Neifen erwähnt u. dessen Gemahlin Agnes, der Tochter König die Mauern der Burg Botenlauben (XXVII), u. Heinrichs IV., die in erster Ehe mit Herzog Hugo von Trimberg nennt ihn im Renner (vv. Friedrich I. von Schwaben verheiratet war, 1179 f.) als Minnesänger. Die Verserzählung zählte O. zum höchsten Reichsadel: Seine über O. u. seine ritterl. Taten, auf die Cyriacus Brüder, Leopold IV. (1136–1141) u. Heinrich Spangenberg in seiner Hennebergischen Chronik Jasomirgott, waren nacheinander Herzöge (Straßb. 1599) hinweist, ist nicht erhalten. von Bayern (bis 1156) u. Markgrafen bzw., Ausgaben: KLD 1, S. 307–316. – Stöckel 1882 seit 1156, Herzöge von Österreich. Über seine (s. u.). – Schuchard 1940 (s. u.). – Jaehrling 1970 Mutter war O. Halbbruder König Konrads III. (s. u.). u. Oheim Friedrich Barbarossas, sein Bruder Literatur: Ludwig Bechstein: Gesch. u. Ge- Konrad war seit 1147 Bischof von Passau, seit dichte des Minnesängers O. v. B. Lpz. 1845. – 1164 Erzbischof von Salzburg. Schon früh Hermann Stöckel: O. v. B. Diss. Würzb. 1882 (mit zum Geistlichen bestimmt, wurde O. noch als Ausg.). – Hans Naumann: Die Hohenstaufen als Kind Propst der väterl. Stiftung (Kloster-) Lyriker u. ihre Dichterkreise. In: Dichtung u. Neuburg. Von etwa 1126/27 bis 1132 stuVolkstum (= Euph.) 36 (1935), S. 21–49. – Hans Karl dierte er in Frankreich (Paris); hier erwarb er Schuchard: Der Minnesänger O. v. B. Diss. PhilKenntnisse der Grammatik u. Rhetorik sowie adelphia 1940 (mit Ausg.). – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 21967 (Register). – Klaus Dieter der Patristik u. wurde mit frühscholast. GeJaehrling: Die Lieder O.s v. Bodenlouben. Hbg. dankengut vertraut. Wieweit Hugo von St. 1970 (mit Ausg. u. nhd. Übers.). – Joachim Kröll: O. Viktor, Petrus Abaelard oder Gilbert von v. B. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Poitiers als seine tatsächl. Lehrer anzusehen Nürnb. 1971, S. 74–84. – Silvia Ranawake: Höf. sind, ist umstritten, ihre Schriften aber hat O. Strophenkunst. Mchn. 1976 (Register). – KLD 2, gekannt. 1132 trat er mit 15 Begleitern in das S. 358–380. – Alois Wolf: Variation u. Integration. Zisterzienserkloster Morimond ein, dessen Darmst. 1979, S. 80–95. – Olive Sayce: The Medie- Abt er 1138 wurde, doch noch im gleichen val German Lyric 1150–1300. Oxford 1982 (RegisJahr, in dem König Konrad auch O.s Bruder ter). – Ulrich Hucker: Zwei bisher ungedr. UrkunLeopold zum Herzog von Bayern erhob, den zur Gesch. des Minnesängers Graf O. v. B. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 45 (1985), S. 169–172. – wurde O. als Bischof des bayer. Bistums Silvia Ranawake: O. v. B. In: VL. – Manfred Eikel- Freising investiert. O. reformierte das Dommann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 kapitel u. ordnete das Schulwesen, in das er (Register). – O. v. B.: Minnesänger – Kreuzfahrer – scholast. Unterrichtsmethoden einführte, er Klostergründer, mit Beiträgen v. Claudia Breitfeld förderte, nicht ohne innere Widerstände, den u. a. Würzb. 1994. – Rudolf Kilian Weigand: Vom Regularklerus in seiner Diözese, sicherte den Kreuzzugsaufruf zum Minnelied. Überlieferungs- bischöfl. Besitz u. machte erste Ansätze zum formen u. Datierungsfragen weltl. Minnelyrik. In: Aufbau einer bischöfl. Landesherrschaft. DaArtes liberales. FS Karlheinz Schlager. Hg. Marcel bei hatte er sich sowohl der wittelsbachischen Dobberstein. Tutzing 1998, S. 69–92. – Ada StütBistumsvögte wie später des neuen, welf. zel: O. v. der Bodenlauben (Graf v. Henneberg). In: Bayernherzogs Heinrichs des Löwen zu er100 berühmte Franken. Erfurt 2007, S. 17. wehren, der zugunsten seiner MarktgrünClaudia Händl dung München 1158 die bischöfl. Brücke u. den Markt bei Föhring zerstörte. Als Reichs-

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bischof stand O. in engen Beziehungen zu den Königen Konrad III. u. Friedrich Barbarossa, an deren Hoftagen er oft teilnahm; 1141/42 u. 1145/46, im Jahr der Erhebung des Zisterzienserpapstes Eugen III., reiste er als kgl. Gesandter nach Rom. 1147/49 führte er eine der beiden dt. Heeresabteilungen in den missglückten zweiten Kreuzzug. In seinem Nachruf lobt O.s Vertrauter Rahewin (Gesta Frederici 4,14) dessen Abstammung, seine staatsmänn. Tugend u. weltmänn. Klugheit, sein Harmoniestreben, seinen Dienst am Reich sowie seine Verdienste als Bischof u. Gelehrter. O.s Geschichtsschreibung ist von diesen biogr. Voraussetzungen weithin beeinflusst u. keineswegs tendenzlos: Er vertritt einen bewusst adligen, Babenbergern u. Staufern gegenüber, trotz mancher Kritik, wohlwollenden, am Christentum u. am Reich orientierten Standpunkt, betont – vorsichtig – die Rolle der Vernunft u. wendet v. a. im 8. Buch der Chronik selbst scholast. Methoden an, ohne jedoch die Glaubensgrenzen zu überschreiten, wenn er sich in den Gesta Frederici (1,5) mit der Trinitätslehre Gilberts von Poitiers auseinandersetzt u. sie zur histor. Erklärung nutzbar macht. Er billigt dem Mönchtum bzw. dem religiösen Leben in der Chronik (7,35) eine geschichtsentscheidende Bedeutung zu, wenn er es allein dafür verantwortlich macht, dass der Untergang der Welt sich noch hinauszögere. Vor allem aber ist O.s Geschichtsschreibung durch die gelehrte Suche nach der histor. Wahrheit u. nach der Erklärung u. Deutung der Geschichte geprägt. Sie bildet gleichsam eine histor. »Summa« im Sinne der enzyklopäd. Gelehrsamkeit des 12. Jh. Während seine Chronik inhaltlich eine zwar eigenständige, aber auf Vorlagen (Historia tripartita, Isidor von Sevilla, Regino von Prüm, Wipo, Hermann von Reichenau, v. a. Frutolf von Michelsberg) beruhende Kompilation darstellt, liegt ihre eigentl. Originalität in den geschichtstheolog. Deutungen, denen es zu verdanken ist, wenn O.s Werk als ein Höhepunkt der mittelalterl. Historiografie betrachtet wird. Die in einer ersten (nicht erhaltenen) Fassung 1146 abgeschlossene Chronik (eigentl.:

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Historia) hat O. auf Bitten Friedrich Barbarossas überarbeitet u. 1157 dem Kaiser gewidmet. Im Anschluss an die spätantiken Geschichtsentwürfe des Augustinus (De civitate Dei) u. Orosius (Historiae adversum paganos), aber auch an Boethius (Geschichte als Lebenstrost) beschreibt er in sieben, an den Umwälzungen (mutationes) in der Geschichte orientierten Büchern das Weltgeschehen von der Paradiessetzung bis zum (Katastrophen-)Jahr 1146: Das erste Buch endet mit dem Untergang des babylon. Reichs, das zweite mit der Ermordung Cäsars u. der Errichtung der Monarchie, das dritte mit dem Ende der Christenverfolgungen unter Konstantin, das vierte mit dem Ende Westroms u. dem Aufstieg der Franken, das fünfte mit der Teilung des Frankenreichs, das sechste mit der Bannung Heinrichs IV., das siebente mit der Gegenwart, einer Beschreibung der Mönchs- u. Kanonikerorden u. einem Katalog der Kaiser u. Päpste. Die Bücher enden jeweils mit einem Klagekapitel über die Veränderlichkeit der Dinge u. sind auch sonst von deutenden Kommentaren durchsetzt, die der Chronik ihr eigentl. Gepräge geben. Dieser »historischen« Darstellung fügt O. folgerichtig ein achtes Buch über die künftige Endzeit u. das ewige Leben als Überwindung der Vergänglichkeit bzw. die ewige Verdammung an u. spannt so den Bogen über die gesamte Heilsgeschichte. Damit vollendet er aus dem zeitgeschichtlich inspirierten Versuch heraus, die in den Wirren des Investiturstreits aus der Ordnung geratene Welt in ihrem Zeitverlauf geschichtstheologisch zu deuten, gleichsam die historiograf. Tradition der Weltchronistik. Die in gewisser Weise als komplementäre Ergänzung zur Chronik zu betrachtenden, 1157/58 im Auftrag des Kaisers verfassten Gesta Frederici (eigentl.: Chronica) setzen die Chronik nicht fort, sondern beginnen mit dem Aufstieg der Staufer zu Herzögen von Schwaben im Investiturstreit. Das erste Buch bildet eine Art stauf. Hausgeschichte bis zum Tod Konrads III., zgl. aber eine (bewusste) Korrektur des von einer Weltuntergangsstimmung gezeichneten Gegenwartsbildes (des siebten Buchs) der Chronik, das hier einer hoffnungsvolleren Einschätzung der Regie-

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rung Friedrich Barbarossas weicht. Dessen erste Regierungsjahre (1152 bis Sept. 1158) sind Inhalt des zweiten Buchs, das die Vorgaben des kgl. Auftragsbriefes zu einer Reichshistoriografie ausgestaltet. Das Buch endet, O.s polit. Idealen gemäß, mit dem allseits wiederhergestellten Frieden im Reich, dem Ausgleich zwischen den Staufern, Welfen u. Babenbergern. Den Vorsatz, ein drittes Buch anzufügen, hat O., möglicherweise wegen der neu auftretenden Spannungen zwischen Kaiser u. Papst in Besançon 1157, nicht mehr ausgeführt, die Fortsetzung aber seinem Kaplan Rahewin übertragen, der zwei weitere Bücher anfügte. Die (scheinbare) Widersprüchlichkeit zwischen den beiden Büchern der Gesta Frederici ist oft diskutiert u. zuletzt so gedeutet worden, dass O. das Werk bereits nach der Vollendung der Chronik begonnen, aber 1157/58 anlässlich der Widmung an Friedrich Barbarossa überarbeitet habe. Erst im zweiten Buch ist die prostauf. Tendenz voll durchgesetzt (Hageneier). Die Diskussion darüber bleibt abzuwarten, zumal demgegenüber, nicht weniger berechtigt, noch einmal die durchdachte Struktur des Gesamtwerks betont worden ist, mit dem Ziel, die »rechte Ordnung in der Welt« zu propagieren (Bagge). Der Historiografie O.s liegt ein geschichtstheolog. System zugrunde, das ihr erst ihr spezif. Gepräge verleiht. Die Geschichte ist als Heilsgeschichte konzipiert, die das Wirken Gottes u. die Gott-Mensch-Beziehungen in den Vordergrund stellt u. eine auf die Zukunft der ewigen Seligkeit ausgerichtete Vergangenheitsbetrachtung verlangt. An diesen Einsichten ist trotz Widerspruchs (Staubach) festzuhalten. In seinen Gesta Frederici (1,5) erklärt O. die der Zeitlichkeit u. damit der Veränderung unterworfene Geschichte aus dem Unterschied zwischen dem schöpfenden, aus sich selbst heraus wirksamen, u. dem geschaffenen, davon ontologisch – unvollkommen – abgeleiteten Prinzip. Das Planvolle zeigt sich in der zeitl. Dimension ebenso wie in den nahezu gesetzmäßigen Kräften des histor. Ablaufs: in der räuml. OstWest-Wanderung von Herrschaft (»potentia«), Gelehrsamkeit (»sapientia«) u. Frömmigkeit (»religio«), der zeitl. Folge von sechs

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Weltaltern (»aetates«), v. a. aber einmal in der Abfolge der – der Danielauslegung des Hieronymus u. der Geschichtsschreibung des Orosius entnommenen – vier Weltreiche (Babylon, Meder-Perser, Griechen, Römer), deren letztes, das römische, zwar einigen Herrschaftswechseln (»translationes«) unterworfen ist, als solches aber bis zur Gegenwart u. bis zum Ende der Zeiten fortdauert, zum andern in dem Prinzip der beiden augustin. Gemeinschaften: der »civitas Dei« u. der »civitas terrena«, die die gesamte Geschichte durchziehen. Mittels der Translatio-Lehre, die er als Erster mit der »regna«-Lehre verbindet, gelingt es O., »mutabilitas«- u. Ordnungsprinzip zu harmonisieren: Die Veränderlichkeit der Welt spielt sich nach einem erkennbaren Plan ab. Zgl. kann er die Gegenwart unmittelbar an die (römische) Vergangenheit anschließen u. nicht nur in die Weltgeschichte integrieren, sondern als deren zielstrebiges (bisheriges) Ergebnis herausstellen. Diese Zielstrebigkeit zu erweisen u. den histor. Standpunkt der Gegenwart zu bestimmen, ist ihm ein Grundanliegen. Das Reich (»imperium«) spielt dabei eine wichtige Rolle, ist aber nicht Selbstzweck, sondern in die Civitas-Lehre eingeordnet, in der O.s Geschichtstheologie symbolische Gestalt annimmt, ohne sich darin zu erschöpfen. Wie O.s »mutabilitas«-Lehre das Vertrauen des Orosius in einen ständigen Fortschritt der christl. Zeiten modifiziert, so erscheint auch die augustin. Civitas-Lehre bei ihm in entscheidenden Punkten mittelalterlich umgedeutet: Die beiden »civitates« manifestieren sich im Verlauf der Geschichte durchaus historisch in verschiedener Gestalt, bleiben aber – potentiell, nicht von all ihren Mitgliedern her – vielfach, nämlich teleologisch (durch die ewigkeitl. Zielrichtung), ontologisch (durch die Teilhabe am Sein der Schöpfung) u. entwicklungsgeschichtlich (durch den Heilsplan), mit den himml. (»metaphysischen«) Civitates verbunden, die sich erst im Jenseits realisieren. O. hat damit gegenüber Augustin eine konkretere Vorstellung von institutionalisierten, historisch wandelbaren Gemeinschaften gewonnen, deren Entwicklung über drei Zustände (»status«) verläuft, die jeweils einen – historischen – Fortschritt für die

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»civitas Dei« verwirklichen. »Reich« (»imperium«) u. »Kirche« (»ecclesia«) sind in diese Entwicklung einbezogen. Die erste Epoche endet mit der Geburt Christi u. steht unter der Vorherrschaft der »civitas mundi«. Die zweite Epoche erlebt die weltweite Ausbreitung des Gottesstaates: Der gegenwärtige, seit Theodosius andauernde Zustand ist durch die nahezu vollständige Zusammenfassung beider Civitates in einem »Mischstaat«, einer »civitas permixta« als bes. Form des Gottesstaates, gekennzeichnet, deren Merkmale das Christentum u. die Eintracht seiner beiden Häupter, Papst u. Kaiser, sind. Die dritte Epoche entspricht der nachirdischen Ewigkeit. O.s Gegenwartsbild – u. daraus ist seine Geschichtsschreibung erst erwachsen – aber wird durch den Investiturstreit geprägt, der die »civitas permixta« erneut auseinandergerissen hat. Dieser Vorfall hat O., der parteipolitisch nicht eindeutig Stellung nimmt, verunsichert u. tief bewegt u. ihn zur Umdeutung seiner geschichtstheolog. Vorstellungen gezwungen. Da die histor. Entwicklung seinem Fortschrittsdenken widerspricht, erblickt er in der Bannung Heinrichs IV. den Zerfall des letzten Weltreichs, in der »Kirche« den Stein, der es nach dem Danielgleichnis zerstören wird (Chronik 6,35 f.). Damit ist zwangsläufig eine Endzeiterwartung impliziert, deren unmittelbares Bevorstehen O. jedoch durch ein religiöses Leben der vielen reformierten Orden aufhaltbar erscheint u. die die Anfügung des achten Chronik-Buchs über die Endzeit provoziert. In den Gesta Frederici – wie schon im Prolog der Widmungsfassung der Chronik – korrigiert O. angesichts der Friedenszeit Friedrich Barbarossas diese Deutung: Der Investiturstreit erscheint ihm nunmehr als ein weiteres Beispiel der allgemeinhistor. »mutabilitas«. O.s polit. u. geschichtstheolog. Ideale aber bleiben die gleichen, sie sind bestimmt durch Eintracht (»concordia«) u. Friede (»pax«), durch ein Zusammenwirken von Kaiser u. Papst u. den Fortbestand der »civitas permixta«. Das Verhältnis von Chronik u. Gesta Frederici ist in der Forschung allerdings immer noch umstritten.

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Geschichtsschreibung ist für O. Weltdeutung mit eth. Tendenz: Der Mensch, vom Schöpfer mit Verstand (»ratio«), Glauben (»fides«) u. Entscheidungsfreiheit (»liberum arbitrium«) ausgestattet, soll aus der dauernden Wandlungen unterworfenen Geschichte lernen, seinen Blick auf das Ewige zu richten. Die Geschichte lehrt aber auch, wie nahe dieses Ewige ist, sie ist, indem sie deutet, histor. Standortbestimmung. O.s Geschichtsschreibung ist nicht reine Faktenerzählung, sondern allegorische (übertragene) u. tropolog. (moralisierende) Geschichtsexegese, Auslegung der von Gott gelenkten Geschichte als Offenbarung Gottes, in Fortsetzung der biblischen – ebenfalls historischen – Offenbarung, zur Ermittlung des göttl. Willens u. des göttl. Heilsplans. Diesem Ziel dient seine symbolistisch-figuralist. Betrachtungsweise, die, mittels der »ratio«, histor. Gestalten u. Ereignisse als bewusste Bedeutungsträger für Gegenwart u. Zukunft begreift, um »vom Sichtbaren zum Unsichtbaren« zu gelangen. Geschichtsschreibung wird damit zu einer theolog. Disziplin. Mit dem Aufgreifen u. Umsetzen der gelehrten Strömungen u. Methoden seiner Zeit ist O., der sich stets der Grenzen der menschl. Erkenntnisfähigkeit bewusst bleibt u. daher Vorsicht in seinen eigenen Urteilen walten lässt, ein Spiegelbild der letztlich auf Ausgleich u. Symbiose bedachten Gelehrsamkeit des 12. Jh. O. wurde, allerdings erst seit dem SpätMA, in seiner babenbergischen Heimat Österreich u. im Zisterzienserorden, nicht aber in seinem Bistum, als Seliger verehrt. Sein Werk fand bereits im 12. Jh. weitere, allerdings auf den bayerisch-österr. Raum beschränkte Verbreitung, während die Widmungsfassungen auf den Oberrhein u. das Elsass weisen. In Otto von St. Blasien fand seine Chronik, in seinem Kaplan Rahewin fanden die Gesta einen Fortsetzer. Nach einer Zeit – gemessen an der Zahl der Handschriften – geringerer Beachtung griffen die Humanisten des 15. u. 16. Jh. wieder verstärkt auf seine Werke, v. a. die Chronik (Erstdr. Straßb. 1515), zurück, die nun allerdings weniger wegen ihrer originellen, geschichtstheolog. Deutungen als vielmehr der überlieferten Fakten zur Welt-

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u. Reichs- wie auch zur bayerischen u. österr. Landesgeschichte wegen geschätzt wurde. Die moderne Geschichtswissenschaft würdigt O., trotz gelegentlicher krit. Äußerungen, sowohl wegen seiner historiograf. Leistung als auch wegen seiner geschichtstheolog. Vorstellungen als den bedeutendsten Chronisten der Stauferzeit u. einen der wenigen Geschichtsphilosophen des MA. Werke: Chronica sive historia de duabus civitatibus. Hg. Adolf Hofmeister. MGH SSrG, Bd. 45, 1912. – Chronik oder die Gesch. der zwei Staaten. Hg. Walther Lammers. FSGA 16. Darmst. 1960. – O. u. Rahewin: Gesta Friderici I. imperatoris. Hg. Georg Waitz u. Bernhard v. Simson. MGH SSrG, Bd. 46, 1912. – O. u. Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. Hg. Franz-Josef Schmale. FSGA 17. Darmst. 1965. Literatur: Zur Biografie: Adolf Hofmeister: Studien über O. v. F. I. Der Bildungsgang O.s v. F. In: Neues Archiv der Gesellsch. für ältere dt. Geschichtskunde 37 (1912), S. 99–161, 633–768. – O. v. F. 1158–1958 (= Analecta sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958). – Joseph A. Fischer (Hg.): O. v. F. Gedenkgabe zu seinem 800. Todesjahr. Freising 1958. – Leopold Grill: Das Itinerar O.s v. F. In: FS Friedrich Hausmann. Graz 1977, S. 153–177. – Ders.: Der Cistercienserbischof O. v. F. u. das benediktin. Mönchtum. In: Citeaux. Commentarii Cistercienses 31 (1980), S. 105–118. – Ders.: Neues zum Itinerar O.s v. F. In: FS Friedrich Hausmann. Graz 1987, S. 37–46. – Cornelia Kirchner-Feyerabend: O. v. F. als Diözesan- u. Reichsbischof. Ffm. u. a. 1990. – Zum Werk: Kassian Haid: O. v. F. In: Cistercienser-Chronik 44 (1932), S. 59–71, 91–102, 131–144, 189–203, 222–234, 253–267, 287–299, 324–335; 45 (1933), S. 33–44, 66–77, 101–105, 132–138, 163–175, 205–216, 233–240, 261–277. – Hans Pozor: Die polit. Haltung O.s v. F. Diss. Halle/ S. 1937. – Paolo Brezzi: Ottone di Frisinga. In: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medio evo 54 (1939), S. 129–328. – A. E. Cohen: O. van F. als geschiedsschrijver van zijn tijd. Amsterd. 1960. – P. Brezzi: Le fonti dei ›Gesta Friderici Imperatoris‹ di Ottone e Rahevino. In: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medio evo 75 (1963), S. 105–121. – Franz-Josef Schmale: Die ›Gesta Friderici I. imperatoris‹ O.s v. F. u. Rahewins. Urspr. Form u. Überlieferung. In: Dt. Archiv für Erforsch. des MA 19 (1963), S. 168–214. – Karl F. Morrison: O. of F.’s Quest for the Hermeneutic Circle. In: Speculum 55 (1980). S. 207–236. – Gerd Althoff: Die Zähringerherrschaft im Urteil O.s v. F. In: Die Zähringer. Hg. Karl Schmid. Sigmaringen 1986,

Otto von Freising S. 43–58. – Zum Geschichtsbild: Justus Hashagen: O. v. F. als Geschichtsphilosoph u. Kirchenpolitiker. Lpz. 1900. – Joseph Schmidlin: Die geschichtsphilosoph. u. kirchenpolit. Weltanschauung O.s v. F. Freib. i. Br. 1906. – Anny Hartings: Civitas Dei – Civitas Mundi in den Werken O.s v. F. Diss. masch. Bonn 1943. – Heinz Müller: Die Hand Gottes in der Gesch. Diss. masch. Hbg. 1949. – Hugo Staudinger: Weltordnung u. Reichsverfassung bei O. v. F. Diss. Münster 1950. – Josef Koch: Die Grundlagen der Geschichtsphilosophie O.s v. F. In: Münchener Theolog. Ztschr. 4 (1953), S. 79–94. – Johannes Spörl: Die ›Civitas Dei‹ im Geschichtsdenken O.s v. F. In: La Ciudad de Dios 167 (1956), S. 577–596. – Hans Martin Klinkenberg: Der Sinn der Chronik O.s v. F. In: FS Gerhard Kallen. Bonn 1957, S. 63–76. – Walther Lammers: Ein universales Geschichtsbild der Stauferzeit in Miniaturen. Der Bilderkreis zur Chronik O.s v. F. im Jenenser Codex Bose q. 6. In: FS Otto Brunner. Gött. 1963, S. 170–214. – Walter Mohr: Zum Geschichtsbild O.s v. F. In: FS Thomas Michels. Münster 1963, S. 274–293. – Manfred Müller: Beiträge zur Theologie O.s v. F. Mödling bei Wien 1965. – Norbert Grabe: Die Zweistaatenlehre bei O. v. F. u. Augustin. Ein Vergleich. In: Cistercienser-Chronik 80 (1973), S. 34–70. – Horst Dieter Rauh: Das Bild des Antichrist im MA. Münster 1973. – Walther Lammers: Weltgesch. u. Zeitgesch. bei O. v. F. Wiesb. 1977, S. 68–99. – Hans-Werner Goetz: Das Geschichtsbild O.s v. F. Köln/Wien 1984 (Lit.). – Camille Elise Bennett: Historiography as Historical Event: O. of F.’s Use of the Past for Religious Restoration. Diss. Cornell University 1985. – Nikolaus Staubach: Gesch. als Lebenstrost. Bemerkungen zur historiograph. Konzeption O.s v. F. In: Mlat. Jb. 23 (1988), S. 46–75. – Fiorella Vergani: ›Sententiam vocum seu nominum non caute theologiae admiscuit‹. Ottone di Frisinga di fronte ad Abelardo. In: Aevum 63 (1989), S. 194–224. – Elisabeth Mégier: Tamquam lux post tenebras, oder: O.s v. F. Weg v. der ›Chronik‹ zu den ›Gesta Frederici‹. In: Mediaevistik 3 (1990), S. 131–267. – Sverre Bagge: Ideas and Narrative in O. of F.’s ›Gesta Frederici‹. In: Journal of Medieval History 22 (1996), S. 345–377. – Ders.: Kings, Politics, and the Right Order of the World in German Historiography c. 950–1150. Leiden/Boston/Köln 2002. – Fabian Schwarzbauer: Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs v. Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis u. O.s v. F. Bln. 2005. – H.-W. Goetz: Geschichtsbewußtsein u. Frühscholastik in der spätsal. u. frühstauf. Weltchronistik. In: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. u. beginnende 12. Jh. – Positionen der Forsch. Hg. Matthias Wemhoff u. Jörg

Otto von Passau Jarnut. Mchn. 2006, S. 197–218. – Zur Rezeption: Brigitte Schürmann: Die Rezeption der Werke O.s v. F. im 15. u. frühen 16. Jh. Stgt. 1986. Hans-Werner Goetz

Otto von Passau. – Autor eines mystischen Erbauungsbuchs des 14. Jh.

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Schwaben, Bayern u. Ostfranken war das Werk verbreitet; über Köln wurde es in die Niederlande vermittelt. 90 lat. Kölner Predigten in einer Handschrift von etwa 1420 nehmen direkten Bezug auf O.; in Anlage u. z.T. im Wortlaut sowie in der Illustration der Drucke beziehen sich Johannes Niders Vierundzwanzig goldene Harfen auf den Text; auch die Sangspruchdichter Hans Rosenplüt, Hans Folz u. Michel Beheim haben die Vierundzwanzig Alten gekannt. Die Rezeption reicht bis ins 17. Jh., in der Spätzeit v. a. befördert durch pastorale Bestrebungen der Gegenreformation.

Angaben in der Vorrede des Werks u. vier urkundl. Zeugnisse belegen O. zwischen 1354 u. 1385 in Basel als Lektor der Franziskaner, Kustos der Minoriten, Konventuale u. 1384 als Visitator des Klarissenklosters Königsfelden. Die Äußerung im Nachwort, Die vierundzwanzig Alten oder der goldene Thron der Ausgaben: Teileditionen: Werner Besch: Sprachminnenden Seele sei am 2.2.1386 abgeschlossen landschaften u. Sprachausgleich im 15. Jh. Mchn. worden, widerspricht der eindeutigen Datie- 1967, S. 367–397 (4. u. 11. Alter). – Kurt Ruh: rung der ältesten, oberrheinischen Hand- Franziskan. Schrifttum im dt. MA 11. Mchn. 1985, S. 183–198 (17. Alter). schrift auf das Jahr 1383. Literatur: Wieland Schmidt: Die vierundO.s Werk knüpft an den Passus Apk 4,4 über die unmittelbare Gottnähe der 24 Äl- zwanzig Alten O.s v. P. Lpz. 1938. Neudr. Bln. testen an, der gegen Ende des 14. Jh. zu einem 1967. – Leopold Kretzenbacher: Die ›Vierundzwanzig Ältesten‹. Südostalpine Zeugnisse zu eiv. a. in der bildenden Kunst belegten, 1419 nem Kultmotiv aus der Apokalypse. In: Carinthia 1 von der Wiener theolog. Fakultät verurteilten (1961), S. 579–605. – G. J. Jaspers: O. v. P. in den Heiligenkult führte. Die aus Sentenzen von Niederlanden. In: Neoph. 69 (1985), S. 90–100. – mehr als 100 Autoren zusammengefügte Norbert H. Ott: Deutschsprachige Bilderhss. des christl. Lebenslehre ist in 24 Lehrgespräche SpätMA u. ihr Publikum. Zu den illustrierten Hss. der Ältesten mit der »minnenden sêle« ge- der ›Vierundzwanzig Alten‹ O.s v. P. In: Münchner gliedert; kompositor. Mitte ist die Rede des Jb. der bildenden Kunst 3. F. 38 (1987), S. 107–148. zwölften Alten, ein Marienleben; Vorrede u. – André Schnyder: O. v. P. In: VL (auch: Nachträge Nachwort – die sog. »Dankbarkeit« – sowie u. Korrekturen). – Irene v. Burg: Gestern ein Bestein Register umrahmen die 24 Einzelkapitel. seller, heute vergessen. Mittelalterrezeption der Erbauungslit. am Beispiel ›Die 24 Alten‹ v. O. v. P. O. zitiert die Bibel, die Kirchenväter, scholast. In: MA-Rezeption IV. Medien, Politik, Ideologie, Theologen u. antike Autoritäten. Obgleich er Ökonomie. Hg. dies. u. a. Göpp. 1991, S. 1–10. – in der popularisierenden Nachfolge der Walter Hoffmann: Einige Anmerkungen zur wieoberrheinischen Mystik steht, fehlen die deraufgefundenen O. v. P.-Hs. aus Trier. Vielfalt »modernen« Mystiker Eckhart, Tauler u. des Deutschen. FS Werner Besch. Hg. Klaus Seuse; nur kanonisch gesicherte u. durch Mattheier u. a. Ffm. u. a. 1993, S. 225–40. – Norbert Quellennennung zusätzlich sanktionierte H. Ott: Text u. Bild – Schrift u. Zahl. Zum mehrLehrinhalte werden dem Publikum – »alle dimensionalen Beziehungssystem zwischen Texten gotz frunde, geistlich vnd weltlich, edel vnd u. Bildern in mittelalterl. Hss. In: Wissen u. neue vnedel, frowen vnd man« – angeboten. Dem Medien: Bilder u. Zeichen v. 800 bis 2000. Hg. Ulrich Schmitz u. Horst Wenzel. Bln. 2003, von O. intendierten Leser scheint auch der S. 57–91. Norbert H. Ott / Red. tatsächl. Rezipientenkreis entsprochen zu haben: Von den weit über 100, vielfach illustrierten Handschriften sind viele als Besitz Otto, Herbert, * 15.3.1925 Breslau, † 24.8. von städt. Laien u. Nonnenklöstern, einige 2003 Ahrenshoop. – Romanautor, Erzähauch als Repräsentationsobjekte für fürstl. ler, Szenarist, Reiseschriftsteller. Auftraggeber nachzuweisen. Hauptverbreitungsgebiet der Vierundzwan- O., Sohn einer Näherin u. eines Arbeiters, zig Alten ist der Oberrhein, aber auch in besuchte die Volksschule, lernte Kaufmann u.

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arbeitete als Bankangestellter. Als Wehr- andere seiner Werke einen heftigen Meimachtsangehöriger geriet er 1943/44 zuerst nungsstreit aus; immer sind O.s Helden wiin rumänische, dann in sowjet. Gefangen- dersprüchlich u. unangepasst. In dem 1983 in schaft. Nach dem Besuch der Antifazentral- Berlin u. Weimar, 1987 in Düsseldorf erschule in Moskau kehrte er 1949 in die DDR schienenen Roman Der Traum vom Elch (verzurück, wirkte als Funktionär der Gesell- filmt 1986) – als erotischer Roman heftig schaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, diskutiert – stehen Fernweh gegen Provinwurde Dramaturg u. Verlagslektor u. lebte als zialität u. Ehrlichkeit gegen das kalkulierte freier Schriftsteller (Theodor-Fontane-Preis Spiel der Macht. In dem Roman Das Hundeohr des Bezirkes Potsdam 1956 u. 1961, Heinrich- (Lpz. 1997) stürzt Edgar Deutschmann vom Mann-Preis 1971, Nationalpreis 1978) in Pferd u. bekommt ein Hundeohr, mit dem er Kleinmachnow, Potsdam u. zuletzt in Ah- anderes als das von Menschenohren Gehörte renshoop. O. war ein außergewöhnlich er- erfährt. Es ist O.s Versuch, das Leben in unfolgreicher Schriftsteller, der nur selten die terschiedl. Gesellschaften zu erfassen. bes. Aufmerksamkeit der Literaturkritik erO. war Mitgl. des Schriftstellerverbandes hielt. der DDR u. Vorsitzender des BezirksvorstanBekannt wurde O. mit seinem ersten Ro- des Potsdam; er gehörte dem Zentralvorstand man Die Lüge (Bln./DDR 1956; bearb. 1965), des Schriftstellerverbandes an. Seit 1987 war in dem die mit autobiogr. Erlebnissen ange- er im PEN-Zentrum der DDR u. schließlich reicherte Geschichte Alfred Haferkorns er- im PEN-Zentrum Deutschlands. zählt wird, der seine Mitschuld am Krieg erWeitere Werke: Minarett u. Mangobaum. Bln./ kennt u. sich unter bedrückenden Verhält- DDR 1960 (Reportage). – Septemberliebe (Aus dem nissen zu wandeln beginnt. O. gehört der Szenarium). In: Junge Kunst 1961, H. 4. – Griech. Schriftstellergeneration an, die durch Fa- Hochzeit. Bln./DDR 1964 (E.). – Georg u. seine schismus u. Krieg betrogen worden war. Er Brüder. 1967 (Hörsp.). – Mein Ort Schakahu. In: gab nach 1950 Anthologien u. Material- NDL, H. 4 (1986). – Vater besuchen. In: NDL, H. 5 (1987). sammlungen zur deutsch-sowjet. FreundLiteratur: Horst Simon: Ein Kommunist muss schaft heraus (u. a. Deutsch-sowjetische Freundstets Neues probieren. In: Neues Deutschland, schaft in der Literatur. Bln./DDR 1950). Danach 12.11.1973 (Interview). – H. O. In: Bibliogr. Kaentstanden Berichte über seine Reisen nach lenderbl. Berliner Stadtbibl., F. 3 (1975). – Horst Syrien, Griechenland, Italien, Kuba (Stunden- Langer: Entwurf vom Menschen. H. O. ›Der Traum holz und Minarett. Bln./DDR 1958, Reportage. vom Elch‹. In: NDL, H. 9 (1984), S. 130–138. – Republik der Leidenschaft Kuba-Buch. Bln./DDR Rüdiger Bernhardt: Wie träumt man vom ›Elch‹? 1961). O.s Alltagsromane der 1960er Jahre In: Universitätsztg. (Halle), 5.4.1984. – Regina erzählen von Konflikten zwischen individu- General: Liebe in Zwischenräumen. In: Freitag, ellen Ansprüchen u. äußeren Normen bei 29.8.2003. Rüdiger Bernhardt grundsätzl. Bejahung der gesellschaftl. Ordnung. Die Erzählung Zeit der Störche (Bln./ Weimar 1966. Gütersloh 1969. Verfilmt v. Otto, Karl, auch: Otto Karl Friedrich, * 8.6. Siegfried Kühn. DDR 1970) ist die von Zu1902 Chemnitz, † 18.10.1978 Karl-Marxkunftsoptimismus geprägte märkische LieStadt (Chemnitz). – Lyriker. besgeschichte einer Lehrerin u. eines Bohrarbeiters – Sinnbild des Ausgleichs zwischen Nach der Lehre in einem Anwaltsbüro war O. Intelligenz u. Arbeiterklasse. Dem Thema der bis 1923 als Postbeamter tätig. 1924 arbeitete Ankunft im Sozialismus blieb O. auch in den er zeitweilig als Sekretär von Georg Kaiser. Er Romanen Zum Beispiel Josef (Bln./Weimar schloss sich der KPD an u. war 1931/32 wegen 1970, verfilmt 1974), der Geschichte eines »literarischen Hochverrats« in Festungshaft ehemaligen Fremdenlegionärs, der aus sowie 1933–1940 wegen antifaschist. TätigWestdeutschland in die DDR gekommen ist, keit mehrfach in Konzentrationslagern. Nach u. Die Sache mit Maria (Bln./Weimar 1976. dem Zweiten Weltkrieg lebte er in der DDR, Mchn. 1978) treu; das Buch löste wie auch wo ihm 1956 der Literaturpreis der Stadt

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Dresden u. 1960 der Kunstpreis des Bezirks Karl-Marx-Stadt verliehen wurde. O.s erster, pseudonym veröffentlichter Gedichtband, Vom falschen Heroismus (Chemnitz 1934), wurde von den Nationalsozialisten umgehend verboten u. konfisziert. Vereinzelten Publikationen in Zeitungen u. Zeitschriften folgten 1947 der Gedichtband Heimat u. 1949 der Bericht über den Arbeitermord der Gestapo 1945 in Neukirchen, Unsterbliche Opfer (beide Chemnitz). Die 1952 veröffentlichte Dichtung Bildnis eines Mannes, der Karl Liebknecht hieß (Bln./DDR) verband O. 1958 mit Poemen über Spartakus u. Thomas Müntzer zu dem Band Und setzet ihr nicht das Leben ein (Bln./DDR). Weitere Werke: Vom Anwaltsstift zum Hochverräter. Bln./DDR 1961. – Jahresringe. Bln./DDR 1969 (Gedicht-Ausw. 1928–68). Matthias Harder / Red.

Otto, Louise, auch: L. O., L. O.-Peters, Otto Stern, Malvine von Steinau, verh. Peters, * 26.3.1819 Meißen, † 13.3.1895 Leipzig; Grabstein: ebd., Lapidarium auf dem Alten Johannisfriedhof; Denkmal: ebd., Louise-Otto-Peters-Platz; Gedenktafel am Geburtshaus in Meißen, Baderberg 2. – Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin, Essayistin, Frauenpolitikerin. Die v. a. als Frauenpolitikerin bekannte O. veröffentlichte zwischen 1843 u. 1893 etwa 60 Publikationen – 26 Romane, Novellen u. Erzählungen, mehrere Gedichtbände, zahlreiche Schriften zur Frauenfrage, zu Kunst u. Philosophie, Geschichte, Naturphänomenen u. Alltagsleben sowie drei Opernlibretti. Davon wurden neu herausgegeben der 1846 erschienene Roman Schloß und Fabrik (Lpz. 1996, erstmals in unzensierter Fassung), die 1866 in Hamburg publizierte Streitschrift Das Recht der Frauen auf Erwerb (Lpz. 1997) u. die 1876 veröffentlichten Erinnerungen Frauenleben im deutschen Reich (Lage 1997). Wie damals alle Mädchen in Sachsen konnte O. die Schule nur bis zur Konfirmation besuchen u. musste sich danach autodidaktisch weiterbilden. Mit 16 Jahren verlor sie die Eltern u. mit 21 Jahren den ersten Verlobten. Tagebuch- u. Gedichteschreiben

waren für sie eine Möglichkeit zur Bewältigung der Schmerzerfahrungen. Ihre ersten beiden Romane, Ludwig der Kellner (2 Bde., Lpz. 1843) u. dessen Fortsetzung Kathinka (4 Bde., Lpz. 1844), zeigen deutlich den Einfluss George Sands, auch wahrnehmbar in O.s viertem Roman, Schloß und Fabrik (3 Bde., Lpz. 1846), der nur zensiert erscheinen konnte. Mit dem darin wie auch in Gedichten u. anderen Prosawerken geschilderten Elend des Industrieproletariats war sie erstmals 1840 im Erzgebirge konfrontiert worden, was ihr soziales Gewissen lebenslang prägte. Im Mittelpunkt ihrer Romane stehen meistens Frauengestalten, die bestrebt sind, unabhängig u. selbstbestimmt leben zu können, darunter auch unverheiratete Frauen mit Kind. Die entstehende religiöse Protestbewegung erhielt in Römisch und Deutsch (4 Bde., Lpz. 1847) u. Cäcilie Telville (3 Bde., Lpz. 1852) breiten Raum. O. verarbeitete die ersehnte Revolution von 1848/49 u. deren Folgen lyrisch (Märzlied), publizistisch (Adresse eines Mädchens) u. prosaisch in Romanen wie Buchenheim (3 Tle., Lpz. 1851), Heimische und Fremde (3 Bde., Lpz. 1858) u. Drei verhängnisvolle Jahre (2 Bde., Altona 1867). Es entstanden kulturhistor. Romane wie Nürnberg (3. Bde., Prag 1858) u. Zeitromane, so Neue Bahnen (2 Tle., Wien 1864) u. Deutsche Wunden (4 Bde., Bremen 1872). Im letzten Gedichtband Mein Lebensgang. Gedichte aus fünf Jahrzehnten (Lpz. 1893) bekennt O: »...ohne zu dichten, konnte ich nicht leben.« Von 1843 bis zu ihrem Tod war O. ununterbrochen journalistisch tätig, veröffentlichte zuerst Artikel (auch Gedichte) in von Ernst Keil, Robert Blum, Franz Brendel u. Carl Herloßsohn in Leipzig redigierten Zeitschriften u. Zeitungen, ebenso im »Meißner gemeinnützigen Wochenblatt«. Sie vertrat vehement die Auffassung, dass die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates eine Pflicht sei, u. sah in uneingeschränkter Bildung für das weibl. Geschlecht eine wichtige Voraussetzung dafür. Mit der 1849 gegründeten »Frauen-Zeitung« (Motto: »Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«) schuf sie den Geschlechtsgenossinnen ein Forum für die Vertiefung u. Verbreitung frauenemanzi-

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patorischer Auffassungen. Ende 1850 in Sachsen verboten, erschien das Wochenblatt danach bis 1853 in Gera. 1858 heiratete O. den Schriftsteller August Peters (Elfried von Taura), der als Revolutionär zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden war u. schon 1864 starb. Mit ihm lebte u. wirkte sie ab 1860 in Leipzig u. redigierte zunächst das Feuilleton der »Mitteldeutschen Volks-Zeitung« (1861–1864/65). O. wurde 1865 Vorsitzende des von ihr mitbegründeten Allgemeinen deutschen Frauenvereins, der den Beginn der organisierten dt. Frauenbewegung markiert. Unter O.s polit. Kompetenz u. Weitsichtigkeit kämpften die Mitstreiterinnen v. a. für das Recht der Frauen auf Bildung, auf Erwerbsarbeit u. Zugang zum Hochschulstudium u. ermutigten damit andere, für die Überwindung gesellschaftl. Schranken einzutreten. Zgl. war O. bis zu ihrem Tod gemeinsam mit Auguste Schmidt Herausgeberin u. Autorin der Vereinszeitschrift »Neue Bahnen«. Weitere Werke: Die Freunde. 3 Bde., Lpz. 1845 (R.). – Lieder eines dt. Mädchens. Lpz. 1847 (L.). – Ein Bauernsohn. Lpz. 1849 (E.). – Vier Geschwister. 2 Bde., Dessau 1851. – Die Nibelungen. Gera 1852 (Libr.). – Die Kunst u. unsere Zeit. Großenhain 1852. – Andreas Halm. 3 Bde., Plauen 1856 (R.). – Zwei Generationen. 3 Tle., Lpz. 1856 (R.). – Eine Grafenkrone. 3 Bde., Lpz. 1857 (R.). – Die Erben v. Schloß Ehrenfels. 3 Bde., Lpz. 1860 (R.). – Die Schultheissentöchter v. Nürnberg. 3 Bde., Prag/ Wien 1861 (R.). – Die Mission der Kunst. Lpz. 1861. – Privatgesch.n der Weltgeschich. 6 Bde., Lpz. 1868–72. – Kunst u. Künstlerleben. Bromberg 1863 (N.n). – Zerstörter Friede. Jena 1866 (R.). – Die Idealisten. 4 Bde., Jena 1867 (R.). – Theodor Körner. Lpz. 1867 (Libr.). – Die Dioskuren. Altona 1868 (R.). – Gedichte. Lpz. 1868. – Der Genius des Hauses. Pest/Wien/Lpz. 1869. – Der Genius der Menschheit. Pest/Wien/Lpz. 1870. – Der Genius der Natur. Pest/Wien/Lpz. 1870. – Musiker. Leiden u. Freuden. Wien 1871 (N.n). – Die Stiftsherren v. Straßburg. 2 Bde., Lpz. 1872 (R.). – Weihe des Lebens. Lpz. 1873. – Rom in Dtschld. Bremen 1873 (R.). – Ein bedenkl. Geheimnis. Lpz. 1875 (E.en). – Gräfin Lauretta. Lpz. 1884 (E.). – Die Nachtigall v. Werawag. 4 Bde., Freib. i. Br. 1887 (R.). – Das erste Vierteljahrhundert des Allg. dt. Frauenvereins. Lpz. 1890. Literatur: Ruth-Ellen Boetcher Joeres (Hg.): Die Anfänge der dt. Frauenbewegung. L. O.-Peters.

Otto Ffm. 1983. – Gerhard K. Friesen: ›Zählen Sie immer auf mich, wenn es sich um Verstandenwerden handelt‹. Briefe v. L. O. an Karl Gutzkow. In: Internat. Jb. der Bettina-v.-Arnim-Gesellsch. Bd. 6/7 (1994/95), S. 80–106. – Johanna Ludwig u. Rita Jorek (Hg.): L. O.-Peters. Ihr literar. u. publizist. Werk. Lpz. 1995. – Barbara Bauer: Der Frauenroman. Zur Verbreitung, Kritik, Struktur u. Geschlechteranthropologie am Beispiel L. O.s. In: L. O.-Peters. Polit. Denkerin u. Wegbereiterin der dt. Frauenbewegung. Hg. Ilse Nagelschmidt u. J. Ludwig. Dresden 1996, S. 54–99. – Christine Otto: Emanzipation der Frau als literar. Innovation. Weibl. Vorbildfiguren u. emanzipator. Protestkomplexe im frühen Romanwerk (1843–52) v. L. O. In: Autorinnen des Vormärz. Forum Vormärz Forsch. Jb. 1996, S. 131–161. – Carol Diethe: The Life and Work of Germany’s Feminist L. O.-Peters (1819–95). Lampeter 2002. – J. Ludwig, Elvira Pradel u. Susanne Schötz (Hg.): L. O.-Peters-Jb. 1 (2004). – Kerstin Wiedemann: L. O.-Peters u. George Sand. Konvergenz im Sozialen. In: George Sand u. L. O.-Peters. Wegbereiterinnen der Frauenemanzipation. Hg. J. Ludwig, S. Schötz u. H. Rothenburg. Lpz. 2005, S. 31–42. – J. Ludwig, S. Schötz u. Hannelore Rothenburg (Hg.): L. O.-Peters-Jb. 2 (2006). – Christiane Kolbet: Nürnberg. Culturhistor. Roman. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 324–326. – J. Ludwig: Römisch u. Deutsch. Roman. Ebd., S. 326 f. – Dies.: Schloß u. Fabrik. Roman. Ebd., S. 327 f. Johanna Ludwig

Otto, Walter F(riedrich Gustav Hermann), * 22.6.1878 Hechingen, † 23.9.1958 Tübingen. – Altphilologe u. Religionshistoriker. Nach Promotion u. Privatdozentur in München ging O. als Professor 1911 nach Wien, 1913 nach Basel, 1914 nach Frankfurt/M. u. 1935 nach Königsberg. 1946 war er Gastprofessor in Göttingen, später in Tübingen. Mit seinen beiden Hauptwerken Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes (Bonn 1929. Ffm. 92002) u. Dionysos. Mythos und Kultus (Ffm. 1933. 6 1996) beschrieb O. in Abwendung von der religionswiss. Schule Hermann Useners die rationalen Züge der antiken Mythologie u. stellte den griech. Glauben als eine »Religion des objektiven Erkennens« (Karl Reinhardt) dar.

Otto-Walster Weitere Werke: Die Manen oder Von den Urformen des Totenglaubens. Bln. 1923. – Gesetz, Urbild u. Mythos. Stgt. 1951. – Die Gestalt u. das Sein. Ges. Abh.en über den Mythos [...]. Düsseld. 1955. – Das Wort der Antike. Stgt. 1962. – Mythos u. Welt. Stgt. 1962. Literatur: Karl Reinhardt: W. F. O. In: Ders.: Vermächtnis der Antike. Gött. 1960, S. 377–379. – Hubert Cancik: Dioniso in Germania. Da Heinrich Heine a W. F. O. Rom 1989. – Alessandro Stavru: Eine Begegnung im Zeichen Hölderlins. W. F. O. u. Martin Heidegger 1927–37. In: JbDSG 46 (2002), S. 309–329. – Renate Böschenstein-Schäfer: Die Götter ›sind‹. Erfahrungen mit W. F. O.s Hölderlinverständnis. In: Friedrich Hölderlin. Hg. Christophe Fricker u. Bruno Pieger. Amsterd. 2005, S. 150–153. – Alessandro Stavru: Socrate. Mito ed etica della conoscenza. Studio sugli scritti socratici di W. F. O. Rom 2007. Matías Martínez / Red.

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1873), in dem ein siegreicher bewaffneter Volksaufstand geschildert wird, der zur Gründung eines »freien Volksstaates« führt; bis 1893 erschienen zwölf Ausgaben in drei Fassungen. Erwähnung verdient auch das zweiaktige Lustspiel Ein verunglückter Agitator oder Die Grund- und Bodenfrage (St. Louis 1877. In: Aus den Anfängen der sozialistischen Dramatik I. Hg. Ursula Münchow. Bln./DDR 1964), ein unterhaltsamer u. didaktisch-agitatorischer Beitrag O.s zur europ. Agrarkrise der Zeit. Weitere Werke: Die Tempelritter. Dresden 1860 (histor. Trag.). – Braunschweiger Tage. Braunschw. 1874 (histor. R.). – Rienzi. o. O. [Dresden] 1875 (Trauersp.). Literatur: Wolfgang Friedrich (Hg.): A. O. Bln./ DDR 1966. – Klaus Mathes: A. O.-W. Studien zum erzähler. Werk 1864–76. Ffm. 1987. – Henning Meier: Ein Arbeiterführer u. Schriftsteller. In: Lit. in Braunschweig zwischen Vormärz u. Gründerzeit. Hg. Herbert Blume. Braunschw. 1993, S. 231–252. Dietmar Trempenau / Red.

Otto-Walster, August, auch: Dr. Theodor Giftschnabel, Dr. Holofernes Honigschnabel, * 5.11.1834 Dresden, † 20.3. 1898 Waldheim/Sachsen. – Sozialdemokratischer Prosa- u. Dramenautor, Jour- Ottokar von Steiermark, höchstwahrnalist. scheinlich identisch mit: Otacher ouz der Geul, * um 1260/65, † um 1320. – Autor O., Sohn eines Lederhändlers, studierte der Steirischen (auch: Österreichischen) 1854–1859 in Leipzig Staatswissenschaften u. Reimchronik. Philosophie (Promotion) u. war kurzzeitig Handelsschullehrer in Braunschweig. Ab 1861 betätigte er sich journalistisch. Zunächst Mitgl. der Volkspartei, schloss er sich der Arbeiterbewegung an u. war 1869 an der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in Eisenach beteiligt. Seit April 1871 arbeitete er als Redakteur für den Dresdener »Volksboten«, den er mitbegründete. Nach Verbüßung mehrerer Haftstrafen aufgrund seiner publizistischen u. agitatorischen Tätigkeit als Reichstagskandidat der SDAP folgte O. 1876 der Bitte der sozialdemokrat. Arbeiterpartei Nordamerikas, als Redakteur nach New York zu kommen. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 kehrte O. alkoholkrank zurück u. lebte, nach kurzer Tätigkeit in Chemnitz, zurückgezogen u. in elenden Verhältnissen in Dresden. Er starb unbeachtet im Zuchthaus Waldheim; die Gründe seiner Haft sind nicht bekannt. Die bedeutendste literar. Leistung O.s war der Roman Am Webstuhl der Zeit (Braunschw.

O. ist mehrfach urkundlich bezeugt, 1287 zum ersten Mal, 1304 als Ehemann, 1313 als Mitgl. der Gesandtschaft Herzog Friedrichs des Schönen in Aragon, 1319 zum letzten Mal. Er stammte aus der Familie der Stretwicher. Die Stretwicher gehörten der landesfürstlichen österreichisch-steir. Ritterschaft an, waren zgl. die größten Lehensträger des Bistums Seckau u. standen mit einigen mächtigen steir. Landherren in Verbindung, v. a. mit den Lichtensteinern. O. selbst hat Otto II. († 1311), den Sohn des Dichters Ulrich von Lichtenstein, als seinen Herrn gepriesen. Einige steir. Herren um Otto II. bildeten offensichtlich den Kern jener Gruppe historisch Wissbegieriger, die O. nach seiner eigenen Auskunft anregten u. zu seiner historiograf. Arbeit drängten. O. hat sein Geschichtswerk von fast 100.000 mhd. Versen wahrscheinlich in den ersten beiden Jahrzehnten des 14. Jh. niedergeschrieben. Er vergegenwärtigte die

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Weltgeschichte vom Tod Kaiser Friedrichs II. (1250) bis zur niederösterr. Revolte gegen den habsburgischen Landesfürsten Herzog Friedrich I. (1309), bei deren Schilderung der Text abbricht. Bes. ausführlich hat O. die österreichisch-steir. u. die salzburgische Landesgeschichte, die Ereignisse in den Nachbarländern, v. a. in Böhmen u. Ungarn, Reichsangelegenheiten in den dt. Ländern, Italien u. Sizilien, den Verlust Akkons u. die frz.-flandr. Kriege dargestellt. Aber er blickte auch nach Triest u. Ferrara, nach Spanien, Afrika, Armenien u. ins Tatarenreich. Er hat anscheinend alles aus seiner Sicht historisch Wissenswerte, das ihm zu Ohren oder vor Augen gekommen war, verarbeitet. Die einzelnen Ereigniszusammenhänge ordnete er, von einigen Rückblenden abgesehen, chronologisch. Um zu verdeutlichen, dass er von zeitgleichen Ereignissen berichtete, die sich an verschiedenen histor. Schauplätzen abspielten, führte er die einzelnen Handlungsstränge jedoch nicht vom Anfang bis zum Ende durch, sondern teilte sie in mehrere Etappen, die er zwar im zeitl. Nacheinander, aber unterbrochen von den entsprechenden Abschnitten der anderen Ereignisketten darbot. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor des europ. MA hat O. es verstanden, eine an sich verwirrende Fülle histor. Begebenheiten gedanklich zu durchdringen, verwickelte Zusammenhänge aufzudecken u. spannend u. anschaulich darzustellen, Zeitgenossen u. Zeitgeschehen realitätsnah zu vergegenwärtigen, Geschichte unterhaltsam zu erzählen u. dabei zgl. zugrundeliegende polit. u. gesellschaftl. Strukturen sichtbar werden zu lassen. Seine häufig fiktiven Erzählungen bieten prägnante Fallstudien typischer Konstellationen u. Konflikte. Er informiert über die spannungsgeladene Beziehung Landesfürst-Herren-Städte-Prälaten, das konfliktreiche Verhältnis Landesherrschaft-Zentralgewalt, die Verquickung interner Rivalitäten in den einzelnen Territorien mit externen Auseinandersetzungen zwischen Papst, Reichsgewalt, Landesherrschern u. Metropoliten. Er gibt Einblick in städt. Machtkämpfe u. in das Konkurrenzgerangel um Einfluss u. Ämter am Fürstenhof.

Ottokar von Steiermark

Kenntnisreicher, detaillierter u. weltoffener als alle anderen deutschsprachigen Autoren des 12. bis 14. Jh. gibt er dem heutigen Leser Antwort auf die Frage, wie es denn aus der Sicht eines klugen u. aufmerksamen Zeitgenossen damals wirklich gewesen sei. O. hat die im 12. u. 13. Jh. in der höf. Epik entwickelten Darstellungstechniken benutzt, um die zeitgenöss. Wirklichkeit zu erfassen. Seine wichtigste formale Leistung besteht in der kunstvollen Mischung von Erzählung u. dramatisierten Szenen, in denen die handelnden histor. Figuren selbst zu Wort kommen. Diese Art der Vermittlung erweckt im Leser den Eindruck, er sei Augen- oder Ohrenzeuge des histor. Geschehens u. könne sich selbst ein Urteil bilden, während doch in Wahrheit der Autor seine Figuren so reden u. handeln ließ, wie es seinem Bild der Realität entsprach. Die Steirische Reimchronik ist in zehn Handschriften überliefert, von denen keine einen vollständigen Text bietet; anscheinend ist die Chronik weniger breit rezipiert als intensiv studiert u. ausgeschrieben worden. Als eine der wichtigsten Informationsquellen zur österr. Geschichte des späten 13. u. frühen 14. Jh. ist sie von allen späteren Historiografen direkt oder indirekt benutzt worden. In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass die Steirische Reimchronik auch ein wichtiges Dokument für die Geschichte der Mentalitäten u. Vorstellungssysteme ist. Ausgabe: O.s Österr. Reimchronik. Nach den Abschr.en Franz Lichtensteins. Hg. Josef Seemüller. Hann. 1890–93. Neudr. Zürich/Dublin 1974 (= MGH Dt. Chroniken 5,1–2). Literatur: Maja Loehr: Der steir. Reimchronist: Her Otacher ouz der Geul. In: MIÖG 51 (1937), S. 89–130. – Ernst Englisch: O.s Steir. Reimchronik. Versuch einer realienkundl. Interpr. In: Die Funktion der schriftl. Quelle in der Sachkulturforsch. Wien 1976, S. 7–54. – Horst Wenzel: Höf. Gesch. Literar. Tradition u. Gegenwartsdeutung in den volkssprachl. Chroniken des hohen u. späten MA. Bern/Ffm./Las Vegas 1980. – Ursula LiebertzGrün: Das andere MA. Erzählte Gesch. u. Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu O. v. S., Jans Enikel, Seifried Helbling. Mchn. 1984. – Helmut Weinacht: O. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Christoph März: Geborgte Helden, geliehene Gefühle. Heldenepos u. höf. Roman in

Ottwalt O.s ›Österreichischer Reimchronik‹. In: Heldendichtung in Österr. – Österr. in der Heldendichtung. 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 1997, S. 123–136. – Václav Bok: Zum Bild des böhm. Königs Premysl Otakars II. in der ›Steirischen Reimchronik‹. In: Literar. Leben. FS Volker Mertens. Hg. Matthias Meyer u. a. Tüb. 2002, S. 33–54. – Wolfgang Haubrichs: Authent. Memoria. Zur Rolle des Künstlers in O.s ›Österreichischer (›Steirischer‹) Reimchronik‹. Ebd., S. 231–245. – Alexander Sager: Eastern Europe and the Cultural Poetics of the Chivalric Tournament in Medieval Germany: ›Biterolf und Dietleib‹, O. v. S.’s ›Österreichische Reimchronik‹ and Ludwig v. Eyb’s ›Turnierbuch‹. In: Germano-Slavica 14 (2003), S. 5–23. – Christiane Witthöft: Ritual u. Text. Formen symbol. Kommunikation in der Historiographie u. Lit. des SpätMA. Darmst. 2004. – Bettina Hatheyer: Das Buch v. Akkon. Das Thema Kreuzzug in der ›Steirischen Reimchronik‹ des O. aus der Gaal. Untersuchungen, Übers. u. Komm. Göpp. 2005. – Georg Jostkleigrewe: [...] O. v. S. u. die problemat. Konstruktion ›nationaler‹ Grenzen in vornat. Zeit. In: Grenze u. Grenzüberschreitung im MA. Hg. Ulrich Knefelkamp u. a. Bln. 2007, S. 37–53. Ursula Liebertz-Grün

Ottwalt, Ernst, eigentl.: E. Gottwalt Nicolas, * 13.11.1901 Zippnow/Pommern, † 24.8.1943 Archangelsk, in einem sowjetischen Lager. – Erzähler, Dramatiker. O., Sohn eines Pfarrers, beteiligte sich während der Novemberrevolution u. des KappPutsches an der Niederschlagung revolutionärer Gruppen. Diese Erfahrungen sowie seinen Bruch mit der bürgerl. Vergangenheit u. seinen Übertritt zur KPD beschreibt er in dem autobiogr. Roman Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend (Bln. 1929. 1977). Ende der 1920er Jahre lernte er Brecht kennen, mit dem er das Drehbuch für den Film Kuhle Wampe (Urauff. Bln. 1932) erarbeitete. Bekannt wurde O. zum einen durch sein vom Piscator-Kollektiv aufgeführtes Bergarbeiterdrama Jeden Tag vier (Urauff. Bln. 1930) u. zum anderen durch den Justizroman Denn sie wissen, was sie tun (Bln. 1931. 1977). In ihm versucht er, durch die Montage von dokumentarischem Material in eine fiktive Erzählhandlung die Klassenjustiz der Weimarer Republik zu entlarven. Georg Lukács nahm

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diesen Roman zum Anlass, seine grundsätzlich ablehnende Kritik (»unorganisch-eklektische Mischung«) an der Form der Reportageliteratur dieser Zeit zu formulieren. Dem entgegnete O., dass die Darstellung gesellschaftl. Wirklichkeit neuer, nicht an Organonvorstellungen orientierter Techniken bedarf. 1933 emigrierte O. über Dänemark u. die Tschechoslowakei in die Sowjetunion. In Moskau beteiligte er sich aktiv an den Literaturdebatten in den Exilzeitschriften, bes. in der »Internationalen Literatur«, deren Redaktionsmitgl. er 1936 war. In Zusammenhang mit dem stalinist. Terror wurde O. unter falschen Anschuldigungen 1936 in Moskau verhaftet u. in ein sibir. Lager deportiert. Dort verstarb er 1943 unter bisher nicht geklärten Umständen. 1953 wurde er rehabilitiert. In der Nachkriegszeit waren O.s Schriften lange Zeit vergessen bzw. die Erforschung seines Werks wurde, bes. in der DDR, aus polit. Gründen verdrängt. Erst mit der Neuausgabe seiner Arbeiten ab Mitte der 1970er Jahre setzte eine neue Rezeption ein. Weitere Werke: Dtschld. erwache! Gesch. des Nationalsozialismus. Wien/Lpz. 1932. Bln. 1975. – Kaliforn. Ballade. Entstanden um 1932. Als Hörsp. mit Musik v. Hanns Eisler zuerst 1939. Szen. Urauff. Bln. 1970. – Die letzten Dinge. Moskau 1936 (N.). – Schr.en. Hg. Andreas W. Mytze. Bln. 1976. Literatur: Andreas W. Mytze: O. Leben u. Werk des vergessenen revolutionären dt. Schriftstellers. Bln. 1977. – Simone Barck: Achtung vor dem Material. Zur dokumentar. Schreibweise bei E. O. In: Wer schreibt, handelt. Hg. Silvia Schlenstedt. Bln./ DDR 1983. – Karl Josef Verding: ›Fiction‹ u. ›Nonfiction‹ – Probleme ihrer Motivation. Georg Lukács u. E. O. Ffm./Bern u. a. 1986. – Robert Cohen: Die gefährl. Ästhetik E. O.s. In: GQ 61 (1988), S. 229–248. – Anne Lagny: Zeitroman et reportage. Le cas de E. O. In Germanica 10 (1992), S. 97–110/ 220. – Robert Cohen: Männerwelt, Gewalt, Weimarer Republik. Rechtsextremisten im Frühwerk Joseph Roths u. in E. O.s ›Ruhe u. Ordnung‹. In: MAL 30 (1997), H. 1, S. 48–68. – Dieter Schilling: Über O., Herzfelde u. den Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller in Prag. Bln. 2002. – Helmut Kreuzer: Die ›fabelhafte‹ Gesch. v. Johann August Suter in Hörsp.en der Weimarer Republik (Wolfram Brockmeier, Otto Reiner, E. O./Hanns

51 Eisler). In: Ders.: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 129–150. – Helmut Peitsch: ›It is not worth trying to get to know the man. But one must [...] have a look at [...] the portrait of the pretty bourgeois‹. E. O.’s ›Awaken Germany! A History of National Socialism‹ (1932). In: Unmasking Hitler. Hg. Klaus Berghahn u. Jost Hermand. Oxford 2005, S. 35–58. Heiner Widdig / Red.

Overath, Angelika, * 17.7.1957 Karlsruhe. – Journalistin, Romanautorin. O. studierte Germanistik, Geschichte, Italianistik u. Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen u. schloss ihr Studium mit einer Promotion über Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht (Stgt. 1987) ab. Während ihres Studiums begann sie Reportagen u. Zeitungsberichte zu schreiben. Diese Tätigkeit setzte sie während eines dreijährigen Aufenthalts in Thessaloniki (1988–1991) u. darüber hinaus fort. Daraus sind Reiseberichte, Autoren-Porträts sowie von den Denkbildern Walter Benjamins inspirierte Essays hervorgegangen, die u. a in »GEO«, »Merian«, »du«, der »ZEIT« u. v.a. in der »NZZ« erschienen sind. Ausgehend von konkreten Dingen oder zeitl. Momentaufnahmen, reflektieren O.s Reportagen über Wahrnehmungen, Erinnerungen u. die Besonderheiten der Textsorte »Reportage« im Spannungsfeld von Fiktion u. Wirklichkeit: Der Untertitel Wahre Geschichten der Sammlungen Händler der verlorenen Farben (Lengwil 1998) u. Vom Sekundenglück brennender Papierchen (Lengwil 2000) akzentuiert die Position dieser Texte an der Grenze zur Literatur. 2005 reüssierte O. mit ihrem ersten, in mehrfacher Auflage erschienenen Roman Nahe Tage. Roman in einer Nacht (Gött. 2005), für den sie im Erscheinungsjahr mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde. Johanna, die Protagonistin des Romans, verbringt die Nacht nach dem Tod ihrer Mutter in deren Wohnung. Dort verarbeitet sie unwillkürlich auftretende Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie unter der häusl. Einengung u. bedrückenden Sprachlosigkeit ihrer Mutter litt. Der familiäre Einbruch in die kindlich-jugendl. Intimität spiegelt sich in der persönlichen u. körperl. Verfügungsge-

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walt der Mutter über ihre Tochter wider. Essayistisch behandelt O. das bei ihr wiederholt auftauchende Thema »Familie« in Generationen-Bilder. Erkundungen zum Familienglück (Lengwil 2005). In diesem umfangreichen Essay entwickelt sie, in Berichte aus dem Familienleben eingebettet, ein kulturgeschichtl. Panorama der Familie u. des Generationenbegriffs unter Rückgriff auf biblische, myth. u. wiss. Quellen. Beim Bachmann-Wettbewerb 2006 erhielt O. den Ernst-Willner-Preis für ihren Text Das Aquarium, der eine Vorarbeit zu ihrem zweiten Roman Flughafenfische (Mchn. 2009) darstellt. Aus der Perspektive dreier Figuren beschreibt dieser allegorisch vielschichtige Roman die ambivalente Szenerie eines Flughafens zwischen Künstlichkeit u. Lebendigkeit. Die ortlose Räumlichkeit des Flughafens verdichtet sich in einem großen, die Handlung des Romans strukturierenden Aquarium innerhalb des Flughafengebäudes. Die Lebensgeschichten der Protagonisten u. die organisch-techn. Bewegungen des Flughafenbetriebs verdoppeln sich in der allegor. »Mimikry« der Fische u. der aquarist. Biologie. Teils verschwimmen dabei die Perspektiven bzw. Wahrnehmungen der Protagonisten in den anspielungsreichen Reflexionen über Liebe u. Tod, wobei die klare u. wortreiche Sprache des Romans durch ihren Rhythmus u. ihre präzise Semantik die Materialität der Gegenstände u. die Innerlichkeit der Erinnerungen eindrücklich repräsentiert. Neben den Reportagen u. Romanen hat O. gemeinsam mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler Manfred Koch, literar. Anthologien über Schlimme Ehen (Ein Hochzeitsbuch. Ffm. 2000), Die Kunst des Einfachen (Kommentierte Anthologie. Freib. i. Br. u. a. 2000), Schlaflosigkeit (Schlaflos. Das Buch der hellen Nächte. Ein literarisches Notturno für Schlafsuchende und Wache. Lengwil 2002) u. zuletzt Hunde (Hunde mitzubringen ist erlaubt. Ein literarischer Salon. Bln. 2008) herausgegeben. Weitere Werke: Das blaue Buch. Lesarten einer Farbe. Nördlingen 1988 (hg. zus. mit Angelika Lochmann). – Spatzenweisheit. Freib. i. Br. u. a. 2001 (mit Fotografien v. Horst Munzig). – Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring

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im Jahre 2003. Gött. 2003 (zus. mit Navid Kermani u. Robert Schindel). – Das halbe Brot der Vögel. Portraits u. Passagen. Gött. 2004. – Genies u. ihre Geheimnisse. 100 biogr. Rätsel. Bln. 2006 (zus. mit Manfred Koch u. Silvia Overath). – Genies u. ihre Geheimnisse. 100 neue biogr. Rätsel. Bln. 2009 (zus. mit M. Koch u. S. Overath). Matthias Schaffrick

Overbeck, Christian Adolf, * 21.8.1755 Lübeck, † 9.3.1821 Lübeck; Grabstätte: ebd., St. Lorenz-Friedhof. – Lyriker, Übersetzer.

same Verse, Idyllendichtung u. Eklogen in der Tradition Vergils fanden Aufnahme in der Sammlung vermischter Gedichte (Lübeck/Lpz. 1794. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1990–94). Sie zeichnen sich durch Klarheit u. Natürlichkeit in der Sprache u. Einfachheit in Metrik u. Struktur aus. O.s Philhellenismus dokumentiert seine Übersetzung anakreontischer u. sapphischer Gesänge, Anakreon und Sappho (Lübeck/Lpz. 1800. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1990–94). Übertragungen frz. Dramen blieben ungedruckt. Enge Freundschaft verband O. mit Anton Matthias Sprickmann.

Der Juristensohn absolvierte 1773–1776 nach dem Besuch des Lübecker St. KatharinenBriefausgabe: Beeinanderseyn ist das tägl. Brod Gymnasiums das Studium der Rechte in der Liebe. Briefe C. A. O. an seine Familie aus St. Göttingen. Einem kurzen Aufenthalt in Bre- Petersburg 1804 u. aus Paris 1807–11. Hg. Fritz men, wo O. eine Erziehungsanstalt für Jun- Luchmann. Lübeck 1992. Literatur: Christian Gerhard Overbeck: Zur gen leitete, folgte die Niederlassung als Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt. 1779 Erinnerung an C. A. O. Lübeck 1830. – Margaret übernahm er das Amt eines Obergerichts- Howitt: Friedrich Overbeck. Sein Leben u. Schafprokurators. Als Syndikus gelangte er 1792 fen. Hg. Franz Binder. 2 Bde., Freib. i. Br. 1886. – Heinz Jansen: Aus dem Göttinger Hainbund. O. u. ins Domkapitel. O., der 1800 in den Senat der Sprickmann. Ungedr. Briefe O.s. Münster 1933. – Hansestadt gewählt wurde, leitete zahlreiche Leif Ludwig Albertsen: ›Komm, lieber May!‹ Der diplomat. Missionen für Lübeck. 1814 wurde Einbruch der Antipädagogik in das Kinderlied der er Bürgermeister u. Präsident des Oberge- Vorromantik. In: DVjs 43 (1969), S. 214–221. – richts. Sein 1789 geborener Sohn Friedrich Theodor Brüggemann: Galanterie u. Weltschmerz gehörte in Rom zu den führenden Köpfen der in ›Frizchens Lieder‹ (1781) v. C. A. O. In: Philobiblon 34 (1990), S. 300–308. – Fritz Luchmann: C. A. Künstlergruppe der »Nazarener«. Während seines Studiums in Göttingen O. u. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Beispiel knüpfte O. Kontakte zu den Dichtern des für die Kommunikation v. Bildungsbürger u. Hainbunds. Die ersten Gedichte veröffent- Künstler im Jahre 1807. In: Nordelbingen, Bd. 64 (1995), S. 69–96. Peter Heßelmann lichte der Verehrer Klopstocks im »Göttinger Musenalmanach« u. in anderen Periodika. Die Lieder und Gesänge mit Klaviermelodien Overbeck, Franz (Camille), * 16.11.1837 (Hbg. 1781) enthalten neben eigenen pathe- St. Petersburg, † 26.6.1905 Basel. – tisch-religiösen Liedern auf luth. Grundlage Evangelischer Theologe. u. musikal. Arrangements auch Lyrik u. a. von Der Sohn eines dt. Kaufmanns u. einer kath. Claudius, Gerstenberg, Hölty, Klopstock, Französin wuchs in St. Petersburg, Paris u. Miller u. Voß. Diese dem Hain angehörenden Dresden auf. 1856–1860 studierte er in oder nahestehenden Autoren übten nachhal- Leipzig u. Göttingen Theologie u. wurde tigen Einfluss auf O. aus. Frizchens Lieder (Hbg. nach dem 1860 in Leipzig bestandenen Ex1781), eine Sammlung von ihm verfasster amen zum Dr. phil. promoviert. In Jena erKinderlieder, wurden teilweise von bekann- warb er 1864 den Grad eines Lic. theol. u. ten zeitgenöss. Komponisten, auch von Mo- habilitierte sich. Seit 1870 wirkte O. als a. o., zart, vertont u. lebten in Volksliedanthologiseit 1872 als o. Prof. für NT u. ältere Kiren fort. Auch O.s erstmals 1776 erschienenes, chengeschichte in Basel. 1876, im Jahr seiner aus der Perspektive eines Kindes geschriebeHeirat mit Ida Rothpletz, wurde er zum nes Maigedicht Komm, lieber May! wurde 1791 Rektor der Universität gewählt. von Mozart adaptiert. Lehrgedichte moralisch-pädagogischer Ausrichtung, empfind-

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In seiner wiss. Arbeit verband O. umfas- tur (Basel 1919), die neben bedenkenswerten sende Gelehrsamkeit mit streng historisch- Einsichten in Kirchen- u. Weltgeschichte O.s krit. Betrachtungsweise u. nahm in verschie- tiefen Hass gegen die »moderne Theologie« denen kleineren Untersuchungen wegwei- offenbarte, hat stark auf die Theologie nach sende Gedanken späterer Forschungsrich- dem Ersten Weltkrieg gewirkt, bes. auf Karl tungen (Religionsgeschichtliche Schule, Barth, u. hat zus. mit dessen Interpretation Formgeschichte) vorweg, z.B. die Unter- die Wirkungsgeschichte O.s bis heute gescheidung der christl. »Urliteratur« von den prägt. Erst nach Vollendung der seit 1994 Schriften der Kirchenväter. Da O. das Wesen erscheinenden Werkausgabe wird eine angedes Christentums in dessen Eschatologie u. in messene Würdigung des scharfsinnigen u. asketisch-weltverneinender Haltung sah, gedankenreichen Kritikers möglich sein. musste er scharf zwischen der »Urgeschichte« Ausgaben: Werke u. Nachl. Hg. Frank Besteu. der späteren Entwicklung zu Welt- u. breurtje, Rudolf Brändle, Johann-Christoph EmKulturbejahung trennen. Dieser histor. Auf- melius, Niklaus Peter, Barbara v. Reibnitz, Matfassung entsprach O.s radikale Sachkritik an thias Stauffacher, Marianne Stauffacher-Schaub, der kirchlich-konservativen wie an der libe- Ekkehard W. Stegemann u. a. Stgt./Weimar 1994 ff. ralen Theologie seiner Zeit, die ihn – gewiss – Friedrich Nietzsche / F. O.: Briefw. Hg. Katrin Meyer u. B. v. Reibnitz. Stgt./Weimar 2000. – F. O. / auch unter dem Einfluss seines Basler KolleErwin Rohde: Briefw. Hg. Andreas Patzer. Bln./ gen, Hausgenossen u. engen Freundes New York 1990. Friedrich Nietzsche – innerlich aus der Literatur: Bibliografie: Overbeckiana. Übersicht Theologie u. sogar aus dem Christentum über den F.-O.-Nachl. der Universitätsbibl. Basel. 2 hinausführte. In der frühen »Streit- und Tle., Basel 1962. – Weitere Titel: Walter Nigg: F. O. Friedensschrift« Über die Christlichkeit unserer Mchn. 1931. – Arnold Pfeiffer: F. O.s Kritik des heutigen Theologie (Lpz. 1873) trug er erstmals Christentums. Gött. 1975. – Rudolf Wehrli: Alter u. seine Kritik vor, die er in der zweiten, um Tod des Christentums bei F. O. Zürich 1977. – John autobiogr. Mitteilungen beträchtlich erwei- Ebert Wilson: Gott, Mensch u. Welt bei F. O. Bern terten Auflage (Lpz. 1903) wesentlich ver- 1977. – Rudolf Brändle u. a. (Hg.): F. O.s unerletiefte. 1897 trat er vorzeitig in den Ruhe- digte Anfragen an das Christentum. Mchn. 1988. – stand, nachdem er sich jahrelang auf eine Niklas Peter: Im Schatten der Modernität. F. O.s Weg zur ›Christlichkeit unserer heutigen Theolostreng historisch-fachwiss. Lehrtätigkeit begie‹. Stgt. 1992. – Martin Henry: F. O. Theologian? schränkt u. weitgehend auf Veröffentlichun- Religion and History in the Thought of F. O. Ffm. gen verzichtet hatte. Weit umfangreicher als u. a. 1995. – Frank Bestebreurtje: Kanon als Form. die zu seinen Lebzeiten erschienenen Werke Über die Geschichtsschreibung des NT bei F. O. sind seine unveröffentlichten Aufzeichnun- Bern u. a. 2005. – Antonia Pellegrino: La città piena gen: neben Vorlesungsmanuskripten u. au- di idoli. F. O. e la crisi della teologia scientifica. Pisa tobiogr. Texten v. a. eine alphabetisch ge- 2005. Ulrich Köpf ordnete, ca. 36.000 Blätter umfassende Materialsammlung, die er sein »Kirchenlexicon« Overberg, Bernard (Heinrich), * 1.5.1754 oder seine »Privatencyclopädie« zu nennen Höckel bei Osnabrück, † 9.11.1826 pflegte. Das Projekt einer auf diesen MateMünster; Grabstätte: ebd., Überwasserrialien beruhenden »profanen Kirchengekirche. – Religionspädagoge u. Schulreschichte«, für das er sich auf Ferdinand former. Christian Baur berief, hat er ebenso wenig ausgeführt wie den Plan seiner letzten Jahre, O. stammte aus armen Verhältnissen, stueine Abrechnung mit der Theologie im Wil- dierte in Münster kath. Theologie u. baute helminischen Zeitalter u. bes. mit seinem dort eine Normalschule auf, die er bis zu Fachkollegen Adolf von Harnack. Sein Schü- seinem Tod leitete. Seit 1809 war er Regens ler Carl Albrecht Bernoulli veröffentlichte des Priesterseminars zu Münster. Er setzte nach O.s Tod einzelne Teile des wissen- sich mit seinem Förderer Franz von Fürstenschaftlichen Nachlasses. Die unkritisch her- berg für eine bessere Ausbildung der Lehrer, ausgegebene Sammlung Christentum und Kul- v. a. der Lehrerinnen, ein. O. pflegte über die

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Fürstin Gallitzin freundschaftl. Kontakte zu Friedrich Leopold von Stolberg, Perthes, Brentano u. Hamann. In seinen Schriften, die weite Verbreitung im nordwestdt. Raum fanden, entwickelte O. ein der späteren Lautier-Methode u. dem Arbeitslernprinzip ähnl. Lehrmodell. Aufgabe des Lehrers u. Religionserziehers sei es, durch Erzählungen, Gleichnisse u. Ä. die Kinder selbst die abstrakten Glaubenssätze entwickeln zu lassen (Die Geschichte des Alten und Neuen Testaments. Münster 1799). Der Erzieher handle im göttl. Auftrag u. habe die Schüler auf ihre Lebensaufgabe u. das Reich Gottes vorzubereiten. Dazu müsse er soziale Umstände u. individuelle Eigenschaften eines jeden Schülers analysieren u. in den Lehrplan integrieren. Sein pädagog. Konzept legte O. in den Anweisungen zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer (Münster 1793) dar. Hilfestellungen für einen kindgemäßen Religionsunterricht folgten im Christkatholischen Religions-Handbuch (2 Bde., Münster 1804). O.s Lehre verbindet somit pädagog. Gedanken der Aufklärung mit den moralischen u. irrationalen der kath. Restauration, wie sie der Gallitzin-Kreis vertrat. Weitere Werke: Zusprache an Mädchen, welche sich mit einem Protestanten verloben wollen (zus. mit Friedrich Leopold v. Stolberg). Mchn. 1840. – Sechs Bücher v. dem Priesterstande. Münster 1858. – Die Tagebücher B. O.s. Hg. Paul Krüger. Kevelaer 1937. Literatur: Richard Stappers (Hg.): B. O. als pädagog. Führer seiner Zeit. Münster 1926. – Hans Hoffmann: B. O. Sein Leben u. sein Wirken [...]. Augsb. 21949. – Ewald Reinhald: Die Münsterische ›Familia Sacra‹. Münster 1953. – Siegfried Sudhof: Einiges über die Normalschule in Münster. In: Vjs. für wiss. Pädagogik 36 (1969), S. 202–217. – Gundolf Kraemer: B. O. Ffm. 2001. – Westf. Autorenlex. Carmen Asshoff / Red.

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einen Lehrgang an der Exportakademie in Wien. Über seine kaufmänn. Tätigkeit bei Bayer Leverkusen seit 1920 stieg O. in Führungspositionen der IG-Farben auf, 1924–1929 war er bei der Igerrusko in Berlin tätig, 1930–1945 in der Hauptverwaltung in Frankfurt/M. als Handlungsbevollmächtigter, Prokurist u. Direktor, weswegen er sich bei den Nürnberger Prozessen als Zeuge zur Verfügung zu stellen hatte. 1949–1963 arbeitete er als Verkaufsleiter. O.s Werk sucht angesichts einer durch das 19. Jh. heraufgeführten Zersplitterung des Wissens u. der Lebenserfahrung den Blick auf das Ganze der europ. Kultur zu wahren u. in der Erfahrung von Diskontinuität noch den Zusammenhang der Geschichte zu begreifen. Der bei Hegner verlegte literar. Erstling, Ein Buch von der Stadt Soest (Lpz. 1935), der die Aufmerksamkeit des späteren Freundes u. Verlegers Suhrkamp erregte, beschreibt am Beispiel des Stadtbilds die dem MA noch mögliche einheitsstiftende kulturelle Leistung. In Eine Familie aus Megara (Bln. 1954) beschreibt O. die Problematik des Übergangs von der geschlossenen Kultur des alten Griechenland zu der weltoffenen des Diadochenreichs in Form eines fingierten Briefwechsels einer Familie jener Zeit. Die autobiogr. Erzählung Haus im Ortlosen (Köln/Olten 1960) ist der Geschichtlichkeit der eigenen Privatsphäre gewidmet. Eindringlich warnt O. vor politischen wie wiss. Systembildung, die um den Preis der Vielfalt erkauft ist, u. versteht seine Reisebeschreibungen als Erprobung u. Variation des Eigenen angesichts der Fremde.

Overhoff, Julius, * 12.8.1898 Wien, † 5.8. 1977 Neustadt/Weinstraße. – Romancier, Reiseschriftsteller u. Lyriker.

Weitere Werke: Die Pflugspur. Lpz. 1935 (L.). – Vom Reisen. Bln. 1938 (Ess.). – Stegreif im Sommer. Lpz. 1941 (L.). – Europ. Inschr.en. Bln./Ffm. 1949. – Der Verrat des Afschin. Karlsr. 1950 (R.). – Reise in Lateinamerika. Bln./Ffm. 1953. – Die Welt mit Dschingiz-Chan. Nürnb. 1959. – Rechenschaft eines Verantwortungsbewußten. Nürnb. 1969 (E.en). – Südsee: Eine Inselreise. Mchn. 1978. – Wintertage auf Malta. Landau 1979 (zus. mit Edith Overhoff). – Tage am Nil. Landau 1980 (zus. mit ders.).

Einer kaufmänn. Familie entstammend, genoss O. eine humanist. Ausbildung am Akademischen Gymnasium in Wien. Nach dem Kriegsdienst studierte er 1917–1920 Jura u. absolvierte daneben ein Bankvolontariat u.

Literatur: Karl August Horst: Das geschichtl. Spannungsfeld im Werk v. J. O. In: Merkur, H. 8 (1960), S. 789–794. – Gerti Militzer: Jakob Hegner u. J. O. Ein Verleger u. sein Autor. In: Musil-Forum, Jg. 13/14 (1987/88). Annette Daigger / Red.

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Dr. Owlglass, eigentl.: Hans Erich Blaich, auch: Ratatöskr, * 19.1.1873 Leutkirch/ Württemberg, † 29.10.1945 Fürstenfeldbruck. – Arzt; Lyriker, Übersetzer, Verfasser von Kurzprosa, Herausgeber. Nach dem Abitur 1890 in Ravensburg studierte O. Medizin u. Philosophie in Tübingen, München u. Heidelberg. Am 17.12.1898 erhielt er seine Approbation als prakt. Arzt, Wundarzt u. Geburtshelfer. Nach Facharztausbildungen in Lungen- u. Hals-, Nasen- u. Ohrenheilkunde praktizierte O. seit 1905 in Stuttgart, seit 1909 im Münchner Raum. Sein Pseudonym, Dr. Owlglass (= Eulenspiegel), ist Zeugnis seiner Freundschaft mit dem Lyriker u. Bildhauer Hans Hinrich Busse, der, aus Mölln stammend, mit »Hans Till ut Mölln« unterschrieb. Nach dem Abitur veröffentlichte O. 1890 erste Gedichte in Zeitschriften u. erwog zu Beginn des Medizinstudiums in Tübingen, zur Journalistik überzuwechseln. In der Münchner Studienzeit (1892–1895) knüpfte er Kontakte zur Zeitschrift »Die Gesellschaft«, wo er Glossen, Rezensionen u. auch Gedichte veröffentlichte, u. wurde Mitarbeiter der satir. Zeitschrift »Der wahre Jakob«. Seit 1896 war er Mitarbeiter der neu gegründeten Zeitschriften »Jugend« u. »Simplicissimus«, 1907 kam der rechtsliberale »März« hinzu. 1905 wählte er sein zweites Pseudonym Ratatöskr, v. a. für seine satir. »politische Tageslyrik«. 1909 wurde O. beratendes Mitgl. der »Simplicissimus«-Redaktion, 1912–1924 Redakteur. Ende März 1933 übernahm er die Schriftleitung für die literar. Abteilung des mittlerweile gleichgeschalteten »Simpl« u. bis 1935 auch die Aufgaben des Chefredakteurs. Mit jährlich etwa 60 Beiträgen zählte O. zu den »Hausdichtern« des »Simpl«, er war in 48 von 49 Jahrgängen der Zeitschrift vertreten (bis 1944). Fast alle seine Buchveröffentlichungen sind gesammelte »Simpl«Texte. Die Gedichte, Satiren, Glossen u. Rezensionen von O. sind meist Auftragsarbeiten, unter Zeitdruck entstandenes Tagesgeschäft, besinnlich-leichte Kost, aber gutes Handwerk. Seine Themen decken das gesamte

Dr. Owlglass

Spektrum gesellschaftlicher u. polit. Ereignisse der Zeit ab: Die spött. Verse des O. treffen nicht nur die große Politik, vom Ersten Weltkrieg über die Novemberrevolution zur Münchener Räterepublik, von der wirtschaftl. Not im Inflationsjahr 1923, dem Hitler-Putsch 1923 über Hitlers Festungshaft bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten, sondern auch die Welt der kleinen Leute, etwa die Besetzung des Köpenicker Rathauses durch den Schuster Wilhelm Voigt (1906). Ende des Ersten Weltkriegs leistete der »Simpl«-Redakteur »vaterländischen Hilfsdienst« mit der Feder. Die Anpassung seiner Zeitschrift an den offiziellen Kriegspatriotismus u. die Appelle zum »geistigen« Durchhalten führten schließlich auch zum Bruch mit Kurt Tucholsky, mit dem O. 1913–1920 korrespondierte. O. ist mitverantwortlich für die Loyalitätserklärung der umgebildeten »Simplicissimus«-Redaktion vom 16.4.1933 u. hat der Leisetreterei des »Simpl« in den Jahren der Gleichschaltung durchaus Vorschub geleistet. Bekannt geworden ist O. nicht zuletzt als Herausgeber u. eigenwilliger Übersetzer. Die zus. mit Engelbert Hegaur (d. i. Wilhelm Engelbert Öftering) verdeutschte Gargantua und Pantagruel-Ausgabe (Mchn. 1905) dürfte heute noch die verbreitetste Rabelais-Übersetzung sein. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Mchn.): Der saure Apfel. 1904 (L.). – Gottes Blasbalg. 1910 (L.). – Von Lichtmeß bis Dreikönig. o. J. [1912]. – Käuze. Stgt. 1917 (L. u. P.). – Der Tintenkuli. Heilbr. o. J. [1924]. – Hinter den sieben Schwaben her. Tüb. 1926 (P.). – Allotria v. Dr. Ratatöskr. 1927 (L.). – Lichter u. Gelichter. 1931 (P.). – Stunde um Stunde. 1933 (L.). – Kleine Nachtmusik. o. J. [1936]. – Scherzo. 1938 (L.). – Damals. 1941 (P.). – Idyllen u. Katastrophen. 1941 (L.). – Im letzten Viertel. 1942 (L.). – Seitensprünge. 1942 (L.). – Tempi passati. 1947 (L.). – Und ewig rollt das Rad der Zeit. 1948 (L.). – Erzählungen. Marbach 1957. – Des Leib-Seelenarztes Dr. O. Rezeptbuch. 1955 (L. u. P.). – Ausgew. Werke [...]. Mit sämtl. Briefen an Kurt Tucholsky. Mit einer Einl., Anmerkungen u. Bibliogr. hg. v. Volker Hoffmann. Kirchheim/Teck 1981. – Übersetzungen: Aristophanes: Die Vögel. Jena 1910. – Charles de Coster: Die Legende vom lustigen Schmied Smetse Smee. Tüb. 1927.

Oye Literatur: Angelika Mundorff: H. E. B. alias Dr. O. alias R. In: Fürstenfeldbruck – literarisch. Hg. dies. u. Eva v. Seckendorff. Mchn. 2004, S. 88–94. – Manfred Bosch: H. E. B. Arzt, Schriftsteller u. ›Simplicissimus‹-Mitarbeiter (1873–1945). In: Le-

56 bensbilder aus Baden-Württemberg. Hg. Gerhard Taddey u. Joachim Fischer. Stgt. 2005, S. 457–479. Lutz Hagestedt / Red.

Oye, Elsbeth von ! Ötenbacher Schwesternbuch

P Paalzow, Henriette von, * Ende 1788 Berlin, † 30.10.1847 Berlin. – Romanautorin.

Literatur: Franz Brümmer: P. In: ADB. – Ernst Kaeber: H. P., die Lieblingsdichterin Friedrich Wilhelms IV. In: Jb. für die Gesch. Mittel- u. Ostdeutschlands 5 (1956), S. 251–271. – Silke Arnoldde Simine: H. v. P.: Godwie Castle. Aus den Papieren der Herzogin v. Nottingham (1836). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 329 f.

Die Tochter des Kriegsrats Wach, der strikte Vorurteile gegen weibl. Bildung hegte, heiratete 1816 auf Familiendruck den Major von Paalzow, ließ sich aber 1821 von ihm scheiden u. lebte danach in Berlin mit ihrem Bruder Wilhelm († 1845), einem klassizist. Maler, Eda Sagarra der ihre geistigen Fähigkeiten voll anerkannte. Ihre Romane, die zur Lieblingslektüre des preuß. Königshauses (Prinzessin Paasche, Hans (Johannes Albert FerdiWilhelmine stand P. persönlich nahe) gehör- nand), * 3.4.1881 Rostock, † 21.5.1920 ten, behandeln histor. Begebenheiten aus der Gut Waldfrieden/Wiesenthal (Neumark) privat-familiären Perspektive adliger Kreise (ermordet); Grabstätte: Przesieki/Wielkoin deren Form u. Etikette getreu abzeich- polska. – Kolonialschriftsteller, Verfasser nender Sprache; Zeitgenossen lobten die lebensreformerischer u. pazifistischer psychologisch glaubhafte Figurenzeichnung, Schriften, Kritiker der deutschen Koloniv. a. in P.s bekanntestem Werk, dem zunächst alpolitik. anonym erschienenen »Stuartroman« Godwie Der Sohn des Kolonialökonomen u. späteren Castle. Aus den Papieren der Herzogin von Not- nationalliberalen Reichstagsabgeordneten tingham (3 Bde., Breslau 1836. Lpz. 121900), Hermann Paasche trat 1899 in den Dienst der dessen Beliebtheit in preuß. Adelskreisen kaiserl. Marine, fuhr 1904 als I. Offizier auf nicht zuletzt auf antikath. Ressentiments dem Kreuzer »Bussard« u. wurde in Deutschzurückzuführen war, die in den Figuren Ostafrika eingesetzt. 1905/06 war er als geistlicher u. weltl. kath. »Drahtzieher« ge- Kommandeur in der »Schutztruppe« an der staltet sind. Eine heutige Leserschaft dürften Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes vielmehr P.s »auktoriale, wertende und me- beteiligt. Nach seiner Rückkehr kritisierte er tafiktional kommentierende Erzählweise« die Art der Kriegsführung u. stieß – über die interessieren sowie ihre z.T. raffinierte Ver- Temperenzler – zur »Lebensreformbewearbeitung von Erzählelementen des engl. gung«. 1908 heiratete er Ellen Witting, eine Schauer- u. Sensationsromans (Arnold-de Si- Nichte Maximilian Hardens. 1909 nahm er mine). Als selbstbewusste Hausherrin in ihrer seinen Abschied aus der Marine u. reiste mit u. a. von Wilhelm von Humboldts Familie seiner Frau zum Victoriasee. Mit Hermann frequentierten Wohnung beeindruckte die Popert gründete er 1911 die lebensreformekluge u. besonnene Frau die sonst kritische rische Zeitschrift »Der Vortrupp« u. war 1913 an der Durchführung des »Ersten Freideutjunge Fanny Lewald. Weitere Werke: Sainte-Roche. 3 Bde., Breslau schen Jugendtages« auf dem Hohen Meißner 1839. – Thomas Thyrnau. 3 Bde., Breslau 1842. – beteiligt. 1914 meldete er sich trotz seiner Jakob van der Nees. 3 Bde., Breslau 1844. – Sämmtl. pazifist. Haltung zur Marine zurück, wandelte sich aber schnell zum Gegner des KrieRomane. 12 Bde., Breslau 1855 u. 1874/75.

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ges. Wegen Aufforderung zum Hochverrat Deutschland‹. In: Lit. für Leser 30 (2007), H. 2, wurde der 1916 aus der Marine Entlassene S. 97–109. O. F. Raum / Uwe-K. Ketelsen 1917 inhaftiert, 1918 aber in eine Nervenheilanstalt abgeschoben, aus der ihn revoluPaepcke, Lotte, geb. Mayer, * 28.6.1910 tionäre Matrosen befreiten; kurzzeitig Freiburg/Br., † 9.8.2000 Karlsruhe. – schloss er sich der Revolution an. Am 21. Mai Verfasserin autobiografischer Prosa, Lyri1920 ermordeten ihn Reichswehr-Angehöri- kerin, Essayistin, Literaturkritikerin. ge auf seinem Gut Waldfrieden. Entlang dieser Lebenslinie entfalteten sich P.s Eltern waren musikalisch u. politisch indie literar. Produktion u. die Rezeption P.s. teressierte assimilierte Juden. Der Vater, ein In seinen ersten Schriften (Im Morgenlicht. Lederhändler, war sozialdemokrat. Stadtrat. Kriegs-, Jagd- und Reiseerlebnisse in Ostafrika. Bln. Bot das Elternhaus Förderung u. Geborgen1907. Neudamm 31925; der Manuskript ge- heit, so litt P. schon früh unter dem Zwang, bliebenen, als verschollen geltenden Hoch- dem Antisemitismus mit Unauffälligkeit u. zeitsreise nach den Quellen des Nils. 1910/17; Leistungsbereitschaft zu begegnen. Über die Fremdenlegionär Kirsch. Eine abenteuerliche Fahrt fortschreitende Ausgrenzung der Juden bevon Kamerun in den deutschen Schützengraben in richtet ihr autobiogr. Roman Ein kleiner der mein Vater war (Heilbr. 1972. Freib. den Kriegsjahren 1914/15. Bln. 1916) entwarf er Händler i. Br. 22002): Das Bemühen des Protagonisten aus kolonialist. Perspektive ein Bild des hisum Akzeptanz als Deutscher scheitert trotz torisch zum Untergang verurteilten Afrika. Teilnahme im Ersten Weltkrieg mit der ExiIn den ersten sechs Briefen des 1912/13 im lierung u. gelingt auch nach der Rückkehr »Stoßtrupp« erschienenen Die Forschungsreise nicht mehr: »Nur ein Deutscher konnte er des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste nicht mehr werden.« Um die hier aufscheiDeutschland [...] kritisiert, satirisch übernende Problematik des »Jude-Seins« u. um zeichnend, ein Afrikaner in fingierten Briefen Heimatlosigkeit kreisen alle ihre Werke, in die Lebensführung im wilhelmin. Deutschdenen sie um »Würde« u. »Sinn« im Leben land in Bezug auf Kleidung, Ernährungsge- ringt. wohnheiten, Unterhaltung, HurrapatriotisP. studierte Jura in Berlin, Freiburg u. mus; die letzten drei Briefe erschienen in der Grenoble, wurde aber nach der Machtergreipostumen Buchausgabe 1921 (Hbg.); die fung nicht zum Referendariat zugelassen. Kritik aus lebensreformerischem Geist gip- Nach einem Gefängnisaufenthalt wegen ihres felte in einem Lob der Ideale der Jugendbe- polit. Engagements in linken jüd. Jugendwegung. Die Wut der polit. Rechten zogen gruppen verbrannte sie ihre literar. Versuche v. a. die beiden 1919 veröffentlichten Flug- aus Angst – sie hat zeit ihres Lebens geschriften Meine Mitschuld am Weltkriege u. schrieben. Während ihre Eltern nach einer insbes. Das verlorene Afrika auf P. vorübergehenden Internierung des Vaters im Literatur: Helmut Donat (Hg.): ›Auf der KZ Dachau in die USA emigrierten, nahm P. Flucht‹ erschossen... Schr.en u. Beiträge v. u. über eine Stelle in Rom an. Um den Philologen H. P. Bremen 1981. – Werner Lange: H. P.s For- Ernst Paepcke vor dem »Mischehenverbot« schungsreise ins innerste Dtschld. Eine Biogr. Bre- zu heiraten, kehrte sie aber zurück u. brachte men 1995. – Uwe-K. Ketelsen: Ein Blick v. der 1935 ihren ersten Sohn zur Welt, was der Cheopspyramide. H. P.s Bild vom kolonialen AfriFamilie bis 1942 den Status einer »privileka. In: Lit. im Zeugenstand. Hg. Edward Bialek u. a. gierten Mischehe« sicherte. P. lebte zunächst Ffm. 2002, S. 61–85. – P. Werner Lange: H. P., die in Bielefeld, Köln u. schließlich in Leipzig, wo Freideutsche Jugend u. das verlorene Afrika. In: Jb. des Archivs der dt. Jugendbewegung N. F. 2 (2005), ihre Autobiografie Unter 2 einem fremden Stern S. 57–68. – Pierre Kodjio Negulé: Ein Deutscher (Ffm. 1952. Freib. i. Br. 2004) einsetzt. Anmit schwarzafrikan. Seele besucht das Kolonial- ders als die Rezeption vermuten lässt, ist der dtschld. Zu H. P.s Globalisierungsdiskurs in den Text mehr als ein Egodokument, das über P.s Werken ›Ändert euren Sinn!‹ u. ›Die Forschungs- Zwangsarbeit, ihre schwere Krankheit u. den reise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste durch wenige Helfer ermöglichten Aufent/

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P. wurde 1988 mit der Ehrengabe des halt im Kloster Stegen bis zum Kriegsende berichtet. Mit zeitgeschichtlicher u. psycho- Reinhold-Schneider-Preises u. 1998 mit dem log. Detailsicht wird nicht nur die »heillose Johann-Peter-Hebel-Preis geehrt. Ihr Werk Unschuld der Deutschen«, der Widerspruch wurde auch in andere Sprachen übersetzt. zwischen individueller Barmherzigkeit u. Weiteres Werk: Ein Sturz in den Himmel. In: institutioneller Vernichtung, sondern auch ›Nirgendwo und überall zu Haus‹. Gespräche mit die Situation der Juden beleuchtet, die von Überlebenden des Holocausts. Hg. Martin Doerry. Angst vor den Deutschen u. Schuldgefühlen Mchn. 2006, S. 252–259. Ausgabe: Ges. Werke. 3 Bde., Moos u. Badengegenüber den Glaubensgenossen geprägt ist. Dem entspricht ein für ihre gesamte Prosa Baden 1989. Literatur: Roslyn Abt Schindler: ›Ohne Heitypisches poet. Verfahren, welches das Geschehen in ästhetisch verdichteten Schlüssel- mat‹: The Problem of Exile in the Works of L. P. In: situationen konzentriert u. der Erzählung ein Exile and Enlightenment. Studies in German and hohes Maß an Exemplarik verleiht. Auch ihre Comparative Literature in Honor of Guy Stern. Hg. Uwe Faulhaber, Edward P. Harris u. Hans-Georg kunstvolle Sprache, die sich alttestamentariRichert. Detroit 1987. – Christoph Meckel: Sätze scher Bilder bedient u. zwischen Sachlichkeit für L. P. Ansprache zur Verleihung der Ehrengabe u. Pathos schwankt, neigt zur äußersten des Reinhold-Schneider-Preises 1988. In: Allmende Konzentration. So endet ihr Roman in einer 23 (1988), S. 119–121. – Horst Krüger: Eine Jüdin für sie zeitlebens gültigen lakon. Formulie- in Dtschld. Kalenderblatt für L. P. In: Allmende 28/ rung: »Es wurde nicht wieder gut.« 29 (1990), S. 206–210. Tilman Venzl Nach dem Krieg lebte P. gemeinsam mit ihrem Mann in Karlsruhe, wurde Mutter Paetel, Karl Otto, * 23.11.1906 Berlin, zweier weiterer Söhne u. arbeitete für Presse, † 4.5.1975 New York. – Verfasser histoRundfunk u. Fernsehen. Den Depressionen, risch-politischer Werke u. Biografien, die das Trauma der Existenzverneinung ausJournalist. löste, begegnete sie mit Psychotherapie u. Reisen in die USA u. nach Israel. In diesem Nach dem Abitur 1927 zunächst RedaktiZusammenhang veröffentlichte sie in den onsvolontär, dann Lokalredakteur beim »Frankfurter Heften« essayist. Briefe, welche deutschvölkischen »Deutschen Tageblatt« in die Möglichkeiten einer Reintegration aus- Berlin, studierte P., dessen Eltern ein leuchten. Ihre Texte klagen nicht an, wehren Schreibwarengeschäft besaßen, von 1928 bis sich aber gegen die ihr inadäquat erschei- 1930 ohne Abschluss an der Universität Bernende Kategorie der Vergebung. Stattdessen lin Geschichte, Philosophie u. Deutsche Liteplädiert sie v. a. in Das Zeichen, das uns verbindet ratur u. war zgl. Hörer an der Deutschen (1957) für ein Leben eingedenk der Shoah. Hochschule für Politik. In den folgenden Darüber hinaus hat sie zu weiteren gesell- Jahren engagierte er sich in der Bündischen schaftlichen u. literaturgeschichtl. Fragen Jugendbewegung (Bund der Kögener, DeutStellung bezogen. Mit zunehmendem Alter sche Freischar), war 1928–1930 Chefredakwurde ihr die Lyrik zur wichtigsten literar. teur der Monatsschrift »Das junge Volk« u. Ausdrucksform. Die meist reimlosen, zu übernahm im Jan. 1930 zus. mit Hans-Gerd sprachl. Verknappung neigenden Gedichte Techow die Hauptschriftleitung der Zeiterinnern an Expressionismus u. an Paul Ce- schrift »Die Kommenden«, die zu dieser Zeit lans Lyrik der 1950er Jahre. Das Gedicht von Ernst Jünger u. Werner Laß herausgegeWörter aus P.s erstem Lyrikband Hier und fort ben wurde. Die in der Absicht, junge Natio(Mainz 1980) zeugt von der zeittyp. Skepsis, nalisten aus allen polit. Lagern zusammenmit überkommenem Ausdrucksmaterial dem zuführen, erfolgte Gründung der »Gruppe Geschehenen gerecht werden zu können: Sozialrevolutionärer Nationalisten« (GSRN) »Viele waren in fremde Münder gefallen, / im Mai 1930 ging auf P.s Initiative zurück. In viele verendeten in feindlichen Stunden. / den Leitlinien dieser Vereinigung steht das Manche fielen / nach ihrer Rückkehr / den mit der prinzipiellen Ablehnung der WeiFüßen zum Opfer / die geschritten kamen«. marer Republik einhergehende Bekenntnis

Paetel

zur »deutschen Revolution«, u. es wird ein Sozialismus gefordert, »der nach Brechung der kapitalistischen Ordnung Volk und Nation in organischer Wirtschaftsgliederung bindet«. Die Harmonie der Volksgemeinschaft vor Augen, wurde bei abstruser Auffassung des Staates u. mit hohlem Pathos als polit. Ziel der »großdeutsche Volksrätestaat [...] als Ausdruck der Selbstverwaltung des schaffenden Volkes« proklamiert. Ein Bündnis mit der Sowjetunion sollte v. a. die »westlerischen Einflüsse« in Deutschland zunichte machen. Der Verbreitung dieser »nationalrevolutionären« Ideen dienten die programmatische Schrift Sozialrevolutionärer Nationalismus (Flarchheim 1930) u. die von P. 1931 gegründete Zeitschrift »Die Sozialistische Nation«. Daneben gab er die »Politische Zeitschriftenschau« (1930–1934) u. »Antifaschistische Briefe« (1932/33) heraus. P.s Ende Jan. 1933 erschienenes u. bald darauf beschlagnahmtes Nationalbolschewistisches Manifest (Bln.) forderte – über das Programm der GRSN hinausgehend – auch den »Kampf gegen die römische Politik im deutschen Raum« sowie den »Kampf für eine artgemäße, dem deutschen Menschen entsprechende Religiosität als Voraussetzung völkischer Einheit« u. rief zur Gründung einer »nationalbolschewistischen« Partei mit Ernst Niekisch u. Claus Heim an der Spitze ihrer Wahlliste auf. 1934 mehrmals verhaftet, floh P., seit 1933 mit Publikations- u. Berufsverbot belegt, im Jan. 1935 vor einem Prozess wegen Verstoßes gegen das sog. Heimtückegesetz nach Prag. Weitere Stationen des europ. Exils waren Kopenhagen, Stockholm u. Paris. In den von ihm 1936–1939 herausgegebenen »Blättern der Sozialistischen Nation. Nationalkommunistische Rundbriefe«, mit denen er bündische Widerstandsgruppen in Deutschland versorgte, warf er der NS-Führung Verrat an den Ideen des Nationalsozialismus (»faschistisch verfälscht«) vor, wenn sie statt einer Weiterführung der Revolution »Rückendeckung bei Junkern, Kapitalisten und Reichswehr« suche. Nach Aberkennung der dt. Staatsangehörigkeit im April 1939 wurde P., der für eine Beseitigung des NS-Regimes von innen eintrat, in absentia zum Tod verurteilt.

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1941 emigrierte er in die USA u. arbeitete in New York zunächst als Dokumentarist, nach einer Tätigkeit für den Geheimdienst Office of Strategic Services als Sprachlehrer, dann als freier Schriftsteller. 1946/47 war er Redakteur der Exilzeitschrift »Deutsche Blätter«, 1947–1949 Mitherausgeber des Nachrichtenblatts »Deutsche Gegenwart«. Erst Anfang der 1950er Jahre erkannte er seine Forderung nach Aufbau einer »Dritten Front« in Deutschland, deren Ziel »die Verbindung zwischen einer konservativen Renaissance und einem Bekenntnis zum Sozialismus« gewesen wäre, als unzeitgemäß. Von 1956 bis 1958 war P., seit 1952 US-amerikan. Staatsbürger, Geschäftsführer des zus. mit dem Schriftsteller u. Journalisten Richard Peters gegründeten Deutschen Presseclubs, von 1959 bis 1973 des Deutschsprachigen Forums. P.s erstes, in unkrit. Verehrung verfasstes Buch über Ernst Jünger, den P. zur »Inneren Emigration« zählte, erschien 1946 als Band 2 der »Dokumente des Anderen Deutschland« u. wandte sich ausdrücklich an die dt. Schriftsteller im Exil (Ernst Jünger. Die Wandlung eines deutschen Dichters und Patrioten. New York. Nachdr. Koblenz 1995). Die folgenden biogr. Arbeiten, Ernst Jünger. Weg und Wirkung. Eine Einführung (Stgt. 1949) u. Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinb. 1962), entstanden in enger Zusammenarbeit mit Jünger selbst, der es auch war, der P. zu einer Gesamtdarstellung der Geschichte der »Nationalrevolutionäre« ermutigte: Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus (Gött. u. a. 1965. Neuaufl. u. d. T. Nationalbolschewismus und nationalrevolutionäre Bewegungen in Deutschland. Geschichte, Ideologie, Personen. Schnellbach 1999). Weiteres Thema seiner schriftstellerischen Tätigkeit nach 1945 war neben der Exilproblematik bes. die Jugendbewegung (Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen. Bad Godesberg 1961. 2., stark erw. Auflage u. d. T. Jugend in der Entscheidung. 1913 – 1933 – 1945. Bad Godesberg 1963. Das Bild vom Menschen in der deutschen Jugendführung. Bad Godesberg 1954). Der von ihm bewunderten Beat Generation, in der er ein Pendant der dt. Jugendbewegung der 1920er Jahre sah, widmete P.

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eine Anthologie (Beat. Reinb. 1962. 21968. Neuausg. Augsb. 1988. 21993). Die Autobiografie Reise ohne Uhrzeit (hg. u. bearb. v. Wolfgang D. Elfe u. John M. Spalek. Worms 1982) umfasst die Zeit bis 1941. Weitere Werke: Die Struktur der nat. Jugend. Flarchheim 1930. – Das geistige Gesicht der nat. Jugend. Flarchheim 1930. – Die Hitlerjugend. Bund dt. Arbeiterjugend. Flarchheim 1930. – Ernst Jünger. Eine Bibliogr. Stgt. 1953. – Dt. Innere Emigration. Anti-Nationalsozialist. Zeugnisse aus Dtschld. Ges. u. erl. v. K. O. P. Mit Original-Beiträgen v. Carl Zuckmayer u. Dorothy Thompson. New York 1946. – Ein Dt. Tgb. Hg. Franz-Joseph Wehage. New York u. a. 1995. Literatur: K. O. P. In: Biogr. Hdb. der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 1, Mchn. u. a. 1980, S. 546 f. – Wolfgang D. Elfe: Weimar aus der Sicht der ›Linken Leute von rechts‹: K. O. P. In: Weimars Ende. Prognosen u. Diagnosen in der dt. Lit. u. polit. Publizistik 1930–33. Hg. Thomas Koebner. Ffm. 1982, S. 205–222. – Louis Dupeux: ›Nationalbolschewismus‹ in Dtschld. 1919–33. Kommunist. Strategie u. konservative Dynamik. Mchn. 1985. – Franz-Joseph Wehage: K. O. P. Leben u. Werk eines Literaturkritikers, mit einer umfassenden Bibliogr. seiner Publikationen. Bern u. a. 1985. – Clemens Vollnhals: Der bünd. Widerstandskreis um K. O. P. Nationalrevolutionäre Ideologie u. Politik aus dem Exil. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. [Univ. Tel-Aviv] 15 (1986), S. 399–430. – W. D. Elfe: K. O. P. In: Dt. Exillit. Bd. 2,1, S. 737–751. – Esther Marian: ›Ich möchte nur, daß unterbliebe, was zur Minderung meines Ansehens beitragen könnte‹. Ernst Jünger u. seine Biographen K. O. P. u. Armin Mohler. In: Spiegel u. Maske. Konstruktionen biogr. Wahrheit. Hg. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006, S. 207–225. – Festschriften: Aufrecht zwischen den Stühlen. Zusammengestellt v. Werner Wille u. Heinrich Sperl. Nürnb. 1956. – Don Quichotte en miniature. Nürnb. [1971]. Bruno Jahn

Paganus, Petrus, eigentl.: Peter Dorf(f)heilige, * 30.3.1532 Wanfried/Hessen, † 29.5.1576 Wanfried/Hessen; Grabmal: ebd., Pfarrkirche. – Neulateinischer Dichter. Nach dem Schulbesuch in Eschwege bezog P. 1548 die Universität Marburg (1550 Magister) u. ging von dort etwa 1552 nach Frankreich. 1554 immatrikulierte er sich in Wien, wo ihn Kaiser Ferdinand I. am 17.6.1560 zum

Paganus

Poeta laureatus krönte. 1561 wurde P. Professor für Poetik u. Geschichte an der Universität Marburg. Der unkonventionelle Lebenswandel des Junggesellen bot Stoff für Schwänke, die in Otho Melanders Ioco-Seria eingingen. Neben zahlreichen, für die Gelehrtengeschichte Wiens u. Marburgs aufschlussreichen Kasualgedichten u. Versifizierungen bibl. u. klass. Sujets verfasste P. das einzige nlat. Kleinepos in Deutschland, das einen röm. Sagenstoff zum Gegenstand hat: Die Historia tergeminorum Romanorum et Albanorum [...], die als akadem. Vortrag am 8.5.1571 in Marburg gelesen wurde, behandelt in Hexametern die Geschichte der Horatier u. Curatier nach Livius 1, 24 f. Ziel des Dichters ist, die akadem. Jugend durch klassisch röm. »exempla« dazu zu bringen, »für das liebe Vaterland Mühen zu ertragen«. Der antike Stoff wird so für die patriot. Erziehung instrumentalisiert. Weitere Werke: De ictu fulminis, quo castrum Finckenstain [...] tactum est [...], carmen heroicum. Wien 1559. – De bello ac pace. Carmina heroica. Wien 1560. – De lamentabili passione et glorioso triumpho Jesu Christi [...]. Wien 1560. – In Quinti Horatii Flacci poematum omnium [...] argumenta succinctis versibus. Ffm. 1567. – Historia Iephthae. Marburg 1572. – Praxis metrica. Ffm. 1609. – Ausw. elektronisch in: CAMENA. Literatur: Bibliografien: VD 16 (unter Dorfheilige). – Oppitz (s. u.), S. 65–67, 85–88. – Weitere Titel: Ulrich-Dieter Oppitz: P. P. Poeta Laureatus aus Wanfried. Wanfried 21974. – Heinz Rölleke: P. P. aus Wanfried – Humanist u. Poet dazu. Sontra 1976. – Horst Meusel: Horatier u. Curatier [...]. In: Der Altsprachl. Unterricht 31 (1988), H. 5, S. 66–90, bes. 81 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1467–1469. – Johannes Amann-Bubenik: Merkur besucht die Univ. Wien – zur Dichterkrönung des P. P. In: Neulatein an der Univ. Wien. Franz Römer zum 65. Geburtstag gewidmet. Hg. Christian Gastgeber u. Elisabeth Klecker. Wien 2008, S. 143–176 (mit Textauszügen). Hermann Wiegand

Pahl

Pahl, Johann Gottfried (von), auch: Alethinos, * 12.6.1768 Aalen/Württemberg, † 18.4.1839 Stuttgart. – Romancier, Verfasser historischer Schriften.

62 Weitere Werke: Gesch. des frz. Revolutionskriegs. 3 Bde., Stgt. 1799–1801. – Gesch. v. Württemberg [...]. 6 Bde., Stgt. 1827–31. Literatur: Dieter Narr: J. G. P. u. Jakob Salat. In: Ders.: Studien zur Spätaufklärung im dt. Südwesten. Stgt. 1979, S. 317–343. – Johannes Weber: ›Magister Ulrich Höllriegel‹ u. die Frz. Revolution [...]. In: Der dt. Roman der Spätaufklärung. Hg. Harro Zimmermann. Heidelb. 1990, S. 106–153. – Hermann Bausinger: Kein Schäferspiel. J. G. P. beschreibt die ländl. Liebe. In: Ders.: Ein bißchen unsterblich. Tüb. 1996, S. 144–155. Walter Weber / Red.

Der Sohn eines verarmten Kaufmanns begann 1784 in Altdorf ein Theologiestudium, das er 1786 aufgeben musste. Dennoch bezog er 1790 in Neubronn eine Pfarrei, wo er eine Familie gründete u. seine ersten Romane schrieb. Beflügelt von den Ideen der Aufklärung u. den Idealen der Französischen Revolution, verlieh P. seinen zeitgeschichtl. Abhandlungen u. belletrist. Werken einen zunehmend polit. Ton. Exemplarisch dafür sind Pakleppa, Fabienne, * 27.9.1950 Laudie satir. Romane Die Philosophen aus dem sanne/Schweiz. – Prosaschriftstellerin. Uranus. Blicke auf den [...] Zustand von TeutschP. wuchs mit Französisch als Muttersprache land (Constantinopel, recte Oehringen 1796) auf. Sie studierte Germanistik, Romanistik u. u. Leben und Thaten des ehrwürdigen Paters SimPhilosophie an der Universität Genf. Seit pertus; oder Verfinsterung des Fürstenthums 1972 lebt sie in Deutschland, seit 1976 in Strahlenberg (Matrit, recte Heilbr. 1799), in München, wo sie auch als Journalistin u. denen er ebenso kritisch wie ironisch mit Ghostwriterin tätig ist. München wird in P.s absolutistischer Fürstenmacht u. antiaufkläTexten immer wieder zum Thema; 2002 rerischem Dunkelmännertum abrechnete. wurde sie dafür mit dem Ernst-HoferichterNach 1800 wurde P.s Tonlage moderater, Preis ausgezeichnet. obwohl er mit seinem 1801 gegründeten P.s oft fantastisch gefärbte Romane beWochenblatt »National-Chronik der Teuthandeln, bei aller sonstigen themat. Verschen« (ab 1807 »Chronik der Teutschen«; schiedenheit, Personen, deren Verbindung 1809 verboten) politisch aneckte. Zwar blieb zur sie umgebenden Gesellschaft abreißt. er seiner aufklärerischen Grundüberzeugung Diese kann dabei totalitäre Züge tragen wie treu, doch bekannte er sich nun zur konstiim Science-Fiction-Roman Die Aufsässigen tutionellen Monarchie. Dass ein allzu enthu(Ffm./Lpz. 1995). Während hier die Konturen siastisches Schwärmertum für Revolution u. einer dystop. Außenwelt deutlich werden, ist Umsturz im absolutistischen Deutschland der Blick im Roman Die Birke (Hbg. 1999) zwangsläufig im Fiasko enden müsse, beganz auf den Mikrokosmos einer Familie der schrieb P. in seiner Romansatire Ulrich HöllGegenwart gerichtet. In der Auseinandersetriegel. Kurzweilige und lehrreiche Geschichte eines zung mit dem Wachkoma der Mutter wird Württembergischen Magisters aus dem Jahr 1802 das schwierige Verhältnis der bürgerl. Ge(Nördlingen 1802. Neudr. Vorw. v. Johannes sellschaft zu Pflegebedürftigkeit u. KommuWeber. Ffm. 1989). Hierin widmete er sich nikationsverweigerung offenbar. Damit ist der polit. »Umtriebigkeit« im Tübinger Stift die weltentrückte Haltung insbes. des Dezur Zeit Hölderlins. bütromans Die Himmelsjäger (Ffm. 1993), in 1824 wurde P. zum Dekan der Diözese dem der Weltentzug der Hauptfigur eher im Gaildorf erhoben u. 1831 zum geadelten Sinne einer metaphys. Versuchsanordnung Prälaten u. Generalsuperintendenten in Hall, wirksam wird, endgültig aufgegeben. Diese der einen Sitz im württemberg. Landtag Entwicklung zur sozialen Konkretion wird hatte. Die Summe seines Lebens zog er in den auch an P.s Arbeiten als Biografin erkennbar, aufschlussreichen Denkwürdigkeiten aus meivon denen eine (Peter Hepp: Die Welt in meinen nem Leben und aus meiner Zeit (Tüb. 1840). Händen. Ein Leben ohne Hören und Sehen. Bln. 2005) thematisch an die fiktionalen Werke anknüpft.

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Palm

In P.s Prosa wird immer wieder die Sexua- Cromwell (Bln. 1857) fand den größten Anlität als mögl. Gegenkraft zur gesellschaftl. klang. Isolation ins Spiel gebracht. Insbes. einige Weitere Werke: König Monmouth. Bln. 1853 von P.s erot. Erzählungen, etwa Die Seuche (D.). – Achilles. Gött. 1855 (D.). oder Just floating (beide in der Sammlung Mein Literatur: Joseph Kürschner: P. In: ADB. unverschämter Liebhaber. Erotische Geschichten. Christian Schwarz / Red. Mchn. 2000), arbeiten diesen utop., befreienden Aspekt von Sexualität deutlich heraus. Für die pointierten Erzählungen, die, meist Palm, Johann Philipp, * 18.12.1766 † 26.8.1806 im Hier u. Jetzt angesiedelt, diverse Formen Schorndorf/Württemberg, Braunau/Inn. – Verlagsbuchhändler. (hetero-)sexueller Begierde behandeln, erhielt P. 1998 den Gratwanderpreis für eroti- P., Sohn eines Chirurgen, entstammte einer sche Literatur. alten schwäb. Bürgerfamilie. Nach abgeWeitere Werke: Erzählungen: Schließ die Au- schlossener Lehrzeit in der Erlanger Buchgen. Erot. Phantasien u. andere Gesch.n. Zug 1997. handlung seines Onkels war er in Frankfurt/ – LustOpfer (mit Volker Derlath). Mchn. 2002. So- M. u. Göttingen angestellt u. wurde, nachwie zahlreiche Beiträge in Anthologien. – Arbeiten dem er 1796 die Tochter des Buchhändlers als Biografin: Ashti Marben: Im Schatten des DikJohann Adam Stein geheiratet hatte, 1800 tators. Mein Leben im Irak. Mchn. 2003. – Ingeborg Alleininhaber der Steinschen VerlagsbuchOchsenknecht: ›Als ob der Schnee alles zudeckte‹. Eine Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz handlung in Nürnberg. Im Juni 1806 verlegte P. die anonyme anan der Ostfront. Mchn. 2004. tifrz. Flugschrift Deutschland in seiner tiefen Literatur: Gunna Wendt: F. P. In: LGL. Erniedrigung, in der die Eroberungspolitik Jan Behrs Napoleons u. das Verhalten bes. Preußens u. Österreichs scharf kritisiert wurden. P. wurde Palleske, Emil, * 5.6.1823 Tempelburg/ als Vertreiber der Schrift auf Befehl NapolePommern, † 28.10.1880 Thal bei Eise- ons verhaftet, in das noch von frz. Truppen besetzte Braunau verbracht u. dort, nach einach. – Rezitator, Dramatiker, Biograf. nem juristisch fragwürdigen Prozess vor eiSchon während seines Philologie- u. Ge- nem Kriegsgericht, standrechtlich erschosschichtsstudiums in Berlin bereitete sich P. sen. auf den Schauspielerberuf vor. Seit 1845 erWährend Inhalt u. Stil der von P. verlegten hielt er Engagements in Posen, Stettin u. Ol- Schrift, deren Verfasser wohl am ehesten der denburg als Helden- u. Charakterdarsteller, Pfarrer Philipp Christian Gottlieb Yelin gewurde aber Ende der 1840er Jahre zum bald wesen sein dürfte, im 19. Jh. – selbst von dem überregional bekannten Vortragskünstler. nationalkonservativen Historiografen Trei1851 zog er nach Berlin, später nach Weimar tschke (Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts. u. Thal, von wo aus er ausgedehnte Vorlese- Bd. 1, 1879, S. 236) – eher zurückhaltend tourneen ins In- u. Ausland unternahm (etwa beurteilt wurden, bot die Geschichte P.s Stoff 3000 Abende). P. rezitierte v. a. Dramen von für einige unbedeutende Heldentragödien u. Sophokles, Shakespeare, der dt. Klassik – in Erzählwerke. Mit einem Neudruck der Flugvollem Umfang –, aber auch Fritz Reuter. schrift zu P.s 100. Todestag (mit einem Vorw. Als Schriftsteller gelang P. mit Schillers Le- hg. v. Richard F. M. von Du Moulin-Eckart. ben und Wirken (Bln. 1858. 151900), einfühlsam Stgt. 1906) setzte eine Umbewertung des u. unmittelbar geschrieben, ein Volksbuch. Falls unter nationalist. Vorzeichen ein, die Einblick in sein Ingenium sollte Die Kunst des schließlich in der propagandist. AusschlachVortrags (Stgt. 1880. 2. Aufl. Hg. Hermann tung durch die Nationalsozialisten gipfelte. Fischer 1886. 31892) vermitteln. P.s dramat. Literatur: J. Rackl: Der Nürnberger BuchWerk, dem er urspr. die darstellerisch-rezi- händler J. P. P. [...]. Nürnb. 1906. – Paul Holztatorische Tätigkeit als Vorübung zugeordnet hausen: P. im Leben u. auf der Bühne. In: Bühne u. hatte, umfasst v. a. histor. Dramen; Oliver Welt 8 (1906), S. 1031–1041. – Martin Riegel: Der

Palzer Buchhändler J. P. P. Hbg. 1938. – Otto Tschirch: Die Flugschr. ›Dtschld. in seiner tiefen Erniedrigung‹ u. ihr Verf. In: HZ 165 (1942), S. 47–71. – Willy Andreas: P. In: Ztschr. für Bayer. Landesgesch. 21 (1958), S. 1868. – Erhard Fischer: P. In: Ders.: Lebensbilder aus Schorndorf. Schorndorf 1988, S. 71–81. – Christine Glas: J. J. P. Erlangen 1988. – Bernt Ture v. Zur Mühlen: Napoleons Justizmord am dt. Buchhändler J. P. P. Ffm. 2003. – Erhard Fischer: J. P. P. Buchhändler u. Patriot 1766–1806. Eine Dokumentation. Schorndorf 2 2006. – Johannes Wilkes: J. P. P. Märtyrer für die Pressefreiheit. In: Kennen Sie diese Männer? Hg. ders. Erlangen 2009. Sabine Lorenz / Red.

Palzer, Thomas, * 10.4.1956 Mainz. – Film- u. Hörfunkautor, Essayist, Romancier. P., Sohn eines Arztes, lebt seit 1968 in München. Dort u. in Wien studierte er 1978–1984 Philosophie u. Neuere deutsche Literatur. Sein Promotionsstipendium in Bayreuth beendete P. nach zwei Jahren ohne Abschluss. 1979–1986 war P. Mitherausgeber der Zeitschrift »Mode und Verzweiflung«, die u. a. Thomas Meinecke mitgegründet hatte. Es folgten essayistische u. journalist. Arbeiten, zahlreiche Audio- u. Filmbeiträge sowie Dokumentationen u. a. über Martin Heidegger u. Hubert Fichte. »Nur die Worte schützen vor dem Nichts«, steht an zentraler Stelle von P.s literar. Debüt Pony (Augsb. 1994): Durch sein Schreiben erschafft der Protagonist eine eigene Welt u. erklärt sie zur tatsächlichen; seine skizzierte Liebesbeziehung lässt sich kaum zwischen Wahn u. Wirklichkeit verorten. Im Kontrast dazu stehen die geradezu apodikt. Essays u. Etüden in Secret Service. Kleine Extasen (Greiz 1995) u. Camping. Rituale des Diversen (Mchn. 2003), in denen P. Gegenwartsdiagnostik betreibt u. Alltagsphänomene in größere kulturhistor. Zusammenhänge stellt. In seinem Roman Ruin (Mchn. 2005) setzt P. seine essayist. Gesellschaftsreflektionen fort, eingebettet in die wieder aufgenommene literar. Erschaffung einer uneindeutigen Wirklichkeit: Aufgerüttelt durch den Verlust seines Vaters u. die Liebe zu einer »Seelenverwandten«, stellt sich der Protagonist gegen den als berechnend empfundenen Zeit-

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geist u. scheitert daran. 2005 wurde der Roman mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Weitere Werke: Hosenträger. Nachrichten aus der Welt v. gestern. Greiz 1994. – Ab hier FKK erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre. Mchn. 1996. Literatur: Helmut Krausser: T. P. In: LGL. Catharina Koller

Panitz, Eberhard, * 16.4.1932 Dresden. – Erzähler, Reporter, Hörspiel- u. Fernsehautor. P. wurde als Sohn eines Straßenbahnschaffners u. einer Verkäuferin geboren. Nach dem Krieg besuchte er eine Oberschule, nach dem Abitur wurde er Mitgl. einer Jugendbrigade beim Bau der Cranzahl-Talsperre, studierte in Leipzig Pädagogik u. Germanistik. 1955 trat er der Kasernierten Volkspolizei bei u. arbeitete im damaligen Verlag des Ministeriums des Innern. P. war Mitgl. des Vorstandes des Schriftstellerverbandes. Seit 1959 ist er freier Schriftsteller u. Lektor. P. war einer der bekanntesten u. meistgelesenen Autoren der DDR, vermutlich der erfolgreichste Autor von Frauenromanen in der DDR. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: 1967 Erich-Weinert-Medaille, 1971 HeinrichGreif-Preis, 1973 Literaturpreis des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands, 1975 Heinrich-Mann-Preis, 1977 Nationalpreis der DDR, 1982 Goethepreis der Stadt Berlin sowie 1984 Kunstpreis des FDGB. P. hat viele Reisen in sozialist. Länder unternommen, was sein Schaffen wesentlich beeinflusste. In seinen Werken beschreibt er oft die Zentren der Revolution wie Kuba, Vietnam oder die Sowjetunion. 1955 debütierte P. mit der biogr. Erzählung Käte (Bln./DDR. 111985. Schkeuditz 1995) über das Leben der antifaschist. Widerstandskämpferin Käte Niederkirchner. Er stützt sich dabei auf Berichte von Kätes Schwester Mia Niederkirchner. Das Problem des Umgangs mit dem Faschismus in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wird im Roman In drei Teufels Namen (Bln./DDR 1958) behandelt. Der Roman Die Feuer sinken (Bln./ DDR 1960. 51986. Schkeuditz 2000) thema-

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tisiert die Zerstörung von Dresden, die P. als Jugendlicher miterlebte. Erlebnisse von einer Reise nach Kuba verarbeitet der Novellenband Cristobal und die Insel (Bln./DDR 1963. Bln. 2004). In fünf Geschichten werden die an der Revolution auf Kuba beteiligten Personen vorgestellt. P.’ Werke beschreiben oft Frauenschicksale, die mit der aktuellen polit. Entwicklung zusammenhängen. Die literar. Reportage über das Industriekombinat Schwedt, Der siebente Sommer (Schwedt 1966), enthält einen Bericht über eine Chemieingenieurin, der später zum Thema des Romans Unter den Bäumen regnet es zweimal (Halle/Lpz. 1969. 2 1971) wurde (verfilmt 1972 u. d. T. Der Dritte). Gisela Ufer erzählt (Halle/Lpz. 1967) ist eine biogr. Erzählung, die sich in den 1960er Jahren abspielt. Die Titelheldin berichtet über ihr Leben u. zwei unglückl. Liebesgeschichten, die jeweils mit der Geburt eines Kindes endeten. Sie wird gezeigt als politisch aktive Frau, die trotz vieler Schwierigkeiten imstande ist, Berufstätigkeit u. Mutterschaft miteinander zu verbinden. Deutlich ist die Botschaft, dass man mit harter Arbeit Erfolg haben wird; Hilfe bekommt man von der Partei. Eine Umkehrung des Don-Juan-Motivs versucht der Roman Die sieben Affären der Doña Juanita (Halle/S. 1972. 131989). Erzählt wird die Geschichte von Anita N., Diplomingenieurin u. Mutter einer achtjährigen Tochter. Wegen vieler Affären soll ein Sicherheitsinspektor, der Ich-Erzähler, die Wahrheit über diese Frau herausfinden u. geht am Ende eine Beziehung mit ihr ein. Der Roman reflektiert die Themen Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung, Liebe u. Arbeit. Beim Publikum sehr erfolgreich, erschien er 1973 auch als Fernsehspiel. Die unheilige Sophia (Halle/S. 1974. 81987. Neuausg. Böklund 2007) rekonstruiert das Leben der Titelheldin aus dem Blickwinkel eines Geschichtslehrers. Sophia Gwinner wird kurz vor Kriegsende von einem sowjet. Flugzeug per Fallschirm in dem Dorf Sandberg abgesetzt. Die reizvolle u. eigenwillige Frau soll hinter der Front antifaschist. Arbeit leisten. Nach der Besetzung des Dorfes durch die Rote Armee wird Sophia Dolmetscherin, bald bekommt sie die Stelle der Bürgermeis-

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terin. Sie hat einen zwiespältigen Charakter, einerseits führt sie ein ausschweifendes Leben, andererseits handelt sie entschlossen gegen die Nazis. Die Handlung ist sehr abenteuerlich u. oftmals nicht psychologisch motiviert. Im Roman Leben für Leben (Halle/S. 1987) wird eine Familiengeschichte dargestellt, die Handlung spielt zwischen 1932 u. Weihnachten 1949. Die 1932 geborenen Zwillinge Michael u. Andreas können von dem arbeitslosen Schlosser Willy Simrock nicht ernährt werden. So beschließen die Eltern, eines der Kinder auszusetzen u. den Verwandten von einer Totgeburt zu erzählen. Die Erzählung Meines Vaters Straßenbahn (Halle/S. 1979. Neuausg. Böklund 2006) enthält Reflexionen über die Jugend u. die Entwicklung des Erzählers, der seinem verstorbenen Vater in einer Berliner Straßenbahn begegnet. Der Vater wollte ein Leben führen, das seiner Arbeit ähnlich wäre, d.h. ein geregeltes, ordentliches, wenn auch anspruchsloses. Die Erzählung schildert histor. Ereignisse wie den Bombenangriff auf Dresden, die Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft u. die Flucht vor dem Einmarsch der Sowjetarmee. Einer ganz anderen Thematik widmet sich Die Moral der Nixe. Eine Sommergeschichte (Halle/Lpz. 1978. 81989): Eines Tages entscheidet sich der Protagonist, ein Professor, Familienvater, Verfechter von strengen Regeln, alles hinter sich zu lassen u. aufs Land zu ziehen. Aus dem See angelt er eine hübsche junge Nixe, die zu seiner Gefährtin wird u. ihn dazu bringt, seine alten Moralvorstellungen zu überprüfen. Verwandelt kehrt er in sein altes Leben zurück. Auch nach der Wende befasste sich P. literarisch mit der Geschichte u. Kultur Kubas (Comandante Che. Bln. 1997. Neuausg. Böklund 2007. Cuba, mi amor. Bln. 2004), daneben jedoch auch mit der Rückschau auf die DDRVergangenheit (Frauengeschichten aus der DDR. Schkeuditz 2002) u. mit den veränderten gesellschaftl. Bedingungen (Mein Chef ist ein Wessi. Bln. 1992. Ossiland ist abgebrannt. Bln. 1994). Weitere Werke: Flucht. Bln./DDR 1956. – Das Mädchen Simra. Halle/S. 1961. – Das Gesicht einer Mutter. Halle/S. 1962. – Der Weg zum Rio Grande.

Panizza Bln./DDR 1973. – Absage an Viktoria. Halle/S. 1975 (E.). – Die verlorene Tochter. Halle/S. 1979. – Eiszeit. Eine unwirkl. Gesch. Halle/Lpz. 1983. 31985. – Mein lieber Onkel Hans. Halle/S. 1982 (R.). – Das Lächeln des Herrn O. Bln. 1994. – Der geheime Rotbannerorden. Böklund 2006. – Dresdner Novelle 1989. Bln. 2009. Literatur: Günter Ebert: Die Moral v. der Revolution. E. P.: Cristobal u. die Insel. In: NDL 12 (1964), H. 8, S. 169–171. – Christel Berger: E. P., Die sieben Affären der Dona Juanita. In: WB 19 (1973), H. 8, S. 164–167. – Martin Draeger, Anneliese Löffler u. E. P. (Interview). In: WB 25 (1979), H. 1, S. 41–67. – Harald Korall: Notizen zu einer Entwicklung: E. P. In: NDL 27 (1979), H. 9, S. 82–94. – Eberhard Scheibner: E. P.: Mein lieber Onkel Hans. Konturen eines Charakters in einem Mosaik v. Gesch.n. In: NDL 31 (1983), H. 5, S. 143–147. – Rüdiger Bernhardt: E. P.: Leben für Leben. Wie organisiert man einen Roman? In: NDL 36 (1988), H. 10, S. 157–160. – Elke Mehnert: E. P.: Leben für Leben. In: WB 35 (1989), S. 117–125. . Agnieszka Bozek

Panizza, (Leopold Hermann) Oskar, u. a. auch: Sven Heidenstamm, Jules SaintFroid, Sarcasticus, * 12.11.1853 Kissingen, † 28.9.1921 Bayreuth; Grabstätte: ebd., Städtischer Friedhof. – Erzähler, Dramatiker. P. wuchs im konfessionellen Konflikt seiner Eltern auf: Der Vater, ein überzeugter Katholik, der es vom Kellner zum Besitzer mehrerer Hotels gebracht hatte, verlangte die kath. Taufe u. Erziehung seiner Kinder; die Mutter, aus einer Hugenottenfamilie stammend u. selbst als Schriftstellerin protestantischer Erbauungs- u. Eifererschriften unter dem Pseud. »Siona« hervorgetreten, verfocht einen bigotten Pietismus, den sie nach dem frühen Tod des Vaters (1855) P. mit rücksichtsloser Zielstrebigkeit einimpfte. Für ihr Elternrecht kämpfte sie in jahrelangen Prozessen; P.s spätere Fixierung auf theolog. Streitfragen u. seine Lust an der Blasphemie wurden so vorgeprägt. Auf den Gymnasien in Schweinfurt u. München galt P. als schlechter Schüler, sodass sich die Hoffnungen der Mutter auf eine geistl. Laufbahn P.s bald zerschlugen. Erst nach jahrelangem Privatunterricht, einer Kaufmannslehre u. der Ableistung des Mili-

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tärdienstes machte P. mit 24 Jahren das Abitur. Das anschließende Medizinstudium absolvierte er hingegen erfolgreich. Er promovierte sich 1880 summa cum laude u. wurde 1881 Assistenzarzt zweiter Klasse; den anschließenden Paris-Aufenthalt nutzte er jedoch nicht beruflich, sondern erweiterte seine Kenntnisse der frz. Literatur u. des Theaters. 1882 trat er die Stelle eines vierten Assistenzarztes an der Oberbayerischen Kreis-Irrenanstalt in München an, kündigte jedoch 1884 – er hatte 6000 Mark Jahresrente von seiner Familie durchgefochten –, um ganz seinen literar. Neigungen zu leben. P. erkannte bald in der Schriftstellerei eine wirksame Therapie gegen seine psych. Labilität. So betrachtete er sein Dichten immer als ganzen Ausdruck seines Ichs u. nicht als bloße Kunstproduktion. 1886 trat er mit der Gedichtsammlung Düstre Lieder (Lpz.) hervor, 1887 erschienen als Frucht eines EnglandAufenthalts die Londoner Lieder (Lpz.). Seit etwa 1890 widmete sich P. verstärkt der Prosa u. der polemisch zugespitzten kleinen Form. In der Groteske, als deren Vorbilder er E. T. A. Hoffmann u. Poe ansah, fand er einen eigenen Ton (u. a. Dämmrungsstücke. Lpz. 1890. Visionen. Lpz. 1893). Innerhalb der Münchner Boheme erwuchsen enge Kontakte v. a. zu Michael Georg Conrad u. seiner programmat. Zeitschrift »Die Gesellschaft«; in dessen »Gesellschaft für modernes Leben« erlangte P. durch Lesungen u. Vorträge bald Berühmtheit als einer der kämpferischsten Verfechter der Moderne. P.s vorsätzl. Provokationen von Kirche u. Staat (Die unbefleckte Empfängniß der Päpste. Zürich 1893. Der heilige Staatsanwalt. Lpz. 1894) erreichten ihren Höhepunkt mit der »Himmels-Tragödie« Das Liebeskonzil (Zürich 1894. Film v. Werner Schroeter 1982). Das Stück karikiert in kabaretthaften Szenen die Entstehung der Syphilis als Strafe Gottes. Den Ruhm als blasphem. Aristophanes des Jüngsten Deutschland konnte P. nur kurz genießen; das Stück wurde verboten, P. erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr, die höchste Strafe, die je im wilhelmin. Deutschland für ein einzelnes Werk ausgesprochen wurde. Die öffentl. Diskussion nahm den Prozess als Modellfall für den

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Konflikt zwischen der Freiheit der Kunst u. staatl. Repression, unter dem Vorwand die guten Sitten u. den Geschmack zu schützen. P., der sich dem Verfahren nicht durch Flucht entzogen hatte, wurde durch die Gefängniszeit in Amberg innerlich gebrochen. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, die das Material für spätere Veröffentlichungen lieferten, war aber auch sein Wandel vom SalonAnarchisten zum politisch radikalen Schriftsteller abzulesen. So zog P. nach kurzem Zwischenaufenthalt in München 1896 nach Zürich, wo er einen eigenen Verlag zur Veröffentlichung seiner »Zürcher Diskußjonen« gründete. Diese »Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens« waren eine bissige u. hämische Auseinandersetzung mit Staat, Kirche u. Monarchie. Vor dem Hintergrund des Genfer Attentats auf Kaiserin Elisabeth von Österreich wurde P. 1898 unter einem Vorwand als unerwünschter Ausländer aus der Schweiz ausgewiesen. In Paris richtete er sein Selbstverständnis am Emigrantenschicksal Heines aus. Hier erschienen Parisjana. Deutsche Verse aus Paris (1899), P.s letzte Veröffentlichung. Die Sammlung enthielt eine so fundamentale Abrechnung mit dem dt. Obrigkeitsstaat u. persönl. Schmähungen Kaiser Wilhelms II. als »Feind der Menschheit«, dass selbst Conrad die ihm zugedachte Widmung des Bandes ablehnte, was den Bruch ihrer Arbeitsgemeinschaft bedeutete. Die Schrift wurde konfisziert u. P.s Vermögen beschlagnahmt, sodass er 1901 gezwungen war, nach Deutschland zurückzukehren u. sich der Justiz zu stellen. Nach kurzem Gefängnisaufenthalt wurde P. zur psychiatr. Beobachtung ausgerechnet in die Anstalt eingewiesen, an der er selbst als Irrenarzt tätig gewesen war. Die Diagnose lautete auf chron. Paranoia, was P. die Unzurechnungsfähigkeit u. damit vorerst Straffreiheit sicherte, jedoch auch die Grundlage für seine Entmündigung 1905 war. P. kehrte nach Paris zurück, wo er in extremer Zurückgezogenheit lebte u. die letzten Nummern seiner »Zürcher Diskußjonen« herausbrachte; danach stellte er seine Schriftstellerei ein. Seit 1903 verstärkten sich akust. Halluzinationen, die P. in seiner 1904 auf Betreiben der Ärzte verfassten Selbstbio-

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graphie diagnostizierte u. die er den persönl. Verfolgungen durch Wilhelm II. zuschrieb. Auch eine Flucht nach Lausanne u. die anschließende Rückkehr nach München – mit der (vergeblichen) Bitte um Aufnahme in die bekannte Kreis-Irrenanstalt – brachten keine Rettung; mehrere Selbstmordversuche scheiterten. Seit 1905 war P. in der Anstalt »Sankt Gilgenberg« (ab 1908 in »Herzoghöhe«) bei Bayreuth untergebracht. In den letzten Jahren erkannte die Forschung in P. den unbequemen Querdenker neu. Für seine Zeitgenossen war er, außer im engen Kreis der Münchner Moderne, nur als skandalverdächtiger Provokateur des Christentums ein Begriff; seine Schriften blieben wegen der geringen Auflagen u. der zumeist sofortigen Beschlagnahme so gut wie ungelesen. Weitere Werke: Legendäres u. Fabelhaftes. Lpz. 1889 (L.). – Aus dem Tgb. eines Hundes. Lpz. 1892. Neudr. Mchn. 1977 (E.en). – Nero. Trag. in fünf Aufzügen. Zürich 1898. – Psichopatia criminalis. Zürich 1898. Neudr. Mchn. 1978. – Der Korsettenfritz. Mchn. 1981 (E.en). – Die Menschenfabrik. Bln./DDR 1984 (E.en). Literatur: Bibliografie: Michael Bauer u. Rolf Düsterberg: O. P. Eine Bibliogr. Ffm. u. a. 1988. – Weitere Titel: Horst Stobbe (Hg.): In memoriam O. P. Mchn. 1926. – Peter David Gilson: Doghouse, Jailhouse, Madhouse. A Study of O. P.’s Life and Literature. Diss. New York 1971. – Ders.: O. P. Bern u. a. 1983. – M. Bauer: O. P. Mchn. 1984. – R. Düsterberg: ›Die gedruckte Freiheit‹. O. P. u. die ›Zürcher Diskußjonen‹. Bern u. a. 1988. – Christoph Neumann: Der christl. Mythos in O. P.s ›Liebeskonzil‹. Diss. Bln. 1991. – Jürgen Müller: Der Pazjent als Psychiater. O. P.s Weg vom Irrenarzt zum Insassen. Bonn 1999. – Renate Werner: Geschnürte Welt. Zu einer Fallgesch. v. O. P. In: Romantik u. Ästhetizismus. Hg. Bettina Gruber. Würzb. 1999, S. 213–232. – Primus-Heinz Kucher: ›Scheiterhaufen‹ oder ›Denkmal‹, ›Provokateur‹ oder ›häretischer Heiligenbildmaler‹? Radikale Realitätssicht in Texten v. O. P. In: Germanistik – Traditionspflege u. neue Herausforderungen. Hg. Erzsébet Forgács. Szeged 2003, S. 117–127. – Patrice Neau: Le ›Concile d’amour‹ d’O. P. entre blasphème et provocation. In: L’Allemagne insolente. Hg. Michel Vanoosthuyse. Aix-en-Provence 2007, S. 81–95. – Helga Mitterbauer: ›Ihr Herrn, mir scheint, der Streit geht schon zu weit.‹ Performative Konstruktion v. Blasphemie am Beispiel v.

Pannwitz O. P.s ›Liebeskonzil‹. In: Lit. als Skandal. Hg. Stefan Neuhaus. Gött. 2007, S. 247–256. – Thomas Wegmann: Erzählen vor dem Schaufenster. Zu einem literar. Topos in Thomas Manns ›Gladius Dei‹ u. anderer Prosa um 1900. In: IASL 33 (2008), S. 48–71. Rolf Selbmann / Red.

Pannwitz, Rudolf, * 27.5.1881 Crossen/ Oder, † 23.3.1969 Astano (zwischen Lugano u. Luino/Tessin); Grabstätte: ebd. – Schriftsteller u. Übersetzer; Natur-, Kultur- u. Religionsphilosoph; Zeichner, Baustil- u. Musikkundiger, Komponist. P., dessen Eltern als Lehrer tätig waren, besuchte das Gymnasium in Steglitz, stand der Wandervogel- u. Lebensreformbewegung nahe u. studierte in Marburg u. Berlin Germanistik, Philosophie u. Archäologie. Er hörte u. a. Wilamowitz, Diels, Eduard Meyer, Dilthey, Wölfflin u. Simmel. Die Lektüre Heraklits u. weiterer Vorsokratiker bezeichnete P. rückblickend als Schlüsselerlebnis. Entscheidenden Einfluss übten die Schriften Nietzsches auf ihn aus, als dessen Fortsetzer er sich zeitlebens betrachtete, u. die Dichtung Stefan Georges, worüber er in seiner Autobiografie Was ich Nietzsche und George danke (Amsterd. 1989. Florenz 1993) berichtet hat. Nach der Jahrhundertwende verkehrte er als Lehrer u. Erzieher im Hause Simmel u. Lepsius. 1904 veröffentlichten die »Blätter für die Kunst« sein 96 Verse umfassendes Totengedicht. Durch die Begegnung mit dem vom Naturalismus herkommenden Dichter Otto zur Linde, der P.’ Epos Prometheus (Marburg 1902) rezensiert hatte, distanzierte sich P. zunächst von Georges Dichtung, um sich in das Leben u. die soziale Welt hineinbilden zu lassen. Von 1904 bis 1906 gab P. mit zur Linde die Zeitschrift »Charon« heraus. Nach 1905 intensivierte P. seine pädagog. Bemühungen, die ihn mit Berthold Otto, Gustav Wyneken u. Paul Geheeb zusammenbrachten u. 1908 zu einer sechsmonatigen Mitarbeit an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf führten. Sie schlugen sich auch in Veröffentlichungen nieder wie Der Volksschullehrer und die Deutsche Sprache (Mchn. 1908), Der Volksschullehrer und die deutsche Kultur (Nürnb. 1909), Das

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Werk der deutschen Erzieher (Bln. 1909) u. Die Erziehung (Ffm. 1909). Ende 1906 heiratete P. Helene Otto, die älteste Tochter von Berthold Otto, lebte aber in den Folgejahren auch mit Meta Pohl u. Elisabeth Toussaint zusammen. Mit allen drei Frauen hatte er gemeinsame Kinder. Allenthalben wurde das menschlich Schwierige seines Charakters bemerkt. Obwohl auf mäzenat. Hilfe angewiesen (u. a. Stipendium durch Herzog Friedrich II. von Sachsen-Anhalt für die Jahre 1911–1916), stieß er Gönner vor den Kopf u. rechtfertigte sein schroffes Auftreten durch seine Prophetenrolle. Eine ärztlich diagnostizierte schwere Neurasthenie dürfte eine nicht unbeträchtl. Rolle gespielt haben. Bald nach 1910 lernte er Hans Carl kennen, der bereit war, für ihn einen eigenen Verlag zu gründen, in dem er bis in die 1950er Jahre die meisten seiner Werke veröffentlichen konnte. Als erstes erschien 1913 ein Band Dionysische Tragödien (Nürnb. 1913, u. a. Der Tod des Empedokles), die seit 1902 entstanden waren. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, den er eigener Aussage nach als falsch u. tragisch empfand u. den er – im März 1915 vom Landsturm befreit u. 1918 kriegsuntauglich geschrieben – nicht an der Front erlebte, las er Napoleons Mémorial de Sainte-Hélène. Ausschnitte daraus bilden das Präludium zur wirkungsmächtigen Schrift Die Krisis der europäischen Kultur (Nürnb. 1917). Der in der Krisis-Schrift vielleicht überhaupt erstmals gebrauchte Begriff »postmodern« ist an Nietzsches Bild vom letzten Menschen orientiert u. weist mit seiner Wendung gegen das Vorherrschen bloßer Oberflächenerregung ohne Tiefenbindung auf Arnold Gehlens späteren Posthistoire-Begriff voraus. Diesem Buch ist Die deutsche Lehre an die Seite zu stellen, die 1919 folgte (Nürnb.). Beide Werke wirkten stark auf Hofmannsthal, der nach Lektüre der Krisis-Schrift an P. schrieb: »Ihr Buch macht in mir Epoche.« Die damaligen Erschütterungen dokumentiert der Briefwechsel Hofmannsthal – Pannwitz (Ffm. 1993), der im Wesentlichen den Zeitraum von Ende Juli 1917 bis Nov. 1920 umfasst u. auch die Essays enthält, die P. Hofmannsthal widmete.

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In der Krisis-Schrift tritt P. für ein übernat. Europa ein, in dem die nat. Kulturen bewahrt bleiben. Für die Bewältigung seiner Krise sei Europa auf den asiat. Geist angewiesen, wie er in den Lehren Buddhas, Konfuzius’ u. Laotses niedergelegt ist. P.’ Staatslehre (Mchn.Feldafing 1926) entwirft den Staat im Zeichen göttlicher u. kosm. Mächte. In Die deutsche Idee Europa (Mchn.-Feldafing 1931) wird der Nationalsozialismus als Konglomerat aus älterem Nationalismus, Frankophobie, Antibolschewismus, Antisemitismus u. als Produkt wirtschaftl. Not erkannt u. verworfen. Nach der Machtergreifung Hitlers verweigerte P. der Preußischen Akademie für Dichtung die Loyalität, wurde ausgeschlossen u. verlor darüber einen von der Akademie gezahlten Ehrensold von jährlich 2000 Reichsmark. P. hatte auf Anraten Hofmannsthals gegen Ende des Ersten Weltkriegs bedeutenden tschech. Persönlichkeiten seine europ. Idee vorgetragen (vgl. auch seine Schrift Der Geist der Tschechen. Wien 1919), die den habsburgischen Völkerstaat u. die tschech. Kultursynthese als Vorbild betrachtete. Mit Unterstützung von Präsident Mazaryk konnte er, der sich als slavophil u. Freund der jugoslaw. Volksbewegung bezeichnete, 1921 auf die dalmatin. Insel Kolocˇep bei Dubrovnik übersiedeln. Er lebte dort bis 1948, zwischen 1925 u. 1928 auch auf der Insel Korcˇula u. an anderen Orten. Im Aug. 1927 heiratete er die 1901 geborene Philosophiestudentin u. spätere Ärztin Charlotte Dammann. Die dalmatin. Erfahrungen, insbes. die Landschaftseindrücke, aber auch eine schwierige Personenkonstellation schildert die umfangreiche Erzählung Das neue Leben (Mchn. 1927). Im Zeichen beginnender Globalisierung wurde von P. das Eigenrecht der Völker stärker betont u. in den Beiträgen zu einer Europäischen Kultur (Nürnb. 1954) »zur Erhaltung des unersetzlichen Elementaren und Primitiven, Historischen und Traditionellen« aufgerufen. Neben zahlreichen Aufsätzen, darunter über Hölderlins Erdkarte, Albert Verwey und Stefan George u. den Chassidismus stand sein Alterswerk im Zeichen dreier Bände: Der Aufbau der Natur (Stgt. 1961), Gilgamesch-Sokrates (Stgt. 1966) u. Das Werk des Menschen (Stgt.

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1968). Er verstand sie als zusammenhängenden Zyklus, dem er den Titel Die vorhandene und die geschaffene Welt gab. Die Gedankengänge haben sich bei größtem Überblick noch einmal vertieft, die Sprache ist diskursiver u. darüber sachgerecht geworden. P., der seit 1948 an verschiedenen Orten im Tessin lebte (u. a. nahe Montagnola), stand mit vielen Geistesgrößen des 20. Jh. in regem Austausch (u. a. mit Buber, Hesse, Husserl, Thomas Mann, W. F. Otto, Verwey, Wolfskehl). Ob seine unveröffentlicht im Marbacher Nachlass liegenden Epen Die Heiligen Gesänge der Hyperboräer (30.000 Hexameter) u. Der Dichter und die Blaue Blume (60.000 Verse, beigegeben die Reflexionen Werke und Tage u. Die Lage der deutschen Sprache) tatsächlich eine neue Gestaltungsstufe bedeuten, der dann auch eine Wirkung beschieden wäre, sei dahingestellt. Weitere Werke: Mythen (10 Bde., u. a.: Baldurs Tod, Das Kind, Psyche, Faustus u. Helena, Ladinersage, Der Gott). Nürnb. u. Mchn.-Feldafing 1919–21. – Flugblätter (8 Stücke, u. a. Botschaft des Geistes an das Volk der Arbeit, Aufruf zum hl. Kriege der Lebendigen, An das jüd. Volk, Einf. in Nietzsche). Nürnb. u. Mchn.-Feldafing 1919/20. – Kosmos Atheos. Mchn.-Feldafing 1926. – GoetheGesänge. Mchn.-Feldafing 1927. – Kulturpädagog. Einf. in mein Werk. In: Pädagogik der Gegenwart in Selbstdarstellung. Lpz. 1928. – Trilogie des Lebens. Mchn.-Feldafing 1929. – Logos Eidos Bios. Mchn.-Feldafing 1930. – A. Verwey: Ausgew. Gedichte übertragen v. P. Mchn.-Feldafing 1933. – Der Ursprung u. das Wesen der Geschlechter u. der geschlechtl. Fortpflanzung. Mchn.-Feldafing 1936. – George-Gesänge, unveröffentlicht 1937. – Nietzsche u. die Verwandlung des Menschen. Amsterd. 1943. – Das Weltalter u. die Politik. Zürich 1948. – Der Nihilismus u. die werdende Welt. Aufsätze u. Vorträge. Nürnb. 1951. – Beiträge zu einer europ. Kultur. Nürnb. 1954. – Landschaftgedichte. Salzb. 1954. – Hermann Hesses west-östl. Dichtung. Ffm. 1957. – Das Atomzeitalter. Wülfrath 1960. – Wasser wird sich ballen. Ges. Gedichte. Stgt. 1963. – Albert Verwey u. Stefan George. Heidelb. 1965. – Ostern. Gedichte v. 1967. Salzb. 1968. – Briefw. mit Wolfskehl in: Karl Wolfskehl. Briefw. aus Italien. Hbg. 1993 passim, u. ders.: Briefw. aus Neuseeland. Darmst. 1988, S. 52–70. – Briefw. mit Otokar Fischer u. Paul Eisner. Stgt. 2002. Literatur: Erwin Jaeckle: R. P. Hbg. 1937. – Udo Rukser: Über den Denker R. P. Mit einer

Panofsky Selbstbiogr. u. einer Bibliogr. Meisenheim 1970. – Alfred Guth: R. P. Paris 1973 (frz., mit komm. Bibliogr.). – E. Jaeckle: R. P. u. Albert Verwey im Briefw. Zürich 1976 (nur berichtend). – Werner Volke: Zum Gedenken an den 10. Todestag v. R. P. In: Hofmannsthal-Bl. 19/20 (1978), S. 1–20. – E. Jaeckle: R. P. Eine Einf. In: Hofmannsthal – P.Briefw. Ffm. 1993, S. 647–699. – Hans-Joachim Koch: Die Nietzsche-Rezeption durch R. P. In: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 441–467. – MarcOliver Schuster: R. P.’ kulturphilosoph. Verwendungen des Begriffs ›postmodern‹. In: Archiv für Begriffsgesch. 47 (2005), S. 191–213. – Gabriella Rovagnati (Hg.): ›der geist ist könig der elemente‹. Der Dichter u. Philosoph R. P. (Beiträge der Mailänder P.-Tagung 2004). Overath 2006. – Alessandro Gamba: Mondo disponibile e mondo prodotto. R. P. filosofo. Mailand 2007. Bruno Pieger

Panofsky, Erwin, * 30.3.1892 Hannover, † 14.3.1968 Princeton/New Jersey. – Kunsthistoriker. Der Arztsohn wuchs in Berlin auf. Nach dem Abitur am Joachimsthalschen Gymnasium studierte P. in Freiburg/Br., München u. Berlin. 1914 wurde er in Freiburg bei Wilhelm Vöge aufgrund einer Arbeit über Dürers Kunsttheorie (Bln. 1915) promoviert. Während des Ersten Weltkriegs vom Militärdienst infolge eines Unfalls befreit, zog er 1920 nach Hamburg, wo er sich im selben Jahr habilitierte. Von der hamburgischen Universität wurde er beauftragt, ein kunsthistor. Seminar aufzubauen, dessen Leitung er 1926 als o. Prof. offiziell übernahm. Während der folgenden Jahre konnte P. aufgrund seiner engen Freundschaft zu Aby Warburg, zu Ernst Cassirer u. zu den Mitarbeitern der kulturwiss. Bibliothek Warburg – insbes. Gertrud Bing, Fritz Saxl u. Edgar Wind – Lehre u. Forschung so entfalten, dass bereits 1927 von einer »besonderen Richtung« seines Seminars u. 1933 von einer »Hamburger Schule« der Kunstgeschichte gesprochen wurde. Im Frühjahr 1933 wurde er seines mosaischen Glaubens u. seines wiss. Engagements wegen beurlaubt u. im Herbst aus dem Hochschuldienst entlassen. P., der bereits enge Kontakte zum Institute of Fine Arts der New York University gepflegt hatte, fand dort seine erste Zuflucht. 1935 wurde er an

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das Institute for Advanced Studies in Princeton berufen, dessen Mitgl. er über das Jahr seiner Emeritierung (1963) hinaus blieb. Von 1963 bis zu seinem Tod versah P. die SamuelMorse-Professur am Institute of Fine Arts in New York. Nach Deutschland kehrte er lediglich zurück, um einige Auszeichnungen – darunter die der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung – in Empfang zu nehmen. Einen Ruf nach Hamburg hatte er 1946 abgelehnt. Die »besondere Richtung« kunstgeschichtl. Forschung sowohl P.s als auch seiner Schülerinnen u. Schüler wird heute als Ikonologie bezeichnet. Diese, von Warburg eröffnete Richtung entfaltete P. in den USA zus. mit Freunden u. Schülern. Sie unterscheidet sich von der herkömml. Erläuterung bildl. Motive – der Ikonografie – dadurch, dass sie den histor. Wandel von Bildinhalten nicht bloß auflistet. Sie erklärt vielmehr, aufgrund welcher technischer, formaler, stilist. u. schließlich geistesgeschichtl. Voraussetzungen Künstler bestimmte Bildvorgaben verändern. Dass sich diese dabei mit Auftraggebern, Beratern, Freunden, aber auch Gegnern auseinandersetzen, wird dabei ebenso in Betracht gezogen wie der geistige Habitus einer Epoche. Nicht nur in seinem programmat. Aufsatz Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (in: Logos, 1932, S. 102–119) u. in seinen 1939 in New York erschienenen Studies in Iconology (dt. Köln 1980), sondern auch in Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst (Lpz. 1930. Bln. 21997), Gothic Architecture and Scholasticism (Latrobe/New York 1951. Dt. Köln 1989) u. Early Netherlandish Painting (Cambridge/USA 1953) begriff P. die jeweils bekannten Texte als ein Korrektiv, mit dessen Hilfe die Kunsthistoriografie erst zu wiss. Einsichten gelangen kann. Diese Prämisse sowie die bildungsbürgerl. Orientierung P.s werden derzeit erneut der Kritik unterzogen. Weitere Werke: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Ztschr. für Ästhetik u. Allg. Kunstwiss. 10 (1915), S. 460–467. – Dürers ›Melencolia I‹. Eine quellen- u. typengeschichtl. Untersuchung. Lpz. 1923 (zus. mit Fritz Saxl). – Idea. Ein Beitr. zur Begriffsgesch. der älteren Kunst-

71 theorie. Lpz. 1924. Bln. 1960. 61989. – ›Imago Pietatis‹. Ein Beitr. zur Typengesch. des ›Schmerzensmannes‹ u. der ›Maria Mediatrix‹. In: FS Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage. Lpz. 1927, S. 261–308. – Die Perspektive als ›symbol. Form‹. In: Vorträge der Bibl. Warburg 1924/25. Lpz. 1927, S. 258–330. – Albrecht Dürer. 2 Bde., Princeton 1943. Dt. Mchn. 1977. Ffm. 1990. – Galileo as a Critic of the Arts. Den Haag 1954. – Meaning in the Visual Arts. Papers in and on Art History. Garden City/New York 1955. Dt. Köln 2002. – Pandora’s Box. The Changing Aspects of a Mythical Symbol. New York 1956. Dt. Ffm./New York 1992 (zus. mit Dora Panofsky). – Renaissance and Renascences in Western Art. 2 Bde., Stockholm 1960. Dt. Ffm. 1979. 1996. – Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art. London 1964. Dt. Ffm. 1989. 21994 (zus. mit Raymond Klibansky u. F. Saxl). – Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwiss. Bln. 1964. 1992. – Problems in Titian. New York 1969. Ausgaben: Siegfried Kracauer – E. P. Briefw. 1941–66. Hg., komm. u. mit einem Nachw. v. Volker Breidecker. Bln. 1996. – Korrespondenz 1910–68. Eine komm. Ausw. in fünf Bdn. Hg. Dieter Wuttke. Wiesb. 2001–08. – Et in Arcadia ego. Poussin u. die Tradition des Elegischen. Hg. V. Breidecker. Bln. 2002. – Was ist Barock? Hg., komm. u. mit einem Nachw. v. Michael Glasmeier u. Johannes Zahlten. Bln./Hbg. 2005. – Ikonographie u. Ikonologie. Köln 2006. Literatur: Bibliografie in: E. P.: Sinn u. Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975, S. 477–491. – Weitere Titel: Ernst H. Gombrich: E. P. In: Burlington Magazine 110 (1968), S. 356–360. – Renate Heidt: E. P. Bonn 1977. – Michael Podro: The Critical Historians of Art. London 1982. – Sandor Radnoti: Die wilde Rezeption. Eine krit. Würdigung E. P.s [...]. In: Acta Historiae Artium 29 (1983), S. 117–153. – E. P. Paris 1983 (Kongressber.e). – Michael Ann Holly: P. and the Foundations of Art History. Ithaca/New York 1984. – Horst Bredekamp: Götterdämmerung des Neuplatonismus. In: Krit. Ber.e 14,4 (1986), S. 39–48. – Beat Wyss: Ein Druckfehler. P. versus Newman – verpasste Chancen eines Dialogs. Köln 1993. – Joan Hart: E. P. and Karl Mannheim. A Dialogue on Interpretation. In: Critical Inquiry 19 (1993), H. 3, S. 534–66. – Bruno Reudenbach (Hg.): E. P. Beiträge des Symposiums Hbg. 1992. Bln. 1994. – Carl Landauer: E. P. and the Renascence of the Renaissance. In: Ren. Quarterly 47 (1994), H. 2, S. 255–81. – Irving Lavin: Meaning in the Visual Arts. Views from the Outside. A Centennial Commemoration of E. P., 1892–1968. Princeton 1995. – Claude Lévi-

Pansa Strauss u. E. P. Wort-, Bild- u. Ellipsenfragen. In: Krit. Ber.e 26 (1998), H. 2, S. 5–16. – Beate NoackHilgers (Hg.): Platons Phaidros u. der Kunsthistoriker E. P. St. Katharinen 1998. – Anna Mary Dempsey: E. P. and Walter Benjamin. German-Jewish Cultural Traditions and the Writing of History in Weimar Germany. Ann Arbor 2000. – Maddalena Parise: E. P. e il cinema. Storia e genesi di un saggio. Rom 2000. – Barbara Picht: Erzwungener Ausweg. Hermann Broch, E. P. u. Ernst Kantorowicz im Princetoner Exil. Darmst. 2008. Heinrich Dilly / Red.

Pansa, Martin, * 1580 Schleusingen/Thüringen, † 1626 Breslau. – Publizist medizinischer Sachbücher. P. erlangte an der Universität Leipzig die Würde eines Magister artium (1605) u. Lizentiaten der Medizin (1605), dann in Basel den medizin. Doktorgrad (1606, Förderer: Caspar Bauhin u. Felix Platter). Fortan ärztlich tätig, führte ihn sein Weg zunächst nach Annaberg (1607), Liegnitz (1615), Stroppen (1616), Trebnitz (1618) u. Trachenberg; seit 1620 lebte er als Stadtarzt in Breslau. Trotz des Widerstandes eines Großteils der akadem. Ärzteschaft seiner Zeit förderte P. den frühneuzeitl. Aufschwung der deutschsprachigen Publizistik medizinisch-therapeut. Inhalts für Nichtlateiner, namentlich handwerklich ausgebildete Heilpersonen u. laienmedizinisch tätige Angehörige gesellschaftlich-sozialer Mittel- u. Oberschichten. Er schuf in kompilatorischen, gelegentlich paracelsisches Lehrgut einmengenden Zugriffen über 20 (z.T. recht dickleibige) Drucke, darunter eine noch von Christoph Wilhelm Hufeland beachtete Makrobiotik (De Proroganda Vita Hominis. Tle. 1/2, Lpz. 1615; Tl. 3, Lpz. 1616; Tl. 4, Lpz. 1620. Güldenes Kleinod Menschlicher Gesundheit. Lpz. 1626) u. balneolog. Schriften (BadOrdung. Lpz. 1618. Beschreibung deß Wiesenbades [und] Carolsbades. Annaberg 1609. Beschreibung des Carolsbades. Annaberg 1609). Hinzu traten literar. Hilfen zur Bekämpfung der Pest (Consilium Antipestiferum. Tle. I-III, Lpz. 1614. 1619. Instruction von der Pestilentz. Breslau 1625), Traktate wider »Steinkrankheiten« (Consilium Antinephriticum. Lpz. 1615. 1624) u. »Zipperlein« (Consilium Antipodagricum. Tl. 1, Lpz. 1613.

Pantaleon

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1617; Tl. 2, Lpz. 1615. 1625; Tl. 3, Lpz. 1623, berger Stadtarztes M. P. für die Gesch. der Gewermit Patientenbriefen. 1663. Nothwendige Er- behygiene. In: Sudhoffs Archiv 37 (1953), innerungen von der Gicht. Breslau 1623. Appen- S. 357–360. – Christian Teuber: ›Medicus Silesiadix Consilij Antipodagrici Specialis. Lpz. 1625) u. cus‹. M. P. (1580–1626). Sozialmediziner u. Volksaufklärer Ostdtschld.s. Sein Leben, sein Werk als weitere Krankheitsmonografien (Bericht von Beitr. zur spätmittelalterlich-frühneuzeitl. ›Medider Colica. Lpz. 1618. Von den Gifftigen Fiebern. zin für den gemeinen Mann‹. Pattensen/Hann. Lpz. 1618. Von der Schwindsucht. Lpz. 1618. Von 1991. – Alexander Schütz u. Bernhard Uehleke: M. der Melancholeykranckheit. Lpz. 1616). Andere P.s (1580–1626) ›Klare Beschreibung deß WiesenSchriften unterrichteten über geläufige the- bades‹ u. ›Kurtze Beschreibung deß Carolsbades‹ rapeut. Praktiken (Consilium Evacuatorium. (1609). In: Würzburger medizinhistor. Mitt.en 21 Lpz. 1615. Consilium Phlebotomicum. Lpz. (2002), S. 204–261 (mit Textwiedergaben). – Gun1615. 1624 sowie u. d. T. Neu [...] Aderlaß- dolf Keil: Die Gesundheitskatechismen des BresBüchlein. Schneeberg 1700) u. bestimmte lauer Stadtarztes M. P. (1580–1626). In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1, hg. Arzneimittel (Von [...] weitberühmten Antidotis. v. Klaus Garber. Tüb. 2005, S. 287–319. – Ders.: M. Lpz. 1619). Schließlich widmete sich P. in P. In: Schles. Lebensbilder, Bd. 9 (2007), seinem Hauptwerk, der Pharmacotheca Publica S. 173–180. Joachim Telle Et Privata. das ist: Stadt/ Hoff- vnd HaußApothecke (Lpz. 1623. Tle. 2–4, Lpz. 1622), einer sozial Pantaleon, Heinrich, * 13.7.1522 Basel, orientierten u. dem Selbstmedikationsge† 3.3.1595 Basel; Grabstätte: ebd., danken verpflichteten Arzneikunst. AufMünsterkreuzgang. – Korrektor, Humamerksamkeit aber sicherte P. späterhin nist, Übersetzer, Historiker u. Mediziner. hauptsächlich sein Consilium Peripneumoniacum Das ist/ Ein [ ...] Rath in der [...] Berg- und Der aus einer Schneiderfamilie stammende P. Lungensucht (Lpz. 1614. Freiberg 1681), ein durchlief die Schule in Basel u. lernte das aus Schriften Hohenheims, Georg Agricolas Druckerhandwerk bei Bebel. Gefördert durch u. Johannes Mathesius’ geschöpftes Früh- den Magister der St.-Peter-Schule, Anton werk der Gewerbehygiene. Seine sprachlich- Wild, wurde er Korrektor bei Isengrimm in stilist. Leistungen blieben weitgehend unge- Basel u. Hauslehrer des Ratsherrn Rudolf Frey. Nach einem Jahr Lateinschule in Freiwürdigt. Weitere Werke: Epicedium. In: Leichenpredigt burg (1538) immatrikulierte er sich in Basel, für Maria Rothaupt. 1602. – Theses De [...] Pestis ging bald nach Augsburg, diente als AmaNatura. Basel 1606. – Theses [...] de causis longae nuensis dem Arzt Caesar Delphinus, studierte brevisque vitae. Basel 1606. – Defensionsschrifft u. a. in Ingolstadt, Wien u. Heidelberg (Okt. von der Gicht. o. O. 1617 (Antwort auf Gregorius 1540 Baccalaureus, April 1544 Magister) u. Martinius: Von [...] Pansae Gichtbuch, 1617). – kam zum Theologiestudium nach Basel zuExtract der [...] Artzneykunst. Lpz. 1618. 1625. – rück (Juni 1552 Lizentiat der Theologie). Extract der Speißkammer. Lpz. 1625. – Nützl. [...] Daneben unterrichtete er am Pädagogium u. Verfassung einer [...] Haus-Apotheken, erneute in der Artes-Fakultät. Nach einer gescheiterAusg. Lpz. 1671. – Köstl. [...] Hauß-Apothecke [...] ten Bewerbung um die renommierte Pfarre Worbey Ein Extract der Speise-Kammer [...] Wie St. Peter ging er nach Frankreich (Dr. med. dann auch die vornehmsten Kranckheiten [...] beschrieben. Ffm./Lpz. 1673. – Johann Göbel (Gobe- Valence Sept. 1553). Seitdem praktizierte er lius): Hydriatria Wisensis, aus dem Lateinischen in Basel, Baden/Kt. Aargau u. anderswo als übers. v. P., hg. v. Christian Friedrich Garmann. Arzt. Ab 1556 lehrte er an der Basler UniAnnaberg 1675. – Nachdr. v. fünf Krankheitsmo- versität zunächst Dialektik, ab 1557 Physik, nografien u. des Phlebotomietraktats in: Gabriele ab 1558 bis zu seinem Tod Medizin. Er amFalloppio: Geheimnüsse der Natur. Ffm. 1690, tierte wiederholt als Dekan. Von Kaiser MaS. 449–1072 (Anhang). Ffm. 1715. ximilian II. wurde er 1563 zum Pfalzgrafen Literatur: Adolf Thiele: M. P., Sachsens ältester ernannt u. wegen seines Heldenbuches 1566 ›Gewerbearzt‹. In: Öffentl. Gesundheitspflege 6 zum Dichter gekrönt. (1921), S. 348–356 (mit Abdr. der Bestallung P.s v. 1607). – Edwin Rosner: Die Bedeutung des Anna-

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P. trat durch zahlreiche humanist. Editionen u. durch dt. Übersetzungen bes. historischer Werke hervor. Unter den humanist. Editionen befinden sich v. a. Erasmus-Arbeiten, u. a. Neuausgaben der erasmischen Vätereditionen. Unter den eigenen Schriften P.s dominieren nach seinem (außer zahlreichen Gedichten) einzigen literar. Versuch – der Komödie Philargirus (Basel 1546) – historische u. medizin. Schriften. Seine histor. Schriften sind lat. u./oder dt. verfasste chronologische u. biogr. Beiträge: Neben seiner Chronographia ecclesiae christianae (Basel 1550 u. ö.) u. dem kalenderartigen Diarium historicum (Basel 1572) stehen als sein bekanntestes Werk die Prosopographiae heroum atque illustrium virorum totius Germaniae, pars prima (-tertia) (Basel 1565/66), welche er bald übersetzt als Teutscher Nation Heldenbuch herausgab (Basel 1567–69 u. ö.). Das Werk bietet in drei Teilen zahlreiche panegyr. Biografien mit Porträts zur dt. Geschichte, die allerdings nur einen geringen bio-bibliogr. Wert besitzen. Die medizin. Schriften nehmen in P.s Spätphase einen nicht ganz unbedeutenden, aber eher tagespolit. Platz ein. P. vermochte besser als sein weniger erfolgreicher zeitgenöss. Korrektor-Kollege Herold sein historiograf. Konzept der Reichsgeschichte publizistisch zu entwickeln. Außer in seinen Arbeiten zur dt. Geschichte drückt sich sein Patriotismus v. a. in der Propagierung des reformierten antiröm. Affekts wie in der des antitürk. Kreuzzugsgedankens aus. Seine wichtigen Beiträge zur Kenntnis Osteuropas dienen der Unterstützung der habsburgischen Reichspolitik gegen die Türken. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Basel): Martyrum historia [...]. 1563 (1. Tl. mit lat. Version v. John Foxe: Books of Martyrs). – Nutzl. u. trostl. underrichtung, wie sich mencklich in diser gefahrl. zeyt der pestelentz halten solle [...]. 1564. – Warhafftige [...] beschreibung der uralten Statt [...] Baden, sampt jhrer [...] Wildbedern [...]. 1578. – Consilium impotenti et venerem. 1592. – Contra morbem gallicum. 1592. – Übersetzer: Johannes Sleidanus: Warhafftige Beschreibüng geistl. u. weltl. sachen, under dem großmechtigen Keyser Carolo dem fünften verloffen [...]. 1556. – Hiero-

Pantaleon nymus Cardanus: Offenbarung der Natur. 1559. – Martin Kromer: Mitnächtischer Völckeren Historien [...]. 1562. – Siegmund v. Herberstein: Moscoviter wunderbare Historien [...]. 1563. – Paolo Giovio: Von der türck. Keyseren härkommen [...]. Und zu letst v. der Moskowiteren art u. eigenschafft [...]. 1564. – Nicole Gilles Frantzösische Chronica [...]. 1572. – Herausgeber: Erasmus v. Rotterdam: Catonis disticha moralia [...]. 1543 (mit eigenen Scholien). – Ders.: Novum Testamentum latino germanicum [...]. 1556. – Theodor Metochita: In Aristotelis universam naturalem philosophiam [...]. 1562. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Wilhelm v. Tyrus: Historia belli sacri verissima [...]. 1564. Ausgaben: Chronographia ecclesiae christianae [...]. Basel 1550. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Militaris ordinis Johannitarum [...] ad praesentem usque 1581 annum, historia nova [...]. Basel 1581. Internet-Ed.: CAMENA (Abt. Historica & Politica) Literatur: Bibliografien: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0255, 0488, 0489, 0491, 0510, 1151. – VD 16. – Weitere Titel: Johannes Bolte: H. P. In: ADB. – Rudolf Thommen: Gesch. der Univ. Basel 1532–1632. Basel 1889. – Rudolf Wackernagel: Gesch. der Stadt Basel. Bd. 3, Basel 1924. – Hans Buscher: H. P. u. sein ›Heldenbuch‹. Basel 1946. – Peter P. Rohrlach: H. P. In: Hofpfalzgrafen-Register. Bd. 1, Neustadt a. d. Aisch 1964, S. 113–129. – Die Amerbachkorrespondenz. Hg. Beat Rudolf Jenny. Bd. 6 ff., Basel 1967 ff. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – Ursula LiebertzGrün: Nationalkultur u. Gelehrtenstand um 1570. H. P.s ›Teutscher Nation Heldenbuch‹. In: Euph. 80 (1986), S. 115–148. – Hilda Lietzmann: Zu einem unbekannten Brief H. P.s aus dem Jahre 1576. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 94 (1994), S. 75–102. – Hans Jakob Meier: Das Bildnis in der Reproduktionsgraphik des 16. Jh. Ein Beitr. zu den Anfängen serieller Produktion. In: Ztschr. für Kunstgesch. 58 (1995), S. 449–477. – ›Treffenliche schöne Biecher‹. Hans Ungnads Büchergeschenk u. die Universitätsbibl. Basel im 16. Jh. Hg. Lorenz Heiligensetzer u. a. Basel 2005. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1472–1477. – Rosmarie Zeller: H. P. In: HLS (2008). – Handschriftl. Material im Basler Universitäts- u. Staatsarchiv. Heinz Holeczek / Red.

Pantenius

Pantenius, Theodor Hermann, auch: Hermann Theodor, * 22.10.1843 Mitau/ Kurland, † 16.11.1915 Leipzig. – Romancier u. Historiker.

74 estn. Lit. Bln./New York 2006, S. 734. – Klaus Schenk: Theodor Fontane u. T. H. P. im Wechselspiel ihrer Rezensionen. In: Triangulum 13 (2008), S. 251–261. Andreas Sturies / Marcel Krings

Der Sohn eines Predigers u. lett. Volksschriftstellers war nach dem Theologiestudi- Panzer, Friedrich (Wilhelm), * 4.9.1870 um Lehrer in Riga, später Redakteur der dort Asch/Böhmen, † 18.3.1956 Heidelberg. – erscheinenden »Baltischen Monatsschrift« u. Germanist. der »Rigaschen Zeitung«. 1876 übersiedelte Der Sohn eines Fabrikanten studierte in Jena, er nach Leipzig, wo er zunächst Redakteur, ab München, Wien u. Leipzig, wo er 1892 über 1889 Herausgeber der Wochenschrift »DaMeister Rûmzlants Leben und Dichten (Lpz. 1893) heim« war u. von 1886 bis 1906 »Velhagen promovierte. 1894 habilitierte sich P. in und Klasings Monatshefte« redigierte. München mit Lohengrinstudien (Halle 1894). P. war (anfangs unter dem Pseud. Theodor 1901 wurde er a. o. Prof. in Freiburg i. Br., Hermann) Heimat- u. Volksschriftsteller u. 1905 Ordinarius an der Akademie für Sozialdarf am Ende des 19. Jh. als meistgelesener u. Handelswissenschaften in Frankfurt/M.; Erzähler des Baltikums gelten. Seine große dort war er an der Gründung der neuen Beliebtheit führte dazu, dass balt. Themen Universität beteiligt, deren germanistisches auch im Reich bekannt wurden. Mit Theodor Ordinariat er 1914 übernahm. 1919 wurde er Fontane verband P. anfangs hohe Wertschätnach Heidelberg berufen (emeritiert 1936, zung, die eine Reihe gegenseitiger Rezensiolehrte jedoch bis 1946/47). P. wurde vielfach nen entstehen ließ. P.’ Erzählwerke (histor. geehrt u. war Mitgl. mehrerer dt. Akademien. Romane u. Dorfgeschichten) sind sämtlich im Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit Milieu der dt. Oberschicht im Baltikum anlag auf der Edition u. literaturgeschichtl. gesiedelt, das P. aus eigener Erfahrung verEinordnung mittelalterlicher Texte, deren traut war. Sein größter Erfolg war der histor. motivische Strukturen, Sprache u. Metrik er Roman Die von Kelles (2 Bde., Bielef. 1889), der analysierte (Studien zur germanischen Sagengeden Zusammenbruch des dt. Ritterordens u. schichte. Bd. 1: Beowulf. Mchn. 1910. Bd. 2: die Russen-Invasionen des 16. Jh. beschreibt. Sigfrid. Mchn. 1912. Das Nibelungenlied. EntDie Novellen P.’ (Im Gottesländchen. 2 Bde., stehung und Gestalt. Stgt. 1955). Besonderen Mitau 1881), aber auch bereits der frühe RoWert jedoch legte der Deutschböhme P., ein man Wilhelm Wolfschild (Mitau 1872) operiesehr aktiver »Bildungspolitiker« u. »Reren mit dem Gegensatz von gutem Volk u. formprofessor«, auf eine kulturhistorisch u. verkommenem Herrenwesen. Trotz aller interdisziplinär verstandene, zgl. aber natioSympathie für die dt.-balt. Kultur offenbaren nalpädagogisch gedachte, romant. Volkssie bereits eine Kritik an den mitunter ergeist-Theoremen anhängende Ausrichtung starrten Lebensumständen u. -ansichten der der Germanistik: »In unserer Sprache liegt, herrschenden Adelsklasse, die sich einer auf keiner Gewalt zugänglich, die echte deutsche Gleichberechtigung drängenden einheim. Heimat, lebt unsichtbar das größere deutsche Bevölkerung gegenübersah. Reich der Zukunft« (In: Volkstum und Sprache. Weitere Werke: Allein u. frei. Mitau 1898. – Ffm. 1926). Diesen Zielen entsprachen sein Das rote Gold. Hbg. 1885 (R.). – Der falsche Deaktives Wirken in Berufsorganisationen u. metrius. Lpz. 1904. – Aus meinen Jugendjahren. seine Verbindungen zur Schule. 1912 wurde Lpz. 1907. – Gesch. Rußlands [...]. Lpz. 1908. unter seiner Leitung der Deutsche Germa2 1917. nistenverband gegründet, der sich 1920 in Literatur: Hubertus Neuschäffer: Der Gesellschaft für Deutsche Bildung umbedeutschbalt. histor. Roman im 19. Jh. als histor. Quelle: Ein Beispiel v. T. H. P., ›Die von Kelles‹. In: nannte. Als ihr Erster Vorsitzender (1922 bis Journal of Baltic Studies 12 (1981), S. 128–142. – 1933) u. anschließend als Vorstandsmitgl. Gero v. Wilpert: Deutschbalt. Literaturgesch. proklamierte P. eine antihumanist. DeutschMchn. 2005. – Cornelius Hasselblatt: Gesch. der kunde als Zentrum von Lehre u. Forschung u.

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begrüßte die Zerstörung der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten als Erfüllung seiner kulturpolit. Ziele. Weitere Werke: Hilde-Gudrun, eine sagen- u. literaturgeschichtl. Untersuchung. Halle 1901. – Deutschkunde als Mittelpunkt dt. Erziehung. Ffm. 1922. – Dt. Heldensage u. dt. Art. Ffm. 1925. – Grundzüge der Deutschkunde. 2 Bde. Hg. W. Hofstaetter u. F. P. Bln./Lpz. 1925/29. – (Mithg./ Berater zus. mit Eduard Spranger) Aussaat. Dt. Lesebuch für höhere Schüler aller Formen. Bln. 1926. – Richard Wagner u. das Deutschtum. Ffm. 1933. – Der älteste Troubadour u. der erste Minnesänger. In: Dichtung u. Volkstum (= Euph.) 40 (1939), S. 133–145. Literatur: Bibliografie in: Studien zur dt. Philologie des MA. F. P. zum 80. Geburtstag. Heidelb. 1950, S. 161–172. – Weitere Titel: Dietrich Kralik: F. P. In: Almanach der Akademie der Wiss. Wien 106 (1957), S. 366–376. – Klaus Röther: Die Germanistenverbände u. ihre Tagungen. Ein Beitr. zur germanist. Organisations- u. Wissenschaftsgesch. Köln 1980. – Reiner Bessling: Schule der nat. Ethik. Johann Georg Sprengel. Die Deutschkundebewegung u. der dt. Germanistenverband. Ffm. 1997. – Christian Kiening: P. In: NDB. – Ingrid Kasten: F. P. In: Wissenschaftsgesch. der Germanistik in Porträts. Hg. Christoph Müller u. a. Bln./New York 2000, S. 152–161. – Karin Buselmeier: F. W. P. In: IGL. – Wilhelm Kühlmann: Germanistik u. Dt. Volkskunde. In: Die Univ. Heidelberg im NS. Hg. Wolfgang U. Eckart u. a. Heidelb. 2006, S. 351–369. Rainer Kolk / Wilhelm Kühlmann

Panzer, Georg Wolfgang Franz, * 16.3. 1729 Sulzbach/Oberpfalz, † 9.7.1805 Nürnberg. – Bibliograf. P. studierte 1747–1749 Theologie in Altdorf, ehe er ab 1751 als Pfarrer in der Gemeinde Etzelwang wirkte. 1760 wurde er Diakon, 1773 Hauptpastor an St. Sebald in Nürnberg. P. war Mitgl. verschiedener Sprachgesellschaften u. seit 1789 Vorsteher des Pegnesischen Blumenordens. Sein Hauptinteresse galt den frühen Druckausgaben der Bibel von der Erfindung des Buchdrucks bis zum Ende des 16. Jh. Selbst Sammler alter Bibelausgaben u. langjähriger Vorstand der Nürnberger Stadtbibliothek, veröffentlichte er mehrere bibliogr. Handbücher, die sowohl die protestant. als auch die kath. Bibelübersetzungen der frühen Neuzeit erfassen sollten (z.B.

Versuch einer kurzen Geschichte der römisch-katholischen deutschen Bibelübersetzung. Nürnb. 1781). Daneben widmete sich P. der Geschichte des Nürnberger u. Augsburger Buchdrucks (Älteste Buchdruckgeschichte Nürnbergs, oder Verzeichnis aller [...] bis 1500 in Nürnberg gedruckten Bücher. Nürnb. 1789) u. versuchte, in mehrbändigen Annalen die gesamte Druckliteratur Europas von der Mitte des 15. Jh. bis 1536 aufzulisten. Mehr Sammler als Schriftsteller, verfasste P. selbst nur wenige theolog. Schriften, übersetzte geograf. Werke aus dem Englischen u. Französischen u. veröffentlichte mehrere kleinere Werke über Hutten. Weitere Werke: Beitr. zur Gesch. der Kunst, oder Verz. der Bildnisse der Nürnberger Künstler. Nürnb. 1784. – Annalen der älteren dt. Litt. 2 Bde., Nürnb. 1788–1805. Neudr.e Nördlingen 1864. Hildesh. 1961. – Annales typographici ab artis inventae origine usque ad annum 1536. 11 Bde., Nürnb. 1793–1803. Neudr. Hildesh. 1963. Literatur: Pallmann: P. In: ADB. – Kosch. Isabel Grübel / Red.

Paoli, Betty, eigentl.: Barbara Elisabeth Glück, * 30.12.1814 Wien, † 5.7.1894 Baden bei Wien. – Lyrikerin, Novellistin, Essayistin, Kritikerin u. Übersetzerin. P. stammte aus einer bürgerl. Familie, ihr Vater war Militärarzt. Ihre Bildung erfolgte durch einen Hauslehrer u. autodidaktisch. Ab ihrem 18. Lebensjahr arbeitete P. als Erzieherin in Russland u. Galizien sowie als Gesellschafterin in Wien u. Dessau. Auf Reisen nach Italien u. Frankreich u. während längerer Aufenthalten in Deutschland bildete sie sich auf dem Gebiet der Malerei. Als erste Journalistin Österreichs verfasste sie regelmäßig Theater-, Ausstellungs- u. Buchkritiken, kunsthistor. Aufsätze u. zeitkrit. Essays für österr. u. dt. Zeitungen u. Zeitschriften. Von 1855 bis zu ihrem Tod lebte P. im Haus ihrer Freundin u. Gönnerin Ida Fleischl (von Fleischl-Marxow) u. deren Mann Carl in Wien. 1832 trat P. unter dem Namen Betty Glück mit Gedichten in der »Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode« an die Öffentlichkeit. Sie etablierte sich als Lyrikerin

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durch Veröffentlichungen in Zeitschriften, Almanachen u. Wohltätigkeitsalben. Ihr erster Gedichtband (Gedichte) erschien 1841 im Verlag Heckenast (Pesth) u. erfuhr 1845 eine zweite Auflage. Auch ihr zweiter Gedichtband mit dem Titel Nach dem Gewitter (Pesth 1843) u. der Band Neue Gedichte (Pesth 1850) wurden ein zweites Mal aufgelegt (Lpz. 1850 bzw. Pest 1856). P. zählte zu den populärsten Lyrikerinnen ihrer Zeit. Ihre dichterische Behandlung der Themen Todessehnsucht, Einsamkeit u. Liebesschmerz steht in der Tradition der Spätromantik u. weist Bezüge zur Lyrik von Nikolaus Lenau, George Byron u. Anastasius Grün auf. Vor allem die Betonung der weibl. Perspektive führte zur begeisterten Aufnahme ihrer Werke. 1845 erschien bei Wigand in Leipzig P.s Romancero, den sie Bettina von Arnim widmete. Im Mittelpunkt der epischen Gedichte dieser Sammlung stehen ital. Schauplätze u. Themen, so z.B. in der Ballade Maria Pellico, in der P. entsprechend ihrer liberal-demokrat. Haltung den Freiheitskämpfer u. Schriftsteller des Risorgimento Silvio Pellico würdigt. Nach den Ereignissen von 1848 änderte sich ihre polit. Position u. sie entwickelte einen gemäßigten Konservatismus. Weitere Gedichtbände erschienen 1855 (Lyrisches und Episches. Pesth) u. 1870 (Neueste Gedichte. Wien). Sie enthalten neben eigenen Gedichten Nachdichtungen aus dem Russischen u. Englischen. 1895 u. 1910 erschienen Nachlassausgaben der Gedichte, besorgt von Ferdinand von Saar gemeinsam mit Marie von Ebner-Eschenbach, einer langjährigen Freundin u. Tarockpartnerin P.s. Viele Gedichte P.s wurden in Anthologien u. Lesebücher aufgenommen, mehrere wurden vertont. Neben Lyrik verfasste P. auch Almanach- u. Feuilletonnovellen. Sie behandelte dabei zumeist gattungstyp. Themen u. blieb auch formal weitgehend im Rahmen der populären Unterhaltungsliteratur. Mitunter weisen P.s Novellen-Protagonistinnen jedoch Zeichen des Nonkonformismus auf u. heben sich vom Muster der massenhaften Novellenliteratur dadurch ab, dass sie nicht den zeitgenöss. Geschlechternormen entsprechen. Die 1844 veröffentlichte dreibändige Prosasammlung mit dem Titel Die Welt und mein

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Auge (Pesth) enthält neben dem Roman Die Ehre des Hauses Nachdrucke von acht Novellen, die zuerst in Almanachen u. Zeitschriften, u. a. im Almanach »Iris« (verlegt bei Heckenast) u. in Gustav Kühnes »Zeitung für die elegante Welt«, erschienen waren. Ab den 1850er Jahren wurden Kritiken u. Essays zu einer wichtigen Einnahmequelle für P. 1865 erschien in Wien bei Gerold ihr Buch Wien’s Gemälde-Gallerien in ihrer kunsthistorischen Bedeutung. In ihren literar. Kritiken wurde P. zu einer wichtigen Fürsprecherin Annette von Droste-Hülshoffs. Für die »Augsburger Allgemeine Zeitung« verfasste P. mehrere Aufsätze über Franz Grillparzer, die 1875 gesammelt u. d. T. Franz Grillparzer und seine Werke bei Cotta erschienen. In ihren Besprechungen bemühte sich P. um ästhetische u. moralische Kriterien, die sich trotz ihrer tendenziell konservativen Wertung auch auf Neues anwenden ließen. So setzte sie sich u. a. für die Werke Marie von EbnerEschenbachs, Conrad Ferdinand Mayers u. Ferdinand von Saars ein. Gegenstand ihrer Rezensionen war außerdem die russische, engl. u. frz. Literatur, die sie bearbeitete u. übersetzte (z.B. Louise Ackermann, Elizabeth Barrett-Browning). Bes. Bedeutung in P.s Leben u. in ihrer Arbeit hatte das Wiener Hofburgtheater, einerseits durch ihre Tätigkeit als Übersetzerin französischer Stücke in der Zeit von 1856 bis 1879 (anfangs unter dem Pseud. Branitz) u. als Kritikerin, andererseits durch lange u. intensive Freundschaften mit Schauspielerinnen u. Schauspielern. Diese Beziehungen finden ihren Niederschlag in Gelegenheitsgedichten anlässlich von Bühnenjubiläen u. Geburtstagen u. in der Schrift Julie Rettich. Ein Lebens- und Charakterbild (Wien 1866). In ihrer Schilderung der Persönlichkeit dieser Schauspielerin, die sich für den Wiener Frauenerwerbsverein einsetzte, hält P. auch ihre eigenen gesellschaftspolit. Überzeugungen u. ihre Position zur sog. Frauenfrage (der Versorgung unverheirateter Frauen) fest. P. kannte die Nachteile der wenigen für bürgerl. Frauen akzeptierten Berufe aus eigener Erfahrung u. plädierte für eine fundierte Ausbildung u. für geregelte Erwerbsmöglichkeiten für Frauen. Die Frauenfrage, soziale Mo-

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bilität u. die finanzielle Absicherung freien Schreibens sind neben Kunst u. Literatur die wichtigsten Themen in P.s Essays. Ab den 1860er Jahren forderte sie in Feuilletonbeiträgen die Errichtung von Mädchengymnasien u. den Hochschulzugang für Frauen. Einige dieser Texte wurden in der 2001 erschienenen Feuilleton-Auswahl Was hat der Geist denn wohl gemein mit dem Geschlecht? (Hg. Eva Geber. Wien 2001) wieder abgedruckt. In letzter Zeit ist ein neues Interesse an P.s Gedichten zu bemerken: Sie finden Aufnahme in Lyrikportalen u. Internet-Gedichtsammlungen. Der Nachlass befindet sich in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek. Ausgaben: Gedichte. Ausw. u. Nachl. Hg. Marie v. Ebner-Eschenbach. Stgt. 1895. – Ges. Aufsätze. Hg. Helene Bettelheim-Gabillon. Wien 1908. – Die schwarzgelbe Hyäne. Hg. Josef Halper. Graz/Wien 1957. Literatur: Helene Bettelheim-Gabillon: Zur Charakteristik B. P.s. In: Jb. der Grillparzergesellsch. 10 (1910), S. 191 ff. – Alice Annie Scott: B. P. An Austrian Poetess of the 19th Century. London 1926. – Karin S. Wozonig: Die Literatin B. P. Weibl. Mobilität im neunzehnten Jh. Wien 1999. – Dies.: B. P., die Lyrikerin als Journalistin. In: GQ 76 (2003), H. 1, S. 56 ff. – Gertrud M. Rösch: B. P. In: NDB. – K. S. Wozonig: B. P.s Reise nach Venedig im Jahr 1846. In: Jb. Forum Vormärz-Forsch. 14 (2009), S. 193 ff. Karin S. Wozonig

Pape, Ambrosius, * 1553 Magdeburg, † vor 1612 Magdeburg. – Dramatiker, Verfasser theologischer u. fachliterarischer Prosa.

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und grossen Riesen Goliaths (Magdeb. 1575), das Adulterium. Zwo christliche Spiele, vom laster des Ehebruchs (Magdeb. 1602. 1612), die in umfangreicherer u. kürzerer Version den Ehebruch Davids mit Bathseba gemäß 2 Sam 11 dramatisieren, sowie Jonas rhythmicus: Das ist: Der Prophet Jonas in artige Reimen comoedienweisz verfasset (Magdeb. 1605. 1612). Die Evangelienberichte Mt 1 u. 2 u. Lc 2 legt das als Nativitas Christi [...] Historia von der gnadenreichen Menschwerdung und frölichen Geburt unsers Herrn und Heilands Jesu Christi 1582 in Magdeburg erschienene Weihnachtsspiel zugrunde. Die Jedermann-Thematik des allegor. Dramas Christiani hominis sors et fortuna. [...] Vom Glück und Zustand eines rechten Christen (Magdeb. 1612) soll »Lehr, Trost vnd Warnung« vermitteln. Mit dem 1586/87 in Magdeburg gedruckten Bettel und Garteteuffel (bereits 1587/ 88 Aufnahme in die Sammlung Theatrum Diabolorum des Frankfurter Verlegers Feyerabend) vertritt P. die nach luth. Teufelsvorstellung von der protestant. Geistlichkeit neu geschaffene lehrhafte Prosagattung der Teufelbücher. Weiterhin verfasste er einen Tractatus [...] von gnediger Vergebung der Sünden (Magdeb. 1600), eine Abhandlung zu »Kindelbieren« (1588) u. einen Kurtzen und nötigen Bericht von Schwangern und geberenden Weibern (Magdeb. 1590). Ausgabe: Bettel u. Garteteuffel. Hg. Oliver F. Graves. Alabama 1981. Literatur: Bibliografien: Goedeke 2, bes. S. 367 f. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Hugo Holstein: Die Reformation im Spiegelbilde der dramat. Lit. des 16. Jh. Halle 1886. – H. Holstein: A. P. In: ADB. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – Ders.: Ein Forschungsber. [...]. Bern 1989. – Martin Wiehle: Börde-Persönlichkeiten. Oschersleben 2001, S. 125. Elke Ukena-Best / Red.

Nach dem Besuch der Stadtschule in Magdeburg u. dem Theologiestudium in Wittenberg (Immatrikulation am 27.5.1570) wirkte P. 1577–1608 als Pfarrer in Klein-Ammensleben im Erzstift Magdeburg. Anschließend kehrte er in seine Geburtsstadt zurück. P.s hauptsächlich in Magdeburg gedruckte Pape, Joseph, auch: J. Spielmann, * 4.4. Vers- u. Prosawerke sind von reformatori1831 Eslohe/Westfalen, † 16.5.1898 Büschem Gedankengut geprägt. Mit moralischren; Grabstätte: ebd., Städtischer Frieddidakt. Zielsetzung verarbeiten seine fünf hof. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. religiösen Dramen exempelhaft insbes. Stoffe u. Themen der Bibel. Alttestamentliche Stü- Der Bauernsohn P. besuchte bis 1849 das cke sind die auf 1 Sam 16 u. 17 basierende Gymnasium in Arnsberg u. studierte danach Monomachia Davidis et Goliae [...] Historia, von Jura in München, Tübingen u. Berlin. Nach dem Streit und Kampff des jungen Knaben Davids, dem Assessorexamen war er in verschiedenen

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Orten in Westfalen als Rechtsanwalt u. Notar Pape, Samuel Christian, * 22.11.1774 Letätig. 1885 wurde er in Büren zum Justizrat sum bei Bremen, † 5.4.1817 Nordleda bei ernannt. Cuxhaven. – Theologe, Lyriker, ÜbersetP. verfasste zahlreiche Epen (Der getreue zer. Eckart. Münster 1854. 31873), Novellen (Pfalzgrafentöchterlein. Paderb. 1867) u. Schau- Der Sohn eines Pfarrers u. theolog. Autors spiele zumeist über histor. Stoffe mit patrio- wuchs mit sieben Geschwistern in ländl. tist. Untertönen (Friedrich von Spee. Mainz Umgebung zunächst in Wulsbüttel, ab 1783 1857), die jedoch, formal u. inhaltlich sehr in Visselhövede im Westen der Lüneburger konventionell, wenig Aufmerksamkeit fan- Heide auf. 1785–1791 besuchte er die Bremer Domschule, nach weiterem Unterricht im den. Innerhalb der niederdt. Literatur zählt P. Elternhaus bezog er 1794 die Universität durch seinen 1878 in Paderborn veröffent- Göttingen. Seine vielseitigen Studien schloss lichten Novellenband Jut’m Siuerlanne – es er 1797 in Theologie mit einer Übersetzung blieb sein einziges plattdt. Werk – zu den des Buches Hiob im Versmaß des hebr. OriWegbereitern einer ernsthafte psycholog. ginals ab, zu der sein Professor Johann GottFragestellungen behandelnden Mundart- fried Eichhorn eine Einführung verfasste dichtung. P. schildert in seinen in westfäl. (Hiob übersetzt [...]. Gött.). HauslehrertätigMundart verfassten Texten individuelle keiten führten ihn nach Grasberg u. Stade, bis Ängste u. Notlagen seiner bäuerl. bzw. er 1801 eine Pfarrstelle in Nordleda erhielt. kleinbürgerl. Helden angesichts der Bedro- Zurückgezogen u. von familiärem Unglück u. hung traditioneller kollektiver Lebensformen literar. Misserfolg getroffen, starb er dort 42durch die nach 1871 rasch voranschreitende jährig, nachdem er seine literar. HinterlasIndustrialisierung. Er setzte sich damit be- senschaft verbrannt hatte. wusst von der mundartl. Schwankliteratur Seit etwa 1790 verfasste P., dessen Leben u. seiner Zeit ab, um dem niederdt. Dialekt als Werk in jüngerer Zeit von Arno Schmidt neu Literatursprache neue Themenfelder zu er- erschlossen u. vorgestellt wurden, empfindöffnen. Zuletzt wandte sich P. verstärkt po- same Gedichte in der Tradition des Göttinger pulären theolog. Darstellungen zu, die v. a. Hainbundes. In Göttingen traf er auf Karl der Johannes-Apokalypse (Unsere Gegenwart Reinhard, der nach Bürger den »Göttinger und Zukunft im Spiegel der Weissagung des JoMusenalmanach« herausgab u. P. ermunterhannes. Braunschw. 1891) galten. te, Beiträge zu liefern. 1796–1800 war P. mit Weitere Werke: Schneewittchen vom Gral. Gedichten im »Musenalmanach« vertreten, 3 Münster 1856. 1883 (Ep.). – Gedichte. Mainz 1857. in denen vorherrschend von unglückl. Liebe 3 1875. – Das Kaiser-Schauspiel. Büren 1886. u. verlorenem Glück die Rede ist (Der Jäger. Die Literatur: Johanna Arndt: Das kulturgeLautensängerinn. 1798) u. der Tod häufig eine schichtl. Epos bei Adolf Friedrich v. Schack, Heinrich Hart u. J. P. Diss. Königsb. 1928. – Lotte Fo- ambivalente Stellung zwischen Bedrohung u. erste: J. P., Et leßte Häxengerichte. Ein Beispiel ersehntem »süßen Schlummer« einnimmt plattdt. Novellenkunst. In: Nd. Jb. 109 (1986), (Des Gefangenen Ahndung. 1796. Der JugendS. 37–57. – P. Bürger: J. P. als Theologe. Eslohe traum. 1798). Trauer u. Sehnsucht in zwi1998. – Westf. Autorenlex. (mit Lit.). – Magdalena schenmenschlich-erot. wie auch in religiösPadberg u. Peter Bürger: Auf den Spuren J. P.s v. metaphys. Hinsicht prägen Sprecher u. FiArnsberg bis Eslohe. In: Oberes Sauerland. Hg. guren in P.s lyr. Werk. Eine scharfe Kritik Walter Gödden. Münster 2000, S. 53–85. – Peter Bürger: Strunzerdal. Die sauerländ. Mundartlite- August Wilhelm Schlegels in der »Jenaischen ratur des 19. Jh. u. ihre Klassiker Friedrich Wilhelm Allgemeinen Literaturzeitung« (Nr. 13, Jan. 1797) führte womöglich zum allmähl. VerGrimme u. J. P. Eslohe 2007. Jörg Schilling / Red. stummen P.s. Zus. mit den wenigen erhaltenen Prosaarbeiten gab Fouqué P.s Gedichte. Begleitet von einem biographischen Vorworte [...] (Tüb. 1821) heraus.

79 Ausgabe: Werke. Hg. Klaus Seehafer. Mchn. 1975. Literatur: Arno Schmidt: S. C. P. [...]. In: Ders.: Die Ritter vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Ffm. 1965, S. 166–207. – Klaus Seehafer: S. C. P: In: Dichter, Denker, Eigenbrötler – 30 niedersächs. Klassiker. Hg. Klaus Seehafer. Leer 2003, S. 118–128. Stefan Iglhaut / Red.

Papenfuß-Gorek, Bert, eigentl.: Bert Papenfuß, * 11.1.1956 Reuterstadt Stavenhagen. – Lyriker. Nach einer Lehre als Elektronikfacharbeiter 1972–1975 war P., Sohn eines Militärarztes, Beleuchter an Theatern in Schwerin u. seit 1976 (Ost-)Berlin, wo er seit 1980 als freier Schriftsteller lebt. P. zählt zu den herausragenden Lyrikern der subkulturellen DDR-Künstlerszene des Prenzlauer Bergs in den 1980er Jahren. Der Band Ation-Aganda. Gedichte 1983–1990 (mit CD, Basel/Weil am Rhein 2008) versammelt in einer Art Reprint etliche seiner inoffiziell zirkulierenden Gedichte, die teilweise während seiner Dienstzeit als Bausoldat entstanden sind. Mit seinen Texten versuchte P., die Macht der Herrschaftssprache über Denken u. Gefühle aufzubrechen. Sprachliche u. grammatikal. Regelverstöße bringen Unordnung u. Chaos in eingefahrene Denk- u. Sprechweisen. Zgl. suchte P. mit seiner »arkdichtung« u. den »ferdichtungen« der Sprache nach neuen Kommunikationsformen, in denen der Gegensatz von Vernunft, Zweifel u. Gefühl aufgehoben ist. Die Dekonstruktion der Sprache diente P. als Mittel, Verständigungsräume zu schaffen, was sich auch in der Vielzahl intertextueller Bezüge niederschlägt. Einmal gewonnene Aussagen werden in Zweifel gezogen u. die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten reflektiert. In dem Gedicht gedankenklein in kurzferdichtungen aus dem Band harm (Bln. 1985) heißt es noch beinahe emphatisch-programmatisch: »dichtung insbesondere arkdichtung / muss auch bei unsachgemaesser handhabung / dunkelfladen in lichtebenen heben« (S. 89). Das Gedicht einsamkeit ist nur ein wort stellte das Gelingen dieses Vorhabens jedoch in Frage u. bilanziert die Gedichte als »die wortkunst-

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werke, die meine notgedrungenheit kultivieren« (in: Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR. Ffm. 1988, S. 202). Parallel zu dieser skept. Beurteilung seines Versuchs, eine Sprache zu schaffen, die nicht zu vereinnahmen ist, erfuhr P. erste »offizielle« Anerkennung: Der Aufbau-Verlag veröffentlichte 1988 in der Reihe »Außer der Reihe« einen Gedichtband von P.: dreizehntanz (Bln./Weimar 1988 u. Ffm. 1989). Auch nach 1989 bleibt P. der subkulturellen Künstlerszene Berlins verbunden, arbeitet mit Malern, Rock- u. Punkmusikern zusammen u. wirkt an unterschiedlichen alternativen Künstlerzeitschriften mit, darunter als Mitherausgeber der an die Projekte des kommunist. Schriftstellers Franz Jung während der Weimarer Republik angelehnten Zeitschriften »SKLAVEN«, ab 1998 »SKLAVEN Aufstand«, seit 1999 »GEGNER«, u. als Redakteur der Zeitschrift »floppy myriapoda. Subkommando für die freie Assoziation«. Seit 1999 betreibt er den Künstler- u. Szenetreff »Tanzwirtschaft Kaffee Burger« in Berlin-Mitte mit. Doch auch der offizielle Literaturbetrieb nimmt von dem anarchistischantikapitalist. Dichter P. zunehmend Notiz. 1991 erhielt er den F.-C.-Weiskopf-Preis, 1996 ein Stipendium als Stadtschreiber von Rheinsberg, 1998 den renommierten österr. Erich-Fried-Preis. Laudator Volker Braun hob hervor, dass P. auch nach 1989 »noch immer mit der verstellten Stimme der angeblichen Sklavensprache, dem aufreizenden Ton der Verweigerung« spricht. 2008 wurde P. mit der Eugen-Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung ausgezeichnet. Weitere Werke: tiské. Gött. 1990. – In den Anthologien: Ausw. 78. Neue Lyrik. Neue Namen. Ausgew. v. Richard Pietraß u. a. Bln./DDR 1978, S. 103–105. – Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Lit. aus der DDR. Hg. Sascha Anderson u. Elke Erb. Köln 1985. – Die andere Sprache. Neue DDR-Lit. der 80er Jahre. Mchn. 1990 (= Text + Kritik, Sonderbd.). – In den Zeitschriften: ariadnefabrik. – schaden. – Litfass. – Werke nach 1989: vorwärts im zorn usw. Bln./Weimar 1990. – Soja. Mit Zeichnungen v. W. A. Scheffler. Bln. 1990. – LED SAUDAUS. notdichtung, karrendichtung. Bln. 1991. – NUNFT. FKK/IM endart, novemberklub. Gött. 1992. – Ges. Texte 1–5 (naif – till – harm –

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TrakTat zum Aber). Bln. 1993–96. – mors ex nihilo. Mit Zeichnungen v. Jörg Immendorff. Bln. 1994. – routine in die romantik des alltags. Mit Zeichnungen v. Helge Leiberg. Bln. 1995. – Berliner Zapfenstreich. Schnelle Eingreifgesänge. Konterkarierend bebildert v. A. R. Penck. Bln. 1996. – SBZ – Land u. Leute. Mit Zeichnungen v. Silka Teichert. Bln. 1998. – hetze. Gedichte 1994–98. Bln. 1998. – Tanzwirtschaft. Ein angewandter Fortsetzungsroman. www.kaffeeburger.de, Bln. 2001. – Haarbogensturz. Versuche über Staat u. Welt. Mit 12 Grafiken v. Thomas Platt. Bln. 2001. – Rumbalotte. 1998–2002. Gedichte. Basel u. a. 2005. – Rumbalotte Continua. 1.-6. Folge. Mit Zeichnungen v. S. Teichert. Ostheim/Rhön 2004–09, 2. u. 4. Folge: Bln. 2005, 2007. Literatur: Anneli Hartmann: Neue Lyrik in der DDR. Schreiben in der Tradition der Avantgarde. Neue Lyrik der DDR. In: DDR-Lyrik im Kontext. Hg. Christine Cosentino u. a. Amsterd. 1988, S. 1–37. – Achim Trebeß: ›im rechten augenblikk das linke tun‹. Spracherneuerung in Texten v. B. P. In: WB 36 (1990), H. 4, S. 617–636. – Helmut Heißenbüttel: Hinweis auf einen Dichter? Über B. P. In: Die andere Sprache. a. a. O., S. 125–130. – Gerrit-Jan Berendse: P. In: KLG. – Birgit Dahlke: Gespräch mit B. P. In: Dt. Bücher 22 (1992), H. 1, S. 1–17. – Martin Kane: Regeneration of the Language or ›Gequirlter Stumpfsinn (Wolf Biermann)‹. The Poetry of B. P. In: Prenzlauer Berg: Bohemia in East Berlin? Hg. Philip Brady u. a. Amsterd. u. a. 1995, S. 67–86. – Jörg Döring: Großstadtlyrik nach 89. Durs Grünbeins ›In Tunneln der U-Bahn‹ u. B. P.’ ›hunger, durst & sucht‹. In: Text der Stadt – Reden v. Berlin. Lit. u. Metropole seit 1989. Hg. Erhard Schütz u. ders. Bln. 1999, S. 95–118. – G.-J. Berendse: Der neue P. oder HipHop am Prenzlauer Berg. In: Lit. für Leser 22 (1999), H. 4, S. 199–208. – Ilona Schäkel: SPRACHGEWAND(T). Sprachkrit. Schreibweisen in der DDR-Lyrik v. B. P. u. Stefan Döring. Bremen 1999. – Ruth J. Owen: The Colonizing West. Post›Wende‹ Poetry by Heiner Müller, Steffen Mensching and B. Papenfuß. In: Legacies and Identity. East and West German Literary Responses to Unification. Hg. M. Kane. Oxford u. a. 2002, S. 113–126. – Andreas Koziol: P. In: LGL. Andrea Jäger

Pappenheim, Bertha, * 27.2.1859 Wien, † 28.5.1936 Neu-Isenburg. – Frauenrechtlerin, Pionierin der jüdischen Sozialarbeit, Gründerin des Jüdischen Frauenbundes; Verfasserin von Kindergeschichten, Erzählungen, Theaterstücken u. Reiseberichten; Übersetzerin aus dem Englischen u. Jiddischen. P. wuchs in Wien als Kind einer wohlhabenden, jüdisch-orthodoxen Familie von Getreidehändlern auf, die nach dem Auflassen des Pressburger Ghettos nach Wien gezogen war. Trotz der orthodoxen Glaubensausrichtung ihres Vaters Siegmund besuchte P. eine kath. Schule, in der v. a. ihre sprachl. Talente gefördert wurden. Dennoch blieb ihr eine weiterführende Ausbildung oder gar eine akadem. Karriere versagt. Nach eigenen Aussagen führte sie als junge Frau das typische Leben einer »höheren Tochter« u. »verstrickte« viele Stunden: eine geistige Untätigkeit, die sie später entschieden bekämpfte u. auch in ihren publizistischen u. belletrist. Texten wiederholt anprangern sollte (z.B. in ihrem didakt. Theaterstück Frauenrecht. Dresden 1899). Eben diese schriftstellerischen Arbeiten P.s, die Kindergeschichten, Erzählungen, Theaterstücke, Essays, Reiseberichte u. -briefe u. nicht zuletzt die Übertragung der ursprünglich jiddisch verfassten Memoiren der Glückel von Hameln (Wien 1910) u. der Frauenbibel Zeenah und Reenah (Ffm. 1930) umfassen, blieben lange eher unbeachtet. Noch bevor sie sich einen Namen als Pionierin jüdischer Sozialarbeit, Frauenrechtlerin u. Gründerin des Jüdischen Frauenbundes (1904) machte, erlangte sie mit ihrer 1880, während der Pflege ihres Vaters ausgebrochenen Erkrankung mehr Aufmerksamkeit, als ihr lieb gewesen sein konnte: Im selben Jahr, in dem sie ihre erste öffentl. Stelle als Leiterin eines Frankfurter Mädchenheimes antreten sollte, veröffentlichte ihr vormaliger Arzt, der bekannte Physiologe Dr. Josef Breuer, die Geschichte der zweijährigen Behandlung von P. alias Anna O. in den gemeinsam mit Sigmund Freud publizierten Studien über Hysterie (Lpz./ Wien 1895) u. begründete damit ihren Ruhm als Erfinderin der sog. »talking cure«, jenes

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kathart. Aberzählens hysterischer Symptome, das gerade in den mehrfach vorgenommenen Um- u. Neuschreibungen dieser Behandlung zur Gründungs- u. Urszene des psychoanalytisch induzierten Redeflusses avancierte. Prekär wurde diese psychoanalyt. Ursprungslegende nicht zuletzt dadurch, dass nach der 1953 durch Ernest Jones erfolgten Enthüllung der Identität von Anna O. u. den Forschungsergebnissen von Henri Ellenberger (New York 1970) u. Albrecht Hirschmüller (Bern 1978 u. Ffm. 1987) eine Vielzahl an Revisionen an ihr vorgenommen werden mussten, u. a. die, dass P., entgegen Breuers Darstellung, nach Beendigung seiner Behandlung keineswegs geheilt, sondern morphiumabhängig ins Kreuzlinger Sanatorium Bellevue überwiesen worden war. P. selbst äußerte sich öffentlich nie über ihr Gastspiel in der Geschichte der Psychoanalyse. Gerade ihre publizistischen u. belletrist. Texte bieten allerdings einen zeitgeschichtlich höchst interessanten Gegenkommentar zu dem – nicht zuletzt durch ihre eigene Krankengeschichte konstituierten – psychoanalyt. Diskurs: Wo Breuer u. Freud, wohl nicht nur aus Diskretions-, sondern auch aus wissenschaftspolit. Assimilationsgründen, den Verweis auf die jüd. Herkunft ihrer Patienten tilgen, kreisen P.s Erzählungen immer wieder um das Problem der jüd. Assimilation, das sich bei ihr als folgenschwerer, meist in der Katastrophe mündender Abfall von den Vätern darstellt (z.B. in den im Band Kämpfe, Ffm. 1916, abgedruckten Erzählungen Ein Schwächling, Der Erlöser oder Der Wunderrabbi). In ihnen verschränken sich Generationen- u. Assimilationsproblematiken u. entfalten eine keineswegs non-konformistische, allerdings höchst eigenwillige familiale Rollendynamik, die zum einen den (Ur-)Vatermord als Phantasma der Söhne bloßlegt u. zum anderen gerade der jüd. Frau die Aufgabe zuweist, das väterl. Gesetz zu wahren u. die Söhne zur religiösen u. moral. Umkehr anzuhalten (vgl. Koschorke 2002). Noch im Festhalten am Rollenbild der Frau als Hüterin der Familie u. Moral kämpfte P., selbst unverheiratet u. kinderlos, zeit ihres Lebens entschieden u. unbestechlich gegen patriarchale Entmündigungen von Frauen u. setzte

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sich für die Idee der »sozialen Mutterschaft« ein. Schon ihr anonym in den Kleinen Geschichten für Kinder (Karlsr. o. J., vermutlich 1888) publiziertes Märchen Im Storchenland bemüht den viktorian. Mythos vom Storch, um eine verlassene Braut im Land der Störche ihre Erfüllung darin finden zu lassen, sich elternloser Kinder anzunehmen. Als Reformpädagogin u. engagierte Leiterin (ab 1907) des Neu-Isenburger Heimes für unverheiratete junge Mütter u. Waisen widmete sich auch P. dieser Aufgabe. Ihr sozialpolit. Engagement beschränkte sich jedoch nicht darauf: Als Delegierte der Frankfurter Weiblichen Fürsorge (1902 unter ihrer Mithilfe gegründet) bzw. des Jüdischen Frauenbundes unternahm sie Reisen nach Galizien, Weißrussland, Kanada, in den Vorderen Orient u. die Vereinigten Staaten, um u. a. gegen den internat. Mädchenhandel vorzugehen u. sich für die pogromverfolgte jüd. Bevölkerung Galiziens einzusetzen, wovon gerade ihre Reiseberichte eindrücklich Zeugnis ablegen, z.B. Zur Lage der Bevölkerung in Galizien. ReiseEindrücke und Vorschläge zur Verbesserung der Verhältnisse (Ffm. 1904, gemeinsam mit Sara Rabinowitsch) u. Sisyphus-Arbeit (Bln. 1924 u. 1929). Die zunehmende Bedrohung durch den Nationalsozialismus nahm P. durchaus wahr u. brachte bereits 1934 einige ihrer Zöglinge in Großbritannien in Sicherheit. Noch im Jahr vor ihrem Tod reiste P., die dem Zionismus äußert skeptisch gegenüber stand, nach Amsterdam zu einem Treffen mit der Organisatorin der Jugendalijah, Henriette Szold. Allerdings wollte ihre 1933 im »Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt« veröffentlichte Geschichte Die Erbschaft vom getauften Professor Goldenherz, der im Zug der »Gleichschaltung« seinen Lehrstuhl verliert, v. a. eines gegen die von außen erfolgte, diskriminierende Identitätsverfügung setzen: die Aufforderung, die jüd. »Erbschaft« wieder anzutreten. Von einem amerikan. Großonkel ihm vermacht, findet Goldenherz sie letztlich in der Niederschrift der Zehn Gebote u. des Gebets Schma Israel. P. schließt: »Wie die Geschichte weiter geht, weiß man noch nicht, aber die Erbschaft war groß und gut und wertvoll, und es wäre zu wünschen,

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daß alle abgebauten und getauften Akademiker sie in Empfang genommen hätten.« Im April 1936 musste sich P., schon schwer krebskrank, vor der Gestapo wegen einer abfälligen Bemerkung eines ihrer Heimkinder über Hitler verantworten. Im Mai desselben Jahres starb sie. Am 10.11. wurde das Waisenhaus in Neu-Isenburg angezündet, zwei Jahre später endgültig geschlossen. Alle Kinder u. Erzieher wurden deportiert. Weitere Werke: Erzählungen: (unter dem Pseud. P. Berthold) In der Trödelbude. Lahr 1890. – Übertragungen ins Deutsche: Mary Wollenstonecraft: Eine Verteidigung der Rechte der Frau mit krit. Bemerkungen über polit. u. moral. Gegenstände. Dresden/Lpz. 1899. – Maasse Buch. Ffm. 1929. – Theaterstück: Trag. Momente. Ffm. 1916. – Postum: Gebete. Mit einem Nachw. v. Margerete Susman. Bln. 1936. Ausgaben: B. P. Leben u. Schr.en. Hg. Dora Edinger. Ffm. 1963. – B. P. (Anna O.). Literar. u. publizist. Texte. Hg. Lena Kugler u. Albrecht Koschorke. Wien 2002. – Elisa Klapheck u. Lara Dämig: B. P.: Gebete. Bln. 2003. Literatur: Lucy Freeman: The Story of Anna O. New York 1972. – Ellen Jensen: Streifzüge durch das Leben v. Anna O. / B. P. Ffm. 1984. – Fritz Schweighofer: Das Privattheater der Anna O. Mchn./Basel 1987. – Helga Heubach: Das unsichtbare Isenburg. Neu-Isenburg 1994. – Lisa Appignanesi u. John Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds. Mchn. 1996, S. 104–123. – Mikkel BorchJacobson: Anna O. Zum Gedächtnis. Mchn. 1997. – Edith Seifert: Anna O. u. einige Phantasmen zur Geburt der Psychoanalyse. In: Identität, Begehren, Differenz. Hg. v. der Frankfurter Frauenschule. Königstein/Ts. 2000, S. 9–26. – Melinda Given Guttman: The Enigma of Anna O. London 2001. – Albrecht Koschorke: Nachw. In: B. P. (Anna O.). Literar. u. publizist. Texte. Hg. Lena Kugler u. ders. Wien 2002, S. 297–319. – Marianne Brentzel: Sigmund Freuds Anna O. Lpz. 2004. – Britta Konz: B. P. Ffm. 2005. – Richard A. Skues: Sigmund Freud and the History of Anna O. Basingstoke 2006. Lena Kugler

Paquet, Alfons, * 26.1.1881 Wiesbaden, † 8.2.1944 Frankfurt/Main; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Essayist, Erzähler, Dramatiker. Der Sohn eines Handschuhmachers arbeitete nach seiner Lehrzeit zunächst als Redakteur

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im thüring. Mühlhausen u. in Düsseldorf, bevor er in Heidelberg, München u. Jena Philosophie, Geografie u. Volkswirtschaft studierte. Ab 1903 unternahm er große Reisen durch Europa, Asien u. Amerika, über die er regelmäßig Artikel u. Bücher veröffentlichte. 1916 ging er als Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« nach Stockholm u. ließ sich 1918 endgültig in Frankfurt/M. nieder. Die Preußische Akademie der Künste, in die er 1932 gewählt worden war, verließ P. aus Protest nach der Machtergreifung Hitlers. Obwohl er kurzzeitig das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« leitete, hatte er bis zu seinem Tod nur eingeschränkte Publikationsmöglichkeiten. P. debütierte mit dem Erzählungsband Schutzmann Mentrup und anderes (Köln 1901), dem die von Carl Busse 1902 in Berlin herausgegebenen Lieder und Gesänge folgten. Seine realistische, am Naturalismus geschulte Sprache prägt auch seine Reiseschilderungen, die ihn in kurzer Zeit populär machten. Obwohl der praktizierende Christ u. spätere Quäker jede Form von Gewalt ablehnte, warb er in Der Geist der russischen Revolution (Lpz. 1919) u. Im kommunistischen Rußland (Jena 1919) um Sympathien für die soziale Revolution nach dem Vorbild Lenins. In seinen Dramen Fahnen (Mchn. 1923) u. Sturmflut (Bln. 1926), beide von Erwin Piscator an der Berliner Volksbühne uraufgeführt, versuchte P. die literar. Umsetzung dieser Problematik. Im Gegensatz dazu verharren die Hauptfiguren seiner epischen Werke – mit Ausnahme des 1923 in München erschienenen Romans Die Prophezeiungen – eher in politischer u. gesellschaftl. Passivität. Während der NS-Zeit verfasste P. wieder vorwiegend Reiseberichte u. Feuilletons. Trotz engagierter Vorstöße nach 1945 ist sein Werk heute fast vergessen. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Hanns M. Elster. 3 Bde., Stgt. 1970. – Kamerad Fleming. Ein R. über die Ferrer-Unruhen. Hg. u. mit einem biogr.-histor. Ess. v. Oliver M. Piecha. Ffm. 2004. Literatur: Bibliografie: Bibliogr. A. P. Hg. vom P.-Archiv Frankfurt/M. Ffm. 1958. – Weitere Titel: Otto Doderer: A. P. In: Nassauische Lebensbilder. Bd. 3, Wiesb. 1948. – Vera Niebuhr: A. P. Rheinischer Dichter u. Verfechter des Internationalismus.

83 In: Archiv für Frankfurts Gesch. u. Kunst, H. 57 (1980), S. 219–242. – A. P. 1881–1944. Begleith. zur Ausstellung der Stadt- u. Universitätsbibl. Frankfurt/Main. Ffm. 1981. 1994. – Karl Korn: A. P. In: Ders.: Rheinische Profile. Pfullingen 1988, S. 112–154. – Sabine Brenner, Gertrude CeplKaufmann u. Martina Thöne: ›Ich liebe nichts so sehr wie die Städte...‹. A. P. als Schriftsteller, Europäer, Weltreisender. Ffm. 2001. – G. Cepl-Kaufmann: A. P.s ›rheinische‹ Utopie. In: ›Ganges Europas, heiliger Strom!‹ Der literar. Rhein (1900–33). Hg. S. Brenner. Düsseld. 2001, S. 99–118. – Oliver M. Piecha: Hermann Hesse u. A. P. In: ›Beiden Rheinufern angehörig‹. Hermann Hesse u. das Rheinland. Hg. S. Brenner. Düsseld. 2002, S. 85–92. – Ders. u. S. Brenner (Hg.): ›In der ganzen Welt zu Hause‹. Tagungsband A. P. Düsseld. 2003. – Lutz Brecht: Dtschld.s religiöser Weltruf. Friedrich Rittmeyers ›Deutschtum‹ u. eine Replik v. A. P. In: Rückkehr zur völk. Religion? Glaube u. Nation im NS u. heute. Hg. ders. u. a. Ffm. 2003, S. 132–155. – M. Thöne: Zwischen Utopie u. Wirklichkeit. Das dramat. Werk v. A. P. Ffm. u. a. 2005. – Gerd Koenen: Ein ›Indien im Nebel‹. A. P. u. das revolutionäre Russland. In: Osteuropa 55, H. 3 (2005), S. 80–101. Hans Sarkowicz / Red.

Paracelsus, (erst seit etwa 1529 auftauchender humanistischer Gelehrtenname, vielleicht Latinisierung des Wortes »Hohenheim«: »para« – »bei«; »celsus« – »hoch«; die Bedeutung von »über Celsus [den antiken Mediziner] hinaus«, wird gelegentlich gebraucht, ist aber unwahrscheinlich), eigentl.: Theophrastus Bombast von Hohenheim, auch: [H]eremita, später verwendete Vornamen ungewissen Ursprungs: Aureolus, Philippus, * 1493 (1494?) Maria Einsiedeln/Schweiz, † 24.9. 1541 Salzburg; Grabstätte: ebd., Sebastiansfriedhof. – Arzt, Naturforscher, Philosoph, Theologe. Vorbemerkungen: Zu Lebzeiten hat P. nur einen Bruchteil des unter seinem Namen laufenden Œuvres veröffentlicht (darunter politischastrolog. Prognostica, eine Schrift Vonn dem Bad Pfeffers in Oberschwytz u. die seiner Praxis entstammende Grosse Wundartzney. Augsb. 1536). Was von ihm urkundlich u. in eigenen, manchmal fragwürdigen Äußerungen überliefert ist, ermöglicht kaum mehr als eine

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schüttere Kenntnis seiner Vita. Erst mit der massiv etwa um 1560 einsetzenden, aus verstreuten Handschriftenbeständen (u. a. in Basel, Kolmar, im Umkreis des Pfalzgrafen Ottheinrich) geschöpften u. bis weit ins 17. Jh. reichenden Welle von P.-Editionen, die bald internat. Resonanz fanden, wurde aus dem philosophisch u. theologisch ambitionierten Wundarzt eine publizistisch heiß umstrittene Leitfigur der antiakadem. Medizin, Kosmologie, Anthropologie u. Alchemie. Der so schon früh mythisierte »neue Hippokrates«, ja »wiedererstandene Hermes« oder gar die Inkarnation des »Christus medicus« wurde von einer sich selbst als »Paracelsisten« bezeichnenden, oft erbittert bekämpften Anhängerschaft (»Schule«) verehrt, fungierte auch bald als Gründerheros einer zwischen den Konfessionen angesiedelten religiösen, oft sozialkrit. Theosophie (»Theophrastia Sancta«). Gegner sahen deshalb nicht ohne Grund in P. den Urheber eines »ketzerischen«, weit ausstrahlenden »platonischhermetischen Christentums« (so rückblickend der protestant. Theologe Daniel Ehregott Colberg, 1690). Das histor. Profil des P. wurde durch diese ebenso intensiven wie verästelten u. kontroversen Rezeptionsvorgänge bis ins fast Unkenntliche übermalt – dies auch im 20. Jh. in ideolog. Projektionen einer völkischen, esoterischen oder ganzheitl. Medizin. Wer von P. spricht, hat es nicht nur mit seinen tatsächl. Hinterlassenschaften zu tun, sondern in der Frühen Neuzeit zgl. mit dem »Paracelsismus« als epochaler geistiger Strömung (dazu die Einleitungen u. kommentierten Editionen in CP I u. II) u. demgemäß mit einem ausgedehnten literar. Kontinent, in der echte u. – mit Vorliebe – auch zweifelhafte u. gewiss großenteils unechte Schriften (etwa Aurora Philosophorum, Philosophia ad Athenienses, De Tinctura Physicorum) weitergetragen, bearbeitet u. gern mit heterodoxen Denkfiguren (etwa denen eines endzeitl. Chiliasmus u. einer Restauration aller Künste u. Wissenschaften) verschmolzen wurden. Kernzone des sich auf P. berufenden Reformprogramms war das Drängen auf die oftmals alchemo-hermetisch tingierte, jedenfalls meist gegen den Aristotelismus u. Galenismus gerichtete Revision der natur-

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kundl. Methoden, Weltbilder, Wissensbegriffe, Wissensziele, Nutzkalküle, Traditionsbindungen u. axiomat. Diskurse. Damit verband sich die krit. Auseinandersetzung mit dem akademisch exklusiven Wissenschaftsmonopol zugunsten einer die Buchgelehrsamkeit außer Kraft setzenden Erfahrungswissenschaft, die von den Gegnern – auch aus standespolit. Gründen – gern der Häresie u. schwarzmagischer Umtriebe beschuldigt wurde. Zur Vita: P.’ zugewanderter Vater Wilhelm, aus altem schwäb. Adel stammend, praktizierte bei Einsiedeln als Arzt u. zog wohl um 1500 nach Kärnten, wo er sich in Villach als Arzt niederließ. P. erhielt seine Bildung zumindest z.T. in kirchl. Einrichtungen (Kloster St. Paul/Lavant, Seckau) u. durch geistl. Würdenträger (nicht durch Trithemius). Während seines wohl v. a. in Italien absolvierten Universitätsstudiums hörte er vielleicht neben der Medizin auch Jurisprudenz u. Theologie. P.’ Weg führte nach dem Studienabschluss (nach eigenem Bekunden Dr. med. in Ferrara) über Tätigkeiten als Wanderu. Feldarzt zu einem Niederlassungsversuch in Salzburg (1524/25). In die Unruhen der Bauern u. Bergarbeiter war er wohl verwickelt, äußerte jedenfalls bleibende Sympathien für die Nöte des »gemeinen Mannes« u. betonte lebenslang das Gebot der Nächstenliebe als moralische Basis der Heilkunde. Zu dieser Zeit setzten auch P.’ laientheolog. Niederschriften ein. Nach dem fluchtartigen Aufbruch aus Salzburg fand er, über Straßburg anreisend (Bürgerrecht 1526), eine Stelle als Stadtarzt in Basel, verbunden mit einer medizin. Lektur an der Universität (1527/28). Trotz scheinbar erfolgreicher Heilungen (bekannt die des Verlegers Johannes Froben) scheiterte der Versuch, sich mit deutschsprachigen Vorlesungen in das akadem. Milieu zu integrieren. Auch als Antwort auf eine die Buchgelehrsamkeit der Mediziner, d.h. die hippokratische u. galenist. Wissenstradition, scharf angreifende Vorlesungsankündigung (in: Ed. Sudhoff, Bd. 4, S. 1–4) wurde P., der von manchen fortan als neuer »Luther der Medizin« gefeiert wurde, zur Zielscheibe erbitterter Schmähschriften. Sie verhöhnten v. a. die Unverständlichkeit seiner Termino-

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logie u. Theoriebildung, auch die Anrüchigkeit seines Publikums. Es ist kein Zufall, dass später von Basel aus, v. a. durch einen Brief des ehemaligen Famulus Johannes Oporinus, das Bild des P. als eines ungebildeten Autodidakten, religiös unzuverlässigen u. mit proletarischen Kumpeln zechenden Trinkers verbreitet wurde, dem allenfalls eine gewisse heilkundl. Elementarerfahrung mit eher zufälligen Erfolgen zugestanden wurde. P.’ weiterer Weg führte über das Elsass nach Nürnberg (1529), wo der Druck seiner Bücher bald auf Intervention des Leipziger Arzthumanisten Stromer von Auerbach verboten wurde. Über St. Gallen (1531), wo er vergebens die Gunst Vadians zu gewinnen hoffte, Graubünden u. die Alpentäler wandte sich P. dann nach Südtirol (Sterzing 1534) u. über Pfäffers in der Schweiz (1535, dort Schrift über das örtl. Heilbad) nach Süddeutschland (Ulm, Augsburg) u. Mähren, schließlich nach Kärnten (Villach 1538) u. Salzburg (1540). Der Arzt und Naturphilosoph: Gegen die Anfeindungen der »hippokratischen doctores« wehrte sich P. in zwei sehr persönlich gehaltenen späten Schriften, die einen guten Zugang zu seinem Denk- u. Sprachhabitus wie auch zu zentralen, auch andernorts wiederholt formulierten Theorieelementen gewähren: dem Labyrinthus medicorum errantium (Labyrinth der im Irrtum befangenen Ärzte, in: Ed. Sudhoff, Bd. 11, S. 161–221) u. den Septem Defensiones (»Verantwortung über etliche Verunglimpfungen seiner Missgönner«; ebd., S. 123–161), beide ca. 1537/38 entstanden. Wegweisend u. grundsätzlich wird hier das »Licht der Natur« als Forschungsprinzip der bisher aus P.’ Sicht weithin erfolglosen Heilkunde der »papierischen Bücher« entgegengesetzt. P. fordert von dem »philosophischen Medicus« die Kenntnis der gesamten natürlichen, Himmel u. Erde umfassenden Substanzen u. Funktionsvorgänge, die in einem Netz aufschlussreicher Analogien u. wechselseitiger Einflüsse zusammenhängen. In allen Elementen wirken, wie P. wiederholt einschärfte (u. a. in seinem Buch Paramirum. Hg. Adam v. Bodenstein. Mülhausen 1562; s. CP I, Nr. 11), mit Sal (Salz, Prinzip der Verfestigung oder Veraschung), Sulphur (Schwefel, Prinzip der Verbrennung) u. Mer-

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curius (quecksilberartige Substanz, Prinzip der Verflüssigung) die sog. Drei Ersten Prinzipien (»tria prima«). Als doxolog. Erkennungszeichen gehörten sie zum dogmat. u. umkämpften Denkhaushalt aller Paracelsisten. Die immer wieder diskutierte u. umschriebene, später (etwa bei Gerhard Dorn) auch mit bibl. Formulierungen (»das Salz der Erde«) spiritualisierten Eigenschaften u. das Zusammenwirken dieser Prinzipien bestimmen nach P. auch den gesunden oder kranken Zustand des Menschen, treten also an die Stelle der aus der Antike überkommenen, akademisch kodifizierten »humores«, d.h. der Doktrin vom Ausgleich der Körper-»Säfte«. Oft in Anspruch genommen wurde von P. auch das alte Bild einer Kongruenz des Makrokosmos der Welt u. des menschl. Mikrokosmos. Auch wenn P.’ Naturphilosophie stets an die Schöpfungstheologie der Bibel gebunden blieb, ja in manchen Zügen zum frühneuzeitl. Massiv der »Physica sacra«, also der naturkundl. Exegese der bibl. Genesis gehörte, ließ sich diese Analogielehre gleichwohl als Agens einer weltimmanenten u. universalen Erkundung aller humanen Befindlichkeiten u. Reaktionen in der Interdependenz, ja Durchlässigkeit innerer u. äußerer natürl. Wirkungsfaktoren verstehen. Das ebenfalls schon fest im älteren Schrifttum wurzelnde Theoriesystem der Alchemie, mit dem auch P. den natürl. Werdeprozessen der Natur zu folgen glaubte, zielte auf die Auflösung u. neue Zusammensetzung der natürl. Elemente in der Suche nach der allem zugrunde liegenden »ersten Materie«. Dem alchem. Bemühen um eine in die Goldherstellung mündende Metalltransmutation stand P. fern. In Kenntnis der überkommenen Fachliteratur (v. a. der Destillierbücher) wurde die Alchemie, bei der man »die Hände in die Kohlen zu stecken hatte«, von ihm schon früh (v. a. in den Büchern der Archidoxa; in: Ed. Sudhoff, Bd. 3, S. 91–200) nicht nur zum Verständnismodell des körperl. Stoffwechsels (der Magen als »Alchimist«) erklärt, sondern wegen der durch das Feuer bewirkten Scheidung des »Reinen« vom »Unreinen« zur bald ungemein verbreiteten wie umstrittenen Herstellung chemischer Medikamente (z.B. Antimonpräparate) empfohlen – bis hin zur

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Präparation einer feinstofflichen, quasi geistigen, in der »Quinta essentia« gipfelnden Universalmedizin; dies immer wieder in der Kombination eines Wissens um die Ordnung der Natur (scientia) mit einer emphatisch eingeforderten Erfahrungswissenschaft (experientia), des, so P., eigentl. »Buches der Artznei«. Zum Radius der oft provokativen Lehrelemente P.’ gehörten ferner neue Definitionen des Krankheitsbegriffs, eine sich von der Sezierung der »Kadaver« abkehrende Konzeption von »Anatomie«, auch vereinzelte Ausgriffe auf die später z.B. auf Oswald Crollius u. Jacob Böhme ausstrahlende sog. Signaturenlehre, d.h. die Überzeugung, dass sich innere Vorgänge u. Kräfte in der ganzen Natur an äußeren Merkmalen diagnostisch erkennen lassen. Dazu kamen die bis auf die Homöopathie des 19. Jh. Einfluss nehmende Vorstellung, dass Krankheiten nicht mit entgegengesetzten, sondern mit feindosierten ähnl. Wirkstoffen bekämpft werden müssen (»similia similibus«-Prinzip). Viel zitiert bis in die Gegenwart blieb P.’ Diktum, dass auch giftige Stoffe in bestimmter Dosierung heilend wirken können: »alein die dosis macht das ein ding kein gift ist« (Ed. Sudhoff, Bd. 11, S. 138). Seine Grundüberzeugungen hat P. in verschiedenen großen Traktaten u. oft nicht ohne erhebl. Widersprüche, argumentative Brüche u. manchmal abenteuerl. Kombinationen der diskursiven Traditionen vorgetragen. So entwickelt das wohl frühe (um 1520 geschriebene) bruchstückhafte Volumen medicinae Paramirum (Ed. Sudhoff, Bd. 1, S. 163–269), nicht zu verwechseln mit dem Opus Paramirum, die sog. fünf »Entia« der Medizin, die der Arzt kennen muss: ens astrale (Gestirne), ens veneni (Giftstoffe), ens naturale (dem Firmament vergleichbare u. von ihm beeinflusste konstitutionelle Funktionen der Organe), ens spirituale (Wirkungen geistiger Kräfte) u. – dem Einfluss des Arztes entzogen – ens deale (Straf- u. Heilswille Gottes). Im Buch Paragranum (Ed. Sudhoff, Bd. 8, S. 133–221), einer Art »Ausbildungsprogramm für Mediziner« (Goldammer), fasst P. seine Erkenntnisse zusammen u. spricht von den vier »Säulen« der Medizin: »Alchemie«, (Natur-)»Philosophie«, »Astro-

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nomie« (der Mensch in seiner Leiblichkeit als Abbild des astralen Kosmos) u. »Redlichkeit« (ärztl. Ethos). Dem Ausbau eines umfassenden Weltbildes in der Konnexion von Kosmologie, Anthropologie u. bibl. Glauben am nächsten kam P. in seiner Fragment gebliebenen Astronomia Magna oder Die gantze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt (ca. 1537/38, in: Ed. Sudhoff, Bd. 12, S. 1–144). Trotz aller Konfusität wird der in Begrifflichkeiten der kosmolog. Astrologie/Astronomie konzipierte Ansatz eines Nachdenkens über die komplexe Verfasstheit des aus Geist, Seele u. Leib bestehenden Menschen deutlich. Wegweisend wirken hier Vorstellungen einer betont christlich orientierten, stellenweise von einer markanten Anthropozentrik geprägten »Naturmagie«. Der Mensch als Magus, d.h. als Beherrscher der Natur, vereinigt alle Kräfte dieser Natur in sich. Denn Naturmagie besteht eben darin (S. 122), »das sie die himlische kraft mag in das medium bringen und in dem selbigen sein operation volbringen. das medium ist der [!] centrum; der centrum ist der mensch. also mag durch den menschen die himlische macht in den menschen gebracht werden, also das im selbigen menschen erfunden wird die selbige wirkung, so in der selbigen constellation möglich ist.« In manchmal übersteigertem Selbstbewusstsein hat sich P. als »Monarch« einer neuen Ära der Medizin verstanden u. wurde so auch von seinen späteren Adepten idealisiert. Auf der anderen Seite ließ sich die oft krause Diktion seines riesigen, im Umfang nur mit Luther zu vergleichenden, fast durchweg deutschsprachigen Gesamtwerkes selbst von Wohlgesonnenen nicht verleugnen; dies v. a. angesichts vieler rätselhafter Neologismen (Iliaster, Archeus, Tartarus usw.) u. der oft mangelhaften argumentativen Kohärenz u. fachsprachl. Präzision. Bei den Naturkundlern der Frühen Neuzeit wirkte P. keinesfalls stilbildend, obwohl sich P. gegen Vorwürfe mit dem Hinweis auf die notwendige Kongruenz von neuen Sachen u. neuen Wörtern verteidigte, von seinen Anhängern Unverständliches auch mit den Axiomen einer eingeforderten Arkandisziplin (kein Wissen für die Neider u. Unbe-

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fugten!) verteidigt oder P.’ Schriften als illuminative Offenbarungen eingeschätzt wurden. Neben der fieberhaften Suche nach den angeblich authent. P.-Handschriften bemühte man sich deshalb schon früh um die Anlage von P.-Lexika (»Onomastica«), die den (bis heute anhaltenden) Verständnisproblemen abhelfen sollten (Bodenstein 1575; CP I, Nr. 28; Toxites 1574, CP II, Nr. 55; Dorn 1584, CP II, Nr. 91). In seinen naturkundl. Werken verarbeitete P. mancherlei mittelalterliches Gedankengut, setzte sich auch, v. a. in Basel, mit dem Lehrpensum der antiken u. arab. Medizin auseinander, die sonst meist polemisch beleuchtet wurde. Eine Pionierrolle kommt ihm wohl in Einzelfragen zu, etwa in der Erforschung von Berufskrankheiten, v. a. denen der Bergleute, oder im Nachdenken über die Steinkrankheiten u. über psych. Reaktionen bzw. Störungen. Auch in manchen grundsätzl. Positionen wies sein Schaffen in die Moderne: in der Verknüpfung von Chemie u. Pharmazie, in der Aufhebung der Trennung zwischen handwerkl. Wundärzten (Chirurgen) u. akademisch ausgebildeten Medizinern, in der Entfaltung eines sozialen ärztl. Ethos, generell in der Integration des medizin. Wissens in den Gesamtbereich einer umfassenden naturkundl., auf systematisierte Erfahrung angewiesenen Ausbildung u. in einen weitgefassten Reflexionszusammenhang. Theologische und religiöse Schriften: P.’ laientheolog. Schriften zirkulierten in der Frühen Neuzeit, bis auf sehr wenige Ausnahmen, nur in Handschriften, ohne dass ihre Ursprünge, Absichten u. Wirkungen bisher genau erkennbar wären. Die Dimension dieses Werkkomplexes, der im Umfang fast den der naturkundl. Schriften erreicht, ist seit dem 20. Jh. erst durch die Editionen Kurt Goldammers u. Urs Leo Gantenbeins (2008, dort umfassende Einleitung) zu ermessen. Stellenweise treten hier ein antiklerikaler Affekt, ein Widerstand gegen die »Mauerkirche«, demgemäß Affinitäten zum sog. Linken Flügel der Reformation, hervor. Manche seiner Exponenten waren ihm wohl auch persönlich bekannt. Eine angebliche Begegnung mit Sebastian Franck ist nicht nachweisbar. An-

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sonsten zeichnen sich Positionen ab, die denen der Reformatoren u. Reformkatholiken weitgehend entsprechen: in der Individualisierung der Frömmigkeit oder in der Ablehnung von Zeremonien u. äußerem Brauchtum (Wallfahrten u. dergleichen). Mit Luther stimmte P. in der Frage des kirchl. Bildgebrauchs überein: keine »Anbetung« der Bilder, sehr wohl aber ihr Einsatz zur Belehrung des Volkes. P.’ einlässl. Auseinandersetzung mit der Bibel schlug sich in Kommentaren zum Psalter (um 1530) u. zum Matthäusevangelium nieder, letzterer angeblich mit einem (in seiner Echtheit sehr fraglichen) Begleitbrief an Luther, Bugenhagen u. Melanchthon konzipiert. In anderen Manuskripten meditierte P. über zeittyp. Probleme: in »Sermones«, fingierten Predigten oder Katechesen, u. in Abendmahlsschriften, die »sich mit der menschlichen Leiblichkeit und Geistigkeit, mit ihrer Fortexistenz u. mit der Verleiblichung des Göttlichen beschäftigen« (Goldammer). Bemerkenswert sind mehrere Marientraktate (Tribute an den Geburtsort?), in denen auch Probleme der Trinität u. Christologie ohne größere häret. Auffälligkeiten berührt werden. Davon unterscheidet sich schon in der antikisierenden Thematik (Seneca-Tradition) eine Abhandlung über das glückliche (oder selige) Leben (De vita beata), in der sich P. den für das individuelle Glück u. das Zusammenleben relevanten moral. Imperativen widmet. In seinen theolog. Schriften zeigte sich P. weder als Mystiker noch lieferte er hier Anhaltspunkte für die ihm später zugeschriebenen gnostischen oder hermetist. Spekulationen. Wie Erasmus oder Franck lehnte allerdings auch P. die beginnende Konfessionalisierung ab, u. wie Erasmus verstarb er im Glauben u. im Ritus der alten, wie auch immer reformbedürftigen Kirche. Rezeption und Wirkung: Zwar kannten Paracelsisten u. religiöse »Dissidenten« gewiss auch theolog. Paracelsica, doch beruht P.’ Wirkung bis heute auf der kaum übersehbaren, erst durch Karl Sudhoff bibliografisch erschlossenen Fülle von Editionen medizinisch-naturkundlicher Werke (zwischen 1549 u. 1658 ca. 175 Ausgaben), die nicht nur in Deutschland, sondern, teilweise in lat. Über-

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setzungen, auch in England, Frankreich u. anderen Ländern (zu Frankreich bahnbrechend nun die monumentale Darstellung von Kahn 2007) studiert, verehrt, verarbeitet, weitergeführt, bekämpft oder auch verboten wurden (etwa an der Pariser Sorbonne). Bahnbrechend wirkten neben der Publikationsoffensive der frühen oberrheinischen Paracelsisten (Bodenstein, Toxites, Dorn mit dem Verleger Pietro Perna in Basel) auch die Initiativen der niederschles. Sympathisanten (unter ihnen Bartholomaeus Scultetus, zu ihm CP II, Nr. 79, Johannes Scultetus Montanus, zu ihm CP II, S. 239–241, u. Balthasar Flöter, zu ihm CP II, Nr. 75–77). Von der hier verdichteten intellektuellen Atmosphäre einer theosoph. Naturspekulation waren Jacob Böhme, mithin auch die Böhmisten des 17. Jh. (wie Gottfried Arnold) u. noch manche Fraktionen auch des späteren Pietismus (Friedrich Christoph Oetinger) sichtbar mitbeeinflusst. Über naturtheologisch interessierte Zirkel erreichte Paracelsisches bzw. Paracelsistisches, oft durch ältere Autoren wie Georg von Welling (1652–1727) vermittelt, schließlich auch den jungen Goethe (grundlegend nach wie vor Zimmermann 1969/ 1979). Um 1600 ließen religiöse Dissidenten wie Valentin Weigel u. seine Anhänger Paracelsica in ihre Werke einfließen, u. ein führender Schwenckfelder, der frühere Tübinger Medizinprofessor Samuel Siderocrates (Eisenmenger; zu ihm in CP II, Nr. 85), bekämpfte mit unerhörter Aggressivität die gesamte akadem. Wissenschaft in der Herausgabe einer deutschsprachigen »Paracelsischen Enzyklopädie« (Cyclopaedia Paracelsica Christiana. o. O. 1585). Selbst der führende luth. Theologe Johann Arndt, um ihn ein Schülerkreis, begann als glühender Paracelsist u. verwob Paracelsica in seine bis ins 19. Jh. verbreiteten Vier Bücher vom wahren Christentum (1610 ff.). Als Indiz u. Basis solcher Rezeptionsinteressen u. Rezeptionsvorgänge stellte die heute noch maßgebliche, in überregionaler u. transkonfessioneller Kooperation u. mit Unterstützung auch namhafter Potentaten (darunter Ernst von Bayern) durch Johann Huser (1546–1601; zu ihm CP II, Nr. 61) herausge-

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gebene große P.-Gesamtausgabe (Basel 1589/ 91) einen kulturgeschichtl. Meilenstein dar. Zwar wurden paracels. Anstöße seit dem Ende des 16. Jh. zunehmend auch in der akadem. Medizin u. Naturkunde beachtet, doch ertönte von dieser Seite aus zunächst ein vielstimmiger Chor von scharfen publizist. Schmähungen, führend dabei neben Andreas Libavius der Heidelberger Medizinprofessor Thomas Erastus (1524–1583) mit seinen voluminösen Disputationes De Medicina Nova Philippi Paracelsi (Basel 1571/73). Diese viel benutzte Schrift bildete die Grundurkunde einer auf todeswürdige Machenschaften lautenden Anklage, in der P. des Neuheidentums, der arian. Ketzerei, der Teufelsbündnerei u. zahlreicher einzelner Verstöße gegen elementare Glaubensdogmen (etwa der göttl. creatio ex nihilo) bezichtigt wurde. Derartige orthodoxe Feldzüge verschränkten sich im 18. Jh. mit Anwürfen des philosoph. Rationalismus, abzulesen etwa an der hämischvernichtenden P.-Vita in der mehrbändigen Geschichte der menschlichen Narrheit (1785–89) aus der Feder des sonst als Sprachwissenschaftler bekannten Johann Christoph Adelung. Was hier ins Visier genommen wurde, war ein durch Crollius, vorher schon durch den Dänen Petrus Severinus (Idea medicinae philosophicae. Basel 1571 u. ö.) systematisiertes u. mit den hermetistisch-neuplaton. Strömungen der Renaissance harmonisiertes Gedankenprofil des Hohenheimers, das bei Autoren wie Heinrich Khunrath (1560–ca. 1605) mit allegorisch spiritualisierten Auslegungen einer religiösen Theoalchemie verschmolz. Ein in den Schwerpunkten verlagertes, jedoch recht intensives Stadium der P.-Rezeption lässt sich in der Romantik beobachten (Arnim, Brentano, Görres, Tieck, Fouqué, auch in der romant. Medizin). Dichter faszinierte P.’ Vorstellung von Erd-, Luft-, Wasseru. Feuergeistern (Elementargeister-Lehre), die, über andere Autoren vermittelt, auch schon auf Grimmelshausens SimplicissimusRoman (Mummelsee-Episode) eingewirkt hatte. Mit dem 19. Jh. begann auch die anschwellende Folge versepischer, romanhafter, auch dramat. Verarbeitungen der P.-Figur, während ein kontinuierl. Strang der kritischen, huldigenden oder historistisch-erin-

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nernden P.-Lyrik vom 16. Jh. bis in die Gegenwart verläuft (dazu die profunde Anthologie von Telle 2008). Zu den prominentesten Vertretern der massenhaften, bis heute nicht abreißenden belletrist. P.-Literatur zählte im 20. Jh. der von der NS-Propaganda hochgelobte u. durchaus begabte Romancier Erwin Guido Kolbenheyer. Seine monumentale P.Trilogie (1917–25) porträtierte im Hohenheimer den faustischen u. genuin »deutschen« Menschen. Dieses Werk u. die von den NS-Kultusbehörden festlich begangenen P.Jubiläen beeinflussten auch den unter der Regie von Georg Wilhelm Pabst gedrehten, die Symbiose von Volk u. Führer heroisierenden P.-Film des Jahres 1943. Auch als Namenspatron Hunderter von Straßen, Apotheken, Kliniken, Medikamenten u. »alternativen« Heilpräparaten, nicht zuletzt auch auf der P.-Medaille der dt. Ärzteschaft lebt der Hohenheimer weiter. Seine schattenhafte histor. Gestalt dahinter auszumachen bleibt mühsam. Ausgaben: Ges. Werke: Bücher u. Schr.en. Hg. Johannes Huser. 10 Bde., Basel 1589 ff. Neudr. hg. v. Kurt Goldammer. Bd. 1 ff., Hildesh./New York 1971 ff. – Sämtl. Werke. 1. Abt.: Medizin., naturwiss. u. philosoph. Schr.en. Hg. Karl Sudhoff. Bde. 1–14, Mchn./Bln. 1922–33. Dazu Registerbd., bearb. v. Martin Müller. Einsiedeln 1960. 2. Abt.: Theolog. u. religionsphilosoph. Schr.en. Hg. K. Goldammer u. a. Bde. 2–7 u. Suppl.-Bd. Wiesb. 1955–86. Dazu Vorabdr.: 2. Abt., Bd. 1. Hg. Wilhelm Matthießen. Mchn. 1923. – Neue ParacelsusEd. Bisher erschienen: Theolog. Werke 1: Vita Beata – Vom seligen Leben. Hg. Urs Leo Gantenbein. Bln./ New York 2008. – Werke. Bd I-V. Hg. Will-Erich Peuckert. Darmst. 1965 ff. [modernisierte ›Studienausgabe‹]. – Einzel- und Auswahlausgaben: P. Die Geheimnisse. Ein Lesebuch aus seinen Schr.en. Hg. W.-E. Peuckert. Lpz. 1941. – Die Kärntner Schr.en. Hg. ders. u. a. Klagenf. 1955. – Liber der nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus. Hg. Robert Blaser. Bern 1960. – Vom Licht der Natur u. des Geistes. Hg. K. Goldammer. Stgt. 1960 (Ausw.). – Sozialeth. u. sozialpolit. Sch.en. Hg. ders. Tüb. 1962. – Das Buch der Erkanntnus. Hg. ders. Bln. 1964. – Grosse Wundartzney. Augsb. 1536. Nachdr. hg. v. Udo Benzenhöfer. Hann. 1989. – Vom gesunden u. seligen Leben. Ausgew. Texte. Hg. Rolf Löther u. Siegfried Wollgast. Lpz. 1991. – Vom glückseligen Leben. Ausgew. Schr.en zu Religion, Ethik u. Philosophie.

89 Hg. Katharina Biegger. Salzb. 1993. – Astronomia Magna. Hg. Norbert Winkler. Ffm. 1999. Literatur: Bibliografien zur Forschung: Karl-Heinz Weimann: P.-Bibliogr. 1932–60. Bln. 1963. – Julian Paulus: P.-Bibliogr. 1961–96. Heidelb. 1997. – Übersichtsartikel: Walter Pagel: P. In: DSB. – Hartmut Rudolph: P. In: TRE. – Wolf-Dieter MüllerJahncke: P. In: Alchemie (1998), S. 267–270. – Udo Benzenhöfer: P. In: Enzyklopädie Medizingesch. (2005), S. 1101–1105. – Bruce T. Moran: P. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism (2006), S. 922–931 (hier ergänzend bes. zu den engl. Ausg.n u. Übers.en). – Jaumann Hdb. – Werkbibliografien: Karl Sudhoff: Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. 1: Bibliographia Paracelsica. Bln. 1894. Neudr. Graz 1958. Tl. 2: P.Hss. Bln. 1899. – Reihen: Nova Acta Paracelsica. Einsiedeln 1941 ff. N. F. Ebd. 1987 ff. – Salzburger Beiträge zur P.-Forsch. Salzb./Wien 1960 ff. – Zusammenfassende Darstellungen / Sammelwerke: Friedrich Gundolf: P. Bln. 1927. – K. Sudhoff: P. Lpz. 1936. – Will-Erich Peuckert: T. P. Stgt./Bln. 31944. Neudr. Hildesh. 1976. – K. Goldammer: P. Natur u. Offenbarung. Hann.-Kirchrode 1953. – W. Pagel: P. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance. Basel/New York 1958. 2., durchges. Ausg. Basel u. a. 1982. – Otto Zekert: P. Europäer im 16. Jh. Stgt. u. a. 1968. – Ernst Kaiser: P. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1969. – Johannes Hemleben: P. Revolutionär, Arzt u. Christ. Frauenfeld/Stgt. 21973. – Heinrich Schipperges: P. Der Mensch im Licht der Natur. Stgt. 1974. – P. Werk u. Wirkung. FS K. Goldammer. Hg. Sepp Domandl. Wien 1975. – K. Goldammer: P. in neuen Horizonten. Ges. Aufsätze. Wien 1986. – Ingrid Kästner: P. Lpz. 21989. – Lucien Braun: P. Mchn. 1993. – Pirmin Meier: P. Arzt u. Prophet. Zürich 1993. – P. in der Bibliotheca Philosophica Hermetica Amsterdam. Ausstellungskat. Red. Carlos Gilly. Amsterd. 1993. – U. Benzenhöfer (Hg.): P. Darmst. 1993. – P. Keines andern Knecht. Hg. Heinz Dopsch, K. Goldammer u. Peter F. Kramml. Salzb. 1993. – Neue Beiträge zur P.Forsch. Hg. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stgt. 1995. – P. Das Werk – die Rezeption. Hg. Volker Zimmermann. Stgt. 1995. – Franz Rueb: Mythos P. Bln./Mchn. 1995. – U. Benzenhöfer: P. Reinb. 1997. – Andrew Weeks: P. Speculative Theory and the Crisis of the Early Reformation. New York 1997. – Ole Peter Grell (Hg.): P. The Man, His Ideas and Their Transformation. Leiden u. a. 1998. – Paracelsian Moments. Science, Medicine & Astrology in Early Modern Europe. Hg. Gerhild Scholz Williams u. Charles D. Gunnoe, Jr. St. Louis 1999. – Charles Webster: P. Medicine, Magic and Mission at

Paracelsus the End of Time. New Haven/London 2008. – Zur Biografie: K. Goldammer: Neues zur Lebensgesch. u. Persönlichkeit des P. In: Theolog. Ztschr. 3 (1947), S. 191–221. – Ernest Wickersheimer: Paracelse à Strasbourg. In: Centaurus 1 (1950/51), S. 356–365. – K.-H. Weimann: Was wissen wir wirklich über die Wanderjahre des P.? In: Sudhoffs Archiv 44 (1960), S. 218–223. – Robert-Henri Blaser: P. in Basel. Muttenz 1979. – U. Benzenhöfer: Zum Brief des Johannes Oporinus über P. [...]. In: Sudhoffs Archiv 73 (1989), S. 55–63. – H. Dopsch: Testament, Tod u. Grabmal des P. In: P. u. Salzburg. Hg. ders. u. P. F. Kramml. Salzb. 1994, S. 251–277. – Philosophie / philosophische Naturkunde: Erwin Metzke: Erfahrung u. Natur in der Gedankenwelt des P. In: Bl. für dt. Philosophie 13 (1939), S. 74–100. – Ders.: Mensch, Gestirn u. Gesch. bei P. Ebd. 15 (1941), S. 241–306. – S. Domandl: Erziehung u. Menschenbild bei P. Wien 1970. – Ernst Wilhelm Kämmerer: Das LeibSeele-Geist-Problem bei P. u. einigen Autoren des 17. Jh. Wiesb. 1971. – W.-D. Müller Jahncke: Astrologisch-mag. Theorie u. Praxis der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stgt. 1985. – Erwin Jaeckle: P. u. der Exodus der Elementargeister. Lahnstein 1987. – K. Goldammer: Der göttl. Magier u. die Magierin Natur. Stgt. 1991. – Chemie, Medizin, Botanik, Pharmazie: Ernst Darmstaedter: Arznei u. Alchemie. Lpz. 1931. – Paul Walden: P. u. seine Bedeutung für die Chemie. In: Ztschr. für angewandte Chemie 53 (1940), S. 111 f.; 54 (1941), S. 421–427. – T. P. Sherlock: The Chemical Work of P. In: Ambix 3 (1948), S. 33–63. – Johann Hiller: Die Mineralogie des P. In: Philosophia naturalis. Archiv für Naturphilosophie 2 (1952–54), S. 293–331, 435–478. – W. Pagel: Das medizin. Weltbild des P. Wiesb. 1962. – H. Schipperges: Die Entienlehre des P. Aufbau u. Umriß seiner Theoret. Pathologie. Bln. u. a. 1988. – Joachim Telle: P. als Alchemiker. In: P. u. Salzburg. Hg. H. Dopsch u. P. F. Kramml. Salzb. 1994, S. 157–172. – Gundolf Keil: Mittelalterl. Konzepte in der Medizin des P. In Zimmermann, Hg., 1995 (s. o.), S. 175–193. – Rudolf Schmitz: Gesch. der Pharmazie. Bd. 2, hg. v. Christoph Friedrich u. W.-D. Müller-Jahncke. Eschborn 2005, S. 267–326. u. ö. – U. Benzenhöfer: Studien zum Frühwerk des P. im Bereich Medizin u. Naturkunde. Münster 2005. – Theologie / Religionsphilosophie: Wilhelm Matthießen: Die Form des religiösen Verhaltens bei T. v. Hohenheim, gen. P. Düsseld. 1917. – K. Goldammer: P.’sche Eschatologie. In: Nova Acta Paracelsica 5 (1948), S. 45–85; 6 (1952), S. 68–102. – Michael Bunners: Die Abendmahlsschr.en u. das medizinisch-naturphilosoph. Werk des P. Diss. masch. Bln. 1962. – Katharina Biegger: ›De Invocatione Beatae Mariae Virginis‹. P. u. die Marienverehrung. Stgt. 1990. – Ute Gause: P.

Paracelsus (1493–1531). Genese u. Entfaltung seiner frühen Theologie. Tüb. 1993. – Urs Leo Gantenbein: Gesundheit u. Krankheit in den Matthäus-Komm.en des P. In: Gesundheit u. Krankheit bei P. Wien 2001, S. 47–72. – Alois M. Haas: P. als Theologe. Die Salzburger Anfänge 1524/25. In: P. u. Salzburg. Hg. H. Dopsch u. P. F. Kramml. Salzb. 1994, S. 369–382. – Pia Holenstein Weidmann. Endzeitl. Vorstellungen bei P. In: Nova Acta Paracelsica N. F. 18 (2004), S. 33–60. – Soziologie / Politik: K. Goldammer: Friedensidee u. Toleranzgedanke bei P. u. den Spiritualisten. In: ARG 46 (1955), S. 20–46; 47 (1956), S. 180–211. – Ders.: P. u. die soziale Frage. In: Carinthia 146 (1956), H. 1, S. 155–178, auch in Benzenhöfer, Hg., 1993 (s. o.), S. 220–246. – Sprache: K.-H. Weimann: P. u. der dt. Wortschatz. In: FS Walther Mitzka. Bd. 2, Gießen 1963, S. 359–408. – J. Telle: Die Schreibart des P. im Urteil dt. Fachschriftsteller des 16. u. 17. Jh. In: Kreatur u. Kosmos. Hg. Rosemarie Dilg-Frank. Stgt./New York 1981, S. 78–100, auch in Benzenhöfer, Hg., 1993 (s. o.), S. 271–304. – Michael Kuhn: De nomine et vocabulo. Der Begriff der medizin. Fachsprache u. die Krankheitsnamen bei P. Heidelb. 1996. – Wilhelm Kühlmann: Rätsel der Wörter. Zur Diskussion v. Fachsprache u. Lexikographie im Umkreis der Paracelsisten des 16. Jh. In: Das Wort. FS Oskar Reichmann. Hg. Vilmos Agel u. a. Tüb. 2002, S. 245–262. – Nachwirkung: Editionen mit Einleitungen und Kommentaren: Frank Hieronymus: Theophrast u. Galen – Celsus u. Paracelsus. Medizin, Naturphilosophie u. Kirchenreform im Basler Buchdruck bis zum Dreissigjährigen Krieg. 4 Bde. u. Registerbd., Basel. 1993, 2005. – CP I u. II (III in Vorber.). – P. im Gedicht. Theophrastus v. Hohenheim in der Poesie des 16. bis 21. Jh. Hg. J. Telle. Hürtgenwald 2008. – Studien: Sten Lindroth: Paracelsism i Sverieg till 1600-talets mitt. Uppsala, Stockholm 1943. – K.-H. Weimann: P. in der Weltlit. In: GRM N. F. 11 (1961), S. 241–274, auch in Benzenhöfer, Hg. 1993 (s. o.), S. 322–373. – Gerhard Eis: Vor u. nach P. Stgt. 1965. – Allen George Debus: The English Paracelsians. London 1965. – Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. 2 Bde., Mchn. 1969/79. – A. G. Debus: The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and the Seventeenth Centuries. 2 Bde., New York 1977. – K. Goldammer: P. in der dt. Romantik. Wien 1980. – J. Telle: Kurfürst Ottheinrich, Hans Kilian u. P. Zum pfälz. Paracelsismus im 16. Jh. In: Von P. zu Goethe u. Wilhelm v. Humboldt. Wien 1981, S. 130–146. – Charles Webster: From P. to Newton. Cambridge 1982. – U. Benzenhöfer: ›Propaganda des Herzens‹. Zum P.-Film v. Georg W. Pabst. In: Medizin im Spielfilm des NS. Hg. ders. u. Wolfgang U. Eckart.

90 Tecklenburg 1990, S. 52–68. – A. G. Debus: The French Paracelsians. Cambridge 1991. – J. Telle (Hg.): Parerga Paracelsica. P. in Vergangenheit u. Gegenwart. Stgt. 1991. – Ders. (Hg.): Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast v. Hohenheims im dt. Kulurgebiet der frühen Neuzeit. Stgt. 1994. – Julian Paulus: Alchemie u. Paracelsismus um 1600. Siebzig Porträts. Ebd. S. 335–406. – H. Schipperges: P. heute. Ffm. 1994. – P. heute – im Licht der Natur. Hg. Robert Jütte. Heidelb. 1994. – W. Kühlmann: Humanist. Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmat. Lehrgedicht des Michael Toxites (1514–81). In: EG 50 (1995), S. 509–526, auch in: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 25–40. – P. u. seine internat. Rezeption in der Frühen Neuzeit. Hg. Heinz Schott u. Ilana Zinguer. Leiden u. a. 1998. – Nicolas H. Clulee: John Dee and the Paracelsians. In: Reading the Book of Nature. Hg. A. G. Debus u. Michael T. Walton. Kirksville 1998, S. 111–132. – W. Kühlmann: Der Hermetismus als literar. Formation. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–157. – Ders.: Der vermaledeite Prometheus. Die antiparacelsist. Lyrik des Andreas Libavius u. ihr histor. Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30–61, auch in: Kühlmann (2006), S. 376–405. – Ders.: Paracelsismus u. Hermetismus. Doxograph. u. soziale Positionen alternativer Wiss. im postreformator. Dtschld. In: Antike Weisheit u. kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Gött. 2001, S. 17–40. – Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts ›Vier Bücher vom Wahren Christentum‹ als Programm einer spiritualistischhermet. Theologie. 2 Bde., Bln./New York 2001. – Dietrich v. Engelhardt: P. im Urteil der Naturwiss.en u. Medizin des 18. u. 19. Jh. Halle/S. 2001. – Jole Shackelford: A Philosophical Path For Paracelsian Medicine. The Ideas, Intellectual Context and Influence of Petrus Severinus. Kopenhagen 2004. – W. Kühlmann: Das häret. Potential des Paracelsismus – gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tüb. 2006, S. 217–242. – Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk u. Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Gött. 2006, passim. – Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himml. u. natürl. Magie bei P., im Paracelsismus u. in der Barocklit. (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hbg. 2007. – Didier Kahn: Alchimie et Paracelsisme en France (1567–1625). Genf 2007. – Karl Möseneder: P. u. die Bilder. Über Glauben, Magie u. Astrologie im Reformationszeitalter. Tüb. 2009. Wilhelm Kühlmann

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Paradisus animae. – Tugendtraktat um 1300, mehrere dt. Übersetzungen seit 1300, im Spätmittelalter häufig Albertus Magnus zugeschrieben.

Paradisus anime intelligentis Literatur: Werner Fechter: Eine Thalbacher Hs. mit Eckhart-Predigten, Exzerpten aus Seuse, dem ps.-albertischen P. a. u. anderem aus Pavia. In: ZfdA 103 (1974), S. 311–333. – Ders.: Zur handschriftl. Überlieferung des Ps.-Albertischen P. a. u. seiner Übers.en ins Mhd. In: ZfdA 105 (1976), S. 66–87. – Söller 1987 (s. o). – Ders.: P. a. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Verz. der dt. Überlieferung im Handschriftencensus (http:// admin.marburger-repertorien.de/admin/werke/ 286). Jürgen Wolf

Der ursprünglich lat. P. a. gehört mit rd. 170 lat. u. 70 dt. Handschriften zu den erfolgreichsten geistl. Traktaten. Inhalte sind ein mehrschichtiges Tugendsystem u. a. mit den göttl. Tugenden Glaube, Liebe u. Hoffnung, den Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung u. Standhaftigkeit sowie den evang. Räten Gehorsam, Armut u. Keuschheit. Insg. werden 42 Tugenden behandelt. Paradisus anime intelligentis. – PreHauptquellen sind die Bibel, die Kirchenväter digtsammlung des 14. Jh. u. – weniger – die mittelalterl. Kirchenlehrer, Die in zwei thüring. Handschriften bezeugte von denen der Autor Bernhard von Clairvaux volkssprachl. Predigtsammlung gehört zu u. Anselm von Canterbury nutzt. Als Verfas- den wichtigsten Predigtwerken des dt. MA. ser wird in zahlreichen späteren lat. wie dt. Die insg. 64 Sermones, von denen 31 oder Handschriften Albertus Magnus genannt. Die sogar 32 (Ruh) Meister Eckhart zugeschrieÜberlieferungsspezifika machen aber eine ben werden, sind thematisch eng miteinanVerfasserschaft des Albertus unwahrschein- der verbunden. Der Titel ein paradis der forlich. Dem Charakter einer Tugendsumme nuftigin sele (am Schluss: P. a. i.) ist programgemäß, lassen viele Abschriften des P. a. eine matisch. Es geht um die speziell dominikan. Nutzung als »Tugendspiegel« oder als Vorstellung, dass nur im »intellectus« (»verNachschlagewerk vermuten. stantnüsse« bzw. »vernünftikeit«) u. nicht – Der beliebte P. a. wurde mindestens vier- was die Franziskaner vertraten – in der vom mal separat ins Deutsche übertragen. Eine Willen bestimmten »caritas« (»minne«) es erste dt. Übersetzung entstand bereits kurz dem Menschen möglich ist, schon hier am nach 1300 im mitteldt. Sprachraum (»sün- Göttlichen teilzunehmen. de«-Version). Seine große Zeit erlebte der P. a. Die Herkunft der zweifelsfrei im Dominiim 14. u. 15. Jh., wo neben unzähligen lat. u. kanerorden entstandenen Sammlung ist dt. Abschriften drei weitere dt. Übersetzun- nicht eindeutig zu klären. Am wahrscheingen im ostmitteldt.-bair. (»vntugent«-Versi- lichsten ist eine Entstehung im Predigeron) u. im süddt. Raum (»übel«- u. »laster«- kloster zu Erfurt in der Zeit, als Eckhart Version) sowie ferner zahlreiche Auszüge an- Provinzial der Dominikanerprovinz Saxonia gefertigt wurden. Mindestens acht lat. In- war (1303–1311), zumal fast alle im P. a. i. kunabeldrucke (u. a. GW 703–707, 2203) u. vereinten Prediger nachweislich in Erfurt täein 1518 bei Silvanus Otmar in Augsburg er- tig oder dort sehr gut bekannt waren. In den schienener dt. Druck bezeugen die Populari- 40er Jahren des 14. Jh. nahm ein Redaktor tät der Sammlung bis ins Reformationszeit- Kürzungen vor. Die Sammlung ist uns nur in alter. dieser redigierten Form überliefert, EinzelAusgaben: Latein: Johann Michael Sailer: Beati predigten jedoch in ihrem urspr. Umfang. Alberti Magni P. a. sive libellus de virtutibus. Re- Nach Ruh wäre der P. a. i. vor allem eine gensb. 1864, S. 1–114. – Auguste et Aemilius BorDokumentation von Predigten Erfurter Legnet: De veris virtutibus sive P. a., B. Alberti Magni semeister aus der geistigen Glanzzeit des [...] Opera omnia. Bd. 37, Paris 1898, S. 447–514. – Deutsch: Bertram Söller: Der Traktat P. a. des Klosters. Steer dagegen meint, die ProgramPseudo-Albertus Magnus im dt. SpätMA. Überlie- matik der Sammlung lasse an eine Antwort ferungsgesch. – Wirkungsgesch. – Textedition der auf Eckharts Verurteilung in der Bulle In agro ›vntugent‹-Version aus dem 15. Jh. Diss. (masch.) dominico (1329) denken; daher plädiert er für eine Entstehung bald nach 1329 im Kölner Würzb. 1987.

Paretti

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Ausgaben: Philipp Strauch (Hg.): P. a. i. (›Paradis Dominikanerkonvent, worauf auch neue der fornuftigen sele‹). Bln. 1919. 2. Aufl. mit einem Handschriftenfunde hinweisen könnten. Trotz der Verwendung der Volkssprache Nachw. v. Niklaus Largier. Hildesh. 1998. [Über die sind die Predigten nicht für ein ungelehrtes Internetseite parindex.htm des Japanologen Niels Guelberg kann man auf alle Predigten des P. a. i. in Publikum geeignet. Nirgends wird versucht, der Textausg. v. Strauch in zeilengenauer Darsteldie diffizilen Abhandlungen für »illiterati« lung zugreifen.] verständlich zu machen. Es ist daher anzuLiteratur: Kurt Ruh: P. In: VL (auch: Nachträge nehmen, dass das Sammelwerk nur von u. Korrekturen) (Lit.). – Georg Steer: Meister Ecktheologisch vorgebildeten Brüdern zum Stu- hart-Predigten in Hss. des 14. Jh. In: Dt. Hss. dium, zur Meditation u. eventuell zur Pre- 1100–1400. Hg. Volker Honemann u. Nigel F. digtvorbereitung Verwendung fand. Die Palmer. Tüb. 1988, S. 399–407. – Burkhard HaseOrdnung der Predigten nach dem Kirchen- brink: Studies on Redaction and Use of the P. a. i. jahr ist eher als beiläufige Gliederung zu se- In: De l’homélie au sermon. Histoire de la prédication médiévale. Hg. Jacqueline Hamesse u. a. hen. Ein sorgfältiges Register, das auch den Louvain-la-Neuve 1993, S. 143–158. – Ria van den Inhalt der einzelnen Predigten skizziert, er- Brandt: Die Eckhart-Predigten der Slg. P. a. i. näher greift stets für die Lehrmeinung der Domi- betrachtet. In: Albertus Magnus u. der Albertisnikaner Partei. Die Aufnahme einer Predigt mus. Hg. Maarten J. F. M. Hoenen u. Alain de Lides franziskan. »Barfüßer Lesemeisters« wird bera. Leiden u. a. 1995, S. 173–187. – K. Ruh: Die durch das Register ergründbar: In dieser Pariser Quästionen 1–3 u. der P. a. i. in: Ders.: Predigt werde das absolute Gegenteil der Gesch. der abendländ. Mystik 3. Mchn. 1996, dominikan. Lehrmeinung vertreten. Bei der S. 273–279. – G. Steer: Die Schr.en Meister EckSkizzierung einer Predigt des Dominikaners harts in den Hss. des MA. In: Die Präsenz des MA in seinen Hss. Hg. Hans-Jochen Schiewer u. Karl Giselher von Slatheim werden vom Sammler Stackmann. Tüb. 2002 , S. 209–302. – M. J. F. M. gerade diese beiden konträren Standpunkte Hoenen: Scholastik u. Seelsorge in den Predigten hervorgehoben. der Slg. P. a. i. In: Recherches de théologie et phiNeben den Predigten Eckharts finden sich losophie médiévales. Forsch.en zur Theologie u. je sechs von Eckhart Rube, je fünf von Gisel- Philosophie des MA 73 (2006), S. 69–99. – Wolfher von Slatheim u. Johannes Franke, je drei gang Beck: Eine ›Erfurter Hauspostille‹. Zu Hervon Hane dem Karmelit, der wie Franke als kunft u. Überlieferung der Predigtslg. P. a. i. In: Nichtdominikaner wohl Gastprediger in Er- Mittelalterl. Sprache u. Lit. in Eisenach u. Erfurt. Hg. Martin Schubert u. a. Ffm. u. a. 2008, furt war, Hermann von Loveia u. Florentius S. 104–121. – Freimut Löser: Predigten in domivon Utrecht, je zwei von Albrecht von Tref- nikan. Konventen. ›Kölner Klosterpredigten‹ u. P. furt u. Helwic von Germar, je eine von Bruder a. i. In: Die Predigtslg. P. a. i. ›Deutsche Mystik‹ u. Erbe u. dem anonymen Franziskaner. Eine dominikan. Theologie im Kontext der EckhartPredigt blieb ohne Zuweisung; Ruh sieht Überlieferung. Hg. B. Hasebrink, H.-J. Schiewer u. N. F. Palmer. Tüb. (in Vorb.). Meister Eckhart als Verfasser. Werner Williams-Krapp / Red. Die wichtigste Predigt der Sammlung ist sicherlich der Sermo Eckharts zum Bibelwort »Quasi stella matutina« (Pred 50,6. Quint 9), Paretti, Sandra, eigentl.: Irmgard Schneeder auch einen Satz enthält, der in der Ver- berger, * 5.2.1935 Regensburg, † 12.3. urteilungsbulle als häretisch deklariert wur- 1994 Zürich (Freitod). – Unterhaltungsde. Hier befasst sich Eckhart mit der Frage schriftstellerin u. Fernsehautorin. nach dem Wesen Gottes, u. zwar in ähnl. Aus einer angesehenen Juristenfamilie stamWeise wie in seinen Pariser Quaestionen von mend, studierte P. in München, Paris u. Rom 1302/03. Vor allem aus den Lehren des (Ps.-) Germanistik u. Musik. Nach der Promotion Dionysius Areopagita hat Eckhart in diesem (Das Kunstmärchen in der ersten Hälfte des 20. Predigtkorpus geschöpft. Aber nicht nur Jahrhunderts. Mchn. 1960) arbeitete sie als »subtilia« werden im P. a. i. behandelt, son- Journalistin bei der Münchner »Abendzeidern auch spirituelle Fragen unter theolog. Aspekt (etwa durch Hane).

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tung«, einem Boulevardblatt. Seit 1967 war aufgesetzt, um sich für die »wunderbare Hilfe« einer Sterbehilfe-Organisation zu besie freie Schriftstellerin. P.s Romane richten sich an ein breites Pu- danken. Die viel diskutierte Anzeige sollte blikum: Sprache, Konstruktion u. Figuren- anderen Schwerkranken Mut machen, auch arsenal sind konventionell; die Handlung ist diesen Weg zu gehen. stellenweise klischeehaft. Mit Kritik ging P. Weitere Werke: Das Zauberschiff. Mchn. 1977. jedoch offensiv um: Sie schätzte sich selbst als – Maria Canossa. Mchn. 1979. – Paradiesmann. »Kunstgewerblerin« ein, die ihrer Leserge- Mchn. 1983. – Märchen aus einer Nacht. Mchn. meinde »gutes Erlebnisfutter« biete. P.s Ro- 1985. – Südseefieber. Mchn. 1986. – Tara Calese. mane verkauften sich bislang über 30 Mio. Mchn. 1988. – Laura Lumati. Mchn. 1989. – Mein Mal u. wurden in 28 Sprachen übersetzt. Regensburger Welttheater. Freib. i. Br. 1989. – Mein München. Erlangen 1990. – Im Nixenkahn Damit ist sie eine der meistgelesenen dt. der Donau. Regensb. 1996. Schriftstellerinnen. Literatur: Dietz-Rüdiger Moser im Gespräch Schon ihr erster Roman, Rose und Schwert mit S. P. In: Lit. in Bayern 14 (1988), S. 12–20. – (Hbg. 1967), wurde zum internat. Bestseller. Heinz Fischer: S. P. In: NDB. Sophia Ebert Die rasant erzählte Abenteuergeschichte um die schöne Heldin Caroline de la Romme Allery, eine Zeitgenossin Napoleons, zeigt P.s Pareus, David, eigentlich: D. Wängler, Vorliebe für histor. Stoffe mit viel Herz* 30.12.1548 Frankenstein/Schlesien, schmerz. P. schrieb zwei Fortsetzungen (Ler† 15.6.1622 Heidelberg. – Reformierter che und Löwe. Stgt. 1969. Purpur und Diamant. Theologe u. neulateinischer Dichter. Stgt. 1971. Neuaufl. der Trilogie u. d. T. Geliebte Caroline. Mchn. 1974). Mit Der Winter, der Der Sohn eines Beisitzers am Schöppenstuhl ein Sommer war (Mchn. 1972) legte sie einen in Frankenstein erhielt seine Elementarbilweiteren histor. Schicksals-Roman vor, der in dung an der Lateinschule seiner Vaterstadt, Nordamerika zur Zeit des Unabhängigkeits- durch Privatlehrer sowie am Gymnasium in krieges spielt; 1976 wurde er für das Fernse- Hirschberg/Schlesien. Dessen Rektor Chrishen verfilmt. Es folgten Die Pächter der Erde toph Schilling graeco-latinisierte den Nach(Mchn. 1973), die Geschichte der Rivalität namen zu »Pareus« u. gewann den Schüler zweier amerikan. Familien im 19. Jh., u. das für das reformierte Bekenntnis. Nach seiner Familienepos Der Wunschbaum (Locarno 1975) Entlassung auf Betreiben orthodox-lutheriaus der Zeit vor u. nach dem Ersten Welt- scher Kräfte wurde Schilling Rektor des Pädkrieg, das 2004 mit Alexandra Maria Lara in agogiums im oberpfälz. Amberg, wohin ihn der Hauptrolle verfilmt wurde (ARD). Als P. gegen den Widerstand der Familie begleiFernsehautorin schrieb P. an der Serie tete. Der Lehrer vermittelte ihn als Stipendiat Traumschiff mit u. verfasste das Drehbuch für an das Sapienzkolleg, die kurpfälz. Theoloden Mehrteiler Der rote Vogel (ZDF 1993). gen-Bildungsstätte in Heidelberg, wo er sich Die als »weiblicher Konsalik« verehrte 1566 immatrikulierte. Zacharias Ursinus, eiAutorin ist bekannt für leichte Unterhal- ner der Väter des Heidelberger Katechismus u. tungsliteratur, mit einer Ausnahme: Das Echo Vorsteher des Sapienzkollegs, soll P. schon deiner Stimme (Mchn. 1980) ist eine literarisch früh für eine wiss. Karriere vorgesehen haanspruchsvolle Auseinandersetzung der Au- ben, doch zog es diesen ins Pfarramt. Nach torin mit ihrer eigenen Mutter, unterlegt mit einem Intermezzo als Geistlicher in NiederMilieuschilderungen aus ihrer Geburtsstadt schlettenbach/Pfalz wirkte P. als Lehrer am Regensburg. Heidelberger Pädagogium (1571–1573) u. Am 12.3.1994 nahm sich P. nach zweijäh- erneut als Pfarrer in Hemsbach/Bergstraße. rigem Krebsleiden das Leben. Zwei Tage 1577 wurde er nach der Wiedereinführung später erschien ihre Todesanzeige in der des Luthertums in der Kurpfalz durch Kur»Neuen Zürcher Zeitung«: P. hatte sie mit fürst Ludwig VI. entlassen, fand jedoch Aufviel Pathos (»Auch das große Fest des Lebens nahme im calvinistisch gebliebenen Pfalzverlasse ich mitten in dem Walzer...«) selbst Lautern, wo er ab 1578 in Oggersheim/Pfalz

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sowie 1580–1584 in Winzingen bei Neustadt/ Weinstraße das Pfarramt versah. Die Rückkehr der Kurpfalz zum Calvinismus 1583 markiert den Beginn von P.’ theolog. Karriere, die ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter der reformierten Orthodoxie in Europa werden ließ. 1584 erfolgte die Anstellung als Lehrer am Sapienzkolleg in Heidelberg, 1590 wurde P. dessen Leiter u. 1593, dem Jahr seiner Promotion zum Doktor der Theologie, Mitgl. des kurpfälz. Kirchenrates. 1598 folgte die Berufung auf die Professur für Altes Testament an der Universität, die P. 1602 gegen den Lehrstuhl für Neues Testament tauschte. Nach der militär. Niederlage der Kurpfalz im Böhmischen Krieg floh er 1621 nach Annweiler u. Neustadt/Weinstraße, kehrte jedoch 1622 nach Heidelberg zurück, um dort zu sterben. P.’ Neustädtische Bibel (Neustadt 1588) war die erste reformierte Bibelausgabe nach dem Luther-Text, aber mit Einleitungen u. Marginalien, die calvinist. Standpunkte reflektierten. Durch sie zog er sich scharfe Angriffe der Tübinger Theologen Jacob Andreae u. Johann Georg Sigwart zu. Auch sonst waren die ersten beiden Jahrzehnte nach der Rückkehr in die Kurpfalz stark von der Auseinandersetzung mit der luth. Orthodoxie geprägt (Methodus totius controversiae ubiquitariae brevis et perspicua. Neustadt 1586. Summarische Erklaerung, der wahren Catholischen Lehr, so in der Chur Pfaltz bey Rhein [...] geuebet wirdt. Heidelb. 1593 u. ö. Libri duo: I. Calvinus orthodoxus [...]. Neustadt 1595). Mit dem Beitritt der Kurpfalz zur protestant. Union 1608 änderte sich dies. P. versuchte nun, die Verständigung mit den Lutheranern voranzutreiben, jedoch ohne dort auf Widerhall zu stoßen (Irenicum sive De unione et synodo Evangelicorum liber votivus. Heidelb./Ffm. 1614; dt. v. Winand Zonsius ebd. 1615). Mit umso größerer Schärfe widmete er sich von da an der Auseinandersetzung mit der jesuit. Theologie, v. a. in Person von Roberto Bellarmino (Roberti Bellarmini [...] Liber unus de gratia primi hominis explicatus et castigatus. Heidelb./Ffm. 1612. Ad Roberti Cardinalis Bellarmini Liber de temporali potestate papae commentatio. Heidelb./Ffm. 1612. Roberti Bellarmini [...] De amissione gratiae et statu peccati libri sex [...] explicati et castigati.

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Heidelb./Ffm. 1613, u. a.). Besondere Bedeutung kommt P. als Theoretiker des Widerstandsrechts (In divinam ad Romanos Epistolam Commentarius. Heidelb./Ffm. 1608) sowie des Verhältnisses von Staat u. Kirche (Hoseas Propheta Commentariis illustratus. Heidelb. 1605) zu. Weitere Kommentare veröffentlichte er zur Genesis (Heidelb./Ffm. 1609), zum Ersten Korintherbrief (Heidelb./Ffm. 1609), zum Hebräerbrief (Heidelb./Ffm. 1609), Galaterbrief (Heidelb./Ffm. 1613) u. zur Apokalypse (Heidelb./Ffm. 1618). Sie sind meist nicht nur gegen kath. Theologen (neben Bellarmino v. a. Thomas Stapleton) gerichtet, sondern auch gegen die Theoretiker des Antitrinitarismus (Fausto Sozzini, György Enyedi) in Polen u. Siebenbürgen. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der Anziehungskraft der Universität Heidelberg auf Studenten gerade aus diesen beiden Regionen. In den erwähnten Kommentaren zu Hosea u. Genesis führte P. zudem eine Kontroverse mit dem Leidener Philologen Joseph Justus Scaliger über Fragen der Chronologie. Zudem trat er gegen die von dem Herborner Philosophen Johann Piscator vertretene ramist. Logik auf (Disputatio exegetica de contradictione perpetua verum a falso dividendi regula. Heidelb. 1588. Vindiciae pro contradictione logica. Neustadt 1589). P.’ lyr. Werk, das der Sohn Johann Philipp 1615 u. d. T. Musae fugitivae (Neustadt. Internet-Ed. in: CAMENA) herausgab, harrt noch der wiss. Erforschung. Weitere Werke: Christlich vnd gründlich Bedencken vom Brot vnnd Brotbrechen im H[eiligen] Abendmahl des Herren. Amberg 1598. – Disputationum theologicarum publice in Academia ArchiPalatina habitarum volumen unum. Heidelb./Ffm. 1611. – Collegia theologica. 2 Bde., Heidelb./Ffm. 1611–20. – Tractatus De sacra eucharistia. Amberg 1612. Ausgaben: Opera theologica exegetica. Hg. Johann Philipp Pareus. (Ffm. 1628). Stark erw. Ffm. 1647. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16 digital. Literatur: Bibliografien: Johann Philipp Pareus: Narratio historica de curriculo vitae et obitu [...] Davidis Parei. Ffm. 1633, S. 189–196 (mit zahlreichen ungedr., auch handschriftlich nicht überlieferten Werken; zgl. grundlegende Biogr.; andere Fassungen in den beiden Ausg.n der ›Opera theo-

95 logica exegetica‹, s. o., alle drei in EH, s. u.). – EH, Abt. I: Die Kurpfalz. Bd. II. D., Johann Philipp u. Daniel P., S. 6 f. (mit Regesten, krit. Abdruck u. Erläuterung der Paratexte zur Neustädt. Bibel u. den Bibelkomm.en). – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Otto Ritschl: Die reformierte Theologie des 16. u. 17. Jh. in ihrer Entstehung u. Entwicklung. Gött. 1926, S. 246, 250–260, 340 f., 362, 366, 421. – Gustav Hecht: Schlesisch-kurpfälz. Beziehungen im 16. u. 17. Jh. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 81 (1928), S. 176–222, hier S. 182, 186–189, 191 f. – Hans Leube: Kalvinismus u. Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie. Bd. 1: Der Kampf um die Herrschaft im protestant. Dtschld. Lpz. 1928, S. 59–73. – Wilhelm Holtmann: Die pfälz. Irenik im Zeitalter der Gegenreformation. Diss. theol. Gött. 1960, S. 238–260. – Gustav Adolf Benrath: D. P. In: Schlesier des 15. bis 20. Jh. Im Auftrag der Histor. Kommission für Schlesien hg. v. Helmut Neubach u. Ludwig Petry. Würzb. 1968, S. 13–23. – Günter Brinkmann: Die Irenik des D. P. Frieden u. Einheit in ihrer Relevanz zur Wahrheitsfrage. Hildesh. 1972. – Traudel Himmighöfer: Die Neustadter Bibel v. 1587/99, die erste reformierte Bibelausg. Dtschld.s. Speyer 1986. – Eike Wolgast: Reformierte Konfession u. Politik im 16. Jh. Studien zur Gesch. der Kurpfalz im Reformationszeitalter. Heidelb. 1998, S. 12–14, 107–109. – Armin Kohnle: Die Univ. Heidelberg als Zentrum des reformierten Protestantismus im 16. u. frühen 17. Jh. In: Die ungar. Universitätsbildung u. Europa. Hg. Márta Font u. Lászlo Szögi. Pécs 2001, S. 141–161. – T. Himmighöfer: P. (Wängler), D. In: NDB. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 433–435. – Markus Matthias: P., D. In: RGG 4. Aufl., Bd. 6, Sp. 935 f. – Robert Seidel: Der ungar. Späthumanismus u. die calvinist. Pfalz. In: Dtschld. u. Ungarn in ihren Bildungs- u. Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Anton Schindling. Stgt. 2004, S. 227–251. – Herman J. Selderhuis: Das Recht Gottes. Der Beitr. der Heidelberger Theologen zu der Debatte über die Prädestination. Späthumanismus u. reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz u. Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jh. Hg. Christoph Strohm, Joseph S. Freedman u. Herman J. Selderhuis. Tüb. 2006, S. 227–253, hier S. 230, 244, 247 f., 252. – Ders.: Frieden in Heidelberg. Pfältzer [sic!] Irenik u. melanchthon. Theologie bei den Heidelberger Theologen D. P. (1548–1622) u. Franciscus Junius (1545–1602). In: Konfrontation u. Dialog. Philipp Melanchthons Beitr. zu einer ökumen. Hermeneutik. Hg. Günter Frank u. Stephan Meier-Oeser. Lpz. 2006, S. 235–257. – Ders.: Eine attraktive Univ. Die Heidelberger Theolog.

Pareus Fakultät 1583–1622. In: Bildung u. Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. Hg. H. J. Selderhuis u. Markus Wriedt. Tüb. 2006, S. 1–30. – W. Kühlmann: Ein dt. Dichter wünscht ›prädestiniert‹ zu sein. Zur Behandlung konfessionalist. Positionen in der geistl. Lyrik des dt. Späthumanismus, ausgehend v. einer Ode des Paul Schede Melissus (Meletemata 1,21; 1595). In: Prädestination u. Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin u. ihre Wirkungsgesch. FS Theodor Mahlmann. Hg. Wilfried Härle. Lpz. 2009, S. 146–158. Volker Hartmann

Pareus, Johann Philipp, eigentl.: J. P. Wängler, * 24.5.1576 Hemsbach/Bergstraße, † 1648 Hanau. – Philologe, Logiker, reformierter Theologe u. neulateinischer Dichter. P. war der älteste Sohn des reformierten Theologen David Pareus. Er erhielt seine Schulbildung am St. Cyriacus-Stift, dem kurpfälz. Pädagogium in Neuhausen bei Worms, u. studierte ab 1586 in Heidelberg, Basel, wo er 1599 den Magistergrad erwarb, u. Genf die Artes u. Theologie. Ältere Angaben über weitere Studien in Freiburg i. Br., Tübingen u. Straßburg treffen nicht zu. P. lehrte nach seiner Rückkehr in die Kurpfalz am Contubernium u. Pädagogium in Heidelberg, wurde Rektor an seiner alten Schule in Neuhausen u. leitete von 1610 bis 1622 das Gymnasium in Neustadt/Weinstraße. Er trat zunächst außer mit Gelegenheitsschriften durch eine theolog. Verteidigung seines Vaters gegen den Speyerer Jesuiten Johann Magirus (Castigatio in brevem et maledicam Admonitionem Johannis Magiri, Heidelberg. Ffm. 1606) u. durch Untersuchungen u. Lehrbücher zur Logik hervor (Artis logicae libri II. Hanau 1607. Analysis logica Orationis [...] Iusti Lipsii De calumnia. Heidelb./Ffm. 1609. Analysis logica Epistolae Divi Pauli ad Romanos. Heidelb./Ffm. 1609). Doch entwickelte er bald auch ausgeprägte philolog. Interessen, die sich einerseits – vertreten durch das Werk des Symmachus (Symmachi [...] Epistolarum ad diversos libri X. Calligraphia Symmachiana; Electa Symmachiana; Lexicon Symmachianum, alle Neustadt a. d. W. 1617) – auf die spätantike Prosa, andererseits auf die altlat. Komödie richteten. Hier war es neben Terenz (De imitatione Terentiana. Neu-

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stadt a. d. W. 1617. Hg., Terentii [...] Comoediae 1647 wurde P. von der Universität Basel zum sex. Ffm./Neustadt a. d. W. 1619) Plautus, Ehrendoktor der Theologie promoviert. Seine dem P. fast sein ganzes Gelehrtenleben in Hoffnung, nach dem Kriegsende wieder in Form von drei Editionen (Ffm. 1610; Ffm./ kurpfälz. Dienste treten zu können, vereitelte Neustadt a. d. W. 1619; Ffm./Hanau 1641) u. der Tod im folgenden Jahr. verschiedenen Nachschlagewerken (Lexicon Weitere Werke: (Hg.) Bartholomäus KeckerPlautinum. Ffm. 1614. Electa Plautina. Ffm./ mann: Organi Aristotelis analysis aphoristica. Ffm. Neustadt a. d. W. 1617) widmete. Darüber 1614. – Catechesis religionis Christianae quomodo geriet er in eine Auseinandersetzung mit illa in ecclesiis et scholis tum Electoralis Palatinaseinem früheren Lehrer Janus Gruter, die tus: tum aliarum ditionum reformatae religionis beide zwischen 1619 u. 1623 mit unerbittl. traditur. Neustadt a. d. W. 1615. – Calligraphia Romana. Ffm./Neustadt a. d. W. 1616. – Theatrum Schärfe führten. Bei dieser Kontroverse, die philosophiae christianae. Ffm. 1623. – Theologia entgegen früherer Darstellungen von Gruter symbolica pro catechumenis. Basel 1644. – Lexicon begonnen worden zu sein scheint, ging es criticum sive Thesaurus linguae Latinae. Nürnb. erkennbar nicht nur um die in den Mittel- 1645. – Commentarius De particulis linguae Latipunkt gestellten Fragen der richtigen Text- nae. Ffm. 1647. konstitution u. des Bildungswertes der antiTeilausgaben: Parn. Pal., S. 116–125 (Ed. u. ken Komödie im Allgemeinen u. derjenigen Übers. der 13. und 20. Ode des P.), 242 f. (Komm.), des Plautus im Besonderen, sondern um tiefe 284 f. (Biogramm u. Bibliogr.). – EH, Abt. I: Die persönl. Aversionen, deren Ursachen nicht Kurpfalz, Bd. II: David, J. P. u. Daniel Pareus, 2 Tle. mehr rekonstruierbar sind. Neben der Ad Se- (2010), S. 595–597 (darin auch Regesten, krit. Abdr. natum Criticum adversus personatos quosdam Pa- u. Erläuterung der Paratexte zu den meisten der reomastigas Provocatio (Ffm. 1620) richtete P. oben erwähnten Werke P.’). Literatur: Bibliografien: VD 17. – Flood, Poets noch nach der militärischen Katastrophe der Pfalz die Analecta Plautina (Ffm. 1623) u. einen Laureate, Bd. 3, S. 1478–1483 (auch mit Biogramm). – Weitere Literatur: R[ichard] Hoche: P. In: dem Lehrer unterschobenen siebten Band von ADB. – Karl Tavernier: Urkundl. Beiträge zur dessen Lampas sive Fax artium liberalium (Ffm. Gesch. des ›Casimirianums‹ des alten Neustadter 1623) gegen Gruter. Gymnasiums (1578–1797). Programm des Kgl. 1623 nahm P. einen Ruf als Professor für Humanist. Gymnasiums Neustadt a. Hdt. für das Theologie u. Hebräisch an dem zeitweise zur Schuljahr 1911/12. Neustadt a. d. H. 1912, Hohen Schule aufgewerteten Gymnasium in S. 35–37. – Le livre du recteur 5 (1976), S. 662 f. – Hanau an. Diese neue Aufgabe u. die Rolle als Gustav Breith: Die Neustadter Hochschule (Colleliterar. Nachlassverwalter seines Vaters (Hg., gium Casimirianum). In: Pfälzer Heimat 29 (1978), Davidis Parei [...] Opera theologica exegetica. Ffm. S. 85–90, hier S. 88 f. Volker Hartmann 1628 u. stark erw. ebd. 1647, jeweils mit P.’ auch separat gedruckter Vita des Vaters) ließ Paris und Vienna, 1488 erstmals geihn sich wieder stärker theologischer u. phidruckt. – Mittelniederdeutscher Prosarolosoph. Publizistik zuwenden (u. a. Divi Pauli man. Apostoli Epistola ad Philemonem analysi logica [...] illustrata. Ffm. 1623. S[ancti]. Judae Apostoli 1488 erschien in Antwerpen bei dem beEpistola catholica analysi logica [...] illustrata. rühmten Drucker Gerard Leeu die mittelFfm. 1626. De imaginibus sacris. Ffm. 1628). niederdt. Fassung eines Romanstoffs, der sich Seine Lyrik sammelte der 1600 von Paulus in Europa bis ins 18. Jh. großer Beliebtheit Schede Melissus zum Dichter gekrönte P. zus. erfreute: Der ritterbürtige Paris kann Vienna, mit der seines Vaters David in den Musae fu- die Tochter des frz. Dauphin, aufgrund ihres gitivae (Neustadt a. d. W. 1615. Internet-Ed. Standesunterschieds nur heimlich aus der in: CAMENA). Besondere Erwähnung ver- Ferne lieben; ihre gemeinsame Flucht missdienen ferner eine Edition neulateinischer lingt, u. Vienna wird von ihrem Vater gefanDichter aus Ungarn (Delitiae poetarum Hunga- gen gehalten, während Paris über Italien in ricorum. Ffm. 1619) u. eine Sallust-Ausgabe den Orient gelangt. Äußerlich zum Sarazenen (Opera quae exstant. Neustadt a. d. W. 1617). geworden, kann er dem mittlerweile vom

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Sultan gefangen genommenen Dauphin zur Parisius, Ludolf, * 15.10.1827 GardeleFreiheit verhelfen u. darf im Gegenzug Vi- gen/Altmark, † 10.3.1900 Berlin-Charlotenna heiraten. tenburg. – Politiker, Publizist, SchriftDieser Liebes- u. Reiseroman wird in einem steller. histor. Rahmen erzählt, der chronologisch nicht vereinbare Fakten verbindet, sodass die Der Pfarrerssohn studierte 1846–1849 in Umstände seiner Entstehung kaum zu er- Halle zunächst Mathematik, dann Jura u. war kennen sind. Wie alle Prosabearbeitungen seit 1855 Gerichtsassessor in Wolmirstedt, (zahlreiche romanische, englische, nieder- danach in Burg bei Magdeburg. Das Amt als ländische, keine hochdeutsche!) geht die Kreisrichter seiner Heimatstadt (seit 1858) niederdt. Version auf eine von zwei Fassun- verlor er 1864 nach einem Disziplinarvergen eines altfrz. Originals aus dem 14. Jh. fahren wegen polit. Agitation für die Fortzurück. Sie war Vorlage eines schwed. Ge- schrittspartei. Nach seiner Entlassung aus dichts (wohl 1523). Auf einer ital. Vorlage u. dem Staatsdienst übersiedelte P. nach Berlinweiteren, z.T. sehr unterschiedl. Drucken aus Charlottenburg, wo er gemeinsam mit HerItalien, England u. Wien beruht ein jidd. mann Schulze-Delitzsch die »Blätter für das Versroman Paris un Wiene aus dem 16. Jh., der deutsche Genossenschaftswesen« herausgab. wahrscheinlich auf Elia Levita (1469–1549) Mit der Genossenschaftsgesetzgebung Preußens sowie des Deutschen Reichs beschäftigte zurückgeht. sich P. seit den 1860er Jahren in zahlreichen Ausgaben: P. u. V. Eine niederdt. Fassung vom Jahre 1488. Hg. Axel Mante. Lund/Kopenhagen auflagenstarken Publikationen u. kommen1965. – Paris un Wiene. Ein jidd. Stanzenroman des tierten Gesetzeseditionen. Gleichzeitig ver16. Jh.s v. (oder aus dem Umkreis v.) Elia Levita. öffentlichte er polit. Satiren wie Ein preußiEingel., in Transkription hg. u. komm. v. Erika scher Kultusminister, der seinen Beruf verfehlt hat Timm unter Mitarb. v. Gustav Adolf Beckmann. oder Herrn Heinrich von Mühler’s Gedichte. Ein Tüb. 1996. – Gerhard Wahle: Paris e Viana / P. u. V. heiteres Flugblatt in ernster Zeit (1.-15. Aufl., Aus dem Niederdeutschen ins Neuhochdeutsche Lpz. 1871). 1868–1872 gab P. das polit. Woübertragen v. G. W. auf der Grundlage der v. Axel chenblatt »Volksfreund«, bis 1891 den Mante 1965 in Lund hg. niederdt. Fassung aus dem »Reichsfreund« heraus u. redigierte seit 1877 Jahre 1488. Stgt. 2001. mit Eugen Richter die »Parlamentarische Literatur: Anna Maria Babbi: Per la tradizione francese del ›P. et V.‹ (Ö. N. B., ms. 3432). In: Korrespondenz aus der Fortschrittspartei«. Quaderni di lingue e letterature 11 (1986), Seit 1862 bis 1898 (mit Unterbrechung 1866/ S. 367–397. – Gabriele Diekmann-Dröge: P. u. V. in 67) Mitgl. des preuß. Abgeordnetenhauses u. Antwerpen. Der mittelniederdt. Frühdruck aus der 1874–1877 sowie 1881–1887 des Reichstags, Offizin Gheraert Leeus. In: Niederdt. Wort 226 gehörte P. ständig zum geschäftsführenden (1986 [1987]), S. 55–76. – Jürgen Meier: P. u. V. In: Ausschuss der Fortschrittspartei bzw. der VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Hans-Jür- deutsch-freisinnigen Partei. Neben jurist. u. gen Bachorski: Posen der Liebe: Zur Entstehung v. polit. Werken machte er mit in der heimatl. Individualität aus dem Gefühl im Roman P. u. V. Altmark spielenden, heute noch in NachdruIn: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literar. Kommunikation u. Deutungsschemata cken erhältlichen Romanen u. Erzählungen v. Wirklichkeit in der Lit. des MA u. der frühen (Pflicht und Schuldigkeit. 3 Bde., Hann. 1873. Im Neuzeit. Hg. Werner Röcke u. Ursula Schaefer. Wald und auf der Heide. Bln. 1876) u. mit der Tüb. 1996, S. 109–146. – Armin Schulz: Die Zei- 1856–1858 entstandenen Sammlung Deutsche chen des Körpers u. die Liebe. ›P. u. V.‹ in der jidd. Volkslieder mit ihren Singweisen, in der Altmark Fassung des Elia Levita. Hbg. 2000. und im Magdeburgischen aus dem Volksmunde geSabine Schmolinsky sammelt (Magdeb. 1879), in der sich auch geistl. Lieder u. Balladen finden, literarisch auf sich aufmerksam. Weitere Werke: Vorwärts, Vorwärts, Ihr Dt. Genossenschaftsmänner! Sieben Flugblätter für die dt. Vorschuss- u. Kreditvereine. Bln. 1870. –

Parth Dtschld.s polit. Parteien u. das Ministerium Bismarck. Bln. 1878. – Die Dt. Fortschrittspartei v. 1861 bis 1878. Bln. 1878. – Dtschld.s polit. Parteien u. das Ministerium Bismarck: ein Beitr. zur vaterländ. Gesch. mit einem Vorw. über die gegenwärtige Kanzlerkrisis. 2 Bde., Bln. 1878. – Bilder aus der Altmark. 2 Bde., Hbg. 1883 (zus. mit dem Maler Hermann Dietrichs). – Hermann SchultzeDelitzsch u. Alwin Sörgel: Beiträge zur Gesch. der dt. Genossenschaftsbewegung. Bln. 1899. – Leopold Frhr. v. Hoverbeck (1822–75). 3 Bde., Bln. 1897–1900. Literatur: Ingeborg Weber-Kellermann (Hg.): L. P. u. seine altmärk. Volkslieder. Bln. 1957. – Kosch. – Biogr. Hdb. für das Preuß. Abgeordnetenhaus 1867–1918. Bearb. v. Bernhard Mann. Düsseld. 1988, S. 294. – Bernd Haunfelder: Biogr. Hdb. für das Preuß. Abgeordnetenhaus 1849–67. [Bd. 1] Düsseld. 1994, S. 190. – Ulrich Naumann: Ein maßgebender Genossenschaftler u. ›Fortschrittsmann‹ der ersten Generation. L. P. In: Jb. zur Liberalismus-Forsch. 19 (2007), S. 113–135. – Sigrid Brückner: Tangermünder Persönlichkeiten. In: Tangermünde. Hg. dies. Tangermünde 2008, S. 93–125. Ina Ulrike Paul

Parth, Wolfgang W(illy), * 2.1.1910 Mannheim, † 16.12.1982 München. – Romancier, Publizist, Journalist. Ehe P. sich als freier Schriftsteller in München niederließ, war er Dramaturg, Theater- u. Literaturkritiker sowie Chefredakteur. Kriegsende u. erste Nachkriegszeit, die P. in Berlin erlebte, schildert er in Die letzten Tage (Bln./SBZ 1946). Seinen größten Erfolg erzielte er mit dem autobiografisch gefärbten Roman Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück (Mchn. 1958. 111986), der vom Rückzug der dt. Truppen im Osten erzählt. Das Buch ist gekennzeichnet von der Verherrlichung der Kriegskameradschaft u. der Kritik an Vorgesetzten. Der Roman Das große Wiedersehen (Mchn. 1961) spielt in der Nachkriegszeit u. schildert die Aufdeckung eines von einem Offizier begangenen Kriegsverbrechens durch seine ehemaligen Untergebenen. Mit dem Roman Der Fall Barbara Gordon (Mchn. 1958) betrat P. das Gebiet der spannenden Kriminalgeschichte. In der romanhaften Biografie Goethes Christiane (Mchn. 1980. 10 1995) versuchte er das Bild der »sorgsamen Hausfrau« u. »stillen Beraterin« Goethes

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nachzuzeichnen – ein Blick ins Privatleben, der in den Geschichten vom Herrn Goethe (Mchn. 1981) seine Fortsetzung fand. Neben diesen Arbeiten gab P. Anekdotenbücher heraus, u. a. über den Chirurgen Sauerbruch u. Richard Wagner. Weitere Werke: Kein Platz für Liebe. 1947 (Filmdrehbuch). – Tödl. Liebe. Mchn. 1970 (R.). – Das Loch. Mchn. 1971 (R.). – Rock u. Rocky. Mchn. 1975 (Jugendbuch). Hermann Schreiber / Red.

Partsch, Josef (Franz Maria), * 4.7.1851 Schreiberhau/Riesengebirge, † 22.6.1925 Bad Brombach/Vogtland. – Geograf. P. stammte aus den engen Verhältnissen einer stark heimatgebundenen schles. Beamtenfamilie. Nach dem Abitur studierte er Klassische Philologie u. Alte Geschichte in Breslau, wo er sich 1874 promovierte. 1875 habilitierte er sich für Alte Geschichte u. Erdkunde; 1876 wurde er etatmäßiger a. o. Prof., 1884 o. Prof., 1905 Nachfolger Friedrich Ratzels in Leipzig. P.s wiss. Bedeutung liegt auf drei Gebieten: der Historischen Geografie, der Eiszeitforschung u. der länderkundl. Darstellung. Von den Methoden der Klassischen Philologie profitierend, gelang P. der Nachweis, dass im Altertum die Naturkenntnisse detaillierter waren als um die Jahrhundertwende noch allg. angenommen. In weiteren Studien wies P. die Hypothese einer seit dem Altertum erfolgten Klimaveränderung im Mittelmeergebiet zumindest für Palmyra u. Nordafrika zurück; schließlich befasste sich eine große Abhandlung mit einem klass. Thema der Historischen Geografie, den Grenzen der antiken Ökumene. Wegweisend war P. als Erforscher der eiszeitl. Vergletscherung der europ. Mittelgebirge. In seiner Arbeit über Die Gletscher der Vorzeit in den Karpathen und den Mittelgebirgen Deutschlands (Breslau 1882) wurde die von West nach Ost mit zunehmender Kontinentalität des Klimas ansteigende Schneegrenze sowie die bodengestaltende Wirkung der Gletscher, insbes. die Karbildung, nachgewiesen. Sein letztes Werk, Die Hohe Tatra zur Eiszeit (Lpz. 1922), zeigt die Fülle der Ergebnisse seiner Eiszeitforschung. Jenseits dieser

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Arbeiten war P. als guter Stilist Meister der länderkundl. Darstellung: Neben seinen länderkundl. Monografien über Die Insel Korfu (Gotha 1887), Die Insel Leukas (Gotha 1889), Kephallenia und Ithaka (Gotha 1890) ist sein auf ausgedehnten Vorstudien beruhendes zweibändiges Werk Schlesien. Eine Landeskunde für das deutsche Volk (Breslau 1896–1911) ein unbestrittenes Meisterwerk der geograf. Landesforschung vor dem Ersten Weltkrieg. Weitere Werke: Des Aristotelis Buch ›Über das Steigen des Nils‹. In: Abh.en der Kgl. Sächs. Gesellsch. der Wiss. Philolog.-Histor. Klasse 27, 16 (1909), S. 553–600. – Die Grenzen der Menschheit. Tl. 1: Die antike Oikumene. Ebd. 68, 2 (1916). – Stromgabelungen der Argonautensage. Ebd. 71, 2 (1919). – Palmyra, eine histor.-klimat. Studie. Ebd. 74, 1 (1922). Literatur: Gabriele Schwarz: J. P. In: Geographers. Biobibliographical Studies. Bd. 10, London 1987, S. 125–133. – Heinz Peter Brogiato (Hg.): J. P. – wiss. Leistungen u. Nachwirkungen in der dt. u. poln. Geographie. Lpz. 2002. Ute Wardenga / Red.

Pasch, Georg, * 23.9.1661 Danzig, † 30.9. 1707 Kiel. – Evangelischer Moraltheologe u. Philosoph. Die orthodoxe Theologie geriet am stärksten unter den Druck des neuen Denkens, das die frühe Aufklärung vorbereitete. P., ein durchaus mittelmäßiger Kopf, kann eben deshalb gut für eine bestimmte Weise des Reagierens auf diese Herausforderung einstehen: Man öffnet sich dem Neuen u. würdigt es, steht aber fest auf dem Grund der institutionalisierten Tradition, die noch immer die Berufspositionen zu vergeben hat, u. sucht möglichst viel von den modernen Ansprüchen aufzugreifen, um es ins Herkömmliche umzudeuten. Deshalb wohl ist P.s erste größere Publikation, Schediasma de curiosis hujus seculi inventis (Kiel 1695), immer als sein Hauptwerk betrachtet worden, in dem er die Errungenschaften seines zu Ende gehenden Jahrhunderts in Philosophie, Morallehre, Medizin u. in den »mechanischen« Disziplinen (Mathematik, Physik) kritisch bilanziert; eine zweite Auflage (u. d. T. De novis inventis [...]. Lpz. 1700) enthält ein zusätzliches, rechtswiss. Kapitel: De varia fortuna

doctrinae Juris. P. geht von Bacon aus. Auf die »curiositas«-Debatte lässt er sich nicht mehr ein, sucht aber den Primat der Theologie zu retten. Den Cartesianismus stellt er ausführlich dar (vgl. schon die Magister-Disputation De pluralitate mundorum contra Cartesianos. Wittenb. 1684, noch vor Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes [1686]!), aber er verurteilt radikale Autoren wie »Realis de Vienna« (d. i. Gabriel Wagner, 1660-ca. 1717), u. die protestant. Mystiker nennt er lichtscheues Gesindel (De novis inventis, S. 319). Descartes selbst möchte er im Anschluss an Pierre Daniel Huets Censura philosophiae cartesianae (Paris 1689) am liebsten als ein Derivat der Tradition entschärfen. Der Kaufmannssohn besuchte das Gymnasium in Graudenz, wo er auch Polnisch lernte, u. in Danzig. Das theologische u. philosoph. Studium wurde in Wittenberg 1684 mit dem Magister abgeschlossen. Nach der Peregrinatio academica, die ihn in die Niederlande, nach Kopenhagen u. England führte, wurde P. 1689 als o. Prof. der Moralphilosophie nach Kiel berufen, als Morhof Prorektor war. Im gleichen Jahr heiratete er die Tochter des einflussreichen Theologen Christian Kortholt, u. 1701 übernahm er auch die Professur für Logik u. Metaphysik, später die für Praktische Theologie. In seinem Todesjahr erschien das zweite große Werk: De variis modis moralia tradendi liber (Kiel 1707). Darin wird aufgezeigt, inwiefern sich verschiedene literar. Gattungen in Vergangenheit u. Gegenwart für die Morallehre eignen: Dialoge, darunter dramat. Genres; Fabeln, Romane u. Utopien (»fictae Respublicae«), Satiren, Aphorismen, Embleme, Rätsel usw. Das Kompendium, eine gattungsgeschichtliche Fundgrube, die umfangreiches bibliogr. Material enthält, lässt sich so umgekehrt auch als eine normative Literaturtheorie unter einem moraldidakt. Funktionsaspekt lesen, wie sie für diese Zeit in ähnlicher Ausführlichkeit sonst nicht bekannt ist. Weitere Werke: Dissertatio physica de brutorum sensibus atque cognitione, pro loco [...]. Resp.: Johann Jakob Stolterfoht. Wittenb. 1686. – Dissertatione methodologica causas praecipuorum iudicii defectuum atque errorum qui promovendo rei literariae commodo communiter obsunt dilucide ob

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oculos ponent [...]. Resp.: Johann Ernst Steinbrunner. Wittenb. 1686. – De licitis divitias acquirendi modis dissertatio. Resp.: Nikolaus Richter. Kiel 1692. – De pronunciato illo: Vulgus regitur opinionibus. Resp.: Josias Heinrich Opilius. Kiel 1701. – De scepticorum praecipuis hypothesibus. Resp.: Johann Valentin Bützer. Kiel 1706.

Literatur: Paul Wichert: L. P.s hundertster Geburtstag. In: Ostdt. Monatsh.e 7 (1926), S. 895–900; 9 (1928), S. 129–133. – Paul Wittko: Ein europ. Wanderleben. Ebd. 9 (1928), S. 126–129.

Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Zedler. – Carsten Erich Carstens: G. P. In: ADB. – Johann Otto Thieß: Gelehrtengesch. der Univ. zu Kiel. Tl. I, Kiel 1800, S. 234–247. – Heinrich Döring: Die gelehrten Theologen Deutschlands im 18. u. 19. Jh. Bd. 3, Neustadt/Orla 1833. – Gesch. der Christian-Albrechts-Univ. Kiel 1665–1965. Bd. 5, Tl. 1, Neumünster 1969, S. 13–17. Herbert Jaumann

Passavant, Johann David, * 18.9.1787 Frankfurt/M., † 12.8.1861 Frankfurt/M. – Maler, Kunstkritiker, Kunsthistoriker.

Passarge, Ludwig, Louis, * 6.9.1825 Wollitnick bei Heiligenbeil/Ostpreußen, † 19.9.1912 Lindenfels/Odenwald. – Reiseschriftsteller, Erzähler, Lyriker, Übersetzer. Nach dem Studium der Rechte in Königsberg u. Heidelberg war P. bis zu seiner Pensionierung 1887 in verschiedenen Positionen als Richter tätig, zunächst in Heiligenbeil, seit 1879 in Königsberg. Der Hauptteil des literar. Werks P.s erwuchs aus seinem Interesse für Eigenart u. Kultur europ. Völker, die er auf ausgedehnten Reisen studierte u. in Reisebildern u. Kulturskizzen porträtierte (Fragmente aus Italien. Bln. 1860. Dalmatien und Montenegro. Lpz. 1904. Aus dem heutigen Spanien und Portugal. Lpz. 1884); seine Vorliebe galt den skandinav. Ländern, insbes. Schweden u. Norwegen (Schweden, Wisby und Kopenhagen. Lpz. 1867. Drei Sommer in Norwegen. Lpz. 1881). P.s Übersetzungen von Werken Björnsons (Über die Kraft. Lpz. 1886) u. Ibsens (Brand, Peer Gynt. Lpz. 1881) – mit dem ihn eine Freundschaft verband – trugen zur Rezeption der norweg. Literatur in Deutschland bei. Zur Auseinandersetzung mit dem Fremden gesellte sich seine Liebe zur ostpreuß. Heimat (vgl. Aus baltischen Landen. Glogau 1878). P. trat auch mit nhd. Übertragungen von Liedern Oswalds von Wolkenstein (Lpz. 1891) hervor. Weitere Werke: Henrik Ibsen. Lpz. 1883. – Aus fünfzig Jahren. Dresden 1895 (L.). – Ein ostpreuß. Jugendleben. Lpz. 1903 (Autobiogr.).

Thomas Brechenmacher / Red.

Im väterl. Geschäft erhielt P. zunächst eine kaufmänn. Ausbildung. Seit 1809 Angestellter eines Pariser Bankhauses, studierte er die Werke des Musée Napoléon (Louvre) u. sandte Berichte über zeitgenöss. Pariser Maler nach Frankfurt. Geprägt wurde seine Kunstauffassung weiterhin durch die Freundschaft mit Franz Pforr u. eine erste Italien-Reise 1813. 1815 nahm P. als Freiwilliger an der Belagerung Straßburgs teil u. begann eine 18monatige Ausbildung im Atelier Jacques Louis Davids. 1817 reiste er nach Italien, um sich in Rom dem Lukasbund der Nazarener anzuschließen. In Florenz führte ihn Rumohr in die Methodik der Kunstgeschichte ein. Die röm. Malerfreunde Cornelius, Overbeck, Schnorr u. andere regten ihn zu seinem ersten großen kunsthistor. Werk an: Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganges derselben in Toscana; zur Bestimmung des Gesichtspunktes, aus welchem die neudeutsche Malerschule zu betrachten ist (Heidelb./Speyer 1820). Rumohr bemängelte die schwache histor. Arbeitsweise P.s, empfahl ihn aber Ludwig Schorn, dem Herausgeber des Cottaschen »Kunstblattes«, als Korrespondenten. 1824 kehrte P. nach Frankfurt zurück, um sich dort als ausübender Künstler u. Kunstkritiker zu betätigen. Aus dem Auftrag, das Raffael-Buch Georg Christian Brauns (Wiesb. 1815. 21819) für eine Neuauflage zu ergänzen, erwuchs seit 1830 P.s Hauptwerk, Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi (Bde. 1 u. 2, Lpz. 1839. Bd. 3, 1858), in dem er den Gefühlsenthusiasmus der Romantik mit der systemat. Arbeit u. der akrib. Detailforschung des Kunsthistorikers verbindet. Im Zusammenhang mit seiner Lehr- u. Sammeltätigkeit am Städelschen Institut, wo P. seit 1840 Inspektor war, entstand als sein gewichtigstes Werk Le peintregraveur, contenant l’histoire de la

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gravure sur bois, sur métal et au burin jusque vers la fin du XVIe siècle (6 Bde., Lpz. 1860–64). Weitere Werke: Kunstreise durch England u. Belgien [...]. Ffm. 1833. – Die christl. Kunst in Spanien. Lpz. 1853. Literatur: Adolph Cornill: J. D. P. In: Neujahrsbl. des Vereins für Gesch. u. Altertumskunde zu Ffm. Jg. 1864 u. 1865. – Wilhelm Waetzoldt: Dt. Kunsthistoriker. Bd. 2, Lpz. 1924, S. 14–29. – Maria Goltermann: J. D. P. Diss. Ffm. 1926. – Udo Kultermann: Gesch. der Kunstgesch. Wien/Düsseld. 1966, S. 155 ff. – Hildegard Bauereisen u. a.: Die Graph. Slg. im Städelschen Kunstinstitut unter J. D. P. Ffm. 1994 (Kat.). – Jürgen Schönwälder: Ideal u. Charakter. Untersuchungen zu Kunsttheorie u. Kunstwiss. um 1800. Mchn. 1995. Martin Unkel / Red.

Passional. – Verslegendar aus dem 13. Jh. Das im letzten Viertel des 13. Jh. entstandene, nahezu 110.000 Reimpaarverse umfassende P. stammt von einem anonymen Verfasser, der sich als Priester mit Predigterfahrung zu erkennen gibt u. im ostmitteldt. Raum zu lokalisieren ist. Sollte ihm, wovon die Forschung ausgeht, ebenfalls das voluminöse Väterbuch zuzuschreiben sein, kann er zu den arbeitsaktivsten Dichtern des dt. MA gezählt werden. Obwohl das P. die Legenden aller wichtigen Ordensgründer enthält, ergibt sich daraus kein eindeutiger Anhaltspunkt für eine Ordenszugehörigkeit des Verfassers. Das gilt auch für die Zugehörigkeit zum Deutschen Orden, die – wiewohl nicht ausgeschlossen – in der Forschung lange allzu selbstverständlich vorausgesetzt wurde, zumal die Nutzung des P. im Deutschen Orden in der Tat gesichert ist. Das P. stellt das älteste bekannte dt. Legendar dar u. ist als eines der erfolgreichsten literar. Großunternehmen des SpätMA zgl. bemerkenswert bewusst konzipiert. Es weist eine in der Legendarliteratur sonst nicht begegnende heilsgeschichtlich strukturierte Einteilung in drei Bücher auf: Buch I (etwa 19.000 Verse) erzählt vom Leben Jesu u. Mariens; nach dem Bericht von Mariae Himmelfahrt folgen 25 Marienmirakel u. ein Marienlob. Buch II (etwa 23.600 Verse) behandelt die Apostel u. andere zentrale Figuren des NT (etwa Magdalena). Buch III ist mit

66.400 Versen das umfangreichste u. bietet 75 Legenden von nachbibl. Heiligen in der Reihenfolge des Kirchenjahres. Epilog u. Gotteslob schließen das Werk ab. Aufgrund des enormen Gesamtumfangs der Bücher wurde insbes. Buch III meist in gesonderten Handschriften überliefert. Da das Werk bereits in der Mitte des 14. Jh. auf die Konkurrenz der neuen Prosalegendare stieß, brach um diese Zeit die beachtliche, über 100 Handschriften umfassende Überlieferung ab; sie ist im Wesentlichen durch Fragmente dokumentiert, deren Zahl sich aufgrund von Neufunden noch beständig vergrößert. Neben der Legenda aurea des Jacobus de Voragine als Hauptquelle hat der Verfasser auch eine Reihe zusätzl. Quellen benutzt, die bei Weitem noch nicht systematisch erfasst sind. Exemplarische Fallstudien zeigen, dass der Verfasser gezielt den Akzent auf einen inneren Mitvollzug des Geschehens lenkt u. dies auch durch den Einschub von (Schluss-) Gebeten betont, die keineswegs in schablonenhaft erstarrten Formeln bestehen. Dass im Gegenzug alles wegbleibt, was außerhalb des Erzählvorgangs steht oder diesen unterbricht (theolog. Erörterungen, Etymologien, quellenkrit. Bemerkungen, Daten oder Zitate anderer Autoren), darf daher nicht als Ausdruck bloßer Simplifizierung missverstanden werden. Es gehört vielmehr zu den auffälligsten Merkmalen des P., dass es trotz seines Umfangs u. des zu bewältigenden Quellenmaterials mit großem Bearbeitungsaufwand noch an Vermittlungsstrategien der volkssprachl. Einzellegenden des HochMA samt höf. Interferenzen anknüpft. Deuten schon die Überlieferungszahlen darauf hin, dass Zeitgenossen das erzählerische Geschick des Verfassers zu schätzen wussten, so zeigt sich dies auch an der weitverzweigten Wirkungsgeschichte des P. Abgesehen vom Einfluss auf eine Reihe geistl. Dichtungen bzw. Einzellegenden, die ihrerseits noch nicht systematisch erfasst sind, fanden umfangreiche Passagen des P. Aufnahme in die voluminöse Weltchronik-Kompilation Heinrichs von München u. von dort aus ebenfalls in Historienbibeln. Während das nur in drei Handschriften verbreitete Münchener Apostelbuch überwiegend auf Buch

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II zurückgeht, wurde Buch III, z.T. mit Le- mhd. P. In: MA im Labor. Hg. Michael Borgolte genden u. Exzerpten aus dem Buch der Mär- u. a. Bln. 2008. S. 134–153. Werner Williams-Krapp / Edith Feistner tyrer verbunden, im sog. Bamberger Legendar (das aus Nürnberg stammen dürfte) in Prosa aufgelöst, um dann in redigierter Form den Grundstock von Der Heiligen Leben zu bilden, Passow, Franz (Ludwig Karl Friedrich), das von Nürnberg aus zum bedeutendsten * 20.9.1786 Ludwigslust, † 11.3.1833 Großlegendar das SpätMA werden sollte. Die Breslau. – Altphilologe. Nürnberger Rezeption des P. ist bis ins 15. Jh. Der älteste Sohn eines Hofdiakons u. Prinhinein belegt. Noch Hans Folz verwendet es zenerziehers erhielt häusl. Unterricht, bis er als Quelle für ein Fastnachtspiel u. einen 1802 das Gymnasium in Gotha besuchte. Ab Reimpaarspruch. In der Forschung wurde das 1804 studierte er in Leipzig die klass. SpraP. aber trotz seiner kaum zu überschätzenden chen u. wurde 1807 durch Vermittlung Goehistor. Bedeutung »mehr gelobt als studiert« thes als Lehrer an das Weimarer Gymnasium (Gärtner). berufen. Zu dieser Zeit begann auch P.s puAusgaben: Karl August Hahn (Hg.): Das Alte P. blizist. Tätigkeit: Er edierte u. übersetzte Ffm. 1846 (Buch I u. II unvollst.). – Hans-Georg antike Schriftsteller u. verfasste im Laufe Richert (Hg.): Marienlegenden aus dem Alten P. seines Lebens eine Vielzahl von Schriften, Tüb. 1965. – Friedrich Karl Köpke (Hg.): Das P. überwiegend aus seinem Fachgebiet. 1810 Quedlinb./Lpz. 1852. Neudr. Amsterd. 1966 (Buch III). Die Ausg.n v. Hahn u. Köpke sind über Google- folgte er einem Ruf nach Jenkau bei Danzig, Buchsuche auch in digitalisierter Form zugänglich. wo er zweiter Direktor eines Erziehungsin[Eine Neued. v. Buch I u. II ist unter der Leitung stituts wurde, das 1814 aus finanziellen Martin J. Schuberts v. der Arbeitsstelle ›Deutsche Gründen aufgelöst wurde. P. ging nach BerTexte des MA‹ (DTM) der Berlin-Brandenburgi- lin, wurde promoviert u. 1815 zum o. Proschen Akademie der Wiss.en geplant.] fessor für Altphilologie in Breslau ernannt, Literatur: Friedrich Wilhelm: Dt. Legenden u. wo er mit großem Erfolg arbeitete. P. war Legendare. Lpz. 1907. – Karl Helm u. Walther Zi- Patriot u. engagierter Anhänger der Turnbeesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951. wegung, für die er sich auch publizistisch – Hans-Georg Richter: Wege u. Formen der P.- einsetzte: Turnziel. Turnfreunden und TurnfeinÜberlieferung. Tüb. 1978. – Kurt Gärtner: Zur den (Breslau 1818). Die daran anknüpfenden Überlieferungsgesch. des P.s. In: ZfdPh 104 (1985), öffentl. Auseinandersetzungen gipfelten S. 35–69. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986. – H.-G. 1821 in einer mehrwöchigen Haftstrafe P.s u. Richter: P. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). vergebl. Versuchen, ihn aus Breslau zu ent– Edgar Büttner: Fragmente eines Prosalegendars fernen. Sein Hauptwerk war die Bearbeitung von im Staatsarchiv Bamberg. In: ZfdA 119 (1990), S. 37–60. – Beatrice Kälin: Maria, muter der Johann Gottlob Schneiders griech. Wörterbarmherzekeit. Bern u. a. 1994. – Edith Feistner: buch, das in den 1820er Jahren mehrere Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA. Auflagen erlebte u. mit seiner vierten Auflage Wiesb. 1995. – Martin J. Schubert: Das P. u. der als P.s Handwörterbuch der griechischen Sprache (2 Deutsche Orden. Verbreitungs- u. TradierungsBde., Lpz. 1831) ein Begriff wurde. In einer analyse anläßlich der DTM-Neued. In: Deutschpostum erweiterten u. umgearbeiteten Fassprachige Lit. des MA im östl. Europa. Hg. Ralf G. Päsler u. Dietrich Schmidtke. Heidelb. 2006, sung war es das ganze 19. Jh. hindurch präS. 139–155. – E. Feistner: (Rück-)Blicke auf ein fa- sent (Neudr. Darmst. 2008). cettenreiches Heiligenleben. Die Legende der hl. Elisabeth v. Thüringen aus dem P. im Kontext der mittelalterl. Hagiographie. In: Theologie der Gegenwart 50 (2007), S. 105–116. – Andreas Hammer u. Stephanie Seidl: Die Entfremdung vom Eigenen. Narrative Wahrnehmungsmuster v. Heiligkeit im

Weitere Werke: Vermischte Schr.en. Hg. Wilhelm A. Passow. Lpz. 1843. – Mitverfasser: Vaterländ. Gedichte vom Jahre 1813. Königsb. 1813. – Grundzüge der Griech. u. Röm. Literaturgesch. Bln. 1816. Literatur: Albrecht Wachler (Hg.): F. P.s Leben u. Briefe. Einl. v. Ludwig Wachler. Breslau 1839 (Schriftenverz.). – Dietrich Reiner Quanz: Natio-

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nalitaet u. Humanitaet. Studien zur Paedagogik F. P.s (1786–1833). Diss. Köln 1970. Walter Olma

Pastior, Oskar, * 20.10.1927 Hermannstadt (Sibiu)/Rumänien, † 4.10.2006 Frankfurt/Main. – Dichter, Übersetzer, Zeichner.

Passy, Anton, * 31.3.1788 Wien, † 11.3. 1847 Wien; Grabstätte: ebd., Matzleinsdorfer Friedhof. – Verfasser geistlicher Lyrik, Publizist.

P. wuchs als ältestes von vier Kindern einer wohlsituierten, künstlerisch aufgeschlossenen Familie auf. Sein Vater wirkte nach einem Karlsruher Kunststudium als gymnasialer Kunsterzieher, machte sich aber auch als Kunstfotograf u. Filmer einen Namen. Nicht nur P.s Muttersprache war Deutsch, seine gesamte Sozialisation war es. Nach der evang. Volksschule besuchte er das humanist. Brukenthalgymnasium seiner Vaterstadt, aus dessen Abiturklasse er als knapp 17-Jähriger, wie die gesamte arbeitsfähige dt. Bevölkerung Rumäniens, im Jan. 1945 in sowjet. Arbeitslager (Kriwoj Rog, Gorlovka) deportiert wurde, wo er unter »extremem Hunger und fast totaler Fremdbestimmung« ein Dasein auf »zivilisatorischem Nullpunkt« fristete. Herta Müller hat in ihrem Roman Atemschaukel (2009), der auf vielen Gesprächen mit P. basiert, die Jahre seiner Zwangsarbeit in einer Koksfabrik u. Ziegelei als exemplar. Schicksal eines Rumäniendeutschen im Gulag geschildert. Ende Nov. 1949 heimgekehrt, schlug P. sich als Gelegenheitsarbeiter (»Kistennagler, Betonmixer, Wohnbaukostenvoranschlagkalkulator«) durch, wurde dann für weitere drei Jahre zum rumän. Arbeitsmilitär eingezogen u. konnte nach abgelegtem Fernabitur (1952) erst zwischen 1955 u. 1960 in Bukarest Germanistik studieren (Diplomarbeit über Thomas Manns Zauberberg). Anschließend arbeitete er als Redakteur der deutschsprachigen Inlandssendungen des rumän. Rundfunks in Bukarest, kehrte 1968 von einer Wiener Studienreise nicht wieder nach Rumänien zurück u. ließ sich nach vorübergehendem Aufenthalt in München 1969 als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Ab diesem Zeitpunkt veröffentlichte er gut 30 eigene Bücher, einige weitere zus. mit Gleichstrebenden, produzierte Hörspiele u. Tonträger u. publizierte zahlreiche Übersetzungen. Er war Mitgl. der Europäischen Autorenvereinigung »Die Kogge« (seit 1974), des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie (1978), der Akademie der Künste Berlin (1984) u. der

Der Sohn eines Wiener Seidenhändlers u. Stadtrats studierte privat Theologie u. trat unter dem Einfluss Clemens Maria Hofbauers 1820 dem Redemptoristenorden bei; 1821 wurde er zum Priester geweiht (wobei Zacharias Werner die Primizpredigt hielt). P. stand sowohl dem Wiener Kreis um Friedrich Schlegel als auch der sog. Stroblkopfrunde um Brentano nahe u. gehörte bald zu den führenden Literaten der kath. Wiener Romantik, die sich 1819–1823 um die von P.s Bruder Georg redigierte Zeitschrift »Ölzweige« scharte. In der Folge wurde P. einer der populärsten Wiener Prediger. P.s literar. Tätigkeit war vielschichtig: Andachts- u. Gebetbücher, erbaul. u. kirchengeschichtl. Werke sowie Literatur im engeren Sinn, die allerdings konsequent im Dienst der Glaubensverkündigung steht. Die umfangreiche, großteils vertonte, geistl. Liedersammlung Orgeltöne (Wien 1830. 21843) folgt im Aufbau dem kath. Katechismus u. verwendet den lyr. Formenschatz der österr. Aufklärungsliteratur (balladeske Lieder, stroph. Vierzeiler, Epigramme, Sonette) zur Belehrung im Sinn eines restaurativen Katholizismus. Die umfangreiche Novelle Zeitspiegel (Wien 1835) folgt in ihrer durch Räsonnement u. Didaktik geprägten Struktur gleichfalls aufklärerischen Mustern; Kritik an der zeitgenöss. Literatur, insbes. an Goethe, verweist schon auf P.s Schüler Sebastian Brunner. Weiteres Werk: Des Jünglings Glaube, Hoffnung u. Liebe. Ein Gedicht in drei Büchern. Mit einem einleitenden Gedichte v. Friedrich Schlegel. Wien 1821. Literatur: Wurzbach 21. – Herbert Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982. – Gerhard Sauder: Zur Wirkungsgesch. Hölderlins. A. v. P. (1864) u. Ludwig Harig (1965). In: HölderlinJb 24 (1984/85), S. 366–370. Wynfrid Kriegleder

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Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt (1989), des Literarischen Colloquiums Berlin (1987), seit 1993 der internat. Autorenvereinigung OULIPO u. des PEN, hatte mehrere Poetikprofessuren inne (1985 Erlangen, 1992 Kassel, 1994 Frankfurt/M., 1995 Wien, 2004 Kiel), erhielt zahlreiche Literaturpreise (darunter Hugo-Ball-Preis, 1990; Ernst-Meister-Preis, 1993; Horst-Bienek-Preis, 1997; Walter-Hasenclever-Preis, 2000; Peter-Huchel-Preis, 2001; Erich-FriedPreis, 2002; Georg-Büchner-Preis, postum 2006) u. wurde 2001 von der Universität Hermannstadt mit der Ehrendoktorwürde u. einem zus. mit dem Literaturhaus Berlin organisierten internat. Poesiefestival »Oskar Pastior« geehrt. P.s erste Veröffentlichungen in der Bukarester Tageszeitung »Neuer Weg« u. in der dortigen Zeitschrift »Neue Literatur« fielen in die Zeit des kleinen ideolog. Tauwetters nach Stalins Tod, doch als dieses infolge des Ungarnaufstandes beendet wurde, gehörte P. zu den durch polit. Willkürprozesse unmittelbar Bedrohten. Das ist bei der Wertung seiner ersten Buchpublikationen (Offne Worte. Bukarest 1964. Gedichte. Bukarest 1965) zu berücksichtigen, in denen traditionelle Texte im Vordergrund stehen, die sich teilweise dem Diktat der Zensur u. der Doktrin des sog. sozialist. Realismus fügten. Die Wende hin zu einem entfesselten Spiel von Imagination u. experimentellen Sprechweisen kündigte sich 1967 an, vollzog sich in dem 1968 zum Druck vorbereiteten, wegen P.s Verbleib im Westen nicht erschienenen Band namenaufgeben u. setzte sich im ersten in Deutschland erschienenen Band Vom Sichersten ins Tausendste (Ffm. 1969) fort. In dessen vorwiegend freien Rhythmen lässt P. die Silben von Wort zu Wort tanzen u. verschiebt die Wörter kunstvoll-regelwidrig auf den Gleisen der Satzpläne, bis Bezeichnetes u. Bezeichnendes in teilverdunkelter Rede hintersinnig auseinanderfallen. Der Sänger solcher Lieder aber scharwenzelt verstört durch das Ramasuri eines beschädigten Raums, u. es folgt ihm »kein Ratz«: Sein Wort hat die Ursprünglichkeit beschwörender u. bannender Macht verloren.

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Diese Sprache, die die Dinge nicht mehr bei ihrem Namen rufen kann, führt in den folgenden Bänden zu reflektorisch gebrochenen Schreibweisen. Während die Beschreibungen nichtgeschriebener Gedichte in den Gedichtgedichten (Darmst. u. a. 1973) Fragen der Schreib- u. Rezeptionsbedingungen zu einer aufmüpfigen polyphonen Poetik bündeln, die die aufgestauten Bukarester »Form-Inhalt-Realismus-usw-Fruste« u. wohl auch das ideologiebesetzte Berliner Pathos der Entstehungsjahre ad absurdum führt, findet in Höricht (Lichtenberg 1975) die Vertextung von Auditivem zwar kryptischer, doch ästhetisch ebenso paradox »geknickt« statt. Diese klangl. Litaneien, schrieb P., stellten »quasi una lingua hyppo-acustica« dar, was ihr Sprechen, durch die Schreibabweichung doppelsinnig, als eine Art Pferdesprache kennzeichnet, die sich von normgerechter Rede ähnlich unterscheidet wie die modalen Kirchentonarten vom Dur-Moll-System. In widerborstigen Folgen von Sätzen, »die nicht folgen«, u. in sophist. Argumentationsverläufen wird »final-kausalen Prophetien« begegnet, während Fleischeslust (Lichtenberg 1976) in üppigem Küchen- u. Speisenvokabular ideologieträchtigen Abstraktionen die »Leibhaftigkeit« von Sprache entgegenhält. Schon in seinem ersten in Deutschland publizierten Band hatte P. Ränder des Standarddeutschen aktiviert. Im Krimgotischen Fächer (Erlangen 1978. Verändert Mchn. 1985) mischte er dieses mit Beständen seiner Sprachbiografie u. schuf durch zusätzl. »Hautverschiebungen« auf der sprachl. Epidermis beschwörende Klanghöfe, die unmittelbar ansprechen wie Kinderreime oder Zaubersprüche. Punktuell realisieren sich zwar Verständnisinseln polysemer Bezüglichkeiten im Material, doch Sprache verweigert sich hier weitgehend kognitiven Abbildfunktionen u. kommunikativer Indienstnahme. P., der Texte in gebundener u. ungebundener Rede schrieb u. beide »Gedichte« oder lieber »Versuchsanordnungen« nannte, sprach im Rückblick von verschiedenen »Projekten«, die seine sprachexperimentellen Verfahren durchlaufen hätten. Während diese sich anfangs ihre Spielregeln fantasievoll-

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unorthodox wählten, ordnete er die späteren Projekte strengen Einschränkungsregeln unter, die »vorgefunden, vorexerziert und vorbelastet« sind u. im Projekt autopoetisch wirksam werden sollen. Eine erste Gruppe von Projekten leitet die Gestaltungsgrundsätze vom Merkmalkanon überlieferter normativer Gedichtformen her. So unternehmen es die sonetburger (Bln. 1983), das Bau- u. Reimschema des Sonetts in der Materialität ihrer Texte pur in Erscheinung treten zu lassen, ohne »Innewohnlichkeiten« u. semant. »Hintergrundrauschen« des Sprachmaterials. Folglich weichen diese »lieder ohne sorte« so radikal wie keine anderen von der natürl. Sprache ab u. lassen die Muster in nicht semantisierbaren u. syntaktisch unbezogenen Lettern- oder Wortblöcken aufscheinen. Das ornamentale Meisterstück wetscherahnenclub etwa wiederholt permutierend je fünf Buchstaben pro Zeile (assa saas blu ulb) so, dass jeder »Vers« für sich Zeilenbau u. Reimschema eines ganzen Sonetts abbildet u. der Text einen Sonettkranz darstellt. Das Lesen solch materialer Arrangements bleibt auf Nachvollzug der Machart beschränkt. In diesem Fall allerdings legt der Titel mit russ. »Abend« u. dt. »ahnen« oder »Ahnen« unerwartet beredt Schlüsse auf den Hintersinn des ganzen Unternehmens nahe, indem er die Sonetburger als kulturgeschichtlich spätzeitl. Fastfood-Angebot ehemals üppiger poet. Kost kennzeichnet. An den Palindromtexten (Kopfnuss Januskopf. Mchn. u. a. 1990) fesselte P. der Hader ihrer rückläufigen Lesbarkeit mit scheinbarer Irreversibilität u. Linearität teleolog. Denkens u. Sprechens, an den »offen sarkophagen« Gedichtformen der Sestine (Eine kleine Kunstmaschine. Mchn. u. a. 1994), der Villanella u. des Pantums (Villanella & Pantum. Mchn. u. a. 2000) offenbar das System formalisierter Wiederholungsstrukturen, die ihm Gelegenheit boten, die kontextuell bedingte Nichtidentität des scheinbar Identischen sichtbar zu machen. In allen auf kanon. Formen bezogenen Projekten hypertrophiert P. die Zwänge durch Formpotenzierungen (Sonettkranz im Sonett, Palindrome im Palindrom, Sestinen in der Sestine, Pantums im Pantum) oder durch verfahrenstechn. Modi-

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fikation der »Blaupausen« selbst u. deutet diese Überdetermination als subversiven Freiheitsgewinn »an den Normen entlang gegen die Normen«. Grundsätzlich aber boten die vorprogrammiert ablaufenden »generativen Maschinchen« Gelegenheit, die poet. Rede zu entsubjektivieren u. schlossen die Annahme, »man hätte dabei was zu sagen« von vornherein aus. In einer zweiten Gruppe von Projekten sind es textbildende Verfahrenstechniken, die den Regelcode abgeben. P.s Anagramme, wie sie von den Anagrammgedichten (Mchn. 1985) über Urologe kuesst Nabelstrang (Augsb. 1991) bis zu den späten Baudelaire-Unternehmungen häufiger auftreten, setzen die überlieferte Spielregel unterschiedlich um. Während kurze, zumal Ein-Wort-Vorgaben eher nur den Permutationsvorgang veranschaulichen, bauen sich die auf längere Titelvorlagen ausgewählter Kalendergeschichten Hebels bezogenen Anagramme syntaktisch auf u. spannen ein Netz phonetischer Repliken u. synonymischer Bedeutungsanklänge zu den Vorgaben. Doch »jeder Titel ein Eigenname« lautet im Nachwort der Hinweis, dass es im »Tamtam-Ludismus« dieser spielerischen Maschinenstürmereien zwar um nennende, nicht aber um darstellerische Funktionen des Wortes geht u. folglich »die Quote an Aushub, die in Bedeutsamkeit reicht« zufällig u. gering bleibt. Demgegenüber legitimieren sich die in Feiggehege (Bln. 1991) gesammelten Häufungs- u. Listengedichte aus der Hoffnung, dass sich im Text Benachbartes oder aufeinander Bezogenes gegenseitig einfärbt, ummünzt, ergänzt oder aufhebt. Die kombinator. Verschnürung von Lauten u. Morphemen, von Wortteilen u. Wörtern, selbst von Satzbauelementen oder Leerstellen zu einfachen oder mehrfachen, auf- oder absteigenden, gegenläufigen u. zum Flächenmuster expandierenden Reihenbildungen führt zu assoziativen oder kontrastiven semant. Musterbildungen, die als »Zungenträger« zum Nachvollzug auffordern oder augenzwinkernd zur Rückbildung verführen. Wie im Titelgedicht, wo 136 echte oder verfremdete, ausgeführte oder als Möglichkeit offen gelassene Zusammensetzungsbelege mit –feig–

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dazu verleiten, die gleiche Reihenbildung mit –frei– zu versuchen oder sich zumindest die Folgen ihrer Austauschbarkeit zu vergegenwärtigen. Auf die Art der »Verschnürung« setzen auch die Selbstlautlisten der Vokalisen (Vokalisen & Gimpelstifte. Mchn. u. a. 1992), doch wird darin, wie schon die Namensübertragung von der musikal. Gattung der Lieder ohne Worte auf literar. Texte nahe legt, das »Ohrenbeben« über mögl. Sinnanklänge gesetzt. Die »ganz unorakelhafte« Machart war es, die P. an den von Michelle Grangaud angeregten Gewichteten Gedichten (Wien-Hombroich 2006) reizte. Die Spielregel liefert ein als numerische Summe aus dem Stellenwert der Buchstaben im Alphabet chiffriertes Stück Text, das im Verfahren buchstabenmäßig frei abgewandelt werden kann, sofern die entstehenden Zeilen den Zahlenwert der Vorgabe einhalten. Verglichen mit den Anagrammen gewährt die Textform etwas mehr Freiraum, doch sie fungiere arbiträr »wie ein eigenname«, hat P. geschrieben u. seine Danksagung für den Peter-Huchel-Preis nach diesem Prinzip gewichtet, »um nicht bloß über sie zu räsonieren«. Eine dritte Gruppe von Projekten bezieht ihre textgenerative Einschränkungsregel von der umtextenden Auseinandersetzung mit fremden Texten. Im textl. Mikrobereich sind es phraseolog. Festfügungen wie Redensarten, geflügelte Worte oder Zitate, die angespielt oder einzitiert werden, um »abstände & knoten« – Abstände zur Vorlage, Schnittstellen im neuen Textprozess – zu bilden. Im Bereich von Ganztexten kreuzt P. in den Kontaminationen den Wortschatz eines Textes in die Syntax eines anderen ein oder dichtet gemeinsam mit Wiel Kusters Vorlagen zweisprachig um. Erstes Buchprojekt des intertextuellen Verfahrens stellten die 33 Gedichte (Mchn. u. a. 1983) dar, wo P. die Sonettform Petrarcas prosaisch auflöst, die Metaphern »abrubbelt« u. deren emblematische oder pathet. Aura »aufmüpfig« u. »smart« verfremdet, denn »vom Abendland kommt eine steife Brise – sicher und witzlos gehen Dinge vor sich«. Von den 366 in ihrer Abfolge strukturierten

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Texten des Italieners hat er die 33 ausgewählten nach eigenem Bedarf so umgruppiert, dass sich zwischen ihnen neue kontextuelle Bezüglichkeiten herstellen u. eine eigene, oft verdunkelte u. sich entziehende Bildergrammatik entsteht, in der sich Reflexionen über das Verhältnis von Poesie, Konsum u. Komfort, von Denken u. Sprache, von Benennen u. materieller »Einfleischung« des Wortes niederschlagen, doch auch bittere Betrachtungen über Fährnisse menschl. Kondition u. die Unverlässlichkeit der eigenen »vier Wände« werden einbezogen: »... ja, mein Bett; wie oft (ist es wieder so weit?) hast du mich in die Stille deportiert, fallen lassen, Auffanglager«. Zu Gast bei fremden Texten ist P. auch in der Gimpelschneise in die Winterreise-Texte von Wilhelm Müller (Weil am Rhein u. a. 1997), wo er der empfindsamen Sprache mit eher spielerischer Transformation begegnet, während er in dem von Klaus Ramm herausgegebenen Nachlassband Speckturm (Basel 2007) regelstarre Umtextungen Baudelaires mit vorgabenfrei gestalteten Bekenntnistexten in Spannung treten lässt. Früh erfahrener u. noch nicht überwundener Formalismus- u. Spiellust-Ächtung setzt der Band o du roher iasmin (Weil am Rhein u. a. 2002) die ganze Bandbreite textproduktiver Lesarten u. materialtransformatorischer Verfahrensstrategien entgegen, wobei selbst schon umgeformte Texte weiteren intertextuellen Eingriffen unterliegen. Als Anagramm, Akronym, Sestine oder Palindrom, als Vokalise, Vertikalise oder Buchstabengewichtung, als lautliche, vokalverschiebende oder oulipot. Oberflächenübersetzung, in semant. oder syntakt. Listen »aufgeriffelt« oder zu lettr. »Zopfmodulen« verschränkt, bilden die 43 »Intonationen« zu Baudelaires Harmonie du soir eine Art Summe u. Organon experimenteller Poesie. Poetologische Reflexionen u. Erörterungen eigener Verfahren, oft kryptisch, doch zielgenau formuliert, haben das gesamte Schaffen P.s begleitet. Markante frühe Stücke hatte Klaus Ramm 1987 in dem Lesebuch Jalousien aufgemacht (Mchn. u. a.) abgedruckt u. damit der P.-Rezeption neue Qualität verliehen; seit 1983 hat P. seinen Büchern regelmäßig

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Nachworte, seit 1994 auch Anmerkungen beigegeben, umfassend dargelegt hat er seine Ansichten in den Frankfurter (Das Unding an sich. Ffm. 1994) u. Wiener (Vom Umgang in Texten. In: manuskripte 128, 1995) Poetikvorlesungen. P., der sich als Dichter zur »Familie der Wörtlichnehmer« bekennt, stellt seine poetolog. Konzepte als Konsequenz von Sprachproblemen dar, doch die sprachlich ausgelösten Einzelfragen (Namensmagie, Abstraktion, Teleologie, Kausalität, »Unschärferelationen« reversibler Subjekt-Objekt-Relationen, paratakt. oder hierarch. Urteilscodes u. Ä.) fließen in der Erörterung, ohne ein strenges System zu bilden, zu einem in sich stimmigen Anschauungskomplex zusammen, der seine Koordinaten aus einer erkenntnis- u. systemtheoretisch orientierten Sprachphilosophie bezieht u. sein Kraftzentrum in einer amimet. Textoption wortetablierter eigener ästhet. Wirklichkeiten findet. Gleichwohl ist die Sprache seiner Texte nicht nonkommunikativ, sondern anders kommunikativ, denn diese wollen »mit Händen und Füßen« sprechen, d.h. durch die einmalige Organisation des Sprachmaterials. Als Übersetzer hat P. in Rumänien erst aufgegriffen, was Verlage forderten, u. sich dann führenden Dichtern zugewandt. In Berlin von Peter Urban für ChlebnikovÜbersetzungen herangezogen, an denen auch Celan, Enzensberger, Jandl, Mayröcker, Mon, Rühm beteiligt waren, wurde die Arbeit für P. zur Herausforderung, sich der rumänischen (Tristan Tzara, Urmuz, Marin Sorescu, Gellu Naum) u. der westeurop. Avantgarde anzunehmen, wo Übersetzen in hohem Maß einen »Sonderfall des Selberschreibens« im Sinn einer Neuerfindung des Textes mit Mitteln der Zielsprache darstellt, wie das mustergültig in Mein Chlebnikov (Basel u. a. 2003) oder in Reread Another (2004) von Gertrude Stein zu beobachten ist. Weitere Werke: Beiss nicht in die Birne. 1971 (Hörsp.). – An die neue Aubergine. Zeichen u. Plunder. Bln. 1976. – Ein Tangopoem u. andere Texte. Bln. 1978. – Wechselbalg. Spenge 1980 (G.e). – Ingwer u. Jedoch. Texte aus diversem Anlass. Gött. 1985. – Lesungen mit Tinnitus. Mchn. u. a. 1986 (G.e). – Mordnilapsuspalindrom. 1988

Pastior (Hörsp.). – Das Hören des Genitivs. Mchn. u. a. 1997 (G.e). – Übersetzungen: Marin Sorescu: Das Flussbett. 1974 (Schausp.). – Ders.: Noah, ich will dir was sagen. Ffm. 1975 (G.e). – Urmuz: Das gesamte Werk. Mchn. 1976. – Tristan Tzara: Die frühen Gedichte. Mchn. 1984. – M. Sorescu: Abendrot Nr. 15. Mchn. 1985 (G.e). – Gellu Naum: Rede auf dem Bahndamm an die Steine (mit E. Wichner). Zürich 1998. – O. P. entdeckt Gellu Naum. Ausgew. Gedichte. Hbg. 2001. – G. Naum: Pohesie. Sämtl. Gedichte. Hg. E. Wichner. Basel u. a. 2006. Werkausgabe: hg. v. Ernest Wichner. Bde. 1–4, Mchn./Wien 2003–08. Literatur: FS O. P. Tapir 1987. – Akzente 5 (1997). – die horen 207 (2002); 224 (2006). – Wolfgang Hädecke: O. P. ›Höricht‹ u. ›Fleischeslust‹. In: LuK 132 (1979), S. 119 f. – Harald Hartung: Das Rauschen der Sprache im Exil. In: Merkur 7 (1982), S. 658–666. Erw. in: Ders.: Masken u. Stimmen. Figuren der modernen Lyrik. Mchn. 1996, S. 222–233. – Wolfgang Hildesheimer: Sublimer Unernst. In: Frankfurter Anth. 8 (1984). – Ludwig Harig: Der Mensch mit dem geflügelten Ohr. O. P. u. seine Hör-Poesie. In: Hörspielmacher. Autorenporträts u. Ess.s. Hg. K. Schöning. Königst./Ts. 1983, S. 257–265. – Jörg Drews: Kleine Rede auf O. P. Laudatio Ernst-Meister-Preis. In: Schreibh. 28 (1986), S. 199–204. – Wolfgang Rath: Wo der große Wosinn in den Kleinen Wannsinn. Zu Ideogrammen u. Texten v. O. P. In: Sprache im techn. Zeitalter 110 (1989), S. 179–187. – Christian Scholz: Untersuchungen zur Gesch. u. Typologie der Lautpoesie. Obermichelbach 1989, Tl. 1: Darstellung, S. 279–283; Tl. 2: Bibliogr., S. 115–118; Tl. 3: Diskographie, S. 90 f. – Jürgen H. Koepp: Die Wörter u. das Lesen. Zur Hermeneutik O. P.s. Bielef. 1990. – François Bondy: Laudatio auf O. P. [Hugo-Ball-Preis]. In: Akzente 1 (1991). – Edith Konradt: O. P. Gespräch [mit Tonkassette]. Köln 1993. – Heiner Böhncke (Hg.): Anstiftung zur Poesie. Theorie u. Praxis v. Oulipo. Bremen 1993. – Klaus Ramm: Zehrt das Ohr vom Ohr das zehrt. Ein Radioess. über die verschlungene Akustik in der Poesie O. P.s. In: Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken u. Laudationes zur deutschsprachigen Lit. 1960–94. Hg. J. Drews. Bielef. 1994, S. 73–96. – Burkhard Tewes: Namenaufgeben. Das Wort in zeitgenöss. Lyrik am Beispiel v. Texten O. P.s. Essen 1994. – Renate Kühn: Das Rosenbaertlein-Experiment. Studien zum Anagramm. Bielef. 1994. – Stefan Sienerth: Meine Bockigkeit, mich skrupulös als Sprache zu verhalten. Gespräch. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 4 (1996), S. 255–264. – Michael

Pastor Lentz: Interview mit O. P. In: Ders.: Lautpoesie / -musik nach 1945. Bd. 2, Wien 1996, S. 1089–1096. – Karl Riha: In der Tat: ein höchst merkwürdiges Stück. In: W. Hinck: Gedichte u. Interpr.en der Gegenwart. Bd. 2, Stgt. 1997, S. 167–176. – R. Kühn: Der poet. Imperativ. Interpr.en experimenteller Lyrik. Bielef. 1997. – J. Drews: Laudatio auf O. P. [Horst-Bienek-Preis]. In: Bayer. Akademie der Schönen Künste. Jb. 12,2 (1998), S. 648–660. – Michael Markel: ›Anziklapedia Transsylvanica‹: Transilvanismen in den Texten O. P.s [Stand 1998]. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. Peter Motzan. Mchn. 1999, S. 277–309. – Sibylle Cramer: Laudatio zur Verleihung des Preises für Europ. Poesie der Stadt Münster 1999. Gellu Naum u. O. P. In: manuskripte 146 (1999), S. 129–131. – Jacques Lajarrige: Oulipot. Schreibregel als Kontinuitätsfaktor in der Lyrik O. P.s. In: Vom Gedicht zum Zyklus. Vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen u. zeitgenöss. Lyrik. Hg. ders. Innsbr. u. a. 2000, S. 285–307. – E. Wichner: ›Was als Gedanke in der Mitte zu wachsen anfängt...‹. Laudatio Peter-Huchel-Preis. In: die horen 207 (2002), S. 97–103. – M. Markel: Wie liest man O. P.s ›Hunnenlatein‹? In: Quo vadis Romania? 24 (2004), S. 14–23. – J. Lajarrige: Lecture génétique d’un poème d’O. P.: la traduction du Rime CXXXII de Pétrarque. Ebd., S. 24–37. – Grazziella Predoiu: Sinn-Freiheit u. Sinn-Anarchie. Zum Werk O. P.s. Ffm. 2004. – E. Wichner: Gesch. u. Gesch.n. Mit Herta Müller u. O. P. auf Recherche-Reise in der Ukraine. In: die horen 219 (2005). – E. Konradt: Der Quantensprung der dt. Poesie. O. P. in memoriam. In: Spiegelungen 4 (2006), S. 35–42. – Friedrich W. Block: O. P. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. Peter Geist. Bln. 2006, S. 451–459. – Christina Weiss: Pastiorbüchner. Laudatio auf O. P. In: Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung Jb. 2006 (2007), S. 192–200. – Martin A. Hainz: Pastior a posteriori. Poetik, Sprach(en) u. (Binnen-)Übers., v. a. im Werk O. P.s. In: Spiegelungen 4 (2009), S. 350–358. – Horst Schuller: Dichter verstört Zöllner. In: Ztschr. für Siebenbürg. Landeskunde 32 (2009), H. 1, S. 30–45 (mit Verz. der Übers.en aus dem Rumänischen). Michael Markel

Pastor, Ludwig Frhr. von (Camperfelden), * 31.1.1854 Aachen, † 30.9.1928 Innsbruck. – Katholischer Kirchenhistoriker. Der Sohn einer alteingesessenen Aachener Kaufmannsfamilie fasste unter dem Einfluss seines Gymnasiallehrers Johannes Janssen u.

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nach der Lektüre von Leopold Rankes Geschichte der Päpste den Entschluss, Kirchenhistoriker zu werden. Noch während der in Löwen, Bonn, Berlin – bei Georg Waitz –, Wien u. Graz verbrachten Studienzeit begann P. in Rom zu forschen. Er promovierte 1878 in Graz mit dem ersten Teil des Werks Die kirchlichen Reunionsbestrebungen während der Regierung Karls V. aus den Quellen dargestellt (Freib. i. Br. 1879). Eine an Papst Leo XIII. gerichtete Denkschrift verschaffte ihm 1879 die Erlaubnis, das bisher unzugängl. vatikanische Archiv zu benutzen, das schließlich 1881 auch dank seines Einsatzes allg. für die Forschung geöffnet wurde. Von 1886 an war P. Extraordinarius, von 1887 an o. Prof. der Geschichte in Innsbruck. 1901 wurde er zum Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom berufen, 1921 zum Gesandten Österreichs beim Hl. Stuhl ernannt. P.s Hauptwerk ist die, seine 50-jährige kontinuierl. archival. Forschung dokumentierende, 16-bändige Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters (Freib. i. Br. 1886 bis 1933. 8. bis 13. Aufl. 1956–61). Es ist »das ausführlichste Kirchengeschichtswerk des letzten Jahrhunderts« (Hubert Jedin) u. wurde ins Französische, Italienische, Englische u. Spanische übersetzt. Weitere Werke: Johannes Janssen 1829–91. Freib. i. Br. 1892. – August Reichensperger 1808–95. 2 Bde., Freib. i. Br. 1899. – Leben des Freiherrn Max v. Gagern 1810–89. Mchn. 1912. – Conrad v. Hötzendorf. Freib. i. Br. 1916. – Die Stadt Rom zu Ende der Renaissance. Freib. i. Br. 1916. 6 1925. – Charakterbilder kath. Reformatoren des XVI. Jh. Freib. i. Br. 1924. Mikrofiche Egelsbach u. a. 1994. – L. v. P. In: Die Geschichtswiss. in Selbstdarstellungen. Bd. 2, Lpz. 1926, S. 169–198 (Autobiogr.). – Tagebücher – Briefe – Erinnerungen. Heidelb. 1950. – L. v. P.s Briefw. mit Franz Xaver Kraus. In: Rhein. Vierteljahrsbl. 19 (1954), S. 191–233. Literatur: Ignaz Philipp Dengel: P. In: Dt. Biogr. Jb. 10 (1928), S. 207–219. – Walter Goetz: L. P. In: Ders.: Historiker in meiner Zeit. Köln 1957, S. 232–245. – Raoul Manselli: L. v. P. Der Historiker der Päpste. In: Röm. histor. Mitt.en 21 (1979), S. 111–126. – Thomas Brechenmacher: P. In: Bautz (Lit.). – Alfred A. Strnad: L. P. In: TRE. Peter Aufgebauer / Red.

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Pastorius, Melchior Adam, * 21. (oder 22.) 9.1624 Erfurt, † 4.2.1702 Nürnberg; Grabstätte: ebd., St. Johannes Friedhof. – Jurist, Autobiograf, Lyriker. P.’ Vater Martin, Jurist im Dienst des Erzbischofs von Mainz, starb bereits 1631. Nach Abschluss der Schulausbildung am Erfurter Jesuitenkolleg beeinflusste sein Bruder Johann Augustin, der seit 1631 in Rom als Apostolischer Protonotar die Interessen des Erzbischofs von Trier vertrat, P.’ Werdegang entscheidend. In Würzburg nahm er 1643 das Studium der Philosophie auf. Schon im Mai 1644 begab er sich, ausgestattet mit einem Stipendium des Fürstbischofs von Würzburg, Johann Philipp von Schönborn, nach Rom, um Theologie zu studieren. Dort leistete er in dem von Jesuiten geleiteten dt. Priesterseminar nur das Noviziat ab. Danach begann er ein von Reisen unterbrochenes Jurastudium an der Universität Rom, wo er 1648 zum Dr. utriusque iuris promoviert wurde. Als Mitarbeiter u. zeitweiliger Vertreter seines Bruders begann P. seine berufl. Laufbahn. Nach weiteren Reisen u. a. nach Paris trat er 1649 in den Dienst Graf Georg Friedrichs von Limpurg in Sommerhausen u. konvertierte mit diesem am 25.12.1649 zum Luthertum. 1659 wurde er in den Rat der Reichsstadt Windsheim gewählt. 1670–1696 war er Bürgermeister der Stadt, ab 1692 auch Oberrichter. Religiöse u. polit. Streitigkeiten veranlassten ihn 1696, nach Nürnberg überzusiedeln. P.’ zu Lebzeiten erschienene Schriften zeugen von seinem histor. Interesse. Römischer Adler (Ffm. 1657) ist eine Darstellung dt. Kaiserkrönungen; die Kurtze Beschreibung des H. R. Reichs Stadt Windsheim (Nürnb. 1692) u. die im Selbstverlag erschienene Franconia rediviva. Das ist: Des hochlöblichen Fränckischen Craises so wohl genealogische, als historische Beschreibung (Nürnb. 1702) sind Beiträge zur Geschichte seiner Wahlheimat. Aus P.’ dreibändigem Nachlass (über 1000 Seiten) verdienen seine Reisebeschreibungen (Itinerarium et vitae curriculus) sowie eine Anzahl kürzerer Notizen Beachtung. Sie gehören zu den ausführlichsten Selbstzeugnissen aus dem 17. Jh. Das Itinerarium, das sich auf frühe Aufzeichnungen stützt, entstand 1692.

Pastorius

Neben einer Aufzählung von Sehenswürdigkeiten, Anekdoten u. Kuriosa enthält es viele, wenn auch oft unzutreffende histor. Angaben. Auszüge daraus sowie Proben seiner dt. u. lat. Gedichte aus dem Prognosticon sive calendarium perpetuum (1699) u. dem Liber intimissimus omnium (1697–1701) wurden 1968 erstmalig gedruckt. In seinen Gedichten ist neben der Wirkung von Opitz der Einfluss der Nürnberger spürbar. Wohl aus Lokalpatriotismus oder durch unwillkürl. Überschätzung hat man den mäßig begabten Dichter etwa gleichrangig neben Fleming u. Dach stellen wollen. Durch seinen Sohn aus erster Ehe, Franz Daniel, den Gründer der ersten dt. Siedlung in Nordamerika, Germantown, gelangte der Nachlass von P. in den Besitz der Historical Society of Pennsylvania u. der University of Pennsylvania. Weitere Werke: Delitiae pastorianae sive soliloquia [...]. Ffm. 1681. – Philosophia christiana [...]. Ffm. 1681. – Institutio christiana hominis interni [...]. Ffm. 1682. – Fasciculus rythmorum spiritualium [...]. Windsheim 1689. Ausgaben: Des M. A. P. [...] Leben u. Reisebeschreibungen [...]. Hg. Albert R. Schmitt. Mchn. 1968. – Kurtze Beschreibung des H. R. Reichs Stadt Windsheim (1692). Nachdr. mit Einl. v. Alfred Estermann. Mchn. 1980. – Umständige geograph. Beschreibung der zu allerletzt erfundenen Provintz Pensylvaniae [...]. Ffm. 1700. Nachdr. Darmst. 2000. Literatur: Bibliografien: Estermann 2001 (s. u.), S. 205–220. – VD 17. – Weitere Titel: Marion Dexter Learned: The Life of Francis Daniel P. [...]. Philadelphia 1908. – Alfred Roth: Bürgermeister P. aus der Reichsstadt Windsheim findet zum Pietismus. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 51 (1982), S. 106–110. – Werner Wilhelm Schnabel: M. A. P. [...]. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 15, Neustadt/ Aisch 1993, S. 107–134. – Dietrich Blaufuß: M. A. P. [...] u. Franz Daniel P. [...]. Frühe Beispiele des Wandels zwischen den Konfessionen (zuerst 1986/ 1997). In: Ders.: Korrespondierender Pietismus [...]. Hg. Wolfgang Sommer u. a. Lpz. 2003, S. 211–229. – A. Estermann: ›Bibliotheca universalissima‹ oder das ›Materialische Kloster‹. M. A. P. (1624–1702), seine Veröffentlichungen u. Hss. [...]. In: AGB 55 (2001), S. 157–222. – Carlheinz Gräter: ›Ein Calender ist dein Leben ...‹. Der Reichsstadtregent u. Barockpoet M. A. P. In: Frankenland 55 (2003), S. 468 f. Ulrich Maché / Red.

Pataki

Pataki, Heidi, * 2.11.1940 Wien, † 25.4. 2006 Wien. – Journalistin, Lyrikerin, Essayistin u. Übersetzerin. In Wien aufgewachsen, studierte P. an der dortigen Universität Publizistik u. Kunstgeschichte u. lebte u. wirkte – z.T. von ihrem Nebenwohnsitz im Weinviertel/Niederösterreich aus – in ihrer Heimatstadt. Von 1970 bis 1980 war P. Redakteurin der Monatszeitschrift »Neues Forum«, in der regelmäßig kultur- u. literaturkrit. Beiträge von ihr erschienen. Von 1981 bis 1983 arbeitete sie als Redakteurin der Wiener »FilmSchrift«. P. war mehrere Jahre beim Österreichischen Rundfunk in der Abteilung »Kulturelles Wort« tätig u. Mitarbeiterin beim Hessischen Rundfunk, beim Sender Freies Berlin sowie bei der Tageszeitung »Die Presse« u. der Zeitschrift »Das Jüdische Echo«. Mit Gustav Ernst, Peter Henisch, Michael Scharang u. a. begründete sie 1971 den Arbeitskreis österreichischer Literaturproduzenten, dem u. a. auch Friederike Mayröcker, Ernst Jandl u. Gerhard Rühm angehörten. 1973 zählte sie zu den Gründungsmitgliedern der Grazer Autorenversammlung (GAV), deren Präsidentin sie von 1991 bis zu ihrem Tod 2006 war. Als Mitgl. der IG Autoren setzte sie sich für die Rechte ihrer Kolleginnen u. Kollegen ein, wirkte mehrere Jahre im Vorstand der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien u. gehörte der Wiener Simone de Beauvoir-Gesellschaft an. Neben ihrer redaktionellen u. kulturpolit. Tätigkeit schrieb P. Lyrik, die in zahlreichen Anthologien, Sammelbänden u. Literaturzeitschriften veröffentlicht wurde, übersetzte gelegentlich (z.B. die Schriften des serb. Philosophen u. polit. Aktivisten Miladin Zivotic) u. verfasste Essays. 1968 verlegte Suhrkamp mit Schlagzeilen ihre erste Gedichtsammlung, die als eines der ersten Werke in der österr. Literatur die sprachkrit. Tradition der Wiener Gruppe u. die (gesellschafts-)politisch engagierte Dichtung nach Vorbild westdeutscher Schriftsteller jener Zeit verbindet. Fünf weitere Lyrikbände erschienen – z.T. in limitierten Auflagen – bei Kleinverlagen, die im Umfeld der avantgardist. Literaturszene entstanden; so

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auch ihr zweiter Gedichtband stille post (Linz 1978), der durch illustrierende Aktfotos der Autorin Aufsehen erregte. Einen Querschnitt aus P.s Schaffen veröffentlichte 1999 der Otto Müller Verlag mit der Sammlung amok und koma (Salzb.), in der ältere u. neuere Texte der Autorin enthalten sind. Ihr Werk ist gekennzeichnet vom Misstrauen gegenüber einer phrasenhaften, abgegriffenen Sprache. Sie sucht deshalb in ihren Gedichten nach Wegen, politisch zu sein, ohne sich des Jargons der Politik zu bedienen, u. den Alltag zu deuten, ohne auf die Klischees der Alltagssprache hereinzufallen. Hierzu greift P. auf Verfahren der experimentellen u. Konkreten Poesie zurück. Indem sie beispielsweise Redewendungen u. Sprachklischees mit neuen Wortkreationen kombiniert oder Zitate in neue Umgebungen überführt u. ihnen damit neue Inhalte u. neuen Sinn verleiht, entwickelt sie eine eigene Spielart der Montagetechnik. Ihre Essays – allen voran die beiden Bände Fluchtmodelle. Zur Emanzipation der Frau (Wien 1972) u. Contrapost. Über Sprache, Kunst und Eros (Salzb. 2001) – weisen P. als krit. Kommentatorin kultureller Ausdrucksformen, als aufmerksame Beobachterin gesellschaftlicher u. sozialer Entwicklungen u. als engagierte Kämpferin gegen Patriarchat, Kapitalismus u. bourgeoises Denken aus. Ihre Sprach- mit Ideologiekritik verbindenden Essays bilden den Brückenschlag zu einem Werk, das aus einem vielfältigen literar. u. (gesellschafts-) polit. Fundus schöpft, um gegen den Zeitgeist anzuschreiben. 1998 wurde P. dafür mit dem Literaturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Weitere Werke: Frühlings Wachen u. andere Gedichte. Leonberg 1981. – Kurze Pause. Ein Gedichtzyklus mit Zeichnungen v. Gerhard Jaschke. Wien 1993. – Guter Ruf. Gedichte / Die hl. Familie. Gezeichnete Anagramme. Wien 1994. Literatur: Sigurd Paul Scheichl: Gilm-Palimpseste. H. P. – Erich Weinert – Georg Trakl. Formen der Intertextualität. In: Mitt.en aus dem BrennerArchiv, Nr. 10 (1991), S. 24–38. – Sieglinde Klettenhammer: ›Strich durch den Wirt!‹ Sprachkritik u. Sprachexperiment als Ideologiekritik im Werk v. H. P. In: Schreibweisen. Poetologien. Die Postmoderne in der österr. Lit. v. Frauen. Hg. Hildegard

111 Kernmayer u. Petra Ganglbauer. Wien 2003, S. 291–313. – S. Klettenhammer: Die Dichterin als Publizistin. Zu H. P. In: Feuilleton – Ess. – Aphorismus. Nicht-fiktionale Prosa in Österr. Beiträge eines polnisch-österr. Germanistensymposiums. Hg. S. P. Scheichl. Innsbr. 2008, S. 269–288. – Thomas Rothschild: Klischees statt Erfahrung. Zu H. P.s ›schlagzeilen‹ (1968). In: Kolik. Ztschr. für Lit. Nr. 41 (2008), S. 119–128. Michael Hansel

Patzke, Johann Samuel, * 14.12. (24.10.) 1727 Frankfurt/O., † 14.10. (14.12.) 1787 Magdeburg. – Prediger, Schriftsteller, Herausgeber u. Übersetzer. P.s Kindheit u. Jugend waren von extremer Armut bestimmt. Als Sohn eines mittellosen Zollbeamten konnte er sich nur aufgrund fremder finanzieller Unterstützung den Besuch von Schule u. Universität leisten. Nach dem Studium der Theologie, das er in Frankfurt/O. u. ab 1751 in Halle absolvierte, finanzierte er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsgedichten, die er später auch in Sammelbänden drucken ließ (Gedichte. Halle 1750. Lieder und Erzählungen. 3 Tle., Halle 1752–54), da er zunächst keine Pfarrstelle erhielt. Nach seiner Tätigkeit als Pfarrer in Stolzenburg wurde er 1761 als zweiter Prediger an die Heilig Geist Kirche nach Magdeburg berufen. Dort schätzte man P. als Kanzelredner u. Dichter, weshalb man ihn bald in den »Gelehrten Club« u. die literar. Mittwochsgesellschaft einlud. Als Prediger machte sich P. mit rhetorischem u. volksbildnerischem Impetus einen Namen (Predigtsammlungen: Bln. 1760–65. Magdeb. 1775 u. ö. Bln./Liebau 1789. Dessau 1794). Seine Freundschaft mit dem Verleger Friedrich Nicolai führte ihn in den Kreis der wichtigsten Vertreter der Aufklärung ein u. stiftete die Bekanntschaft mit Friedrich Gottlieb Klopstock u. Johann Wilhelm Gleim. Beispielhaft für aufklärerische Erziehungs- u. Tugendideen waren seine Gedichte, die 1799 von Rudolph Zacharias Becker in das Mildheimische Liederbuch aufgenommen wurden. Ebenfalls der Volksaufklärung verpflichtet war P.s publizist. Wirken als Herausgeber der erfolgreichen Wochenschriften Der Greis (16 Tle., Magdeb. 1763–69. Nachdr. 4 Bde., Lpz.

Patzke

1781. Nachdr. Hildesh. 1995), Der Wohlthäter (6 Tle., Magdeb. 1772/73), Der Deutsche (zus. mit Johann Gottwerth von Müller u. Johann Andreas Cramer. 8 Tle., Magdeb. 1771–76) u. Wöchentliche Unterhaltungen (zus. mit Schummel u. Georg Heinrich Berkhan. 3 Tle., Magdeb. 1778/79). Positiv wurden P.s Übersetzungen aus dem Lateinischen beurteilt. Vor allem seine Übertragung der Lustspiele des Terenz (Halle 1753) u. der Werke des Tacitus (6 Tle., Magdeb., Halle 1771–77), die er zus. mit Johann Eustachius Goldhagen verdeutschte, wurden u. a. von Herder wegen ihres histor. Stils gelobt u. trugen wesentlich zur Verbreitung antiker Schriftsteller bei. Von P.s Dramen mit überwiegend bibl. u. antiker Thematik verdient bes. die 1755 erschienene Tragödie Virginia (Ffm./Lpz.) Beachtung. Orientiert am vielfach bearbeiteten Virginia-Stoff, betont die Handlung weniger den polit. als den privaten Normenkonflikt zwischen Individuum u. Gesellschaft. Was sich im bürgerl. Trauerspiel als eine wesentl. Neuerung des Literatursystems erweist, findet sich so bei P. schon angelegt. Für seinen Magdeburger Freund, den Komponisten Johann Heinrich Rolle, verfasste er außerdem zahlreiche Libretti, darunter die ersten für die neue Gattung des sog. »Musikalischen Dramas«. Dabei handelt es sich jedoch meist um Bearbeitungen wie etwa das auf Geßner zurückgehende Libretto Der Tod Abels von 1769 (zuletzt in einer Inszenierung von Hermann Max u. d. T. Der Tod Abels, CD 1998 u. 2004). Weitere Werke: Der Orden der grünen Drey. Besungen in Liedern. Dresden 1754. – Die Dichterin Lesbia. Altona 1754. – Freundschaftl. Briefe. Ffm./Lpz. 1760. U. d. T. Briefe vom Verf. des Greises. Ffm./Lpz. 1767. – Nichts von ohngefähr. 2. Theil. Magdeb. [1762]. Magdeb. u. Helmstedt 3 1769. – Betrachtungen über die wichtigsten Angelegenheiten des Menschen. Religion u. Glückseligkeit. Helmstädt u. Magdeb. 1768. 4., verm. Aufl. Lpz. 1779. – Idamant o. das Gelübde. Freyberg [1770] (Libr.). – Saul oder die Gewalt der Musik. Lpz. 1776 (Libr.). – Davids Sieg im Eichthale. o. O. [1776] (Libr.). – Musical. Gedichte nebst einem Anhange einiger Lieder für Kinder. Magdeb./Lpz. 1780 (Dramen). – Über die Vorsehung. 3. Theil. Lpz. 1785. Ffm./Lpz. 31795. Literatur: Francis John Lamport: P.’s ›Virginia‹. In: New German Studies 8 (1980), S. 19–27. –

Paul Peter Hess: Vom republikan. zum bürgerl. Trauersp.: Zu P.s Virginia-Drama u. dessen Einfluß auf Lessing. In: Archiv 221 (1984), S. 43–53. – Janet Best Pyatt: Music and Society in Eighteenth-Century Germany: The Music Dramas of Johann Heinrich Rolle (1716–85). Diss. Durham 1991, S. 68–104. – Albert Meier: Großmut u. Zärtlichkeit. J. S. P.s Virginia. In: Ders.: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizist. Trag. des 18. Jh. Ffm. 1993, S. 210–227. – Martin Wiehle: Magdeburger Persönlichkeiten. Magdeb. 1993. – Winfried Woesler: Lessings u. Patzkes ›Virgina‹ (1755). In: Tausend Jahre poln.dt. Beziehungen in Sprache, Lit. u. Kultur. Warschau 2001, S. 594–604. Dominica Volkert / Thorsten Fitzon

Paul, Hermann (Otto Theodor), * 7.8.1846 Salbke bei Magdeburg, † 29.12.1921 München. – Germanist u. Sprachwissenschaftler.

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sind Veröffentlichungen, die auch heute noch unentbehrlich sind: Mittelhochdeutsche Grammatik (Halle 1881. Tüb. 231989. Neu bearb. 25 2007), Deutsches Wörterbuch (Halle 1897. Tüb. 8 1981. 102002) – hierin wird v. a. die Entwicklung der Wortbedeutung vom Germanischen an dargestellt – u. Deutsche Grammatik (5 Bde., Halle 1916. Neudr. Tüb. 1968), ein Gegenstück zu Jacob Grimms gleichnamigem Werk. Angeregt vom Verlag Trübner in Straßburg, gab er – analog zum Grundriß der romanischen Philologie – den Grundriß der germanischen Philologie (2 Bde., 1889–93. 2 1896–1909) heraus. Für den Grundriß, der seit 1911 bis heute mit einzelnen Monografien weitergeführt wird, schrieb P. seine Geschichte der germanischen Philologie, die Deutsche Metrik u. die Methodenlehre. Weitere Werke: Über Aufgabe u. Methode der Geschichtswiss. Bln. 1920. – Über Sprachunterricht. Halle 1921. – Mein Leben. Mit Schriftenverz. u. Nachw. v. Wilhelm Braune. In: PBB 46 (1922), S. 495–503. – Herausgeber: Die Gedichte Walthers v. der Vogelweide. Halle 1881. Tüb. 101965. Hg. Hugo Kuhn. – Hartmann v. Aue: Der arme Heinrich. Halle 1882. Tüb. 141982. Hg. Ludwig Wolff. – H. v. Aue: Gregorius. Halle 1882. Tüb. 131984. Hg. Burkhart Wachinger.

Nach dem Abitur am Gymnasium zum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg studierte P. 1866 an der Universität Berlin bei Heymann Steinthal, dann in Leipzig germanische Philologie bei Friedrich Zarncke, romanische Philologie bei Adolf Ebert u. Slawistik bei August Leskien. Nach der PromoLiteratur: Carl v. Kraus: H. P. In: Bibliogr. Jb. tion 1870 u. der Habilitierung 1874 wurde er 3. – Germanistik als Kulturwiss.: H. P. Hg. Armin a. o. Prof. in Freiburg i. Br. (1877 o. Prof.), Burkhardt. Braunschw. 1997 (mit Bibliogr.). – 1893 folgte er einem Ruf nach München Sprachtheorie, Sprachgesch., Philologie. Reden, (emeritiert 1916). Abh.en u. Biogr. Hg. Helmut Henne. Tüb. 1998. – P. gehörte mit Wilhelm Braune, Friedrich Ulrike Hass: H. P. In: IGL. Kluge u. Eduard Sievers zur Gruppe der Hans-Joachim Koppitz / Red. »Junggrammatiker«, welche die Sprache aufgrund positiver Beobachtungen u. Er- Paul, Jean ! Jean Paul kenntnisse beschreiben wollten, d.h. zuerst Tatsachen feststellen, um von ihnen zur ErPauli, Hertha, * 4.9.1909 Wien, † 9.2.1973 klärung weiterzuschreiten, u. nicht von eiNew York. – Dramatikerin, Erzählerin, nem Gedanken ausgehen u. dann fragen »ob Schauspielerin. es Tatsachen gibt, die dazu stimmen«. Diese Grundsätze äußerte P. in seinen Principien der P. zählt zu den wenigen vertriebenen Sprachgeschichte (Halle 1880. Tüb. 61960. Schriftstellern, denen es gelang, sowohl in 10 1995), womit er sich die Gegnerschaft der engl. als auch in dt. Sprache erfolgreich zu Lachmann-Schule zuzog. P. nutzte die Er- publizieren. Aus einer angesehenen Wiener gebnisse der indogerman. Sprachwissen- Bürgerfamilie stammend – der Vater war eischaft für die Erforschung der frühen ner der Begründer der Biochemie, der Bruder Sprachzustände des Germanischen u. der Nobelpreisträger für Physik –, debütierte P. Phonetik u. machte die Lautlehre zur als 17-Jährige am Theater in Breslau, danach Grundlage seiner sprachgeschichtl. For- ging sie zu Max Reinhardt nach Berlin. Hitschungen. Ergebnisse dieser Bemühungen lers Machtergreifung zwang sie zur Rückkehr

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Pauli

nach Wien, wo sie in der »Österreichischen S. 140–160. – Susanne Blumesberger: ›...und doch Korrespondenz« antifaschist. Literatur her- hier noch nicht angekommen – wie immer u. ausgab. Ihr Roman über Bertha von Suttner, überall!‹ H. P., Schriftstellerin, literar. Agentin u. Nur eine Frau (Wien 1937. Neuausg. u. d. T. Brückenbauerin. In: Biblos 55 (2006), H. 1, S. 7–20. Gerald Leitner / Red. Das Genie eines liebenden Herzens. Wien 1955), durfte in Deutschland nicht ausgeliefert werden. Unprätentiös schildert sie in ihrer Pauli, Johannes, * um 1450, † nach 1520 Autobiografie Der Riß der Zeit geht durch mein Kloster Thann/Elsass. – Franziskanischer Herz (Wien 1970. Augsb. 2005) den Verlust Prediger, Schriftsteller u. Publizist. der alten Heimat, ihre abenteuerl. Flucht von Wien nach New York u. gibt ein detailreiches P. wurde um die Mitte des 15. Jh. im Elsass geboren; nicht sicher ist, ob er aus jüd. ElBild der Exilantenkreise in Frankreich. Binnen kürzester Zeit perfektionierte P. ihr ternhaus stammt (P. Wickram nannte ihn eiEnglisch u. wurde in Amerika v. a. als Ju- nen »judaeus baptismate lotus«) u. später gendbuchautorin bekannt, während sich ihre zum Christentum konvertierte. In jedem Fall Popularität im Nachkriegsdeutschland auf trat P. – vermutlich nach einem Studium in ihre histor. Romane, ihre Autobiografie u. Straßburg – noch vor 1479 in den Franzisden zeitkrit. Roman Jugend nachher (Wien kanerorden ein u. ist seit diesem Jahr in ver1959) gründete. P.s stilistisch sehr uneinheitl. schiedenen Klöstern des Elsass als Lektor, Bücher kreisen immer wieder um die Themen Beichtvater u. Prediger nachgewiesen. So war er von 1490 bis 1494 Seelsorger u. Prediger Frieden, Freiheit u. Exil. Weitere Werke: Toni. Wien 1936 (R.). – Alfred im Klarissenkloster Villingen, 1498 Vorstand Nobel. Engl. New York 1942. – Silent Night. New der Kustodie in Basel u. dann bis 1504 York 1943. U. d. T. Ein Lied vom Himmel. Wien Guardian in Bern, 1504–1506 ist er in Straß1954. – The Story of the Christmas Tree. Boston burg als Prediger u. Guardian belegt, 1514 als 1944. U. d. T. Gesch.n vom Christbaum. Hbg. 1957. Lektor u. Guardian in Schlettstadt, danach in – I Lift my Lamp. New York 1948. – The Most Colmar u. wieder in Villingen, ab 1518 Lektor Beautiful House and other Stories. New York 1949. in Thann. Innerhalb des Ordens gehörte er – Lincoln’s Little Correspondent. New York 1952. – der konservativ-gemäßigten Richtung der Three is a Family. New York 1955. – The Two Konventualen an (erkennbar an seiner ObTrumpeters of Vienna. New York 1961. – Ein Baum servantenkritik). P. war seit seiner Straßburvom Himmel. Darmst. 1964. – Gateway to America. ger Zeit Hörer des charismat. Predigers JoNew York 1965. – Händel and the ›Messiah‹. New York 1968. – Toward Peace. New York 1969. – hannes Geiler von Kaysersberg, dessen PrePietro and Brother Francis. New York 1971. – Break digten er aufzeichnete u. in den Druck gab: of Time. New York 1972. – Gedichte. Zürich 1975. Das Evangelibuoch (1515), Die Emeis und Her der Literatur: Erika Tunner: H. P. et ses compa- küng ich diente gern (1516), Die brösamlin doctor gnons de route. In: Austriaca, Nr. 19 (1984), Keiserspergs (1517), Doctor Keiserspergs NarrenS. 119–131. – Guy Stern: H. P. In: Ders.: Lit. im schiff (1520). P. verarbeitet dabei seine eigenen Exil. Ismaning 1989, S. 282–302. – Dt. Exillit., Mitschriften u. Eindrücke u. besteht als Bd. 2, Bern 1989, S. 752–771. – Jennifer E. Micha- Herausgeber auf einer authent. Wiedergabe els: The Anschluss Remembered. Experiences of der Predigten, bei welcher die »kurtzweil« als the Anschluss in the Autobiographies of Elisabeth wesentl. Teil der Predigtkunst Geilers beCastonier, Gina Kaus, Alma Mahler-Werfel, and H. rücksichtigt ist. P. In: Austrian Writers and the Anschluss. Hg. Neben dieser redaktionellen u. publizist. Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 253–270. – Tätigkeit sind von P. auch eigene Predigten Barbara Bauer u. Renate Dürmeyer: Walter Mehüberliefert; im Stile Geilers gehalten, widring u. H. P. im Exil – ›zwei Parallelen, die im Geist’gen sich berühren‹. In: Dt.-jüd. Exil. Hg. men sie sich der Kritik kirchlicher Missstände Wolfgang Benz u. Marion Neiss. Bln. 1994, u. menschl. Laster, v. a. der Heuchelei (bei S. 15–44. – Evelyne Polt-Heinzl: ›[...] man vergißt weltl. Ständen wie bei Klerikern) u. der faldoch nie, worüber man zu allererst gestolpert ist‹. schen Versprechungen. Sie zeigen P. als verH. P. (1909–73). In: Dies.: Zeitlos. Wien 2005, sierten Theologen, bieten aber auch in hohem

Pauli

Maße Auflockerung u. Entspannung durch Witz u. Humor, jedoch ohne Derbheiten, wie sie für Geiler charakteristisch sind. Das literar. Hauptwerk P.s ist Schimpf und Ernst (d.h. Scherz u. Ernst); der Gesamttitel lautet: Schimpf vnd Ernst heiset das buch mit namen durchlaufft es der welt handlung mit ernstlichen vnd kurtzweiligen exemplen, parabolen vnd hystorien nützlich vnd guot zuo besserung der menschen. 1519 in Thann abgeschlossen, wurde es 1522 in Straßburg bei Johannes Grüninger gedruckt. Das Buch hat allein bis zum Ende des 17. Jh. mehr als 60 Auflagen mit zahlreichen Neubearbeitungen u. Umgestaltungen erfahren, sodass es eines der erfolgreichsten Bücher der Zeit war u. als ein Meilenstein der Unterhaltungsliteratur der Frühen Neuzeit angesehen werden kann. Die Sammlung enthält 693 kurze Prosastücke in über 90 themat. Rubriken aus dem gesamten menschl. Leben, »zuosamen gelesen vsz allen büchern, wa er es funden hat« (Vorrede). Die kurzen Prosatexte gehören verschiedenen Gattungen unterschiedlicher Provenienz an: antike u. mittelalterl. Exempel (Gesta Romanorum), Legenden (Sammlungen von Jacobus de Voragine, Caesarius von Heisterbach), Teufel-, Narren- u. Mirakelgeschichten, Erzählungen u. Schwänke (Novellen Boccaccios u. elf Historien aus dem Ulenspiegel), Fazetien (Sammlungen von Poggio Bracciolini u. Heinrich Bebel), Fabeln (dt. Äsop Heinrich Steinhöwels), zeitgenöss. Anekdoten u. Nachrichten von Kriminalfällen, Auszüge aus eigenen Predigten u. denen Geilers, Sprichworte, Rätselsprüche u.v.m. Die Abschnitte widmen sich Lastern, Tugenden u. guten Werken, menschl. Gruppen, Ständen u. Berufen, religiösen u. weltl. Themen u. Institutionen (Von der Warheit; Von Jungfrawen gut vnd böß; Von nunnen; Von dem Glauben, Von der Trunckenheit usw.). Ein erkennbares Ordnungsraster fehlt allerdings, obschon das Bemühen erkennbar ist, jeder Rubrik entsprechende Texte entweder »Von schimpf« oder »Von ernst« zuzuordnen. Dieses programmat. Nebeneinander von belehrenden u. unterhaltsamen Texten als Leitdifferenz ermöglicht keine Synthese; vielmehr handelt es sich um eine kaum strukturierte Aneinanderreihung einzelner,

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miteinander oft nicht vereinbarer Weltausschnitte. Die Disparität in der Anlage kontrastiert so mit der angestrebten dualist. Ordnungskonstruktion, welche sich naturgemäß auch nicht durchhalten lässt, da sich das Erbauliche u. das Kurzweilige meist nicht trennen lassen. In der Vorrede weist P. dem Buch drei verschiedene Funktionen zu: den Mönchen u. Nonnen in den Klöstern soll es als Abwechslung von den Mühen des Tages dienen; dem Adel empfiehlt er es als Lektüre gegen Melancholie u. Eintönigkeit; u. den Predigern soll es als Grundlage u. Reservoir von Exempeln u. Geschichten dienen, die »schlefferlichen menschen« zu erwecken u. zu erheitern. Aus der Exempeltradition stammen auch die moralisierenden Schlusskommentare, welche etwa die Hälfte der Texte aufweist, die andere bleibt unkommentiert. Diese dem Buch zugeschriebenen Funktionen stehen bei aller Zeitkritik im Gegensatz zur radikalen Haltung Geilers oder zu Satire u. Polemik eines Thomas Murner; stattdessen steht – heilsam unaufgeregt für die Zeit – ein entspanntes Interesse an der Welt, wie sie sich darbietet, im Zentrum. P. versteht Schimpf und Ernst als »work in progress«, welchem man gerne weitere »gütigliche stück herzuo setzen« solle. Dies verweist, zus. mit der hohen Dialogizität des Erzählens, auf die orale Zirkulation der Stücke im Rahmen von Gespräch u. Gelächter. Die Komik vieler Stücke beruht auf sprachl. Ambivalenzen, Missverständnissen, Pointen oder auf Schadenfreude. Trotz der expliziten didakt. Motive u. Mahnungen sowie der durchgängigen Tilgung obszöner Handlungen u. Reden interessiert P. in erster Linie das geistreiche Erzählen als Lachanlass, ob es nun spöttische oder sonderbare Anekdoten von schlagfertigen Mägden u. witzigen Bauern, Erzählungen von weisen Narren oder unerhörte Vorkommnisse sind, die meist mit lehrreichen Sentenzen verbunden werden. P. überträgt eine Umgangsform der humanist. Geselligkeit, die gelehrt-witzige Unterhaltung, auf den gesamten Bereich popularen Wissens, welches er als kurzweilige u. leicht

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verständl. Handlungsanleitung an seine Leser versteht. Und dies wird wohl auch das Geheimnis seines Erfolges gewesen sein: Schimpf und Ernst wurde zu einem der populärsten Volksbücher des 16. Jh. Es erlebte zahlreiche Nachdrucke u. Neuauflagen. Und nicht nur das: Es begründet die Gattung der Schwanksammlung, die im weiteren Verlauf des 16. Jh. mit Wickrams Rollwagenbüchlein (1555), Martin Montanus’ Wegkürtzer (1557), Jacob Freys Gartengesellschaft (1557) u. Michael Lindeners Rastbüchlein (1558) ihren Höhepunkt erreichte. Darüber hinaus übte das Buch große Wirkung auf die kom. Literatur, die Fazetien- u. Schwankliteratur bis zu den Dramatisierungen von Hans Sachs aus. Ausgaben: Hermann Oesterley (Hg.): Schimpf u. Ernst. Stgt. 1866. Neudr. Hildesh. 1967. – Johannes Bolte (Hg.): Schimpf u. Ernst. 2 Bde. (Bd. 2: P.s Fortsetzer u. Übersetzer; Erläuterungen), Bln. 1924. Neudr. Hildesh. 1972. – Robert G. Warnock (Hg.): Die Predigten J. P.s. Mchn. 1970. Literatur: Hermann Oesterley: P., J. In: ADB. – Silvia Schmitz: Weltentwurf als Realitätsbewältigung in J. P.s ›Schimpf und Ernst‹. Göpp. 1982. – Robert G. Warnock: J. P. In: VL. – Anna Mühlherr: J. P. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 125–137. – Yumiko Takahashi: Die Komik der Schimpf-Exempel v. J. P. Freib. i. Br. 1994. – Arlene Pearsall: J. P. [...] on the Church and Clergy. Lewiston/New York 1994. – Walter-Ernst Schäfer: P., J. In: NDB. Hans Rudolf Velten

Paullini, Christian Franz, * 26.2.1643 Eisenach, † 10.6.1712 Eisenach. – Dichter, Fachschriftsteller, Polyhistor. Der Sohn eines Kaufmanns studierte zunächst Theologie, dann Medizin u. a. in Danzig, Königsberg u. Kopenhagen (1670), erwarb in Wittenberg den Poeten- u. Magistertitel, lebte zeitweise in Hamburg u. begab sich dann auf eine weitläufige Bildungsreise, die ihn u. a. in London, Oxford u. Leiden (1673 hier Dr. med.) mit den Größen der europ. Gelehrtenwelt bekannt machte. Nach der Rückkehr praktizierte er in Hamburg (1673–1675), verkehrte dort auch in Kreisen der protestant. Sektierer. Obwohl der Heterodoxie verdächtig, wurde P. zum Leibarzt des Bischofs von Münster, Bernhard von Ga-

len, nach Corvey berufen (1675–1678). Fortan beschäftigte er sich auch mit historisch-quellenkundl. Arbeiten u. fasste, am zeitgenöss. Akademiewesen sehr interessiert (Mitgl. u. a. der Fruchtbringenden Gesellschaft als »Der Wachsame«), den Plan zu einem »Historischen Reichskollegium«, mit dem er ausdrücklich an Traditionen des dt. Humanismus (Celtis) anknüpfen wollte. Auch an dem Projekt einer übergreifenden dt. Sprach- u. Literaturgesellschaft (»Belorbeerter TaubenOrden«) war P. beteiligt (Programm in P.s Zeit-Kürtzende Erbauliche Lust oder [...] Geist- und Weltliche Merckwürdigkeiten. 3 Tle., Ffm. 1693–97; speziell Tl. 2, S. 601–613). Von 1681 bis 1686 stand P. im Dienst Rudolf Augusts von Braunschweig-Wolfenbüttel. Als Stadtarzt wirkte er anschließend in Eisenach. Das vielgestaltige, nur in Ansätzen erforschte Werk umfasst neben Gedichten, medizinischem u. naturphilosoph. Fachschrifttum v. a. historische u. populärwiss. Werke polyhistorischen Zuschnitts (u. a. Philosophischer Feyerabend [...] Realien und merckwürdige Begebenheiten. Ffm. 1700). Zu den Publikationen der dt. »Academia Naturae Curiosorum« (Leopoldina) lieferte P. Beiträge. Seine Kleine doch curieuse Bauren-Physic (Ffm./ Lpz. 1705 u. ö.) fand noch bei Friedrich Christoph Oetinger Beachtung. Mit seiner viel gelesenen Heilsamen Dreck-Apotheke (Ffm. 1696. Erw. Fassungen bis 1748. Nachdr.e Mchn. 1969 u. 1980) zielte er auf die Arzneiversorgung der ärmeren Bevölkerung u. verarbeitete dabei neue Theorien der sog. Magnetischen Medizin. Mit einem Lexikon der dt. Dichterinnen plädierte P. für die Würde u. Ebenbürtigkeit der Frauen (Das Hoch- u. Wolgelahrte Teutsche Frauenzimmer. Ffm. 1705. 1712. Auszüge hieraus sowie aus anderen Werken P.s in: Archiv für philosophieund theologiegeschichtliche Frauenforschung. Hg. Elisabeth Gössmann. Bd. 2, Mchn. 1984). Weitere Werke: Nord. Palmsprossen, oder allerhand geistl. u. weltl. Gedichte. Lübeck 1672. – Theatrum illustrium virorum Corbeiae Saxonicae. Jena 1686. – Dissertationes Historicae XVIII. Gießen 1694. – Kurtzer Ber. vom Anfange u. bißherigem Fortgange des vorhabenden Histor. ReichsCollegii. Ffm. 1694. – Rerum et Antiquitatum Germanicarum Syntagma. Ffm. 1698. – Poet.

Paulmann Erstlinge, oder: Allerhand Geist- u. Weltl. Teutsche Gedichte. Lpz. 1703. – Observationes medico-physicae. Lpz. 1706. – Philosoph. Lust-Stunden. 2 Bde., Ffm. 1706/07. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 3080–3103. – Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 622–633 (Werkverz.). – Weitere Titel: Wegele: P. In: ADB. – Ludwig Friedrich Hesse: Über eine Hs. der Jenaischen Universitätsbibl., welche C. F. P.s gelehrten Briefw. enthält. In: Serapeum 17, Nr. 5 (1856), S. 65–71, 376 f. – Georg Metze: C. F. P., Leben u. Wirken. Diss. Halle 1968. – Karl Heinz Krüger: Corveyer Patrozinien im Spiegel der Werke des C. F. P. In: Westfäl. Ztschr. 143 (1993), S. 221–250. – Ulla-Britta Kuechen: Emblemat. Titelblätter in naturkundlich-medizin. Werken des C. F. P. im Umkreis der Academia Leopoldina. In: Polyvalenz u. Multifunktionalität der Emblematik. Hg. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Ffm. 2002, S. 767–889. – Christoph Friedrich u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Gesch. der Pharmazie. Bd. 2, Eschborn 2005, S. 378–380. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1491–1496. Wilhelm Kühlmann

Paulmann, Johann Ludwig, * 24.11.1728 Verwolda, † 28.12.1807 Braunschweig. – Evangelischer Pastor u. Kirchenlieddichter. Das Studium absolvierte P. in Helmstedt u. bekleidete seit 1759 eine Pfarrstelle in Ölper, ehe er 1767 das Pastorat an der Brüdernkirche in Braunschweig übernahm, wo er als Senior des Geistlichen Ministeriums u. Konsistorialassessor starb. P. gab zus. mit Elieser Gottlieb Küster u. Eschenburg ein Neues Braunschweigisches Gesangbuch (Braunschw. 1779) heraus, das sich bemüht, das tradierte Gemeindelied zu erhalten, sofern es mit der Hl. Schrift u. der reinen evang. Lehre übereinstimmt. Revidiert wurden »unverständliche, unedle, unschickliche, unbestimmte, mystische Wörter und Redensarten, theologische Kunstwörter, unwürdige und ganz menschliche Begriffe von Gott«, beseitigt wurde der bibl. Wortschatz, soweit er sich auf die jüd. Altertümer bezog u. dem Ungelehrten nicht verständlich war. Das Gesangbuch, in dem 34 Lieder Luthers »ohne alle Veränderung aus dessen Werken« abgedruckt sind, enthält zu allen Ereignissen eines christl. Lebens 684 Gesänge, von denen 25 neu waren. Fünf

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stammen aus der Feder von P., darunter das Lied über christl. Wohltätigkeit nach Mk 8,1–9, Wohlzuthun und mitzutheilen, Christen, dieß vergeßt doch nicht. Der pathet. Rhetorik von P.s Predigten hat Moritz im Anton Reiser ein literar. Denkmal gesetzt. Weitere Werke: Die gerechten Anforderungen Gottes auf die Bezahlung der Sündenschuld unsers Landes. Braunschw. 1762. – Kleine Lieder nach dem Inhalt einiger Kanzelvorträge. Braunschw., Hildesh. 1776. – Neue Slg. geistl. Lieder nach dem Inhalt einiger Kanzelvorträge. Braunschw. 1790. Literatur: Koch 6, S. 237. – ADB. – Goedeke 5, S. 380. 7, S. 331. – Oskar Ulrich: Karl Philipp Moritz in Hannover. Ein Beitr. zur Kritik des ›Anton Reiser‹. In: Euph. 5 (1898), S. 87–106, bes. S. 93 f. Heimo Reinitzer / Red.

Paulsen, Friedrich, * 16.6.1846 Langenhorn bei Husum, † 14.8.1908 Berlin. – Philosoph u. Pädagoge. P. lehrte seit seiner Habilitation 1875 Philosophie u. seit 1877 auch Pädagogik in Berlin. Unter seinen weit verbreiteten Schriften System der Ethik (Bln. 1889. 121921), Immanuel Kant (Stgt. 1898. 81924), Pädagogik (Stgt. 1911. 7 1921) wurde seine Einleitung in die Philosophie (Bln. 1892. 421929) in mehrere Sprachen übersetzt u. im Ausland als Lehrbuch benutzt. Dieses systemat. Werk ist durch Klarheit der Problemstellung gekennzeichnet; eigenständiges Philosophieren war nicht P.s Absicht. P. war ein entschiedener Vertreter der sich an den Naturwissenschaften u. modernen Sprachen orientierenden »realistischen« Gymnasialreformen u. gleichzeitig scharfer Kritiker des pädagog. Subjektivismus u. reformpädagog. traditionslosen Modernismus. Gegen den Einfluss Nietzsches, gegen Ellen Key, Ludwig Gurlitt u. a. wandte er sich in der Abhandlung Väter und Söhne (wiederabgedr. in: Gesammelte Pädagogische Abhandlungen. Stgt. 1912, S. 497 ff.). Aus den schul- u. bildungspolit. Kontroversen der Zeit erwuchs seine bis heute nicht überholte Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart (Lpz. 1885. 2 Bde., 31919–21.

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Neudr. Bln. 1965). Einen populären Abriss bietet Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung (Lpz. 1906. Neudr. Hildesh. 1966). Den eigenen Bildungsgang schilderte P. in seinen Lebenserinnerungen Aus meinem Leben (Jena 1909), eine bemerkenswerte pädagog. Autobiografie des 19. Jh. (weitergeführt in der nur in engl. Übersetzung vorliegenden Autobiography. New York 1938). Für das preuß. Universitätsmilieu ist sein Briefwechsel 1876–1908 (Kiel 1961) mit dem Soziologen Ferdinand Tönnies aufschlussreich. P.s Schüler Eduard Spranger gab die Gesammelten Pädagogischen Abhandlungen heraus, die eine unentbehrl. Quelle für das Studium der dt. Bildungs-, Schul- u. Universitätsgeschichte vor der Jahrhundertwende darstellen. Ausgabe: Ausgew. pädagog. Abh.en. Paderb. 1960 (mit Bibliogr.). Literatur: Dieter Stüttgen: Pädagog. Humanismus u. Realismus in der Darstellung F. P.s. Alsbach 1993. Ulrich Herrmann / Red.

Paulsen, Rudolf, * 18.3.1883 Berlin, † 30.3.1966 Berlin. – Lyriker, Essayist.

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1922. Vor der See. Lpz. 1927). Als Ausweg aus einem Individualismus, der sich nach P.s Verständnis dem Einfluss Nietzsches verdankt, wird in Christus und der Wanderer. Ein Berggespräch (Lpz. 1924) die Rückbindung an die als Volk verstandene Gemeinde propagiert, ein Thema, das auch die Gedichtzyklen Die kosmische Fibel (Lpz. 1924) u. Die hohe heilige Verwandlung (Lpz. 1925) variieren. In seinem essayist. Werk tritt P. zum einen für die »Heiligung« der Persönlichkeit ein u. sucht sie dem Christentum u. einer »erhebenden Kunst« zu verpflichten (Aufruf an den Engel. Lpz. 1927). Zum anderen soll die »Masse« im Namen Christi zum Volk geformt werden. P. spricht die Hoffnung aus, dass ein neuer Religionsstifter erscheine, »der die Religion des Blutes verkünde« (Der Mensch an der Waage. Lpz. 1926). Weitere Werke: Lieder aus Licht u. Liebe. Bln.Lichterfelde/Lpz. 1912 (L.). – Das verwirklichte Bild. Lpz. 1929 (E.). – Das festl. Wort. Mchn. 1935 (L.). – Kunst u. Glaube. Potsdam 1935 (Ess.s). – Vergangenheit u. Ahnung. Querfurt 1942 (L.). – Träume des Tritonen. Heidelb. 1955 (L.). – Werte bewahrt im Wort. Heidelb. 1960 (L.). Christian Schwarz / Red.

P., der Sohn des Philosophen u. Pädagogen Friedrich Paulsen, studierte Altphilologie, Paulus, (Elisabeth Friederike) Caroline, Kunstgeschichte u. Philosophie in Erlangen, auch: Eleutheria Holberg, * 14.9.1767 Berlin u. Kiel. Seit 1911, nur unterbrochen Schorndorf/Württemberg, † 11.3.1844 durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, Heidelberg. – Romanautorin, Erzählerin, lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. Übersetzerin. 1904–1914 gehörte er dem »Charon-Kreis« an, dessen Gründer er eine Biografie widmete P. wurde als Tochter des Oberamtmanns (Otto zur Linde. Groß-Lichterfelde/Lpz. 1912). Gottlieb Friedrich Paulus u. seiner Frau 1931 trat P. in die NSDAP u. SA ein. Diesen Friederike Elisabeth, geb. Bilfinger, geboren. Lebensabschnitt wertete er in der 1936 in Sie heiratete 1789 ihren Vetter, Heinrich Berlin erschienenen Autobiografie Mein Leben Eberhard Gottlob Paulus. Die liebenswürdige als eine »schöne Zeit des Kampfes, der Ka- u. anmutige Frau, die eine sorgfältige ästhet. meradschaft und des Opfers«. u. musikal. Bildung genossen hatte, verstand Nach ersten literar. Versuchen unter dem es, ihrem Mann eine aufmerksam-liebevolle Einfluss Otto zur Lindes, den Gedichten des u. verständnisinnige Partnerin zu sein, zgl. Bandes Gespräche des Lebens (Lpz. 1911), sucht aber durch ihr geselliges Talent die AufP. »Urbilder« des Schönen u. Ewigen in Na- merksamkeit vieler Gebildeter aus dem akatur u. menschl. Geist zu beschwören. Jeden dem. u. künstlerischen Bereich zu erregen. In Bezug zu gesellschaftl. u. techn. Verhältnis- Jena, später in Würzburg, Bamberg u. Nürnsen der Zeit meidend, sucht P.s Lyrik der berg u. seit 1811 in Heidelberg pflegte sie Orientierungslosigkeit des Individuums freundschaftl. Umgang mit Schiller, Goethe, durch »Festigkeit der Werte« zu begegnen Voß u. Jean Paul, dem ihre bes. Verehrung (Im Schnee der Zeit. Groß-Lichterfelde/Lpz. galt.

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Angeregt durch den schöngeistigen Verkehr, begann sie selber zu schreiben. Ihr unter Pseud. verfasster Roman Wilhelm Dumont (Lübeck 1805) fand stärkere Resonanz u. wurde von Goethe in der »Jenaischen Allgemeinen Litteratur-Zeitung« günstig beurteilt: »Die Figuren sind mehr ideell, als phantastisch, die Charaktere glücklich gezeichnet, mannigfaltig und einander gut entgegengesetzt. Egoismus in einer nicht unangenehmen Hülle, Ergebung, Aufopferung in anmuthigen Gestalten. Die Umgebung ist nicht überhäuft und gut in Abstufungen vertheilt« (Nr. 167, 16.7.1806). Angespornt durch das Lob, ließ P. zu Beginn der Heidelberger Zeit einen zweiten Roman folgen: Adolph und Virginia Oder Liebe und Kunst (Nürnb. 1811), der ebenso wie ihre späteren Erzählungen (Heidelb. 1823) Bildungsgut der Zeit enthält. Natalie Percy (Nürnb. 1811), eine Novelle nach dem Französischen, u. eine Übersetzung (Nürnb. 1811) von Voltaires Trauerspiel Sémiramis zeigen P.’ Verbindung mit der Kultur Frankreichs. Ihre unveröffentlichten Briefe sind eine Quelle der Mentalitäts-, Familien u. Kulturgeschichte in der Nachfolge der Heidelberger Romantik. Literatur: Wagenmann: P. In: ADB. – Karl Alexander Frhr. v. Reichlin-Meldegg: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus u. seine Zeit. 2 Bde., Stgt. 1853. – Erhard Fischer: P. In: Ders.: Lebensbilder aus Schorndorf. Schorndorf 1988, S. 86–88. Günter Häntzschel / Red.

Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob, * 1.9. 1761 Leonberg/Württemberg, † 10.8. 1851 Heidelberg. – Evangelischer Theologe. Der Sohn eines Pfarrers studierte in Tübingen (1781 philosophischer, 1784 theolog. Magister). 1789–1803 war er in Jena o. Prof. für oriental. Sprachen u. Philosophie, seit 1793 für bibl. Exegese, 1803–1807 in Würzburg Ordinarius für Theologie, zgl. Kirchenrat, 1807 bis 1810/11 Kreisschulrat in Bamberg, Nürnberg, Ansbach, 1811–1851 o. Theologieprof. in Heidelberg. Aus der Ehe mit Caroline Paulus gingen ein Sohn (1802–1819) u. die später mit August Wilhelm von Schlegel

verheiratete Tochter Sophie (1791–1847) hervor. Das sehr umfangreiche Werk umfasst alle genannten Gebiete: Philosophisch in der Herausgabe der Werke Spinozas (2 Bde., Jena 1802/03) bedeutsam, verband P. im Übrigen Grundgedanken Kants hinsichtlich der geistigen Gottesverehrung mit einer rationalist. Sicht des Christentums, ohne Rationalismus als Methode des Verstehens zu vertiefen. Sein Kommentar über die drey ersten Evangelien [...] (Lübeck 1800–02) u. sein Hauptwerk, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums (2 Bde., Heidelb. 1828), zeigen »pragmatisch-historisch« kaum Quellenkritik u. eine nicht durchgehend konsequent rationalist. Betrachtungsweise. P.’ Warnung vor Überbewertung seiner stark rationalist. Erklärung des Wunders als »Hauptsache« dient seiner Herausarbeitung der Messianologie. Mit einer postulierten »Gattung von Wunderwürkungen« (Bd. 1, S. 363) nimmt er eine spätere Phase der Forschung vorweg. Die Herausgabe u. a. der Zeitschrift »Sophronizon« (1819–31, 1841–43) ermöglichte dem liberal Denkenden über Einzelschriften regionalen, kirchengeschichtl. u. polit. Inhalts hinaus – darunter die nicht unbestrittene Beurteilung der Emanzipation der Juden seiner Zeit – auch polit. Publizität. Als Goethes Lehrer für Arabisch u. diesem in sich gegenseitig befruchtender Freundschaft eng verbunden, fand P. im Gespräch zum Begriff »einer geschichtlich forschenden Sachkritik« in der Bibelwissenschaft, deren hermeneut. Umsetzung dem bedeutenden Rationalisten in seinem Werk noch fehlt (vgl. Goethes Gespräche, Bd. 4, Nr. 3084; ReichlinMeldegg, Bd. 2, S. 293 ff.). Die vom Freund Schiller herausgegebene Allgemeine Sammlung historischer Memoires führte er nach dessen Tod zu Ende (1806). Weitere Werke: Skizzen aus meiner Bildungsu. Lebens-Gesch. [...]. Heidelb. 1839. – Göthe u. P. (1849; unvollendet). – Herausgeber: Beiträge v. jüd. u. christl. Gelehrten zur Verbesserung der Bekenner des jüd. Glaubens. Hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Anselm Steiger. Heidelb. 2001. Literatur: Karl Alexander Frhr. v. ReichlinMeldegg: H. E. G. P. u. seine Zeit [...]. 2 Bde., Stgt. 1853 (Bibliogr.: Bd. 2, S. 465–470). – Goethes Ge-

119 spräche. Hg. Flodoard Frhr. v. Biedermann. Bd. 4, Lpz. 21910, Nr. 3084–3088. – Christoph Burchard: H. E. G. P. in Heidelberg. In: Semper apertus. 600 Jahre Ruprecht-Karls-Univ. [...]. Bd. 2, Heidelb. 1985, S. 222–297 (S. 266–277, 288–293 umfassende Primär- u. Sekundärlit.). – Gerald Müller: Johann Leonhard Hug (1765–1846) [...]. Erlangen 1990, S. 138–159 (darin weitere unpublizierte Quellen). – Ute Schöwitz: ›Er ist mein Gegner von jeher‹. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling u. H. E. G. P. Warmbronn 2001. Otto Merk / Red.

Pausch

mitismus, Hass auf Kommunisten u. Sozialdemokraten sowie Antiklerikalismus konstituieren einen tagespolit. Kommentar, der deutlich den Weg in den Faschismus weist. Weitere Werke: Sozialdemokraten. Wien 1919 (Pamphlet). – Judentum u. Sozialdemokratie. Graz 1920. – Judenfibel: Das ABC der viertausendjährigen Judenfrage. Graz o. J. [1924]. – Briefe an einen Sozialdemokraten. Graz 1927. Johannes Sachslehner / Red.

Paumgartten, Karl, eigentl.: Karl Huff- Pausch, Birgit, * 7.2.1942 Breslau. – Ernagl, auch: Nor de Gal, Z. A. Springh, zählerin. Buso, La Hire, Nithart Stricker, * 18.12. 1872 Wien, † 5.3.1927 Wien; Grabstätte: P. wuchs in Düsseldorf auf. Nach einer dreiebd., Heiligenstädter Friedhof. – Satiri- jährigen Schauspielausbildung in München hatte sie Engagements in Bremen u. Berlin. ker, Erzähler, Essayist. In »qualvoller Armut« aufgewachsen, absolvierte P. trotz langwieriger Krankheit das Gymnasium, studierte ab 1892 in Wien Germanistik u. Geschichte u. schlug die Beamtenlaufbahn ein. Als Direktor des Österreichischen Staatsarchivs ging er 1919 aufgrund eines Augenleidens frühzeitig in den Ruhestand. Ab etwa 1900 schrieb er für deutschnat. Zeitungen u. Zeitschriften Beiträge; ein adäquates Forum für seine zeit- u. gesellschaftskrit. Gedichte, Satiren u. Anekdoten fand er jedoch erst ab 1905 in der »Muskete«, zu deren Stammautoren er bald zählte. Einen bevorzugten Angriffspunkt bildeten hier moderne Autoren (Bahr, Wedekind), was nicht zuletzt Karl Kraus zur namentl. Attacke gegen den sich hinter Pseudonymen verbergenden P. bewog (siehe »Fackel«, Nr. 381 bis 383). Anfang 1919 war sein Kampf gegen die »immer tiefer eindringende semitische Lebensanschauung« in der unter einer neuen Leitung stehenden »Muskete« nicht mehr gefragt. P. wurde aus der Redaktion entlassen u. schrieb in der Folge v. a. für die zusehends rechtsextremer werdende »Ostdeutsche Rundschau« (später: »Deutsch-Österreichische Tageszeitung«). Während seine erste Buchveröffentlichung, Zehn Jahre schwarz-gelbes Leben (Wien/Lpz. 1919), sich noch einmal den Missständen der k. k. Zeit widmet, geht sein bekanntestes Buch, der Roman Repablick (Graz 1924), mit dem für ihn noch unerfreulicheren Nachfolgestaat ins Gericht: Antise-

Seit 1973 lebt sie in Florenz. Mit ihrem bisher schmalen, aber literarisch gewichtigen Œuvre nimmt P. eine eigenständige Stellung innerhalb der Frauenliteratur ein. Vorherrschenden Markttrends u. einseitig-radikalfeministischer, instrumenteller Vereinnahmung entzieht sich ihr spröde-sensibles, sprachlich u. formal kunstvolles, immer wieder an Bildhaftem, Malerischem orientiertes Schreiben. Ihr erfolgreiches erstes Buch, die Erzählung Die Verweigerungen der Johanna Glauflügel (Bln. 1977), erfuhr daher auch von feminist. Seite her Kritik, worauf P. in einem fiktiven, offenen Brief antwortete: Die Feindschaft der Neuen Frauen (in: Literatur Konkret, 1978, S. 33 f.). Glauflügel ist eine Krankenschwester, deren Entwicklung zu Emanzipiertheit u. Selbständigkeit sich im Zusammenhang mit linkem, allgemeinpolit. Bewusstsein vollzieht. Getrennt von ihrem Mann, beginnt sie in Italien ein neues Leben. Auch in P.s nächsten Büchern stehen unabhängige, unangepasste Frauen im Mittelpunkt: Der Roman Bildnis der Jakobina Völker (Düsseld. 1980) handelt von einer Lehrerin, die aufgrund eines krit. Vortrags zur Vorgeschichte der Schule entlassen wird; in der Novelle Die Schiffschaukel (Darmst. 1982) befreit sich eine Schriftstellerin des 19. Jh. gewaltsam aus ihrer Ehe u. geht nach Italien.

Weitere Werke: Roswithas Heimreise. In: Texte zum Anfassen. Frauenlesebuch. Hg. Karin Reschke. Mchn. 1978, S. 13–20 (E.). – Dorothes

Pausewang Gang durch den Garten. In: Frauen, die pfeifen. Verständigungstexte. Hg. Ruth Geiger u. a. Ffm. 1979, S. 57–63 (E.). Literatur: Uwe Schweikert: Nachw. zur Tb.Ausg. v. ›Bildnis der Jakobina Völker‹. Ffm. u. a. 1985, S. 115–125. – Margret Brügmann: Amazonen der Lit. Studien zur deutschsprachigen Frauenlit. der 70er Jahre. Amsterd. 1986, S. 87–119. – Timothy Kyle Boyd: Fortschreiben in Bildern. Zur Schreibweise v. B. P. In: Das Politische im literar. Diskurs. Studien zur dt. Gegenwartslit. Hg. Sven Kramer. Opladen 1996, S. 200–227. Walter Olma

Pausewang, Gudrun, eigentl.: G. WilckePausewang, * 3.3.1928 Wichstadtl/Ostböhmen. – Lehrerin; Erzählerin, Kinderu. Jugendbuchautorin. P., Tochter eines sudetendt. Diplomlandwirts u. einer Erzieherin, besuchte von 1934 bis 1937 die Volksschule. 1943 fiel der Vater, der sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, in Russland. P. floh bei Kriegsende in den Westen. 1946 besuchte sie ein Mädchengymnasium in Wiesbaden u. machte 1947 ihr Abitur. 1948–1951 studierte sie am Pädagogischen Institut in Weilburg/Lahn. Anschließend arbeitete sie 1951–1953 als Lehrerin in Wiesbaden, 1953–1955 in Weilburg. Zwischen 1956 u. 1963 hielt sie sich überwiegend in Südamerika (Chile, Venezuela, Kolumbien) auf. 1963–1967 war sie Lehrerin in Mainz, daneben studierte sie Germanistik an der Universität Mainz. Nach ihrer Heirat ging P. von 1968 bis 1972 nach Kolumbien. 1970 wurde ihr Sohn Martin geboren. 1972 kam P. nach Deutschland zurück u. arbeitete bis zur ihrer Pensionierung 1989 als Lehrerin in Schlitz. 1998 wurde sie im Fach Germanistik an der Universität Frankfurt/M. mit einer Arbeit über Vergessene Jugendschriftsteller der Erich-Kästner-Generation (Ffm. u. a. 1999) promoviert. P. erhielt für ihr literar. Werk zahlreiche Preise, z.B. 1977 Buxtehuder Bulle, 1981 u. 1983 La vache qui lit, 1988 Deutscher Jugendliteraturpreis, 1999 Bundesverdienstkreuz u. 2009 Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Schon als Schülerin war P. von Lateinamerika fasziniert; Landschaften u. Lebensverhältnisse auf diesem Kontinent motivierten sie seit 1959 zum Schreiben (Rio Amargo. Stgt.

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1959). P. nähert sich in ihren, zunächst nur für Erwachsene geschriebenen Büchern den polit. Widersprüchen Südamerikas anfangs vorsichtig, wenn sie in Der Weg nach Tongay (Stgt. 1965) Leben u. Leiden einer ihrer Kinder beraubten Mutter beschreibt. In späteren Erzählungen ergreift sie immer direkter Partei für die Dritte Welt. In Die Not der Familie Caldera (Ravensburg 1977) erzählt eine spürbar betroffene Ich-Erzählerin vom sozialen Auf- u. Abstieg eines Hochlandindios. Das Tor zum Garten der Zambranos (Ravensburg 1988) schildert das Schicksal des Straßenkinds Angelito, der als Spielkamerad für den eigenen Sohn in eine reiche Familie geholt wird. Die menschenverachtende Arroganz der Reichen zeigt sich darin, dass sie bedingungslosen Gehorsam erwarten u. scheinbares Fehlverhalten mit der mitleidslosen »Vertreibung aus dem Paradies« ahnden. Das autoritäre Verhalten von Erwachsenen wird auch in dem Jugendroman Und was mach ich? oder Der Traum vom Fliegen (Ravensburg 2003) thematisiert. Die geschäftlich erfolgreichen Eltern haben den Lebensweg ihrer drei Kinder minutiös verplant. Ihre beiden ältesten Söhne scheitern. Tobias wird spielsüchtig u. auch Sascha gerät auf die schiefe Bahn. Entsetzt über das Schicksal ihrer Brüder, sucht die 13-jährige Nele nach Alternativen. Ebenso wie Angelito bei den anderen Straßenkindern Solidarität u. Freundschaft findet, sucht Nele die Freundschaft von »Pennern«, Straßenkünstlern u. einer Prostituierten. Während jedoch in Das Tor zum Garten der Zambranos das Leben auf der Straße realistisch dargestellt u. als sehr hart geschildert wird, ist die Wohngemeinschaft, die Nele eingeht, idyllisiert u. gerät in die Nähe des Sozialkitschs. Ein weiterer zentraler Themenbereich P.s ist die Friedenserziehung. Zu den meistdiskutierten u. erfolgreichsten Jugendbüchern nach 1945 gehören die Erzählung Die letzten Kinder von Schewenborn (Ravensburg 1983), die realistisch, nahezu dokumentarisch die Auswirkungen eines Atombombenabwurfs mitten in Deutschland antizipiert, u. der Roman Die Wolke (Ravensburg 1987. Film 2006), in dem ein SuperGAU im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld, die Flucht vor der tödl. Strah-

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lenwolke u. der Zusammenbruch der Zivilisation geschildert werden. »Ich glaube, daß wir unseren Kindern keinen Gefallen tun, wenn wir uns [...] bemühen, sie von den Nöten und Zweifeln, Furcht und Elend fernzuhalten und ihnen die Welt so darstellen, als ob sie heil wäre«, so P. im Jahr 1985. Sie plädiert für Toleranz gegenüber Fremden (Ich hab noch einen Freund in Leningrad. Ravensburg 1986) u. will Hoffnung machen durch den christl. Glauben (Ich gebe nicht auf. Geschichten, Gebete, Gedichte. Baden-Baden 1987). Ein Hauptanliegen P.s ist die Aufklärung über den Nationalsozialismus; in Romanen u. Erzählungen zeichnet sie ein facettenreiches Bild dieser Zeit. In Ich war dabei (Düsseld. 2004. Tb. Hbg. 2008) werden verschiedene Aspekte wie Mutterkreuz, Persilschein usw. in zwanzig kurzen Geschichten gegen das Vergessen angesprochen. Die Rahmenhandlung bildet dabei eine Art Interview, in dem Jugendliche ihre Großeltern nach Erlebnissen in der NS-Zeit befragen. Indem sich P. selbst als im Nationalsozialismus Indoktrinierte zu erkennen gibt u. ihre eigene Situation im Dritten Reich reflektiert, werden histor. Fakten mit einer persönl. Note versehen. Dieses Verfahren wird sehr subtil angewendet, wenn aufkeimender Rechtsradikalismus u. die unverbesserl. Ewiggestrigen im Roman Die Meute (Ravensburg 2006) thematisiert werden. Auch wenn der junge Protagonist Paul durch seine demokrat. Mutter u. den Schulunterricht schon ideologisch abgefedert ist, übt der Großvater mit seinen Erzählungen von Lagerfeuern eine große Faszination auf ihn aus. Das Buch bricht mit dem Tabu verwandtschaftlicher Liebe, wenn der Großvater das Vertrauen seines Enkels missbraucht u. ihn für den Neonazismus instrumentalisieren will. Dass Paul dem Afrikaner Joshua dennoch hilft, zeigt, worauf P.s Schreiben abzielt: auf Zivilcourage, Mitgefühl u. einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Die Reise im August (Ravensburg 1992) beschreibt schonungslos die Deportation der 11-jährigen Alice Dubsky nach Auschwitz. Auf einem langen Weg (Ravensburg 1978) u. Überleben! (Ravensburg 2005) schildern Flucht u. Vertreibung. Bei einem Bombenangriff

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werden die 16-jährige Gisela u. ihre drei jüngeren Brüder im Toilettenraum eines Luftschutzbunkers verschüttet. Auch wenn die Kinder gerettet werden können, stirbt nebenan ein schwerverletzter Soldat, der sie in ihrem Überlebenskampf mit Ratschlägen unterstützte. P. konfrontiert auch den jugendl. Leser mit der grausamen Wirklichkeit. Vor die Hoffnung auf eine bessere Zukunft setzt sie die schonungslose Aufklärung. Um ihre eigene kindl. Faszination für Adolf Hitler zu verstehen, unternimmt es P. in dem Roman Adi. Jugend eines Diktators (Ravensburg 1997), das Idealbild Hitlers, dem sie in ihrer Jugend ausgeliefert war, zu hinterfragen. P. demontiert dieses Bild, indem sie den 16- bis 20-jährigen Adi als einen scheiternden, psychotischen u. unsympath. Menschen charakterisiert. In zwei wiss. Arbeiten beschäftigte sich P. zum einen mit der Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung (Ffm. u. a. 2005) u. zum anderen mit »bezwecktem« Humor in der Studie Erlaubter Humor im Nationalsozialismus (1933–1945) (Ffm. u. a. 2007). Beide Arbeiten erschienen wie die Dissertation unter dem Namen Gertrud Wilcke. P., mit zahlreichen Jugendliteraturpreisen ausgezeichnet, erzählt in ihren Hauptwerken gradlinig, emotional packend, ordnet die literar. Form aber häufig der politischen oder moral. Aussage unter u. lässt den pädagog. Charakter erkennbar hervortreten. Daneben verfasste sie auch amüsante Bücher wie Der Spinatvampir (Düsseld. 2003. Tb. Hbg. 2007), dem weder Blut noch Blutwurst schmecken, u. die skurrilen Geschichten vom zwei Meter langen Räuber Grapsch u. seiner winzig kleinen Frau Olli (Das große Buch vom Räuber Grapsch. Ravensburg 2003). Weitere Werke (Erscheinungsort, sofern nicht anders angegeben, Ravensburg): Der Streik der Dienstmädchen. 1979. – Rosinkawiese. Alternatives Leben vor fünfzig Jahren. 1980. – Frieden kommt nicht v. allein. 1982 (E.en). – Etwas läßt sich doch bewirken. 1984 (R.). – Fern v. der Rosinkawiese. Die Gesch. einer Flucht. 1989. – Geliebte Rosinkawiese. Die Gesch. einer Freundschaft über die Grenzen. 1990. – Der Schlund. 1993 (R.). – Roller u. Rosenkranz. Aarau/Ffm./Salzb. 2000 (R.). – Du darfst nicht schreien. 2003 (R.). – Neues vom

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Räuber Grapsch. 2003. – Ein wunderbarer Vater. Düsseld. 2009 (R.). Literatur: Hartmut Euler: G. P. In: LKJL. – Maria Lypp: Lit. des Umdenkens. In: Fundevogel, H. 41/42 (1987). – Andreas Siekmann: Die Pervertierung des Literarischen als Ausdruck pervertierter Gesch. Zu G. P.s Erzählung ›Die letzten Kinder von Schewenborn‹. In: DU 40 (1988), H. 5, S. 12–22. – Karin Richter: ›Gefahren zu verheimlichen, erlöst nicht von Ängsten‹. G. P.s ›Atomkatastrophenbücher‹ ›Die letzten Kinder von Schewenborn‹ u. ›Die Wolke‹. In: DU 43 (1991), H. 8, S. 619–632. – Gabriele Runge (Hg.): Über G. P. Ravensburg 1991. – Susan Tebbut: G. P. in Context: Socially Critical ›Jugendliteratur‹, G. P. and the Search for Utopia. Ffm. u. a. 1994. – Peter Morris-Keitel: ›Hoffnung im Überfluss‹. Über die Erfahrbarkeit einer anderen Welt im Werk G. P.s. In: GQ 67 (1994), S. 391–401. – B. Murdoch: Menschenverachtung u. Feindbilder. The Message(s) of G. P.s ›Die Wolke‹. In: Neoph. 79 (1995), H. 1, S. 135–146. – Rüdiger Steinlein: Auschwitz oder die Probleme narrativfiktionaler Darstellung der Judenverfolgung als Herausforderung der gegenwärtigen Kinder- u. Jugendlit. G. P.s Holocausterzählung ›Reise im August‹. In: Bücher haben ihre Gesch. Kinder- u. Jugendlit., Lit. u. NS, Deutschdidaktik. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag. Hg. Petra Josting. Hildesh. u. a. 1996, S. 177–191. – Petra Ernst: G. P. in: LGL. – Uwe Jahnke: Tiere u. Tierschicksale in der Kinder- u. Jugendlit. G. P.s. In: WW 58 (2008), H. 3, S. 423–445. – Jana Mikota: G. P. In: Kinder- u. Jugendlit. Ein Lexikon. Hg. Alfred C. Baumgärtner u. Heinrich Pleticha. Meitingen 2009. – U. Jahnke: G. P. Leben u. Werk. Ravensburg 2010. – Thomas Schaefer: G. P. In: KLG. Horst Heidtmann / Elke Kasper

Pazarkaya, Yüksel, * 24.2.1940 Izmir/ Türkei. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Essayist, Übersetzer, Autor von Hör- u. Fernsehspielen, von Kinder- u. Sachbüchern, Verleger. Als türk. u. dt. Literat u. Intellektueller genießt P. in Deutschland wie in der Türkei hohes Ansehen, v. a. als bedeutender Vermittler zwischen den beiden Kulturen u. Literaturen. P. kam 1958 zum Studium der Chemie nach Stuttgart (Diplom) u. studierte seit 1966 auch Germanistik u. Philosophie (Dr. phil. 1972). Er gründete eine Studentenbühne u. war Fachbereichsleiter der Volkshochschule,

1986–2002 Leiter der türk. Redaktion beim WDR, poet in residence verschiedener amerikan. Universitäten sowie Inhaber der Chamisso-Poetikdozentur der TU Dresden. 2005 gründete er den Sardes-Verlag für die Vermittlung türk. Literatur. Anfang der 1960er Jahre fand P. Zugang zur dt. Literaturszene u. zur visuell-konkreten Poesie. Die 1963 einsetzende türk. Arbeitsimmigration thematisierte P. als einer der Ersten in Gedichten u. Kurzgeschichten in teilweise dokumentarischem Stil u. mit politisch-sozialem Engagement. Er rechnete sich nicht zur »Gastarbeiterliteratur«, sondern zur breiteren türk. »Deutschlandliteratur« u. betonte die formalen Qualitäten von »Literatur«. Vorbild wurden ihm neben Nazım Hikmet, Behçet Necatigil u. dem myst. Volksdichter Yunus Emre eine Tradition der Volkspoetik, die sich bewusst von der literar. Kunstsprache im Stil der osman. Literatur abwandte, sowie die Lyrik u. das Experimentiertheater Brechts. Die seit 1960 entstandenen Gedichte erschienen zuerst auf Türkisch (Koca Sapmalarda biz vardık. Istanbul 1968), 1985 als Irrwege/Koca Sapmalar auf Türkisch u. Deutsch (Ffm.). Die Texte des ersten Teils Spuren von uns in Deutschland reflektieren, betitelt mit Namen authent. »Gastarbeiter«, deren Probleme in der dt. Gesellschaft, aber auch ironisch die Rolle studentischer »Sozialismus-Schwätzer«. Im zweiten Teil Verquere Formen kommen Menschen aus allen Erdteilen zur Sprache sowie aktuelle polit. Ereignisse wie der Bau der Berliner Mauer oder die Hochzeit des pers. Schah. Der letzte Teil Irrwege ist ein stärker an myst. Traditionen anknüpfender lyr. Zyklus über die Geschichte des Menschen auf der Erde. Mit Oturma Izni [Aufenthaltserlaubnis] (Istanbul) veröffentlichte P. 1977 in der Türkei seinen ersten Band mit Prosatexten. Drei Kurzgeschichten wählte er für das didaktische türk.-dt. Bändchen Heimat in der Fremde? (Bln. 1979) aus. Die ersten Gedichtbände auf Deutsch, die liebe von der liebe (Stgt. 1968, erw. als Sevgi Dolayları in: Aydınlık Kanayan C¸içek [Blumen, die Licht bluten] (Ankara 1974), 1983 zus. mit zeitzeichen (türk. Saat Ankara. Istanbul 1981) in Ich möchte Freuden schreiben (Fischer-

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hude) veröffentlicht, sammeln überwiegend knappe 3- bis 4-Zeiler, die oft spruchartig Überzeugungen u. Einsichten im Stile der Volksweisheit u. der myst. Tradition zur Liebe als Zentrum des menschl. Lebens u. zur Dichtung (nach dem Vorbild Emres) formulieren u. freude über das lebenswunder ausdrücken. In spontanen tägl. Eintragungen über ein Jahr hin werden Eindrücke, Einfälle, auch zu Zeitfragen, zu Armut u. Unterdrückung, zur Heimat (Türkei) u. Fremde des Menschen festgehalten. P.s Hymne an die deutsche sprache (1970) gilt einer dt. Kultursprache in der Tradition der Aufklärung, die zum Ort der Humanität u. Hoffnung in der Fremde (wie die türk. Muttersprache) wird. Die Gedichtsammlungen blumen die wie blut blühen (Aydınlık Kanayan C¸içek. Ankara 1974) u. fremde ist wo du gekränkt wirst (Incindig˘in yerdir gurbet. Ankara 1979), dt. in Der Babylonbus (Ffm. 1989) erschienen, thematisieren die Verdrängung der Probleme der Immigration u. die Fremdenfeindlichkeit im »Bitterland« Deutschland. Neben den negativen Reaktionen der Deutschen auf die gastarbeiter wird ausführlich auch das eigene Dichten reflektiert u. das literar. »Vergnügen« neben dem notwendigen Engagement (nach dem Militärputsch in der Türkei von 1980 u. der Verfolgung der Intellektuellen) verteidigt. In der Tradition von Liebesgedichten im Sinne des pantheistisch u. sufistisch geprägten Volksdichters Emre steht der Zyklus Sen Dolayları (Istanbul 1983; übers. Du Gegenden. Erlangen 2005). Der Gedichtband Yol Dolayları [Weggegenden] (Istanbul 2006) nimmt gestalterische u. themat. Aspekte aus dem lyr. Werk auf, wie die Kritik am Missbrauch aufklärerischer Ziele in einem Gedicht, das den Irak-Krieg verurteilt. Schon 1985 entstand u. d. T. Ben Aranıyor [= Ich gesucht] eine erste Fassung von P.s Roman, veröffentlicht 1989 in Istanbul u. erst 2002 auf Deutsch als Ich und die Rose (Hbg.), der die Erlebnisse des in Deutschland arbeitenden IT-Spezialisten Orhan Barut auf seiner Reise in die türk. Heimat beschreibt. Der Entschluss dazu wird ausgelöst vom mysteriösen Anruf einer unbekannten Frau u. stürzt Orhan in eine Lebens- u. Sinnkrise, in einen Zustand der völligen Leere u. Kommunikati-

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onsunfähigkeit. Die Reise ist von Anfang an durch die Willkür der Staatsorgane geprägt, entsprechend der von Gewalt u. Oppression geprägten sozialpolit. Situation in der Türkei nach dem Militärputsch. In der fremden Heimatstadt mit ihrer offenen, multikulturellen Vergangenheit nimmt die verlorene Erinnerung an das frühere Leben in einem gleichnamigen jugendl. Doppelgänger wieder Gestalt an, den Orhan auf seinen Wegen als Straßenverkäufer begleitet. Entscheidend wird die Begegnung mit der jungen Anruferin Gül, die Rose, die ihm seit Kindheitstagen heimlich (bis nach Deutschland) gefolgt war u. die ihm nun eine neue Welt der Liebe eröffnet. Der Fremde gerät immer wieder unvermittelt u. oft unwillkürlich zwischen die polit. Lager u. so in die Hände der brutalen u. korrupten Polizei, schließlich sogar in eine geschlossene Anstalt, in deren friedl. Sonderwelt er die Realität vergessen kann, bis Gül ihn befreit. Die Entfremdung von der Herkunft u. die Lebenskrise in der Migration sind wie die Ländergrenzen nur in einem menschlich-universalen, symbolisch-utop. Liebesentwurf zu überwinden, der auch in der Metaphorik auf Traditionen der türk. Mystik zurückgreift u. der in einem Spiel mit Realität u. Illusion, Identität u. Erinnerung die surrealen Aspekte der Entfremdungskrise mit einem realistisch-gesellschaftskrit. Erzählen u. der polit. Kritik am Herkunftsland verbindet. In den Erzählbänden Güz Rengi [Herbstfarbe] (1998), Güz Öyküleri [Herbstgeschichten] (2007) u. Kıs¸ Öyküleri [Wintergeschichten] (2008, alle Istanbul) löst sich P. explizit von dt.-türk. Themen. Die beiden letzten enthalten wieder tagebuchartige Eintragungen zu alltäglichen, persönl. oder polit. Begebenheiten oder eigenen Gedanken u. vereinzelte fiktive literar. Texte wie Kurzgeschichten u. Gedichte. In seinen Dramen wie Mediha (Urauff. 1988, Ankara) bleibt P. inhaltlich meist nah an der Situation der türk. Gastarbeiter in Deutschland. Kös¸ etas¸ ı [Einstein] (Ankara 2000), Ferhat’in yeni acıları [Ferhats neue Leiden] (in Anlehnung an Goethes Werther) u. Haremden Kadın Kaçırma [Entführung aus dem Harem] (beide Ankara 1993) waren in der Türkei erfolgreich.

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P. entschied sich von Anfang an für die – Odyssee ohne Ankunft. Dresdner Chamisso-PoeZweisprachigkeit u. schrieb trotz größerer tikvorlesungen 2000. Dresden 2004 (mit Bibliogr.). Nähe zum Türkischen je nach Anlass auch auf – Nur um der Liebenden willen dreht sich der Deutsch. Kulturelle Identität u. Literatur sind Himmel. Erlangen 2006 (Ess.s). Literatur: Wolfgang Riemann: Y. P. – Ein Pionicht von der »Muttersprache« abhängig, ein Eindringen in die fremde Sprache u. ihr Ge- nier der ›Deutschlandliteratur‹. In: Das Deutschlandbild in der modernen türk. Lit. Wiesb. 1983, dächtnis ist modernen zweisprachigen AutoS. 48–60. – Gino Chiellino: Die Reise hält an. Ausren in einem »Schreiben in der Differenz« (in länd. Künstler in der Bundesrepublik. Mchn. 1988 der Position eines »Dritten«) durchaus mög- (Interview). – Ülker Gökberk: ›Bin ein benommelich. Es ist von gegenseitigem Einwirken von ner Vogel, gegen alle Wände prallend‹: Der Topos Sprache u. literar. Tradition, von zweifachen des Exils aus doppelter Sicht. In: Selecta 12 (1991), Erfahrungs-, Lebens- u. Gedächtniswelten S. 56–62. – Dies.: Das Motiv der außereurop. geprägt; deshalb entschloss sich P. schon Fremde im interkulturellen Kontext. In: Diyalog. früh, zwischen den beiden Sprachen u. Kul- Interkulturelle Ztschr. für Germanistik, Juli 1994, turen »literarisch vermittelnd zu wirken« S. 15–26. – Zehra Ipsiroglu u. Norbert Mecklenburg: Deutschlandbilder in der Migrantenlit. In: (Interview), v. a. auch durch Übersetzungen Diyalog, Dez. 1994, S. 135–156. – Carmine Chielin beide Richtungen. Er übersetzte Necatigil, lino: Additive Gleichzeitigkeit der Sprachen bei Y. Bülent Ecevit, Hikmet, Zülfü Livaneli, Azız P. in: Ders.: Am Ufer der Fremde. Lit. u. ArbeitsNesin, Orhan Asena u. a. ins Deutsche u. migration 1870–1991. Stgt./Weimar 1995, Lessing, Goethe, Brecht u. dt. Lyrik des 20. Jh. S. 340–349. – Cornelia Zetzsche: Y. P. In: LGL. ins Türkische. Als Kinderbuch- u. LehrbuchKarl Esselborn / Yasemin Dayioglu-Yücel autor versuchte er (z.T. zweisprachig), türk. volkstüml. Traditionen zu erschließen, u. gab Pech, Kristian, * 14.9.1946 Frankenthal/ in Essaybänden Einblicke in die türkische Kultur Oberlausitz. – Lyriker, Erzähler, Nach(Zürich 1982) u. in die Lage ausländischer Ar- dichter. beitnehmer und ihrer Familie (Zürich 1983), was auch Thema verschiedener Hörspiele, Dra- P. ist einer derjenigen, die mit Selbstvermen u. der Fernsehserie Unsere Nachbarn, die ständlichkeit in der DDR aufgewachsen sind Baltas (ARD 1983) wurde. Den neuen Natio- u. in deren Schaffen der 1970er u. 1980er nalismus nach der dt. Vereinigung, mit tödl. Jahre die DDR-Wirklichkeit kaum grundrassist. Übergriffen, die den türk.-dt. Dialog sätzlich problematisiert wird, ohne dass dies u. den Integrationsprozess der Migranten zu affirmativen Pflichtübungen geführt hätzurückwarfen, diskutierte P. in Rundfunk- te. Mit frühen Gedichten hat ihn Bernd gesprächen mit dt. Autoren (Mölln ve Solin- Jentzsch in Auswahl 70 (Bln./DDR 1970) u. gen’den sonra Almanya üzerine. Istanbul 1995) kurz danach in der Reihe Poesiealbum (Bln./ bzw. in Vorträgen (in den USA) u. Aufsätzen DDR, Nr. 48) der Öffentlichkeit vorgestellt. P.s erste Prosaerzählung, Der Landsitz (Roszur aktuellen Situation der dt. Gesellschaft. tock 1975. 21977), bekundet den Versuch eiIn Der vier Bücher [der Weltreligionen] Sinn ... Über die Variabilität der Kultur (1995) verweist nes aus der Enge seiner Jugend herausgeP. auf seine Herkunft aus der alten multi- wachsenen jungen Mannes, in einem neuen kulturellen u. multireligiösen Stadtkultur Verbundensein mit der Natur u. den Mitvon Izmir u. auf die vielfältigen Variablen der menschen schaffend wieder heimisch zu endlosen universellen Identität des Men- werden. Damit ist im Wesentlichen P.s dichterische Welt umrissen, die in seinen Geschen. dichten am überzeugendsten gestaltet erWeitere Werke: Türkiye, Mutterland – Almascheint. Gespeist aus der eigenen Erfahrung nya, Bitterland... Das Phänomen der türk. Migration als Thema der Lit. In: Ztschr. für Literaturwiss. einer von Kindheit an kreatürl. Beziehung zu u. Linguistik 56 (1984), S. 101–124. – Lit. ist Lit. In: allen Naturgegebenheiten, scheinen sie Eine nicht nur dt. Lit. Zur Standortbestimmung sämtlich auf »räume darin licht platz hat« der ›Ausländerliteratur‹. Hg. Irmgard Ackermann ausgerichtet zu sein. Im zweiten Gedichtu. Harald Weinrich. Mchn./Zürich 1986, S. 59–64. band, Abschweifungen über Bäume (Rostock

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1976), werden immer wieder hintersinnig Bäume, als Inbegriff eines stolzen, aber zunehmend durch Atemnot bedrohten Lebens, den städte- u. industrieplanerischen Bestrebungen entgegengehalten. Die unvollkommene Haut (Rostock 1983) führt dieses Thema fort, nur dass das Verlangen nach Harmonie hier noch elegischere Töne gezeitigt hat. Die ird. Unvollkommenheit ist an der eigenen Haut fühlbar geworden, wie sie »trost braucht einer anderen haut / den warmen teppich täglicher berührungen«. Liebesgedichte nehmen hier folglich einen wichtigen Platz ein. Immer schon zu Sprachspielereien aufgelegt, zeigt sich P. in den Sprüchen der Sammlung Reyn pflantzlicke Lybe (Rostock 1985. 41990) leider zu sehr Wulf Kirsten tributpflichtig. Wie sehr außer der ostdt. Landschaft, namentlich der sorbischen seiner Kindheit, auch die sibir. u. ukrain. Landschaft mit ihren Menschen es dem Dichter angetan hat, geht v. a. aus den Geschichten des 1981 ebenfalls in Rostock erschienenen Bändchens Die Mützentransaktion (21982) hervor. P. wurde 1975 mit der Erich-Weinert-Medaille u. 1986 mit dem Carl-Blechen-Preis ausgezeichnet. Er lebt heute in Döbern/Niederlausitz u. ist Mitgl. des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Literatur: Jürgen Grambow: Erot. Zwischenspiele. K. P.: ›Reyn pflantzliche lybe. Eyn gutt halp schock spryche alfabettisch‹. In: DDR-Lit. [...] im Gespräch, Jg. 3 (1986), S. 190–199. Ad den Besten / Red.

Pechel, Rudolf, * 30.10.1882 Güstrow/ Mecklenburg, † 28.12.1961 Zweisimmen/ Schweiz. – Publizist. Nach Absolvierung des Gymnasiums zu Güstrow u. einer Fähnrich-Ausbildung bei der Marine studierte P. Germanistik, Philosophie u. Kunstgeschichte in Göttingen u. Berlin, wo er 1908 bei Erich Schmidt mit einer Studie über den frühaufklärerischen Satiriker Christian Wernicke promovierte. 1910 vertrat er Bruno Hake in der Redaktion der »Deutschen Rundschau«, 1912–1914 wirkte er als Redakteur beim »Literarischen Echo«. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Reserveoffizier der Marine u. als Marineflieger teil.

Ab 1919 gab P., der sich der »Ring-Bewegung« um Moeller van den Bruck (»JuniKlub«) angeschlossen hatte, die »Deutsche Rundschau« heraus, mit deren Hilfe er großdt. Ideen verbreitete. Seit Mitte der 1920er Jahre rief er nach einer »konservativen Sammlungsbewegung in Deutschland« (Volker Mauersberger), wobei er mit Edgar Julius Jung, einem führenden Kopf der »JungKonservativen«, u. Karl Haushofer, dem Begründer der »Geopolitik«, eng zusammenarbeitete. Auf den Nationalsozialismus reagierten P. u. seine Mitarbeiter anfangs distanziert-positiv, dann jedoch zunehmend mit virtuos camouflierter, an humanistisch-christl. Werten orientierter Kritik. Dabei bediente man sich häufig der satir. Parallelisierung zeitgenössischer u. histor. Personen bzw. Zustände (Sibirien, 1937; Lob des Scharlatans, 1938; Julian Apostata, 1940; Bei Dr. Leete, 1941). 1942 wurde P., der Verbindungen zum nationalkonservativen Widerstand geknüpft hatte, verhaftet u. musste die folgenden Jahre in den Konzentrationslagern Sachsenhausen u. Ravensbrück verbringen. Erst am 14.4.1945 kam er aufgrund einer Initiative seines Sohns Eberhard frei. P.s publizist. Tätigkeit nach 1945 wurde von heftigen polit. Auseinandersetzungen im Zuge des Ost-West-Konflikts bestimmt. 1946 gab er die 1942 verbotene »Deutsche Rundschau« neu heraus u. bekämpfte in ihr sowohl restaurative Tendenzen im westl. als auch den »linken Totalitarismus« im östl. Teil Deutschlands. P. war Mitbegründer der Christlich-Demokratischen Union (1945). Für sein polit. u. journalist. Wirken wurde er mehrfach geehrt (Ehrenpräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 1952; Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin, 1952). Weitere Werke: Prolegomena zu einer krit. Wernicke-Ausg. Diss. Bln. 1908. – R. P. (Hg.): Christian Wernickes Epigramme. Bln. 1909. – R. P. (Bearb.): Frz. Rheinpolitik in amerikan. Beleuchtung. Ausgew. Stücke aus dem Tgb. des Oberkommandierenden der amerikan. Besetzungstruppen Henry T. Allen. Bln. 1925. – Deutschenspiegel. Bln. 1946. – Dt. Widerstand. Erlenbach-Zürich 1947. – Zwischen den Zeilen. Der Kampf einer Ztschr. für

Pedretti Freiheit u. Recht 1932–42. Einf. v. Werner Bergengruen. Wiesentheid/Unterfranken 1948 (Aufsätze). – Dt. Gegenwart. Aufsätze u. Vorträge 1945–52. Darmst./Bln. 1953. – (Hg.) Dt. Rundschau. Acht Jahrzehnte dt. Geisteslebens. Hbg. 1961. Literatur: Karl-Wolfgang Mirbt: Methoden publizist. Widerstandes im Dritten Reich, nachgewiesen an der ›Dt. Rundschau‹ R. P.s. Diss. Bln. 1958. – Volker Mauersberger: R. P. u. die ›Dt. Rundschau‹. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918–33). Bremen 1971. – Rosemarie Schäfer: R. P. u. die ›Dt. Rundschau‹ 1946–61. Diss. Gött. 1975. – Gérard Imhoff: R. P.: image et contre-image. In: Revue d’Allemagne 16 (1984), Nr. 3, S. 397–412. – Erwin Rotermund: Tarnung u. Absicherung in R. P.s Aufs. ›Sibirien‹ (1937). In: Textkritik u. Interpr. Hg. Heimo Reinitzer. Bern u. a. 1987, S. 417–438. – Heidrun Ehrke-Rotermund u. E. Rotermund: Zwischenreiche u. Gegenwelten. Texte u. Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im ›Dritten Reich‹. Mchn. 1999, S. 25–39. – E. Rotermund: Probleme der ›Verdeckten Schreibweise‹ in der literar. ›Inneren Emigration‹ 1933–45: Fritz ReckMalleczewen, Stefan Andres u. R. P. In: ›Gerettet und zugleich von Scham verschlungen‹. Neue Annäherungen an die Lit. der ›Inneren Emigration‹. Hg. Michael Braun u. Georg Guntermann. Ffm. 2007, S. 17–38. Erwin Rotermund

Pedretti, Erica, geb. Erika Schefter, * 25.2. 1930 Sternberg/Nordmähren. – Erzählerin, Hörspielautorin; Malerin, Objektkünstlerin. Nach Kindheit u. Kriegszeit, die P. vorwiegend in der ehemaligen Tschechoslowakei erlebte, konnten Verwandte die Ausreise der 15-Jährigen u. ihrer Familie in die Schweiz bewirken. P. studierte an der Kunstgewerbeschule in Zürich (1946–1950) u. arbeitete anschließend, da sie keine weitere Aufenthaltsbewilligung erhielt, als Silberschmiedin in New York. 1952 kehrte sie in die Schweiz zurück u. heiratete den Maler, Bildhauer u. Schriftsteller Gian Pedretti. Bis 1974 lebten sie in Celerina im Engadin, seitdem wohnen sie, von zahlreichen Auslandsaufenthalten abgesehen, in Neuveville am Bieler See. Erst spät, als 40-Jährige, begann P. zu veröffentlichen. Verletzungen durch Krieg u. Heimatverlust u. der lang andauernde Pro-

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zess der Einfindung in eine neue Umgebung sind die wiederkehrenden u. zentralen Themen, die ihr anspruchsvolles Werk aspektreich u. sensibel zur Sprache bringt. Schon der Titel ihres Erstlings, des Prosatextes Harmloses bitte (Ffm. 1970), formuliert dabei einen unerfüllbaren Wunsch: Harmloses aus dem »Hier« der hellen Ferienlandschaft Engadin kann die zurückliegenden, albtraumhaft dunklen Schrecknisse des »Dort« der Kindheit nicht überdecken. In den folgenden Werken erweitert die Autorin das Spektrum ihrer literar. Techniken. Aus dem Bewusstseinsstrom treten Figuren hervor u. werden im Dialog oder durch dokumentarisch erfasste Selbstauskünfte präsent. Im Roman Heiliger Sebastian (Ffm. 1973) zeigt P. am Beispiel der Hauptfigur Anne, wie Erinnerungen das Gegenwärtige überwuchern. Eine Handvoll Figuren illustrieren in Veränderung oder Die Zertrümmerung von dem Kind Karl (Ffm. 1977; zus. mit Harmloses bitte u. Heiliger Sebastian u. d. T. Harmloses bitte & zwei Romane. Ffm. 1996) den Integrationsprozess als Gratwanderung zwischen Anpassung u. Selbstentfremdung. Aufgrund von P.s künstlerischer Doppelbegabung tritt das Schreiben zeitweilig hinter der Tätigkeit als bildende Künstlerin zurück. Bekannt wurden v. a. ihre zum Teil großformatigen Flügel-Skulpturen, die ab den 1970er Jahren entstanden. Valerie oder Das unerzogene Auge (Ffm. 1986), hervorgegangen aus dem 1984 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichneten Prosatext Das Modell und sein Maler (NZZ, 8.9.1984), löst sich thematisch sichtlich von den Vorgängertexten. Angeregt durch die Beziehung des Malers Ferdinand Hodler zu Valentine GodéDarel, gleichzeitig seine Geliebte u. sein Modell, behandelt P. exemplarisch die Themen Liebe, Krankheit, Tod und künstlerische Wahrnehmung. Signifikant an P.s literar. Ausgestaltung des Themas ist, dass die größere Aufmerksamkeit nicht dem Maler Franz, sondern seinem Modell, der krebskranken Valerie, zuteilwird. Im Fokus steht die leidvolle Erfahrung einer Frau, die sich bewusst macht, dass sie noch auf dem Sterbebett als Objekt benutzt wird. Gleichzeitig gelingt es Valerie, sich auf dem Weg der Re-

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flexion u. künstlerischen Selbsterprobung eine eigene Stimme u. Sicht zu verschaffen u. sich damit vom Objektstatus zu befreien. Formal gleicht der Text einem Gewebe aus Erinnerungen, Monolog- u. Dialogpartien, Beschwörungen von Bildern, Stimmungen u. Landschaften. Der »unerzogene«, d.h. freie u. kreative Blick Valeries einerseits u. der im Vergleich fast zwanghaft ordnende des Malers andererseits sowie das Spannungs- u. Machtverhältnis der Geschlechter luden zu feminist. Lesarten ein, wenngleich später relativiert wurde, dass der vielschichtige Text auch gegen die Vereinnahmung durch den feminist. Diskurs anschreibe. Im Roman Engste Heimat (Ffm. 1995), für den P. 1996 den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis erhielt, kehrt die Autorin mit zunehmendem zeitl. Abstand zum Ausgangspunkt ihres Schreibens, zu Krieg, Vertreibung, Fremde u. dem Bewältigen solcher Erfahrungen, zurück u. kontrastiert im Montageverfahren unterschiedl. Zeitschichten, Ereignisse u. Orte. Die Suche nach den im Land zurückgelassenen, verschollenen Gemälden des Onkels, die die Hauptfigur Anna nach rd. 30 Jahren erstmals u. nach der Wende ein zweites Mal in die »engste Heimat«, die mähr. Orte ihrer Kindheit, zurückführt, ist auch metaphorisch als Aufsuchen u. Prüfen von Erinnerungs-Bildern zu verstehen. Sprach- u. Selbstreflexionen, Wechsel von der Ich- zur Er-Perspektive u. das Zur-Disposition-Stellen möglicher Handlungsfortgänge verhelfen P. dazu, künstlerisch Distanz zum autobiogr. Material zu erlangen. Im Zuge individueller Aufarbeitungsprozesse werden P.s Figuren auch die Wiederholungsmuster der Geschichte bewusst. Die auf Koh 1,3 zurückgehende Frage »Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe?« bleibt daher am Ende im leeren Raum stehen. Der Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte (Ffm. 1998) verbindet das (Lebens-)Thema des Erinnerns mit dem des Altwerdens: Die altersschwache IchErzählerin reflektiert in zum Ende immer kürzeren u. brüchigeren Sequenzen Vergangenes, Unverarbeitetes. In der rückblickenden Perspektive einer stark belasteten Ehefrau u. Mutter gibt sie Einblicke in die Fa-

Pedretti

miliengeschichte u. ein sublimes Geflecht von Schuldzuweisungen u. -eingeständnissen, v. a. bezogen auf die dominante Pflegetochter Trude, die sich die fehlende »Nestwärme« der Kindheit gerade jetzt, im Umkehrmoment des Fürsorgeverhältnisses, gewaltsam, über eine erdrückende Liebe zu der nicht mehr autonomen Mutter, zurückholt. Von dem durch seine repetitiven Passagen gebetsähnl. Prozess des Erinnerns erhofft sich Sophie Erleichterung von lange verdrängten, bedrückenden Erlebnissen, Schuldgefühlen u. von der Angst, das Unerzählte durch den nahenden Tod mit ins Vergessen zu nehmen. Eine Amalgamierung von Text u. Bild in materieller Hinsicht schafft P. in ihren bislang letzten Werken: In Heute. Ein Tagebuch (Ffm. 2001) übertönt sie Zeitungsmeldungen mit einem transparenten Weiß u. kommentiert die durchschimmernden Texte u. Bilder zum Tages- u. Weltgeschehen handschriftlich mit persönl. Gedanken. Von Hinrichtungen & Heiligen (Remagen/Rolandseck 2001 [Texte, Bilder, CD]) steigert dieses Verfahrensprinzip, indem es weitere Collage-Elemente u. diverses Textmaterial hinzuzieht. Die palimpsestartige Überlagerung von Text- u. Bildschichten bringt die Spannung von Faktizität u. Subjektivität, medialen Reizen u. Stille sowie Bewusstem u. Unbewusstem zum Ausdruck. Der Facettenreichtum der letztlich das Gesamtwerk durchziehenden Beziehungen zwischen Texten u. Bildern wurde bisher nur partiell sichtbar gemacht. Weitere Werke: Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge. Ffm. 1984 (E.en). – Mal laut u. falsch singen. Düsseld. 1986 (Kinderbuch). – Schauen / Schreiben. Wie kommt das Bild zur Sprache? In: NZZ, 9./10.3.1996, S. 49 f. – ›Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion‹. Interview v. Vesna Kondricˇ Horvat. In: Vestnik 33 (1999), H. 1–2, S. 421–429. – Szenenwechsel. Tagebuchblätter. Mit einem Nachw. v. Hans Saner. Poschiavo/ Luzern 2005. – Gedichte in: Belege. Gedichte aus der deutschsprachigen Schweiz seit 1900. Hg. Werner Weber. Zürich u. a. 1978, S. 331–335 (Anth.). – Hörspiele: Badekur. DRS 1970. – Kaninchen. Südfunk Stuttgart 1971. – Catch as Katz can. DRS 1972. – Febr. oder Das ganze Volk fährt Ski. DRS 1972. – Steine oder Die Zertrümmerung v. dem Kind Karl u. a. Personen. Südfunk Stuttgart u. NDR 1976.

Peer Literatur: Gerda Zeltner: E. P. In: Das Ich ohne Gewähr. Zürich 1980, S. 101–123. – Elsbeth Pulver: E. P. In: KLG. – Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik der letzten Dinge. Ffm. 1989, S. 109–112. – Gisela Ecker: Der andere Blick? E. P.s Roman ›Valerie oder Das unerzogene Auge‹. In: Leib- u. Bildraum. Hg. Sigrid Weigel. Köln/Weimar/Wien 1992, S. 77–99. – E. Pulver: Das ›allervornehmste Werkstück Gottes‹. ›Engste Heimat‹, das Opus magnum v. E. P. In: Schweizer Monatsh.e 75 (1995), H. 6, S. 33–36. – Beatrice v. Matt: Frauen schreiben die Schweiz. Stgt./Wien 1998, S. 157–174. – Vesna Kondricˇ Horvat: Fiktionalisierung der eigenen Biogr. durch Sprachexperimente. Zu E. P. In: Acta Neophilologica 32 (2000), S. 35–47. – Anne-Kathrin Reulecke: Bild u. Tod. E. P.s ›Valerie oder Das unerzogene Auge‹. In: Dies: Geschriebene Bilder. Mchn. 2002, S. 343–384. – Petra Ernst: E. P. In: LGL. – Dominik Müller: E. P. – Ferdinand Hodler. In: Kunst im Text. Hg. Konstanze Fliedl. Ffm./Basel 2005, S. 179–199. – Meike Penkwitt: Erinnern zwischen Performanz u. Referenz. Die ›Erinnerungstexte‹ der Autorin E. P. In: Freiburger FrauenStudien 20 (2007), Bd. 2, S. 237–263. – Irena Sˇebestová: Die Fremde in der Fremde. Zur künstler. Identität im Schaffen v. E. P. Ffm. u. a. 2008. Gunhild Kübler / Raffaele Louis

Peer, Oskar, * 23.4.1928 Lavin/Engadin. – Philologe, Schriftsteller. P. wuchs in einer Bauernfamilie auf. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Maschinenschlosser, brach diese jedoch vorzeitig ab u. entschloss sich, Lehrer zu werden. Er besuchte das Lehrerseminar in Chur u. unterrichtete nach erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildung an den Primarschulen in Tschierv u. Felsberg. Später studierte er Romanistik u. Germanistik in Zürich u. Paris. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre verfasste er im Auftrag der Lia Rumantscha ein rätoromanisch-deutsches Wörterbuch. Wenig später legte P. eine Dissertation über das Werk des surselvischen Schriftstellers Gian Fontana vor (Der dichterische Ausdruck im Werke Gian Fontanas. Winterthur 1964). Nach seiner Promotion unterrichtete P. von 1961 bis 1970 Französisch u. Italienisch an der Kantonsschule Winterthur. 1970–1996 lehrte er als Dozent am Churer Lehrerseminar. P. lebt heute in Chur. Er ist verheiratet u. hat zwei erwachsene Kinder. P. gehört zu den bedeu-

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tendsten rätoroman. Erzählern der Gegenwart. Seit seiner Pensionierung widmet er sich verstärkt dem Schreiben. Sein umfangreiches literar. Werk besteht aus Romanen u. Novellen, die meist in rätoromanischer u. dt. Sprache verfasst sind. P. ist in seiner Schweizerischen Heimat als Schriftsteller bekannt, der sich mit der Sprache u. der Kultur des Rätoromanischen beschäftigt. Seine literar. Texte zeichnen sich durch eine atmosphärische Dichte aus u. entfalten ihren Spannungsbogen vor einem festen lokalen oder histor. Hintergrund. Obwohl P. seine literar. Figuren oftmals an abgelegenen Orten in den Schweizer Bergen agieren lässt, vermittelt er dem Leser weit mehr als anschaul. Beschreibungen dörflichen Lebens. Ihn interessiert der Mensch als Teil einer gewachsenen Gemeinschaft, seine Lebensgeschichte, sein Verhältnis zu anderen Menschen, sein Lieben u. sein Scheitern. Dabei faszinieren ihn bes. die dunklen Facetten des Menschseins. P. konzipiert seine Romane als Versuchsanordnungen, in denen die Protagonisten ihren Platz im Leben finden u. sich bewähren müssen. Dabei müssen sie nicht nur lernen, sich in der lebensfeindl. Umwelt des Hochgebirges zu behaupten u. sich selbst zu vertrauen, sondern treten darüber hinaus noch gegen die Ab- u. Ausgrenzungsversuche ihrer Mitmenschen an. Innenu. Außenwelt der Protagonisten ergänzen sich bei diesem Prozess wechselseitig, sodass die kargen äußeren Gegebenheiten der alpinen Landschaft gleichsam die inneren Abgründe der Protagonisten widerspiegeln. Eindringlich lotet P. die psych. Konstellationen seiner komplex angelegten Figuren aus, lässt sie die ihnen zugewiesenen Rollenmuster durchbrechen u. stellt sie vor Aufgaben, denen sie nicht gewachsen sind. Ihr Scheitern beschreibt er in einer schlichten unprätentiösen, manchmal auf das Wichtigste reduzierten Sprache. Trotz aller Widrigkeiten, die sich seinen Protagonisten in den Weg stellen, erhalten sie sich ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft u. Glück, ihr Streben nach einem Aufgehobensein in der Natur u. in der Liebe. Dieser Ansatz macht P.s literar. Werk unabhängig vom rätoroman. Kontext auch für eine breitere Leserschicht interessant.

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Pehnt

In seinem Roman Akkord (Zürich 2005) 1999. – La rumur dal flüm. Zernez 1999. – Eva ed il führt P. seinen Protagonisten an seine physi- sonch Antoni. Zernez 2003. – Intermezzos. Zernez schen u. psych. Grenzen. Der 65-jährige Si- 2002. – In tschercha dal figl. Zernez 2005. Literatur: Gion Deplazes: Die Rätoromanen. mon kehrt nach Verbüßung einer Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung in sein Heimat- Ihre Identität in der Lit. Disentis 1991. Klaudia Hilgers dorf zurück. Ehemalige Freunde u. Nachbarn ziehen sich zurück. Die Dorfgemeinschaft nimmt ihn nicht mehr auf. Unbarmherzig Pehnt, Annette, * 25.7.1967 Köln. – Litewird der Heimkehrer in die Rolle des Geäch- raturkritikerin u. Prosa-Autorin. teten gedrängt. Mit seiner Entscheidung, dennoch im Dorf zu bleiben, tritt er eine P. sammelte früh Auslandserfahrungen. Bezweite, lebenslange Strafe an. Auch die An- reits nach dem Abitur u. vor dem Studium nahme einer schwierigen, scheinbar unmög- der Anglistik, der Keltologie u. der Germalich zu erfüllenden Aufgabe führt ihn nicht in nistik leistete sie Sozialarbeit in Nordirland. den Kreis der Gemeinschaft zurück. Er Es folgten weitere Studienaufenthalte in Irscheitert u. findet den Tod. Der Roman Das land u. den USA, sowie an den dt. UniversiRaunen des Flusses (Zürich 2007) nimmt das täten von Köln u. Freiburg i. Br., wo sie 1997 Heimkehrermotiv noch einmal auf. Der Er- nach dem Magisterabschluss mit einer Arbeit zähler sucht die Orte seiner Kindheit auf u. zur irischen Literatur promovierte (Mad erinnert sich an Landschaften, Menschen u. Sweeney. Aneignung und Transformation eines Begebenheiten. In Rückblenden schildert er mittelalterlichen Stoffes in der modernen irischen die Geschichte seiner Kindheit u. Jugend u. Literatur. Trier 1999). Die verheiratete Mutter vermittelt damit auch ein kulturgeschichtl. von drei Kindern lebt seit 1992 in Freiburg. Bild des Lebens im Schweizerischen Engadin Dort arbeitet sie als Literaturkritikerin u. der 1930er und 1940er Jahre. Der Roman Das freie Autorin u. leitet darüber hinaus Schreibwerkstätten u. Workshops. alte Haus (Zürich 2010) variiert das Motiv der Nach der Veröffentlichung mehrerer Geschlossenheit einer eingeschworenen Kurzgeschichten u. einer Monografie über Dorfgemeinschaft. Eindrücklich schildert der John Steinbeck (Mchn. 1998) folgte ihr DeErzähler, wie sein Protagonist Chasper unbütroman ich muss los (Mchn. 2001) über eischuldig ins Unglück gerät u. welche Erfahnen jugendlichen, hochbegabten Außenseirungen der junge Mann im Kampf um sein ter, für den sie u. a. mit dem Mara-CassensErbe macht. Preis ausgezeichnet wurde. Bereits hier ofP.s Werk wurde mit zahlreichen Preisen fenbaren sich verschiedene für P.s Prosa typ. ausgezeichnet, u. a. Schillerpreis (1977), AnMerkmale. Ihre Romane beschäftigen sich erkennungspreis des Kantons Graubünden mit Randerscheinungen, sie bewegen sich an (1983), Prix des auditeurs de la Suisse ro- der geografischen, sozialen u. menschl. Perimande (1999), Prix Lipp Zurich (1999) u. pherie. Ihre Beobachtungen sind dabei sehr Grosser Kulturpreis des Kantons Graubün- genau u. zeichnen sich sprachlich durch einen den (2003). unaufgeregten, lakonisch-präzisen Stil aus. Weitere Werke: Dicziunari ladin-tudais-ch. Der Umfang ihrer Romane übersteigt dabei Chur 1962. – Polyglott Sprachführer. Sursilvan – kaum den von Novellen oder KurzgeschichLadin. Bearb. v. Pieder Cavigelli (Sursilvan), Oscar ten. So verhält es sich auch mit ihrem zweiten Peer (Ladin). Mchn. 1972. – Eine Hochzeit im Roman Insel 34 (Mchn. 2003), der bereits Winter. Zürich 1972. – Hannes. Ber. aus der Haft. vorab mit dem Preis der Jury der Tage der Zürich 1978. – Accord. Lavin 1978. – Eva. Lavin deutschsprachigen Gegenwartsliteratur prä1980. – Viadi sur cunfin. Zernez 1981. – Gärten über dem Strom. Zürich 1983. – Grenzstation. miert wurde. Aus der Perspektive der heranZürich 1984. – Nozzas d’inviern. Zernez 1988. – Il wachsenden Ich-Erzählerin wird das Motiv grond Corradi. Zernez 1990. – Teodor. Lavin 1992. der Insel-Utopie verfolgt. Die weltliterar. – Tanter di e not. Zernez 1993. – Wohnstätten am Anklänge reichen dabei von Schnabel bis Inn. Hörbuch. Basel 1998. – La chasa veglia. Lavin Tchechow. Der geograf. Randbezirk, an dem

Pellicer

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sich P. dabei bewegt, eine bis zur Zahl 34 Pellicer, Hans (auch: Johann) Georg, gedurchnummerierte Inselkette vor der Küste tauft 25.10.1636 Eutin, † 4.6.1682 LüNorddeutschlands, dient als Projektionsflä- beck. – Jurist, Verfasser von Prosaeklogen. che u. spiegelt dabei das Innenleben der nach einem Sehnsuchtsort suchenden Protagonis- P. war der Sohn des Lübecker Juristen Adolph tin. Mut zur Eigenwilligkeit beweist die auch Pellicer, der als Domherr dem Kollegiatstift als Kinderbuchautorin erfolgreiche P. bei der in Eutin, der Residenz des (protestantischen) Themenwahl ihrer bisher letzten beiden Ro- Fürstbistums Lübeck, angehörte. Von seinem mane. Das Haus der Schildkröten (Mchn. 2006) Bildungsgang ist bislang nur bekannt, dass er führt in die durch Tristesse, Schmerz u. Ver- sich 1661 als Hofmeister eines aus Schleswig lust gekennzeichnete Welt des Altersheims, stammenden Studenten in Altdorf immatrijenen bisher überwiegend weiß gebliebenen kulieren ließ; vorher dürfte er selbst Jura Fleck auf der literar. Landkarte. Das Haupt- studiert haben. Aus seiner Zeit in Altdorf augenmerk richtet P. jedoch auf die Kinder- datiert vermutlich seine enge Berührung mit generation, die Generation der 40-Jährigen, dem literar. Leben in Nürnberg im Umkreis zu der sie selbst gehört, sowie deren Abhän- der Pegnitzschäfer u. ihres Oberhauptes Birgigkeitsverhältnisse, die beinahe zwangsläu- ken. Im Jan. 1666, als er bereits Sekretär des Domkapitels war, schrieb P. sich an der neu fig zu einem Scheitern führen. P. interessiert sich für die Innenwelten ih- gegründeten Universität Kiel ein u. erwarb rer Helden sowie für den Einfluss äußerer dort noch im selben Monat mit einer InauErlebniswelten auf ihre Protagonisten. Diese guraldissertation De aestimatione (Präses: Erlebniswelten können, wie in Das Haus der Erich Mauritius. Kiel 1666) die Würde eines Schildkröten, an Orte oder, wie in ihrem letzen Lizentiaten beider Rechte. 1668 wurde er Roman Mobbing (Mchn. 2007), an soziale Mitgl. des Eutiner Kollegiatstifts, 1676 ging Gruppen gebunden sein. Hier erforscht sie, er in den Dienst des Herzogs von Sachsenwie sich das Phänomen sozialer Ausgrenzung Lauenburg, für den er mehrfach diplomat. u. Diskreditierung am Arbeitsplatz auf den Aufgaben erfüllte. P. dichtete lateinisch u. deutsch. Seine dt. Betroffenen u. dessen Privatleben auswirkt. Für diesen Roman wurde P. 2008 mit dem Gedichte brachten ihm 1669 unter dem OrThaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet. P. paart densnamen der »Zierende« die Aufnahme in exaktes Beobachten u. Erfassen von Wirk- Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft u. lichkeit mit einem Gespür für existentielle 1670 als »Thyrsis der Erste« zus. mit seinem Erfahrungen u. Konflikte u. entwickelt dafür Bruder Matthias (»Lysis«) in den Pegnesieine sparsame Metaphorik, die in ihrer schen Blumenorden ein. Unter diesen Getransparenten Nüchternheit u. poet. Akku- dichten befinden sich zwei aus Prosa u. Verratesse manchmal unerbittlich, dabei jedoch sen gemischte Schäfereien: ein zus. mit Mastets zugewandt u. emphatisch bleibt. 2009 gnus Daniel Omeis verfasstes Glückwünschendes Hirten-Gedicht (Nürnb. 1672) u. ein Lob des erhielt P. den Italo-Svevo-Preis. Weitere Werke: Prosa: Der kleine Herr Jakobi. Floridans, eine Prosaekloge zu Ehren Birkens. Mchn. 2005. – Rabea u. Marili. Hbg. 2006. – An- Diese ist in einem von P. herausgegebenen nika u. die geheimnisvollen Freunde. Hbg. 2007. – Sammelband enthalten, dessen weitere Teile Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen. von Martin Kempe u. Daniel Bärholtz verfasst Mchn. u. a. 2010 (E.en). sind: Balthis oder etlicher an dem Belt weidenden Literatur: Thomas Kraft: A. P. In: LGL. – Schäffer des hochlöblichen Pegnesischen BlumenThomas Schaefer: A. P. In: KLG. Torsten Kellner Ordens Lust- und Ehren-Gedichte (3 Tle., Lübeck 1674/75). Ein Trauer-Spiel von dem leidenden Jesu scheint ungedruckt geblieben zu sein. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Jürgensen, S. 400–402 u. ö. – Weitere Titel: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. BlumenOrdens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...].

131 Nürnb. 1744, S. 369–373 u. 869 f. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974. – Heiduk/Neumeister, S. 79, 218, 439. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Krit. Ausg. [...]. R. II, Abt. C, Bd.1. Hg. Martin Bircher u. a. Tüb. 1997, Register. – Christian v. Zimmermann: Regionale u. soziale Identität in der Frühen Neuzeit [...]. In: Kulturgesch. Preußens kgl. poln. Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann u. a. Tüb. 2005, S. 827–857. Dieter Lohmeier / Red.

Pellikan, Pellicanus, Konrad, eigentl.: Konrad Kürschner, * 8.1.1478 Rufach/Elsass, † 5.4.1556 Zürich; Grabstätte: ebd., Großmünster. – Hebraist u. reformierter Theologe. Nach Studien in Heidelberg (April 1491 bis 1492), wo ihn sein Onkel Jodokus Gallus in den Humanistenkreis um Bischof Johannes von Dalberg einführte, wurde der Bürgersohn 1493 Franziskaner u. studierte ab 1496 in Tübingen vornehmlich unter Paulus Scriptoris. Bei Reuchlin lernte er Hebräisch u. schrieb 1501 die erste christlich-hebr. Grammatik (De modo legendi et intelligendi Hebraeum. Basel 1503. Straßb. 1504). Als Lektor im Basler Kloster gehörte er ab 1502 zum Reformkreis des Bischofs Christoph von Utenheim u. wurde Mitarbeiter des Druckers Johannes Amerbach. 1516 trat er in enge Beziehung zu Erasmus, der sein theolog. Denken nachhaltig beeinflusste. P. trug durch die Publikation von Lutherschriften maßgeblich zur Basler Reformation bei. 1523 berief ihn der Rat an die Universität, doch bereits 1526 folgte er einem Ruf Zwinglis an die »Prophezei« in Zürich, wo er bis zu seinem Tod die alttestamentl. Professur versah. An konfessioneller Polemik beteiligte sich der Vertreter der »via media« nicht. Den Zeitgenossen galt P. v. a. als Hebraist. Er verfasste viele, meist lat. Übersetzungen aus der jüd. Kommentar- u. Geschichtsliteratur (u. a. von Abraham Saba, Maimonides, David Kimchi, Gersonides, Elia Levita), publizierte aber nichts davon. Nachhaltiger war seine Wirkung als Bibelkommentator. Er schrieb den einzigen vollständigen lat. Bibelkommentar der Reformationszeit (Commentaria bibliorum [...]. 7 Bde., Zürich

Pellikan

1532–39. 21536–46. 31582). Ab 1538 verfasste er dt. Kommentare zu den meisten Büchern des AT (gedr. nur: Ruth. Ein heilig büchlin des alten Testaments [...]. Zürich 1555). P.s Kommentare zeichnen sich vor anderen durch eine breite Berücksichtigung der jüd. Kommentarliteratur aus, sind aber nicht streng wissenschaftlich ausgerichtet, sondern wollen v. a. prakt. Auslegungshilfen für die Predigttätigkeit der Pfarrer in der Zwinglianischen Kirche bieten. Sie fanden Beachtung im ganzen protestant. Europa. P.s Autobiografie – erst 1877 im Druck erschienen – gibt für die frühen Jahre P.s Einblicke in die Geschichte des oberdt. Franziskanertums im Spannungsfeld zwischen Spätscholastik u. Humanismus u. lässt Affinitäten zwischen den franziskan. Idealen u. reformierter Theologie erkennen. Sie stellt ebenso eine Quelle zur Bildungsgeschichte im zwinglian. Zürich dar. Weitere Werke: Quadruplex Psalterium. Basel 1516. – Psalterium Davidis [...]. Straßb. 1527. Zürich 1532. – Explicatio brevis [...] libelli Ruth [...]. Zürich 1531. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Index bibliorum. Zürich 1537. Internet-Ed.: HAB Wolfenb. – Das Chronicon des K. P. Hg. Bernhard Riggenbach. Basel 1877. Ausgaben: De modo legendi et intelligendi Hebraeum. Straßb. 1504. Nachdr. Tüb. 1877. – Die Hauschronik K. P.s. [...]. Dt. v. Theodor Vulpinus. Straßb. 1892. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Konrad Riggenbach: K. P. In: ADB. – Emanuel Dejung u. Willy Wuhrmann: Zürcher Pfarrerbuch 1519–1952. Zürich 1953, S. 403. – Kurt Maeder: Die Via Media in der Schweizerischen Reformation [...]. Zürich 1970. – C. Zürcher: K. P.s Wirken in Zürich 1526–56. Zürich 1975. – Martin Rose: K. P.s Wirken in Zürich 1526–56. Bemerkungen zur Einschätzung eines Lebenswerkes. In: Zwingliana 14 (1977), H. 7, S. 380–386. – Francis Rapp: Les Franciscains et la Réformation en Alsace. Deux religieux humanistes dans la tourmente, Murner et P. In: Annales de l’est 37 (1985), S. 151–165. – Hans R. Guggisberg: C. P. In: Contemporaries, Bd. 3, S. 65 f. – Erich Wenneker: K. P. In: Bautz. – Pierre Paul Faust: C. Kürschner. In: NDBA, Lfg. 22 (1994), S. 2133 f. – Martin Germann: Die reformierte Stiftsbibl. am Großmünster Zürich im 16. Jh. u. die Anfänge der neuzeitl. Bibliogr. [...]. Mit Ed. des Inventars v. 1532/51 v. C. P. Wiesb. 1994. – Traudel Himmighöfer: Die Zürcher Bibel bis zum Tode

Peltzer Zwinglis (1531). Darstellung u. Bibliogr. Mainz 1995. – R. Gerald Hobbs: Conrad P. and the Psalms. The Ambivalent Legacy of a Pioneer Hebraist. In: Reformation and Renaissance Review 1 (1999), S. 72–99. – Beate Ego: K. P. u. die Anfänge der wiss. christl. Hebraistik im Zeitalter v. Humanismus u. Reformation. In: Humanismus u. Reformation [...]. FS Friedhelm Krüger. Hg. Reinhold Mokrosch. Münster u. a. 2001, S. 73–84. – Elsie Anne MacKee: A Lay Voice in Sixteenth-Century ›Ecumenics‹. Katharia Schütz Zell in Dialogue with Johannes Brenz, C. P., and Caspar Schwenckfeld. In: Adaptations of Calvinism in Reformation Europe. Hg. Mack P. Holt. Aldershot u. a. 2007, S. 81–110. – Christine Christ-v. Wedel: Erasmus u. die Zürcher Reformatoren. Huldrich Zwingli, Leo Jud, K. P., Heinrich Bullinger u. Theodor Bibliander. In: Erasmus in Zürich [...]. Hg. dies. u. a. Zürich 2007, S. 77–166. – Hans Ulrich Bächtold: K. P. In: HLS (2009). Christoph Zürcher / Red.

Peltzer, Ulrich, * 9.12.1956 Krefeld. – Romanautor. P. studierte ab Mitte der 1970er Jahre Psychologie u. Philosophie an der FU u. TU Berlin. Nach dem Diplom, das er mit einer Arbeit über Aspekte der Formierung bürgerl. Individualität in der höf. Gesellschaft abschloss, veröffentlichte er 1987 seinen ersten Roman, Die Sünden der Faulheit (Zürich), einen Text, der Strukturen des Kriminalromans aufnimmt u. vom Zeitgeist der frühen 1980er Jahre in Berlin geprägt ist. P. erweiterte im Anschluss daran sein stilist. Repertoire u. nahm sich des Sujets Berlin in den 1980er Jahren nochmals an: In einer wahren tour de force durch die Techniken avantgardist. Schreibens erzählt Stefan Martinez (Zürich 1995) von der Zeit nach dem Fall der Mauer. Da die Erzählung über lange Strecken an den Protagonisten gebunden bleibt, ist auch seine Wahrnehmung Mittel der erzählerischen Produktion von Simultaneität. Die Erzählweise unterbricht auf unterschiedl. Weisen den Fortgang eines Handlungsstranges: Ständig tauchen Erinnerungspartikel oder -komplexe auf, die, aus unterschiedl. Zeitschichten stammend, die Rekonstruktion der unterschiedl. Handlungsstränge a posteriori erfordern, welche offenbar für Martinez bedeutsamste Ereignisse herausstellen. Dazu

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zählen das Kennenlernen von Vater u. Mutter, seine Schulzeit, der von einem Freund initiierte Drogendeal sowie die Geschichte, wie er seine Freundin kennenlernte. Konsequenterweise setzt das Erzählen – das ohnedies immer wieder in Ellipsen u. Anakoluthen abbricht, um zu einem anderen Anfang oder Ende zu eilen – immer neu u. mit anderen Erzählerstimmen ein. Das Erzählersubjekt ist ein prozessuales, das sich mit der Stadt verbindet. Vier Jahre später erschien mit Alle oder keiner (Zürich) P.s wiederum in Berlin, aber auch im Baskenland, in Bukarest u. Italien situierter Roman über den Ausgang aus der Politik der 1970er Jahre u. den Aufbruch in die Mikropolitik der Wünsche, wie es im poststrukturalist. Jargon hieß; ein Abgesang auf die sich saturierenden Alt- u. Post68er, der zgl. einige moralische Prämissen des politisch-emanzipativen Handelns aufrechterhält. Erzähltechnisch wird dabei die Balance zwischen experimentellem Erzählen u. Traditionen realist. Erzählens gefunden. Diese Erzählweise wird im Furore machenden Bryant Park (Zürich 2002) an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 abgeschlossen, versucht der Roman, die Ereignisse in die Struktur des zuvor konzipierten Erzähltextes einzubetten. 2007 erschien P.s bis dato erfolgreichster Roman, Teil der Lösung (Zürich). Der Titel selbst spielt auf den Post-68er-Slogan »Entweder du bist der Teil der Lösung oder Teil des Problems« an u. greift diese Thematik mittels der Recherche des im Prekariat situierten Journalisten Christian auf, der versucht, die Spuren der linken Terroristen aus den 1970er Jahren aufzudecken. Während dieser Arbeiten an der politisierten Vergangenheit lernt er die Germanistikstudentin Nele kennen u. lieben, die innerhalb der Autonomenszene Berlins aktiv ist. P. schildert die Unwägbarkeiten des flexibilisierten Arbeitsmarktes, die Kontrolle politischer Aktivisten wie die Privatisierung öffentl. Räume. Die verschlungenen Wege der Liebesgeschichte, die zgl. von den Zumutungen der Kontingenz u. dem Protest dagegen erzählt, führen vom Sony Center im Herzen Berlins bis in die Banlieues von Paris. Er schildert dabei das akadem. Proletariat

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ebenso wie die Arrivierten, kreist um die Möglichkeiten einer nicht in Selbstverleugnung ausartenden Liebe wie eines sinnvollen polit. Handelns. Literatur: Ingo Arend: U. P. In: LGL. – Matthias Auer: U. P. In: KLG. – Christian Jäger: Berlin Heinrichplatz. The Novels of U. P. In: Writing and Reading Berlin. Hg. Stephen Brockmann. Special Issue of ›Studies in 20th and 21st Century Literature‹ 28,1 (2004), S. 183–210. Christian Jäger

Penck, Albrecht, * 25.9.1858 LeipzigReudnitz, † 7.3.1945 Prag-Reuth. – Geograf.

Penot

Berlin. Während sich P. in den 21 Jahren seiner Wiener Tätigkeit neben Detailforschungen v. a. dem Ausbau der erst wenige Jahre an den Universitäten institutionalisierten Geografie widmete u. wegweisende länderkundl. Darstellungen sowie das erste systemat. Lehrbuch über die Morphologie der Erdoberfläche (2 Bde., Stgt. 1894) verfasste, übernahm er in Berlin bis zu seiner Emeritierung 1926 noch zusätzlich organisatorische Aufgaben. Als Direktor des Instituts u. Museums für Meereskunde, Vorsitzender der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Mitgl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften sowie des wiss. Beirats für die dt. Kolonien entwickelte P. einen von seinen Gegnern gefürchteten Einfluss, der später nicht frei war von nationalist. Ressentiments.

Aus einer protestant. Leipziger Kaufmannsfamilie stammend, studierte P. nach dem Realschulabitur Naturwissenschaften in Leipzig u. konzentrierte sich unter dem EinWeitere Werke: Physikal. Skizze v. Mitteleufluss von Hermann Credner, der ihn 1878 ropa. In: Länderkunde. Erdteil Europa. Hg. Alfred promovierte, auf die Geologie, namentlich Kirchhoff. Bd. 1, Lpz. 1887, S. 89–113. – Das Dt. auf die geolog. Erforschung des Eiszeitalters. Reich. Ebd., S. 115–596. – Das Hauptproblem der P.s überragendes Beobachtungstalent machte phys. Anthropogeographie. In: Ztschr. für Geopoihn schnell zum führenden Geomorphologen litik (1925), S. 330–348. – Nat. Erdkunde. In: Ztschr. der Gesellsch. für Erdkunde zu Berlin des späten 19. Jh. In seiner Arbeit Die Ge(1933), S. 257–262. schiebeformation Norddeutschlands (in: ZeitLiteratur: Emil Meynen: A. P. In: Geographers. schrift der Deutschen Geologischen GesellBiobibliographical Studies. Bd. 7, London 1984, schaft 1879, S. 117–203) widerlegte er die S. 101–108. Ute Wardenga / Red. Drifttheorie endgültig zugunsten der Vereisungstheorie. In seiner Habilitationsschrift Die Vergletscherung der Alpen, ihre Ursache, periPenot, Bernard Gilles, auch: Bernardus a odische Wiederkehr und ihr Einfluß auf die BoPortu Sanctae Mariae Aquitanus, à Portu, dengestaltung (Lpz. 1882) gliederte er das EisDu Port, Duport,* 1519 Port-Sainte-Marie zeitalter bereits in drei durch Interglaziale an der Garonne/Frankreich, † 30.8.1617 deutlich voneinander geschiedene VereiYverdon/Schweiz. – Hugenottischer Emisungsphasen. Klare Problemstellung, gründl. grant; international bekannter alchemoBeobachtung, Vertrautheit mit der einschläparacelsistischer Fachschriftsteller. gigen Literatur, Kombinationsgabe u. krit. Urteil kennzeichnen das unter teilweiser Der höchst bewegte Lebenslauf des um 1560 Mitarbeit von Eduard Brückner entstandene aus seiner Heimat emigrierten P. ist nur in Hauptwerk Die Alpen im Eiszeitalter (3 Bde., Umrissen zu erkennen. Er umfasst – oft im Lpz. 1901–09). Es erbringt den Nachweis für Umkreis hoher, auch naturkundlich interesvier Eiszeiten, die detaillierte Deutung von sierter Potentaten u. Diplomaten – einen Oberflächenformen in den Erosions- u. Ak- Aufenthalt in England (ca. 1570), Studien in kumulationsgebieten sowie eine auf Schät- Basel (1579, in dieser Zeit die auch brieflich zung von Sedimenten beruhende Veran- dokumentierte Bekanntschaft mit Theodor schlagung der Dauer des Eiszeitalters. In Zwinger u. dem protestant. Paracelsisten u. seinen Grundgedanken bis heute gültig, be- namhaften Theologen Johann Arndt), Statiogründete das Werk den internat. Ruf des seit nen am Genfer See (1581/82) u. (um 1590) in 1885 in Wien Physische Geographie lehren- Olmütz u. Prag, wo P. im Hause der kaiserl. den P. u. führte 1906 zu seiner Berufung nach Arztes Thaddaeus Hagecius angeblich Zeuge

Penzel

der von Edward Kelley praktizierten alchem. Herstellung künstl. Goldes wurde. Dass er – auch als Leser, Herausgeber u. Kommentator des einschlägigen alchemo-hermet. Schrifttums – bis ins hohe Alter derartige Versuche fieberhaft verfolgte, ja sie auch selbst immer wieder neu ins Werk zu setzen versuchte u. sich dabei finanziell ruinierte (dazu etwa die Briefe an Jacob Zwinger, abgedr. in CP III), wird nicht zuletzt mit solchen Erlebnissen zu tun gehabt haben. In die böhm. Lebensjahre fallen Kontakte mit dem mährischen Grundherren Karl von Zierotin u. manchen Führern der antihabsburgischen Allianz (u. a. Christian von Anhalt). Noch 1592 wurde P. in Basel in einer privaten Zeremonie – unter der Bedingung, dem Paracelsismus abzuschwören – der Titel eines Dr. med. verliehen. Dies ermöglichte ihm, von 1593 bis 1595 die Stelle eines Stadtarztes in Frankenthal/Pfalz zu bekleiden u. dort weiter seiner alchem. Leidenschaft nachzugehen (Kontakte u. a. mit dem Arztalchemiker Oswald Crollius, aber auch mit dem Dichter Paul Schede Melissus u. dem frz. Diplomaten Nicolaus Bongarsius). Noch im hohen Alter nahm er 1596 die Stelle eines Stadtarztes in dem zu Bern gehörenden schweizerischen Städtchen Yverdon an (Kontakte u. a. mit dem schriftstellerisch regen Chirurgen Wilhelm Fabry/Fabricius Hildanus), wo er – zuletzt völlig verarmt in einem Hospital – als sagenumwobener Adept der hermet. Kunst verstarb. Werke: Es handelt sich durchweg um Sammelwerke mit Ausgaben fremder Autoren, Ausarbeitungen bzw. Notizen P.s sowie diversen Paratexten (zahlreichen Widmungsvorreden, manchmal auch Fremdbriefen): Philippi Aureoli Theophrasti Paracelsi [...] Centum quindecim curationes experimentaque. o. O. [Genf] 1582 (mehrere engl. u. dt. Übers.en). – Tractatus varii, de vera praeparatione et usu medicamentorum chymicorum nunc primum editi [...]. Ffm. 1594. Dt. Übers. u. d. T. ›Theophrastisch Vademecum‹ durch einen nicht identifizierten ›Johannes Hippodamus, Cheruscus‹. Magdeb. 1596. – Egidii de Vadis Dialogus inter Naturam et Filium. Accedunt Abditarum rerum Chemicarum Tractatus Varii. Ffm. 1595. Teilwiedergabe in Theatrum Chemicum. Bd. 2, Straßb. 1659, S. 81–138. – Apologia crysopoeiae [sic!] et argyropoeiae Adversus Thomam Erastum Doctorem et Professorem Medicinae. In qua disputatur et

134 docetur, An, quid, et quomodo sit Chrysopeia et Argyropoeia. Authore Gastone Claveo [d.i. Gaston Duclo] sub praeside Nivernensi. Nunc primum à Bernardo G. Ponoto [sic!] a portu S. Mariae Aquitano, cum annotationibus marginalibus edita. o. O. [Genf] 1598. – (Mehrteiliges Sammelwerk mit eigenen Innentiteln) Apologia. Bernardi G. Penoti, a Portu S. Mariae Aquitani in duas partes divisa ad Josephi Michelii Middelburgensis medici scriptum. Ffm. 1600. – De Denario medico, quo decem medicaminibus, omnibus morbis internis medendi Via docetur. Cui plures alii Tractatus additi sunt [...]. Bern 1608. Literatur: Werkverzeichnisse: Karl Sudhoff: Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. 1: Die unter Hohenheims Namen erschienenen Druckschr.en. Nachdr. u. d. T. Bibliographia Paracelsica. Graz 1958 (s. Register). – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 179–181. – Olivier/Kahn 1992–96 (s. u). – Weitere Titel: François Secret: Littérature et alchimie. In: BHR 35 (1973), S. 499–531, hier S. 506–511. – Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung u. Spekulation. Theodor Zwinger u. die religiöse u. kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 77 (1977), S. 57–137; 79 (1979), S. 125–223, hier 77 (1977), S. 113 f., 116. – Hans Schneider: Johann Arndts Studienzeit. In: Jb. der Gesellsch. für Niedersächs. Kirchengesch. 89 (1991), S. 133–175. Auch in: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk u. Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Gött. 2006, S. 83–129. – Peter Goldmann: B. Georges [sic!] P. Stadtarzt in Frankenthal v. 1593 bis 1595. Biogr. Fragmente. In: Kunst, Kommerz, Glaubenskampf. Frankenthal um 1600. Hg. Edgar J. Hürkey. Worms 1995, S. 80–85 (Ausstellungskat.). – Eugène Olivier: B. G. P. (Du Port), médecin et alchimiste (1519–1617). Texte édité et présenté par Didier Kahn. In: Chrysopoeia 5 (1992–96), S. 571–667. – Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle (Hg.): Alchemomedizin. Briefe 1587–97. Stgt. 1998, mit Biogramm u. einem Brief an P. – D. Kahn: Alchimie et paracelsisme en France à la fin de la Renaissance. Genf 2007, passim (Register!). – CP III (komm. zweisprachige Ed. der Vorreden u. v. Teilen der Korrespondenz, ausführl. Biogr.). Wilhelm Kühlmann

Penzel, Abraham Jakob, * 17.11.1749 Törten bei Dessau, † 16.3.1819 Jena. – Lyriker; Philologe, Historiker, Übersetzer. P. studierte 1766–1771 mit Unterbrechungen Sprachen u. Geografie in Göttingen u. Leip-

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zig. Während dieser Zeit u. danach geriet er Penzel, Penzlin, Barbara Juliana, getauft immer wieder in Kalamitäten. Desertion, 20.10.1636 Nürnberg, † 1673 Pfedelbach. Strafprozesse, Skandale u. Schulden veran- – Lyrikerin. lassten ihn, Deutschland zu verlassen u. über Die Tochter des Nürnberger Ratsschreibers Königsberg (1775–1778) nach Polen zu geJohann Christoph Müllner heiratete am hen, wo er, nach seiner Konversion zum Ka17.7.1667 Conrad Penzel, den Rektor der tholizismus, eine klerikale Laufbahn einLateinschule zu Pfedelbach u. späteren Diaschlagen wollte. Doch seine Bekenntniskon, Pastor u. Hohenloheschen Konsistorialschrift Vernünftiger Versuch über die Grundwahrrat daselbst. Ein Jahr später wurde sie von heiten des katholischen Glaubens (Krakau 1782) Sigmund von Birken als »Daphne« in den u. der wissenschaftstheoret. Versuch De Arte Pegnesischen Blumenorden aufgenommen u. Historica (Lpz. [um 1784]) bezeugen P.s freizur Dichterin gekrönt. Seit ihren Jugendgeistiges u. rationalist. Menschenbild, das tagen hatte sich P. mit der Poesie im Stil diesen Plan scheitern ließ. So arbeitete P. seit Opitz’ beschäftigt. Sie schrieb Gelegenheitsetwa 1780 als Sprachlehrer u. Erzieher erst in gedichte u. Lieder, die in Werke der PegPolen, später in Österreich u. Italien. Mit der nitzschäfer aufgenommen wurden, in BirZeit wurde er alkoholabhängig u. verarmte. kens Guelfis (Nürnb. 1669) u. seine Todes-GeP. veröffentlichte zuerst – von Nicolai gedancken (Nürnb. 1670), in die Pegnesis (Nürnb. fördert – Sieben kleine Gedichte der Venus Erycina 1672/79) u. in die Balthis (Lübeck 1674). Ei[...] (Bln. 1769), die wegen ihrer erot. Inhalte nige geistl. Lieder – u. a. Meiner Seele müder Fus Aufsehen erregten. Als Übersetzer aus dem / hat der Ruh nun Uberflus / höchstvergnügt geGriechischen trat er mit der Geographika des funden – finden sich in Heinrich Müllers ErStoikers Strabon hervor (Des Strabo [...] allgequickstunden (Nürnb. 1673) u. im Altdorfischen meine Erdbeschreibung. 4 Bde., Lemgo 1775–77) Gesangbuch (1707). sowie mit der röm. Geschichte des Cassius Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht Dio Cocceianus (Dio Cassius [...] Jahrbücher Röv. deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens [...] Anfang mischer Geschichte. 3 Bde., Lpz. 1786–1818). u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 348–351. – Diese wenig wortgetreuen Übersetzungen Goedeke, Bd. 3, S. 321. – August Ritter v. Eisenkennzeichnet eine wertungsfreudige u. po- hart: B. J. P. In: ADB. – Jean M. Woods u. Maria lem. Sprache. Der Rationalist P., dessen lite- Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. rar. Vorbild Lessing war, bemühte sich kei- gelehrte Frauen des dt. Barock. Stgt. 1984, S. 89. – neswegs um eine sachl. u. objektive Darstel- DBA. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen lungsweise. Weitere Werke: Slg. merkwürdiger u. wichtiger Briefe an ihn. Lpz. 1798. – Schiltbergers aus München [...] Reise in den Orient u. wunderbare Begebenheiten. Von ihm selbst geschrieben. Aus einer alten Hs. übersetzt u. hg. v. J. P. Mchn. 1814. – Nachlass: Penziliana, Bayer. Staatsbibl. München. Literatur: R. Hoche: P. In: ADB. – Hans Köppe: A. J. P.s Lebensirrfahrten. Lpz. 1937. – Bernhard Gajek: Zwei unbekannte Briefe Johann Georg Hamanns. In: JbFDH (1986), S. 34–60. – Günter Mühlpfort: Ein Radikalaufklärer aus Anhalt. A. J. P. (1749–1819). In: Dixhuitieme 1988, S. 27–55. – Konrad Schröder: A. J. P. In: Ders.: Biogr. u. bibliogr. Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raums. Bd. 3, Augsb. 1992, S. 289–305. Carmen Asshoff / Red.

Neuzeit. Köln u. a. 2005, S. 399. – Jürgensen, S. 285–287 u. Register (unter: B. J. Müllner). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1507 f. – Die Pegnitz-Schäferinnen. Eine Anthologie. Zusammengestellt u. mit einer Einl. vers. v. Ralf Schuster. Vorw. v. Hartmut Laufhütte. Passau 2009. Renate Jürgensen / Red.

Penzoldt, Ernst, auch: Fritz Fliege, * 14.6. 1892 Erlangen, † 27.1.1955 München. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker; Bildhauer, Maler u. Zeichner. P. ist der eher seltene Fall einer literar. u. bildnerischen Doppelbegabung; v. a. zur Zeit des Nationalsozialismus mussten die bildnerischen Auftragsarbeiten des Pseudonyms Fritz Fliege, nach einem Wort P.s, häufig ihren Autor ernähren. Als jüngster von vier

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Brüdern u. Sohn eines bekannten Internisten u. Tuberkuloseforschers wurde P. zunächst von einem Hauslehrer unterrichtet. Nach dem Gymnasium besuchte er 1911–1913 die Kunstakademie Weimar, 1913/14 die Akademie in Kassel, um Bildhauer zu werden. Bei Kriegsbeginn 1914 wurde der Freiwillige wegen eines Nierenleidens zurückgewiesen, gelangte jedoch – wie andere kriegsbegeisterte, doch »untaugliche« Intellektuelle der Zeit – durch Protektion zunächst in den Sanitätsdienst, später zur Infanterie. 1920 nahm sich P. ein Atelier in München, das fortan seine Wahlheimat war. In verschiedenen Zeitschriften erschienen erste Märchen, Grotesken u. Idyllen, 1922 in dem von seinem Freund Ernst Heimeran gegründeten Verlag der Gedichtband Der Gefährte (Mchn.) in einer Auflage von 20 Exemplaren, P.s erste selbständige Veröffentlichung (eine Mappe mit Scherenschnitten war 1914 vorausgegangen). Im Sommer 1924 wurde die literar. Gesellschaft »Die Argonauten« gegründet, zu deren engerem Kreis neben P. Eugen Roth, Paul Alverdes u. Hans Brandenburg gehörten u. die durch Dichterlesungen (Thomas Mann, Hesse, Hofmannsthal, Klabund, Stefan Zweig u. andere) u. Festveranstaltungen über München hinaus tätig wurde. Für die Waldkirche in Planegg schuf P. 1926 eine Skulpturengruppe (Kruzifix, Engel u. Evangelisten), die neben seiner Carossa-Büste als das bekannteste u. bedeutendste der plast. Werke gilt. Von den Nationalsozialisten wurde sie nach 1933 als »entartet« beseitigt (1977 restauriert). Mit dem Roman Der arme Chatterton (Lpz. Ffm. 1990), einer poetisch freien Lebensgeschichte des engl. Dichters Thomas Chatterton, erschien 1928 die erste literarisch bedeutsame Arbeit P.s, die in ihrer Titelgestalt bereits sein Hauptthema vorstellt: den ästhetischen, unbürgerl. Menschen, der trotz seiner Mystifikationen u. hochstaplerischen Lebensweise einer heimlichen u. oft unzeitgemäßen Moral verpflichtet ist. Thomas Chatterton u. andere Helden P.s sind traumversunkene, noch nicht fragmentarisierte Existenzen, denen eine nahezu animist. Weltsicht u. ein sinnlich-unmittelbarer Zu-

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gang zur Poesie eignet. Thomas Manns Charakteristik dieses Romans – unter dem Geist »des romantischen Spottes über die plumpe und häßliche Mühsal eines von den Grazien ungesegneten Lebens« verberge sich eine »Sozialkritik des Herzens« – lässt sich auf das Gesamtwerk übertragen. Selbst in P.s heiterstem Buch, dem modernen Schelmenroman Die Powenzbande (Bln. 1930. Ffm. 1977. 2004), sind die krit. Untertöne nicht völlig getilgt. Die fiktive Chronik einer mitgliederreichen Familie liebenswerter Betrüger, Narren u. Lebenskünstler, die P. in späteren Auflagen um fingiertes Material u. pseudowiss. Anmerkungen erweiterte (Nachspiel zu den ›Räubern‹. Hbg. 1946. Der Kartoffel-Roman. Mchn. 1948), wurde 1974 mit Gustav Knuth u. Ruth-Maria Kubitschek in den Hauptrollen verfilmt. Der Film verdeckte durch komödiantische u. burleske Effekte die ohnehin verhaltene Kritik des Romans an Spießbürgertum u. Untertanengeist vollends u. festigte so P.s Ruf als liebenswerter u. humorvoller, in seiner Substanz jedoch begrenzter Autor. In der Tat teilt P., der die Motivation seines Schreibens in den Schrecken des Ersten Weltkriegs begründet sah, mit dem Gros der dt. Schriftsteller die literarisch u. politisch hilflose Haltung angesichts des Kriegs u. nationalsozialist. Terrors. Korporal Mombour, die während des Kriegs geschriebene u. 1940 in der »Neuen Rundschau« erstveröffentlichte Novelle, zeigt als deutl. Beispiel, wie ein erzählerisch hohes Niveau über geschickt beförderte Identifikation zu Zwecken »erzählerischer Seelsorge« eingesetzt wird, unter denen die vermeintlich »halsbrecherischen Proteste gegen den Herrn von damals« (Wilhelm Emanuel Süskind) verborgen blieben. Die Novelle konnte 1943 als Feldpostausgabe erscheinen; 1950 wurde sie mit Dieter Borsche u. Maria Schell u. d. T. Es kommt ein Tag verfilmt. Das dramat. Werk P.s fand bei der Verleihung des Kleist-Preises 1930 »ehrenvolle Erwähnung«. Die bereits im Vorjahr entstandene Portugalesische Schlacht (Bln. 1931), die Geschichte des verheimlichten Todes eines Königs u. Heerführers, deren Vorlage P. bei Montaigne fand, wurde am 31.1.1931 in München, Oldenburg u. (mit Bernhard Mi-

Peregrina

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netti in der Hauptrolle) in Darmstadt gleichzeitig uraufgeführt. 1954 wollte P., seit einem Jahr dramaturgischer Berater am Bayerischen Staatstheater, für Aufführungen Änderungen u. Streichungen vornehmen; nach einem ersten Herzinfarkt starb er über dieser Arbeit. Weitere Werke: Allerlei Humore. Mchn. 1914 (Scherenschnitte). – Der Zwerg. Lpz. 1927. Ffm. 1982. Rev. Fassung u. d. T. Die Leute aus der Mohrenapotheke. Bln. 1937. Ffm. 1989 (R.). – Etienne u. Luise. Lpz. 1929 (N.). – Idolino. Bln. 1935. Ffm. 1992 (E.). – Squirrel. Ffm. 1954. 2005 (E.). – Die Liebende u. a. Prosa aus dem Nachl. Hg. Friedi Penzoldt. Ffm. 1958. – Zugänge. Ffm. 1982. 2005 (E.). – Hier bin ich gewachsen. Hg. Ulla Penzoldt u. Jürgen Sandweg. Erlangen 1987. – Wörterbuch verquerer Gedanken. Zitatencollage. Hg. Kulturamt Stadt Erlangen. Erlangen 1992. – Sommer auf Sylt. Liebeserklärungen an eine Insel in Betrachtungen, Episteln, E.n u. Bilderbriefen mit farbigen Zeichnungen des Verf. Hg. Volker Michels. Ffm. 1992. 21993. – Die E.n. Hg. U. Penzoldt u. V. Michels. Ffm. 2002. Ausgaben: Dichtungen. Mchn. 1922–24; Bd. 1: Der Gefährte; Bd. 2: Idyllen; Bd. 3: Der Schatten Amphion. – Ges. Schr.en in Einzelbdn. 3 Bde., Ffm. 1949–52. – Die schönsten Erzählungen. 5 Bde., Ffm. 1981. – Jubiläumsausg. zum 100. Geburtstag v. E. P. Bde. 1–7. Hg. Ulla Penzoldt u. a. Ffm. 1992. Literatur: Ernst Heimeran: Lebensabriß u. Werkverz. Mchn. 1942. – Thomas Mann: E. P. zum Abschied. In: Ders.: Nachlese. Bln./Ffm. 1956. – Horst Wernicke: E. P. Elemente u. Gestaltung seiner dichter. Wirklichkeit. Diss. Marburg 1963. – E. P. Leben u. Werk in Texten u. Bildern. Hg. Ulla Penzoldt u. Volker Michels. Ffm. 1988. – Helmut Peitsch: Vom ›guten Gewissen des Soldaten‹. E. P.s ›Korporal Mombour‹ (1940) im Traditionszusammenhang der Kriegslit. In: LiLi 19, H. 75 (1989), S. 54–78. – E. P. – Kunst u. Poesie. Redaktion Gertraud Lehmann. Erlangen 1992. – Konstanze Rahn: E. P. u. das Theater. Egelsbach/Köln/New York 1993. – Olívio Caeiro: O Sebastianismo na distância irónica. Comentário a dois textos de E. P. In: Ensaios de literatura e cultura alemã. Hg. Rita Iriarte. Coimbra 1996, S. 255–278. – Christian Soboth: ›Noch ist Polen nicht verloren!‹ Erzählen als Kriegsbeschädigung u. Wiedergutmachung bei E. P. In: Apokalypt. Visionen in der dt. Lit. Hg. Joanna Jablkowska. Lódz 1996, S. 38–52. – Veit Christoph Baecker: Im Himmel wird nicht mehr gedichtet... E.-P.-Studien. Hagen 1999. – Gunther Nickel u. Susanne Schaal-Gotthardt: Die Doku/

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mente zu einem gescheiterten Opernplan v. Paul Hindemith u. E. P. In: Hindemith-Jb. 28 (1999), S. 88–253. – Christian Klein: Das Selbst als Text. Zum Verhältnis v. Identität u. Narration in E. P.s Roman ›Der arme Chatterton‹. In: Differenzerfahrung u. Selbst. Hg. Bettina v. Jagow u. Florian Steger. Heidelb. 2003, S. 101–120. – Christian Klein: E. P. Köln/Weimar/Wien 2006. Frank Raepke / Red.

Peregrina, Cordula, eigentl.: C. Schmid, geb. Wöhler, * 17.6.1845 Malchin/Mecklenburg, † 6.2.1916 Schwaz/Tirol. – Verfasserin von religiösen u. volkstümlichen Werken. Die Entscheidung P.s, der Tochter eines protestant. Pfarrers, 1870 zum kath. Glauben überzutreten, beeinflusste grundlegend ihr Leben u. Schaffen. Bis zur Heirat 1876 lebte P. in äußerster Mittellosigkeit in Schwaz u. verdiente sich den Unterhalt als Haushälterin, durch Sprachunterricht u. Handarbeit. Nach ihrer Eheschließung lebte sie in Bregenz u. Schwaz. Im Mittelpunkt der regen schriftstellerischen Betätigung P.s steht ihre Konversionsgeschichte, die sie auf Anraten ihres Beichtvaters in Aus Lebens Liebe, Lust und Leid, ein Pilgersang zur Abendzeit (Innsbr. 1898) niederschrieb. Die mystisch überhöhten Verse verfolgen in religiös-moralisierendem Ton ihren Weg der Gottesanbetung u. Demut. In P.s Frühwerk dominiert tiefgreifende Religiosität, die später von einem allzu gefühlsseligen Ton in der formal unausgereiften Lyrik abgelöst wird. Neben hagiografisch-erbaul. Lebensbildern (Die Geschichte der heiligen Nothburga von Rottenburg. Innsbr. 1870) veröffentlichte P. zahlreiche religiöse Gedichtsammlungen. Ein an die Kirchenliturgie angelehnter Band, Was das ewige Licht erzählt. Gedichte über das allerheiligste Altarsakrament (Innsbr. 1874), hatte 1920 bereits die 26. Auflage erreicht. Ebenfalls großes Publikumsinteresse in konservativ-christl. Kreisen fanden die Volksromane, in denen eine emotionale Heimatverbundenheit mit streng kath. Moralvorstellungen verknüpft wird (Ein Stücklein Volksleben aus den Tiroler Bergen. Innsbr. 1887).

Perfall Weitere Werke: Auf dem Sillberg. Innsbr. 1879 (R.). – Kath. Haus- u. Herzensleben. Mchn. 1888 (Slg.). – Marienrosen. Münster 1897 (L.). – Himmelsflug u. Erdenfahrt, ein Bilderbuch nach Dichterart. Innsbr. 1899 (L.). – Reich für den Himmel durch fleißige Übungen der Liebe Gottes. Innsbr. 1903 (Slg.). Christine Schmidjell / Red.

Perfall, Anton Frhr. von, * 11.12.1853 Landsberg/Lech, † 3.11.1912 Schliersee/ Obb. – Erzähler. P. entstammte einer seit dem 15. Jh. in Bayern ansässigen Adelsfamilie mit kulturpolit. u. künstlerischen Traditionen: Sein Bruder Karl war als Schriftsteller hervorgetreten, sein Onkel väterlicherseits, Carl (1824–1907), betätigte sich als Dirigent, Komponist u. Theaterhistoriker u. brachte es zum Intendanten der bayer. Hoftheater. Nach naturwiss. Studium in München begleitete P. die bekannte Schauspielerin am Wiener Burgtheater, Magda Irschick, mit der er seit 1877 verheiratet war, auf ihren Welttourneen. Seit den späten 1880er Jahren bis zu seinem Tod lebte er fast ausschließlich am Schliersee, in dessen malerischer Umgebung er seiner Jagdleidenschaft nachging u. in der die Schauplätze der meisten seiner Erzählungen angesiedelt sind. P. stand in der Nachfolge der oberbayer. Landschafts- u. Reiseliteratur eines Franz von Kobell, Ludwig Steub oder Karl Stieler, entnahm seine Stoffe jedoch fast ausschließlich seinen Jagderlebnissen. Seine Skizzen u. Erzählungen galten P. als literar. Verklärung der Jagd als einer gegen Verstädterung u. Industrialisierung gerichteten Standesbeschäftigung. So wurde er in seinem Hochwildrevier in der Valepp zu einer volkstüml. Figur; noch der ihm 1912 am Ufer des Spitzingsees gewidmete Gedenkstein huldigt eher dem populären Weidmann als dem Schriftsteller. Stilistisch orientierte sich P. an einem handfesten u. theoriefernen Detailrealismus, wie er ihn in der Malerei seines Jugendfreundes Wilhelm Leibl zu erkennen glaubte. Mit seinen Dramen u. Romanen (u. a. Gift und Gegengift. Stgt. 1890. König Erfolg. Bln. 1899) blieb P. so gut wie unbekannt. Einzig seine Jagdgeschichten wie Ein Waidmannsjahr (Bln.

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1896), Aus Berg und Tal (Stgt. 1902) oder Aus meinem Jägerleben (Lpz. 1906) halten ihn im regional engeren Kreis zünftig-nostalgischer Jäger noch in Erinnerung. Literatur: Dieter Voth: A. P. Leopoldsdorf 1999. Rolf Selbmann / Red.

Perfall, Karl (Theodor Gabriel Christoph) Frhr. von, auch: Theodor von der Ammer, * 24.3.1851 Landsberg/Lech, † 2.9.1924 Haus Gierenfeld in Schöneberg/Siegkreis; Grabstätte: München, Alter Südlicher Friedhof. – Romancier, Novellist, Journalist. Aus bayerischem Adel stammend, durchlief P. in München ein juristisches Studium u. Referendariat. Bereits der humorist. Münchner Bilderbogen (Mchn. 1879) u. das Wintermärchen (Mchn. 1879) machten P. als Belletristen bekannt. Im Anschluss an eine kurze Tätigkeit als Theatermeister am Münchner Hoftheater ging P. auf ausgedehnte Reisen; 1879 übernahm er die Leitung der »Düsseldorfer Zeitung« u. verfasste unterhaltende Romane wie Vornehme Geister (2 Bde., Düsseld. 1883) u. Die Langsteiner (2 Bde., Düsseld. 1890). 1886 wechselte er ins Feuilleton der »Kölnischen Zeitung«. P. genoss Popularität als Verfasser von Liebesromanen, die oberflächlich soziale Probleme seiner Zeit aufgreifen. Weitere Werke: Wanda. Düsseld. 1883 (D.). – Ein Verhältnis. Düsseld. 1887. 91904. – Natürl. Liebe. Düsseld. 1890. – Verlorenes Eden, hl. Gral. 3 Bde., Köln 1894. – Das Königsliebchen. Bln. u. a. 1895. 81905. – Sein Recht. Die Gesch. einer Leidenschaft. Köln 1897. 101905. – Die Entwicklung des modernen Theaters. Bonn 1899. – Bittersüß. Bln. 1905. – Hörner trägt der Ziegenbock. Bln. 1910. – Weibfremd. Bln. 1914. – Wendezeit. Bln. 1917. – Die Schule des Gefühls. Bln. 1920. Literatur: Emil Kaiser u. a. (Hg.): K. v. P. Köln 1911. – Norbert Hierl-Deronco (Hg.): Der Intendant K. Frhr. v. P. in Briefen aus den Jahren 1863–70. Krailling vor Mchn. 1992. Andreas Meier / Red.

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Perger, Bernhard, auch: B. von Stencz, Perinet, Joachim, * 20.10.1763 Wien, * nach 1440 Stainz/Steiermark, † um 1502 † 4.2.1816 Wien. – Schauspieler, TheaWien (?). – Universitätslehrer, Gramma- terdirektor, Journalist, Dramatiker. tiker, Kalenderschreiber. P. immatrikulierte sich im Sommersemester 1459 an der Universität Wien (Magister 1463). Eine seiner ersten Vorlesungen (1464/ 65) galt Euklid sowie der »Perspectiva communis« (Optik). In den 1470er Jahren – nach einem wohl mehrere Jahre währenden Italien-Aufenthalt – las P. an der Universität Wien über lat. Klassiker. 1478 erwarb er in Wien das jurist. Lizentiat u. übte in diesem Jahr auch das Rektorat aus. Als landesfürstl. Superintendent der Universität (ab 1492) hintertrieb er maßgeblich eine Berufung Celtis’ nach Wien. Der Archipoeta rächte sich durch eine bissige epigrammat. Invektive. P. versuchte in Wien – an der Universität wie an der Bürgerschule zu St. Stefan – den Lateinunterricht im humanist. Sinn zu reformieren, wobei er lange vor Wimpfeling in seiner Grammatica nova (Padua 1482. Mindestens 36 Drucke bis 1518) gegen den scholast. Grammatikunterricht auftrat. Als Grundlage diente ein Werk Niccolò Perottis, das P. selbständig bearbeitete u. statt der ital. Erläuterungen u. Exempel mit deutschsprachigen versah. P.s Trauerrede auf Kaiser Friedrich III. erschien 1493/94 in Wien u. Rom im Druck. Für den Kaiser berechnete P. auch einen Kalender auf die Jahre 1482–1500 (Österr. Nationalbibl. Cod. 2683). Literatur: Joseph v. Aschbach: Gesch. der Univ. Wien. Bd. 1, Wien 1865, S. 573–586. – Gustav Bauch: Die Reception des Humanismus in Wien. Breslau 1903, S. 14–16. – Karl Großmann: Die Frühzeit des Humanismus in Wien bis zu Celtis Berufung 1497. In: Jb. für Landeskunde v. Niederösterr. N. F. 22 (1929), S. 262 ff. – Justus Schmidt: Lat. Linz. In: MIÖG 60 (1952), S. 207. – Brigitte Haller: Friedrich III. im Urteil der Zeitgenossen. Diss. Wien 1959, S. 52 f. – Alphons Lhotsky: Quellenkunde zur mittelalterl. Gesch. Österr.s. Graz/Köln 1963, S. 427, 440. – Conradin Bonorand: Personenkomm. zum Vadian. Briefwerk. St. Gallen 1983, S. 219. – Helmuth Grössing: Humanist. Naturwiss. Baden-Baden 1983, S. 149, 279. – Franz Josef Worstbrock: P. In: VL. Helmuth Grössing / Red.

Der Sohn eines wohlhabenden Großhändlers erhielt eine durchschnittl. Mittelschulbildung u. betätigte sich früh als Schauspieler in Haus- u. Liebhabertheatern. 1782 übernahm P. gemeinsam mit Franz Karl Gewey das Theater am Neustift, »Zum weißen Fasan«, 1785 wurde er Schauspieler im Theater in der Leopoldstadt. 1787 heiratete er die Schauspielerin Anna Gansch († 1798). Nachdem P. in kurzer Zeit sein väterl. Erbe verschwendet hatte, übernahm er 1798 ein Engagement in Schikaneders Truppe (Theater auf der Wieden) u. kehrte 1803 zum von Hensler geführten Leopoldstädter Theater zurück. Im selben Jahr heiratete er die Schauspielerin Victoria Wammy. In seinem letzten Lebensjahrzehnt hatte P. nur noch Misserfolge: Seine immer schlechteren Stücke wurden vom Publikum ausgepfiffen. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann P. mit der Herausgabe von Broschüren nach Blumauers Vorbild; mit scharfer Beobachtungsgabe u. schlagfertigem Witz schrieb er satir. Nachrichten über die Wiener Gesellschaft. 1784 erschienen Joachim Perinets kleine Schriften oder moralisches Verdrußspiel (Wien), 1786 drei Hefte Ärgernisse (Wien) u. 1792 Die Laus, eine beissende Kleinigkeit für lausige Zeiten (Wien). Dann wandte sich P. vermehrt dem Theater zu u. brachte erst 1806 wieder Komische Lobsprüche in Blumauers Manier (Wien) heraus. P.s Begabung lag auf dem Gebiet der Parodie u. Travestie. Von seinen über 100 Stücken sind der Großteil satir. Bearbeitungen; alte Bernardoniaden, frz. Operettentexte u. Lokalstücke von Hafner passte P. geschickt dem Zeitgeschmack an. Eine wesentl. Voraussetzung für P.s Erfolge war die Musik von Wenzel Müller. Ein Zugstück ersten Ranges war die Singspielkasperliade Kaspar, der Fagottist oder die Zauberzither (Wien 1791), der Henslers Zauberspiel Kaspar der Vogelkrämer u. Wielands Märchensammlung Dschinnistan als Vorlage dienten. Der Zauberflötenstoff ist darin kurz vor Mozarts Oper zum ersten Mal verarbeitet worden. Im Gegensatz zu der

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drast. barocken Maschinenkomödie ist dem Bearb. v. J. P. Diss. Wien 1925. – Otto Rommel: Die neuen romantisch-kom. Volksmärchen durch Alt-Wiener Volkskomödie. Wien 1952. – Reinhard die Kasperlkomik ein Zug zur Kindlichkeit u. Urbach: Die Wiener Komödie u. ihr Publikum. Harmlosigkeit eigen, das Zauberwesen wird Stranitzky u. die Folgen. Wien/Mchn. 1973. – Herbert Zeman: Die Alt-Wiener Volkskomödie des verspielt. Die Figur des Kasperl, geschaffen 18. u. frühen 19. Jh. [...]. In: Die österr. Lit. von dem Schauspieler Johann Laroche, pro- (1050–1750). Hg. ders. Graz 1986, S. 1299–1394. – grammatisch 1774 von Karl Marinelli vorge- Richard Reutner: Über idiolektal bedingte Diastellt u. von Hensler im Zauberspiel weiter lektwörter in den Volksstücken J. P.s. In: Nestroausgebaut, tritt oft an die Stelle des Hans- yana 20 (2000), S. 23–28. – W. E. Yates u. a. (Hg.): wurst. In Pizchi oder Fortsetzung Kaspars des Fa- From Perinet to Jelinek. Viennese Theatre in its gottisten (Wien 1792) wird die Zauberei iro- Political and Intellectual Context. Oxford u. a. nisch gesehen – Verspottung der Zauberfor- 2001. Cornelia Fritsch / Red. mel –, u. wie im ersten Teil herrscht Wiener Kolorit vor. Großen Erfolg hatte P. mit den Perkonig, Josef Friedrich, auch: CarinSingspielen Neusonntagskind (Wien 1793) nach thiacus, Urban Lagger, * 3.8.1890 Ferlach/ Hafners Komödie Der Furchtsame u. mit Die Kärnten, † 8.2.1959 Klagenfurt; GrabSchwestern von Prag (Wien 1794) nach Hafners stätte: ebd., Friedhof Annabichl. – ErBurleske Der von dreien Schwiegersöhnen geplagte zähler, Dramatiker, Drehbuchautor, Odoardo. Durch empfindsam-zärtliche u. lus- Hörspielautor, Journalist, Essayist, Filmtige Gesangsstücke, durch Ausbau der kom. produzent. Rollen u. Verlebendigung der Szene sowie durch Herstellung von konventionellen, P., wohl der umstrittenste Kärntner Autor, »befriedigenden« Schlüssen entstanden zeit- war Sohn eines Graveurs u. Büchsenmachers, gemäße Stücke. P.s Volkskomik u. Wortwitz mütterlicherseits stammte er von Großbaukommen bes. in seinen Travestien zum Aus- ern ab. Seine Lehrtätigkeit an Kärntner druck. Verwienerte Heroengestalten, grobia- Volksschulen (ab 1911) erfuhr durch den nische Vitalität, Verspottung des Zauberwe- Kärntner Abwehrkampf 1919/20 eine Untersens, Trivialisierung der trag. Höhe u. sinnl. brechung. Dabei profilierte er sich als PropaLebenslust kennzeichnen diese Stücke: Ari- gandist (P. war Kriegsberichterstatter u. a. für adne auf Naxos (1803), Der travestierte Telemach die »Klagenfurter Zeitung«) u. blieb auch (1804), Antiope und Telemach (1805), Die neue später intensiv in der »Volkstumsarbeit« täSemiramis (1806), Die neue Alceste. Eine Karika- tig, gestützt auf gute Beziehungen zum »Reich«. tur-Oper in Knittelreimen (1806. Alle Wien). Diese Verdienste förderten seine Karriere P. unterscheidet sich kaum von seinen im Ständestaat. In der Funktion als »VolksVorgängern in der Alt-Wiener Volkskomödie, politischer Referent« in der Kärntner Lancharakteristisch für sein Werk sind derbe desleitung der Vaterländischen Front ab 1937 Komik, scharfer Wortwitz, Wiener Milieuwirkte er entscheidend bei der Besetzung der schilderung u. satir. Anspielung auf lokale ersten nationalsozialist. Landesregierung Ereignisse; P. schuf keine neuen Figuren, nach dem »Anschluss« mit. P. war auch sondern variierte die bestehenden Typen. Mitgl. des »Bundes deutscher Schriftsteller Weitere Werke: (Erscheinungsort jeweils Österreichs« u. ab 1939 Landesobmann der Wien): Der Eremit auf Formentera. 1790 (Schausp.). Gruppe Schriftsteller in der Reichsschrift– Die zwei Savoyarden. 1795 (Schausp.). – Caro oder Megärens. 2. Tl., 1795 (Singsp.). – Die Belagerung tumskammer. Ein Gesuch zur Aufnahme in v. Ypsilon oder Evakathel u. Schnudi. 1804 die NSDAP wurde wegen früherer Freimau(Singsp.). – Megära. 1. Tl., 1806 (Oper). – Pumphia rerzugehörigkeit abgelehnt. Insg. ist P.s Verhältnis zum Nationalsozialismus wohl sehr u. Kulikan. 1808 (Oper). Literatur: Gustav Gugitz: J. P. In: Jb. Grill- differenziert zu bewerten: Einer offiziellen u. parzer-Gesellsch. 14 (1904), S. 170–223. – Karl künstlerischen Loyalität stand sicherlich eine Ludwig Janetschek: J. P. Diss. Wien 1924. – Hein- gewisse private Distanziertheit zu den rich Hackl: Die Komödien Philipp Hafners in der »elenden Dilettanten« gegenüber. Nach

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Kriegsende war P. bis 1951 wieder als Lehrer tätig. P.s Frühwerk steht noch ganz im Zeichen seines großen Vorbilds, des steir. Bestsellerautors Rudolf Hans Bartsch, dessen manierist. Erzählweise er übernahm, so im Zeitroman Die stillen Königreiche (Bln. 1917), der die Schicksale von zehn Kärntner Schützen im Ersten Weltkrieg schildert. Als Landschaftsdarsteller feierte er in der Folge seine größten Triumphe. Der Roman Trio in Toskana (Bln. 1920) formuliert denn auch präzise P.s Programm: Die »Natur hat nur Frieden«, ihr gegenüber steht die Zwietracht der Menschen. Durch P.s Erlebnis des Kärntner Abwehrkampfs erhielt der Begriff »Heimat« seine kämpferische Konnotation; gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1919–1921 erschienen u. d. T. Heimat in Not. Erlebnisse und Berichte um das Schicksal eines kärntnerischen Tals (Klagenf. 1921; nach 1945 auf der Liste verbotener Bücher). Auch P. griff in den 1920er Jahren das damals modische Thema von kranker städt. Zivilisation u. gesunder ländl. Welt auf, so in dem erfolgreichen Roman Bergsegen (Bln. 1928. Neuaufl. u. d. T. Auf dem Berge leben. Karlsbad 1935. Spätere Aufl.n wieder mit dem alten Titel. Umgearbeitete Fassung Hbg./Wien 1956) oder im Roman Honigraub oder der Hügel St. Joseph (Erstdr. in Roseggers »Heimgarten« 1934/35. Mchn. 1935. Neuaufl. Wien/Bln./Stgt. 1952), der die wundersame Geschichte eines greisen, zum Wohl der Gemeinde wirkenden Keuschlers erzählt, aber auch in dem populären Roman Nikolaus Tschinderle, Räuberhauptmann (Erstdr. in: Heimgarten, 1935. Mchn. 1936. Neuaufl. Gütersloh 1950. Klagenf. 1958. Maria Rain 1962. Verfilmt u. d. T. Und ewig knallen die Räuber). Noch einmal in die Zeit des Ersten Weltkriegs führt der Roman Mensch wie du und ich (Wien/Lpz. 1932; 1935 Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur, 1942 verboten u. beschlagnahmt. Neuaufl. Wien/Hbg. 1954), der das Schicksal russ. Kriegsgefangener im Kärntner Lager Wegscheiden schildert. In Essaybänden über Kärnten (Kärnten, deutscher Süden. Graz 1935. Mein Herz ist im Hochland. Graz 1937. Kärnten, Heimatland, Ah-

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nenland. Graz 1942; mit der Aufforderung an alle Knaben u. Mädchen, dem Führer »in Leben und Tod ergeben [zu] sein«!) näherte sich P. doch deutlich der Blut-und-BodenIdeologie des Nationalsozialismus. Vor allem nach 1945 war P. verstärkt um die Aussöhnung mit den Slowenen, den Feinden von 1919/20, bemüht: In den Lebenserinnerungen Im Morgenlicht (Wien 1948) u. v.a. im Roman Patrioten (Graz/Salzb./Wien 1950) unternimmt er den »Versuch einer vollkommenen Gerechtigkeit [...] auch gegenüber den Südslawen«. Nach 1945 trat P. auch als Übersetzer aus dem Slowenischen (Ivan Cankar, Ivan Tavcˇar) hervor. P. war befreundet u. a. mit Lernet-Holenia, Hohlbaum, Renker, Mell u. Ginzkey. Entscheidenden Einfluss auf sein Schaffen hatte der Kärntner Mundartdichter Hugo Moro. 1963 wurde die Perkonig-Gesellschaft gegründet, die sich der Pflege seines Werks annimmt. Weitere Werke: Sonntagskinder. Gesch.n aus der Kärntner Mark. Klagenf.: Selbstverlag 1911. – Das Tgb. des Lehrers Peter Blum. Laibach 1914. Umgearb. u. d. T. Siebenruh. Stgt. 1925 (E.). – Johannes, der Narr u. König. In: Klagenfurter Ztg., Nov./Dez. 1916 (R.). – Maria am Rhein. Bln. 1919 (N.n). – Liebe, Leid u. Tode. Klagenf. 1923 (N.n). – Komödie. Heilbr. 1923 (E.). – Heimsuchung. Wien 1923 (D.). – Kärnten. Ein Heimatbuch. Lpz. 1925. – Ingrid Pan. Wien 1928 (N.n). – Der Schinderhannes zieht übers Gebirg. Mchn. 1934. Neuaufl. Graz/ Wien 1950 (E.). – Der Guslaspieler. Lpz. 1935 (im Anhang der Ess. ›Leben an der Grenze‹). – Dt. Ostmark. Graz/Wien 1936. – Das verzauberte Gebirg. Wien/Mchn. 1937 (Sagen). – Brauch u. Tracht in Österr. Innsbr./Wien/Mchn. 1937. Neuaufl. u. d. T. Ländl. Leben. Mchn. 1942 (Ess.). – Lopud, Insel der Helden. Mchn. 1938. Neuaufl. u. d. T. Liebeslied am Meer. Wien 1955 (R.). – Fröhl. Sommer. Klagenf. 1947 (E.). – Die Erweckung des Don Juan. Salzb. 1949 (R.). – Maturanten. Wien 1951 (R.). – Heller Bruder, dunkle Schwester. Zürich/ Bln./Wien 1951 (R.). – Ev u. Christopher. Wien 1952 (E.). – Ein Laib Brot, ein Krug Milch. Wien 1960. Graz 2003 (N.n). – Filmdrehbücher u. Treatments, u. a. zu ›Krambambuli‹. 1940. Ausgaben: Ausgew. Werke. Hg. u. komm. v. Erich Nußbaumer. 6 Bde., Klagenf. 1965–69. – Mich selbst im Spiegel gesehen. Autobiogr. Schr.en u. ausgew. Gedichte. Klagenf. 1965.

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Literatur: Erich Nußbaumer: J. F. P. Leben – Werk – Vermächtnis. Klagenf. 1965. – Gerhild Klever: Der Heimatgedanke u. das Heimatproblem in J. F. P.s dichter. Werk u. ihre künstler. Gestaltung. Diss. Wien 1966. – Karlheinz Rossbacher: J. F. P.: Autobiogr. als Beschreibung einer Wandlung. In: ÖGL 20 (1976), S. 109–119. – E. Nußbaumer (Hg.): P. wie wir. Klagenf. 1980. – Klaus Amann: Der literar. Wortführer Kärntens. J. F. P. u. der ›Anschluß‹. In: März 1938 in Kärnten. Fallstudien u. Dokumente zum Weg in den ›Anschluß‹. Hg. Helmut Rumpler u. a. Klagenf. 1989, S. 32–55. – Drago Druskovic: Begegnung an der Grenze. Österr. u. slowen. Lit. in ihren stoffl. u. motiv. Berührungspunkten: J. F. P. – Prezihov Voranc. In: Österr. u. der große Krieg 1914–18. Hg. K. Amann u. Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 231–237. – Karin Gradwohl-Schlacher: J. F. P. u. Hans Steinacher. In: Zur Gesch. der österr.-slowen. Literaturbeziehungen. Hg. Andreas Brandtner u. Werner Michler. Wien 1998, S. 331–345. Johannes Sachslehner / Red.

Perls, Richard, * 6.1.1874 Gleiwitz, † 24.11.1898 München. – Lyriker.

auch den Stil von P. Claude David nennt als Themen der Lyrik traumhafte Sehnsüchte nach Ruhe u. dem Süden, alles sei durch große Müdigkeit ausgezeichnet. P.’ 1925 versteigerte Bibliothek war eine umfassende Sammlung von Décadence-Literatur. Während einer Reise 1895 über Sils-Maria nach Rom, wo er u. a. den Maler Ludwig von Hofmann traf, spitzte sich der instabile seelisch-körperl. Zustand von P. krisenhaft zu. George sorgte sich sehr um P. u. traf ihn in Brüssel, auf diese Begegnung beziehen sich Georges Gedichte Fahrt-Ende u. Erinnerung an Brüssel. Der fast ganz zerrüttete P. hielt sich 1896 in Paris in der Obhut des poln. Autors Waclaw Lieder auf, ebenfalls ein Freund Georges. Ende 1896 begann P. eine Entziehungskur in München, die er jedoch abbrach, um wieder nach Paris zu gehen. Dort traf er 1897 nochmals mit George zusammen, bevor der mit P. völlig überforderte u. entkräftete Lieder, der ihn wiederum pflegte, den Kranken im Mai 1897 in den Zug nach München setzte, wo P. im Jahr darauf starb. George u. Karl Wolfskehl gedachten seiner in Gedichten. /

P. war Autor von Gedichten, die stark von Denken u. Stil der europ. Décadence-Dichtung geprägt waren. Über die familiären Literatur: Claude David: Stefan George. Sein Umstände u. das Leben von P. ist wenig be- dichter. Werk. Mchn. 1967, S. 136–139. – Theodor kannt. Der Vater soll nach Erinnerungen von Lessing: Einmal u. nie wieder. Gütersloh 1969, Theodor Lessing ein Breslauer Bankier ge- S. 313–318. – Dieter Kafitz: Décadence in Dtschld. wesen sein. Gesichert ist lediglich, dass P. jüd. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Abstammung war u. in gesicherten finanzi- Jahre des 19. Jh. Heidelb. 2004, S. 456–458. – Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung ellen Verhältnissen aufwuchs. In Görlitz erdes Charisma. Mchn. 2007, S. 160–163. warb er die Hochschulreife u. nahm zum Jan Andres Wintersemester 1892 in Berlin ein Studium der Naturwissenschaften auf, 1894/95 wechselte er als Philosophiestudent nach MünPernauer von Perney, Ferdinand Adam chen. In späteren Jahren war er mit der Frhr., * 7.11.1660 Steinach/NiederösterBildhauerin Marie Schlafhorst verlobt, über reich, † 14.10.1731 Gut Rosenau bei Coeinen bürgerl. Beruf ist nichts bekannt. P. war burg. – Übersetzer, Ornithologe. bis zu seinem frühen Tod stark morphiumabhängig. Mehrfach reiste P. nach dem Stu- P.s Familie musste wegen ihrer evang. Kondium nach Brüssel u. Paris, wo er sich z.T. fession Österreich verlassen u. kam 1670 nach länger aufhielt. Sulzbach/Oberpfalz. P. bezog 1676 die UniBekanntheit erlangte P. fast ausschließlich versität Altdorf u. wurde 1680 als Daphnis III. durch seine Verbindung zu Stefan George u. von Sigmund von Birken in den Pegnesischen dessen Blättern für die Kunst, in deren 2.-4. Blumenorden aufgenommen. Er trat zuFolge Gedichte von ihm Aufnahme fanden. nächst in die Dienste des Herzogtums PfalzZur selbstständigen Ausgabe seiner Gedichte Sulzbach (1681 Regierungsassessor u. Kamkam es nicht. George schätzte in der Zeit vor merjunker, 1687 Hofrat; 1684 Reise nach 1900 sowohl die Haltung der Dekadenz als Italien, Frankreich u. Holland) u. wechselte

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dann 1690 nach Coburg, wo er vom Konsistorialrat u. Kammerjunker zum Geheimen Rat aufstieg. P.s Hauptwerk ist die Übersetzung von Madeleine de Scudérys unvollendetem Roman Almahide (1660–63), den er – ohne alle Handlungsfäden aufzulösen – zu Ende führte u. sich dabei »allerhand Begebenheiten, die bekandten guten Freunden würcklich begegnet sind«, zunutze machte (Almahide, oder leibeigne Königin [...]. 3 Tle., Nürnb. 1682–96 u. ö.). Beachtung findet noch heute P.s vogelkundl. Schrift, die (mit unterschiedl. Titeln) bis 1797 insg. zehn mehrfach erweiterte Auflagen erreichte, der Unterricht, was mit [...] denen Vögeln, auch ausser den Fang, nur durch die Ergründung deren Eigenschafften, und Zahmmachung [...] man sich vor Lust und Zeit-Vertreib machen könne (o. O. 1702. Nachdr. mit einem Nachw. v. Rolf Schlenker. Coburg 1982). Weitere Werke: Dissertatio politica de fide promissorum. Präses: Sebastian Kirchmaier; Autor u. Respondent: F. A. P. Regensb. 1680. – De fortitudine togata. Präses: Magnus Daniel Omeis; Resp.: F. A. P. Altdorf 1680. Literatur: Bibliografien: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0772. – VD 17. – Weitere Titel: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. BlumenOrdens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 520–524. – Jöcher/Adelung 5. – Rolf Schlenker: F. A. Frhr. v. P. [...]. Beiträge zu einer Bibliogr. seiner vogelkundl. Schr.en. In: Jb. der Coburger Landesstiftung 27 (1982), S. 225–238. – Jürgensen, S. 508–511 u. Register. – Edmund Frey: ›Nicht allein sehr erfahren in Philosophicis‹. F. A. v. P. (1660–1731), Geheimrat, Übersetzer u. Naturbeobachter. In: Coburg aus dem ›Dintenfas‹ [...]. Hg. ders. u. a. Bucha bei Jena 2006, S. 97–105. Volker Meid / Red.

Pernauer von Perney, Johann Philipp Ferdinand Frhr., * 1663 Steinach/Niederösterreich, † 1711 Schloss Piberbach/ Kremstal. – Übersetzer. P. kam mit seinem älteren Bruder Ferdinand Adam 1670 nach Sulzbach/Oberpfalz. Er studierte ab 28.1.1682 in Altdorf (nach pro forma-Einschreibung am 17.7.1676), begleitete seinen Bruder auf Reisen (u. a. nach Siena

1684), heiratete 1689 die Nürnberger Patriziertochter Maria Helena Böheim von Schwarzbach u. erbte später den väterl. Besitz in Niederösterreich. Seine erste Veröffentlichung, Die Liebe eine Uberwinderin des Glückes, oder Oronce und Eugenie Begebenheiten [...] übersetzt und neben einem verteutschten Trauerspiel heraus gegeben (Regensb. 1683), enthält neben einer Liebesgeschichte eines im Übrigen unbekannten frz. Autors (Alexandre de la Roberdière) auch Isis, tragédie en musique (1677) von Philippe Quinault. Mit La Calprenèdes Faramond (1661–70) verdeutschte er dann einen der großen frz. Barockromane (Des durchleuchtigsten Pharamunds, curiöse Liebs- und Helden-Geschicht [...]. 12 Tle., Nürnb. 1688–99). Adeliger Praxis diente schließlich die Übersetzung der frz. Version eines engl. Pferdebuchs von William Cavendish, Duke of Newcastle (Neu-eröffnete ReitBahn [...]. Nürnb. 1700). Weitere Werke: Glückwünschendes SchäfferGedichte [...]. Regensb. 1681. – Weitere Gelegenheitsgedichte. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Jürgensen, Register. Volker Meid / Red.

Pernet, Hedwig (Albertine) Louise, geb. von Kemmeter, * 22.2.1742 Schleswig, † 4.1.1801 Pest. – Lyrikerin. Der Vater, Marcus A. Kemmeter zu Trübein, aus Wien stammend, war als Kriegskanzlist in Wien u. in Temesvár tätig, bevor er 1739 die Stelle eines kgl. Postmeisters in Schleswig annahm, wo P. geboren wurde u. unter vier Geschwistern aufwuchs. 1747 verließ der Vater die Familie. Mit ihrer Mutter zog P. 1763 nach Graz u. heiratete dort 1765 den Militärauditor Johann Heinrich Pernet. Die zahlreichen, durch die berufl. Karriere ihres Mannes bedingten Ortswechsel hielten P. nicht davon ab, drei umfangreiche Gedichtbände zu veröffentlichen. 1770 erschien der Maria Theresia gewidmete Versuch in Fabeln und Erzehlungen, nebst einem comischen Trauerspiele in Versen (Graz), der hauptsächlich Fabeln nach Gellert’schem Vorbild enthält. Die zweite Gedichtsammlung, Neue vermischte Gedichte (Ffm. 1790), wollte P. 1785 Joseph II. zueignen, doch die-

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ser beschied sie: »Meine liebe Frau von Kemeter, Näh’ sie lieber Hemeder!« Dem allg. Gespött entkam P. durch die Übersiedlung nach den Niederlanden. Erst 1794 kehrte sie nach Wien zurück u. veröffentlichte den dritten, Kaiser Leopold II. († 1792) gewidmeten Gedichtband, Neue vermehrte Gedichte, nebst dem ersten Gesang einer Catharinade (Heidelb. 1795). Die darin enthaltenen Gelegenheits- u. devot-pomphaften Widmungsgedichte – an Mitglieder des österr. u. des preuß. Herrscherhauses gerichtet – überliefern die einst wichtigen gesellschaftl. Ereignisse. P. starb ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes an einer Nervenkrankheit. Ausgaben: Ausgew. Fabeln u. Erzählungen, biogr. eingel. u. hg. v. Franz M. Kometer-Trübein. Wien 1894. Literatur: Elisabeth Friedrichs: Die dt. Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981. Julei M. Habisreutinger / Red.

Perthes, Friedrich Christoph, * 21.4.1772 Rudolstadt/Thüringen, † 18.5.1843 Gotha. – Verlagsbuchhändler. P. gehört zu den wichtigsten Verlegerpersönlichkeiten der Goethezeit. Seine Vorfahren standen väterlicher- wie mütterlicherseits als Beamte im Dienst der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt; P. folgte jedoch dem Vorbild seines Onkels, des Gothaer Verlagsbuchhändlers Justus Perthes. Er trat 1787 eine Buchhändler-Lehre in Leipzig an u. wechselte anschließend als Gehilfe zu Benjamin Hoffmann in Hamburg. Hier erwies sich der Kontakt zum Freundeskreis um Johann Speckter u. Daniel Runge als ausschlaggebend für sein weiteres Leben. Nicht zuletzt diese guten Beziehungen zu Hamburger Kaufleuten ermöglichten P. im Juli 1796 die Gründung einer eigenen Buchhandlung. Die Besonderheit dieses Geschäfts bestand in der Konzentration auf das Sortiment, die mit dem Aufstellen fertiggebundener Bücher in Regalen, Sitzmöglichkeiten, Schaufensterauslagen u. weiteren kundenfreundl. Innovationen einher ging. Dank eigener Verlagsprojekte sowie der finanziellen Unterstützung durch Freunde u. adlige Gönner aus dem Umfeld von Matthias Claudius konnten

P. u. sein 1798 aufgenommener Teilhaber u. späterer Schwager Johann Besser das kapitalintensive Unternehmen stabilisieren u. rasch zur größten dt. Buchhandlung ausbauen. Die Bekanntschaft mit Claudius – sie ging auf die Vermittlung des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi zurück – führte Ende 1797 zur Hochzeit mit seiner Tochter Caroline. Der daraus erwachsende intensive Kontakt mit befreundeten Adelskreisen in Emkendorf u. Münster bestimmte fortan P.’ Denken: der Wunsch nach einer langsamen Reform der Gesellschaft auf der Basis eines konfessionsübergreifenden Christentums stand für ihn zeitlebens im Vordergrund. Diese Prägung spiegelt sich auch im Verlagsprogramm wieder: die wichtigsten Autoren der frühen Jahre, darunter Claudius mit den letzten Teilen seiner Sämtlichen Werke (1797–1812) u. Friedrich Leopold Graf von Stolberg mit der Geschichte der Religion Jesu Christi (1806–18) gehörten christlich-konservativen Kreisen an. Die Siege Napoleons über Österreich u. Preußen u. die anschließende Besetzung Hamburgs Ende 1806 empfand P. als polit. Katastrophe. Sein Wunsch, den dt. Intellektuellen eine Diskussionsplattform zu bieten, führte 1810/11 zum Zeitschriftenprojekt »Vaterländisches Museum«, an dem u. a. Friedrich Schlegel, Joseph Görres u. Jean Paul teilnahmen. Nach dem Scheitern des Russlandfeldzugs übernahm P. 1813 leitende Funktionen in der Bürgergarde u. beteiligte sich aktiv an der Vertreibung der frz. Besatzung bzw. an der Bildung des »Hanseatischen Directoriums« – einer Art Exilregierung, in der Hamburgs Interessen gegenüber den Verbündeten vertreten wurden. Im Gefolge des Wiener Kongresses verfasste er 1816 die Schrift Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur, in der er aus der zentralen Bedeutung von Wissenschaft u. Literatur für die Identität der Deutschen die Notwendigkeit eines wirksamen »literarischen Rechtszustands« ableitete. Nach dem Tod seiner ersten Frau (1821) verließ P. im März 1822 Hamburg u. siedelte nach Gotha über, wo er einen neuen Verlag

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gründete. Hier heiratete er 1825 Charlotte Perutz, Leo(pold), * 2.11.1882 Prag, Hornbostel, die Tochter des Verlegers Rudolf † 25.8.1957 Bad Ischl. – Romancier, ErZ. Becker. P. konzentrierte sein verlegerisches zähler, Dramatiker. Engagement auf die Fächer Geschichte u. Theologie; hiervon versprach er sich neben P. war das älteste von vier Kindern einer aseiner erfolgreichen Spezialisierung eine sta- similierten jüd. Familie; der Vater, ein bilisierende Wirkung auf die Öffentlichkeit. wohlhabender Textilkaufmann, verließ zur In seinem neuen Verlag erschienen u. a. frühe Jahrhundertwende Prag u. gründete 1901 in Werke der Historiker Leopold Ranke, Hein- Wien ein neues Unternehmen. P. verdankte rich Leo u. Friedrich Christoph Dahlmann; seiner Jugend in Prag bleibende Eindrücke. seit 1828 die »Theologischen Studien und Das Gymnasium in Wien verließ er ohne Kritiken« (Hg. Carl Ullmann u. Friedrich Matura; nach dem Studium der VersicheUmbreit), seit 1829 die Geschichte der Europäi- rungsmathematik u. Wahrscheinlichkeitsschen Staaten (Hg. Arnold Heeren u. Friedrich theorie als Gasthörer an der Wiener UniverUkert) u. 1832 die »Historisch-politische sität wurde er »mathematischer Beamter« Zeitschrift« (Hg. Leopold Ranke); mit Wil- zunächst in Triest (1907/08), darauf bei einer helm Heys 50 Fabeln für Kinder verlegte P. aber Wiener Versicherungsgesellschaft. 1923 entauch eines der populärsten Kinderbücher im schloss er sich, als »freier Schriftsteller« zu Vormärz. Im Jahre 1836 zog sich P. aus dem leben. 1918 hatte er die Arzttochter Ida Weil Hamburger Geschäft, das fortan unter »Per- geheiratet, der Ehe entstammten drei Kinder. P.’ Werk ist von der Konstellation der thes, Besser & Mauke« firmierte, zurück u. österr. Literatur nach der Jahrhundertwende bezog 1840 seinen jüngsten Sohn Andreas geprägt. Im Mittelpunkt steht die »Krise des durch Gründung der Firma »Friedrich & Andreas Perthes, Hamburg und Gotha« in die Ich«, die in immer neuen Varianten an den Problemen des Erinnerns u. Vergessens Verlagsarbeit ein. Große Verdienste erwarb sich P. nach 1815 durchgespielt wird. P. war stark beeinflusst bei der Organisation seines Berufsstandes: er durch die Romantik, insbes. durch E. T. A. gehörte zu den Initiatoren des »Börsenver- Hoffmann; sein stilist. Vorbild war Schnitzeins« u. »Börsenblattes«, des neuen »Börs- ler. Charakteristisch für P. ist eine stark enbaus« u. der »Buchhändler-Lehranstalt« in konstruktive Erzählweise, die häufig anLeipzig. Mit seinen zahlreichen programmat. spruchsvolle Rahmentechniken verwendet; Schriften prägte er in den 1830er Jahren sie machen die Architektur seiner modernen nachhaltig die Grundstrukturen u. das histor. u. Gegenwartsromane mit ihrer strukturellen Mehrdeutigkeit unverwechselSelbstverständnis der dt. Buchbranche. Literatur: Clemens Theodor Perthes: F. P.’ Le- bar. Schon als Gymnasiast (1901–1904) war P. ben nach dessen schriftl. u. mündl. Mittheilungen. 3 Bde., Gotha 1848–55. – Rudolf Schmidt (Hg.): Dt. Mitgl. in einem literar. Verein namens Buchhändler. Dt. Buchdrucker. Bd. 4, Eberswalde »Freilicht«, aus dem später bekannte Autoren 1907, S. 755–760. – Carl A. Holtbecker: F. C. P.: wie Ernst Weiß, Berthold Viertel, Richard A. Lit., an ihrem Ursprung aufgesucht. In: Buchhan- Bermann hervorgingen. Obwohl frühe litedelsgesch. 1974, S. B129-B136. – Herbert G. Göp- rar. Versuche schon aus der Zeit nach der fert: Der dt. Buchhandel als Bedingung des Daseins Jahrhundertwende belegt sind, scheute P. einer dt. Lit. In: Jb. des Leipziger Arbeitskreises zur Gesch. des Buchwesens 1 (1991), S. 13–22. – Ernst sich vor der Publikation. Seine erste ErzähFischer: Was bisher noch niemand wagte. In: lung, Der Tod des Messer Lorenzo Bardi, veröfBuchhandelsgesch. 1997, S. B108-B114. – Inge fentlichte Richard Beer-Hofmann in der Grolle: F. C. P. Hbg. 2004. – Dirk Moldenhauer: Wiener Zeitung »Die Zeit« (17.3.1907). Als Gesch. als Ware, Der Verleger F. C. P. (1772–1843) Romancier trat P. erst 1915 mit dem histor. als Wegbereiter der dt. Geschichtsschreibung, Roman Die dritte Kugel (Mchn.) hervor, der nur Köln/Weimar/Wien 2008. Dirk Moldenhauer einen literar. Achtungserfolg erzielte. Nach der Genesung von einer lebensgefährl. Verletzung im Ersten Weltkrieg veröffentlichte

Perutz

er 1918 den Roman Zwischen neun und neun (Mchn.), der »zum größten Erfolg des deutschen Buchmarkts« (Egon Erwin Kisch) der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde. Die Jahre von 1918 bis 1933 waren die literarisch produktivste Zeit in P.’ Leben. Sein zweiter histor. Roman, Der Marques de Bolibar erschien 1920, 1923 Der Meister des jüngsten Tages (beide Mchn.), den Walter Benjamin als »Kriminalroman«, Theodor W. Adorno später als »genialen Spannungsroman« bezeichneten. Der 1924 veröffentlichte histor. Roman Turlupin (Mchn.) spielt im Frankreich des 17. Jh. u. hat einen Barbiergesellen zum Helden, der Geschichte macht, indem er sie verhindert. Die größte Popularität erreichte P. im Jahre 1928, als die auflagenstärkste Zeitschrift des Kontinents, die »Berliner lllustrirte Zeitung«, seinen Roman Wohin rollst Du, Äpfelchen ... in Fortsetzungen abdruckte. Gegen Ende der 1920er Jahre hatten alle Romane von P. ansehnl. Auflagen erzielt; er selbst war, wie die Vorabdrucke u. Rezensionen seiner Arbeiten in prominenten literar. Zeitschriften u. Tageszeitungen dokumentieren, in Österreich u. Deutschland ein bekannter u. geschätzter Autor; zwei seiner Romane waren bereits verfilmt u. die meisten von ihnen in mehrere Sprachen übersetzt. Nach der Weltwirtschaftskrise stockten der Absatz der Romane u. die literar. Produktion. P. geriet in finanzielle Schwierigkeiten; er arbeitete häufiger für den Film u. schrieb mit Hans Adler u. Paul Frank gemeinsam drei Boulevardstücke, um Einnahmen aus den Tantiemen zu realisieren. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Werke des jüd. Schriftstellers, der bis zur Mitte der 1920er Jahre der österr. Sozialdemokratie nahestand u. sich zu Beginn der 1930er Jahre dem Legitimismus zuwandte, in Deutschland boykottiert. Der 1933 in Berlin erschienene Roman St. Petri-Schnee, in dem ein künstlich herbeigeführter polit. Massenwahn eine Rolle spielt, wurde in Deutschland kaum noch rezensiert; der bis heute unterschätzte histor. Roman Der schwedische Reiter (Wien 1936) konnte nur noch in Österreich, Ungarn u. der CˇSR erscheinen. Nach dem Einmarsch der dt. Truppen in Wien ging P. ins Exil nach Pa-

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lästina. Dort entstanden der Künstlerroman Der Judas des Leonardo (postum Wien 1959) u. sein langfristig erfolgreichstes Buch, Nachts unter der steinernen Brücke (Ffm. 1953), das auf eine in der dt. Literatur einzigartige Weise selbständige Novellen zu einer Romanhandlung verknüpft. Zur Zeit des Holocaust vollendet, erinnert der Roman in einer mehrfach gebrochenen Rahmenerzählung an die Blütezeit des jüd. Prag um die Wende des 16. zum 17. Jh. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete P. wieder als Versicherungsmathematiker. Zum literar. Markt in Palästina hatte er keinen Zugang gefunden, aber ein befreundetes Wiener Ehepaar, das in Argentinien eine literar. Agentur eröffnete, hatte Erfolg mit Übersetzungen seiner Romane ins Spanische – den Roman Der Meister des jüngsten Tages machte Jorge Luis Borges international bekannt, indem er ihn in eine Reihe der besten Kriminalromane der Welt aufnahm. P. war kein Zionist, er trat für einen binationalen Staat der Juden u. Araber ein u. war ein Gegner der Staatsgründung Israels. Seit dem Ende der 1940er Jahre verbrachte er die Winter in Israel u. die Sommer in Österreich. Hier knüpfte er an seine Freundschaft mit Alexander Lernet-Holenia aus der Vorkriegszeit wieder an. Seine Versuche, auf dem deutschsprachigen Buchmarkt wieder Fuß zu fassen, hatten zu Beginn wenig Erfolg. Sein Roman Nachts unter der steinernen Brücke wurde von mehreren Verlagen abgelehnt, weil in ihm viele histor. jüd. Gestalten eine Rolle spielten. Erst in den 1970er Jahren erlebte P.’ Werk eine Renaissance. Bis dahin war die Literaturkritik uneins über die Frage, ob es sich bei P.’ Arbeiten um Unterhaltungsliteratur auf höchstem Niveau (so z.B. Adorno, Polgar, Tucholsky) oder um spannungsreich konstruierte literar. Kunstwerke handelt (so z.B. Broch, Arno Holz, Carl von Ossietzky). Seit den 1990er Jahren wird P.’ Werk immer häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Sein Nachlass befindet sich in der Deutschen Bibliothek Frankfurt/M. Ausgaben: Ausgew. Werke in Einzelbdn. Hg. Hans-Harald Müller. Wien 1996 ff. Tb.-Ausg. Mchn. 2002 ff. – Die Boulevardstücke sind nur im Ms.-Druck erschienen.

147 Literatur: Hans-Harald Müller u. Wilhelm Schernus: L. P. Eine Bibliogr. Ffm. u. a. 1991; aktualisiert v. Michael Mandelartz in: Kindt/Meister 2007 (s. u.), S. 177–204. – Yvonne-Patricia Alefeld: Poet. Gesch. u. jüd. Identität. Zu Themen u. Motiven im Werk v. L. P. In: Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 297–319. – H.-H. Müller u. Brigitte Forster (Hg.): L. P. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien 2002. – Tom Kindt u. Jan Christoph Meister (Hg.): L. P.’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tüb. 2007, S. 177–204. – Rimma W. Gurewitsch: L. P. Zwischen Wiener Jugendstil u. Prager literar. Kreis. In: Österr. Lit. Zentrum u. Peripherie. Hg. Alexander W. Belobratow. St. Petersburg 2007, S. 179–188. – H.-H. Müller: L. P. Biogr. Wien 2007. – Karin Becker: Mit antikem Material moderne Häuser bauen: zur narrativen Konzeption v. L. P.’ histor. Roman ›Nachts unter der steinernen Brücke‹. Bielef. 2007. Hans-Harald Müller

Peschek, Pescheck, Christian August, * 29.12.1760 Eibau bei Zittau/Sachsen, † 29.9.1833 Dresden. – Arzt, Romanschriftsteller, Verfasser medizinischer u. historischer Schriften. P., der Sohn eines Pfarrers, erhielt Privatunterricht, ehe er das Zittauer Gymnasium besuchte; anschließend studierte er Medizin in Berlin u. Leipzig, wo er 1784 promoviert wurde. Im selben Jahr ließ er sich in seiner Heimatstadt als prakt. Arzt nieder u. war 1786 vorübergehend auch in Görlitz tätig. Seit 1795 nahm er als sächs. Feldarzt an den Feldzügen an Rhein u. Main teil u. kehrte 1798 nach Zittau zurück. Zwischen 1802 u. 1825 hatte er dort das Amt des Stadtphysikus inne. P. bewirtschaftete nach der Emeritierung zunächst sein Landgut; 1828 siedelte er nach Dresden über, um sich privaten Studien u. seinen literar. Neigungen zu widmen. P. war Mitgl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Sein umfangreiches Œuvre umfasst wissenschaftlich-medizinische Werke, Übersetzungen frz. medizinischer Schriften, historisch-polit., medizinische u. Unterhaltungszeitschriften, die er herausgab, u. mehrere anonym veröffentlichte, wenig bedeutende »Sittenromane«.

Peschek

Einiges Aufsehen erregten seine den Bayerischen Erbfolgekrieg beschreibenden Dichterischen Kriegsgemälde (Lpz. 1782). Obwohl seine zahlreichen amourösen Romane für den literar. Geschmack um 1800 charakteristisch sind, wurden sie bislang nicht näher erforscht. Weitere Werke: Die verkannte Nonne in der Gesch. der Caroline Henriette P. [...]. 2 Tle., Lpz. 1781. – Das Jägermädchen. Für Empfindsame u. Spötter. Wien 1782. – Fritz v. Pappelwald, eine Gesch. zweyer Liebenden. Wien 1783. – Liebe u. Ehe in der Narrenkappe u. im Philosophenmantel. Von einem Greise. Breslau u. a. 1786. – Rhapsodien u. Kriegslieder. Zittau 1789. – Anekdoten, Fürstenu. Volkslaunen, als Beyträge zur Charakteristik Kaiser Josephs des Zweythen, Frankreichs u. unserer Zeiten überhaupt. 2 Tle., o. O. 1790/91. – Der Oybin bey Zittau. Zittau/Lpz. 1792. – Philipp u. Jakobine [...]. Ein Beytr. zur Gesch. der Dorfprediger. Breslau/Lpz. 1792 (= Philipp Zeidelbär u. Binchen Magensaft [...]. Halberst. 1798). – Meliates, eine Sage aus dem Alterthume. Weimar 1800. – Gedicht auf das Vermählungs-Jubiläum des Königs v. Sachsen. Zittau 1819. – Herausgeber: Neue Monatsschr. für das schöne Geschlecht. Lpz. 1786. – Lausizische Monatsschr. oder Beyträge zur natürl. ökonom. u. polit. Gesch. der Ober- u. Niederlausitz [...] (= Lausizisches Wochenblatt Zur Ausbreitung nüzl. Kenntniße [...]), Jg. 1–3, Zittau 1791[90]-92. – Monatl. Unterhaltungen aus der Religion, Natur, Kunst u. Menschenkunde, für den Bürger u. Landmann. Lpz. 1798–1800. Literatur: Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der [...] Oberlausizischen Schriftsteller u. Künstler. Bd. 2 u. Suppl.-Bd., Görlitz 1803, 1821. – NND 11 (1833), S. 623–626. – Brümmer: P. In: ADB. – Biogr. Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten u. Völker. Hg. August Hirsch. Bd. 4, Bln./ Wien 21932, S. 563 f. – Kosch. – Joachim Richter: Über den Anteil v. Ärzten an der Arbeit der Oberlausitzischen Gesellsch. der Wiss. zu Görlitz. In: Sammeln – Erforschen – Bewahren. Zur Gesch. u. Kultur der Oberlausitz. Hg. Oberlausitzischen Gesellsch. der Wiss. zu Görlitz e. V. Görlitz 1999, S. 115–122. – Tilo Böhmer: Die Gelehrtenfamilie P. in Zittau. In: Bibliotheksjournal der ChristianWeise-Bibl. Zittau 24 (2002), S. 31–42. Uwe Puschner

Peschina

Peschina, Helmut, * 7.1.1943 Klosterneuburg. – Dramatiker, Fernseh- u. Hörspielautor. P. legte 1961 in Klosterneuburg die Matura ab. Im Anschluss studierte er Latein, Germanistik u. Theaterwissenschaft u. besuchte die Filmschule in Wien. Von 1976 bis 2007 war er Sekretär des Österreichischen Kunstsenats. P. lebt u. arbeitet in Wien. Im Mittelpunkt von P.s Werk steht der durchschnittl. Kleinbürger mit seinen Hoffnungen, Sehnsüchten u. brüchig gewordenen Beziehungen, die dennoch aufrechterhalten werden, so etwa in seinem Hörspiel Palmenhaus (1977), mit dem er Bekanntheit erlangte. Im Mikrokosmos eines Palmenhauses, wo sich die beiden Protagonistinnen Frau Meier u. Frau Sternberg (in der Erstproduktion des ORF mit Wilma Degischer u. Alma Seidler) täglich auf einer bestimmten Bank treffen, seziert P. die Beziehung dieser beiden Personen als Exempel einer Gesellschaft, in der außerhalb der Sprache Angst, Isolation u. Abhängigkeit deutlich werden. P. legt gezielt verdrängte Wünsche offen u. entlarvt Etiketten u. schöne Phrasen, die Vorurteile verfestigen. Seine beiden Protagonisten in dem Hörspiel ich doch nicht (1982) sind anonymisiert (A u. B), so wie viele seiner Figuren namenlos sind; die Dialoge gestaltet P. paradigmatisch als mikrosoziolog. Betrachtungen. Hier ist es die Homosexualität des Protagonisten B, die zum Konflikt führt, da sie von A als bedrohlich thematisiert wird. Trotz der tiefen Einsamkeit der Dialogpartner ist die Atmosphäre in P.s Stücken keineswegs triste u. denunziatorisch, weil die aggressive Kraft dieser kleinbürgerl. Charaktere wie ein Bumerang wieder sie selbst trifft u. daher Komik erzeugt. P. zerlegt in seinen Dramen auch die schönfärberische Sprache der modernen Arbeitswelt, etwa in dem Theaterstück Hanna (1984), in dem er die Ignoranz einer gutbürgerl. Gesellschaft desavouiert. Hanna Jung, eine Frau Mitte dreißig, hat nach einem Autounfall eine Narbe im Gesicht. Die Narbe wird zum Symbol, an dem sich die Oberflächlichkeit der Beziehungen manifestiert.

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In seinem Stück Don und Jacques (1984) gestaltet P. eine ungewöhnl. Version des DonJuan-Stoffes. Das letzte Rendezvous des gealterten Liebhabers schlägt fehl, der Diener Jacques versucht durch Erinnerungen an erot. Abenteuer die Situation zu retten. Der Versuch endet jedoch tragisch, der Diener wird zum Herrn u. erwürgt diesen. Auch in dem Hörspiel Fasching & Vogelsang (1993) erzählt P. von einem grausamen Herr-Knecht-Verhältnis, hier entpuppen sich die Figuren als real gewordene Schablonen von Ideen u. Vorstellungen. P.s Stücke sind feine, ironische Skizzen, häufig Grotesken, die ohne äußere Handlung u. illustrierende Nebentexte auskommen, weil sie die Psychologie der Figuren in ihren gesellschaftl. Systemen abbilden. Die satir. Enttarnung der Sprache als Machtinstrument, als falsche Fährtenlegerin u. oft als Desideratum ist das Zentrum von P.s gesamtem Werk. Seit den 1990er Jahren dramatisiert P. Romane, etwa Joseph Roths Hiob (1998, Hörspiel) u. Radetzkymarsch (2004, Theaterstück). Auch Elias Canettis Blendung (2002) mit seinen sog. akust. Masken sowie Hans Leberts Wolfshaut (2005) etablierten sich als Erfolgsstücke fürs Radio, die mit zahlreichen Hörspielpreisen ausgezeichnet wurden. P.s Bühnenversion von Hugo Bettauers Die Stadt ohne Juden zählte zu den erfolgreichsten Inszenierungen des Wiener Volkstheaters des Jahres 2006. In seiner Bearbeitung von Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege verbindet P. erneut seine eigene bizarre Komik mit Doderers abstruser Figurenzeichnung. P. hat sein literarisches Archiv im Jahr 2006 an die Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus übergeben. 2008 wurde ihm der Würdigungspreis des Landes Niederösterreich verliehen. Weitere Werke: Arbeitsverhältnis (1973, Theaterstück). – Weil sie einmal schreiben, dass sie kommen (1973, Hörsp.). – Fasselrutschen (1974, Hörsp.). – Blätter (1975, Theaterstück). – Du wirst schon sehen (1979/82, Theaterstück u. Hörsp.). – Stehbeisl (1985, Theaterstück). – Verschütt (1988, Theaterstück u. Hörsp.). – Gemeinsames Etwas (1996, Hörsp.).

Pestalozzi

149 Literatur: Hans Rochett: Beispiele aus der Hörspiel-Arbeit. In: Lit. u. Kunst 121 (1987), S. 1–29. – Rainer Darin u. Gunter Seidl: Theater v. unten. Wien 1988. – Julia Danielczyk: ›Bumerang der Worte‹. In: PODIUM. Portraitband H. P. Wien: Podium 2007, S. 6–18. Julia Danielczyk

kommt P.’ enge Beziehung zum Warschauer Hof sowie seine Verehrung der regierenden poln. Dynasten Michael Korybut Wisniowiecki u. Johann III. Sobieski zum Ausdruck. P.’ ungedruckter Nachlass (Bibliothek Gdan´ska PAN) enthält u. a. literar. Darstellungen zu Danziger Tapisserien u. Wandgemälden.

Peschwitz, Gottfried von, * 2.5.1631 Danzig, † 10.10.1696 Danzig. – Jurist; Verfasser historisch-politischer u. panegyrischer Schriften, Gelegenheitsdichter, Emblematiker.

Weitere Werke: Familia Caesarum Augusta [...]. Den Haag 1657. Jena/Hbg. 1662. – De repressaliis liber. Leeuwarden 1658. Hbg. 1663. – Allocutio gratulatoria ad principem Lubomirskim super triumphatis in Borussia hostibus. Danzig 1658. – C. Cornelii Taciti Eclogium. o. O. 1663. – Praelectiones in Regulas philos. Statilii. Lpz. 1676.

Der Spross einer geadelten Danziger PatriziAusgabe: De repressaliis liber. Editio innovata erfamilie studierte, nach Abschluss am Aka[...]. Accessit Discursus de jure et privilegiis nobidemischen Gymnasium in seiner Vaterstadt, lium. Jena 1661. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anab dem 23.8.1650 im fries. Franeker die halt. Rechte. Hier kamen auch die ersten Früchte Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: seines wiss. Fleißes erstmals zum Druck. Mit Schwarz: G. v. P. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 496. – weiteren Reisen nach Frankreich u. Italien Polski Slownik Biograficzny XXV, S. 651 f. – Bruno verbanden sich längere Aufenthalte in Flo- Pompecki: Literaturgesch. der Provinz Westpreurenz u. Rom. 1658 nach Danzig zurückge- ßen. Danzig 1915, S. 57. – Walter Raschke: Der kehrt, wurde P. bald Ratssekretär, 1663 Re- Danziger Dichterkreis des 17. Jh. Diss. Rostock sident der ständigen diplomat. Vertretung 1921, S. 190–192. – Heiduk/Neumeister, S. 79, Danzigs in Warschau. 1681 erfolgte seine 218, 439. – Eugeniusz Iwanoyko: Zu P. In: Aufnahme in das Danziger Schöffengericht, Gdan´skie Studia Muzealne III. Gdan´sk 1981. – ab 1689 amtierte er als Ratsherr, schließlich Ders.: Zu P. In: Artium Quaestiones II. Poznan´ 1983. – Ders.: Zu P. In: Rocznik Historii Sztuki XV. als Bürgermeister. Wroclaw 1985. – DBA. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1664. P., der sich als »Weichsel-Schäfer« beDick van Stekelenburg / Red. zeichnete, stand dem Kreis von gelehrten Schriftstellern um seinen Onkel, den einflussreichen Danziger Bürgermeister Adrian Pestalozzi, Johann Heinrich, * 12.1.1746 III. von der Linde, nahe. Mit dem ihm seit Zürich, † 17.2.1827 Brugg/Kt. Aargau; Franeker befreundeten Rhetorikprofessor u. Grabstätte: Birr/Kt. Aargau, am SchulOpitz-Epigonen Johann Peter Titz teilte er haus. – Pädagoge, Autor sozialkritischer das Interesse an Fragen der nationalsprachl. u. volksbildnerischer Schriften. »Poeterey«. Titz verfasste die Vorrede zu P.’ poetischem Thesaurus Jüngst-erbauter hoch- P. entstammt einer ital. Kaufmannsfamilie, teutscher Parnasz (Jena/Hbg. 1663), der sich am die seit Mitte des 16. Jh. in Zürich lebte. Sein Werk maßgebl. dt. Barockdichter orientiert Vater, Johann Baptist Pestalozzi (1718–1751), u. auch eigene dichterische Proben enthält. P. hatte eine Lehre als Chirurgus absolviert. schrieb deutsch (auch französisch u. italie- Nach dem frühen Tod des Vaters war P. aunisch), wo er sich als Kasualdichter an einen ßerordentlich stark durch seine Mutter Sustadtbürgerl. Adressatenkreis richtete. Doch sanne, geb. Hotze (1720–1796), beeinflusst, vollzog sich sein Denken über Politik, Recht über deren Familie P. insbes. auch Kontakte u. Geschichte nach wie vor im Medium des zu Fichte erhielt. Er besuchte die LateinLateins u. über die antiken Vorbilder. schule am Fraumünster u. am Großmünster Einen bes. Platz in P.’ Werk nimmt die in Zürich, schließlich die dortige philosoEmblemkunst ein. In zahlreichen zeichneri- phisch-theolog. Hochschule, das Collegium schen Entwürfen zu Kupferstichen, Schau- Carolinum. Unter dem Einfluss der »Helvemünzen u. architektonischen Prunkkulissen tischen Gesellschaft zur Gerwe«, die den Staat /

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Pestalozzi

u. das Bildungswesen im Geiste Rousseaus verändern wollte, verließ P. das Carolinum vorzeitig, um sich unmittelbar auf eine politisch-administrative Aufgabe in Zürich vorzubereiten. Auch diese neuen berufl. Pläne scheiterten. Es war wiederum rousseauistischer Einfluss, der P. nunmehr veranlasste, dem städt. Leben den Rücken zu kehren u. 1769 nach einjähriger landwirtschaftl. Lehrzeit Bauer zu werden u. auf das Birrfeld bei Brugg zu ziehen. Im Herbst 1769 heiratete er die Zürcher Kaufmannstocher Anna Schultheiß, die P.s landwirtschaftl. Vorhaben zunächst skeptisch gegenüberstand, dann aber die Heirat gegen den Widerstand ihrer Eltern durchsetzte u. P. in den Aargau folgte. Dort wurde 1770 das einzige Kind P.s – Hans Jakob – geboren († 1801). Die europ. Misswuchsjahre von 1771/72 u. zusätzl. Finanzierungsprobleme führten auf P.s »Neuhof« zu einer bedrohlichen wirtschaftl. Situation, sodass P. seine Landwirtschaft durch die Weiterverarbeitung von Baumwolle zu stützen suchte. Diese Erweiterung war der Beginn seiner großen pädagog. Unternehmungen. Für die Baumwollverarbeitung hatte er auch verarmte Kinder aus der Umgebung herangezogen. 1774 wandelte er seinen Hof in eine Armenanstalt um. Seine Hoffnung, das Unternehmen trüge sich selbst, erfüllte sich nicht. Als er 1780 die Armenanstalt aufgeben musste, suchte er seine bildungspolit. Vorstellungen literarisch zu rechtfertigen. Kleinere sozialkrit. Schriften P.s waren bereits seit 1765 erschienen. Mit Isaak Iselins Hilfe publizierte P. 1780 in den »Ephemeriden der Menschheit« seine aphoristisch gehaltene, aber als grundlegendes pädagog. Werk gedachte Schrift Die Abendstunde eines Einsiedlers. Immer noch auf den Spuren Rousseaus, kritisierte P. die pädagog. Unkenntnis der Gesellschaft, forderte eine naturgemäße Erziehung u. verwarf Schule u. schul. Methodik als zwanghafte, künstl. gesellschaftl. Produkte. Europäischen Ruhm trug ihm dann der in vier Bänden zwischen 1781 u. 1787 erschienene Volksroman Lienhard und Gertrud (Bln., Lpz.) ein. Der Roman sollte dem Volk u. v.a. auch den polit. Machthabern die politischen u. insbes. die bildungspolit. Zusammenhänge illustrieren,

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durch die die große wirtschaftl. u. geistige Not der Landbevölkerung entstanden, u. wie sie zu mindern sei. Zu dem Hilfsprogramm zählte P. im 1785 erschienenen dritten Teil des Romans schließlich auch die bisher von ihm verworfene Einrichtung von Schulen. Das große Echo, das der Roman fand, war Anlass dafür, dass P. 1792 zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt wurde. Das gesellschaftspolit. Hauptwerk P.s, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts (Zürich 1797), ist eine Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, deren Grundsätze, aber nicht deren Verlauf P. unterstützte. Die Nachforschungen kreisen um die Fragen, »was der Gang des Lebens, wie er ist, aus mir gemacht hat« u. »was der Gang des Lebens, wie er ist, aus dem Menschengeschlecht macht«. Die negativen Erfahrungen seiner persönl. Geschichte wie der terrorist. Verlauf der Revolution ließen P. nicht mehr an die rousseauistische Utopie »eines vollendeten Gleichgewichtes der Menschennatur« glauben. Die Konfliktträchtigkeit der individuellen u. gesellschaftl. Entwicklung könne nicht nur als Produkt gesellschaftl. Kräfte angesehen werden, sondern über diese Konfliktträchtigkeit sei »durch die Wahrheit der Disharmonie der Kräfte und Anlagen der einzelnen Menschen zu voraus entschieden«. Der Mensch sei das Produkt divergierender Kräfte, nämlich der Natur, der Gesellschaft u. seiner selbst. Ein reiner Naturzustand sei nicht denkbar, bloße gesellschaftl. Umwälzungen könnten den Menschen auch nicht bessern, sofern er nicht mit Hilfe der Erziehung auch Werk seiner selbst u. damit ein Mensch in sittl. Verantwortung werde. Aber da der Mensch sich auch »als Werk seiner selbst« aus den Bindungen von Natur u. Gesellschaft nicht lösen könne, lebe er in ständiger Spannung zwischen den auf ihn einwirkenden Kräften. Aus diesem Grunde gewännen Erziehung, method. Unterricht u. Schule, weitab von bloßem Gewährenlassen rousseauischer Herkunft, ein neues Gewicht. Als 1798 die Französische Revolution auch auf die Schweiz übergriff, wurde P. durch die neue Zentralregierung beauftragt, in Stans, das sich der Revolution widersetzt hatte u.

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gewaltsam niedergeworfen worden war, zur Betreuung der Waisenkinder eine Armenanstalt einzurichten. Die Anstalt musste unter dem Druck des frz.-österr. Kriegs bereits nach sieben Monaten wieder geschlossen werden. Damit war ein weiteres Projekt P.s, eine ganzheitl. Armenerziehung zu verwirklichen, gescheitert. Aber die Zentralregierung ermöglichte es P., seine in Stans entwickelte Unterrichtsmethode 1799 in Burgdorf/Emme zu erproben. Das unterrichtsmethod. Programm veröffentlichte P. 1801 in der Schrift Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (Zürich). Nachdem die Schweiz 1803 unter Napoleon wieder föderalistisch strukturiert worden war u. P. somit die Unterstützung der Zentralregierung verlor, wurde das Institut P.s – über eine Zwischenlösung in Münchenbuchsee – 1804/ 05 nach Iferten verlegt. Weitgehend aus privaten Mitteln finanziert, entwickelte sich das Institut dort für etwa zwei Jahrzehnte zu einem pädagog. Zentrum Europas. In der Blütezeit des Instituts um 1809 wurden dort 166 Zöglinge verschiedener Nationalität, insbes. aber aus Deutschland, unterwiesen. Die »Methode«, die am Prinzip der Anschaulichkeit orientiert war, wurde auf alle menschl. Verhaltensbereiche u. auf alle Unterrichtsfächer, allerdings gelegentlich in überzogener Weise, angewandt. Der Niedergang des Instituts wurde bereits mit der polit. Restauration 1814 eingeleitet, dann unter internen Lehrerstreitigkeiten verstärkt. 1825 löste P. die Anstalt auf u. zog sich auf seinen Neuhof im Birrfeld zurück. Obwohl P. große Probleme mit der Erziehung u. der Unterrichtung seines eigenen Sohnes hatte u. das Verhältnis zu seinem Sohn wohl auch durchgehend belastet war, hat er durch seine großen schul. Projekte u. insbes. durch sein umfangreiches publizist. Werk wie kein anderer Pädagoge die mitteleurop. Erziehungs- u. Schulgeschichte im 19. u. 20. Jh. beeinflusst. Er zählt weltweit zu den bekanntesten Pädagogen. Ausgaben: Ausgabe letzter Hand: P.s sämtl. Schr.en. 15 Bde., Stgt./Tüb. 1819–26. – Historischkritische Ausgaben: P.s sämtl. Werke. Hg. Ludwig Wilhelm Seyffarth. 12 Bde., Liegnitz 1869/70. 2 1899–1902. – P.s Sämtl. Werke. Hg. Artur Buchenau, Eduard Spranger u. Hans Stettbacher. 29

Pestalozzi Bde., Bln. 1927–56. Zürich 1958–1996. – H. P., Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. Emilie Bosshart, Emanuel Dejung, Lothar Kempter u. H. Stettbacher. Zürich 1944. – H. P., Werke in 8 Bdn. Hg. Paul Baumgartner. Zürich 1945–49. – Briefausgaben: August Israel: P.-Bibliogr. Bd. 2: Die Briefe P.s. In: Monumenta Germaniae Paedagogica. Hg. Karl Kehrbach. Bd. 29, Bln. 1904. – J. H. P., Sämtl. Briefe. Hg. vom Pestalozzianum u. v. der Zentralbibl. in Zürich. 14 Bde., Zürich 1946–95. – Sämtl. Werke u. Briefe J. H. P.s. CD-ROM-Ed. Bearb. v. Leonhard Friedrich u. Sylvia Springer. Hg. Pestalozzianum Zürich. Zürich 1994. Literatur: Registerband: J. H. P.: Sämtl. Werke u. Briefe. Krit. Ausg., Registerbd. I (Personennamen, Briefempfänger, Subskribenten der Cotta-Ausgabe; geograf. Namen). Verfasst v. Leonhard Friedrich u. Sylvia Springer. Zürich 1994. – Bibliografien: August Israel: P.-Bibliogr. In: Monumenta Germaniae Paedagogica. Hg. Karl Kehrbach. Bde. 25, 29, 31, Bln. 1903/04. – Willibald Klinke: P.-Bibliogr. (Lit. 1904–23). In: Ztschr. für Gesch. der Erziehung u. des Unterrichts, Jg. 11–13 (1921–23). – JohannGünter u. Liselotte Klink: P.-Bibliogr. 1923–65. Weinheim/Bln./Basel 1968. – Gerhard Kuhlemann: P.-Bibliogr. 1966–77. In: Pädagog. Rundschau, H. 2/3 (1980), S. 189–202. – Gesamtdarstellungen: Heinrich Morf: Zur Biogr. P.s. 4 Bde., Winterthur 1868–89. – Herbert Schönebaum: Der junge P. Lpz. 1927. – Ders.: P., Kampf u. Klärung. Erfurt 1931. – Ders.: P., Kennen, Können, Wollen. Langensalza 1937. – Ders.: P., Ernte u. Ausklang. Langensalza 1942. – Käte Silber: P. – Der Mensch u. sein Werk. Heidelb. 1957. – Max Liedtke: J. H. P. Reinb. 1968. 16 2002 (niederländ. Ausg. 1976, japan. Ausg. 1984, korean. Ausg. 1998). – G. Kuhlemann u. Arthur Brühlmeier: J. H. P. (1746–1827). Hohengehren 2002. – Einzeluntersuchungen: Ernst Martin: J. H. P. u. die alte Landschaft Basel. Liestal 1986. – Johannes Gruntz-Stoll (Hg.): P.s Erbe – Verteidigung gegen seine Verehrer. Bad Heilbrunn 1987. – Peter Stadler: P. Geschichtl. Biogr. 2 Bde., Zürich 1988–93. – Hans Gehrig (Hg.): P. in China. International Academic Symposium on the Occasion of the Publication of J. H. P.’s Selected Works in Chinese. Beijing, 10.-14. October. Zürich 1995. – Werner Keil: ›Wie Johann Heinrich seine Kinder lehrt ...‹. Lebensgesch. u. Erziehung des Hans Jacob P. 2. Bde., Regensb. 1995. – Ursula GermannMüller: ›Mutter! Mittlerin zwischen deinem Kind und der Welt‹. Zu P.s Mutterbild. Hitzfeld u. Zürich 1996. – Volker Kraft: P. oder das pädagog. Selbst. Eine Studie zur Psychoanalyse pädagog. Denkens. Bad Heilbrunn 1996. – Fritz Osterwalder: P. – Ein pädagog. Kult. P.s Wirkungsgesch. in der

Pestum Herausbildung der modernen Pädagogik. Weinheim u. Basel 1996. – G. Kuhlemann: P. in unserer Zeit. Lit. u. Themen rund um seinen 250. Geburtstag. Baltmannsweiler 1998. – Daniel Tröhler: Republikanismus u. Pädagogik. P. im histor. Kontext. Bad Heilbrunn 2006. – Reihen: Daniel Tröhler (Hg.): Neue P.-Studien. 1993 ff. – Pestalozzianum Zürich (Hg.): Neue P.-Blätter. 1995 ff. Max Liedtke

Pestum, Jo, eigentl.: Johannes Stumpe, * 29.12.1936 Essen. – Hörfunk- u. Fernseh-, Kinder- u. Jugendbuchautor. Der Arbeitersohn P. ging in Essen auf das Gymnasium, besuchte dort die Malklasse der Folkwang-Schule u. wurde zum Restaurator u. Glasmaler ausgebildet. Er jobbte als Restaurator, Nachtportier, Kirchenmaler u. Taucher. 1958 erschienen erste Veröffentlichungen in Zeitschriften. Ab 1959 arbeitete er als Redakteur u. Layouter an verschiedenen Publikationen mit, u. a. bei der Jugendzeitschrift »Twen«, wurde Chefredakteur bei »rover« u. betreute ebenfalls als Chefredakteur einen Jugendbuchverlag. Seit den frühen 1970er Jahren ist er freier Schriftsteller u. lebt in Billerbeck bei Münster. Von 1977 bis 1983 war P. Mitgl. im Bundesvorstand des Schriftstellerverbands. 1990 erhielt er für seine Mitwirkung am Drehbuch der Serie Brausepulver (ZDF 1989) den Adolf-GrimmePreis, 2001 den Rheinischen Literaturpreis Siegburg. Schon im Jahr 2000 hatte P. mehr als 100 Kinder- und Jugendbücher verfasst. In 30 Sprachen übersetzt, hat ihre Auflage die 2,5 Millionen-Grenze überschritten. P.s umfangreiches literar. Werk spiegelt alle Facetten spannender Texte. P. schreibt Kriminalerzählungen wie die Serien um Kommissar Katzbach, genannt der »Kater« (Wer schießt auf den Kater? Würzb. 1971) oder Detektiv Luc Lucas (Der Spuk von Billerbeck. Würzb. 1989). In seinen Krimis verknüpft P. die Handlungen mit sozialkrit. Hintergrundinformationen. In Nur große Fische für den Joker (Mchn. 1984) ermittelt Kommissar Urban gegen einen Chemiekonzern, der illegal umweltschädl. PCB beseitigen lässt. Für jüngere Leser hat P. Weihnachtskrimis geschrieben, die, nach dem Vorbild von Adventskalendern konzipiert, Fälle wie Die rät-

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selhaften Nikoläuse (Würzb. 1999) u. Die Lametta-Bande (Würzb. 2007) in 24 Kapiteln lösen. Als Herausgeber von Buchreihen für Jugendliche u. junge Erwachsene (Neue Texte für junge Leser. Würzb. Edition Pestum. Mchn./ Würzb.) gab P. literar. Impulse u. förderte engagierte Texte über gesellschaftl. Minderheiten oder Zukunftsangst. Der Roman Auf einem weißen Pferd nach Süden (Würzb. 1978. Verfilmt u. d. T. Schimmi, 1984) ist geprägt von der Industrielandschaft u. Sprache des Ruhrgebiets. Dorthin, an den Ort seiner Kindheit u. Jugend, kehrt P. mit dem Roman Trümmerindianer (Tb. Ravensburg 1999. Erstausg. u. d. T. Die Schwarzfüße. Stgt./ Wien 1990) zurück. Während die Kinder trotz Hunger u. Kriegserfahrung in den Ruinen Indianer spielen, zeichnet P. ein dichtes Bild des Lebens im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit. Lokalkolorit erhält der Roman durch sprechende Namen wie »Hotta« u. »Köttel Schraa« oder durch die Geschichte vom blinden Grubenpferd Barbara. Die Darstellung der Menschen zeigt die Traumatisierungen, die z.B. der Stotterer, dessen Tochter bei einem Bombenangriff gestorben ist, u. der Zittermann, vielleicht ein Jude, der dem KZ entkommen ist, durch Krieg u. Nationalsozialismus erlitten haben. Der Kontakt zu Schwarzmarkthändlern u. Schiebern, bei denen die Jungen alles verscherbeln, um ihre Familien vor dem Verhungern zu bewahren, wird ihnen zum Verhängnis. Die Jungen steigen in das Kellergewölbe einer zerstörten Villa ein u. werden verschüttet. Hotta kann nur noch tot geborgen werden. Das Ruhrgebiet als Handlungsort bleibt auch in den Großstadtfüchsen präsent (Die Abenteuer der Großstadtfüchse. Stgt./Wien 1999). Hier haben sechs Kinder ihr Geheimversteck in einer stillgelegten Zeche u. träumen oft von Flucht. Aber kleinere Verbrechen lassen sie für ihr Stadtviertel u. ihre Nachbarn Initiative ergreifen. Die Füchse sind aufmerksame Beobachter u. übernehmen Verantwortung. Einen hohen Stellenwert nehmen die Abenteuer-Bücher in P.s Repertoire ein. P. fand als Kind ein angekohltes Karl May-Buch in den Kriegstrümmern, das er verschlang u. das ihn faszinierte. Um Kinder zum Lesen zu bringen, so lautet sein Credo, bedarf es einer

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Peter von Arberg

»spannenden Geschichte«. Seine Vorbilder Atmosphäre erzeugen zu können, braucht P. sind Autoren wie May, Mark Twain u. Her- einen gebildeten Leser, der die Zitate u. Anman Melville. Bei P. ereignen sich Abenteuer spielungen aus der Bibel, aus der Literatur u. nicht nur im Wilden Westen, wie in Die Cow- den Ritualen der Mönche versteht. Aus dieboys vom Biberfluss (Stgt./Wien 2007), sondern sem komplexen Netz der Bedeutungen lässt auch auf ganz normalen Ferienreisen. In Die sich P.s Definition von Lesen entwickeln: Er Schatzhöhle am See (Stgt./Wien 2006) entde- sieht Lesen als Kunst, wenn der kundige Leser cken zwei Jungen kostbare Fundstücke einer aus Geheimzeichen seine eigene Welt erillegalen Raubgrabung u. machen sich daran, schafft. die Täter zu überführen. Das Genre der InWeitere Werke: Zeit der Träume – Die sechs dianer-Literatur findet sich in den Büchern Wahrheiten über Peter. Würzb. 1976. – Der Astrovom Büffelmädchen (Stgt./Wien 2004. Eulen- naut vom Zwillingsstern. Mchn. 1982. – Fossbeck. kind und Büffelmädchen. Stgt./Wien 2006): Ffm. 1984 (R.). – Der Pirat auf dem Dach. Stgt. Kleiner Fuß verliert wegen einer Behinde- 1986. – Zorros Zirkus. Stgt. 1989. – Tobi u. die rosa rung bei allen Wettkämpfen u. wird zum Teufel. Würzb. 1992. – Heinrichs Geheimnis. Stgt./ Wien 1992. – Die Waldläufer. Mchn. 1993. – Die Gespött des Stammes. Der Vater, der sich für Großstadtfüchse u. der Wolf. Stgt./Wien 2001. – die Schwäche seines Sohnes schämt, verbannt Einen kurzen Sommer lang. Stgt./Wien 2008. – ihn aus dem Lager. Nicht ein heroischer Fernsehfilme: Mbote – Jungen im Kongo. WDR 1966. Mann, der zum Inventar von Indianerlitera- – Der Künstler Otto Pankok. WDR 1968. – Sarah tur gehört, sondern die leise Schwester Yucca gibt nicht auf. ZDF 1982. – Siebenstern. ZDF 2002. schafft es mit Hilfe einer weisen Frau, ihren Literatur: U. Kirchhoff: ›Ich werde mein Land Bruder zu finden u. ihm bei seinem gefährl. finden‹. Der Roman ›Auf einem weißen Pferd nach Kampf gegen den weißen Wolf beizustehen. Süden‹ v. J . P. In: Becker, Bender, Böll u. andere. In seinen Jugendromanen nimmt P. die Hg. Gerhard Rademacher. Essen 1980, S. 165–174. Utopien u. Träume Jugendlicher auf (Fang – Ulrike Spiller: Szenarien, daß die Heide wackelt. niemals einen Stern. Würzb. 1980) oder setzt In: Börsenblatt (1986), H. 43, S. 1646–1648. – sich kritisch mit Entwicklungshilfe-Projek- Herbert Somplatzki: Lesen ist die Kunst, das Licht im Kopf anzuzünden. In: Buchstäblich 6 (1990), ten auseinander (Die Zeit der Gazelle. Köln S. 3–5. – Ute Blaich: ›... mit dem Rücken zur 1985). Selbstfindung, die Befreiung aus den Wand‹. Interview mit J. P. In: Börsenblatt (1997), Zwängen von Elternhaus, Kirche u. Schule H. 4, S. 6–8. – Ute Volkmann: J. P. ›Heinrichs Gethematisiert der Roman Der Hurone (Stgt./ heimnis‹. Paderb. 2001. Elke Kasper Wien 1996). In dem Roman Das Schloss am Moor (Stgt./Wien 2009) geht Daniel auf Spurensuche. Er ermittelt die Herkunft seiner Peter von Arberg. – Liederdichter, wohl Großmutter u. muss feststellen, dass seine frühes 14. Jh. Familie während des Nationalsozialismus ein schweres Verbrechen begangen hat. Diese Die Kolmarer Liederhandschrift (k, um 1460) Erkenntnis schockiert ihn, noch mehr ver- überliefert sieben Lieder in vier »tagewysen« letzt ihn aber die Tatsache, dass seine Groß- unter dem Namen »Graff Peter von arberg« mutter ihm die Familiengeschichte ver- (im Register: »arburg«). Ein »graf Petter von schwiegen hat, denn Daniel findet, dass die Arburg« war bereits in der verlorenen, durch Wahrheit zumutbar ist. In dieser Anspielung die Zimmerische Chronik des 16. Jh. bezeugten verweist P. auf Ingeborg Bachmann, deren Liederhandschrift X (wahrscheinlich KonGedichtband Anrufung des Großen Bären zu stanz, um 1340) vertreten. Um denselben seinen wichtigsten Leseerfahrungen gehört. Autor handelt es sich möglicherweise bei jeAuf eine völlig andere Spurensuche begibt nem Graf Hermann von Arberg (Marburg, sich der Restaurator Elias im Roman Das Barburg), den im 15. Jh. Konrad Bollstatter, schwarze Kloster (Stgt./Wien 2003). Er soll das Konrad Nachtigall u. Hans Folz unter andeBild Die Himmelfahrt des Propheten Elias wie- ren Sängern aufführen. derherstellen u. gerät bei dieser Arbeit in eiDie Namensangabe in k bezieht sich primär nen Raum außerhalb der Zeit. Um diese mag. auf den Erfinder der Töne, der sich ähnlich

Peter von Arberg

wie Wolfram von Eschenbach auf Tagelieder spezialisiert haben mag. Die Töne fügen sich gut in die Formtradition des späten Minnesangs. Ob auch nur einer der zumeist geistl. Texte in diesen Tönen von P. stammt, steht dahin. Außerhalb von k werden vier der sieben Lieder u. ein achtes, weltl. Lied überliefert, u. zwar fast durchweg anonym; das Lied von den Hl. Drei Königen erscheint – wohl zu Unrecht – in Mönch-von-Salzburg-Corpora (G 46), zum geistl. Wächterlied wird einmal »Scriba quidem de Glichensteyn« als Verfasser genannt (Baldzuhn 2004; Fasbender). Nach allem, was von den Produktions- u. Rezeptionsbedingungen deutschsprachiger Lyrik im 14. Jh. bekannt ist, dürfte P.s Autorschaft am ehesten für das weltl. Tagelied »Ich sing, ich sage« in seiner Großen Tagweise zu erwägen sein (die ausladende Form u. einige Formulierungen hat Oswald von Wolkenstein entlehnt). Wegen mehrerer mitteldt. Reime wäre dann allerdings die erwogene, an sich plausible Gleichsetzung P.s mit dem Schweizer Grafen Peter von Aarberg (urkundlich 1319–1368) ausgeschlossen. Die geistl. Lieder – vier durch Tageliedelemente u. -anklänge noch als Kontrafakturen weltl. Vorbilder erkennbar, zwei Maria gewidmet – haben verschiedene Verfasser. Das Passionslied »Ach starcker got« in der Großen Tagweise dichtete der Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen zufolge ein »ritter« um 1356; es entfaltete eine ungewöhnlich breite u. vielseitige Wirkung (fast 30 Textzeugen von ca. 1370 bis ins 16. Jh.), wurde u. a. in Kreisen der Devotio moderna rezipiert u. auch ins Lateinische übertragen. Wohl diesem Lied verdanken die lat. Cantionesdichtung u. die Bordesholmer Marienklage die Kenntnis des Tons bzw. der Melodie. Ausgaben: Eine Gesamtausg. fehlt, Einzelnachweise in: RSM 4 (s. Lit.). – Ich sing, ich sage: Röll, S. 226–230 (s. Lit.). – Ach starcker got: Steer, S. 125–154, 192–196 (s. Lit.; mit Melodie); dazu Horst Brunner in: AfdA 88 (1977), S. 110. Ergänzend: Helmut Tervooren u. Martina Klug: Ein neu entdeckter Zyklus aus dem niederrhein. Kloster Gaesdonck. In: Queeste 9 (2002), S. 38–66, hier S. 45–49; Hörner (s. Lit.), S. 221–237. – Mehrere Lieder in: Cramer 2, S. 418–465, 539–541. Cramer 4, S. 259–264, 414. Schnyder (s. Lit.), S. 21–23, 160. –

154 Melodien: Geistl. Gesänge des dt. MA. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1–4. 6–7, Kassel u. a. 2003 ff., Nr. 5, 556–558, 601–602 (Große Tagweise), Nr. 370 (Tagweise I), Nr. 228, 449 (Tagweise II). – Der Mönch v. Salzburg: Die Melodien [...]. Hg. Hans Waechter u. Franz Viktor Spechtler. Göpp. 2004, S. 186–189, dazu S. 272 f. (Tagweise I). – Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. H. Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Jean Grellet: Aarberg (Grafen v.). In: Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz. Bd. 1, Neuenburg 1921, S. 10–13. – Samuel Singer: Die mittelalterl. Lit. der dt. Schweiz. Frauenfeld/Lpz. 1930, S. 27 f., 193. – Walter Röll: Oswald v. Wolkenstein u. Graf P. v. A. In: ZfdA 97 (1968), S. 219–234. – Volker Mertens: P. v. Aarberg, Minnesänger. In: ZfdA 101 (1972), S. 344–357. – Georg Steer: ›Dat dagelyt von der heiligen passien‹. In: Beiträge zur weltl. u. geistl. Lyrik des 13. bis 15. Jh. Hg. Kurt Ruh u. Werner Schröder. Bln. 1973, S. 112–204. – Ralf Breslau: Die Tagelieder des späten MA. Diss. FU Berlin 1987, S. 96–100, 163 f. – RSM 4. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tüb. 1988, S. 477–488 (Lit.); ergänze: RSM 1, Tüb. 1994, S. 26. – F. Schanze: Zur Liederhs. X. In: Dt. Hss. 1100–1400. Hg. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tüb. 1988, S. 316–329. – Horst Brunner: Dichter ohne Werk. In: Überlieferungsgeschichtl. Editionen u. Studien zur dt. Lit. des MA. FS K. Ruh. Hg. Konrad Kunze u. a. Tüb. 1989, S. 1–31, bes. S. 12. – V. Mertens: P. v. A. In: VL (Lit.). – B. Wachinger: Der Mönch v. Salzburg. Tüb. 1989 (Register). – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993, S. 184 f. – Jens Haustein: Marner-Studien. Tüb. 1995, S. 134–136. – Martina Probst: ›Nu wache ûf, sünder træge‹. Geistl. Tagelieder des 13. bis 16. Jh. Ffm. 1999, bes. S. 80–91. – Martine de Bruin u. Johan Oosterman: Repertorium van het Nederlandse lied tot 1600. 2 Bde., Gent/Amsterd. 2001, Bd. 1, S. 437 (T5119). – F. Schanze: P. v. A. In: NDB. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Mchn. 2002, S. 422–425. – Ders.: Teichnerreden u. Meisterlieder. In: ZfdA 133 (2004), S. 151–176, hier S. 153, 165. – André Schnyder: Das geistl. Tagelied des späten MA u. der frühen Neuzeit. Tüb./Basel 2004, S. 199–202, 278–281, 362–364, 648 f. – Christoph Fasbender: Die Ziegeler v. Erfurt. In: Mittelalterl. Sprache u. Lit. in Eisenach u. Erfurt. FS Rudolf Bentzinger. Hg. Martin Schubert u. a. Ffm. 2008, S. 68–85, bes. S. 83 f. – Petra Hörner: Das Tagelied v. Gott unter bes. Berücksichtigung der Revaler Fassung. In: Begeg-

Peter von Dusburg

155 nung mit Literaturen. FS Carola L. Gottzmann. Hg. O. Hörner u. a. Bln. 2008, S. 215–250. – Eva Willms (Hg.): Der Marner. Bln./New York 2008, S. 399. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2009. Gisela Kornrumpf

Peter von Dusburg, letzte Nennung in den Quellen 1356. – Deutschordenspriester u. -chronist. P. v. D. (wohl nicht Duisburg/Rhein, sondern Doesburg/Ijssel) vollendete 1326 in lat. Sprache die erste preuß. Chronik, die Chronica terrae Prussie. Die Darstellung umfasste den Zeitraum von der Gründung des Ordens in Akkon bis 1326. Das fertige Werk widmete er dem Hochmeister Werner von Orseln. Anders als die ältere Livländische Reimchronik (1290), die aufgrund ihres regionalen Interesses, aber wohl mehr noch wegen ihrer fehlenden Programmatik praktisch ohne Nachwirkung blieb, wurde P.s Werk Maßstab setzend für die spätere preuß. Ordenschronistik. Ihre stärkste Wirkung erreichte die Chronica freilich erst in der kongenialen Übertragung in dt. Reimpaarverse durch den Ordenspriester Nikolaus von Jeroschin, der P.s klare Konzeption unverändert übernahm. Dieser hatte in konsequenter schwarz-weiß-Zeichnung die Taten des Deutschen Ordens als andauernden, gottgewollten Kampf des Guten gegen das Böse stilisiert u. die Ordensritter als neue Makkabäer gezeichnet, als Verteidiger des Christentums gegen die Heiden, die als Kinder des Teufels betrachtet werden. Die Geschichte dieser Kämpfe, auf die die Tätigkeit des Deutschen Ordens bei P. reduziert wird, erscheint so als historisch erfolgreiche Umsetzung des in den Ordensstatuten entworfenen Programms u. wird damit zur »offiziellen« Darstellung von rd. 100 Jahren Ordenswirksamkeit in Preußen. Es ist eine sehr einprägsame Darstellung, die ihre Wirkung nicht zuletzt durch Verzicht auf jegl. Differenzierung erreicht; man hat P. nicht zu Unrecht »an ideologist« (Fischer) genannt. Die organisatorische Leistung des Autors ist beachtlich. Er hat sehr heterogenes Material – mündl. Nachrichten, Geschichtswerke (v. a. Tolomeo von Lucca, Martin von Troppau) u. verschiedenartige Ordenstexte (z.B.

die Ordensstatuten, die Narratio de primordiis Ordinis Theutonici, den Bericht Hartmanns von Heldrungen, Urkunden, Nekrologe) – zusammengetragen u. so arrangiert, dass alles seinem Leitgedanken dienstbar gemacht wurde: der »gültigen« Darstellung der »mirabilia facta Dei per ordinem Theutonicum«. Das vorauszusetzende Interesse der Ordensleitung an einem solchen Text erklärt sich aus der nicht unproblemat. Situation des Ordens zu Beginn des 14. Jh. Neben Vorwürfen von Ordensgegnern gab es v. a. interne Schwierigkeiten: differierende Meinungen über die Verlegung des Ordenszentrums nach Preußen u. Individualisierungstendenzen innerhalb der Gemeinschaft. Den Vorwürfen von außen begegnete die Chronica mit dem Verweis auf die Leistungen des Ordens in der Verteidigung u. Mehrung des Christentums. Den immer wieder geäußerten Zweifel am Ordens-Status des Deutschen Ordens wies P. in einer großen Waffen-Allegorese zurück, in der geistliches u. weltl. Rüstzeug untrennbar zusammengehören. Die internen Auseinandersetzungen suchte er implizit als obsolet zu erklären, indem er die Geschichte des preuß. Ordenszweiges zur Geschichte des gesamten Ordens machte u. Preußen als dessen wahres Aufgabenfeld darstellte. Sein wichtigstes Ziel, die Konsolidierung der korporativen Identität, versuchte P. zu erreichen, indem er unterstrich, dass die Erfolge des Ordens nur möglich waren als Leistungen einer intakten Gemeinschaft, die in gläubiger Demut ihren Auftrag erfüllte. Der Autor war also bemüht, mit der Chronica für den Orden eine Art »kulturelles Gedächtnis« (Assmann) zu stiften u. dessen Mitglieder damit erneut auf gemeinschaftl. Handeln zu verpflichten. Ausgaben: P. v. D., Chronica terrae Prussiae: Hg. Max Toeppen. In: Scriptores rerum Prussicarum. Bd. I, Lpz. 1861. Nachdr. Ffm. 1965, S. 3–269. – P. d. Dusburgk, Chronica terrae Prussiae. Hg. Jaroslaus Wenta u. Slavomirus Wyszomirski. Krakau 2007 (Monumenta Poloniae Historica, N. S. 13). – P. v. D., Chronik des Preußenlandes. Übers. u. erl. v. Klaus Scholz u. Dieter Wojtecki. Darmst. 1984. Literatur: Helmut Bauer: P. v. D. u. die Geschichtsschreibung des Deutschen Ordens im 14.

Peter von Reichenbach Jh. in Preußen. Bln. 1935. – Marzena Pollakówna: La Chronique de Pierre de D. In: Acta Poloniae Historica 19 (1968), S. 69–88. – Gerard Labuda: Zu den Quellen der ›Peußischen Chronik‹ P.s v. D. In: Der Deutschordensstaat Preußen in der poln. Geschichtsschreibung der Gegenwart. Hg. Udo Arnold u. Marian Biskup. Marburg 1982, S. 133–164. – Hartmut Boockmann: Die Geschichtsschreibung des Deutschen Ordens. Gattungsfragen u. ›Gebrauchssituationen‹. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 447–469. – Mary Fischer: Di himels rote. The Idea of Christian Chivalry in the Chronicles of the Teutonic Order. Göpp. 1991. – Jaroslaw Wenta: Studien über die Ordensgeschichtsschreibung am Beispiel Preußens. Torun´ 2000. – Ders.: P. v. D. In: VL (mit Bibliogr. bis 2003). – Gisela Vollmann-Profe: P. v. D. In: Krieg im Visier. Bibelepik u. Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung. Hg. Edith Feistner, Michael Neecke u. dies. Tüb. 2007, S. 113–135 (Lit.). – Slawomir Wyszomirski: Die Werkstatt P.s v. D. In: Mittelalterl. Kultur u. Lit. im Deutschordensstaat in Preussen: Leben u. Nachleben. Hg. J. Wenta, Sieglinde Hartmann u. G. Vollmann-Profe. Torun´ 2008, S. 501–511. Gisela Vollmann-Profe /

Peter von Reichenbach. – Verfasser geistlicher Lyrik, vermutlich 14. Jh. Über die Lebensumstände P.s ist nichts bekannt. Die Sprache seiner Dichtung weist ins Mitteldeutsche. Die Kolmarer Liederhandschrift überliefert unter seinem Namen ein geistl. Tagelied u. einen religiösen Leich, die mit zieml. Sicherheit im 14. Jh. entstanden sind (Brunner). Das Tagelied mit Aufforderung an den Wächter, zwei Liebende – Leib u. Seele – zu wecken, da der Tag – das Jüngste Gericht – nahe, besteht aus drei Strophen zu je 37 Versen in Doppelkanzonenform. Ob es als »geistlicher Weckruf« als Einleitung zum Leich konzipiert wurde oder der Schreiber der Handschrift Lied u. Leich irrtümlich als eine zusammenhängende Dichtung auffasste, ist ungeklärt. Der Leich mit zehn Doppelversikeln (370 Verse) setzt mit dem Preis der Trinität ein; nach Schöpfung u. Sündenfall wird das Marienleben bis zur Verkündigung beschrieben. Möglicherweise ist der formal, musikalisch, sprachlich u. inhaltlich in der

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Tradition Frauenlobs stehende Leich unvollständig überliefert oder unvollendet. Ausgaben: Die Sangesweisen der Colmarer Hs. Hg. Paul Runge. Lpz. 1896. Neudr. Hildesh. 1965, S. 49–61 (mit Melodien). – Cramer 2, S. 466–479, 542–545. Literatur: Theodor Kochs: Das dt. geistl. Tagelied. Münster 1928, S. 41–43, 50 f., 55. – Karl H. Bertau: Sangverslyrik. Gött. 1964 (Register). – Christoph März: Frauenlobs Marienleich. Erlangen 1987, S. 103–120. – Horst Brunner: P. v. R. In: VL (Lit.). – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literar. Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhs. Tüb. 2002. Claudia Händl

Peter Diemringer von Staufenberg. – Versnovelle, entstanden vor 1320/24. Die Versnovelle P. D. v. S. wurde früher Egenolf von Staufenberg, einem elsäss. Adeligen aus der Mortenau (heute: Ortenau, Baden), zugeschrieben, der zwischen 1320 u. 1324 starb. Heute betrachtet man ihn eher als den Auftraggeber. Die Diemringer gehörten wahrscheinlich zur Ganerbschaft, deren Mitglieder seit der ersten Hälfte des 13. Jh. Anteile an der Burg Staufenberg besaßen. So ist die Novelle von der gestörten Mahrtenehe z.T. genealog. Sage. P. D. v. S. ist überliefert in der 1870 verbrannten Straßburg-Molsheimer Handschrift u. in Fragmenten einer weiteren Handschrift, zudem in vier frühen Drucken, der letzte um 1550. In 1178 Versen wird erzählt, wie dem Ritter Peter eine überird. Frau ihre Liebe, dazu Gut u. Vermögen anbietet unter der Bedingung, keine Ehefrau zu nehmen, sonst müsse er binnen drei Tagen sterben. Sie werde bei ihm sein, sobald er es wünschte u. allein in seinem Gemach sei, u. niemand werde sie sehen. Der Held willigt ein u. das Glück beider währt bis zum Moment, da Peter von seinen Verwandten zwecks Sicherung der Erbfolge zur Heirat gezwungen wird. Er heiratet die Nichte des Königs, nachdem die Priester ihm das angeblich teufl. Wesen seiner Geliebten enthüllt haben: »Der Teufel in der Hölle ist euer Schlafgeselle!« sagt ein Bischof. Noch während des Hochzeitsschmauses streckt die »merfeye« ihren nackten Fuß

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Peter von Zittau

Ausgaben: Eckhard Grunewald (Hg.): Der Ritter durch die Decke des Kaisersaales. Kurz darauf v. Staufenberg. Tüb. 1979. – Ders.: P. v. S. Abb. Zur stirbt der Ritter. Die Versnovelle ordnet sich stofflich in den Text- u. Illustrationsgesch. Göpp. 1978. Literatur: Ottilie Dinges: P. v. S. Diss. [masch.] Kreis der Sagen von der geschlechtl. Verbindung zwischen einem Menschen u. einem Münster 1948. – Lutz Röhrich: Erzählungen des überird. Wesen ein u. entleiht von dort die späten MA u. ihr Weiterleben in Lit. u. Volksdichtung bis zur Gegenwart. Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, Erzählmomente Begegnung, Verbot, ÜberS. 27–61 u. 243–253. – Karl-Heinz Schirmer: Egetretung. Sie entfernt sich davon aber in der nolf v. Staufenberg. In: VL. – Ernest R. Walker: P. v. Gestaltung des negativen Schlusses – das Er- S. Its Origin, Development and Later Adaption. lösungsmotiv fehlt –, der sonst im europ. Göpp. 1980. – E. Grunewald: ›Der túfel in der helle Mittelalter nur in einer Erzählung von Walter ist úwer schlaf geselle‹. Heidn. Elbenglaube u. Map († 1209/10) u. in den Melusinensagen christl. Weltverständnis im Ritter v. Staufenberg. belegt ist. Das überird. Wesen weist ferner In: Volksreligion im Hohen u. Späten MA. Hg. urtümliche mytholog. Züge auf: Peters Ge- Peter Dinzelbacher. Paderb. 1990, S. 129–143. – liebte ist zwar eine Fee, aber auch eine Bea Lundt: Melusine u. Merlin im MA. Mchn. 1991, Schildmagd, die den Ritter von seiner Geburt S. 125–140. – Brigitte Spreitzer: ›Wie bist du vom Himmel gefallen...‹. Einschlagstellen des Diabolian unsichtbar begleitet u. beschirmt hat. Sie schen in der Lit. des späteren MA. Wien u. a. 1995, ist zudem ein »wünschelwîp«, d.h. eine Frau, S. 99–113. – Claude Lecouteux: Mélusine et le die nur zu wünschen braucht, wohin sie will, Chevalier au Cygne. Paris 21997. – André Schnyder: u. dann im Nu dorthin gelangt. An der Dia- P. v. S. In: EM (Lit.) Claude Lecouteux bolisierung der Fee scheint dem Dichter wenig gelegen, der sich nicht nur an literar. Quellen anlehnt (z.B. an Konrads von WürzPeter von Zittau, * ca. 1260/70, † nach burg Partonopier und Meliur u. an den frz. Lais 1339. – Chronist u. geistlicher Schriftdes 12. u. 13. Jh.), sondern auch an mündlich steller. Tradiertes. Die Fee verkörpert Peters Schicksal u. erinnert insofern an die altnord. Fylgja, P. trat vor 1305 in das als Königskloster u. mit der sie vieles gemeinsam hat. -grablege gegründete Zisterzienserkloster Diese Sage zeigte eine breite Wirkung in Königsaal (Zbraslav) bei Prag ein u. war ab Vers- u. Prosadichtungen. Paracelsus bezieht 1316 für mehr als 20 Jahre dessen Abt. Unter sich auf sie in seinem Liber de nymphis, sylphis seinem Abbatiat erlebte das Kloster sowohl in (1581), macht aus der Fee eine Undine u. weltl. wie in geistl. Hinsicht einen beträchtl. rückt sie in die Nähe der Melusine. Sie fand Aufschwung, der v. a. durch P.s enge VerbinAufnahme in die Zimmerische Chronik, wurde dung zum böhm. Königshaus ermöglicht frei bearbeitet u. erweitert von Bernhard wurde. Schmidt u. Johann Fischart (1588), ging in Mit dieser hängt auch die Entstehung seiHeinrich Kornmanns Mons Veneris (1614) ein nes bei Weitem wichtigsten Werkes, der u. ist stark gekürzt in Des Knaben Wunderhorn Chronica Aulae Regiae (Textausg.: J. Emler: (1805) von Arnim u. Brentano, die zgl. ro- Chronicon Aulae Regiae [...]. Prag 1884) zumant. Motive hinzufügen wie Natur- u. sammen, der inhaltlich wie literarisch beTraumhaftes u. Magisches. Die Erzählung deutendsten lateinischsprachigen Chronik fand auch Eingang in Sagensammlungen wie Böhmens (Berichtszeitraum: 1253–1338). die Deutschen Sagen der Gebrüder Grimm Das erste Buch (1253–1316, 130 Kap.) bringt (1816–18) u. die Schwarzwaldsagen (1889) von v. a. eine Vita des Königs Wenzel II.; P. konnte Carola Freiin von Eynatten. Die Textzeugen hier für die Kap. 1–51 auf eine Vorarbeit seivariieren in der Benennung von Peters Ge- nes Vorgängers, des Abtes Otto zurückgreiliebter als Fee, Gespenst, Waldfrau, Wasser- fen. Die Bücher II (1317–1334, 34 Kap.) u. III frau (nympha) u. Empusa. In der 1932 in (1335–1337, 15 Kap.) bieten Zeitgeschichte, Lothringen aufgezeichneten Version Melusine die P. (v. a. wegen seiner Nähe zur Tochter im Stollenwald wird der Held zum Bürger u. Wenzels II., Elisabeth) selbst mitgestaltet die Fee zur erlösungsbedürftigen Jungfrau. hatte. Zentrales Thema des Werkes ist

Peterich

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gleichwohl die Geschichte von Königsaal (mit S. 262–279. – V. Honemann: P. v. Z. als Literat. In: dem Handeln u. Erleben P.s), doch gilt sein Dt. Lit. des MA in u. über Böhmen. Hg. Václav Bok Interesse dabei auch stets der Geschichte u. u. Hans-Joachim Behr. Bd. 2, Hbg. 2004, Gegenwart Böhmens in ihrer Verflechtung S. 145–159. – Anna Pumprová: Die Predigten des P. v. Z. [...]. In: Laetae segetes. Griech. u. lat. Studien mit dem Reich. Auch formal ist die Chronik an der Masaryk-Univ. u. der Univ. Wien. Brünn von bes. Bedeutung: Sie ist das wichtigste 2006, S. 98–110. – Jana Nechutová: Die lat. Lit. des Zeugnis des prosimetr. Stils im 14. Jh.; die MA in Böhmen. Köln/Weimar/Wien 2007, passim, Reimprosa wird zudem immer wieder durch bes. S. 154–160. Volker Honemann Verstexte (meist zweisilbig leonin. Hexameter) unterbrochen. In die Erzählung der Ereignisse legt P. Briefe, Reden, Lamentationen, Peterich, Eckart, * 16.12.1900 BerlinGebete, Totenklagen, Wundererzählungen, Grunewald, † 13.4.1968 Florenz. – LyriTräume u. Visionen ein; am Ende von Buch I ker, Dramatiker, Reiseschriftsteller, bringt er sogar sein eigenes Testament. Auf Übersetzer. die böhm. Geschichtsschreibung der Folgezeit übte die Chronik, trotz relativ schmaler P. wuchs als Sohn des Bildhauers Paul PeteÜberlieferung, großen Einfluss aus; im spä- rich in Italien auf (Florenz u. Forte dei Marten 14. Jh. arbeitete sie Franz von Prag in mi). Bis 1933 arbeitete er hauptsächlich als seine Prager Chronik ein. Unklar ist, ob ein Journalist in Rom u. als Korrespondent beim von P. selbst erwähnter Liber secretorum Aulae Völkerbund in Genf. Umfangreiche Reisen regiae, eine Sammlung der Wunder, die sich in führten ihn nach Asien, Afrika u. Südamerika Königsaal ereignet hätten, vollständig mit u. in zahlreiche europ. Länder. Bis 1945 lebte dem 18. Kap. von Buch II der Chronik iden- er hauptsächlich in Italien, 1945–1949 in tisch ist oder dieses nur einen Teil des Liber Deutschland. Nach 1954 arbeitete er in Paris u. London als Korrespondent für verschiedebietet. Bisher weitgehend unediert sind die von P. ne dt. Zeitungen. 1959 bis 1961 war er Diselbst zusammengestellten 131 Predigten, rektor der dt. Kulturinstitute in Mailand u. die er den Mönchen seines Klosters hielt. Es Rom, anschließend Programmdirektor des sind (in der vorliegenden schriftl. Fassung) Goethe-Instituts in München. Herangewachsen in einem Kreis dt. nüchterne u. inhaltlich einfache Predigtskizzen, von P. selbst eher als »fabulaciones« Künstler, die die Wiedergeburt der toskan. denn als »sermones« bezeichnet. Nicht völlig Frührenaissance mit ihren Werken evozieren für P. zu sichern ist die Formula domini Petri wollten, entwickelte sich P. zu einem hochabbatis Aulae regiae in aedificationem fratris et gebildeten u. formstrengen Lyriker in der monachi devoti (neueste Ausg.: Jana Nechu- Nachfolge der Nazarener u. Romantiker. Die tová: Formula [...]. In: Listy filologické 122, Fragen nach dem Ursprung der Religion ste1999, S. 176–193), ein religiös-erzieherisches hen im Mittelpunkt seiner im Grundton auch Gedicht (13 leonin. Hexameter u. 50 Vagan- christlich geprägten Texte. Mit Mythologie u. tenstrophen, also 213 Verse) für einen jungen Kunstgeschichte befasste er sich in zahlreiKlosterbruder, dem stark alltagsbezogene chen Essays u. in dem dreibändigen ItalienRatschläge gegeben werden; die Verse 14 ff. buch Italien – Ein Führer (Mchn. 1958–63. 8 1982). Kunsthistorische u. geograf. Beobwerden mitunter Heinrich von Langenstein zugeschrieben. Gänzlich unklar ist schließ- achtungen werden hier durch sehr persönlich lich, ob P. mit dem berühmten Malograna- vorgetragene, weitschweifig-ausführl. Ertum-Traktat (siehe Gallus von Königsaal) in zählungen ergänzt, in die durch die Darstellung von Legenden u. Wundern auch LokalVerbindung gebracht werden kann. Literatur: Volker Honemann: P. v. Z. In: VL. – kolorit einfließt. P. übersetzte aus dem Altgriechischen Günther Rautenstrauch: Abt Petrus v. Z. im Spiegel (Pindar u. a.), dem Französischen (Bernanos), des Chronicon Aulae Regiae. In: Die Oberlausitz u. Sachsen in Mitteleuropa. FS Karlheinz Blaschke. dem Spanischen (Calderón u. a.) u. aus dem Hg. Martin Schmidt. Görlitz-Zittau 2002/03, Italienischen (Dante, Santucci, Vittorini).

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1960 erhielt er den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf. Er war u. a. Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Weitere Werke: Sonette einer Griechin. Freib. i. Br. 1940 (L.). – Göttinnen. Ffm. 1941 (Bildbd. mit Ess.s). – Nausikaa. Freib. i. Br. 1947 (D.). – Griechenland, ein kleiner Führer. Olten/Freib. i. Br. 1956. – Ges. Gedichte. Mchn. 1967. Literatur: Johannes Hösle: E. P. In: Studi Germanici, Neue Serie, Jg. 7, H. 2/3 (1969), S. 371–382. Detlef Krumme / Red.

Petermann, August, * 18.4.1822 Bleicherode am Eichsfeld, † 25.9.1878 Gotha (Freitod). – Geograf.

Peters

teiligt. P.s Hauptverdienst war aber sein wiederum unermüdl. Einsatz für neue Expeditionen, mit dem er – am Beginn des imperialist. Zeitalters – das öffentl. Interesse an exot. Gegenden weckte u. gleichzeitig befriedigte. Mit der Ökonomisierung u. Systematisierung von Forschungsreisen – gekennzeichnet durch die Übernahme von Expeditionen in staatl. Regie – musste P. das Ende der heroischen Jahre der Geografie erleben u. resignierend die wiss. Spezialisierung seiner Mitteilungen hinnehmen. Literatur: Hugo Wichmann: P. In: ADB. – Ewald Weller: A. P. Lpz. 1911 (mit Bibliogr.). – Johannes H. Voigt: Die Erforschung Australiens. Der Briefw. zwischen A. P. u. Ferdinand v. Mueller 1861–78. Gotha 1996. – Imre Josef Demhardt: Die Entschleierung Afrikas. Gotha 2000.

Der Sohn eines Gerichtsbeamten besuchte Dieter Löffler / Red. 1839–1845 die geograf. Kunstschule von Heinrich Berghaus in Potsdam, wo er zum Kartografen ausgebildet wurde. Zur BearbeiPeters, Christoph, * 11.10.1966 Kalkar/ tung der engl. Ausgabe des Physikalischen Atlas Niederrhein. – Prosa-Autor. von Berghaus übersiedelte P. 1845 nach Edinburgh, 1847 ließ er sich in London nie- P. studierte in Karlsruhe freie Malerei. Von der. Als Mitgl. der Royal Geographical Society 1995 bis 2000 arbeitete er am Rhein-Mainu. geograf. Berichterstatter des »Athenaeum« Flughafen Frankfurt als Fluggastkontrolleur. warb er für Forschungs- u. Entdeckungsrei- Seit 2000 ist P. als Autor u. Zeichner freisen, die er auch durch öffentl. Sammlungen schaffend tätig. Sein Werk umfasst bislang finanziell ausstattete. Aufgrund seiner Ver- Romane, eine Erzählung u. den Prosaband bindung zum preuß. Gesandten konnte er die Kommen und gehen, manchmal bleiben (Ffm. Mitreise dt. Forscher in der bedeutenden 2001). Seit 1996 hat P. wichtige Auszeichengl. Expedition nach Zentralafrika (1850 bis nungen, darunter den aspekte-Literaturpreis 1853) durchsetzen. (1999), den Georg-K.-Glaser Preis (2000) u. 1854 wurde P. von der Firma Justus Perthes den Award for the Annual Best Foreign NoGeographische Anstalt in Gotha angeworben. vels of the 21st Century der VR China (2004) Von 1855 an erschienen die heute noch be- erhalten. 2004 u. 2008 wurde P. auf die Poestehenden »Petermanns Geographische Mit- tik-Dozenturen nach Mainz u. Tübingen beteilungen« (bis 1878 »Mittheilungen aus rufen. Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über Im Roman Stadt Land Fluss (Mchn. 1999) wichtige neue Erforschungen auf dem Ge- erzählt Thomas Walkenbach die Geschichte sammtgebiete der Geographie«). Die Mo- der Liebe seines Lebens vom Ende her. Der natsschrift entwickelte sich in kurzer Zeit zur akademisch gescheiterte Kunsthistoriker auflagenstärksten u. vorübergehend zur in- setzt sich nach dem frühen Tod seiner Frau ternational besten geograf. Zeitschrift, die P.s mit der Frage auseinander, ob er fähig war, Namen auf der ganzen Welt bekannt machte. Hanna selbstlos zu lieben. Die Darstellung Viele Forschungsreisende veröffentlichten von Vergänglichkeit u. der Flüchtigkeit der zuerst hier ihre Berichte, die P. mit Karten Liebe macht eine thematische u. motivische (850 Beilagen) ausstattete. Als Meister krit. Konstante in P.’ Werk aus. Im Prosaband Quellenauswertung war er maßgeblich an der Kommen und gehen, manchmal bleiben werden auf Exaktheit u. Deutlichkeit abzielenden unterschiedl. Situationen der Ich-Auflösung Reform der Kartografie in Deutschland be- behandelt. Auf der Suche nach Sinn begeben

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sich die Figuren an Orte, die für Zentren bzw. den ersten islamist. Angriff auf das World Randgebiete von Welt stehen. In ihrer Sehn- Trade Center u. die Terrorakte in Ägypten sucht nach Liebesglück verlieren sich die von 1997, bei der Lektüre mitzudenken. Protagonisten in eigenen Innenwelten. Pro- Weder aus den Erzählerberichten der beiden zesse des Identitäts-, Wahrnehmungs- u. Protagonisten noch aus dem fiktionalen Wirklichkeitsverlustes sind auch in den Doku-Material (Aktenvermerke u. Medienquellen) gehen Erklärungen für Sawatzkys nachfolgenden Texten behandelt. Heinrich Grewents Arbeit und Liebe (Mainz Fanatismus u. den internat. Terrorismus 1996. Vom Autor durchges. Neuaufl. Mchn. hervor. Unzuverlässiges Erzählen lässt wie in 2004) beginnt als Angestelltensatire. Aus sei- allen Texten des Autors die Grenze zwischen ner Sicht gerät Grewent das von ihm initiierte Wahrheit u. Täuschung als fließend erscheiProjekt zur Entwicklung eines Wandhalter- nen. Die komplexe Gestaltung nicht völlig modells für feuchtes Toilettenpapier außer durchschaubarer Konflikte zeichnet P.’ Prosa Kontrolle. Die Satire wird zur Tragödie, als aus. Grewent an den vor 20 Jahren von ihm verWeitere Werke: Die Traumbilder des Schreiübten Mord an einem Mädchen erinnert bens. Tübinger Poetik-Dozentur 2008. Hg. Dorowird. Versagensängste, paranoides Konkur- thee Kimmich u. Philipp Ostrowicz. Künzelsau renzdenken u. verspätetes Schuldbewusstsein 2009. – Mitsukos Restaurant. Mchn. 2009 (R.). Literatur: Thomas Kraft: C. P. In: LGL. – Ingo werfen ihn nicht nur im wörtl. Sinne aus der Arend: Der Teppich der falschen Zeichen – Lust an Bahn. Das Tuch aus Nacht (Mchn. 2003) ist eine der Unschärfe. C. P.’ zweiter Roman ›Ein [sic] Tuch polyphon erzählte Genremischung aus Lie- aus Nacht‹. In: Freitag, 26.12.2003. – Inez Müller: Überlegungen zum poet. Kompositionsverfahren bes-, Kunst- u. Kriminalroman. Der von der in P.’ Prosaband ›Kommen und gehen, manchmal Literaturkritik viel beachtete Roman steht li- bleiben‹. In: Studia Neophilologica 76 (2004), terarhistorisch in der Tradition von Trinker- S. 53–62. – Holger Noltze: Intercity nach Seelengeschichten. Bei einem Aufenthalt in Istanbul fahrplan. Tagträume, Nachtgebilde: Der Erstling v. erreicht Albins, Livias u. Jans Dreiecksver- C. P. In: FAZ, 22.6.2005. – Thomas Schaefer: C. P. hältnis den dramat. Höhepunkt. Albin In: KLG. Inez Müller glaubt, aus einem Hotelfenster einen Mord beobachtet zu haben, worauf er sich in ausPeters, Petri, Friedrich, * 10.3.1549 Halsichtslosen Ermittlungen gegen die russ. lerspring/Kalenberg, † 21.10.1617 BraunMafia verstrickt, ehe er im Bosporus ertrinkt. schweig. – Evangelischer Pfarrer, Verfasser Die psycholog. Ursachen für Albins Verhalten religiöser Schriften, Sprichwortsammler. werden erst am Ende offengelegt. Als Kind war Albin, selbst ein Opfer familiärer Gewalt, Nach dem Schulbesuch in Hildesheim u. Augenzeuge der Misshandlungen des Vaters Braunschweig erwarb P. in der Klosterschule an der Mutter geworden. Traumatische Er- in Ihlenfeld (1569–1571) bei Michael Neaninnerungen an den Selbstmord der Mutter u. der umfassende Kenntnisse in den klass. Livias Zurückweisung lassen ihn in der Sprachen u. im Hebräischen. Nach einem Selbstauslöschung den letzten Ausweg su- Studium in Wittenberg, das er am 4.10.1572 chen. aufnahm u. 1574 mit dem Erwerb des MaWie bereits in Kommen und gehen, manchmal gistergrades abschloss, trat er in Braunbleiben geht P. auch in Ein Zimmer im Haus des schweig in den Schuldienst. 1578 wurde er Krieges (Mchn. 2006) auf die Folgen des Post- dort Prediger, 1598 Senior des geistl. Miniskolonialismus ein. Der dt. Botschafter Cismar teriums u. 1605 Coadjutor des Braunschweischeitert in Ägypten an seinem Auftrag, den ger Stadtsuperintendenten. wegen eines vereitelten Anschlags auf Luxor Außer hebr. Übersetzungen des Lukasangeklagten extremistisch-muslim. Kämpfer Evangeliums (Wittenb. 1574) u. der Sonn- und Jochen »Abdallah« Sawatzky vor der Todes- Festtags-Evangelien verfasste der streitbare strafe zu bewahren. Die Erzählgegenwart Vertreter der luth. Orthodoxie verschiedene 1993 legt nahe, authent. Ereignisse, wie 1993 lat. Werke, darunter gegen den Calvinismus

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den Calvinianorum Nestorianismus (Ffm. 1613); Lyrik schildert er volkstümlich, mit niederdt. Streitschriften gegen den Wucher (Bericht: Ausdrücken versetzt, milieugetreu das Leben Vom blinden Zinskauff [...]. Erfurt 1586) u. ge- auf dem Land, wobei ihm eine humanistische gen Missbräuche im Umgang mit Stiftslehen u. liberale Lebenskonzeption vor Augen (Gründtlicher Bericht [...] ob Thumherrn und jhre steht. Adjuncten [...] der Stifftslehen mit gutem Gewissen Weitere Werke: Licht zwischen zwei Dunkeln. geniessen können. o. O. [Braunschw.] 1618. Gött. 1938 (L.). – Zweierlei Gnaden. Gött. 1942 (L.). 1629) erschienen wie seine Leichenpredigten – Kleine E.en. Gött. 1942. – Ausgew. Werke in 2 auf deutsch u. haben wie die lat. Lobschrift Bdn. Hg. Christian Jenssen. Hbg. 1958. – BaasdörHg. Wolfgang Lindow u. Paul Selk. auf seinen Freund Polycarp Leyser (1588) zu per Krönk. 2 1986. – Verz. des Nachl. Cb 106 v. F. E. P. Husum längeren Streitigkeiten geführt. Wohl unter (1890–1962). Hg. Kornelia Küchmeister. Kiel 1990. dem Einfluss Neanders hat P. die mit über Literatur: Ursula Bose: Dem Dichter F. E. P. 20.000 Einträgen umfangreichste dt. Sprichzum Gedenken. Luhnstedt 1990. wörtersammlung des 16./17. Jh. herausgegeGeorg Patzer / Red. ben; Der Teutschen Weissheit [...] (Hbg. 1604/ 05. Nachdr. mit Einl. u. Bibliogr. v. Wolfgang Mieder. Bern/Ffm. 1983) enthält neben Petersdorff, Dirk von, * 16.3.1966 Kiel. – mündlich überliefertem Material sehr viele Lyriker, Essayist, Literaturwissenschaftaus älteren Sammlungen u. Dichtungen ler. (teilweise fehlerhaft) exzerpierte Sprüche, ohne die sonst übl. Kommentare strikt al- P. wuchs in Kiel auf u. studierte dort Gerphabetisch angeordnet. Die Sammlung geriet manistik u. Geschichte. Er promovierte mit schnell in Vergessenheit. einer Untersuchung zur dt. Romantik (MysAusgabe: Ad scriptum, quod theologi Bremenses terienrede. Zum Selbstverständnis romantischer adversus collectores Apologiae publicarunt re- Intellektueller. Tüb. 1996) u. wechselte dann an sponsio [...]. Lpz. 1585. Internet-Ed.: VD 16 digital. die Universität Saarbrücken. Dort habilitierte Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Wei- er sich 2003 mit der Schrift Fliehkräfte der tere Titel: Ennius Zigemarius: Epos parentale, in [...] Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des obitum [...] M. Friderici Petri [...]. Helmst. 1618. – frühen 20. Jahrhunderts (Tüb. 2005). Seit 2008 Paul Zimmermann: F. P. In: ADB. – Herbert Kolb: ist P. Prof. für Neuere Deutsche Literatur an Rez. zu F. P.: ›Der Teutschen Weissheit‹. Faks.- der Universität Jena. Er verkörpert wie Hans Druck der Aufl. v. 1604/05. Bern u. a. 1983. In: Magnus Enzensberger oder Durs Grünbein Daphnis 13 (1984), S. 601–611. – Wolfgang Mieder: den Typus des poeta doctus. Sprichwort, Wahrwort? [...]. Ffm. 1992, Register. – Als Lyriker debütierte P. mit dem Band Wie Wolfgang Lent: F. P. In: Braunschweigisches biogr. Lexikon 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. es weitergeht (Ffm. 1992) in der Collection S. Fischer. P.s Lyrik weist viele Eigenschaften Braunschw. 2006, S. 557 f. Dietmar Peil / Red. auf, die sie zu einem Musterbeispiel postmodernen Schreibens machen. Er schlägt eiPeters, Friedrich Ernst, * 13.8.1890 Luhnnen spielerischen, iron. Ton an, montiert in stedt/Holstein, † 18.2.1962 Schleswig. – exzessiver Form Sprachmaterial aus der Romancier, Lyriker. Werbung, dem Sport, den Medien, der LiteNach dem Besuch des Volksschulseminars ratur- u. Philosophiegeschichte, das in seinen war P. nach dem Ersten Weltkrieg ab 1923 Texten promiske Verbindungen eingeht, u. Taubstummenlehrer u. bis 1955 Direktor der dekonstruiert mit munterer Verve jedes Denken u. Leben nach System oder Prinzip. Landesgehörlosenschule in Schleswig. In seinem Roman Der heilsame Weg (Gött. Unbekümmert wird das dialekt. Denken 1923) setzt sich P. für eine gleichberechtigte verabschiedet u. durch ein Kreisen in DisStellung von Mann u. Frau ein u. wirbt für kursen ersetzt. In nassforscher Weise werden eine dt.-frz. Völkerverständigung. In Die dröge Säulenheilige des linken Establishments dem Trina (Gött. 1946) u. anderen Romanen wie Spott preisgegeben (»Pastoren sind auch auch in seiner grüblerischen, etwas düsteren Dichter: WALTER / JENS SPRICHT«, »OH

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BLOCH, DU LACHNUMMER DES JAHRHUNDERTS!«, »Ein Männlein steht / im Walde, ja es ist Günter Grass«) u. Rituale der political correctness lustvoll ihrer Entleertheit überführt (»Viele sind ständig betroffen«, »Sonntagmorgen, heute keine / Trauerarbeit«). Wenn P. in seiner zirkulären »reflektierende[n] Reflexion« zu dem Befund kommt: »DER WELTGEIST / NIMMT EINIGE SPIELERWECHSEL VOR. [...] Wir werden ein- und / ausgewechselt und keiner // kennt den Teamchef«, erinnert der Duktus seines Vortrags an das Bonmot von Karl Kraus, die Lage sei hoffnungslos, aber nicht ernst. Das Risiko von P.s Dichtung liegt darin, Bestandteil der Spaßkultur zu werden. Der Umschlag von geistvoller Chuzpe in narzisst. Clownerie ist jederzeit möglich. Mit Zeitlösung (Ffm. 1995) setzt P. seine poet. Musterung der Gegenwart fort. Auffällig ist der häufige Fragegestus der Gedichte. Sie sind reich an intertextuellen Bezügen, die hier eher in produktiver als in distanzierender Funktion eingesetzt werden. Die Aufnahme von Stimmen Dritter erfolgt oft mittels Kursivierung, die die Mehrstimmigkeit der Gedichte kennzeichnet. Hervorzuheben ist das Gedicht Segler, das im Rekurs auf die Gestalt des Odysseus die eigene dichtungstheoret. Position markiert. Formal unterscheiden sich die Gedichte in Zeitlösung von denen des ersten Bandes durch die Verwendung des Reims u. den gleitenden Übergang zur lyr. Prosa. Diese Entwicklung setzen die Bekenntnisse und Postkarten (Ffm. 1999) fort. Darin nimmt der Gedichtzyklus Embleme nicht nur teilweise den schnoddrigen BennTon der 1920er Jahre auf, er bedient sich auch in dessen Sinn des Gedichts als einer Existentialchiffre des dichterischen Subjekts. Das Reisebild Prag, eine glänzend rhythmisierte lyr. Prosa, entwirft einen dem Geschichtsprozess enthobenen Augenblick der Freiheit. Die Plakate des Kleiderherstellers Benetton werden explizit dafür verantwortlich gemacht, dass die Geschichte »eine Pause macht« u. Raum für Freiheit entsteht, so wie die unbeschwerte Jugend zu Füßen des HusDenkmals gerade durch ihre Ahnungslosigkeit eine Atmosphäre von Leichtigkeit schafft.

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Die Gedichte in Die Teufel in Arezzo (Ffm. 2004) sind im Ton ruhiger. Die grellen Mediensplitter sind deutlich reduziert, die intertextuellen Bezüge weniger plakativ. Unter den Referenztexten spielen nun die Psalmen u. antike Autoren, speziell Naturphilosophen eine wichtige Rolle. Insg. ist ein Zuwachs des Formbewussteins, geradezu eine Formstrenge zu beobachten, die sich etwa im Gebrauch des Sonetts niederschlägt. Ein halbes Dutzend der Gedichte wird im Titel als »Lied« bezeichnet, die Reimbindung nimmt weiter zu. Thematisch ist eine Akzentverlagerung in Richtung auf das Naturgedicht festzustellen. Der Natur abgesehene Bewegungsabläufe u. Strukturen werden in ästhet. Gestaltungsprinzipien überführt. Erkennbar wird dieser Vorgang etwa in der lyr. Prosa Wanderungen in den Vogesen, die mit den Sätzen schließt: »Eine Pause, man steht, und das Licht fällt hinein; ermattet, ruhig, der Atem geht ruhig. Ich sah die Ebene, die sich breitet – zur Welle, zum Kamm, Hebung und Senkung, dunkel und fern«. P. versucht in den Texten dieses Bands, seinem Ideal einer naturförmigen dichterischen Sprache nahe zu kommen. Dieses Ideal ist das Resultat seiner langjährigen ambitionierten u. sehr krit. Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Moderne. P. hat das Phänomen, gegen das sich seine Kritik richtet, im Titel seines programmat. Essays 200 Jahre deutsche Kunstreligion! (in: Verlorene Kämpfe. Essays. Ffm. 2001) als Surrogat der Religion etikettiert. Den Kernpunkt bildet dabei P.s These, dass die Kunst um 1800 auf den gesellschaftl. Prozess der Modernisierung u. Differenzierung mit der Idee der Totalität antworte. Damit werde die Kunst als ein Refugium entworfen, in dem die verlorene Ganzheit bewahrt u. im Medium ästhet. Erfahrung aktualisiert werden kann. Ein weiterer entscheidender Schritt sei die Verknüpfung dieser Idee von Ganzheit mit der Geschichte. Das Projekt der ästhet. Moderne kennzeichnet P. als den Versuch, Ganzheit als Ziel eines teleologischen histor. Prozesses auszugeben. Der modernen Gesellschaft, die P. mit Popper als offene Gesellschaft begreift, korrespondiere eine ästhet. Moderne, die im Zeichen der Totalität stehe. Um ihre Utopie der Ganzheit zu reali-

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Literatur: Sebastian Kiefer: Verlorener Kampf. sieren, stehe die Kunst der Moderne immer in Gefahr, sich ideolog. Strömungen anzunä- D. v. P.s liberalästhet. Bekenntnisse. In: ndl 50 hern, die totalitären Charakter besitzen. P. (2002), H. 541, S. 138–143. – Uwe Wittstock: In einer zur Ironie verdammten Zeit. D. v. P. In: Ders.: geht es darum, eine Dichtungstheorie zu Nach der Moderne. Ess. zur dt. Gegenwartslit. in formulieren, die den Grundprinzipien einer zwölf Kapiteln über elf Autoren. Gött. 2009, offenen Gesellschaft adäquat ist. Daher rü- S. 186–197. Jürgen Egyptien cken in P.s Poetologie zwei Begriffe ins Zentrum: Kontingenz u. Ironie. Den ersten entPetersen, Jan, eigentl.: Hans Schwalm, nimmt er der Systemtheorie Niklas Luhauch: Claus Halm, Otto Erdmann, Erich manns, den zweiten der WissenschaftsphiloOtto, * 2.7.1906 Berlin, † 11.11.1969 Bersophie Richard Rortys. Kontingenz fungiert lin/DDR. – Chronist, Erzähler, Herausgeals Gegenbegriff zu Kausalität u. Notwenber. digkeit als histor. Kategorien. Der Vorstellung von Kontingenz entspricht auf der Seite P. war u. a. als Kaufmann, Dreher u. Werkzeugmacher tätig. Als leitendes Mitgl. (1931 des Subjekts die Haltung des Ironikers. P. zieht aus seiner Kritik Konsequenzen für bis 1935) des Bundes proletarisch-revolutiodie dichterische Sprache u. proklamiert ex- närer Schriftsteller organisierte er die Arbeit plizit eine »Sprache der Kontingenz«. Das des Bundes in der Illegalität nach 1933. Nach Paradigma, das er zu ihrer Begründung her- seinem Auftritt auf dem Internationalen anzieht, ist die Natur. P. sieht die Befreiung Schriftstellerkongress 1935 in Paris als illeder Kunst aus der Fixierung auf Geschichte galer Delegierter aus Deutschland u. als als Chance, in die Kunst wieder den Rhyth- Symbolfigur des Widerstands emigrierte P. mus der Natur einfließen zu lassen, der zgl. über Frankreich u. die Schweiz nach England. der Rhythmus des Menschen sei. P. möchte Auch im Exil blieb er u. a. als Vorsitzender der Schriftstellersektion des »Freien Deutschen eine Naturform der Dichtung wiedergewinKulturbundes« (London 1938–1946) im Winen, die seiner Meinung nach am besten zum derstand aktiv. 1946 kehrte er nach Berlin/ Charakter der offenen Gesellschaft passt. SBZ zurück. Daher bezeichnet er in seinem Essay Reim und P.s polit. Arbeit u. literar. Schaffen stehen Kleid (in: Verlorene Kämpfe) die »Rhythmik als in unmittelbarem Zusammenhang. 1933/34 Ausdruck einer offenen und durcheinander entstand seine weltbekannt gewordene gehenden Gesellschaft«. P. fordert für das Chronik Unsere Straße (zuerst russ. Bern 1936. Gedicht »eine Form, welche die Vielfalt der Engl. London 1938. Dt. Bln./DDR 1947. Mit Stimmen nicht verleugnet«, u. skizziert eine einem Nachw. v. Stephan Hermlin. Bln./Lpz. Art Idealform, die er als komplexes Zusam- 1950), die den organisierten Widerstand der menspiel »von Regellosigkeit und Regel, von Bewohner einer Berliner Arbeiterstraße nach prosanahen und streng gebauten Partien, von der Machtübernahme Hitlers schildert. Auch kurzen, hingeschossenen Sätzen und Wort- im Roman Sache Baumann und Andere (Bln./ flocken« charakterisiert. P. wertet den be- DDR 1948. Engl. u. d. T. Gestapo trial. London schriebenen »Wechsel der Töne [als] Indika- 1939) u. in den Erzählungen Und ringsum tor für Ironie«. Schweigen (Bln./DDR 1949. Engl. u. d. T. BeP. wurde 1998 mit dem Kleist-Preis u. 2000 neath the surface. London 1940) bleibt antifamit dem Preis der LiteraTour Nord ausge- schist. Widerstand zentrales Thema. Die kurz zeichnet. Er ist Mitgl. der Mainzer Akademie vor P.s Tod entstandene Chronik Die Bewähder Wissenschaften und der Literatur. rung (Bln./Weimar 1970) schildert in beweWeitere Werke: Kenne dich selbst! [Ffm.] 2000 genden Bildern die illegale Arbeit Berliner (G.e). – Schwalbensprache. In: Da schwimmen Schriftstellergruppen zwischen 1933 u. 1935, manchmal ein paar gute Sätze vorbei. Hg. Heinz u. a. das Entstehen der einzigen in DeutschLudwig Arnold. Ffm. 2001, S. 184–192. – Lebens- land erschienenen Zeitschrift antifaschistianfang. Eine wahre Gesch. Mchn. 2007. – Gesch. der dt. Lyrik. Mchn. 2008.

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scher Schriftsteller, »Stich und Hieb«, deren Herausgeber P. war. Weitere Werke: Yvonne. Bln./DDR 1958 (E.). – Er schrieb es in den Sand. Bln./DDR 1960 (E.en). – Herausgeber: Weg durch die Nacht. London 1944. Bln./Potsdam 1949 (E.en). Literatur: Proletarisch-revolutionäre Lit. 1918–33. Ein Abriß. Bln./DDR 1962, S. 312–318. – Franz Hammer: Der Mann mit der schwarzen Maske erzählt. In: NDL, H. 6 (1971). – Wolfgang Brekle: Schriftsteller im antifaschist. Widerstand 1933–45 in Dtschld. Bln./Weimar 1985, S. 61–69, 296 f. Christiane Baumann / Red.

Petersen, Jens, * 20.3.1976 Pinneberg. – Verfasser von Kurzgeschichten u. Romanen. Bereits als Schüler des Johannes-BrahmsGymnasiums in Pinneberg schrieb P. für das örtl. »Tageblatt«, zog nach dem Abitur (1995) nach Berlin, arbeitete in Potsdam als Texter für eine Agentur für Öffentlichkeitsarbeit u. beendete 2004 sein in München, Lima, New York, Florenz u. Buenos Aires absolviertes Medizinstudium mit einer Promotion über die Klinische und molekulare Charakterisierung von Patienten mit Gliedergürteldystrophie 2I (Mchn. 2005). Im Anschluss arbeitete u. forschte er an der Medizinischen Fakultät des Friedrich-Baur-Instituts der LMU in München, wo er im Literaturhaus Schreibseminare besuchte (ab 2001 Manuskriptum; ab 2003 textwerk), mit organisierte (ab 2002 Bewegungsfreiheit) u. leitete (ab 2002 WorDshop). Nach zwei Jahren wechselte P. an die Uniklinik Balgrist in Zürich u. 2009 schließlich an das dortige Unispital, wo er sich zum Facharzt für Neurologie ausbilden lässt. Neben journalist. Aktivitäten zum Ärztestreik 2006 (»Süddeutsche Zeitung«) u. der Sterbehilfeproblematik (»ZEIT«, Schweiz) sind v. a. P.s Reportagen (»Pinneberger Tageblatt«) aus seiner New Yorker Zeit als Notfallhelfer nach den Anschlägen vom 11. Sept. 2001 erwähnenswert. Literarische Texte publiziert er seit 2002 in Form von Erzählungen, meist in Anthologien für Kinderoder Jugendgeschichten, so u. a. Ehrentraud (in: Ohne Netz. Geschichten vom allerersten Mal. Hg. Christine Knödler. Hbg. 2003) u. Je t’aime

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beaucoup (in: An einem anderen Ort. Hg. UweMichael Gutzschhahn. Mchn. 2007). Dominierendes Motiv dieser wenige Seiten langen Kurzgeschichten sind die zwischen Jugendlichen u. Erwachsenen konfligierenden Weisen des Sehens u. Verstehens der Welt. Während – wie in Ehrentraud – Krankheit zu einem verständnisvollen Miteinander führt, zeigt P., der für seine Geschichten stets jugendliche, sich v. a. durch intensive Beobachtung auszeichnende Ich-Erzähler konstruiert, dass die erste Liebe von Erwachsenen nicht (mehr) verstanden werden kann. So variiert er auch in Die Haushälterin (Mchn. 2005), seinem ersten Roman, das ihm von Iwan Turgenjew bekannte Motiv des Generationenkonflikts u. formt es zu einer Dreiecksgeschichte zwischen Vater, Sohn u. der Haushälterin Ada um. P. erhielt 2003 für das Konzept dieses unsentimental-lakonisch u. gradlinig erzählten Adoleszenzromans das Literaturstipendium der Stadt München, schrieb neben seiner Tätigkeit als Arzt zweieinhalb Jahre daran u. wurde im Publikationsjahr mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur, dem Aspekte-Literaturpreis u. dem Kranichsteiner Literatur-Förderpreis ausgezeichnet. Der Evangelische Buchpreis folgte 2007, der Bachmannpreis 2009. Letzteren erhielt er für Bis dass der Tod, das Schlusskapitel seines noch unveröffentlichten zweiten Romans. Die apokalyptisch-morbide Stimmung der Handlung wird getragen von der mit einer Schusswaffe besorgten Sterbehilfe des Protagonisten an seiner schwer kranken Lebensgefährtin u. von seinem angedeuteten Selbstmord. Wie alle Texte P.s zeichnet sich auch dieser durch ein konstitutiv offenes Ende aus, das nicht nur zur literar. Qualität beider Romane beiträgt, sondern den Kurzgeschichten für junge Leser auch eine didakt. Dimension eröffnet. Weitere Werke: La Marocaine. In: schall u. rauch. die zweite anthologie der textdiebe. Mchn. 2002. – Eine Begegnung. In: Schöner als Fliegen. Liebesgesch.n. Hg. Uwe-Michael Gutzschhahn. Hbg. 2004. – Im Auge des Jägers. In: Engel nebenan: Gesch.n zwischen Himmel u. Erde. Hg. Christine Knödler. Düsseld. 2006. – Torpedo auf sechs Uhr. In: Geschichtenkoffer für Schatzsucher. Hg. dies. Köln 2006. – Wamba u. das Boot. In:

165 Geschichtenkoffer für Glückskinder. Erzähltes, Gemaltes, Gereimtes, Tiefsinn u. Unsinn. Hg. dies. Köln 2007. Marcus Willand

Petersen, Johann Wilhelm, * 1.6.1649 Osnabrück, † 31.1.1727 Gut Thymer bei Zerbst/Anhalt. – Pietistischer Theologe. Der Sohn eines Lübecker Juristen studierte seit 1669 Theologie in Gießen u. Rostock, wo er sich als Adept barocker Schulgelehrsamkeit u. orthodoxer Polemik gegen Calvinisten u. Atheisten hervortat. Die Begegnung mit Spener u. dem Kreis der Frankfurter Pietisten führte um 1675 zu einer inneren Wandlung. Johann Jakob Schütz lenkte seinen Blick auf chiliast. Zukunftshoffnungen, Johanna Eleonora von Merlau, seine spätere Frau, machte ihm die Eitelkeit seiner Gelehrsamkeit bewusst. Nach akadem. u. kirchl. Ämtern in Rostock u. Hannover wurde P. 1678 holsteinischer Hofprediger u. Superintendent in Eutin. Nachdem er 1686 den theolog. Doktorgrad in Rostock erworben hatte, wechselte er 1688 auf die Superintendentur in Lüneburg. Noch in Eutin will P., gleichzeitig mit seiner Frau, aber unabhängig von ihr, das Geheimnis der künftigen Tausend Jahre in der Johannesoffenbarung erkannt haben. Als er seinen Chiliasmus in Lüneburg auf die Kanzel brachte, wurde er der Heterodoxie angeklagt. P. verteidigte sich erfolgreich in Schriftmäßige Erklärung und Beweiß der Tausend Jahre (1690. Gedr. Ffm. 1692), der ersten seiner zahlreichen Streitschriften für den Chiliasmus. Als er für die visionäre Ekstatikerin Rosamunde Juliane von der Asseburg eintrat in seinem Sendschreiben [...], ob Gott nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch göttliche Erscheinung den Menschenkindern sich offenbaren wollte und sich dessen gantz begeben habe? (Ffm. 1691), geriet er in einen literar. Konflikt mit der luth. Orthodoxie. Erneut angeklagt, führte ein zweiter Prozess Anfang 1692 zur Amtsenthebung u. Landesverweisung. In Brandenburg-Preußen fand P. die Unterstützung adliger Gönner, mit deren Hilfe er das Gut Niederndodeleben bei Magdeburg erwarb. Hier, zeitweilig auf Gütern befreundeter Adliger, lebte er als freier Schriftsteller.

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Ein Pfarramt trat er nicht mehr an. Vom Berliner Hofadel protegiert, häufig nach Berlin eingeladen, führten ihn Predigtreisen an pietist. Grafenhöfe u. zu erweckten Kreisen in Quedlinburg, Halberstadt, Erfurt, Halle/S., Frankfurt/M., auch nach Schlesien, Böhmen, Franken u. Württemberg. P. gründete keine Gemeinden, fand aber vielerorts Anhänger. Seine Lesergemeinde reichte weit über den Raum der Erweckten in das Bürgertum des frühen 18. Jh. hinein. P. stand mit Spener, Francke u. Arnold in Briefwechsel, Leibniz schätzte u. förderte ihn. Während seine frühen akadem. Schriften der Konfessionspolemik der luth. Orthodoxie zugehören, propagierte P. nach seinem Wandel die Ideen des radikalen Pietismus. In Flugschriften u. Traktaten verkündete er den nahen Anbruch des Tausendjährigen Reichs. In der Johannesoffenbarung fand P. die konkreten Einzelheiten des endzeitl. Chiliasmus geweissagt: die Überwindung der Konfessionsspaltung nach dem Fall Babels (des röm. Papsttums), die Rückkehr der Juden nach Jerusalem, die von Christus u. seinen durch eine erste leibl. Auferstehung zum Himmel entrückten Gerechten ausgeübte göttl. Weltregierung. P. verteidigte den Chiliasmus gegen orthodoxe Gegner (u. a. Johann Friedrich Mayer, Neumeister, Loescher). Sein Werk Nubes testium veritatis de regno Christi glorioso (Ffm. 1696) ist mit seiner Fülle von Belegen aus der gesamten Kirchengeschichte bis heute eine einzigartige Fundgrube für die Geschichte des christl. Chiliasmus. Über den Chiliasmus hinaus entwickelte P., angeregt durch die engl. Jakob-BöhmeAnhängerin Jane Leade, zus. mit seiner Frau die Lehre von der Allversöhnung oder Apokatastasis panton. In dem dreibändigen Sammelwerk Mysterion Apokatastaseos panton [...] (Offenbach 1700–10) verkündete P. im Gefolge der Jane Leade das »Ewige Evangelium« (Offb. 14,6) von der absoluten, auch den Teufel einschließenden Liebe Gottes. Nach dem Evangelium vom Glauben, das Christus u. die Apostel öffentlich verkündeten, u. dem Evangelium vom künftigen Tausendjährigen Reich, das Jesus seine Jünger esoterisch gelehrt hatte, sei dieses »Ewige Evangelium« das Dritte Evangelium, welches erst am Ende

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der Zeiten durch den Geist offenbart werde. P. bestritt nicht die Existenz der Hölle u. die Ewigkeit der Höllenstrafen, wollte aber das Wort »ewig« nur in Verbindung mit Gott als »unendlich« verstehen. Die Ewigkeit der Hölle sei eine lange, aber endl. Zeit. Nach Chiliasmus u. Apokatastasis wurde P. u. seiner Frau noch die Erkenntnis von der himml. Gottmenschheit Christi zuteil. Wie Chiliasmus u. Allversöhnung war auch dies keine Entdeckung von geistesgeschichtl. Originalität, sondern Aneignung einer bereits in der theosoph. Tradition (Schwenckfeld, Weigel) verbreiteten Lehre. P., Mitgl. des Pegnesischen Blumenordens, ist auch mit religiösen Dichtungen hervorgetreten. Er verfasste geistl. Lieder u. freie Psalmendichtungen (Stimmen aus Zion. Halle 1698–1701). P.s nlat. Versepos Uranias, qua Opera Dei Magna omnibus retro seculis et oeconomiis transactis usque ad Apocatastasin [...] Carmine heroico celebrantur (Ffm./Lpz. 1720) besingt in Hexametern die gesamte Heilsgeschichte bis zum Tausendjährigen Reich u. zur Allversöhnung. Das von Leibniz zur Verherrlichung der Theodizee angeregte u. zum Druck überarbeitete Werk ist noch von Lessing (im achten Literaturbrief) gelobt worden. Weiteres Werk: Das Leben J. W. P.s. o. O. 1717. Gekürzt abgedr. in: Werner Mahrholz: Der dt. Pietismus. Bln. 1921, S. 118–131. Literatur: Markus Matthias: Das pietist. Ehepaar J. W. P. u. Johanna Eleonora Petersen. Gött. 1993. – Dietrich Blaufuß: J. W. P. u. Johanna Eleonora Freiin v. u. zu Merlau, verh. Petersen. In: TRE. – Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jh. in: Gesch. Piet. Bd. 1, S. 391- 437 (bes. S. 402–406). – Ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jh. in: Gesch. Piet. Bd. 2, S. 107–197. – M. Matthias: P. In: NDB. – Johannes Wallmann: Der Pietismus. Gött. 2005, S. 143–151. – Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. 2 Bde., Tüb. 2005, passim. Johannes Wallmann

Petersen, Johanna Eleonora, geb. von und zu Merlau, * 25.4.1644 Frankfurt/M., † 19.3.1724 Gut Thymer bei Zerbst/Anhalt. – Pietistische Schriftstellerin. P. wuchs nach dem frühen Tod der Mutter als Hofjungfer an Grafenhöfen in Hessen u. Sachsen auf. Früh von Träumen u. Visionen

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beunruhigt, wurde sie vom barocken Hofleben abgestoßen. Wiederholt zerschlugen sich Heiratspläne. Schicksalhaft wurde 1672 die Begegnung mit Spener u. Johann Jakob Schütz. Zunächst brieflich mit ihnen verbunden, siedelte sie 1675 nach Frankfurt/M. über. Bald spielte sie eine führende Rolle in der pietist. Bewegung; ihr Domizil, der Frankfurter Saalhof, wurde ein Sammelpunkt der Pietisten. Als der Frankfurter Magistrat sie 1678 aus der Stadt verweisen wollte, verteidigte sie sich erfolgreich durch eine selbstverfasste Replik. Sie korrespondierte mit Johann Georg Gichtel, Anna Maria van Schurmann u. William Penn, der 1677 auf seiner Deutschlandreise die Saalhofpietisten besuchte. Nach längerem Zögern nahm sie 1680 den Heiratsantrag von Johann Wilhelm Petersen an. Zus. mit ihm wurde sie Teilhaberin der Frankfurter Landkompagnie, die Landbesitz in Pennsylvanien erworben hatte, dem Eldorado aller mit der Staatskirche zerfallenen radikalen Pietisten. Mit ihrem Mann lebte sie zunächst in Eutin, später in Lüneburg u., das Schicksal der Landesverweisung teilend, seit 1692 meist in Niederndodeleben bei Magdeburg. Trotz ihrer Distanz zur Amtskirche hielt sie sich von der im radikalen Pietismus verbreiteten Kirchenkritik fern. Spener blieb mit ihr in freundschaftl. Briefwechsel verbunden. Die bedeutendste Frauengestalt des frühen luth. Pietismus verfasste religiös-erbaul. Betrachtungen (Gespräche des Herzens mit Gott. Ploen 1689. 31715. Glaubens-Gespräche mit Gott. Ffm. 1691. Kurze Betrachtungen von der Nutzbarkeit des lieben Creutzes. Berleburg 1717). In Schriften zur Bibelauslegung trat sie für die chiliast. Zukunftshoffnung u. für die Allversöhnung ein. In der Vorrede zu ihrer Anleitung zu gründlicher Verständnis der Heiligen Offenbarung Jesu Christi (Ffm. 1696) verteidigte sie das Recht zur religiösen Schriftstellerei der Frau angesichts des apostol. Schweigeverbots 1 Kor 14 mit den Bibelstellen Gal 3,28; 1 Thess 5,19; Apg 2,17. Ihre Lebensbeschreibung, eine der ersten u. bedeutendsten pietist. Autobiografien, lässt eine von der quietist. Mystik geprägte Innerlichkeitsfrömmigkeit erkennen.

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167 Weiteres Werk: Leben Frauen J. E. P., [...] v. ihr selbst [...] aufgesetzt. o. O. 1718. Hist.-krit. Ed. hg. v. Prisca Guglielmetti u. d. T. Leben, v. ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Lpz. 2003. Übersetzung: The Life of Lady J. E. P., Written by Herself. Pietism and Women’s Autobiography in Seventeenth-Century Germany. Hg. u. übers. v. Barbara Becker-Cantarino. Chicago/London 2005 (engl.). Literatur: Markus Matthias: Mutua Consolatio Sororum. Die Briefe J. E. v. Merlaus an die Herzogin Sophie Elisabeth v. Sachsen-Zeitz. In: PuN 22 (1996), S. 69–102. – Ruth Albrecht: J. E. P. Theolog. Schriftstellerin des frühen Pietismus. Gött. 2005. Siehe auch Artikel Petersen, Johann Wilhelm. Johannes Wallmann

Petrasch, Joseph Frhr. von, auch: Peter Asch, Petrus Cinereus, * 19.10.1714 Brod/ Slawonien, † 15.5.1772 Neuschloss/Mähren. – Lyriker, Dramatiker u. Philologe.

Gedichte eines Sclavoniers, des Freyherrn Joseph von Petrasch (Ffm. u. Lpz. 1767 f.) in zwei Bänden präsentiert eine Vielfalt lyrischer Themen u. Formen in jamb. Versen. Von seinen 30 Schauspielen zur Besserung der deutschen Schaubühne (3 Bde., Nürnb. 1765) fanden elf in Sämmtliche Lustspiele. Herausgegeben von der deutschen Gesellschaft zu Altdorf (2 Bde., Nürnb. 1765) Eingang. Das einaktige Lustspiel Der Hannswurst (anonym ersch. Pressburg 1761, in der Schaubühne u. d. T. Der üble Geschmack der Bühne) war das erste im Druck erschienene Einzelstück u. wurde irrtümlich Karl Gottlieb von Windisch zugeschrieben. Es zeugt von P.s aufklärerischem Engagement für eine Erneuerung der Staatsbühne. P.s Dramen spiegeln die ganze Breite des dt. Lustspiels im 18. Jh. wider, von der burlesken Posse über die sächs. Typenkomödie bis zur comédie larmoyante. Im Sinne der Kritik Gottscheds u. der Neuberin wandte er sich gegen die Komische Person u. das Stegreifspiel. Während der Belagerung Olmütz’ 1758 im Siebenjährigen Krieg zog sich P. endgültig auf sein Gut Neuschloss in Mähren zurück. P.s poet. Werke sind als Manifest der österr. Aufklärung von literarhistor. Bedeutung.

P. wurde in Brod an der Sawe als Sohn des dortigen Kommandanten General Maximilian Frhr. von Petrasch geboren. Nach einer sorgfältigen Erziehung studierte er Philosophie u. Rechtswissenschaften in Olmütz u. Löwen. 1733 trat er ins Österreichische Heer ein u. nahm im Polnischen Thronfolgerkrieg Weiteres Werk: Reden u. Gedichte, Welche den als Adjutant des Prinzen Eugen von Savoyen 15. Wein-Monat im Jahr 1747. In der Gelehrten an Feldzügen am Rhein teil. Zeit seines Le- Gesellsch. der Unbekannten abgelesen worden. bens unternahm er ausgedehnte Reisen in Wien 1747 (Panegyrikos auf Kaiserin Maria ThereEuropa, v. a. nach Griechenland u. Italien, wo sia). Literatur: Anton Schlossar: J. Frhr. v. P. In: er Mitgl. mehrerer Akademien wurde. Nach dem Vorbild italienischer u. dt. Sozietäten ADB. – Meusel. – Goedeke. – Kosch. – Felix Freude: gründete P. 1747 die wiss. Gesellschaft der Die Schaubühne des Freiherrn v. P. Brünn 1916. – Eduard Wondrak: Die Olmützer ›Societas incogni»Unbekannten« in Olmütz, die erste dt. Getorum‹. Zum 225. Jubiläum ihrer Gründung u. lehrtengesellschaft im Sinne der Aufklärung zum 200. Todestag ihres Gründers. In: Die Aufin den habsburgischen Erblanden. Die »so- klärung in Ost- u. Südosteuropa. Hg. Erna Lesky cietas incognitorum eruditorum in terris u. a. Köln 1972, S. 215–228. Elisabeth Wagner Austriacis« hatte die Förderung aller Wissenschaften zum Ziel. Die Mitglieder aus ganz Europa, u. a. Gottsched, veröffentlichPetri, Walther, * 11.4.1940 Leipzig. – Lyten Artikel in der eigenen Zeitschrift »Ollriker, Erzähler, Kinderbuchautor, Grafimützer Monathliche Auszüge alt- und neuer ker. Gelehrten Sachen«. Neben der deutschsprachigen Literatur widmete sich die Sozietät Nach dem Abitur verweigerte P. den Wehrauch der slawon. Sprache. dienst in der DDR u. studierte von 1958 bis P. selbst schrieb ebenfalls zahlreiche Ge- 1961 an der Fachschule für angewandte dichte in seiner Heimatsprache, was ihm den Kunst in Leipzig. Anschließend arbeitete er Beinamen »der slawonische Dichter« ein- zwei Jahre als Theatermaler u. Bühnenbildbrachte. Seine Sammlung verschiedener teutscher assistent in Stralsund. 1963 nahm er ein

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Pädagogikstudium in Dresden auf, das er 1967 abschloss, um dann fast 10 Jahre als Lehrer für Deutsch und Kunsterziehung in Espenhain bei Leipzig tätig zu sein. Von 1976 bis 1980 war P. Mitarbeiter der Pädagogischen Hochschule in Leipzig. Seither arbeitet er freischaffend. Neben seinen lyr. Arbeiten umfasst das Werk Nachdichtungen (v. a. polnischer u. tschechischer Lyrik), Kinderbücher, Hörfunkbeiträge, Dokumentarfilmtexte, Grafiken u. Buchgestaltungen. In seinem Werk Auf unabänderlichen Gründen. Lyrik. Graphik. Prosa (Bln./Weimar 1989) reflektiert P. in Schrift u. Bild die Situation des Autors u. die Erfahrung seiner Existenz als prinzipielle u. dauerhafte Gefährdung des Ich. Seine Werke, insbes. seine Kinderbücher, wurden mit zahlreichen Preisen u. Auszeichnungen bedacht u. ins Polnische, Ungarische, Russische u. Französische übersetzt. P. lebt heute in Berlin. Weitere Werke: Das Geschmeide des Harlekins. Bln. 1974 (G.e u. Zeichnungen). – Humbug ist eine Bahnstation. Bln. 1978 (G.e an Kinder). – Ein Telegramm aus Sanssouci. Bln. 1980 (G.e). – Tohuwabohu. Bln. 1986 (G.e an Kinder). – König Edmund der Gefürchtete. Bln./Mchn. 1991 (Bilderbuch). – Menke Kenke. Bln./Lpz. 1993 (G.e an Kinder). – Mein geschlagener Baum. Bln./Lpz. 1995 (Bilderbuch). – Flugschreiber. Halle/S. 2003 (G.e). – Wirklichkeiten. Halle/S. 2003 (P.). – Herausgeber: Das Tgb. des Dawid Rubinowicz. Bln. 1987. Susanne Schwabach-Albrecht

Petruslied. – Althochdeutscher strophischer Bittgesang, 9./10. Jh. Das P. wurde um 900 oder im frühen 10. Jh. als Nachtrag einer Freisinger Handschrift aufgezeichnet. Ob es um die Zeit seiner Überlieferung oder früher, vielleicht schon vor dem Abschluss von Otfrieds Evangelienbuch (Stavenhagen), entstanden ist, ist umstritten. Eine mit dem Evangelienbuch (17, 28) gemeinsame Verszeile (9) erlaubt keine nähere Datierung: Jeder der beiden Autoren könnte der Gebende gewesen sein; daneben könnten beide unabhängig voneinander auf eine vorgeprägte Bittformel zurückgegriffen haben.

Die Sprache des P.s ist bairisch mit rheinfränk. Elementen. Der Bittgesang an den hl. Petrus besteht aus drei neumierten Strophen. Die unlinierten Neumen erlauben keine sichere Rekonstruktion der Melodie; die häufigen Zweitonverbindungen verweisen auf eine Melodie im Stil des gregorian. Chorals (Lomnitzer). Die Strophen setzen sich aus je zwei achthebigen binnengereimten Langzeilen (bzw. zwei vierhebigen Reimpaaren) zusammen u. schließen mit dem aus der griechisch-röm. Liturgie übernommenen »Kyrie eleyson, Christe eleyson« als Refrain. In Anlehnung an Mt 16,18 f. wird die Petrus von Christus verliehene Macht thematisiert, die auf ihn hoffenden Menschen zu erretten (Str. 1/2); den Abschluss bildet ein Aufruf zum gemeinsamen Gebet an Petrus, sich der sündigen Menschen zu erbarmen. Das P. steht der lat. Petrushymnik, insbes. dem Prozessionshymnus Aurea luce et decore roseo nahe; der Erbarmungsruf im Refrain u. die Bittformeln der dritten Strophe erinnern an die kirchl. Litanei. Die Strophen könnten von einem Geistlichen als Vorsänger, der Refrain von der Gemeinde als Responsorium gesungen worden sein. Ein Gebrauch als Prozessions- u. Wallfahrtslied ist wahrscheinlich, aber nicht nachweisbar. Ausgaben: Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. Hg. Elias v. Steinmeyer. Bln./Zürich 31971, S. 103. – Walter Haug u. Benedikt K. Vollmann (Hg.): P. In: Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 130f. (mit Übers.). – Ahd. Lit. Hg. Horst Dieter Schlosser. Bln. 22004 (mit nhd. Übers.). Literatur: Otto Ursprung: Das Freisinger P. In: Die Musikforsch. 5 (1952), S. 17–21. – Helmut Hucke: Die Neumierung des ahd. P.s. In: FS Joseph Smits van Waesberghe. Amsterd. 1963, S. 71–78. – Lee Stavenhagen: Das P. Sein Alter u. seine Herkunft. In: WW 17 (1967), S. 21–28. – Rudolf Schützeichel: Die Macht des Heiligen. Zur Interpr. des P.s. In: FS Matthias Zender. Bonn 1972, S. 309–320. Erg. u. verb. Fassung in: Ders.: Textgebundenheit. Tüb. 1981, S. 29–44. – J. Sidney Groseclose u. Brian O. Murdoch: Die ahd. poet. Denkmäler. Stgt. 1976, S. 77–81 (Lit.). – Helmut Lomnitzer: P. In: VL (Lit.). – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), S. 1117–1120. – Costanza Cigni: La figura di San Pietro nella produzione letteraria minore tedesca delle origini. In: La figura di San Pietro nelle fonti del Medioevo. Hg. Loredana Lazzari u. Anna

169 Maria Valente Bacci. Louvain-la-Neuve 2001, S. 154–175. – A. M. Valente Bacci: San Pietro nella letteratura tedesca medievale. Louvain-la-Neuve 2008. Claudia Händl

Petto, Alfred, * 12.12.1902 Saarbrücken, † 30.1.1962 Homburg; Grabstätte: Saarbrücken-Burbach, Waldfriedhof. – Romanschriftsteller, Hörspielautor. »Soviel ich sehe, ist die Heimat nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt meiner Arbeiten, die Tür gewissermaßen, durch die ich ins Freie trete« (in: Und die Erde gibt das Brot, S. 270). Für P. war dieser Satz literar. Programm. Im Mittelpunkt der Arbeiten des Rechtspflegers stehen die einfachen Menschen seiner saarländ. Heimat: Bergleute, Bauern u. Kleinbürger. Sein erster Roman, Das verborgene Leben (Mchn. 1936), erzählt die Geschichte einer unehel. Mutterschaft. Ein Bild des schweren Lebens der Saarbergleute zeichnet P. in den Erzählungen Die grauen Berge (Saarbr. 1939) u. Das Saarbergmannskind (Ludwigshafen 1940) sowie in seinem Nachkriegsroman Und die Erde gibt das Brot (Saarbr. 1951). Nachkriegsproblematik spiegelt sich auch im Roman Sie nahmen ihn nicht auf (Saarbr. 1955), der das Schicksal eines Mischlingskindes in einer selbstgerechten u. gedankenlosen Umwelt schildert. Eine Vielzahl von kleineren Erzählungen u. Prosaskizzen sowie zahlreiche Hörspiele zeugen vom reichen literar. Schaffen des Autors. Weitere Werke: Kornelius im Frauenwald. Ludwigshafen/Saarbr. 1941 (R.). – Die Mädchen auf der Piazza. Saarbr. 1958 (R.). – Das Jahr der Versuchung. Saarbr. 1962 (R.). Frank Steinmeyer / Red.

Petzold, Alfons, auch: De Profundis, * 24.9.1882 Wien, † 25.1.1923 Kitzbühel; Grabstätte: ebd., Friedhof (Ehrengrab). – Lyriker, Erzähler. Der finanzielle Ruin u. frühe Tod des Vaters, der als überzeugter Sozialist seine sächs. Heimat verlassen musste, zwangen den sensiblen u. kränkl. P. früh, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Er begann als Lehrling in einer Silber-, Präge- u. Montieranstalt, scheiterte aber an den katastrophalen

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Arbeitsbedingungen u. den rücksichtslosen Arbeitgebern. Er mühte sich als Laufbursche u. Hilfsarbeiter ab, gezeichnet von »Unterdrückung und körperlicher Not«. Einziger Trost blieb das Lesen, durch das er sich autodidaktisch weiterbildete; durch Kontakte zu den in Wien populären »Volkssängern« u. Theatervereinen entstanden Couplets u. kleine dramat. Arbeiten. Politisch zunächst von dem christlich-sozialen Karl Lueger begeistert, wechselte er nach einer Episode dt.-nationaler BismarckVerehrung ins Lager der Sozialdemokratie, die den bedürftigen Autor unterstützte. Nach dem Tod der Mutter (1902) mittellos u. obdachlos geworden, durchlebte er jedoch noch einmal eine Zeit bitterster Not. Bibellektüre u. die Werke Tolstojs bewirkten vorübergehend eine Phase religiöser Verzückung. Später gründete er gemeinsam mit Freunden den »Ikarus-Bund«, einen sozialist. »DiscutierClub«, dem u. a. auch der Anarchist Rudolf Großmann, später bekannt unter dem Pseud. Pierre Ramus, angehörte. Unter Pseud. veröffentlichte P. 1911–1913 Gedichte in anarchist. Zeitschriften. Nach Lesungen in Arbeiterbildungsvereinen ab 1907 wurde für den inzwischen an Tuberkulose erkrankten P. die Begegnung mit dem Sozialdemokraten Josef Luitpold Stern entscheidend, der im parteieigenen Verlag auch P.s erste Buchpublikation durchsetzte. Mit einem Geleitwort von Stern, das P. als Dichter des Proletariats festlegt, erschien der Gedichtband Trotz alledem! (Wien 1910). Die eindringl. Authentizität u. Realistik der Texte, verbunden mit dem Streben nach Menschlichkeit u. Schönheit, nach gesellschaftl. Selbstverwirklichung erreichten über Arbeiterkreise hinaus auch ein bürgerl. Lesepublikum, wobei P. den Status eines bürgerl. Autors durchaus anstrebte. P.s erster Roman, Erde (Wien 1913), verarbeitet seine Aufenthalte in der Lungenheilanstalt Alland u. die Begegnung mit seiner ersten Frau Johanna. Sympathien kostete ihn sein literar. Engagement für den Krieg. In den Lyrikbänden Krieg (Wien/Lpz. 1914) u. Volk, mein Volk (Jena 1915), aber auch in der religiös verbrämten Kriegserzählung Deutsche Legende (Wien 1916) stimmte er euphorisch in

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den Chor kriegsbegeisterter Autoren ein. Eng Britz. Bd. 5, Stgt. 1982, S. 130–144. – Elfriede befreundet mit Franz Karl Ginzkey u. Felix Kirschner: Die Tagebücher A. P.s 1904–22. Diss. Braun, übersiedelte P. 1917 nach Kitzbühel, masch. Innsbr. 1984 (mit Bibliogr.). – H. Exenberwo er bis zu seinem Tod als Funktionär der ger: A. P. im Ersten Weltkrieg. In: Österr. u. der Große Krieg 1914/18. Hg. Klaus Amann u. Hubert Sozialdemokratischen Partei tätig war. Hier Lengauer. Wien 1989, S. 170–176. – Friedrich Jevollendete er auch sein erfolgreichstes Buch, naczek: A. P. u. Josef Weinheber. In: Jb. des Wiener den autobiogr. Roman Das rauhe Leben (Bln. Goethevereins 95 (1991), S. 107–117. – Barbara 1920. Neuaufl. Graz 1932. Mit einem Nachw. Zeisl-Schoenberg: How ›belle‹ was the ›Belle-Épov. Robert A. Kann. Graz/Wien/Köln 1979), que‹ really? Some not so ›belle‹ Reflections of Videssen ungeschminkte Schilderungen seiner enna in the ›Belle Époque‹ Mirrors of Kraus, Altrostlosen Kindheit u. Jugend – obwohl tenberg and P. In: Austria in Literature. Hg. Donald sichtlich stilisiert – die zeitgenöss. Leser tief G. Daviau. Riverside 2000, S. 60–74. Johannes Sachslehner / Ralf Georg Czapla berührte. Der »Arbeiterdichter« P., zu Lebzeiten wie auch in den Jahren nach seinem Tod im Peucer, Beucker, Beutzer, Caspar, * 6.1.1525 Brennpunkt ideolog. Diskussionen stehend, Bautzen, † 25.9.1602 Dessau. – Arzt, Pogeriet nach 1945 zusehends in Vergessenheit. lyhistor. Weitere Werke: Der Ewige u. die Stunde. Lpz. 1912 (L.). – Heimat Welt. Dichtungen. Wien 1913. – Der hl. Ring. Wien/Lpz. 1914 (L.). – Johanna. Ein Buch der Verklärung. Hg. Josef Luitpold Stern. Wien/Lpz. 1915 (L.). – Der stählerne Schrei. Warnsdorf 1916 (L.). – Drei Tage. Warnsdorf 1916. – Sil, der Wanderer. Konstanz 1916 (E.en). – Von meiner Straße. Novellen aus der Kriegszeit meines Lebens. Warnsdorf/Wien 1917. – Verklärung. Legende in einem Akt. Warnsdorf/Wien 1917 (D.). – Franciscus v. Assisi. Warnsdorf/Wien 1918 (L.). – Auferstehung. Villach 1918 (N.n). – Der feurige Weg. Ein russ. Revolutionsroman. Wien/Lpz. 1918. – Der Franzl. Gesch. einer Kindheit. Wien 1920. – Das Buch v. Gott. Wien 1920 (L.). – Menschen im Schatten. Wiener Proletariergesch.n. Hbg. 1920. Magdeb. 21929. – Der Totschläger u. a. Gesch.n. Wien 1921. – Gesang v. Morgen bis Mittag. Wien/ Lpz. 1922 (L.). – Das Lächeln Gottes. Aufzeichnungen einer Liebe. Lpz. 1922. – Totentanz. Lpz. 1923 (L.). – Sevarinde. Wien 1923 (utop. R.). – Das rauhe Leben. Ergänzt durch ein Tgb. vom 1. Jänner 1907 bis 5. Nov. 1922. Wien/Lpz. 1940. Neuaufl. 1941. 1947. – Ein Bruder so wie du. Das A.-P.-Buch. Hg. Karl Ziak. Wien/Ffm. 1957. – Ich mit den müden Füßen. Texte eines Arbeiterdichters. Klagenf. 2002. Briefausgabe: A. P. – Stefan Zweig: Briefw. Eingel. u. komm. v. David Turner. New York u. a. 1998. Literatur: Bernhard Denscher u. Johann Luger: A. P. (1882–1923). Kat. der Wiener Stadt- u. Landesbibl. Wien 1982. – Herbert Exenberger: Manipulationen an der Autobiogr. des Arbeiterdichters A. P. In: Arbeiterbewegung u. Arbeiterdichtung. Schriftenreihe des Seliger-Archivs. Hg. Nikolaus

Nach Vorbildung in der Heimatstadt u. bei Valentin Trotzendorf (1490–1556) in Goldberg (heute: Zlotoryja, Polen) studierte der Sohn eines dt. Handwerkers u. Bürgers u. einer sorb. Mutter aus ebenfalls alteingesessener wohlhabender Familie ab 1540 in Wittenberg, wo er 1545 den Magistergrad erwarb. Seine prägender Lehrer war Philipp Melanchthon, bei dem er wohnte u. dessen jüngste Tochter Magdalena (1531–1575) er 1550 heiratete. Mathematik u. Astronomie studierte er bei den Kopernikanern Georg Joachim Rheticus (1514–1576) u. Erasmus Reinhold (1511–1553), deren Lehrstühle er nacheinander 1550 u. 1554 erlangte, sowie bei Michael Stifel (1487–1567). Medizin lernte er von Jakob Milichius (1501–1559). Wegen des Schmalkaldischen Krieges ging er 1547 nach Frankfurt/O., doch Melanchthon holte ihn zurück. 1548 wurde er in den Senat der Wittenberger Philosophischen Fakultät aufgenommen. Er las über Mathematik, Astronomie, Anthropologie u. Medizin. P.s erste Publikation 1546 war eine Erläuterung der antiken Münzen, Maße u. Gewichte, die ausdrücklich auf Melanchthons u. anderer Lehrbücher basierte, u. 1570 gemeinsam mit Paul Eber (1511–1569) um zoologische u. botan. Termini erweitert wurde; das brauchbare Büchlein wurde bis 1574 zehnmal nachgedruckt. P.s astrolog. Hauptwerk ist der Commentarius de praecipuis divinationum generibus, ein krit. Versuch über /

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Aberglauben, Gottesglauben u. Naturwissenschaft, 1553 (vielleicht schon 1550) in Wittenberg erschienen, 1560 stark erweitert; bis 1607 sind noch sechs Auflagen nachgewiesen u. 1584 zwei französische. Ebenfalls 1550 erschien eine Anleitung zu geograf. Berechnungen (De dimensione terrae. Wittenb., vier Nachdrucke bis 1587), 1551 eine für astronom. Rechnen (Elementa doctrinae de circulis coelestibus et primo motu. Wittenb., sieben Nachdrucke bis 1588). Ein mathemat. Lehrbuch (Logistice astronomica [...]. Wittenb. 1556) erfuhr keinen Nachdruck. Zahlreiche Thesen, Reden u. a. Beiträge zu den Veranstaltungen der Universität Wittenberg verzeichnet Hans-Theodor Koch (s. u.). 1560 wurde P. Dr. med. u. Nachfolger des Milichius. Als Prof. der Medizin interpretierte er Hippokrates u. Galen. Als Arzt hatte er sich schon zuvor betätigt. Die Zusammenarbeit mit seinem Schwiegervater, auf dessen Anwesen er für seine rasch wachsende Familie ein Haus erbaute, fügte sich dieser Karriere problemlos ein. Nach dessen Tod vollendete er Melanchthons Universalgeschichtswerk Chronicon Carionis (1562 u. 1565) u. nahm damit an seinem lang anhaltenden internat. Erfolg teil. Er edierte auch dessen Werke (4 Bde., Wittenb. 1562–64) u. Briefe (1565, 1570 u. 1574). Dank seiner umfassenden Gelehrsamkeit war P. nach 1560 der einflussreichste Mann an der Universität Wittenberg. Seit 1563 war er dem Kurfürsten August von Sachsen (Regierungszeit 1553–1586) persönlich bekannt, der ihn 1570 zum Leibarzt ernannte u. auch als polit. Ratgeber schätzte. Doch als dieser 1574 die sächs. »Philippisten« (Anhänger Melanchthons) als heiml. Calvinisten (Kryptocalvinisten) verfolgte, wurde P. verhaftet (wodurch auch der Nachlass Melanchthons verloren ging) u. nach Verfahren in Dresden u. Torgau in Rochlitz, Zeitz u. ab 1576 in der Pleißenburg in Leipzig eingekerkert. Erst am 8.2.1586 erlangte er auf Fürbitte des Fürsten Joachim Ernst von Anhalt (Regierungszeit 1551–1586), seines ehemaligen Studenten, die Freiheit. Er wohnte als fürstlich-anhaltischer u. auch kurpfälz. Leibarzt u. Rat in Zerbst u. Dessau. Seine autobiogr. Historia carcerum et liberationis divinae (Zürich 1605.

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1615) wurde postum von Christoph Pezel (1539–1604) publiziert. Zehn Jahre nach P.s Befreiung wurde in der Kurpfalz sein lange zuvor verfasster Tractatus historicus de [...] Melanthonis sententia de coena domini (Amberg 1596) publiziert, der sofort Polemik von luth. Seite auslöste u. ihm den Vorwurf des Calvinismus eintrug. Während der Gefangenschaft dichtete er sein Lob auf die heimatl. Oberlausitz, eine histor. Landeskunde in 509 eleg. Distichen im Stile Ovids (Idyllium Patria), das er 1594 in den Druck gab (Bautzen). Es fand noch 1719, 2001 u. 2004 (Kößling in: Hasse/Wartenberg 2004) Beachtung. 1514 wurden in Frankfurt/M. zwei medizin. Vorlesungen P.s publiziert. Dauerhafter als seine zeitgebundene Gelehrsamkeit ist die Erinnerung an sein Schicksal als eines von vielen Opfern des religiösen Fanatismus. Ausgabe: Idyllium Patria. Auf der Grundlage einer Übers. v. Werner Fraustadt übertragen v. Rainer Kößling. Erläuterungen v. R. Kößling u. Matthias Wilhelm. In: Jahresschr. [des Stadtmuseums Bautzen – Regionalmuseum der sächs. Oberlausitz] 7 (2001), S. 7–114.

Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Jürgen Hamel u. Martin Roebel: Bibliogr. der gedr. Werke C. P.s. In: C. P. (1525–1602). Hg. Hans-Peter Hasse u. Günther Wartenberg. Lpz. 2004, S. 327–368. – Hans-Theodor Koch: Die Wittenberger medizin. Fakultät (1502–1652). Ein biobibliogr. Überblick. In: Medizin u. Sozialwesen in Mitteldtschld. zur Reformationszeit. Hg. Stefan Oehmig. Lpz. 2007, S. 289–348, bes. 321 f. – Weitere Titel: Julius August Wagenmann: P. In: ADB. – Walter Friedensburg: Gesch. der Univ. Wittenberg. Halle 1917. – Robert Kolb: C. P.’s Library. St. Louis 1976. – Helmar Junghans: Kryptocalvinisten. In: TRE. – Wolf-Dieter Müller-Jahnke: K. P.s Stellung zur Magie. In: Die okkulten Wiss.en in der Renaissance. Hg. August Buck. Wiesb. 1992, S. 91–102. – Achim Krümmel: P. In: Bautz. – Michael Weichenhan: Astrologie u. natürl. Mantik bei C. P. In: 700 Jahre Wittenberg. Hg. S. Oehmig. Weimar 1995, S. 213–224. – Uwe Neddermeyer: K. P. (1525–1602). Melanchthons Universalgeschichtsschreibung. In: Melanchthon in seinen Schülern. Hg. Heinz Scheible. Wiesb. 1997, S. 69–101. – Timothy J. Wengert: The Scope and Contents of Philip Melanchthon’s Opera omnia, Wittenb., 1562–64. In: ARG 88 (1997), S. 57–76. – Melanchthon u. die Marburger Professoren. Hg.

Peucker Barbara Bauer. Marburg 1999. 22000, S. 382–388 u. ö. – Ralf-Dieter Hofheinz: Philipp Melanchthon u. die Medizin im Spiegel seiner akadem. Reden. Herbolzheim 2001, S. 312–314. – H. Scheible: P. In: NDB. – Zwischen Katheder, Thron u. Kerker. Leben u. Werk des Humanisten C. P. 1525–1602. Ausstellung 25.9.-31.12.2002. Hg. Stadtmuseum Bautzen. Bautzen 2002. – Walther Ludwig: Der C. P.-Porträtholzschnitt v. 1573 im C. P.-Ausstellungskat. v. 2002 u. ein Bildnisepigramm des Martinus Henricus Saganensis. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitt.en 27/2 (2003), S. 97–111. – Claudia Brosseder: Im Bann der Sterne. C. P., Philipp Melanchthon u. andere Wittenberger Astrologen. Bln. 2004. – C. P. (1525–1602). Hg. H.-P. Hasse u. G. Wartenberg. Lpz. 2004. – Jaumann Hdb. – M. Roebel: Humanist. Medizin u. Kryptokalvinismus. Leben u. medizin. Werk des Wittenberger Medizinprof.s C. P. Diss. med. Heidelb. 2004. Heinz Scheible

Peucker, Nikolaus, * um 1620 Kolbnitz bei Jauer/Schlesien, beerdigt 15.2.1674 Cölln/Spree; Grabstätte: ebd., Kirchhof zu St. Petri. – Jurist, Dichter. P. begegnet erstmals um 1640 als Schüler des Magdalenen-Gymnasiums zu Breslau. Im Wintersemester 1642/43 immatrikulierte er sich an der Universität Frankfurt/O., wo der Dichter Henrich Held zu seinen Kommilitonen gehörte. Nach dem Studium (1645) war er zunächst in Berlin-Cölln als Hauslehrer tätig, dann (ab ca. 1650) als Gerichtsaktuar. 1656 wurde P. zum Stadtrichter u. Ratskämmerer in Cölln berufen. Um sein geringes Einkommen zu verbessern, verfasste er zahlreiche Gelegenheitsgedichte sowie satir. Gedichte u. Pasquillen. Zwar konnte P. sogar die Aufmerksamkeit des Großen Kurfürsten gewinnen, doch erfüllten sich seine Hoffnungen, Hofpoet in Berlin zu werden, nicht. Im literar. Leben seiner Zeit blieb er ein Außenseiter, obwohl er in Verbindung mit Michael Schirmer, Johann Franck u. Johann Rist stand. Erst 1702 brachte der Berliner Buchhändler Otto Christian Pfeffer eine Auswahl von 100 Gelegenheitsgedichten P.s heraus: Des berühmten Cöllnischen Poeten wol klingende lustige Paucke von hundert sinnreichen Schertzgedichten (Bln. 1702).

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P.s Gelegenheitsgedichte unterscheiden sich von der Masse der zeitgenöss. Kasuallyrik durch starke Realitätsbezüge. In seinen kleinen Werken für die Hohenzollern verarbeitete er Details aus dem fürstl. Alltag, beschrieb den Garten u. den Wald u. die Bemühungen des Kurfürsten um die Verbesserung der Landwirtschaft. Das modische Genre der Schäferpoesie nutzte P. in zahlreichen Hochzeitsgedichten für befreundete Lehrer, Pfarrer, Amtsschreiber u. Musiker in Cölln zur realist. Darstellung der Mühen des Hirten- u. Dorflebens; konkrete ländl. Lebensverhältnisse nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs werden sichtbar. Für die ländl. Arbeiten erfindet er Dorfheilige wie »Gänse-Marten«, »Haber-Bartel«, u. »Ochsen-Drews«, die er zuweilen im derben märk. Dialekt sprechen lässt. Bes. gern lässt sich P. in seinen Gedichten über die Jahreszeiten vom Gesang der Vögel zur Lautmalerei inspirieren. Bei der formalen Gestaltung seiner Lieder, die fast immer in einen Rahmen aus Alexandrinern eingefügt sind, dienten ihm volkstüml. Melodien von Gabriel Voigtländer, Heinrich Albert u. Georg Neumark als Vorbild. Weitere Werke: Paucke. Bln. 1650. – Schmiede. Kölln an der Spree 1666. Internet-Ed.: VD 17. Ausgaben: Wolklingende Paucke (1650–75) [...]. Hg. Georg Ellinger. Bln. 1888. – Fürstl. WiegenLied, bey der Chur-Printzl. Wiege Caroli Aemili. In: Das Zeitalter des Barock. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 31988, S. 347 f. – Internet-Ed. mehrerer Gelegenheitsgedichte in: VD 17. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 3104–3127. – Splett (s. u.). – VD 17. – Weitere Titel: Exsequiae [...] Dn. Nicolai Peukeri [...]. Cölln 1674. Internet-Ed.: VD 17. – Letzte Ehr u. Schuldigkeit [...] Hn. Nicolao Peukkern [...]. o. O. 1674. Internet-Ed.: VD 17. – Balthasar Neumann: Traurige Liebes- u. Thränen-Pflicht, so [...] Nicolao Peukkern [...] als nach seinem seligen Ableiben selbiger in volkreicher Versamlung beerdiget wurde den 15. Februarii [...] abgestattet. o. O. 1674. Internet-Ed.: VD 17. – Julius Knopf: Ein märk. Dichtersmann des 17. Jh. In: Brandenburger Land 1 (1934), S. 175 f. – Jürgen Splett: N. P. In: Noack/Splett, Bd. 1, S. 302–316. – Knut Kiesant: Berliner Gelegenheitsdichtung im Spannungsfeld v. Stadt u. Hof: N. P. (um 1620–74). In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus

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173 Garber. 2 Bde., Tüb. 1998, Bd. 1, S. 260–278. – Wulf Segebrecht: Unvorgreifl., krit. Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. K. Garber u. a. Tüb. 2001, S. 943–962. – Gundula Boveland: Vier bibliogr. Ergänzungen zu N. P. In: WBN 31 (2004), S. 57–59. Renate Jürgensen / Red.

Peuckert, Will-Erich, * 11.5.1895 Töppendorf bei Liegnitz, † 25.10.1969 Langen bei Offenbach. – Volkskundler, Kulturhistoriker, Schriftsteller. Noch P.s letztes großes Buch Gabalia ging »auf Gehörtes und Erfahrenes« »in der bäuerlichen Kinderheimat« u. auf »Jahre oben auf dem schlesischen Iserkamm zurück«. Der Sohn eines Briefträgers u. Nebenberufsbauern in Kaiserswaldau (Okmiany) promovierte, nach Tätigkeit 1914–1921 als Lehrer in GroßIser u. Studium in Breslau 1922–1927, mit dem Franckenberg-Kapitel des RosenkreutzerBuchs. Er war wiss. Mitarbeiter am Dt. Seminar, 1930–1932 zgl. Dozent an der Pädagogischen Akademie, wirkte nach der Habilitation 1932 mit der Schrift Sibylle Weiss (Rezeption des Volksbuchs, Ms. UB Göttingen) bis zum Entzug der Venia legendi 1935 als Privatdozent an der Universität. In dem Jahrzehnt bis Kriegsende entfaltete er in Haasel, einem Dorf im Katzbachgebirge, eine umfangreiche wiss. u. literar. Publikationstätigkeit. 1946–1960 wirkte er als Prof. für Volkskunde u. Geistesgeschichte an der Universität Göttingen. In dieser Zeit u. nach der Emeritierung erschienen die großen Werke zum 16. Jh. u. zum Pansophie-Projekt, daneben der Volkskunde-Forschungsbericht, begleitet von Fachaufsätzen, Sagen-Editionsprojekten u. einer ausgedehnten interdisziplinären Rezensions- u. Herausgebertätigkeit. P.s Interessen- u. Arbeitsfeld war, beeinflusst vom Irrationalismus u. Expressionismus nach der Jahrhundertwende u. nach 1918, die reiche, aber unbekannte u. unbeachtete Literatur hermetisch-gnostischer, magisch-neuplaton., alchemistisch-astrolog., medizinisch-naturphilosoph. Prägung. Deren Autoren waren nicht nur Außenseiter u. Schwärmer mit Vorstellungswelten, die unter

das Verdikt von »Aberglaube«, »Magie«, Dämonenfurcht u. Geheimkult geraten waren, hier äußerte sich eine (seit Ficino neuplatonisch sanktionierte) geistige Welt, die in Konkurrenz zur rationalen, aristotelisch u. naturwissenschaftlich dominierten Philosophie- u. Wissenschaftskultur der heraufziehenden Moderne stand. Durch eine romantisch prädisponierte Vol k sk un de kamen diese Strömungen, mit ihr ganze Bibliotheken u. Traditionskomplexe, kulturhistorisch wieder in den Blick. P. spielte dabei nicht nur die herausragende Rolle; er blieb bis heute der Einzige, der den apokryphen Gegenstandsbereich derart umfassend, engagiert u. textnah bearbeitete. Der Kenntnismangel auf diesen Gebieten hatte sich in der Wissenschaftsgeschichte von Medizin u. Naturwissenschaften bemerkbar gemacht: Auch die Text- u. Literaturwissenschaften stießen bei Autoren von Grimmelshausen bis Goethe, von Czepko bis Meinhold, bei Philosophen u. Theologen auf unverständl. Relikte dieses Weltverständnisses. P.s Rekurs auf die im 15. bis 18. Jh. lebendigen vormodernen Bewusstseinslagen u. Systembildungen korrigierte das Bild von der Einsträngigkeit des Projekts Aufklärung. Einige der frühen Bücher (Apokalypse 1618, 1921; Das Leben Jakob Böhmes, 1924; Schlesische Sagen, 1924; Die Rosenkreutzer, 1928, auch Bände der Reihe »Deutsche Volkheit«) kamen, teils mit künstler. Beigaben, bei dem kulturpolitisch einflussreichen Verleger Diederichs in Jena heraus. Die Trias der im engeren Sinne volkskundl. Grundlagenwerke erschienen: Die Volkskunde des Proletariats I. Aufgang der proletarischen Kultur (Ffm. 1931) setzte einen neuen Forschungsakzent. Deutsches Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel (Bln. 1938) konfrontiert wie 1936 die Erstfassung der Pansophie mit einem der modernen Vernunftkultur entgegengesetzten »Denken, in dem der Zauber gilt«; dem »mythisch-zaubrischen Denken« entsprangen die »volkstümlichen« Erzählgattungen. P.s Forschungsbericht Volkskunde. Quellen und Forschungen seit 1930 (Bern 1951; O. Lauffer zeichnete für das Schlusskapitel Volkswerk) skizziert die internat. Verflechtungen.

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Zahlreiche Bücher über Schlesien entstanden seit den frühen Jahren. Die Themenvielfalt der Aufsätze u. Rezensionen ist erst seit Vorliegen der Bibliografie (Tuneld 1972; Bönisch-Brednich u. Brednich 1996) überschaubar. Titel von Zeitschriftenaufsätzen wie Geisterseher. Zur Psychologie des schlesischen Volkes (1929) u. Spuk- und Gespensterglaube bei schlesischen Mystikern (1926) zeugen vom topisch myst. Selbstverständnis schles. Kultur. P. edierte Schriften aus dem Nachlass des befreundeten Carl Hauptmann. Mit zahlreichen bes. Zukünftiges u. Eschatologisches betreffenden Artikeln war er Mitarbeiter des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens u. übernahm den volkskundl. Teil der Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Problem des Nachlebens der Antike des Aby Warburg Instituts. Im Rahmen der brotbedingten Schriftstellerei nach der Entfernung von der Universität erschien ein Florilegium wesentl. Texte der Brüder Grimm (Stgt. 1935), der 800-seitige Unterhaltungsroman So lange die Erde steht (Lpz. 1941), der histor. Abenteuerroman (16. Jh.) vom »deutschen Heldenzug« in das Goldland Amerika: Die Goldenen Berge (Lpz. 1934), Erzählungen wie Liebe, Fahrten und Abenteuer des Trompeters aus der Zips (Bln. 1941) u. Glückskind in Krakau (Bln. 1939). P.s groß angelegte biogr. Monografien, Jakob Böhme (Jena 1924), Sebastian Franck (Mchn. 1943), Nikolaus Kopernikus (Lpz. 1943) u. Theophrastus Paracelsus (Bln./Stgt. 1944), bereiteten die beiden Zentralwerke vor: Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. Geistesgeschichte und Volkskunde (Hbg. 1948. Neudr. Darmst. 1966) u. die in drei umfangreichen Bänden entfaltete Materialu. System-Summe: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie (Erw. Bln. 21956; zuerst Stgt. 1936) mit den Folgebänden Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert (Bln. 1967) u. Das Rosenkreutz (Bln. 21973, hg. u. eingel. v. R. C. Zimmermann; Grundlage: P.s Ms.), das u. d. T. Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation 1928 erschienen war. Die konzise, historisch ausgreifende Darstellung der Astrologie. Geschichte der Geheimwissenschaften, I (Stgt. 1960) fügte die kosmischastrale Perspektive hinzu. Ein mit auf-

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schlussreichem Vorwort versehener, auflagenhoher Textband, Von schwarzer und weißer Magie. Berichte aus einem vergessenen Jahrhundert (Bln. 1938), illustriert weiße Magie des 17. Jh. mit volksbuchartigen Erzählungen von »Menschen der Pansophie«. Die große Wende deutet kulturphilosophisch den Übergang eines »bäuerlich« numinos geprägten zu einem »bürgerlich« rational u. kapitalistisch bestimmten, aber am Anfang von faustischen »Sucher«-Gestalten gekennzeichneten Weltzeitalter. Den Rahmen bildete ein großzügiges Geschichtsdenken, das die vorbäuerische Zeit der Pflanzer (Ursprung von Märchen- u. Sagenmotiven, s. ritualist. Schule), die bäuerisch-feudale Zeit v. a. des MA, die »große Wende« zu Bürgertum u. Kapitalismus, u. die Epoche einer Volkskunde des Proletariats (1931) unterscheidet. Die große Wende war neben den Positionen Huizingas, Heimpels u. der Kirchenhistoriker auch ein Beitrag zur Deutung des »Spätmittelalters«. P. zeichnete eine einerseits von Weissagungen u. Hoffnungen erfüllte, andererseits von eschatolog. Ängsten gepeinigte Spät- u. Endzeit. Dagegen stellte er den aufkommenden Humanismus u. Luther. Die klass. Darstellung Deutscher Volksglaube des Spätmittelalters (Stgt. 1942. Neudr. Hildesh. 1978) entwarf die figurenreiche Welt der Berg-, Erd- u. Elementargeister, der Tierdämonen, der wilden Leute u. des wilden Jägers, der Unterirdischen u. Varianten des Typos »Die Frau am Baum«, in denen »die mythenbildende Kraft des Volkes« vor 1500 sich manifestierte, daneben die Dämonenlehren eines Trithemius, Pictorius u. Agrippa von Nettesheim. In P.s großen Werken vereinigen sich schriftstellerische Bravour mit wiss. Geist u. stupendem Detailrealismus; es bleibt kein Raum für ständiges Absichern, krit. Hinterfragen u. quellenkrit. Distanz. P.s gelehrt kenntnisreiche Bücher wollen von der Sache überzeugen, wirken. Adressat sind auch die Objekte von Volkskunde, das »Volk«. Die Begriffe »Pansophie« u. »Gabalia« (eigenwillig von Kabbala abgeleitet) sind in erster Linie Systemworte P.s zur Unterscheidung des naturmystisch-panentheist. u. des theosophisch-myst. Zweigs im Versuch, »hinter den Vorhang zu lugen«. Die Zwei-

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poligkeit u. Aufwärtsstufung bestimmt auch den inneren Aufbau beider Werke u. oft die Entwicklung der dokumentierten Naturphilosophen u. Mystiker selbst. So enthält »Pansophie« mit der Idee des Panentheistischen u. All-Einen auch direkt gottesmyst., »gabalische« Tendenzen. Paracelsus führte die magia naturalis zur Pansophie u. Böhme steigerte die Pansophie zur Theosophie. Ist Gabalia, die das göttl. Licht meint, eine Übergipfelung der Pansophie u. jedenfalls des natürl. Lichts der »Magia naturalis«, die zur Physikotheologie führt, so beschreiben beide Bücher, Pansophie u. Gabalia, auch wieder den gleichen Cursus von der naturmyst. Magie der Dinge bis zur Mystik des göttl. Lichts, nur mit jeweils anderen Zeugen u. Erscheinungen: die Pansophie mit histor. Rückblick, schwarzer Magie, paracels. Kosmoslehre u. Alchemie, Rosenkreuzer u. Böhme; Gabalia mit Beispielen »aus dem natürlichen Licht« u. mag. Hausväterliteratur, übergipfelt durch paracels. u. anders fundierte »Gabalia« selbst. Für Das Rosenkreutz ist die christlich-myst. Richtung Programm, die Nähe zur Alchemie schon im Titel Chymische Hochzeit artikuliert. Neben den genannten bezeichnen die Gestalten u. Autoren Trithemius, Hermes Trismegistos, Faust, Agrippa von Nettesheim, Valentin Weigel, Angelus Silesius, Helmont, Welling u. die Bereiche Magie, Kabbala, Alchemie u. Mystik die von P. aufgearbeiteten Traditionszusammenhänge. Die gleitende Systematik bleibt implizit, an der Komposition der Kapitelbildung ablesbar oder in verstreuten Hinweisen artikuliert. Die Fülle einschlägiger begriffsgeschichtl. Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie von »Magie« bis »Hermetismus«, »Signaturenlehre« bis »Dämonen«, »Geist, V-VI«, von »Pythagoreismus« bis »Natur, IV, 1–3« hat inzwischen rahmengebende Bedeutung. P. verstand Volkskunde in sehr weitem Sinn. Die stets auf großer Materialfülle basierende kulturphänomenolog. Perspektive wurde ergänzt durch die soziologische in der Volkskunde des Proletariats, die ethnologischreligionsgeschichtliche in Geheimkulte (Heidelb. 1951. Neudr. Hildesh. 1988) u. die prähistorische (mit Bezug auf Bachofens

Peuckert

Mutterrecht) in Ehe. Weiberzeit, Männerzeit, Saeterehe, Hofehe, Freie Ehe (Hbg. 1955). Wie Der Alchymist und sein Weib (Stgt. 1956), die »Gauner- und Ehescheidungsprozesse des Alchymisten Thurneysser«, die textdokumentarisch als histor. Ich-Roman präsentiert werden, sind es wiss. u. zgl. lesbare Bücher. Auch die Mitherausgeberschaft der »Zeitschrift für deutsche Philologie« (1947–1963) u. der »Zeitschrift für Volkskunde« (1958–1963) kennzeichnen P.s wiss. Position. Ein Forschungs- u. Editionsschwerpunkt lag bei den Sagen, in deren Vorstellungskreis sich für P. jene prämoderne Logik u. das »numinose Erlebnis« manifestieren, die für das »bäuerliche« Weltzeitalter bis 1500 kennzeichnend waren. Den Schlesischen Sagen folgten Editionen niedersächs., dt. u. österr. Sagen sowie zahlreiche theoret. Abhandlungen (Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. Bln. 1965. Studien zur niedersächsischen Sage als Verborgenes Niedersachsen. Gött. 1960) sowie das Projekt eines Handwörterbuchs der Sage (A-Auf, 3 Lfg.en, Gött. 1961–63). Setzte P. in der Sagenforschung im Rahmen der Volkskunde wichtige Akzente, so bildete die umfassende Erschließung u. Präsentation »pansophischer« Texte u. Strömungen Anregung u. Grundlage für die in den letzten Jahrzehnten in unterschiedl. Disziplinen international stark expandierende Erforschung der hermetisch-neuplatonischen u. naturmag. Traditionen, wenngleich die Kontinuität nicht überall sichtbar gemacht oder gewürdigt ist. Literatur: Johann Gottlieb Buhle: Gesch. der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wiss.en. Bd. II, 1–2, Gött. 1800/01. – Bengt Algot Soerensen: Symbol u. Symbolismus. Kopenhagen 1963, Kap. 8. – Rolf Christian Zimmermann: ›Ich gebe die Fackel weiter!‹ Zum Werk W.-E. P.s. In: W.-E. P.: Rosenkreutz. Bln. 21973, S. VII-LI. – Ders.: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermet. Tradition des dt. 18. Jh. Mchn. 1969. – Kosch 1988 (Bibliogr.). – Brigitte BönischBrednich u. Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): ›Volkskunde ist Nachricht von jedem Teil des Volkes‹. W.E. P. zum 100. Geburtstag. Gött. 1996 (Bibliogr.: S. 165–196 [Teilgrundlage: John Tuneld, Uppsala 1972, S. 205–247]). – B. Bönisch-Brednich: P. In: EM. Ulfert Ricklefs

Peuerbach

Peuerbach, Peurbach, Georg von, eigentl.: G. Aunpeck, Aunpekh, * 30.5.1423 Peuerbach/Oberösterreich, † 8.4.1461 Wien. – Humanist, Astronom, Mathematiker, Universitätslehrer.

176 S. 271–276. – Gedichte: Grössing 1978 (s. u.), S. 58–66. – Grössing 1983 (s. u.), S. 210–212. – Briefe: A. Czerny (Hg.): Archiv für Kunde österr. Geschichtsquellen 72 (1888), S. 288–304. Literatur: Helmuth Grössing: Astronomus poeta. In: Jb. des Vereins für Gesch. der Stadt Wien 34 (1978), S. 54–66. – Ders.: Humanist. Naturwiss. Baden-Baden 1983, S. 79–116 (S. 107–116 Werkbibliogr.). – Ders.: P. In: VL (Lit.). – Wolfgang Kokott: Theorie u. Augenschein in P.s Kometenschr. v. 1456. In: Die Sterne. Ztschr. für alle Gebiete der Himmelskunde 72 (1996), S. 210–223. – Jerzy Dobrzycki: Peurbach and Maragha Astronomy? The Ephemerides of Johannes Angelus and Their Implications. In: Journal for the History of Astronomy 27 (1996), S. 187–237. – Tzvi Langermann: Peurbach in the Hebrew Tradition. Ebd. 29 (1998), S. 137–151. – Höhepunkte mittelalterl. Astronomie. G. v. P. u. die Folgen. Begleitbuch zur Ausstellung ... im Schloß Peuerbach, 27.4.-2.11.2000. Raab 2000. – Franz Pichler (Hg.): Der Harmoniegedanke gestern u. heute. P.-Symposium 2002. Linz 2003. – Ders. (Hg.): Von den Planetentheorien zur Himmelsmechanik. Die Newtonsche Revolution. P.-Symposium 2004. Linz 2004. – Karl-Georg Pfändtner: Eine spätmittelalterl. Wiener Gelehrtenbibl. Die Bücherslg. des Hofastronomen G. P. (1423–61). In: MIÖG 115 (2007), S. 121–133.

P. begann 1446 mit dem Studium an der Universität Wien, wurde 1448 Baccalaureus u. ging dann nach Italien an die Universitäten von Padua u. Ferrara, vermutlich auch nach Florenz u. Rom. In Italien lernte er wohl die Kardinäle Nikolaus von Kues u. Bessarion persönlich kennen. Im Frühjahr 1451 kehrte er nach Wien zurück, wurde 1452 Lizentiat u. am 28.2.1453 Magister artium. In Wien lernte P. seinen langjährigen Freund u. Mitarbeiter Johannes Regiomontanus kennen u. trat mit dem Kreis der am Kaiserhof zu Wiener Neustadt um Piccolomini versammelten dt. Frühhumanisten in Verbindung. In einer Zeit großer materieller Not wurde P. 1453 die Stelle eines Hofastrologen bei König Ladislaus zuteil, mit welchem er im selben Jahr Ungarn bereiste. 1457 wurde er Hofastrologe Kaiser Friedrichs III. Sowohl Mathematiker u. NaturwissenHelmuth Grössing / Red. schaftler wie Propagator der Studia humanitatis, repräsentiert P. früh einen die Physiognomie des dt. Humanismus mitprägenden Typus. Er las seit 1451 an der Universität Peuntner, Thomas, * um 1390 GuntWien über lat. Klassiker u. an der Wiener ramsdorf bei Wien, † 20.3.1439 Wien; Bürgerschule bei St. Stefan über astronom. Grabstätte: ebd., Stephansdom. – PrediThemen. Hier hatte er auch sein Hauptwerk, ger, Verfasser katechetisch-erbaulicher die Theoricae novae planetarum (Erstdr. Nürnb. Schriften. um 1473) vorgetragen; es wurde lange als P., der vermutlich in Wien Theologie studiert Standardwerk des alten Weltmodells benutzt. hatte, war seit 1426 Pfarrer u. Prediger am Im Auftrag der Artistenfakultät verfasste P. Hof Herzog Albrechts V. von Österreich, dem ein Gutachten über den Halleyschen Kome- späteren König von Böhmen u. Ungarn (als ten von 1456. Während des Aufenthalts dt. König Albrecht II.), in Wien u. später Bessarions in Wien 1460/61 trat P. mit dem Beichtvater der Herzogin Elisabeth. 1436 Kardinal in Verbindung, der ihn zur Abfas- wurde er in das angesehene Kollegiatskapitel sung eines lat. Kommentars des Almagest des zu St. Stephan (das spätere Domkapitel) aufPtolemäus anregte (Epitoma in Almagestum. Bis genommen. Ab 1473 predigte P. auch im Buch 6 gedr. Venedig 1496). Zudem wollte Wiener Augustiner-Chorfrauenstift »Zur der Kardinal P. u. Regiomontanus v. a. zur Himmelspforte«. Erschließung antiker mathemat. u. naturP. gehört zur Wiener Schule, die an der wiss. Quellen nach Italien mitnehmen. P.s theolog. Fakultät in Wien zuerst von HeinTod verhinderte den Abschluss der Epitoma rich von Langenstein u. später v. a. von Niwie die zweite Italienreise. kolaus von Dinkelsbühl vertreten wurde. Die Ausgaben: Zwei Gutachten G.s v. P. über die enge Verbindung von Theologie u. Seelsorge, Kometen v. 1456 u. 1457. In: MIÖG 68 (1960), von scholast. Lehre u. praxisbezogener

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Frömmigkeit sowie die Vermittlung dieser Peutinger, Konrad, * 16.10.1465 AugsLehre an breite Schichten waren das Ziel burg, † 28.10.1547 Augsburg. – Humadieser auf Erneuerung zielenden Theologie u. nist u. Jurist; Verfasser u. a. historischdas Charakteristikum der Schriften dieses philologischer u. juristischer Schriften, Kreises. P. hat bes. Werke seines Lehrers Ni- Herausgeber u. Übersetzer. kolaus von Dinkelsbühl ins Deutsche überP. stammte aus einer wohlhabenden Augstragen u. sie popularisierend aufbereitet. Alle Werke P.s kreisen um das zentrale burger Kaufmannsfamilie. Wegen des frühen Anliegen, »warum und auf welche Weise der Todes seines Vaters wuchs er bei dem AugsMensch Gott lieben soll«. Diese immer wie- burger Fernhandelskaufmann Ulrich Höchderkehrende Thematik wird bereits im Titel stetter auf, der sein Onkel u. Vormund war. seines in drei Autorenfassungen (1428–32; 1479/80 war er an der Universität Basel einüber 70 Handschriften u. mehrere Drucke) geschrieben (vermutlich an der Artistenfaüberlieferten Hauptwerks, des Büchleins von kultät), von 1482 bis 1488 studierte er an den der Liebhabung Gottes, ausgesprochen. P. wen- Universitäten in Padua u. Bologna Römisches det sich radikal gegen jedwede Form äußerl. Recht u. machte dort sowie in Rom u. Florenz Frömmigkeit u. damit gegen die zeittyp. die Bekanntschaft mit Humanisten wie AnTendenz, sich aus Furcht vor Gott mit gelus Politianus, Hermolaus Barbarus, Werkfrömmigkeit das Leben im Jenseits er- Pomponius Laetus, Philippus Beroaldus u. kaufen zu wollen. Gott, so sein Grundge- Giovanni Pico della Mirandola. Nach seiner danke, will um seiner selbst willen geliebt Rückkehr nach Augsburg erlangte P. auf einer Gesandtschaftsreise zum Papst 1491 in werden. Padua den akadem. Grad eines Doctor legum. Weitere Werke: Liebhabung Gottes an Feiertagen. 1434. – Kunst des heilsamen Sterbens (erste P. war zu diesem Zeitpunkt als Jurist in den deutsche Ars moriendi der Wiener Schule). – Be- Dienst der Reichsstadt Augsburg eingetreten trachtung über das Vaterunser. Um 1435. – Be- u. wurde 1497 zum Stadtschreiber auf Letrachtung über das Ave-Maria. Um 1435. – Beicht- benszeit ernannt. Damit stand er an der büchlein. – Christenlehre. (Zwei lat. Predigt- Spitze der polit. Verwaltung. Zu seinen Aufsammlungen sind als Autographe erhalten.) gaben gehörten nicht nur Angelegenheiten Ausgaben: Bernhard Schnell (Hg.): T. P., des Inneren, sondern er vertrat Augsburg im ›Büchlein v. der Liebhabung Gottes‹. Ed. u. Un- Besonderen auch nach außen, auf Reichstersuchung. Mchn. 1984 (mit Zusammenstellung tagen ebenso wie beim Schwäbischen Bund u. der Ausg.n). – Ernst Haberkern (Hg.): Das ›Beichtbeim Kaiser. In seinen Zuständigkeitsbereich büchlein‹ des T. P. Nach den Heidelberger, Melker, fiel der gesamte offizielle Schriftverkehr der Münchner u. Wiener Hss. (mit Komm.). Göpp. Reichsstadt. Gleichzeitig war er als jurist. 2001. Literatur: Rainer Rudolf: T. P. Leben u. Werk Berater auch für andere oberdt. Reichsstädte eines Wiener Burgpfarrers. In: LitJb (1963), S. 1–19. tätig. P. repräsentiert den frühneuzeitl. Typus – Schnell 1984 (s. o.). – Peter Ernst: Das Graphemsystem in T. P.s ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ des Gelehrten in hohem polit. Amt, für den nach der Hs. W (cpv 2800). In: Studien zum Früh- die enge Verbindung von Amtsausübung u. neuhochdeutschen. FS Emil Skála. Hg. Peter Wie- humanist. Interesse kennzeichnend ist. Als singer. Göpp. 1988, S. 47–67. – Bernhard Schnell: Stadtschreiber hatte er einen weiten KonP. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Fritz taktradius, der durch die Heirat mit MargaPeter Knapp: Zeman Gesch., Bd. 2/2: Die Lit. des rethe Welser aus dem bekannten gleichnaSpätMA in Österr. Graz 2004, bes. S. 240–246. migen Augsburger Handelshaus im Jahre Bernhard Schnell / Red. 1498 nochmals erweitert u. von P. intensiv genutzt wurde. So wirkte er etwa auch an den Vorbereitungen der großen Expedition der Welser nach Indien in den Jahren 1504 bis 1507 mit u. interessierte sich außer für die wirtschaftspolit. Aspekte der überseeischen

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Unternehmungen der Augsburger Welthandelshäuser auch für die neuesten Reiseberichte u. kosmograf. Schriften. Seit 1488 stand P. mit Maximilian I. in Verbindung. Maximilian, der P. den Titel eines Doctor iuris utriusque verlieh, ernannte P. zum kaiserl. Rat, betraute ihn mit zahlreichen polit. u. diplomat. Missionen u. gewann den einflussreichen Humanisten zur maßgebl. Mitwirkung auch an den künstlerischen u. literar. Arbeiten für seine Memoria. So war P. an der Materialzusammenstellung für die historisch-panegyr. Werke zur gedechtnus Maximilians – Genealogie, Triumph u. Ehrenpforte – beteiligt, wirkte an dessen romanhaften Selbstdarstellungen in Theuerdank u. Weiskunig mit u. war mit der Organisation der künstlerischen Arbeiten an Maximilians Ruhmeswerk wie dem Grabmal in Innsbruck befasst. Im Vergleich dazu waren P.s Kontakte zu Maximilians Nachfolger Karl V., an den er 1520 in Brügge als Vertreter Augsburgs eine später gedruckte Rede richtete (Oratio pro sacrosancti imperii civitate Augusta Vindelicorum Imperatori Caesari Charolo [...] Brugis [...] pronunciata, 1521), lockerer. Dessen ungeachtet blieb er auch unter Karl V. nicht ohne Einfluss. Im Besonderen gilt das für seinen Einsatz in der umstrittenen Frage der Zinsnahme u. der Monopolbildung gegen eine für die Augsburger Welthandelshäuser wie Fugger u. Welser nachteilige Reichsgesetzgebung, wozu er eine Reihe berühmt gewordener jurist. Gutachten verfasste. In den konfessionellen Auseinandersetzungen war P. anfangs um Vermittlung bemüht, was auch in seiner 1524 gedruckten Übersetzung des Almosentraktates des Reformators Johann Oekolampad zum Ausdruck kommt (Von ußteylung des Almusens [...]). P. blieb jedoch zeit seines Lebens auf Seiten der kath. Kirche. Als 1534 in Augsburg die Reformation eingeführt wurde, gab er das Amt des Stadtschreibers auf. Aufgrund seiner Verdienste wurde er 1538 in das Patriziat aufgenommen, u. kurz vor seinem Tod verlieh ihm Karl V. den erbl. Adel. P. starb 1547 in Augsburg. Für die Literatur- u. Kulturwissenschaften ist P. nicht nur durch seine vielfältigen Bezüge zum künstlerischen u. literar. Ruhmes-

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werk Maximilians I. von Bedeutung, sondern generell als uomo universale der Renaissance, dessen breites historisch-philolog. Interesse durch seine eigenen Schriften, seinen umfangreichen sog. Literarischen Nachlass v. a. in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg u. in der Bayerischen Staatsbibliothek in München sowie, damit verbunden, durch seine noch zu etwa 40 Prozent erhaltene Bibliothek umfassend dokumentiert ist. P. trug im Laufe seines Lebens in ungefähr 2250 (Sammel-)Bänden mehr als 2000 handschriftl. Texte u. mindestens rd. 6000 gedruckte Titel zusammen u. besaß damit die wohl größte Privatbibliothek nördlich der Alpen. So lässt sich P. als Humanist u. Jurist erst durch sein Gesamt-Œuvre in seiner ganzen Vielfalt fassen. Dazu gehören ebenso die gedruckten Werke von ihm wie die bei Weitem überwiegenden ungedruckten Schriften u. zahlreichen vorbereitenden Arbeiten wie Exzerpte, Notizen, Konzepte, Abschriften unterschiedlicher Ausfertigungsgrade u. Reinschriften, die sich in seinem Literarischen Nachlass finden. Zus. mit seiner in Libri in iure u. Libri in aliis et Diuinis et humanis Studiis unterteilten Bibliothek ermöglicht diese Hinterlassenschaft, die auf das gesamte Spektrum frühneuzeitl. Wissens bezogen ist, einen einzigartigen Einblick in die Lektürepraxis u. Arbeitsweise des frühneuzeitl. Universalgelehrten. Hinzu kommt P.s Kunstkammer mit beispielgebenden Sammlungen insbes. auch von alten Münzen u. röm. Inschriften. Das erste gedruckte Werk von P. liegt mit seiner wegweisenden Inschriftensammlung der Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi vor, die 1505 in Augsburg u. bereits 1520 in erweiterter zweiter Auflage in Mainz erschien. 1506 folgten die Sermones convivales, deren Rahmen ein Gastmahl des kgl. Ministers Matthäus Lang bildet: Im Zentrum stehen im Kreis der Gelehrten um Maximilian I. erörterte, aktuelle Fragen der dt. Geschichte wie die Zuordnung der linksrhein. Gebiete. P.s historisch-philolog. Interesse gelangt auch in einem 1521 zus. mit der Rede an Karl V. gedruckten früheren Brief an den Kardinallegaten Bernardino Carvajal zum Ausdruck, in

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dem er auf die Verdienste der dt. Herrscher um den Heiligen Stuhl zu sprechen kommt. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus der Einsatz P.s als Herausgeber. Das gilt ebenso für ein zeitgenöss. Werk wie den P. gewidmeten Emblematum liber Andrea Alciatis (1531) wie v. a. auch für einige Werke aus Antike u. Mittelalter. Berühmt ist die Edition des in Hexametern verfassten Epos Ligurinus des Gunther über die Taten Friedrich Barbarossas von 1507, in der sich u. d. T. De ortu, genere et posteris Imperatoris Caesaris Friderici primi Augusti eine genealog. Abhandlung P.s über die Staufer befindet. Wichtig ist daneben P.s Ausgabe der Geschichtsschreiber der Goten, Iordanes, u. der Langobarden, Paulus Diaconus, aus dem Jahr 1515. Sie enthält eine auf die umfangreiche Völkerwanderungsgeschichte des Wolfgang Lazius in der Mitte des 16. Jh. vorausweisende, kurze Abhandlung De inclinatione Romani imperii et exterarum gentium, praecipue Germanorum commigrationibus, in der P. eine Parallele zwischen dem ungekünstelten Stil der beiden Geschichtsschreiber des frühen Mittelalters u. deren histor. Genauigkeit zieht. Auf diese Weise relativiert er das Stilideal der klass. Antike u. erweist sich als Wegbereiter einer neuen mediävist. Editorik. P.s Interesse am Mittelalter geht mit seiner Begeisterung für die Antike einher u. manifestiert sich insbes. auch in seinem in den beiden ersten Jahrzehnten des 16. Jh. weit gediehenen, aber nie vollendeten Kaiserbuch, einer Geschichte des Kaisertums von Caesar an, die sich durch die systemat. Verwendung von röm. Münzen u. Inschriften sowie von mittelalterl. Urkunden auszeichnet. Dieses humanist. Interesse zeigt sich aber auch dort, wo P. in erster Linie als Jurist im Amt des Stadtschreibers agiert, beispielsweise wenn er im Kontext der Monopoldebatte, bei der man P.s neuzeitl. Denkansatz herausgestellt hat, in der lat. Argumentation andere Schwerpunkte setzt als im Deutschen u. dabei gerade in der Volkssprache darum bemüht ist, als Humanist historisch-philolog. Wissen bereitzustellen. Dem breiten Spektrum seiner Tätigkeits- u. Interessenfelder entsprechend, manifestiert sich die Wirkung P.s, der als Mäzen bekannt war, auf unterschiedl. Ebenen. Bes. zu er-

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wähnen ist seine humanist. Korrespondenz. P. stand u. a. mit Konrad Celtis, Sebastian Brant, Heinrich Bebel, Johannes Reuchlin, Ulrich Zasius, Willibald Pirckheimer u. Beatus Rhenanus in Kontakt u. bildete den Mittelpunkt der sog. Sodalitas Peutingeriana oder Augustana. Darüber hinaus machte er aber etwa auch die Bekanntschaft des Erasmus von Rotterdam, Juan Luis Vives u. Thomas Morus. Einige seiner Zeitgenossen regte der Augsburger Humanist dabei auch zur Edition bedeutender antiker u. mittelalterl. Schriftsteller an. Die historiograf. Werke des Otto von Freising u. des Burchard von Ursberg oder die Ausgabe des spätantiken Geschichtsschreibers Prokop etwa wurden aufgrund der von P. gegebenen Impulse von Johannes Cuspinianus (Straßb. 1515) beziehungsweise von Johannes Foeniseca (Augsb. 1515) u. Beatus Rhenanus (Basel 1531) zum Druck gebracht. Dagegen blieb es im Fall der von P. geplanten Ausgaben antiker Autoren wie Macrobius (De somnio Scipionis) oder Celsus (De herbarum medicaminibus) bei den Vorarbeiten, u. auch die mittelalterl. Kopie einer röm. Straßenkarte beispielsweise, die P. von Celtis erhalten hatte u. die als Tabula Peutingeriana berühmt geworden ist, wurde erst nach P.s Tod publiziert. P.s Sammlungen von Artefakten, Handschriften u. Drucken waren weithin bekannt. Seine Bibliothek, deren zahlreiche erhaltene Bände oftmals aufschlussreiche Gebrauchsspuren ihres Besitzers enthalten wie Inhaltsverzeichnisse, Unterstreichungen oder die für P. typischen Marginalien, galt sowohl inhaltlich als auch – aufgrund der zugrunde gelegten Ordnungssystematik u. der Kataloge P.s, von denen zwei im Autograf erhalten sind – erschließungstechnisch als vorbildlich. In einem Fachkatalog der Jahre 1515 bis 1522/ 23 verzeichnete P. allein in den Rubriken Poetae u. Historiae innerhalb kurzer Zeit jeweils rd. 300, teils eben erst erschienene Titel, neben weiteren Hunderten von Titeln zu anderen Gebieten, von der Theologie über die Philosophie u. die betont humanistisch orientierten Rubriken zu Cicero u. den nach den Redegattungen differenzierten Orationes über die Medizin u. die Fächer des Quadriviums bis hin zu den artes mechanicae u. zu den

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Sondergruppen der Epistolae u. des Schrifttums zur Cosmographia. So wurde P.s reichhaltige Büchersammlung, in der sich auch rd. 100 Codices aus dem Mittelalter befanden, in der Mitte des 16. Jh. nicht nur von den Magdeburger Zenturiatoren, den Verfassern der ersten großen protestant. Kirchengeschichte, gerühmt, sondern um dieselbe Zeit auch von dem Schweizer Polyhistor Konrad Gesner in seiner (bio-)bibliograf. Bibliotheca universalis. Für die Humanismusforschung bildet die Gestalt P.s daher einen bedeutenden Forschungsgegenstand, der in interdisziplinärem Rahmen wie aber auch speziell unter literatur- u. kulturgeschichtl. Perspektive umfassend wichtige Einblicke in die frühneuzeitl. Buch- u. Gelehrtenkultur in ihrer ganzen Breite liefern kann. Weitere Werke: Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi. Augsb. 1505. 2., erw. Aufl. u. d. T. Inscriptiones vetustae Romanae in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi. Mainz 1520. – Sermones convivales [...] de mirandis Germaniae antiquitatibus. Straßb. 1506. – De ortu, genere et posteris Imperatoris Caesaris Friderici primi Augusti. In: Ligurini de gestis imperatoris Caesaris Friderici primi Augusti libri decem carmine heroico conscripti [...]. Hg. P. [Augsb.] 1507. Internet-Ed.: VD 16 digital, fol. M ii r-M iii v. – De inclinatione Romani imperii et exterarum gentium, praecipue Germanorum commigrationibus epitome. In: Iordanes: De rebus Gothorum. Paulus Diaconus: De gestis Langobardorum. Hg. P. u. Johannes Stabius. Augsb. 1515. Internet-Ed.: VD 16 digital, fol. [D v] r-v. – Oratio pro sacrosancti imperii civitate Augusta Vindelicorum Imperatori Caesari Charolo [...] Brugis in comitatu Flandrensi pronunciata, [...] epistola olim scripta ad [...] Bernhardinum Carvasalum episcopum [...]. Hg. Petrus Aegidius. Antwerpen 1521. – [Bibliothekskat.e v. ca.1515 mit Nachträgen bis 1522/23 u. v. 1523 mit Nachträgen bis ca. 1545] s. unter Literatur: Künast/Zäh (2003/05). – Eine Faksimile-Ed. der gedruckten Schr.en P.s mit Übers. u. Komm. wird v. Helmut Zäh vorbereitet. – Übersetzungen und Editionen: (Hg.) Ligurini de gestis Imperatoris Caesaris Friderici primi Augusti [...]. 1507, wie oben. – Iordanes, [...]. Paulus Diaconus, [...], 1515. Hg. P. u. J. Stabius, wie oben. – (Übers.) Von ußteylung des Almusens erstmals v. Joanne Oecolampadio in Latin beschribben u. yetz [...] vertütschet [...]. Basel 1524. – (Hg.) [...] Andreae Alciati [...] Emblematum liber. Augsb. 1531.

180 Ausgaben: Briefw. Ges., hg. u. erl. v. Erich König. Mchn. 1923 (Teilausg.). – Romanae vetustatis fragmenta [...]. Augsb. 1505. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Sermones convivales [...]. Straßb. 1506. Internet-Ed.: Ebd. – Dass.: In: Humanismus u. Renaissance. Hg. Hans Rupprich. Bd. 2, Lpz. 1935, S. 100–105 (Auszug). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Paul Joachimsen: Peutingeriana. In: FS Karl Theodor v. Heigel. Mchn. 1903, S. 266–289. – Ders.: Geschichtsauffassung u. Geschichtsschreibung in Dtschld. unter dem Einfluß des Humanismus. Lpz. 1910. Neudr. Aalen 1968, S. 155–219 u. 269–299. – Erich König: Peutingerstudien. Freib. i. Br. 1914. – Clemens Bauer: C. P.s Gutachten zur Monopolfrage. In: ARG 45 (1954), S. 1–43 u. S. 145–196. – Heinrich Lutz: Conrad P. Augsb. 1958. – Alexander Thoneick: Conrad P. Mchn. 1971. – Tabula Peutingeriana. Cod. Vind. 324, 2 Bde., hg. u. komm. v. Ekkehard Weber. Graz 1976. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Lit. u. Hofgesellsch. um Maximilian I. Mchn. 1982, S. 414 (Register). – Franz-Josef Worstbrock: Aus dem Nachl. K. P.s. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitt.en 7 (1983), S. 93–96. – Karin Nehlsen-v. Stryk: Die Monopolgutachten des rechtsgelehrten Humanisten Conrad P. aus dem frühen 16. Jh. In: Ztschr. für Neuere Rechtsgesch. 10,3/4 (1988), S. 1–18. – Ulrich Muhlack: Geschichtswiss. im Humanismus u. in der Aufklärung. Mchn. 1991, S. 458 (Register). – Bernd Mertens: Im Kampf gegen die Monopole. Tüb. 1996. – J.-D. Müller: K. P. u. die Sodalitas Peutingeriana. In: Der poln. Humanismus u. die europ. Sodalitäten. Hg. Stephan Füssel u. Jan Pirozynski. Wiesb. 1997, S. 167–186. – Andreas Gößner: Weltl. Kirchenhoheit u. reichsstädt. Reformation. Bln. 1999. – Hans-Jörg Künast: Die Graphikslg. des Augsburger Stadtschreibers K. P. In: Augsburg. Die Bilderfabrik Europas. Hg. John Roger Paas. Augsb. 2001, S. 11–19 u. 123 f. – Ders. u. J.-D. Müller: P. (Augsburger Patriziat 1538, Reichsadel 1547). In: NDB. – Martin Ott: Die Entdeckung des Altertums. Kallmünz 2002, S. 307 (Register). – Helmut Zäh: K. P. u. Margarethe Welser. Ehe u. Familie im Zeichen des Humanismus. In: Die Welser. Hg. Mark Häberlein u. Johannes Burkhardt. Bln. 2002, S. 449–509. – H.-J. Künast u. H. Zäh (Bd. 2 in Verb. mit Uta Goerlitz u. Christoph Petersen): Die Bibl. K. P.s. Ed. der histor. Kat.e u. Rekonstruktion der Bestände. 2 Bde., Tüb. 2003–05. – H. Zäh: K. P.s Exemplar des Gebetbuchs Kaiser Maximilians (Bibl. Apost. Vat., Ottob. lat. 577). In: PBB 126 (2004), S. 293–316. – H.-J. Künast u. H. Zäh: Die Bibl. v. K. P. Gesch. – Rekonstruktion – Forschungsperspektiven. In: Bibl. u. Wiss. 39 (2006),

181 S. 43–71. – U. Goerlitz: ›Minerva‹ u. das ›iudicium incorruptum‹. Wissensspeicherung u. Wissenserschließung in Bibl. u. Literarischem Nachl. des K. P. (1465–1547). In: Enzyklopädistik 1550–1650. Hg. Martin Schierbaum. Münster 2009, S. 127–172. – Dies.: Maximilian I., K. P. u. die humanist. Mittelalterrezeption. In: JOWG 17 (2009), S. 61–77. – Dies.: Philologie u. Jurisprudenz. Sprachendifferenzierung u. Argumentationsstrategie bei dem Augsburger Humanisten K. P. (1465–1547). In: Jb. der Pirckheimer-Gesellsch. (2009/10, im Druck). – M. Ott: K. P. u. die Inschr.en des röm. Augsburg. In: Humanismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. Gernot Michael Müller. Bln./New York 2010, S. 275–289. – U. Goerlitz: ›...sine aliquo verborum splendore...‹. Überlegungen zur Genese humanist. (Früh-)MA-Rezeption u. zu den Anfängen mediävist. Editorik am Beispiel K. P.s. In: Historiographie des Humanismus: Literar. Verfahren, soziale Praxis, geschichtl. Räume. Hg. Johannes Helmrath, Albrecht Schirrmeister u. Stefan Schlelein. Bln./ New York (in Vorb.). Uta Goerlitz

Pevny, Wilhelm, * 15.6.1944 Wallersdorf/ Niederbayern. – Dramatiker, Erzähler, Drehbuch- u. Hörspielautor, Regisseur. Der aus einer Handwerkerfamilie stammende P. wuchs in Wien auf, studierte dort später Theaterwissenschaft u. arbeitete 1967–1969 als Deutschlehrer in Paris. Er lebt heute in Wien u. in Retz/Niederösterreich. Inspiriert von Samuel Beckett u. Antonin Artaud, widmete sich P. zunächst dem experimentellen Theater u. schrieb Stücke für das von Götz Fritsch gegründete Cafétheater in Wien, darunter Flipper (1968), das Sprachzerstörungsstück Oedip Entsinnung (1969) u. die Shakespeare-Bearbeitung Maß für Maß (1969). sprintorgasmik (1969. Wien 1970. Neue Fassung. Wien 1971), ein »Spiel in drei Teilen«, das zeigen wollte, wie »in der europäischamerikanischen Zivilisation [...] die Sinnlichkeit unterdrückt« wird, wurde u. d. T. Sprint Orgasmics vom La MaMa Experimental Theatre Club in New York uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung dieses »Anti-Bühnenstücks« fand 1971 – zus. mit Rozznjogd des damals noch unbekannten »Heimatdichters« Peter Turrini – am Volkstheater in Wien statt. Rais (Urauff. Mickery Theater, Amsterdam 1972), ein Stück über den Mörder Gilles de Rais, ist für die simul-

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tane Aufführung auf neun Bühnen konzipiert. Als »kleine[n] anfang« eines »kritischen demokratischen theaters auf breiter basis« verstand P. das Stück Nur der Krieg macht es möglich (Wien/Mchn. 1972), dem er »vorbemerkungen zu einer strategie für ein theater vom ›publikum‹ fürs ›publikum‹« voranstellte. Unter Zurücknahme des formalen Experiments verfasste P. in der Folge u. a. das in einem Wohnzimmer des gehobenenen Kleinbürgertums spielende Stück Satisfaction, oder Was bedeutet Mick Jagger Frau Ada Popp (Wien/Mchn. 1973) u. das »Rock-Musical« Zack-Zack oder Da hat doch einer dran gedreht (Musik von den »Quomodos«. Wien/Mchn. 1974). Diese beiden Stücke entstanden in Zusammenarbeit mit Ensemblemitgliedern des Westfälischen Landestheaters in CastropRauxel unter der Intendanz von Hans Dieter Schwarze, wo P. 1973 als Hausautor engagiert war. Zwischen 1974 u. 1979 schrieb P. gemeinsam mit Turrini für das Fernsehen das Drehbuch zu der als kritischer, allgemein verständl. Gesellschaftsanalyse angelegten Alpensaga (ORF/ZDF/SRG 1976–80; Regie: Dieter Berner). Die als antifolklorist. Heimatliteratur verstandene Serie, gegen die von konservativen u. reaktionären Kreisen zahlreiche Vorwürfe u. Anschuldigungen erhoben wurden, behandelt in sechs Episoden (Liebe im Dorf, Der Kaiser am Lande, Das große Fest, Die feindlichen Brüder, Der deutsche Frühling, Ende und Anfang) am Modellfall dreier Generationen einer Familie die histor. Entwicklung eines Dorfes u. seiner Bevölkerung von der beginnenden Industrialisierung um 1900 bis zum Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg (»Wesen, Werden und Sterben des Bauernstandes«). Die in der Reihe »Fernsehspiel-Bibliothek« des Residenz Verlags veröffentlichten Texte (3 Bde., Wien/Salzb. 1980) weichen z.T. erheblich von den Filmversionen ab, entsprechen aber im Wesentlichen den Endfassungen der von den Autoren abgelieferten Drehbücher. Die 1975 u. d. T. Der Dorfschullehrer (Eisenstadt, Wien/Mchn.) erschienene erste Folge wurde in dieser Fassung nie verfilmt. Teile der Fernsehserie wurden mit internat. Preisen ausgezeichnet

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(u. a. Monte Carlo, British Academy of Film nen Ziele. Wollen sich die 68er davonstehlen? Wien 1988 (eine ›Andere Rede über Österreich‹). – Take it and Television). P. schrieb ferner das Drehbuch zu dem easy. Urauff. Wien 1989 (Theaterstück). – Kunst der Film Der Bauer als Millionär (zus. mit P. Tur- Liebe. ORF 1996 (Hörsp.). – Der Traum vom Glück. ORF/BR 1997 (Hörsp.). – Trance. Wien 2000 (R.). – rini. ORF/ARD 1976; Regie: Axel Corti), Keine Zeit fürs Paradies. Urauff. Wien 2001 führte Regie bei Turrinis Film Weihnacht 80 – (Theaterstück). – Luft. Klagenf. 2009 (E.en). Josef und Maria (ORF/ZDF 1980) u. drehte Literatur: Ingrit Seibert (Text) u. Sepp Dreis1985 in Mosambik den Dokumentarfilm Sa- singer (Fotografien): Die Schwierigen. Portraits zur fari. Die Reise (1987). 1986 erschien sein erster österr. Gegenwartskunst. Wien 1986, S. 170–185. – Erzählband, Der Mann, der nicht lieben konnte Christopher J. Wickham: The Business of Survival: (Wien). In seinen Hörspielen beschäftigt sich Aspects of Economy in Turrini/P.’s ›Alpensaga‹. In: P. u. a. mit Störungen der technolog. Ent- ›I Am Too Many People‹. Peter Turrini: Playwright, wicklung unserer Tage (1 Stunde Welt – Eine Poet, Essayist. Hg. u. mit einer Einl. v. Jutta Landa. Störung. ORF/WDR 1999). In der Hörspielpa- Riverside 1998, S. 162–171. – Dieter Berner: Die rabel www.schleinzbach.total (ORF 2000) ver- Alpensaga. In: Helmut Qualtinger. Die Arbeiten für Film u. Fernsehen. Hg. Günther Krenn. Wien 2003, sucht eine Familie, die einen Monat lang S. 181–190. – Arno Rußegger: Die feindl. Brüder. rund um die Uhr mit Kamera u. Mikrophon Zur ›Alpensaga‹ v. Peter Turrini u. W. P. In: Peter begleitet wird, sich gegen den Vorwurf man- Turrini. Schriftsteller. Kämpfer, Künstler, Narr u. gelnder Kultur zu wehren – eine satir. An- Bürger. Hg. Klaus Amann. St. Pölten/Salzb. 2007, spielung auf die im Jahr 2000 von den EU- S. 132–154. Bruno Jahn Staaten beschlossenen Maßnahmen gegen Österreich. Neue experimentelle Radikalität entwi- Peyer, Rudolf, * 2.3.1929 Olten/Kt. Solockelte P. bei der Dramatisierung von Flau- thurn. – Lyriker, Prosaautor, Herausgeberts Roman Bouvard & Pécuchet, die von Jo- ber. seph Hartmann u. Werner Korn 1997 in ihrem »echoraum« in Wien inszeniert wurde, P. besuchte nach der Matura 1945–1949 das wo 1999 auch die Uraufführung von P.s Stück pädagog. Seminar in Solothurn u. arbeitete Das Gastmahl nach der Erzählung Die Toten anschließend als Primarlehrer in Stüsslingen. Es folgte ein Studium von u. a. Deutsch, Gevon James Joyce stattfand. Als »Chronik einer langen Nacht und eines schichte u. Romanistik, das P. nach Zürich, kurzen Tages« legte P. den Roman Palmenland Basel, Florenz u. Paris führte, wo er sich mit (Klagenf. 2008) an, in dem es vordergründig Paul Celan anfreundete. Als Mitgl. des Théâum das Verhör eines Polizeibeamten geht, der tre d’Animation Georges Lafaye nahm er an einen als Mörder Verdächtigten zu stellen einer Tournee durch Skandinavien u. die USA hofft, indem dieser sich im Gespräch selbst teil, bevor er 1961–1964 als Lehrer in Mexiko verrate. Neben der »Philosophie des Gegen- tätig war, wo sein erstes spanischsprachiges teils«, der sich der Verhörte im Kampf gegen Buch entstand. Neben ausgedehnten Reisen die Abgestumpfheit u. in Abkehr von satu- durch Nordafrika u. Nordamerika war es bes. rierter Bequemlichkeit verschrieben hat, be- die Begegnung mit Mexiko, die in P.s Werk schäftigt sich dieser Roman, der ab der Mitte nachhaltige Spuren hinterließ. In seinen als »rückläufige[r] Prozess« gestaltet ist, mit »mexikanischen Notizen« Bis unter die Haut der Frage nach dem Verbindenden zwischen (Zürich/Mchn. 1976) u. in dem Erzählband Abende mit Engelhardt (Zürich/Mchn. 1986) Leben u. Tod. fungieren die trop. Urwälder u. die apokaWeitere Werke: Der Traum vom Glück. Nach lypt. Metropole Mexiko City als intensiv er›Die beiden Nachtwandler‹ v. Johann Nestroy. Urauff. Wien 1978 (Theaterstück). – Schönes Wo- fahrene Gegenwelten zur im Zeichen der chenende. Urauff. Wien 1986 (Theaterstück). – Die Rationalität stehenden europ. Zivilisation. afrikan. Reise. Tanzania. Wien 1987 (literar. Re- Die grelle Präsenz der Naturverfallenheit alportage, zus. mit Hubert Schatzl). – Gewinner, len Lebens verleiht P.s Texten die Ambivalenz Verlierer. Wien/Zürich 1988 (E.en). – Die vergesse- von drohender Auflösung des Ichs u. er-

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sehnter Teilhabe an einer Ganzheit. Aus die- Pezzl, Johann, * 30.11.1756 Mallersdorf/ ser Perspektive ergibt sich der zentrale Stel- Niederbayern, † 9.6.1823 Oberdöbling lenwert der Erotik in P.s Dichtung. In seiner bei Wien. – Romanautor, Satiriker, Bioerot. Lyrik gewinnen die im Sinnenrausch graf, Kulturhistoriker. entgrenzten Körper ihre Zugehörigkeit zu einem geschichtsjenseitigen kosm. Zusam- P., Sohn eines Klosterbäckers, besuchte 1768 menhang zurück u. dienen als Medien der bis 1775 das fürstbischöfl. Gymnasium in Freising. Anschließend trat er in den BeneSelbstartikulation der Schöpfung. P. bevorzugt in seiner Formensprache das diktinerorden ein (Oberalteich), verließ ihn frei rhythmische, reimlose Gedicht. Die oft jedoch nach dem einjährigen Noviziat in recht kurzen Texte sind teilweise zu themat. Scheyern u. studierte seit Ende 1776 in SalzZyklen zusammengefasst. Neben der Liebes- burg Jura. Seine Klostererfahrungen verarlyrik sind die der bildenden Kunst gewid- beitete er in seinem ersten Roman, Briefe aus dem Novizziat (3 Bde., [Zürich] 1780–82), der meten Gedichte hervorzuheben. P.s Texte verstehen sich als eine Schule der in Kurbayern sofort verboten wurde. In der Sinnlichkeit, die sich mit großer Sensibilität polemischen, gelegentlich historisierenden, seit je der ökolog. Gefährdung durch die das Mönchsleben beschreibenden Chronique Ausbeutung von Ressourcen u. den techn. scandaleuse stellte P. gegen die Existenzform Fortschritt angenommen hat. Seit 1979 hat P. des weltabgewandten Mönchs das Ideal des u. d. T. Störfälle kritische, teils satirisch zuge- aufgeklärten, kosmopolit., deist. Bürgers. Mitte 1780, als eine geistl. Untersuspitzte Aphorismen publiziert (gesammelt: chungskommission gegen ihn ermittelte, Zürich 2004), die in gelegentlich sarkast. Ton verließ P. Salzburg u. ging als Zeitungsregesellschaftl. »Errungenschaften« aufgreifen (»Unter Flaschen fühlen sich Retorten-Babies dakteur u. Übersetzer zur Verlagsbuchhandunter Müttern.«) Als Antidot gegen die tech- lung Orell, Füssli, Gessner u. Cie. nach Zünolog. Hybris gelten P. die literar. Zeugnisse rich. Nach Beginn des »Tauwetters« in der präkolumbian. Kultur, die er in mehreren Österreich setzte er alle Hoffnung auf Joseph II. Als Sprungbrett nach Wien sollte ihm eine Anthologien zusammengestellt hat. Nach seiner Rückkehr aus Mexiko war P. lange Apologie des Reformmonarchen in bis 1988 Lehrer an verschiedenen Schulen in seinem bedeutendsten Roman Faustin oder das der Schweiz. Heute lebt er in Reinach bei philosophische Jahrhundert ([Zürich] 1783. Neudr. mit Nachw. u. Anhang v. Wolfgang Basel u. in Spanien. Weitere Werke: Un Domingo en Los Remedios. Griep. Hildesh. 1982) dienen, der in wenigen Mexiko City 1964. – Erdzeit. Zürich/Mchn. 1973 Jahren vier Auflagen, mehrere Nachdrucke, (L.). – Gleich nebenan. Zürich/Mchn. 1974 (P.). – eine Übersetzung ins Französische sowie Windstriche. Zürich/Mchn. 1979 (L.). – Stein- Nachahmungen u. Fortsetzungen von andeschrift. Zürich/Mchn. 1983 (L.). – Mit Haut u. Haar. ren Autoren erlebte. In betonter Absetzung Gerlafingen 1989 (L.). – Augenmaß. Zürich/Mchn. von der Empfindsamkeit schrieb P. ein phi1990 (L.). – Cuerpo a cuerpo. Mit Haut u. Haar. losophisch-satirisches, mit kolportagehaften Havanna 2002 (L.). – Herausgeberschaften: Mexiko Elementen des traditionellen Abenteurer- u. erzählt. Tüb./Basel 1978. Erw. Neuausg. Mchn. Episodenromans strukturiertes Werk, eine 1992. – Die Inkaländer erzählen. Mchn. 1993. »Skizze der letzten konvulsivischen BeweLiteratur: Rainer Stöckli: Nachw. In: R. P. Mit Haut u. Haar 1989 (s. o.), S. 70–74. – Jürgen Egyp- gungen des sterbenden Aberglaubens, Fanatism, Pfaffentrugs, Despotendrucks und Vertien: R. P. In: KLG. Jürgen Egyptien folgungsgeistes«. Durch die Integration zahlreicher histor. Ereignisse zwischen 1773 (Aufhebung des Jesuitenordens) u. 1783 wurde eine historiograf. Erzählweise fingiert (beeinflusst durch Wezels Belphegor von 1776). Ideologisch-thematisches Vorbild für Faustin war Voltaires Candide (1759) mit seiner skep-

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tisch-iron. Infragestellung der Leibniz’schen Theodizee. Ende 1783 kam P. nach Wien u. fand über Blumauer Zugang zu freimaurerisch-literar. Kreisen. 1784 erschien seine aufsehenerregende Reise durch den Baierschen Kreis (Salzb./ Lpz., recte Zürich. Neudr. mit Anhang v. Josef Pfennigmann. Mchn. 1973). In diesem Reisebericht teilte P. in Briefform Beobachtungen über »Sittlichkeit, Aufklärung, Volkscharakter und Nationaldenkart« mit, wobei er versuchte, unvoreingenommen die ökonomischen, sozialen, volkskulturellen sowie religiösen Verhältnisse darzustellen. Anfang April 1785 erhielt er eine gesicherte Anstellung als Vorleser, Bibliothekar u. Sekretär Wenzel Anton Graf Kaunitz’. Seit 1791 war er Beamter in der Chiffrekanzlei (Briefspionage); zgl. zog er sich mehr u. mehr aus dem öffentlichen u. literar. Leben zurück. Zuvor hatte er zu den Auseinandersetzungen zwischen aufklärerischem Katholizismus u. Protestantismus Stellung genommen: In den fiktiven, nach Montesquieus Lettres persanes modellierten Marokkanischen Briefen (Ffm./ Lpz., recte Zürich 1784) übte er Kritik an Erscheinungsformen des Katholizismus, an der protestant. Orthodoxie u. dem Kern der luth. Theologie u. plädierte für eine »säkularisierte« Religion; in den Vertrauten Briefen über Katholiken und Protestanten (Straßb./Wien 1787) griff er den Dogmatismus der protestant. Berliner Aufklärer gegenüber dem Katholizismus an. P.s wachsende Enttäuschung über die Entwicklung der Aufklärung, ihren Umschlag in Restauration, lässt sich an der Charakteristik Josephs II. (= Bd. 1 der Österreichischen Biographien) ablesen. Sein Skeptizismus gipfelte in dem Roman Ulrich von Unkenbach und seine Steckenpferde (2 Bde., Wien 1800–02). P. ironisierte, formal ähnlich der episodischen u. pragmat. Struktur des Faustin, alle geistigen u. literar. Moden seit den 1770er Jahren am Leitfaden der Biografie eines gelehrigen Adligen: vom Geniekult des Sturm u. Drang über die Physiognomik u. den Philanthropinismus bis zur Transzendentalphilosophie Kants u. der Ich-Philosophie Fichtes. P.s bedeutendstes Werk der Wiener Jahre ist die von Merciers Tableau de Paris (1781 ff.)

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inspirierte Skizze von Wien (6 H.e, Wien 1786–90. Gekürzter Neudr. hg. v. Gustav Gugitz u. Anton Schlossar. Graz 1923), eine feuilletonistisch geschriebene Kultur- u. Sozialgeschichte der Großstadt. P. hatte mit ihr einen solchen Erfolg, dass er weitere handbuchartige Beschreibungen Wiens verfasste (z.B. Beschreibung und Grundriß der Haupt- und Residenzstadt Wien. Wien 1802. 81841). Das Werk P.s, lange Zeit vergessen, wurde in den 1970er u. 1980er Jahren mit der Erforschung der Prosa des Josephinismus neu entdeckt u. als wichtiger Beitrag Bayerns/ Österreichs zur dt. Aufklärungsprosa gewürdigt. Weitere Werke: Schatten u. Licht. Epilog zu den wienerschen Maurerschr.en. Wien 1786. – Biogr. Denkmal Riesbecks [...]. Kempten, recte Wien 1786. – Denkmal an Maximilian Stoll [...]. Hg. Aloys Blumauer. Wien 1788. – Österr. Biogr.n. 4 Bde., Wien 1791/92. – Gesch. u. Leben Papst Pius VI. Wien 1799. – Gabriel, oder die Stiefmutter Natur. Lpz. 1810 (R.). Literatur: Gustav Gugitz: J. P. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 16 (1906), S. 164–217. – Ludwig Frank: J. P.s ›Faustin‹ u. seine Nachahmungen. Diss. Wien 1912. – Kamilla Banik: J. P. Diss. Wien 1935. – Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik. Mchn. 1968. – Werner M. Bauer: Bekämpfte u. erfundene Welt. Zum österr. Roman des ausgehenden 18. Jh. In: Sprachkunst 6 (1975), Bd. 1, S. 1–36. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. 1977. – W. M. Bauer: Fiktion u. Polemik. Wien 1978. – Christoph Siegrist: Antitheodizee u. Zeitkritik. Zur Situierung v. P.s Roman ›Faustin‹. In: Zeman 2,2, S. 829–851. – Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der ›Lettres persanes‹ [...]. Tl. 2/11, Ffm./Bern/Las Vegas 1979, S. 251–279. – Sigrid Schmid-Bortenschlager: Voltaires ›Candide ou l’optimisme‹ u. J. P.s ›Faustin oder das philosophische Jahrhundert‹. Parallelen u. Differenzen. In: Sprachkunst 27 (1996), S. 203–215. – Bernhard Budde: Preis der Vernunft. Zur Revue der europ. Absurditäten u. Bestialitäten in J. P.s Roman ›Faustin oder das philosophische Jahrhundert‹. In: Sprachkunst 32 (2001), S. 193–211. – C. Siegrist: P. In: NDB. – Clarissa Höschel: Wie J. P. vom Benediktinernovizen zum Freimaurer, Satiriker u. Staatsbeamten wurde. In: Lit. in Bayern 22 (2006), S. 38–46. Wilhelm Haefs / Red.

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Der Pfaffe mit der Schnur (A und C). – Spätmittelalterliche Kurzerzählung aus dem 15. Jh.

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Die Kurzerzählung operiert mit den Motiven des international verbreiteten Stoffes der listigen Rettung aus drohender Gefahr: Ein Liebhaber – hier der Geistliche als gattungstypischer Verführer – wird von der Frau vor dem gehörnten Ehemann gerettet, sich selbst vermag sie ebenso schlau u. neuerlich durch eine Substitutionslist ebenfalls in Sicherheit zu bringen, um dann das ehebrecherische Stelldichein doch noch zu verwirklichen u. schließlich sogar ihren Mann erneut zu düpieren, zu misshandeln u. dauerhaft einzuschüchtern. Dabei manipuliert sie als Typus des »übelen wîbes« nicht nur den mehrfach betrogenen Gatten, sondern auch die Öffentlichkeit in Gestalt der Freunde u. Verwandten.

Das anonym überlieferte Schwankmäre liegt in drei Fassungen (A, B u. C; zu B s. Schweizer Anonymus) vor, die sich in Umfang u. Inhalt stark unterscheiden. Die Fassungen A u. C sind in vier Handschriften überliefert. Bereits im 13. Jh. hat Herrand von Wildonie eine eigenwillige Bearbeitung des Stoffes vorgelegt. Eine schöne Bäuerin verabredet sich mit einem Geistlichen zu einer Liebesnacht. Ihren Mann macht sie betrunken, sich selbst bindet sie eine aus dem Haus heraushängende Schnur an den Zeh, an der der Kleriker ziehen soll, um sie zu wecken. Der Ehemann jedoch entdeckt die Schnur u. knüpft sie an seinen Ausgaben: Alle Fassungen: Rosemarie Moor: eigenen Fuß, um den Liebesdieb zu fassen. Der Pfaffe mit der Schnur. Fallstudie eines Märes. Als der Geistliche an der Schnur zieht, wird er Bern u. a. 1986. – Thomas Cramer (Hg.): Mærenvom Mann eingelassen u. unter Prügeln Dichtung. 2 Bde., Mchn. 1979; Bd. 2, S. 116–152. festgehalten. Der Lärm weckt die Frau, die Literatur: Rolf Max Kully: D. P. m. d. S. In: VL. auf Geheiß ihres Mannes Licht anzünden soll. – Moor 1986 (s. o.). – Corinna Laude: ›Das femd Sie täuscht vor, das nicht zu können, u. volk das plib alts herauß‹. Überlegungen zum tauscht den Kleriker gegen einen Esel aus, Wandel der Öffentlichkeitsdarstellung in der spätwährend ihr Mann selbst das Licht holt. Er- mittelalterl. u. frühneuzeitl. Kurzerzählung. In: bost über den Betrug schlägt er sie u. wirft sie Euph. 100 (2006), S. 303–331, hier S. 307 f. Corinna Laude aus dem Haus, wo ein altes Mütterchen sich um die Weinende kümmert. Die junge überredet die alte Frau, ihre Stelle einzunehmen, Pfarrer von Kalenburg ! Frankfurter, u. kann dadurch die Nacht doch noch mit Philipp dem Geistlichen verbringen. Durch das stellvertretende Wehklagen der Alten geweckt, verprügelt der Bauer sie u. schneidet ihr als Pfau, (Karl) Ludwig, * 25.8.1821 HeilBeweis für die nächtl. Vorfälle den Zopf ab, bronn, † 12.4.1894 Stuttgart. – Lyriker, den er am Morgen seinen Verwandten u. Publizist, Übersetzer. Freunden präsentierten möchte. Bei Tages- Nach dem Abitur ließ sich P. im väterl. Geanbruch kehrt die Bäuerin zurück u. entlohnt werbe des Kunstgärtners ausbilden, zum die alte Frau für ihre Leiden. Den einbestell- Schluss in Paris; hier entstanden erste draten Freunden u. Verwandten kann sie u. a. mat. Versuche. 1841 zurückgekehrt, schrieb durch das Vorweisen ihres ungekürzten, er Gedichte im Stil der Schwäbischen Romanblonden Zopfes einreden, dass ihr Mann von tik (Ffm. 1847. Stgt. 41889). Nach philosoph. einem bösen Geist besessen sei u. Wahnvor- Studien in Tübingen u. Heidelberg wandte stellungen entwickelt habe, woraufhin er von sich P. dem Journalismus zu. Als schriftgeihnen in die Kirche geschafft wird, in der ihn wandter Parteigänger des Vormärz erwarb er der Geistliche (in A mit Unterstützung der sich publizist. Meriten mit der Herausgabe Ehefrau) grausam exorziert. Um weiteren des karikaturist. Wochenblatts »EulenspieQualen zu entgehen, widerruft er seine Aus- gel« (Stgt. 1848–50), des ersten seiner Art in sage über den Ehebruch u. verschließt künf- Deutschland. P.s Lyrik wandelte sich nun von tig aus Angst vor einem neuerl. Exorzismus der spätromant. Idylle zur polit. Attacke. Zu die Augen vor dem Treiben seiner Frau. den zuerst im »Eulenspiegel« (1849) publi-

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zierten Gedichten gehörte das bittere sog. Reminiszenzen, Kontrafakturen in Gedichten L. Badische Wiegenlied: »Schlaf’ mein Kind, P.s. In: HeineJb. 28 (1989), S. 158–197. – L. P.schlaf’ leis, Dort draußen geht der Preuß’!« Blätter. Bearb. Ludwig Emig. Bd. 1–3, Heilbr. Dieses u. viele andere seiner Gedichte wurden 1992/93. – L. P.: Ein schwäb. Radikaler 1821–94. Bearb. Michael Kienzle u. Dirk Mende. Marbach a. vertont (bisher mehr als 300 Kompositionen N. 1994. – Thomas Fricke: Zensur in der Revoluerfasst). Kennzeichnend für seine Haltung tionszeit 1848/49: der Prozeß gegen L. P. als Resind seine Gedenkrede auf den in Wien hin- dakteur des politisch-satir. Karikaturenblattes ›Der gerichteten Robert Blum (Ein Totenkranz auf Eulenspiegel‹. Online-Ressource. Stuttgart: Landas Grab Robert Blum’s. Heilbr. 1849) oder desarchivdirektion Baden-Württemberg. – K. FinVerse auf Ludwig Börne (Börne in Paris, 1846. gerhut: ›Die ganze Welt wird frei und bankrott‹: In: Ausgewählte Werke, 1993, s. u., S. 45 f.). Die Heinrich Heine, Georg Herwegh, L. P., Justinus Niederschlagung der 48er-Revolution, an der Kerner u. die unglückl. poet. Kommentierungen er aktiv teilgenommen hatte, erzwang seine der verunglückten Revolution v. 1848. In: 1848 – Lit., Kunst u. Freiheit im europ. Rahmen. Hg. Flucht ins Pariser Exil. Hier setzte er seine Hartmut Melenk. Freib. i. Br. 1998, S. 39–62. – journalist. Tätigkeit als Kunstkritiker ver- Beate Kube: Der Menschheit verpflichtet: L. P. schiedener Zeitschriften fort (u. a. »Temps«). (1821–94). In: Heilbronner Köpfe 1999, S. 93–110. Daneben brillierte er als Übersetzer frz. Lite- – Ulrich Maier: ›Borussiam esse delendam‹: L. P. ratur, der mit der Übertragung von Claude In: Vom Fels zum Meer. Preußen u. SüdwestTilliers Mein Onkel Benjamin (Stgt. 1866) gro- dtschld. Hg. vom Haus der Gesch. Baden-Würtßen Erfolg beim dt. Lesepublikum erzielte u. temberg in Verb. mit der Landeshauptstadt Stuttvorher bereits eine Schrift von Pierre-Joseph gart. Tüb. 2002, S. 133–153. – Ron Speirs: An Old Forty-Eighter in Bismarck’s Empire: The Two Proudhon auf deutsch herausgebracht hatte Versions of L. P.’s ›Centralisation und Föderation‹. (Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der In: Denkbilder [...]. FS Eoin Bourke. Hg. Hermann Kirche. 2 Bde., Hbg./Zürich 1868, 1860). In Rasche u. Christiane Schönfeld. Würzb. 2004, seinen kunsthistor. Studien machte er sich S. 118–125. Walter Weber / Wilhelm Kühlmann um die Entdeckung der Fotografie als eines ästhet. Mediums verdient. Nach Amnestie 1863 zurückgekehrt, ließ Pfeffel, Gottlieb Konrad, * 28.6.1736 Colsich P. in Stuttgart nieder. Er gehörte zu den mar, † 1.5.1809 Colmar. – Fabeldichter, Gründern der Schwäbischen Volkspartei, de- Lyriker, Dramatiker, Pädagoge. ren Organ »Der Beobachter« er redigierte. Aus einem gebildeten elsäss. Bürgerhaus Seine liberal-kosmopolit. Haltung u. die stammend, war P. schon durch seine Herscharfzüngigen Polemiken gegen die preuß. kunft disponiert für jene Verbindung von dt. Machtpolitik ließen P. wieder mit der Justiz Kultur u. frz. Politik, die sein Leben u. Werk aneinandergeraten (mehrere Haftstrafen). prägte. Der Vater, aufgewachsen in einem Allen staatl. Reglementierungen zum Trotz protestant. Pfarrhaus im Badischen, starb als erwarb der streitbare, zuletzt verarmte Puhoher Beamter im frz. Auswärtigen Dienst blizist beträchtl. Popularität; 1891 wurde er zwei Jahre nach P.s Geburt. Die Mutter Ehrenbürger seiner Vaterstadt. stammte aus einer Straßburger KaufmannsWeitere Werke: Freie Studien. Stgt. 1866, 2. familie. Als jüngstes von fünf Kindern beumgearb. Aufl. 1874. – Kunst u. Kritik. Ästhet. suchte P. zunächst das Colmarer Gymnasium, Schr.en. Bd. 1: Maler u. Gemälde; Bd. 2: Bild- u. erhielt darauf Privatunterricht u. begann Bauwerke; Bd. 6: Literar. u. histor. Skizzen. [Bd. 3–5 nicht erschienen]. Stgt. 1888. – Politisches 1751 ein Studium der Rechte in Halle, um wie u. Polemisches. Stgt. 1895. – Ausgew. Werke. Hg. der Vater eine diplomat. Laufbahn einzuschlagen. Doch musste er schon 1753 infolge Rainer Moritz. Tüb./Stgt. 1993. Literatur: Erich Weinstock: L. P. Heilbr. 1975. eines Augenleidens, das 1758 zur völligen – Reinald Ullmann: L. P. Monogr. eines vergesse- Erblindung führte, das Studium abbrechen. nen Autors. Ffm. u. a. 1987 (umfassend, mit Werk- Über Dresden u. Leipzig, wo er sein zeitleu. Quellenverz.). – Karlheinz Fingerhut: Der im bens verehrtes Vorbild Gellert besuchte, Zitat anwesende Heinrich Heine. Anspielungen, kehrte er 1754 in seine Heimatstadt zurück,

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die er bis auf kurze Reisen nicht mehr verließ. Trotz seiner schweren Behinderung begann er sich als Schriftsteller zu etablieren, selbstlos unterstützt von Margarethe Cleophe Divoux, die er 1759 heiratete. Nicht zuletzt um seine Familie zu ernähren (von 13 Kindern überlebten sechs), gründete P. 1773 in Colmar seine »École militaire« (seit 1782 »Académie militaire«) für (meist adelige) Knaben protestantischen Bekenntnisses, denen die Pariser Militärakademie verschlossen war. Obgleich die Schule äußerlich nach militärischem Komment organisiert war, glich sie in ihrer an Rousseau orientierten, ganzheitl. Erziehungskonzeption u. ihrer Zielrichtung auf eine moralische Charakterbildung weniger einer Kadettenanstalt als den gleichzeitigen Philanthropinen in Marschlins u. Dessau. So zog sie zahlreiche prominente Besucher aus ganz Europa von Joseph II. bis zu Wilhelm von Humboldt an (vgl. P.s Fremdenbuch. Hg. Heino Pfannenschmid. Colmar 1892) u. beförderte auch P.s Ruhm als Schriftsteller: Zu Sophie von La Roche, Johann Georg Jacobi u. Johann Georg Schlosser knüpfte er Freundschaften, wichtige Zeitschriften standen ihm offen, wie Wielands »Neuer Teutscher Merkur«, Jacobis »Iris«, Schubarts »Teutsche Chronik« u. Voß’ »Göttinger Musenalmanach« (in dem 1782 sein wohl populärstes Gedicht, Die Tobakspfeife, erschien, ein empfindsam-heiteres Loblied auf den natürl. Altruismus); Cotta veranstaltete eine große Werkausgabe. Nachdem ihn schon 1763 der Darmstädter Landgraf zum Hofrat ernannt hatte, beriefen ihn 1788 die Berliner Akademie der Künste u. 1808 die Münchner Akademie der Wissenschaften zum Ehrenmitglied. Eng waren P.s Verbindungen zur Schweizer Spätaufklärung um Lavater in Zürich sowie Jacob Sarasin u. Isaak Iselin in Basel; 1776 wurde er Mitgl. der »Helvetischen Gesellschaft« in Schinznach. Eher reserviert verhielt sich P. gegenüber den Straßburger Stürmern und Drängern (außer zu Lenz) wie auch später gegenüber den Weimarer Klassikern; von ihnen trennte ihn nicht nur sein an die Gellert-Periode gebundenes Dichtungsverständnis, sondern auch seine Religiosität. Obgleich überzeugter Aufklärer, blieb P. stets

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zgl. gläubiger u. praktizierender Christ. Als Student hatte er Spaldings Entwurf einer Vernunftreligion, die Gedanken über die Bestimmung des Menschen, ins Französische übersetzt, in seiner Schule behielt er sich den Religionsunterricht vor, u. später bekleidete er hohe Ämter in der elsäss. Kirchenverwaltung. In seinen postum veröffentlichten Briefen über die Religion an Bettina (Basel 1824) verbindet er das Vertrauen in die Kraft der Vernunft mit einem Christenglauben, der nicht wie Deismus u. Pantheismus die Gestalt Gottes auflöst u. sich, eher pietistisch gefärbt, in gelebter Fömmigkeit beweist. Als überzeugter Republikaner begrüßte er die Französische Revolution, die er als frz. Staatsbürger u. Patriot auch gegen die Koalitionsmächte verteidigte, obgleich er ihre radikale Eskalation ablehnte. Vom Colmarer Jakobinerklub persönlich bedroht, musste er 1792 seine Militärakademie schließen u. verlor während der Assignatenwirtschaft fast sein ganzes Vermögen. Mit Brotarbeit für Cottas Unterhaltungsblätter u. seit 1801 mit Übersetzungen für die Präfektur hielt er sich mühsam über Wasser, bis ihm drei Jahre vor seinem Tod Napoleon ein Stipendium aussetzte. Seine literar. Laufbahn begann P. in den 1760er Jahren: Er übersetzte vom Französischen ins Deutsche (Theatralische Belustigungen. 5 Bde., Ffm./Lpz. 1765–74) u. umgekehrt (Lichtwer: Fables nouvelles. Straßb. 1763), er edierte eine Allgemeine Bibliothek des Schönen und Guten (Basel/Colmar 1764) mit Texten u. a. von Gleim, Gellert, Lessing, Wieland sowie das Historische Magazin für den Verstand und das Herz (Straßb. 1764. 21792), eine zweisprachige Anekdotensammlung für den Schulgebrauch, u. er begann selbst zu schreiben. Während drei Schauspiele in Rokokomanier ohne Resonanz blieben, hatte P. mit Gelegenheitsgedichten, die Freunde ohne sein Wissen seit 1759 in der Straßburger Wochenschrift »Der Sammler« drucken ließen, Erfolg, sodass er sich 1761 zur Veröffentlichung einer dreibändigen Sammlung u. d. T. Poetische Versuche (Ffm.) entschloss. Diese Sammlung ergänzte u. veränderte P. später mehrfach, indem er inzwischen erschienene Gedicht- u. Fabelbände berück-

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sichtigte. Ihre vierte, 1802–1810 bei Cotta in Formgefüge löste u. für Übergänge zur pazehn Bänden erschienene Auflage, die etwa rabelhaften Verserzählung wie zur Prosasati1100 Texte, davon etwa ein Drittel Übertra- re öffnete (Teilsammlungen: Politische Fabeln gungen, enthält, kann als Ausgabe letzter und Erzählungen in Versen. Hg. Helmut Popp. Hand verstanden werden u. gibt einen re- Nördlingen 1987. Biographie eines Pudels und präsentativen Überblick über P.s Œuvre in andere Satiren und Fabeln. Hg. Walter E. Schägebundener Rede. Ihr steht die 1810–1812 fer. Ebenhausen 1987). ebenfalls zehnbändig bei Cotta erschienene Literatur: G. K. P.: Satiriker u. Philanthrop Ausgabe der Prosaischen Versuche zur Seite, in (1736–1809). Karlsr. 1986 (Ausstellungskat. mit der über 50, oft rührselige Ritter-, Kloster- u. Werkverz. u. Bibliogr.). – Gonthier-Louis Fink: P. Liebesgeschichten versammelt sind, die P. et la Révolution française. In: RG 17 (1987), meist anonym oder pseud. zu Cottas Frau- S. 121–153. – Zwischen Direktorium u. Empire. enzimmerzeitschrift »Flora« (1793–98) bzw. Die Briefe G. K. P.s an Johann Gottfried Schweighäuser (1795–1808). Aus den Hss. hg. u. erl. v. zu den »Vierteljährlichen Unterhaltungen« Wilhelm Kühlmann u. Walter Ernst Schäfer. Hei(1804/05) beigesteuert hatte. delb. 1992 (mit vollst. Bibliogr. der Forsch.). – W. E. Schon in der ersten Fassung der Poetischen Schäfer: P. In: NDB. – Gabriel Braeuner: P., l’euVersuche finden sich neben den später weit- ropéen. Esprit français et culture allemande en Algehend zurückgenommenen anakreont. sace au XVIIIe siècle. Straßb. 1994. – W. Kühlmann Tändeleien, empfindsamen Balladen u. Ro- u. W. E. Schäfer: Zum Projekt eines Repertoriums manzen, lehrhaften Idyllen u. Versepisteln der Korrespondenz v. G. K. P. (1736–1809). In: erste Proben jenes Genres, in dem P.s spezi- Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hanselle Begabung lag u. das er in charakteristi- Gert Roloff. 2. Teil, Amsterd. 1997, S. 1055–1063. – scher Weise weiterentwickelte: der Fabel. G. K. P. Signaturen der Spätaufklärung am Oberrhein. Hg. Achim Aurnhammer u. W. Kühlmann. Meist in gereimten fünfhebigen Jamben ohne Freib. i. Br. 2010. Martin Rector Strophengliederung, entfernten sich P.s Fabeln vom Gellert’schen Vorbild, der moralkrit. Entlarvung von Eitelkeit, Eigennutz u. Pfefferkorn, Georg Michael, * 1646 Ifta Heuchelei im Sinne eines bürgerlich-empbei Eisenach, † 3.3.1732 Gräfentonna. – findsamen Tugendkatalogs, u. entwickelten Evangelischer Theologe, Gelegenheits- u. sich zur detailfreudigen, oft satir. Attacke Kirchenlieddichter, Rhetoriker u. Poetogegen die spätfeudale Gesellschaftsordnung loge. des Ancien Régime. Anders als noch Lessing die Gattung festlegen wollte, nahm P. den P. verdient v. a. aufgrund seines typischen Tiergebrauch weitgehend zugunsten eines Lebenslaufs histor. Interesse. Er stammte aus historischen u. polit. Klartextes zurück u. einer thüring. Pfarrersfamilie, studierte in ersetzte das Fabula docet, die Illustrierung Jena Theologie (Deposition am 15.3.1662, eines allgemeingültigen Lehrsatzes, durch Immatrikulation im Sommer 1664), wo er die Aufdeckung des Negativen u. einen im- mit einer Disputation am 14.2.1666 (Philopliziten Handlungsaufruf. Die im Jahr des sophema de abstractione. Präses: Johann ChrisBastille-Sturms entstandene Fabel Der Tanz- toph Hundeshagen; Autor: G. M. P.) den bär, die ein von Gellert wie Lessing benutztes Magistergrad erwarb. P. wurde Informator, Motiv variiert, endet mit den Zeilen: »Ihr dann Lehrer am Gymnasium, schließlich Zwingherrn bebt! Es kömmt der Tag / An 1673 Prinzenerzieher in Altenburg u. Gotha. dem der Sklave seine Ketten / Zerbrechen 1676 bekam er eine Pfarre in Friemar, 1682 in wird, und dann vermag / Euch nichts vor Gräfentonna, wo er auch Mitgl. des Konsisseiner Wuth zu retten.« Auch wenn seine toriums wurde. 1729 löste ihn sein SchwieFabeln den Prozess der Revolution in den gersohn im Amt ab. folgenden Jahren zunehmend ablehnend Der Poeta laureatus (um 1666) schrieb Gekommentierten, so rettete P. doch noch in der legenheitsgedichte, wobei er das VerseJakobinerschelte das politisch-krit. Potential schreiben gegen kirchl. Verdikte verteidigte, der Gattung, die er aus ihrem tradierten verfasste praxisorientierte Anleitungen zur

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Poesie (Kurze Anleitung in kurzer Zeit einen reinen teutschen Verß zu machen [...]. Altenburg 1669) u. Rhetorik, arrangierte theolog. Texte u. legte eine gelehrt-polit. Beschreibung Thüringens vor (Merkwürdige und auserlesene Geschichte von der berümten Landgrafschaft Thüringen [...]. Ffm./Gotha 1684 u. ö.). Mit zwei Kirchenliedern, Was frag ich nach der Welt und allen ihren Schätzen (um 1735 von Bach vertont) u. Ach wie betrübt sind fromme Seelen, stand er lange im Gesangbuch. Weitere Werke: M. G.-M.-P.s Kaiserl. gekrönt. Poetens [...] Poet. u. philolog. Fest- u. Wochen-Lust, oder teutsche Gedichte [...]. Altenburg 1667 u. ö. – Jesuit. Kukuks-ruff, das ist, funffzehen [...] Religions-Fragen, umständlich [...] nochmaln beantwortet [...]. Zum andern mal, nach fleißiger Ubersehung des Autoris, wieder auffgelegt [...] zusammen getragen v. M. Georgio Michaele Pfefferkornio. Altenburg 1671. – Pleißn. Ehren-Kränze, oder Abdankungs-Reden [...]. Altenburg 1672 u. ö. – Kurtze Anleitung u. Vorrath v. Beyspielen, letzten Reden, alten Gebräuchen, Sinnbildern, denckwürdigen Sprüchen, u. Rede-Formulen zu Leich-Abdanckungen [...]. Altenburg 1673 (31690 u. 1705 u. d. T.: Kurtze doch unvorgreiffl. Anweisung zu teutschen Leich-Reden [...]). Ausgabe: Merkwürdige u. auserlesene Gesch. v. der berümten Landgrafschaft Thüringen [...] (1685). Nachdr. Genschmar 2004. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Schumann: G. M. P. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 80, 219, 440. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1521–1523. Uwe-K. Ketelsen / Red.

Pfefferkorn, Johannes, auch lat.: Pepericornus, * ca. 1468/69, † 22.10.1521 Köln. – Verfasser antijudaistischer Flugschriften u. Pamphlete. Wo P., Sohn jüd. Eltern, geboren wurde, konnte bis heute nicht ermittelt werden. Aufgewachsen ist er nach eigenen Angaben bei einem Onkel, einem sonst nicht bekannten Rabbiner Meir Pfefferkorn. 1504 konvertierte er mit seiner Frau zum Christentum. Mit der Taufe legte er seinen alten Vornamen Josef ab u. nahm den Namen Johannes an; seine Frau wählte den Namen Anna. Von den Kindern, die aus der Ehe hervorgingen, ist nur ein Sohn mit dem Taufnamen Laurentius bekannt. Spätestens seit 1507, dem Erschei-

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nungsjahr des Judenspiegels, seiner ersten Veröffentlichung, lebte P. in Köln, wo auch fast alle seine späteren Schriften gedruckt wurden. Als frühere Aufenthaltsorte sind Nürnberg u. Dachau nachgewiesen. Von 1513 bis zu seinem Tode stand P. als Spitalmeister, also in einem Amt der städt. Sozialfürsorge, in Diensten der Stadt Köln. Welchen berufl. Tätigkeiten P. vorher (vor u. nach seiner Taufe) nachgegangen ist, liegt im Dunkeln. Was darüber in älteren biogr. Abrissen angedeutet wird, geht auf polemische, persönl. Herabsetzung bezweckende Äußerungen seiner Gegner zurück, z.B. Johannes Reuchlins, der in seiner 1513 erschienenen Defensio schreibt, P. sei erst »banausischer Metzger« (»banausus lanio«), danach »Sackträger in einer Mühle« oder »Salzabwieger« bzw. »Salzmesser« in Köln (»vel saccularius in pistrino, vel salipensor Coloniensis«) gewesen. Der größte Teil seiner z.T. auch in lat. Übersetzung erschienenen polem. Schriften gegen das Judentum entstand in den Jahren nach 1511, in den Auseinandersetzungen um das Gutachten, mit dem sich Reuchlin gegen die von P. mit Genehmigung Kaiser Maximilians I. betriebene Konfiskation jüd. Bücher, insbes. des Talmud, ausgesprochen hatte. Die vier Schriften, die davor, in den Jahren 1507–1509, in geistiger Nähe zum Orden der Franziskanerobservanten, entstanden sind, können als publizist. Vorbereitung dieser Aktivitäten verstanden werden, denn diese waren nur eine der Konsequenzen, die sich aus den in jenen Schriften mit zunehmender Radikalität formulierten Gedanken ergaben. Seine Erstlingsschrift, der Judenspiegel (Köln 1507), ist in ihrem ersten Teil eine predigtartige Ermahnung an die Juden, von ihrem Glauben, der sich durch das Erscheinen Jesu, als des tatsächl. Messias, erledigt habe, abzulassen u. sich zum Evangelium zu bekennnen. Im zweiten Teil seiner Schrift fordert P. die Christen bzw. deren weltl. Obrigkeiten auf, den Juden den seiner Meinung nach schädl. Geldhandel zu untersagen u. durch Anwendung geeigneter Maßnahmen auf ihre Bekehrung zum christl. Glauben u. damit auf ihr Seelenheil hinzuwirken. Zu

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diesen Maßnahmen gehöre neben der Zwangspredigt auch die Einziehung ihrer religiösen Schriften mit Ausnahme der Bibel, nicht nur weil jene Schriften sie nur in ihrem falschen Glauben bestärkten, sondern weil darin auch Jesus, die Jungfrau Maria u. die christl. Glaubenslehren verächtlich gemacht würden. Die beiden folgenden Schriften, Judenbeicht (Köln 1508) u. Wie die blinden Juden yr Ostern halten (Köln 1509), sind einerseits darauf angelegt, die religiösen Bräuche des Judentums bei den Christen lächerlich zu machen u. der Verachtung preiszugeben, andererseits aber die These zu belegen, dass die Juden im prakt. Leben ihren eigenen religiösen Grundsätzen zuwiderhandelten u. damit eigentlich nicht nur Ketzer im Sinne des Evangeliums seien, sondern auch Ketzer gegenüber dem AT. Darüber hinaus richtet P. wiederum, nunmehr in verschärfter Form, Appelle an die Obrigkeiten, gegen die Juden vorzugehen (bis hin zur Vertreibung), da sie den Christen nicht nur schadeten, sondern es letztlich darauf angelegt hätten, sie unter ihre Herrschaft zu bringen, wirtschaftlich durch raffinierteste Methoden des Zinsnehmens u. religiös durch allmähl. Unterminierung des christl. Glaubens. Da die Juden sich gewöhnlich durch »schalckhafftige böslistikait« (zit. nach Martin, Die deutschen Schriften, S. 109) auszeichneten, sei auch Misstrauen gegenüber denjenigen angebracht, die sich freiwillig taufen ließen, da dies oft aus unehrl. Motiven geschehe u. viele doch heimlich ihrem alten Glauben treu blieben. Einen Gipfelpunkt an radikaler Schärfe erreichte P.s antijüd. Polemik in seinem Juden veindt (Köln 1509). Aufgrund der schon bekannten Argumente fordert er hier die Obrigkeiten geradezu auf, die Juden zu enteignen u. mit den demütigendsten Formen von Zwangsarbeit zu belegen: »sy müsten alle verworffne arbait thunn/ als die gassen sauber halten oder dye Camin keren deß gelichen die scheussheuser fegen vnd huns dreck klaubenn« (zit. nach Martin, a. a. O., S. 130). Seine mindestens seit seiner Taufe bestehenden guten Kontakte zum Franziskanerorden verschafften P. Zugang zu der bayerischen Herzogin Kunigunde, einer Schwester Kaiser Maximilians I., die nach dem Tode

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ihres Mannes, Herzog Albrechts IV., Äbtissin eines Klarissenklosters in München war. Kunigunde wiederum, die P.s Ansichten über die Juden teilte, ebnete ihm durch ein Empfehlungsschreiben den Weg zum Kaiser selbst. P. reiste mit diesem Schreiben nach Padua, wo sich der Kaiser wegen eines Krieges gegen die Venezianer aufhielt, u. konnte Maximilian in einer Audienz dazu bewegen, ein Mandat (datiert vom 19.8.1509) zu erlassen, mit dem er selbst ermächtigt wurde, an jedem Ort des Reiches mit Wissen des Rates u. in Anwesenheit eines Pfarrers u. zweier Ratsmitglieder alle Bücherbestände, die sich im Besitz von Juden befanden, zu überprüfen u. alle Schriften, die im Widerspruch zum mosaischen Gesetz u. den Propheten stünden u. in denen die christl. Religion geschmäht würde, zu beschlagnahmen. Schon im Sept. 1509 begann P., in Frankfurt/M. auf der Grundlage dieses Mandats jüd. Bücher zu konfiszieren; danach wurde er auch in mehreren Städten des Rheinlands tätig. Beschwerden des Erzbischofs von Mainz, der sich in der Sache übergangen fühlte, u. von jüd. Gemeinden führten dazu, dass der Kaiser das Mandat abmilderte u. weitere Mandate ergehen ließ; die bereits beschlagnahmten Bücher mussten zurückgegeben werden. In dem in Füssen am 6.7.1510 ergangenen Mandat beauftragte Maximilian den Mainzer Erzbischof, zur wiss. Klärung der Angelegenheit Gutachten der Universitäten Mainz, Köln, Erfurt u. Heidelberg sowie mehrerer Gelehrter, darunter Jacob Hoogstraeten u. Reuchlin, einzuholen. Das Gutachten Reuchlins, der sich als Einziger aus jurist. wie aus theolog. Gründen gegen die Einziehung der jüd. Bücher ausgesprochen hatte, rief den heftigsten publizist. Widerstand P.s hervor. Tatkräftige Unterstützung erhielt P. dabei vom Dominikanerorden u. von den Theologen der Universität Köln. P. hatte in Reuchlin, mit dem er auch persönlich zusammengetroffen war, offenbar anfangs einen Gesinnungsgenossen gesehen, u. dies nicht ganz ohne Grund, da Reuchlin sich in seinem 1505 gedruckten Tütsch Missiue. Warumb die Juden so lang im ellend sind ganz in der Gedankenwelt des herkömmlichen christl. Antijudaismus bewegt hatte; wenn er daraus auch keine

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Verfolgungs- u. Zwangsmaßnahmen wie später P. ableitete, so sah er aber doch in der Bekehrung der Juden zum christl. Glauben den einzigen Weg zur Verbesserung ihrer Lage. P. antwortete auf Reuchlins Gutachten mit der 1511 in Mainz gedruckten Schmähschrift Handtspiegel, gegen die sich Reuchlin seinerseits mit dem Augenspiegel (Tüb. 1511) zur Wehr setzte. P. reagierte hierauf mit zwei weiteren Kampfschriften: Brantspigell (Köln 1512) u. Sturmglock (Köln 1514). Die ohnehin bis dahin von beiden Seiten rücksichtslos geführte Auseinandersetzung (von Seiten Reuchlins insbes. mit seiner 1513 erschienenen Defensio) gewann zusätzl. Schärfe durch das Erscheinen der beiden Teile der Epistolae obscurorum virorum (E. o. v.; 1515/17), mit denen humanist. Parteigänger Reuchlins (als Hauptbeteiligte Crotus Rubeanus u. Ulrich von Hutten) für dessen Sache Partei ergriffen – wobei allerdings der Kern der Sache (Reuchlins Interesse am Erhalt der jüd. Schriften) überhaupt keine Rolle spielte, sondern die Perspektive der Verfasser allein auf die persönl. Verunglimpfung der Gegner Reuchlins (P.s ebenso wie der Kölner Theologen u. ihnen nahestehender Personen, v. a. Ortwin Gratius) mit allen erdenkl. literar. Mitteln, bis hin zur völligen Vernichtung ihrer Reputation, gerichtet war. Wiederholt machen sich die E. o. v. das verbreitete, auch von Reuchlin selbst gegen P. (für ihn meist der »taufft iud« oder »semiiudaeus«) verwertete Vorurteil gegenüber konvertierten Juden zunutze: P. sei ein unzuverlässiger Christ, wie überhaupt Misstrauen gegenüber getauften Juden angebracht sei; P. sei nur Christ geworden, weil die Juden ihn wegen irgendwelcher Verbrechen hätten belangen wollen (vgl. hierzu u. a. E. o. v. I,23; II,25); seine Ehre sei käuflich (II,30); er u. mit ihm die Kölner Theologen hätten die Konfiskation der jüd. Bücher nur aus finanziellem Interesse betrieben, es also auf eine Erpressung der Juden abgesehen (II,7) – womit auf eine von Reuchlin selbst in seiner Defensio kolportierte, als reine Polemik zu bewertende Behauptung zurückgegriffen wird. Neben P. selbst ist in den E. o. v. auch seine Frau Objekt persönlich verunglimpfender Angriffe: als vermeintl.

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Erotomanin, die gleich mit zwei Kölner Professoren, Gratius u. Arnold von Tongern, ehebrecherische Beziehungen unterhalte (I,13; II,39) u. Expertin in der Frage sei, ob beschnittene oder unbeschnittene Männer den Frauen größeres Vergnügen bereiteten (I,36). Auch für dieses trübe Element satirischer Polemik scheint Reuchlin das Stichwort geliefert zu haben, indem er in seiner Defensio anlässlich der Schilderung von P.s Auftreten in Frankfurt/M. ohne ersichtlichen sachl. Grund (Andeutung von Zuhälterei?) die Bemerkung einflicht, dass dieser eine recht hübsche Frau habe, die mit ihrem Gatten »von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus und von Tür zu Tür zu wandern« pflege (»bellula quidem mulier et quae cum Pepericorno marito soleat vicatim, domesticatim, hostiatim ambulare«). In dem Jahr, in dem der erste Teil der E. o. v. erschien, veröffentlichte Hutten, als ersten Teil eines Panegyricus auf den Erzbischof Albrecht von Mainz, seine In sceleratissimam Ioannis Pepericorni vitam exclamatio: ein Gedicht von 119 lat. Versen, enthaltend eine hasserfüllte Schilderung der Verbrechen eines getauften Juden Johannes Pfefferkorn, der in Halle, vor der Moritzburg, mit glühenden Zangen gefoltert u. anschließend auf dem jüd. Friedhof »gebraten«, d.h. auf dem Scheiterhaufen verbrannt, worden sei. Der Versdichtung ist eine deutschsprachige Aufzählung der Verbrechen beigegeben, die der Delinquent gestanden haben soll, neben vielem anderen (z.B. Zauberei u. Anmaßung des Priesteramtes): Hostienfrevel, Verkauf eines geraubten Christenkindes an Juden u. Mitwirkung bei dessen ritueller Tötung, ferner Beschimpfung der Muttergottes als Hure u. Jesu Christi als Hurensohn. Es dürfte heute außer Zweifel stehen, dass Hutten die wohl tatsächlich zu Halle erfolgte Hinrichtung eines getauften Juden zur Agitation gegen P. benutzt hat, indem er dem Delinquenten dessen Namen gab u. dem Geständnis möglicherweise Tatbestände hinzufügte, die den in der Leserschaft vorhandenen antijüd. Vorurteilen Nahrung gaben u. so die beabsichtigte propagandist. Wirkung gegen P. steigerten (in den E. o. v. wurde darauf zurückgegriffen; vgl. I,23.48 u. II,7). Auf dieses Ge-

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dicht, das Huttens Herausgeber Böcking nur mit Empfindungen des Abscheus ediert hat (er schreibt, ihm wäre es lieber gewesen, wenn sein Autor »diese von widerwärtigem fanatischen Haß erfüllte Exclamatio« [»hanc putidi fanatici odii plenam exclamationem«, Hutteni Opera, Bd. III, S. 344] nicht geschrieben hätte), reagierte P. ein Jahr später zunächst, indem er auf dem Titelblatt seiner 1516 (o. O.) erschienenen Schrift Beschyrmung seinem Namen den Klammerzusatz »den man nyt verbrant hat« hinzufügte. In dem in demselben Jahr erschienenen Streydtpuechlin weist er darauf hin, dass derjenige, der in Halle verbrannt worden sei, im Rheinland unter dem Namen »Pfaff Rapp« umhergezogen sei u. vor Christen gegen die Juden gepredigt, umgekehrt aber unter Juden gegen die Christen agitiert habe. Hutten seinerseits ließ zwei Jahre später in seinem Triumphus Ioannis Reuchlin alias Capnionis (1518) noch einmal seinem blindwütigen Hass auf P. freien Lauf, indem er sich schlimmste Foltern ausmalte, denen er P. anscheinend gern unterworfen gesehen hätte (Hutteni Opera, Bd. III, S. 437 f. – Böcking äußert auch hier, S. 437, Anm. zu V. 704, wiederum sein Befremden über die exzessive Grausamkeit seines Autors, die nur bei einem Henker Gefallen erregen könne u. entgegen dessen Absichten bei den Lesern eigentlich Sympathien für P. hätte hervorrufen müssen). Auch ein überlegener Geist wie Erasmus, der sich den Streitereien um die jüd. Bücher ferngehalten hatte, vermochte hinter den Aktivitäten P.s keine andere Triebkraft zu erkennen als vermeintl. jüd. Hinterlist, die sich des Bekenntnisses zum Christentum nur als einer Maske bediene, um so ungehindert die Christenheit »mit jüdischem Gift« (»iudaico veneno«) zu infizieren; insofern erweise sich P. in seinen Handlungen als »anderthalbfacher Jude« (»sesquiiudaeus«); als Verleumder Reuchlins sei er ein Apostel des Teufels; sich mit ihm zu streiten, bringe nichts, nur der Henker könne seinem Wüten Grenzen setzen (all dies findet sich in dem Brief des Erasmus an Pirckheimer vom 2.11.1517: Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bearb. v. Helga Scheible. Bd. 3, Mchn. 1989, Nr. 481, S. 202–206, hier S. 203–205).

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P., der in der radikalsten u. inhumansten Weise gegen seine früheren Glaubensgenossen vorgegangen war u. vielen judenfeindl. Vorurteilen der zeitgenöss. Christenheit zum Nachteil jener reichlich Nahrung gegeben hatte, zweifellos in der festen u. ehrl. Überzeugung, damit etwas im Sinne des christl. Glaubens Gottgefälliges zu tun (hierin nachhaltig unterstützt von Kaiser Maximilian I. u. führenden zeitgenöss. Theologen), war somit als getaufter Jude in der Publizistik seiner Gegner auch selbst Opfer des von ihm geschürten Judenhasses geworden. Für die humanist. Parteigänger Reuchlins aus den Kreisen der Verfasser der E. o. v., auch für einen bloßen Beobachter der Vorgänge wie Erasmus, spielte die Tatsache, dass er getauft u. seinerseits Verächter seines früheren Glaubens war, überhaupt keine Rolle; sie bekämpften oder verachteten in ihm den Juden schlechthin, in einer Weise, die dem modernen, rassistisch begründeten Antisemitismus verwandt ist. Was Reuchlin betrifft, so steht heute außer Frage, dass sein Interesse an dem Erhalt jüd. Bücher nicht etwa Ausdruck einer schon auf die Epoche der Aufklärung vorausweisenden religiösen Toleranz war, sondern in der Überzeugung gründete, dass in diesen Büchern wichtige, noch nicht erschlossene Vorausdeutungen auf christl. Glaubensinhalte verborgen seien (hieraus erklärt sich auch sein Interesse an der Kabbala). Gerade Reuchlins in der Auseinandersetzung mit P. entstandene Schriften offenbaren ganz klar die Grenzen des ihm von seinen Gegnern vorgeworfenen Engagements zugunsten der Juden. Eine diese Zusammenhänge in ihren komplizierten Verflechtungen differenziert einbeziehende, auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen erarbeitete moderne Biografie P.s, die dessen schwer zugängl. Persönlichkeit jenseits hergebrachter moralisierender Verurteilungen oder psychologisierender Erklärungsversuche kritischem Verstehen innerhalb der Geschichte des frühneuzeitl. Antijudaismus näherbringen könnte, steht noch aus. Ausgabe: Schr.en. Hg. Hans-Gert Roloff. Tl. 1: Text in Originalsprache; Tl. 2: Hochdt. Übers. (= Johannes Reuchlin. Sämtl. Werke. Hg. Widu-

193 Wolfgang Ehlers u. a. Bd. IV,2). Stgt.-Bad Cannstatt, angekündigt für 2010. Literatur: Bibliografien: C. P.: Idyllium Patria. Auf der Grundlage einer Übers. v. Werner Fraustadt übertragen v. Rainer Kößling. Erläuterungen v. R. Kößling u. Matthias Wilhelm. In: Jahresschrift [des Stadtmuseums Bautzen – Regionalmuseum der sächs. Oberlausitz] 7 (2001), S. 7–114. – Ulrichi Hutteni Operum Supplementum: Epistolae obscurorum virorum cum inlustrantibus adversariisque scriptis. Collegit, recensuit, adnotavit Eduardus Böcking. Bd. 2, Lpz. 1869, S. 53–115 (grundlegend). – Hans-Martin Kirn: Das Bild vom Juden im Dtschld. des frühen 16. Jh. dargestellt an den Schr.en J. P.s. Tüb. 1989, S. 201–204 (mit Standortnachweisen). – Weitere Titel: Heinrich Graetz: Gesch. der Juden v. den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. 9, Lpz. 1866. – Ludwig Geiger: J. P. Ein Beitr. zur Gesch. der Juden u. zur Charakteristik des Reuchlin’schen Streites. In: Jüd. Ztschr. für Wiss. u. Leben 7 (1869), S. 293–309. – H. Graetz: Aktenstücke zur Confiscation der jüd. Schr.en in Frankfurt a. M. unter Kaiser Maximilian durch P.s Angeberei. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Judenthums 24, N. F. 7 (1875), S. 289–300, 337–343, 385–402. – Dietrich Reichling: Ortwin Gratius. Sein Leben u. sein Wirken. Eine Ehrenrettung. Heiligenstadt 1884. Nachdr. Nieuwkoop 1963. – I[sidor] Kracauer: Die Konfiskation der hebr. Schr.en in Frankfurt a. M. 1509 u. 1510. In: Ztschr. für die Gesch. der Juden in Dtschld. 1 (1887), S. 160–176, 230–248. – L. Geiger: J. P. In: ADB. – S[amuel] A[braham] Hirsch: Johann P. and the Battle of the Books (1892). In: Ders.: A Book of Essays. London 1905, S. 73–115. – Max Freudenthal: Dokumente zur Schriftenverfolgung durch P. In: Ztschr. für die Gesch. der Juden in Dtschld. 3 (1931), S. 227–232. – Meier Spanier: P.s Sendschreiben v. 1510. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Judentums 78, N. F. 42 (1934), S. 581–587. – M. Spanier: Zur Charakteristik J. P.s. In: Ztschr. für die Gesch. der Juden in Dtschld. 6 (1936), S. 209–229. – Heinrich Grimm: Ulrich v. Hutten u. die P.-Drucke. In: ZRGG 8 (1956), S. 241–250. – Karl-Heinz Gerschmann: Zu J. P.s ›Übersetzung‹ der Evangelien. In: ZRGG 21 (1969), S. 166–171. – Winfried Frey: Die ›Epistolae obscurorum virorum‹ – ein antijüd. Pamphlet? In: Archiv Bibliographia Iudaica: Probleme dt.-jüd. Identität. Hg. Norbert Altenhofer. Ffm. 1986, S. 147–172. – Ders.: Multum teneo de tali libro. Die Epistolae obscurorum virorum. In: Ulrich v. Hutten. Ritter, Humanist, Publizist 1488–1523. Kat. zur Ausstellung des Landes Hessen anläßlich des 500. Geburtstages. Bearb. v. Peter Laub. Kassel

Pfeffinger 1988, S. 197–209. – H.-M. Kirn: Das Bild vom Juden im Dtschld. des frühen 16. Jh. dargestellt an den Schr.en J. P.s. Tüb. 1989. – W. Frey: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus. Ein antijüd. Pasquill v. 1606 u. seine Quellen. In: Daphnis 18 (1989), S. 251–279. – Ders.: Der ›Juden Spiegel‹. J. P. u. die Volksfrömmigkeit. In: Volksreligion im hohen u. späten MA. Hg. Peter Dinzelbacher u. Dieter R. Bauer. Paderb./Mchn./Wien 1990, S. 177–193. – Julius H. Schoeps: Der Reuchlin-P.Streit in der jüd. Historiographie des 19. u. 20. Jh. In: Reuchlin u. die Juden. Hg. Arno Herzig u. ders. Sigmaringen 1993, S. 203–212. – Ellen Martin: Die dt. Schr.en des J. P. Zum Problem des Judenhasses u. der Intoleranz in der Zeit der Vorreformation. Göpp. 1994. – Hans Peterse: Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitr. zur Gesch. des Antijudaismus im 16. Jh. Mainz 1995. – E. Martin: J. P. In: NDB. – Erika Rummel: The Case against Johann Reuchlin. Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany. Toronto/Buffalo/ London 2002. – Robert Jütte: Johannes Reuchlin (1455–1522) u. die ›soziale Frage‹ seiner Zeit. Ein Beitr. zur Konjekturalhistorie. In: Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin u. seine Zeit. Hg. Daniela Hacke u. Bernd Roeck. Stgt. 2002, S. 29–42. – Johannes Schwitalla: Dialogisches im Reuchlin-P.-Streit. Ebd., S. 169–186. – Reuchlins Freunde u. Gegner. Hg. Wilhelm Kühlmann. Ostfildern 2010. Lothar Mundt

Pfeffinger, Johannes, * 27.12.1493 Wasserburg am Inn, † 1.1.1573 Leipzig. – Evangelischer Theologe. P. besuchte die Lateinschule in Annaberg (Erzgebirge); danach schlug er die geistl. Laufbahn ein. 1518 zum Priester geweiht, amtierte er zunächst in Reichenhall, im folgenden Jahr in Saalfelden u. 1521 als Stiftsprediger in Passau, das er 1523 fluchtartig verließ, nachdem er sich der reformatorischen Lehre zugewandt hatte. Er ging nach Wittenberg, wo er sich am 15.11.1524 in die Matrikel eintragen ließ, um bei Luther u. Melanchthon Theologie zu studieren. 1527 wurde P. als Pfarrer zunächst nach Sonnewalde (Niederlausitz) berufen, wo er ein Jahr später heiratete, 1530 nach Eicha u. 1532 nach Belgern an der Elbe. Als zu Pfingsten 1539 in Leipzig die Reformation eingeführt wurde, beauftragte man auf kurfürstl. Befehl u. a. P. mit der Neugestaltung des Kirchen-

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wesens; ein Jahr später übernahm er das Oberpfarramt an der St. Nicolai Kirche u. die Leipziger Superintendentur. Im Herbst 1543 wurde P. zum Lizentiaten der Theologie u. wenige Wochen später zum Dr. theol. promoviert. Als Mitgl. der theolog. Fakultät der Universität Leipzig hielt er ab März 1544 Vorlesungen, vorzugsweise über das Matthäus-Evangelium u. Melanchthons Loci theologici, u. präsidierte bei etlichen Disputationen. Seit Frühjahr 1548 war er an allen wichtigen Beratungen zum »Leipziger Interim« u. dessen Einführung in Kursachsen beteiligt u. identifizierte sich öffentlich mit der Vergleichspolitik des Landesherrn (Von den Traditionibus, Ceremoniis, oder Mitteldingen, christlicher warer bericht. Frankf./O. 1550. Grüntlicher und warhafftiger Bericht der vorigen und jetzigen für und nach dem Kriege ergangen Handlungen von den Adiaphoris oder Mitteldingen [...]. Lpz. 1550). Dadurch, aber auch weil er 1549 als Theologieprofessor mit einem der Fakultät zustehenden Kanonikat am Domstift zu Meißen bepfründet wurde, zog er heftige Vorwürfe vonseiten der Gnesiolutheraner Nikolaus Gallus, Matthias Flacius, Nikolaus von Amsdorf u. Joachim Westphal auf sich. Diese setzten sich mit unverminderter Härte fort, nachdem P. Luthers Heidelberger These von 1518, dass der freie Wille nach dem Sündenfall nurmehr eine »res [...] de solo titulo« (WA I, S. 354), ja mehr noch, wie es in der verschärften Fassung der Assertio omnium articulorum von 1520 heißt, ein bloßes »figmentum in rebus seu titulus sine re« (WA VII, S. 146) sei u. bei der Bekehrung wie etwas Seelenloses überhaupt nichts wirke u. sich völlig passiv verhalte, zurückgewiesen hatte (Propositiones de libero arbitrio. Lpz. 1555. De libertate voluntatis humanae, quaestiones quinque. Lpz. 1555). Er berief sich dafür auf Melanchthons Meißener Mitwirkungsformel aus dem Jahr 1548 (»gleichwohl wirket der barmherzige Gott nicht also mit dem Menschen, wie mit einem Block, sondern zeucht ihn also, daß sein Wille auch mitwirket«, CR VII, S. 51). Solche Versuche, die »horrida opinio« (Victorin Strigel) vom versklavten Willen abzuschütteln, blieben im protestant. Raum auf den Kreis der Melanchthon-Schüler beschränkt. Gegen die Angriffe Amsdorfs

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(Offentliche Bekentnis der reinen lere des Evangelij, und Confutatio [...]. Jena 1558) u. Johann Stoltz’ (Refutatio propositionum Pfeffingeri de libero arbitrio [...]. Jena 1558) verteidigte sich P. mit zwei Schriften, der Demonstratio manifesti mendacii (Wittenb. 1558) u. der Antwort [...] auff die Offentliche Bekentnis der reinen Lare (Wittenb. 1558). Der dadurch ausgelöste sog. synergist. Streit wurde erst beigelegt durch die abschließende symbolische Urkunde des Luthertums, die Formula concordiae des Konkordienbuches von 1580, die allen Eigenaktivitäten des Menschen in geistl. Dingen eine Absage erteilte. Außer mit Disputationen u. Schriften polemischer Natur ist P. auch als Autor eines in zahlreichen Auflagen, Übersetzungen u. Bearbeitungen verbreiteten Konsolationsbuches (Trostbüchlin aus Gottes Wort, uber den unzeitichen Todt [...]. Lpz. 1552. 21552. Lat.: Consolationum libellus [...]. Wittenb. 1560) hervorgetreten, das er nach dem frühen Tod seines ältesten Sohnes Johannes († 3.9.1551) verfasst hatte. Weitere Werke: Themata ordinariae disputationis, futurae [...] de ministerio tam ecclesiastico quam civili, et quod inter haec discrimen sit, applicata ad Evangelij Matthei caput IX. Lpz. 1544. – In hoc libello continentur utiles disputationes de praecipuis capitibus doctrinae christianae, quae propositae fuerunt in academia Lipsica [...]. Ffm. 1558. – Nochmals gründl., klarer, warhafftiger Bericht u. Bekentnis, der bittern lautern Warheit, reiner Lere, unstreffl. Handlungen, u. unvermeidl. notwendige Verantwortunge [...]. Wittenb. 1559. – Christl. gewisse deutung der Zeichen, die fur u. in diesem 1562. Jar geschehen. Lpz. 1562. Ausgaben: De cap. V. Matthaei propositae sententiae ad disputandum [...]. Addita confessione doctrinae et fidei. Lpz. 1550. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg. – Capita disputationis de peccato originis proposita in scola Lipsensi. Lpz. 1551. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg. – Trostbüchlin aus Gottes Wort [...]. Lpz. 1552. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Capita de discrimine baptismi Iohannis et Christi [...]. Lpz. 1568. Internet-Ed.: VD 16 digital. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Lorenz Mathesius: Leichpredigt, gehalten bey dem begrebnus [...] Johan. Pfeffingers [...]. Sampt einem [...] Ber., v. dem leben u. wandel, auch v. der Lehre, christl. Tugenden, u. endtl. Abschied desselbigen [...] durch Balthasarn Sartorium [...]. Lpz. 1573. – Gotthard Lechler: J. P. In: ADB. – Friedrich Seifert:

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195 J. P., der erste luth. Pastor zu St. Nikolai u. Superintendent in Leipzig. Ein Beitr. zur Reformationsgesch. Sachsens. Lpz. 1888. – Luther David Peterson: The Philippist Theologians and the Interims of 1548 [...]. Diss. Univ. Wisconsin, Madison 1974. – Robert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh 1984, S. 165. – Günther Wartenberg: Landesherrschaft u. Reformation. Moritz v. Sachsen u. die albertin. Kirchenpolitik bis 1546. Weimar 1988, Register. – Karl Friedrich Ulrichs: J. P. In: Bautz (Lit.). – Hans Roser: Altbayern u. Luther. Portraits. Mchn. 1996, S. 112–116. – G. Wartenberg: Philipp Melanchthon u. J. P. In: Philipp Melanchthon u. Leipzig [...]. Hg. ders. Lpz. 1997, S. 41–50. – Thomas Kaufmann: Das Ende der Reformation. Magdeburgs ›Herrgotts Kanzlei‹ (1548–1551/2). Tüb. 2003, Register. – L. D. Peterson: J. P.’s Treatises of 1550 in Defense of Adiaphora. ›High Church‹ Lutheranism and Confessionalization in Albertine Saxony. In: Confessionalization in Europe, 1555–1700. FS Bodo Nischan. Hg. John M. Headley u. a. Aldershot 2004, S. 91–105. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005, Register. – Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Red. Veronika Albrecht-Birkner. Bd. 6, Lpz. 2007, S. 481 f. Reimund B. Sdzuj

Pfeifer, Tadeus, * 5.4.1949 Freiburg i. Br. – Lyriker, Erzähler, Publizist.

1990er Jahren konzentrieren (Ich ahne was ich weiß. Karlsr. 1982. Im Gras kreischt freundlich der Affe. Karlsr. 1989. Im Tanz im Staub. 50 neue und ausgewählte Gedichte. Karlsr. 2000). Eine Spezialität P.s sind lyr. Reiseberichte, die fremde Orte evozieren (das indische Agra mit dem Taj Mahal in Die Architektur der Liebe. Karlsr. 1997, China in Zick-Zack über Lotosteich. Mit Lithographien v. Samuel Buri. Basel 1999) u. zum Anlass nehmen, über alternative Lebens- u. Denkformen oder über Fragen der Wahrnehmung u. Wirklichkeitsdarstellung nachzudenken. So ist das poetolog. Gedicht, worin die Dichtung sich selbst thematisiert, in P.s Lyrik stark vertreten. Bestimmend ist dabei ein ausgeprägtes medientheoret. Bewusstsein. Es gründet in einem intensiven Verhältnis P.s zur bildenden Kunst. Davon zeugen auch zahlreiche Beiträge in Ausstellungskatalogen namentlich der Basler Galerie Carzaniga & Ueker u. mehrere Publikationen, die P.s Gedichte mit Werken der bildenden Kunst konfrontieren (Das Echo von Bois-Râteau. Mit Bildern v. Elisabeth Masé. Karlsr. 1992. Rebzeilen. Mit Aquarellen v. Samuel Buri. Bern/Stgt. 1998). Als Dramatiker trat P. einzig mit einer Bühnenfassung von Thomas Manns Buddenbrooks an die Öffentlichkeit, die Hans Hollmann 1976 in Basel inszenierte.

P. wuchs in Basel auf, wo er seit dem Schulaustritt in verschiedenen Berufen tätig war u. Weitere Werke: Trauer. Lyr. Prosa. Basel 1974. heute als freier Schriftsteller u. Journalist – Das Feuer des Steins. Karlsr. 1981 (E.en). – Herlebt. 1972–1985 war er zus. mit Frank Geerk ausgeber: Ind. Gedichte. Karlsr. 1986. – Nicht Fisch, Herausgeber der Zeitschrift »Poesie«. Tadeus nicht Vogel. 9 Schriftstellerinnen u. Schriftsteller Pfeifer heißt – ganz unverstellt – der Ich-Er- predigen. Basel 1994. Dominik Müller zähler u. Protagonist der beiden Romane Die schönen Seiten des Lebens (Karlsr. 1984) u. Die Pfeiffer, Christoph, * 3.2.1689 Oels, sieben Farben des Lichts (Karlsr. 1986): Hin- u. † 23.12.1758 Stolz bei Frankenstein/ hergerissen zwischen selbstiron. DistanzSchlesien. – Evangelischer Pfarrer, Kirnahme u. der körperlich-sinnl. Vergegenchenlieddichter. wärtigung innerer Vorgänge, zwischen dem Spiel mit fantast. Bildern u. der Neigung zur Der Sohn eines Tuchmachers studierte ab aphorist. Pointe, erzählt er von seinen Aben- 1711 Theologie in Wittenberg. 1717 wurde er teuern mit Rätselfrauen, Ärzten, Saufkum- Adjunkt (Informator) bei dem pietistisch gepanen, mit griech. Inselbewohnern u. Städ- sinnten Pfarrer Johann Heinrich Sommer in tern aus dem Frankfurter Bahnhofsquartier. Dirsdorf bei Frankenstein. Ein Jahr später Grelle Glückszustände kippen in Horrorvi- gab er Johann Caspar von Lohensteins Leichsionen, Schönheit in Gewalt. Übergänge – abdankungen (Edler Personen eröffnete Grüffte vom konkreten Anlass zur Reflexion, vom [...]. Breslau) heraus. 1719 wurde er Pfarrer Alltäglichen ins Fantastische – u. Kontrast- im benachbarten Dittmannsdorf u. 1746 relationen sind auch bestimmend für die Ly- Pfarrer in Stolz. P. dichtete bereits als Sturik, auf die sich P.s Publikationen seit den dent. 1719 veröffentlichte er eine Sammlung

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von 91 Liedern über die Sonntagsevangelien u. d. T. Bethender Christen evangelischer Sabbath, in gebundenen Seuffzern (Breslau/Lpz.). Eine weitere Sammlung von 85 Liedern (Liedanfänge bei Goedeke aufgelistet) erschien 1732: Der Tochter Zions geistliche Feyer-Kleider (Lpz./ Schweidnitz). Die Vorrede schrieb Benjamin Schmolck, dem er sich theologisch u. poetisch verbunden wusste. P. gab ferner Predigten, Erbauungsschriften u. Leichenpredigten heraus. Ein historisch-genealog. Interesse zeigte er in seinem Werk Paprotzkius enucleatus oder Kern und Auszug aus dem so genannten mährischen Geschicht-Spiegel Bartholomaei Paprotzkii (Breslau/Lpz. 1730. U. d. T. Compendiöser Schauplatz [...]. Breslau/Lpz. 21741). Weitere Werke: Kleine Reim-Bibel [...]. Brieg 1718. – Geistl. Weck-Uhr eines wachsamen Christen. Breslau 1725 (12 Lieder). – Göttl. Handleitung zum Himmel [...]. Breslau 1728. – Evang. Hertzens-Gespräche statt einer erbaul. Handpostill. Breslau 1728. – Bochim u. Bethel, oder Klag- u. Trost-Buch der Kinder Gottes. Schweidnitz 1732. – Apostol. Wächterstimme, oder neue Lieder auf alle Sonn- u. Festtags-Episteln. Lpz. 1736. Literatur: Koch 5, S. 492 ff. – Goedeke 5, S. 195, Nr. 121. – l. u.: N. P. In: ADB. – DBA. Dietrich Meyer / Red.

Pfeiffer, Hans, * 22.2.1925 Schweidnitz, † 27.9.1998 Wurzen bei Leipzig. – Dramatiker, Erzähler, Essayist. Der Arbeitersohn P. machte 1943 Abitur u. war anschließend Wehrmachtssanitäter. Nach Kriegsende lernte er am Schulwissenschaftlichen Institut Leipzig, um in der Folgezeit in Hohburg u. Grimma Deutsch zu unterrichten. 1952 studierte P. an der Leipziger Karl-Marx-Universität acht Semester Philosophie, Geschichte u. Literaturwissenschaft. Er war zunächst Assistent in der Philosophie, dann freier Schriftsteller, verdiente seinen Unterhalt ab 1966 jedoch als Lehrer am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Später wurde er dort Professor für künstlerische Lehrtätigkeit, 1985 Direktor (bis 1990). P. erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. 1965 den Kunstpreis der Stadt Leipzig sowie 1980 den Nationalpreis der DDR. Zunächst stand das Drama im Zentrum seines literar. Schaffens. P.s erstes Schauspiel

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Nachtlogis (Bln./DDR 1955) sucht am Beispiel des perversen Londoner Leichenhandels aufzuzeigen, dass die »Förderung der Humanität« im Kapitalismus »nur durch inhumane Mittel« zu erreichen ist, »Verbrechen in letzter Instanz« »soziale Ursachen haben« (S. I f.). Gleiches gilt für das Drama Laternenfest über einen H-Bomben-geschädigten Bundeswehroffizier (Urauff. 1957). Danach gewinnen systeminterne Probleme an Bedeutung. So wollte P. durch sein Theaterstück Begegnung mit Herkules (Urauff. 1966) die »inflationistische Gefährdung« des sozialist. »Heldenbildes« aufhalten (Gegen-Anmerkungen zu meiner Komödie, s. u., S. 169). Dramaturgisch suchte er nach einer Synthese zwischen Klassik (Schiller) u. Moderne (Brecht). Grundlage bildete die Aufwertung der Form als Äquivalent zum »Zustand des Experimentierens«, in dem P. die DDR-Gesellschaft sah. Für die »Sichtbarmachung der Wahrheit« müssten »alle nur möglichen bildhaften Mittel« verwendet werden (Diskussionsbeiträge, S. 131f.). Einen weiteren Schwerpunkt stellt der Kriminalroman dar, dessen Bedeutung der junge P. gering veranschlagte (Die Mumie im Glassarg. Bemerkungen zur Kriminalliteratur. Rudolstadt 1960), angesichts zunehmender Gesellschaftskonflikte jedoch aufwertete (Phantasiemorde. Ein Streifzug durch den DDR-Kriminalroman. Bln./DDR 1985). Seit Anfang der 1960er Jahre verfasste der Autor biografisch fundierte Fernsehspiele, die oft auch als Romane erschienen. Ziel war die Umwertung der von Brecht, Hacks u. Heiner Müller als »Misere« verstandenen dt. Geschichte (Thomas Müntzer. Bln./DDR 1975, R.; Fernsehfilm 1989. Scharnhorst. 5 Tle., Fernsehfilm 1978. R. Bln./DDR 1988). Darüber hinaus veröffentlichte P. antikapitalist. Hörspiele (Schüsse im Hochmoor u. Zwei Ärzte, beide Rundfunk der DDR 1960) sowie rechtsmedizin. Fallsammlungen (Die Sprache der Toten. Die Gerichtsmedizin im Dienste der Wahrheit. Bln./ DDR 1968. Der hippokratische Verrat. Mörderische Ärzte. Lpz. 1997). Weitere Werke: Hamlet in Heidelberg. [Lpz. 1958] (D.). – Zwei Ärzte. Bln./DDR 1959 (D.). – Beiträge zur Gesch. der Kriminallit. In: Das 40. Jahr. Der Greifenalmanach für 1959. Hg. Karl Dietz. Rudolstadt 1958, S. 54–74. – Die dritte

197 Schicht. Bln./DDR 1960 (D.). – Schüsse im Hochmoor. Rudolstadt 1961 (E.en). – Sieben Tote brauchen einen Mörder. Kriminalroman. Bln./DDR 1964. – Gegen-Anmerkungen zu meiner Komödie. In: NDL 14 (1966), H. 9, S. 168–170. – Prämissen sozialist. Dramatik. Ebd., H. 10, S. 140–147. – Heines letzte Liebe. Bln./DDR 1977 (D., zus. mit Günter Kaltofen). – Clausewitz. Lebensbild eines preuß. Generals. 1980 (Fernsehfilm). – Kochrezepte für Kriminalgerichte oder wie man einen Kriminalroman schreibt. Bln./DDR 1987 (Satire). – Bebel u. Bismarck. 3 Tle., 1987 (Fernsehfilm). Literatur: Helga Herting: Interview mit H. P. In: WB 27 (1981), H. 3, S. 85–98. – Dies.: Zum Schaffen H. P.s. Ebd., S. 99–113. – Jens Tismar: Herakles in der DDR-Dramatik. In: Text & Kontext 11 (1983), H. 1, S. 56–72. – Reinhard Hillich: Damm – Brücke – Fluß. Sachdienl. Hinweise zur Diskussion über Kriminallit. in der DDR. In: Tatbestand. Ansichten zur Kriminallit. der DDR 1947–86. Hg. ders. Bln./DDR 1989, S. 9–36. – Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne u. Postmoderne. Das dt. Drama u. Theater der Nachkriegszeit im internat. Kontext. Stgt./Weimar 2009. Wolf Gerhard Schmidt

Pfeiffer, Ida, geb. Reyer, * 14.10.1797 Wien, † 28.10.1858 Wien. – Reiseschriftstellerin.

Pfeiffer-Belli

Honorar ihrer Bücher wurde die Idee einer Reise um die Welt realisierbar. Die Aufzeichnungen dieser abenteuerl. Unternehmung (1846–1848) erschienen dreibändig als Eine Frauenfahrt um die Welt (Wien 1850. Gekürzte Neuausg. 1989). Von der »siegenden Kultur des Abendlandes« überzeugt, äußert sich P. doch bemerkenswert kritisch gegenüber Missionarstätigkeit, Kolonialismus u. Sklaverei. Ihre detailgetreuen, in schlichter u. nüchterner Sprache abgefassten, mit statistischem Zahlenmaterial versehenen Berichte erheben keinen wiss. Anspruch, gewannen ihr aber Freunde u. Bewunderer wie Alexander von Humboldt u. Carl Ritter. Die Geographischen Gesellschaften von Paris u. Berlin ernannten P. zu ihrem Ehrenmitgl., ihre naturwiss. Sammlungen kamen nach London u. Wien. P. starb an den Folgen des Madagaskar-Fiebers, das sie sich auf ihrer letzten Reise zugezogen hatte. Weitere Werke: Meine zweite Weltreise. 4 Bde., Wien 1856. – Reise nach Madagaskar. Hg. Oscar Pfeiffer. 2 Bde., Wien 1861. Neuausg. Marburg 1980. Literatur: Ferdinand Franz Lebzelter: Die österr. Weltreisende I. P. Wien 1910. – Elke Friederiksen u. Tamara Archibald: Der Blick in die Ferne. Zur Reiselit. v. Frauen. In: Frauen Lit. Gesch. Hg. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann. Stgt. 1985, S. 104–122. – Viola Imhof: P. In: NDB. – Gabriele Habinger: I. P. Wien 2004. Julei M. Habisreutinger / Red.

P. entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Zus. mit ihren sechs Brüdern erhielt sie eine äußerst strenge Erziehung. Nach dem Tod des Vaters (1806) von der Mutter gezwungen, Mädchenkleider zu tragen, erkrankte P. schwer. Erst die Liebe zu Pfeiffer-Belli, Erich, auch: Andreas Heldt, ihrem Hauslehrer brachte sie dazu, sich bis * 18.8.1901 Heidelberg, † 27.11.1989 dahin verhassten weibl. Tätigkeiten zuzuMünchen. – Kulturjournalist u. Erzähler. wenden. Da die Mutter ihre Heiratspläne vereitelte, willigte sie schließlich 1820 in die Nach einem Kunststudium am Weimarer Vernunftehe mit einem 24 Jahre älteren Bauhaus arbeitete P. als Feuilletonredakteur Lemberger Advokaten ein. Nach entbeh- für die »Königsberger Hartungsche Zeitung« rungsreichen Jahren trennte sich P. 1835 von (1929–1933), das »Stuttgarter Neue Tagihrem Mann u. ging nach Wien zurück. Als blatt« (1934/35), das »Berliner Tageblatt« die beiden Söhne erwachsen waren, erfüllte (1935 bis 1937), die »Frankfurter Zeitung« sie sich den Traum ihrer Jugend u. trat 1842 (1938–1943) u. die »Münchner Neuesten ihre erste Reise an, über die sie sorgfältig Nachrichten« (1943). Aus gesundheitlichen Tagebuch führte. Die Veröffentlichung Gründen vom Militärdienst befreit, lebte er u. d. T. Reise einer Wienerin in das Heilige Land (2 seit 1945 als Kunst- u. Theaterkritiker in Bde., Wien 1844. Neuausg. Ffm. 1981) wurde München u. schrieb v. a. für die »Süddeutsche ein Bestseller u. erlebte vier Auflagen. Es Zeitung«. folgte die Reise nach dem skandinavischen Norden In den 1930er u. 1940er Jahren mit unterim Jahre 1845 (2 Bde., Pest 1846). Mit dem haltsamen Erzählungen u. Novellensamm-

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lungen wie Der kleine Mozart weint (Stgt. 1934), Sylvia (Bln. 1936) u. Das Hauskonzert (Mchn. 1948) hervorgetreten, gab er nach dem Krieg Werke von Rudolf Kassner u. Rilke sowie zus. mit Willy Droemer die Reihe Bücher der Welt (Mchn./Zürich 1960 ff.) heraus. P.s vielleicht bedeutendste schriftstellerische Leistung ist der Memoirenband Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise (Wiesb./Mchn. 1986), der das Frankfurter großbürgerl. u. intellektuelle Leben der Jahre von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg mit einer klug disponierten Fülle von Details zur Anschauung bringt. Weitere Werke: Die Reise nach Chur. Ffm. 1941 (E.en). – Besuch bei mir selbst: Episteln u. Betrachtungen. Mchn. 1949. – 100 Jahre Bruckmann – 100 Jahre Brücke zur Kunst. Mchn. 1958 (Sachbuch). – Klee. Mchn. 1964 (Biogr.). – Jahr u. Jahrgang 1901. Hbg. 1966 (zus. mit Paul Sethe u. Hans Erich Nossack). Matías Martínez / Red.

Pfeil, Christoph Carl Ludwig von (seit 1765 Reichsfreiherr), * 20.1.1712 Grünstadt bei Worms, † 14.2.1784 Unterdeufstetten bei Dinkelsbühl; Grabstätte: ebd., Schlosskapelle. – Jurist, Diplomat u. Kirchenlieddichter.

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te. Von seinem Gut Unterdeufstetten aus versah er die Geschäfte eines bevollmächtigten Ministers Friedrichs II. beim Schwäbischen u. Fränkischen Reichskreis. Neben der seiner Karriere sehr förderl. Preisschrift De meritis serenissimae Wurtembergiae domus in imperium (Ludwigsb./Tüb. 1732 u. ö.) u. verwaltungstechn. Studien wie RealIndex und Auszug der hochfürstlichen würtembergischen Forst-Ordnung (Stgt. 1748) verfasste P. unter dem Einfluss von Bengels Kommentaren zur neutestamentl. Johannes-Apokalypse eine Vielzahl geistl. Lieder. Erst verstreut publiziert, bündelte sie der Autor schließlich zu mehreren Sammlungen wie Evangelischer Lieder-Psalter (Stgt. 1747), Evangelisches Gesangbuch (Memmingen 1782), Evangelische Glaubens- und Herzens-Gesänge (Dinkelsbühl 1783; mit Autobiogr.). Unbeschadet poetischer Schwächen finden sich einige seiner Kirchenlieder noch in evang. Gesangbüchern des 20. Jh. Weiteres Werk: De necessaria conformatione sententiae ad libellum monita tam generalia quam specialia Leyserianis dubiis modeste opposita pro loco [...]. Defendent: Christoph Friedrich Harpprecht; Respondent: C. C. L. P. Tüb. 1731. Literatur: Heinrich Merz: Das Leben des christl. Dichters u. Ministers C. C. L. v. P. [...]. Stgt. 1863. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. Gött. (auch Bln.) 1957, S. 249–251. – HansJoachim König: C. C. L. v. P. In: Lebensbilder aus Franken u. Schwaben. Hg. Max Miller u. Robert Uhland. Bd. 8, Stgt. 1962, S. 137–148 (mit Lit. u. Werkverz.). – Gabriele Haug-Moritz: Württembergischer Ständekonflikt u. dt. Dualismus [...]. Stgt. 1992, Register. – Karl Dienst: C. K. L. P. In: Bautz. – Peter-André Alt: Reinigung des Stils oder geistl. Manierismus [...]. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. 2 Tle., Wiesb. 1995, Tl. 2, S. 563–577. – Gabriele HaugMoritz: C. C. L. P. In: NDB. Gerda Riedl / Red.

Als Sohn eines württembergischen Oberamtmanns u. August Hermann Francke-Schülers kam P. früh mit dem Pietismus in Kontakt. Nach dem Tod des Vaters (1722) verbrachte er die Jugend in Magdeburg (bis 1727) u. ging jurist. Studien in Halle (1728) u. Tübingen (1729–1732) nach. 1732–1740 unterhielt er intensive Beziehungen zur Herrnhuter Brüdergemeine u. danach zu den pietist. Kreisen um Johann Albrecht Bengel. Gleichzeitig machte er Karriere in der württemberg. Staatsverwaltung (1732 Legationssekretär beim Regensburger Reichstag, 1737 Justiz- u. Regierungsrat, 1745 Tutelarratspräsident, 1757 Ernennung zum herzogl. Legations-, Pfeil, Johann Gottlob Benjamin, * 10.11. 1759 zum Geheimrat). Enge Zusammenar1732 Freiberg, † 28.9.1800 Rammelburg/ beit mit dem gefürchteten Staatsminister Harz. – Jurist; Dramatiker, Erzähler. Friedrich Samuel von Montmartin brachte P. trotz seiner Verdienste 1758 in Misskredit bei Der Kaufmannssohn studierte Jura in Leipder Öffentlichkeit, 1762 in persönl. Gefahr. zig, wo er mit Goethe Umgang pflegte. In Am 13.4.1763 quittierte er deshalb die würt- Rammelburg erhielt er eine Anstellung als tembergischen zugunsten der preuß. Diens- Justizamtmann. Hier verkehrte er auf dem

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Literatur: Eckhardt Meyer-Krentler: Ein PlaSchloss der Freiherren von Friesen u. a. mit Bürger u. Goeckingk, dem Bruder seiner giat macht sich selbständig. P.s Gesch. des Grafen v. P. im Verhältnis zu Prévost u. Gellert. In: ZfdPh 96 zweiten Frau. (1977), S. 481–508. – Nadia Metwally: P.s ›Lucie Einen Namen machte sich P. bereits in Woodvil‹ eine ›Schwester der Sara‹? In: ZfdPh 103 seiner Studienzeit mit dem an Richardson, (1984), S. 161–177. – Dirk Sangmeister: ›Sehr Prévost u. Gellert orientierten Ich-Roman Die christlich, sehr langweilig‹. ›Die glückliche Insel‹ Geschichte des Grafen von P. (Lpz. 1755. 41762. (1781). Wie J. G. B. P. ›Die Insel Felsenburg‹ fortNeudr. Ffm. 1970). Der zentrale Leitsatz zuschreiben versuchte. In: Jb. der Johann-Gott»Fürchte dein eignes Herz als deinen ge- fried-Schnabel-Gesellsch. 8 (2005), S. 115–124. Dominica Volkert / Red. fährlichsten Feind« findet in den verwickelten Liebesabenteuern des Helden seine Bestätigung: Die eigentlich hochbewerteten Pfeilschmidt, Andreas, * um 1500 Dresempfindsamen Regungen des Herzens ber- den (?), † nach 1560 Korbach (?). – Dragen in sich die Gefahr, in unkontrollierte, matiker u. Musiker. auch jurist. Normen verletzende AffektausP. immatrikulierte sich im Wintersemester brüche umzuschlagen. Diese Argumentation 1517 an der Universität Leipzig. 1555 erwarb liegt ebenfalls der Tragödie Lucie Woodvil er das Bürgerrecht im waldeckischen Kor(Ffm./Lpz. 1756. Neuaufl. Lpz. 1786. Neu mit bach. Im selben Jahr veröffentlichte »Andreas einem Nachw. hg. v. Dietmar Till. Hann. Pfeilschmidt von Dreßden, Geyger und 2006) zugrunde, mit der P. einen wichtigen Buchbinder zu Corbach« in Frankfurt/M. Ein Beitrag zur neuen Dramenform des bürgerl. hübsch und Christlich Spiel des gantzen Buchs EsTrauerspiels lieferte. Die Unausweichlich- ther. Es wurde auf dem Marktplatz in Korbach keit, mit der schwere Delikte auf affektives aufgeführt. Fehlverhalten folgen, zeigt sich hier noch P. ist nur durch ein Schauspiel in die Liteverschärft, wenn erot. Verfehlungen der El- raturgeschichte eingegangen, doch verdient tern (außerehel. Beziehung) erst bei den Esther schon durch die weitgehende UnabKindern zu einer Folge sich steigernder hängigkeit von Vorgängern (Hans Sachs, VaRechtsbrüche führen (Inzest, Vatermord, lentin Voith, Thomas Naogeorg) Beachtung. Selbstmord). Die Protagonistin wandelt sich P. hat, nicht zuletzt um viel Personal zu bedabei von der tugendsam Liebenden über die schäftigen, trotz großer Bibeltreue die reuige Sünderin zur hassenden Mörderin – Handlung mit lebensnahen u. volkstüml. eine Neuerung im aufklärerischen Drama, Szenen angereichert u. bietet gerade in diesen das Entwicklung von Charakteren bis dahin Zusätzen ein charakterist. Bild des 16. Jh. nicht vorsah. Auffallend ist die große Zahl von NebenP.s jurist. Schriften behandeln jene bürgerl. texten. P. verstand den Druck nicht als reinen Pflichten, die Unruhe u. revolutionären Ten- Lesetext, sondern auch als prakt. Anleitung; denzen vorbeugen (Preisschrift von den [...] offenbar rechnete er mit WiederaufführunMitteln, dem Kindermord abzuhelfen, ohne die gen (schon der Erstdruck: »New gespielt«). Unzucht zu begünstigen. Mannh. 1784. Neuaufl. Der genau verzeichnete Musikeinsatz geht Lpz. 1788. Von der Erfüllung der Pflichten der nicht über das übliche Maß hinaus; eine Besonderheit stellt jedoch das angehängte höheren Stände eines Volks. Lpz. 1794). Weitere Werke: Vom bürgerl. Trauerspiele. In: Akrostichonlied auf den Namen der Gräfin Neue Erweiterungen der Erkenntnis u. des Ver- Anastasia von Waldeck dar. Es ist der Mäzegnügens 31 (1755). – Versuch in moral. Erzählun- nin des Spiels als Ich-Lied in den Mund gelegt gen. Lpz. 1757. – Die glückl. Insel, oder Beytrag zu u. stellt eine Hommage an ihren Gatten dar. des Capitain Cooks neuesten Entdeckungen [...]. Die beigegebene Melodie wurde aus Georg Forsters Frischen Teutschen Liedlein (1539) entLpz. 1781. nommen. Neuausgabe: Versuch in moral. Erzählungen. P.s Drama erlebte eine bedeutende RezepAusgew. u. mit einem Nachw. hg. v. Alexander tion. Von ihm hängen Schweizer EstherdraKosˇ enina. St. Ingbert 2006.

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men ebenso ab wie das 1564 in Jena erschienene Spiel von Wolfgang Küntzel. Marcus Pfeffer (Wolfenbüttel 1621) hat es für sein Pasticcio bes. stark benützt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde das Stück 1581 auch in Marburg aufgeführt (Abraham Saur: Diarium historicum. Ffm. 1582, S. 135). Ein Straßburger Raubdruck (1581) zeugt von einer Aufführung in Köln. Ein weiterer Nachdruck erschien Köln 1593. Ausgaben: Esther. Ffm. 1555. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Dass. Hg. Barbara Könneker u. Wolfgang F. Michael. Mit einem Anhang v. Friedhelm Brusniak: ›A. P. als Musiker u. Melodienschöpfer‹. Bern/Ffm./New York 1986 (Lit.). Literatur: Hugo Holstein: P. In: ADB. – Rudolf Schwartz: Esther im dt. u. nlat. Drama des Reformationszeitalters. Oldenb./Lpz. [1894]. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern/Ffm./New York 1984. – Friedhelm Brusniak: Grundzüge einer Musikgesch. Waldecks. In: Musik in Waldeck-Frankenberg. Musikgesch. des Landkreises. Hg. vom Kreisausschuss des Landkreises. Korbach 1997, S. 20–22. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007. Friedhelm Brusniak / Irmgard Scheitler

Pfemfert, Franz, auch: U. Gaday, * 20.11. 1879 Lötzen/Ostpreußen, † 26.5.1954 Mexiko City; Grabstätte: ebd., PantheonFriedhof. – Publizist, Zeitschriftenherausgeber, Verleger, Lyriker. P., eine der einflussreichsten Figuren des literar. Expressionismus, verdankt seine literaturgeschichtl. Bedeutung der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Die Aktion« (Bln. 1911–32. Neudr. hg. v. Paul Raabe. Mchn. 1961–73), die zwischen 1911 u. 1919 neben Herwarth Waldens Zeitschrift »Der Sturm« das publizist. Zentrum der damals jüngsten Literatur der Moderne bildete. Der in Berlin aufgewachsene Sohn eines Bäckers, der mit 13 Jahren den Vater verlor u. den die Mutter danach vom Gymnasium nahm, erhielt als Autodidakt entscheidende Anregungen in Berliner Anarchisten- u. Bohemekreisen. Seine Lyrik blieb unbedeutend; ab 1910 veröffentlichte er sie nur noch pseudonym (U. Gaday = russ. »rate mal«). In diesem Jahr

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übernahm er die Schriftleitung der Zeitschrift »Der Demokrat«, einer »Wochenschrift für freiheitliche Politik und Literatur«, die als erste Zeitschrift des literar. Expressionismus gelten kann. Hier erschien unter seiner Redaktion Hoddis’ berühmtes Gedicht Weltende, hier sammelte er Autoren wie Georg Heym, Kurt Hiller, Carl Einstein, Ludwig Rubiner u. Mynona um sich. Sie alle wurden wenig später zu Mitarbeitern jener Zeitschrift, die P. Anfang 1911 begründete u. als alleiniger Herausgeber zeichnete: der »Aktion«. Sie war sein Lebenswerk. In ihr verbanden sich kunstrevolutionäres u. politisch linksradikales Engagement. Seine eigenen kulturkrit. u. polit. Artikel protestierten mit aufklärerischen Appellen an die Vernunft gegen den Chauvinismus u. Militarismus des Wilhelminischen Kaiserreichs. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gehörte P. zu der zunächst kleinen Minderheit der literar. Intelligenz, die sich der nationalen Begeisterung verweigerte. Als Meisterleistung seiner redaktionellen Arbeit gelten die subtilen Praktiken indirekter Kriegskritik, mit denen er ab Aug. 1914 die verschärfte Zensur umging u. »Die Aktion« kontinuierlich weitererscheinen lassen konnte. Unter der Rubrik »Verse vom Schlachtfeld« förderte er einen neuen Typus der Antikriegslyrik; dem nationalist. Hass auf die Kriegsgegner setzte er betont internat. Sondernummern entgegen, die jeweils der Literatur eines feindl. Landes gewidmet waren. Die von ihm initiierten, herausgegebenen u. verlegten Reihen Die Aktions-Lyrik (Bde. 1–7, Bln. 1916–22), Aktions-Bücher der Aeternisten (Bde. 1–10, Bln. 1916–21), Politische Aktions-Bibliothek (Bde. 1–13, Bln. 1916–30) u. Der Rote Hahn (Bde. 1–60, Bln. 1917–25), die 1973 alle als Nachdruck erschienen (Nendeln), ergänzten das Programm der Zeitschrift. Während des Kriegs gründete P. illegal die »Antinationale Sozialistenpartei Deutschlands«, 1918/19 arbeitete er mit dem Spartakusbund zusammen, in den 1920er Jahren wurde er zum entschiedenen Gegner der KP u. zum Anhänger Trotzkis. P. hatte sich mit der »Aktion« seit 1919 vom Expressionismus entfernt u. das Interesse an Literatur verloren.

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Mit ihrem rätekommunistischen, gegen den Zentralismus der Parteien gerichteten Programm führte die Zeitschrift bald auch ein polit. Schattendasein. Mit einem Fotoatelier sicherte sich P. finanzielle Unabhängigkeit. 1933 floh er zus. mit seiner jüd. Frau, der Buchhändlerin u. Übersetzerin Alexandra Ramm, in die Tschechoslowakei, 1936 nach Paris u. 1940 nach New York. Seit 1941 lebte er in Mexiko. Vereinsamt, vergessen, verarmt u. psychisch krank starb er dort im Alter von 75 Jahren. Weitere Werke: Bis August 1914. Bln. 1918 (Aufsätze). – Ich setze diese Ztschr. wider diese Zeit. Sozialpolit. u. literaturkrit. Aufsätze. Hg. Wolfgang Haug. Darmst./Neuwied 1985. – Herausgeber: 1914–1916. Bln. 1916 (L.-Anth.). – Jüngste tschech. Lyrik. Bln. 1916 (Anth.). – Karl Liebknecht: Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft u. aus dem Zuchthaus. Bln. 1919. – Ders.: Polit. Aufzeichnungen aus dem Nachl. Bln. 1921. – John Most: Für die Einheitsfront des revolutionären Proletariats. Bln. 1921. Literatur: Paul Raabe: ›Die Aktion‹. Gesch. einer Ztschr. Vorw. zur Reprintausg. a. a. O. 1961. – Ders. (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus u. Politik in F. P.s ›Aktion‹. Mchn. 1964. – Wolfgang Haug: Das ›Phänomen P.‹ – eine biogr. Skizze. In: F. P.: ›Ich setze diese Ztschr. wider diese Zeit‹. a. a. O., S. 7–62. – Lisbeth Exner u. Herbert Kapfer (Hg.): P. Erinnerungen u. Abrechnungen. Texte u. Briefe. Unter Mitarb. u. mit einem Vorw. v. Ellen Otten. Mchn. 1999. – Michael Enderlein: Wider die ›heilige deutsche Indolenz‹: F. P. u. seine ›Aktion‹ im expressionist. Jahrzehnt. In: MusilForum 28 (2005), S. 242–269. Thomas Anz

Pfennig, Jörn, * 24.6.1944 Breslau. – Lyriker, Erzähler, Liedermacher. P. wuchs zus. mit drei Geschwistern in Tübingen auf. Dort legte er 1963 das Abitur ab u. studierte anschließend Jura, um Diplomat zu werden. 1964 zog er jedoch nach München u. begann mit dem Studium der Theaterwissenschaft. Schon während der Schulzeit entwickelte sich P.s Interesse für Musik; als Autodidakt erlernte er das Klarinette- u. Saxofon-Spielen u. trat in Jazzkneipen als Musiker u. auch als Liedermacher auf. P. lebt u. arbeitet heute in Burghausen in Oberbayern.

Seit etwa 1968 wandte er sich dem Medium Film zu; er wirkte an verschiedenen Projekten mit u. gab sein Studium auf. 1974–1978 arbeitete P. als freier Autor u. Moderator für verschiedene Radio- u. Fernsehsendungen. 1979 erschien der erste Gedichtband, Grundlos zärtlich (Mchn.), der sich, ebenso wie seine späteren Werke, sehr erfolgreich verkaufte (33/341991. Neuaufl. Mchn.: Heyne 1993. 3 1996). Hier wie in den folgenden Bänden kreist P.s Lyrik v. a. um das Thema Liebe in (fast) allen Variationen – Vertrautheit, Nähe u. Erotik ebenso wie Zurückweisung, Verzweiflung u. abgestumpfte Gefühle –, setzt sich aber auch mit Politik, Gesellschaft u., seiner Meinung nach, veralteten Moralvorstellungen auseinander. Mit wenigen Worten u. viel Sprachwitz gelingt es ihm, Stimmungen einzufangen u. literarisch zu gestalten; er hat dabei immer das Detail u. den Moment im Blick. 1982 erschien sein autobiogr. Buch Abschied von der Männlichkeit. Lieber menschlich als männlich! (Mchn. 111991. Neuaufl. Mchn.: Heyne 1994. 21995), eine Abrechnung mit dem Prinzip der Männlichkeit u. ein lebhaftes Plädoyer für eine Annäherung der Geschlechter: die alternative Zweisamkeit. P. ist heute einer der erfolgreichsten u. etabliertesten Lyriker dt. Sprache. Nachdem seine Werke zunächst bei Schneekluth, dann im Heyne-Verlag erschienen, beendete er 2004 die Zusammenarbeit mit Heyne, als der Verlag Teil der Bertelsmann-Gruppe wurde. Seitdem sind P.s Werke nicht mehr auf dem Markt, sondern nur noch gebraucht in Antiquariaten oder über das Internet erhältlich. Leseproben aus seinem letzten Band, Nirgendwie. Ein seltsam normales Lesebuch (fertiggestellt 2008), der neben Lyrik Geschichten, Satiren u. Notizen sowie Fotografien erhält, sind im Internet zugänglich. Weitere Werke: Hand aufs Hirn. Mchn. 1981. 1991. Neuaufl. Mchn.: Heyne 1995 (L.). – Keine Angst dich zu verlieren. Mchn. 1984. 161990. Neuaufl. Mchn.: Heyne 1993. 41996 (L.). – Du Kakadu. Ein Gemeinschaftswerk (zus. mit A. Preller). Mchn. 1986 (Cartoons). – Immer für dich / nie nur für dich / immer. Mchn. 1989. Neuaufl. Mchn.: Heyne 1999 (L.). – Das nicht gefundene Fressen. Mchn. 1989 (E.). – Liebeslänglich. Ausgew. Gedichte. Mchn.: Heyne 1995. Katharina Frühe / Red.

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Pfenninger

Pfenninger, Johann Konrad, * 15.11.1747 Zürich, † 11.9.1792 Zürich. – Prediger, Liederdichter. Nach dem Studium der Theologie erhielt P. 1767 die Ordination, 1775 die Diakons-, 1778 die Pfarrstelle an der Waisenhauskirche, 1786 das Diakonat an St. Petri in Zürich, stets als Nachfolger u. engster Mitarbeiter von Lavater, der dem Freund nach dessen frühem Tod Etwas über Pfenningern (3 H.e, Zürich 1792/93) widmete. 1767 stiftete P. die Ascetische Gesellschaft, die zunächst der Betreuung von Gefangenen u. der Vorbereitung von zum Tode verurteilten Verbrechern auf ihre Strafe, dann der allg. Predigerausbildung diente. Der Predigt u. dem Bibelverständnis gelten eine Reihe von P.s Schriften (Fünf Vorlesungen von der Liebe der Wahrheit. Von dem Einflusse des Herzens auf den Verstand. Von fehlerhafter und richtiger Methode die Heiligen Schriften zu studieren. Zürich 1774. Von der Popularität im Predigen. 3 Bde., Zürich/ Winterthur 1777–86. Repertorium für denkende Bibelverehrer aller Konfessionen. 3 Bde., Zürich 1784–86. Ueber die Parabeln Jesu und ihre Nachahmung in Predigten. Zürich 1786). Postum erschienen 28 Briefe an Nicht-Musiker. Ueber Musik als Sache der Menschheit (Zürich 1792), die ausgewählte, weltl. Gesänge u. Melodien enthalten. Seine geistl. Lieder sind in den von ihm herausgegebenen Sammlungen zu einem christlichen Magazin (14 Bde., Zürich 1781–83) enthalten, das Trostlied Du wähnst, dich liebe Gott nicht mehr fand durch die Aufnahme in das Bremer reformierte Gesangbuch (Bremen 1812) weitere Verbreitung. Literatur: Koch 6, S. 512 f. – ADB. – Goedeke 4,1, S. 284–287. – Anna Stüssi: P. In: Kosch. – Karl Friedrich Ulrichs: P. In: Bautz. Heimo Reinitzer / Red.

Pfest, Leopold Ladislaus, getauft 15.11. 1769 Isen bei Erding, † 3.10.1816 Salzburg. – Herausgeber von Anthologien. Der Sohn eines fürstlich freisingischen Rats ging in Freising zur Schule u. studierte in Salzburg Theologie u. Jura. Er trat 1791 in den Staatsdienst u. wurde 1793 Anwalt. Seit 1797 war er Schreiber u. a. in Neumarkt,

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Mattsee, Waging u. Saalfelden sowie Administrator der Pfleg- u. Landgerichte Neuhaus u. Glaneck, 1805 wurde er kursalzburgischer Rat u. Pfleger in Neuhaus (bei Salzburg), 1810 in Salzburg Landrichter. P. ist als Herausgeber von Anthologien bedeutend. Nach dem Vorbild von Matthissons Lyrischer Anthologie stellte er die mustergültige Anthologia epigrammatica latina e poetis post renatas scientias ad nostra usque tempora claris edita (nur Bd. 1, Salzb. 1805) zusammen. Die Anthologie Tisch- und Trinklieder der Deutschen (2 Bde., Wien 1811) leistet mit einer repräsentativen Auswahl von der Frühaufklärung bis zu Goethe u. Schiller einen Beitrag zur Geschichte der Geselligkeit im 18. Jh. Mit Jahreszeiten. Eine Liederlese für Freunde der Natur (Salzb. 1812) versuchte P., die im 18. Jh. begründete dt. Idyllentradition – losgelöst von einem enggefassten, normativen Gattungsverständnis – mit 106 Autoren von Bürger bis Wieland zu dokumentieren. Von seinen eigenen Dichtungen (Gedichte. Salzb. 1804. Epigramme. Wien 1811) verdienen nur die Epigramme bes. Interesse. P. erweist sich mit ihnen als ein von der griechisch-röm. Tradition beeinflusster Autor, der v. a. die satirisch-iron. Schreibart pflegt. Literatur: Clemens Alois Baader: Freundschaftl. Briefe. Sulzbach 1823, S. 247–249. – Clemens Alois Baader: Lexikon verstorbener bair. Schriftsteller 1,2. Augsb./Lpz. 1824, S. 141–143. – Josef Schwarzbuch: L. L. P. In: Mitt.en der Gesellsch. für Salzburger Landeskunde 33 (1893), S. 213–218. Wilhelm Haefs / Red.

Pfinzing, Pfintzing, Melchior, * 25.11.1481 Nürnberg, † 24.11.1535 Mainz. – Kaiserlicher Sekretär, Redaktor historisch-epischer Schriften im Auftrag des Kaisers. P. stammte aus dem Geschlecht der Pfinzing von Henfenfeld, einem der vornehmsten Nürnberger Ratsgeschlechter. Nach dem Studium in Ingolstadt (Immatrikulation am 23.5.1494), wo er mit dem Humanismus (Conrad Celtis) in Berührung kam, trat er als Sekretär (später Rat) in den Dienst König Maximilians I., dann Karls V. Er erhielt reiche kirchl. Pfründe, war politisch u. diplomatisch für den Hof tätig, ließ sich als Mäzen feiern u.

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Pfitzner

war einer der wichtigsten Helfer Maximilians Pfitzner, Hans (Erich), * 5.5.1869 Moskau, bei der Verwirklichung von dessen literar. † 22.5.1949 Salzburg. – Komponist, AuPlänen. tor u. Musiktheoretiker. 1517 erschien unter seinem Namen in Nürnberg (so die Angabe im Kolophon; P.s Familie übersiedelte 1872 nach Deutschrichtig dürfte sein: Augsburg) der Theuerdank, land, wo der Vater Orchestergeiger am ein allegor. Ritterepos, das Abenteuer Maxi- Stadttheater in Frankfurt/M. war. Nach dem milians »in form mass und weis der helden- Studium am Hoch’schen Konservatorium pücher« (Bl. a iir) darstellt. Während an den wurde P. 1897 Dozent am Stern’schen KonEntwürfen andere Sekretäre u. zumal der servatorium in Berlin, wo er in den KünstKaiser selbst beteiligt waren, dürfte die rhe- lerkreisen der Stadt verkehrte. 1905/06 ertorisch u. metrisch glättende Endredaktion P. schienen seine ersten Schriften in den neu gehören, der auch einen »Schlüssel« für die gegründeten »Süddeutschen Monatsheften« Allegorien verfasste. Auch an der Prosadar- in München. Seit 1907 Leiter des Konservastellung der Geschichte Maximilians (Jugend, toriums, später auch der städt. Oper in Kriege, diplomat. Ereignisse), dem Weissku- Straßburg, entwickelte P. parallel zu den nig, war er nach 1514 beteiligt. Im 16. u. 17. kompositorischen wie aufführungsprakt. ErJh. galt er als wichtigster Repräsentant fahrungen grundlegende kunsttheoret. Gevolkssprachl. Poesie im Zeitalter Maximili- danken, wobei der im Kapitel Zur Grundfrage der Operndichtung seiner ersten Buchpublikaans. tion, Vom musikalischen Drama (Mchn. 1915), Ausgaben: Vgl. Art. Maximilian I. – Kaiser Maximilian I. Die Abenteuer des Ritters Theuerdank dargelegten Einfallsästhetik weitwirkende (1517). Nachdr. Köln 2003 (mit Begleith. v. Stephan Bedeutung zukommen sollte. An der Erstellung der Texte für seine Füssel: Kaiser Maximilian u. die Medien seiner Zeit. Der Theuerdank v. 1517. Eine kulturhistor. Opern von Anfang an aktiv teilnehmend, Einf.). verfasste P. die – von Thomas Mann in den Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Betrachtungen eines Unpolitischen gewürdigte – Gerd Wunder: P. die Alten [...]. In: Mitt.en des Dichtung zu seinem musiktheatral. HauptVereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 49 (1959), werk Palestrina (Urauff. Mchn. 1917. DiriS. 34–65. – Jan-Dirk Müller: ›Gedechtnus‹ [...]. gent: Bruno Walter) selbst. Als Librettist seiMchn. 1982, passim. – Ders.: M. P. In: VL. – Dieter ner Oper Das Herz (Urauff. Mchn. u. Bln. J. Weiß: M. P. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 14, 1931. Dirigenten: Wilhelm Furtwängler, Würzb. 1991, S. 14–29. – Dietrich Heider: Der modale Ausdruck im Deutschen. Stationen seiner Hans Knappertsbusch) firmierte Hans MahEntwicklung vom 12. bis zum 18. Jh. Diss. Tüb. ner-Mons, während sich P. »Neunzehntel« 1996. – Rosemarie Aulinger: P. In: NDB. – Jan der Wortfassung selbst zuschrieb. Eine wieCölln: Theuerdank in Rostock. Ein Fall der hand- derum uneingeschränkt eigenständige poet. schriftl. Rezeption des Buchdrucks im 16. Jh. In: Leistung P.s sind die 6 Sonette auf Gottfried Beiträge zur Gesch. der dt. Sprache u. Lit. 126 August Bürger, E. T. A. Hoffmann, Scho(2004), S. 425–433. – Barbara Schmid: Schreiben penhauer, Albert Lortzing, Schumann u. für Status u. Herrschaft. Dt. Autobiographik in Wagner (in: Gesammelte Schriften. Bd. 2, SpätMA u. früher Neuzeit. o. O. 2006, Register. – Augsb. 1926). Mit Futuristengefahr (Mchn. Ursula Schulze: Dietrich v. Bern u. König Artus. 2 Maximilian, Theuerdank. Ein verändertes Helden- 1917. 1918) entgegnete er Ferruccio Busonis bild u. die intermediale Kohärenz des Buches. In: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907), Kaiser Maximilian I. (1459–1519) u. die Hofkultur in dem er seine pessimist. Vision einer Zerseiner Zeit. Hg. Sieglinde Hartmann. Wiesb. 2009, schlagung des klassisch-romant. Erbes bestäS. 23–33. Jan-Dirk Müller / Red. tigt sah. Nach dem Krieg nach Unterschondorf am Ammersee übergesiedelt, veröffentlichte P. mit Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom? (Bln. 1920) eine gegen den Musikkritiker Paul Bekker gerichtete

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Streitschrift. 1920 als Nachfolger von Richard H. P. Münchner Dokumente, Bilder u. Bildnisse. Strauss zum Leiter der Meisterklasse für Hg. Gabriele Busch-Salmen. Regensb. 1990. – John Komposition an die Preußische Akademie der Williamson: The Music of H. P. Oxford 1992. – Künste Berlin, 1929 auf Lebenszeit an die Wolfgang Osthoff (Hg.): H. P. u. die musikal. Lyrik seiner Zeit. Tutzing 1994. – Peter Cahn u. ders. Münchner Akademie der Tonkunst berufen, (Hg.): H. P. ›Das Herz‹ u. der Übergang zum Spätwurde P. 1933 Mitgl. des »Führerrats« der werk. Tutzing 1997. – Johann Peter Vogel: H. P. Reichsmusikkammer; 1934 wurde er seines Leben – Werke – Dokumente. Zürich 1999. – SaLehramts wegen Erreichung der Altersgrenze bine Busch: H. P. u. der NS. Stgt./Weimar 2001. – B. enthoben, aber zum Reichskultursenator er- Adamy: P. In: NDB. – Rainer Franke (Hg.): H. P. u. nannt. Zur populärsten seiner im Dritten das musikal. Theater. Tutzing 2008. Reich erschienenen Schriften wurde Über Markus Engelhardt / Red. musikalische Inspiration (Bln. 1940. Erw. 4 1943), eine Erwiderung auf Julius Bahles Pfizer, Gustav, * 29.7.1807 Stuttgart, Einwände gegen P.s Begriff des Einfalls. † 19.7.1890 Stuttgart. – Lyriker, ÜbersetDiese nach P. »wichtige Ergänzung und Ver- zer, Redakteur. vollständigung meiner ästhetischen Anschauungen« ist ein Pamphlet gegen einen Nach dem Schulunterricht in Blaubeuren Andersdenkenden voller Assonanzen an den studierte der Beamtensohn 1825–1830 Theologie u. Philosophie am Tübinger Stift, NS-Propagandajargon. 1945 vor russ. Truppen nach Garmisch- wo David Friedrich Strauß u. Friedrich Partenkirchen geflohen, arbeitete P. an der Theodor Vischer zu seinen Kommilitonen seit 1940 geplanten Autobiografie Eindrücke zählten u. er kurzzeitig Repetent war. 1831 und Bilder meines Lebens (Teilfassung Hbg. debütierte P. mit dem Bändchen Gedichte. 1947). Der Glosse zum II. Weltkrieg (in: Zeit- Nach einer Italien-Reise 1834 entfaltete er schrift für Musikpädagogik 10, 1980, neben seiner literar. Tätigkeit rege Aktivität S. 17–22) kommt als singuläre Auseinander- als Übersetzer u. Redakteur. 1835 bis 1839 setzung eines dt. Komponisten mit dem Na- gab er seine Übertragungen von Byrons tionalsozialismus bes. Bedeutung zu. P.s Be- Dichtungen (4 Bde., Stgt.) heraus u. war als ziehungen zur NS-Kulturpolitik, seine Nei- Mitübersetzer u. a. an der Herausgabe von gung zu polem. Überzeichnung u. die Ten- Bulwer-Lyttons Sämtlichen Romanen (15 Bde., denz, die sachl. Argumentation mit nationa- Stgt. 1838–43) beteiligt. Seit 1836 leitete er listischen u. antisemit. Betrachtungen zu die »Blätter zur Kunde der Literatur des verquicken, behindern eine unvoreingenom- Auslandes« u. 1838–1845 den lyr. Teil von mene Rezeption seiner Schriften, die gleich- Cottas »Morgenblatt«. 1846 trat P. in den wohl in jüngerer Zeit auf editorischem u. Schuldienst ein u. war bis zu seiner Pensiowiss. Gebiet neue Impulse erfahren hat. Ak- nierung 1872 Professor am Stuttgarter Obertuell sind nach wie vor P.s Überlegungen in gymnasium, wo er sich mit Gustav Schwab Werk und Wiedergabe (in: Gesammelte Schriften. befreundete. In der breiten Öffentlichkeit bes. durch das Bd. 3, Augsb. 1929. Neudr. Tutzing 1969) zu interpretator. Grundsatzfragen u. zur Inte- Lied Meiner Heimat Berge dunkeln populär geworden, verband P. in seinem Schaffen grität des Werkbegriffs. württembergischen Traditionalismus mit reAusgabe: Sämtl. Schr.en. Hg. u. eingel. v. Bernligiös-protestant. Weltanschauung. Dieser hard Adamy. 4 Bde., Tutzing 1987 (mit einem Geideolog. Grundton seiner Lyrik mit der ihr samtverz. der Schr.en, S. 754–759, u. einer Biblioinnewohnenden postromant. Formelhaftiggr. der Sekundärlit., S. 760–765). keit veranlasste Goethe zu einem negativen Literatur: Walter Abendroth: H. P. Mchn. 1935. – Bernhard Adamy: H. P. Lit., Philosophie u. Urteil über die sog. Schwäbische DichterZeitgeschehen in seinem Weltbild u. Werk. Tutzing schule en gros in einem Brief an Zelter 1980. – Ders.: Das Palestrina-Textbuch als Dich- (4.10.1831): » [...] ich legte das Büchlein eilig tung. In: Symposium H. P. Bln. 1981. Tutzing weg, da man sich beim Eindringen der Cho1984, S. 21–65 (mit weiterer Lit. zu ›Palestrina‹). – lera vor allen deprimierenden Unpotenzen

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strengstens hüten soll.« Heines überscharfer Verriss P.s im »Schwabenspiegel« (1839) wurde freilich durch dessen krit. Aufsatz Heines Schriften und Tendenz (1838. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, H. 1, S. 167–247) verursacht. Als Verfasser volkstümlich gehaltener Geschichtsbücher u. kulturhistor. Skizzen blieb P. das Interesse der Leser versagt. Weitere Werke: Gedichte. Neue Slg. Stgt. 1835. – Uhland u. Rückert. Stgt. 1837. – Dichtungen epischer u. epischlyr. Gattungen. Stgt. 1840. – Bilder aus dem 15. Jh. Der Welsche u. der Deutsche. Stgt. 1840. – Gesch. Alexanders des Großen für die Jugend. Stgt. 1846. – Gesch. der Griechen für die reifere Jugend. Stgt. 1847. Literatur: Ambros Mayr: G. P. In: Der schwäb. Dichterbund. Stgt. 1886, S. 199–221. – Sengle 1. – Gerhard Storz: Schwäb. Romantik. Stgt. u. a. 1967, S. 68–72. – Kurt Oesterle: Arme Zeisige der Gedankenlosigkeit. Heinrich Heine gegen die schwäb. Schule. In: Schwäb. Tagblatt, 11.2.2006. Marek Zybura / Red.

Pfleger, Karl, Charles, * 6.10.1883 Dachstein/Elsass, † 7.4.1975 Behlenheim/Elsass. – Seelsorger, Theologe; Publizist u. Übersetzer. Der Sohn eines Lehrers studierte kath. Theologie in Straßburg (1902–1908), wirkte nach der Priesterweihe als Vikar in Brumath u. Straßburg, zog sich anschließend für den Rest seines Lebens auf kleine Landpfarreien in der Umgebung Straßburgs zurück (Bilwisheim, ab 1937 Behlenheim), um sich v. a. seiner literar. Tätigkeit zu widmen. In hunderten, fast durchweg deutsch geschriebenen Artikeln u. Rezensionen (mehr als 200 Titel allein bis 1945; von 1907 bis 1975 regelmäßiger Kolumnist des Straßburger »Elsässer«, nach 1944 »Le Nouvel Alsacien«; viele Beiträge in dt. Zeitschriften), daneben in zahlreichen Büchern u. Übersetzungen (durchweg mehrere Auflagen) hat sich P. als Protagonist des modernen Katholizismus, zgl. als engagierter Zeitbeobachter u. Interpret der frz. Literatur, aber auch mancher russischer Mystiker (Solowjew, Berdjajew), einen herausragenden Namen gemacht. Seine Lebensleistung wurde mit der Würde eines Ehrendomherrn u. Ritters der Ehrenlegion sowie

mit dem Oberrheinischen Kulturpreis (1974) bedacht. P.s »christozentrisches« Denken sah in Christus die Achse der Weltgeschichte, das personale Versprechen eines in den Drohungen der Geschichte u. im Strudel der modernen Gesellschaft zwischen Bolschewismus u. Kapitalismus aufleuchtenden u. zuletzt im Zeichen Teilhard de Chardins meditierten kosmolog. Heilsgeschehens. P.s Kontakte mit dt. Autoren, darunter Reinhold Schneider u. die in einem dichten Briefwechsel dokumentierte Freundschaft mit dem Münsteraner Religionsphilosophen Peter Wust, verflochten sich mit kontinuierl. Bemühungen, bes. die Repräsentanten des frz. Renouveau Catholique in Rezensionen, Essays, Übersetzungen u. Vorworten den dt. Lesern zu vermitteln. Bes. fasziniert war P. von Léon Bloy, dem »Pilger des Absoluten«, frommen Bohemien, erbitterten Pamphletisten u. wortgewaltigen, »am Rande des Wahnsinns hinstürmenden« Kritiker des bürgerl. »Juste Milieu«. Zwar fühlte sich P. abgestoßen von Bloys geiferndem Ton, doch sorgte er wie kein Zweiter für Bloys dt. Verbreitung: u. a. in der Übersetzung von Bloys Briefen an seine Braut (Salzb. 1935. Heidelb. 61958. Lpz. 1977) samt einem ausführl. Vorwort, in der Einleitung zu Bloys Das Blut des Armen (Salzb. u. Lpz. 1936; später u. a. Heidelb. 51952), von Böll u. seiner Familie »jahrelang wie eine Bibel« gelesen, sowie in einem bedeutenden Essay (in: Geister die um Christus ringen). An Bloys Brautbriefen faszinierte P. die literar. Osmose von religiöser Gottesliebe u. glühender Sinnlichkeit, zgl. erinnerte ihn der Franzose an den späten Nietzsche, an Strindberg, v. a. aber an Figuren Dostojewskis. Was P. auch an Simone Weil u. Charles Péguy interessierte, war das Nach- oder auch das komplexe Miteinander mystischer, manchmal kindl. Frömmigkeit u. revolutionären Protestes. Der große Péguy-Essay (ebenfalls in: Geister die um Christus ringen), der mit Curtius’ Péguy-Porträt, das P. kannte, zu vergleichen ist, würdigt den frühen Sozialisten, Dreyfusard u. Atheisten Péguy, der die Reihe seiner Jeanne d’Arc-Dichtungen mit wachsender Kritik an Politikern u. Intellektuellen, ja an der »Moderne« überhaupt verband. Von Bloy

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ziehen sich für P. Linien des Protestes auch zu Pflug, Julius, * 1499 Eythra bei Leipzig, Bernanos, indem nämlich in dessen Tagebuch † 3.9.1564 Zeitz. – Humanist u. Kircheneines Landpfarrers, »besonders in den Ausfüh- politiker. rungen über die Armut der Geist Bloys wieder lebendig geworden« sei. Im Ganzen verstand P. studierte an der Universität in Leipzig sich P., dem Neothomismus u. kath. Trium- (seine Griechischlehrer dort warten Richard phalismus eines Paul Claudel eher fernste- Crocus u. Petrus Mosellanus), in Bologna u. hend, als Verkünder u. Hoffnungsträger eines vermutlich in Padua sowie für kurze Zeit »neuen, integralen Humanismus« christli- Rechtswissenschaft wiederum in Leipzig. Eine weitere Italienreise nach Rom u. Venedig cher Prägung jenseits der nat. Grenzen. weitete den Horizont. Durch das humanist. Weitere Werke: Im Schatten des Kirchturms. Klima in Leipzig bestens geprägt, wurde er Die stillen Erlebnisse eines Dorfpfarrers. Paderb. 4 1932. 1952. – Geister, die um Christus ringen. früh Teil der durch persönl. Bekanntschaften, Salzb. 1934. Bonn 1935. Heidelb. 1946 u. ö. Engl. Buchwidmungen u. bes. durch die intensive London 1936. – Die christozentr. Sehnsucht. Col- Briefkultur charakterisierten humanist. Welt mar 1945. – Die reichen Tage. Münster 1951. u. kam mit zahlreichen Humanisten in Kon3 1964. – Nur das Mysterium tröstet. Ffm. 1957. takt. Dazu zählten Willibald Pirckheimer, 2 1959. – Kundschafter der Existenztiefe. Ffm. Ulrich von Hutten, Joachim Camerarius u. 1959. 21960. – Christl. Aufschwung Ffm. 1963. v.a. Erasmus von Rotterdam. Auf zwei Fel2 1965. – Die verwegenen Christozentriker. Freib. i. dern entwickelte sich das Wirken von P.: dem Br. 1964. – Glaubensrechenschaft eines alten politischen u. dem kirchenpolitisch-theoloMannes. Ffm. 1967. 21968. – Christusfreude. Auf den Wegen Teilhard de Chardins. Ffm. 1973. gischen. Es war das Herzogtum Sachsen, wo 2 1974. – Lebensausklang. Ffm. 1975 (mit Beiträgen er seine Tätigkeiten entfalten konnte (1522 zu Leben u. Werk P.s). – Briefwechsel: Dialog mit Assessor am Leipziger Oberhofgericht), sowie Peter Wust. Briefe u. Aufsätze. Heidelb. 1949. damit zusammenhängend im zunehmenden 2 1953. – Max Picard: Briefe an den Freund K. P. Maße in der Reichspolitik (Teilnahme 1530 Erlenbach-Zürich/Stgt. 1970 (mit Beitr. P.s). am Augsburger Reichstag sowie u. a. an den Literatur: Alfred Boehm: Charles P. zum 60. Reichstagen in Regensburg 1541 u. 1546). Geburtstag. In: Archives de l’Eglise d’Alsace N. F. 1 P. machte aufgrund verwandtschaftlicher (1946), S. 299–310. – Louis Wintz: Drei offene Beziehungen u. Förderung durch den sächs. Briefe an K. P. (1883–1975). Gedenkschr. mit einem Herzog Georg den Bärtigen früh u. dauerhaft Vorw. v. Ernest Lenhardt. Ffm. o. J. [1978]. – Victor eine Karriere im Raum der Kirche (u. a. Hell: Charles P. et Huysmans. Modernisme et modernité esthétique en Allemagne. In: Revue des Dompropst in Zeitz, Domherr u. Domdekan Sciences Humaines 43 (1978), S. 264–272. – Claude in Meißen, Domherr in Mainz, wo er den reMuller in: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 12, Pa- formorientierten Mainzer Kreis kennenlernris 1984, Sp. 1251–1253. – Marc Grosstephan: Iti- te), die in seiner Wahl 1541 zum Bischof von néraire d’un prêtre alsacien. K. P. Ecrivain français Naumburg-Zeitz kulminierte; ein Amt, das de langue allemande 1883–1975. Vorw. v. L. Wintz. er nach langen Streitigkeiten mit dem ino. O. u. J. [Colmar 1995] (hier ein biogr. Abriss, zwischen reformierten Kurfürstentum SachS. 21–35, sowie am Ende der ergänzungsbedürftige sen erst 1547, nach dem Sieg des Kaisers über Versuch einer Werkbibliogr., S. 331–338). – C. die Protestanten im Schmalkaldischen Krieg, Muller in: NDA 28, S. 2997 f. – Otto Weiß: P. In: Bautz. – Wilhelm Kühlmann: Peter Wust u. der mit Residenz in Zeitz antreten konnte. Eine Elsässer K. P. als Übersetzer u. Vermittler des Re- Rekatholisierung des weithin protestant. nouveau Catholique. In: Moderne u. Antimoderne. Bistums gelang ihm nicht. Renouveau Catholique u. die dt. Lit. des 20. Jh. Hg. Zentralanliegen waren ihm Kircheneinheit ders. u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, u. Kirchenreform, wobei Letztere ein BedinS. 131–166. Wilhelm Kühlmann gungsgrund für Erstere sein solle. Erasmus von Rotterdam widmete P. 1533 seine wegweisende Einheitsschrift De sarcienda ecclesiae concordia, mit Philipp Melanchthon u. dem Straßburger Reformator Martin Bucer stand

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Briefausgabe: J. V. Pollet. (Hg.): J. P. Correer in Briefkontakt. An den reichspolit. Einigungsbestrebungen mit Religionsgesprächen spondance. 5 Bde., Leiden 1969–82. Literatur: Elmar Neuß u. J. V. Pollet (Hg.): auf den genannten Reichstagen war er beteiligt, unterstützte 1541 das Regensburger Buch, Pflugiana. Studien über J. P. (1499–1564). Münster et la crise eine letztlich gescheiterte Einigungsschrift, 1990. – J. V. Pollet: J. P. (1499- 1564) e u. stand 1557 als Präsident dem Religions- religieuse dans l’Allemagne du XVI siècle. Leiden 1990. – Herbert Immenkötter: J. P. In: TRE. – gespräch in Worms vor. 1534 u. indirekt 1539 Heribert Smolinsky: J. P. (1499–1564). In: Kath. nahm er an den sächs. Religionsgesprächen in Theologen der Reformationszeit. Bd. 6, Münster Leipzig teil. An der Erarbeitung des Augs- 2004, S. 13–32. – Alexander Schmidt: Vaterlandsburger Interim von 1548, einem Versuch, mit liebe u. Religionskonflikt. Politische Diskurse im römisch-kath. Dogmatik u. Entgegenkom- Alten Reich (1555–1648). Leiden/Boston 2007, men gegenüber protestant. Forderungen S. 193–239. Heribert Smolinsky Einheit herzustellen, war P. beteiligt; ebenso an den Verhandlungen über die Implemen- Pfranger, Albertine, geb. Hieronymi, tierung dieses Textes in Sachsen. Die Teil- * 1754 Hildburghausen, † 2.11.1819 nahme an der zweiten Tagungsperiode des Meiningen. – Verfasserin eines TageKonzils von Trient (1551/52) erfüllte nicht buchs. seine Hoffnung auf Kircheneinheit. Dieses Die zweite Tochter eines Geheimrats heiraThema beschäftigte ihn zeit seines Lebens. Ab den 1540er Jahren entwickelte P. zahl- tete 1777 in Meiningen den Prediger Johann reiche Reformentwürfe u. beteiligte sich an Georg Pfranger. Die Familie lebte in eher der Reformdiskussion in Deutschland. In- bescheidenen Verhältnissen, die P.s Mann nerlichkeit, Bildung u. Belehrung stellten durch kleinere schriftstellerische Arbeiten zu Grundpfeiler seiner Vorstellungen dar, die bessern versuchte. Da P. nach dem Tod ihres erasmianisch orientiert waren u. eine reflek- Mannes 1790 für sich u. ihre sechs Kinder nur tierte u. intensivierte christl. Existenz an- eine geringe Pension bezog, veröffentlichte strebten. Mehrfach sind seine Schriften vom sie auf der Grundlage von Pränumerationen Genus litterarium der Katechismen geprägt, die Auszüge aus dem Tagebuch einer traurenden etwa die Christliche Erinnerung und ermanung Wittwe (Lpz. 1803), denen eine an ihre Kinder (handschriftlich überliefert, gedr. ca. 1553 gerichtete Erzählung ihres Lebens angehängt u. ö.) oder die gedruckte Institutio Christiani ist. Das »Allen treuen Gattinnen von Europa« hominis (Köln 1562 u. 1564). Mehrere Schrif- gewidmete Tagebuch ist in der Form von ten wie Von Christlicher Busse und dem Gesetz »Unterredungen mit P.«, ihrem verstorbenen Gotts gruendlicher Bericht (Erfurt ca. 1550 u. ö.) Mann, geschrieben. Die Verfasserin refleksind Anleitungen zur reformerischen christl. tiert darin die Vorurteile ihrer Umwelt einer Lebenspraxis. P.s Weltbild wurde bestimmt Witwe gegenüber, ihre Bemühungen um die durch ein Interesse an der Kirche u. am Staat Erziehung ihrer Kinder u. die Notwendigkeit sowie an einem starken Kaisertum, wobei einer aufgeklärten Religiosität: »die wichPolitik u. Religion aufs Engste miteinander tigste Ursache meines Tagebuchs war: meine verbunden wurden; seine Theologie trug Phantasie, mit der ich oft im Kampfe lag, in irenische Züge. Das gedruckte Œuvre ist re- den Schranken der Religion und Vernunft zu lativ schmal, vieles wurde handschriftlich erhalten« (Vorrede, S. XIV). Literatur: Carl W. O. A. v. Schindel: Die dt. überliefert. Daher ist ein abschließendes Urteil über sein Werk einstweilen nicht mög- Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bd. 2, Lpz. 1825, S. 89–97. Sabine Lorenz / Red. lich. Gedruckte Schriften in Auswahl: Christl. Ermanung zur Busse. Erfurt 1550. – Christl. Ermanung an des Naumburgischen Stieffts underthanen u. vorwandten. Köln 1562. – De republica Germaniae seu Imperio constituendo. Antwerpen 1562 u. ö.

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Pfranger, Johann Georg, * 5.8.1745 Hildburghausen, † 10.7.1790 Meiningen. – Prediger, Liederdichter. Nach dem Theologiestudium in Jena übernahm P. eine Pfarrstelle in Stressenhausen, ehe er 1777 Kanzelredner u. Hofdichter bei Herzog Karl von Sachsen-Meiningen u. dann dessen Hofprediger u. Konsistorialassessor wurde. P. war mit Albertine Pfranger verheiratet. 1794 edierte Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald das Neue Sachsen-Coburg-Meiningen’sche Gesangbuch (Meiningen), das P. »im modernsten Styl« besorgt sowie mit seiner Bearbeitung mehrerer älterer Lieder u. 16 eigenen Gesängen versehen hatte, die schon enthalten waren in seinen Gedichten, nach seinem Tode nebst biographischen Nachrichten herausgegeben (Meiningen 1791. 2. Aufl., hg. v. Johann Ernst Berger. 1794). Am bekanntesten wurden das Lied zum Beginn des Gottesdienstes, Dich preisen, Herr, Gesang und Lieder (noch im Meiningen’schen Gesangbuch von 1862), das Begräbnislied Gebt dem Tode seinen Raub, Würmern ihre Habe u. das Lob eines guten Gewissens, Zum Trost in unsern Kümmernissen. Literaturgeschichtlich bedeutsam ist das Schauspiel Der Mönch vom Libanon. Ein Nachtrag zu Nathan der Weise (Dessau 1782. 21786. Bamberg 1782. Lpz. 1785. 21795. 31817. Mainz 1795 u. ö.), in dem P. versuchte, der christl. Religion ihren von Lessing streitig gemachten Rang zurückzugeben. Literatur: Koch 6, S. 253 f. – Schaubach: P. In: ADB. – Karl Albrecht: J. G. P., sein Leben u. seine Werke. Programm Wismar 1894. – Goedeke 4,1, S. 662. – Kosch. Heimo Reinitzer / Red.

Phaedro, Georg ! Fedro, Georg Philalethes, eigentl.: Johann König von Sachsen (seit 1854), * 12.12.1801 Dresden, † 29.10.1873 Pillnitz; Grabstätte: Dresden, Hofkirche. – Übersetzer, Philologe. P., »Freund des Wahren«, war das Pseud., das der sächs. Kronprinz Johann erstmals 1828 wählte, als er, angeregt durch klass. Bildung u. eine Italienreise 1821/22, die ersten zehn Gesänge von Dante Alighieris Inferno in dt.

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Übersetzung in Druck gab. Die zwischen 1833 u. 1849 (Dresden, später Dresden/Lpz.) erschienene revidierte Gesamtübertragung ist bis heute eine der ranghöchsten Übersetzungen der Göttlichen Komödie, die dem diffizilen Gehalt durch die Wahl von Blankversen in hohem Maß gerecht wird. Zgl. war der Kronprinz Dante-Forscher; ein Meilenstein wurde sein gelehrter, in einem höf. Zirkel aus Autoren u. Künstlern (Baudissin, Carus, Karl Förster, Tieck u. a.) erarbeiteter Kommentar. Als Mittelpunkt dieses Kreises tritt P. zum Beispiel im Briefwechsel mit George Ticknor (Hg. Johann Georg Herzog zu Sachsen. Lpz. 1920) in Erscheinung. Als am 13. Sept. 1865, dem 600. Geburtstag Dantes, in Dresden die Deutsche Dante-Gesellschaft gegründet wurde, übernahm P. die Schirmherrschaft. Die eigene, teils griechisch verfasste Lyrik des in konfessionelle Konflikte verwickelten kath. Monarchen hat keinen adäquaten Rang. Sein Königtum übernahm der intellektuelle, nicht eigentlich volksnahe Johann pflichtbewusst als Amt, ohne in seiner Regierung oder gar seinen Schriften auf die sozialen Probleme Sachsens entscheidend zu reagieren. Weitere Werke: Aus dem Nachl. – Proklamationen, Reden, Ansprachen u. Briefe. Beides hg. v. Julius Petzholdt. Dresden 1880. – Dichtungen. Hg. Carola, Königin-Witwe v. Sachsen. Lpz. 1902. – Briefw. zwischen König Johann v. Sachsen u. den Königen Friedrich Wilhelm IV. u. Wilhelm I. v. Preußen. Hg. Johann Georg Herzog zu Sachsen. Lpz. 1911. – Lebenserinnerungen (1801–54). Hg. Hellmut Kretzschmar. Gött. 1958. Literatur: Johann Paul v. Falkenstein: König Johann v. Sachsen. Dresden 1878. – Johann Georg Herzog zu Sachsen: König Johann v. Sachsen als Danteforscher. In: Neues Archiv für Sächs. Gesch. u. Altertumskunde 43 (1922), S. 201–220. – Ders.: König Johann v. Sachsen, P. In: Dt. Dante-Jb. 16 (1934), S. 113–129. – Hellmut Kretzschmar: Die Zeit König Johanns v. Sachsen 1854–73. Bln. 1960. – Marcella Roddewig: König Johann v. Sachsen u. die dt. Dante-Forsch. In: Italien in Germanien. Dt. Italien-Rezeption v. 1750–1850. Hg. Frank-Rutger Hausmann u. a. Tüb. 1996, S. 215–231. – Ingo Zimmermann: König Johann v. Sachsen, P. Die Zeit vor der Thronbesteigung. Mchn./Bln. 2001. – Uwe John (Hg.): König Johann v. Sachsen. Zwischen zwei Welten. Halle/S. 2001. – Winfried Müller

Bruder Philipp

209 (Hg.): Zwischen Tradition u. Moderne. König Johann v. Sachsen 1801–73. Lpz. 2004. Achim Hölter

Bruder Philipp. – Kartäuser, um 1300; Verfasser der Reimpaardichtung Marienleben. Das Marienleben (10.400 Verse) entstand in der Kartause Seitz/Südsteiermark (heute Zˇicˇe) u. wurde zur erfolgreichsten u. wirkungsmächtigsten dt. Reimpaardichtung des MA. P. nennt seinen Namen u. seine Kartause Seitz im Epilog des Marienlebens. Auf P. bezieht sich wohl auch ein Eintrag in der Charta des Generalkapitels der Kartäuser, in dem unter den 1345/46 Verstorbenen ein im ganzen Orden hochangesehener »Domnus Philippus monachus« aus der Kartause Mauerbach bei Wien verzeichnet ist. P. dürfte unter den sieben Seitzer Mönchen gewesen sein, die Mauerbach 1316 besiedelten. Das noch in Seitz entstandene Marienleben fand rasch weite Verbreitung. Die älteste vollständig erhaltene Handschrift (Pommersfelden, Schlossbibl., cod. 46), die auch den fast in der gesamten Überlieferung entstellten Ortsnamen Seitz bewahrt u. die Identifikation des Entstehungsortes sichert, stammt aus dem ersten Viertel des 14. Jh.; bereits 1324 war das Marienleben nach dem Zeugnis eines datierten niederdt. Fragments im Norden bekannt. Heimat u. Herkunft des Dichters hat man aufgrund der zahlreichen unreinen Reime zu ermitteln versucht, allerdings ohne zwingendes Ergebnis. Vermuten lässt sich lediglich, dass P. aus dem Norden nach Seitz gekommen ist. Gesichert sind durch Angaben in Prolog u. Epilog des Marienlebens seine engen u. langwährenden Beziehungen zum Deutschen Orden, in dem die Marienverehrung eine ähnlich bedeutende Rolle spielte wie bei den Kartäusern. Die Ordensritter sind die erklärten Empfänger des Marienlebens. Der Deutsche Orden war nach dem Zeugnis einer umfangreichen Gruppe von Handschriften auch an der Verbreitung des Werks u. an seinem beispiellosen Erfolg maßgeblich beteiligt. Den Erfolg bezeugen über 100 erhaltene

Handschriften u. Fragmente der Versfassung sowie zwei Prosaauflösungen. Das Marienleben bietet eine Summe des Wissens über die Gottesmutter, das zum großen Teil aus apokryphen Quellen u. nur zu einem kleinen, von P. aber gegenüber seiner Hauptquelle, der Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica (um 1230), stark ausgeweiteten Teil aus den kanonischen Evangelien stammte. P. geht mit der Vita sehr frei u. souverän um, er ergänzt sie etwa durch Rückgriffe auf umfangreiche Teile der Evangelien, lässt andererseits aber fast die Hälfte ihres Textes unberücksichtigt. Die in der Vita beziehungslos gereihten Kapitel werden von P. redaktionell miteinander verknüpft, aufeinander abgestimmt u. in einen geschlossenen Handlungszusammenhang gebracht, dessen Rahmen die Geschichte der neutestamentl. Ereignisse bildet. Der erste Teil des Marienlebens beginnt mit der apokryphen Vorgeschichte von Marias Eltern u. erzählt dann Kindheit, Jugend u. das Leben Marias als Tempeljungfrau bis zu ihrer Verlobung mit Joseph. Mit der Verkündigung u. Geburt Jesu u. der Flucht nach Ägypten erfolgt die Anbindung an den Stoff der Evangelien; das Apokryphe dominiert wieder den Bericht von Jesu Kindheit u. die Kindheitswunder, bei denen Maria etwas in den Hintergrund tritt. Mit der Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel beginnt der zweite Teil des Marienlebens (vv. 4761 ff.), in dem die bibl. Quellen, v. a. die Passionsgeschichte, Inhalt u. Darstellung weitgehend bestimmen. Nach Jesu Tod, Auferstehung u. Himmelfahrt kehrt die Erzählung am Schluss wieder ganz zu Maria zurück, berichtet von ihrem frommen Leben u. Wandel nach Art einer Klosterfrau bis zu ihrem Tod, ihrer Krönung u. Inthronisierung zur Rechten Gottes. P. erzählt den vollständigen Zyklus des Marienlebens, wie er auch immer wieder in der Kunst des MA dargestellt wurde. Auffallendes Kennzeichen seiner literar. Technik ist die v. a. in den epischen Partien anzutreffende Vernachlässigung von Reim u. Vers, die schon zu seinen Lebzeiten zu reimbessernden Bearbeitungen führte. Der Reim wird andererseits aber auch als ausgesprochenes Kunst-

Philipp

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mittel verwendet, z.B. in dem auf einen aus der Elbinger Stadtbibl. In: ZfdA 136 (2007), Reimtyp durchgereimten Prolog u. in den S. 178–181. Kurt Gärtner / Red. hymn. Partien. Rhetorisch durchstilisiert sind Marienklagen (vv. 7012 ff.), Marias BePhilipp, Hugo Wolfgang, auch: Walter schreibung der himml. Freuden (vv. 936 ff.) Wolfgang Vidal, * 2.2.1883 Dortmund, u. ihre Himmelfahrt (vv. 8586 ff.). † 18.3.1969 Zürich. – Dramatiker, ProsaEine große Wirkung hatte das Marienleben autor. nicht nur in seiner Versfassung. Das Werk wurde 1400 in Prosa aufgelöst für die Auf- Der aus einer jüd. Kaufmannsfamilie stamnahme in eine bestimmte Historienbibelver- mende, vielseitig begabte P. zog nach dem sion, die hauptsächlich in der Werkstatt Die- Abitur nach Berlin. Neben einer Lehre hörte bold Laubers vervielfältigt wurde. Ferner er Vorlesungen, schrieb Rezensionen u. wurde der größte Teil der Versfassung im 14. Theaterstücke u. arbeitete als Schauspieler. Jh. mit thematisch verwandten Werken Von Anfang an hielt sich P. von allen literar. kompiliert u. in die Handschriften der Welt- Zeitströmungen (Expressionismus, Neue Sachlichkeit) fern, um sich ganz auf die Auschronik Heinrichs von München aufgenombildung seines eigenen, klassisch-konventiomen; deren neutestamentl. Teil wurde, nellen Stils zu konzentrieren. ebenfalls um 1400 in Prosa aufgelöst, als Neue Mit dem 1919/20 entstandenen Stück Der Ee in zahlreichen Handschriften u. FrühdruClown Gottes (Urauff. Bln./Lpz. 1921) wurde P. cken verbreitet u. unter den Laien bis zur in den 1920er Jahren zu einem der meistgeReformation als »Neues Testament« gelesen. spielten dt. Dramatiker. Das von ihm als Ausgabe: Bruder P.s des Carthäusers ›Marienle- »groteske Tragödie« charakterisierte Stück ben‹. Hg. Heinrich Rückert. Quedlinb./Lpz. 1853. ist ein Künstlerdrama, in dem der Held den Nachdr. Amsterd. 1966. von ihm selbst heraufbeschworenen tödl. Literatur: Achim Masser: Bibel- u. Legenden- Verwicklungen durch die Aufgabe seiner epik des dt. MA. Bln. 1976, S. 107–111. – Kurt bürgerl. Identität nur entrinnt, indem er die Gärtner: Die Überlieferungsgesch. v. Bruder P.s Rollenillusion durchbricht u. sich dem Pu›Marienleben‹. Habil.-Schrift Marburg 1978. – blikum als Schauspieler im gerade gesehenen Ders.: P. v. Seitz ›Marienleben‹. In: Die Kartäuser in Stück zu erkennen gibt. Eine bes. Begabung Österr. Bd. 2, Salzb. 1981, S. 117–129. – Ders.: P. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Václav für Grotesken bewies P. in seinen ProsaBok u. ders.: Ein neues Fragment v. P.s ›Marienle- schriften (Bocksprünge. Bln. 1923). 1923–1927 ben‹ in Brünn. In: PBB 111 (1989), S. 81–92. – Jean- war er Oberspielleiter, dann bis 1933 zus. mit Marc Pastré: Un portrait de la Vierge au XIVe siècle. Hermine Körner Direktor des Albert-Theaters La ›Marienleben‹ de Philippe le Chartreux. In: in Dresden. 1933 emigrierte P. in die L’image au Moyen Âge. Amiens 1992, S. 231–242. – Schweiz. Dort entstand der achtbändige K. Gärtner: Zur Neuausg. v. Bruder P.s ›Marienle- Mundartroman Auf den Hintertreppen des Lebens ben‹ (ATB). In: Editionsber.e zur mittelalterl. dt. (Bd. 1, Zürich 1946. Bd. 2, Wiesb. 1960. Lit. Hg. Anton Schwob unter Mitarb. v. Rolf Berg- Ausw. Bd. 3, Darmst. 1973; mehr nicht mann. Göpp. 1994, S. 33–41. – Andrea Rapp: ersch.), der ein »Zeitgemälde« der niedrigsTextkrit. Probleme bei der Ausg. der Prosaauflö- ten Gesellschaftsschicht in Berlin, des sung v. P.s ›Marienleben‹. Ebd., S. 219–224. – »Fünften Standes«, entwerfen u. dabei »– im Dies.: Die Standardisierung eines mittelalterl. Ausschnitt Berlin – das deutsche Volk schilTextes durch den Verleger. Bruder P.s ›Marienledern sollte, wie es ist, oder doch wenigstens ben‹ in der Ausg. Diebold Laubers (Hagenau, 15. war«. Die Ansprüche eines großen humorist. Jh.). In: Quelle – Text – Ed. Hg. A. Schwob, Erwin Streitfeld u. Karin Kranich-Hofbauer. Tüb. 1997, Zeitromans kann das Werk, das weitgehend S. 97–108. – Bernd Kratz: Die Bildteppiche zur von Situationskomik lebt, jedoch nicht erLegende v. Mariae Himmelfahrt in Donaueschin- füllen. Bedingt u. a. durch die isolierte Lage gen u. Köln u. ihre mögl. literar. Vorlagen. In: während des Exils, fehlte dem Autor die daAbäG 56 (2002), S. 155–178. – Ralf G. Päsler: Ein für unerlässliche soziale, histor. u. polit. unbekanntes Fragment v. Bruder P.s ›Marienleben‹ Tiefenschärfe.

211 Weitere Werke: Ver Sacrum. Bln. 1902 (L.). – Der Herr in Grün. Bln. 1919 (E.). – Der Sonnenmotor. Bln./Lpz. 1922 (E.). – Das glühende Einmaleins. Ein Sommernachtstraum. Bln. 1923 (Kom.). – Grammatik der Schauspielkunst. Eine Funktionslehre der Sprache. 4 Bde., 1948–64, Wiesb. 1964. – Die Bacchantinnen. Ein Nachtstück in 4 Vigilien. Nach dem gleichnamigen Werk des Euripides. 3. Neuausg. hg. v. Lee van Dowski. St. Michael 1979. – Nur weg möchte ich v. hier. Briefe u. Schr.en aus dem Exil. Hg. Roman Bucheli. Gött. 2005. Literatur: Renate Heuer: H. W. P. Leben u. Werke. Bern/Mchn. 1973 (mit Bibliogr.). – Werner Schramm-Itzehoe: Das antike Drama ›Die Bacchantinnen‹ in der Neugestaltung durch H. W. P. St. Michael 1980. Peter König / Red.

Philippi, Johann Ernst, * um 1700 Merseburg, † Okt. 1758 Halle. – Jurist, Philosoph. Der zweite Sohn des späteren Hofpredigers Ernst Christian Philippi war bereits im Schulalter ein ausgesprochen unruhiges u. schwer disziplinierbares Kind. P. nahm am 6.5.1720 in Leipzig das Studium der Philosophie u. Rechtswissenschaft auf. Am 29.11.1721 erwarb er dort das Bakkalaureat, am 11.2.1723 den Magistergrad. Die in Leipzig angestrebte akadem. Laufbahn scheiterte an einer 1726 verfassten Schrift wider das Lotteriewesen in Sachsen, die ihm Festungshaft in Meißen einbrachte. 1727 wurde er in Halle zum Doktor der Jurisprudenz promoviert. Als Advokat in Merseburg erregte sein exaltierter Lebenswandel Aufsehen. Wegen Verstoßes gegen das kursächs. Duellmandat zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, verließ er die Stadt fluchtartig. In Halle wurde P. 1731 auf Fürsprache des Vaters, der im Oberkonsistorium zu Dresden einflussreiche Freunde besaß, bei der Besetzung eines neu geschaffenen Lehrstuhls für Beredsamkeit Gottsched vorgezogen. Der glücklich ihm zugefallenen Würde war P. weder charakterlich noch fachlich gewachsen. In alberner Weise polemisierte er gegen die Schulphilosophie Wolffs. Die Abhandlung Mathematischer Versuch von der Unmöglichkeit einer ewigen Welt, sammt einem kurzen Auszug der

Philippi

allerneuesten Schriften, so in der bekannten Wolfischen Controvers darüber gewechselt worden, mit unparteyischer Critik beurtheilt (Lpz. 1733) brachte ihm die Gegnerschaft Gottscheds ein. Die Hallenser Kollegen, peinlich berührt durch P.s Publikationen, insbes. durch die Sechs deutschen Reden über allerhand auserlesene Fälle, nach den Regeln einer natürlichen, männlichen und heroischen Beredsamkeit ausgearbeitet (Lpz. 1732), fürchteten um die akadem. Würde von Universität u. Professorenstand. Auf ihr Betreiben hin verfasste Liscow seine Satiren Briontes der Jüngere (1732), Stand- oder Antrittsrede, welche Herr Dr. Joh. Ernst Philippi [...] in der Gesellschaft der kleinen Geister gehalten (1733) u. andere. Als ignorant, geschmacklos u. wahnhaft der Lächerlichkeit preisgegeben, war P. für die Universität Halle nicht mehr tragbar. Törichte Versuche, in Göttingen, Helmstedt u. Jena unterzukommen, trugen ihm Tadel u. Spott ein. Im Febr. 1740 wurde er in Leipzig als geistesgestört aufgegriffen u. nach Waldheim verbracht. In heruntergekommenem Zustand tauchte er 1742 in Dresden auf. Danach verlieren sich seine Lebensspuren. Eine von Berthold Litzmann mitgeteilte Notiz besagt, dass P. in Halle »anno 1758 im Monat October verstorben« sei. Als Prototyp des »elenden Scribenten« hat P. durch Liscow traurige Berühmtheit erlangt. Ausgabe: Belustigende akadem. Schaubühne [...]. 7 Bde., Ffm. u. a. 1747–49. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Histor.-litterar. Hdb. [...]. Bd. 7, Lpz. 1805, S. 204–221. – Berthold Litzmann: Christian Ludwig Liscow in seiner litterar. Laufbahn. Hbg./Lpz. 1883. – Ders.: J. E. P. In: ADB. – Kosch 11, S. 1253 f. – Christian Ludwig Liscow. Vortrefflichkeit u. Nohtwendigkeit der elenden Scribenten u. a. Schr.en. Hg. Jürgen Manthey. Ffm. 1968 (Einl.). – Maria Tronskaja: Die dt. Prosasatire der Aufklärung. Bln./DDR 1969, S. 17–40. – Satiren der Aufklärung. Hg. Gunter Grimm. Stgt. 1975. 21979. – Katherine R. Goodman: ›Ich bin die deutsche Redlichkeit‹. Letters of Christiane Mariane v. Ziegler to J. E. P. In: Daphnis 29 (2000), S. 307–354. – Udo Grashoff: Hallesche Originale aus tausendzweihundert Jahren. Halle/S. 2006, S. 21–23. – Rolf Walker: Merseburger Hofgesch.n. In: Saale-Unstrut-Jb. 13 (2008), S. 24–28. Dieter Kimpel / Red.

Philippi

Philippi, Karl, Carl, Ferdinand, auch: Jobst Weingans, Friedrich Dunkel, * 12.3. 1795 (?) Leipzig, † 2.9.1852 Leipzig. – Pädagoge, Publizist, Verleger u. Herausgeber. P. wurde als Sohn jüd. Eltern geboren u. erhielt den Namen Philipp Herz Levy. Sein Vater Herz Loeb Levy war Kaufmann u. stand einer Großfamilie mit zwölf Kindern vor, von denen die meisten nachweislich zum evang. Glauben konvertierten u. den Familiennamen Lippert annahmen. 1822 bezeichnete ihn der Vater in seinem Testament als »Convertit Magister Carl Ferdinand Philippi, Schuldirektor in Dresden«, geboren am 21.2.1795. Wann u. wo P. seine akadem. Ausbildung absolviert hat, ist unbekannt. In einer Befragung der Dresdner Schulbehörde zur Erfassung der Privat- u. Winkelschulen äußerte er, dass er Theologie studiert habe, 1815 in die Stadt gekommen sei u. als Privaterzieher u. Lehrer gearbeitet habe. Die Erlaubnis zur Übernahme der Garnisonsschule sei ihm am 17.3.1817 erteilt worden, den Religionsunterricht erteile er selbst. Erste literar. Arbeiten in Form von Gedichten erschienen 1818 in der Dresdner »Abendzeitung«. Ein Jahr später folgte am 1.7.1819 eine eigene Zeitschrift, »Literarischer Merkur oder wöchentliches Unterhaltungsblatt für alle Stände«, ab 1822 u. d. T. »Merkur. Mittheilungen aus Vorräthen der Heimath und der Fremde für Wissenschaft, Kunst und Leben«, im Verlag von P. G. Hilscher, an dem P. finanziell beteiligt war. In seiner Person vereinigten sich Herausgeber, Redakteur u. Autor vieler Gedichte u. Artikel populären, zeitkrit. u. kulturellen Inhalts, was auch für die folgenden Zeitschriften zutrifft. Historische Werke P.s wurden ebenfalls bei Hilscher verlegt: Die Geschichte der vereinigten Niederlande (Dresden 1826), Geschichte des Freistaates St. Domingo (Hayti) (Dresden 1826), Geschichte der vereinigten Staaten von Nordamerika (Dresden 1826), Geschichte von Venedig (Dresden 1828), Geschichte des Papsttums (Dresden 1828–32), Geschichte von Dänemark (Dresden 1831–39). Als der Verlag 1831 Konkurs anmelden musste, verlor P. einen Großteil seines Vermögens. In Altenburg

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versuchte er 1832 einen Neuanfang mit den Zeitschriften »Constitutioneller Merkur oder Allgemeine Deutsche Bürgerzeitung« sowie »Osterländische Blätter für öffentliches Leben, gesellige Unterhaltung und Opposition« (1832–47) u. »Die Ameise. Vaterländische Mittheilungen für Alle, die lesen können« (1833–48), denn im Hzgt. Sachsen-Altenburg herrschte eine verhältnismäßig milde Pressezensur. Beschwerden wegen staatsgefährdender u. beleidigender Äußerungen zwangen ihn jedoch zum Verlassen der Stadt. Nach kurzem Aufenthalt in Leipzig, wo er die Konzession für eine weitere Zeitschrift, »Literarischer Hochwächter. Literatur- und Conversations-Zeitung für die Gebildeten im Deutschen Volke« (1833–36), erwerben konnte u. die Altenburger Bürgerzeitung mit neuem Titel »Constitutionelle StaatsbürgerZeitung und Insel Rügen« (bis 1847) herausbrachte, begann P. 1834 in Grimma mit dem Aufbau des Verlags-Comptoirs samt Druckerei. Er verlegte u. a. eigene Werke: Allgemeine Weltgeschichte für Volksschulen (1835), Deutsche Geschichte für die Jugend, ein Weihnachtsgeschenk für gute und fleißige Kinder (1838), Wanderungen durch das sächsische Erzgebirge [...] (1840), Echo der neuesten Pariser Feuilletons, deutsche Ausgabe (1844/45), Historische Bibliothek interessanter Memoiren und politischer Denkschriften des 18. und 19. Jahrhunderts (1850–52) u. erweiterte sein Zeitschriftensortiment erheblich: »Unser Planet. Blätter für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater« (1838–43, Redaktion E. Keil), »Der Wandelstern. Blätter für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater« (1843–45 Redaktion E. Keil, bis 1848 dann P.), »Der Dorfbarbier. Ein Blatt für gemüthliche Leute« (1844–51, Redaktion F. Stolle, dann Lpz.), einige kurzlebige Zeitschriften, drei Fachzeitschriften u. das »Grimmaische Wochen- und Anzeige-Blatt« (gegr. 1813 v. G. J. Göschen). Die Zeitschriften kamen mit wechselnden Untertiteln u. verschiedenen Beilagen, 1- bis 4-mal wöchentlich sowie in Auflagenstärken, die weit über Sachsen hinaus reichten, heraus. Fast alle Blätter überlebten die Revolutionsjahre 1848/49 mangels Absatz u. polit. Positionierung nicht. P.s Schriften weisen ihn als hochgebildeten, vielseitigen Autor mit Witz u. Humor,

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aber auch als Verfasser von wiss. Lehr- u. Sachbüchern aus. Die letzten Lebensjahre verbrachte P. in Leipzig, nachdem er das Unternehmen den beiden Söhnen übertragen hatte. Am 4.9.1852 wurde er auf dem Neuen Johannisfriedhof (heute Friedenspark) beigesetzt. Weitere Werke: Dramaturg. Brandraketen des Dresdner Merkur. Ein Feuerwerk für Bühnenfreunde. Lpz. 1826. – Kleines lat. Conversationslexikon. Hdb. der üblichen lat. Sprüchwörter, Sentenzen, Gnomen u. Redensarten [...]. Dresden 1824. Lpz. 21833. – Kleiner griech. Plutarch. Ein Förderungsmittel des Privatfleißes beim Unterricht in der griech. Sprache für Schule u. Haus. Lpz. 1826. – Gesch. des sächs. Volkes. Ein Lehr- u. Lesebuch für sächs. Volksschulen. Dresden 1834. Lpz. 2 1850. – Herausgeber: Herbstblätter. Grimma 1834. Literatur: Testament Herz Loeb Levy 1822 (Abschr.). In: Stadtarchiv Leipzig. Ratsbücher/ Handelsbuch des Stadtgerichts 1832, Bd. 2, Bl. 102v. – Goedeke 9, S. 317. – Hamberger/Meusel 19, S. 131. – Kosch 11, S. 1254 f. – Friedrich Rassmann’s kurzgefaßtes Lexicon dt. pseud. Schriftsteller [...]. Lpz. 1830, S. 46, 198. – Werner Bode: Das Grimmaer Zeitungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jh. Phil. Diss. Lpz. 1928. – Wolfgang Reihlen: Die Herkunft des Grimmaer Journalisten C. F. P. In: Heimatkundl. Blätter für die Stadt Grimma u. ihre Umgebung. Nr. 1 u. 2/1935. – Hannelore Rothenburg: C. F. P. u. sein Verlags-Comptoir. In: Louise-Otto-Peters-Jb. II/2006. Beucha 2007, S. 230–242. Hannelore Rothenburg

Physiologus. – Frühchristliche Sammlung von geistlich u. moralisch ausgelegten Naturgeschichten mit gesamteuropäischer Verbreitung u. Wirkung. Der Ph. ist in seiner frühesten Gestalt in griech. Sprache abgefasst u. um 180/200 in Ägypten (wohl Alexandria) entstanden. In urspr. 48 Kapiteln werden naturkundl. Geschichten von Tieren, Pflanzen u. Steinen erzählt, so vom Löwen, der seine totgeborenen Jungen nach drei Tagen durch seinen Hauch zum Leben erweckt, vom mutigen Einhorn, das sich nur im Schoß einer Jungfrau fangen lässt, von Sirenen u. Kentauren oder vom Magnetstein. Der anonyme christl. Verfasser zieht unterschiedliche, auch ägypt. Quellen, vielleicht auch mündl. Traditionen heran u. beruft sich für seine Naturgeschichten auf

Physiologus

einen (fingierten) »Physiológos« (Naturkundigen) als Gewährsmann, der vielfach am Kapitelanfang aufgerufen wird: »Der Physiológos hat vom Pelikan gesagt [...]«; von ihm leitet sich auch die vom Beginn der Textgeschichte an verbürgte Werkbezeichnung ab. Im Auslegungsverfahren der Allegorese werden den Naturgeschichten christl. Deutungen beigegeben: Der Pelikan, der seine Jungen zum Leben erweckt, bezeichnet den Opfertod Christi, der Phönix, der sich selbst verbrennt u. aus der Asche neu ersteht, die Auferstehung. Durchgängig ist zu beobachten, wie die Deutungsintention die Details in der Ausgestaltung der Naturgeschichten bestimmt. Der Ph. ist ein Zeugnis frühchristl. Spiritualität, welche die geschaffene Natur als einen Kosmos von Zeichen verstand, durch die Gott zum Menschen spricht. Die (augustinische) Vorstellung vom »Buch der Natur«, in dem der Mensch die Offenbarung Gottes »lesen« kann, ist dem MA eine geläufige Anschauung u. bleibt es darüber hinaus bis zu den Physikotheologen des 18. Jh. Die Textgeschichte des Ph. weist eine Fülle unterschiedl. Fassungen auf, was wesentlich in der additiven Bauform des Werks begründet ist. Die Reihe der in sich geschlossenen u. selbständigen Kapitel war insbes. hinsichtlich Anzahl, Umfang u. Abfolge der Teile für nahezu jede Art von Veränderung offen. Einen vom Ph. abgeleiteten u. im MA in zahlreichen lat. u. volkssprachigen Fassungen weit verbreiteten Texttyp bilden die Bestiarien. Sie beziehen auch Material ein, das dem Ph. fremd ist, v. a. aus dem Wissensfundus der Enzyklopädien. Der in vier unterschiedl. Redaktionen überlieferte griech. Ph. war Ausgangspunkt für Übersetzungen in mehrere Sprachen des christl. Orients, u. a. ins Syrische, Armenische u. Äthiopische. Die gesamte abendländ. Tradition hingegen geht auf lat. Fassungen zurück, deren Quellen wiederum Handschriften der ersten griech. Redaktion sind. Auf den z.T. noch der Spätantike entstammenden lat. Prosaversionen y, c und b gründet die mittelalterl. Ph.-Tradition wie auch die der Bestiarien. Eine weitere lat. Prosaversion, nach der Autorzuschreibung in den Handschriften

Physiologus

Dicta Chrysostomi genannt, ist der erfolgreichste Ph.-Text im 11.-15. Jh. u. Vorlage der dt. Bearbeitungen des 11./12. Jh. Unter den Versfassungen des Ph., die wohl meist zu Memorierzwecken u. für den Schulgebrauch geschaffen wurden, ist am bedeutsamsten der Physiologus Theobaldi (11. Jh.), der aus inhaltl. Gründen schon als Bestiarium einzustufen ist. Im Gegensatz zur reichen lat. Tradition sind dt. Ph.-Bearbeitungen selten. Monastisch-klerikalem Benutzungsinteresse verdankt sich eine unvollständig erhaltene Prosaübersetzung der Dicta Chrysostomi des 11. Jh., der sog. althochdeutsche Physiologus. Eine weitere Übersetzung dieser Fassung aus der Zeit um 1150, einmal in Prosa, einmal gereimt, findet sich zus. mit dt. Bibeldichtung (Genesis, Exodus) u. weiteren Texten geistlichbelehrenden Inhalts in zwei bedeutenden Sammelhandschriften des ausgehenden 12. Jh., zum einen in der Wiener (Cod. 2721) mit Freiräumen für einen Illustrationszyklus, zum andern in der ehemals Millstätter (Klagenfurt, Cod. 6/19) Handschrift, hier mit ausgeführten Federzeichnungen. Im Unterschied zum lat. Ph. ist eine für die Folgezeit wirksame Rezeption der dt. Bearbeitungen nicht sichtbar. Ebenso punktuell u. ohne erkennbare weitere Wirkung treten vom 13. Jh. an Bestiarien in dt. Fassungen auf: der sog. Melker Physiologus, Bearbeitungen des Physiologus Theobaldi u. eine mittelfränk. Übertragung des frz. Bestiaire d’amour Richards von Fournival (Mitte 13. Jh.). Anders als die Tierfabeln, deren Handlung fiktiv ist (Tiere, die sprechen), geben sich die Ph.-Geschichten als Berichte realer Naturgegebenheiten, doch sind sie z.T. bereits in der Spätantike als »unwahr« im naturwiss. Sinne erkannt worden. Die Stimmigkeit u. v.a. die Verbindlichkeit der geistl. Auslegungen wurden hiervon jedoch nicht eingeschränkt; hierfür kam es offenbar allein auf die Kongruenz von Zeichen (Natur) u. Bezeichnetem (Deutung) an (Henkel 1976; Orlandi; anders: Grubmüller). Die Wirkung der Ph.-Geschichten in Literatur, Kunst u. Architektur (Bauplastik) ist weit über das MA hinaus reichlich belegt,

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hinsichtlich ihrer jeweiligen Herkunft im Einzelfall aber schwierig zu fixieren. Denn die im Ph. tradierten Geschichten werden auch im Rahmen der Enzyklopädien oder der exegetischen u. homilet. Handbücher weitergegeben (Schmidtke 1968). Von diesem »Quellbereich« (Henkel 1976, S. 152 ff.) ist die Wirkung des eigentl. Ph. nicht zu trennen. Ausgaben: Griechische Versionen: Physiologi graeci singulas recensiones in lucem protulit Francesco Sbordone. Mailand [...] 1936. Neudr. Hildesh./New York 1976. – Dimitris Kaimakis (Hg.): Der Ph. nach der ersten griech. Redaktion. Meisenheim/Glan 1974. – Ph. Frühchristl. Tiersymbolik. Übers. v. Ursula Treu. Hanau 31998. – Ph., griech./dt. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stgt. 2001. – Lateinische Versionen: Friedrich Wilhelm (Hg.): Denkmäler dt. Prosa des 11. u. 12. Jh. 2 Bde., 1914 u. 1916. Neudr. Mchn. 1960. Bd. 2, S. 17–44: ›Dicta Chrysostomi‹ (lat.). – Francis J. Carmody: Ph. latinus. Éditions préliminaires versio b. Paris 1939. – Ders.: Ph. latinus versio y. In: University of California Publications in Classical Philology 12 (1941), S. 95–134. – P. T. Eden (Hg.): Theobaldi Ph. Leiden 1972. – A. P. Orbán (Hg.): Novus Phisiologus. Nach der Hs. Darmstadt 2780. Leiden 1989. – Deutsche Versionen: Wilhelm (s. o.), Bd. 1, S. 4–28: Dt. Prosafassungen 11./12. Jh. – Wolfgang Stammler: Ein ›Moralischer Ph.‹ in Reimen. In: FS Josef Quint. Bonn 1964, S. 231–235. – Ders. (Hg.): Spätlese des MA. Bd. 2, Bln. 1965, S. 44–46: ›Melker Ph.‹. – Friedrich Maurer (Hg.): Der altdt. Ph. Tüb. 1967. – Henkel 1976 (s. u.), S. 41–53: Lat. Versifikationen; S. 114–133: ›Ph. Theobaldi‹ dt. – Der Millstätter Ph. Text, Übers., Komm. v. Christan Schröder. Würzb. 2005. – Facsimilia: Ph. Bernensis. Vollfaks.Ausg. des Codex Bongarsianus 318 der Burgerbibl. Bern. Wiss. Komm. v. Christoph v. Steiger u. Otto Homburger. Basel 1964 (lat. Fassung c). – Millstätter Genesis u. Ph. Hs. Vollst. Faks.-Ausg. der Sammelhs. 6/19 des Geschichtsvereins für Kärnten, Klagenfurt. Graz 1967. – Codex Vindobonensis 2721. Frühmhd. Sammelhs. der Österr. Nationalbibl. in Wien. ›Genesis‹ – Ph. – ›Exodus‹. Hg. Edgar Papp. Göpp. 1980. – Bestiarium. Bodleian Library, Oxford, Ms. Ashmole 1511. Hg. Friedrich Unterkirchner. Graz 1982. – Bestiarium aus Peterborough. Ms. 53. Tl. 1: Faksimile; Tl. 2: Komm. Luzern 2003. Literatur: Ben Edwin Perry: Ph. In: Pauly/ Wissowa. – Florence McCulloch: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1960. – Dietrich Schmidtke: Geistl. Tierinterpretation in der

215 deutschsprachigen Lit. des MA. Diss. FU Bln. 1968. – Jürgen W. Einhorn: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Lit. u. Kunst des MA. Mchn. 1976. – Nikolaus Henkel: Studien zum Ph. im MA. Tüb. 1976. – Ders.: Bestiarium. In: LexMA. – Friedrich Ohly: Schr.en zur mittelalterl. Bedeutungsforsch. Darmst. 1977. – Klaus Grubmüller: Überlegungen zum Wahrheitsanspruch des Ph. im MA. In: FMSt 12 (1978), S. 160–177. – Christoph Gerhardt: Die Metamorphosen des Pelikans. Exempel u. Auslegung in mittelalterl. Lit. Mit Beispielen aus der bildenden Kunst u. einem Bildanhang. Ffm./Bern/Las Vegas 1979. – Klaus Alpers: Untersuchungen zum griech. Ph. u. den Kyraniden. In: Vestigia Bibliae 4 (1984), S. 13–87. – Ders.: Ph. In: DNP. – Giovanni Orlandi: La tradizione del Physiologo e i prodromi del bestiario latino. In: L’uomo di fronte al mondo animale nell’alto medioevo. Bd. 2, Spoleto 1985, S. 1057–1106. – Christian Schröder: Ph. In: VL. – Klaus Bitterling: Ph. u. Bestiarien im engl. MA. In: Mlat. Jb. 40 (2005), S. 153–170. – Bestiaires médiévaux. Nouvelles perspectives sur les manuscrits et les traditions textuelles. Hg. Baudouin van den Abeele. Turnhout 2005. Nikolaus Henkel

Picander, Manlius Ulpianus, eigentl.: Christian Friedrich Henrici, * 14.1.1700 Stolpen bei Meißen, † 10.5.1764 Leipzig. – Satiriker, Lyriker, Dramatiker, Herausgeber. Als Halbwaise wuchs P. in bescheidenen Verhältnissen auf. Dennoch konnte er nach dem Besuch der Stolpener Stadtschule jurist. Studien in Wittenberg (1719) u. Leipzig (22.5.1720–1724) treiben. Dabei verstand er es, durch Gelegenheitsgedichte seinen Lebensunterhalt zu sichern u. sich eine Stellung als Aktuar beim Leipziger Oberpostamt zu erwerben (1727). Schließlich avancierte er zum Postsekretär, Oberpostkommissarius (1734) u. Wirklichen Oberpostkommissarius (1738). Darüber hinaus erhielt P. die lukrativen Ämter der Kreis-Landsteuer- u. StadtTranksteuereinnahme sowie die Weininspektion in Leipzig (1740). P.s literar. Produktion diente hauptsächlich der Subsistenzsicherung. Konzessionen an den Publikumsgeschmack u. die anzüglich-satir. Behandlung der jeweiligen Thematik trugen P. neben dem Erfolg auch den Tadel zeitgenöss. Moralisten ein. Seine Lyrik

Picander

in der Manier Johann Christian Günthers (Ernst-schertzhaffte und satyrische Gedichte. 5 Tle., Lpz. 1727–51. Sammlung vermischter Gedichte. Ffm./Lpz. 1768) fiel ebenso unter dieses Verdikt wie seine Journale u. Lustspiele. Die neue Popularität von Zeitschriften zu Beginn des 18. Jh. nutzte P. für seine eigenen Journale (»Nouvellen«. 6 Nrn., o. O. u. J. [1723–27]) oder zur Parodierung der erfolgreichen »Todtengespräche« David Fassmanns (Das Gespräch im Reich der Liebe. o. O. u. J.). Satirisch-parodistische Elemente im Sinne der Commedia dell’arte beherrschen auch P.s Lustspiele (Teutsche Schau-Spiele, bestehend in dem academischen Schlendrian, Ertzt-Säuffer und der Weiber-Probe [...]. Bln. u. a. 1726). Moralisierend-pädagogische Absichten verfolgte P. nur am Rande; die Ablehnung einer spezif. Erziehungsfunktion der Komödie führte letztlich zum lebenslangen Konflikt mit Gottsched (z.B. An die vernünftigen Tadlerinnen. o. O. 1726). Im Unterschied zu P.s profaner Dichtung kommt seiner geistl. Lyrik, v. a. durch die Verbindung mit Johann Sebastian Bach, bleibende Bedeutung zu (u. a. Texte zu Bachs Matthäuspassion, dem 4. Kantatenjahr; Kirchenliedtexte). Ausgaben: Die Weiberprobe. Mit einem Nachw. hg. v. Knut Forssmann. Ffm. 1973. – Teutsche Schau-Spiele. Bln. u. a. 1726. Nachdr. Mchn. 1981. Literatur: Paul Flossmann: P. (Christian Friedrich Henrici). Liebertwolkwitz 1899. – Hans Joachim Moser: Der Dichter der Matthäuspassion. In: Neue Ztschr. für Musik 111 (1950), S. 92 f. Neudr. Scarsdale 1971. – Horst Steinmetz: C. F. Henrici. In: NDB. – Horst Steinmetz: Die Kom. der Aufklärung. Stgt. 31978. – Klaus Häfner: P., der Textdichter v. Bachs 4. Kantatenjg. In: Die Musikforsch. 35 (1982), S. 156–162. – Werner Creutziger: P. oder Das Mysterium der Plattheit. In: NDL 33 (1985), S. 83–96. – Henry F. Fullenwider: Zur Bildlichkeit v. P.s Text zu Bachs weltl. Kantaten BWV 205 u. 205a. In: Die Musikforsch. 43 (1990), S. 30–40. – K. Häfner: Eine Kantatendichtung P.s u. ihr Komponist. Ebd. 46 (1993), S. 176–180. – Carola Schormann: J. S. Bach. Grausame Musik? Die Kantate ›Es erhub sich ein Streit‹ BWV 19. In: Musik u. Unterricht 58 (2000), S. 50–54. – Ute Poetzsch: Gelegenheitsgedichte v. P. u. anderen Leipzigern in den ›Verirrten Musen‹ Gottfried Behrndts. In: Bach u. seine mitteldt. Zeitgenossen.

Picard Hg. Rainer Kaiser. Eisenach 2001, S. 218–225. – Cordula Timm-Hartmann: C. F. Henrici. In: MGG 2. Aufl. Bd. 8 (Pers.), Sp. 1305–1308 (Lit.). – Iris Hermann: Musik, Text u. Schmerz in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion. In: LiLi 36 (2006), S. 30–51. – Rüdiger Otto: Ein Leipziger Dichterstreit. Die Auseinandersetzung Gottscheds mit C. F. Henrici. In: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit [...]. Hg. Manfred Rudersdorf. Bln. u. a. 2007, S. 92–154. Gerda Riedl / Red.

Picard, Jacob, * 11.1.1883 Wangen/Bodensee, † 1.10.1967 Konstanz. – Lyriker u. Erzähler.

216 Literatur: Harry Pross: Der Dichter J. P. In: Dt. Rundschau 84 (1958). – Dieter H. Stolz. J. P. Persönlichkeit u. Werk. In: Hegau 9 (1964). – Gerhard Sprenger: Ein alemann. Jude. In: NDH 29 (1982). – Wilhelm Braun: J. P. In: Dt. Exillit., Bd. 2, S. 772–782. – Manfred Bosch: J. P. (1883–1967). Konstanz 1992. – Ders.: Der jüd. Erzähler J. P. In: Jüd. Leben im Bodenseeraum. Hg. Abraham P. Kustermann u. Dieter R. Bauer. Ostfildern 1994, S. 159–168. – Marion Brandt: Gertrud Kolmar an J. P. Briefe aus den Jahren 1937–39. In: Jüd. Almanach des Leo-Baeck-Instituts. Hg. Jakob Hessing. Ffm. 1995, S. 136–149. – M. Bosch: ›...u. lebte seit drei Jahrhunderten am Bodensee›. J. P., Dichter des alemann. Landjudentums. In: Bohème am Bodensee. Liter. Leben am See v. 1900 bis 1950. Hg. ders. Lengwil am Bodensee 1997, S. 52–58. – Max Barth: Das Herz u. die Heimat. Über den Erzähler J. P. In: Alemann. Judentum. Hg. M. Bosch. Eggingen 2001, S. 392–399. – Anne Overlack: Nathan Wolf, J. P., Leo Picard. Lebenswege dreier Juden aus Wangen. In: Hegau 64 (2007), S. 225–238. – M. Bosch: J. P. In: Lebensbilder aus Baden-Württemberg 22 (2007), S. 443–457. Sabina Becker / Red.

Seine Kindheit verbrachte P. in dem ehemaligen Judendorf Wangen am Untersee. Nach dem Jurastudium in Heidelberg arbeitete er als Rechtsanwalt in Konstanz u. Köln. 1933 gab er seinen Beruf auf u. blieb, obwohl bereits 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, als freier Schriftsteller in Deutschland. 1940 emigrierte er über die Sowjetunion u. Asien in die USA, wo er bis kurz vor seinem Tod in New York lebte. Picard, Max, * 5.6.1888 Schopfheim/BaIn Heidelberg fand P. Anschluss an den den, † 3.10.1965 Neggio bei Lugano/Kt. Kreis junger Dichter, der sich um Ernst Blass Tessin; Grabstätte: ebd. – Kulturphilou. die von ihm herausgegebene Zeitschrift soph, Kunsttheoretiker. »Die Argonauten« gebildet hatte. Sein erster Gedichtband, Das Ufer (Heidelb. 1913), der, Der Sohn schweizerischer Eltern wuchs im wie er selbst sagte, den »Zustand Bodensee« Schwarzwald auf, studierte in Freiburg i. Br., reflektiert, ist ganz im expressionist. Stil ge- Berlin u. München Medizin u. wurde Assishalten. In der Gedichtsammlung Erschütte- tenzarzt in Heidelberg, wo er auch die Phirung (Heidelb. 1920) verarbeitet er seine losophen Troeltsch u. Rickert hörte. Bis 1918 Kriegserlebnisse. Bei der Jüdischen Buchver- führte er eine Praxis in München, um sich einigung Berlin erschien der Erzählband Der dann im Tessin ganz dem Schreiben zu widGezeichnete. Jüdische Geschichten aus einem Jahr- men. Bereits mit Das Ende des Impressionismus hundert (Jahresreihe 1936, Bd. 4. Erw. Neu- (Mchn. 1916) gab er das Stichwort für seine ausg. u. d. T. Die alte Lehre. Geschichten und lebenslang weiterentwickelte pessimist. KulAnekdoten. Stgt. 1963), der jedoch kurze Zeit turtheorie: der Impressionismus, der nicht später von den Nationalsozialisten einge- von den Gegenständen selbst, sondern nur stampft wurde. Die Geschichten haben neben von oberflächlichen, unzusammenhängenihrem literarischen zudem einen bedeuten- den Eindrücken lebe, sei »die Ausdrucksform den sozial-histor. Wert, da sie über Leben u. einer Zeit, die nichts glaubt«. In Der letzte Sitten alemannisch-schwäbischer Landjuden Mensch (Lpz. 1921) kam er dann zu dem Schluss, dass alles, was man bis anhin als das in Südwestdeutschland Auskunft geben. Weitere Werke: Der Uhrenschlag. Stierstadt/ Menschliche bezeichnet habe, in katastroTs. 1960 (L.). – Und war ihm leicht wie nie zuvor im phaler Weise am Schwinden sei. Rilke, den Leben. Die schönsten E.en aus dem süddt. Landju- diese Untergangsvision tief beeindruckte, schrieb nach der Lektüre des Buchs an Gide, dentum. Bottighofen 1993. Ausgabe: Werke. Hg. Manfred Bosch. Lengwil P. habe »die heilige Scheu der Menschen, die mit ihrem gesamten Mut für alle Zeit in eiam Bodensee 1996.

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nem großen inneren Kampf begriffen sind«. nomik. In: Ursprung der Gegenwart. Zur BewuIn seinem wohl wichtigsten Werk, Die Flucht ßtseinsgesch. der Dreißiger Jahre in Dtschld. Hg. vor Gott (Erlenbach 1934. 31958), führte P. Helmut Arntzen. Weinheim 1995, S. 242–284. – dann den Niedergang der modernen Jean-Luc Egger: ›Ganz und gar gegenwärtig‹. Forma e silenzio nel pensiero di M. P. In: Sapienza 52 Menschheit darauf zurück, dass sie sich von (1999), H. 2, S. 143–196. – Peter Hamm: Einer alGott abgewandt habe. Sehr viel größeres lein gegen das Zeitalter des Nichtmehrwissens. Aufsehen machte jedoch P.s vom Titel her Etwas über M. P. In: Jb. der Bayer. Akademie der berühmtestes Buch, Hitler in uns selbst (Er- Schönen Künste 13, Bd. 2 (1999), S. 641–648. – lenbach 1946. 31955). Darin entwickelte er Yves Iehl: Vision de l’homme et critique de la moden Gedanken, dass die zunehmende Zu- dernité. Quelques aspects de la rencontre de Joseph sammenhangslosigkeit u. Diskontinuität im Roth et M. P. In: L’homme et la cité allemande au e Denken u. Handeln der Deutschen schon XX siècle. Hg. Françoise Knopper u. Jean-Marie Jahre zuvor vorweggenommen habe, was mit Paul. Nancy 2000, S. 161–171. – Christian Filk: ›Was vorbeizieht, ist gleichgültig, wichtig ist nur, Hitler schließlich offen in Erscheinung gedaß etwas vorbeizieht‹. Zum Gebilde der ›meditreten sei. In Hitlers Vernichtung manifes- alisierten‹ Flucht in der Kulturphilosophie M. P.s. tiere sich das Eingreifen Gottes zur Rettung In: Die dunkle Seite der Medien. Hg. Björn Laser, u. Wandlung des dt. Menschen: »Denn die Jochen Venus u. ders. Ffm. u. a. 2001, S. 227–246. – Vernichtung Hitlers ist gegen jede menschli- Helmar Schramm: Schweigen lernen. Kleine Erinche Erwartung geschehen.« Dass Hitler nicht nerung an M. P. In: (Auslassungen). Leerstellen als gesiegt habe, sei »ein Zeichen, daß die Men- Movens der Kulturwiss. Hg. Natascha Adamowsky schen und die Erde nicht nur sich selber ge- u. Peter Matussek. Würzb. 2004, S. 185–190. Charles Linsmayer / Red. hören, sondern Einem, der sie liebt und der immer wieder allem eine Chance gibt – wahrscheinlich auch den Deutschen«. Einen Piccart, Michael, * 29.9.1574 Nürnberg, Beitrag zur Sprachphilosophie lieferte P. mit † 2.7.1620 Altdorf (?). – Philosoph, PolyDie Welt des Schweigens (Erlenbach 1948. Neu- histor. ausg. Mchn. 1988), in dem er, wie stets brillant formuliert, die These aufstellte, wo nicht P. war der Sohn des Predigers an der Nürngeschwiegen werde, entstehe auch das echte berger St. Sebald-Kirche u. späteren Altdorfer Pfarrers u. ersten Theologieprofessors Johann Wort nicht mehr, sondern bloß Geschwätz. Piccart. Er besuchte die Schulen seiner VaWeitere Werke: Das Menschengesicht. Mchn. terstadt, zunächst die Stadtschule, dann die 6 1929. Erlenbach 1956. – Die unerschütterl. Ehe. 2 Erlenbach 1942. 1954. – Der Mensch u. das Wort. Altdorfer Semiuniversitas, deren PrivilegieErlenbach 1955. – Die Atomisierung der Person. rung zur Universität 1623 erfolgte. 1586 wird Hbg. 1958. Schaffhausen 2005. – Das letzte Antlitz. P. in der Altdorfer Matrikel, die kein ImmaMchn. 1959. – Fragmente aus dem Nachl. Erlen- trikulationsdatum nennt, als Alumnus, 1587 bach 1978. – Briefe an den Freund Karl Pfleger. als Redner der 1. Klasse geführt; das BakkaErlenbach-Zürich/Stgt. 1970. – Wie der letzte Tel- laureatsexamen legte er 1590 ab, 1592 wurde ler eines Akrobaten... Eine Ausw. aus dem Werk. er zum Magister artium promoviert. Danach Hg. u. Nachw. v. Manfred Bosch. Sigmaringen nahm er mit dem Ziel des Pfarramtes an der 1988. – Nach Santa Fosca. Tgb. aus Italien. Mchn. Hohen Schule ein Theologiestudium auf. 1989. – Gabriel Marcel – M. P. Correspondance 1599 wurde er als Nachfolger seines Lehrers 1947–65. Hg. Anne Marcel u. Michaël Picard. Paris Philipp Scherbius zum Professor der Logik 2006. – Der alte Fluss. Über Zeit, Alter u. Jenseits. Hg. Gabriel Picard u. Volker Mohr. Schaffhausen berufen; seit dieser Zeit bis zur zusätzl. Übernahme der Professur für Metaphysik im 2007. Jahre 1613 hielt er auch Vorlesungen über Literatur: Wilhelm Hausenstein u. Benno Reifenberg: M. P. zum 70. Geburtstag. Erlenbach 1958 Poesie, ein Fach, das im Lehrbetrieb der Aca(mit Bibliogr.). – Friedrich Buchmayr: M. P. u. das demia Norica allerdings nur eine, der von ›apokalyptische‹ Denken. In: Stimmen der Zeit 120 Scherb vertretenen Wissenschaftssystematik (1995), S. 782–784. – Burkhard Spinnen: Ebenbild entsprechend, untergeordnete Stellung hatte u. Bewegung. Zu M. P.s Schr.en über die Physiog- u. wie die Rhetorik zu den Instrumenten der

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prakt. Philosophie gerechnet wurde. Daneben hat P. private Lehrveranstaltungen im Fach Politik, evtl. auch Geschichte, abgehalten. P. hat ein sehr umfangreiches, bislang allenfalls in Teilen erschlossenes Œuvre hinterlassen; es umfasst philolog. Arbeiten, Werke zur Poesie (Missus primus carminum [...]. Ansbach 1608. Appendicula ad missum primum carminum [...]. Altdorf 1609. Missus secundus carminum, hoc est, epigrammatum [...] libri tres. Ansbach 1609), zur Geschichte u. Politik, darunter einen sehr umfangreichen Aristoteles-Kommentar (In politicos libros Aristotelis commentarius. Lpz. 1615) u. Schriften zum weiten Feld der prudentia civilis (Observationum historico-politicarum, decades sex [...]: cum episodio decadis unius narrationum ridicularum. Amberg 1613; Observationum historico-politicarum decades sex posteriores. Lpz. 1616. Observationum historico-politicarum decades posthumae [...]. Nürnb. 1621), zur Metaphysik, v. a. aber zur Logik. Die von aller Rhetorik freie Logik lehrte der Altaristoteliker P. auf der Grundlage des aristotel. Organon; außer Lehrbüchern (u. a. Organon Aristoteleum in quaestiones et responsiones redactum [...]. Lpz. 1613) gibt es von ihm zahlreiche Dissertationen, von denen ein großer Teil 1644 in der Philosophia Altorphina gesammelt veröffentlicht wurde. Philosophie hatte P. bei dem Mediziner, Naturphilosophen u. Metaphysiker Nicolaus Taurellus († 1606), insbes. aber bei dem Logiker Scherb († 1605), studiert. Dieser hat wahrscheinlich an P.s Lehrbuch der Aristoteles-Interpretation, der Isagoge in lectionem Aristotelis, hoc est: Hypotyposis totius philosophiae Aristotelis (Nürnb. 1605; umgearbeitet u. erw. durch Johann Conrad Dürr. Altdorf 1660 u. ö.) mitgewirkt; über ihn ist der Paduaner Aristotelismus mit seiner vermögenspsychologisch begründeten Wissenschaftssystematik u. anti-ramist. Methodenlehre bestimmend für P.s Wissenschaftskonzeption geworden. Durch die jüngere Forschung hat P. aufgrund seiner Oratio de optima ratione interpretandi (Nürnb. 1605; enthalten auch in der Isagoge u. den Orationes academicae) einen wichtigen Platz in der Geschichte der allg. Hermeneutik erhalten; von ihm soll die neue, später von Johann Conrad Dannhauer u. a.

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aufgegriffene Idee einer Methode der Auslegung stammen, die allein dem reinen Verständnis von Texten aller Art u. nicht der Beurteilung ihrer sachlichen Wahrheit dient (vgl. Kessler). Weitere Werke: Theses de verbo dei, seu sacra scriptura, in quibus locus ille in thesi et antithesi breviter explicatur [...]. Item de perspicuitate s. literarum, num a laicis legendae, nec non de earum interpretatione [...] exercitij causa [...]. Präses: Jacob Schopper; Respondent: M. P. Nürnb. 1598. – Periculorum criticorum liber singularis. Cum auctario elegiae Fr. Baptistae Mantuanus Carmelitae contra poetas impudice loquentes et scribentes. Ansbach 1608. Helmst. 21663. – Disputatio logica, de dissimilitudine, ac similitudine scientiae et artis. Resp.: Martin Windhesel. Altdorf 1612. – Oratio academica de praestantia cognitionis. Altdorf 1613. – Orationes academicae, cum auctario dissertationum philosophicarum. In quibus et quaedam adoptivae. Lpz. 1614. – Theologia gentilium ex scribtis Aristotelis et Platonis breviter excerpta. Nürnb. 1620. – Übersetzer: Oppiani Poetae Cilicis Libri de venatione quatuor. Latino carmine redditi. Amberg 1604. – Herausgeber: Nicolaus Taurellus: De mundo et coelo discussionum metaphysicarum et physicarum libri IV. Adversus Franc. Piccolomineum [...]. Editio nova [...]. Amberg 1611. Ausgaben: Disputatio de summo hominis bono, in theses quasdam digesta. Präses: Jacob Tetens; Resp.: M. P. Altdorf 1593. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Epos geminum [...]. Nürnb. 1612. Internet-Ed.: VD 17. – Gedichtausw. in: CAMENA (aus: Delitiae Poetarum Germanorum, 1612). – Isagoge in lectionem Aristotelis [...]. Altdorf 1665. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. Thesaurus). – Philosophia Altdorphina, hoc est, celeberrimorum quorundam, in incluta universitate Altdorphina professorum, nominatim, Philippi Scherbi, Ernesti Soneri, Michaelis Piccarti, disputationes philosophicae [...]. Hg. Johann Paul Felwinger. Nürnb. 1644. – Observationum historico-politicarum decades [...]. 3 Bde., Nürnb. 1621–1624. Internet-Ed.: CAMENA (Abt. Historica & Politica). Literatur: Bibliografien: Will, S. 171–174. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Georg König: Leichsermon uber den gähling doch seligen Abschied, deß ehrnvesten u. wolgelahrten Herrn M. Michaelis Piccarti [...]. Altdorf 1620. – Friedrich Rochsius: Piccartomnema hoc est memoriae magni illius et incomparabilis philosophi Michaelis Piccarti Fran. ab oblivione vindicatae. Altdorf 1620. – Magnus Daniel Omeis: Gloria Academiae Altdorfinae [...]. Altdorf 1683. – Georg Andreas Will: Nürnbergi-

219 sches Gelehrten-Lexicon [...]. Tl. 3, Nürnb./Altdorf 1757, S. 169–174. – Richard Hoche: M. P. In: ADB. – Henry-Evrard Hasso Jaeger: Studien zur Frühgesch. der Hermeneutik. In: Archiv für Begriffsgesch. 18 (1974), S. 35–84. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 916; Tl. 2, S. 1153. – Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wiss. u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000, passim. – Ueberweg, Bd. 4/1–2, Register. – Eckhard Kessler: Logica universalis u. Hermeneutica universalis. In: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Hg. Gregorio Piaia. Rom/Padua 2002, S. 133–171. – David A. Lines: Il metodo dell’etica nella Scuola Padovana e la sua ricezione nei Paesi d’Oltralpe: M. P. e B. Keckermann. Ebd., S. 311–338. – Reimund B. Sdzuj: Die allg. Hermeneutik der frühen Neuzeit. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Hg. Herbert Jaumann. Bln./New York 2010. Reimund B. Sdzuj

Piccolomini, Enea Silvio, Eneas, Aeneas Silvius Bartholomaeus P., ab 19.8.1458 Papst Pius II., * 18.10.1405 Corsignano (Pienza), † 14.8.1464 Ancona. – Humanist, Poeta laureatus, kaiserlicher Diplomat, Redner, Verfasser von Briefen, Gedichten, Geschichtswerken. Geboren als ältestes von 18 Kindern in Corsignano südlich von Siena, in einer alten, aber verarmten u. von der Macht ausgeschlossenen Adelsfamilie, hörte P. im Studio von Siena Rechtswissenschaft, u. a. bei Mariano Sozzini u. Antonio Roselli (eine Mitschrift als ältestes Autograf; BAV Chis. J VII 252), in Florenz u. a. bei Francesco Filelfo die Humaniora, seine wahre u. lebenslange Leidenschaft. Im Gefolge des Kardinals Domenico Capranica kam er als Laie auf das Reformkonzil von Basel (1431–1449). Auf diesem internat. Dauerkongress erlebte er die europ. Politik, wie auch als Gesandter auf dem Kongress von Arras 1435 u. in Schottland, u. knüpfte karriereträchtige Kontakte. Vor dem Basler Forum gab er erste Proben seiner ciceronian. Oratorik (1436 für Pavia als Ort eines Unionskonzils; 1438 zum Ambrosiusfest), Anfänge auf einem Weg, der ihn zum bedeutendsten Redner seiner Zeit machen sollte. Auch kirchenpolitisch auf die Seite des Konzils getreten, nahm er an der Wahl des Kon-

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zilspapstes Felix V. (Herzog Amadeus VIII. von Savoyen) teil u. trat 1440 in dessen Kanzleidienst. Am 27.7.1442, nach seiner Krönung zum »poeta laureatus« durch König Friedrich III. in Frankfurt, wechselte er an den Habsburgerhof nach Wien. Hier blieb er bis Sommer 1455, stieg in dieser Zeit zum Leiter der Kanzlei u. führenden Diplomaten des Hofes auf. P. unterstützte Friedrichs III. Politik der »Neutralität«, dann seine Abwendung vom Konzil zu Papst Eugen IV. (u. zur päpstl. Suprematie) auf Reichstagen (Frankfurt 1442, 1446) u. Reisen an die Kurie (1445, 1447). Das sog. Wiener Konkordat (1448), das die Beziehung von Reich u. Kurie für die Jahrhunderte regeln sollte, handelte er mit aus. Typisch war, dass er diesen kirchenpolit. Wechsel gleichsam individualisierte mit seiner persönl. Kehre: Ende eines intensiven Liebeslebens, dafür Priesterweihe, Wendung zur Monarchie. Diese Kehre (retractatio) machte er literarisch durch zwei Bullen publik, im Jahre 1447 (Hg. Wolkan 2, 54–65) u. – geradezu als spätes Testament – 1463 (Hg. Carolus Fea. Rom 1823, S. 148–164), ferner durch Namenssymbolik, die Annahme des Cognomen »Pius« vom vergilischen Aeneas, das später sein Papstname werden sollte (Motto: »Aeneam rejicite, Pium suscipite«). In unmittelbarer Folge der Wendung stieg P. zum Bischof von Triest (1447) u. Siena (1450) auf. Die Jahre 1440 bis 1446 wurden die erste Hochphase seiner unerschöpflichen literar. Produktivität: das aktuelle Kirchenschisma u. seine Streitfragen reflektierte er 1440 in seinen Commentarii de gestis concilii Basiliensis (Hg. Denys Hay u. W. K. Smith. Oxford 21992), wo das Konzil v. a. als oratorische Arena erscheint, u. im Libellus dialogorum generalis concilii (1440. Hg. Adam F. Kollár: Analecta monumentorum Vindobonensium. Wien 1762. Nachdr. 1970, S. 685–790), in dem er in ländl. Szenerie u. a. Nikolaus von Kues als Papstanhänger, Stephanus von Novara als Konziliaristen, den Dichter u. Propst von Lausanne Martin le Franc u. sich selbst auftreten lässt. Am Hof zu Wien schlossen sich Traktate über Reich, Kirche u. Kaisertum an: Der Pentalogus (Febr./März 1443), das Fünfergespräch, an dem der König selbst teilnimmt, über die

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Missstände von Reich u. Kirche ist als dialogischer Fürstenspiegel u. humanist. Politikberatung mit dem Ziel einer Wiedergewinnung Italiens gedacht (Hg. Christoph Schingnitz. MGH Staatsschriften. Bd. VIII, Hann. 2009), der Traktat De ortu et auctoritate imperii Romani (1446. Hg. Gerhard Kallen. Köln 1939, S. 54–100) fußt auf traditioneller Reichs- u. Monarchietheorie. Weiteste Verbreitung fanden die jeweils in Briefform gekleideten Schriften. Im Somnium de fortuna (an Prokop v. Rabstein, 24.6.1444. Hg. Wolkan 1, S. 343–353, Nr. 151) mischen sich ein Traumbericht, in dem ihm der Humanist Maffeo Vegio Geschichten der Antike über die wechselhafte Macht der Fortuna erzählt, mit Hofsatire, dem Thema von De curialium miseriis (an Bischof Johann v. Eych, 30.11.1444; Wolkan 1, S. 453–487), wo P. die mittelalterl. Hofkritik (Petrus von Blois) u. antike Elemente (Juvenal) ätzend auf den Wiener Hof u. sein höfisch deformiertes Personal überträgt, deren Lebensform sich krass von humanist. Freiheit abhebt. Der Einfluss auf Sebastian Brant u. Ulrich von Hutten (Misaulus 1518) ist unverkennbar. Wirksame Texte einer humanist. Erziehungslehre ganz im Sinne stilistisch-lebenspraktischer Aneignung der Klassiker u. eines entsprechenden Lektürekanons u. Redetrainings stellen seine beiden Traktate für die jungen Habsburger Sigismund von Tirol (5.12.1443. Hg. Wolkan I, 1, S. 222–236, Nr. 99. Hg. Craig Kallendorf: Humanist Educational Treatises. Cambridge/ Mass. 2002, S. 126–259) u. Ladislaus von Böhmen (De liberorum educatione, Febr. 1450. Hg. Wolkan 2, S. 103–158, Nr. 40) dar; letzterer spielte bei der Erziehung Maximilians I. u. für Wimpfelings Adolescentia (1499) eine Rolle. Als literar. Autor verfasste er früh erotische lat. Carmina (Cinthia) sowie ca. 60 Epigramme u. Epitaphien (Carmina. Hg. Adrian van Heck. Vatikanstadt 1994) u. die plautin. Komödie Chrysis (1444. Hg. E. Cecchini. Florenz 1968). Die Erotik steht auch im Zentrum der Briefnovelle Euryalus und Lucretia / De duobus amantibus (1444 als Brief an Kanzler Kaspar Schlick u. Mariano Sozzini. Erstdr. 1470. Hg. Herbert Rädle. Stgt. 1993. Hg. D. Pirovano. Alessandria 22004), die in einer bis dahin

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singulären literar. u. psycholog. Subtilität den antiken Diskurs über die profane Liebe (u. a. röm. Elegie u. Komödie) in die Gegenwart überführt: Liebe als trag. Passion soll, sofern die Gesellschaft es irgend zulässt, ausgelebt werden. Das Werk wurde – nur mit Petrarcas Griseldis vergleichbar – zum überragenden Erfolg in ganz Europa (ca. 200 Handschriften, 70 Drucke bis 1500; ital., span., frz. u. dt. Übersetzungen, 1462 durch Niklas Wyle,). Dagegen gibt sich der ovidianische, ebenfalls weit verbreitete Brief De remedio amoris (31.12.1445 an Hippolitus v. Mailand = Nikolaus Kreul v. Wartenberg. Hg. Wolkan 2, 33–39) mit seinen misogynen Zügen schon als Produkt der Kehre. Diese Texte kursierten einzeln oder im Verbund mit seinen Briefsammlungen (gedruckt in den chronolog. Gruppen: Epistolae familiares (bis 1454); Epp. in cardinalatu und Epp. pontificales; älteste Ausgaben der Laienbriefe: Adolf Rusch. Straßb. 1473, Niklas Wyle 1478, Anton Koberger Nürnb. 1486; Ausg. bis Mitte 1454, hg. v. Rudolf Wolkan, 3 Bde.). P.s Briefe waren das Medium seiner schreibenden Existenz u. seiner überragenden Wirkung als literar. Leitfigur, die ihn zum »Apostel des Humanismus» (Georg Voigt) machte. So ist P.s Bedeutung für den kulturellen Transfer u. die Diffusion des Humanismus von Italien nach u. in Mitteleuropa unbestritten. Die ab 1431 erhaltenen ca. 500 Briefe lassen Technik u. Streubreite ebenso gut erkennen wie die informelle Konstruktion humanistischer Gruppenbildung. P. warb für den Humanismus, zog Interessierte sowohl am Hof selbst (Johannes Tröster, Michael Pfullendorf, Ulrich Sonnenberger, Johannes Tuschek, Wenzel von Bochow, Johann Hinderbach u. a.) wie als Briefpartner an u. wurde so »zum fruchtbarsten Ausländer, den die deutsche Literaturgeschichte vorzuweisen hat« (E. Meuthen, S. 650). Sein Freundeskreis begann früh (ab 1443), seine Briefe u. Schriften zu sammeln (Ludwig Scheitrer [München StB clm 12725], Michael Wopfner u. a), sie schulten sich an ihm imitativ in Schrift, Stil, Vers u. literar. Genres (etwa Niklas Wyle, Albrecht von Bonstetten, Ludwig Rad), u. benutzten seine Texte für den Unterricht. Auch zur Wiener

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Universität waren die Kontakte enger als bisher angenommen. Seine pausenlos in Gang gehaltene Korrespondenz diente zudem intensivem polit. Informationsaustausch; sie erstreckte sich von Polen (Erzbischof Zbigniew Olesnicky) über Böhmen (Prokop von Rabenstein, Nicolaus Liscius u. a.), Österreich u. Südwestdeutschland nach Italien, v. a. in die Heimatstadt Siena (Goro Lolli, Leonardo Benvoglienti, Familie Tolomei), nach Mailand u. zur Kurie (Papst Nikolaus V. Parentucelli, Heinrich Senftleben, Kardinal Johannes Carvajal). 1452 bereitete er die Kaiserkrönung Friedrichs III. in Rom u. dessen Vermählung mit Eleonore von Portugal vor. Der Fall Konstantinopels (29.5.1453), dessen katastrophale Bedeutung er rasch erkannte, motivierte seine neue Mission bis zum Lebensende: den Kreuzzug gegen die Türken. Als Vertreter des Kaisers auf den drei Türkenreichstagen der Jahre 1454/55 in Regensburg, Frankfurt u. Wiener Neustadt, als Papst auf dem von ihm organisierten, aber von den außerital. Fürsten nur schwach besuchten Kongress von Mantua 1459, kreierte er, im doppelten Gewand der antiken Beratungsrede wie der Kreuzzugspredigten, einen neuen Typus der polit. Rede. Die markantesten sind die Reden Constantinopolitana clades (Ffm., 15.10.1454) u. Cum bellum hodie (Mantua, 26.9.1459), die in weit über 100 Handschriften meistverbreitete Rede des gesamten Jahrhunderts. Burckhardt bemerkte, dass P. »ohne den Ruhm und den Zauber seiner Beredsamkeit vielleicht doch nicht Papst geworden«. In der Clades entwarf P. das Bild eines bedrohten christl. Europa u. suchte zgl. die Fürsten durch Erinnerung an große Vorbilder zum Krieg zu motivieren. Mit der Anrede »Vos Germani« u. dem Lobpreis der Varusschlacht (neben den Kreuzzügen) eröffnete der Italiener hier den späteren Germanendiskurs der dt. Humanisten in der CeltisGeneration. Der – erst 50 Jahre später Germania genannte – Traktatbrief (1458 an Martin Mair. Hg. Adolf Schmidt. Köln 1962) richtet sich gegen die vielen Kritiker der Kurie u. seiner Person, der man neben Pfründenjagd vorwarf, das Reich um »sein« Konzil gebracht zu haben. Der Deutschlandkenner

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P. kontrastiert darauf ein primitives german. Olim mit dem nicht zuletzt dank des röm. Christentums kulturell u. wirtschaftlich blühenden Deutschland seiner Gegenwart, das folglich Steuern an die Kurie zahlen kann (v. a. Städtebeschreibungen mit starker Wirkung auf Celtis’ Projekt einer Germania illustrata, bes. Cochläus’ Brevis Germaniae descriptio, 1512). Parallel dazu begann 1453 P.s zweite große literar. Phase, die wesentlich der Geschichtsschreibung u. Ethnografie gewidmet war. Auch hier wirkte er prototypisch. Die in drei handschriftl. Fassungen (1453–1458) überlieferte Historia Austrialis (auch: Historia Friderici. Hg. Julia Knödler u. Martin Wagendorfer. MGH Staatsschriften. Bd. VIII, Hann. 2009) u. die Historia Bohemica (1458. Hg. Dana Martinková, Alena Hadravová u. Jirˇ i Matl. Prag 1998. Hg. Joseph Hejnic u. Hans Rothe. 3 Bde., Köln 2005) verbinden in neuer u. für P. typischer Weise die Geschichte der nationalen u. dynast. Origo (Habsburger, Premysliden) mit Zeitgeschichte u. Kritik an älteren Leitquellen (etwa der Cronik der 95 Herrschaften). Wichtig waren dabei auch die von ihm wiederentdeckten Opera Ottos von Freising. Die 1458 vollendete Historia Bohemica als erste moderne Landesgeschichte war vom Staunen über die Persistenz des Hussitismus motiviert; sie prägte das Wissen über Böhmen für die kommenden hundert Jahre. Mehr in der Tradition der Facetien stand die Anekdotenu. Apophtegmensammlung (1455) über König Alfons V. von Neapel-Aragón, mit der er Antonio Beccadellis De dictis et factis Alphonsi regis ergänzte (Opera 1551, S. 472–499). Vom großen Projekt einer Cosmographia, die im Lichte einer Relektüre der lateinischen u. der – wiederentdeckten u. ins Lateinische übersetzten – griech. Geografen das erweiterte »Weltbild« der Renaissance ausgestalten sollte, wurden nur die Europa (1458. Hg. Adrian van Heck. Vatikanstadt 2001), die aber auch als zeitgeschichtl. Werk konzipiert ist, u. die Asia (1461), eine Chorografie v. a. Kleinasiens unter extensiver Nutzung Strabons, vollendet. P.s Schriften atmen Scharfsinn, Witz u. eine Eleganz, die erst Erasmus übertreffen sollte.

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1455 hatte P. endgültig den Norden verlassen u. war, um dem neuen Papst Calixt III. die Obödienz des Kaisers zu übermitteln, nach Italien zurückgekehrt. Hier vollendete sich die atemberaubende, auf individueller Leistung beruhende Karriere des Humanisten mit dem Kardinalat (1456) u. kurz darauf, am 19.8.1458, mit der Wahl zum Papst. Während des Pontifikats schrieb er, Literat geblieben, zunächst unermüdlich weiter: die Asia, den erst postum, dann aber in Massen publizierten Bekehrungsbrief an Sultan Mehmed II. (1460, Epistula ad Mahumetem. Hg. Reinhold F. Glei. Bochum 2001), Reden u. Staatsbriefe. Den Pontifikat begleiteten – als sein eigenstes u. originellstes Werk – die Commentarii (bis 1463), die aber wohl zum großen Teil diktiert wurden. Sie erscheinen als ganz neue Amalgamierung aus Autobiografie, Betrachtungen zur aktuellen Politik u. zur Geschichte fast aller Staaten Europas mit oft sarkast. Urteilen, aus Anekdoten, Reise- u. Landschaftsbeschreibungen. Ziel war es, die universale Eignung zum Papstamt u. den Ernst des Generalziels, des Türkenkriegs, zu dokumentieren. Nachdem lange nur eine zensierte Fassung (Druck 1584) bekannt war, existieren heute vier krit. Ausgaben des kompletten Texts (Hg. Adrian van Heck. Vatikanstadt 1984; Hg. Francesco Totaro. Rom 1984; Hg. Inolya Bellus u. Iván Boronkai. 2 Bde., Budapest 1993/94; Hg. Margaret Merserve u. Francesco Simonetta. Cambridge/Mass. 2003, bisher 2 Bde., Buch I-IV). Zgl. legte P. eine bedeutende Privatbibliothek an, überarbeitete seine Briefe, Reden u. Geschichtswerke u. organisierte mit Gehilfen wie Francesco Patrizi u. Giacomo Ammanati Piccolomini deren Kodifizierung in Prachtcodices. Auch P.s päpstl. Amtsführung ist durch Akten reich dokumentiert. Als Herr des Kirchenstaats betrieb er nolens volens u. mit geringem Spielraum eine aktive Mächtepolitik im Italien der Pentarchie; er schloss ein Bündnis mit Neapel-Aragon, führte erbittert Krieg gegen die Malatesta von Rimini. Auf Reisen u. Ausflügen mit der Kurie zelebrierte er in ungewohnter Weise den Genuss von Natur u. Landschaft. Seinen Geburtsort Corsignano ließ er von Rossellini u. anderen Architekten als »Pienza« zur ersten, maßvollen

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Modellstadt der Renaissance, in glückl. Integration nordalpiner Bauelemente, umbauen. Insofern darf man in seiner Person den ersten überzeugenden Höhepunkt eines Renaissancepapsttums sehen. Die literarisch-rhetorische Inszenierung integrierte bzw. überdeckte nie das kirchenpolitische, zunehmend auch theolog. Engagement. So verdammte er im Jan. 1460 noch in Mantua mit der Bulle Execrabilis den Konziliarismus u. verbot die Appellation an ein Konzil. Seine hauptsächl. Mission blieb jedoch der Türkenkrieg. Die große Kreuzzugsbulle Ezechielis (23.10.1463) war hier sein Vermächtnis. Von den Fürsten Europas weitgehend allein gelassen, verlor er seine Leichtigkeit, verfiel in Illusion wie Bitternis. Er, dessen Leben u. Pontifikat bis zuletzt als ein eindrucksvoll inszeniertes »Kunstwerk« angelegt war, starb als Schwerkranker zu Ancona einen martyrergleichen »schönen Tod« im Angesicht einiger Kreuzfahrerschiffe. Potenziert durch die Autorität des Papstamts, war P. nach Petrarca der wirkmächtigste Autor nördlich der Alpen. Er ist in der Tat, wie Burckhardt sagte, der »Normalmensch« der Renaissance, im Sinne einer Kumulierung ihrer faszinierenden Züge. Von keiner anderen Person, erst recht von keinem Papst des Mittelalters, weiß man biografisch soviel wie von ihm, weil niemand zuvor sich selbst derart prononciert zum Thema machte. Auf diesem Weg wird ihm Montaigne folgen. Zeugnisse seiner Person sind neben den Texten die zahlreichen Autographa. Sie lassen P.s Person nicht nur paläografisch, in der individuellen wie modellhaften Entwicklungsgeschichte seiner Humanistica-Handschrift, sondern – als von der Gicht Gezeichneten – auch pathologisch präsent werden. Was er für die transformative Aneignung der antiken u. mittelalterl. Autoren, etwa Sallust, Horaz, Strabon, Otto von Freising (in der Historia Austrialis) u. a. geleistet hat, wird zunehmend erforscht. Seine Werke wurden im letzten Boom des ausgehenden Handschriftenzeitalters ebenso wie vom frühesten Buchdruck verbreitet, dessen Bedeutung P. sofort erkannte, als man ihm im Okt. 1454 in Frankfurt gestochen scharf gedruckte Exemplare der Gutenberg-Bibel vorlegte.

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Die enorme Resonanz seines Œuvres, insbes. der Briefe u. Brieftraktate, einiger Reden u. der Geschichtswerke, v. a. bei den europ. Humanisten reicht mindestens bis in die Mitte des 16. Jh., so etwa in der Historiografie (1493, Schedel’sche Weltchronik). Sie ist nicht zuletzt durch bes. zahlreiche Übersetzungen in diverse Volkssprachen, bes. ins Deutsche, manifest, die bisher kaum erschlossen sind: Niklas Wyle in seinen Translatzen (nach dem Prinzip »wort usz wort«) übersetzte ab 1461 Briefe, De duobus amantibus, Somnium de fortuna, De remedio amoris u. den Erziehungsbrief für Sigismund v. Tirol, Wilhelm von Hirnkofen nach diesem Vorbild De curialium miseriis (Esslingen 1478, Hain 204), ebenso ein anonymer Übersetzer (Innsbruck, Museum Ferdinandeum Cod. F. B 1050, f. 129r-175r; Angabe v. Paul Weinig), Michael Christan u. Johann Gottfried übersetzten weitere Briefe. Anonyme Brief-Übersetzungen (Angaben v. P. Weinig) finden sich in Wien, ÖNB, cvp 4118, f. 136v-139v; Berlin StB Ms. Germ. qu. 377 f.8r-9v u. Nürnberg, GNM HR 131 f. 28r-32v. Peter Eschenloer übersetzte 1463 in Breslau die Historia Bohemica (Hg. Vacláv Bok = Heijnic, Bd. 2), daneben gibt es eine tschech. Übersetzung von Jan Húska, 1487 (Hg. Jaroslav Kolár = Hejnic, Bd. 3). Teile der Historia Austrialis wurden von Ladislaus Sunthaym ins Deutsche, die Rede Cum bellum hodie ins Italienische, die Bulle Ezechielis ins Deutsche u. Französische, De gestis concilii Basiliensis durch J. Foxe ins Englische (1567), die Europa ins Italienische (1544) übertragen. Weitere Werke / Ausgaben: Aeneae Sylvii Piccolomini ... opera quae extant omnia ... curante. C. Hoppeler. Basel 1551/71. Nachdr. Ffm. 1967. – Joannes D. Mansi, Pii secundi Orationes politicae. 3 Bde., Lucca 1755–59. – Aeneae Silvii Piccolomini... Opera inedita.... Hg. Josephus Cugnoni. In: Atti della Romana Accademia dei Lincei. Memoria della Classe di scienze morali, storiche e filologiche. Bd. III, 8, Rom 1882/83, S. 319–686. Nachdr. Farnsborough 1968. – De situ et origine Prutenorum. Hg. Theodor Hirsch. In: Scriptores Rerum Prussicarum, Bd. 4, Lpz. 1870. Nachdr. Ffm. 1965. – Der Briefw. des Eneas Silvius P. Hg. Rudolf Wolkan. 4 Bde. (Fontes rerum Austriacarum 61, 62, 67–68), Wien 1909–18 (bis Juni 1454). – Dialogus pro donatione Constantini [1453] (Erstdr. Rom

Piccolomini 1475). Hg. J. Cugnoni (s. o.), S. 550–615. – E. S. P. Papst Pius II. Ausgew. Texte. Hg. Berthe Widmer. Basel-Stgt. 1960. – Klaus Voigt: Ital. Ber.e aus dem spätmittelalterl. Dtschld. (1333–1492). Stgt. 1973, S. 77–155. – Enee Silvii Piccolominei De viris illustribus. Hg. Adrian van Heck. Vatikanstadt 1991. – Epistularium saeculare. Hg. ders. Vatikanstadt 2007. – Briefe, Reden Juni 1454 – Juli 1455: Dt. Reichstagsakten. Bd. 19,1, hg. v. Henny Grüneisen, Gött. 1969. – Dass. Bd. 19,2, hg. Johannes Helmrath (Nr. 16: Clades-Rede vom 15.10.1454), Bd. 19,3, hg. Gabriele Annas (beide im Dr.). Literatur: Georg Voigt: E. S. de’ P. als Papst Pius II. u. sein Zeitalter. 3 Bde., Bln. 1856–63. Neudr. 1967. – Hans A. Genzsch: Die Anlage der ältesten Slg. v. Briefen E. S. P.s. In: MIÖG 46 (1932), S. 372–480. – Konrad Häbler: Die Drucke der Briefslg.en des Aeneas Silvius. In: Gutenberg-Jb. 14 (1939), S. 138–152. – Alfred A. Strnad: Studia piccolominea. Vorarbeiten zu einer Gesch. der Bibl. der Päpste Pius II. u. Pius III. In: E. S. P. Atti Siena 1968 (s. u.), S. 295–390. – Giuseppe Bernetti: Saggi studi sugli scritti di E. S. P. Papa Pio II. Florenz 1971. – Nicola Casella: Pio II tra geografia e storia: La ›Cosmographia‹. In: Archivio della società Romana di storia patria 3. ser. 26 (1971), S. 35–112. – Jürgen Blusch: E. S. P. u. Giannantonio Campano. Die unterschiedl. Darstellungsprinzipien in ihren Türkenreden. In: Humanistica Lovaniensia 28/29 (1979/80), S. 78–138. – Gianni Zippel: E. S. P. e il mondo germanico. In: La Cultura 19 (1981), S. 267–350. – Erich Meuthen: Ein neues frühes Quellenzeugnis (zu Okt. 1454?) für den ältesten Bibeldruck. E. S. P. am 12.3.1455 aus Wiener Neustadt. In: Gutenberg-Jb. 1982, S. 108–118. – Arnold Esch: E. S. P. als Papst Pius II. In: Lebenslehren u. Weltentwürfe im Übergang vom MA zur Neuzeit. Hg. Hartmut Boockmann u. a. Gött. 1989, S. 112–140. – Franz J. Worstbrock: P. In: VL (beste Werkübersicht u. Bibliogr. bis 1988), auch: VL (Nachträge u. Korrekturen). – A. A. Strnad: Die Rezeption der ital. Renaissance in den österr. Erblanden. In: Die Renaissance im Blick der Nationen Europas. Hg. Georg Kaufmann. Wiesb. 1991, S. 135–226, hier 144–154. – Erich Meuthen: P. In: TRE. – Andreas Tönnesmann: Pienza. Mchn. 2 1996. – Jan Pieper: Pienza. Der Entwurf einer humanist. Weltsicht. Stgt.-London 1997. – Paul Joachim Heinig: Kaiser Friedrich III. (1440–93). Hof, Regierung, Politik, 3 Bde., Köln u. a. 1997. – Paul Weinig: Aeneam suscipite, Pium recipite. Aeneas Silvius P. Die Studien zur Rezeption eines humanist. Schriftstellers im Dtschld. des 15. u. 16. Jh. Wiesb. 1998. – Herfried Münkler u. Hans Grünberger: E. S. P.s Anstöße zur Entdeckung der

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Pichler, Adolf, Ritter von Rautenkar (seit 1877), * 4.9.1819 Erl bei Kufstein, † 15.11. 1900 Innsbruck. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker; Naturwissenschaftler. P. wuchs als Sohn eines Zöllners in schwierigen Verhältnissen auf: Sein Vater litt zeitweise an Geisteskrankheit, die Mutter war trunksüchtig. Der junge P. fand seine höchste Befriedigung in der Natur der Tiroler Hochgebirgslandschaft. Nach philosoph. Studien ließ er sich als Rechtsstudent in Innsbruck immatrikulieren, da ihm die Mittel fehlten, an einer auswärtigen Universität Medizin zu studieren. Dort fand P. in Alois Flir einen Mentor. Sein Interesse galt weniger dem Recht als der Philosophie (v. a. der Lehre Hegels), den klass. u. neueren Literaturen u. Luthers Bibel. In Wien setzte er sein Studium an der medizin. Fakultät fort. 1848, im Jahr seiner Promotion, beteiligte er sich als

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Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Simon M. Prem. 17 Hauptmann der akadem. Tiroler Schützenkompanie am »wälschtirolischen Krieg« (un- Bde., Mchn. 1904–08. – Aus Tagebüchern 1849–99. ter diesem Titel publizierte er auch einen Mchn. 1905. – Aufbruch aus der Provinz. Briefw. A. Erinnerungsband; Wien 1849); für seine P. – Alois Brandl (1876–1900). Hg. Johann Holzner u. Gerhard Oberkopfler. Innsbr. 1983. Verdienste wurde ihm der Eiserne KroneLiteratur: Simon M. Prem: A. P. Kufstein 1889. norden verliehen. 1849 kehrte er nach Inns– Richard Maria Werner: Vollendete u. ringende bruck zurück u. wurde Lehrer für Deutsch u. Dichter u. Dichtungen der Neuzeit. Minden 1900. – Naturgeschichte am Obergymnasium. Nach Joseph Eduard Wackernell: A. P. Freib. i. Br. 1925. einer größeren Reise, während der P. in Ber- – Moriz Enzinger: Zu der Beziehung zwischen lin die Bekanntschaft Alexander von Hum- Friedrich Hebbel u. A. P. In: Archiv 85 (1930). – boldts machte, verheiratete er sich 1857 mit Karl Heinz Hüber: A. P.s Weltanschauung. Diss. Josefine Groß (drei Kinder). Aufgrund der Wien 1960. – Eugen Thurnher: Gedanken zum Anerkennung, die er als Alpengeologe (u. a. 100. Todestag des Dichters A. P. In: Der Schlern 74 mit Zur Geognosie der Alpen. Innsbr. 1867) ge- (2000), S. 791–795. Virginia L. Lewis / Red. wann, erfolgte 1867 trotz seines (national)liberalen »Urgermanentums« (er gründete ei- Pichler, Caroline, geb. von Greiner, * 7.9. nen »Verein der Nibelungen«) die Ernennung 1769 Wien, † 9.7.1843 Wien. – Schriftzum Innsbrucker o. Prof. der Mineralogie u. stellerin. Geologie. Die bedeutendste literar. Leistung P.s, der P. war die Tochter des Hofrats Franz Sales von u. a. zu Hebbel u. Frankl nähere Beziehungen Greiner u. der Caroline Greiner, in deren Saunterhielt, liegt auf dem Gebiet der Erzäh- lon die wichtigsten Künstler des josephin. lung. In den drei Bänden Allerlei Geschichten Wien wie Mozart u. Haydn, Alxinger, Blumaus Tirol (Jena 1867), Jochrauten (Lpz. 1897) u. auer, Denis, Haschka, Leon, Ratschky, SonLetzte Alpenrosen (Lpz. 1898) sind die besten nenfels u. Gottfried van Swieten verkehrten. seiner schlichten, ungekünstelten Volkser- Sie erhielt eine gediegene literar. Erziehung zählungen gesammelt, darunter Im Allbach, u. veröffentlichte bereits 1782 im »Wiener Die Franzosenbraut u. Der Galgenpater. Die ge- Musenalmanach« ihr erstes Gedicht. 1796 heiratete sie den späteren Regietreuen Schilderungen der Natur u. des Lebens rungsrat Andreas Pichler, bekam 1797 ihre der einfachen Tiroler Landleute machen diese auch erzähltechnisch gelungenen Geschich- einzige Tochter Elisabeth u. zog 1798 nach ten zu wertvollen kulturhistor. Dokumenten, dem Tod ihres Vaters mit der Familie u. ihrer fern vom sentimentalen Schema der markt- Mutter in die Wiener Vorstadt Alsergrund. gängigen Hochgebirgsliteratur. P. besaß ein Dort führte sie in den folgenden Jahren einen ausgeprägtes episches Talent u. schuf mit Fra wichtigen literar. Salon, zu dessen Gästen Serafico (Innsbr. 1879) ein Versepos von dau- Wiener Autoren wie Heinrich von Collin, erndem literar. Wert. Das zentrale Thema von Matthäus von Collin u. Franz Grillparzer, christl. Demut u. Entsagung ist typisch für Romantiker wie die Brüder Schlegel, Zachadie Werke der Reifezeit. P.s Lyrik zeichnet rias Werner u. Clemens Brentano sowie polisich durch sprachl. Kraft u. Plastizität aus, tisch einflussreiche Persönlichkeiten wie Jov. a. auch in der Epigrammatik u. in seinen sef Hormayr zählten. Brieffreundschaften Hymnen (Innsbr. 1855). Als Dramatiker er- unterhielt P. zu anderen Schriftstellerinnen reichte er trotz einiger ernsthafter Versuche wie Therese Huber u. Therese von Artner. P.s literar. Karriere begann 1800 mit den (z.B. Rodrigo. Innsbr. 1862) keine Bedeutung. Gleichnissen (Wien), kurzen, schon früher geWeitere Werke: Gedichte. Innsbr. 1853. – In schriebenen Prosatexten, zu deren PublikatiLieb’ u. Haß. Elegien u. Epigramme aus den Alpen. Gera 1869. – Marksteine. Erzählende Dichtungen. on sie ihr Ehemann aufforderte. Der Erfolg Gera 1874. – Neue Marksteine. Lpz. 1890. – Zu ermunterte sie zur weiteren Produktion, u. meiner Zeit. Schattenbilder aus der Vergangenheit. bald wurde sie zu einer profilierten Autorin, Lpz. 1892. – Spätfrüchte. Innsbr. 1896 (L.). – Die die sich in vielen Genres versuchte u. ein umfangreiches Werk hinterließ. Bereits Tarquinier. Mchn. 1898 (Trauersp.).

Pichler

1813–1817 erschienen im Wiener Verlag Anton Strauß ihre Sämmtlichen Werke in 20 Bänden, 1824 bis 1844 veröffentlichte der Verlag ihres Schwagers Anton Pichler ihre Sämmtlichen Werke im Oktavformat in 53 Bänden u. parallel dazu eine weitere Ausgabe im Sedezformat in 60 Bänden. In den zeitgenöss. Leihbibliotheken waren ihre Bücher prominent vertreten. Außer den Gleichnissen verfasste P. einige weitere Idyllen-Bände, so etwa das »biblische Gemälde« Ruth (Wien 1805) – hier steht sie in der Tradition der empfindsamen Aufklärung. 1808 errang sie einen großen, auch internat. Erfolg mit dem histor. Roman Agathokles (Wien), der sich explizit gegen die negative Darstellung des Christentums in Edward Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire richtete. P.s penibel recherchierter Briefroman setzt auf das Christentum als humanisierende, gegen den Partikularismus gerichtete Kraft u. liefert damit auch einen impliziten Kommentar zu zeitgenöss. polit. Fragen wie der Konstitution einer dt. Nation. Unter dem Einfluss Hormayrs, der an der Konstruktion einer österr. Identität arbeitete, verfasste P. ab 1813 mehrere Theaterstücke, die sich mit Stoffen aus der österr. Geschichte auseinandersetzten, ähnlich wie die Stücke Matthäus von Collins oder wenig später Grillparzers. Die politisch interessierte Autorin hatte daher immer wieder Probleme mit der Zensur. 1824 bis 1834 nahm sie das Thema in fünf umfangreichen histor. Romanen erneut auf: Die Belagerung Wiens (Wien/ Lpz. 1824), Die Schweden in Prag (Wien/Lpz. 1827), Die Wiedereroberung von Ofen (Wien/Lpz. 1829), Friedrich der Streitbare (Wien/Lpz. 1831) u. Elisabeth von Guttenstein (Wien/Lpz. 1835) beruhen auf sorgfältigen Quellenstudien u. leisten einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung eines Habsburg-Patriotismus, reflektieren aber auch die Widersprüche dieses nicht nationalist. Konzepts. In weiteren Romanen wie Leonore (Wien 1803), Frauenwürde (Wien/Lpz. 1818) oder Die Nebenbuhler (Wien/ Lpz. 1821) thematisierte sie aus weibl. Perspektive die Veränderungen ihrer Epoche, orientierte sich formal allerdings an der älteren Aufklärungsliteratur, etwa an Sophie von La Roche.

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P. veröffentlichte in vielen Zeitschriften (etwa der Leipziger »Minerva«, Bertuchs »Journal des Luxus und der Moden« u. der Wiener »Aglaja«), war Mitarbeiterin an Hormayrs »Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst«, schrieb Erzählungen u. Rezensionen u. äußerte sich in Essays zu zeitgenöss. Fragen, z.B. 1810 Über die Bildung des weiblichen Geschlechts. Ihre postum gedruckten Denkwürdigkeiten aus meinem Leben (Wien 1844), die erst nach erhebl. Zensurschwierigkeiten erscheinen konnten, gelten als wichtige Quelle für die literar. Kultur des Wiener Biedermeier, sind aber darüber hinaus eine bemerkenswerte Autobiografie, in der P. auch die Veränderungen des literar. Feldes kritisch kommentiert u. entschieden Partei ergreift für die traditionelle Gelehrtenrepublik der Aufklärung. Ausgaben: Ausw. aus dem Werk. Eingel. u. hg. v. Kurt Adel (= Österreich Reihe, Bd. 371/73). Wien 1970. – Schriftstellerinnen u. Schwesterseelen: Der Briefw. zwischen Therese Huber (1764–1829) u. Karoline P. (1769–1843). Hg. Brigitte Leuschner. Marburg 1995. Literatur: Karl Glossy: Hormayr u. C. P. In: Jb. der Grillparzer-Gesellsch. 12 (1902), S. 212–343. – Olga Dobijanka-Witczakowa: Das Thema ›Galizien‹ in den ›Denkwürdigkeiten‹ Karoline P.s. In: Galizien als gemeinsame Kulturlandschaft. Beiträge des 2. Innsbrucker Symposiums poln. u. österr. Literaturwissenschaftler. Hg. Fridrun Rinner u. Klaus Zerinschek. Innsbr. 1988, S. 13–18. – Susanne Kord: ›Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau?‹ C. P.’s Fictional Auto/biographies. In: Women in German Yearbook 8 (1993). – Barbara Becker-Cantarino (zus. mit Gregory Wolf): C. P. In: Major Figures of Nineteenth-Century Austrian Literature. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1998, S. 417–434. – Stefan Jordan: P. In: NDB. – Anke Gilleir: ›Was wollte denn die neue Schule nun endlich?‹ Autobiogr., Autorschaft u. Moderne. Betrachtungen über C. P.s ›Denkwürdigkeiten aus meinem Leben‹ (1843) aus feldtheoret. Perspektive. In: ÖGL 46 (2002), H. 3, S. 169–187. – Dies.: Geschlecht, Religion u. Nation. C. P.s ›Agathokles‹ als Antwort auf den Nationalismus der napoleon. Ära in Österr. In: CG 35 (2002), H. 2, S. 125–144. – Karin Baumgartner: Staging the German Nation: C. P.’s ›Heinrich von Hohenstaufen‹ and ›Ferdinand II‹. In: MAL 37 (2004), S. 1–20. – Wynfrid Kriegleder: Die ›Eigenen‹ u. die ›Fremden‹ in den histor. Romanen der C. P. In: Paradoxien der Ro-

227 mantik. Gesellsch., Kultur u. Wiss. in Wien im frühen 19. Jh. Hg. Christian Aspalter u. a. Wien 2006, S. 401–420. Wynfrid Kriegleder

Pick, Otto, * 22.5.1887 Prag, † 25.5.1940 London. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer. Der zweisprachig aufgewachsene Sohn eines kleinen jüd. Händlers wurde nach dem Besuch des Prager Realgymnasiums Bankbeamter u. diente im Ersten Weltkrieg als Leutnant. Als Feuilletonredakteur der »Prager Presse« (seit 1921) bewies P. einen scharfen Blick für literar. Qualität u. veröffentlichte Beiträge u. a. von Musil, Robert Walser, Heinrich Mann. 1939 musste er nach England emigrieren. Als Lyriker u. Erzähler ist P., der mit Kafka, mit dem er mehrere Reisen unternahm, mit Werfel, Felix Weltsch, Oskar Baum u. Max Brod befreundet war, dem literar. Expressionismus zuzurechnen; er veröffentlichte in Zeitschriften wie »Die Aktion«, »Der Brenner«, »Das Flugblatt«, »Der Friede«, »Herder-Blätter« (hier auch Mitherausgeber), »Der Mensch«, »Der Sturm« u. den »Weißen Blättern«, übersetzte Karel u. Josef Cˇapek, Frantisˇ ek Langer, Frána Sˇrámek u. Otokar Brezina ins Deutsche, Carl Spitteler, Werfel u. Stefan Zweig ins Tschechische. Als ein wichtiger Vermittler zwischen dt. u. tschechoslowak. Literatur gab er auch Anthologien wie Tschechische Erzähler (Potsdam 1920) u. Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei (Reichenberg 1922) heraus. Weitere Werke: Freundl. Erleben. Bln. 1912 (L.). – Die Probe. Heidelb. 1913 (N.n). – Wenn wir uns mitten im Leben meinen. Prag 1926 (L.). – Villa Bedlam. Prag 1928 (Kom., zus. mit Maria Kraus). – Das kleine Glück. Prag 1928 (L.). – Spielende Kinder. Prag 1928 (E.). – Preisungen. Prag 1937 (L.). Literatur: Hartmut Binder: Mittler zwischen den Kulturen. Zum 100. Geburtstag des Prager Schriftstellers O. P. In: NZZ, 22.5.1987. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien 1987 (mit Bibliogr.). Johann Sonnleitner / Red.

Pictorius

Pictorius, Georgius, eigentl.: Jörg, Georg, Mahler, * um 1500 Villingen, † 1569/73 Ensisheim/Elsass. – Publizist medizinisch-naturkundlicher Sachschriften. Nach Studien an der Artistenfakultät der Universität Freiburg/Br. unterrichtete P. als ein von Konzepten des Erasmus von Rotterdam beeinflusster »moderator iuvenum« an der Freiburger Lateinschule, verband aber seine Rektorentätigkeit (1529–1535) mit einem Medizinstudium. Nach seiner Promotion zum Dr. med. (1535) u. Jahren ärztlicher Praxis trat P. 1540 als Physikus in den Dienst der vorderösterr. Regierung in Ensisheim. Zu seinem Bekanntenkreis gehörten Sebastian Münster, der Jurist Johann Ulrich Zasius u. Angehörige der Familie des Augsburger Kaufmanns Hansjörg Baumgartner. P. verfolgte Zielsetzungen humanistischer Arztphilologen mit Ausgaben antik-mittelalterl. Autoren, darunter Schriften von Marbod von Rennes (De lapidibus pretiosis. 1531 u. ö. [Lehrgedicht]), Mesue (Canones. Basel 1545), Macer (De herbarum virtutibus. Basel 1559. 1581 [Lehrgedicht]), Marsilius Ficinus (De studiosorum tuenda sanitate. Basel 1569) u. das salernitan. Lehrgedicht De conservanda bona valetudine (Antwerpen 1562 u. ö.), zgl. aber rüttelte er an dem zunehmend bedrohten Monopol des Lateinischen als Medium der Schulmedizin. Weder seine Verwurzelungen im lateingeprägten Arzthumanismus noch die zähen Widerstände seitens der akadem. Ärzteschaft gegen den Druck landessprachiger Medicinalien hinderten P. daran, an lateinunkundige Laienmediziner der Mittel- u. Oberschichten sowie an Heilpersonen minderen Rangs deutschsprachige Lehrschriften über Pest (Colmar 1542 u. ö.), »Houptwee« (Basel 1553 u. ö.), Nierensteinleiden (Grien Büchlin. Mühlhausen 1557) u. über übl. Heilpraktiken (Lasz büchlin. Basel 1555. Ffm. 1569) zu richten, zu denen sich ärztl. Ratschläge für Reisende (Raiss Büchlin. Straßb. 1557 u. ö.), Badbesucher (Baderbüchlin. Mühlhausen 1560 u. ö.), Schwangere u. junge Mütter (Frauwenzimmer. Ffm. 1569 u. ö.) sowie allg. Gesundheitslehren (Ordnung/ gegenwirtige gesundheit zu erhalten/ vnd zukünfftige kranckheit zu vermeiden. Mühlhausen 1561. Enchiridion,

Pietraß

Oder [...] Handtbüchlein. Mühlhausen 1563. 1566) u. eine medizinalpolit. Schrift (Von Zernichten Artzten. Straßb. 1557 u. ö.) gesellten. Neuzeitliche Aufmerksamkeit galt vorab drei Traktaten zum Dämonen- u. Hexenwesen (De illorum daemonum qui sublunari collimitio versantur [...] Isagoge; De speciebus magiae ceremonialis, quam Goetiam vocant, epitome; An sagae [...] ignis muleta sint damnandae, resolutio. Basel 1563 u. ö.), denen namentlich ihre Abdrucke in den Opera H. C. Agrippas von Nettesheim vom 16. Jh. bis in unsere Tage zu Bekanntheit u. Übersetzungen verhalfen. Weitere Werke: Pro primis tyronibus morum puerilis institutio. Freib. i. Br. 1530. 1534. – Theologia mythologica. Freib. i. Br. 1532 u. ö. Erw. Fassung u. d. T. Apotheseos [!] tam exterarum gentium quam romanorum deorum libri tres. Basel 1558. – In Q. Horatii Flacci poemata annotationes. Freib. i. Br. 1535. Antwerpen 1535. – De tuenda sanitate. Basel 1549 u. ö. (in Dialogform). – Rei medicae [...] traditio. Basel 1558. – De pharmacandi comprobata ratione. Basel 1559 u. ö. (Lehrgedichte v. Theodoricus Ulsenius u. Quintus Serenus Samonicus). – Sermonum convivalium libri X. Basel 1559 u. ö. – Medicinae tam simplices quam compositae. Basel 1560. – Zootrophein. Basel 1560 (mit Oppians Lehrdichtung). – Sanitatis tuendae methodus. Basel 1561 u. ö. – Separati sermones aphoristica. Basel 1562. – Pantopolion. Basel 1563. – De instituendis pueris. Basel 1564. – Regulae universales curationis morborum. Basel 1565. – Physicarum quaestionum centuriae tres. Basel 1568. – In C. Plinii naturalis historiae septimum librum adnotata. Basel 1569. – Opera nova. Basel 1569. Ausgaben: H. C. Agrippa v. Nettesheim: Mag. Werke sammt den [...] Schr.en des [...] P. v. Villingen. Bd. 4, Stgt. 1856, S. 158–196, Bd. 5, 1856, S. 5–59, 297–300 (De speciebus magiae, De [...] daemonum [...] isagoge, An sagae [...] sint damnandae [1563 u. ö.] in dt. Übers.). Auch: Bln. 1916. 1921. Meisenheim 1970. Schwarzenburg 1979. Wien: Amonesta-Verlag o. J. – De apibus methodus (1563), u. d. T. ›Bienenbüchlein‹ übers. v. Ernst Georg Kürz. In: Schr.en des Vereins für Gesch. u. Naturgesch. der Baar 9 (1896), S. 137–175. – Grien Büchlin (Mühlhausen 1557). Faks., eingel. u. ins Englische übers. v. Charles Greene Cumston. Genf 1925. – Theologia mythologica (Antwerpen 1532)/ Apotheseos tam exterarum gentium (Basel 1558). Nachdr., eingel. v. Stephen Orgel. New York/London 1976. – Badenfahrtbüchlein. Ffm. o. J. [nach 1564]. Nachdr., ins Neuhochdeutsche übers. u. komm. v. Udo Becker. Freib./Basel/Wien 1980. –

228 Magie der Renaissance. Hg. Kurt Benesch. Wiesb. 1985, S. 51–77: ›De speciebus magiae‹ dt. Literatur: Ernst Georg Kürz: G. P. v. Villingen, ein Arzt des 16. Jh. u. seine Wiss. Freib. i. Br./Lpz. 1895. – Fritz Behrend: G. P., Archiater zu Ensisheim, gegen Volksaberglauben u. Kurpfuscherei. In: Archiv für Gesch. der Medizin 11 (1919), S. 218–222. – Léon Elaut: Les règles d’une gastronomie hygiénique, exposées par le médecin-humaniste G. P. In: Clio Medica 3 (1968), S. 349–359 (mit frz. Übers.). – M. Kubler: P. In: NDBA. – Tillmann Wertz: G. P. (1500–1569/73). Leben u. Werk eines oberrhein. Arztes u. Humanisten. Heidelb. 2006 (S. 159–250: Bibliographie raisonnée; Textproben). Joachim Telle

Pietraß, Richard, * 11.6.1946 Lichtenstein/Sachsen. – Lyriker. Nach dem Abitur 1965 arbeitete P. als Metallhüttenwerker u. dann als Hilfspfleger. 1968–1972 studierte er klin. Psychologie an der Humboldt-Universität in Berlin (Promotion). 1975–1979 war er Verlagslektor, bis 1978 auch Lyrikredakteur der Zeitschrift »Temperamente« u. 1977–1979, dann wieder ab 2009 Herausgeber der Reihe »Poesiealbum« (als Nachfolger von Bernd Jentzsch). P. lebt als freier Schriftsteller u. Übersetzer/ Nachdichter in Berlin. 1999 war P. Writer in Residence an der University of Bath, 2004 »Landesschreiber« in Liechtenstein, 2008 Stadtschreiber von Rheinsberg. Seit den 1990er Jahren findet sein Werk immer mehr öffentl. Anerkennung, was sich an den Preisen u. Auszeichnungen ablesen lässt (Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, Weimar, 1992; Wilhelm-Müller-Preis des Landes Sachsen-Anhalt für das lyrische Werk, 1999; Erwin-Strittmatter-Preis / Brandenburgischer Literaturpreis, 2004, mit Andreas Altmann; Verdi-Literaturpreis, 2009, mit Eva Strittmatter). P.’ Gedichtbücher haben sprechende Titel: Notausgang (Bln./Weimar 1980), Freiheitsmuseum (Bln./Weimar 1982), Spielball (Bln./Weimar 1987), Randlage (Warmbronn 1996), Grenzfriedhof (Bln. 1998) oder freigang (Lpz. 2006). Sie verdeutlichen P.’ Beharrlichkeit, Entfremdungen kenntlich zu machen u. an Utopien festzuhalten: »Mein Horizont, gewiß! enthält wenig besetzbaren Boden, nur-

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mehr Himmel«, der jedoch zunehmend an einem Bein in Liechtenstein (Lpz. 2007) als huder DDR-Wirklichkeit, der »Stickkammer / morvoller Fabulierer in lyr. Sprache. Getäuschter Hoffnung«, eingeengt wird. Mit Weitere Werke: Poesiealbum 82. Bln./DDR der Wende hellte sich die Stimmung aber 1974. – Was mir zum Glück fehlt. Gedichte. Ausnicht zwingend auf, eher wurden die Bilder wahlbd. Ffm. 1989. – Weltkind. Gedichte. Ausw. v. nach der polit. Öffnung komplexer: »Nun, da Ursula Heukenkamp. Lpz. 1990. – Kolonnenweg. sich die politischen Systeme Osteuropas auf- Ausgew. Gedichte. Aschersleben 2000. – Die Auslösen wie prähistorische Nebel [...], finden sicht auf das Wort. Zum 60. Geburtstag v. den Freunden aus seinen Büchern zusammengetragen [wir] uns in einer Situation existenzieller u. hg. Warmbronn 2006. – Leuchtspur. 23 DreiVerstörung« (Lyrisch Roulette, in: Literaturent- zeiler (bibliophile Ausg.). Bergen (Niederlande) wicklungsprozesse. Hg. E. Wichner u. H. Wies- 2008. ner. Ffm. 1993). P. machte es sich nicht leicht Literatur: Karin Köbernick: Herzschlag Hornauf dem Weg zum »Freigang«, zumal der haut. Gespräch mit R. P. In: WB, H. 4 (1982), Tod der ersten Frau, der Slawistin Erika S. 115–118. – Robert Siebum u. Marieluise de Schulze, im Jahr 1993 auf trag. Weise auch Waijer-Wilke: Gespräch mit R. P. In: Dt. Bücher Verluste des Vergangenen sichtbar werden XV/2, Amsterd. 1985, S. 85–98. – Für u. Wider. ließ u. lange Schatten in die Gegenwart hin- ›Spielball‹ v. R. P. In: WB, H. 1 (1988), S. 92–111. – ein warf. P.’ Widmungsgedichte an sie aus Ursula Heukenkamp: Preußenkind in Sachsen, den Jahren 1993/94 (Letzte Gestalt. Warm- Sachsenzunge in der Mark. Gespräch mit R. P. In: bronn 1994) nahm er sowohl in den Band ›Weltkind‹ 1990 (s. o.), S. 94–103. – Andreas F. Kelletat: Aus der Wortschatztruhe des R. P. Ffm. Schattenwirtschaft (Lpz. 2002) als auch in Vor1991. – Wulf Kirsten: R. P. In: Reden u. Laudatiohimmel. Liebesgedichte (Blieskastel 2003) wieder nes zur Überreichung der Ehrengaben. Weimar auf. 1992. – Robert v. Hallberg: Interview mit R. P. In: P. ist dessen ungeachtet geradezu ein Ders.: Literary Intellectuals and the Dissolution of Meister der Sarkasmen, der Ironie u. der the State. Chicago 1996, S. 180–185. – Jürgen Groteske, aber auch der Melancholie roma- Engler: Aufgehoben im Labyrinth des Wortes. Genischer Provenienz. Die Gestalt des »Mün- spräch. In: NDL, H. 6 (1999). S. 8–21. – Thomas dels« bildet die Situation des in seinem Lande Rehfeld: R. P. – Vom Lyrikclub Pankow ins gefangengesetzten DDR-Bürgers ab: »Wenn Schriftstellerlexikon. In: Roland Berbig: Der Lydem Mündel wohl ist, macht es einen Knicks rikclub Pankow. Bln. 2000. – Jürgen Engeler u. Wolfgang Emmerich: R. P. In: KLG. – Nicole und bittet den Vormund, seine Hand lassen Henneberg: R. P. In: LGL. zu dürfen für ein paar Tage [...]. Dann wartet Alexander von Bormann / Günter Baumann es« (Vom Mündel, in: Spielball). Die Zensur sah den Menschen dieser Gedichte als »ausgeliefert, entfremdet, nicht sozial aktiv« (zit. in Pietsch, Johann Valentin, * 23.6.1690 KöLyrisch Roulette) an u. verzögerte die Publikanigsberg, † 29.7.1733 Königsberg. – Metion um zwei Jahre. Neben den eher satir. diziner, Professor der Poesie, Verfasser Versen gibt es Lieder u. Distichen, Reim- u. weltlicher u. geistlicher Dichtungen. Prosagedichte, Liebeslyrik u. lakon. Verse, wobei P. als selbsternannte »Laus im Staats- Der Sohn eines wohlhabenden Königsberger pelz« u. Pendler zwischen den Welten mit Apothekers studierte nach privatem Unterbes. Aufmerksamkeit die »Informationskraft richt seit 1705 in seiner Heimatstadt Medizin der Formen« (Heiner Müller) benutzt. u. Poesie. Durch Hieronymus Georgi, einen Gleichwohl regiert ein gewisses Zutrauen die der Nachfolger Simon Dachs auf dem Poedichterische Arbeit von P.: Das Konzept tiklehrstuhl, wurde er in die regionale Lite»Spiel« nimmt darin eine zentrale Stelle ein raturtradition eingeführt. Nach seiner mediu. rechnet auf Subjekte, die sich ihre Sprach- zinischen Promotion in Frankfurt/O. 1713 u. fähigkeit, ihre Ansprüche nicht austreiben einer zweijährigen Reise, die ihn u. a. nach lassen. Tritt P. schon in seinen Prosagedich- Berlin führte, wo er die Bekanntschaft Johann ten mit sprachlich fein geschliffenen Minia- von Bessers u. Benjamin Neukirchs machte, turen auf, zeigt er sich in dem Tagebuch Mit ließ er sich 1715 in Königsberg als Arzt nie-

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der. 1717 erwarb er den Magistertitel u. folgte seinem Lehrer Georgi als Professor für Poetik nach, wozu ihm der Erfolg seiner 34strophigen Ode Ihrer Hoch-Fürstl. Durchl. Printzen EUGENII von Savoyen Sieg-reicher Feldzug Wieder die Türken (o. O. u. J. [1716]) den Weg ebnete. Bei der Aufnahme in die philosoph. Fakultät u. beim Antritt seiner Professur legte er jeweils eine lat. Dissertatio zu poetolog. Themen vor (Poeticarum thesium duodecas. Königsb. 1718; Solutae ligataeque orationis limites. Königsb. 1718). Diese Schriften, die als Thesendrucke akadem. Disputationen zugrunde lagen, haben v. a. wegen ihres Einflusses auf Johann Christoph Gottsched, der von 1717 bis 1723 bei P. studierte, Beachtung gefunden. Das Amt des Poetikprofessors brachte für P. die Verpflichtung, aus Anlass des preuß. Krönungstages, des Geburtstages des Königs u. der großen Kirchenfeste regelmäßig Gelegenheitsdichtungen in dt. u. lat. Sprache zu verfassen, auch der größte Teil seiner übrigen literar. Produktion ist in mehr oder minder strengem Sinne Kasualdichtung. Neben seiner Professur unterhielt P. auch eine gut gehende medizinische Praxis, zwischen 1719 u. 1721 wurden ihm außerdem einträgl. Titel wie der eines kgl. Hofrates u. Leibarztes verliehen. Zwei Eheschließungen (die erste Gattin verstarb nach wenigen Jahren), gelegentl. Kontakte mit anderen Dichtern – neben den genannten v. a. Barthold Heinrich Brockes u. Johann Ulrich König – sowie der Besuch einer festl. Truppenschau in Sachsen waren weitere Stationen eines im übrigen unspektakulären Gelehrtenlebens. Kurze Zeit nachdem der preuß. König ihn mit einer großzügigen Rente ausgestattet hatte, verstarb P. in Folge eines Fiebers mit 43 Jahren. P.s Nachfolger als Professor der Poetik wurde sein Schüler Johann Georg Bock, der als Kommilitone, Freund u. Briefpartner Gottscheds bekannt ist, der aber auch die maßgebl. Ausgabe von P.s Werken besorgt hat (Des Herrn Johann Valentin Pietschen [...] gebundene Schriften. Königsb. 1740). Zwei Ereignisse des Türkenkrieges (1716 bis 1718), die Schlachten von Peterwardein u. Temesvar bzw. die Eroberung Belgrads – jeweils unter der Führung des Prinzen Eugen

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von Savoyen –, bilden den Gegenstand von P.s bedeutendsten Dichtungen. Die umfangreiche Ode auf Prinz Eugen unterscheidet sich durch Stophengliederung u. Redegestus von dem wenig später verfassten Epos Carls des Sechsten im Jahr 1717. erfochtener Sieg über die Türcken (Teildrucke seit 1719, vollst. erstmals postum in Bocks Ausgabe 1740), mit dem sie freilich diverse Elemente epischer Diktion – Gleichnisse, Apostrophen usw. – gemeinsam hat. Mit dem kurzen, nur 1193 Verse umfassenden Epos versuchte P. sich in die abendländ. Gattungstradition einzureihen, unter den literar. Vorbildern ist Lucans Bellum civile bereits von den Zeitgenossen erkannt worden. Das Werk zeichnet sich durch die Einführung einer hochpathet. Erzählinstanz aus, woraus sich Ansätze zur kontroversen Diskussion unter den Aufklärungspoetikern ergaben. Neben den Türkenkriegsdichtungen, die in beiden Sammelausgaben seiner Werke programmatisch am Anfang stehen, verfasste P. weitere Huldigungsgedichte auf (vornehmlich preuß.) Fürsten u. Standespersonen, außerdem Epithalamien, Epicedien u. geistl. Dichtungen, darunter das von Brockes beeinflusste Oratorium Ausführliche Abbildung aller Leydens-Martern und Todes-Quaalen JESU Christi [...] (Königsb. 1731). In geringerem Umfang enthält P.s Œuvre auch Texte anderer Gattungen, u. a. sind Fragmente eines Caesar-Dramas überliefert. Stilistisch u. formal orientierte er sich am frühaufklärerischen Klassizismus Neukirch’scher Prägung; als Vertreter dieser literar. Richtung genoss er bis um die Mitte des 18. Jh. hohe Wertschätzung. P.s Türkenkriegsdichtungen bildeten den zentralen Anlass zu einer ausgedehnten literar. Debatte, die Gottsched u. Johann Georg Bock um die Gattungskriterien epischer Dichtung führten u. deren Ergebnisse noch in der letzten autorisierten Auflage von Gottscheds Critischer Dichtkunst von 1751 ihren Niederschlag finden (Auswertung bei Martin). In der Forschung wurde P. zunächst im Hinblick auf seine Beziehung zu Gottsched einige Aufmerksamkeit zuteil (Reicke, Seuffert); in der Folge entstand eine umfassende, positivistisch-quellenkundlich ausgerichtete Monografie, die auch seine diversen Kasual-

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schriften würdigt (Hülle). In neuerer Zeit wurde P. als Verfasser epischer Dichtungen (Martin) u. poetolog. Schriften (Seidel) im weiteren literarhistor. Kontext verortet. Weitere Werke: Schediasma thesium de impedito medicinae progressu. Frankf./O. 1713. – De stibio veterum, eiusque insigni virtute medica, dissertatio. Königsb. 1715. – Herrn D. Johann Valentin Pietschen [...] Gesamlete Poetische Schrifften [...]. Hg. Johann Christoph Gottsched. Lpz. 1725. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Ausgabe: Abdr. der beiden poetolog. Dissertationes bei Johannes Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren auf der Königsberger Universität. Königsb. 1892, S. 72–81. Literatur: Bibliografie: Hülle 1915 (s. u.), S. 26–35. – Weitere Titel: [J. C. Gottsched: Rez. zu Bocks Ausgabe v. 1740]. In: Beyträge zur Crit. Historie Der Dt. Sprache, Poesie u. Beredsamkeit 7 (1741), S. 131–166. – Reicke (wie oben). – Bernhard Seuffert: [Rez. zu Reicke (wie oben)]. In: Göttingische gelehrte Anzeigen, Jg. 1894, S. 909–925 (ausschließlich zu P.s ›Dissertationes‹). – Johannes Hülle: J. V. P. Sein Leben u. seine Werke. Ein Beitr. zur dt. Literaturgesch. des 18. Jh. Weimar 1915. – Dieter Martin: Das dt. Versepos im 18. Jh. Studien u. komm. Gattungsbibliogr. Bln./New York 1993, S. 27–69, 368. – Detlef Döring u. a. (Hg.): Johann Christoph Gottsched: Briefw. Bd. 1 ff., Bln./New York 2007 ff. – Robert Seidel: Zwischen rhetor. Poetik u. philosoph. Ästhetik. Johann Georg Bocks Königsberger ›Dissertatio de pulchritudine carminum‹ (1733) im Kontext zeitgenöss. Diskurse. In: Die Univ. Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. Hanspeter Marti u. Manfred Komorowski. Köln u. a. 2008, S. 139–171. Robert Seidel

Pietsch, Ludwig, * 25.12.1824 Danzig, † 27.11.1911 Berlin. – Feuilletonist, Illustrator.

Pijet

Lübke gebeten, stellvertretend eine Besprechung der Großen Akademischen Kunstausstellung für die »Spenersche Zeitung« vorzunehmen. Sie fand solchen Anklang, dass P. bald Mitarbeiter der von Freytag u. Julian Schmidt herausgegebenen »Grenzboten« wurde, später von Schmidts »Berliner Allgemeinen Zeitung«. 1863 konnte P. ein halbes Jahr in Paris als Korrespondent verbringen. 1864 wurde er Mitarbeiter der »Vossischen Zeitung«, zu der er v. a. kunstkrit. Artikel u. kulturhistorisch bedeutsame Schilderungen über gesellschaftl. Ereignisse beisteuerte. Außerdem verfasste er Berichte u. a. über den Deutsch-Französischen Krieg, den er im Hauptquartier des Kronprinzen Friedrich miterlebte (als Buch: Von Berlin bis Paris. Bln. 1871), über die Eröffnung des Suezkanals u. seine Reise nach Olympia (Wallfahrt nach Olympia, 1876. Bln. 1879). Anlässlich seines 70. Geburtstags wurde P. von Kaiser Wilhelm II., der ihn auch persönlich schätzte, zum Professor ernannt. Weitere Werke: Aus Welt u. Kunst. Bln. 1864. – Orientfahrten eines Berliner Zeichners. Bln. 1871. – Marokko. Lpz. 1878. – Illustrationen zu den Werken Friedrichs des Großen. 2 Bde., Bln. 1886. – Die dt. Malerei. Mchn. 1889. – Wie ich Schriftsteller geworden bin. 2 Bde., Mchn. 1893/94. Neuausg. Bln. 2000. – Aus jungen u. alten Tagen. Mchn. 1904. – Aus der Heimat u. der Fremde. Erlebtes u. Gesehenes. Bln. 1905. Literatur: Bl. der Freundschaft. Aus dem Briefw. zwischen Theodor Storm u. L. P. Mitgeteilt v. Volquart Pauls. Heide 1939. – Christa Schulze (Hg.): Ivan Turgenjew: Briefe an L. P. Anhang: L. P. über Turgenjew. Bln./Weimar 1986. – Manuela Lintl: A. P. u. Adolph Menzel. In: Jb. der Berliner Museen 41 (1999), S. 273–288. Roland Pietsch / Red.

Nachdem P. zwei Jahre an der Danziger Pijet, Georg W(aldemar), auch: Peter Kunst- u. Gewerbeschule Zeichenunterricht Pinkpank, * 14.2.1907 Berlin, † 16.7.1988 genommen hatte, besuchte er 1841–1843 die Berlin. – Erzähler, Hörspiel-, SchauspielBerliner Kunstakademie. Danach arbeitete er u. Jugendbuchautor. als Zeichner für illustrierte Blätter u. bebilderte u. a. Storms Zwei Weihnachtsidyllen u. Der Sohn eines Drehers absolvierte nach AbImmensee, Reuters Ut mine Stromtid sowie Ge- schluss der Handelsschule eine Banklehre u. dichte u. Dramen Goethes. P. lernte Turge- trat 1925 in die KPD ein. P. verfasste erste new kennen, mit dem ihn lebenslange Feuilletons u. Erzählungen für die linke ArFreundschaft verband u. den er mit Storm beiterpresse u. engagierte sich in der Arbeibekannt machte. 1858 wurde P. von Wilhelm ter-Theater-Bewegung sowie (als Vorstands-

Pilatus

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mitgl.) im Bund proletarisch-revolutionärer Pilatus. – Mittelhochdeutsche Viten seit Schriftsteller. Laienspielen für die Agit-Prop- dem ausgehenden 12. Jh. Bewegung (Kreuzer unter Rot. Lpz. 1927) folgDie z.T. fantastischen Erzählungen um die ten ab den späten 1920er Jahren v. a. proletar. Gestalt des Pilatus wollen die knappen AnKinder- u. Jugendbücher (Die Straße der Hogaben des NT ergänzen. Am verbreitetsten senmätze. Bln. 1929) sowie Beiträge für den waren als Acta Pilati die angebl. Akten des Proletarischen Radiobund. Sein sozialkrit. Prozesses Jesu, die (bearbeitet) im apokryHörspiel Mietskaserne (1931. Erstsendung phen Evangelium Nicodemi tradiert wurden. Berliner Rundfunk 1964. Abgedr. in: HörBeliebt waren auch Pilatus-Biografien. In der spiele 4. Hg. vom Staatlichen Rundfunkkomistark an die Judas-Vita erinnernden Version tee der DDR. Bln./DDR 1964) ist als erstes der Historia apocrypha z.B. ist Pilatus ein abproletar. Hörspiel von histor. Bedeutung. soluter Bösewicht, der dennoch Karriere Während der NS-Zeit war P. im antifaschist. macht. Er begeht Selbstmord, als der beWiderstand aktiv. Nach Kriegsende war er kehrte Kaiser Vespasian ihn als für die Kreuzunächst Redakteur im Westsektor Berlins, zigung Verantwortlichen zum Tode verurdann Kulturredakteur für das SED-Organ teilt. Über das Schicksal seiner Leiche bilde»Neues Deutschland«. 1954 übersiedelte P. ten sich zahlreiche Sagen heraus, z.B. über nach Ostberlin. In den Nachkriegsjahren war den Pilatus-Berg bei Luzern. er an Knotenpunkten des kulturellen AufIn der dt. Literatur wurde das Leben Pilabaus in der DDR tätig. Er schrieb v. a. für tus’ meist in Evangelium Nicodemi-ÜbersetKinder u. Jugendliche Hörspiele (Pferdejunge zungen oder in Legendaren behandelt, denen Krischan. Urauff. 1960). Später trat er mit Erdie Historia apocrypha-Version der Legenda auzählungen u. Anekdoten über histor. Perrea zugrunde liegt. Die literarisch bedeutsönlichkeiten der Arbeiterbewegung (Die samste Fassung stammt aus dem späten 12. Bombe unterm Bett. Halle 1970) u. mit AutoJh. Einziger Textzeuge war die 1870 verbiografischem hervor (Die Bretter meiner Welt. brannte Straßburg-Molsheimer Handschrift, Halle 1987). die nur knapp 600 der urspr. vielleicht etwa Der Nachlass P.s befindet sich in der Aka4000 Verse umfassenden Dichtung enthielt. demie der Künste, Berlin. Immer wieder hat die Forschung Herbort von Weitere Werke: D-Zug C.K.3. Lpz. 1928 (ReFritzlar als Autor zu identifizieren versucht, volutionsschausp.). – Treibjagd. Urauff. 1931 zumal die Dichtung wahrscheinlich am Hof (Hörsp.). – Struppi! Stgt. 1934 (Kinderbuch). – Schrei im Nebel. Reutl. 1935 (Jugendbuch). – Wer Hermanns von Thüringen entstand u. der gewinnt die Wette? Urauff. 1949 (Hörsp.). – Ehrl. hess. Dichter sich am literar. Niveau der Finder G.m.b.H. Wildbad 1949 (Jugendbuch). – zeitgenöss. weltl. Epik orientierte. In einem Der Vogelscheuchenmann. Lpz. 1956 (Schausp. für ausführl. Prolog klagt der Dichter, dass die Kinder). – Abenteuer am Kattegatt. Bln./DDR 1958 dt. Sprache ungebändigt u. nur schwer zu (Jugendbuch). – Slawas bester Freund. 1970 (Fern- gestalten sei, er sie aber wie ein Schmied den sehsp.). – Duell mit der Vergangenheit. Anekdoten Stahl zu bearbeiten gedenke, wobei er vom u. Episoden. Halle 1976. Hl. Geist erwarte, auf die Ausbildung der Literatur: A. Klein: Im Auftrag ihrer Klasse. Sprache u. des Sprachvermögens einzuwirBln./Weimar 1976, S. 520–525. – Ders.: Gute u. ken. Dieser für die Dichtung des 12. Jh. schlimme Jahre. G. W. P.: ›Die Bretter meiner Welt. »einmalige Gedanke« erhebt den Prolog zu Geschichten eines Lebens‹. In: DDR-Lit. ... im Geeinem »einzigartigen literaturtheoretischen spräch 5 (1987/88). Hg. Siegfried Rönisch. Bln./ Weimar 1988, S. 311–319. – Helmut Kreutzer: Dokument« (Haug). Hauptquelle ist die PiDeutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. u. a. latus-Vita der Historia apocrypha. 2003, 25–38 u. S. 77–86. Gesine von Prittwitz / Red.

Ausgaben: Bibliogr. der Ed.en lat. u. dt. Texte bei Knape in: VL. – Karl Weinhold: Zu dem dt. Pilatusgedicht. Texte, Sprache u. Heimat. In: ZfdPh 8 (1877), S. 253–288. – Achim Masser u. Max

Pinthus

233 Siller (Hg.): Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterl. dt. Prosa. Texte. Heidelb. 1987. Literatur: Joachim Knape u. Karl Strobel: Zur Deutung v. Gesch. in Antike u. MA. Bamberg 1985, S. 113–172. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 1985 u. ö., S. 70–72. – J. Knape: War Herbort v. Fritzlar der Verf. des ›Vers-Pilatus‹? In: ZfdPh 115 (1986), S. 181–206. – Werner WilliamsKrapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986, S. 451, 467 u. Register. – J. Knape: P. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen) (Lit.). – Ders.: Die mhd. Pilatus-Dichtung u. die Lit. im Umfeld des Thüringerhofs 1190–1227. In: JOWG 6 (1990/ 91), S. 45–57. – Ders.: Ed. ohne Textzeugen. Zur Ausg. der mhd. Pilatusdichtung. In: Editionsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob. Göpp. 1994, S. 81–88. – Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der dt. Bibel- u. Legendenepik des MA. Heidelb. 2001. – Andreas Scheidgen: Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung u. Geschichtsdichtung vom MA bis in die frühe Neuzeit. Literaturgesch. einer umstrittenen Persönlichkeit. Ffm. 2002. Werner Williams-Krapp / Red.

Pilgerfahrt des träumenden Mönches. – Allegorie in Reimpaarversen, 15. Jh.

net er, nachdem er sich am Scheideweg zwischen Arbeit u. Müßiggang irrtümlich für Letzteren entschieden hat, den sieben Hauptsünden, die ihn überwältigen. Mit Hilfe Frau Gnades rettet ihn Gott. Nach einem zu kurzen Bad in den Tränen der Reue gelangt er an ein Meer (= Welt), aus dem der Teufel die Sünder fischt. Nach einer Begegnung mit Frau Ketzerei führt ihn Frau Jugend über das Meer, wobei er von Frau Anfechtung bedrängt wird. Frau Gnade hilft ihm u. zeigt ihm den kurzen Weg nach Jerusalem. Sie führt ihn auf ein Schiff (= Religion), wo ihn Krankheit u. Alter überwältigen. Als ihm der Tod mit seiner Sense naht, weckt ihn das Läuten zur Matutin. Guillaume schließt an alte Traditionen an: Er selbst erwähnt als sein Vorbild den Rosenroman. Zitiert u. verarbeitet sind Kirchenväter, u. a. Ambrosius u. Hieronymus. Häufig illustriert, ist das Werk auch von großem kunsthistor. Interesse. Ausgaben: Aloys Bömer (Hg.): Die P. d. t. M. Hg. nach der Berleburger Hs. Bln. 1915. – Adriaan Meijboom (Hg.): D. P. d. t. M. Hg. nach der Kölner Hs. Bonn/Lpz. 1926. Literatur: Peter Dinzelbacher: Vision u. Visionslit. im MA. Stgt. 1981. – Rosemarie Bergmann: Die Pilgerfahrt zum himml. Jerusalem. Wiesb. 1983. – Volker Honemann: P. d. t. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ingeborg Glier: Allegorien des 14. Jh.: Normen, Vernunft, Phantasie. In: Die Entzauberung der Welt. Hg. James F. Poag u. Thomas C. Fox. Tüb. 1989, S. 133–145.

Von der Beliebtheit der frz. Traumallegorie Pèlerinage de la vie humaine des Guillaume de Digulleville (geb. 1295, † nach 1358) v. a. im 15. u. 16. Jh. zeugen zahlreiche Handschriften u. Übersetzungen u. a. ins Englische, Spanische u. Niederländische. Die drei dt. Übersetzungen tragen den Titel Pilgerfahrt des träumenden Mönches. Eng an die Vorlage hält Elisabeth Wunderle / Red. sich die rheinfränk. sog. »Berleburger Versübersetzung« (Anfang des 15. Jh., 13.863 Pinthus, Kurt, auch: Paulus Potter, * 29.4. Verse erhalten). Eine rheinfränk. Prosaüber1886 Erfurt, † 11.7.1975 Marbach; Grabsetzung ist in zwei Handschriften aus der stätte: ebd., Friedhof. – Publizist, KritiMitte des 15. Jh. überliefert. Eine freie, mit ker, Lektor. eigener Vorrede versehene Versübersetzung verfasste 1430 Peter von Merode († 1451), P., einer der maßgebl. Programmatiker, liteSekretär Herzog Ludwigs von Orléans, dann raturkrit. Vermittler u. Anthologisten des Stiftsherr zu Köln u. Domherr zu Lüttich. Im Expressionismus, verbrachte seine Kindheit Traum macht sich ein Mönch, begleitet von in Magdeburg. Nach dem Besuch des GymFrau Gnade, auf den Weg nach dem neuen nasiums in Erfurt studierte er in Freiburg, Jerusalem. Erste Station ist ein Haus (= Kir- Berlin, Genf u. Leipzig dt. Literaturgeche), wo ihm die sieben Sakramente allego- schichte, Philosophie u. Geschichte. 1910 risch gezeigt u. erläutert werden. Ausgerüstet promovierte er mit der Arbeit Die Romane Lemit Pilgertasche (= Glaube) u. Stab (= Hoff- vin Schückings. Ein Beitrag zur Geschichte und nung), gefolgt von Frau Gedächtnis, die seine Technik des Romans (Lpz. 1911). 1912 wurde er Rüstung (= Kardinaltugenden) trägt, begeg- Lektor des Kurt Wolff Verlags. Er war mit

Piontek

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vielen jungen Autoren der expressionist. Ge- Autorengeneration wach zu halten, die von neration eng befreundet u. entfaltete eine den Nationalsozialisten als »entartet« vervielseitige Tätigkeit als Theater-, Literatur- u. folgt u. ins Exil getrieben worden war. Eine Filmkritiker für zahlreiche Zeitungen u. in den 1960er Jahren entstandene Anthologie Zeitschriften, u. a. für »Die Weißen Blätter« »Flegeljahre des Films« mit Dokumenten zur u. »Die Aktion«. Im Mai 1915 wurde er zum Rezeptionsgeschichte des Films in der LiteKriegsdienst eingezogen, 1918 war er in ei- ratur blieb unvollendet. 2008 erschien eine nem der revolutionären Soldatenräte aktiv. Sammlung seiner publizist. Arbeiten zum Nach Kriegsende kehrte er nach Leipzig zu- Film. rück, siedelte 1919 nach Berlin über, arbeitete Weitere Werke: Der Zeitgenosse. Literar. Pordort zeitweilig als Dramaturg bei Max Rein- traits u. Kritiken. Ausgew. v. Reinhard Tgahrt. hardt u. begann in den 1920er Jahren auch Marbach 1971. – Hanne Knickmann (Hg.): K. P. für den Rundfunk zu schreiben. 1937 emi- Filmpublizist. Mit Aufsätzen, Kritiken u. einem grierte er, auch wegen seiner jüd. Abstam- Filmskript v. K. P. Ess. v. H. Knickmann. Mchn mung, in die USA, wo er zeitweilig mit Max 2008. – Herausgeber: Kriegsabenteuer aus alter Zeit. Mchn. 1914. – Dt. Kriegsreden. Mchn./Bln. 1916. – Horkheimer zusammenarbeitete u. an der Georg Büchner: ›Friede den Hütten! Krieg den Library of Congress in Washington D.C. an- Palästen!‹ Bln. 1919. – Georg Heym: Dichtungen. gestellt war. 1947–1960 arbeitete er als Do- Mchn. 1922. – Walter Hasenclever: Gedichte, Drazent für Theaterwissenschaften an der Co- men, Prosa. Reinb. 1963. lumbia University in New York u. setzte seine Literatur: Horst Denkler (Hg.): Gedichte der filmpublizist. Tätigkeit fort. 1966 wurden ›Menschheitsdämmerung‹. Interpr.en expressioihm in der Bundesrepublik Deutschland, die nist. Lyrik. Mchn. 1971. – Klaus Schuhmann: K. P. er seit 1957 regelmäßig bereiste, der Profes- in Leipzig. Lpz. 1996. – Klaus Schuhmann: Walter sorentitel u. das Große Verdienstkreuz ver- Hasenclever, K. P. u. Franz Werfel im Leipziger liehen. 1967 ließ er sich endgültig in Marbach Kurt-Wolff-Verlag (1913–19). Lpz. 2000. – Hanne Knickmann: Ein Leben für Lit., Theater u. Film. In: nieder. Seine literaturgeschichtl. Bedeutung ver- Knickmann, Hg., 2008 (s. o.), S. 11–114. Thomas Anz dankt P. v. a. der von ihm gleichsam komponierten Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung mit dem Untertitel Symphonie jüngster Piontek, Heinz, * 15.11.1925 Kreuzburg/ Dichtung (Bln. 1919, vordatiert auf 1920). Oberschlesien (heute: Kluczbork/Polen), Diese poet. Summe des expressionist. Jahr† 26.10.2003 Rotthalmünster bei Passau; zehnts erschien 1959 in einer wiederum von Grabstätte: Friedhof in München-FeldP. betreuten, bis heute in hohen Auflagen moching. – Lyriker, Romancier, Essayist, nachgedruckten Neuausgabe u. wurde zu eiHerausgeber. ner der berühmtesten Gedichtsammlungen des 20. Jh. Der Titel repräsentiert die Unter- Bäuerlichen Verhältnissen entstammend u. gangsvisionen u. die Aufbruchshoffnungen weitläufig mit Gustav Freytag verwandt, einer Epoche. Ein bedeutendes Dokument wuchs P. im oberschles. Kreuzburg auf. Noch der frühen Begegnung von Literatur u. am 20. April 1945 zum Leutnant ernannt, Stummfilm ist Das Kinobuch (Lpz. 1913, vor- wurde P. »durch Verweigerung der Rückkehr datiert auf 1914. Zürich 1963), eine von P. nach Kreuzburg ein aus der Heimat Vertrieherausgegebene Sammlung von 15 Filmsze- bener« (Schulz). Als Bauhilfsarbeiter beteinarien aus der Feder prominenter Expressio- ligte er sich am Wiederaufbau Münchens. Aus nisten (u. a. Hasenclever, Lasker-Schüler, dem Jahr 1946 stammen die ersten unselbBrod, Ehrenstein, Rubiner, Zech). ständigen Publikationen. P. holte 1948 das Noch in hohem Alter hatte P., u. a. durch Abitur nach u. studierte kurzzeitig in seinem Nachworte zu Werkausgaben von Wilhelm Wohnort Dillingen Germanistik. Seit 1948 Klemm (Wiesb. 1961), Kasimir Edschmid war er als freier Schriftsteller tätig, 1961 zog (Stgt. 1967) u. Walter Hasenclever (Bln. 1969), er nach München um. Mit mehr als 350 Gewesentl. Anteil daran, die Erinnerung an eine dichten in drei Dutzend Lyrikbänden, sechs

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teils autobiogr. Romanen, Essays, Hörspielen, Erzählungen, Reiseskizzen u. Rezensionen gehört er zu den produktivsten Dichtern der Nachkriegszeit. P. erhielt zahlreiche Preise u. Auszeichnungen, darunter 1976 den Georg Büchner-Preis. Seine ersten selbstständig erschienenen Gedichte legte P. 1952 in dem Band Die Furt (Esslingen) vor. Seine Lyrik war bestimmt von poet. Melancholie u. Naturempfindsamkeit aus dem Umfeld von Britting u. Eich, Lehmann u. von der Vring. P. schuf betont einfach gehaltene Natur- u. Landschaftsbeschreibungen, die jedoch selten reine Naturlyrik bleiben, vielmehr mit der oft wehmütigen Auseinandersetzung eines empfindsamen u. gottvertrauenden lyr. Ichs u. dem Glauben an die zeitlosen Werte der Ewigkeit verknüpft werden. P. zählte, in den Jahren der »litterature engagée«, zu den wenigen politisch eher desinteressierten Autoren mit deutl. Tendenzen hin zum weltanschaulichen u. moralischen Konservativismus: »Es kann nicht die Aufgabe der Dichtung sein, eine gerechtere Methode der Verteilung des Sozialprodukts zu propagieren« (Schönheit: Partisanin, S. 773). Vor allem das Spätwerk P.s bezeugt zudem das Bekenntnis des Schriftstellers zum christl. Glauben evangelischer Prägung. Seine Essays nutzte P. zum literaturtheoret. Bekenntnis einer Verteidigung seiner »Poesie der Schönheit«: »Diese so verachtete und verhöhnte Kategorie des Schönen: ich nehme sie in Schutz« (Schönheit: Partisanin, S. 800). P. literarisierte das »Sehnen nach alten Dingen« (Träumen, Wachen, Widerstehen, S. 30), indem er nostalg. Betrachtungen über vergangene Zeiten u. kulturgeschichtl. Skizzen über die Anmut des Gewesenen produzierte. Seine Romanzen u. Genrebilder von Städten u. Landschaften, seine einfühlsamen Künstlerporträts u. die skizzenhaften, meist von Meditationen bestimmten Kurzgeschichten, die sich in ihrer bewussten Pointenlosigkeit literar. Moden widersetzten, besaßen eine zunehmend unverwechselbare Tonart. Schließlich wirkte P. vielfach als Herausgeber – u. a. von seinerzeit viel beachteten Gedichtanthologien, der Lyrikzeitschrift »Ensemble« u. der im Münchner

Piontek

Schneekluth Verlag erschienenen »Münchner Edition«. In zahlreichen Rezensionen u. Essays widmete sich P. bereits früh lobend u. ohne jegliche polit. Ressentiments der polnischsprachigen Gegenwartslyrik; durch seine Unvoreingenommenheit wird er zum Abbau von Vorurteilen gegenüber osteurop. Literatur beigetragen haben. Als Rezensent dürfte P. grundsätzlich einigen kulturpolit. Einfluss ausgeübt u. der literaturinteressierten Öffentlichkeit vielfach ein Instrumentarium zur Beurteilung moderner Lyrik u. Prosa an die Hand gegeben haben. Stets verwandte er sich für diejenigen, die »frei von Moden« waren, rief den Wert derjenigen Dichter ins Bewusstsein, die – wie er – ohne sozialreformerischen Impetus schrieben u. die Schönheit selbst der einfachsten Dinge zu literarisieren vermochten. P. gilt überdies als feinfühliger literar. Übersetzer, v. a. der Lyrik von John Keats. Die Ursachen des enormen Umfangs von P.s Werk sind nicht zuletzt in seiner Herkunft aus Oberschlesien begründet. Durch seine lyr. u. erzählerischen Beiträge mit nostalgisch rückblickendem Charakter stieß er bei den Organen der kulturellen Vertriebenenarbeit auf Zustimmung – eher als etwa sein Landsmann Horst Bienek, der von der Vertriebenenpresse aufgrund seiner polit. Grundüberzeugungen weitgehend ignoriert wurde. Durch seine Positionierung als polit. Nonkonformist in einem zu seiner Zeit nahezu homogenen gesellschaftskrit. Schriftstellerumfeld geriet P. so in eine Außenseiterrolle auf dem literar. Markt, die ihm jedoch jahrzehntelang vielfältige Publikationsmöglichkeiten in konservativ ausgerichteten Tages- u. Wochenzeitungen, in Kulturbeilagen u. Literaturzeitschriften sicherte. Die Resonanz, die P. widerfuhr, verdankt sich somit jenseits seiner eigentlichen literar. Bedeutung z.T. auch außerliterar. Faktoren. Seine Werke wurden vielfach in fremde Sprachen übersetzt u. fanden Einzug in Generationen von Schulbüchern. Von Seiten der germanist. Forschung wurde P. bisher nur sehr geringe Aufmerksamkeit entgegengebracht.

Piper

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Werkausgabe: München 1981–85 [Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen – Die Münchner Romane. Die mittleren Jahre. Dichterleben. Juttas Neffe – Feuer im Wind. Die Erzählungen. Die Hörspiele. Eine Komödie – Farbige Schatten. Die Aufzeichnungen. Die Reiseprosa – Schönheit: Partisanin. Schriften zur Literatur. Zu Person und Werk – Zeit meines Lebens. Autobiographischer Roman] Literatur: Bibliografie: Martin Hollender: Bibliogr. H. P. Bielef. 2000. – Weitere Titel: Annette Deeken: H. P. In: KLG. – M. Hollender: Vorw. zur Bibliogr, S. 9–27. – Ludwig Steinherr: ›Das All nur eine schmale Tür‹. Zum 75. Geburtstag v. H. P. In: Stimmen der Zeit 125 (2000), 11, S. 773–783. – Lit. in Bayern [Sonderh.] H. P. zum 75. Geburtstag. Mchn. 2000. – Eberhard G. Schulz: Wahrheit u. Traum bei H. P. Zum Abschied v. einem großen Dichter. In: Schles. Kulturspiegel 38 (2003), 4, S. 65–67. – Walter Helmut Fritz: H. P. In: LGL. – Robert Buczek: Autobiogr. Aspekte in den Romanen ›Zeit meines Lebens‹ u. ›Stunde der Überlebenden‹. Ffm. u. a. 2004. – Emil Feilert: Auf den Buddenbrocker Spuren H. P.s. In: Zwischen Verlust u. Fülle. Hg. Edward Bialek u. Detlef Haberland. Wroclaw u. a. 2006, S. 306–316. – Nachlass: Handschriftenabt. der Bayerischen Staatsbibliothek, München. Martin Hollender /

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Piper, Reinhard, auch: Ludwig Reinhard, * 31.10.1879 Penzlin/Müritz, Mecklenburg, † 18.10.1953 München. – Verleger.

Für die Geschichte des Verlags eventuell entscheidender als die frühe Literaturbegeisterung P.s (Holz, Richard Dehmel) war seine enge Beziehung zur Malerei u. zur Philosophie. P. verpflichtete ausgezeichnete Kunsttheoretiker (Julius Meier-Graefe, Max Dvorák, Hausenstein u. andere) u. legte Monografien zur bildenden Kunst (Moderne Illustratoren) vor (»Piperdrucke«). P. setzte sich für Kubin ein u. war mit Beckmann u. Barlach befreundet. Philosophisch waren der Buddhismus (Herausgabe u. Übersetzung der Werke durch Karl Eugen Neumann) u. Schopenhauer (seit 1911 hist.-krit. SchopenhauerAusgabe) für P. maßgeblich. Zusätzliche Gewährsleute waren Dostojewskij, Burckhardt u. Nietzsche. Von hier bestimmt sich auch P.s ästhet. Urteil, das in Spuren einem durch Schopenhauers Kunstmetaphysik bestimmten Intuitionismus huldigt u. Urteilssicherheit durch Geschmacksbildung am klass. Beispiel anstrebt. Briefausgaben: Briefw. mit Autoren u. Künstlern 1903–53. Hg. Ulrike Buergel-Goodwin u. Wolfram Goebel. Mchn./Zürich 1979. – Briefw. 1900–38. Ernst Barlach – R. P. Hg. u. erl. v. Wolfgang Tarnowski. Mchn. 1997. – Michaela Hirsch u. Marcel Illetschko: Alofredis Anachoret u. Reinhardus Piperianum. Die Korrespondenz Alfred Kubin – R. P. In: Phantastik auf Abwegen. Hg. Bernhard Fetz, Klaralinda Ma u. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 2004, S. 168–184. Literatur: Klaus Piper (Hg.): 75 Jahre Piper.

P. vertritt mit dem 1904 gegründeten Piper Verlagsgesch. u. Bibliogr. Mchn. 1980. – Ernst Piund Co. Verlag einen Verlegertypus, der sich per u. Katrin Meschkowski (Hg.): Lust am Lesen. seinen Autoren u. Künstlern als den Trägern Mchn./Zürich 1985. – Christian Lenz: Max Beckneuer Ideen zur Verfügung stellte. Für ihn mann. Briefe an R. P. Bln. 1994. – Volker Probst waren dies etwa Arno Holz, Christian Mor- (Hg.): R. P. – Ernst Barlach. Stationen einer genstern, Barlach u. viele andere. Der Verlag Freundschaft 1900–38. Güstrow 1999. – Edda gewann schnell an Ansehen u. war, als P. Ziegler: 100 Jahre Piper. Die Gesch. eines Verlags. starb, einer der bedeutendsten Buchverlage Mchn. 2004. Reinhard Knodt / Red. Deutschlands. Nahezu einzigartig ist die in den Jahren Pirchan, Emil, * 27.5.1884 Brünn (Mäh1947 (Vormittag) u. 1950 (Nachmittag) erschieren), † 20.12.1957 Wien. – Architekt, nene, 1964 in einem Band (Mein Leben als Bühnenbildner, Romanautor, Essayist, Verleger) zusammengefasste Autobiografie P.s Buchillustrator, Gebrauchsgrafiker u. (gekürzt u. neu hg. v. Klaus Piper. 1979. Maler. Neuausg. 1991, alle Mchn.), die nicht nur verlagsbezogene u. persönl. Daten enthält, P. studierte in München u. Wien Architektur, sondern durch biogr. Details, Briefe u. Ge- wo er Schüler Otto Wagners war. Nach der sprächsnotate den Rang eines bes. Zeitdoku- Umsiedlung nach München 1908 entwickelte ments erlangt. er sich zum Multitalent, beschäftigte sich mit

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dem Wohnungs- u. Ausstellungsbau, grün- u. Nanna. Graz 1948. – 2000 Jahre Bühnenbild. dete ein Atelier für Gebrauchsgrafik u. 1913 Wien 1949. – Das Maskenmachen u. Schminken. eine Schule für Plakatkunst. 1918 war er als Ravensburg 1951. – Kostüm-Kunde. Ravensburg Ausstattungsleiter des Bayerischen Staats- 1952. – 300 Jahre Wiener Operntheater. Wien 1953 (mit A. Witeschnik u. O. Fritz). – Gustav Klimt. theaters tätig – P. entwickelte von da an allWien 1956. – Otto Wagner, der große Baukünstler. mählich das Berufsbild des Bühnenbildners Wien 1956. – Der große Zauberkünstler. Ravens–, 1919 wechselte er ans Staatstheater Berlin, burg 1958. wo er als postexpressionist. BühnenausstatLiteratur: Erika Schepelmann-Riedel: E. P. u. ter, insbes. für Stücke Leopold Jessners, tätig das expressionist. Bühnenbild. Wien 1964. – K. war. Zgl. wurde er Dozent an der dortigen Pierwoß: Der Szenen- u. Kostümbildner E. P. Wien Musikhochschule. 1932–1936 folgte eine 1970. – Ferdinand Schmatz: Nachlass-DokumenAnstellung am Deutschen Theater in Prag, wo tation E. P. Wien 1986. Günter Baumann er zum künstlerischen Direktor aufstieg. 1936, als P. zum Professor für BühnenbildPirckheimer, Caritas, eigentl.: Barbara P., nerei an der Wiener Kunstakademie ernannt Ordensname: Caritas, * 21.3.1467 Eichwurde, begann seine bühnenbildnerische stätt, † 19.8.1532 Nürnberg. – Nonne des Tätigkeit für das Burgtheater. Daneben hielt Klarissenordens, Äbtissin. er Sommerkurse am Mozarteum Salzburg ab. Neben seiner praktischen künstlerischen P. war das älteste Kind der Barbara Löffelholz Arbeit verfasste P. Fachliteratur, unterhalt- († 1488) und des Dr. Johannes Pirckheimer († same Anthologien, literar. Breviere u. biogr. 1501). Von ihren drei Brüdern überlebte nur Künstlerromane u. a. aus dem Theatermilieu Willibald, der berühmte Humanist u. Freund u. der Tanzwelt, darunter über damalige Albrecht Dürers. Von ihren acht Schwestern Stars wie Fanny Elßler (Wien 1940), Harald wurden sechs Klosterfrauen (drei stiegen zur Kreutzberg (Wien 1941), Therese Krones (Wien/ Äbtissin auf), verstarb eine früh u. nur eine, Lpz. 1942) oder Henriette Sontag (Wien 1946), Juliana, verehelichte sich (mit Martin Geuderen wohlmeinender Plauderton viele Leser der). Zunächst von der gelehrten Großtante fand. Von 1918 bis 1921 gab P. mit Paul Katharina († 1484) unterrichtet, trat P. 1479 Baumann die Dreimonatsschrift für Dich- zwölfjährig in das Nürnberger Klarissentung u. Kunst, »Eos«, heraus. In diesen Jah- kloster ein, wo sie durch bes. Lernfähigkeit u. ren entstanden auch einige, teilweise okkulte lat. Sprachkompetenz auffiel. Nach der AusUnterhaltungsromane, die P. selbst illus- bildung übernahm sie im Kloster Erzietrierte. Der zeugende Tod (Bln. 1918) ist ein hungs- u. Bildungsaufgaben sowie die Sorge 1921 von Heinz Sarnow verfilmter Krimi- für die Klosterbibliothek. Von 1503 an leitete nalroman um ein Lebenselixier zur Unsterb- sie das Kloster als Äbtissin. Zu Ostern 1529 lichkeit. Der späte Liebesroman Labyrinth der konnte sie ihr fünfundzwanzigjähriges ÄbLiebe (Wien 1946) spielt im Schauspielermi- tissin-Jubiläum u. zgl. die fünfzigste Wiederkehr ihres Eintritts ins Kloster feiern. lieu. Unter dem Einfluss v. a. ihres Bruders Weitere Werke: Das Teufelselixier. Ein Legendenspiel nach E. T. A. Hoffmann. Bln. 1915. – Willibald wurde P. seit etwa 1500 dessen Wein-Wunder. Ein Spiel in Sinntänzen. Bln. 1918. humanistisch orientierten Freunden ein Be– Pyramide. Bln. 1922 (R.). – Mensalströme. Mchn. griff als eine Frau, die sensible Geistigkeit, 1923. – Die lebende Stadt. Bln. 1925. – Bühnen- Moralität u. Gelehrsamkeit mit wahrer brevier. Wien/Lpz. 1938. – Künstlerbrevier. Wien Frömmigkeit in idealer Einheit verbindet. 1939. – Unsterbl. Wien. Bln. 1939 (Ess.). – Die laConradus Celtis Protucius, die Zentralgestalt chende Maske. Wien 1940 (Anth.). – Hans Makart. des dt. Humanismus damals, übernahm die Leben, Werk u. Zeit. Wien/Lpz. 1942. – Moritz Rolle des Bahnbrechers: Er lenkte zuerst in Michael Daffinger. Miniaturmaler des Vormärz. Wien/Lpz. 1943. – Bühnenmalerei. Wien 1946. – der Widmungvorrede seiner Edition der Sonne über Salzburg. Liebeserklärung an eine Werke der Roswitha von Gandersheim 1501 Stadt. Wien 1946 (Ess.). – Das Herz muß schweigen. die Blicke auf sie u. nobilitierte sie 1502 mit Graz 1947 (R.). – Titanensturz der Liebe. Feuerbach einer ihr gewidmeten Ode, in der er sie

Pirckheimer

»höchste Zierde Deutschlands« nennt. Die Ode ist in dem Hauptwerk des Celtis, den 1502 in Nürnberg publizierten Amores erschienen. Celtis stellt zwischen dem Namen Caritas u. dem von ihm in seinem Werk entfalteten Liebesbegriff eine bedeutsame Beziehung her. Celtis folgend, sind es v. a. Christoph Scheurl, Albrecht Dürer mit Benedictus Chelidonius, Erasmus von Rotterdam u. der eigene Bruder, die durch Widmungen dem Namen der Caritas als Partnerin im christlich-humanist. Gespräch einen bes. Klang geben. Bei der Bildung ihrer geistigen Physiognomie hatten die Predigten der Franziskaner-Patres Heinrich Vigilis u. Stephan Fridolin, die sie mitschrieb u. so der Nachwelt zu erhalten half, hatte die Lektüre der Kirchenväter, insbes. des Hieronymus, sowie der Umgang mit dem Propst von St. Lorenz in Nürnberg, Dr. Sixtus Tucher, einen erhebl. Anteil. P. war beteiligt an der Abfassung der Chronik ihres Klosters. An der Zusammenstellung des oft mit ihrem Namen verbundenen Gebetbüchleins bzw. Gebetbuchs hatte sie allenfalls vorbereitenden Anteil. Als eigentl. »Werke« kann man lediglich ihre Briefe u. die u. d. T. Denkwürdigkeiten versammelten Dokumente u. Briefe ansehen, die die gedankl. Grundlagen ihres erfolgreichen Eintretens zwischen 1524 u. 1528 für den Erhalt des Klarissenklosters bezeugen. Durch den Übertritt Nürnbergs zur Reformation war dessen Bestand äußerst gefährdet. In den Auseinandersetzungen, bei denen ihr Bruder sie unterstützte, bewies sie, was Gradlinigkeit, moralische Integrität, Versöhnlichkeit u. von tiefer kreativer Frömmigkeit getragene Sprachkraft vermögen. P. wurde auf dem Klausurfriedhof der Klarakirche beigesetzt; 1960 wurden ihre sterbl. Überreste in die Klarakirche umgebettet. Ihr Name blieb über die Jahrhunderte einem engeren Kreise vertraut, seit dem 19. Jh. wurde sie verstärkt Gegenstand von Publikationen, seit der Nürnberger Ausstellung u. dem Katalog 1982 zu ihrem 450. Todestag erlebt sie eine Art Renaissance. Kuriose Nebenwirkung: Alfred Tamerl (1999, s. Litera-

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turverz.) behauptet, Roswitha von Gandersheim sei in Wirklichkeit Caritas Pirckheimer. Ausgaben und Übersetzungen: Josef Pfanner (Hg.): C. P. – Quellenslg. H. 1–3, Landshut 1961–66 (Gebetbuch, Denkwürdigkeiten, Briefe 1498–1530). – August Syndikus (Hg.): C. P. – Quellenslg. H. 4, Landshut 1961 (Das Grab). – Willibald Pirckheimers Briefw. Mchn. 1940–2009: Bd. I/II hg. v. Emil Reicke, Bd. III hg. v. Dieter Wuttke, Bd. IV-VII hg. v. Helga Scheible. – C. P.: A Journal of the Reformation Years 1524–1528. Translated from the German with Introduction, Notes and Interpretative Essay by Paul A. MacKenzie. Cambridge 2006. – Conrad Celtis: Oden, Epoden, Jahrhundertlied. Libri Odarum quattuor, cum Epodo et Saeculari Carmine (1513). Übers. u. hg. v. Eckart Schäfer. Tüb. 2008, S. 376–379 (Ode des Celtis). Literatur: Bibliografien: VD 16, Abt. I, Bd. 16, Nr. P2897–99. – Schottenloher, Bd. II, V, VII. – Lotte Kurras: C. P. OSCI. In: VL. – Weitere Titel: Georg Deichstätter (Hg.): C. P. Ordensfrau u. Humanistin – ein Vorbild für die Ökumene. FS zum 450. Todestag. Köln 1982 (Archivalien u. Lit.). – L. Kurras u. Franz Machilek (Hg.): C. P. 1467–1532. Mchn. 1982 (Kat., grundlegend, Archivalien, Lit.). – Adam Wienand: C. P. Ordensfrau u. Humanistin. In: Willibald Pirckheimer. Dürers Freund. Hg. Willehad Paul Eckert u. Christoph v. Imhoff. 2., erw. Aufl. Köln 1982, S. 369–380 (Archivalien, Lit.). – Ursula Hess: Oratrix humilis. Die Frau als Briefpartnerin v. Humanisten, am Beispiel v. C. P. In: Der Brief im Zeitalter der Renaissance. Hg. Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1983, S. 173–203 (Lit.). – M. Samuel: L’abbesse C. P. Une figure féminine de l’humanisme allemand. In: Le texte et l’idée 1 (1988), S. 1–34. – Berndt Hamm: Hieronymus-Begeisterung u. Augustinismus vor der Reformation. In: Augustine, the Harvest, and Theology. FS Heiko Oberman. Hg. Kenneth Hagen. Leiden u. a. 1990, hier S. 178 u. 196 ff. – F. Machilek: Sebald Lobmair (gest. 1525), Benefiziat bei St. Klara in Nürnberg u. Beichtvater zu Pillenreuth. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 52 (1992), S. 381–400. – Hermann Wiegand u. P. Stancˇicˇ : Quadriga feminarum doctarum. In: Der Altsprachl. Unterricht 35 (1992), H. 6, S. 60–87, hier S. 63–66, 79 f. – Gudrun Honke: C. P. 1467–1532. In: Schwestern berühmter Männer. Zwölf biogr. Porträts. Hg. Luise F. Pusch. Ffm. 1994, S. 11–47. – Martin H. Jung: Die Begegnung Philipp Melanchthons mit C. P. im Nürnberger Klarissenkloster im Nov. 1525. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 56 (1996), S. 235–258. – F. Machilek: Menschenwürde u. Gewissensfreiheit. C. P. u. die Reformation in Nürnberg. In: In Würde

239 leben. Interdisziplinäre Studien zu Ehren v. Ernst Ludwig Grasmück. Hg. Rainer Bucher u. a. Luzern 1998, S. 49–71. – Eva Lippe-Weißenfeld: ›Virgo docta, virgo sacra‹ – Untersuchungen zum Briefw. der C. P. In: Pirckheimer Jb. 1999, S. 121–155. – Alfred Tamerl: Hrotsvith v. Gandersheim. Eine Entmystifizierung. Gräfelfing 1999. – Ursula Hess: C. P. (1467–1532). In: Dt. Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzenatinnen. Hg. Kerstin Merkel u. Heide Wunder. Darmst. 2000, S. 19–38. – Eva Lippe-Weißenfeld Hamer: C. P., das Klara-Kloster u. die Einf. der Reformation. In: Pirckheimer Jb. 2000/01, S. 238–275. – Gisela Brandt: Vertextung v. Gesch. in den sog. ›Denkwürdigkeiten‹ der C. P. (um 1530). In: Bausteine zu einer Gesch. des weibl. Sprachgebrauchs 5 (2002), S. 27–45. – Claudia Spanily: Autorschaft u. Geschlechterrolle. Möglichkeiten weibl. Literatentums im MA. Ffm. u. a. 2002. – Thomas Cramer: Vom Vorfall zum Ereignis. Wie C. P. Gesch. zur Raison bringt. In: Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Gesch., Kunst u. Lit. Hg. Thomas Rathmann. Köln 2003, S. 223–242. – Helga Scheible: Willibald Pirckheimers Persönlichkeit im Spiegel seines Briefw.s am Beispiel seines Verhältnisses zum Klosterwesen. In: Pirckheimer Jb. 2006, S. 73–88. – Anna Scherbaum u. Claudia Wiener: C. P. u. das Bild der hl. Familie im ›Marienleben‹ v. Albrecht Dürer u. Benedictus Chelidonius. Ebd., S. 119–159. – Eva Schlotheuber: Humanist. Wissen u. geistl. Leben. C. P. u. die Geschichtsschreibung im Nürnberger Klarissenkonvent. Ebd., S. 89–118. – Manfred H. Grieb: Nürnberger Künstlerlexikon. Bd. 1–3, Mchn. 2007. Dieter Wuttke

Pirckheimer, Willibald, * 4.12.1470 Eichstätt, † 22.12.1530 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Jurist, Ratsherr, Kriegshauptmann; universal gelehrter Humanist. Willibald war der letzte männl. Nachkomme der seit dem 14. Jh. durch Handel wohlhabend gewordenen Patrizierfamlie Pirckheimer in Nürnberg. Seine Mutter war Barbara Löffelholz († 1488), sein Vater Dr. Johannes Pirckheimer († 1501). Die berühmte Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters Caritas war seine Schwester. In den Nachkommen der Familien Geuder u. Imhoff lebt die Familie Pirckheimer bis heute fort. Die Elementarbildung erhielt Willibald durch seinen Vater teilweise auf Gesandtschaftreisen, bei denen er den Vater begleiten

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durfte, von Pferd zu Pferd. Mit sechzehn Jahren kam er zur Ausbildung als Höfling in den Dienst des Bischofs von Eichstätt. Von 1488 bis 1495 studierte er Jurisprudenz u. Artes an den Universitäten Padua u. Pavia. Während dieses Studiums erwarb er, damals für Deutsche noch ungewöhnlich, auch Kompetenz in der klass. griech. Sprache, die er später in Nürnberg vervollkommnete. Die Grundlagen für seine enzyklopäd. Interessen eignete er sich ebenfalls in Italien an. Im Herbst 1495 kehrte er auf Wunsch des Vaters ohne Promotion nach Nürnberg zurück. Nur nichtpromovierte Juristen konnten damals Mitglieder des regierenden Rates werden. Diesem gehörte er von 1496 bis 1523 an mit Unterbrechung nur von Ostern 1502 bis Ostern 1505. Er diente dem Rat als jurist. Berater, als Förderer des humanistisch orientierten Schulwesens, als (nicht sehr erfolgreicher) Kriegshauptmann von 1499 bis 1502 im sog. Schweizerkrieg. Überdies leitete er Gesandtschaften, z.B. 1511 u. 1512 zu den Reichstagen in Trier u. Köln. Vom Jahre 1500 an nahm König Maximilian I. P. in den Kreis seiner Berater u. Freunde auf u. ernannte ihn zum königlichen bzw. ab 1508 kaiserl. Rat, eine Ernennung, die Kaiser Karl V. erneuerte. Bei diesen Tätigkeiten wurde P. viele Jahre hindurch von schwerer Gicht geplagt, einem Leiden, dem er mit seinem iron. Lob der Gicht ein literar. Denkmal setzte. P. gehört mit Sebastian Brant, Conradus Celtis Protucius, Johannes Regiomontanus, Johannes Reuchlin u. Philipp Melanchthon zu den dt. Humanisten von europ. Rang. Er genoss das bes. Ansehen des Erasmus von Rotterdam. Im sog. »Dunkelmännerstreit« stand er auf der Seite Reuchlins. Wegen seiner satir. Stellungnahmen insbes. in der ihm schon von den Zeitgenossen zugeschriebenen Schrift Eccius dedolatus (»Der enteckte Eck«) wurde er mit der gegen Martin Luther gerichteten Bulle vom 29.9.1520 vom Papst in den Bann getan, der ihm gegenüber 1521 aber gelöst wurde. Noch vor 1500 entwickelte sich zwischen ihm u. Albrecht Dürer eine enge, lebenslange Freundschaft. Der Humanist besaß eine für damalige Zeiten große Gelehrtenbibliothek, deren Grundstock vom Großvater Hans († 1492) u.

Pirckheimer

vom Vater stammte. Sie war laut Inschrift seines Exlibris »Sibi et amicis« (»Ihm selbst und den Freunden«) gewidmet. Größere Teile befinden sich heute in der British Library u. der Royal Society in London sowie in der Stadtbibliothek Nürnberg, der ältesten ihrer Art in Deutschland; Einzelstücke liegen verstreut in zahlreichen Bibliotheken der Welt. Nach seiner 1495 erfolgten Rückkehr aus Italien wurde P. schnell zu einem maßgebl. Mitgl. des nürnbergischen Humanistenkreises. Dessen integratives u. universalist. Programm haben Celtis u. Dürer in dem berühmten Philosophia-Holzschnitt zur Anschauung gebracht, der dem 1502 in Nürnberg mit P.s mäzenat. Hilfe gedruckten Hauptwerk des Celtis, den Amores, vorangestellt ist. Die drei Mottosprüche, die er im Laufe seines Lebens gewählt hat, »Initium sapientiae timor Domini« (»Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn«), »Vivitur ingenio, caetera mortis erunt« (»Man lebt durch den Geist, alles andere ist sterblich«) u. »Virtus interire nequit« (»Tugend kann nicht untergehen«) sowie seine vielfältigen schriftstellerischen, geistes- u. naturkundl. u. theolog. Interessen entsprechen diesem Programm vollkommen: Antischolastisch dort, wo Scholastik sinnvolles Fragen nicht mehr förderte, u. grundsätzlich antimaterialistisch eingestellt, ging es der humanist. Bildungsbewegung im Kontakt mit der Antike, u. zwar auch der christlichen, als Richtschnur u. Katalysator um eine auf spirituelle Emporbildung ausgehende kulturelle Erneuerung in allen Bereichen der Künste u. Wissenschaften, der öffentlichen u. privaten Moral sowie der Religion. Als Prosaschriftsteller u. Versdichter brachte P. es in lat. Sprache zu eigenständigen qualitätvollen Leistungen: Schweizerkrieg, Lob der Gicht, Verteidigung Reuchlins, Der enteckte Eck, Elegie auf den Tod Dürers, Widmungsbriefe. Er förderte leidenschaftlich die Kenntnis griechischer Schriftsteller u. Kirchenväter, indem er sie ins Lateinische, z.T. auch ins Deutsche, übersetzte oder wie im Falle der Geografie des Ptolemaios (Internet-Ed.: Slg. Hardenberg) kritisch bearbeitete: Lukian, Neilos, Xenophon, Plutarch, Johannes Damaskenos, Gregor von Nazianz (Internet-Ed.: ebd.), usw.

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Wie den übrigen Kreis um König bzw. Kaiser Maximilian I. faszinierten ihn die oriental. Ursprünge der Weisheit (Horapollon-Übersetzung). Im Verein mit Dürer u. anderen Künstlern half er, eine neue Bildsprache zu entwickeln, die im »Triumphzug« u. in der »Ehrenpforte« Maximilians sichtbare Gestalt gewann. Auf krit. Vergleich mit antiken Angaben beruhten sein Deutschland-Führer sowie sein Handbüchlein der Münzkunde. Den Mittelpunkt seines Interesses aber bildete immer die Frage nach dem rechten Glauben. Im Zuge der reformatorischen Auseinandersetzungen blieb er bei aller Sympathie für Luthers Anliegen u. Lehre doch beim kath. Bekenntnis. Er beriet u. unterstützte seine Äbtissin-Schwester Caritas nachhaltig in ihrem Bemühen um den Erhalt des Nürnberger Klarissenklosters. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass er eine eigenständige humanist. Theologie entwickelte, die er, wie Manfred Scharoun zeigte, auf die Formel brachte: »Nec Lutheranus neque Eckianus, sed christianus sum« (»Ich bin weder Lutheraner noch Eckianer, sondern Christ«). Dem Ideal des Bürger-Humanisten zugetan war er der Meinung, dass er dem Gemeinwohl am besten dienen könnte, wenn er auf der Grundlage der Heiligen Schrift sich der Wahrheit allein verpflichtete. Durch Dürer ist Willibald Pirckheimers Antlitz der Nachwelt überliefert. Die umfangreichen Teilausgaben seiner Werke im 17. Jh. zeugen von der nicht mehr abreißenden humanist. Kontinuität, die seinen Namen präsent hielt. Ausgaben und Übersetzungen: [Hans Imhoff, Hg.:] W. P. Theatrum Virtutis et honoris oder Tugenbüchlein. Auß etl. fürtreffl. Griech. u. Lat. Scribenten ins Teutsch gebracht [durch W. P u. z.T. auch H. I.]. Nürnb. 1606. – Melchior Goldast (Hg.): W. P. Opera Politica, Historica, Philologica et Epistolica. Ffm. 1610. 21665. Nachdr. Hildesh. u. a. 1969. – Karl Giehlow: Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance bes. der Ehrenpforte Kaiser Maximilians. Wien/Lpz. 1915 (S. 171 ff.: Teilübers. der ›Hieroglyphica‹ des Horapollon, v. Dürer illustriert). – Hans Rupprich: P.s Elegie auf den Tod Dürers. In: Abh.en der österr. Akademie der Wiss.en, phil.-hist. Klasse. Wien 1956, Nr. 9, S. 136–150. – Ders. (Hg.): Dürer. Schriftl. Nachl. Bd. I-III, Bln. 1956–69. – W. P.s

Pirckheimer

241 Briefw. Bd. I-VII, Mchn. 1940–2009 (Bd. I/II hg. v. Emil Reicke, Bd. III hg. v. Dieter Wuttke, Bd. IV-VII hg. v. Helga Scheible). – Willehad Paul Eckert u. Christoph v. Imhoff: W. P. Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke u. seiner Umwelt. 2., erw. Aufl. mit neuen Forsch.en u. Kontroversdialog. Köln 1982 (umfangreiche P.-Anth.). – Niklas Holzberg (Hg.): W. P. Eckius dedolatus. Der enteckte Eck. Lat. / Dt. Stgt. 1983. – Wolfgang Kirsch (Hg. u. Übers.): W. P. Apologia seu Podagrae Laus. Verteidigungsrede oder Selbstlob der Gicht. Bln./Weimar 1988. – Wolfgang Schiel (Hg.): W. P. Der Schweizerkrieg. Übers. aus dem Lateinischen v. Ernst Münch. Bln. 1988. – Ulrich Winter (Hg.): W. P. ›Apologia seu Podagrae Laus‹. Verteidigungsrede oder Lob der Fußgicht. Einl., Übers., Wortindex. Microfiche Ffm. 1997 (s. Weitere Titel, Winter 2002). Literatur: Bibliografien: Eduard Böcking: W. P.Bibliogr. Hsl. in BNU Strasbourg. – Schottenloher, Bd. II, V, VII. – W. P. Kuratorium (Hg.): W. P. 1470/ 1970. Dokumente, Studien, Perspektiven. Nürnb. 1970 (umfangreiche Bibliogr. u. a. zu Wirkungszeugnissen). – Joseph Benzing: Humanismus in Nürnberg 1500–40. Eine Liste der Druckschr.en. In: Albrecht Dürers Umwelt. Hg. vom Verein für Gesch. der Stadt Nürnberg u. v. der Senatskommission für Humanismusforsch. der DFG. Nürnb. 1971, S. 255–299. – Mathias Mende: Dürer-Bibliogr. Wiesb. 1971. – Niklas Holzberg: W. P. Griech. Humanismus in Dtschld. Mchn. 1981 (dazu Eckert/ Imhoff 1982, s. Ausgaben; Gnomon 59, 1987, S. 498–504; Göttingische Gelehrte Anzeigen 240, 1988, S. 133–143). – Paul Oskar Kristeller: A Cumulative Index to Volume I-VI of P. O. Kristellers Iter Italicum. Leiden 1997. – Weitere Titel: Emil Reicke: W. P. Leben, Familie u. Persönlichkeit. Jena [1930]. – Arnold Reimann. Gesch. eines Nürnberger Patriziergeschlechtes im Zeitalter des Frühhumanismus (bis 1501). Hg. Hans Rupprich. Mit einer Einf. v. Gerhard Ritter. Lpz. 1944. – Lewis W. Spitz: The Religious Renaissance of the German Humanists. Cambridge/MA 1963. – Joachim Telle: Medizinische u. handwerkl. Aufzeichnungen v. W. P. u. Nürnberger Zeitgenossen. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 57 (1970), S. 189–200. – Hans Burgkmair. Das graph. Werk. Augsb. 1973 (Kat.; Triumphzug Maximilians I.). – Hans Thieme: W. P.s Corpus Juris. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 73 (1973), S. 259–270. – Martin Sicherl: Johannes Cuno. Ein Wegbereiter des Griechischen in Dtschld. Heidelb. 1978 (Index). – W. P. zum 450. Todestag. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum. Nürnb. 1980. – Holzberg 1981 (s. o. Bibliografien). – Eckert/ Imhoff 1982 (s. Ausgaben). – Kurras/Machilek 1982

(s. Art. Caritas P.). – Eckart Bernstein: W. P. u. Ulrich v. Hutten. In: Pirckheimer Jb. 4 (1988), S. 11–36. – Dieter Harlfinger (Hg.): Graecogermania. Griechischstudien dt. Humanisten. Weinheim 1989. – Jan Bialostocki: Vivitur ingenio. In: Poesis et pictura. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel u. Joachim Knape. Baden-Baden 1989, S. 223–233. – Rainer Kößling: Johannes Cochläus’ Einl. zu dem 2. Buch seiner Ausg. der ›Meteorologica‹ des Aristoteles. Schreiben an W. P. vom 21.2.1512. In: Soziokulturelle Kontexte zur Sprach- u. Kulturentwicklung. FS Rudolf Große. Hg. Sabine Heimann. Stgt. 1989, S. 43–51. – Franz Josef Worstbrock: Johannes P. In: VL. – Angelika Düllberg: Privatporträts. Bln. 1990 (Kat. Nr. 98, 99, 339, 340). – Horst Brunner: Johann v. Soest, W. P. – zwei Fallstudien. In: Autorentypen. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 89–103. – Renate Johne: Aristophanes-Studien im dt. Renaissance-Humanismus. Zum ›Eccius dedolatus‹ W. P.s. In: Antike Dramentheorien u. ihre Rezeption. Hg. Bernhard Zimmermann. Stgt. 1992, S. 159–168. – N. Holzberg: W. P. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 258–269. – Manfred Scharoun: ›Nec Lutheranus neque Eckianus, sed christianus sum‹. Erwägungen zu W. P.s Stellung in der reformator. Bewegung. In: Pirckheimer Jb. 8 (1993), S. 107–147 (Lit.). – Gunther Friedrich: Bibliogr. zum Patriziat der Reichsstadt Nürnberg. Nürnb. 1994, S. 127–139. – Erika Rummel: A Little-Known ›Petition‹ and ›Papal Rescript‹ from the Pen of W. P.? In: ARG 85 (1994) S. 309–315. – M. Scharoun: W. P. u. Christoph Scheurl. In: Artibus. Kulturwiss. u. dt. Philologie des MA u. der frühen Neuzeit. FS D. Wuttke. Hg. S. Füssel, Gert Hübner u. Joachim Knape. Wiesb. 1994, S. 179–196. – D. Wuttke: Der Humanist W. P. Namengeber für ein mathematisch-naturwiss. Gymnasium? Ein Beitr. zur Überwindung der ›Zwei Kulturen‹. Nürnb. 1994. – N. Holzberg: Möglichkeiten u. Grenzen humanist. Antikenrezeption. W. P. u. Hans Sachs als Vermittler klass. Bildung. In: Pirckheimer Jb. 10 (1995), S. 9–29. – Johann Peter Wurm: Der ›Eccius Philargycus sive avarus‹ v. 1523. W. P.s dritte Komödie gegen Johannes Eck. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 83 (1996), S. 33–55. – D. Wuttke: Dazwischen. Kulturwiss. auf Warburgs Spuren. Bd. I/II, Baden-Baden 1996 (zu Humanismus-Definition, Dürers Philosophia-Holzschnitt u. zu W. P., s. Index). – Ders.: Humanismus. In: Stadtlexikon Nürnberg. Hg. Michael Diefenbacher u. Rudolf Endres. Nürnb. 1999, S. 464 f. – Jane Campbell Hutchinson: Albrecht Dürer. A Guide to Research. New York/London 2000 (Lit.). – Hans Jürgen Tschiedel: Il teatro di Seneca e i cristiani. In: Seneca e i cristiani. Mailand 2000, /

Pirinçci S. 335–350. – Bernhard Ebneth: W. P. In: NDB (unter Verwendung einer Ms.-Fassung v. D. Wuttke). – Dürer. Das graph. Werk. Bearb. v. Rainer Schoch, Matthias Mende u. Anna Scherbaum. Bd. IIII, Mchn. u. a. 2001/02 (Exlibris, Kupferstichporträt, Buchillustration, Ehrenpforte, Triumphzug). – Thomas Ulrich Schauerte: Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. Dürer u. Altdorfer im Dienste des Herrschers. Mchn./Bln. 2001 (Index). – Ulrich Winter: W. P. ›Apologia seu Podagrae Laus‹. Ein Komm. Heidelb. 2002 (s. Ausgaben). – David Paisey: Two New Dürers in London? In: Gutenberg Jb. 78 (2003), S. 31–44. – Jeffrey Ashcroft: Dürer u. die ›kunst des wolredens‹. Zur Entstehung der Widmung der ›Vier Bücher von menschlicher Proportion‹ an W. P. In: Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des MA. Hg. Elizabeth Andersen. Bln. 2005, S. 467–486. – Erwin Panofsky: The Life and Art of Albrecht Dürer. With a New Introduction by Jeffrey Chipps Smith. Princeton/Oxford 2005 (zuerst 1955). – Franz Fuchs: Hans P. († 1492), Ratsherr u. Humanist. In: Pirckheimer Jb. 21 (2006), S. 9–44. – N. Holzberg: Zwischen biogr. u. literar. Intertextualität – W. P.s ›Apologia seu Podagrae Laus‹. Ebd., S. 45–61. – Helga Scheible, ebd. (s. Literatur zu Caritas P.). – Hermann Wiegand: W. P.s ›Bellum Helveticum‹ u. die antike historiograph. Tradition. Ebd., S. 63–71. – Manfred H. Grieb (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon. Bd. I-III, Mchn. 2007. – D. Paisey: Searching for P.’s Books in the Remains of the Arundel Library at the Royal Society. In: Pirckheimer Jb. 22 (2007), S. 159–218. – Georg Satzinger: Dürers Bildnisse v. W. P. In: Autorbilder. Zur Medialität literar. Kommunikation in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Gerald Kapfhammer u. a. Münster 2007, S. 229–243. – Gerald Dörner: Reuchlins Mann in Nürnberg. W. P. u. seine ›Epistola Apologetica‹. In: Reuchlins Freunde u. Gegner. Hg. Wilhelm Kühlmann. Ostfildern 2010, S. 213–240. Dieter Wuttke

Pirinçci, Akif, * 20.10.1959 Istanbul. – Schriftsteller, Krimi- u. Drehbuchautor. P. wanderte 1969 im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland ein, wo er in Ulmen in der Eifel aufwuchs. Bereits mit 16 Jahren verfasste er Kurzgeschichten u. Hörspiele. Sein erster Kurzfilm erschien 1974 im Bayerischen Rundfunk. Zwei Jahre später erhielt er bei einem Hörspielwettbewerb des Hessischen Rundfunks den 1. Preis. Nach dem Studium an der Wiener Akademie für Film und Fernsehen schrieb er zunächst

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Drehbücher als Auftragsarbeiten, die jedoch selten verfilmt wurden. Sein Romandebüt Tränen sind immer das Ende über eine Liebesund Pubertätsgeschichte wurde 1980 in München veröffentlicht. Der große Durchbruch gelang P. aber mit dem Krimi Felidae (Mchn. 1989), der aus der Sicht einer Katze erzählt wird. Dieses Buch katapultierte P. in die Beststellerlisten u. wurde 1990 mit dem »Mimi«-Krimipreis in den Kategorien »bestes Buch« u. »bestes Debüt« ausgezeichnet. Mit dem folgenden Roman Francis (Mchn. 1993) setzte P. seinen Erfolg fort. 1994 waren Felidae u. Francis bereits in 17 Sprachen übersetzt u. mehr als 2 Mio. Mal verkauft worden. So wie Francis sind Cave Canem (Mchn. 1999), Das Duell (Ffm. 2002), Salve Roma! (Ffm. 2004) u. Schandtat (Mchn. 2007) Fortsetzungen des Katzenkrimis. Aufgrund seines Erfolgs wurde P.s Debütwerk wiederaufgelegt u. Felidae 1993 zu einem gleichnamigen Zeichentrickfilm verarbeitet. Das Drehbuch dazu schrieb P. selbst, zus. mit Martin Kluger, während Michael Schaack die Regie übernahm. Mario Adorf, Klaus Maria Brandauer, Helge Schneider u. a. verliehen den Katzen ihre Stimmen. Die Romane Der Rumpf (Mchn. 1992) u. Yin (Mchn. 1997) u. die Krimi-Erzählungen in Der letzte Weltuntergang (Bln. 2007) sind zwar keine Katzenkrimis, sie stellen aber P.s Hang zu ungewöhnl. Themen u. Erzählkonstruktionen sowie zu apokalypt. Visionen u. Gesellschaftskritik unter Beweis. Weitere Werke: Die Damalstür. Mchn. 2001 (R.). – Der eine ist stumm, der andere ein Blinder. Thriller. Hbg. 2006. Literatur: Petra Fachinger: Ohne Koffer: Renan Demirkan u. A. P. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzähllit. v. Autoren nichtdt. Herkunft. Hg. Mary Howard. Mchn. 1997, S. 139–151. – James Jordan: Of Fables and Multiculturalism: The ›Felidae‹ Novels of A. P. In: German-Language Literature Today. International and Popular? Hg. Arthur Williams. Oxford u. a. 2000, S. 255–268. – Hélène Boursicaut: Des chats et des hommes: les ›Katzenkrimis‹ d’A. P. In: L’amour des animaux dans le monde germanique 1760–2000. Hg. Marc Cluet. Rennes 2006, S. 171–190. Clara Ervedosa

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Piscator, Erwin (Friedrich Max), * 17.12. 1893 Ulm/Kreis Wetzlar, † 30.3.1966 Starnberg; Grabstätte: Berlin-Zehlendorf, Waldfriedhof. – Regisseur; Verfasser von theatertheoretischen Schriften. P. stammte aus einer Pastorenfamilie. Nach der Schulzeit in Marburg studierte er in München Germanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie. 1915 kam er als Soldat an die Westfront. Seine Erfahrungen im Krieg, durch die er zum Pazifisten u. Sozialisten wurde, prägten seine spätere Theaterarbeit. P. beteiligte sich am Berliner Dada u. eröffnete im Herbst 1919 zus. mit Oscar Lucian Spaun die Bühne »Das Tribunal«, wo Strindberg, Wedekind, Heinrich Mann u. Sternheim gespielt wurden. 1920 gründete P. das »Proletarische Theater« u. entwickelte frühe Formen des später von Brecht theoretisch begründeten epischen Theaters: Filme, Spruchbänder, Statistiken u. Lieder unterbrachen den Handlungsablauf kommentierend u. analysierend. Spielorte waren Säle in den Arbeitervororten. 1924 führte P. erstmals Regie an der Volksbühne bei Alfons Paquets Stück Fahnen. Zum Parteitag der KPD, für die er selbst propagandist. Stücke schrieb, brachte er im Großen Schauspielhaus mit Felix Gasbarra die histor. Revue Trotz alledem! (1925) heraus. Aus polit. Gründen löste P. sich von der Volksbühne u. eröffnete die erste eigene Bühne mit der Inszenierung von Tollers Hoppla, wir leben (1928). Es folgten Walter Mehrings Der Kaufmann von Berlin (1929) u. Carl Credés § 218. Frauen in Not (1929). Finanzielle u. polit. Schwierigkeiten führten zum Scheitern der Piscatorbühne. 1932 reiste P. in die Sowjetunion zu Dreharbeiten für den Film Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara nach einem Roman von Anna Seghers, dessen Uraufführung erst 1934 in einer geschlossenen Veranstaltung in Moskau gelang. 1936 hielt sich P. in Paris auf. Wilhelm Pieck warnte ihn vor einer Rückkehr nach Moskau, da ihm die Verhaftung drohte. 1937 heiratete P. in Neuilly Maria Ley, 1938 emigrierte er in die USA u. gründete 1939 an der New School for Social Research den Dramatic Workshop, zu dessen Schülern u. a. Tennessee Williams, Arthur Miller u.

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Marlon Brando zählten. 1951 sollte P. vor dem McCarthy-Ausschuss zur Untersuchung antiamerikan. Umtriebe aussagen, kehrte in die Bundesrepublik Deutschland zurück u. arbeitete 1951–1962 als Gastregisseur. 1962 wurde P. Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Seine Absicht, die jüngste Geschichte, insbes. die nationalsozialistische, u. die politischen, sozialen u. moral. Probleme der Zeit auf dem Theater zu behandeln, glaubte er nicht durch die Neuinterpretation von Klassikern, sondern nur durch neue Stücke verwirklichen zu können. Unter seiner Leitung wurden die Dokumentarstücke Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth, In der Sache J. Robert Oppenheimer von Heinar Kipphardt u. Die Ermittlung von Peter Weiss uraufgeführt. Weitere Werke: Das Polit. Theater. Bln. 1929. Reinb. 1979 (zus. mit Felix Gasbarra). – Das Polit. Theater, Schr.en I. Faksimiledr. der Erstausg. Hg. Ludwig Hoffmann. Reinb. 1968. – Aufsätze, Reden, Gespräche, Schr.en II. Hg. ders. Reinb. 1968. – Theater, Film, Politik, Ausgew. Schr.en. Hg. ders. Reinb. 1980. – Briefe aus Dtschld. 1951–66. An Maria Ley-Piscator. Hg. Henry Marx. Ffm. 1983. – E. P. am Schwarzen Meer. Briefe, Erinnerungen, Photos. Hg. Hermann Haarmann. Bln. 2002. – Briefe. Eine Ausw. in 3 Bdn. Hg. ders. Bln. 2004. – Die Briefe. Bd. I u. II. Hg. Peter Diezel. Bln. 22006 (I) u. 2008 (II). Literatur: Friedrich W. Knellessen: Agitation auf der Bühne. Das polit. Theater der Weimarer Republik. Emsdetten 1970. – Heinrich Goertz: E. P. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1974. 31995. – George Bühler: Bertolt Brecht u. E. P. Ein Vergleich ihrer theoret. Schr.en. Bonn 1978. – John Willett: E. P. Die Eröffnung des polit. Zeitalters auf dem Theater. Ffm. 1980. – Stefan Woll: Das Totaltheater. Ein Projekt v. Walter Gropius u. E. P. Bln. 1984. – E. P. Eine Arbeitsbiogr. in 2 Bdn. mit bislang unveröffentlichten Schr.en. Hg. Knut Böser u. Renata Vatková. Bln. 1986. – Maria LeyPiscator: Der Tanz im Spiegel. Mein Leben mit E. P. Ffm. 1989. Reinb. 1993. – Gerhard Bienert: E. P. Ein Leben in tausend Rollen. Bln./DDR 1989. – Sheila McAlpine: Visual Aids in the Productions of the First P.-Bühne 1927/28. Ffm. u. a. 1990. – Gerhard F. Probst: E. P. and the American Theatre. New York u. a. 1991. – Hermann Haarmann: E. P. u. die Schicksale der Berliner Dramaturgie. Mchn. 1991. – Ullrich Amlung (Hg.): ›Leben ist immer ein Anfang!‹ E. P. 1893–1966. Marburg 1993. – Peter Langemeyer: ›Politisches Theater‹. Versuch zur

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Bestimmung eines ungeklärten Begriffs – im Anschluß an E. P.s Theorie des polit. Theaters. In: Aspekte des polit. Theaters u. Dramas v. Calderón bis Georg Seidel. Hg. Horst Turk u. a. Bern u. a. 1996, S. 9–46. – Rainhard May u. a. (Hg.): Filme für die Volksfront. E. P., Gustav v. Wangenheim, Friedrich Wolf – antifaschist. Filmemacher im sowjet. Exil. Bln. 2001. – Lynn Mally: E. P. and Soviet Cultural Politics. In: Jbb. für Gesch. Osteuropas N F. 51 (2003), S. 236–253. – Michael Schwaiger (Hg.): Bertolt Brecht u. E. P. Experimentelles Theater im Berlin der Zwanzigerjahre. Wien 2004. – Klaus Wannemacher: E. P.s Theater gegen das Schweigen. Polit. Theater zwischen den Fronten des Kalten Kriegs (1951–66). Tüb. 2004. – ›Mystische Gedankengänge lagen ihm fern‹. E. P.s Urauff. der ›Ermittlung‹ an der Freien Volksbühne. In: PeterWeiss-Jb. 13 (2004), S. 89–102. – Wolf Gerhard Schmidt: Krit. Objektivität, Defätismus u. performative Kontrolle. Zur Subversivlogik v. E. P.s ›Bekenntnistheater‹. In: IASL 31 (2006), H. 2, S. 1–25. – Peter Jung: E. P. Das polit. Theater. Bln. 2007. Knut Böser / Red.

Piscator, Piscatoris, Ang(e)ler, Eng(e)ler, Hamiota, Hermannus, * zweite Hälfte des 15. Jh. Mainz, † 6.4.1526 Mainz. – Humanist im Benediktinerkloster St. Jakob bei Mainz, Verfasser insbes. historiografischer Werke. P. wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jh. in Mainz geboren u. trat im Jahr 1500 oder 1501 in das Benediktinerkloster St. Jakob bei Mainz ein, das ein mittelrhein. Zentrum der Reform von Bursfelde war. 1510 ist er als Novizenmeister bezeugt. In seiner Umgebung, zu der neben Gelehrten in St. Jakob Humanisten in den Benediktinerklöstern Johannisberg im Rheingau, Laach u. Sponheim gehören, war er ein angesehener Dichter u. Geschichtsschreiber. P.s Hauptwerk liegt mit dem erst Ende der 1980er Jahre in mehreren Abschriften wieder aufgefundenen Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis vor, einer universalgeschichtlich gerahmten Chronik der Stadt u. des (Erz-) Bistums Mainz, die einem humanist. Grundinteresse entsprechend in die dt. Nationalgeschichte ausgreift. Die Chronik ging aus einem vollständig in sie eingefügten Briefwechsel wahrscheinlich des Jahres 1517 mit dem Johannisberger Benediktinermönch

Petrus Sorbillo über den Ursprung von Mainz hervor, durch den P. den Anstoß zu einer Erörterung über das alte Germanien erhielt, das er mit dem zeitgenöss. Deutschland kontrastiert. Dabei bindet er intertextuell an Leitgestalten des Humanismus wie Enea Silvio Piccolomini an. Auch in dem darauffolgenden, nicht mehr thematisch, sondern chronologisch angelegten zweiten Teil der Chronik verarbeitet P. die von humanist. Zeitgenossen Italiens u. Deutschlands gegebenen Anregungen in eigenständiger, methodisch durchdachter Weise weiter, etwa indem er die von Flavio Biondo verfasste u. von Piccolomini bearbeitete, erste humanist. Geschichte des Mittelalters heranzieht oder sich kritisch mit den Geschichtswerken des Sponheimer Abtes Johannes Trithemius auseinandersetzt, mit dem er bekannt war. Gleichzeitig verwendet er im Humanismus neu in den Gesichtskreis gerückte Werke aus Antike u. Mittelalter. Bis zum Jahresbericht zu 1009 ist sein Chronicon in über 500 Quartseiten vollständig überliefert, danach bis in die Entstehungszeit zwischen 1520 u. spätestens seinem Todesjahr 1526 nur noch in Auszügen. Von besonderer Bedeutung ist die chronolog. Makrostruktur der Chronik, die das von der Geburt Christi an dominante annalist. Schema überlagert u. zu ihrer Zeit neu ist: P.s Chronicon ist das erste bekannte Geschichtswerk, das eine Einteilung des geschichtl. Ablaufs in Jahrhunderte im modernen Sinn aufweist, wie sie dann mehr als 30 Jahre später von den Verfassern der ersten großen protestant. Kirchengeschichte, der sog. Magdeburger Zenturien, angewandt u. verbreitet wurde, die dieser Einteilung ihren Namen verdanken. In dieses Umfeld weisen auch die wichtigsten Überlieferungsträger von P.s Chronicon. P. repräsentiert damit den Typus des Humanisten im Bereich des Klosters in einer bes. aufschlussreichen Weise. Ausgaben: Ed. des Briefwechsels P.s mit Petrus Sorbillo in Vorb. durch Uta Goerlitz. – Zur Überlieferung des Briefwechsels u. der Chronik P.s u. zu den ganz vereinzelt gedruckten Exzerpten siehe den Artikel v. U. Goerlitz in: VL Dt. Hum. Literatur: Uta Goerlitz: Humanismus u. Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Tüb. 1999. – Dies.: Mainzer Antiquitas u. dt. Nation im Briefw.

245 des Benediktinerhumanisten H. P. u. Petrus Sorbillo aus dem Jahr 1517. In: Städt. Geschichtsschreibung im SpätMA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Peter Johanek. Köln u. a. 2000, S. 157–180. – Dies.: Zu Überlieferung u. Rezeption der Chronik des H. P. unter bes. Berücksichtigung der FuggerHs. Stolb.-Wern. Zh 69 (Halle/S.) aus dem Umkreis der Magdeburger Zenturiatoren. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 58 (2000), S. 209–231. – Winfried Schulze: Die Wahrnehmung v. Zeit u. Jahrhundertwenden. In: Jb. des Histor. Kollegs 2000, S. 3–36, hier S. 13 f. – U. Goerlitz: ›Accepi, [...] te poësis et historiarum fore auidissimum exquisitorem‹. Der Mainzer Humanist u. Historiograph H. P. OSB u. sein Umfeld. In: Spätmittelalterl. städt. Geschichtsschreibung in Köln u. im Reich. Hg. Georg Mölich, Uwe Neddermeyer u. Wolfgang Schmitz. Köln 2001, S. 139–151. – Dies.: H. Piscator(is). In: NDB. – Harald Müller: Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog. Tüb. 2006, S. 25, 30, 36 f., 45 f., 242 ff. – Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit u. konfessioneller Identitätsstiftung, Tüb. 2007, S. 371 f. – U. Goerlitz: H. P. In: VL Dt. Hum. (im Druck). Uta Goerlitz

Piscator, Piscatorius, Johannes, eigentl.: Johann Fischer, * 27.3.1546 Straßburg, † 26.7.1625 Herborn. – Philosoph, reformierter Theologe, Bibelübersetzer, Herausgeber. P. besuchte zunächst das Gymnasium in seiner Heimatstadt, wo u. a. Johannes Sturm, Valentin Erythraeus, Conrad Dasypodius u. Johann Marbach zu seinen Lehrern zählten; danach studierte er bei Jakob Schegk u. Jakob Andreae in Tübingen (Immatrikulation am 30.10.1564, erneut am 3.5.1566), wo er am 11.8.1568 den Magistergrad erwarb. 1571 wurde er zur Unterstützung des kränkl. Marbach als Professor der Theologie an die Straßburger Akademie berufen, die er jedoch auf Drängen dieses orthodoxen Lutheraners schon bald wieder verlassen musste (»Dimissus 27 Junii 1571«, vgl. Berger-Levrault, S. 184), weil er in der Frage der Prädestination den Gnadenpartikularismus des calvinist. Lehrbegriffs vertrat. P. wandte sich nach Heidelberg; dort las er nach Immatrikulation (5.5.1573) u. Aufnahme in die philosoph. Fakultät (15.8.1573) privat über die aristotel. Physik. Nach weiteren Lehrtätigkeiten zu-

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nächst in Siegen (1578), dann (bis 1581) am Casimirianum, der Hohen Schule in Neustadt a. d. Haardt, u. am Gymnasium Adolfinum in Moers (1582) war er ab 1584 bis zu seinem Tod Professor, mehrfach auch Rektor bzw. Prorektor an der durch Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg neu gegründeten Hohen Schule in Herborn, die P. in Zusammenarbeit mit Kaspar Olevian (1536–1587), einem der Verfasser des Heidelberger Catechismus (1563), der wie P. 1577 nach dem Tod des Kurfürsten Friedrich u. der Zuwendung von dessen Sohn Ludwig zum luth. Bekenntnis seine Stelle in Heidelberg verloren hatte, zu einer der bedeutendsten reformierten Lehranstalten machte. Zu den berühmtesten Studenten gehörten Johann Heinrich Alsted (1601 ins Pädagogium aufgenommen) u. Johann Amos Comenius, der sich am 30.3.1611 in die Matrikel eintragen ließ. Mit Théodore de Bèze (1519–1605), dem Mitarbeiter u. Nachfolger Calvins in Genf, Conrad Vorst, Menso u. Heinrich Alting, David Pareus, Tobias Andreae u. a. stand P. in regem Briefwechsel. P. war ein ausgesprochen fruchtbarer Autor, dessen Werk fast 240 zumeist in Herborn gedruckte Titel umfasst. Seine philosophischen u. theolog. Arbeiten weisen ihn als dezidierten Vertreter des Ramismus aus (vgl. z.B. P.s Brief an Bèze vom 25.3.1594 in: Cyprian, S. 68–73, hier S. 69), der Wissenschaftstheorie, auf die sich die Hohe Schule in ihren Statuten verpflichtet hatte (vgl. die zuerst von P. aufgezeichneten u. mit einer Vorrede versehenen Leges Scholae Herbornensis [...]. o. O. [Neustadt/Haardt] 1585, Bl. A4v, u. Menk, S. 210 f.). Sein wichtigstes Arbeitsgebiet war die Exegese. »Interpretation« bestand für ihn in der Anwendung logischer Regeln; seine Bibel-Kommentare führte er durchgängig nach drei in bestimmter Reihenfolge geordneten Arbeitsschritten durch: 1. der in Gestalt von Einteilungen, Gliederbenennungen u. -aufzählungen, Syllogismen u. Synopsen sich vollziehenden »Analysis logica« als der Ermittlung des wahren Schriftsinns, 2. den »Scholia«, die die Aufgabe hatten, die auftauchenden »Impedimenta« (Hindernisse) aus dem Weg zu räumen, u. 3. den »Observationes«, die den vielfältigen Nutzen der jetzt verstandenen Lehre ins Auge

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fassten, ein Nutzen, den P. nach fünf Hauptgesichtspunkten gliederte (»doctrina«, »redargutio«, »correctio«, »institutio« u. »consolatio«). P.s Kommentare zu sämtl. Büchern des NT (mit dem einheitl. Titel Analysis logica [...] una cum scholiis. Herborn 1589–97; zus. als: Commentarii in omnes libros Novi Testamenti: antehac separatim editi [...]. Herborn 1613. 41658) sowie des AT (Herborn 1601–17; Index in libros biblicos Veteris Testamenti [...]. 6 Bde., Herborn 1622/23; zus. als: Commentarii in omnes libros Veteris Testamenti: antehac [...] separatim editi [...]. 4 Bde., Herborn 1646 [1643–45]) waren noch lange Zeit in Gebrauch. Bekannt blieb P. insbes. als Bibelübersetzer; die für Laien kommentierte sog. »Piscator-Bibel« (wegen einer Hinzufügung P.s zu Mk 8,12 von den Lutheranern als »StrafmichGott-Bibel« attackiert) sollte ein eigenständiges reformiertes Gegenstück zur Lutherbibel bieten. 1597 auf Anregung Johanns VI. in Siegen, wohin die Johannea auf Verfügung des Grafen im Herbst 1594 bis zu ihrer Wiedereröffnung in Herborn am 3.5.1599 verlegt worden war, begonnen, erschien sie zuerst ab 1602 (Biblia, Das ist: Alle bücher der H. Schrift [...]. 4 Tle., Herborn 1602–04. 2 1604–06. 31617–23 u. ö. Duisburg 1684. Bern 1684 u. ö.). Ein Anhang des Herbornischen Biblischen wercks (2 Tle., Herborn 1610. 21624) enthält u. a. eine Konkordanz, ein biblischtheolog. Wörterbuch, ein Zeitregister, eine Anleitung zum Bibellesen, eine kompendiöse Glaubenslehre sowie einige Bilder u. Karten. P. folgte dem Wortlaut des Originals treuer als Luther; eine textnahe Übersetzung war ihm wichtiger als eine gut lesbare Sprache, was alsbald eine große Zahl von Kritiken provozierte. Schon 1608 verboten die Söhne Johanns im Nassauischen ihren Gebrauch für den allgemeinen Gottesdienst u. griffen wieder auf die bekanntere Lutherbibel zurück. Lediglich im reformierten Schweizer Kanton Bern wurde sie von 1684 bis 1848 zur offiziellen Staatsbibel erhoben. Weitere Werke: Disputatio de trinitate [...] exercitij causa. Praes.: Jakob Andreae; Resp.: J. P. Tüb. 1568. – In P. Rami dialecticam animadversiones [...] exemplis sacr. literarum paßim illustratae. Ffm. 1580. 21582. – Quaestiones rhetoricae

246 tres, de verbis domini, Hoc est corpus meum [...]. Herborn 1589 u. ö. – Aphorismi doctrinae christianae, maximam partem ex Institutione Calvini excerpti [...]. Herborn 1589. 21592. 91619 u. ö. – Responsio [...] ad dictata Danielis Hofmanni: quibus quaestiones [...] rhetoricas de tropo [...] oppugnavit [...]. Herborn 1591. – Analysis logica epistolarum Horatii omnium, connumerato etiam libello [...] De arte poetica: necnon selectarum aliquot odarum: una cum scholiis. Speyer 1595. – Disputatio theologica de praedestinatione [...]. Herborn 1595. 2 1598. – Apologia, das ist, Verthädigung der newen Herbornischen Bibel: Wider das Lesterbuch Paul Röders [...]. Herborn 1608. – Herausgeber: P. Rami Scholae in tres primas liberales artes [...]. Ffm. 1581. Nachdr. Ffm. 1965. – P. Rami Scholarum metaphysicarum, libri quatuordecim [...]. Ffm. 1583. Nachdr. Ffm. 1974. – P. Rami Scholarum physicarum libri octo [...]. Ffm. 1583. Nachdr. Ffm. 1967. – Audomari Talaei Rhetorica e P. Rami [...] praelectionibus observata. Recens in usum scholarum, distinctius excusa, et scholiis Ioann. Piscatoris paßim illustrata. Ffm. 1588. – P. Rami Scholarum dialecticarum [...] libri XX [...]. Ffm. 1594. Nachdr. Ffm. 1965. – Briefe: Clarorum virorum epistolae CXVII. e bibliothecae Gothanae autographis. Hg. Ernst Salomon Cyprian. Lpz. 1714, S. 43–157. Ausgaben: Orationis M. T. Ciceronis pro rege Deiotaro, analysis dialectica: ad praeceptiones P. Rami potissimum accommodata. Speyer (1582) 2 1583. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Internet-Ed. mehrerer Kommentare zum NT in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http:// tcpt.alexanderstreet.com). – Die hl. Schrift. AT. 2 Bde., Bern 1847–48. – Die Piscator-Bibel. Das NT. 3 Bde., Herborn 1606. Nachdr. Herborn 2003. – Biblia: Das ist: Alle bücher der Hl. Schrift des alten u. newen Testaments [...]. Bd. 1, Herborn 1604. Nachdr. Herborn 2007. – Das Johannes-Evangelium. Die P.-Bibel mit Einf. Hg. Ulrich Bister. Hammerbrücke 2009. Literatur: Bibliografien: Steubing 1841 (s. u.), S. 124–138. – Antonius v. der Linde: Die Nassauer Drucke der Kgl. Landesbibl. in Wiesbaden. Wiesb. 1882, S. 237–260. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Johann Jakob Hermann: Christl. Leichpredig [...] gehalten bey Begräbnus [...] M. Johannis Piscatoris [...], welcher den 26. Julij 1625 [...] entschlaffen [...]. Herborn 1625. – Melchior Sebiz d.J.: Appendix chronologica. In: Straßburgischen Gymnasii christl. Jubelfest [...] 1638 celebrirt u. begangen. Straßb. 1641, S. 230. – Johann Hermann Steubing: Lebensnachrichten v. den Herborner Theologen [...]. 1. Lfg. Caspar Oleavian u. J. P. In: Ztschr. für histor. Theologie NF 5 (1841), H. 4, S. 74–138, hier

247 S. 98–138. – Friedrich Wilhelm Cuno: J. P. In: ADB. – Oscar Berger-Levrault: Annales des professeurs des académies et universités alsaciennes 1523 à 1871. Nancy 1892. – Heinrich Schlosser: Die P.Bibel. Heidelb. 1908. – Frans Lukas Bos: J. P. Ein Beitr. zur Gesch. der reformierten Theologie. Kampen 1932. – Walter J. Ong: J. P. One Man or a Ramist Dichotomy? In: Harvard Library Bulletin 8 (1954), S. 151–162. – Jürgen Moltmann: Zur Bedeutung des Petrus Ramus für Philosophie u. Theologie im Calvinismus. In: ZKG 68 (1957), S. 295–318. – W. J. Ong: Ramus, Method, and the Decay of Dialogue [...]. Cambridge 1958. Nachdr. Chicago/London 2004. – Georg Biundo: Die evang. Geistlichen der Pfalz seit der Reformation (Pfälz. Pfarrerbuch). Neustadt a. d. Aisch 1968, Nr. 4038, S. 347. – Gerhard Menk: Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660) [...]. Wiesb. 1981, passim. – Rudolf Dellsperger: ›Das Heilig wort Gottes in der Haubtstatt‹. Zum theologie- u. kirchengeschichtl. Hintergrund der Berner Piscatorbibel. In: Zwingliana 16 (1985), S. 500–516. – Irena Backus: Apocalypse 20,2–4 et le millenium protestant. In: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 79 (1999), S. 101–117. – Die reformierte Herborner Bibel des J. P.: Gesch. u. Wirkung. Hg. Ulrich Bister. Hammerbrücke 2001. – Françoise Chevalier: L’ambassade d’Antoine Renault auprès des Églises sœurs de Suisse et d’Allemagne (1603–07). In: Bulletin de la société de l’histoire du protestantisme français 147 (2001), S. 579–627. – Werner Besch: Dt. Bibelwortschatz in der frühen Neuzeit [...]. Ffm. u. a. 2008. Reimund B. Sdzuj

Pistorius, Hermann Andreas, * 8.4.1730 Bergen/Rügen, † 10.11.1798 Poseritz/Rügen. – Theologe u. Übersetzer.

Pistorius

durch seinen Schwager Johann Joachim Spalding rezensierte er zahlreiche theolog., v. a. aber philosoph. Schriften – darunter auch etliche Kants – für die »Allgemeine deutsche Bibliothek«. Er übersetzte aus dem Englischen u. versah schließlich einige der Übersetzungen seines ältesten Sohns Christian Brandanus Hermann, den er selbst unterrichtet hatte, mit Kommentaren, Zusätzen u. Vorreden. P.’ theolog. Position wird bes. in der Vorrede zur Übersetzung seines Sohns von Joseph Priestleys Liturgie und Gebetsformeln (Bln., Stettin 1786) deutlich, in der er sich für eine die Konfessionen verbindende allg. Gottesdienstordnung ausspricht. Weitere Werke: Übersetzungen: Charlotte Lenox: Don Quixote im Reifenrocke [...]. Hbg./Lpz. 1754. – David Hartley: Betrachtungen über den Menschen [...] mit Anmerkungen u. Zusätzen. 2 Tle., Rostock 1772/73. – Thomas Amory: Leben, Bemerkungen u. Meinungen Johann Bunkels nebst den Leben verschiedener merkwürdiger Frauenzimmer, übers. v. Raimarus v. Spieren. Bln. 1778 (mit Anmerkungen v. H. A. P.). – William Belsham: Versuche über Gegenstände der Philosophie, Theologie, Lit. u. Politik. Übers. v. Christian Brandanus Pistorius. Bln. 1798 (Zusätze v. H. A. P.). Literatur: Samuel Baur: Allg. histor. Handwörterbuch aller merkwürdigen Personen, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. gestorben sind. Ulm 1803. – Friedrich Karl Gottlob Hirsching: Historisch-litterar. Hdb. [...]. Bd. 7, Lpz. 1805. – Häckermann: P. In: ADB. – Kants vergessener Rezensent. Die Kritik der theoret. u. prakt. Philosophie Kants in fünf [frühen] Rezensionen. Hg. u. eingel. v. Bernward Gesang. Hbg. 2007. Sabine Lorenz / Red.

P., dessen Vater, ein Diakon, bereits 1736 starb, besuchte zunächst das Gymnasium in Stralsund, dann das Collegium Carolinum in Pistorius, Johannes d.Ä., * Januar 1504 Braunschweig. Nach dem Theologiestudium Nidda, † 25.1.1583 Nidda. – Hessischer in Greifswald u. Göttingen privatisierte er in Reformator u. Superintendent. Hamburg, arbeitete zeitweilig als Hauslehrer u. begann Werke von Hume zu übersetzen Nach Besuch der Niddaer Lateinschule stu(Vermischte Schriften. Hbg. 1754. Sittenlehre der dierte P. in Mainz Theologie. Der junge Dr. Gesellschaft. Hbg. 1756). 1757 wurde P. Pre- theol. begeisterte sich für Luthers kirchl. Rediger in Schaprode auf Rügen u. 1758 Prä- formansätze u. begann sie ab 1526 in Nidda positus der Synode in Poseritz. umzusetzen. P., Teilnehmer am Marburger P. fand bei seinen Zeitgenossen v. a. wegen Religionsgespräch (1529), wurde 1530 unter seiner vielseitigen Bildung Anerkennung der Federführung Melanchthons Mitarbeiter (vgl. Baur). Ein Anhänger der Leibniz- an der »Confessio Augustana« (CA), dem Wolff’schen Philosophie, besaß er gründl. »Grundgesetz« des Protestantismus. ZeitleKenntnisse der engl. Philosophen. Angeregt bens besaß P. ein lat. u. dt. Belegexemplar der

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heute verschollenen Ur-CA von 1530. P. wurde 1541 (bis 1580) Superintendent der hess. Diözese Alsfeld. An der Seite von Melanchthon u. Bucer verteidigte er auf den Religionsgesprächen in Worms u. Regensburg (1540/41 u. 1546) engagiert die luth. Konfessionsrichtung. Bei der Pestepidemie von 1555, bei der er alle Kinder bis auf Johannes d.J. verlor, harrte P. als helfender Pfarrer in Nidda aus. Aufgrund dieser Erfahrungen ermunterte er später in seiner einzigen gedruckt erhaltenen Schrift die Pfarrer, gerade in Notzeiten zur Gemeinde zu stehen (Vorrede in: M. Eychler: Christlicher [...] Bericht, wie die Pfarherren in dieser gegenwertigen pestilentzischen Zeit [...] die armen krancken Leut [...] trösten können [...]. Oberursel 1578). Ein trag. Unglück nahm ihm 1560 seine Ehefrau. Nach dem Wormser Religionsgespräch (1557) bedrückte P. mehr u. mehr der zunehmende Richtungsstreit zwischen Orthodoxie u. Philippisten. Als Zeitzeuge der Reformationszeit, der Luther u. Melanchthon um Jahrzehnte überlebte, verfasste er noch vor David Chytraeus eine Reformationsgeschichte, die er aus gesundheitl. Gründen aber nicht mehr in Druck geben konnte. Das Manuskript u. die wertvolle Bibliothek mit der UrCA erbte sein Sohn, der einiges daraus in seinen Schriften verarbeitete. Vor allem in hess. Archiven werden viele, zumeist unveröffentlichte Aufzeichnungen von P. aufbewahrt. Literatur: G. Nigrinus: G. Lotichius, I. Vietor, V. Helbach, Elegiae aliquot de morte liberorum et coniugis [...] D. Iohannis Pistorii urbis et comitatus Niddani Pastoris et Superintendentis. Ffm. 1564. – Hans-Jürgen Günther: Die Reformation u. ihre Kinder – dargestellt an Vater u. Sohn J. P. Niddanus. Eine Doppel-Biogr. Nidda 1994, S. 9–74. – Ders.: P. d.Ä. In: NDB. Hans-Jürgen Günther

Pistorius, Johannes d.J., * 4.2.1546 Nidda (daher: Niddanus), † 19.6.1608 Freiburg/ Br. – Humanist, Arzt, Historiker, Politiker u. katholischer Theologe. P. wuchs in einem humanistisch geprägten evang. Pfarrhaus in Nidda auf. Mit 13 Jahren in Marburg immatrikuliert, setzte er als Magister 1563 in Wittenberg u. Tübingen seine

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Studien in Medizin (bei Leonhard Fuchs), Jura u. Philosophie fort. Die neuzeitl. Anatomie Vesals lernte er 1565 in Padua kennen. Nach einem Paris-Semester (Innere Medizin bei Jean Fernel) schloss P. 1567 in Marburg sein Medizinstudium ab. In der klar gegliederten Promotionsschrift (De vera curandae pestis ratione. Ffm. 1568) diskutierte P. Ursachen u. Therapie der Pest, hatte er doch 1555 bei einer Pestepidemie alle fünf Geschwister verloren. Aus der 1567 mit Catharina Mayer geschlossenen Ehe gingen sieben Kinder hervor. 1575 berief ihn der badische Markgraf Karl II. als Leibarzt u. Historiografen an seine Durlacher Residenz. Offen für die kirchenpolit. Richtungen in der Zeit der Konfessionalisierung, befasste sich der Lutheraner P. auch mit den rationalen Denkansätzen des Calvinismus, ohne je Calvinist zu sein. In Durlach entfaltete P. eine unerhört fruchtbare literar. Tätigkeit. Es erschienen die erste westeurop. Historiografie Polens (Polonicae historiae Corpus. Basel 1582), eine zweibändige dt. Geschichte (Rerum Germanicarum [...] Scriptores. Ffm. 1583; Bd. 3, 1607) sowie ein Sammelband der wichtigsten Schriften christlicher Autoren (z.B. Paulus Ricius, Johannes Reuchlin) über die Kabbala (Artis cabalisticae [...] Tomus I. Basel 1587), alles umfangreiche Werke mit akribisch erstelltem Stichwortverzeichnis (Index). Lutherische Theologen, die dem Antijudaismus in den Spätschriften des Reformators folgten, griffen P. später wegen der »Ars cabalistica« an, wie Jacob Heilbrunner in der Schrift Daemonia Pistoriana (1601), in der er P. Umgang mit der Kabbala u. der Zauberei vorwarf. Ganz im Geiste der Reformation engagierte P. sich als Vordenker u. Mitorganisator der ersten nachreformatorischen Lateinschule in Baden, dem Durlacher »Gymnasium Illustre« (1586). Nach dem Tod des Vaters u. der Ehefrau (1585) ging P. auf Distanz zu den Lutheranern. P. hatte neben der Bibliothek u. a. das umfangreiche Manuskript einer Reformationsgeschichte u. die Archivalien seines Vaters geerbt. So erhielt er gründl. Kenntnisse über gewichtige, aber geheim gehaltene Vorgänge der Reformationszeit, z.B. über Luthers Beichtrat zur Doppelehe des hess.

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Landgrafen Philipp. Zudem beeindruckt von sowie ab 1601 kaiserl. Rat u. Beichtvater Ruder nachtridentinischen Reformkirche u. be- dolfs II. Dort am Prager Hof pflegte er fremdet durch die Methoden bei der Durch- freundschaftl. Kontakt mit dem Mathematisetzung der Konkordienformel konvertierte ker u. Astronomen Johannes Kepler, wie ein P. 1588 zum Katholizismus. Heftig wurde er umfangreicher Briefwechsel belegt. P., ein durch naturwiss. Denken geprägter deshalb in Flugblättern u. Schriften von luth. Theologen attackiert. Er antwortetete mit Humanist u. Christ, rettete 1604 in Freiburg kontroverstheolog. Schriften, z.B. gegen Jo- durch sein kluges u. mutiges Handeln ein 13hann Jacob Grynaeus, Jacob Heerbrand oder jähriges Mädchen in einem Hexenprozess vor dem Tod. Was Friedrich von Spee 1631 in der Lucas Osiander. 1589 wurde P. Bürger der Stadt Freiburg u. »cautio criminalis« forderte, hatte P. in Freiblieb es bis zum Lebensende. Von Freiburg burg bereits 27 Jahre zuvor durchgesetzt: aus beriet er den luth. Markgrafen Jacob III. eine Beurteilung der »Hexerei« aufgrund von von Baden in theolog. u. jurist. Fragen, so Indizien u. nicht aufgrund von erfolterten z.B., als Emmendingen 1590 die Stadtrechte Geständnissen. Der weit gereiste Mann starb verliehen wurden. Im selben Jahr konver- 62-jährig u. liegt im Freiburger Augustinertierte Jacob III. Nach dem Augsburger Museum begraben. 150 Bände aus seiner beRechtsspruch von 1555 »cuius regio, eius re- rühmten Bibliothek befinden sich heute im ligio« ordnete der Markgraf eine Konfessi- Straßburger Priesterseminar. onsänderung im Hachberger Land an. Es kam Literatur: Otto Scheib: Das Religionsgespräch zu Unruhen in der luth. Pfarrerschaft. Fünf [...]. In: FDA 100 (1980), S. 277–288. – Hans-JürWochen nach seiner Konversion starb der 28- gen Günther: Die Reformation u. ihre Kinder – jährige Markgraf Jacob III. plötzlich. Für dargestellt an Vater u. Sohn J. P. Niddanus. Eine seine Gegner ein klarer Fall: ein Gottesurteil. Doppel-Biogr. Nidda 1994, S. 74–238 (darin: Verz. Die Medizinprofessoren der Freiburger Uni- aller Werke des P.). – Ders.: P., J. d.J. In: LThK. – Ders.: P. d.J. In: NDB. Hans-Jürgen Günther versität nahmen jedoch eine Sektion vor – die erste in der Geschichte der alten Hochschule. Das Sektionsprotokoll mit dem sehr präzise Pistorius, Wilhelm Friedrich (oder Friedbeobachteten, eindeutigen Ergebnis einer rich Wilhelm), * 24.7.1702 Weikersheim, Arsenikvergiftung ließ P. kurz darauf in † 24.12.1778 Peschwitz bei Meißen. – Druck gehen. Mit diesem Bericht hat P. für Rechtsgelehrter. Freiburg u. den gesamten deutschsprachigen Raum Medizingeschichte geschrieben (De vita P. nahm am 6.5.1720 das Jurastudium in Jena et morte [...] Iacobi Marchionis Badensis [...] ora- auf, das er am 13.10.1722 in Gießen forttiones duae. Köln 1591. Jacobs Marggrafen [...] setzte. 1729 trat er in die Dienste des Motifen. Köln 1591). Reichsgrafen von Erbach, wo er rasch zum Nach Jacobs Tod waren P.’ Verbindungen Geheimen Rat aufstieg. Früh im Recht des zu Baden jäh abgebrochen. Kardinal Andreas Reichsgrafenstandes bewandert (Historischvon Österreich berief ihn 1591 zum General- und juridische Anmerckungen über allerhand den vikar der Diözese Konstanz. Hier verfasste P. Ursprung [...] etc. derer des Heil. Röm. Reichs u. a. die Anatomia Lutheri I. (Köln 1595, 1598 Graven betreffende Materien. 4 Tle., Ffm. Teil II). Seine genauen Kenntnisse der Refor- 1726–28), folgte er 1734 seinem Vater Georg mationszeit hatten ihn zu einem entschiede- Tobias Pistorius als Rechtsvertreter im Kolnen, oft sehr scharfen Kritiker Luthers wer- legium der Fränkischen Reichsgrafen nach. den lassen. P. war bis 1597 Präsident des 1739 wurde er Syndikus der Reichsgrafen von Geistlichen Rates u. leistete die Vorarbeiten Franken, Westfalen u. der Wetterau beim für die Gründung eines Konstanzer Jesui- Regensburger Reichstag. tenkollegs, aus dem später das heutige SusoDie vom Vater unter dem Pseud. Veronus Gymnasium hervorging. P. wurde Apostoli- Franck von Steigerwald herausgegebene Lescher Protonotar, Propst von Oelenberg, Sur- bens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen burg u. Pairis (1600), Dompropst von Breslau zugenannt mit der Eisern Hand [...] (Nürnb.

Pithopoeus

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1731) versah P. mit Anmerkungen u. dem Anhang Historische Nachrichten, von dem Ursprung, Art und Beschaffenheit etc. etc. derer in Teutschland ehemals in Schwarz gegangenen Fehden und Diffidationen. Eine Kritik Augustin von Leysers in dessen De jure Germanorum antiquo et moderno circa rapinas (Wittenb. 1732, S. 11 f.) beantwortete P. in der Vorrede zum vierten Teil (1734) seines Rechts- u. Realienkompendiums zum MA, Amoenitates historicojuridicae (8 Tle. in 10 Bdn., Ffm./Lpz. 1731–53). Goethe, der die Lebens-Beschreibung als Jurastudent kennenlernte, benutzte sie als Quelle für seinen Götz (1773). Der Erfolg des Stückes veranlasste eine verbesserte Neuauflage des Quellentextes, für die P. als Herausgeber zeichnete (Nürnb. 1775). Ausgaben: Lebens-Beschreibung Herrn Gözens v. Berlichingen [...]. Mit verschiedenen Anmerckungen erl. u. [...] zu noch mehrerer Illustrirung eine Dissertation de dissidationibus [...] beygefügt sich befindet v. W. F. P. Nürnb. 1731. Nachdr. Hildesh. 1977. Ffm. 1980. – Dass. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Lebens-Beschreibung Herrn Goetzens v. Berlichingen [...]. Nürnb. 21775. Internet-Ed. ebd. Literatur: DBA. – Johannes Arndt: Das Niederrheinisch-westfäl. Reichsgrafenkollegium u. seine Mitglieder (1653–1806). Mainz 1991. – Wolfgang Burgdorf: ›Das Reich geht mich nichts an‹. Goethes ›Götz v. Berlichingen‹, das Reich u. die Reichspublizistik. In: Imperium Romanum, Irregulare Corpus, Teutscher Reichs-Staat [...]. Hg. Matthias Schnettger. Mainz 2002, S. 27–52. Ulrike Leuschner / Red.

Pithopoeus, Lambertus Ludolfus, auch: L. L. Helm (nach seinem Vater; der lat. Name nach seinem Großvater, der Küfer/Kuiper gewesen war), * 21.3.1535 Deventer/Niederlande, † 29.1.1596 Heidelberg. – Pädagoge, akademischer Lehrer, neulateinischer Dichter. Der Sohn des Deventer Schuldirektors Ludolf Pithopoeus lebte nach dem Tod des Vaters in Rostock (seit etwa 1556). Zum weiteren Studium wandte er sich 1558 nach Wittenberg (Kontakte mit Melanchthon, den er in einem Gedicht um Hilfe bittet). Als Magister (16.2.1559) kehrte er nach Deventer zurück,

um dort eine Schule zu eröffnen. Vor allem wegen wirtschaftl. Schwierigkeiten nahm er 1563 einen Ruf nach Heidelberg an, den ihm Freunde vermittelt hatten. Hier wirkte er als Direktor des Pädagogiums, als Professor für lat. Eloquenz (wohl schon seit 1563) u. Poesie (1584). Mit den reformierten Theologen wich er zwischen 1578 u. 1583 nach Neustadt/ Hardt aus. Die öffentl. Seite seiner Position spiegelt sich in akadem. Reden u. in anlassgebundener, repräsentativer Lyrik. Selbst gegenüber Mitgliedern des pfälz. Fürstenhauses (Adressat u. a. Kurfürst Friedrich IV.) äußerte sich dabei des Öfteren der kulturbewusste u. didakt. Grundzug seiner Lyrik. Mit intimeren Poemen wurde der humanist. Freundeskreis bedacht. Neben älteren Kontakten (u. a. zu dem Rostocker Poetikprofessor u. Schwager Johannes Bocerus) treten die gelehrten Freundschaften zu den Lehrern, Geistlichen u. Professoren des Heidelberger Späthumanismus (u. a. Johannes Posthius) in den Vordergrund. Einen kulturgeschichtlich aufschlussreichen Einblick in P.’ pädagog. Tätigkeit erlauben die an den jungen pommerschen Adeligen Adrian Borck gerichteten Gedichte u. Briefe. Darunter befindet sich eine zu einem poetolog. Lehrgedicht ausgefaltete Empfehlung des niederdt. Reinike Voss. Weitere Werke: Carmina [darin: Tobias]. Heidelb. 1565. – Oratio de Studio et Caussis Eloquentiae. Neustadt/Hardt 1581. – Poematum Libri IV. Neustadt/Hardt 1585. – De Studio Poetices Oratio. Heidelb. 1586. – Poematum Lib. Quinctus. Speyer 1588. – Oratio de Astronomia. Heidelb. 1589. – Lacrimae in obitum [...] Johannis Casimiri. Heidelb. 1592. – Poematum Liber Sextus [-Septimus]. Heidelb. 1591. – Nuptiae Palatinae seu Poematum Liber Octavus. Heidelb. 1594. – In Q. Horati Flacci Artem Poeticam Paraphrasis. Heidelb. 1595. – De Nihilo et Parvo. In: Amphitheatrum Sapientiae. Hg. Caspar Dornau. Hanau 1619. Neudr. hg. v. Robert Seidel. Goldbach 1995. – Weitere Zuschreibungen: Musae Palatinae. Neustadt/Hardt 1580. Teiled.: Parn. Pal., S. 128–137. Literatur: J. Franck: Helm, Lambert Ludolf. In: ADB. – Ellinger 3, S. 290–292. – Renate Neumüllers-Klauser (Bearbeitung): Die Inschr.en der Stadt u. des Landkreises Heidelberg. Stgt. 1970, Nr. 395 u. 470. – Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern

Piwitt

251 v. Schede bis Zincgref. In: ZfdA 103 (1974), S. 200–241, v. a. S. 210 ff. – Wilhelm Kühlmann: ›Reinike Voss de Olde‹ in der späthumanist. Adelserziehung. Ein protrept. Verstraktat des [...] L. P. In: Daphnis 15 (1986), S. 53–72. – Bibliotheca Palatina. Ausstellungskat. Bd. 1, Heidelb. 1986, S. 34, 249 u. ö. (Register). – Lothar Mundt (Hg.): Johannes Bocer. Sämtl. Eklogen. Tüb. 1999 (passim, mit Abdr.en aus poet. Briefw.; s. Register). Wilhelm Kühlmann

Pitschmann, Siegfried, * 12.1.1930 Grünberg/Schlesien (heute: Zielona Góra/ Polen), † 29.8.2002 Suhl/Thüringen. – Erzähler, Hörspielautor u. Dramatiker.

das Szenarium zu dem DEFA-Film Leben mit Uwe (Regie Lothar Warnecke, 1974). 1961 erhielt P. den FDGB-Literaturpreis (gemeinsam mit Brigitte Reimann), 1976 den HeinrichMann- u. 1978 den Louis-Fürnberg-Preis. Weitere Werke: Ein Mann steht vor der Tür. Bln./DDR 1960 (Hörsp., mit B. Reimann, 1961 Bühnenfassung). – Sieben Scheffel Salz. Bln./DDR 1961 (Hörsp. mit ders.). – Die Frau am Pranger. Bln./DDR 1963 (Fernsehsp., mit ders.). – Der Direktor. Bln./DDR 1967 (Funk-E.). – Der glückl. Zimpel. Bln./DDR 1974 (Hörsp.). – Er u. Sie: Drei Studien für Schauspieler u. Publikum. Urauff. Rostock 1975. – Kindheiten schreiben. Bln./Weimar 1980 (Ess.). – Über Bodo Uhse. Bln./Weimar 1984 (Ess.). – Elvis feiert Geburtstag, Bln. 2000 (E.en). – Und trotzdem haben wir immerzu geträumt davon. S. P. über Leben, Lieben u. Arbeiten mit Brigitte Reimann. Bln./Weimar 2000 (MDRHörbuch v. Sabine Ranzinger mit O-Ton S. P.). – Verlustanzeige. Erinnerungen. Weimar 2004 (Selbstaussagen nach Tonbandprotokollen v. Marie-Elisabeth Lüdde). Literatur: Renate Drenkow: Interview mit S. P. In: WB, H. 9 (1970). – Das Besondere im Alltäglichen. Interview mit S. P. In: Auskünfte. Werkstattgespräche mit DDR-Autoren. Bln./Weimar 1976. – Martin Straub: Anmerkungen zu S. P. In: Palmbaum. Literar. Journal aus Thüringen, H. 1 (1996). – Frank Quilitzsch: Daniels Fragmente. Der Erzähler, Hörspielautor u. Dramatiker S. P. wird 70. In: Berliner Ztg., 12.1.2000. Frank Quilitzsch

Der Sohn eines Tischlermeisters besuchte in Grünberg Volks- u. Oberschule, letztere durch Kriegsende abgebrochen. 1945 erfolgte die Evakuierung ins thüringische Mühlhausen; P. arbeitete anschließend als Hilfsarbeiter, Tagelöhner sowie nach einer Uhrmacherlehre als Uhrmacher. 1950 schloss er sich der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren Thüringens an; 1952 erschien die erste Erzählung in der Zeitschrift »Aufbau«. 1957/58 arbeitete P. als Betonierer u. Maschinist auf der Baustelle des Kombinats Schwarze Pumpe. Seit 1960 freischaffend, lebte er bis 1964 mit seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Brigitte Reimann, in Hoyerswerda; gemeinsame Arbeit an Hörspiel-, Bühnen- und Fernsehstücken über die Arbeitswelt. Nach Piwitt, Hermann Peter, * 28.1.1935 der Trennung von Reimann zog er nach Wohldorf bei Hamburg. – Erzähler u. Rostock u. wurde Mitarbeiter am dortigen Essayist. Volkstheater. Seit 1990 lebte er in Suhl, wo er nach schwerer Krankheit starb. Nach einem Studium der Soziologie, PhiloP. schrieb seine Prosa mit der Präzision des sophie u. Literaturwissenschaft in Frankfurt/ Uhrmachers; die verschiedensten Erzähl- M., München u. Berlin, u. a. bei Adorno, techniken waren u. a. an Hemingway orien- Höllerer u. Horkheimer, ist P. seit 1963 als tiert, weshalb man ihm im DDR-Schriftstel- freier Schriftsteller tätig. Er lebt in Hamburg. lerverband eine mit dem sozialist. Realismus Seine ersten Erzählungen, die Prosastücke unvereinbare »harte Schreibweise« vorwarf. des Bandes Herdenreiche Landschaften (Reinb. Die Folge waren Schreibhemmungen u. ein 1965), stehen in der Tradition des Nouveau Suizidversuch. P. verwarf das Manuskript ei- roman. Die Ich-Erzähler der Texte folgen der nes Produktionsromans, veröffentlichte aus punktuellen Anschauung, ohne Kenntnis den »Trümmern« den Band Wunderliche Ver- vom Zusammenhang der Einzelbeobachtunlobung eines Karrenmanns (Bln./DDR 1961). Zu gen. In den im Montageprinzip arrangierten seinen wichtigsten Arbeiten zählen die Romanen Rothschilds (Reinb. 1972) u. Die Kurzprosabände Kontrapunkte (Bln./DDR Gärten im März (Reinb. 1979 u. ö. Zuletzt Gött. 1968), Männer mit Frauen (Bln./DDR 1974) u. 2008) wird dieser phänomenolog. BeschreiAuszug des Verlorenen Sohnes (Lpz. 1982) sowie bungsgestus der Erzählungen abgelöst durch

Placcius

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ein gesellschaftskrit. Literaturkonzept: P. der Ich-Erzähler, ein »Reisender« mit autobemüht sich mit Hilfe einer kaleidoskopi- biogr. Zügen P.s, nur noch in einem Territoschen, offenen Erzählhaltung um eine Zu- rium, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. standsbeschreibung der westdt. Gesellschaft. In dem Roman Jahre unter ihnen (Gött. 2006) Mit Zitaten u. dokumentarischen Materialien radikalisiert P. das Erstarren des Erzählers rekonstruiert P. in Rothschilds die restaurative nochmals: Nach der Beschreibung der zuStimmungslage im Deutschland der Ade- nehmenden geistigen Umnachtung des Protnauerzeit. Der Ich-Erzähler in Die Gärten im agonisten, einem Verehrer Friedrichs II., fällt März schildert die Politisierung des Studen- schließlich auch der Erzähler selbst dem ten Ponto, der sich am Kampf gegen einen Wahnsinn anheim. mächtigen Zeitungsverleger u. GrundstücksWeitere Werke: Das Bein des Bergmanns Wu. spekulanten beteiligt. Ffm. 1971 (Ess.). – Boccherini u. a. Bürgerpflichten. Als Stipendiat der Villa Massimo verbrachte Reinb. 1976 (Ess.). – Die Umseglung v. Kap Hoorn P. 1971/72 einige Monate in Rom. Neben den durch das Vollschiff Susanne 1909 in 52 Tagen. sozialkrit. Erzähler trat zu dieser Zeit bereits Einmischungen aus 10 Jahren. Hbg. 1985 (Ess.). – zunehmend der polit. Essayist u. streitbare Herdenreiche Landschaft u. Aufspürung meiner Sorgen. Brackwede 1985 (P.). – Steinzeit. Notate Polemiker. Mit pointierten Essays, Glossen u. zur Nacht 1989–2002. Hann. 2003. – Heimat, Schriftstellerporträts, mit Plädoyers für eine schöne Fremde. Gesch.n u. Skizzen. Gött. 2010 (P.). linke Literatur voll Sinnlichkeit u. Fantasie Literatur: David Basker (Hg.): H. P. P. Cardiff interveniert P. in den intellektuellen Debat- 2000. – Thomas Kraft: H. P. P. In: LGL. – Stephan ten der 1970er u. 1980er Jahre, seit 1970 u. a. Reinhardt, Christiane Freudenstein u. Rainer Germit regelmäßigen Beiträgen in der Zeitschrift lach: H. P. P. In: KLG. »konkret«. Aus den 1970er Jahren stammt Michael Braun / Stefan Andres auch der 2007 veröffentlichte Briefwechsel mit Nicolas Born (Nicolas Born: Briefe Placcius, Vincent(ius), auch: Nicetas Spi1959–1979. Gött.). Im Prosaband Deutschland. lius, * 4.2.1642 Hamburg, † 1699 HamVersuch einer Heimkehr (Hbg. 1981) verbindet burg; Grabstätte auf dem Parkfriedhof in P. erzählerische u. essayist. Elemente: Bilder Ohlsdorf. – Philologe u. Lehrer; Biblioseiner Kindheit u. Jugend werden mit Reflegraf u. Autor der Historia litteraria. xionen über Literatur, Film u. Tourismus, mit Tagträumen u. Alltagsbeobachtungen Der Sohn des Hamburger Stadtarztes Johanverknüpft. Den ital. Dichter u. Exzentriker nes Placcius erhielt Privatunterricht u. beGabriele d’Annunzio erhebt P. im Roman Der suchte das Akademische Gymnasium JohanGranatapfel (Hbg. 1986 u. ö. Zuletzt Gött. neum in Hamburg als Schüler von Joachim 2007) zum Phänotyp des Zeitgeists im aus- Jungius (1587–1657) u. Heinrich Vaget gehenden 20. Jh. In witzig-iron. Tonfall lässt (1587–1659). 1659 ging er an die Universität er d’Annunzio als Schelmenfigur namens Helmstedt, wo er bes. bei dem Juristen JoGianbattista Taumaturga Episoden aus sei- hann von Felde studierte, u. danach 1661 nem Leben erzählen. nach Leipzig. 1662–1666 hielt er sich wähDer Zusammenbruch des Sozialismus in rend einer ausgedehnten Bildungsreise in Osteuropa u. die dt.-dt. Wende führen zu ei- verschiedenen Städten auf u. besuchte ital., ner Zäsur in P.s Schreiben. Der gesellschaft- frz. u. niederländ. Universitäten. Längere skrit. Impetus weicht zusehends einer von Zeit studierte er in Padua u. in Orléans, wo er Illusionen u. Utopien befreiten Gesell- mit einer Disputation De interpretatione legum schaftsbeschreibung. Der Roman Die Passi- 1665 den Titel eines Licentiatus juris erwarb. onsfrucht (Hbg. 1993) montiert neuerlich Mo- Nach seiner Rückkehr amtierte er zunächst tive aus d’Annunzios Leben mit literar. Zita- mehrere Jahre (1667–1675) als Advokat in ten u. Verweisen in der ellipt. Sprache eines Hamburg, ehe er 1675 als Prof. für prakt. zunehmend verstummenden Ich-Erzählers. Philosophie u. Rhetorik an das Akademische In den Episoden des Prosabandes Ein unver- Gymnasium berufen wurde. In einem ausgesöhnlich sanftes Ende (Hbg. 1998) bewegt sich dehnten Briefwechsel korrespondierte er

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über Jahrzehnte mit vielen Gelehrten Europas, z.B. mit dem Bibliothekar u. Polyhistor Antonio Magliabecchi in Florenz, mit Adrien Baillet in Paris, Bibliothekar u. selbst Verfasser u. a. eines Pseudonymenlexikons, mit Johann Friedrich Gronovius u. seinem Sohn Jakob in Leiden, mit Jakob Thomasius in Leipzig, mit Leibniz u. a. Eines seiner Hauptwerke, das Theatrum anonymorum et pseudonymorum, wurde vollständig erst nach seinem Tod von Matthias Dreyer u. Johann Albert Fabricius herausgegeben (Hbg. 1708); Fabricius versah die Ausgabe mit einer lat. Biografie des Verfassers. Werke: Orbis lumen et Atlantis iuga tecta retecta. Das ist: Newe außführl. Entdeckung u. Beschreibung der gantzen Welt. Ffm. 1656. 1659. – De scriptis et scriptoribus anonymis atque pseudonymis syntagma. Hbg. 1674. – De scriptoribus occultis detectis tractatus duo [...]. Hbg. 1674. – Typus accessionum moralium sive institutionum medicinae moralis [...]. Hbg. 1675. 1695. Erw. in dt. Übers.: Typus medicinae moralis. das ist, Entwurff einer vollst. Sitten-Lehre, nach art der leibl. Artzney-Kunst [...]. Ffm. 1685. – Philosophiae moralis plenioris fructus praecipuus qui est agnoscere illius ope, philosophiam non sufficere beatitati solidae ulli constituendae nedum acquirendae. Helmstedt 1677. – De augenda scientia morali commentarius in Francisci Baconis de Verulamio librum de dignitate et augmentis scientiarum septimum. Ffm. 1677. – Nicetas Spilius (Pseud.): Epistola curiosa super quaestionibus eruditis variis de tempore, videlicet de corpore juris. [Verona] 1681. – Diaeta moralis philosophicochristiana. Das ist christl. Sitten-Pflege [...]. Hbg./ Ffm. 1685. 1686. Erw. u. d. T.: Drey Tractätlein [...], das erste Die Sitten-Artzney-Kunst. Das zweyte Christl. Sitten-Pflege. Das dritte Gründl. Beweiß v. der menschl. Seelen [...]. Ffm. 1688. – Gründl. Beweiß, v. der menschl. Seelen Unsterblichkeit, aus dem bloßen Lichte der Natur [...]. Ffm. 1685. – Programma de discrepantia Aristotelicorum in designanda optima republica. Hbg. 1687. – De arte excerpendi. Vom gelahrten Buchhalten liber singularis [...]. Stockholm/Hbg. 1689. – Programma de Sinensibus vitae integritate virtutumque studio Christianos superantibus. Hbg. 1692. – Christian Thomasius: Quaestio an favorabilia et odiosa in materia de interpretatione definiri possint? Cum annotationibus V. Placcii. Hbg. 1693. – Epistolae duae ad Christianum Weisium de distinctione philosophiae a theologiae morali moralisque phi-

Planck losophiae necessitate et utilitate. In: Christian Weise: Epistolae selectiores. Bautzen 1716. Ausgaben: Atlantis retecta. Die wiederentdeckte Atlantis. Das erste nlat.-dt. Kolumbusepos. Hg. u. übers. v. Hermann Wiegand. Heidelb. 1992. – Markus Scheer: Die Argonauten u. Äneas in Amerika. Kommentierte Neued. des Kolumbusepos ›Atlantis retecta‹ v. V. P. u. Editio princeps, Übers. u. Komm. der ›Cortesias‹ v. Petrus Paladinus S.J. Paderb. 2007. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Jöcher. – Friedrich Lorenz Hoffmann: V. P. Seine Leistungen auf dem Gebiet der Bibliogr., der Anonymen u. Pseudonymen Schr.en. Nebst einem kurzen Abrisse seines Lebens u. Nachweis über seinen gelehrten Briefw. Lpz. 1857. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 6, Hbg. 1873, S. 60–66. – Emil Kappelhoff: P.’ Grab. In: Mitt.en des Vereins für Hamburgische Gesch. 3 (1880), S. 31. – Richard Hoche: V. P. In: ADB. – Johannes Lemcke: Vincent P. u. seine Bedeutung für die Anonymen- u. Pseudonymenbibliogr. Hbg. 1925. – Herbert Jaumann: Iatrophilologia. ›Medicus philologus‹ u. analoge Konzepte in der frühen Neuzeit. In: Philologie u. Erkenntnis. Beiträge zu Begriff u. Problem frühneuzeitl. ›Philologie‹. Hg. Ralph Häfner. Tüb. 2001, S. 151–176. – Martin Mulsow: Wissenspolizei. Die Entstehung v. Anonymen- u. Pseudonymen-Lexika im 17. Jh. In: Ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage u. Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stgt./Weimar 2007, S. 217–245. Herbert Jaumann

Planck, Max (Karl Ernst Ludwig), * 23.4. 1858 Kiel, † 4.10.1947 Göttingen. – Physiker. Nach dem Abitur am Maximiliansgymnasium in München studierte P. dort von 1874 an, seit 1878 in Berlin bei Hermann von Helmholtz u. Gustav Kirchhoff u. promovierte, wieder in München, 1879 über den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Nach der Habilitation war er 1880–1885 Privatdozent, dann a. o. Prof. in Kiel; 1889 wurde er Ordinarius in Berlin als Nachfolger Kirchhoffs. Seit 1894 Mitgl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, war er von 1912 bis 1938 deren ständiger Sekretär, der die Forschungsschwerpunkte entscheidend mitbestimmte. Darüber hinaus hatte P. großen Einfluss als Mitherausgeber der »Anna-

Planitz

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len der Physik«; so war er es, der seit 1901 die Gesellschaft; 1946 wurde er als gefeierter Arbeiten des noch unbekannten Einstein für praeceptor physicae der Ehrenpräsident diedie Zeitschrift zu begutachten hatte. P. ver- ser 1948 in Max-Planck-Gesellschaft umbeöffentlichte die erste wiss. Stellungnahme zur nannten Wissenschaftsinstitution. speziellen Relativitätstheorie u. verschaffte Ausgaben: Wiss. Selbstbiogr. Lpz. 1948. – VorEinstein 1914 eine hochdotierte Forschungs- träge u. Erinnerungen. Stgt. 1949. – Physikal. Abh.en u. Vorträge. Braunschw. 1958 (mit Bibliogr. stelle in Berlin. Im Dritten Reich stand der politisch kon- der wiss. Arbeiten). – Original Papers in Quantum servative, preuß. Idealen verpflichtete P. im Physics. London 1972 (zweisprachige Ausg.). Literatur: Bibliografie: M. P.: A Bibliography of Konflikt zwischen Loyalität gegenüber dem His Nontechnical Writings. Berkeley 1977. – Petra Staat u. innerem Widerstreben; P. entschied sich für partielle Kollaboration. Immerhin Hauke: Lit. über M. P. Bln. 2001. – Weitere Titel: Hans Kangro: Vorgesch. des P.schen Strahlungsverteidigte er in seiner Stellung als Präsident gesetzes. Wiesb. 1970. – Armin Hermann: M. P. der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1930–1938 Reinb. 1973. – Stanley Goldberg: M. P.s Philosophy die Naturwissenschaften gegen Versuche der of Nature. In: Historical Studies in the Physical Einflussnahme vonseiten der Deutschen Sciences 7 (1976), S. 125–160. – John Heilbron: The Physiker, etwa des Nobelpreisträgers von Dilemmas of an Upright Man. Berkeley 1986. – 1919, Johannes Stark. Dieter Hoffmann: P. In: NDB. – Astrid v. PufenP. ist der Begründer der Quantentheorie, dorf: Die Plancks. Eine Familie zwischen Patrioder wichtigsten physikal. Theorie dieses tismus u. Widerstand. Bln. 2006. – John L. Heil2 Jahrhunderts. Schon 1899 hatte er das »Wir- bron: M. P. Ein Leben für die Wiss. Stgt. 2006. – Dieter Hoffmann: M. P. Die Entstehung der mokungsquantum h« entdeckt, eine der fundadernen Physik. Mchn. 2008. mentalen Naturkonstanten, die u. a. die Klaus Hentschel / Red. Quantelung der Energie elektromagnet. Strahlung bestimmt. Ein Jahr später veröffentlichte P. seine Formel für die Verteilung Planitz, Ernst Edler von, * 3.3.1857 Nordieser Energiequanten in der Wärmestrahwich/Connecticut, † Febr. 1935 Berlin. – lung, die durch Experimente Otto Lummers Epiker u. Dramatiker. u. Ernst Pringsheims an der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt bestätigt wurde. Der Vater, ein schwäb. Gutsbesitzer, wanDen revolutionären Schritt, von dem Grund- derte mit der Familie 1848 nach Amerika aus. satz »natura non facit saltus« abzugehen u. Nach dessen Tod kehrte P. 1860 mit seiner die Energie als aus endl. Energieelementen Mutter zurück. In Paris u. München studierte zusammengesetzt zu denken, betrachtete P. er Philosophie, Literatur, Kulturgeschichte u. selbst als »einen Akt der Verzweiflung«. Für Archäologie, unternahm Studienreisen durch die Konsequenz, mit der P. diese Quantisie- Europa u. Afrika, worüber er als Auslandsrung einführte u. mit dem Kontinuitätsprin- korrespondent berichtete. 1890 wurde er zip brach, erhielt er 1920 den Nobelpreis für Chefredakteur der »Deutschen Warte«, später Physik. Das spätere Werk P.s war geprägt von freier Schriftsteller. Der entschiedene Gegner weiteren Studien über Probleme der Quan- des Naturalismus (vgl. sein Drama Sisyphustenstatistik u. von Versuchen, ein neues Geschlecht. Bln. 1905) wurde bekannt als EpiWeltbild zu gewinnen, das an die Stelle des ker, der histor. Stoffe u. Sagenstoffe in padurch Quanten- u. Relativitätstheorie abge- triotisch-idealisierender Form verarbeitete lösten klassisch-mechanistischen treten (Der Dragoner von Gravelotte. Mchn. 1886. Die könnte. Dabei scheute P. auch vor heftigen Weiber von Weinsberg. Bln. 1897). Die kultuKontroversen mit den Energetikern um Wil- relle Entwicklung kommentierte er durch helm Ostwald u. den Phänomenalisten um satir. Seitenhiebe (Die Hexe von Goslar. Bln. Ernst Mach nicht zurück, in denen sich P. als 1898). P. trat auch mit derben Studentenversen hervor (Verschämte Lieder. Bln. 1890). erkenntnistheoret. Realist profilierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte P. Weitere Werke: Der Esel vor Gericht. Bln. 1904 wieder die Geschäfte der Kaiser-Wilhelm- (Lustsp.). – Der geprellte Teufel. Bln. 1908 (Ep.).

255 Literatur: Richard Lobau: Spaziergänge mit P. [...]. Wittenb./Bln. 1925. – Johannes Schneiderhan: P. wie er lebt u. arbeitet. Wittenb. 1926. Wolfgang Weismantel / Red.

Plant, Johann Traugott, * 9.12.1756 Dresden, † 26.10.1794 Gera. – Schriftsteller, Lyriker, Romancier.

Platen

kenntniß« (S. 137). P.s Lyrik u. Verserzählungen entsprechen dem empfindsamen Geschmack. Noch nicht recht gewürdigt ist P.s Chronologischer, biographischer und kritischer Entwurf einer Geschichte der deutschen Dichtkunst und Dichter (1. Tl., Stettin 1782. BDL 17488): Er zählt, auch wenn lediglich der erste Band des auf vier Teile angelegten Werks erschienen ist (von »den ältesten Zeiten [...] bis auf Kaiser Maximilian I.«), neben Schmids Skizzen einer Geschichte der teutschen Dichtkunst (1781/ 82) zu den frühesten Versuchen einer dt. Literaturgeschichte.

P.s Leben ist nur umrisshaft bekannt: Er studierte in Dresden u. Leipzig u. wirkte als privater Ökonomie-Sekretär in adligen Diensten, bevor er Kgl. Preuß. Referendar in Stettin, dann Kgl. Preuß. Legationssekretär in Weitere Werke: Launenhafte, zärtl. u. moral. Hamburg war. Seit 1791 lebte er als Privat- Gedichte. Stettin 1782.  (an.) Die akadem. Liebe, oder Röschens u. Fritzchens Gesch. 2 Tle., Stettin gelehrter in Leipzig, ab 1793 in Gera. In seinen polit. Schriften zeigt sich P. als 1783 (BDL 15908).  Unpartheyische Charakteriskosmopolit. Aufklärer. Er präsentierte eine tik der Türk. Reichsverfassung u. des Verhältnisses statist. Publicistische Übersicht aller Regierungs- seiner Macht. Bln. 1790.  (an.) Schon wieder ein Kaiser aus dem Österr. Hause? o. O. 1790.  (an.) arten sämmtlicher Staaten und Völkerschaften auf Cupido’s Mobiliarverlosung. Bln. 1791 (BDL 9501). der Welt (Bln. 1787) u. bot in seinem Türkischen  Hdb. einer vollst. Erdbeschreibung u. Gesch. Staats-Lexicon (Hbg. 1789. Weißenfels u. Lpz. Polynesiens oder des fünften Erdtheils. Bd. 1: West2 1793. Nachdr. mit einer Einl. v. Klaus Krei- Polynesien, Lpz. 1792. Achim Aurnhammer ser. Melle 2005) ein vorurteilsfreies Bild der osman. Gesellschaft, v. a. der Ämterhierarchie. Neben dem Wissen über türk. Realien Platen, August von, eigentl.: Karl August machte P. die dt. Leser auch mit der moGeorg Maximilian Graf von Platen-Halhammedan. Dogmatik vertraut: Birghilu rijale, lermünde, * 24.10.1796 Ansbach, † 5.12. oder Elementarbuch der muhammedanischen 1835 Syrakus; Grabstätte: ebd., Garten Glaubenslehren (Istanbul u. Genf [d.i. Lpz.] der Villa Landolina. – Lyriker, Dramati1790). Möglicherweise verhinderten aber die ker. krit. Seitenhiebe auf die Dogmen der »jüdischen und christlichen Geschichtsschreiber« Ihres klingenden Namens ungeachtet war P.s einen größeren Bucherfolg. P.s aufkläreri- Familie, ursprünglich aus Norddeutschland scher Schelmenroman, Hirans komische Aben- stammend, nicht wohlhabend, wurde insoteuer und Wanderungen auf dem Welttheater (Gera fern auch nicht von der 1806 vollzogenen 1794), erläutert zwar im Untertitel seine li- Mediatisierung des Adels betroffen. P. war terar. Vorbilder (»Ein Kumpan des Faustins, das einzig überlebende Kind aus der zweiten Erasmus Schleichers, Paul Ysops und Johann Ehe des Oberforstmeisters des Markgrafen Bunckels«), greift aber das klass. Muster der von Ansbach-Bayreuth. Unter den gegebenen Gesellschaftskritik im Spiegel eines reisenden Umständen sah man es als eine gute KarrieFremden auf. Der Held Hiran, ein pers. Gra- rechance an, dass P., bis dahin weitgehend fensohn, muss auf seiner Reise durch Mor- von der Mutter erzogen, aufgrund guter Begen- u. Abendland erfahren, wie sehr sich die ziehungen in die Kadettenanstalt von MünWirklichkeit der Welt von den Idealen seiner chen (1808) aufgenommen wurde, die ihm Erziehung unterscheidet. Neben kirchl. manchmal wie ein »Käfig« vorkam. Der UnMissständen (»religiöse Farcen«) gehören tergang des Heiligen Römisches Reiches auch weltl. »Ungradheiten« wie die »Gallerie hinterließ bei ihm ein nachhaltiges Gefühl von Zuchthausdamen« (27. Kap.) oder ein der polit. »Zerstückelung«. Sein Außensei»Richter à la Hogarth« (34. Kap.) zu Hirans terbewusstsein – Protestant norddt. bzw. »lehrreiche[r] Schule der Menschen- fränk. Abstammung in Oberbayern – wurde

Platen

durch die langsam-qualvolle Entdeckung seiner homoerot. Veranlagung verschärft (»die ungeheure Gewißheit, daß mich die Natur bestimmt hat, ewig unglückselig zu sein«). Zwar verlief P.s Karriere äußerlich zunächst konventionell: 1810 Wechsel ins Münchner Pagenhaus, 1814/15 Teilnahme als Leutnant am Frankreich-Feldzug gegen Napoleon, 1818–1826 dank der guten Beziehungen zum bayerischen Hof Dienstbefreiung zum Studium in Würzburg u. Erlangen (v. a. Sprachen u. Literatur). Innerlich aber führten ein grübelnd-hypochondr. Naturell, Enttäuschung über die feudale Restauration, v. a. aber seine »bekämpfte Liebe« (auch den wenigen glückl. Beziehungen, u. a. zum jungen Justus Liebig, war keine Dauer beschieden) zur radikalen Desillusion. Schon 1816 heißt es apodiktisch: »Traum ist alles Irdischen Erscheinung, / Wahn ist jede liebende Vereinung, / Und was Wahrheit wir genannt, ist Meinung«. Im Anschluss an Goethes Tasso verstand er sich als »Opfertier«, als »gequältes Wesen«. Akribisches Protokoll seines Innenlebens sind die an Rousseaus Confessions anknüpfenden, von 1813–1835 geführten Tagebücher (Hg. Georg von Laubmann u. Ludwig von Scheffler. 2 Bde., Stgt. 1896 u. 1900. Neudr. Hildesh. 1969), aber auch ein Großteil seiner als »Beichte« verstandenen Lyrik: »Noch bin ich nicht so bleich, daß ich der Schminke brauchte, / Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!« Namentlich wegen des mangelnden Publikumserfolgs seiner frühen Dramen entwickelte der Student einen zum Teil paranoisch anmutenden Deutschland-Hass u. übersiedelte 1826 nach Italien, wo er mit wachsender Byron’scher Selbststilisierung (»Selten ruht mein pilgernder Stab«) ein rastloses Wanderleben bis zu seinem Tod führte. Ermöglicht wurde dieser Italienaufenthalt durch bescheidene Zuwendungen Ludwigs I. von Bayern sowie seines Tübinger Verlegers Cotta, zum Teil auch durch die Gastfreundschaft u. a. des wahlverwandten Giacomo Leopardi u. Carl Friedrich von Rumohrs. Schon früh beschäftigten P. Themen u. Visionen von Freiheit u. Flucht: Ab 1817 dachte er an Auswanderung nach Philadelphia, auch an Selbstmord; in den Frühlingsliedern (1835. In: Gesammelte

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Werke. 1839) ist die unterschwellige Todessehnsucht unüberhörbar. Ob P. an den Folgen eines Sturzes, an der Cholera oder an dem Gegengift starb, das er sich aus Angst vor der Cholera verabreichte, bleibt ungewiss, aber Thomas Mann spricht treffend von einem »Vorwand des Todes«. P.s erste – nicht erhaltene – Arbeiten waren als Dramen gedacht. Zeitlebens legte er auf die »höheren Gattungen« Drama u. Epos weit größeren Wert als auf die Lyrik. Dies entsprach auch seiner Verehrung für Tasso u. Ariost, also die rinascimentalen Größen der epischen Großdichtung, u. der im 19. Jh. keineswegs erschütterten Popularität der Versepik. Bis auf Die Abbassiden (in: Vesta, 1833. Buchausg. 1835), ein fantast. Epos mit oriental. Kolorit, geschrieben in der Nachfolge Wielands u. oft angelehnt an die Märchen aus tausend und einer Nacht, wurde allerdings keiner der ehrgeizigen epischen Pläne vollendet. Im Drama brachte P. es weiter. Dank Anregungen seines Gönners Schelling verlegte er sich in den frühen 1820er Jahren auf die Produktion von vermeintlich publikumswirksamen Theaterstücken v. a. in der Nachfolge Tiecks. Bemerkenswert ist Der Schatz des Rhampsinit (1825. In: Schauspiele. 1828), eine Tragikomödie, die sich mit denen Grabbes u. Büchners vergleichen lässt. Literarhistorisch am bedeutendsten sind seine zwei »Literaturkomödien«. Sowohl Die verhängnißvolle Gabel (1826), die die Müllner’sche Schicksalstragödie ad absurdum führt, als auch Der romantische Oedipus (1829), der den vermeintlich trivialen »Hyperromantiker« Nimmermann (Immermann) hölzern persifliert, sind der Aristophanischen Komödie streng nachgebildet u. machten Schule (Robert Eduard Prutz: Die politische Wochenstube. 1845). Dass P. beim Verfassen des zweiten Stücks, das ihm wegen mehrerer antisemit. Ausfälle Heines lange nachwirkende bitterböse P.-Karikatur in den Bädern von Lucca eintrug, fast keine Zeile Heines oder Immermanns kannte, dass alle drei auch stilist. Gemeinsamkeiten aufweisen, bestärkt Hans Mayers These: »hier kämpfen Außenseiter miteinander«. Auf trag. Weihen wollte P. bis zuletzt nicht verzichten (Arbeit an einer Tristan-Tragödie): Das Scheitern in den »ob-

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jektiven« Gattungen hängt wohl damit zusammen, dass P. (wie sein Antipode Heine) ein betont subjektiver Dichter war. Der verhinderte Dramatiker glänzte dagegen als Balladendichter: Manche seiner melanchol. Selbstprojizierungen, z.B. Der Pilgrim vor St. Just u. Das Grab im Busento, gehörten noch bis ins 20. Jh. zur Pflichtlektüre in dt. Schulen. P.s lyr. Frühwerk zeichnet sich durch eine auch für die damalige Zeit außerordentl. Formenvielfalt aus. Neben Balladen u. Ovid verpflichteten Heroiden, in denen sich sein Liebeskummer in verfremdeter Form niederschlug, sind Experimente mit dem gesamten Repertoire klass. u. romanischer Metren überliefert. Den Liedern (v. a. bis 1823) fehlt das Frisch-Fröhliche des romant. Lieds; früh macht sich das Bestreben deutlich, seine – unerlaubten – Gefühle hypochondrisch zu analysieren. Auch wenn P. die dt. Liederdichtung um neue Töne bereicherte (z.B. in der Romanze Wie rafft’ ich mich auf in der Nacht, in der Nacht, deren eigentümlich ruhiger Rhythmus die »pochende Reue« im Herzen des lyr. Ichs andeutet), wurde der Zwang zur Tarnung unerträglich, der aus dem männl. Geliebten ein »Konstänzchen« machen ließ (Küsse und Jahreszeiten), der ihn auch zur Flucht in andere Sprachen bewegte, in denen er u. a. Federigo (auf Französisch) u. Adrast (auf Spanisch) direkt preisen durfte. Schon Thomas Mann hat darauf hingewiesen, dass P. sein Eigenstes in Gattungen lieferte, in denen die homoerot. Liebe gleichsam »legitimiert« ist – im pers. Ghasel, im Renaissance-Sonett, in der klass. Ode. Das bedeutet allerdings nicht, dass in diesen lange als »undeutsch« verschrienen Formen P.s geschlechtsspezif. Liebesleiden vorherrschend wäre. In den Ghaselen (v. a. 1821–1823) sowie in den frühen Sonetten (1819–1823) verlieh er vornehmlich seinem Weltschmerz verbindlich-exemplarischen Ausdruck – so im Nichts-Ghasel z.B. mit seiner auffallenden Schopenhauer-Nähe (»Vergeßt, daß euch die Welt betrügt, und daß ihr Wunsch nur Wünsche zeugt«) oder in den Sonetten Wer wußte je das Leben recht zu fassen (von Benn bewundert) u. Wem Leben Leiden ist und Leiden Leben. Die Bilderwelt erinnert an die desillusionierter Zeitgenossen wie Büchner u. Heine

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(»Fliehst du zu den Sternen? Sterne sind nur Flocken, / Die nicht schmelzen können in den kalten Lüften.«). Die späteren Sonette, u. a. Venedig (1824), ein 17 Sonette umfassender poetolog. Zyklus, v. a. aber die antikisierende Dichtung, die 1826 nach der Übersiedlung nach Italien einsetzte, sind dagegen eher von der Mäßigungsästhetik geprägt, die P. u. a. der Lektüre Winckelmanns verdankte. Diesen Klassizismus verband P. allerdings weniger mit der ästhetisch-historisierenden Disziplinierung im Sinne der »Münchner Schule«, sondern verstand ihn oft genug als Kompensation für seine emotionale Erregung (»Süße Melancholie mäßigt den Liebesbrand [...]«). Die Oden- u. Idyllendichtung der ausgehenden 1820er Jahre, die erste Frucht von P.s Begegnung mit der »Unbefangenheit« Italiens, zelebriert in erster Linie den erfüllten Augenblick – in der Landschaft (Florenz, In Genua, Der Vesuv im Dezember 1830), aber auch in der Liebe (Warm und hell dämmert in Rom die Winternacht). Pessimistische Töne fehlen aber auch hier keineswegs, nicht einmal in der neotheokrit. Idylle Die Fischer auf Capri, einem Meisterwerk des Früh- bzw. Detailrealismus, in dem das einzig Idyllische im Leben der »dürftigen Fischer« in der rhythm. Wiederkehr des Gleichen besteht (»ímmer das / Nétz aus / wérfen, es / éinziehn; / wíeder es / trócknen«); auch nicht in Bilder Neapels mit seiner scharfen Kapitalismus-Kritik (»Käuflich alles, die Sache, der Mensch, und die Seele selbst«), oder in Amalfi, einer Gratwanderung zwischen Gegenwartsfeier u. eleg. Vergänglichkeitsbewusstsein (»Doch wer kann, da die Zeit hinrollt, festhalten die Schönheit? / Schweige davon! Rings gähnt, wie ein Schlund, die gewisse Zerstörung«). In der ital. Zeit schuf P. auch ein bedeutendes epigrammat. Werk, das es durchaus mit dem Grillparzers oder Hebbels aufnehmen kann (ein Monodistichon heißt z.B: »Denken ist ruhmvoll, doch stört es zugleich die Verdauung; / Deshalb triffst du so manch herrlichen Magen in Wien.«). In den letzten Lebensmonaten entstanden v. a. seine »Hymnen im pindarischen Geist«, erstmals ein scheiternder Versuch, sich eine fremde Form zu eigen zu machen: Im Vergleich zu Hölderlins Vaterländischen Gesängen wirken die Festgesänge –

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trotz ergreifender Passagen über P.s Urthemen Verlust u. Freiheit – schwerfällig-epigonal. Aufgrund selektiven Zitierens kann man, wie der George-Kreis, P. zum Nur-Ästheten hochstilisieren (»Und wenn ich sterbe, sterb’ ich für das Schöne«). Er schrieb aber schon ab 1810 auch polit. Gedichte. Die nach der JuliRevolution 1830 – in polem. Abgrenzung zum apolit. Altmeister Goethe – entstandenen antiabsolutist. Oden (u. a. Herrscher und Volk), aber auch die erst 1839 aus Zensurgründen in Straßburg gedruckten Polenlieder, in denen P. sich mit den Opfern der Willkür in einer schlichten, ja »kunstlosen« Sprache solidarisiert, bilden den Kern seiner Leistung im Zeitraum von 1830 bis 1835. Die satir. Schärfe – »Der ist fürwahr von Allen, die den Thron rieben / Mit ihrem Steiß, der wunderlichste Machthaber!« (Auch ein König) – machte Schule: Nicht ganz zutreffend, aber doch nicht ohne histor. Anhalt lautet der Befund Franz Mehrings: »Ohne Platen kein Herwegh und kein Freiligrath!« Dabei war sich der republikanisch Gesinnte so sehr im Klaren wie der junge Büchner, dass solcher Idealismus an der »materiellen Macht« des feudalen Establishments scheitern würde. P.s im Grunde trag. Vision auf seine Sexualität zu reduzieren, griffe also zu kurz; nicht von ungefähr deutete er sein Schicksal auch in seiner Grabschrift politisch: »Ich war ein Dichter und empfand die Schläge / Der bösen Zeit, in welcher ich entsprossen [...].« Wilhelm Waiblinger, mit dem P. in Rom verkehrte, hielt ihn (1828 an Schwab) »für einen der allergeistreichsten, und der Form nach, den allergrößten Dichter unserer jetzigen Zeit«. Mittlerweile haben sowohl die sich abzeichnende wertfreie Einstellung zu P.s Homosexualität (z.B. Hubert Fichte, Hans van Hülsen) als auch die Erkenntnis, dass P.’sches Pathos so legitim ist wie Heine’sche Ironie (Jürgen Link), seiner Lyrik wie den Tagebüchern zu neuer Aktualität verholfen. Ausgaben: Gedichte. Stgt./Tüb. 1828. 21834. – Sämtl. Werke. Hg. Max Koch u. Erich Petzet. 12 Bde., Lpz. 1910. Neudr. Hildesh. 1969. – Werke. Hg. Jürgen Link. 1 Bd., Mchn. 1983. – Briefe: Briefw. Hg. Ludwig v. Scheffler u. Paul Bornstein. Bde. 1–4. Mchn./Lpz. 1911–31. Neudr. Hildesh.

258 1973. Bd. 5 (mit Nachträgen u. Namensregister). Hg. Peter Bumm. Paderb. u. a. 1995. – Memorandum meines Lebens. Eine Ausw. aus den Tagebüchern. Hg. Gert Mattenklott u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Ffm. 1988. – Tagebücher. Ausw. u. Nachw. v. Rüdiger Görner. Zürich 1990. – ›bleibe ich doch wunderbar unglücklich‹. A. v. P.s Aufenthalt in Würzburg 1818–19 u. seine Liebe zu Adrast. Tagebücher – Gedichte – Briefe. Hg. Christian Mücke. Würzb. 1993. – ›Wer die Schönheit angeschaut mit Augen...‹. Ein Lesebuch. A. v. P. Hg. R. Görner. Mchn. 1996. Literatur: Bibliografie: Fritz Redensbacher: P.Bibliogr. Hildesh. 2001. – Gesamtdarstellungen, Biografien u. Sammelwerke: Rudolf Schlösser: A. v. P. 2 Bde., Mchn. 1910 u. 1913. – Thomas Mann: A. v. P. (1930). In: Ders.: Leiden u. Größen der Meister. Bln. 1935. – Kurt Wölfel: P.s ›Poetische Existenz‹. Diss. Würzb. 1951. – Jürgen Link: Artist. Form u. ästhet. Sinn in P.s Lyrik. Mchn. 1971. – Friedrich Sengle: A. v. P. In: Ders.: Biedermeierzeit. Bd. 3, Stgt. 1980, S. 415–467. – Richard Dove: The ›Individualität‹ of A. v. P. Ffm./Bern 1983. – Hubert Fichte: ›Deiner Umarmungen süße Sehnsucht‹. Die Gesch. der Empfindungen am Beispiel der Schr.en des Grafen A. v. P.-H. Tüb. 1985. – Peter Bumm: A. Graf v. P. Paderb. 1990. – Henning Klüver: Spurensuche in Sizilien. A. v. P. Sein Leben u. die Legende seines Sterbens. In: Zibaldone 11 (1991), S. 96–103. – A. G. v. P. Ausstellungskat. Hg. Gunnar Och. Erlangen 1996. – J. Link: Heines Antipode. Der Lyriker P. in neuer Sicht. In: Forum Homosexualität (1996), H. 27, S. 7–67. – Hartmut Bobzin u. Gunnar Och (Hg): A. G. v. P. Leben – Werk – Wirkung. Paderb. u. a. 1997. – Hans van Hülsen: Den alten Göttern zu. Ein P.-Roman. Hbg. 2002. – G. Och: P. In: NDB. – Forschungsbericht: Günter Häntzschel: A. v. P. In: Zur Lit. der Restaurationsepoche 1815–48. Hg. Jost Hermand u. Manfred Windfuhr. Stgt. 1970, S. 108–150. – Einflüsse: Rudolf Unger: P. in seinem Verhältnis zu Goethe. Bln. 1903. – Hanns Jobst: Über den Einfluß der Antike auf die Dichtung P.s. Mchn. 1928. – Hans Wilhelm Fischer: Die Ode bei Voss u. P. Diss. Paderb. 1960. – Ahmed Hammo: Die Bedeutung des Orients bei Rückert u. P. Diss. Freib. i. Br. 1971. – Wilhelm Kühlmann: Dulder u. Heros. Tasso in der dt. Lyrik des 19. Jh. In: Tasso in Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Bln. 1995, S. 205–249. – Platen u. Heine: Hans Mayer. Der Streit zwischen Heine u. P. In: Ders.: Außenseiter. Ffm. 1975 u. ö., S. 207–223. – J. Hermand: Heine contra P. Zur Anatomie eines Skandals. In. H. H. u. das 19. Jh. In: Signaturen. Argument-Sonderband 1986, S. 108–120. – Robert Steegers: ›Indezent und de-

259 goutant zugleich‹. – Intertextuelles in Heines ›Romanzero‹ am Beispiel A. v. P. In: Heine-Jb. 42 (2003), S. 59–72. – Wirkungen: Heinrich Mersmann: P. u. George. Diss. Kiel 1952. – Hans-Joachim Teuchert: A. G. v. P. in Dtschld. Bonn 1980. – Frank Busch. A. G. v. P. – Thomas Mann. Zeichen u. Gefühle. Mchn. 1987. – Wolfgang Popp: Der Dichter u. seine Gemeinde. P. in literar. Texten seiner Verehrer Hans v. Hülsen, Albert H. Rausch, Hubert Fichte. In: Forum Homosexualität (1996), H. 27, S. 105–129. – Themen/Einzelstudien: Karl Steigelmann: P.s Ästhetik. Diss. Mchn. 1925. – Wolfgang Adam: Sehnsuchts-Bilder. Antike Statuen u. Monumente in P.s Lyrik. In: Euph. 80 (1986), S. 363–389. – Klaus Sommerhage: P.-H.s Platonismus. Über eine romant. Aporie in den ›Romanzen und Jugendliedern‹ A. v. P.-H.s. In: Jb. der JeanPaul Gesellsch. 22 (1987), S. 127–154. – Matthias Pape: A. v. P.s ›Klaglied Kaiser Otto des Dritten‹ (1834). Histor. Bild u. ästhet. Gehalt. In: LitJb. 44 (2003), S. 147–172. – Venedig: Paul Requadt: P.s Venedig. In: Ders.: Bildlichkeit der Dichtung. Mchn. 1974. – Horst Thomé: P.s Venedig-Sonette im Hinblick auf die Römischen Elegien Goethes. Überlegungen zum histor. Ort des ›BiedermeierÄsthetizismus‹. In: Zwischen Goethezeit u. Realismus. Hg. Michael Titzmann. Tüb. 2002, S. 11–38. – Pantheismus/Skeptizismus: Walter Weiss: A. v. P. In: Ders.: Enttäuschter Pantheismus. Dornbirn 1962. – Politik: Hans-Georg Werner: Gesch. des polit. Gedichts in Dtschld. v. 1815 bis 1840. Bln./DDR 1969. Richard Dove / Wilhelm Kühlmann

Platner, Ernst, * 11.6.1744 Leipzig, † 27.12.1818 Leipzig. – Professor für Physiologie u. praktische Philosophie, Arzt, Forensiker, Anthropologe u. Metaphysiker. Als Sohn des europaweit berühmten Professors für Chirurgie Ernst Zacharias Platner war P. für die medizin. Laufbahn, die er mit dem Medizinstudium in Leipzig 1762 begann, geradezu prädestiniert. Den intellektuellen Zeitströmungen entsprechend, studierte P. zusätzlich Philosophie, da dieser Disziplin seit 1750 mehr u. mehr die Stellung einer Leitwissenschaft zugeschrieben wurde. P. schloss die Ausbildung beider Fächer mit einer Habilitation ab, sodass er Professuren in diesen Disziplinen anstrebte u. auch erhielt: Der a. o. Professur für Physiologie im Jahre 1770 folgte – allerdings erst 1780 – eine ordentliche; u. der a. o. Professur für prakt.

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Philosophie 1801 eine ordentliche im Jahre 1812. Schon früh aber transformierte P. die zeitgenössisch zumeist methodische Korrelation zwischen den Disziplinen Philosophie u. Medizin in ein systemat. Verhältnis ihrer Gegenstände: Körper u. Seele. Der Promotion De vi corporis in memoria (Lpz. 1767), die einem influxis physicus im Bereich der vermögenspsychologisch betrachteten Erinnerung nachging, folgte die Anthropologie für Aerzte und Weltweise (Lpz. 1772. Neudr. Hildesh. 1997), die P. mit einem Schlage berühmt machte. In diesem Grundlegungstext für die Anthropologie der Spätaufklärung wurde die empir. Erfassung des Commercium mentis et corporis zum Fundament aller Theorie über Wissen u. Handeln des Menschen erhoben, mithin zu einer Theologie u. Metaphysik ablösenden theoria univeralis: »Der Mensch ist weder Körper noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden; und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jenen einschränken, wie der Moralist auf diese.« (ebd.). P. hat sich im Laufe seiner intellektuellen Biografie von dieser auf einem Locke’schen Empirismus basierenden Fundamentalanthropologie abgewandt, weil er immer deutlicher erkannte, dass das Körper-Seele-Problem mit empir. Mitteln nicht zu lösen ist. Insbes. seine lebenslange Absicht, eine naturwissenschaftlich-medizin. Methodologie mit dem von ihm unbestrittenen metaphys. Axiom einer Unsterblichkeit der Seele zu vermitteln, ließ ihn immer stärker zu Formen des Wolff’schen oder Leibniz’schen Rationalismus greifen, der in den späten Werken auch in ethischen Kontexten wirksam wurde. Noch die Herausforderungen der Transzendentalphilosophie Kants, denen P. sich mit großer Energie stellte, suchte er mit den Mitteln eines Locke, Wolff u. Leibniz kombinierenden Konzepts aus Metaphysik, Epistemologie u. Moralphilosophie zu überwinden. Die Anthropologie veränderte in diesem theoriegenet. Prozess ihren Status erheblich: Von einer Grundlagenwissenschaft für alles Wissen u. Handeln wurde sie zum Exemplifikationsmoment der prakt. Philosophie herabgestuft (Philosophische Aphorismen. Tl. 2, Lpz. 21800).

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P. hielt zwischen 1767 u. 1818 nicht nur Platter, Platerus, Felix, * Ende Okt. 1536 Vorlesungen über Physiologie u. Anthropo- Basel, † 28.7.1614 Basel. – Verfasser von logie, sondern auch in den Fächern Chirurgie biografischen Selbstzeugnissen, mediziu. Moralphilosophie, Logik, Metaphysik u. nischen Schriften, Reisebeschreibungen Psychologie sowie Forensik u. – schon seit u. Gelegenheitslyrik. den 1770er Jahren – Ästhetik. Sein bis in die 1790er Jahre außergewöhnl. Lehrerfolg, der Der Sohn des durch seine Autobiografie beseine Vorlesungen weit über Leipzig hinaus rühmt gewordenen Thomas Platter besuchte berühmt machte, war nicht nur in seinem 1551 das Pädagogium, ab 1552 die Universigeschliffenen, freien Vortragstil gegründet, tät seiner Geburtsstadt. Im selben Jahr noch sondern auch in seinem Interesse u. seiner wechselte er an die Medizinische Fakultät von Fähigkeit, neue u. neueste Theorieströmun- Montpellier, wo er schwerpunktmäßig Anagen aufzunehmen, zu reflektieren u. ggf. tomie studierte. Nach dem Erwerb des Bacweiterzuentwickeln. So war er nach Alexan- calaureats 1556 kehrte er nach Basel zurück u. der Baumgarten u. Georg Friedrich Meier heiratete die Schererstochter Magdalena Jeeiner der ersten Hochschullehrer, die Vorle- ckelmann. 1557 wurde P. zum Dr. med. sungen über »Ästhetik als Wissenschaft« promoviert u. begann seine berufl. Existenz hielten; seine Anthropologie war ein euro- als praktizierender Arzt. Seine nebenher paweiter Erfolg in Wissenschaft, Literatur u. ausgeübte Lehrtätigkeit an der Universität Kunst, u. mit seiner psychologischen u. an- Basel, wo er 1562 als Dekan u. 1570 als Rektor thropolog. Verwissenschaftlichung der Fo- amtierte, brachte ihm 1571 die Ernennung rensik trug er die rechtsprakt. Ideen der zum Professor für prakt. Medizin ein. Zgl. Aufklärung bis weit ins 19. Jh. wurde ihm das Amt des Stadt- u. Spitalarztes Weitere Werke: Der Professor. o. O. u. J. [Lpz. übertragen. Der Ruhm seiner medizinischen 1773]. Nachdr. Hann. 2007. – Philosoph. Aphoris- Erfolge führte P. als ärztl. Berater an die men, nebst einigen Anleitungen zur philosoph. Fürstenhöfe von Brandenburg, Baden, SachGesch. Tl. 1, Lpz. 1776. 21784. 31793. – Philosoph. sen u. Württemberg sowie an den Hof König Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosoph. Gesch. Tl. 2, Lpz. 1782. 21800. – Neue An- Heinrichs IV. von Frankreich. Seine über weite Passagen in Tagebuchthropologie für Aerzte u. Weltweise. Lpz. 1790. – Quaestiones physiologicarum. Lpz. 1794. – Lehr- form gekleidete Selbstbiografie, die der Zeit buch der Logik u. Metaphysik. Lpz. 1795. – Quae- bis 1564/65 gewidmet ist, stellte der reforstiones medicinae forensis. Lpz. 1824. – Vorlesun- matorisch gesinnte P. 1612 auf der Grundlage gen über Aesthetik. Hg. Moriz Erdmann Engel. sukzessiv entstandener Aufzeichnungen u. Zittau/Lpz. 1836. Briefe zusammen. Neben ihrer Bedeutung als Literatur: Alexander Kosˇ enina: E. P.s Anthro- zeit- u. kulturhistor. Quelle ist P.s Lebensbepologie u. Philosophie. Der ›philosophische Arzt‹ schreibung bes. wegen der die Umwelt psyu. seine Wirkung auf Johann Karl Wezel u. Jean Paul. Würzb. 1989. – Ders.: P. In: NDB. – Hans- chologisch erfassenden DarstellungsperspekPeter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. tive des Mediziners interessant. SchriftstelleAufklärungsanthropologien im Widerstreit. Bln./ risches Talent u. musische Begabung dokuNew York 2003. – Guido Naschert u. Gideon Stie- mentiert P. auch in Ereignisberichten über ning (Hg.): E. P. (1744–1818). Konstellationen der Reisen zu Adelsfesten (Hochzeit, Taufe), die Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin u. An- 1577 u. 1598 unternommen wurden, u. in thropologie. Hbg. 2007. Gideon Stiening Gelegenheitsdichtungen, z.B. über Begebenheiten aus der schweizerischen Geschichte. Mit seinen die Ergebnisse praktizierter Medizin einschließenden fachliterar. Schriften (De corporis humani structura et usu. Basel 1583. Praxeos medicae opus. 3 Bde. Basel 1602–08. Observationes in hominis affectibus plerisque. Basel 1614) stellt P. sich in die von Andreas

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Vesalius begründete Tradition der modernen Anatomie u. der medizinischen Morphologie. Ausgaben: Observationes. Krankheitsbeschreibungen. Übers. v. Günther Goldschmidt. Hg. Heinrich Buess. Bern/Stgt. 1963. – F. P. Tgb. (Lebensbeschreibung) 1536–67. Hg. Valentin Lötscher. Basel 1976. – F. P. Beschreibung der Stadt Basel (1610). Pestbericht (1610–11). Hg. ders. Basel 1987. Literatur: Rose Hunziker: F. P. als Arzt u. Stadtarzt in Basel. Zürich 1939. – Horst Wenzel: Die Autobiogr. des späten MA u. der frühen Neuzeit. Bd. 2, Mchn. 1980, S. 187–209. – Ulrich Tröhler: F. P. (1536–1614) in seiner Zeit. Basel 1991. – Emmanuel Le Roy Ladurie: Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie P. im Zeitalter der Renaissance u. der Reformation. Stgt. 1998. – Stephan Pastenaci: Der ›Traum‹ vom eigenen Leben. Autobiogr.n der Frühen Neuzeit als Kompensation traumat. Lebenserfahrungen. In: Die Psychohistorie des Erlebens. Hg. Ralph Frenken u. Martin Rheinheimer. Kiel 2000, S. 256–269. – Ders.: P. In: NDB. – Casimir Bumiller: Die ›Selbstanalysen‹ des Arztes F. P. (1536–1614). Ebd., S. 303–324. – Katharina Huber: F. P.s ›Observationes‹. Basel 2003. – Huldrych M. F. Koelbing: F. P. In: HLS. Elke Ukena-Best

Platter, Platerus, Thomas, * 10.2.1499 Grächen/Wallis, † 26.1.1582 Basel; Grabstätte: ebd., Kreuzgang des Münsters. – Verfasser einer Autobiografie. Bis zum Alter von zehn Jahren lebte der Sohn eines früh verstorbenen Bergbauern als Ziegenhirt im Walliser Saastal. Danach zog er mit seinem Vetter Paulus Summermatter mehrere Jahre als fahrender Schüler, der seinen Lebensunterhalt erbetteln musste, durch Polen u. Ungarn, über Meißen nach Schlesien, Schwaben u. Bayern. Erst ab 1517 konnte P. sein Studium des Lateinischen u. Griechischen beginnen, zunächst bei Johann Sapidus in Schlettstadt, dann bes. bei Oswald Myconius in Zürich. Dort wandte P. sich unter dem Einfluss Huldrych Zwinglis der Reformation zu. Bei Theodor Bibliander erlernte er auch das Hebräische; zeitgleich ließ er sich von Rudolf Collinus im Seilerhandwerk ausbilden. Nach einer Tätigkeit als Seiler in Basel, wo ihm durch Johann Oporinus auch ein Lehrauftrag für Hebräisch vermittelt wurde,

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nahm P. am ersten Kappelerkrieg teil. 1529 kehrte er nach Zürich zurück u. heiratete Anna Dietschi, die Magd des Myconius, mit der er vier Kinder bekam. Einem Zwischenaufenthalt im altgläubigen Wallis folgte eine Hilfslehrertätigkeit in Basel, sodann der Dienst beim bischöfl. Leibarzt Epiphanias Venetus in Puntrut bis zu dessen Pesttod. Wiederum in Basel, wurde P. als Griechischlehrer am Pädagogium u. als Korrektor in der Druckerei Hervagius beschäftigt. 1534 erhielt er das Bürgerrecht. Die mit Johann Oporinus, Ruprecht Winter u. Balthasar Ruch gemeinsam gegründete, später allein geführte Druckerei gab er auf, als er 1541 vom Stadtrat in das Amt des Leiters der Schule »auf der Burg« eingesetzt wurde. Nach dem Tod seiner Frau 1572 schloss P. mit der Pfarrerstochter Esther Groß eine zweite Ehe, aus der sechs Kinder hervorgingen. 1578 trat er, ausgestattet mit einer städt. Pension, in den Ruhestand. P.s Sohn Felix, von dem ebenfalls eine Autobiografie vorliegt, veranlasste den Vater zu einer 1572 vollendeten Beschreibung seines wechselvollen Lebens. Mit diesem Werk schuf P. eine zeit-, sozial- u. kulturgeschichtl. Quelle von hohem Zeugniswert. Gerade die Subjektivität persönlichen Erlebens in der chronologisch geführten Darstellung seines Aufstiegs vom Analphabeten zum humanist. Gelehrten vermittelt, ohne die Stilisierungskriterien der typischen Gelehrtenbiografie, vielfältige, für die Realitätserschließung des 16. Jh. wichtige Erkenntnisse. Aufgrund der selbstbewusst-individuellen Prägung, der Wirklichkeitsnähe u. der Anschaulichkeit seiner Ereignisschilderung kommt diesem Lebensbericht im literar. Gattungskontext der volkssprachigen Autobiografie der frühen Neuzeit eine Sonderstellung zu. Auch P.s teils deutsch, teils lateinisch geschriebene Briefe an seinen Sohn Felix, die in der Geschichte der dt. Briefliteratur eine wichtige Position einnehmen, sind als Zeit- u. Persönlichkeitsdokumente aufschlussreich. Ausgaben: T. P. u. Felix Platter. Zwei Autobiogr.n. Hg. D[aniel] A[lbert] Fechter. Basel 1840. – T. P.s Briefe an seinen Sohn Felix. Hg. Achilles Burckhardt. Basel 1890. – T. P. Hirtenknabe – Handwerker – Humanist. Die Selbstbiogr. 1499–1582. Hg. Heinrich Boos. Nördlingen 1989. –

Plavius Le siècle des Platters 1499–1628. Bd. 2: Le voyage de T. P., 1595–99. Hg. u. übers. Emmanuel Le Roy Ladurie. Paris 2000. – T. P. Lebensbeschreibung. Hg. Alfred Hartmann. Basel 1944. Erg. v. Ueli Dill. 3 2006. Literatur: Horst Wenzel: Die Autobiogr. des späten MA u. der frühen Neuzeit. Bd. 2, Mchn. 1980, S. 136–186. – Bettina Walden: Kindheit u. Jugend, Erziehung u. Bildung im 16. Jh. am Beispiel v. T. P. u. Bartholomäus Sastrow. Wien 1993. – Emmanuel Le Roy Ladurie: Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie P. im Zeitalter der Renaissance u. der Reformation. Stgt. 1998. – Stephan Pastenaci: Der ›Traum‹ vom eigenen Leben. Autobiogr.n der Frühen Neuzeit als Kompensation traumat. Lebenserfahrungen. In: Die Psychohistorie des Erlebens. Hg. Ralph Frenken u. Martin Rheinheimer. Kiel 2000, S. 256–269. – Ders.: P. In: NDB. – Platteriana. Beiträge zum 500. Geburtstag des T. P. (1499–1582). Hg. Werner Meyer u. Kaspar v. Greyerz. Basel 2002. – S. Pastenaci: Die Autobiogr. des Basler Schulrektors T. P. im Blickfeld der neuesten Forschungsansätze. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 30 (2006), S. 102–119. – Jeannette Glaue: Kindheit in der Autobiogr. v. T. P. Saarbr. 2008. – Britta Juliane Kruse: Vom Elend ins Glück. Die Überwindung v. Armut durch Bildung in den Selbstzeugnissen Johannes Butzbachs (um 1505) u. T. P.s (1572). In: Ökonomie der Armut. Soziale Verhältnisse in der Lit. Hg. Elke Brüns. Mchn. u. a. 2008, S. 43–60. Elke Ukena-Best

Plavius, Johannes, * um 1600 Neuhaus (?)/Thüringen, † nach 1630. – Lateinischdeutscher Dichter, Schulbuchautor. P.s Leben ist nur umrisshaft bekannt: Bislang gelang es nicht, den Ort »Nehusa« in Thüringen zu bestimmen, in dem er um 1600 geboren wurde. P. studierte im Wintersemester 1621 in Frankfurt/O.; spätestens seit 1624 lebte er in Danzig. Dort leitete P., der sich seit 1626 »Magister« nannte, eine private Schule, die u. a. der Dichter Michael Albinus besuchte. Durch Heirat verschwägerte er sich mit Johann Georg Moeresius u. umwarb in zahlreichen dt. u. lat. Gelegenheitsgedichten Gönner in der Danziger Bürgerschaft. Brieflich machte 1629 Johann Mochinger, seit 1630 Prof. der Rhetorik am Danziger Gymnasium, Martin Opitz auf P. als dessen »Verehrer und Nachahmer« aufmerksam. Seit 1630 fehlt von P. jede weitere Spur. Dies ist

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umso erstaunlicher, bedenkt man, wie sehr ihn noch Mitte des 17. Jh. bedeutende dt. Barockdichter lobend erwähnten, zitierten oder nachahmten (Ernst Christoph Homburg, Philipp von Zesen, Georg Philipp Harsdörffer, Wencel Scherffer von Scherffenstein, Andreas Tscherning u. Andreas Gryphius). Erst das ausgehende 17. Jh. (Gottfried Wilhelm Sacer u. Erdmann Neumeister) distanzierte sich von P.s Diminutivreimen u. metr. Lizenzen. P.s dt.-lat. Schaffen ist noch unzureichend gewürdigt. Kaum berücksichtigt wurden seine lat. Schriften, zu denen neben Gelegenheitsgedichten zwei wichtige Lehrbücher gehören: die Praecepta logicalia (Danzig 1628), eine Einführung in die aristotel. Logik, u. die Institutio poetica compendiosissima (Danzig 1629), eine späthumanist. Regelpoetik nach dem Muster des Julius Caesar Scaliger. Sie besteht aus einer method. Verslehre u. einem systematischen gattungspoet. Teil. P.s humanist. Prägung wurde bisher kaum beachtet, dabei wirft sie auch ein Licht auf sein poetisches Werk, das lat. u. dt. Gedichte vereint: Die dreiteilige Sammlung aus dem Jahre 1630, von der nur zwei unvollständige Exemplare überliefert sind, besteht aus Treugedichten, Trawrgedichten u. hundert Lehrsonnetten. Die bislang maßgebl. Referenzausgabe ist der von Heinz Kindermann herausgegebene Nachdruck der Trauer- und Treugedichte (in: Danziger Barockdichtung. Lpz. 1939). P.s Lyrik zeichnet sich durch innovative u. versatile Formenvielfalt aus: So erneuerte er antike Odenformen (sein »Deutsches Sapphicum« ist die erste dt. sapphische Ode), gebrauchte er den Daktylus vor Buchner u. ahmte er in modischen Tanzliedern die avancierte niederländ. Dichtung (Cats, Starter) nach. Doch v. a. wertete P. das Sonett als ernste Strophenform auf. Seinem großen Zyklus christlich-stoischer Lehrsonnette folgten die bekannten Sonettzyklen eines Diederich von dem Werder (Krieg und Sieg Christ, 1633) und Andreas Gryphius ([Lissaer] Sonette, 1637) nach. Weitere Werke: Zahlreiche Gelegenheitsgedichte (Nachweise bei Aurnhammer 2005).

263 Literatur: Achim Aurnhammer: Barocklyrik aus dem Geist des Humanismus: Die Sonette des J. P. In: Kulturgesch. Preußens kgl. poln. Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann u. Klaus Garber. Tüb. 2005, S. 801–826. Achim Aurnhammer

Der Pleier. – Verfasser dreier Artusromane, deren Entstehungszeit zwischen 1240 u. 1270 anzusetzen ist. Reimuntersuchungen zu den überlieferten Werken des P. machen ihre Entstehung im bayerisch-österr. Sprachgebiet wahrscheinlich. Der Name Pleier, in der Form literar. Selbstnennungen bezeugt, ist einerseits als Familienname im Salzburgischen nachweisbar, andererseits bezeichnet er mhd. den Beruf des Schmelzmeisters u. könnte so, als »sprechender Autorname«, metaphorisch auf die Tätigkeit des Dichtens bezogen sein. Die Entstehung der drei Artusromane gilt in der Abfolge Garel von dem blühenden Tal – Tandareis und Flordibel – Meleranz als relativ gesichert: Der Rekurs auf Handlungsmomente des Garel im Tandareis bestimmt den Beginn der Werkreihe; für die spätere Einordnung des Meleranz gegenüber dem Tandareis sprechen sowohl eine fortschreitende Verfeinerung der Reimtechnik als auch das Verfahren des literar. Schema- u. Motivzitats, wonach Passagen aus Garel u. Tandareis den Erzählbestand des Meleranz variierend auffüllen u. durch solche Wiederholung obligater Muster die Gattungstypik des Artusromans in ihrem Verbindlichkeitsanspruch demonstrieren. Der in zwei Handschriften überlieferte Garel des P. (Linz, Oberösterr. Landesarchiv, Archiv Schlüsselberg, Hs. 96 [L] u. Fragmente einer Meraner Hs. [M], Berlin, mfg 923, Nr. 18) ist nach Handlungskonzeption u. zentraler Thematik Strickers Daniel von dem blühenden Tal verpflichtet. Vor allem die Verbindung einer auf den Protagonisten bezogenen Aventiurehandlung mit dem Kampfmodell der Schlacht zwischen verfeindeten Heeren erscheint beibehalten: Garel hat den Auftrag übernommen, das Land des Königs Ekunaver von Kanadic auszuspähen, der einen Rachefeldzug gegen König Artus vorbereitet. Auf

Der Pleier

seinem Weg nach Kanadic besteht der Held nach dem Leitbild idealer Artusritterschaft glanzvoll eine Reihe von Abenteuern, die ihm mit dem Sieg zgl. den Gewinn von Hilfstruppen für Artus’ Kampf gegen Ekunaver garantieren. So kann er, bevor Artus mit seinem Heer eintrifft, die Schlacht gegen den Feind für sich entscheiden u. zuletzt noch als Friedensstifter zwischen Artus u. Ekunaver fungieren. Die experimentelle Neuorientierung des Strickers gegenüber dem Angebot der Gattungstradition – v. a. sein Handlungskonzept der »list« im Sinne intellektueller Entscheidungskompetenz – hat der P. im Garel entschieden zurückgeführt auf die »normativen« Vorgaben der höf. Klassik. Auch das Thema der Minne-Ehe wird im Garel wieder in seiner zentralen Funktion für den Selbstgestaltungsprozess des Helden bestätigt. Im Tandareis (5 Hss. u. zwei tschech. Bearbeitungen des 15. Jh.) entfaltet der P. die Minnehandlung nach einem Romantypus, den vor ihm schon Rudolf von Ems im Willehalm von Orlens aus einer frz. Vorlage bezogen hatte: Vom Eröffnungsschema des Artusromans unterschieden, setzt die Minnebindung hier vor der ritterl. Kampfbewährung, sogar noch vor der Schwertleite des Helden ein. Die gesellschaftl. Isolation des Paars u. alle späteren Komplikationen resultieren aus diesem Defizit an ritterlich-höf. Legitimation. Beim P. ist dieses Handlungsmodell eines Minneromans, das zur trag. Kollision konkurrierender Verpflichtungen führt, vielfach kombiniert mit Erzählmotiven u. Strukturelementen der hochhöf. Artusdichtung: Die heiml. Liebesbeziehung zwischen Tandareis u. Flordibel, einer ind. Prinzessin, ereignet sich am Artushof, wo der Held zur ritterl. Ausbildung weilt. Flordibel aber hatte Artus’ Zusage erwirkt, dass kein Ritter für die Dauer ihres Aufenthalts am Hof sie zur Frau begehren dürfe. Dem drohenden Loyalitätskonflikt versuchen die Minnenden sich durch Flucht zu entziehen. Artus’ Zorn ist auch durch die Vermittlung von Tandareis’ Vater nicht zu besänftigen. Ein Heer wird aufgeboten, um die verlorene Ehre des Königs wiederherzustellen. Obwohl Tandareis aus den Kämpfen gegen die Artusritter siegreich

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hervorgeht u. sich selbst vor Gericht zu stattet worden, die Szenen aus dem Garel des rechtfertigen vermag, muss er zur Aussöh- P. darstellen. nung das Land verlassen u. freiwillig auf Ausgaben: Garel von dem blühenden Tal: Hg. MiAventiurensuche gehen. Nach langer Aben- chael Walz. Freib. i. Br. 1892. – Hg. Wolfgang teuerfahrt kehrt er zurück, um sich uner- Herles. Wien 1981. – Tandareis und Flordibel: Hg. kannt auf drei Turnieren, die König Artus in Ferdinand Khull. Graz 1885. Nachdr. Innsbr. 2007. Lover abhalten lässt, als bester Ritter zu be- – Meleranz: Hg. Karl Bartsch. Stgt. 1861. Nachdr. Hildesh./New York 1974. währen. Das Wiedersehen mit Flordibel u. die Literatur: Peter Kern: Die Artusromane des P. huldvolle Wiederaufnahme durch Artus erBln. 1981 (grundlegend; Lit.). – Ders.: Der P. In: VL füllen Tandareis’ glanzvollen Aufstieg. Der (Lit.). – Christoph Cormeau: ›Tandareis und FlorRoman endet mit der Hochzeit des Minne- dibel‹ v. dem P. In: Positionen des Romans im paars u. dem Gewinn der Herrschaft über die späten MA. Hg. Walter Haug. Tüb. 1991, S. 39–53. eroberten Länder Malmontan u. Mermin. – Danielle Buschinger: Ein Dichter des Übergangs. Auch im Meleranz (eine Papierhs. von 1480; Einige Bemerkungen zum P. In: Dies.: Studien zur Schreiber Gabryel Lindenast) hat der P. auf dt. Lit. des MA. Greifsw. 1995, S. 235–243. – Frank keine einheitl. Vorlage zurückgegriffen, son- Roßnagel: Die dt. Artusepik im Wandel. Die Entdern die artusromanhafte Überformung u. wicklung v. Hartmann v. Aue bis zum P. Stgt. 1996. – Roland Franz Roßbacher: Artusroman u. HerrStilisierung eines Stoffs vorgelegt, der urspr. schaftsnachfolge: Darstellungsform u. Aussagekadem Typus eines Feenmärchens nach der Art tegorien in Ulrichs v. Zatzikhoven ›Lanzelet‹, Strides Lai de Graelent zugehörte: Auf dem Weg zu ckers ›Daniel von dem blühenden Tal‹ u. P.s ›Garel seinem Oheim Artus verirrt sich der junge von dem blühenden Tal‹. Göpp. 1998. – Günther Meleranz u. gelangt auf den Anger der schö- Zimmermann: Neue Helden, alte Gefahren? Zur nen Tydomie, der jungfräul. Landesherrin Konfliktstrukturierung beim P. In: FS Helmut von Kamarie. Die Minnebegegnung führt Birkhan. Bern u. a. 1998, S. 734–753. – Rosemary E. hier aber zu keinem trag. Widerspruch zwi- Wallbank: Three Post-Classical Authors: Heinrich v. dem Türlin, Der Stricker, Der P. In: The Arthur schen »Minnerolle« u. »Gesellschaftsrolle«. of the Germans. Hg. W. H. Jackson u. S. A. RanaMeleranz verlässt von sich aus Tydomie, um wake. Cardiff 2000, S. 81–97. – Heiko Fiedlerden Artushof zu erreichen, an dem er bis zu Rauer: Arthurische Verhandlungen: Spielregeln seiner Schwertleite bleibt. Seine Rückkehr der Gewalt in P.s Artusromanen. Heidelb. 2003. – zur Minnepartnerin führt über einen dreifach Wolfram Baier: Die Kriegserklärung in P.s ›Garel gestuften Aventiurenweg. Meleranz’ Befrei- von dem blühenden Tal‹. Mchn. 2007. Wolfgang Walliczek / Markus Wennerhold ungstaten bestätigen seine höf. Idealität u. legitimieren ihn für die repräsentative Minneehe mit Tydomie, die er in der SchlusserPlenzdorf, Ulrich, * 26.10.1934 Berlinfüllung des Romans erreichen kann. Erneut rekurriert der P. hier auf das Re- Kreuzberg, † 9.8.2007 bei Berlin. – Szepertoire der für die Artusromane typischen narist, Dramatiker, Erzähler. Handlungsstationen, Erzählmotive u. Dar- P.s Eltern, aktive Mitglieder der KPD – der stellungsschemata. Die Verfügbarkeit literar. Vater arbeitete als Maschinenbauer u. fotoTraditionen demonstriert er in seinem Ver- grafierte für die »Arbeiter-Illustrierte Zeifahren, Personal u. Schauplätze seiner Werke tung« –, wurden während der NS-Zeit verimmer wieder an die hochhöf. Erzählwelt folgt u. zeitweise inhaftiert. P. besuchte die anzuschließen u. so eine epische Totalität zu reformpädagogisch orientierte »Schulfarm suggerieren. Scharfenberg« in Himmelpfort. AnschlieDie Artusromane des P. haben sowohl Ul- ßend studierte er drei Semester Philosophie richs von dem Türlin Willehalm als auch den in Leipzig, arbeitete 1955–1958 als BühnenWigamur u. Konrads von Stoffeln Gauriel von arbeiter bei der DEFA, leistete freiwilligen Muntabel deutlich beeinflusst. Im Sommer- Wehrdienst u. studierte 1959–1963 an der haus von Schloss Runkelstein bei Bozen ist DDR-Filmhochschule in Babelsberg. Seine um 1400 ein Saal mit Wandbildern ausge- Abschlussarbeit war das Szenarium zu Mir

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nach, Canaillen! (1963/64. Nach Eine Sommerabenddreistigkeit v. Joachim Kupsch. Verfilmt 1964 v. Ralf Kirsten). Seit 1964 war P. Szenarist bei der DEFA. Er erhielt u. a. 1973 den Heinrich-Mann-Preis. Die Akademie der Künste Berlin ernannte P. 1992 als ständiges Mitgl. in der Sektion Film- u. Medienkunst. P., der zunächst Texte für ein Leipziger Hochschulkabarett schrieb, erzählt in seinem ersten Filmszenarium, Karla (1965/1990. Regie: Hermann Zschoche), dessen Endschnitt wegen skeptizist. Grundhaltung vom 11. Plenum des ZK der SED verboten wurde, die Geschichte einer naiv-ehrlichen, scheiternden Lehrerin in der DDR. 1968/69 entwarf er die erste Szenarienversion von Die neuen Leiden des jungen W.; die Prosafassung wurde zuerst in »Sinn und Form« (H. 3, 1972) abgedruckt, danach entstanden eine Bühnenfassung (Urauff. Halle 1972), eine im Schluss veränderte Buchausgabe (Rostock u. Ffm. 1973), ein Hörspiel (BR, HR, SDR 1974) u. eine Spielfilmproduktion (1975. Regie: Eberhard Itzenplitz). In der Sprache der DDR-Jugend erzählt P. von dem Versuch der Selbstverwirklichung des 17-jährigen Lehrlings Edgar Wibeau: Begeistert von Jeans u. Jazz, protestiert er gegen die Bevormundung durch Mutter u. Lehrmeister; er flüchtet aus der Provinz in eine Berliner Gartenlaube, verliebt sich unglücklich, entdeckt in Goethes Werther eine Parallele zu seinem Leben u. kommt schließlich beim Experimentieren mit einem elektr. Farbspritzgerät um. Die Hauptfigur, eine Art Holden Caulfield (Salinger: Der Fänger im Roggen) der DDR, bewegt sich abwechselnd in einer Kommentar- u. einer Handlungsebene u. bringt das Lebensgefühl der in der DDR geborenen u. aufgewachsenen Jugendlichen, den offiziell totgeschwiegenen Konflikt zwischen der Aufbaugeneration u. ihren Kindern, zum Ausdruck. Die DDR-Öffentlichkeit erkannte die Brisanz dieser ersten Anti-Helden-Figur der DDR-Literatur: Die älteren DDR-Bürger sahen in Edgar Wibeau einen verhaltensgestörten Zeitgenossen, viele Jüngere erkannten in ihm ihr Ebenbild. 1974/75 war P.s Bühnenversion der Neuen Leiden das meistgespielte Gegenwartsstück in beiden dt. Staaten, bis heute wurde das Buch

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in mehr als 30 Sprachen übersetzt u. über 4 Mio. Mal verkauft. In dem Szenarium zu dem Film Die Legende von Paul und Paula (1973. Regie: Heiner Carow. Buchausg. Bln./DDR u. Ffm. 1974) verbindet P. wiederum eine politisch-realist. Milieubeschreibung mit romantisch-sentimentalist. Ideen: Die alleinerziehende Verkäuferin Paula liebt den verheirateten Funktionär Paul. Der Arzt warnt vor einem dritten Kind, aber Paula, die kompromisslos ihr Glück sucht, missachtet die Warnung u. stirbt bei der Geburt des Kindes. Zusätzlich getragen wird der Film von später zu Kult gewordener Musik, vertont von den Puhdys, getextet von P. selbst. Die Fortsetzung dieses Filmszenariums in Romanform (Legende vom Glück ohne Ende. Ffm./Rostock 1979), in der Paul durch eine pragmatische, vom Staat geschickte Paula-Figur namens Laura geheilt werden soll, dennoch aber Paulas unbedingtes Glücksverlangen auf sich überträgt, war weniger erfolgreich (Urauff. der Bühnenversion Schwedt 1983). Obwohl von der Kritik stark beachtet u. 1978 mit dem IngeborgBachmann-Preis ausgezeichnet, erschien der Text kein runter, kein fern vorerst nur im Westteil Deutschlands (1973. Buchausg. Ffm. 1984. Hörsp. SDR 1987. Urauff. Deutsches Theater Berlin 1990) – der Stammelmonolog eines behinderten Ostberliner Jugendlichen, der, vom Stasi-Vater verraten, vom PolizistenBruder geschlagen, den Auftritt der »Rolling Stones« auf dem Dach des Westberliner Springer-Hochhauses erwartet, während im Hintergrund die offiziösen Lobsprüche zum 20. Jahrestag der DDR aus dem Radio dröhnen. Über sich selbst sagend, er sei kein Buch- u. kein Schrift-, sondern ein Bildmensch, wandte sich P. ab den 1990er Jahren hauptsächlich der Film- u. Fernseharbeit zu. 1995 wurden P.s Drehbücher zur vierten Staffel der Fernsehserie Liebling Kreuzberg (1992/93, Folgen 28–40. Regie: Werner Masten) mit dem Adolf-Grimme-Preis prämiert. In diesen verortet P. die Kanzlei des unkonventionellen Anwalts, u. damit auch die Begebenheiten u. Fälle, in den Osten Berlins. Ohne dabei ostalgisch zu werden, schließt P.s künstlerische Auseinandersetzung auch immer seine per-

Plepelic´

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sönl. Erfahrung mit DDR-Vergangenheit u. den Jahrhundertweg‹. Urauff. Bln./DDR 1986. – Wiedervereinigung ein. Zus. mit Frank Beyer Freiheitsberaubung. Nach der gleichnamigen Erschrieb P. das Szenario zu Manfred Krugs zählung v. G. de Bruyn. Urauff. Bln./DDR 1988. tagebuchartigem Zeitdokument Abgehauen Ffm. 1990. – Reform, Revolte, Revü (Politrevue). Urauff. Stuttgart 1995. – Der König u. sein Narr. (1998. Regie: F. Beyer). 1976, gemeinsam mit Urauff. Potsdam 2001. anderen DDR-Intellektuellen, sprachen sich Ausgaben: Filme I. Rostock 1986. – Filme 2. Beyer, Krug u. P. gegen die Ausbürgerung Rostock 1988. – Filme. Ffm. 1989. Wolf Biermanns aus. Für P. bedeutete dieser Literatur: Bibliografie: Arnim-Thomas Bühler: Protest den Ausschluss aus der SED u. dem U. P. Personalbibliogr. 1970–93. Gießen 1996. – Vorstand des Schriftstellerverbandes. In der Weitere Titel: Ilse H. Reis: U. P.s Gegen-Entwurf zu Filmfassung werden Original-Tonbandmit- Goethes ›Werther‹. Bern 1977. – Peter J. Brenner schnitte der legendären Petitions-Sitzung mit (Hg.): P.s ›Neue Leiden des jungen W.‹. Ffm. 1982 neu gedrehten Szenen zusammengebracht. (enth. Urfassung v. 1968/69). – Siegfried Mews: U. Oft sind es literar. Vorlagen, die P. für seine P. Mchn. 1984. – Gudrun Klatt: U. P. In: Lit. der Szenarien adaptierte u. so einem großen DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 3, Bln./DDR Fernsehpublikum zugänglich machte, z.B. 1987. – Manfred Behn-Liebherz: P. In: KLG. – Der Trinker (1995. Regie: Tom Toelle, Haupt- Hans-Jürgen Schmitt: U. P. In: LGL. – Stiftung Archiv der Akademie der Künste: U. P. Archivrolle: Harald Juhnke, nach Hans Fallada), von blätter 10. Film- u. Medienkunst 4. Bln. 2004. – den 1940er Jahren in die Wendezeit verlagert, Astrid Köhler: Brückenschläge: DDR-Autoren vor u. Der Laden (Dreiteiler. 1997/98. Regie: Jo u. nach der Wiedervereinigung. Gött. 2007. Baier, nach Erwin Strittmatter). Zahlreiche Konrad Franke / Josephine Kujau spätere Drehbücher P.s blieben unverfilmt, er widmete sich verstärkt dem Übersetzen u. Plepelic´, Zvonko, * 30.11.1945 (offiziell nahm Lehraufträge, z.B. 1994 am Literatur1.1.1946) Zagreb/Jugoslawien. – Lyriker, institut in Leipzig, an.

Erzähler, Übersetzer.

Weitere Werke: Gutenachtgesch. Ffm. 1983. – Freiheitsberaubung. Bln./DDR 1988. – Berliner Gesch.n. Ffm. 1995 (hg. mit Klaus Schlesinger u. Martin Stade). – Ich sehn mich so nach Unterdrückung. Songs, Chansons, Moritaten – gebrauchte Lieder. Rostock 2004. – Übersetzungen: Die ohne Segen sind. Ravensburg 2000 (Roman v. Richard Van Camp). – Dreckige Engel. Bln. 2004 (Roman v. R. Van Camp). – Szenarien: Weite Straßen, stille Liebe. Nach Motiven der Erzählung v. Hans-Georg Lietz. 1968. Regie: Hermann Zschoche. – Kennen Sie Urban? Nach der Zeitungsserie ›Berichte aus den 60er Jahren‹ v. Gisela Karau. 1971. Regie: Ingrid Meyer-Reschke. – Karla. Der alte Mann, das Pferd, die Straße. Texte zu Filmen. Bln./DDR 1978. Ffm. 1980. – Glück im Hinterhaus. 1980. Regie: H. Zschoche (nach Günter de Bruyn). – Insel der Schwäne. 1983. Regie: H. Zschoche (nach Benno Pludra). – Ein fliehendes Pferd. 1984/85. Regie: Peter Beauvais (nach Martin Walser). – Der Fall Ö. 1989/90. Regie: Rainer Simon (nach Franz Fühmann). – Der Verdacht. 1990/91. Regie: Frank Beyer (nach Volker Braun). – Das andere Leben des Herrn Kreins. 1993. Regie: Andreas Dresen (nach Dusan Kovacevic). – Bühnentexte: Buridans Esel. Urauff. Lpz. 1975. Nach dem gleichnamigen Roman v. G. de Bruyn. – Ein Tag, länger als ein Leben. Nach Tschingis Aitmatows Roman ›Der Tag zieht

P. kam mit seinem Vater, der Jugoslawien aus polit. Gründen verlassen hatte, als Zwölfjähriger in die Bundesrepublik. Er machte 1965 das Abitur in Stuttgart u. studierte Slawistik in Berlin. 1973 schloss er sein Studium mit der Promotion im Fachbereich Linguistik ab. Nach der Ausbildung als Bibliothekar arbeitete er in der Staatsbibliothek Berlin. P. veröffentlichte Erzählungen u. Gedichte in dt. u. kroat. Sprache in Zeitschriften, Gedichtsammlungen u. im Rundfunk u. übersetzte Gedichte (so von Miodrag Pavlovic´ u. Neda Miranda Blazˇevic´) aus dem Kroatischen. Seine Lyrik, in knapper u. präziser Sprache, oft mit iron. Distanz geschrieben, analysiert u. kritisiert gesellschaftl. Missstände, insbes. zur Situation von Ausländern. Wissenschaft u. Technik werden ebenso thematisiert wie Minderheitenprobleme allgemein u. »Gutbürgerliches«. Werke: Jedem das Seine oder auch nicht. Bln. 1978 (L.). – Du kommen um sieben. Bln. 1980 (L.). – Martas Kimono. Worms 1992 (Kurzgesch.n). – Ein Tisch muss her. Zagreb/ Bln. 1997 (Groteske). Irmgard Ackermann

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Pleschinski, Hans, * 23.5.1956 Celle. – Romancier, Satiriker u. Essayist.

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den USA einen symbolischen Warnschuss abzufeuern, wobei die »Brabant« mit ihren zahlreichen, höchst unterschiedl. Passagieren geradezu als ein »Narrenschiff« geschildert wird. Eine Hamburger Sozialarbeiterin, 42 Jahre alt u. Single, steht auf ihrer Kurzreise nach Teneriffa im Mittelpunkt des Romans Leichtes Licht (Mchn. 2005). Mit dem umfangreichen, in einem Luxusaltersheim am Starnberger See angesiedelten episoden- u. figurenreichen Werk Ludwigshöhe (Mchn. 2008) legt P. eine Art Schelmenroman vor, obwohl die alte Villa eigentlich als Selbstmörderhospiz dienen sollte u. tatsächlich zahlreiche ursprünglich Lebensmüde angelockt hat.

Der Sohn eines Schmiedemeisters wuchs in Wittingen in der Lüneburger Heide auf. Hier ist auch sein autobiogr. Buch Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (Mchn. 1993) angesiedelt. In München studierte er Germanistik, Romanistik u. Theaterwissenschaften. Er arbeitete für Galerien u. Bühnen u. verfasst nun als freier Autor in München u. a. auch Hörfunkessays zu literar- u. kulturhistor. Themen. Für seine Werke erhielt P. mehrere Förderpreise; 2008 wurde er mit dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Sein 1984 in Zürich erschienener Erstlingsroman, Gabi Lenz. Werden & Wollen. Ein Weitere Werke: Aus dem Briefw. Voltaire – Dokument, ist eine vergnüglich zu lesende Friedrich der Große. Hg., vorgestellt u. übers. v. H. Satire auf den gegenwärtigen Literaturbe- P. Zürich 1992. – Byzantiner u. andere Falschtrieb. Im selben Jahr erschienen auch der Sa- münzer. Elf Lichter im Dunkel. Ffm. 1997 (Ess.s). – tireband Frühstückshörnchen (Siegen), der frü- Ich werde niemals vergessen, Sie zärtlich zu lieben. here Zeitungsveröffentlichungen zusam- Madame de Pompadour. Briefe. Übers. u. hg. v. H. menfasst, sowie der umfangreiche komisch- P. Mchn. 1999. – Zerstreuung. Span. Novelle. Mit satir. Schelmenroman Nach Ägyppten (Zürich). einem Nachw. v. Matthias Politycki. Zürich 2000. – Im Mittelpunkt steht der Abiturient Frank, Bildnis eines Unsichtbaren. Mchn. 2002 (R.). – Verbot der Nüchternheit. Kleines Brevier für ein der auf einer spontanen Reise durch halb besseres Leben. Mit einem Nachw. v. Sibylle LeEuropa kleinere u. z.T. unglaubl. Abenteuer witscharoff. Mchn. 2007. Walter Olma erlebt. Der ebenfalls in vielen Szenen kom. Roman Pest und Moor. Ein Nachtlicht (Zürich 1985) Plessen, Elisabeth Gräfin, * 15.3.1944 spielt im Jahr 1348, als die Pest droht. Die Neustadt/Holstein. – Erzählerin, EssayMarkgräfin Irene aus Pommern wird im istin, Lyrikerin, Übersetzerin. Traum in die Neuzeit entführt, wobei ihr die Adlige Herkunft u. ihre auf Schloss Sierhagen Elektrizität, Desinfektion u. Antibiotika als in Schleswig-Holstein verbrachten Kinder- u. Rettung nahegelegt werden. Das zwischen Jugendjahre sind die Folien für P.s ersten erzählendem u. kulturhistorisch-essayist. Roman Mitteilung an den Adel (Zürich/Köln Schreiben changierende Büchlein Der Holz- 1976). Als einen von Erinnerungen, Monolovulkan. Bericht einer Biographie (Zürich 1986) gen u. Dialogen getragenen Selbstfindungssetzt dem kunstfreundl. Herzog Anton Ulrich prozess beschreibt die Protagonistin Augusta, von Braunschweig und Wolfenbüttel († 1714) ausgehend von der Auseinandersetzung mit ein Denkmal. ihrem verstorbenen Vater, ihre Ablösung von In dem dicken, ambitionierten Buch Bra- der Welt des Adels in Deutschland. P.s Roman bant. Roman zur See (Ffm. 1995) erfahren die reiht sich damit in die sog. »Väterliteratur« Mitglieder eines europ. Kulturvereins bei ih- ein u. ist zgl. ein herausragendes Beispiel der rer regelmäßigen Tagung im Flämischen auf Neuen Subjektivität. einer als Hotel zurechtgemachten Fregatte Für ihren zweiten Roman Kohlhaas (Zürich/ aus dem 19. Jh. von einem geplanten Disney- Köln 1979) wählte P. die Form einer biogr. Park an histor. Stätte in Rom. Empört über Annäherung an eine histor. Figur, die im diesen erneuten rücksichtslosen amerikan. Kern ein klärendes Zwiegespräch mit dem Kulturimperialismus, stechen sie mit dem eigenen, problemat. Ich beschreibt. Indem sie abgetaktelten Schiff kurzerhand in See, um in sich Kohlhaas ganz bewusst subjektiv nähert

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u. ihn psychologisiert, macht sie den histor. lung an den Adel‹. In: European Memories of the Hans Kohlhase lebendiger u. begreifbarer, Second World War. Hg. Helmut Peitsch. New York nimmt ihm aber auch die Unbedingtheit u. 1999, S. 211–219. – Klaus Schuhmann: ›Die arge Spur, in der die Zeit von uns wegläuft‹: BegegRadikalität der Kleist’schen Figur. nungen mit Kleist im letzten Jahrhundertdrittel. Neben literaturwissenschaftlichen PubliIn: WB 47 (2001), S. 418–432. – Ingeborg Baumkationen schreibt die promovierte Autorin gartner: E. P. In: Multicultural Writers since 1945: Fernsehspiele (z.B. nach Thomas Manns An A-to-Z Guide. Alba Hg. Amoia u. Bettina Knapp. Zauberberg) u. seit den 1980er Jahren übersetzt Westport 2004, S. 416–420. – Kathryn Jones: Conu. bearbeitet sie v. a. Theaterstücke von versations with the Father in E. P.’s ›Mitteilung an mehreren englischsprachigen Autoren (u. a. den Adel‹, B. Vesper’s ›Die Reise‹ and Patrick MoShakespeare, Hemingway u. Pinter). 2004 dicino’s ›Les Boulevards de ceinture‹. In: Journeys erschien die Erzählung Lina (Gifkendorf) – of Remembrance. Leeds 2007, S. 90–113. Clemens Ottmers / Petra M. Bagley die Geschichte einer toskan. Bäuerin, die ihren alten Mann bis zur Selbstaufgabe umsorgt – u. im gleichen Jahr der autobiogr. Plessner, Helmuth, * 4.9.1892 Wiesbaden, Roman Das Kavalierhaus (Köln), der sich wie † 12.6.1985 Göttingen; Grabstätte: Erdie Vorgeschichte ihres Erstlingswerkes liest, lenbach bei Zürich. – Philosoph u. Sozioindem er das Psychogramm einer unglückl. loge. Internatsschülerin, Elisabeth, während der 1950er Jahre mit einem pointierten Zeitbild Nach dem Studium der Zoologie u. Philosoder Adenauer-Ära verknüpft. Heute lebt P. phie, u. a. bei Hans Driesch in Heidelberg u. Edmund Husserl in Göttingen, lehrte P. seit abwechselnd in Berlin u. in der Toskana. Weitere Werke: Fakten u. Erfindungen. Zeit- 1920 in Köln Philosophie u. Soziologie. 1933 genöss. Epik im Grenzgebiet v. fiction u. nonfic- wegen jüd. Abstammung entlassen, fand er tion. Diss. Mchn. 1971. – Über die Schwierigkeit, Zuflucht in den Niederlanden u. wurde 1936 einen histor. Roman zu schreiben. Zürich/Köln Gastprofessor, 1939 o. Prof. in Groningen. 1979. – Zu machen, daß ein gebraten Huhn aus der 1951 übernahm er einen Lehrstuhl in GötSchüssel laufe. Zürich/Köln 1981 (E.en). – Stella tingen (1960/61 Rektor). Nach der EmeritiePolare. Ffm. 1984 (R.). – Lady Spaghetti. Ffm. 1992 rung lehrte er 1962/63 als Theodor-Heuss(E.en). – Der Knick. Mchn. 1997 (R.). – Ich sah uns Professor in New York, danach bis 1972 in dort in der Ferne gehen. Stgt. 2008 (G.e mit Zürich. Aquarellen v. Leiko Ikemura). – Herausgeberin: Katja P. ist mit Max Scheler der Begründer der Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Ffm. modernen philosoph. Anthropologie. Bereits 1974 (zus. mit Michael Mann). – Auf ein Neues. Vor die Einheit der Sinne (Bonn 1923. 21965) entu. zurück in Beziehungen. Reinb. 1987. – Peter Zadek: Menschen Löwen Adler Rebhühner. Thea- warf eine Strukturtheorie der menschl. Person in ihren Beziehungen zur Welt. Umfasterregie. Köln 2003 (zus. mit P. Zadek). Literatur: Roland H. Wiegenstein: Eine Kor- sender behandelt P.s Hauptwerk Die Stufen des 3 rektur. E. P.s Roman ›Kohlhaas‹. In: Merkur 33 Organischen und der Mensch (Bln. 1928. 1975) (1979), S. 1121–1125. – Ingeborg Drewitz: E. P. In: dieselbe Problematik. In ihm wird die »exNeue Lit. der Frauen. Hg. Heinz Puknus. Mchn. zentrische Position« als Grundstruktur des 1980, S. 224–230. – Sandra Frieden: ›Selbstge- Menschen aufgewiesen. Durch sie erklärt sich spräche‹. In: Seminar 18 (1982), S. 271–286. – der Doppelaspekt von Leib u. Körper, Sein u. Helga W. Kraft u. Harry Marshall: E. P.’s Discourse Haben, Umwelt u. Welt. Sie ist die struktuwith the Past. In: Monatshefte 77 (1985), relle Bedingung des Selbstbewusstseins u. der S. 157–170. – H. Puknus: P. In: KLG. – Petra M. spezif. Möglichkeiten menschl. Verhaltens. Bagley: The Death of a Father: The Start of a Story. Einigen »Monopolen des Menschen« hat P. In: New German Studies 16 (1990), S. 21–38. – Konrad Kenkel: Der lange Weg nach innen: Väter- konkrete Untersuchungen gewidmet: Macht Romane der 70er u. 80er Jahre. In: Der dt. Roman und menschliche Natur (Bln. 1931), Lachen und 4 nach 1945. Hg. Manfred Brauneck. Bamberg 1993, Weinen (Bern 1941. Ffm. 1970) u. die im S. 167–187. – Anne Moss: Seeing the Father: Me- Sammelband Zwischen Philosophie und Gesellmory and Identity Construction in E. P.’s ›Mittei- schaft (Bern 1953. 21979) aufgenommenen

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Aufsätze Zur Anthropologie des Schauspielers (1948) u. über Das Lächeln (1950). Weitere Werke: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn 1924. Ffm. 2002. – Das Schicksal dt. Geistes im Ausgang seiner bürgerl. Epoche. Zürich 1935. U. d. T. Die verspätete Nation. Stgt. 1959. Ffm. 51994. – Diesseits der Utopie. Ausgew. Beiträge zur Kultursoziologie. Düsseld. 1966. Ffm. 21974. – Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosoph. Anthropologie. Ffm. 1976. – Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze u. Vorträge. Hg. Salvatore Giammusso u. Hans-Ulrich Lessing. Mchn. 2001. – Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32. Hg. H.-U. Lessing. Bln. 2002. Ausgabe: Ges. Schr.en. Hg. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. 10 Bde., Ffm. 1980–85. Literatur: Felix Hammer: Die exzentr. Position des Menschen. Methode u. Grundlinien der philosoph. Anthropologie H. P.s. Bonn 1967. – H. Emil Hocevar: Vom Leben zum Lebensquell. Moderne Naturwiss., Anthropologie u. Theologie u. die Philosophie H. P.s. Ffm. u. a. 1990. – Stephan Pietrowicz: H. P. Genese u. System seines philosoph.anthropolog. Denkens. Freib. i. Br./Mchn. 1992. – Hans Redeker: H. P. oder die verkörperte Philosophie. Bln. 1993. – Heiner Bielefeldt: Kampf u. Entscheidung. Polit. Existentialismus bei Carl Schmitt, H. P. u. Karl Jaspers. Würzb. 1994. – Salvatore Giammusso: Potere e comprendere. La questione dell’esperienza storica e l’opera di H P. Mailand 1995. – Gerhard Arlt: Anthropologie u. Politik. Ein Schlüssel zum Werk H. P.s. Mchn. 1996. – Kersten Schüßler: H. P. Eine intellektuelle Biogr. Bln./Wien 2000. – Marco Russo: La provincia dell’uomo. Studio su H. P. e sul problema di un’antropologia filosofica. Neapel 2000. – Oreste Tolone: Homo absconditus. L’antropologia filosofica di H. P. Neapel 2000. – Heike Kämpf: H. P. Eine Einf. Düsseld. 2001. – Stanislaw Kus´ mierz: Einheit u. Dualität. Die anthropolog. Differenz bei H. P. u. Max Scheler. Bonn 2002. – Hans Heinz Holz: Mensch – Natur. H. P. u. das Konzept einer dialekt. Anthropologie. Bielef. 2003. – Christoph Dejung: H. P. Ein dt. Philosoph zwischen Kaiserreich u. Bonner Republik. Zürich 2003. – Gerhard Gamm u. a. (Hg.): Zwischen Anthropologie u. Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance H. P.s im Kontext der modernen Lebenswiss.en. Bielef. 2005. – Christoph Dejung: H. P. interkulturell gelesen. Nordhausen 2005. – Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. H. P. 1892–1985. Gött. 2006. – Olivia Mitscherlich: Natur u. Gesch. H. P.s in sich gebro/

chene Lebensphilosophie. Bln. 2007. – Dirk v. Petersdorff: Auch eine Perspektive auf die Moderne. H. P.s ›Spiel‹-Begriff. In: Figurationen der literar. Moderne. Hg. Carsten Dutt u. a. Heidelb. 2007, S. 277–292. – Bruno Accarino u. Matthias Schloßberger (Hg.): Expressivität u. Stil. H. P.s Sinnes- u. Ausdrucksphilosophie. Bln. 2008. – Patrick Wilwert: Philosoph. Anthropologie als Grundlagenwiss. Vergleichende Studien zur Aufgabe der philosoph. Anthropologie bei Max Scheler u. H. P. Würzb. 2009. – Ralf Becker u. a. (Hg.): Philosoph. Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler u. H. P. im Vergleich. Bln. 2009. Hermann Ulrich Asemissen / Red.

Pleyer, Wilhelm, * 8.3.1901 Eisenhammer bei Kralowitz/Böhmen, † 14.12.1974 Pöcking/Starnberger See. – Erzähler, Lyriker, Essayist, NS-Kulturpolitiker. Als zehntes Kind eines Hammerschmieds an der tschechisch-dt. Sprachgrenze geboren, studierte P. an der Deutschen Universität Prag Germanistik, Slawistik u. Geschichte (Dr. phil. 1929 mit einer Arbeit über Kolbenheyer). Bereits Anfang der 1920er Jahre wurde er aktives Mitgl. der sudetendt. NSDAP; 1924–1945 war er als Redakteur beim »Reichenberger Tagesboten«, dem »Gablonzer Tagblatt« u. den »Sudetendeutschen Monatsheften« tätig. Von Jugend auf verstand sich P. als »Frontsoldat des Grenzlandkampfes«, u. sein Schaffen ist entsprechend geprägt von einer militant-aggressiven deutsch-nat. Ideologie, die bereits in den Gedichtbänden Die Jugendweisen (Karlsbad 1921. 2., veränderte Aufl. 1929) u. Deutschland ist größer! (Weimar 1932. 41943) die ersehnte Vereinigung mit dem »Reich« in den Mittelpunkt rückt. Von seinem Wohnort Neupaulsdorf aus wirkte er bei der kulturpolit. Vorbereitung zur Okkupation der sudetendt. Gebiete mit. Die NS-Kritik feierte P. v. a. als Romanautor, der in dem Entwicklungsroman Till Scheerauer (Mchn. 1932. Neubearb. 1. Tl.: Tal der Kindheit. Mchn. 1940. Neuaufl. Mchn./ Stgt. 1957. 2. Tl.: Wege der Jugend. Mchn./Stgt. [1962]. 3. Tl.: Der Heimweg. Mchn. 1952), v. a. aber im Zeitroman Der Puchner (Mchn. 1934. Wehrmachtsausg. 1942. Neuaufl. Mchn. 1959) u. dem Blut-und-Boden-Roman Die

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Brüder Tommahans (Mchn. 1937. Neuaufl. 1962) einen literar. »Katechismus der Auslandsdeutschen« geschaffen habe. Die nat. Opferbereitschaft des völk. Helden im Puchner u. die myst. »Blutsverwandtschaft mit der Erde« der Brüder Tommahans markieren Eckpfeiler preisgekrönter NS-Dichtung. 1945 flüchtete P. nach Süddeutschland, wurde jedoch an die Tschechoslowakei ausgeliefert u. nach 15 Monaten Polizeihaft nach Bayern abgeschoben. Einen autobiogr. Bericht über diese Zeit gab P. in Aber wir grüßen den Morgen (Wels/Starnberg 1953). P.s Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: Im Gasthaus ›Zur dt. Einigkeit‹. Gesch.n aus Böhmen. Mchn. 1937. – Der Kampf um Böhmisch-Rust. Mchn. 1938 (E.en). – Lied aus Böhmen. Mchn. 1938 (L.). – Die letzten u. die ersten Tage. Verse u. Tagebuchbl. v. Kampf u. Befreiung. Karlsbad/Lpz. 1939. – Bismarck durchreitet die Nacht. Karlsbad 1942. – Dichterfahrt durch Kampfgebiete. Ein Tgb. Karlsbad 1942. – Das Abenteuer Nikolsburg. Karlsbad 1944 (E.en). – Spieler in Gottes Hand. Mchn. 1951. U. d. T. ›Das Spiel v. Rottenberg‹. 21970 (R.). – Gustav Leutelt. Kaufbeuren/Neugablonz 1957. – Europas unbekannte Mitte. Ein polit. Lesebuch. Mchn./Stgt. 1957. – Die Nacht der Sieger. Stgt. 1960 (Schausp.). – Hans Grimm. E. G. Kolbenheyer, Will Vesper. Gedenkrede aus Anlaß des Lippoldsberger Dichtertages. Stgt. 1962. – Jahrzehnte in Reden, Aufsätzen, offenen Briefen. Ffm. 1971. – Dichtung u. Volksbewußtsein. Die Lippoldsberger Dichtertage. Wien 1971. – Der dt. Schriftsteller in dieser Zeit. Vaterstetten 1971 (Ess.). – Mit wenigen Worten: Aphorismen. 1976. – W. P. (Hg.): Wir Sudetendeutschen. Salzb. 1949. Nürnb. 2003. Literatur: Werner Wien: W. P. Mchn. 1937. – Walther Jantzen (Hg.): W. P. Gött. 1961. – Peter Scholz: ›... Im Wort ein Täter...‹. Über den Schriftsteller u. Journalisten W. P. In: Brücken (1988/89), S. 60–74. Johannes Sachslehner / Red.

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Doktorwürde abschloss. Im Sommer 1479 nach Deutschland zurückgekehrt, trat er 1482 als gelehrter Rat in den Dienst Kurfürst Philipps von der Pfalz u. gehörte in den folgenden Jahren dem Heidelberger Humanistenkreis um den kurpfälz. Kanzler Johann von Dalberg an, mit dem ihn ebenso wie mit Rudolf Agricola seit der Studienzeit eine enge Freundschaft verband. 1499 wechselte er an den Münchner Hof u. blieb für verschiedene bayer. Herzöge tätig. Trotz seines vielfältigen jurist. u. diplomat. Wirkens, aus dem u. a. die rechtsgeschichtlich bedeutsame Sammlung altbayer. Freibriefe hervorging (Landshut 1514), fand er v. a. in seinem letzten Lebensjahrzehnt Zeit für eine umfangreiche literar. Tätigkeit. Die Übersetzungen antiker Autoren, die P. ab 1510 zumeist als dt. Erstübertragungen schuf, zählen zu den Pionierleistungen der deutschsprachigen Antikerezeption. Die Vorreden u. Widmungsbriefe an Kaiser Maximilian, Kurfürst Friedrich von Sachsen, die bayer. Herzöge Wilhelm u. Ludwig u. andere lassen erkennen, dass bei der Auswahl der Texte für P. deren Eignung als lebensprakt. Orientierungshilfe u. moralisch-didakt. Aspekte entscheidend war. Er übersetzte Cicero (Oratio in Catilinam I), Horaz (Sat. I, I), Juvenal (Sat. X), Lukian (Calumniae non temere credendum. Gallus sive somnium. Beide nach der lat. Übers. Agricolas), Plinius (Panegyricus), Sallust (De coniuratione Catilinae. Bellum Iugurthinum) u. eine Vielzahl von Prosaschriften Senecas. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Werke durch Johann Weißenburger in Landshut noch zu Lebzeiten P.s gedruckt. Ob P. auch das Lied Gwalt gunst und gelt (abgedr. bei Adelmann, S. 32) verfasste, das Missstände zeitgenöss. Rechtsprechung anprangert, ist unsicher.

Plieningen, Pleningen, Plenningen, Dietrich von, * um 1453, † 26.2.1520. – Humanist, Übersetzer.

Ausgaben: Max Siller: Des Senece Trostung zu Marcia. Eine schwäb. Übers. aus dem frühen 16. Jh. Text, Glossare, Untersuchungen. Diss. Innsbr. 1974. – Internet-Ed. mehrerer Texte in: VD 16 digital.

P. entstammte einer schwäb. Familie des niederen Adels u. erhielt ab Mai 1471 an den Universitäten Freiburg i. Br., Pavia (1473) u. Ferrara (Nov. 1476) eine Ausbildung als Jurist, die er am 17.3.1479 mit dem Erwerb der

Literatur: Bibliografien: Worstbrock, Register. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0215, 0905. – VD 16. – Weitere Titel: Franziska Gräfin v. Adelmann: D. v.

271 P., Humanist u. Staatsmann. Mchn. 1981 (mit Verz. der wichtigsten Lit.). – Christine Bührlen-Grabinger: Die Herren v. Plieningen. Studien zu ihrer Familien-, Besitz- u. Sozialgesch. mit Regesten. Stgt. 1986. – Annette Gerlach: Das Übersetzungswerk D.s v. P. Zur Rezeption der Antike im dt. Humanismus. Ffm. u. a. 1993. – Werner Straube: Die Agricola-Biogr. des Johannes v. P. In: Rudolf Agricola 1444–85 [...]. Hg. Wilhelm Kühlmann. Bern u. a. 1994, S. 11–48. – Erik Leibenguth u. Robert Seidel: Die Korrespondenz Rudolf Agricolas mit den süddt. Humanisten. Ebd., S. 181–259 (mit Ed.). – F. v. Adelmann: D. v. P. In: NDB. – Franz Josef Worstbrock: D. v. P. In: VL, Bd. 11 (Nachträge), Sp. 354–363. Martina Backes / Red.

Plievier, Hildegard, * 8.2.1900 Königshütte/Oberschlesien, † 23.4.1970 München. – Schauspielerin; Romanautorin. In erster Ehe war P. mit Erwin Piscator verheiratet u. spielte an dessen Berliner Theater am Nollendorfplatz. 1933 emigrierte sie mit ihrem zweiten Mann, Theodor Plievier, über Prag, Paris u. Schweden in die Sowjetunion. Nach ihrer Rückkehr 1945 lebte sie zunächst in Weimar u. übersiedelte 1947 nach Wallhausen/Bodensee, später nach München. Über ihr Leben in der Sowjetunion u. ihre Evakuierung im »Schriftstellerzug« von Moskau nach Taschkent berichtet sie anschaulich in Meine Hunde und ich (Ffm. 1957) u. in dem autobiogr. Roman Flucht nach Taschkent (Ffm. 1960. Beide zus. u. d. T. Ein Leben gelebt und verloren. Gütersloh 1964). P.s Werke zählen zur gehobenen Unterhaltungsliteratur. In ihren Romanen erzählt sie tatsächlich Erlebtes mit interessanten Details über das Exil dt. Schriftstellerinnen in der Sowjetunion zwischen 1933 u. 1945. Weitere Werke: Gelber Mond über der Steppe. Ffm. 1958. – Grenzen der Liebe. Düsseld. 1966. Literatur: Harry Wilde: Theodor Plievier. Nullpunkt der Freiheit. Mchn./Wien/Basel 1965 (Biogr.). Ilse Auer / Red.

Plievier (bis 1933: Plivier), Theodor, * 12.2.1892 Berlin, † 12.3.1955 Avegno/ Tessin. – Erzähler. P., Sohn aus einer Arbeiterfamilie, brach 1909 eine Stukkateurlehre ab, vagabundierte

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zunächst durch Europa u. kam als Matrose nach Australien u. Südamerika. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Kriegsmarine u. nahm 1918 am Matrosenaufstand in Wilhelmshaven teil. In dieser Zeit nahm P. Kontakte zu anarchist. Gruppen auf u. veröffentlichte zahlreiche Flugschriften (z.B. Anarchie. Weimar 1919), die in der Tradition von Max Stirner u. Peter Kropotkin stehen. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen schildert er in dem erfolgreichen Erstlingswerk Des Kaisers Kulis. Roman der deutschen Kriegsflotte (Bln. 1930. Mchn. 1984. Als Schauspiel 1930 von Piscator in Berlin inszeniert) die Drangsalierung der Matrosen im Ersten Weltkrieg sowie den Kieler Matrosenaufstand. Ebenfalls unter Verwendung dokumentar. Materials entstand sein zweiter Roman, Der Kaiser ging, die Generale blieben (Bln. 1932. Hbg. 1979), über das Scheitern der Novemberrevolution 1918. Nach der Verbrennung seiner Bücher emigrierte der parteilose Sozialist 1933 über Prag, Paris u. Schweden in die Sowjetunion, wo er an zahlreichen Exilzeitschriften mitarbeitete u. während des Krieges dem Nationalkomitee »Freies Deutschland« angehörte. 1945 kehrte er mit der Roten Armee nach Deutschland zurück, wurde Verlagsleiter in Weimar u. Vorsitzender des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« u. arbeitete an dessen Zeitschrift »Aufbau« mit. Eine Millionenauflage erreichte P.s in zahlreiche Sprachen übersetzter Roman Stalingrad (Urfassung Moskau 1943/44. Erw. Bln. 1945. Schausp. 1962. Fernsehsp. 1963. Hörsp. 1953 u. 2002). Auf der Materialgrundlage von Interviews gefangener dt. Soldaten schildert er in facettenartig gruppierten Szenen den Untergang der Sechsten Armee aus der Perspektive der Beteiligten. Im Gestus des dokumentar. Realismus u. mit zuweilen filmischen Montagetechniken gelingt es, in der Chronologie der Ereignisse ein sich steigerndes Schreckensszenario zu entwerfen. Stalingrad wurde von P. später mit den Romanen über den Russlandfeldzug 1941/42 (Moskau. Mchn. 1952) u. über die Eroberung Berlins (Berlin. Mchn./Wien/Basel 1954.

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U. d. T. Der große Krieg im Osten. 3 Bde., Mchn. 1966) zur Trilogie ergänzt. 1947 wandte sich P. vom Kommunismus ab, siedelte zunächst nach Wallhausen/Bodensee über u. lebte seit 1953 in Avegno. Weitere Werke: Haifische. Bln. 1930 (D.). Zum Roman umgearb. mit einem Nachw. P.s. Weimar 1946. – Das große Abenteuer. Amsterd. 1936 (R.). – Im Wald v. Compiègne. Moskau 1939 (E.). – Das gefrorene Herz. Weimar 1947. Köln. 1988 (E.en). Ausgabe: Werke. Hg. Hans-Harald Müller. 4 Bde., Köln 1981–85. Literatur: Bibliografie: Hans-Harald Müller u. Wilhelm Schernus: T. P. Eine Bibliogr. Ffm./Bern/ New York 1987. – Weitere Titel: Harry Wilde: T. P. Nullpunkt der Freiheit. Mchn./Wien/Basel 1965 (Biogr.). – Helmut Peitsch: T. P.s ›Stalingrad‹. In: Faschismuskritik u. Deutschlandbild im Exilroman. Hg. Christian Fritsch u. Lutz Winkler. Bln. 1981. – Rudolf Hagelstange: Der verlorene Sohn der verlorenen Revolution. In: Ders.: Menschen u. Gesichter. Mchn. 1982. – Manuel Köppen: Die letzten Tage des Reiches. Von T. P.s Roman ›Berlin‹ zu Oliver Hirschbiegels Film ›Der Untergang‹. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Hg. Lars Koch u. Marianne Vogel. Würzb. 2007. – Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher. Köln 2008 (zu P.: S. 131–134). Heiner Widdig / Manuel Köppen

Plischke, Hans, * 12.2.1890 Eilenburg, † 8.4.1972 Göttingen. – Ethnologe. Nach dem Studium der Völkerkunde, Deutschen Volkskunde u. Geschichte an den Universitäten in München, Göttingen u. Leipzig habilitierte sich P. 1924 bei Karl Weule in Leipzig. 1928 als Dozent nach Göttingen berufen (1929 a. o., 1934 o. Prof.), übernahm P. dort die Ethnografische Sammlung der Universität u. gründete das heutige Institut für Völkerkunde. Später profilierte sich der teils einem rassist. Jargon verhaftete P. als bes. eifriger Verfechter einer dt. »Kolonialethnologie«, die sich – in Erwartung kolonialer Eroberungen v. a. in Afrika – dem nationalsozialist. Regime andiente (Die Völkerkunde als Kolonialwissenschaft. Gött. 1941). Die Schwerpunkte von P.s wiss. Beschäftigung bilden Themen der allg. Völkerkunde, Entdeckungsgeschichte u. ethnolog. Ozeanistik. Deren populärer Vermittlung suchte

er in Werken einführenden Charakters, wie Von den Barbaren zu den Primitiven (Lpz. 1926), Entdeckungsgeschichte vom Altertum bis zur Neuzeit (Lpz. 1933) oder Der Stille Ozean (Mchn./ Wien 1959), ebenso gerecht zu werden wie als Herausgeber von quellenkritisch bearbeiteten Reisebeschreibungen (Kolumbus, Magellan u. a.) oder als Verfasser der völkerkundl. Beiträge für die Brockhaus-Encyclopädie. Von bleibender wiss. Bedeutung sind P.s ergolog. Arbeiten, die Beschreibung u. Kommentierung der wertvollsten Stücke der Göttinger Ethnografischen Sammlung. Literaturwissenschaftlich versuchte sich P. als Verfasser einer Geschichte des völkerkundlichen Reise- und Abenteuerromans, die zwar Von Cooper bis Karl May (Düsseld. 1951) einen autorenzentrierten Überblick präsentiert, jedoch kaum eine profunde Analyse u. Interpretation des Genres zu leisten vermag. Literatur: Bibliografien in: Manfred Urban: Verz. der Schr.en v. H. P. (bis 1960). Gött. 1960. – Ders. u. Erhard Schlesier: H. P. (Verz. 1960–71). In: Ztschr. für Ethnologie 97 (1972), H. 1. – Weiterer Titel: Renate Kulick-Aldag: H. P. in Gött. In: Ethnologie u. NS. Hg. Bernhard Streck. Gehren 2000, S. 103–113. Eckard Schuster / Red.

Ploennies, Plönnies, L(o)uise von, geb. Leisler, * 7.11.1803 Hanau, † 22.1.1872 Darmstadt. – Lyrikerin, Epikerin, Dramatikerin, Übersetzerin. Der 40-jährigen Frau des Darmstädter Hofmedikus August von Plönnies eröffnete die Dichtkunst nach Geburt u. Großziehung ihrer neun Kinder eine Art zweiter Laufbahn. Mochten auch krit. Zeitgenossen ihre Gedichte als »nachempfunden« beurteilen (z.B. Abälard und Heloise. Ein Sonettenkranz. Darmst. 1851), sie fanden, wie auch P.’ Romanzen, epische Dichtwerke (Die heilige Elisabeth. Ffm. 1870) u. geistl. Dramen (z.B. Joseph und seine Brüder. Heidelb. 1866. Maria Magdalena. Heidelb. 1870, beide neu hg. in: Bibliothek der Deutschen Literatur. Bearb. v. Axel Frey. Mchn. 1995) ein breites u. treues Publikum. Verdienstvoll war ihre Vermittlung engl. Lyrik, an der sie sich schulte: Britannia. Eine Auswahl englischer Dichter (Ffm. 1845) u. Englische Lyriker des 19. Jahrhunderts (Mchn. 1863. 21867).

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Ihre Förderung der flämischen u. niederländ. Dichtkunst (sie übersetzte 1845 Vondels Luzifer) wurde mit ihrer Wahl zum Mitgl. der Königlichen Akademie in Brüssel anerkannt. Literatur: Gabriele Käfer-Dittmann: L. v. P. Darmst. 1999. – Peter Rau: L. v. P. Joseph u. seine Brüder (1866). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 343 f. – Caroline Bland: Maria Magdalena. Ein geistl. Drama in fünf Aufzügen. Ebd., S. 344–346. Eda Sagarra

Pludra Weitere Werke: Hans Gyr. 1963 (D.). – Der Unfall. 1966 (D.). – Ach Himmel, es ist verspielt. 1975 (Fernsehsp.).– Großer Bruder Fernsehen. Die elektron. Kulturrevolution. Wien 1984 (Ess.s). – Die Entmündigung. 1984 (D.). – Nicht v. dieser Welt. Erot. u. a. Verhältnisse. Wien 1989 (E.en u. Betrachtungen). – Die Villa. 1989 (Fernsehsp.). – Drehbuch schreiben. Wien 1990 (zus. mit Gustav Ernst). – T. P. Erika Molny. Lese aus ihrer Arbeit. Hg. Werner Schneyder. Wien 1993. Alfred Strasser / Jürgen Egyptien

Pludra, Benno, * 1.10.1925 Mückenberg (heute: Lauchhammer)/Brandenburg. – Pluch, Thomas, * 25.7.1934 Klagenfurt, Erzähler, Kinderbuch-, Hörspiel- u. † 21.5.1992 Wien. – Dramen- u. Dreh- Filmautor. buchautor, Essayist. Der Sohn eines Kärntner Beamten studierte ab 1952 in Wien Germanistik u. Publizistik. Er promovierte über die Kärtner Volksabstimmung von 1920. Nach journalist. Arbeiten für die Zeitschrift »Die Bühne« wurde P. 1960 Redakteur der »Wiener Zeitung«, wo er das Feuilleton betreute. 1985 gründete er deren Literaturbeilage »Lesezirkel«. Nach ersten, das Leben in der Kleinstadt kritisch behandelnden Dramen (Der Hauptplatz. Wien 1964) wandte sich P. erfolgreich dem Fernsehdrehbuch zu mit Bearbeitungen v. a. histor. Stoffe, so der Revolution 1848 in Wien (Feuer! Fernsehsp. 1978. Salzb. 1979) u. »Wien im Feuerschein der ungarischen Revolution« 1956 (Der Aufstand. Wien 1986). Dabei kommt es P. darauf an, den »kleinen Mann« vor dem Hintergrund wichtiger histor. Geschehnisse aus seiner Anonymität herauszuheben u. ihn als Mitgestalter dieser Ereignisse darzustellen. P.s bedeutendste Leistung ist der 4-teilige Fernsehfilm Das Dorf an der Grenze (ORF 1979–92, Regie: Fritz Lehner u. Peter Patzak). In diesem Generationen-Epos wird das Schicksal zweier slowen. Familien in einem fiktiven Kärntner Dorf mit überwiegend deutscher Bevölkerung zwischen 1918 u. 1991 geschildert. Der figurenreiche Film rief durch seine krit. Darstellung der Kontinuität dt.-nationalist. Ideologie heftige Reaktionen hervor. P. erhielt für diesen Film am 21.5.1992 einen Romy (-Schneider-Preis) u. erlag noch während des Festakts einem Gehirnschlag.

P., im Lausitzer Industrierevier als Sohn eines Metallformers aufgewachsen, ging 1942 zur Marine, arbeitete als Schiffsjunge u. später als Vollmatrose. Nach Kriegsende war er Neulehrer in Sachsen. Von 1948–1950 studierte er Germanistik, Geschichte u. Kunstgeschichte in Berlin u. Halle u. war danach tätig als Zeitungsreporter u. Redakteur, seit 1952 ist er freischaffender Autor. Sein Werk spiegelt beispielhaft thematische u. ästhet. Entwicklungen u. Diskurse der DDR-Kinder- u. Jugendliteratur u. begleitet diese aus kritisch-kommentierender Sicht (Peltsch). Seine schriftstellerische Arbeit begann P. mit Pioniergeschichten (Die Jungen von Zelt 13. Bln./DDR 1952) u. mit Texten, die die kulturpolit. Vorgaben der 1950er Jahre in einfachen modellhaften Erzählungen fassten; die frühen Werke P.s spiegeln deutlich die Parteinahme für die junge sozialist. Republik DDR u. die ideolog. Auseinandersetzungen des Kalten Kriegs wider (Sheriff Teddy. Bln./ DDR 1956, verfilmt 1957): Westliche »Schundhefte und -filme« stiften DDR-Kinder zu Verbrechen an. In den 1960er Jahren gewannen P.s Kinderbücher an psycholog. Tiefe; in Tambari (Bln./DDR 1969. Baden-Baden 1970) wird ein zentrales Thema des Autors deutlich: P. zeigt an der Auseinandersetzung zwischen Erwachsenen u. Kindern exemplarisch die Gefährdung von Schwachen u. plädiert unsentimental für deren Rettung. Auch in seinen späteren Texte steht die Außenseiterproblematik (oftmals auch in dem Verhältnis der Einzelne u. die Gesellschaft)

Pludra

im Mittelpunkt; häufig wird dieses Sujet mit Reifungs- u. Selbstfindungsprozessen in Beziehung gesetzt. In Insel der Schwäne (Bln./ DDR 1980. Erlangen 1987. Weinheim 2007) greift P. zeitgenöss. Diskurse wie den in den 1970er Jahren thematisierten Umgang mit Natur u. Umwelt auf. Der zwölfjährige Stefan Kolbe zieht aus der dörflich-naturbestimmten Umgebung in ein neu errichtetes Hochhausgebiet (in dem das sowohl architektonische wie gesellschaftspolitische sozialist. Vorzeigeobjekt – die Berliner Fischerinsel – erkennbar ist). Der Wunsch der Kinder nach einem Spielplatz in dieser steinernen Welt führt zu Konflikten. P. liest hier das Motiv der Umzugsliteratur gegen den Strich u. zeigt die Schwierigkeiten des Individuums in einer nach Plan gefertigten Umwelt. Der Roman, bereits Ende der 1960er Jahre begonnen, konnte über zehn Jahre lang nicht erscheinen; das Druckgenehmigungsverfahren nennt als Grund für die zensurbedingten Behinderungen P.s »Sturmlauf gegen Beton«. Auch die Verfilmung 1983 (Regie: Herrmann Zschosche; Szenario: Ulrich Plenzdorf) führte zu heftigen Debatten. Der »poetische Realist« (Steinlein) P. verfasste auch einige märchen- u. sagenhafte Texte, die durch ihre große Literarizität bestechen (Lütt Matten und die weiße Muschel. Bln./DDR 1963. Bindlach 1989. Weinheim 32007); der fantast. Roman Das Herz des Piraten (Bln./DDR 1985. Weinheim 1988/2004) zählt zu seinen bedeutendsten Werken. Er wurde in der DDR wegen seiner nicht-realist. Konzeption heftig diskutiert (s. Für und Wider in den Weimarer Beiträgen u. ndl); große Anerkennung erfuhr der Titel auch im Westen (Veröffentlichung 1985 in Weinheim, nominiert für DJLP 1986 in der Sparte Kinderbuch; verschiedene Auflagen, auch in der SZ-Bibliothek Mchn. 2006). Bald folgte die Verfilmung von der DEFA 1988. Nach 1989 blieb P. seinem Engagment als »subtiler Menschenschilderer« (Steinlein) treu: er schrieb ein poet. Erzählung mit Umweltthematik (Siebenstorch. Bln. 1991) u. schuf einen Nachwenderoman mit eindrückl. Außenseiterfiguren (Jakob heimatlos. Bln. 1999): Jakobs Vater scheitert an dem neuen System u. seiner Arbeitslosigkeit; seine Probleme eskalieren in der Familie. Der Sohn

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läuft von zuhause fort u. landet als Trebegänger am Bahnhof Zoo. P.s psychologisch genaue, oftmals karge, aber immer atmosphärisch-räumlich dichte Prosa wurde in der DDR vielfach ausgezeichnet u. auch in der Bundesrepublik hochgelobt. Nach 1989 ist sein Werk mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden (Siebenstorch: 1992 DJLP; Jakob heimatlos: Nominierung für den DJLP 2000), für sein Gesamtwerk erhielt er renommierte Auszeichnungen (Nationalpreis Kunst und Literatur 1966 u. 1981; Alex-Wedding-Preis 1998; DJLP-Sonderpreis für das Gesamtwerk des Autors 2004). P.s Titel erscheinen in der Reihe »Benno Pludra Bibliothek« in Weinheim. Weitere Werke: Haik u. Paul. Bln./DDR 1956. Recklinghausen 1971. – Bootsmann auf der Scholle. Bln./DDR 1959. Weinheim 42008. – Die Reise nach Sundevit. Bln./DDR 1965. Weinheim 22007. – Aloahé. Bln./DDR 1989. Literatur: Hanna Hormann: Menschenbild u. Perspektive im ep. Schaffen B. P.s. Bln./DDR 1975. – Fred Rodrian: Über B. P. In: Ders.: Für den Tag geschrieben. Bln./DDR 1985. – Für u. Wider: ›Das Herz des Piraten‹ v. B. P. In: WB, H. 11 (1986). – Karin Richter: Der junge Held zwischen Traum u. Wirklichkeit. Märchenhaft-phantast. Elemente in der zeitgenöss. Kinder- u. Jugendlit. der DDR. In: Schauplatz. Aufsätze zur Kinder- u. Jugendlit. u. zu anderen Medienkünsten. Bd. 2, Bln./DDR 1988, S. 22–33. – Bernd Dolle-Weinkauff u. Steffen Peltsch: Kinder- u. Jugendlit. der DDR. In: Gesch. der dt. Kinder- u. Jugendlit. Hg. Reiner Wild. Stgt. 1990, S. 372–401. – K. Richter: Vom ›Hasenjungen Dreiläufer‹ zum ›Engel mit dem goldenen Schnurrbart‹. Gedanken zum Zusammenhang v. Modernität u. krit. Gestus in der kinderliterar. Prosa der DDR. In: Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- u. Jugendlit. der Gegenwart unter literar. u. didakt. Aspekten. Hg. Günter Lange u. Wilhelm Steffens. Würzb. 1995, S. 83–98. – S. Peltsch: B. P. In: Kinder- u. Jugendlit. – Ein Lexikon. Hg. Kurt Franz, Günter Lange u. Franz-Josef Payrhuber. Meitingen 1995 ff. (Loseblattsammlung); 4. Erg.-Lfg. Juli 1997, S. 1–10. – K. Richter: Kinder- u. Jugendlit. der DDR. In: Tb. der Kinderu. Jugendlit. Grundlagen u. Gattungen. Hg. G. Lange. Bd. 1, Baltmannsweiler 2000, S. 137–156. – Rüdiger Steinlein: Ein poet. Realist. Laudatio auf B. P. In: JuLit Informationen Arbeitskreis für Jugendlit. 30 (2004), H. 4, S. 31–35. – Caroline Roeder: Phantastisches im Leseland. Die Entwicklung phantast. Kinderlit. der DDR (einschließlich SBZ).

Plümicke

275 Eine gattungsgeschichtl. Analyse. Ffm. 2006. – R. Steinlein, Heidi Strobel u. Thomas Kramer: Hdb. zur Kinder- u. Jugendlit. SBZ/DDR 1945–90. Stgt. 2006 (Vita u. annotierte Bibliogr. der Werke S. 1211–1215; Analysen v. ›Herz des Piraten‹: S. 749–751; ›Insel der Schwäne‹: S. 238–240). Horst Heidtmann / Caroline Roeder

Plümicke, Carl Martin, * 26.3.1749 Wollin/Pommern, † 6.4.1833 (?) Dessau. – Theaterautor, Reiseschriftsteller, Herausgeber. Nach dem Besuch der Realschule in Berlin u. des Gymnasiums in Züllichau studierte P. in Frankfurt/O. u. Halle (wohl Jura). Anschließend arbeitete er zunächst als Magistratssekretär zu Breslau u. schloss sich dann in Berlin der Schauspieltruppe Döbbelins an, für die er einige publikumswirksame u. teilweise mehrfach aufgelegte Dramen verfasste (zumeist Rührstücke u. Lustspiele). P. hat seinen Arbeiten kaum eigene Erfindungen zugrunde gelegt, sondern in der Regel Erzählungen anderer Autoren dramatisiert (z.B. Der Besuch nach dem Tode. Bln. 1783; nach August Gottlieb Meißner) oder Stücke, die gegen die Bühnenkonventionen verstießen, für die Aufführungen eingerichtet. Abgesehen von den Bearbeitungen von F. L. Epheus Sophonisbe (Bln. 1784) u. Christian Heinrich Spieß’ General Schlenzheim und seine Familie (Regensb. 1786) hat sich P. seinen kurzlebigen Namen v. a. dadurch gemacht, dass er die Buchfassungen von Schillers Die Räuber (Bln. 1783) u. Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (Bln. 1784) dramaturgisch redigierte. So leistete er einen nicht unbedeutenden Beitrag zu Schillers dramat. Karriere; dieser sprach allerdings von »Verhunzung« (an Körner, 3.7.1785). Aus seiner Zeit bei Döbbelin datiert auch P.s Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin (Bln./Stettin 1781. Neudr. Lpz. 1975), eine umfangreiche u. detaillierte Materialsammlung von bleibendem histor. Wert, die, in der frühen Neuzeit beginnend, mit dem Regierungsantritt Friedrichs II. 1740 eine neue Epoche u. mit Lessing den Durchbruch zur wahren Theaterkultur ansetzt.

Im Okt. 1784 wurde P. Geheimer Kabinettssekretär des Herzogs Peter Biron von Kurland, den er 1784–1786 auf einer Reise durch Deutschland, Holland u. Italien begleitete u. dessen ital. Reisetagebuch er herausgab (Auszug aus dem Tagebuche der Reisen [...] des reg. Herzogs von Kurland. o. O. 1786). Seine eigenen Beobachtungen in Italien veröffentlichte P. erst später als Fragmente, Skizzen und Situationen auf einer Reise durch Italien (Görlitz 1795). Nach der Rückkehr ging er als Herzoglich Kurländischer Regierungsrat nach Sagan, um die herzogl. Güter in Schlesien zu verwalten, u. betreute während dieser Zeit auch das »Niederschlesische Magazin« (Lpz., Liegnitz/Sagan 1789–95). 1791 reiste P. nach Salzburg u. beschrieb diese Deutschlandreise in Form von Briefen an seinen Bruder Johann Heinrich Ludwig Plümicke, die in der aufklärerischen Manier Nicolais ausführl. statistisches Material über »Manufaktur-, Kunstund Oekonomie-Gegenstände« sammeln u. »zu Beförderung der National-Industrie und des Nahrungsstandes« dienen wollten (C. M. Plümicke’s Briefe auf einer Reise durch Deutschland im Jahr 1791. 2 Tle., Liegnitz 1793). 1800/01 war P. Gefangener auf der Festung zu Brünn, weil man ihm eine Beteiligung an der Entführung der kurländ. Prinzessin Jeannette vorwarf. Von dieser Zeit an werden die Berichte über sein Leben ungenau u. zum Teil widersprüchlich, zumal er gelegentlich mit dem Militärschriftsteller Johann Carl Plümicke verwechselt wurde. Zunächst versuchte er sich anscheinend in Berlin, Dresden, Magdeburg u. Dessau als reisender Deklamator u. lebte dann ab 1804 in Danzig, wo er 1805 sowohl das »Theaterblatt« (68 Nummern) als auch ein Quartal lang die Wochenschrift »Unterhaltungen an der Weichsel und Ostsee« herausgab. Ab 1808 war P. vermutlich Regierungsrat in Dessau, wo er 1833 gestorben sein dürfte (1804 ist sicher falsch, für 1815 sprechen keine zwingenden Gründe). Weitere Werke: Miß Jenny Warton [...]. Breslau 1775 (Lustsp.). – Der Volontair. Breslau 1775 (Lustsp.). – Henriette oder der Husarenraub. Bln. 1780 (Schausp.). – Lanassa. Bln. 1782 (Trauersp.). – Johann v. Schwaben. Schausp. v. a. G. Meißner. Bln. 1783. – Der 15te Febr. 1787. Eine dramat. Phantasie. Mitau 1787. – Wenzel u. Edeltrud, eine vater-

Pocci

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länd. Sage der Vorzeit. Halle 1795. – Der Freiheitsspiegel, ein dramat. Gemählde aus der neuern Zeitgesch. Bln. 1803. – Das Jägermädchen. Gemälde in fünf Aufzügen. Bln. 1803. – Charles Erman, eine Einquartierungsgesch. In: Morgenblatt für gebildete Stände (1808), Nr. 258–260. – Neue Schausp.e vom Verf. der ›Lanassa‹. Bln. 1808. Literatur: Albert Meier: Des Zuschauers Seele am Zügel. Die ästhet. Vermittlung des Republikanismus in Schillers ›Die Verschwörung des Fiesko zu Genua‹. In: JbDSG 31 (1987), S. 117–136. Albert Meier / Red.

Pocci, Franz Graf von, * 7.3.1807 München, † 5.7.1876 München; Grabstätte: Münsing. – Lyriker, Dramatiker, Zeichner, Komponist. Nach dem Jurastudium wurde der Sohn eines italienischstämmigen Offiziers u. Beamten am bayerischen Hof u. einer malenden Dresdner Baronin 1830 Zeremonienmeister Ludwigs I. Mitgl. in verschiedenen Künstlergesellschaften, wurde P. 1847 Hofmusikintendant, 1864 Oberstkämmerer am Hofe Ludwigs II. P.s Kunst ist nur aus seiner engen Bindung an die Romantik u. deren Verherrlichung des MA verständlich. Er verkehrte im Kreis von Joseph Görres, traf dort mit Brentano zusammen u. schloss sich Guido Görres an, dem geistigen Exponenten der kath. Reaktion u. Spätromantik in München. Mit seinen Werken für Kinder berühmt geworden, versuchte sich P. auch in der Volksdichtung (z.B. Bauern-ABC. Mchn. 1856), bes. im Volksdrama, freilich ohne rechten Erfolg (u. a. Gevatter Tod. Mchn. 1855. Michel der Feldbauer. Mchn. 1858; nach Hebels Karfunkel), obwohl Eichendorff (vgl. Schmitz 1986) seine Arbeiten sehr schätzte, weil sich in seinen Augen ja v. a. das Drama »so vornehm von dem Volke getrennt« habe (Eichendorff: Zur Geschichte des Dramas, 1854). P.s Arbeit für Kinder begann mit Illustrationen. Im Festkalender in Bildern und Liedern, geistlich und weltlich (hg. zus. mit Guido Görres. H.e 1–15, Mchn. 1834–37) stammen die meisten der Lithografien von P. Als Fortsetzung waren die Geschichten und Lieder mit Bildern (Mchn. 1841–45) gedacht, zu denen P. alle Lithografien u. auch viele Texte beisteuerte. Sein Name als Illustrator aber ist v. a. mit Friedrich

Gülls Kinderheimath in Liedern und Bildern (1846) u. der Sammlung Alte und neue Kinderlieder. Mit Bildern und Singweisen (hg. zus. mit Karl von Raumer. Lpz. 1852) verbunden. Die Geschichten und Lieder mit Bildern enthalten bereits die meisten Gattungen von P.s literar. Arbeiten für Kinder: Kinderlieder u. -sprüche, Gebete, Parabeln, Versmärchen, meist lustige Beispielerzählungen, Puppenu. Schattenspiel. Für die Verbreitung seiner Werke in Kreisen, die keine Bücher kauften, sorgten die »Münchener Bilderbogen« (1848–1866 insg. 29 Bogen). Auch für Isabella Brauns »Jugendblätter« lieferte er vom ersten Jahrgang (Stgt. 1855) bis zu seinem Tod über 70 Beiträge. Darüber hinaus machte er sich lokal einen Namen als Komponist: Bis 1834 waren bereits 60 Kompositionen von ihm gedruckt, überliefert sind rd. 600. P.s Bedeutung für die Literaturgeschichte liegt v. a. in seinen Puppenspielen. Seit der Errichtung des Münchner Marionettentheaters durch Joseph Schmid (1858) schrieb P. als Hausdichter über 40 Stücke für diese Bühne. Der Stoff war entweder eigene Erfindung, oder es dienten ihm Märchen Perraults u. der Brüder Grimm, Erzählungen von Christoph von Schmid u. Isabella Braun als Vorlagen. In den meisten ist der Münchner Kasperl Larifari die zentrale Figur. Mit ihm u. vor allem seiner Sprachkomik, in verschiedenen Motiven u. Szenerien (Zauberwelt, Schlusstableaus) setzt P. durch Vermittlung des volkstüml. Puppenspiels, Nestroys u. Raimunds die Tradition des Altwiener Volkstheaters fort, allerdings ohne wirkliche satir. Schärfe. Zwar gibt es Wissenschafts- u. Standessatiren, Satiren auf Günstlingswesen u. Beamtendummheit, wie in der Kasperlkomödie Das Eulenschloß oder im Staatshämorrhoidarius, jener berühmten Beamtenkarikatur in den »Fliegenden Blättern« (seit 1845. Buchausg. Mchn. 1857. Neudr. Dortm. 1979), doch trotz Kritik u. Selbstironie stand der fortschrittsfeindl. P. fest auf dem Boden der altbayrischkath. Restauration. Weitere Werke: Texte und Zeichnungen: Spruchbüchlein mit Bildern für Kinder. Mchn. 1838. – Ein Büchlein für Kinder. Schaffh. 1842. – Blaubart. Ein Märchen. Mchn. 1845. – Schattenspiel. Mchn. 1847. Neudr. Stgt. 1982. – Allerneuestes Spruch-

277 büchlein. Mchn. 1850. – Dramat. Spiele für Kinder. Mchn. 1850. – Lustiges Bilderbuch. Mchn. 1852. – Was du willst. Ein Büchlein für Kinder. Mchn. 1854. – Neues Kasperl-Theater. Stgt. 1855. – Lustiges Komödienbüchlein. Bde. 1–6, Mchn. 1859–77. – Lustige Gesellsch. Mchn. 1867. Hg. René Rilz. Bayreuth 1878. – Märchen, Lieder u. lustige Komödien. Bayreuth 1906. – Sämtl. Kasperl-Komödien. Bde. 1–3, Bayreuth 1909. – Lustiges Komödienbüchlein. Hg. Marianne Kesting. Köln/Bln. 1965. – Kasperl- u. Gedankensprünge. Hg. Ludwig Krafft. Mchn. 1970. – Kasperlkomödien. Hg. Karl Pörnbacher. Stgt. 1970. – Die gesamte Druckgraphik. Hg. Marianne Bernhard. Mchn. 1974. – Kindereien. Hg. Dietrich Leube. Ffm. 1976. – Viola Tricolor. Nachw. v. D. Leube. Ffm. 1977. – Die Zaubergeige u. a. Märchenkomödien. Hg. Manfred Nöbel. Bln./DDR 1977. – Kasperls Heldentaten. 19 Puppenkomödien u. Kasperliaden. Hg. ders. Bln./DDR 1981. Mchn./Wien 1984. – Übersetzung: Joseph Joubert: Gedanken, Versuche u. Maximen. Übers. v. F. P. Warendorf 2008. – Nachlass: Ammerlander Familienbesitz; Gräflich Pocci’sche Verwaltung Füssen; Bayer. Staatsbibl. München. Ausgabe: Schriftsteller – Zeichner – Komponist. Werkausg. Hg. Ulrich Dittmann, Wilfried Hiller u. Michael Stephan. [Bisher:] Abt. 1: Dramat. Dichtungen, Bd. 1–5; Abt. 3: Beiträge zu den ›Fliegenden Blättern‹ u. dem ›Münchener Bilderbogen‹, Bd. 1; Abt. 10, 1: Verz. der Werke P.s 1821–2006. Gesamtverz. der Schr.en, Kompositionen u. buchgraf. Arbeiten P.s auf Grundlage der Zusammenstellung v. Franz Pocci (Enkel) fortgef. v. Manfred Nöbel †. Hg. Gisela Tegeler. Mchn. 2007. Literatur: Bibliografie: Franz Pocci (Enkel): Das Werk des Künstlers F. P. Mchn. 1926. – Weitere Titel: Hyacinth Holland: F. Graf P., ein Dichter- u. Künstlerleben. Bamberg 1890. – A[nton] Riedelsheimer: Die Gesch. des J. Schmidschen Marionettentheaters [...]. Mchn. 1906. 21922. – Aloys Dreyer: F. P. der Dichter, Künstler u. Kinderfreund. Mchn./Lpz. 1907. – Georg Schott: Die Puppenspiele des Grafen P. Diss. Mchn. 1911. – Anna Lucas: F. P. u. das Kinderbuch. Münster 1929. – Ludwig Krafft: München u. das Puppenspiel. Mchn. 1961, S. 35–53. – Roland Rall: Kasperl – ein Plebejer auf dem Theater. Bemerkungen zu den Kasperlstücken v. F. P., Walter Benjamin u. Max Kommerell. In: Zum Kinderbuch. Hg. Jörg Drews. Ffm. 1975, S. 60–85. – Walter Pape: P. In: LKJL. – Ders.: Das literar. Kinderbuch. Bln./New York 1981, S. 237–302. – Walter Schmitz: Jugendträume u. Gevatter Tod. Zum Werk v. F. Graf P. nach 1848 [...]. In: Lit. in Bayern 5 (1986), S. 19–25. – Rein-

Poche hard Valenta: F. v. P.s Münchener Kulturrebellion. Diss. Mchn. 1991. – Günter Goepfert: F. v. P. Vom Zeremonienmeister zum ›Kasperlgrafen‹. Dachau 1999. – Michael Dirrigl: F. Graf P.: der Kasperlgraf. Nürnb. 2001. – Stefan Jordan: P. In: NDB. – Sigrid v. Moisy: F. Graf P.: (1807–76). Schriftsteller, Zeichner, Komponist unter drei Königen. Mchn. 2007 (Ausstellungskat.). – Waldemar Fromm: F. Graf v. P. u. die Münchener Spätromantik. In: Lit. in Bayern 23 (2007), H. 90, S. 52–57. Walter Pape

Poche, Klaus, auch: Nikolaus Lennert, Georg Nikolaus, * 18.11.1927 Halle/Saale, † 9.1.2007 Köln. – Erzähler, Drehbuchautor. Nach dem Besuch des Gymnasiums wurde P. Soldat u. geriet 1945 in amerikan. Gefangenschaft. Er arbeitete danach u. a. als Krankenpfleger, Kraftfahrer u. Lehrer. Ab 1950 schrieb er journalist. Beiträge für den »Nachtexpress« in Ostberlin u. die »BZ am Abend«. Seit 1954 arbeitete P. als freier Schriftsteller u. Drehbuchautor. 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, lebte er seit 1980 in der Nähe von Köln u. arbeitete v. a. für das Fernsehen. Über seinen ersten Roman, Der Zug hält nicht im Wartesaal (Bln./DDR 1965), schrieb P. anlässlich eines Teilabdrucks in der »Berliner Zeitung« (am 21.11.1965): »Es ist ein Buch über den letzten Krieg und die ersten Jahre nach diesem Krieg.« Die Hauptfigur könne »als Vertreter der sich nach dem Kriege entwickelnden ›gelenkigen Generation‹ angesehen werden«. Nicht zuletzt wegen seiner krit. Sicht auf die Art der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik Deutschland galt P. im Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller der DDR als »begabter Erzähler«. Dies änderte sich freilich, als 1978 – nach einigen eher der Unterhaltungsliteratur zuzuordnenden Erzählungen – Atemnot (Olten) veröffentlicht wurde. Der autobiografisch motivierte Künstlerroman konnte in der DDR nicht erscheinen, weil P. darin Schwierigkeiten eines Autors im realen Sozialismus beschreibt. Auf einer in der dritten Person erzählten Vergangenheitsebene des Romans schildert P. tagebuchartig, wie sein etwa gleichaltriger Held aus der ihm zugedachten Karriere nach

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u. nach herausfällt. Auf der Gegenwartsebene, die in der Ich-Form verfasst ist, versucht der Protagonist zu einer neuen persönl. Identität zu gelangen. Nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik veröffentlichte P. keine literar. Arbeiten mehr u. widmete sich zunehmend dem Fernsehspiel. Weiteres Werk: Geschlossene Gesellsch. Drehbuch zum gleichnamigen Film v. Frank Beyer. 1978. Literatur: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Bd. 1, Ffm. 1995, S. 485–489. – Hans-Dieter Schütt: Mein Abenteuer bin ich. H.-D. S. im Gespräch mit [...] K. P. [...]. Bln. 1996. – Jörg Bernhard Bilke: Ein Meister der ›Informationsliteratur‹. In: Dtschld. Archiv 40 (2007), H. 2, S. 213 ff. Hajo Steinert / Red.

Pockels, Karl Friedrich, * 15.11.1757 Wörmlitz bei Halle, † 29.10.1814 Braunschweig. – Anthropologe, Historiker. Der Sohn einer Pastorenfamilie studierte 1776–1779 in Halle Theologie u. Philosophie. Bei den Professoren August Hermann Niemeyer u. Johann August Eberhard lernte er die Prinzipien der philosoph. Anthropologie u. der Sittenlehre sowie Grundzüge aufklärerischer Psychologie u. Pädagogik kennen. Entscheidenden Einfluss auf seinen Lebensweg u. berufl. Pflichtenkreis aber nahm der Philanthrop u. Schulreformer Friedrich Eberhard von Rochow. Ihm verdankte P. die Empfehlung, der zufolge Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig ihm 1780 Erziehung u. Unterricht seiner Söhne August u. Friedrich Wilhelm anvertraute. Ende 1787 folgte P. Herzog August als Haus- u. Hofmeister in den hannoverschen Militärdienst nach Northeim. Im Juli 1790 wurde ihm der Titel eines Königlich Großbritischen Rats verliehen; im Sept. heiratete er Margarete Dorothea Niemeyer, Tochter eines hannoverschen Oberstleutnants, mit der er elf Kinder hatte. Angebote einer Professur für Philosophie in Helmstedt oder am Braunschweiger Collegium Carolinum schlug P. aus. 1800 zum Herzoglich Braunschweigischen Hofrat ernannt, mochte der vitale, lebensfrohe u. gesellige, musisch begabte u. schriftstellerisch ungemein tätige Weltmann

u. Diplomat die Freizügigkeit der fürstl. Gesellschaft nicht mehr missen. Nach dem erfolgreichen Abschluss einer schwierigen polit. Mission zur Regelung der braunschweig. Erbfolge übertrug ihm Karl Wilhelm Ferdinand das Kanonikat am St. Blasius-Stift zu Braunschweig, verbunden mit einer festen Pension. Inzwischen war die frz. Herrschaft über das Königreich Westfalen auf das Herzogtum Braunschweig ausgedehnt worden. Dem Ansinnen, in westfäl. Dienste zu treten, das Johannes von Müller an ihn herantrug, widerstand P. aus Loyalität zu seinem Herzog. Nach der Rückkehr des angestammten Herrscherhauses nahm er die vormalige Hofratsstelle im Dienste des erblindeten Herzogs August u. des nun regierenden Fürsten Friedrich Wilhelm wieder ein. Dieser machte ihn im April 1814 zum Kurator des Presse- u. Publikationswesens. Wenige Monate später starb P. an den Folgen eines Schlaganfalls. Die umfänglichen popularphilosoph. Schriften P.’ basieren, dem pragmat. Charakter der Aufklärungsepoche folgend, auf praktisch-polit. Bildung, wacher psychologisierender Beobachtung der alltägl. Lebenswirklichkeit, philanthropisch didakt. Neigung u. hausverständig geschmackssicherem Urteil. Der stilgewandten, gut lesbaren Diktion entspricht die insg. aphoristisch einfallsreiche, angenehm unterhaltsame Darstellungsweise, die begriffl. Gewicht u. systemat. Dichte selten erreicht. Zus. mit Karl Philipp Moritz bearbeitete P. Band 5 (1787) u. 6 (1788) sowie Teile von Band 7 (1789) des »Magazins zur Erfahrungsseelenkunde«. In diesen Bereich gehören die meisten seiner Bücher. Die Geschlechterpsychologie bleibt hinter den Einsichten Hippels (Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber) zurück. Origineller sind Ausführungen zur Kinderpsychologie hinsichtlich des Zusammenhangs von Bewusstwerdung, Sozialisation u. Spracherwerb. Gleiches gilt für seine Betrachtungen über »das gesellige Leben in den höhern und niedern Ständen«, die das »Gemisch von tausend alltäglichen Kleinigkeiten, von unbedeutenden Formen, Convenienzen, Rücksichten und Gewöhnlichkeiten, denen wir uns aus Lebens-

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klugheit unterwerfen müssen«, auf »regierende Meinungen« zurückführen u. diese wiederum am Sprachverhalten nachweisen (Über Gesellschaft, Geselligkeit und Umgang. Bd. 3, S. 1 ff.). P.’ Biographisches Gemälde des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, das 1809 anonym in Tübingen erschien, gilt als ein für die Zeitgeschichte wichtiges, weil quellensicher verfasstes Werk. Weitere Werke: Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntnis. 2 H.e, Bln. 1788/89. – Fragmente zur Kenntnis u. Belehrung des menschl. Herzens. 3 Slg.en, Hann. 1788–94. – Denkwürdigkeiten zur Bereicherung der Erfahrungsseelenlehre u. Charakterkunde. Halle 1794. – Neue Beiträge zur Bereicherung der Menschenkunde überhaupt u. der Erfahrungsseelenkunde insbes. Heidelb. 1798. – Versuche einer Charakteristik des weibl. Geschlechts. 5 Bde., Hann. 1797–1802. – Der Mann, ein anthropolog. Charaktergemälde seines Geschlechts, ein Gegenstück zur Charakteristik des weibl. Geschlechts. 4 Bde., Hann. 1805–08. – Über den Umgang mit Kindern. Hann. 1811. – Über Gesellsch., Geselligkeit u. Umgang. 2 Bde., Hann. 1813. Bd. 3: Über die Kleinigkeiten im Umgange. Hann. 1817. Literatur: Karl Georg Wilhelm Schiller: Braunschweigs schöne Litt. in den Jahren 1745 bis 1800 [...]. Zum 100jährigen Stiftungsfeste des Collegii Carolini. Wolfenb. 1845, S. 126–131. – Günter Schulz: C. F. P. u. die Erziehung in der frühen Kindheit. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Hg. ders. Bd. 3, Bremen/Wolfenb. 1976, S. 259–272. – Sybille Kershner: Grenzen der Selbsterkenntnis, Krankheit u. Geschlecht in popularphilosoph. Texten v. Weikard, P.s u. Moritz. In: Das Achtzehnte Jh. 16 (1992), S. 120–136. – Jürgen Schlumbohm: Constructing Individuality: Childhood Memories in Late Eighteenth-Century ›Empirical Psychology‹ and Autobiography. In: German History 16 (1998), S. 29–42. Dieter Kimpel / Red.

Podewils(-Juncker-Bigatto), Clemens Graf, * 20.8.1905 Bamberg, † 5.8.1978 München. – Erzähler, Lyriker u. Übersetzer. Der Offizierssohn u. promovierte Jurist arbeitete nach dem Studium zunächst als Auslandskorrespondent für verschiedene dt. Zeitungen (»Münchner Neueste Nachrich-

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ten«, »Germania«, »Kölnische Volkszeitung«) in England u. Frankreich. 1932–1934 war er Kulturattaché an der dt. Botschaft in Brüssel. Danach lebte er als Gutsbesitzer in Westböhmen. Während des Kriegs war er Berichterstatter in Russland, Italien u. Frankreich. In dieser Zeit lernte er auch Ernst Jünger kennen, mit dem er befreundet war. 1949–1975 leitete P. als Generalsekretär die Bayerische Akademie der Schönen Künste, die unter seiner Ägide eine Stätte kultureller Begegnungen wurde. Die P. nachgerühmte Kunst der Vermittlung u. Repräsentation schlug sich auch in der Gründung des internat. Jahrbuchs für Literatur »ensemble« nieder, das er gemeinsam mit Heinz Piontek als kulturpolit. Antwort auf die ideolog. Herausforderung der Neuen Linken entwarf u. seit 1968/69 im Auftrag der Akademie herausgab. Die Zeitschrift sollte durch internationale, niveauvolle Beiträge über die moderne literar. Entwicklung unterrichten. P.’ eigenes Werk ist schmal u. von konservativer Haltung geprägt. In seinen frühen Arbeiten, dem in Hexametern gehaltenen idyllischen Epos Söhne der Heimat (Bln. 1941) u. der eine alte ungarische Legende aufgreifenden Erzählung Der Zriny (Mchn. 1955), werden Zeitereignisse (die Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa) im Rahmen einer überzeitl., naturhaften Ordnung gedeutet. Unpolitisch sind auch P.’ Kriegsaufzeichnungen Don und Wolga (Mchn. 1952), in denen er den Russlandfeldzug beschreibt. Erst in seinen späten Gedichten (Die Wegwarte. Pfullingen 1978) kommt es zu einer Reflexion des eigenen poet. Standpunkts: Indem Dichtung die Sprache der Natur in die »Wortsprache« des Menschen übersetzt u. darin bewahrt, soll sie dem Menschen zgl. seine Herkunft u. seine Stellung in der Ordnung des Seins erschließen. Mit deutl. Anklang an Heideggers Kritik der Moderne meldet sich jedoch auch bei P. der Zweifel, ob dies in einer »schattenlosen«, »ausgeleuchteten Welt« überhaupt noch möglich ist. P. machte sich auch als Übersetzer west- u. osteurop. Lyrik einen Namen (u. a. René Char, André Malraux, D. H. Lawrence).

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Weiteres Werk: Savan. Hbg. 1948 (L.). Literatur: In memoriam C. Graf P. In: ensemble 10 (1979). – Barbara v. Wulffen: Der Vater. C. P. zum Neunzigsten. In: Jb. der Bayer. Akademie der Schönen Künste 10 (1996), S. 403–412. – Albert v. Schirnding: Über C. P. Ebd., S. 413–417. – Ders.: C. u. Sophie Dorothee P. Eine Freundschaft mit Ernst u. Friedrich Georg Jünger. In: Verwandtschaften. Hg. Günter Figal u. Georg Knapp. Tüb. 2003, S. 232–248. – Martin Heidegger, Ernst Jünger u. Friedrich Georg Jünger: Briefe an Sophie Dorothee u. C. P. In: SuF 58 (2006), H. 1, S. 43–59. Peter König / Red.

der wahnhaften Entrückung u. Begeisterung zugänglich. Weitere Werke: Die geflügelte Orchidee. Bln. 1941 (R.). – Spuren der Horen. Hbg. 1948 (L.). – Der Dunkle u. die Flußperle. Tüb. 1950 (E.). – Die Hochzeit. Pfullingen 1955 (E.). Literatur: Curt Hohoff: Junge dt. Erzähler. In: Hochland 41 (1948/49), S. 284. – Albert v. Schirnding: Clemens u. S. D. P. Eine Freundschaft mit Ernst u. Friedrich Georg Jünger. In: Verwandtschaften. Hg. Günter Figal u. Georg Knapp. Tüb. 2003, S. 232–248. – Martin Heidegger, Ernst Jünger u. Friedrich Georg Jünger: Briefe an S. D. u. Clemens Podewils. In: SuF 58 (2006), H. 1, S. 43–59. Peter König / Red.

Podewils(-Juncker-Bigatto), Sophie Dorothee von, geb. Freiin von Hirschberg, * 16.2.1909 Bamberg, † 5.10.1979 Starn- Pöllnitz, Karl Ludwig (Wilhelm) Frhr. berg. – Erzählerin u. Lyrikerin. von, * 25.2.1692 Issum bei Geldern, † 23.6.1775 Berlin. – Verfasser von RoNach dem Studium der Malerei u. Grafik in manen, Reisebeschreibungen u. BiografiBrüssel u. Paris heiratete P. Graf Clemens en. Podewils. Charakteristisch für ihr erzählerisches Werk ist der Versuch, die moderne Welt in den »Formen eines edlen Klassizismus« (Curt Hohoff) darzustellen. In dem tagebuchartig angelegten Handwerkerroman Wanderschaft (Bln./Ffm. 1948) schildert P. die Geschichte eines jungen Töpfers, der sich nach dem trag. Verlust seiner Braut in eine traumhafte Wirklichkeit flüchtet. Der Roman verbindet Elemente der dt. Romantik u. der Jugendbewegung mit einer in Pastelltönen malenden Erzählweise, die sich immer wieder bestimmter atmosphär. Schlüsselworte (Mond, Dämmerung, Einsamkeit, Höhle, Traum usw.) bedient. In einer Rezension (in: Ost und West, Nr. 5, S. 12–22) kritisierte Wolfgang Weyrauch die Wanderschaft wegen P.’ Glorifizierung des Krieges u. der Rechtfertigung der Ständegesellschaft u. Rassentheorie. Auch in ihrem letzten Roman, Schattengang (Mchn. 1982), zeigt sich P.’ Vorliebe für romant. Nacht- u. Gespensterstimmung. Der in Irland spielende Briefroman enthält zahlreiche Anspielungen auf die irische Märchen- u. Sagenwelt. Er besteht aus nicht abgeschickten Briefen (»Verzweiflungsepisteln«), in denen die Auffassung zum Ausdruck kommt, die wahre Wirklichkeit sei dem Menschen nicht durch den Verstand, sondern nur im Zustand

P.’ Lebenslauf war wechselhaft: Berufe, Wohnorte, Vermögensverhältnisse u. auch die Konfession änderten sich so häufig, dass ihm Epitheta wie »Glücksritter« u. »Abenteurer« beigelegt wurden. Zahlreiche Daten seines Werdegangs lassen sich allerdings nur aus den autobiogr. Schriften rekonstruieren, deren Authentizität letztlich nicht gesichert ist (Mémoires. 3 Bde., Liège 1734. Dt. 4 Bde., Bln. 1735. Nouveaux Mémoires. 2 Bde., Amsterd. 1737). Als Angehöriger eines alteingesessenen thüring. Adelsgeschlechts wurde der Sohn eines kurbrandenburg. Obersten am preuß. Hof gemeinsam mit dem nachmaligen Friedrich Wilhelm I. erzogen. Zwischen 1710 u. 1723 bereiste er die Höfe Europas. Nach dem Übertritt zum Katholizismus blieb ihm zunächst der preuß. Hof verschlossen, bis ihn nach erneutem Konvertieren Friedrich Wilhelm I. 1735 als Kammerherr einstellte. 1740 von Friedrich II. zum Oberzeremonienmeister ernannt, führte er ein Höflingsleben zwischen Gnade u. Ungnade, immer wieder gedemütigt durch geringschätzige Bemerkungen des Königs. P.’ im Original frz. Schriften befassen sich durchweg mit den europ. Fürstenhöfen u. ihrem Zeremoniell. Seine Memoiren gab er in mehreren, z.T. umgearbeiteten u. erweiterten

Pörtner

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Versionen heraus, meist in Briefform (Lettres Pörtner, Paul, * 25.1.1925 Elberfeldtal, et mémoires. 2 Bde., Ffm. 1740. Lettres saxonnes. † 16.11.1984 München. – Theater- u. 2 Bde., Bln. 1738). Ob er die dt. Ausgaben Hörspielautor, Lyriker, Erzähler, Essayist, selbst besorgte, ist nicht belegt (Briefe [...] von Herausgeber. seinen Reisen [...]. 3 Bde., Ffm. 1738. Nachrichten. 4 Bde., Ffm. 1735. Neue Nachrichten. 2 Der Sohn eines Kaufmanns studierte in Berlin Bde., Ffm. 1739). Mit der jüngsten Vergan- u. gründete nach einer Verwundung im genheit europ. Höfe setzte sich P. in seinen Zweiten Weltkrieg 1945 in Wuppertal die romanhaften Werken Histoire secrette de la Künstlervereinigung »Der Turm«. Nach TäDuchesse d’Hanover (London 1732. Dt. o. O. tigkeiten am Theater in Remscheid begann er 1734) u. La Saxe galante (Amsterd. 1734. Dt. 1951 ein Studium der Germanistik, Romaebd. 1735. Nachdr. Dortm. 1979. Neue nistik u. Philosophie an der Universität in Übersetzungen: Otto Brandt. Hellerau 1927. Köln u. v.a. in Frankreich. Seit 1958 lebte P. Wolfgang Paul. Ffm. 1964) auseinander, in als freier Schriftsteller in Zürich-Zumikon. Er denen er die Amouren der Gattin Georgs I. arbeitete als Regisseur für Theater, Funk u. bzw. des sächs. Kurfürsten August des Star- Fernsehen u. übersetzte experimentelle Liteken erzählt. Galanterie einerseits, Herrscher- ratur aus dem Französischen (Alfred Jarry, willkür gegenüber Mätressen andererseits Jean Tardieu, Antonin Artaud, André Frestehen im Mittelpunkt der Beschreibung. naud). Nach ersten Gedichtbänden veröffentlichte Trotz fiktiver Ausschmückung zeichnet P. dabei ein realist. Bild von den Höfen des P. 1962 den Roman Tobias Immergrün (Köln), ein possenhaftes Sprachspiel über Lebensabausgehenden Absolutismus. Weitere Werke: Amusemens des Eaux de Spa. schnitte eines Findelkindes. Der Prosaband London 1734. Dt. Ffm./Lpz. 1735. – Mémoires pour Einkreisung eines dicken Mannes (Köln 1968) servir à l’histoire des quatre derniers souverains de versammelt autobiografische u. groteske Erla maison de Brandenbourg. 2 Bde., Bln. 1791. Dt. zählungen, die P.s Vorliebe für experimenebd. 1791. telle Formen in der Literatur zeigen. Vor alAusgaben: Das galante Sachsen. Neue Übertr. v. lem aber ist P. als Theoretiker u. Autor des René Faber nach der anonymen Erstausg. ›La Saxe Experimentaltheaters u. als Verfasser zahlgalante‹, Amsterd. 1734, mit den Zusätzen späterer reicher Hörspiele hervorgetreten. Elemente Ausg.n. Mchn. 1992. 1995. – La Saxe galante. des absurden Theaters übernimmt er in Ausgew. u. hg. v. Verena v. der Heyden-Rynsch. Mensch Meier oder das Glücksrad (1959), eine Paris 2004. skizzenhafte Parabel über die ManipulierLiteratur: Florinda Mazziotta: Il folclore in barkeit des kleinen Mannes. Im KriminalItalia nelle memorie del Barone v. P. Rom 1967. – stück Scherenschnitt (Köln 1964) wird das PuHans Wagner: Vom Barock zum Rokoko. Das galante Sachsen bei Hunold u. P. In: ›Der Buchstab blikum zum Mitspielen aufgefordert; der tödt, der Geist macht lebendig‹. FS Hans-Gert Handlungsablauf ist durch das Eingreifen der Roloff. Hg. James Hardin u. a. Bd. 2, Bern u. a. Zuschauer u. entsprechendes Improvisieren 1992, S. 967–976. – Manfred Hanke: Schnorrer der Darsteller frei veränderbar. P.s Entwickbeim Alten Fritz. Freundl. Erinnerung an K. L. v. lung zum experimentellen Autor, »die ihn P., unseren ersten Reiseschriftsteller. In: Philobi- vom geschriebenen Wort zur gesprochenen blon 40 (1996), S. 15–31. – Lustgärten um Bay- Sprache führte« (Reinhard Döhl), zeigt sich in reuth. Eremitage, Sanspareil u. Fantaisie in Beder Vielfalt seiner Ansätze. Seine Radiokunst schreibungen aus dem 18. u. 19. Jh. Hg. Ingo der 1960er Jahre weist den Weg vom tradiToussaint. Hildesh. u. a. 1998. – Gerhardt Petrat: Die letzten Narren u. Zwerge bei Hofe [...]. Bochum tionellen Hör- zum radiofonen Schallspiel. P. 1998. – Hans Wolfram v. Hentig: K. L. W. Frhr. v. P. sah sich als Sprachkünstler, der den SchreibIn: NDB. – Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, tisch des Autors mit dem Mischpult des frivole Franzosen. Nat. Stereotype in dt. u. frz. Lit. Toningenieurs tauschte. Stgt. u. a. 2001.

Dominica Volkert / Red.

Weitere Werke: Lebenszeichen. Wuppertal 1956 (L.). – Wurzelwerk. Köln 1960 (L.). – Variation für zwei Schauspieler. Zürich 1960 (D.). – Experi-

Poethen ment Theater. Zürich 1960 (Dokumentation). – Lit.-Revolution 1910–1925. 3 Bde., Neuwied 1960–64. – Sophie Imperator. Köln 1962 (D.). – Entscheiden Sie sich! Köln 1965 (D.). – Gestern. Köln 1965 (R.). – München 1912. Sprengstoff in Konserven. 1970 (Fernsehfilm). – Spontanes Theater. Köln 1972 (Ess.s). – Polizeistunde. Köln 1974 (D.). – Hörspiele: Mensch Meier. BR 1961. – Schallspielstudie I. BR 1964. – Was sagen Sie zu Erwin Mauss? BR/NDR 1967. – Alea. BR/WDR/SR 1969. – Weltende. Requiem für Jakob van Hoddis. WDR 1973. – Dadaphon. Hommage à Dada. WDR 1974. – Ermittlungen in eigener Sache. Radioroman. SWF 1974. – Stimm-Experimente. NDR/WDR 1974. – Blitzlicht. HR 1980. – Herausgeber: Jakob van Hoddis: Weltende. Ges. Dichtungen. Zürich 1958 (L.). Literatur: Marianne Kesting: Panorama des zeitgenöss. Theaters. Mchn. 1969, S. 311–314. – Heinz Schwitzke (Hg.): Reclams Hörspielführer. Stgt. 1969, S. 488–492. – Reinhard Döhl: Von der Klangdichtung zum Schallspiel. In: Hörspielmacher. Hg. Klaus Schöning. Königst. 1983. S. 37–68. – Irmela Schneider: P. In: KLG. – Ingo Kottkamp: Stimmen im Neuen Hörspiel. Münster 2001, S. 119–145 (Diss.). Klaus W. Hübner

Poethen, Johannes, * 13.9.1928 Wickrath/ Niederrhein, † 9.5.2001 Stuttgart. – Verfasser von Lyrik, Essays, Prosa. Der Sohn eines Lehrers verbrachte seine Kindheit u. erste Schulzeit bis 1941 in Köln; es folgten Schulbesuch u. Kriegsdienst als Luftwaffenhelfer u. im Arbeitsdienst in Schwaben, Bayern u. Österreich. 1945 zunächst nach Köln zurückgekehrt, studierte P. ab 1948 bei Friedrich Beißner u. Walter F. Otto Germanistik, Gräzistik, Geschichte u. Anglistik in Tübingen u. arbeitete dann bis 1978 als freier Schriftsteller in Stuttgart. P. war Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, Vizepräsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland u. Initiator des Stuttgarter Schriftstellerhauses. Von 1978 bis 1989 leitete er die Literaturabteilung des SDR. Zuletzt lebte er abwechselnd in Stuttgart u. in Griechenland (Vrachati bei Korinth), das ihm geistige Heimat war. P. hat bemerkenswerte Reiseessays, Features u. Kritiken geschrieben, doch war er primär Lyriker. Seit den ersten Gedichtveröffentlichungen 1947 in der »Neuen Rund-

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schau« u. dem ersten Buch Lorbeer über gestirntem Haupt (Düsseld. 1952) ging P. konsequent eigene Wege: von den formstrengen Einzelgedichten des Anfangs zu großen Prosagedichten u. Zyklen (z.B. Wohnstatt zwischen den Atemzügen. Mit einem Nachw. v. Marie Luise Kaschnitz. Hbg. 1966. Im Namen der Trauer. Mit elf farbigen Holzschnitten v. HAP Grieshaber. Düsseld. 1969), vom hohen Ton zu sarkast. Bitterkeit, von meditativer Versenkung ins einzelne Objekt u. dessen wortgläubiger Evokation zur Artikulation von Sprachzweifel u. Weltekel (Rattenfest im Jammertal. Gedichte 1972–1975. Düsseld. 1977). Ab Mitte der 1970er Jahre wurden P.s Gedichte einfacher u. direkter. Ohne sich von der Tradition zu lösen, begann P. mit Ironie u. lakon. Witz die Abgründe einer Welt auszuloten, die ihm allzu aufgeklärt u. haltlos schien. Persönlicher als zuvor artikulierte er seine anhaltende Sehnsucht nach der Fülle von Erfahrung u. Sinn einer mythendurchwalteten Welt, deren »torso« ihm in der geliebten griech. Landschaft begegnete (ausführlich in den Reiseessays Der Atem Griechenlands. Düsseld. 1977. Urland Hellas. Weingarten 1987. Auf der Suche nach Apollon. Tüb. 1992. Von Kos bis Korfu. Eggingen 1998. In Bruder Sphären Wettgesang. Warmbronn 2003). Der Mythos blieb für ihn eine spezif. Weise, die Welt zu begreifen, u. das Gedicht, bei aller Zeitkritik, bis zuletzt eine autonome Region, in der es um die gelungene Verschmelzung von Intuition u. Ratio, von Enthusiasmus u. Kalkül geht (Ach Erde du alte. Gedichte 1976–1980. Stgt. 1981. Wer hält mir die Himmelsleiter. Gedichte 1981–1987. Mit einem Nachw. v. Martin Gregor-Dellin. Karlsr. 1988). Noch im letzten zu Lebzeiten erschienenen Gedichtband gibt P. seiner Hoffnung auf diese immer wieder zu erringende, als innigste Begegnung von Welt u. Ich erfahrene Vermittlung Ausdruck: »All die buchstaben / wie sie sich herdrängen / das fällt dir über die lippen / schal aus dem gaumen / ein trockener ekel // manchmal freilich / wie mit dem stab berührt / diese zeilen / zwischen denen der duft aufsteigt« (Zwischen dem All und dem Nichts. Gedichte 1988–1993. Eggingen 1995). Er knüpft damit – seinen früher formulierten Sprachzweifeln weniger trotzend als entsprechend – an sein poetolog.

Pötzl

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Bekenntnis im 1970 entstandenen Gedicht Tod für die Welt an, in dem es heißt: »Ich bin nur in wörtern / ich habe kein anderes alibi / so entwerfe ich mir den atemraum.« Weitere Werke: Risse des Himmels. Esslingen 1956 (L.). – Stille im trockenen Dorn. Neue Gedichte. Esslingen 1958. – Ankunft u. Echo. Gedichte u. Prosagedichte. Ffm. 1961. – Episode mit Antifanta. Mit sechs Silberstiftzeichnungen v. HAP Grieshaber. Stierstadt 1961/62 (P.). – Gedichte. Mit einem Vorw. v. Klaus Birkenhauer. Darmst. 1963. – Kranichtanz. Gedichte u. Prosagedichte. Stgt. 1967. – Aus der unendl. Kälte. Vierzehn Gedichte, sieben Sprüche, drei Fragmente. Darmst. 1969. – Gedichte 1946–71. Hg. u. mit einem Nachw. v. Jürgen P. Wallmann. Düsseld. 1973. – Schwarz das All. Vier Zyklen Gedichte. Scheer/Donau 1984. – Auch diese Wörter. Neue Gedichte. Mit zehn Bildern v. Eva Schorr. Weingarten 1985. – Eines Morgens über dem Golf. Vierzehn Gedichte. Warmbronn 1986. – Die Möwen der Hagia Sophia. Vierzehn Gedichte. Warmbronn 1992. – Das Nichts will gefüttert sein. Fünfzig Gedichte aus fünfzig Jahren. Weissach im Tal 1995. – Nach all den Hexametern. Letzte Gedichte 1995–2000. Stgt. 2001. Literatur: Jochen Kelter u. Jürgen P. Wallmann (Hg.): Ich bin nur in Wörtern. J. P. zum 60. Geburtstag. Warmbronn 1988. – Usch Pfaffinger (Hg.): ›und lächelnd ins aufatmen nimmt mich mit der delphin‹. In memoriam J. P. Stgt. 2001. – Doris Christiansen-Reinhold: J. P. In: KLG. – Walter Helmut Fritz: J. P. In: LGL. – Michael Basse u. Hermann Korte: J. P. In: KindlerNeu. Jürgen P. Wallmann † / Hans Kruschwitz

Pötzl, Eduard, auch: Kleinpetz oder Littlepez, * 17.3.1851 Wien, † 21.8.1914 Mödling/Niederösterreich. – Journalist u. Feuilletonist. Als Sohn eines k.u.k. Notars u. einer Weinhauerstochter aus Neustift wuchs P. im bürgerl. Wiener Milieu auf. Nach der Matura am Piaristengymnasium strebte er zunächst eine Beamtenlaufbahn bei der Kaiser-Franz-Josephs-Bahn an, bevor er 1870 begann, Rechtswissenschaften in Wien zu studieren. Nach dem Tod seines Vaters u. dem Verlust des Familienvermögens in der Börsenkrise 1873 musste er sein Studium aus finanziellen Gründen abbrechen u. wurde Redakteur bei der »Wiener Neustädter Zeitung«. Ein Jahr später wechselte er als Gerichtsberichterstat-

ter an das kleinbürgerlich-liberale »Neue Wiener Tagblatt«, wo er 1884 zum Chef des Feuilletons aufstieg. Bis zu seinem Tod verfasste er mehr als 1500 Wiener Lokalskizzen, Reiseberichte, Gerichtsreportagen u. Literaturkritiken für das »Neue Wiener Tagblatt«. Nach Friedrich Schlögl, dem Begründer der Lokalskizze, gilt P. mit Vincenz Chiavacci als wichtigster Vertreter der journalist. Kleinformen u. als einer der bedeutendsten Wiener Feuilletonisten der zweiten Hälfte des 19. Jh. Etwa die Hälfte seiner journalist. Arbeiten erschien beinahe jährlich auch als Buchpublikation. Von seiner über Österreich hinausgehenden Popularität zeugen v. a. zahlreiche Wiederabdrucke bei Reclam, wo u. a. jeweils eine dreibändige Sammlung der Kriminal-Humoresken. Skizzen und Typen aus den Wiener Gerichtssälen (Lpz. 1884–87) u. Lokalskizzen Wien (Lpz. 1885/86) erschien. Seine humorvollen Sittengemälde weisen aufgrund der genauen Dialektwiedergabe in wörtl. Rede einen hohen Grad an Realismus auf, ohne jedoch deswegen sozialreformerische Tendenzen aufzugreifen, u. trafen damit den Geschmack des Wiener Kleinbürgertums, da der affirmativ-subversive Ton von P.s Figuren zwischen Spießerkritik u. Einladung zur Identifikation changiert. Dieser ambivalente Dialektgebrauch weist auf die Sprache des neorealist. Volksstücks u. der Wiener Gruppe voraus. Bereits Karl Kraus schätzte P.s Sprachgefühl u. sagte von ihm, er sei »der humorvollste Beobachter und klügste Kritiker«. Insbes. mit dem »Herrn von Nigerl« (Herr Nigerl und lauter solche Sachen. Gesammelte Wiener Schildereien. Wien u. a. 1889 u. Der Herr von Nigerl und andere humoristische Skizzen. Lpz. 1892) – der sich eng an die Figur des »Mr. Pickwick« anlehnt, den sein Vorbild Charles Dickens erfand u. der ebenfalls einen Club der Spießbürger gründete – schuf P. die stehende Figur eines selbstgefälligen Wiener Parvenüs, welcher den Typus des Wiener Vorstädters verkörperte. Als ein Nachfahre der Staberlfigur fand er in der Bearbeitung Nigerl’s Reise nach Paris. Posse mit Gesang in fünf Bildern Friedrich Antony (Wien 1890) auch den Weg auf die Bühne. Um 1900 wurde P. zum vehementesten Kritiker der Wiener Moderne u. des Jugend-

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stils. Unmittelbar neben Hermann Bahr pu- 1983. – Hans Heinz Hahnl: E. P. In: Ders.: Verblizierte er in der gleichen Zeitung Angriffe gessene Literaten. Wien 1984, S. 99–102. – Ingegegen die Sezession (Moderner Gschnas und borg Klauser: Der Wiener Mundartwortschatz bei andere Wiener Skizzen. Wien 1901), die lange E. P. u. seine Weiterentwicklung bis zur Gegenwart. Diss. Wien 1986. – Hannes Haas: E. P. KorZeit das Bild von P. als ewig gestrigem Morekturen am Klischee. In: Ztg.en im Wiener Fin de dernekritiker prägten, dessen humorist. Siècle. Hg. Sigurd Paul Scheichl u. Wolfgang Werk von der heimattümelnden Antimoder- Duchkowitsch. Wien 1997, S. 211–227. ne der 1930er u. 1940er Jahre vereinnahmt Thorsten Fitzon wurde (Die gute alte Zeit. Wiener Bilderbogen. Wien 1937. Über den Umgang mit Wienern. Bln. Poggendorff, Johann Christian, * 29.12. 1941. In Spiritus aufbewahrt. Heitere Wiener 1796 Hamburg, † 24.1.1877 Berlin; Skizzen. Bln. 1942). In jüngster Zeit erfuhr der Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof Meister der Lokalskizze jedoch eine Neube- Schönhauser Allee. – Physiker. wertung als Wegbereiter journalistischer Weil die Familie während der frz. Besetzung Kleinformen. Hamburgs u. der Kontinentalsperre als BeWeitere Werke: Wiener Skizzen aus dem Gerichtssaal. Wien 1884. – ›Jung-Wien‹. Allerhand sitzer einer Zuckerfabrik fast ihr gesamtes wienerische Skizzen. Hochdeutsch u. in der Mut- Vermögen verloren hatte, wurde P. nach dem tersprache. Bln. u. Lpz. 1885. – Rund um den Besuch eines Internats in Schiffbeck, wo ihn Stephansturm. Ausgew. humorist. E.en, Skizzen u. Friedlieb Ferdinand Runge (1795–1867), Studien. Lpz. 1888. – Die Leute v. Wien. Neue Folge später Professor der Chemie in Berlin, für die ausgew. humorist. Skizzen. Lpz. 1889. – Klein- Naturwissenschaften begeisterte, 1812 zu eiWiener. Skizzen in Wiener Art u. Mundart. Wien nem Apotheker in die Lehre geschickt; 1890. – Wiener v. heute. Ges. Skizzen nebst einem 1818–1820 war er Apothekengehilfe in ItzeAnhange Wienerischer Ausdrücke. Wien 1892. – hoe. Dann folgte er Runge an die Berliner Wiener v. Eisen. Gesammeltes. Wien 1894. – Das Universität, fiel durch Fleiß u. Talent auf u. weltl. Kloster. Wien 1894. – Ein Hexenproceß. erfand bereits 1820 den »Multiplikator«, Histor. Schwank in einem Acte. Wien 1894. – durch den schon sehr schwache Ströme eine Stadtmenschen. Ein Wiener Skizzenbuch. Wien 1895. – Bummelei. Neue ges. Skizzen. Wien 1896. – Magnetnadel ablenken. 1824 wurde er mit Hoch vom Kahlenberg. Heitere u. ernste Skizzen der Redaktion der »Annalen der Physik und aus dem Wiener Leben. 3 Bde., Lpz. 1898. – Chemie« betraut, deren Herausgabe er zu Landsleute. Kleine Beobachtungen eines Wieners. seiner Lebensaufgabe machte. Er schlug alle Wien 1899. – Mitbürger. Neueste Skizzenslg. Wien Berufungen aus, erhielt jedoch 1830 den Titel 1900. – Heuriges. Skizzen aus Kunst u. Leben. Königlicher Professor, wurde 1834 ExtraorWien 1902. – Eingeborene. Wienerische Skizzen dinarius für Physik in Berlin u. 1839 Mitgl. ges. in diesem Jahr. Wien 1903. – Wiener Skizzen der Preußischen Akademie der Wissenschafaus der Vaterstadt. Wien 1904. – Zeitgenossen. Sa- ten. tiren u. Skizzen aus Wien. Wien 1905. – Wiener Als Experimentalphysiker widmete P. sich Tage. Wien 1906. – Stadt u. Land. Allerlei Studien v. a. der Entwicklung von elektr. u. magnet. u. Stimmungen. Wien 1908. – Leises Leben. Neue Messapparaturen – u. der Überprüfung der Skizzen. Wien 1910. – Donauluft. Neue Folge v. Skizzen aus Wien u. Umgebung. Wien 1912. – Der für die »Annalen« eingereichten Arbeiten. liebe Augustin u. andere heitere Bilder aus Wien. Insg. 160 Bände dieser damals angesehensten dt. Fachzeitschrift gab er bis 1877 heraus u. Mchn. 1912. – Wiener Leut’. Wien 1923. Ausgabe: Ges. Skizzen. Vom Verf. gesichtete prägte durch Auswahl u. Kritik der Beiträge Ausg. in 18 Bändchen. Mit einem Vorw. v. Peter die dt. Physik der Zeit maßgeblich. So ließ ihn die Bevorzugung experimentell gewonRosegger. Wien 1906. Nachdr. Cosenza 1968. Literatur: Eugenie Gause: E. P. u. die Wiener nener quantitativer Ergebnisse sofort den Skizze. Diss. Wien 1934. – Eveline Anna Maria Wert der Arbeiten von Ohm u. Kirchhoff erPircher: Studien zu Form u. Thematik der Wiener kennen, während er die Überlegungen zur Lokalskizze im ausgehenden 19. Jh. Friedrich Energieerhaltung von Mayer u. Helmholtz Schlögl, E. P. u. Vincenz Chiavacci. Diss. Innsbr. verkannte u. ablehnte. Aus seiner Überzeu-

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gung, dass ein Teil der Lösung eines Problems immer schon in dessen Vorgeschichte liege, erklärt sich P.s Interesse an der Geschichte der Physik (postum 1879. Vgl. Lebenslinien zur Geschichte der exacten Wissenschaften. Bln. 1853), dem auch sein in der Fortführung gerade abgeschlossenes, für die Wissenschaftsgeschichte unentbehrl. Biographisch-Literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften (2 Bde., Lpz. 1863) sein Entstehen verdankt. Literatur: Wilhelm Barentin: J. C. P. In: Annalen der Physik 160 (1877), S. V-XXIV. – Hans Salié: P. and ›Poggendorff‹. In: Isis 57 (1966), S. 389–392. – Michael Engel: P. In: NDB. – Heiner Kaden u. Benno Parthier (Hg.): J. C. P. – Leben u. Werk. Vorträge des Kolloquiums im Okt. 2004 aus Anlass des Abschlusses eines Jahrhundertwerkes. Stgt. 2006. Fritz Krafft

Pohl, Gerhart, auch: Silesius alter, * 9.7. 1902 Trachenberg/Schlesien, † 15.8.1966 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof Zehlendorf. – Romancier, Erzähler, Essayist u. Dramatiker.

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Werke, nach dem Krieg auch dessen spezif. Schicksal im Zusammenhang mit den Vertreibungen. So reicht P.s großer, personen- u. handlungsreicher Roman Fluchtburg (Bln. 1955), in dessen Zentrum das Haus eines Künstlers im Riesengebirge während des Dritten Reichs steht, bis in diese Zeit, wogegen der Roman Der verrückte Ferdinand (Stgt. 1939) im Schlesien der Gründerzeit spielt u. der Roman Die Brüder Wagemann (Stgt. 1936) ein Schicksal aus der Zeit der Jugendbewegung u. den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg vorführt. P. war mit Gerhart Hauptmann befreundet, dessen letzte Tage er 1946 miterlebte u. später beschrieb (Bin ich noch in meinem Haus? Bln. 1953. Neuausg. Radebeul 2002). Im gleichen Jahr siedelte er zunächst nach Ost-, 1950 nach Westberlin über. P. gilt zwar als einer der bedeutendsten schles. Dichter im 20. Jh., ist aber einer breiten Öffentlichkeit kaum mehr präsent. Weitere Werke: Tgb. merkwürdiger Verführungen. Bln. 1924 (E.en). – Partie verspielt. Bln. 1929 (E.en). – Vormarsch ins XX. Jh. Zerfall u. Neubau der europ. Gesellsch. im Spiegel der Lit. Lpz. 1932 (Ess.s). – Sturz der Göttin. Das seltsame Schicksal des Fräulein Aubry. Merseburg 1939 (E.). – Schles. Gesch.n. Breslau 1942. – Wieviel Mörder gibt es heute? Bln. 1953 (E.en). – Silesius alter: Anspruch u. Wirklichkeit. Ostdtschld. in poln. Sicht. Bln. [1957] (Funkess.). – Südöstl. Melodie. Bln./Stgt. 1963 (Ess.s, Hörsp.).

Der Sohn eines Sägewerkbesitzers nahm als Gymnasiast in Breslau an der Jugendbewegung teil; diese Erfahrung prägte seinen literar. Erstling, die Novelle Fragolfs Kreuzweg. Ein Jugendjahr (Bln. 1922), die auch expressionist. Züge aufweist. Sein Studium in Literatur: Werner Hofmann: G. P. Werden u. Breslau u. München schloss er mit der Dis- Wirken. Bln. 1962 (mit Bibliogr.). – Wolfgang sertation Der Strophenbau im deutschen Volkslied Reuter: Gerhart Hauptmanns Knappe. Über G. P.s (Bln. 1921) ab. P. ging nach Berlin u. arbeitete Leben u. Schaffen. In: Schlesien 37 (1992), H. 1, dort als Lektor u. Herausgeber der einfluss- S. 25–32. Walter Olma reichen, kulturkrit. Zeitschrift »Die neue Bücherschau« (1922–29), die unter seiner Pohl, Klaus, * 30.3.1952 Rothenburg ob Leitung zu einem linksgerichteten Kampforder Tauber. – Dramatiker, Schauspieler u. gan wurde, wobei P. jedoch Doktrinarismus Drehbuchautor. u. ästhet. Urteile nach Maßgabe polit. Gesichtspunkte ablehnte. Später wandte er sich P. versteht sich als »Autor im Theater«. Der humanistisch-christl. Idealen zu, wie sie bei- am Max-Reinhardt-Seminar in Berlin ausgespielsweise in seinem Werk Wanderungen auf bildete Schauspieler, u. a. Ensemble-Mitgl. dem Athos (Bln. 1960) zu finden sind, das im am Burgtheater Wien, hat oft als Regisseur Anschluss an eine seiner vielen Reisen ent- oder Darsteller an den Inszenierungen seiner stand. Dramen mitgewirkt u. während der Proben Während der NS-Herrschaft lebte P. in seine Theatertexte revidiert. DramaturgiWolfshau im Riesengebirge als freier Schrift- sches Geschick u. Sprachkraft zeichnen seine steller. Er wählte immer wieder Schlesien Dramen aus. Die Nähe zur Bühnenpraxis hat zum Mittelpunkt u. Hintergrund seiner P. davor bewahrt, intellektuelles Theater zu

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machen; Aufklärung u. Entertainment sind Der Rückkehr des Ex-Sportlers sieht die für ihn keine Gegensätze. P. hat keine Scheu, Kleinstadt-Gesellschaft mit gemischten Geheterogene Stile u. Dramaturgien zu mi- fühlen entgegen: Dreck am Stecken haben schen, u. schreckt nicht vor Kolportage-Ef- alle. P.s Thema, seine Hassliebe auf Deutschfekten zurück. Zu einem der meistgespielten Dramatiker der 1990er Jahre wurde P. als land, spiegelt sich auch in seiner Filmarbeit. Autor von »Zeitstücken«, der aktuelle Stoffe Die Bandbreite reicht von dem Videoessay u. Themen aufgreift u. bühnenwirksam um- Heine (Arte/WDR 1997), inszeniert von Robert Longo mit P. u. Cindy Sherman, u. Jan setzt. Seine ersten Dramen Da nahm der Himmel Schüttes Spielfilm Abschied (2000) über auch die Frau (Urauff. München 1979) u. Brechts letzte Jahre, bis zu Gegenwartsstoffen Hunsrück (entst. 1979, Urauff. Bremen 1987) wie dem Fernsehspiel Stunde des Wolfs (ARD sind unverkennbar von Heiner Müller u. 2000) oder den Kinofilm Otomo (1999) über Thomas Brasch beeinflusst. Den Durchbruch den Tod eines Asylanten. brachte das Schauspiel Das Alte Land (Ffm. Weitere Werke: Da nahm der Himmel auch die 1984, Urauff. Wien 1984), mit dem Mülhei- Frau. In: Spectaculum 32 (1980), S. 235–269. – mer Dramatikerpreis ausgezeichnet u. von Romeos Schwalbe. SDR 1983 (Hörsp.). – La Balkona »Theater heute« zum »Stück des Jahres« ge- Bar. Hunsrück. Zwei Stücke. Ffm. 1985 (D.) – Heiwählt. P. entwirft das Panorama einer Dorf- ßes Geld. Ffm. 1988 (D.). – Das Milliardenspiel. gesellschaft in Umbruchzeiten. Das Stück ARD 1989 (Fernsehspiel). – Mauritius-Los. ARD 1991 (Fernsehspiel). – Manni Ramm I. Urauff. Eserzählt von den Kämpfen der Nachkriegszeit, sen 1994. – Zettel. Urauff. Hamburg 1995. – Schauplatz ist das »Altes Land« genannte Selbstmord in Madrid. Die Wassermann-Papiere. Obstanbaugebiet an der Unterelbe. Die ein- Reinb. 1995. – Wartesaal Dtschld. Stimmenreich. heim. Bauern verteidigen ihren Besitz gegen Eine Studie über den Charakter der Deutschen. die fremden Habenichtse. Das Alte Land ist Hbg. 1995. Urauff. Berlin 1995. – Das Deutschkeine Gegend für ein neues Leben. landgefühl. Reinb. 1999 (Ess.). – Vinny. Urauff. Das Alte Land bildet den Auftakt zu P.s Wien 1996. – Jud Süß. Urauff. Stuttgart 1999. – Die »Deutschland-Trilogie«, zu der die parallel Nacht des Schicksals. Urauff. Heidelberg 2000. – entstandenen, im Abstand weniger Tage ur- Seele des Dichters, unheiml. Lokal. Urauff. Bochum aufgeführten Stücke Die schöne Fremde u. Ka- 2003. – Kanari. Urauff. Wien 2003. – Der Anatom. Urauff. Wien 2005. – Nachtgespräche mit meinem rate-Billi kehrt zurück (Buchausg. Ffm. 1991. Kühlschrank. Urauff. Hamburg 2007. Neufassung 1993) gehören. Literatur: Michael Töteberg: K. P. In: Dt. Die schöne Fremde (Urauff. Recklinghausen Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Nor1991) schildert in grellen Farben den »Alp- bert Otto Eke. Bln. 2000, S. 851–867. – Ulrich traum« Deutschland mit Ausländerhass u. Schall: K. P. In: LGL. Michael Töteberg Provinzfaschismus. Auch hier ist der Schauplatz (Bebra im ehemaligen Zonenrandgebiet) kein realer Ort, sondern eine dt. SeePol, Heinz, eigentl.: H. Pollack, auch: Jalenlandschaft: Die Fremde hat es in ein kob Links, Hermann Britt, * 6.1.1901 »Schauerland« verschlagen, sie ist in einem Berlin, † 13.10.1972 New Milford/USA. – Gräuelmärchen gelandet. Erzähler, Publizist. Karate-Billi kehrt zurück (Urauff. Hamburg 1991) wurde, neben Schlusschor von Botho Nach dem Abitur studierte P. an der UniverStrauß, zur relevanten Auseinandersetzung sität Berlin, von der er wegen satir. Veröfdes Theaters mit der Wiedervereinigung. Das fentlichungen über Professoren ausgeschlosStück wurde an mehr als 40 Bühnen gespielt sen wurde. 1923–1931 war er Volontär u. u. in drei verschiedenen Inszenierungen für Redakteur bei der »Vossischen Zeitung« sodas Fernsehen aufgezeichnet. Billi Kotte, wie ständiger Mitarbeiter der »Weltbühne« Zehnkämpfer u. einst eine Medaillenhoff- u. der »Literarischen Welt«. In dem Roman nung der DDR, bevor er in der Psychiatrie Entweder – Oder (Bremen 1929) setzt er sich verschwand, ist nach 13 Jahren wieder frei. kritisch mit antidemokrat. Tendenzen in der

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Weimarer Republik u. der Oppositionspolitik der KPD auseinander. Nach kurzer Haft floh P. 1933 nach Prag. Dort leitete er ab 1934 die satir. Zeitschrift »Der Simplicus« (später u. d. T. »Der Simpl«), die sich als Fortsetzung des in Deutschland gleichgeschalteten »Simplicissimus« verstand. Über Paris (1936) emigrierte P. 1940 in die USA. In New York war er Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen. Sein antifaschist. Engagement dokumentieren seine Bücher Suicide of a Democracy (New York 1940) über den Zusammenbruch Frankreichs u. The Hidden Enemy (New York 1943) über den dt. Nationalismus. Nach dem Krieg arbeitete P. als Korrespondent für verschiedene dt. Tageszeitungen in New York. Weitere Werke: Patrioten. Bln. 1931 (R.). – De Gaulle. New York 1943 (Biogr.). – A. O. Auslandsorganisation. Linz 1945 (Tatsachenber.). – Ansatz u. Widerspruch. Bad Hersfeld 1965 (Aphorismen). Mechthild Hellmig / Red.

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er Hunolds Adalie sieht, soll der Roman nur wahre Liebesgeschichten erzählen. P.s Romane entsprechen dieser einfachen, sich auf Bohse berufenden Konzeption. Die StudirStube enthält eine Abfolge von Gesprächen über Studentenstreiche, in denen die »Thorheiten und Vanitäten der Verliebten« (Vorrede) eine zentrale Rolle spielen. Der Cupido, ein Werk an der Grenze zwischen Roman u. Briefsteller, schildert in Briefen die Liebesgeschichte zwischen Dolores u. Polander. Beide Romane zeigen die Eigentümlichkeiten des galanten Romans: bewusster Verzicht auf Belehrung – die »Moral« besteht aus Einsichten eines Ältergewordenen –, autobiogr. Stoff, Auflösung der Heliodor’schen Handlungsstruktur zugunsten von lose aneinandergereihten Einzelszenen u. Thematisierung der lebensbestimmenden Macht der Affekte. Literatur: Ernst Weber: Die poetolog. Selbstreflexion im dt. Roman des 18. Jh. Stgt. 1974, S. 36–38, 74 f. – Ders.: Texte zur Romantheorie. Bd. 1, Mchn. 1974. Ernst Weber

Polander. – Um 1700 in der Gegend von Hamburg lebender Romanautor. Polenz, Wilhelm (Christoph Wolf) von, * 14.1.1861 Obercunewalde/Oberlausitz, Ob sich hinter dem Pseud. tatsächlich der † 13.11.1903 Bautzen; Grabstätte: Schloss wegen seiner polit. Konflikte mit dem HamObercunewalde (Familiengrab). – Erzähburger Senat berüchtigte Syndikus Heinrich ler, Dramatiker. Pohlmann (geb. um 1628 Hamburg, † 1720 Glückstadt) verbirgt (Hugo Hayn u. Alfred N. Gotendorf: Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa. Bd. 6, Mchn. 1914, S. 225: »Advokat Pohlmann«) oder dessen Sohn Johann Hinrich Pohlmann, wie der Vater Jurist mit Lehrbefugnis (Lizentiat), kann nicht mehr ermittelt werden. Der Autor der beiden unter dem Namen P. erschienenen Romane Die lustige Studir-Stube (Lpz. 1703. 21721) u. Der entlarvte Cupido (Lpz. 1704. 21719) muss jedenfalls in oder um Hamburg gelebt haben. Denn auf Hunolds abfällige Kritik an der Studir-Stube antwortete P. im Cupido mit der Aufdeckung von Hamburger Affären, die Hunold in seinen Romanen nur verschlüsselt dargestellt hatte (S. 322–329). P. nutzte die Fehde, um sein Romanverständnis zu erläutern (s. auch S. 215–223. Nachdr. in Weber, Romantheorie, S. 369–377). Anders als der höfisch-histor. Gattungstyp, in dessen Tradition

P. stammte aus einem thüringisch-sächs. Uradelsgeschlecht. Nach dem Abitur (1882) brachte der Militärdienst in Dresden 1882/83 die prägende Bekanntschaft mit Moritz von Egidy, P.’ Vorgesetztem, dessen Idee eines undogmat., auf die Ethik reduzierten Christentums ihn anzog. Sich den Wünschen des Vaters fügend, studierte P. Jura in Breslau, Berlin (wo er auch Treitschke hörte) u. Leipzig, ohne seinen Wunsch aufzugeben, als Dramatiker zu reüssieren. Schon in Berlin begann er sich mit der sozialen Frage u. mit sozialist. Gedanken vertraut zu machen, für die er gewisse Sympathien erkennen ließ, ohne je Parteigänger der Sozialdemokraten zu werden. Das jurist. Referendariat in Dresden brach P. 1887 ab, um sich ungestört schriftstellerisch zu betätigen. Wichtige Anregungen erhielt er in den Diskussionen des »Ethischen Klubs« in Berlin, wo er auch nach

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seiner Eheschließung mit der Engländerin boshafterer Nichtjude zur Seite, im RechtsBeatrice Robinson (1888), mit der er vier anwalt Reppiner in Thekla Lüdekind eine poKinder hatte, zunächst meist lebte. Nicht als sitiv gezeichnete jüd. Figur gegenüber. P.’ Meisterwerk, Der Büttnerbauer, kann Dramatiker hatte P. Erfolg, dafür als Erzähler; weniger mit seinem Erstling, dem Ehe- auch heute noch als bedeutendste epische roman Sühne (2 Bde., Dresden 1890), u. der Leistung des dt. Naturalismus gelten. Studentennovelle Die Versuchung (Dresden Weitere Werke: Heinrich v. Kleist. Dresden 1891), wohl aber mit dem Roman Der Pfarrer 1891 (Trag.). – Wald. Bln. 1899 (N.). – Luginsland. von Breitendorf (3 Bde., Bln. 1893), der das Dorfgesch.n. Bln. 1901. – Wurzellocker. 2 Bde., Scheitern eines jungen liberalen Pfarrers an Bln. 1902 (R.). – Ges. Werke. Hg. Adolf Bartels. 10 seiner engstirnigen Umgebung schildert. Bde., Bln. 1909/10. Literatur: Heinrich Ilgenstein: W. v. P. Bln. 1894 übernahm P. das väterl. Gut, das er bis zu seinem Tod verwaltete, u. ließ sich, 1904. – Adolf Bartels: W. v. P. Dresden/Lpz. 1909. – wenngleich zögernd, auch lokalpolitisch in Wilhelm Tholen: W. v. P. Ein dt. Kulturhistoriker des ausgehenden 19. Jh. Diss. Köln 1924. – Hilde die Pflicht nehmen. In dichter Folge erschieKrause: W. v. P. als Erzähler. Diss. Mchn. 1937. – nen jetzt die großen Romane, in denen P. mit Roy C. Cowen: Der Naturalismus. Mchn. 1976, einer u. a. an Zola geschulten naturalist. Ge- S. 214–222 (zum ›Büttnerbauer‹). – Miklos Salyánauigkeit u. psychologisch glaubwürdig die mosy: W. v. P. Budapest 1985 (mit Bibliogr.). – Lebensschicksale von Menschen (oft seiner Stefan H. Kaszyn´ski: W. v. P. ›Der Büttnerbauer‹: mitteldt. Heimat) darstellt, die in den Kon- Lesearten. In: Traditionen u. Traditionssuche des flikt zwischen traditionellen Lebensverhält- dt. Faschismus 3 (1987), S. 71–82. – Elke Meyer: nissen u. der modernen Zeit geraten: Der Sozialdarwinist. Vorstellungen bei Conrad Alberti, Büttnerbauer (Bln. 1895), der Junkerroman Der Max Kretzer u. W. v. P. Magisterarbeit Kiel 1989. – Grabenhäger (2 Bde., Bln. 1897) u. die verhal- J. Stuart Durrant: A Literary Friendship: L. Tolstoy and W. v. P. In: Germano-Slavica 7 (1993), H. 2, tene Emanzipationsgeschichte Thekla LüdeS. 35–44. – Virginia L. Lewis: The Other Face of kind (2 Bde., Bln. 1900). 1902 unternahm P. Modernization: The Collapse of Rural Society in eine Studienreise in die USA (Reisebericht Das East Central Europe Realism and Naturalism. In: Land der Zukunft. Bln. 1903). Neohelicon 222 (1995), H. 2, S. 221–245. – Ronald Bei seinem frühen Tod galt P. als einer der Horwege: The German Farmer Confronts the Mobedeutendsten dt. Romanautoren der Zeit. dern World: An Analysis of W. v. P.’s ›Der BüttFontane rühmte den Büttnerbauer, ebenso nerbauer‹. In: Politics in German Literature. Hg. Tolstoi u. Tschechow. Der Roman, viel gele- Beth Bjorklund. Columbia 1998, S. 83–102. – sen bis 1945, schildert den Untergang des Siegfried Rönisch: P. In: NDB. Matthias Richter / Red. alteingesessenen Lausitzer Großbauern Traugott Büttner, der in dubiose Hypothekengeschäfte verstrickt wird, die zur Polgar, Alfred, eigentl.: A. Polak (bis Zwangsversteigerung des Hofs führen; der 1914), auch: L. A. Terne, Archibald von Bauer erhängt sich, die Familie zerfällt. Douglas, * 17.10.1873 Wien, † 24.4.1955 Charakteristisch sind P.’ teilnahmsvolle, aber Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Sihlunpathet. Art der Darstellung u. die soziolog. feld. – Kritiker, Feuilletonist, Erzähler, Exaktheit, mit der er das Schicksal seiner Kabarett-, Bühnen- u. Drehbuchautor, Romanfiguren als historisch typisch schilÜbersetzer. dert. Es bekam P.’ Nachruhm in Deutschland jedoch schlecht, dass ihn nationalist. Autoren Aus einer kleinbürgerlichen jüd. Familie als antisemitisch-reaktionären Vorkämpfer stammend – der Vater war »Claviermeister« der Blut-und-Boden-Literatur reklamierten. u. betrieb später eine Klavierschule –, trat P. Zu Unrecht, denn P. war protestantisch-kon- nach dem Besuch einer Handelsschule 1895 servativ, nicht reaktionär. Der Antisemitis- in die Redaktion der liberalen »Wiener Allmus war P. schon zuwider, als er ihm bei gemeinen Zeitung« ein, für die er zunächst Treitschke begegnete, u. dem jüd. Güter- Gerichtsreportagen u. Parlamentsberichte, schlächter im Büttnerbauern steht ein noch später Beiträge für das Feuilleton, Theater- u.

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Literaturkritiken, gelegentlich auch Musikkritiken schrieb. 1902 wurde er Mitarbeiter am »Simplicissimus« (München) u. Burgtheaterreferent der »Wiener Sonn- und Montagszeitung«. 1905 begann die Zusammenarbeit mit Siegfried Jacobsohns Zeitschrift »Die Schaubühne«, für die er anfangs unter dem Pseudonym seines Vorgängers Robert Hirschfeld (L. A. Terne) tätig war. Mit Egon Friedell verfasste P. seit 1908 Sketche für die Kabaretts »Nachtlicht« u. »Fledermaus«; am erfolgreichsten war Goethe (Urauff. 1908. Wien 1908. 2., erw. Aufl. u. d. T. Goethe. Groteske in zwei Bildern. Wien/ Lpz. 1926. Wien 31932), eine Satire auf Faktenhuberei u. philiströsen Bildungsbegriff. Im Okt. 1908 wurde die »Musteroperette« Der Petroleumkönig oder Donauzauber (Musik: Konrad Scherber. Wien 1908) uraufgeführt. Die nach dem Verbot der von Roda Roda u. Carl Rößler verfassten »Schnurre« Der Feldherrnhügel entstandene Parodie Soldatenleben im Frieden. Ein zensurgerechtes Militärstück, in das jede Offizierstochter ihren Vater ohne Bedenken führen kann (Wien 1910) hatte 1911 im »Großen Wurstel« in München Premiere. P. bearbeitete mehrere Theaterstücke, darunter 1911 Nestroys Posse Kampl für die Berliner Freie Volksbühne, 1923 für Max Reinhardt u. die Salzburger Festspiele Karl Gustav Vollmoellers Turandot. Mit seiner dt. Fassung von Molnárs Liliom, die 1912 im Lessingtheater in Berlin zum ersten Mal aufgeführt wurde, trug P. zum Welterfolg des Stückes bei. Der Zusammenarbeit mit Friedell (»Polfried«) sind zwischen 1921 u. 1925 auch fünf Zeitungsparodien zu verdanken, darunter die Böse Buben-Reichspost. Freisinnige mosaische Zeitung, geschrieben für den Bösen Buben-Ball am 1.2.1923, vordatiert auf den 1.2.1952. Die bis 1914 erschienenen Prosabände Der Quell des Übels und andere Geschichten (Mchn. 1908), Bewegung ist alles. Novellen und Skizzen (Ffm. 1909) u. Hiob. Ein Novellenband (Mchn. 1912) standen unter dem Einfluss Peter Altenbergs, dessen Nachlaß (Bln.) P. 1925 herausgab. Sie spielen in der Atmosphäre des Wiener Caféhauses, dem Treffpunkt der Boheme mit ihren für das Fin de Siècle typischen nervösen u. erot. Seelenqualen (vgl. den Essay Theorie des ›Café Central‹. In: An den Rand ge-

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schrieben. Bln. 1926). 1915 eingezogen, wurde P. (mit Stefan Zweig, Franz Theodor Csokor u. a.) der »literarischen Gruppe« des Kriegsarchivs in Wien zugeteilt; seit Aug. 1917 war er als Parlamentsberichterstatter der »Wiener Allgemeinen Zeitung« vom Dienst enthoben. Seit Beginn des Jahres 1918 leitete P., der sich unter dem Eindruck der »Mordorgie« des Ersten Weltkriegs verstärkt zeit- u. sozialkrit. Themen zuwandte, den literar. Teil der Zeitschrift »Der Friede«, seit 1919 den der aus ihr hervorgegangenen Tageszeitung »Der Neue Tag«, bei der auch der sich als »Schüler« P.s bezeichnende Joseph Roth tätig war. P.s pazifist. Haltung artikuliert sich auch in den antimilitarist. Geschichten in Schwarz auf Weiß (Bln. 1929) u. in der Sammlung Hinterland (Bln. 1929), für die er viel aus dem Prosaband Kleine Zeit (Bln. 1919) mit davor u. a. in der »Schaubühne« (ab April 1918 »Die Weltbühne«) u. im »Prager Tagblatt« veröffentlichten Texten übernahm. Nicht die Gräuel an der Front, sondern das alltägliche »kleine Elend« in der Heimat streicht P., Menschenrechte verteidigend u. auf Menschenwürde hinweisend, heraus. Im Mittelpunkt zahlreicher Feuilletons stehen Unrecht u. Armut als Folgen des Kriegs. Sein Debüt beim Film gab P. 1929 in Wilhelm Dieterles Film Ich lebe für Dich, für den er die Dialoge schrieb. Auf der Grundlage seines einzigen größeren Theaterstücks, der Komödie Die Defraudanten (zus. mit Franz Theodor Csokor. Urauff. u. Buchausg. Bln. 1931), »nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman V. Katajews«, entstand 1931 in Zusammenarbeit mit Fritz Kortner das Drehbuch zu dem Film Der brave Sünder (Regie: F. Kortner). Ab 1920 arbeitete P. am neu gegründeten, von seinem Jugendfreund Stefan Großmann herausgegebenen »Tage-Buch« mit. 1922 wurde er Theaterkritiker der Wiener Tageszeitung »Der Tag«. Seit 1925 vorwiegend in Berlin lebend, war er v. a. für das »Berliner Tageblatt« tätig. 1926/27 erschien u. d. T. Ja und Nein eine vierbändige Auswahl (I. Kritisches Lesebuch. II. Stücke und Spieler. III. Noch allerlei Theater. IV. Stichproben) der Schriften des feinsinnigen Beobachters. Anders als bei Kerr oder Ihering bestimmten nicht theaterpolit. Einflussnahme oder normative ästhet.

Polgar

Grundsätze P.s Kritiken mit ihrer Neigung zum Epigrammatischen u. Aphoristischen (vgl. Handbuch des Kritikers. Zürich 1938. Neuausg. Wien/Hbg. 1980. Wien 1997); vielmehr war P. darauf bedacht, aus der Perspektive des interessierten Laien das erlebte Bühnengeschehen zu vermitteln, mit besonderem Interesse am Theaterstück selbst u. an den Leistungen der Schauspieler. Seine Sprache zeichnet sich aus durch Esprit, Ironie u. entlarvenden Witz (»Unzucht wider die Kausalität«), durch geschliffene Wendungen, originelle Neologismen u. präzise Metaphern (»Wort als Stigma der gedanklichen Passion«). 1929 wurde P., dem Walter Benjamin »emblematischen Lakonismus« bescheinigte, in den Vorstand des Schutzverbands deutscher Schriftsteller in Österreich gewählt. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ P. Berlin, lebte bis 1938 vorwiegend in Wien – Filmprojekte zerschlugen sich, der geplante Homer-Roman kam über den Anfang nicht hinaus – u. ging dann nach Paris, wo er 1939 Mitgl. des Beirats der Zentralvereinigung österreichischer Emigranten wurde. In diesen Jahren lebte er von seinen Beiträgen für deutschsprachige Zeitungen wie »Die Nation« (Bern), »Das Neue TageBuch« (Paris, Amsterdam), »National-Zeitung« (Basel) u. »Prager Tagblatt«. 1940 vor den dt. Truppen in den Süden Frankreichs geflohen, schiffte er sich nach der Flucht über die Pyrenäen Richtung New York ein u. fand Arbeit als Drehbuchschreiber (zus. mit Alfred Döblin u. Walter Mehring) bei Metro-Goldwyn-Mayer in Hollywood, das ihm zutiefst fremd blieb. 1943 übersiedelte er nach New York. Dort schrieb er für die von William S. Schlamm gegründete deutschsprachige Ausgabe des »Time«-Magazins u. für die ebenso kurzlebige Zeitschrift »Measure« sowie für die Emigrantenblätter »The Austro American Tribune« u. »Der Aufbau«, in dem zwischen 1945 u. 1947 in loser Folge Glossen P.s u. d. T. Der Emigrant und die Heimat erschienen. Nach 1945 übersetzte er amerikan. Theaterstücke ins Deutsche. Ab 1949 besuchte P., der »unheilbare Europäer«, seit 1945 Bürger der USA, wiederholt Europa, ließ sich aber nirgends auf Dauer nieder. 1951 erhielt er den erstmals

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verliehenen Preis der Stadt Wien für Publizistik. In der Spielzeit 1954/55 war er literar. Berater des Theaters in der Josefstadt. P.s Nachlass wird u. a. im Deutschen Literaturarchiv in Marbach u. in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/M. aufbewahrt. Weitere Werke: Brahms Ibsen. Bln. o. J. [1910]. – Max Pallenberg. Bln. o. J. [1921]. – Gestern u. heute. Dresden 1922. – Orchester v. oben. Bln. 1926. – Ich bin Zeuge. Bln. 1927. – Bei dieser Gelegenheit. Bln. 1930. – Auswahlbd. aus neun Bdn. erzählender u. krit. Schr.en. Bln. 1930. – Ansichten. Bln. 1933. – In der Zwischenzeit. Amsterd. 1935. – Sekundenzeiger. Zürich 1937. – Gesch.n ohne Moral. Zürich/New York 1943. – Anderseits. E.en u. Erwägungen. Amsterd. 1948. – Begegnung im Zwielicht. Bln. 1951. – Standpunkte. Hbg. 1953. – Im Lauf der Zeit. Hbg. 1954. – Taschenspiegel. Hg. u. mit einem Nachw. (›A. P. im Exil‹) v. Ulrich Weinzierl. Wien 1979. – Sperrsitz. Hg. u. mit einem Nachw. (›Wien, Jahrhundertwende. Der junge A. P.‹) v. U. Weinzierl. Wien 1980. – Lieber Freund! Lebenszeichen aus der Fremde [Briefe an W. Schlamm]. Hg. u. eingel. v. Erich Thanner. Wien/ Hbg. 1981. – Goethe u. die Journalisten. Satiren im Duett (zus. mit E. Friedell). Hg. u. mit einem Nachw. (›Kollaborateure‹) v. Heribert Illig. Wien 1986. – Das große Lesebuch. Zusammengetragen u. mit einem Vorw. v. Harry Rowohlt. Zürich 2003. – Lauter gute Kritiken. Zusammengetragen v. H. Rowohlt. Zürich 2006. Ausgabe: Kleine Schr.en. Hg. v. Marcel ReichRanicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. 6 Bde. (1. Musterung. 2. Kreislauf. 3. Irrlicht. 4. Literatur. 5. Theater I. 6. Theater II), Reinb. 1982–86. Neuausg. der Bde. 1–3, Reinb. 2004. Literatur: Gerhard Fritsche: Die Kritiken A. P.s in der ›Weltbühne‹ als Spiegel des Wiener Theaters 1906–29. Diss. Wien 1964. – Ruth Greuner: A. P. Epitaph auf einen Dichter. In: Dies.: Gegenspieler. Profile linksbürgerl. Publizisten aus Kaiserreich u. Weimarer Republik. Bln./DDR 1969, S. 127–157. – Rainer Schwedler: Das Werk A. P.s. Die Spiegelung der polit. u. sozialen Realität in der Kurzprosa des Wiener Feuilletonisten. Diss. Hbg. 1973. – Anton Warde: A. P. In: Dt. Exillit. 1/1 (1976), S. 581–590. – Volker Bohn: Krit. E.en. Zur Prosa A. P.s. Ffm. 1978. – Ulrich Weinzierl: A. P. Eine Biogr. Wien/ Mchn. 1985. Neuaufl. Wien 2005. – Roland Koch: ›Wo froh die Reschheit mit der Feschheit waltet ...‹. Ein Überblick über dramat. Texte A. P.s. In: MAL 19 (1986), Nr. 2, S. 61–75. – Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg – Hofmannsthal – P. Bln./New York 1986,

Poliander

291 bes. S. 210–241. – Sigurd Paul Scheichl: A. P. als Wiener Theaterberichterstatter der ›Schaubühne‹ u. der ›Weltbühne‹. In: Cahiers d’études germaniques 24 (1993), S. 149–162. – Ines Fohringer: A. P.s Briefe im amerikan. Exil. Eine komm. Ed. Diplomarbeit Innsbr. 1998. – Hermann Dorowin: Metapher u. Paradox in den Schr.en A. P.s. In: Ders.: Mit dem scharfen Gehör für den Fall. Aufsätze zur österr. Lit. im 20. Jh. Wien 2002, S. 41–59. – Evelyne Polt-Heinzl u. S. P. Scheichl (Hg.): Der Untertreiber schlechthin. Studien zu A. P. Mit unbekannten Briefen P.s. Wien 2007. – U. Weinzierl: A. P. Poetische Kritik u. die Prosa der Verhältnisse. Wien 2007. – Frode H. Pedersen: Hermann Broch u. A. P.: Kaffeehaus, Humanismus, Exil. In: Hermann Brochs literar. Freundschaften. Hg. Endre Kiss, Paul Michael Lützeler u. Gabriella Rácz. Tüb. 2008, S. 65–73. – Dorota Tomczuk: Das Paradigma des Lebens im feuilletonist. Werk Victor Auburtins u. A. P.s. Lublin 2008, bes. S. 137–238. Bruno Jahn

Poliander, Johannes, eigentl.: Johann Gramann, Graumann, * 5.7.1487 Neustadt/Aisch, † 29.4.1541 Königsberg. – Reformator, Humanist u. Kirchenlieddichter. Der Handwerkerssohn kam mit 17 Jahren zum Studium nach Leipzig, wo er im Winter 1506 das Bakkalaureat (»determinavit sub magistro Johanne de Frigido fonte«) erwarb. Danach wurde er Lehrer u. später auch Rektor der Thomasschule. 1516 wurde P. Magister (»incepit sub magistro Conrado Loer«) u. regte Petrus Mosellanus zu seiner Paedologia an. Bei der Leipziger Disputation zwischen Luther u. Eck 1519 diente er Letzterem als Sekretär. Im Nov. desselben Jahres immatrikulierte er sich in Wittenberg, hörte Luthers Vorlesungen u. schrieb dessen Predigten nach. Über Leipzig kam er als Domprediger nach Würzburg, wurde aber wegen der ihm vorgeworfenen »lutterei« vertrieben. 1525 war er kurz in Nürnberg Prediger an St. Clara, dann folgte er einem Ruf nach Mansfeld. Auf Wunsch des Kanzlers Müller schrieb P. Ein urtayl [...] uber das hart Büchlein Doctor Martinus Luthers wider die auffrurn der Pawren (Nürnb. 1525), das mit dem Satz schließt: »Wir können nichts weiter als zu Gott für sie zu beten.« Auf Luthers Betreiben wurde er im sel-

ben Jahr nach Königsberg als Pfarrer der Altstädter Kirche berufen. Der Herzog beauftragte P., dessen humanist. Bildung er schätzte, mit der Neuordnung des Schulwesens. Außerdem beteiligte P. sich an Visitationen u. überwand auf der Rastenburger Synode 1531 die Schwenckfeldianer. Von P.s Predigten sind nur wenige erhalten. Bekannt blieb er v. a. durch den nach Psalm 103 gedichteten Choral Nun lob, mein Seel, den Herren (Wackernagel 3, S. 821; EKG 188, vv. 1–4). Weniger verbreitet ist P.s zweites Lied, Fröhlich will ich singen, kein Traurigkeit mer pflegen. Zeit thut Rosen bringen, die Sonn kommt nach dem Regen (Wackernagel 3, Nr. 971, 1541). P.s Bibliothek, die er der Stadt Königsberg vererbte, bildete den Grundstock der Stadtbibliothek. Ausgaben: Wackernagel 3, S. 821–824. – D. Martin Luthers Werke. Krit. Gesamtausg. Bd. 9, Weimar 1893, S. 314–676 (Predigten Luthers ges. v. J. P. 1519–21). – Ein Urteil über das harte Büchlein Martin Luthers. In: Flugschr.en der Bauernkriegszeit. Hg. A. Laube u. a. Bln./DDR 1975, S. 430–440. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Georg Andreas Will: Nürnbergisches GelehrtenLexicon [...]. Tl. 3, Nürnb./Altdorf 1757, S. 218–220. – Carl Alfred v. Hase: J. P. In: ADB. – Paul Tschackert: Urkundenbuch zur Reformationsgesch. des Hzgt. Preußen. Bd. 2, Lpz. 1890. Nachdr. Osnabr. 1965. – Friedrich Spitta: Zur Lebensgesch. J. P.s. In: ZKG 29 (1908), S. 389–395. – Christian Krollmann: Neues v. J. P. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. v. Ost- u. Westpreußen 1 (1926), . S. 20–32. – Ders.: Gesch. der Stadtbibl. zu Konigsberg. Mit einem Anhang: Kat. der Bibl. des M. J. P., 1560. Königsb. 1929. – Otto Clemen: Reformationsgeschichtliches aus drei Sammelbänden der Königsberger Stadtbibl. In: ZKG 49 (1930), S. 159–188, hier S. 175–178 (›Aus Briefen P.s‹). – Paul Gennrich: Die ostpreuß. Kirchenliederdichter. Lpz. u. a. 1938. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Gött. (auch Bln.) 1957, S. 46 f. – Peter G. Thielen: J. P. In: Altpr. Biogr. Bd. 2, S. 513. – Konrad Ameln: ›gleich wie das Gras...‹. Eine ›dunkle Stelle‹ in dem Psalmlied v. J. Gramann. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 26 (1982), S. 118–135. – R. Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersl. 1984, S. 169 f. – Friedrich Wilhelm Bautz: J. Gramann. In: Bautz. – Walther Eisinger: J. Gramann. In: Komponisten u. Liederdichter des

Politycki Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 118 f. Robert Stupperich † / Red.

Politycki, Matthias, * 20.5.1955 Karlsruhe. – Prosaautor, Lyriker, Essayist. P. lebt seit 1961 in München, seit 1990 in Hamburg u. München; er studierte in München u. Wien Deutsche Literatur, Theater- u. Kommunikationswissenschaften sowie Philosophie u. promovierte 1987 über Nietzsche (Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches. Bln./New York 1989). Bereits P.s viel beachtetes Romandebüt Aus Fälle / Zerlegung des Regenbogens. Ein Entwickelungsroman (Mchn. 1987) – als »Sommernachtstraum der Sprache« u. »Anschlag auf alle Lesegewohnheiten« gerühmt – wurde mit diversen Preisen bzw. Stipendien ausgezeichnet; mittlerweile zählt er zu den renommiertesten Vertretern der dt. Gegenwartsliteratur. Er gilt als artistischer Stilist, als kosmopolit. Essayist u. nicht zuletzt als Romancier, der sich vom formfixierten Avantgardisten zum echten Erzähler entwickelt hat u. damit auch ein breiteres Lesepublikum erreicht. Neben zahlreichen Ehrungen im Ausland erhielt er 2009 den Münchner Ernst-Hoferichter-Preis für »Originalität, Weltoffenheit und Humor«. Nach seinem hochambitionierten Erstling, der mit Werken von Arno Schmidt u. James Joyce verglichen wurde, gelang P. 1997 mit dem Weiberroman (Mchn.) der literar. Durchbruch. Nimmt man dessen Fortsetzung dazu, den Roman Ein Mann von vierzig Jahren (Mchn. 2000), so hat man nicht nur vier Liebesgeschichten in vier verschiedenen Städten, sondern ein breit angelegtes Zeitpanorama der bundesrepublikanischen 70er-, 80er- u. 90erJahre; die Handlung selbst rankt sich um den alternden Berufsjugendlichen Gregor Schattschneider u. seine »Chronik des Versagens« in beruflicher u. privater Hinsicht. P. porträtiert mit diesen beiden Romanen die 78erGeneration (die zwischen den 68ern u. den 89ern steht) einschließlich ihrer Slangs, Moden, Hits, Neurosen, u. wurde damit zu einem Vorreiter der »Neuen Lesbarkeit«. P.s rythmisierte Sprache – Literatur muss sein wie Rockmusik! lautet der Titel eines frühen

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Essays – prägt gleichermaßen seine Prosa wie auch seine Lyrik. Dem unverwechselbaren Klang seiner Sprache folgt man am leichtesten bei seinen Lesungen u. mit den selbst gesprochenen Hörbüchern; aber auch als Leser kann man sich der Melodik seines durchkomponierten Sprachflusses nicht entziehen. Vom Wunsch getrieben, die Welt jenseits der dt. Befindlichkeiten in all ihren Facetten kennenzulernen, ist P. von Jugend an viel gereist (als Kind las er mit Begeisterung Karl May u. Jules Verne); um seinen Texten auch im Detail die Authentizität zu verleihen, die er für sich zum ästhet. Programm gemacht hat, zieht es ihn in die Fremde, immer mit einem bes. Blick auf das Komische u. Groteske, aber auch auf das Tragische, das unvermittelt Unverständliche außereuropäischer Kulturen. Insofern thematisierte er als einer der Ersten die globalist. Welterfahrung des postmodernen Menschen, zunächst in seinem Erzählband Das Schweigen am andern Ende des Rüssels (Hbg. 2001), v. a. in seinem Kuba-Roman Herr der Hörner (Hbg. 2005): Um für die Hauptfigur, den Hamburger Privatbankier Broder Broschkus, den schlimmstmögl. Weg ins Verderben zu suchen, in die Tiefen afrokubanischer Geheimkulte (Palo Monte), die ethnologisch bis heute noch nicht erforscht sind, verbrachte P. mehrere Monate in Santiago de Cuba – u. legte einen lebensnahen Roman vor, der mit sämtl. Kuba-Klischees aufräumt. Wie ein Gegenstück dazu liest sich In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl (Hbg. 2008), wofür P. ein halbes Jahr als »writer in (non-) residence« auf dem Luxuskreuzfahrtschiff »MS Europa« um die Welt fuhr: ein Schelmenroman, vordergründig die Münchhauseniade eines einfachen Provinzlers in der Welt der Superreichen, hintergründig eine bittere Satire auf die bundesrepublikan. Gesellschaft kurz vor der Weltwirtschaftskrise. P. hat sich selbst einmal als »Restromantiker« bezeichnet, der gegen Vergänglichkeit u. Tod anschreibt; er ist geprägt von Laurence Sterne, Benn oder Nabokov, u. als der »eminente Humorist«, als den man ihn gern in den Feuilletons wahrnimmt, konterkariert er selbst das Tragisch-Verzweifelte seiner (Anti-) Helden mit iron. Schilderungen ihres Tuns.

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P.s Schreiben ist auf höchst poetische Weise einer späten Aufklärung verpflichtet. Weitere Werke: Der frühe Nietzsche u. die dt. Klassik. Studien zu Problemen literar. Wertung. Mchn. 1981. – Im Schatten der Schrift hier. Zweiundzwanzig Gedichte. Mchn. 1988. – Taifun über Kyo¯to. Hbg. 1993 (R.). – Jenseits v. Wurst u. Käse. 44 Gedichte. Mchn. 1995. – Die Farbe der Vokale. Von der Lit., den 78ern u. dem Gequake satter Frösche. Mchn. 1998 (Ess.). – Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe. 66 Gedichte. Hbg. 2003. – Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Bestimmte Artikel 2006–1998. Hbg. 2007 (Ess.). – Die Sekunden danach. 88 Gedichte. Hbg. 2009. – Jenseitsnovelle. Hbg. 2009. – Herausgeber: Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges. Hbg./ Zürich 1992.

Pollatschek

ben«- u. Leihbibliotheksautorin P. in den 1890er Jahren, die nunmehr Berühmte erfolgreich für ihre editorischen Projekte zu umwerben. Literatur: Günter Häntzschel (Hg.): Bildung u. Kultur bürgerl. Frauen 1850–1918. Tüb. 1986. – Gerhard Ranft: Theodor Storm u. E. P. Ein bisher unveröffentlichter Briefw. In: Schr.en der TheodorStorm-Gesellsch. 39 (1990), S. 46–68. – Siegelinde Klettenhammer: Auf dunklem Grunde, Frauengestalten aus der frz. Revolution (1793). Nov. (1869) u. Sie schreibt. Roman (1869). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 346 f. u. 347 f. Eda Sagarra

Literatur: Thomas Tebbe: M. P. In: LGL. – Beat Mazenauer: M. P. In: KLG. Markus Knecht

Pollatschek, Walther, * 10.9.1901 NeuIsenburg/Hessen, † 28.2.1976 Berlin/ DDR. – Publizist, Kritiker, Herausgeber Polko, Elise, * 31.1.1823 Wackerbartsruhe u. Kinderbuchautor. bei Dresden, † 15.5.1899 München. – Erzählerin, Lyrikerin, Herausgeberin; Sän- Der Sohn eines Ingenieurs studierte Germanistik, Theater- u. Musikgeschichte in Heigerin. Als rührige Herausgeberin von mehr als einem Dutzend v. a. für Frauen bestimmten Anthologien u. Ratgebern, wie etwa Dichtergrüße (Lpz. 1860. 141892) oder Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zum eigenen Heerd. Lose Blätter (Lpz. 1863. 101900), ist P., Tochter eines Pädagogen u. Schwester des AfrikaReisenden Eduard Vogel, bekannt geworden. Ursprünglich war sie – mit Mendelssohns Hilfe (vgl. Erinnerungen an Felix MendelssohnBartholdy. Lpz. 1868) in Leipzig u. Paris ausgebildete – Konzert- u. Opernsängerin (v. a. Mozart-Rollen), verließ die Bühne aber nach der Heirat (1849) mit einem Eisenbahningenieur u. wurde über ein halbes Jahrhundert hin zur unermüdl. Produzentin von Erzählwerken, die v. a. das Sujet Musikleben u. Musiker aufgriffen, wenn nicht geradezu ausbeuteten. Stellvertretend für viele sind zu nennen Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen (Lpz. 1852. 231896) u. Faustina Hasse. Musikalischer Roman (2 Bde., Lpz. 1860). Die Bettler-Oper (3 Bde., Hann. 1864) ließ Marie von Ebner-Eschenbach ihrem Tagebuch anvertrauen: P. »führt nichts ordentlich durch, giebt immer nur einige Aperçus«; doch verstand es die geschäftstüchtige »Gartenlau-

delberg, München u. Frankfurt/M., wo er über Hofmannsthal und die Bühne promovierte (Ffm. 1924). Bis 1933 arbeitete P. als Redakteur u. Kritiker. Nach seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten (1934) emigrierte er nach Spanien (bis 1936), Südfrankreich (1936/37) u. in die Schweiz (1937–1945). Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete P. als Redakteur u. Theaterkritiker der »Frankfurter Rundschau«, bevor er 1950 nach Ostberlin übersiedelte. Seit 1952 war er dort als freischaffender Publizist u. Kritiker tätig. Bis 1970 war P. Leiter des Friedrich-Wolf-Archivs in Lehnitz/Oranienburg. Als Publizist kämpfte der orthodoxe Kommunist P. v. a. für die Entwicklung einer sozialist. Gegenwartsdramatik. Im Zentrum seines literar. Schaffens standen Kinderbücher wie Die Aufbaubande (Bln. 1948) u. Philipp Müller. Held der Nation (Bln./DDR 1952). Im Mittelpunkt von P.s Herausgebertätigkeit stand das Werk von Friedrich Wolf (u. a. Gesammelte Werke. Hg. zus. mit Else Wolf. 16 Bde., Bln./DDR 1960–68).

Weitere Werke: Drei Kinder kommen durch die Welt. Gadernheim 1942 (Kinderbuch). – Mut u. Geist. Heinrich Heine. Gadernheim 1947 (Biogr.). – Herren des Landes. Bln./DDR 1951 (R.). – Bezwinge

Pollesch die Meere, ›Thälmann Pionier‹! Bln./DDR 1956 (Kinderbuch). – Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. Bln./DDR 1958. – Friedrich Wolf. Lpz. 1960. Bln./ DDR 1963 (Biogr.). – Herausgeber: Die Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm (zus. mit Hans Siebert). 3 Bde., Bln. 1942–54. – Verse der Liebe. Bln./DDR 1954 (Anth.). Matthias Harder / Red.

Pollesch, René, * 29.10.1962 Friedberg/ Hessen. – Dramatiker u. Regisseur, Hörspielautor. P. studierte 1983–1989 bei Andrzej Wirth u. Hans-Thies Lehmann am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Auf erste Inszenierungen am Theater am Turm in Frankfurt/M. u. Arbeiten als Autor u. Übersetzer folgten ein Arbeitsstipendium am Royal Court Theatre London (1996) sowie ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude Stuttgart (1997). 1999/2000 war P. Regisseur am Luzerner Theater, 2000 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Seit 2001 leitet er die Nebenstelle Prater der Volksbühne Berlin. Zeitgenössische Theatertheorien am Gießener Institut prägten P.s Werk entscheidend, Merkmale sog. »postdramatischen Theaters« (Lehmann): eine umfassende Repräsentationskritik (entpersönlichte, entindividualisierte »Textträger« anstelle von Charakteren, s. Diederichsen 2002), Verzicht auf lineare, kausal oder narrativ verknüpfte Handlung (Barnett), Verkehrung hergebrachter Normbegriffe (»Heterosexualität als Problem« in Cappuccetto Rosso. Urauff. Salzb. 2005) u. zersetzende Hinterfragung klass. Bühnenthemen u. Wertbegriffe durch die monoton wiederkehrenden Motive Sex, Tod, Geld u. das »Fantasma Liebe«. Mit der poststrukturalist. Abkehr vom »genialen« Autorsubjekt u. obersten Autorität des geschriebenen Textes übereinstimmend, spricht P. als Dramatiker u. Regisseur in Personalunion seinen in »Massenproduktion« entstehenden Texten (bislang rd. 150 Stücke) nachdrücklich Literaturstatus ab. Unter anderem von John Cassavetes inspiriert, entwickelt P. eine unverkennbar eigene Handschrift, wenn Figuren am gesellschaftl. Rand in einer Hybridsprache aus TV-Jargon

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u. akadem. Diskursen, aus Versatzstücken ideologiekritischer, kulturdiagnost. Texte (Agamben, Baudrillard) im emphat. Redegestus von »Immer-noch-Subjekten« die eigene prekäre Situation reflektieren. Trotz der Komik, die durch Übertragung theoret. Texte in die Ich-Perspektive entsteht, behalten die behandelten gesellschaftspolit., oft gendertheoret. Fragen einigen Ernst u. werden in mehreren Stücken kontinuierlich weiterentwickelt. Typisch sind – neben nahezu tagesaktuellen Ereignissen u. sehr direkten Anspielungen (u. a. auf Rainer Werner Fassbinder in Liebe ist kälter als das Kapital. Urauff. Stgt. 2007, u. in Tal der fliegenden Messer. Urauff. Mülheim 2008) – Themen des Lifestyle, der technisierten Arbeitswelt (z.B. die Telearbeiterin Heidi Hoh. Urauff. Bln. 1999), der Globalisierung (Prater-Saga 1–5. Urauff. Bln. 2004/05) u. der kapitalist. »Durchökonomisierung« aller Lebensbereiche (Soylent Green ist Menschenfleisch, sagt es allen weiter. Urauff. Bln. 2003). Anstelle von Ereignissen sind vielmehr Begriffe wie Outsourcing, Stadtmarketing (Prater Trilogie. Stadt als Beute / Insourcing des Zuhause – Menschen in Scheiß-Hotels / Sex. Urauff. Bln. 2001/02) Auslöser der Zuschauer wie Schauspieler nicht selten überfordernden Textkaskaden. Neuartige Gattungsbezeichnungen wie »Splatterboulevard« (Splatterboulevard. Urauff. Ffm. 2003) u. »Snuff-Comedy« (Pool. A Snuff Comedy. Urauff. Ffm. 1994) markieren Anleihen bei trivialen Unterhaltungsformen. Die oft exzessive Multimedialität der Inszenierungen mit lauter Musik u. Videoinstallationen bis hin zur »Verdoppelung« der Aufführung durch einen gleichzeitig produzierten u. im Bühnenbild (Bühnenbildner Bert Neumann) projizierten Videomitschnitt, Einblendung von Außenszenen u. Offstage-Bereichen erinnert an den experimentellen Medieneinsatz Frank Castorfs u. treibt die bezeichnende Selbstreflexivität dieses »kulturtheoretische[n] Theater[s]« (Diederichsen 2002) auf die Spitze. Trotz des deutlich markierten »Seriencharakters« (z.B. die »Internet-Seifenoper« World-Wide-Web-Slums 1–10. Urauff. Hbg. 2000/01) als programmat. Vorwegnahme durch P. selbst wurde – nicht zuletzt im Fall v. P.s zahlreichen Auftragswerken – der

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Vorwurf der Selbstwiederholung u. fehlenden Entwicklung häufig geäußert. Unter zahlreichen Auszeichnungen sind v. a. der Mühlheimer Dramatikerpreis (2001 u. 2006), die Wahl P.s zum besten dt. Dramatiker (Zeitschrift »Theater heute«, 2002) sowie der Nestroy-Theaterpreis (2007) zu nennen. Neben Bearbeitungen für Rundfunk u. Fernsehen wurden Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische, Portugiesische, Schwedische, Polnische, Bulgarische u. Japanische realisiert u. inszeniert. Weitere Werke: Theaterstücke: (aus der großen Anzahl an Stücken werden nur die seit 2006 entstandenen genannt; verwiesen sei für die vorangegangenen auf Wesemann 2001, Keim 2003, R. P. 2005). 2006: Strepitolino – i giovanotti disgraziati. Urauff. Bln. – Soylent green is money. Urauff. Tokyo. – Wann kann ich endlich in einen Supermarkt gehen u. kaufen was ich brauche allein mit meinem guten Aussehen? Urauff. Stgt. – L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le marriage de Spengler. Christine est en avance. Urauff. Bln. – Das purpurne Muttermal Urauff. Wien. – 2007: Tod eines Praktikanten Urauff. Bln. – Solidarität ist Selbstmord Urauff. Mchn. – Ragazzo dell’Europa. Urauff. Warschau. – Diktatorengattinnen ist. Urauff. Bln. – Die Welt zu Gast bei reichen Eltern. Urauff. Hbg. – Hallo Hotel ...! Urauff. Bln. – Seid hingerissen v. euren trag. Verhältnissen. Urauff. Bln. – 2008: Darwin-win & Martin LoserDrag King & Hygiene auf Tauris. Urauff. Bln. – 2009: Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors! Urauff. Bln. – Veröffentlichungen: Wohnfront 2001–02. Bln. 2002. – www-slums. Reinb. 2003. – 24 Stunden sind kein Tag. Eine TVSerie. Bln. 2003. – Zeltsaga – P.s Theater 2003/04. Bln. 2004. – Prater-Saga. Bln. 2005. – Die Überflüssigen. Bln. 2007. – Filme: Ich schneide schneller. ZDF 1998. – 24 Stunden sind kein Tag. 3sat/ZDF 2003. – Stadt als Beute. ZDF 2005. – Hörspiele: Heidi Hoh. DLR/WDR 2000. – Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. DLR 2001. – Heidi Hoh 3. Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat. DLR 2002. – Tod eines Praktikanten. DLR 2007. Literatur: Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramat. Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke u. ihre dramaturg. Analyse. Tüb. 1997. – Arnd Wesemann: R. P. In: Stück-Werk. Arbeitsbuch 2: Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre. Hg. Frank Hörnigk. Bln. 2001. – Bettina Brandl-Risi: Verzweiflung sieht nur live wirklich gut aus. R.P. In: Stück-Werk 3. Arbeitsbuch 10: Neue deutsch-

Pollesch sprachige Dramatik. Hg. Christel Weiler u. Harald Müller. Bln. 2001, S. 117–120. – Diedrich Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoret. Theater des R. P. In: Theater heute 3 (2002), S. 56–63. – Aline Fischer: Diskursivität u. Emotionalität im politisch-aufklärer. Theater des R. P. am Beispiel der Trilogie ›Stadt als Beute‹, ›Insourcing des Zuhause‹, ›Menschen in Scheiss-Hotels‹ u. ›Sex‹. Hildesh. 2003. – Stefan Keim: R. P. In: LGL. – Andrzej Wirth: R. P. – Generationsagitpoptheater für Stadtindianer. In: Barbara Engelhardt u. Anja Dürrschmidt: WerkStück. Regisseure im Porträt. Bln. 2003, H. 12, S. 126–131. – Nathalie Bloch: Popästhet. Verfahren in Theatertexten v. R. P. u. Martin Heckmanns. In: DU 56 (2004), H. 2, S. 57–70. – Birgit Lengers: Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken u. Metaphern im Theater v. R. P. In: Text + Kritik Sonderbd.: Theater fürs 21. Jh. (2004), S. 143–155. – D. Diederichsen: Maggies Agentur. In: R. P.: Prater Saga. Bln. 2005, S. 7–19. – Carl Hegemann u. R. P.: Neues u. gebrauchtes Theater. In: Gnade – Überschreitung u. Zurechtweisung. Hg. Jutta Wangemann u. Michael Höppner. Bln. 2005, S. 47–83. – Gerald Siegmund: Der Skandal des Körpers. Zum Verhältnis v. Körper u. Sprache in der Farce v. Feydeau u. R. P. In: Komik. Ästhetik – Theorien – Strategien. Hg. Hilde Haider-Pregler u. Monika Meister u. a. Wien 2006, S. 249–262. – David Barnett: Political Theatre in a Shrinking World: R. P.’s Postdramatic Practices on Paper and on Stage. In: Contemporary Theatre Review 2006, Jg. 16, H. 1, S. 31–40. – Achim Geisenhanslüke: Schreie u. Flüstern: R. P. u. das polit. Theater in der Postmoderne. In: Polit. Theater nach 1968. Regie, Dramatik u. Organisation. Hg. Ingrid GilcherHoltey, Dorothea Kraus u. Franziska Schößler. Ffm./New York 2006, S. 254–268. – Barbara Engelhardt: Le théâtre de R. P. In: Europe, Jg. 84, 2006, H. 924, S. 309–317. – Tanja Bogusz (Hg.): Institution u. Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne. Bielef. 2007. – Franz Wille: Sich kennen, mögen, verachten u. schätzen. Über neue Stücke v. Roland Schimmelpfennig, R. P. u. a. In: Theater heute, Jg. 2007, H. 12, S. 10–16. – Paul A. Youngman: Civilization and Its Technological Discontents in R. P.’s ›world wide web-slums‹. In: German Studies Review, 2008, Jg. 31, H. 1, S. 43–64. Claudia Löschner

Pollich

Pollich, Martin, auch unter dem Namen M. von Mellrichstadt oder in der latinisierten Fassung, Martinus Pol(l)ichius, bekannt; in humanistischen Kreisen mit dem Ehrennamen »lux mundi« (Licht der Welt) versehen, * um 1455 Mellrichstadt, † 27.12.1513 Wittenberg. – Mediziner, Philosoph, Theologe, prägend für die Gründung u. frühe Entwicklung der Universität Wittenberg. Die Ausbildung P.s verlief nach dem klass. Muster: 1470 Studium in Leipzig, 1472 »baccalaureus artis«, drei Jahre später wurde P. »magister artis« u. dann zum Doktor der Philosophie promoviert. Eine – eher ungewöhnliche – weitere Promotion zum Doktor der Medizin erfolgte etwa 1480, danach war P. u. a. in kurfürstl. Diensten bei Friedrich III. von Sachsen. In dessen Auftrag gründete P. 1502 die Universität Wittenberg, der er als Gründungsrektor zunächst vorstand, später als Vizekanzler in mehreren Disziplinen sowie in administrativen Belangen bis zu seinem Lebensende diente. Die Promotion zum doctor theologiae 1503 war dabei eher universitäts- u. wissenschaftspolitisch motiviert denn fachl. Studien geschuldet: Die Konkurrenz zwischen den Universitäten Leipzig u. Wittenberg sowie die Integrität der Person P.s gegenüber den Anfeindungen v. a. der klass. theolog. Fakultät erforderte diesen Schritt zwingender als P.s theolog. Schaffen, das hinter der philosoph. u. medizin. Tätigkeit zurückblieb. P.s Wirken als Universitätsdozent fand seinen deutlichsten Niederschlag in zwei großen Kontroversen zur Jahrhundertwende, an denen er federführend beteiligt war. Die erste Auseinandersetzung betraf die Grundlagen der medizin. Forschung: Hier setzte sich P. für eine experimentelle Medizin ein, die anstelle moralisch-theolog. Erklärungen eine rationale Suche nach den Ursachen von Krankheiten betreiben u. so wirksame Therapien bereitstellen sollte. Vor allem die Konfrontation mit dem Leipziger Mediziner Simon Pistoris über die Entstehung der Syphilis brachte P. den Ruf ein, bewusst den Bruch mit der scholast. Tradition zu suchen.

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Explizit herausgefordert, in der methodischen wie inhaltl. »Gretchen«-Frage zu seinem Verhältnis zur Lehrtradition Stellung zu beziehen, wurde P. von seinem ehemaligen Schüler, dem Theologen Konrad Wimpina. Dieser warf ihm vor, der Poesie einen Stellenwert über der Theologie einzuräumen u. damit die Ordnung der Wissenschaften ebenso zu verletzen wie der religiösen Sittlichkeit Abbruch zu tun. P.s Verteidigung einer humanist. Position, die sowohl der Theologie ihren Primat belässt als auch die Eigenständigkeit einer poetischen, d.h. narrativen Erklärung der Wirklichkeit Raum zu verschaffen sucht, wurde über die persönl. Rechtfertigung auch als Selbstbehauptungsanspruch der modernen studia verstanden. Die Wirkungsgeschichte zeigt P.s Ansatz aber weitgehend verschüttet, zum einen unter den aufziehenden konfessionellen Streitigkeiten, die das Verhältnis von Philosophie u. Theologie stärker thematisierten als das zwischen Poesie u. Theologie, zum anderen durch radikalere humanist. Ansichten, eine philolog. Autonomie von der Theologie einzufordern. Den Aufstieg Luthers sah P. noch kommen u. brachte seine Wertschätzung in einer frühen Vorhersage des reformatorischen Erfolgs zum Ausdruck, er starb aber 1513 u. wurde in den späteren Diskussionen nicht mehr substantiell rezipiert. Weitere Werke: Speculum medicinae. Lpz. ca. 1495. – Castigationes in declarationes D. S. Pistoris. Lpz. 1500. – Responsio ad superadditos errores Simonis Pistorii de malo franco. Nürnb. 1501. – Martinus Mellerstadt Polichi in Wimpinianas offensiones et denigrationes Sacrae Theologiae. Wittenb. 1503. – Theoremata aurea pro studiosis philosophie & theologie iniciatis thomisticis. Wittenb. 1503. Literatur: Gustav Bauch: Gesch. des Leipziger Frühhumanismus. Lpz. 1899. Nachdr. Wiesb. 1968. – Theodor Grüneberg: M. P. v. Mellerstadt, der erste Rektor der Univ. Wittenberg. In: Wittenberg 1502–1817. Halle 1952, S. 87–92. – Helmut Schlereth: M. P. v. Mellrichstadt (geb. um 1455, gest. 1513) u. sein Streit mit Simon Pistoris über den Ursprung der ›Syphilis‹. Würzb. 2001. – Ders.: M. P. In: NDB. Sebastian Lalla

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Polt, Gerhard, * 7.5.1942 München. – Kabarettist, Film- u. Hörspielautor.

Polus

deren Kristallisationszentren bundesbürgerl. Mitteilsamkeit unterwegs, spießt gnadenlos alles auf, was nach »gesundem Volksempfinden« Geltung beansprucht, u. verdichtet seine Beobachtungen zu entlarvenden Momentaufnahmen der dt. Seele, die – in seiner eigenen Interpretation – oft über das Komisch-Satirische hinausgehen u. handfeste Sozialkritik bieten. P.s Arbeit fand durch viele Kleinkunst-, Film- u. andere Preise Anerkennung.

P., der als Sohn eines Rechtsanwalts in Altötting u. München aufwuchs, brach sein Skandinavistikstudium nicht nur »wegen chronischer Inaktivität« ab – Hauptgrund war vielmehr der Kulturförderpreis der Stadt München (1978), der ihm für seine ersten Kabarettauftritte verliehen worden war. P.s erste größere Arbeit war ein Hörspiel, in dem er sämtl. Rollen selbst sprach: Als wenn man Weitere Werke: Öha. Hörbilder u. Szenen. ein Dachs wär in seinem Bau (HR 1977). Feldafing 1979. – Da schau her! Zürich 1984. – Gemeinsam mit seinem Jugendfreund, Bauerntag im Bierzelt. Zürich 1987. – Der dicke dem Autor, Regisseur u. Kabarettisten Hanns Doppel-Polt. Zürich 1989. – Der Bürgermeister v. Christian Müller (geb. 14.4.1949), schrieb P. Moskau. Zürich 1989. – Nikolausi. Zürich 1995. – für die Münchner Kammerspiele das Thea- Rafael Schmitz der Pommfritz. Zürich 1999. – terstück Kehraus (1977), das später auch als Heute wegen Todes geschlossen. Zürich 2001. – Im Hörspiel (BR) sowie (mit Carlo Fedier) als Schatten der Gans. Zürich 2001. – Menschenfresser Spielfilm (1983) bearbeitet wurde. P.s zweiter u. andere Delikatessen. Mchn. 2002. – Circus maximus. Zürich 2002 (zus. mit Hanns Christian Spielfilm, ebenfalls mit Müller als Koautor u. Müller). – Da fahrn wir nicht mehr hin. Zürich Regisseur, war Man spricht Deutsh (1988). Für 2003. – Hundskrüppel. Zürich 2004 (Kindheitserdie Bühne schrieben sie zus. das Stück Die innerungen). – Manege frei. Mchn. 2007. – Exoten (Urauff. Residenztheater München Drecksbagage. Zürich 2008. 1985. Zürich 1988), u. in Gemeinschaftsarbeit Literatur: Herta Elisabeth Renk: Das neue mit Dieter Hildebrandt u. Hans Well (»Bier- bayr. Überbrettl. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Remösl-Blos’n«) entstanden die beiden Pro- gensb. 1987, S. 613–621. – Bernhard Setzwein: G. duktionen München leuchtet (1984) u. Diridari P. In: LGL. – Ute Casper: G. P. – ein Portrait. Zürich (1988) an den Münchner Kammerspielen. 2007 (Hörbuch). Klaus Peter Schreiner Nach der Auflösung der Zusammenarbeit mit Müller entstanden dort auch P.s Bühnenproduktionen Tschurangrati (1996) u. Bayern Open Polus, Timotheus, * 1599 Merseburg, (1998), danach am Bayerischen Staatsschau- † 2.3.1642 Reval/Estland. – Lyriker. spiel Crème Bavaroise (2000) u. Offener Vollzug Nach dem Schulbesuch in Halle/S. studierte (2006), alle mit der »Biermösl-Blos’n«. Da- P. in Leipzig, wo er schon 1610 immatrikuneben entstanden die Spielfilme Herr Ober u. liert wurde. Ab 1619 sind lat. GelegenheitsGermanicus, beide mit P. als Autor u. Haupt- gedichte von ihm nachgewiesen, 1620 erdarsteller, bei ersterem auch als Regisseur. schien in Leipzig S. Spiritus effusus super duoNeben einer Unzahl von Soloszenen u. decim viros, eine geistl. Dichtung in 98 alkäDialogen (letztere meist mit der Ehefrau ischen Strophen, die den Brüdern Polycarp u. Müllers, Gisela Schneeberger, als Partnerin) Wilhelm Leyser sowie Michael Zeidler als sowie vielen Auftritten in den Satire-Fern- Patronen u. Mäzenen gewidmet ist u. diese in sehproduktionen Notizen aus der Provinz u. einer Zuschrift von 28 jambisch erweiterten Scheibenwischer war es v. a. P.s eigene Fern- Glykoneen als Förderer seiner Dichtkunst sehsendereihe Fast wia im richtigen Leben preist. Gleich zu Beginn seines Studiums der (1979/80. 2 Bde., Feldafing 1982/83), die ihm Theologie in Straßburg (Immatrikulation bundesweite Popularität verschaffte. Darüber 31.5.1623) erschien neben weiteren Gelegenhinaus hat P. zahlreiche CDs u. Hörbücher heitsdichtungen ein kleines Bändchen mit vorgelegt. seinen gesammelten Gedichten, den EpiP., als unbarmherziger Zuschauer u. -hörer grammata, & Hyporchemata, & Anacreontica & vornehmlich zwischen Stammtischen u. an- Caetera (21628/29), das ihm auf Fürsprache

Pontanus

von Samuel Gloner u. Theophil Dachtler die Dichterkrönung durch Johann Jakob Grasser (Basel) einbrachte, obwohl dieser die Epigramme für allzu zügellos hielt. Die 1624 gedruckte Sammlung Timothei Poli, P.L. Secunda: Epigrammata, Miscellanea, Sacra Lyrica (Straßb.) zeigt den Dichter im Straßburger Kreis in erster Berührung mit den dt. Gedichten von Martin Opitz, aber noch ganz der lat. Kleinform verhaftet. Ab spätestens 1628 als Lehrer an der Stadtschule in Reval tätig, wechselte P. bei Gründung des dortigen Gymnasiums 1631 in das Amt des PoesieProfessors, in dem er zur führenden Dichtergestalt der Region wurde u. die Dichtungsreform nach Opitz einleitete. Als erstes gewichtiges Zeugnis hierfür ist sein aus 1888 Alexandrinern bestehendes Heldenepos Gustavus Adolphus Victor Magnus. Oder Die Erlösete Kirche/ vnd Teutsche Freyheit (Dorpat 1634) anzusehen, das u. a. Torquato Tasso u. Opitz verpflichtet ist. Größten Einfluss auf die Dichtkunst von P. übte seit 1635 die enge Freundschaft mit dem in Reval für über ein Jahr anwesenden Paul Fleming aus, der gemeinsam mit P. u. anderen (bes. Reiner Brockmann) die dt. Dichtung in Reval etablierte u. zu einer ersten Blüte führte. So galt P. bei seinem Tod als »Meister der deutschen Sprache« in Reval. Daneben ist er als Dichter von lat. Chronogrammen (vgl. insbes. CX. Versus Hexametri. Reval 1639) u. als Verfasser eines kleinen dt. Lexikons (Lustiger Schawplatz. Lübeck 1639. 21651. 31664), das auf Tommaso Garzonis Piazza Universale (Venedig 1585) zurückgeht, zu entdecken. Literatur: Martin Klöker: Literar. Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jh. Tl. 1–2, Tüb. 2005. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1562 f. – K. Viiding: Ein lat. Chronogrammgedicht über Gustav II. Adolf v. T.P. In: Miraculum eruditionis. Hg. Maria Berggren u. Christer Henriksén. Uppsala 2007, S. 101–124. Martin Klöker

Pontanus, Jacobus, eigentl.: Spanmüller, * 1542 Brüx (Bruck)/Böhmen, † 25.11. 1626 Augsburg. – Jesuit, Theologe, Philologe, Latinist, Poet. P. besuchte das Prager Jesuitenkolleg u. trat hier 1562 gegen den Widerstand seiner Fa-

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milie in den Jesuitenorden ein. Der internat. Zusammensetzung des dortigen Lehrerkollegiums verdankte P. die Kenntnis von Bühnenwerken berühmter ausländ. Dichter. Nach der Absolvierung seiner Ordensstudien in Prag u. später in Dillingen wirkte er dort u. seit 1581 in Augsburg insg. 27 Jahre als Professor für Grammatik, Poesie u. Rhetorik. Dabei vertrat er ein an Cicero u. Vergil orientiertes Stilideal u. wandte sich erfolgreich gegen modernist. Tendenzen jüngerer Ordensbrüder. Einer seiner prominentesten Schüler war Matthäus Rader. P. engagierte sich bes. für die Pflege der lat. Sprache. Seine grammat. Lehrbücher wurden noch im 18. Jh. in fast ganz Europa zu Unterrichtszwecken genutzt. P.’ in der Bayerischen Staatsbibliothek erhaltener Briefwechsel dokumentiert sein hohes Ansehen in der humanist. Welt. Schon seine biogr. Daten prädestinieren ihn als Vermittler zweier kulturgeschichtl. Epochen u. als Philologe als Gegenpol zu der niederländisch-belg. Universitätstradition. P. hatte maßgebl. Einfluss auf die 1599 vorgelegte Studienordnung des Jesuitenordens, die Ratio studiorum. Er gab hier der sprachlich-rhetor. Ausbildung gegenüber den philosophischen u. theolog. Fachstudien den Vorzug. Die sprachl. Fähigkeit sollte durch die Lektüre antiker Texte u. die ständige Benutzung der lat. Sprache erworben werden. Seine Lehrintention zeigt sich bereits in einem sehr frühen Werk, in der kommentierten Ausgabe der Epistolografie des Rochus Perusinus, De scribenda et rescribenda Epistola liber [...] (Dillingen 1578). Dort empfiehlt P. einen schlichten Briefstil u. verurteilt ebenso eine ungewohnte Syntax wie auch eine über den alltägl. Sprachgebrauch hinausgehende Wortwahl. P.’ berühmtestes Werk ist ein vierbändiges Übungsbuch, das erstmals 1588–1594 u. d. T. Progymnasmatum latinitatis, sive dialogorum volumen primum [...] De rebus litterariis. Volumen secundum [...] De morum perfectione. Volumen tertium, pars prior [...] pars posterior: De variis rerum generibus [...] (Ingolst.) erschien u. bis 1752 (22. Aufl.) vollständig bzw. in Auszügen neu aufgelegt wurde. Das Werk, das nach der Intention des Verfassers u. später auch des Ordens als Alternative zu den Colloquia fami-

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liaria des Erasmus von Rotterdam im Schulunterricht benutzt werden sollte, zeigt sich vertraut mit den sprach- u. literaturpädagog. Kontroversen ital., frz. u. niederländ. Gelehrter u. bietet Einblick in den damaligen Sprachunterricht im Übergang vom Grammatikkurs zur Lektüre der Autoren u. deren imitatio. Darüber hinaus haben die hier enthaltenen Schülerdialoge enzyklopäd. Informationswert, vermitteln sie doch nicht nur notwendiges Wissen über Volksbräuche u. verschiedene Berufe, sondern auch sittlichreligiöse Unterweisung u. natur- u. gesellschaftskundl. Erkenntnisse. In diesem Sinne betrachtete er die Historiografie ebenso wie Poggios u. Bebels Fazetien als für die Argumentation nützl. Beispielsammlungen. Dem Schulunterricht dienten auch die weit verbreiteten Poeticarum Institutionum libri III (Ingolst. 1594. Internet-Ed. in: CAMENA, Abt. Thesaurus. Mehrfach ediert wurde die 3. Aufl. v. 1600. Letzte überarb. Aufl. 1805). Die Wirkung dieses Werks wurde erst durch Masens Palaestra eloquentiae ligatae (1654–57) eingeschränkt. Dem humanist. Rhetorikideal verpflichtet, verfolgt P. auch hier die Ausbildung der Beredsamkeit, der die Tragödie eher als die Komödie förderlich sei, weil der Schüler hier nicht nur den ornatus besser verwirklicht finde, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten der Affekterregung. In vielen Punkten finden sich Übereinstimmungen sowohl mit Scaliger als auch mit Viperano. Obwohl P. kaum theoretisch über die Verwendung der Allegorie handelt, findet sie doch in seinen dramat. Werken, die z.T. seiner Poetik beigebunden sind, Verwendung (vgl. Eleazarus Machabaeus, 1587 aufgeführt. Stratocles sive Bellum, 1590 aufgeführt. Immolatio Isaaci, 1590 aufgeführt). Auch die zahlreichen kommentierten Ausgaben antiker Autoren waren für den Schulgebrauch bestimmt (z.B. Symbolarum libri XVII quibus Virgili Maronis Bucolica. Georgica. Aeneis ex probatissimis auctoribus declarantur. Augsb. 1599. Nachdr. New York u. a. 1976. Ethicorum Ovidianorum libri quatuor [...]. Ingolst. 21617. Ex P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon libris XV [...]. Antwerpen 1618. Nachdr. New York u. a. 1976. [Mainz 11613]).

Pontanus

Für P. war die Verknüpfung von Nutzen u. Vergnügen in der Pädagogik eine Selbstverständlichkeit. Das zeigt ein Werk mit dem Titel Attica bellaria, seu literatorum secundae menses, ad animos ex contentione, et lassitudine studiorum lectiunculis exquisitis, jucundis, ac honestis relaxandos, syntagmatis [...] (3 Bde., Augsb. 1615–21). Auf der einen Seite sollte dem Schüler mit dieser Sammlung von Kurztexten Zerstreuung im attischen, pointierten Stil geboten werden, andererseits lieferte der Verfasser mit den dargebotenen Fabeln, mirakulösen Erzählungen, Epigrammen, Apophthegmata etc. vorbildl. Stilmuster. Die Schriften des P. hatten für lange Zeit großen Einfluss auf den Lateinunterricht. Ausgaben: Stratocles. Hg. Fidel Rädle. In: Lat. Ordensdrama des 16. Jh. Bln./New York 1979, S. 299–365, 556–559. – Dialogus de connubii miseriis. Krit. Ed. u. Komm. v. F. Rädle. In: FS HansGert Roloff. Bern/Ffm. 1983, S. 290–314. – Floridorum libri octo. Editio quarta [...]. Accessit item Hymnorum liber singularis in ordines caelestium. Ingolst. 1602. Internet-Ed. in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 6, S. 1007–1019. – Ulrich G. Leinsle: Dichtungen J. P.’ in der Hs. Studienbibl. Dillingen XV 399. In: Jb. des Histor. Vereins Dillingen/Donau 107 (2006), S. 259–321. – Weitere Titel: Heinrich Bremer SJ: Das Gutachten des P. J. P. über die humanist. Studien in den dt. Jesuitenschulen 1593. In: ZKTh 28 (1904), S. 621–633. – Nikolaus Nessler: Dramaturgie der Jesuiten P., Donatus u. Masenius. Programm Brixen 1905. – Duhr, Jesuiten, Bd. 1 u. 2. – Alfred Happ: Die Dramentheorie der Jesuiten. Diss. masch. Mchn. 1922. – Joseph Bielmann: Die Dramentheorie u. Dramendichtung des J. P. SJ. In: LitJb 3 (1928), S. 45–85. – Ders.: Die Lyrik des J. P. In: LitJb 4 (1929), S. 83–102. – Johannes Müller: Das Jesuitendrama in den Ländern dt. Zunge [...]. 2 Bde., Augsb. 1930 (bes. Bd. 2, S. 7 f.). – A. Stahl: P. J. Spanmüller – P. SJ. [...]. In: Kalksburger Korrespondenz (1953), S. 43–55. (1954), S. 5–20. – Fritz Reckling: Immolatio Isaac. Diss. Münster 1962, S. 171–178. – Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). 3 Bde., Bern/Ffm./Las Vegas 1978. – Barbara Bauer: J. P. SJ, ein oberdt. Lipsius. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 47 (1984), S. 77–120. – Dies.: Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Ffm./New York 1986, S. 241–318. – Dies. (= Mahlmann-Bauer): J. P. in Augsb. Seine Schülergespräche, seine Poetik u. sein Drama ›Opferung Isaaks‹. In: Jakob Bider-

Ponten mann u. sein ›Cenodoxus‹. Hg. Helmut Gier. Regensb. 2005, S. 15–59. – Ulrich G. Leinsle: Werke J. P.’ in der Hs. Studienbibl. Dillingen XV 399. In: Jb. des Histor. Vereins Dillingen 106 (2005), S. 87–146; Forts. zu den Dichtungen ebd. 107 (2006), S. 259–323. – Heidrun Führer: Abrahams u. Jephtes Menschenopfer in den jesuit. Schuldramen v. J. P. u. Jacob Balde: ne dubita: oboedire Deo nil affert mali. In: Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen u. Medien der frühen Neuzeit. Bln. 2006, S. 659–691. – Iris Heckel: Christl. Heilsbotschaft als Liebeslied. J. P.: ›Epithalamium, In nuptias Christi et Ecclesiae‹. In: ›Parodia‹ u. Parodie. Hg. Reinhold F. Glei u. Robert Seidel. Tüb. 2006, S. 255–285. Franz Günter Sieveke

Ponten, (Servatius) Josef, * 3.6.1883 Raeren bei Eupen, † 3.4.1940 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Verfasser von Romanen, Novellen sowie kunstgeschichtlichen u. geografischen Arbeiten. Als ältester Sohn aus einfachem, aber ehrgeizigem Elternhaus begann P. als Abiturient seine dichterische Laufbahn mit einem aufklärerischen, von Tolstoi (Kreutzersonate) beeinflussten, das bäuerlich-kath. Milieu seiner Heimat schockierenden Roman (Jungfräulichkeit. Stgt. 1906). 1908 heiratete er die Malerin Julia Freiin von Broich. 1922 promovierte er in Kunstgeschichte an der Universität Bonn über Alfred Rethel. Ausgedehnte Reisen führten ihn u. Julia durch Europa, Afrika u. Amerika. P.s Werke erlebten z.T. hohe Auflagen; sein bedeutendster Roman, Der Babylonische Turm. Geschichte der Sprachverwirrung einer Familie (Stgt. 1918), wurde auch von Thomas Mann hoch geschätzt, dessen Freund P. in München wurde u. der ihn 1926 für die Preußische Dichterakademie vorschlug. P. suchte wiss. Beobachtungs- u. Argumentationssprache mit Poetisch-Symbolistischem zu verbinden; naturalist. Einschläge (Dialoge im Eifeler Dialekt, auch eine Neigung zu expressionist. Kühnheiten, v. a. in der mittleren Zeit) kennzeichnen seinen Stil. In allen Werken spielen Landschaften eine wesentl. Rolle. Thematische Schwerpunkte sind der Kampf des genialen Einzelnen gegen seine rück-

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ständige Umwelt, Geist u. Sinnlichkeit u. die Geschichte des Auslandsdeutschtums. In der Akademie sympathisierte P. als betont antiberlinischer, landschaftsorientierter Dichter mit der Gruppe der »Völkischen« (Wilhelm Schäfer, E. G. Kolbenheyer) u. erhoffte sich 1933, ungeachtet seines unerschütterl. Pazifismus u. Kosmopolitismus, Bestätigung u. Förderung durch das neue Regime. Seit 1926 hatte er sich auf das äußerlich zum Nationalsozialismus passende, den Wolgadeutschen gewidmete Mammutwerk Volk auf dem Wege (6 Bde., Stgt. 1930–42; unvollendet) konzentriert, trat aber nicht der Partei bei u. machte dem Nationalsozialismus in seinen Werken keine Zugeständnisse. 1936 erhielt er den Rheinischen Literaturpreis, 1937 den Literaturpreis der Stadt München. Diese Ehrungen führten zum öffentl. Protest der SA gegen den »Judenfreund«. Von P.s Sachbüchern ist das zweibändige Werk Architektur, die nicht gebaut wurde (Stgt. 1925. Neuaufl. 1987) immer noch unersetzlich. Weitere Werke: Siebenquellen. Stgt. 1909 (R.). – Griech. Landschaften. Ein Versuch künstler. Erdbeschreibens. Stgt. 1914. – Der Meister. Stgt. 1919 (N.). – Der Urwald. Stgt. 1924 (N.). – Offener Brief an Thomas Mann. In: Dt. Rundschau, Okt. 1924, S. 64–83. – Die Luganesische Landschaft. Stgt. 1926 (mit Aquarellen v. Julia Ponten u. Hermann Hesse). – Die Studenten v. Lyon. Stgt. 1928 (R.). Literatur: Wilhelm Schneider: J. P. Stgt. 1926. – Gerhart Lohse: J. P. 1883–1940. In: Rhein. Lebensbilder. Bd. 2, Düsseld. 1966, S. 275–287. – Marbacher Magazin 35 (1985): Literar. Kontroversen um 1930. Bearb. v. Jochen Meyer. – Hans Wysling: Dichter oder Schriftsteller? Der Briefw. zwischen Thomas Mann u. J. P. 1919–30. Bern 1988. Darin: Einf.: Glück u. Ende einer Freundschaft (S. 7–24) u. Auswahlbibliogr. (S. 127–139). – Gertrude Cepl-Kaufmann: Entwürfe v. ›Heimat‹ bei Autoren des Rheinlandes. Düsseld. 2002 (Ausstellungskat.). – Richard Matthias Müller: J. P. (1883–1940), Freund Thomas Manns. In: ThomasMann-Jb. 17 (2004), S. 147–161. – Cristina R. Parau: Die Konstruktion des geschichtl. Raumes in J. P.s virtueller Geo-Grafie des Rheinlandes. In: Wissenschaftsgesch. im Rheinland. Hg. G. Cepl-Kaufmann u. a. Bd. 2, Kassel, S. 107–126. – Dies.: Thomas Mann u. J. P. – Zur Struktur eines ästhet. Feldes nach dem Ersten Weltkrieg. In: Thomas Manns

301 kulturelle Zeitgenossenschaft. Hg. Tim Lörke u. Christian Müller. Würzb. 2008, S. 45–58. – Hilla Müller-Deku: J. P., Julia Ponten v. Broich – Das Leben v. zwei Künstlern in Aachen u. München. Aachen 2009. Richard Matthias Müller

Pontus und Sidonia ! Eleonore von Österreich

Poppe Sich-Erinnerns. Zum Verhältnis zwischen dem Persönlichen u. dem Politischen in Autobiogr.n der österr. Frauenbewegung um 1900. In: Autobiogr.n in der österr. Lit. Hg. Klaus Amann. Innsbr. 1998, S. 61–73. – Katharina Gerstenberger: Truth to tell. German Women’s Autobiographies and Turn-ofthe-Century Culture. Ann Arbor 2000. – G. Hauch: P. In: NDB. Arno Matschiner / Red.

Popp, Adelheid, geb. Dworak, * 11.2.1869 Poppe, Grit, * 25.1.1964 Boltenhagen/ Inzersdorf bei Wien, † 7.3.1939 Wien. – Ostsee. – Roman- u. Kinderbuchautorin. Publizistin u. Autobiografin. P. wurde als 15. Kind einer Weberfamilie geboren; zehn ihrer Geschwister starben im Säuglingsalter, 1875 der Vater, ein Trinker u. Tyrann. Nach kurzem Schulbesuch trug P. als Näherin, Dienstmädchen u. Fabrikarbeiterin mit ihrem Hungerlohn zum Unterhalt der Familie bei; Klinik- u. Armenhausaufenthalte folgten. Ihre Flucht in Kitschlektüre hatte ein Ende, als sie in Kontakt mit der organisierten Arbeiterschaft kam. 1885 wurde sie Sozialdemokratin, 1892 Mitbegründerin u. Redakteurin der Wiener »Arbeiterinnen-Zeitung«, 1893 heiratete sie den Parteifunktionär Julius Popp; führend in der österr. Frauenbewegung, war sie Mitgl. des SPÖ-Vorstands u. 1919–1934 auch des Parlaments. P.s nüchterne Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt (Mchn. 1909) ist ein frühes Dokument der Gattung Arbeiterautobiografie. Anders aber als die von Göhre bearbeiteten (etwa Brommes u. Carl Fischers) wurde sie zu geringem Preis im SPD-Verlag »Vorwärts« publiziert (Bln. 31910; vorher anonym. 61930. Neuausg. Bonn 1983). Ihre von Bebel mit einer Einführung versehene exemplarische Selbstdarstellung dient nicht bürgerl. Informations- oder Mitleidsbedürfnis, sondern versteht sich als agitatorisches Instrument mit doppelt emanzipator. Zielsetzung. Literatur: Georg Bollenbeck: Zur Theorie u. Gesch. der frühen Arbeiterlebenserinnerungen. Kronberg/Ts. 1976, S. 277–292. – Walter Jens: A. P.s ›Jugendgesch. [...]‹. In: Ders. u. Hans Thiersch: Dt. Lebensläufe [...]. Weinheim/Mchn. 1987, S. 133–150. – Gabriella Hauch: A. P. Bruch-Linien einer sozialdemokrat. Frauen-Karriere. In: Das alles war ich. Hg. Frauke Severit. Wien 1998, S. 26–51. – Harriet Anderson: Der Feminismus des

P., Tochter des DDR-Bürgerrechtlers Gerd Poppe, wuchs im mecklenburgischen Boltenhagen u. in Stahnsdorf bei Potsdam auf. Nach einer Ausbildung zur »Facharbeiterin für Schreibtechnik« u. verschiedenen Tätigkeiten im DEFA-Studio für Spielfilme sowie an der Hochschule für Film u. Fernsehen in Potsdam-Babelsberg nahm sie 1984 das Direktstudium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig (heute Deutsches Literaturinstitut Leipzig) auf. Von den Erzählungen, die in den nächsten vier Jahren entstanden, gingen einige in den Erzählband Der Fluch (Halle/Lpz. 1989) ein. 1989 schloss sich P. der Bürgerrechtsbewegung »Demokratie Jetzt« an u. wurde schließlich deren Geschäftsführerin für das Land Brandenburg. Nach der Geburt ihres ersten Kindes 1991 zog sie sich jedoch aus der Politik zurück. Sie erhielt seither verschiedene Stipendien u. 2005 den Kunstpreis Literatur Berlin Brandenburg der Lotto GmbH Land Brandenburg. Heute lebt sie mit ihren beiden Kindern in Potsdam. Mit schwarzem Humor u. Lakonie gestaltet P. in ihrer Prosa immer wieder individuelle u. zwischenmenschl. Ausnahmezustände. Ihren literar. Durchbruch erlangte sie mit ihrem Debütroman Andere Umstände (Bln. 1998), der den DDR-Alltag u. die Ereignisse der Wendezeit aus Sicht der ostdeutschen, männermordenden »Heldin« Mila Rosin schildert u. dadurch nicht zuletzt die weltgeschichtl. Dimension dieser Ereignisse ironisiert. Von dem Wunsch getrieben, schwanger zu werden u. ein Kind zu bekommen, hat Mila nämlich für die Vorgänge um sie herum ein bloß vordergründiges (beispielsweise auch kulinarisches) Interesse u. ist ausschließlich mit der Verfolgung ihrer persönl. Ziele be-

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schäftigt. Neben vertreuten Erzählungen in verschiedenen Anthologien erschien 2006 im Gustav Kiepenheuer Verlag (Bln.) P.s zweiter Roman, Geteiltes Glück, die wendungsreiche u. skurrile Geschichte einer Ehekrise. Großen Erfolg haben auch ihre fantast. Kinderbücher, darunter das Jugendbuch Käpten Magic (Hbg. 2006), sowie die von Anke Damman reich illustrierten Erzählungen von den Abenteuern des heranwachsenden Drachen Dragid Feuerherz. Weitere Werke: Kinder- und Jugendbücher: Alabusch oder das Herz des Vulkans. Bln. 1999. – Dragid Feuerherz. Hüter der Drachen. Würzb. 2007. – Dragid Feuerherz. Die Perle des Lichts. Würzb. 2007. – Dragid Feuerherz. Im Bann der Magier. Würzb. 2008. – Anderswelt. Hbg. 2009. Eva Stollreiter

Popper, Karl R(aimund), * 28.7.1902 Wien, † 17.9.1994 London. – Philosoph. Der Sohn eines jüd. Rechtsanwalts entwickelte früh philosoph. Interessen. 1922–1928 studierte P. zunächst Mathematik u. Theoretische Physik, später auch Psychologie bei Karl Bühler, bei dem er 1928 promovierte. Philosophische Gesprächspartner waren Heinrich Gomperz u. Mitglieder des Wiener Kreises, obwohl P. sich nie als Mitgl. fühlte, vielmehr seine Philosophie als Widerlegung der Hauptthesen des Logischen Positivismus ansah u. sich 1974 in seiner Autobiography (in: The Philosophy of Karl Popper. 2 Bde., La Salle/ Illinois 1974, S. 3–181) sogar die »Verantwortung für den Tod des Logischen Positivismus« zuschrieb. Wenn der Wiener Kreis die Verifizierbarkeit von Aussagen als Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft u. Metaphysik ansah u. alle nichtverifizierbaren Sätze als sinnlos behandelte, wollte P. dagegen die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium von Wissenschaft u. Nichtwissenschaft einführen, wobei er nichtwiss. Theorien als sinnvoll gelten ließ. Von seinem Werk Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (Tüb. 1979. 21994), das P. als Sekundarschullehrer 1930 bis 1933 schrieb u. das Moritz Schlick u. Philipp Frank trotz der fundamentalen Kritik der Auffassungen des Wiener Kreises in ihre Reihe Schriften zur wis-

senschaftlichen Weltauffassung aufnahmen, konnte aufgrund von Kürzungsauflagen des Verlags nur ein Extrakt u. d. T. Logik der Forschung 1934 in Wien (mit der Jahreszahl 1935) erscheinen. Das Buch hat die Wissenschaftstheorie lange Zeit geprägt; es erlebte in dt. Ausgabe bis 2005 elf, in englischer seit 1959 zehn Auflagen u. wurde in viele Sprachen übersetzt. Nach P. gibt es keine nachweislich wahren wiss. Theorien, sondern nur Hypothesen, begründete kühne Vermutungen, die durch ständige strenge Überprüfung ihrer log. Folgerungen (Tests) an der Erfahrung entweder widerlegt oder, im günstigen Fall, bis auf Weiteres beibehalten werden. Das Ziel der Wissenschaft ist objektive Wahrheit, aber sie kann nie erreicht, allenfalls allmählich approximiert werden. Die sog. Induktion ist keine wiss. Methode; der Schluss von noch so vielen Einzelfällen auf ein allg. Gesetz ist stets illegitim. 1935 ging P. zu Gastvorlesungen nach England u. folgte 1937, die Entwicklung in Europa voraussehend, einer Berufung auf eine Dozentur in Christchurch/Neuseeland. Dort schrieb er in der Kriegszeit (»my war effort«, in: Autobiography, S. 91) The Poverty of Historicism (London 1957. Dt. Tüb. 1965. 7 2003) u. das Hauptwerk The Open Society and its Enemies (2 Bde., London 1945. Dt. Bern 1957/58. Mchn./Zürich 1992. 31994). Die offene Gesellschaft erwuchs merkwürdigerweise aus einem Exkurs über Platon in The Poverty of Historicism. In Auseinandersetzung mit den Theorien Platons, Hegels u. Marx’ vertritt P. in der Offenen Gesellschaft die These, dass alle Versuche, eine umfassende Theorie der Gesellschaft u. der Geschichte zu entwickeln u. daraus ein Programm abzuleiten, welches das endgültige Glück der Menschheit sichern könne, aus inneren Gründen zum Scheitern verurteilt seien. Geschichte ist nicht voraussehbar oder planbar. Nur freie Diskussion u. die schrittweise Verbesserung offensichtl. Mängel des sozialen Systems (»piecemeal social engineering«), also Reform, nicht Revolution, können – im Sinne eines negativen Utilitarismus – das Leid der Menschen allmählich verringern. Das Buch machte Epoche, trotz be-

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rechtigter Kritik an P.s Interpretation der behandelten Denker. Längere Zeit war P. der international einflussreichste lebende Philosoph; sowohl reformist. Sozialdemokraten als auch gemäßigte Konservative u. Liberale beriefen sich auf ihn, der selbst 1919 Marxist u., jedenfalls bis 1927, Sozialist gewesen war. 1945 übernahm P. eine Position als Reader an der London School of Economics, wo er 1949 o. Prof. für Logik u. Methodenlehre der Wissenschaften wurde. Seither entwickelte er seine Philosophie des krit. Rationalismus in vielen Aufsätzen u. Sammelbänden weiter u. verteidigte sie gegen Kritik u. Missverständnisse, oft auf sehr temperamentvolle Weise (Conjectures and Refutations. London 1963. Dt. Tüb. 2000. Objective Knowledge. London 1972. Dt. Hbg. 1973. 31995). In den 1960er Jahren entwickelte P. seine ontolog. Theorie von den »drei Welten«, die stark an Freges Lehre von den »drei Reichen« erinnert, obwohl P. Frege nirgends nennt u. vermutlich seine Auffassung tatsächlich unabhängig von ihm konzipierte. Wie Frege das Reich des »Subjektiv-Wirklichen« (der Vorstellungen u. andere subjektive Erlebnisse) vom Reich des »Objektiv-Wirklichen« (des physisch Realen) unterscheidet u. diese beiden wiederum vom Reich des »ObjektivNichtwirklichen« (der Begriffe, Zahlen, Gedanken) trennt, gibt es für P. die physikal. Welt, die mentale Welt u. die Welt der »möglichen Objekte des Denkens«, also der Theorien u. Argumente sowie der log. Beziehungen zwischen ihnen. Die mentale »Welt 2« kann mit beiden anderen Welten in reale Beziehungen eintreten (»interagieren«), eine unmittelbare Interaktion zwischen phys. Wirklichkeit (»Welt 1«) u. dem Bereich der Theorien (»Welt 3«) findet nicht statt (On the Theory of the Objective Mind. In: Objective Knowledge, S. 153 bis 190). Diese Theorie P.s wurde lebhaft diskutiert, doch fand die These einer selbständigen Existenz der Welt der Theorien (von denen P. allerdings ausdrücklich sagt, sie seien »vom Menschen hergestellt«, a. a. O., S. 159) vielfältige Kritik. Ähnlich steht es um die Wiederaufnahme eines Dualismus u. Interaktionismus hinsichtlich des Verhältnisses von Leib u. Seele, die P. gemeinsam mit seinem Freund, dem Neuro-

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physiologen u. Nobelpreisträger John C. Eccles, vorlegte (The Self and its Brain. Bln. 1977. Dt. Mchn. 1982. Neuausg. Mchn./Zürich 1989. 51996). Das Buch konnte sich bisher nicht gegen den vorherrschenden Trend zu einer monistischen u. funktionalist. Auffassung des Leib-Seele-Verhältnisses durchsetzen. P.s lange herrschendes Modell der Wissenschaft als kontinuierl. Annäherung an die objektive Wahrheit durch Versuch u. Irrtum im Sinne einer darwinist. Selektion von konkurrierenden Theorien ist durch Thomas Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 1962. Dt. Ffm. 1967) u. das Modell einer unstetigen wiss. Entwicklung als Folge von Revolutionen mit Paradigmenwechseln u. irrationalen Brüchen erschüttert worden. Es sieht aber so aus, als ließe sich viel mehr von P.s Einsichten in das neue Bild der Wissenschaftstheorie u. -entwicklung hinüberretten, als im lebhaften Meinungsstreit der 1970er Jahre weithin angenommen wurde. Weitere Werke: The unended Quest. London 1976. Dt. Hbg. 1994. 31995 (Tb. zuletzt 2004). – Quantum Theory and the Schism in Physics. London 1982. – The Open Universe. An Argument for Indeterminism. London 1982. – Realism and the Aims of Science. London 1983. – A World of Propensities. Bristol 1990. Dt. Tüb. 1995. – ›Ich weiss, dass ich nichts weiss – und kaum das‹. K. P. im Gespräch über Politik, Physik u. Philosophie. Bonn 1991. – Gegen den Zynismus in der Interpr. der Gesch. Regensb. 1992. – Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Gesch. u. Politik. Mchn./ Zürich 1994. 81996 (Jubiläums-Ed. 2004). – Lesebuch. Tüb. 1995. 21997. – The World of Parmenides. Hg. Arne F. Petersen. London 1998. Dt. Mchn./ Zürich 2001. – Frühe Schr.en. Hg. Troels Eggers Hansen. Tüb. 2006. Literatur: Bibliografien: The Philosophy of K. P. a. a. O., S. 1199–1287. – Manfred Lube: K.-R.-P.Bibliogr. 1925–2004. Ffm. u. a. 2005. – Weitere Titel: The Critical Approach to Science and Philosophy. Essays in Honour of K. R. P. Glencoe 1964. – Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der dt. Soziologie. Neuwied 1966. 31971. – Richard Robinson: Dr. P.’s Defence of Democracy. In: Ders.: Essays in Greek Philosophy. Oxford 1969, S. 74–99. – Imre Lakatos u. a. (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge 1970. – Hans Albert: Plädoyer für Krit. Rationalismus. Mchn. 1971. – Franz Stark (Hg.): Revolution oder Reform? K. P. u.

Popper-Lynkeus Herbert Marcuse. Eine Konfrontation. Mchn. 1971. – John W. Watkins: K. R. P. Die Einheit seines Denkens. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart 1. Gött. 1972, S. 151–214. – Norbert Leser u. a. (Hg.): Die Gedankenwelt Sir K. P.s. Krit. Rationalismus im Dialog. Heidelb. 1991. – Jürgen August Alt: K. P. Ffm./New York 1992. 32001. – Colin Simkin: P.’s Views on Natural and Social Science. Leiden u. a. 1993. – Manfred Geier: K. P. Reinb. 1994. 42003. – Jean Baudouin: La philosophie politique de K. P. Paris 1994. – Anthony O’Hear: K. P. Philosophy and Problems. Cambridge u. a. 1995. – Jeremy Shearmur: The Political Thought of K. P. London/New York 1996. – Ingo Pies u. Martin Leschke (Hg.): K. P.s krit. Rationalismus. Tüb. 1999. – Ian Jarvie u. Sandra Pralong (Hg.): P.’s Open Society after Fifty Years. The Continuing Relevance of K. P. London/ New York 1999. – Herbert Keuth: Die Philosophie K. P.s. Tüb. 2000. – Hubert Kiesewetter: K. P. Leben u. Werk. Eichstätt 2001. – Erhard Oeser: P., der Wiener Kreis u. die Folgen. Die Grundlagendebatte der Wissenschaftstheorie. Wien 2003. – Harald Stelzer: K. P.s Sozialphilosophie. Wien 2004. – Jürgen Schröder: K. P. Paderb. 2006. – Mario Alai u. Gino Tarozzi (Hg.): Proceedings of the Conference K. P., Philosopher of Science: Cesena, 1994. Soveria Mannelli 2006. – Peter Markl u. Erich Kadlec (Hg.): K. P.’s Response to 1938. Ffm. u. a. 2008. – Stefano Gattei: K. P.’s Philosophy of Science. Rationality without Foundations. London/New York 2009. Günther Patzig / Red.

Popper-Lynkeus, Josef, eigentl.: J. Popper, * 21.2.1838 Kolin/Böhmen, † 21.12. 1921 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Sozialreformer, Physiker, Philosoph u. Erzähler. Aus einer kleinbürgerl. jüd. Familie stammend, wuchs P. im Getto seiner Heimatstadt auf; nach der Oberrealschule in Prag besuchte er dort das dt. Polytechnikum u. schloss sein Studium 1859 am Wiener Polytechnikum ab. Seine jüd. Herkunft verhinderte eine entsprechende Anstellung für den jungen Ingenieur. Bei weiteren Studien an der Universität Wien befreundete er sich mit Ernst Mach. Nach einigen erfolgreichen techn. Entwicklungen erlangte P. schließlich eine finanzielle Unabhängigkeit, die ihm von 1897 an eine ausschließl. Beschäftigung mit seinen sozialreformerischen, wiss. u. schriftstellerischen Projekten erlaubte. Zum 100. Todestag seines

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großen Vorbilds Voltaire erschien Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben (Lpz. 1878. 4 1924), in dem P. erstmals seine weitreichenden Reformvorstellungen darlegte, etwa den Gedanken einer Nährpflicht des Staates oder der Ersetzbarkeit von Religion durch Bildung. Mit der Prosasammlung Phantasien eines Realisten (Dresden 1899. 211922. Neudr. Düsseld. 1980) gelang ihm ein überwältigender, von Skandalen begleiteter Erfolg. Angeblich sittenverderbende Wirkung – Inzestdarstellung in der Erzählung Gärende Kraft eines Geheimnisses – führte in Österreich zum Verbot des Buchs bis 1922. In kurzen Geschichten u. Miniaturen attackierte P. im Sinne eines krit., aufklärerischen Denkens Klerikalismus u. Militarismus. In seinem sozialreformerischen Hauptwerk Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage (Dresden 1912. Wien 21923. Teilabdr. u. d. T. Materielle Grundsicherung. Eingel. u. hg. v. Emmerich Talos. 1989) forderte er die Ersetzung der allg. Wehrpflicht durch eine allg. Nährpflicht. Nach Ende des Ersten Weltkriegs griff er diese Thematik in Krieg, Wehrpflicht und Staatsverfassung (Wien 1921) noch einmal auf. Der am techn. Fortschritt orientierte Vernunftgedanke u. die Reformvorschläge P.’, die von einem extremen Individualismus ausgingen u. in die Idee eines sozialist. Zukunftsstaats mündeten, übten auf die österr. Sozialdemokratie u. auf Wissenschaftler wie Freud, Einstein u. die Mitglieder des Wiener Kreises eine außerordentl. Wirkung aus. Weitere Werke: Die techn. Fortschritte nach ihrer ästhet. u. kulturellen Bedeutung. Dresden 1888. – Fundament eines neuen Staatsrechtes. Dresden 1905. – Voltaire, eine Charakteranalyse. Dresden 1905. Wien 31925. – Das Individuum u. die Bewertung menschl. Existenzen. Dresden 1910. 2 1920 (unter Pseud. Lynkeus). U. d. T. Das Ich u. das soziale Gewissen. 31924. – Selbstbiogr. Lpz. 1917. U. d. T. Mein Leben u. Wirken. Eine Selbstdarstellung. Dresden 1924. – Eine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus u. den Sozialisten. Wien 1920. – Gespräche. Wien 1925. Literatur: Margit Ornstein: Ein verbotenes Buch! J. P.’ ›Phantasien eines Realisten‹. Eine Würdigung [...]. Dresden 1919. – Richard v. Mises: J. P. In: Neue Österr. Biogr. 1. Abt., Bd. 7, Wien 1931, S. 206–217. – Ingrid Belke: Die sozialrefor-

305 mer. Ideen v. J. P. (1838–1921) im Zusammenhang mit allg. Reformbestrebungen. Tüb. 1976. – Friedrich Stadler: Vom Positivismus zur ›wiss. Weltauffassung‹. Am Beispiel der Wirkungsgesch. v. Ernst Mach in Österr. 1895–1934. Wien 1982, passim. – Elisabeth Dünner: J. P. Diss Zürich 1997. – I. Belke: P. In: NDB. – J. P. Zwischen Individualethik, Ich-Verlust u. Social engineering. Graz 2003. Johannes Sachslehner / Red.

Porsch, Christoph, * 16.2.1652 Elbing, † 17.1.1713 Elbing. – Evangelischer Theologe u. geistlicher Dichter. P. besuchte das Gymnasium in Elbing u. seit 1670 das Akademische Gymnasium in Thorn. 1672 war er Kantor in Breslau. Nach einem Aufenthalt in Danzig (ab Juli 1673) nahm er am 7.5.1674 das Studium an der Universität Wittenberg auf. Noch im selben Jahr, in dem er vermutlich auch zum Dichter gekrönt worden ist, begleitete er den Sohn Abraham Calovs nach Leipzig; dort disputierte er am 26.4.1676 unter dem Vorsitz von Johann Cyprian (Sensus et cognitio in brutis, adversus Antonium Le Grand dissertatione physica. Lpz.). 1677 wurde P. Pfarrer in Trunz u. 1682 in Zeyer. In seiner Geburtsstadt war er seit 1688 an der Dreikönigskirche u. seit 1695 an der St. Marienkirche als Pfarrer tätig. P. gab 1702 in Elbing ein Gesangbuch u. d. T. Geistliche Seelen-Musik heraus. Von ihm selbst enthält es die Lieder Mein Jesu komm, ich bin bereit, Nun wachen Gottes Strafgerichte u. O Gott, reich an Barmherzigkeit. Im Marienburger Gesangbuch von 1713 finden sich 21 Kirchenlieder P.s. Er war als »Der Wohlbewahrende« Mitgl. in Zesens Deutschgesinnter Genossenschaft. Weitere Werke: C. Porschens [...] Käyserl. Edelgekrönten Poetens, Geistl. Kirch-Hoff, darstellende bibl. Grabschr.en [...]. Lpz. 1674. Erw. Danzig 1687. o. O. 1725 (u. d. T.: Bibl. Inscriptiones [...]). – Der wahren Gläubigen williger u. höchstvergnügl. Himmels-Zug nach Christo [...]. Danzig 1691. – Der allerkräfftigste Hertzens- u. Gewissens-Wecker, oder gründl. Erklärung des jüngsten Gerichts [...]. Lpz. 1696. – Einfältige Erklärung des kleinen Catechismi [...] Luthers. Elbing 1700. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 161–164. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Alexander Nikolaus Tolckemit: Elbingscher Lehrer

Poschmann Gedächtniß [...]. Danzig 1753, S. 75–79. – ADB. – Leonhard Neubaur: Zwei Elbinger Dichter, Achatius v. Domsdorff u. C. P. In: Altpreuß. Monatsschr. 51 (1914), S. 544–606 (mit Schriftenverz.). – Fritz Gause: C. P. In: Altpr. Biogr. Bd. 2, S. 514. – Heiduk/Neumeister, S. 83, 223, 442. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1584. Astrid Kube / Red.

Poschmann, Marion, * 15.12.1969 Essen. – Lyrikerin u. Erzählerin. Neben einer von der Kritik oft hervorgehobenen handwerkl. u. literaturgeschichtl. Fundierung beförderten das Studium der Germanistik, Slawistik u. Philosophie in Bonn u. Berlin sowie eine nicht ausgeführte Dissertation die themat. Ausrichtung P.s auf Fragen der (sprachlichen) Wahrnehmung. Auch das von 1997 bis 2002 dauernde Engagement im Rahmen des dt.-poln. Grenzprojekts »Spotkanie« zeitigt eine an ihren Texten ablesbare Sensibilität für die Idiomatik sprachl. Weltordnung. Schon das Debüt, der Liebesroman Baden bei Gewitter von 2002 (Ffm.), wurde durch das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste unterstützt. P. erzählt die Geschichte der Annäherung zweier Menschen, die sich v. a. durch ihre differierenden Lebensentwürfe auszeichnen. Zwischenmenschlichkeit wird so als permanente Übersetzungstätigkeit sichtbar. Der im gleichen Jahr erschienene Lyrikband Verschlossene Kammern (Lüneb.) vertieft den Effekt der Entautomatisierung mithilfe eines an Filmstills erinnernden Verfahrens. In der Statik treten Nuancen des Objekts hervor, die dem flüchtigen Eindruck widerstehen. Den dritten Teil des Bandes, die Sibirischen Elegien, dominiert das Bild des Frostes: »Umschlagen einer Gestalt / in etwas ganz anderes. Aufdecken. Zudecken. / Weiterhin Schnee« (VII. Elegie). Auch Grund zu Schafen (Ffm. 2004) versammelt Naturgedichte, die nach Aussage der Autorin aber »imaginäre Landschaften, Zivilisationslandschaften, Sprachlandschaften« beschreiben. »Alles hat seine Richtigkeit«, wie es in dem Gedicht Take away Landscape heißt, eben weil die Subjektivität in der Betrachtung eine Falsifizierung der Be-

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obachtungen unmöglich macht. Die vertraute Skandal, da es tatsächlich die Tötung zweier Hühner auf der Bühne vorsieht. Es kam daher Natur erscheint als ideelle Szenerie. Deutlich konstruktivistisch schildert der erst 1971 zur Uraufführung. In seiner ActionSchwarzweißroman (Ffm. 2005) eine sich zu- Prosa demonstriert P. mittels grotesker nehmend als Alteritätserfahrung gestaltende Sprachspiele u. monotoner Rituale den fiktiReise der namenlosen Ich-Erzählerin in den ven Charakter des Theaters. P.’ zahlreiche Ural. Bereits der Titel des Buches u. das Motto Hörspiele artikulieren Gesellschaftskritik u. von El Lissitzky verweisen auf eine motivi- experimentieren mit besonderen akust. Mitsche u. stilist. Struktur des Textes, die teln. Mit dem Dialogstück Kein Besuch von SaFriedmar Apel als »literarischen Suprematis- muel (BR, SWF 1979), in dem ein altes Ehemus« bezeichnet. Für ihr zweites Prosawerk paar auf seinen Sohn wartet, wendet er sich in wurde P. mit dem Literaturpreis Ruhrgebiet nachdenklichem Ton Gefühlen u. Problemen ausgezeichnet. Laudator Herbert Kaiser hob des Individuums zu. Heute lebt P. in Mahervor, dass es um nicht weniger als um »die rokko u. schreibt vorwiegend Gedichte. Aussetzung der neuzeitlich-europäischen Weitere Werke: Eine Sprecherin u. zwei SpreWelt, ihrer Errungenschaften der Aufklä- cher. 1969 (Hörsp.). – Hinausgeschwommen. Ffm. rung, der Subjektautonomie, der Technik, 1970 (Action-P.). – Wie ein Auto funktionierte. der Ideologien« gehe. In P.s Hundenovelle von Ffm. 1972 (D.). – Blick über den See. 1981 (Hörsp.). 2008 (Ffm.) erkannte Heinrich Detering »eine – Übersetzung: George Bernard Shaw: Die Millionäbeunruhigende Entstellung des Alltäglichen« rin. Ffm. 1991. Inken Steen / Red. (FAZ, 15.10.2008). Die Beziehung der melanchol. Protagonistin zu einem ihr zugelauPosselt, Ernst Ludwig, * 22.1.1763 Durfenen Hund wird damit zum »philosophilach/Karlsruhe, † 11.6.1804 Heidelberg schen Bildrätsel« (Jutta Person in der SZ, (Freitod). – Jurist, Historiker, Publizist u. 14.10.2008). radikaler Aufklärer. P. erhielt neben den bereits genannten zahlreiche weitere Preise u. Stipendien (u. a. P. entstammte einer angesehenen bad. 2000 das Stipendium der Stiftung Kultur- Theologen- u. Beamtenfamilie u. erhielt eine fonds Berlin Brandenburg, 2003 den Wolf- für die damalige Zeit vorzügl. Ausbildung. gang-Weyrauch-Förderpreis, 2004 das Sti- Nach dem Besuch des Karlsruher Gymnasipendium der Villa Massimo u. 2006 den ums studierte er drei Jahre lang an der fühDroste-Literaturförderpreis der Stadt Meers- renden dt. Universität in Göttingen Rechts- u. Staatswissenschaften, aber auch Geschichte u. burg). Ole Petras die lat. Klassiker, um bereits 1783 in Straßburg mit ausgezeichnetem Erfolg zum DokPoss, Alf, * 2.8.1936 Ulm. – Prosa-, Hörtor beider Rechte promoviert zu werden. Ein spiel- u. Dramenautor, Lyriker, ÜbersetJahr später avancierte der 21-Jährige an seizer. nem Heimatgymnasium zum Professor der P. studierte 1957/58 Philosophie in New York Rechte u. der Beredsamkeit sowie zum geu. von 1959 bis 1963 Publizistik an der heimen Sekretär des Markgrafen. Noch im Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1964 selben Jahr veröffentlichte er seine erste nahm er an Höllerers Literarischem Collo- Schriften, denen bis zu seinem Tod eine quium in Berlin teil. Gemeinsam mit Kroetz Vielzahl folgen sollten: immer wieder auch in erhielt er 1970 das Suhrkamp-Dramatiker- lat. Sprache (Historia corporis evangelicorum. Stipendium u. war 1972/73 Studiengast der Kehl 1784. Epistola de optima studii juris, anteVilla Massimo in Rom. 1975 war er als Ho- quum ad literarum universitates eatur, in Gymnorary Fellow in Writing an der University of nasiis colendi ratione. Kehl 1784. Systema iurium corporis evangelici. Straßb. 1786. De Virgilii GeIowa (USA). P.’ Dramen zielen auf Schockwirkung. Be- orgicis praefatus. Karlsr. 1786), die er in Wort u. reits sein erstes Stück, Zwei Hühner werden ge- Schrift ebenso fließend beherrschte wie das schlachtet (Ffm. 1969), verursachte einen Französische, wovon seine Übersetzungen

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von Werken Voltaires (Geschichte Karls XII. Königs von Schweden. Ffm. 1805) u. des von ihm hoch verehrten Condorcet (Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes. Tüb.: Cotta 1796) beredtes Zeugnis ablegen. Für überregionales Aufsehen sorgten seine Studien zur antiken Rhetorik (Über die Reden großer Römer in den Werken ihrer Geschichtsschreiber. Kehl 1786) sowie seine Festreden in dt. Sprache, in denen er mit der dt. Geschichtsschreibung hart in Gericht ging (Über teutsche Historiographie. Eine Rede bey der Jubelfeyer des Carlsruher akademischen Gymnasii den 21. November 1786 in Gegenwart des Hochfürstlichen Hauses gehalten. Karlsr. 1786) oder patriot. Heldentaten (Dem Vaterlandstod der vierhundert Bürger von Pforzheim. Eine Rede, den 9. Januar 1788 in Gegenwart des Hochfürstlichen Hauses gehalten. Karlsr. 1788) u. einen dt. Helden von antiker Größe (Friedrich dem Großen. Eine Rede am Jahrestage seines Todes 1787. Karlsr. 1787) emphatisch feierte. Geschichtsschreibung hieß für ihn weder systemat. Quellenkritik noch wertfreie Rekonstruktion der Vergangenheit, wie sie die Göttinger Schule lehrte. Vielmehr wollte er – ganz der antiken Tradition verhaftet – sein Publikum mit bewegenden u. sinnstiftenden histor. Gemälden fesseln u. belehren. Sein aufklärerisches Anliegen, das auch im kurzzeitig erscheinenden Journal »Wissenschaftliches Magazin für Aufklärung« (Kehl 1785) seinen Ausdruck fand, u. sein patriot. Engagement ebneten ihm 1788 den Weg in die Kurfürstlich Deutsche Gesellschaft Mannheims. Doch diese glänzende Karriere geriet nach dem Sturm auf die Bastille nicht nur ins Stocken; vielmehr führte die Französische Revolution ihren dt. Anhänger, je lauter er seine Sympathie für sie bekundete, umso weiter ins berufl. Abseits. 1791 zog er sich als Amtmann nach Gernsbach bei Rastatt zurück, 1796 schied der mittlerweile als »Jakobiner« Denunzierte – wohl auf eigenen Wunsch – aus dem Staatsdienst aus, erhielt jedoch weiterhin eine halbe Hofratsbesoldung, um eine – indes nie vollendete – Geschichte Badens zu schreiben. Sein journalistisch-publizist. Interesse galt allein der politischen u. gesellschaftlichen Umwälzung des westl. Nachbarlands. Nachdem er 1789 in

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seinem Anti-Mirabeau (Ueber Mirabeau’s Histoire secrète de la cour de Berlin. Aus authentischen Quellen. Karlsr. 1789) noch Friedrich den Großen als Aufklärer gefeiert u. in seiner Geschichte der Deutschen für alle Stände (2 Bde., Lpz. 1789–90) seine patriot. Gesinnung unter Beweis gestellt hatte, verhehlte er in seinem ersten großen Werk über die Revolution (Bellum populi Gallici adversus Hungariae Borussiaeque reges eorumque socios. Annus 1792. Gött. 1793. Dt. Krieg der Franken gegen die wider sie verbündeten Mächte. Lpz. 1794) seine Sympathie für die Revolutionäre nicht mehr. Dies gilt ebenso für seine in den Folgejahren erscheinenden Zeitschriften, das »Taschenbuch für die neueste Geschichte« (Nürnb. 1794–1804) u. die »Europäischen Annalen« (Tüb. 1795–1804), sowie für seine kleineren Schriften (Der Proceß gegen den letzten König von Frankreich, Ludwig XVI. und dessen Gemahlin. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Revolution. Neue Aufl. Nürnb. 1802, sowie Lexicon der französischen Revolution, oder Sammlung von Biographien der wichtigsten Männer, die sich im Laufe derselben ausgezeichnet haben. Nürnb. 1802). Für Furore sorgte 1798 die bei Cotta erscheinende, nach neun Monaten allerdings wegen diplomat. Verwicklungen verbotene »Neueste Weltkunde«, das Vorläuferperiodikum der berühmten »Augsburger Allgemeinen Zeitung«. Obwohl P.s finanzielle Verhältnisse sich durch seinen publizist. Erfolg stetig besserten, weckten die Misshelligkeiten seiner Ehe u. die wiederkehrenden polit. Anfeindungen vielfache Ängste, die der sonst so radikale Aufklärer nicht mehr abschütteln konnte. Diese steigerten sich nach dem Hochverratsprozess gegen den mit P. in enger Verbindung stehenden napoleonischen General Moreau zur Hysterie. Jener hatte ihn gebeten, eine Geschichte der Revolutionskriege zu schreiben, u. ihm auch erste Aufzeichnungen ausgehändigt. Nach dessen Verbannung u. der Hinrichtung einiger seiner royalist. Mitverschwörer erfasste ihn die Angst, selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungen zu geraten. Am 11.6.1804, morgens gegen acht, stürzte sich der Ruhelose in Heidelberg, wohin ihn ein Verwandter eingeladen hatte, aus dem

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Fenster u. erlag wenig später seinen Verletzungen. Weitere Werke: Archiv für ältere u. neuere vorzüglich Teutsche Gesch., Staatsklugheit u. Erdkunde. Memmingen 1790–92. – Gesch. Gustafs III., Königs der Schweden u. Gothen. Karlsr. 1792. – Kleine Schr.en. Nürnb. 1795. – Vom Tractat v. Amiens bis zum Wiederausbruch des Krieges zwischen Frankreich u. England. Tüb. 1805. Ausgabe: Sämmtl. Werke. Hg. Wilderich Weick. 2 Bde., Stgt. 1828. Literatur: Ludwig Albrecht Schubart: Sendschreiben über P.s Leben u. Character. Mchn. 1805. – E. L. P. In: Carl Gottlob Hirsching: Histor.-literar. Hdb. Bd. 8.1, Lpz. 1806, S. 65–72. – Siegmund Friedrich Gehres: Lebensbeschreibung v. Dr. E. L. P., nebst mehrern ungedruckten Briefen desselben u. biogr. Nachrichten v. Durlach’s denkwürdigen Männern. Karlsr. 1827 – Wilderich Weick: E. L. P. u. seine Schr.en. In: Schr.en der Gesellsch. für Beförderung der Geschichtskunde zu Freib. i. Br. Freib. 1828, S. 93–114. – E. L. P. In: ADB. – Emil Vierneisel: E. L. P. (1763–1804). In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 88 = N.F. 49 (1936), S. 243–271; 90 = N.F. 51 (1938), S. 89–126; 91 = N.F. 52 (1939), S. 444–499. – Erwin Dittler: E. L. P. (1763–1804) im Umbruch der Zeit. In: Bad. Heimat 69 (1989), S. 417–446. – Kurt Oesterle: Der Redakteur in Flammen. Revolutionärer Feuerkopf u. Pionier des polit. Journalismus: E. L. P. zeigte den Deutschen, wie man eine moderne Ztg. macht. In: Die Zeit, 9.6.2004. – E. L. P. In: Manfred Asendorf u. Rolf v. Bockel: Demokrat. Wege. Ein biogr. Lexikon. Stgt. 2006. – Wilhelm Kühlmann: Facetten der Aufklärung in Baden [...]. Freib. i. Br. 2009, bes. S. 63–72. Wilhelm Kreutz

Postel, Christian He(i)nrich, * 11.10.1658 Freiburg/Elbe, † 22.3.1705 Hamburg. – Advokat u. Librettist. Der Sohn des Predigers u. Literaten Laurenz Postel besuchte das Hamburger Johanneum u. studierte ab Sommer 1680 Jura in Leipzig, wo auch Christian Thomasius zu seinen Lehrern zählte, u. ab Sept. 1680 in Rostock; dort wurde er 1683 zum Lizentiaten beider Rechte promoviert. Ausgedehnte Reisen führten ihn zus. mit seinem Studienfreund Jakob von Melle in die Niederlande sowie nach Frankreich u. England (Beschreibung einer Reise durch das nordwestliche Deutschland, nach den Niederlanden und England im Jahre 1683 von J.

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v. Melle und C. H. Postel. Hg. Carl Curtius. Lübeck 1891). Nach Hamburg zurückgekehrt, war er erfolgreich als Advokat tätig. Angeregt u. gefördert durch seinen Freund Gerhard Schott, den Begründer u. Besitzer der ersten Oper Hamburgs, schuf P. in den 1680er u. 1690er Jahren zahlreiche Opernlibretti, die so namhafte Komponisten wie Johann Conradi, Johann Philipp Förtsch u. Reinhard Keiser vertonten. Nachdem mit dem Tod Schotts 1702 P.s librettistische Tätigkeit für die Hamburger Oper erloschen war, widmete er sich vornehmlich seiner groß angelegten epischen Dichtung Der grosse Wittekind, die stofflich aus dem Happel wohl fälschlich zugeschriebenen Roman Der Sächsische Witekind (1693) schöpft. Sie wurde postum – unvollendet u. auf Anregung Brockes’ von Christian Friedrich Weichmann herausgegeben – 1724 in Hamburg gedruckt. P. war neben Heinrich Hinsch u. Barthold Feind der bedeutendste Librettist der ersten Hamburger Oper u. trug ganz wesentlich zur Entstehung u. Pflege einer eigenständigen dt. barocken Operntextsprache bei. Zu den hervorstechendsten Merkmalen seiner Textschöpfungen gehören nicht nur ihre erfindungsreiche allegor. Sprache, sondern auch u. v.a. die Art u. Weise, in der sich in ihnen barocke Gestaltungstechnik mit überkommenen Formschemata – wie z.B. dem Strophenlied – zu ganz neuen Ausdrucksformen vereinen. So verstand er es, die dramat. Abfolge eines herkömml. Duetts dadurch zu steigern, dass er dessen Anfang u. Ende durch Alliteration markierte – was damals eine völlige Neuerung gegenüber den ital. Vorbildern darstellte. Ungewöhnlich zeigte er sich auch in seinen Übertragungen u. Bearbeitungen fremder Texte: so z.B. dann, wenn er diesen eine kom. Figur beifügte u. ihr in volksnahem Deutsch die Rolle des derbspöttischen Zeitkritikers zuwies. Obwohl derartige Eingriffe in die Werke anderer Meister P. auch heftige Kritik eintrugen, so galt er doch v. a. in der Umsetzung antiker Stoffe in zeitgemäße Dichtungen für viele seiner dt. Librettistenkollegen als vorbildhaft. Bes. hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der Operntext Die wunderbahrerrettete Iphigenia (Hbg. 1699) u. die Fragment

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gebliebene Homer-Übertragung in Alexandrinern Die listige Juno (Hbg. 1700). Obwohl P. als Repräsentant spätbarocker Dichtung eine literar. Fehde mit Christian Wernicke auszufechten hatte (Wernickes kom. Epos Hans Sachs bezieht sich auf P.), weisen ihn seine Publikumserfolge als einen der führenden Hamburger Dichter seiner Zeit aus. Welche nicht unerhebl. Wirkungen P.s Dichterschaffen über seine Zeit hinaus hatte, mag einmal der Umstand belegen, dass Der grosse König der africanischen Wenden Gensericus (Hbg. 1693) noch 1722 von Telemann u. d. T. Sieg der Schönheit in Musik gesetzt wurde, zum anderen aber auch Klopstocks Bekenntnis, im Grossen Wittekind den bedeutendsten Vorläufer seines Messias vorliegen zu sehen. Weitere Werke: Dissertatio inauguralis juridica de eo quod justum est circa defensionem. Ex lege III. Dig. de justit: et jure [...]. Präses: Jakob Lembke; Respondent: C. H. P. Rostock 1683. – Opern (Aufführungsort jeweils Hamburg): Die betrübte u. erfreuete Cimbria [...]. 1689. – Die groß-müthige Thalestris [...]. 1690. – Die schöne u. getreue Ariadne [...]. 1691. – Der Verstöhrung Jerusalem, erster [u. ander] Theil [...]. 1692. – Der wunderbarvergnügte Pygmalion [...]. 1694. – Der großmüthige Scipio Africanus. 1694. – Der geliebte Adonis [...]. 1697. – Die wunder-schöne Psyche [...]. 1701. Ausgaben: Neukirch, Tl. 2, S. 154–165. – Ausw. in: Christian Friedrich Weichmann: Poesie der Niedersachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980. – Der große König Gensericus u. Die wunderbar-errettete Iphigenia. In: Die Oper. Hg. Willi Flemming. Lpz. 1933. Hildesh. 21965, S. 198–308. – Der aus Hyperboreen nach Cymbrien überbrachte Güldene Apfel. Komponist: Reinhard Keiser; Text: C. H. P. In: Hamburgische Textbücher der Hamburger Gänsemarkt-Oper. Hbg. 2007 (Microfiche-Ed.). Literatur: Bibliografien: Solveig Olsen: C. H. P. [...]. Bibliogr. Amsterd. 1974. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 3128–3144. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Register. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. 1994, Register. – VD 17. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 25, S. 133–136. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 666 f. – Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg. 2 Bde., Wolfenb. 1957. – S. Olsen: C. H. P.s Beitr. zur dt. Lit. Amsterd. 1973. – Karin Unsicker: Weltl.

Posthius Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974. – Bodo Plachta: Plagiat oder Neuschöpfung? Zum Einfluß der galanten Lyrik Christian Hofmann v. Hofmannswaldaus auf Libretti v. C. H. P. In: Die Musikforsch. 34 (1981), S. 11–24. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 138 f. – Bernhard Jahn: C. H. P.s ›Verstöhrung Jerusalems‹ (1692). Zur Konfrontation divergierender barocker Poetiken u. ihrer Destruktion im Opernlibretto. In: Compar(a)ison (1994), S. 127–152. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995, passim. – D. Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne [...]. Gött. 1998, passim. – Bodo Plachta: C. H. P. In: NDB. – Irmgard Scheitler: C. H. P. In: MGG 2. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. 820–823. – Dies.: Deutschsprachige Oratorienlibretti [...]. Tutzing 2005. Rainer Wolf / Red.

Posthius, Johannes, eigentl.: J. Posth, * 15.10.1537 Germersheim, † 24.6.1597 Mosbach; Epitaph: Heidelberg, bei der Peterskirche. – Neulateinischer Dichter; Arzt. Der Sohn eines begüterten Germersheimer Bürgers wurde 1554 an der Heidelberger Universität immatrikuliert u. erwarb 1556 die Baccalaureats-, 1558 die Magisterwürde. Seit 1560 Lehrer am neu begründeten Heidelberger Pädagogium, konnte er – gefördert von Erasmus Neustetter, dem Comburger Propst u. Mäzen zahlreicher Neulateiner – seit Herbst 1563 eine große Studienreise unternehmen, die ihn über Mailand, Padua, Venedig, Bologna, Florenz u. Siena nach Montpellier führte, wo er sich unter Leitung Guillaume Rondelets der Medizin widmete. 1567 in Valence zum Dr. med. promoviert, praktizierte er zunächst in Antwerpen u. diente als Feldarzt im Heer Herzog Albas, um schließlich 1569 auf Vermittlung Neustetters Leibarzt des Bischofs von Würzburg (dazu 1582 Stadtarzt) zu werden. Wohl wegen des zunehmenden Einflusses der Jesuiten in Würzburg nahm P. im Frühjahr 1585 ein Angebot an, als leitender Arzt an den kurpfälz. Heidelberger Hof zu gehen. Seine ärztl. Tätigkeit ist u. a. dokumentiert in Gutachten über Johann Casimirs Ableben sowie zu

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Krankheit u. Tod von dessen Gattin Elisabeth, Tochter des Kurfürsten August von Sachsen. P. verstarb in Mosbach, wohin er aus Furcht vor einer Seuche übergesiedelt war. Der Schüler des Petrus Lotichius Secundus u. Freund von Schede Melissus gehört zu den bedeutendsten nlat. Dichtern Deutschlands in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Die in den »Nebenstunden« gesammelten Parerga Poetica (zuerst Würzb. 1580. Erw. Heidelb. 1595. Internet-Ed.: CAMENA), denen mehrere Einzeldrucke (seit 1559) vorausgegangen waren, spiegeln u. a. in drei Büchern Elegien u. ebenso vielen vermischter Gedichte (Sylvae) sowie in nach Entstehungsländern geordneten kleineren Versgebilden das Reise-, Freundschafts- u. Liebeserleben eines nlat. Poeten, dessen Schaffen trotz der Bindung an die Genera der Kasualpoesie stark von der Persönlichkeit P.’ geprägt ist: Nicht wenige der Gedichte handeln »De se ipso«. P., der erstmals in Deutschland Einflüsse der frz. u. niederländ. Spätrenaissancedichtung aufnimmt (Passerat, Douza, Baudius), vertritt vor der Folie der röm. u. nlat. Liebeselegie ein bürgerl. Gelehrten- u. Familienideal, das Motive u. Farben aus der Spannung von berufl. Situation als Arzt u. seiner an Tibull u. Lotichius orientierten Poetenexistenz gewinnt. Verlegerischen Bedürfnissen entsprangen lat. u. dt. Vierzeiler für Holzschnittillustrationen zu Ovids Metamorphosen von Virgil Solis (Ffm. 1563. 1569 u. ö.) sowie zu einer Ausgabe der Aesopischen Fabeln (Ffm. 1566). Beide Werke waren v. a. für Handwerker u. Vertreter der bildenden Künste bestimmt. Als Arztschriftsteller widmete sich P. der Herausgabe medizin. Lehrbücher. Im Jahre 1570 erschien in Basel eine Überarbeitung der mittelalterl. lat. Übersetzung einer arab. Diätlehre aus der Feder des Isaacus Iudaeus, d. i. Yishaq ibn Sulaiman, Al-Isra’ili, dann eine Sammlung von Vorlesungen des in Montpellier lehrenden u. P. einst beherbergenden Mediziners Laurent Joubert (Opuscula. Lyon 1571), schließlich 1590 die Edition eines anatom. Standardwerkes des Realdus Columbus (De re Anatomica Libri XV. Ffm.), das P. um eigene anatom. Beobachtungen ergänzte. In dt. Sprache trat der Mediziner P. v. a. als

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Autor gereimter Gesundheitsregeln hervor (zunächst wohl als Einzeldruck publiziert, dann als Beigabe zu Guilelmus Fabricius Hildanus: Christlicher Schlafftrunck, 1624; 1628 wieder gedruckt in SchatzKämmerlein der Gesundheit). Dazu trat eine teilweise in einem Reimdialog gefasste Lehrschrift Von dem newen erfundenen Sauwbrunnen zu Langen Schwalbach (Ffm. 1582). Daneben bewährte sich P. auch bei der Veröffentlichung einer Anthologie liedhafter bibl. Lyrik mit eigenen Beiträgen (Die Sontags Evangelia gesangsweise componiert. Amberg 1596. 1597. 1608). P. wechselte u. a. mit Joachim Camerarius d.Ä. u. d. J., mit Johann Crato von Kraftheim, Carolus Clusius, Justus Lipsius, Nikodemus Frischlin u. Marquard Freher Briefe. Aus dem Briefwechsel zwischen P. u. dem Nürnberger Arztparacelsisten Heinrich Wolff erhielten sich ein Brief des P. (Würzburg, 5. März 1571; Karrer 1993, Nr. 28) u. mehrere Briefe Wolffs (Brechtold 1959, S. 272) aus den Jahren 1568–1572; ein Brief ist mit weitläufigem Kommentar abgedruckt in CP I, 2001, S. 642–655. Weitere Werke: Carmen gratulatorium D. Maximiliano [...] Regi. Ffm. 1562. – Collegii Posthimelissaei votum, hoc est ebrietatis detestatio. Ffm. 1573. Internet-Ed.: CAMENA. – Übersetzung: Thomas Naogeorg: Hamanus (zus. mit Johannes Mercurius). Mskt. UB. Heidelberg. Ausgaben: Parn. Pal., S. 72–79, dazu Biogramm S. 286–288. – Caspar Dornavius (Dornau): Amphitheatrum Sapientiae Socraticae. Hanau 1619. Nachdr. hg. v. Robert Seidel. Ffm. 1995, passim (s. die Aufstellung auf S. XLIII). – HL, S. 707–751, dazu die Komm.e S. 1365–1394. – Abdruck mit Regesten u. Komm.en aller Vorreden u. Beigaben der Ed.en in: EH, Bd. III (in Vorb.). Literatur: Bibliografien: Karrer 1993 (s. u.). – Karl Schottenloher: Pfalzgraf Ottheinrich u. das Buch. Münster 1927, S. 94–98. – VD 16. – Weitere Titel: Wegele-Holstein: P. In: ADB. – Adalbert Schroeter: Beiträge zur Gesch. der nlat. Poesie Dtschld.s u. Hollands. Bln. 1909, S. 253–266. – Ludwig Krauss: Ein vornehmlich v. fränk. Gelehrten im 16. Jh. gestifteter Mäßigkeitsverein. Ansbach 1928. – Emil Heuser: J. P., Hofmedicus in Heidelberg. In: Mannheimer Geschichtsbl. 29 (1928), Sp. 52–58. – Gordon W. Marigold: Die deutschsprachige Dichtung des J. P. In: Mainfränk. Jb. für Gesch. u. Kunst 25 (1973), S. 33–48. – Botho

311 Guthmüller: Picta Poesis Ovidiana. In: FS August Buck. Ffm. 1973, S. 167–192, bes. 176–181. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984 (Register). – Klaus Karrer: Ut amoris, ac observantiae aliquod extaret testimonium. Untersuchungen zum Selbstverständnis nlat. Dichtens am Beispiel J. P. In: FS Paul Klopsch. Göpp. 1988, S. 144–174. – Adalbert Elschenbroich: Die dt. u. lat. Fabel der frühen Neuzeit. Tüb. 1990. Bd. 1, S. 285–288; Bd. 2, S. 139–141, 272–274. – Klaus Karrer: J. P. (1537–97). Verz. der Briefe u. Werke mit Regesten u. P.-Biogr. Wiesb. 1993. – Jürgen Strein: Die deutschsprachigen medizin. Lehrdichtungen des J. P. In: Daphnis 22 (1993), S. 473–485. – Hans-Jürgen Horn: Die Tetrasticha des J. P. zu Ovids Metamorphosen u. ihre Stellung in der Überlieferungsgesch. In: Der antike Mythos in Text u. Bild. Hg. Hermann Walter u. ders. Bln. 1995, S. 214–223. – Wilhelm Kühlmann. Montpellier u. Heidelberg. Poet. Konturen einer histor. Beziehung im 16. Jh. Heidelb. 2006. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1585–1589. – Stefan W. Römmelt: Späthumanist. Herrscherlob zwischen ratio u. religio. Das ›CARMEN HEROICVM‹ des J. P. (Würzb. 1573) u. die jesuitischen ›ELEGIA‹ in den ›TROPHAEA BAVARICA‹ (Mchn. 1597). In: Justus Lipsius u. der oberdt. Späthumanismus in Oberdtschld. Hg. Alois Schmid. Mchn. 2008, S. 125–141. Hermann Wiegand

Pototschnig, Heinz, * 30.6.1923 Graz, † 11.4.1995 Villach. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor.

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Tiefe aus immer neuen metaphorisch eingesetzten Bildbezügen. Diese Technik des Einkreisens u. Vertiefens beherrscht auch die um ein Bild, ein Symbol gestalteten Erzählungen u. die Stationenfolge der Romane u. Hörspiele. Verknappung, Bewahrung des Einzeldaseins sind bleibende Kennzeichen des Werks, in ungezählten Einzelveröffentlichungen in Zeitungen u. Zeitschriften, in theoret. Äußerungen, auch im Gedichtband Westdrift (Klagenf. 1990). Weitere Werke: Lyrik: Schatten schrägen ins Licht. Villach 1961. 31962. – Nachtkupfer. Klagenf. 1962. – Den Rest teilen die Sterne. Klagenf. 1963. – Lotungen. Klagenf. 1965. – In alten Maßen. [Klagenf.] 1973. – Lyrik. Ausgew. u. mit einem Nachw. vers. v. Kurt Adel. Klagenf. 1973. – Aus Spiegeln keine Wiederkehr. Klagenf. 1991. – Nach dem Abschied: Gedichte aus dem Nachl. Hg. K. Adel. Wien 1997. – Prosa: Der Himmel war lila. Krems 1967. – Die grünen Schnäbel. Klagenf. 1969. – Die Grenze. Wien 1974. – Die Wanderung. Wien 1976. – Der Sommer mit den Enten. Wien 1977. – Hörspiele: Das Ohr des Erhabenen. 1966. – Wenn es sein muß, meine Dame. In: Der Bogen 19 (1965). ORF 1966. – Begegnung im Sand. ORF 1967. Literatur: Kurt Adel: H. P. u. ›Der Bogen‹. In: ÖGL 7 (1968), S. 392–408. – Ders.: Spiel u. Umspiel. Interpr. v. H. P.s ›In allen Maßen‹. In: Brennpunkte 10 (1973), S. 11–27. – Helmut Scharf: H. P. Eine literar. Grenzüberschreitung. In: Die Brücke, H. 2/3 (1976). – Johann Holzner: Idyllische Konstellationen in der zeitgenöss. Lit. In: Die Zeit im Buch, H. 4 (1978), S. 185–192. – H. P. zum 60. Geburtstag. In: Fidibus 11, F. 2 (1983). Kurt Adel

P., der als Soldat am Zweiten Weltkrieg teilnahm, lebte später als Arzt in Villach. Eigenes Erleben u. der Einfluss Rilkes bestimmten seine frühen Versuche um 1945. Der kleine Praetorius, Friedrich-Karl, * 6.1.1952 Bericht Frau am Morgen (1951. In: SimplicisHamburg. – Schauspieler für Theater u. simus, 20.6.1959) zeigt Spuren Hemingways; Film, Verfasser von Dramen u. erzählenaber erst ein Jahrzehnt später kehrte P., auf den Texten. dem Umweg über die Schwarzweißfotografie, die er als strukturelle Erfassung der In seiner Geburtsstadt besuchte P. die HamLandschaft verstand, zur Dichtung zurück. burger Schauspielschule u. schloss seine Nach dem Tod des Architekten u. Dichters Ausbildung 1972 mit einem Diplom ab. Hans Leb übernahm P. die Herausgabe von Seitdem arbeitete er immer wieder mit dem »Bogen. Dokumente neuer Dichtung« (5.- 2009 verstorbenen Regisseur Peter Zadek 19., zgl. letzte Folge, 1962–65). Das dichte- zusammen, von 1972 bis 1978 in Bochum u. rische Ereignis gilt Leb als das Verwobensein Hamburg, danach auch unter anderen Redes jeweiligen Stoffs mit dem Weltganzen: gisseuren an den bedeutenden deutschspraDiesem Programm folgt P.s Kunst der Meta- chigen Bühnen u. a. in Frankfurt/M., Berlin, pher. Oft dämmert das lyr. Erlebnis aus ei- München, Stuttgart u. Zürich. In zahlreichen nem Farbwort herauf u. gewinnt Gestalt u. TV-Filmen u. Serien (u. a. im ARD-Tatort u.

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der Pro7-Serie Die Viersteins) sowie im Kino ist Praetorius, Johannes, eigentl.: Hans P. seit Ende der 1970er Jahre regelmäßig zu Schulze, auch: Petrus Hilarius, Steffen sehen. Läusepeltz, Johannes Petrus de Memel, Auf P.’ literar. Debüt Liebe Carmen (Ffm. Brandanus Merlinus, Janeser Potorianus, 1993) – kapriziöse Liebesbriefe an eine Johann Richter, Wigandus Sechswochius, scheinbar unerreichbare Geliebte – folgte im Servius, Hoffmeister Spinn-Stuben, Lusgleichen Jahr das Reisebuch für den Menschen- tigerus Wortlibius, * 22.10.1630 Zethlinfeind (Ffm.), eine Sammlung bissig-komischer gen/Altmark, † 25.10.1680 Leipzig. – Reisereportagen, deren misanthropische At- Kompilator, Polyhistor. titüde sich auch in Sein oder Nichtsein. Lebensbericht einer Leiche (Ffm. 1995) finden lässt, P. wurde als Sohn eines Gastwirts in die einer galligen Abrechnung mit der Welt des Wirren des Dreißigjährigen Kriegs hineingeboren, denen 1636 der väterl. Hof zum Opfer Theaters. Diese geringschätzige Sicht des unmittel- fiel. Von 1640 an ging P. in Salzwedel zur baren Umfelds verliert sich in P.’ späteren Schule, ab 1650 besuchte er die luth. LateinWerken. Schauspiel-spezifische Fragen, wie schule zu Halle. 1652 immatrikulierte er sich die um Authentizität oder den Einsatz von an der Leipziger Universität (Magister 1655). Komik – welche recht oft mit Kalauern be- Nach vergebl. Versuchen, sich an der Uniantwortet wird – finden sich weiterhin in den versität als Dozent zu etablieren, scheint P. Theaterstücken Alzheimer Roulette (Urauff. (Poeta laureatus 1659) vornehmlich von den 1998, Schauspiel Frankfurt) u. Die Frauenfalle Honoraren der von ihm verfassten Bücher (Urauff. 2000, ebd.). Neben dem Motiv der gelebt zu haben. Er starb an der Pest. Die jüngste u. immer noch unvollständige alternden, sorgebedürftigen oder bereits gestorbenen Mutter (u. a. in Der Mann mit der Bibliografie der Werke P.’ verzeichnet 78 Sichel. Ffm. 2000) kehren die allgegenwärti- Nummern. Das zu seiner Zeit erfolgreichste gen Themen Liebe u. Tod immer wieder. Sie seiner Bücher war die Lustige Gesellschaft sind das Fundament für aberwitzige Sinn- (pseudonym; Druckortangabe zuerst: Zipbilder u. kuriose Plotkonstruktionen, die sich pelzerbst im Drömbling 1656. Zur Fordurch P.’ gesamtes Werk ziehen, erklärbar schungsdiskussion über die Autorschaft P.’ mit einer intendierten »Unberechenbarkeit«, vgl. Art. de Memel), die wenigstens 20 Auflain welcher er das Wesen der Wahrhaftigkeit gen erlebte u. vielfach erweitert wie auch zu erkennen meint. Meist jedoch weist das abgeschrieben u. nachgeahmt wurde. Sie beUnerwartete nicht über den Unterhaltungs- steht aus einer bunten Sammlung von Schwänken, Facetien, Anekdoten u. Apowillen der Texte hinaus. Weitere Werke: Wildgruber oder Schluss mit phthegmen, die P. aus literar. Vorgängern dem Theater. Erstlesung 2000, ohne Urauff. (D.). – wie Johann L. Talitz von Liechtensees KurtzWarum Peter Palitzsch lesen kann. In: Alzheimer weyligem Reyßgespahn (Wien/Luzern 1645), JoRoulette. Die Frauenfalle. Stücke u. Materialien. hann Cocays Teutschem Labyrinth (o. O. 1650) Ffm. 2000, S. 143–147 (Ess.). oder Johann Laurembergs Schäfftiger Martha Literatur: Thomas Kraft: F.-K. P. In: LGL. (o. O. 1651), aber auch aus mündl. ÜberliefeCatharina Koller rung zusammengetragen hat. Daneben finden sich etliche gereimte Texte, die teils populäre Literatur, teils zeitgenöss. Kunstpoesie zitieren. Viele der späteren Schriften schließen an das Erfolgsrezept der Lustigen Gesellschaft an: den Unterhaltungs- u. Bildungsanspruch eines gehobenen Publikums mit Sammlungen amüsanter, merkwürdiger u. kurioser Geschichten u. Begebenheiten zu befriedigen, die er aus literar. u. mündl. Tradition gleichermaßen schöpfte.

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Bes. die Schriften, in denen P. eine große Zahl von Erzählungen u. Berichten über den schles. Berggeist Rübezahl zusammenstellte, stießen schon bei seinen Zeitgenossen, aber auch noch im 19. u. 20. Jh. auf starkes Interesse (Daemonologia Rubinzalii silesii. Lpz. 1662. Des Rübezahls Anderer [...] Theil. Lpz. 1662. Deß Rübezahls Dritter [...] Theil. Lpz. 1665. Satyrus Etymologicus, Oder der Reformirende und Jnformirende Rüben-Zahl. o. O. 1672). Einer weiteren Sagengestalt, dem vogtländ. Katzenveit, ist Ein gründlicher Bericht Vom Schnackischen KatzenVeite (Zwickau 1665) gewidmet. In diesen wie zahlreichen anderen Werken (z. B. Saturnalia: Das ist / Eine Compagnie Weihnachts-Fratzen. Lpz. 1663. Anthropodemus Plutonicus. 2 Bde., Magdeb. 1666/67. Gazophylaci Gaudium. Das ist / Ein Ausbund von Wündschel-Ruthen. Lpz. 1667) bemüht sich P., Gegenstände populären Erzählguts u. Aberglaubens aus der Distanz des Gebildeten darzustellen u. zgl. das Faszinierende seines Materials u. somit dessen Unterhaltungswert zu bewahren. Ein bes. Schwerpunkt im Œuvre des Leipzigers liegt auf dem Gebiet prognostischer u. prodigiöser Literatur. Allein zu den Kometen von 1664/65 erschienen nicht weniger als neun verschiedene Schriften aus seiner Feder. Auch hier war P. als Kompilator tätig. So stellt die Catastrophe Muhammetica (Lpz. 1664) alle Vorhersagen zusammen, die sich auf den Untergang des Osmanischen Reichs beziehen. Die Sacra filamenta Divae Virginis oder Naunburgsche Plumerantfarbene Faden (Halle/ S. 1665) nehmen einen angebl. Seidenregen bei Naumburg zum Anlass, süffisant-parodistisch über zahlreiche wunderbare Niederschläge zu berichten. Etliche seiner Prodigienschriften publizierte P. in den Medien von Flugschrift u. Flugblatt. Auch in der Nutzung dieser Formen des Tagesschrifttums äußert sich die Marktorientiertheit seiner literar. Produktion. Das übrige Werk P.’ umfasst eine größere Zahl von Beiträgen zu Gelegenheitsdrucken, einige akadem. Schriften sowie mehrere, z.T. recht erfolgreiche Sachbücher aus den Bereichen der Geografie u. Geschichte. Auch hat er mehrere Lehrkartenspiele verfasst. Grimmelshausen kannte u. benutzte mehrere Werke P.’. Johann Georg Schmidt folgte

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mit seiner in der Aufklärung viel gelesenen Gestriegelten Rocken-Philosophie (6 Tle., Chemnitz 1705–22) der Philosophia Colus oder Pfy / lose vieh der Weiber (Lpz. 1662). Goethe nutzte für die Walpurgisnachtszene im Faust I die Blockes-Berges Verrichtung (Lpz./Ffm. 1668. Faks.-Neudr. Hanau 1968) als Vorlage. Seit den Gebrüdern Grimm hat man P. v. a. als sagengeschichtl. Quelle ausgewertet. Eine literatur- u. geistesgeschichtl. Würdigung des Leipziger Polyhistors steht noch aus. Weitere Werke: Ludicrium chiromanticum. 2 Tle., Lpz. 1661. – Apocalypsis Mysteriorum Cybeles. Das ist Eine Schnakische Wochen-Comedie. o. O. 1662. – Dulc-amarus Ancillariolus. Das ist / Der süßwurtzligte u. saur-ampferigte MägdeTröster. Lpz. 1663. – Valedictorium Exequialia: Oder Hundert auserlesene Abdanckungen. Görlitz 1663. – Reformata Astrologia Cometica. Lpz. 1665. – Adunatus Cometologus. Lpz. 1665. – Zodiacus Mercurialis. Das ist: Jährige Europaeische WeltChronick. 4 Tle., Nürnb. u. a. 1667–69. – Der Abentheuerl. Glücks-Topf. o. O. 1669. – Vermehrter Europ. Raphael. Lpz. 1673. – Storchs u. Schwalben Winter-Quartier. Ffm./Lpz. 1676. – Deutschlandes Neue Wunder-Chronik. Lpz. 1678. Literatur: Bibliografien: Hugo Hayn: J. P. u. seine Werke. In: Ztschr. für Bücherfreunde 12 (1908/09), S. 7887. – Helmut Waibler: J. P. [...]. Ein Barockautor u. seine Werke. In: AGB 20 (1979), Sp. 951–1152. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 5, S. 3145–3193. – Weitere Titel: Friedrich Zarncke: P. In: ADB. – Ferdinand Gerhard: Joh. Peter de Memels Lustige Gesellsch. Diss. Halle/S. 1893. – Karl de Wyl: Rübezahl-Forsch.en. Die Schr.en des M. J. P. Breslau 1909. – Rudolf Schenda: Die dt. Prodigienslg.en des 16. u. 17. Jh. In: AGB 4 (1963), Sp. 637–710, hier Sp. 665–668. – Gerhard Dünnhaupt: Chronogramme u. Kryptonyme. Geheime Schlüssel zu Datierung u. Autorschaft der Werke des Polyhistors J. P. In: Philobiblon 21 (1977), S. 130–135. – Helmut Waibler: M. J. P., P. L. C. Bio-bibliogr. Studien zu einem Kompilator curieuser Materien im 17. Jh. Ffm. u. a. 1979. – Elfriede Moser-Rath: Lustige Gesellsch. Stgt. 1984. – Flugbl. Bd. 1, Tüb. 1985, Nr. 206, 208, 219. – Ferdinand van Ingen: Das Geschäft mit dem schles. Berggeist. In: FS Marian Szyrocki. Amsterd. 1988, S. 361–380. – Heiduk/Neumeister, S. 84, 223, 444 f. – Italo Michele Battafarano: Alraun, Mandragora, GalgenMännlin. Mattioli, Praetorius, Grimmelshausen. In: Ders.: Glanz des Barock. Bern 1994, S. 186–205. – Ders.: Magia naturalis, Naturphilosophie, Schwarzkunst. Della Porta, P., Knorr v. Rosenroth,

Praetorius Martius. Ebd., S. 155–160. – Uwe Müller: Zum Stand der Rekonstruktion der P.-Saxonius-Bibl. In: Sudhoffs Archiv 79 (1995), S. 120–123. – Rosa Marie Elizabeth Pohl: Cold Blooded Tales of Women with Tails in the Works of J. P. (1630–80). Ann Arbor 1996. – I. M. Battafarano: Samenraub in der Hexenlehre der frühen Neuzeit. Von der NichtRezeption des J. P. zu Beginn des 21. Jh. In: Morgen-Glantz 11 (2001), S. 361–366. – Wilhelm Kühlmann: Grimmelshausen u. P.: Alltagsmagie zwischen Verlockung u. Verbot. Anmerkungen zu ›Simplicissimi Galgen-Männlin‹ (1673). In: Simpliciana 26 (2004), S. 61–75. – Gerhild Scholz Williams: Ways of Knowing in Early Modern Germany. J. P. as a Witness to his Time. Aldershot 2006. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1599–1605. – I. M. Battafarano: Paolo Grillando, der Homer der Hexen: seine Hexengesch. vom Hexensabbat unter dem Nussbaum bei Benevento u. ihre Rezeption in Europa mit bes. Berücksichtigung v. Binsfeld, P. u. Grimmelshausen. In: Dai cantieri della storia. Hg. Gian Paolo Brizzi u. Giuseppe Olmi. Bologna 2007, S. 295–310. Michael Schilling

Praetorius, Michael, eigentl.: M. Schulteis, auch: M. Schultze, * 1572 Creuzburg/ Thüringen, † 15.2.1621 Wolfenbüttel. – Komponist u. Musiktheoretiker. Der Sohn des Pfarrers Michael Schulteis erhielt bei Kantor Michael Voigt an der Lateinschule zu Torgau seinen ersten Unterricht. 1583 ließ er sich in die Matrikel der Universität Frankfurt/O. eintragen, wo er jedoch seines geringen Alters wegen erst ab 1585 Philosophie u. Theologie studierte. Bereits während seines Studiums war er 1587–1590 als Organist an der Universitätskirche St. Marien tätig. Nachdem er Frankfurt aus familiären Gründen hatte verlassen müssen, wirkte er etwa ab 1594 in gleicher Funktion am Hof des Herzogs Heinrich Julius in Wolfenbüttel, der ihn am 7.12.1604 auch zum Herzoglichen Braunschweigischen Kapellmeister ernannte. 1605 wurde der erste Teil seiner neunteiligen Musae Sioniae, die v. a. aus Choralbearbeitungen besteht, in Regensburg gedruckt. Der Rest sowie weitere musikal. Druckwerke erschienen in regelmäßiger Folge bis zum Todesjahr des Herzogs 1613 in Jena, Helmstedt u. Wolfenbüttel. 1613–1616 wirkte P. auf Betreiben des sächs. Kurfürsten Johann Georg hauptsächlich am Hof in

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Dresden; dort machte er 1614 die Bekanntschaft mit Heinrich Schütz. Ab 1616 bereiste er als begehrter Kapellmeister u. Ausrichter der unterschiedlichsten musikal. Veranstaltungen zahlreiche Höfe in weiten Teilen des protestant. Deutschland. 1620 kehrte er vermögend, aber todkrank nach Wolfenbüttel zurück, wo er nur ein Jahr später starb. P. war zweifellos einer der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit. Obschon ganz in der Tradition des musikal. Protestantismus stehend, vermochte er es dennoch, in seinen Kirchenliedbearbeitungen, denen sein kompositor. Hauptinteresse galt, die von Italien her wirkenden stilist. Neuerungen aufzugreifen u. für die evang. Kirchenmusik fruchtbar zu machen. Kaum weniger bedeutsam für die Entwicklung der Orgelmusik in Deutschland sind seine nicht so zahlreichen Orgelkompositionen, in denen er seine Komponierkunst allerdings eher individuelleigenständig u. überwiegend frei von zeitgenöss. Einflüssen entfaltete. Trotz seiner herausragenden Stellung als Kirchenmusiker im protestantischen dt. Barock gründet sich sein Nachruhm vornehmlich auf seine theoret. Schriften. Hier ist bes. sein dreiteiliges Syntagma musicum zu nennen (Syntagmatis musici tomus primus [-tertius]. Wittenb. 1615–19), dessen erster Teil eine in Latein verfasste Geschichte des einstimmigen Kirchengesangs sowie der Musica extra ecclesiam ist. Syntagma II enthält eine ungewöhnlich genaue Beschreibung der damals gebräuchl. Instrumente, die 1620 um einen gedruckten Bildanhang vervollständigt wurde – noch heute eine unschätzbare Quelle. Syntagma III besteht im Wesentlichen aus Erläuterungen zur damaligen Aufführungspraxis u. Hinweisen zur dazugehörigen Terminologie. Vor allem dieser dritte Teil seines theoret. Hauptwerks stellt eine an P.’ Spätwerk orientierte Lehrschrift sowohl der Generalbasspraxis als auch der verschiedensten ausführungs- u. aufführungsprakt. Neuerungen seiner Zeit dar. Weiteres Werk: Leiturgodia Sionia latina [...]. o. O. [Wolfenb.] 1612. Ausgabe: Fischer-Tümpel 1, S. 192–194. – Syntagma musicum; ex veterum et recentiorum ecclesiasticorum autorum lectione, polyhistorum consi-

315 gnatione [...] collectum. o. O. 1614. Internet-Ed.: SLUB Dresden. – Syntagma musicum I-III (1615–19). Nachdr. hg. v. Wilibald Gurlitt. Kassel 1958/59. – Dass. 3 Bde. Hg. Arno Forchert. Kassel 2001. Literatur: Bibliografien: VD 17. – William Jervis Jones: German Lexicography in the European Context [...] (1600–1700). Bln. u. a. 2000, S. 570–572, Nr. 931. – Weitere Titel: W. Gurlitt: M. P. (Creuzbergensis). Sein Leben u. seine Werke [...]. Lpz. 1915. Nachdr. Wolfenb. 2008. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. Gött. (auch Bln.) 1957, S. 111 f. – Arno Forchert: M. P. u. die Musik am Hof v. Wolfenbüttel. In: Daphnis 10 (1981), S. 625–642. – Siegfried Vogelsänger: M. P. beim Wort genommen. Zur Entstehungsgesch. seiner Werke. Aachen 1987. – Dietlind MöllerWeiser: Untersuchungen zum 1. Bd. des Syntagma Musicum v. M. P. Kassel u. a. 1993. – Siegfried Gmeinwieser: M. P. In: Bautz. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. 2. Tl. (Gesch. der Musiktheorie, Bd. 8/II), Darmst. 1994, passim. – S. Vogelsänger: M. P. ›Capellmeister von Haus aus und Director der Music‹ am kurfürstl. Hof zu Dresden (1614–21). In: Schütz-Jb. 22 (2000), S. 101–129. – Walter Werbeck: M. P. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 243 f. – Uwe Wolf: Ital. Stil u. protestant. Choral. Stilwandel u. Tradition im Werk des M. P. In: Beziehungen zwischen Religion (Geisteshaltung) u. wiss. Umwelt (Theologie, Naturwiss. u. Musikwiss.). FS Manfred Büttner. Ffm. u. a. 1999, S. 357–367. – Bernhold Schmid: M. P. In: NDB. – W. Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, passim. – A. Forschert: M. P. In: MGG 2. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. 884–892 (Lit.). – Ders.: Musik als Auftragskunst. Bemerkungen zum Schaffen des M. P. In: Schütz-Jb. 27 (2005), S. 37–53. – Conny Restle: Organologie. Die Kunde v. den Musikinstrumenten im 17. Jh. In: Instrumente in Kunst u. Wiss. [...]. Hg. Helmar Schramm u. a. Bln. u. a. 2006, S. 277–289. – Thomas Synofzik: M. P. u. Heinrich Schütz. In: Schütz-Jb. 29 (2007), S. 123–137. – M. P. Komponist u. Hofkapellmeister. Hg. Winfried Elsner. 2., erw. Aufl. Wolfenb. 2007 (Kat.). – S. Vogelsänger: M. P. In: Bautz (2008, nur Internet). – Ders.: M. P. Hofkapellmeister u. Komponist zwischen Renaissance u. Barock [...]. Wolfenb. 2008. Rainer Wolf / Red.

Prager Abendmahlspiel

Praetzel, Karl Gottlieb, * 2.4.1785 Halbau/ Lausitz, † 13.6.1861 Hamburg. – Lyriker, Erzähler, Herausgeber. Der Sohn eines fürstl. Schlossgärtners studierte ab 1804 Theologie in Leipzig, nahm 1807 eine Hauslehrerstelle in Hamburg an; später war er Privatgelehrter u. aus Geldmangel ein fruchtbarer Beiträger für die gängigen Almanache, Taschenbücher u. Zeitschriften. Er gab den »Jugendfreund« (Hbg. 1816/17) u. das Wochenblatt »Hausfreund« (1829) heraus. Seit 1847 arbeitete er für den »Hamburgischen Correspondenten«. Neben dem Roman Die Getäuschten (2 Bde., Lpz. 1828) lieferte P. eine Vielzahl Novellen, Erzählungen u. Gedichtsammlungen, die auf anspruchslos-unterhaltende, z.T. derb-kom. Weise breite Leserschichten ansprachen. Weitere Werke: Feldherrenränke. Lpz. 1815 (kom. Ep.). – Ausflüge des Scherzes u. der Laune. Lpz. 1816. – Kleine Romane u. Erzählungen. 4 Bde., Lpz. 1822/23. – Maurer-Gedichte. Hbg. 1829. – Hildrian, ein Sommermärchen. Hbg. 1831 (Ep.). – Neue Maurer-Gedichte. Hbg. 1842. Literatur: Carstens: P. In: ADB. Wolfgang Weismantel / Red.

Prager Abendmahlspiel, aufgezeichnet Ende des 14. Jh. – Geistliches Spiel. Das P. A. ist als »ludus de cena domini« mit einem Umfang von 244 Zeilen anonym in einer wohl zu Lesezwecken zusammengestellten Prager Sammelhandschrift überliefert (Cod. Prag, Narodni knihovna XXIII F 128). Die dt. Sprechtexte in vierhebigen Reimpaarversen sind in schles. Mundart, die Szenenanweisungen u. die mit den Incipits verzeichneten 18 zumeist liturg. Gesänge in lat. Sprache abgefasst. Der aus zwei zusammenhängenden Handlungsteilen, dem Gastmahl bei Simon Leprosus u. dem letzten Abendmahl, bestehende Text ist höchstwahrscheinlich ein Auszug aus einem ursprünglich vollständigen, das Leben, Leiden u. Sterben Jesu dramatisierenden Passionsspiel, das wohl in der Mitte oder der zweiten Hälfte des 14. Jh. entstanden ist. Die Gastmahl-Handlung, die die faktisch differierenden neutestamentl. Berichte (Mt 26,6–13; Mc 14,3–9; Lc 7,36–50; Jo 12,1–8) kombiniert

Prager Osterspiele

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(Ineinssetzung von Simon Leprosus u. Simon Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung Pharisäus, Verschmelzung der Frauenfiguren mittelalterl. religiöser Dramen im dt. Sprachgebiet. zu Maria Magdalena), behält im Wesentli- Bd. 2, Mchn. 1987, S. 850 f. – Ders.: P. (ostchen die bibl. Ereignisfolge bei: Einladung mitteldt.) A. In: VL. – J. H. Kuné: In the Beginning was the Word ... Das P. A.: The Words Rendered Jesu u. seiner Jünger durch Simon Leprosus; into Action an Images. In: Neoph. 87 (2003), Maria Magdalena als reuige Sünderin; Sal- S. 79–96. – Martin Bacil: ›Myne fuze weschs du mir bung Jesu durch Maria Magdalena, Simons nicht eweclicht‹ ... Bemerkungen zum P. A. (Ludus Hochmut; Jesu Gleichnis von den zwei de cena Domini). In: Dt.-böhm. LiteraturbezieSchuldnern; Maria Magdalena als begnadigte hungen, Germano-Bohemica. FS Vaclav Bok. Hg. Sünderin. Hans-Joachim Behr u. a. Hbg. 2004, S. 1–13. – Elke In der Abendmahl-Handlung, die drama- Ukena-Best: Das P. (schles.) A. u. die Tradition des turgisch u. inhaltlich freier ausgearbeitet ist, geistl. Dramas. In: Deutschsprachige Lit. des MA sind die konstituierenden Geschehensele- im östl. Europa. Hg. Ralf G. Päsler u. Dietrich mente unter Einbezug von Mt 26,20–29, Mc Schmidtke. Heidelb. 2006, S. 339–370. Elke Ukena-Best 14,17–25, Jo 13,1–35 u. des 1. Korintherbriefs (1 Cor 11,23–34) nach der Disposition bei Lukas (Lc 22,14–38) angeordnet: VorbePrager Osterspiele. – Lateinische Osterreitung des Abendmahls, Einsetzung der feiern u. -spiele des 12. bis 16. Jh. Eucharistie, Verratsankündigung, Demonstration der zwei Schwerter, Verleugnungs- Mit über 30 bekannten Textzeugen – davon ankündigung, Entlarvung des Verräters, etwa die Hälfte mit Melodieaufzeichnung – Fußwaschung, Aufbruch zum Ölberg. Die weist Prag die umfangreichste u. zgl. vielgeszen. Einrichtung lässt erkennen, dass die staltigste lokale Überlieferung dieser Form Spielaufführung für eine Simultanbühne auf kirchl. Osterdramatik auf. Die 400-jährige Prager Tradition kann daher einen weitgeeinem öffentl. Platz konzipiert war. Das P. A. ist durch die liturg. Gesänge u. die hend repräsentativen Einblick in die Konmit ihnen verbundenen Ritualhandlungen stanz u. Varianz dieser fast in ganz Europa (Perikopenlesung, Eucharistie, Fußwa- gepflegten szen. Ausgestaltung des Gottesschung) stark an der kirchl. Liturgie ausge- dienstes am Ostermorgen (meist am Ende der richtet, zeigt aber bei der dt. Paraphrase der Matutin) geben. Da der Schwerpunkt der Gesangstexte in den Personenreden u. bes. Prager Überlieferung in der zweiten Hälfte bei der Rezeption der bibl. Berichte eine des 14. Jh. liegt, möchte man dahinter den große Selbständigkeit, die auf dramat. Strin- kulturellen Aufschwung der Residenzstadt genz u. religiöse Belehrung zielt (z.B. Jesus unter Karl IV. sehen; doch verdichtet sich zu als Sachwalter seines göttl. Lehramtes, Ent- dieser Zeit allgemein die Tradition insbes. wicklung der Maria-Magdalena-Rolle aus der der lat. Osterfeiern. Die etwa 700 bislang bekannten OsterfeiSequenz Laus tibi Christe, Gestaltungsprinzip der Kontrastierung von Gut u. Böse, Aufbau ern aus dem 10. bis 18. Jh. lassen sich auf der u. Steigerung dramatischer Spannung bis zur Textebene in drei Grundtypen unterteilen: Entlarvung des Verräters). In der Passions- Typ I beschränkt sich auf den Besuch der drei spieltradition nimmt das P. A. eine singuläre Marien am leeren Grab Jesu u. ihren Dialog Position ein; seine bes. Bedeutung im Rah- mit den Engeln, welche ihnen die Auferstemen der Gattungsgeschichte des geistl. Dra- hung Christi verkünden (»visitatio sepulmas liegt in seinem Zeugniswert als frühester chri«). Typ II fügt den Lauf der Apostel zum Beleg für Spiele mit Passionsthematik im leeren Grab hinzu (Jüngerlauf). Typ III umfasst die »visitatio« u. die Begegnung zwiostmitteldeutsch-schles. Raum. Ausgabe: Das P. A. Hg. Cobié Kuné. In: ZfdA 128 schen Christus u. Maria Magdalena (Hortulanus-Szene); dazu kann auch der Jüngerlauf (1999), S. 414–424. Literatur: Rolf Bergmann: Kat. der deutsch- treten. Typ I ist für Prag nicht sicher zu belegen. sprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, Nr. 126. – Bernd Neumann: Geistl. Dominierend war der Typ II (Prag 6–27), der

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Prandstetter

die Kathedralfeiern im Veitsdom bestimmte, ribula«), sondern Salbgefäße (»pixides«) traaber in Prag – wohl unter Passauer Einfluss – gen oder wenn die Rubrik (»Regieangabe«) bis ins 13./14. Jh. zurückreicht. Typ III (Prag Maria Magdalena vorschreibt, sich bei der 28, 28a) setzt dagegen bereits etwa 100 Jahre betreffenden Stelle des Gesangs tatsächlich früher ein u. ist mit Prag 28 (12./13. Jh.) wohl ins Grab vorzubeugen u. zu überprüfen, ob es überhaupt erstmals bezeugt. (Eine Sonder- wirklich leer ist. Auch durchbrechen Interstellung nimmt Prag 37 ein, das zur Text- aktionen zwischen Maria Magdalena u. einer grundlage der lat.-tschech. Osterspiele des Vorsängerin (»cantrix«) bzw. das anschlie14.-16. Jh. wurde.) Dieser älteste Typ der ßende Auferstehungsbekenntnis des Chors Prager Osterfeiern ist im Benediktinerinnen- die Aura der kult. Repräsentation. In dieser Kloster St. Georg auf dem Hradschin zu ver- durchdachten Ablösung vom Typ III der orten. Die schmale Überlieferung dieses Typs Osterfeiern beruht die bes. Leistung der P. O. In Prag endete ihre Tradition nach Lage der dürfte daher rühren, dass hier bereits im 13./ 14. Jh. ein lat. Osterspiel entstand u. im 14. Überlieferung aus uns nicht bekannten Jh. eine reiche Entfaltung erfuhr (Prag Gründen am Ende des 14. Jh., während die 29–36). Damit ergibt sich eine deutl. Diffe- Osterfeiern des Typs II im Veitsdom bis ins renz bei der Gestaltung der Liturgie am frühe 15. Jh. fortlebten. Wahrscheinlich beOstermorgen zwischen der Kathedralkirche, reitete ihnen der Hussitenaufstand von 1420 die weiterhin am Feiertyp II festhielt, u. dem ein Ende, in dessen Gefolge Prag auch der lat. Liturgie entfremdet wurde. Erst im 16. Jh. Georgskloster. Das Osterspiel löst sich vom Feiertyp III, finden sich im Rückgriff auf die Tradition der von dem es zahlreiche Textelemente über- Kathedralkirche – nunmehr im Druck – wienimmt, dadurch ab, dass die bibl. Gescheh- der Osterfeiern des Typs II (Prag 26, 27). nisse nicht mehr als Kulthandlung symboAusgabe: Lat. Osterfeiern u. Osterspiele. Hg. lisch vergegenwärtigt, sondern als Heilsge- Walther Lipphardt. Bd. 2, 4–6, 7–8 (Komm.e). Bln. schichte nachgespielt werden. Die Ausfüh- 1976–90. renden verkörpern nunmehr mimetisch die Literatur: Helmut de Boor: Die Textgesch. der bibl. Personen, sie repräsentieren diese nicht lat. Osterfeiern. Tüb. 1967. – Hansjürgen Linke: P. mehr unter Einhaltung einer deutl. Distanz O. In: VL (weitere Lit.). – Ders. u. Ulrich Mehler: zur bibl. vorgegebenen Rolle. Obwohl noch Osterfeiern. Ebd. – Christoph Petersen: Ritual u. in den liturg. Rahmen eingebunden, erfolgt Theater. Meßallegorese, Osterfeier u. Osterspiel im MA. Tüb. 2004. Johannes Janota hier der Schritt vom Kult zum illusionist. Spiel, der in letzter Konsequenz zum volkssprachigen Spiel außerhalb des liturg. RahPrandstetter, Martin Joseph, * 5.10.1760 mens u. außerhalb des Kirchenraums führt. Wien, † 25.6.1798 Festung Munkács/UnIn den Prager Osterspielen zeigt sich diese garn. – Lyriker. Veränderung v. a. im Auftreten des Auferstandenen, vor dessen Vergegenwärtigung P., Sohn eines Gerichtsbeisitzers, studierte man sich in den Prager Feiern des Typs III nach dem Besuch des Jesuitengymnasiums noch gescheut hatte (dort übernahm der Chor die Rechte, Philosophie u. Ästhetik. 1783 trat in der Hortulanus-Szene dessen Rolle). Zgl. er als Ratsprotokollist in den Wiener Magisunterstützt das Einbeziehen der unbibl. trat ein, 1786 erhielt er eine Sekretärsstelle im Salbenkaufszene (die drei Marien erwerben Zivilsenat, 1792 wurde er Beisitzer der gebei einem Krämer Salben, um den Leichnam meinschaftl. Zivilkommission. Am 1.8.1794 Jesu einzubalsamieren), mit der diese Spiele im Zusammenhang mit den Jakobinerverfolin der Regel beginnen, das theatral. Moment. gungen verhaftet, wurde P. 1795 wegen umDanach folgen in »historischer« Abfolge die stürzlerischer Aktivitäten u. Landesverrat zu »visitatio«, die Hortulanus-Szene u. der drei Tagen Pranger u. 30 Jahren Festungshaft Jüngerlauf. Die illusionist. Darstellung wird verurteilt. Er war seit Anfang der 1790er weiter unterstrichen, wenn etwa die drei Jahre als Sympathisant der Französischen Marien nicht mehr Weihrauchgefäße (»thu- Revolution, überzeugter Republikaner u.

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Gegner des despot. Absolutismus Franz’ II. aufgetreten. Mit Andreas Riedel u. dem radikalen Sozialutopisten Franz Hebenstreit gehörte er zu den führenden ideolog. Köpfen der Wiener Jakobiner. Als Lyriker wurde P. in Verbindung mit dem »Wiener[ischen] Musenalmanach« bekannt, dessen Jahrgang 1780 er zusammenstellte. Er öffnete ihn der empfindsamen Literatur u. ließ eine Reihe literar. Debütanten zu Wort kommen. Er selbst publizierte bis 1794 im »Wiener[ischen] Musenalmanach« 71 Gedichte, weitere erschienen im »Taschenbuch für Brüder Freymaurer auf das Jahr 1784« (Wien) u. im »Journal für Freymaurer« (Wien 1785/86). Das formal u. thematisch breit gefächerte Werk reicht von der Bukolik über das philosoph. Lehrgedicht u. empfindsame Lieder bis zu poet. Episteln u. Scherzgedichten sowie von Klopstock beeinflussten Oden u. freirhythmischen Gedichten. Stärker beachtet wurden P.s moralischlehrhafte Balladen, die Bürger u. Schiller verpflichtet sind, sowie die dialogisierten, prononciert volkstüml. Winzerlieder. Insg. überragen P.s Gedichte mit ihrer eigenständigen Ausdrucksweise u. der Transformation anakreont. Muster ins Derb-Realistische – vergleichbar Blumauer – wie mit motivischen u. themat. Innovationen die Masse der Beiträge zum »Wiener[ischen] Musenalmanach«. Literatur: Wurzbach 23, S. 192–195. – Otto Rommel: Der Wiener Musenalmanach. Lpz., Wien 1906, bes. S. 156–158. – Franz Haderer: M. J. P. Diss. Wien 1967. – Alfred Körner (Hg.): Die Wiener Jakobiner. Stgt. 1972. – Martin Anderle: Wiener Lyrik im 18. Jh. Die Gedichte des Wiener Musenalmanachs 1777–96. Stgt. 1996. Wilhelm Haefs / Red.

Prange, Peter, * 22.9.1955 Altena. – Roman- u. Sachbuchautor. Nach einer Jugend im ländl. Westfalen studierte P. Romanistik, Germanistik u. Philosophie in Göttingen, Perugia, Paris u. Tübingen u. wurde mit einer Arbeit zur Sittengeschichte der Aufklärung promoviert (Das Paradies im Boudoir. Glanz und Elend der erotischen Libertinage im Zeitalter der Aufklärung.

Marburg 1990). Er arbeitete als Unternehmensberater u. schrieb Ratgeber, die sich dem erfolgreichen Selbstmanagement widmen. In den 1980er und 1990er Jahren verdiente P. sein Geld als Übersetzer u. veröffentlichte gelegentlich Lyrik u. Kurzgeschichten. Seit Beginn der 1990er Jahre tritt P. auch als Autor historischer Romane in Erscheinung. Die Bücher, mit denen er einem breiten Publikum bekannt wurde, erschienen indes erst Anfang des neuen Jahrtausends. Mit der sog. »Weltenbauer-Trilogie« (Die Principessa, Die Philosophin, Miss Emily Paxton. Mchn. 2002–05) liegen drei umfangreiche Romane vor, die P. zu einem der erfolgreichsten dt. Autoren historischer Romane machten. Insg. hat sein Werk mit zahlreichen Übersetzungen eine Auflage von über zwei Mio. gedruckten Exemplaren (2008). Im Zentrum der Handlung stehen jeweils Frauen, deren Biografien eng mit den Großprojekten der europ. Moderne verknüpft sind. Entlang des stets zentralen Eine-Frauzwischen-zwei-Männern-Motivs erzählt P. zentrale Episoden aus der städtebaul. Umgestaltung Roms im Geiste des Barocks im 17. Jh., der Geschichte der Aufklärung u. der frz. Encyclopédie im 18. Jh. u. der ersten Weltausstellung in London im 19. Jh. Nicht ohne Schematismus verwebt P. Triebschicksal u. Historie zu farbenprächtigen Geschichtsgemälden, die von der Literaturkritik in aller Regel als opulente, geschickt konstruierte u. spannend erzählte (nur manchmal etwas schwülstige) Form der gehobenen Unterhaltungsliteratur wahrgenommen wurden. Bes. positiv fiel P.s Neigung auf, durch gut recherchierte histor. Hintergründe die diversen sozialen Milieus der histor. Städte (Rom, Paris, London) präzise auszuleuchten. Gelegentlich bezeugen seine Schilderungen tatsächlich eine intime Kenntnis der einschlägigen Quellen- u. Forschungsliteratur. Typisch für seine Romane ist eine angehängte Zeittafel, in der er auf die historisch verbürgten Tatsachen verweist u. auf die dichterischen Freiheiten, die er sich genommen hat. Weitere Werke: Romane: Die Strauß-Dynastie. Stgt./Wien 1991. – Das Bernstein-Amulett. Bern/ Mchn./Wien 1999. – Der letzte Harem. Mchn.

319 2007. – Sachbücher: Sieben Wege zum Misserfolg ... u. eine Ausnahme von der Regel. Mchn. 2000. – It’s my life. Anleitung zum Selber-Leben. Mchn. 2005. – Weiteres: Werte. Von Plato bis Pop. Alles, was uns verbindet. Mchn. 2006. – Der Harem. Sinnl. Begegnungen im Serail. Mchn. 2008 (hg. mit Agnes Imhof). Andy Hahnemann

Prasch, Johann Ludwig, auch: Lucius Verinus, Iulius Formosus, * 4.4.1637 Regensburg, † 11.6.1690 Regensburg. – Jurist, Politologe u. Ratsherr, Dichter u. Philologe. Anders als Morhof, der Universalgelehrte u. Professor, war P. ein Mann der polit. Tätigkeit. Doch als Opitzianer der zweiten Generation darf er durchaus als bayerisch-reichsstädtisches Gegenstück zum Kieler Verfasser des Unterrichts von der deutschen Sprache und Poesie (1682) gelten. Aus einer angesehenen Patrizierfamilie stammend, standen dem angehenden Juristen alle Wege offen, u. P. hat in seiner Heimatstadt Regensburg alles erreicht, was einem Mann seiner Herkunft, Begabung u. Ausbildung möglich war. Nach dem Besuch des heimischen Gymnasium Poeticum studierte er 1654–1656 in Jena die Artes, 1656–1658 in Straßburg u. 1659/60 in Gießen Jurisprudenz u. Theologie. Sein wichtigster Lehrer dürfte Johann Heinrich Böckler (meist: Boecler) in Straßburg gewesen sein, um diese Zeit der führende Tacitist im deutschsprachigen Raum in der Nachfolge von Matthias Bernegger; in Gießen studierte er bei Johann Otto Tabor, dessen Tochter Anna Elisabeth er 1663 heiratete. Er bekleidete damals bereits eine Stelle in der Regensburger Ratsverwaltung, wurde Syndikus, u. ab 1675 saß er im Geheimen Rat der protestant. Reichsstadt. In den 1680er Jahren wurde P. Bürgermeister, dazu Oberschulaufseher, Konsistorialpräsident seiner luth. Kirchengemeinde u. Deputierter beim Immerwährenden Reichstag. Die juristischen u. staatspolit. Abhandlungen zeugen von einer regen Teilnahme an den zeitgenöss. Debatten um das Naturrecht, die Lehre von den Regierungsformen u. der Staatsräson u. andere historisch-polit. Probleme der »Prudentia civilis« Straßburger u.

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Gießener Observanz (z.B. die Dissertationen De bono cive u. De mendacio. Gießen 1687). P.s Festhalten an der strengen Staatsauffassung des protestant. Aristotelismus brachte ihn in Gegensatz zum empir. Naturrecht Pufendorfs, gegen dessen Klageschrift über die monströse Reichsverfassung (Severini de Monzambano De statu Imperii Germanici. 1667) er wie viele andere seiner Kollegen einen (anonymen) Traktat (1668) richtete. Später kam es zu einem Konflikt mit Christian Thomasius, dem entschiedenen Anhänger u. Fortsetzer Pufendorfs: In Designatio juris naturalis ex disciplina Christianorum (Regensb. 1688) u. anderen Schriften vertrat er weiter die theolog. Fundierung des Naturrechts; gegen Thomasius’ Kritik in den Monatsgesprächen (1689) sind die beiden Traktate Kurtze Antwort auff Herrn Thomasii Einwürffe u. Klare und gründliche Vertheidigung des Natürlichen Rechts nach christlicher Lehre (beide Regensb. 1689) gerichtet. P. schrieb einen außergewöhnlich prägnanten lat. Stil; seine Eleganz auch in der nlat. Poesie u. Prosa wurde von den Zeitgenossen einhellig gerühmt. Überliefert sind zahlreiche lat. Kasualgedichte, mehrere Tragödien, ein Alcestis-Epos (Regensb. 1681) u. das Versdrama mit Musik Astrea (Regensb. 1681); die Komödie Amici (Straßb. 1663) mit dt. Kolorit nimmt Einflüsse von Plautus u. Terenz, aber auch aus dem frz. Lustspiel auf. Ein Bändchen mit Gedichten (Poematum libellus) erschien 1666 in Nürnberg, ein anderes mit acht Eklogen nach Vergil 1671 in Regensburg. Erfolgreich war der Roman Psyche Cretica (Regensb. 1685. Dt. Lpz. 1705), eine christl. Adaptation der Erzählung von Amor und Psyche. Von P.s zweiter Ehefrau (seit 1683) Susanna Elisabeth waren 1684 die Réflexions sur les romans erschienen (abgedr. in: Texte zur Romantheorie. Hg. Ernst Weber. Bd. 1, Mchn. 1974, S. 183–228). P. hat mehrere Lehrbücher des Lateinischen verfasst, als einer der Ersten auch in dt. Sprache (Organon Latinae Linguae, oder Neue deutliche Lehr-Art. Regensb. 1686), doch im Laufe der 1680er Jahre gewann die deutschsprachige Produktion bei P. deutlich die Oberhand. Die dt. Gelegenheitsgedichte werden jetzt gesammelt, u. literaturtheoretische (Gründliche Anzeige von Fürtrefflichkeit und Verbesserung Teutscher Poesie. Regensb. 1680.

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Nachdr. Stgt. 1995. Discurs von der Natur des Dtschld. Stgt. 1973, Kap. 5. – Jozef Ijsewijn: Amour Teutschen Reimes. Regensb. 1685) u. sprach- et Psyche dans un roman latin de 1685: La ›Psyche wiss. Arbeiten zeigen ihn als energ. Fürspre- Cretica‹. In: Hommages à Robert Schilling. Paris cher einer dt. Kunstdichtung in der Opitz- 1983, S. 337–345. – Christiane Holm: Die verliebte Psyche u. ihr galanter Bräutigam. Das Roman-ProNachfolge. Ohne die Zugehörigkeit zum jekt v. Susanna Elisabeth u. J. L. P. In: Der galante protestant. Milieu der seit 1542 evang. Freien Diskurs. Kommunikationsideal u. EpochenschwelReichsstadt ist eine solche Position schwerlich le. Hg. Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. zu denken. Die deutlich undogmat. Behand- Dresden 2001, S. 53–86. Herbert Jaumann lung des dichterischen Handwerks macht diese Texte noch heute lesbar. Die richtige Prasch, Susanne Elisabeth, geb. Keget, Beobachtung etymologischer Verwandtverw. Hammann, verh. Erdinger, * 1.10. schaften mit dem Lateinischen, dem Grie1661 Ortenburg, † nach 1693. – Dichtechischen u. den modernen Sprachen führte rin, Romantheoretikerin. auch P. zu der These, das Deutsche sei die »Mutter aller Sprachen« (was auch Morhof Vom frühen Leben dieser Tochter des Juristen annahm). Die dt. Poesie besitze die höchsten Johann Jacob Keget ist nichts bekannt. Sie aller Qualitäten, denn »die Teutsche Zunge heiratete dreimal – zuerst Matthäus Wolff[ist] gleichsam zu und mit der Poeterey ge- gang Hammann, Stadtgerichtsassessor, u. in bohren [...]. Auch die Weibsbilder haben dritter Ehe Wolfgang Friedrich Erdinger, daran ihr Belieben. Daher entsprungen sind Ratsherr in Regensburg. Berühmt wurde sie verschiedene Hochgebohrne Teutsche Poe- unter dem Namen des zweiten Gemahls, Jotinnen / so mich der Poeten schier vergessen hann Ludwig Prasch, Bürgermeister der Stadt Regensburg, Dichter u. Gelehrter (Heirat am machen« (Gründliche Anzeige, S. 4). Weitere Werke: (Erscheinungsort Regensb., 23.10.1683). Praschens erste Frau, Anna Eliwenn nicht anders angegeben): In Phaedri fabulas sabeth, geb. Tabor, die 1682 starb, wird imnotae. Gießen 1660 u. ö. – Saul desperans tragoedia. mer wieder mit seiner zweiten, Susanne Eli1662. – De caritate patriae. Nürnb. 1662. – Juris- sabeth, verwechselt. consultus verus et personatus. Nürnb. 1664. – P. galt als gelehrte Frau. Ihre französisch Tullia tragoedia. 1667. – Lucius Verinus (Pseud.): verfassten Réflexions sur les Romans (o. O. [ReDe aristocratia et oligarchia commentarius. o. O. gensb.] 1684) wurden begeistert gelobt. Laut 1669. – Iulius Formosus (Pseud.): De formis rerum einer Rezension im »Unpartheyischen Bipublicarum positiones. o. O. u. J. [nicht bei Dünnbliothecarius« (Nr. 3, 1713, S. 262 ff.) hat das haupt]. – Arminius tragoedia. 1678. – Lobsingende Harffe oder geistl. Lobgedichte. 1682. – Geistl. kurze Werk »manchem ungeheuren FolianBlumenstrauß. 1685. – Mysterium linguae Teuto- ten zuvor gethan, und bey denen Gelehrten so nicae, pars I. 1686. – De origine Germanica Latinae grossen aestim gefunden, daß die vielen elolinguae. 1686. – Neue kurtze u. deutl. Sprachkunst. gia daran fast die Anzahl derer Blätter [...] 1687. – De Latinismis et Barbarismis. 1688. – übertreffen dürfften«. In zehn Kapiteln beFacetiae. 1689. – Dissertatio altera de origine Ger- spricht P. diese »Poësie prosaïque«. Sie tadelt manica [...]. Glossarium Bavaricum. 1689. – Un- die Unwahrscheinlichkeit u. den unvernünfvorgreifflicher Entwurff der Höchstrühml. tigen Aufbau vieler zeitgenöss. Romane, ziTeutschliebenden Gesellschafft. o. O. (ca. 1689). tiert John Barclays Argenis als Muster u. verLiteratur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. dammt die ausschweifenden Beschreibungen Bd. 5, S. 3194–3230. – Weitere Titel: Georg Serpili- der Wollust, welche die ganze Gattung in us: Zufällige Gedancken. Regensb. 1703. – D. JacVerruf gebracht haben. Die neunten u. zehnoby: J. L. P. In: ADB. – Heiduk/Neumeister. – DBA. ten »Réflexions« enthalten Vorschriften für – Karl Wolfskehl: Slg. Victor Manheimer. Mchn. den idealen Roman; er muss das Tugendhafte 1927, S. 61 (Kat.). – Josef Dünninger: J. L. P. u. sein Glossarium Bavaricum. In: Bayer. Jb. für Volks- belohnen u. anziehend darstellen, soll mitten kunde 1954, S. 185–190. – Karl Dachs: Leben u. in der Handlung beginnen u. klar aufgebaut Dichtung des J. L. P. In: Verhandlungen des Histor. sein. Vereins für Oberpfalz u. Regensb. 98 (1957), S. 5–219. – Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in

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P. schrieb auch Gelegenheitsgedichte, u. a. das Trauergedicht am Ende der Leichenpredigt für Johann Ludwig Prasch (Stolberg Nr. 18160): »O allerliebstes Schatz! wie kanst du von mir scheiden? Da dein und meine Seel’ allzeit nur eine war?«. Ausgabe: Réflexions sur les Romans (1684). In: Texte zur Romantheorie I (1626–1731). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bibliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1974, S. 183–228. Literatur: Rez. der ›Réflexions‹ in: Acta eruditorum, Sept. 1684, S. 433 f. – Hans Jürgen Höller: Bürger als Gelehrte. Das Ehepaar P., Regensburg u. der protestant. Raum. In: Gelehrtes Regensburg, Stadt der Wiss. Redaktion Angelika Reich. Regensb. 1995 (Kat.), S. 142–146. – Eberhard Dünninger: Johann Ludwig P. u. S. E. P. Ein gelehrtes Dichterpaar im 17. Jh. [...]. In: Berühmte Regensburger. Lebensbilder [...]. Hg. Karlheinz Dietz u. a. Regensb. 1997, S. 171–175. – Christiane Holm: Die verliebte Psyche u. ihr galanter Bräutigam. Das Roman-Projekt v. S. E. u. Johann Ludwig P. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal u. Epochenschwelle. Hg. Thomas Borgstedt u. a. Dresden 2001, S. 53–85. Jean M. Woods / Red.

Prechtl, Robert, auch: R. Friedlaender, R. Friedlaender-P., Pankrazius Pfauenblau, eigentl.: R. Rudolf Joseph Maria Friedlaender, * 31.5.1874 Wien, † 13.8.1950 Starnberg bei München. – Industrieller; Dramatiker, Lyriker, Erzähler u. Essayist. P., der seine literar. Werke unter dem Namen seiner Mutter, einer geborenen von Prechtl, publizierte, entstammte väterlicherseits einer jüd. Unternehmerfamilie. Nach Abitur – zu seinen Klassenkameraden gehörte Hofmannsthal, mit dem er bis zu dessen Tod in Verbindung blieb, – u. Studium (u. a. Philosophie, Maschinenbau u. Jura) in Wien arbeitete er in der Industrie u. leitete den Konzern von Friedlaender-Fuld. Seit 1904 lebte er in Berlin, wo er maßgeblich an der Gründung des Steglitzer Schlosspark-Theaters beteiligt war, u. seit 1924 in Starnberg. P. debütierte mit konventioneller Kriegslyrik (Gedichte dieser Zeit. Als Ms. gedr. für meine Freunde. o. O. [Bln.] 1914), danach publizierte er traditionell gebaute Theaterstücke, deren meist weibl. Hauptfigur eine existenzielle Herausforderung mit Einsicht

Prechtl

u. Verzicht bewältigt. Angeregt u. bestärkt durch den Gräzisten Wilamowitz-Moellendorff, mit dem er in Briefwechsel stand, veröffentlichte er 1917 seine schon vor dem Krieg entstandene dramat. Neubearbeitung des Alkestis-Mythos: Alkestis, die sich – heimlich – für Admetos opferte, der sterben sollte, weigert sich, das Totenreich zu verlassen, aus dem Herkules sie entführen will (Alkestis. Die Tragödie vom Leben. Charlottenb./ Mchn. 41924). Das Schauspiel variiert Themen u. Motive des Fin de Siècle; Verbindungen lassen sich bes. zu Hofmannsthals lyr. Drama Der Tor und der Tod ziehen, dessen Handschrift P. besaß. Alkestis’ Erkenntnis, dass die Lust die Qual des Lebens nicht aufwiegen kann, zitierte der Verfasser später in Das Lied vom Leben. Ein Requiem für alle Toten dieses Krieges (Als Ms. gedr. [Starnb. 1946]). Auch die Hauptfigur in dem »fröhlich-ernsten Spiel« Die Nacht der Jenny Lind (Bln. 1919), das die »Tragik des Alterns« u. des »Künstlertums« behandelt, wählt letztlich die Entsagung. Die alternde Sängerin verbringt die Nacht mit einem jungen Verehrer, verlässt ihn aber, weil ihr als Künstlerin eine geordnete bürgerl. Existenz verwehrt scheint. Das freizügige Sujet führte bereits bei den Proben am Badischen Landestheater Karlsruhe zum Eklat: Die Schauspieler lehnten es ab, in dem »unliterarischen« u. das »Schamgefühl« verletzenden Stück aufzutreten. In P.s dramat. Adaption des mittelalterl. Tristan-u.-IsoldeStoffes beschließt Ysot, aus »Mitleid« bei König Marke zu bleiben, muss aber erkennen, dass ihr »Opfer« »Sünde« ist u. zieht sich in die Einsamkeit zurück (Trilogie der Leidenschaft. Ysot, Marke, Tristan. Mchn. o. J. [1922]). P.s literar. Werk ist nahezu völlig vergessen. Nur Titanensturz. Roman eines Zeitalters (Wien/Lpz. 1937; gekürzte u. sprachlich rev. Neuausg. u. d. T. Untergang der Titanic [Mchn. 1953]) wurde nach dem Krieg wieder aufgelegt u. in jüngster Zeit auch von der Literaturwissenschaft entdeckt. Der spannende, zeit- u. kulturkrit. Roman, der im Deutschen Reich verboten war, verknüpft den Untergang der Titanic mit dem Untergang der »Titanen«, wie die »Dollar-Aristokraten« spöttisch auf dem Schiff genannt werden. Zu ihnen gehört auch der Wirtschaftsmagnat

Prechtler

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John Jakob Astor, dessen hemmungslosem Georg Bollenbeck u. Thomas La Presti. Wiesb. Macht- u. Besitzstreben in der Zukunftsvisi- 2002, S. 108–127. Peter Langemeyer on seines Freundes Josuah Lorillard autoritärstaatl. Grenzen gesetzt sind: durch ein Prechtler, (Johann Jakob) Otto, * 21.1. dem »Gemeinsinn« verpflichtetes, planwirt1813 Grieskirchen/Oberösterreich, † 6.8. schaftlich organisiertes Sozialwesen unter der 1881 Innsbruck; Grabstätte: Ehrengrab Leitung »starker Führer«. P. lässt Josuah Reauf dem Innsbrucker Westfriedhof. – Arformideen vertreten, die er zuvor in seinen chivar, Dramatiker, Lyriker, Epiker u. wirtschaftspolit. Essays (Chronische ArbeitskriOpernlibrettist. se. Ihre Ursache, ihre Bekämpfung. Bln. 1926. Wirtschafts-Wende. Die Ursachen der Arbeitslosen- Als Sohn eines Schnüremachers u. einer Krise und deren Bekämpfung. Lpz. 1931) theo- »Naturdichterin« sollte P. zunächst in den retisch begründet hatte u. aus denen die geistl. Stand eintreten. Nach seinem Studium NSDAP Anregungen für ihr Arbeitsbeschaf- der Theologie u. Philosophie in Linz u. Wien sowie ersten dramat. wie poet. Versuchen, die fungsprogramm erhielt. Weitere Werke: (an.) Fritz v. Friedlaender-Fuld er im »Linzer Bürgerblatt« veröffentlichte, u. dt. Wirtschaft. Als Ms. gedr. [Bln. 1918]. – (Hg.) wurde P. 1834 jedoch mit der Unterstützung Der Spiegel. Beiträge zur sittl. u. künstler. Kultur Franz Grillparzers Beamter bei der Allge(1919/20). – Spiel u. Zwischenspiel. Versuche zu meinen Hofkammer in Wien. Den Dichtungen menschl. u. künstler. Erziehung. Bln. 1920 (Ess.s). (Wien 1836), die er Grillparzer widmete, – Wahre u. falsche Sozialisierung. Bln. 1920 (Abh.). folgten 1844 Gedichte (Wien) ebenfalls in – Der Weiber-Staat. Komödie in drei Akten. Nach klassisch-romantischer Tradition. Von P.s Aristophanes v. Pankrazius Pfauenblau. Bln. 1920. teils epigonenhaften Dramen wurden in den – Timon v. Shakespeare. Übertragen v. R. P. Bln. Jahren 1842 bis 1864 insg. zwölf am Burg1921. – Gehenna. Fragmente aus einem unvollendeten Drama. In: Weimarer Blätter 3 (1921), H. 8, theater aufgeführt, darunter Die KronenwächS. 428–440. – Die sechs Sonette. In: Die Horen 5 ter (o. O. 1844) nach dem Roman Achim von (1928/29), S. 920–923 (Separatdr. u. d. T. ›Sechs Arnims. In seinen Dramen wandte sich P. Sonette‹. Bln. o. J.). – Italienfahrt. Ein dt. Schicksal. oftmals histor. Stoffen zu wie etwa im König Lpz. 1930 (Reisebericht). – (Hg.) Die Wirtschafts- Heinrich von Deutschland (Wien 1846), in der Wende. Wochenschr. für dt. Wirtschaftserneue- Tragödie Johanna von Neapel (Bln. 1850) oder rung (1931–33). – Oppeln, aus einem Lebensrück- im Michel Columb (Bln. 1854). Ähnliches gilt blick [1944; Maschinenschr. vervielfältigt]. – Gi- für seine insg. 38 Opernlibretti, darunter Joordano Bruno u. Galilei. Prozesse um ein Weltbild. hanna d’Arc (Wien o. J.) oder Guttenberg (Wien Mchn. 1948 (Sachbuch). – R. F.-P. In: Starnberger 1846); am bekanntesten wurde das Textbuch See-Stammbuch. Hg. Grunelia Grunelius. Mchn. 1950, S. 28 f. (autobiogr.). – (Hg.) Die Gesch. des zu Johann Joseph Netzers Oper Mara (Bln. Jesus v. Nazareth. Nach den 4 Evangelientexten 1842). 1849 redigierte P., der ferner Novellen, Reiseschilderungen, Feuilletons u. zusammengestellt. Mchn. 1954. Literatur: Richard Vieweg: R. P.s ›Alkestis‹ u. Aphorismen in Zeitungen u. Almanachen ihr griech. Urbild. Bln. o. J. [1920]. – William M. veröffentlichte, die Zeitung »Der Patriot«; Calder III u. Alexander Kosˇenina: Poesie, Philologie von den polit. Ereignissen bestimmt ist auch u. Kritik: Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorffs das Jahr in Liedern. Zeitstimmen aus dem Jahre (1848–1931) Briefw. mit R. F. (1874–1950). In: 1848 (Wien 1849). 1851 wurde P. HilfsämterAntike u. Abendland 36 (1990), S. 163–186. – A. direktor im Ministerium für Landeskultur u. Kosˇ enina: Allegor. Apokalypse. R. F.s ›Titanen- Bergbau, 1856 – als Nachfolger Grillparzers – sturz. Roman eines Zeitalters‹. In: Juni. Magazin Direktor des Hofkammerarchivs, bevor er für Kultur u. Politik 22 (1995), S. 175–183. – Ge1866 aufgrund einer Augenerkrankung voroffrey Winthrop-Young: Die ›Titanic‹ im Dritten Reich: Zur kulturellen Evolution einer Katastro- zeitig in den Ruhestand trat. Der mit Heinphe. In: Seminar 37 (2001), H. 3, S. 227–243. – rich Laube, Friedrich Hebbel, Karl Adam Werner Köster: Die ›dt. Kultur‹ u. der ›Untergang‹ Kaltenbrunner u. Adam Müller-Guttenbrunn als Modell. Drei Titanic-Romane der NS-Zeit. In: befreundete P. war in den beiden darauffolTraditionsanspruch u. Traditionsbruch [...]. Hg. genden Jahren als Theaterdichter am Volks-

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theater in München tätig; danach lebte er abwechselnd u. a. in Passau, Steyr, Linz u. zuletzt in Innsbruck. Weitere Werke: Handschriften: Frels, S. 226. – Nachlass: Gerhard Renner: Die Nachlässe in den Bibl.en u. Museen der Republik Österr. Wien/Köln/ Weimar 1993, S. 315. – Ders.: Die Nachlässe in der Wiener Stadt- u. Landesbibl.: ein Verz. Wien 1993, S. 139. – Werke (Auswahl): Isfendiar. Lpz. 1843 (dramat. G.). – Die Schule des Königs. Wien 1844 (romant. D.). – Das Kloster am See. Wien 1847. 2 1869 u. d. T. Das Kloster am Traunsee. – Die Rose v. Sorrent. Wien 1849 (dramat. G.). – Er sucht seine Braut. Bln. 1850 (Lustsp.). – Paolo Rocca. Wien 1852 (dramat. G.). – Zeitlosen: neue Gedichte. Wien 1855. – Diana v. Solange. Coburg 1858 (Oper). – Die Tochter des Waldes. Original-Schausp. Wien 1858. – Künstlerrecht. Graz 1861 (histor. Lustsp.). – Die wohlerzogenen Kinder. Wien 1863 (Lustsp.). – Ein dt. Herz. Wien 1864 (Schausp.). – Ein Mann der That. Wien 1865 (D.). – Sommer u. Herbst. Neue Gedichte. Stgt. 1870. – Ein Frauen-Wort. Bln. 1872 (Schausp.). – Zeit-Accorde. Ein Cyklus jüngster Gedichte. Linz 1873. – Lenore. Salzb. 1874 (Oper). – Das Paradies der Kronprinz Rudolfbahn. Cyclus neuester Gedichte. Linz 1874. – Accorde v. der Gisela-Bahn. Neueste Gedichte. Linz 1878. Literatur: Anton Schlossar: P. In: ADB. – Wurzbach 23 (1872), S. 240–244. – Kosch, S. 244 f. – O. P. Eine Festgabe zum 21. Jänner 1873. Linz 1873. – Josef Kaßler: J. O. P (1813–81): Eine Darstellung seines Lebens u. seiner Schr.en. Diss. Wien 1913. – Hans Sturmberger: O. J. P.: 1813–81. Diss. Wien 1934. – Hanns Leo Mikoletzky: Der Dichter u. Archivar O. P. (1813–81). Zur Problematik der Doppelbegabung. In: Der Archivar 26 (1973), Sp. 531–542. – K[urt] Adel: O. P. In: ÖBL. – Wolfgang Leesch: Die dt. Archivare 1500–1945. Bd. 2. Mchn. 1992, S. 465. Hans Peter Buohler

Preczang, Ernst, * 16.1.1870 Winsen/ Luhe, † 22.7.1949 Sarnen/Schweiz. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. P., Sohn eines Gendarmeriewachtmeisters, absolvierte eine Lehre als Schriftsetzer u. arbeitete zunächst in einer Buchdruckerei. Als 20-Jähriger schloss er sich der Sozialdemokratie u. den Gewerkschaften an u. publizierte in deren Presseorganen. 1904–1914 redigierte er die sozialdemokratische Wochenschrift »In freien Stunden« (Bln.). Als Mitbegründer u. Cheflektor der »Büchergilde Gutenberg« in Leipzig setzte er sich

Preczang

1924–1928 für die Verbreitung sozialkrit. Literatur ein. Sein bes. Verdienst war die Entdeckung Bruno Travens. 1933 musste P. in die Schweiz emigrieren u. leitete dort für einige Zeit die Zweigstelle der Büchergilde in Zürich. P.s erste Arbeiten, mit denen er sich um die Jahrhundertwende etablierte, waren Theaterstücke wie Töchter der Arbeit (Bln. 1898) oder Im Hinterhaus (Mchn. 1903), die für Aufführungen von Arbeiterensembles geplant waren. Sie thematisieren v. a. Konflikte aus dem Handwerksleben u. dem Klassenkampf der Arbeiter. Hohe Auflagen erreichte P.s Gedichtband Im Strom der Zeit (Stgt. 1908. Erw. Aufl. Bln. 1921). In Anlehnung an die Lyrik der 1848erGeneration u. an klass. Formen wie z.B. die Ballade schildert er die Nöte der Arbeiter, denen eine teilweise sentimental geschilderte Natur als Sinnbild der Freiheit gegenübergestellt ist. Die klassenkämpferische Perspektive seiner literar. Anfänge fehlt in diesen Arbeiterdichtungen völlig. P. versucht vielmehr, »von einer mehr äußerlichen Tendenzdichtung zu einer aus dem Reinmenschlichen [...] schöpfenden Kunst zu gelangen«. Auch in seiner konventionell erzählten Prosa tritt die gesamtgesellschaftl. Perspektive zugunsten der Probleme u. Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen in den Hindergrund. So schildert er in Zum Lande der Gerechten (Bln. 1928) die Kindheit eines gedemütigten Jungen, der erst mithilfe eines fortschrittl. Lehrers seinen Traum von einer besseren Zukunft verwirklichen kann. Von diesem individualist. Humanismus sind auch die Jugendromane Ursula (Bln. 1931) u. Ursel macht Hochzeit (Zürich/Wien/Prag 1934) geprägt. Weitere Werke: Der verlorene Sohn. Bln. 1900 (D.). – Die Glücksbude. Lpz. 1909 (E.). – Sechsundsechzig Prologe für Arbeiterfeste. Bln. 1911. – Der Ausweg. Bln. 1912 (E.). – Der leuchtende Baum u. a. N.n. Lpz. 1925. – Steuermann Padde. Zürich 1940 (R.). – Ausw. aus seinem Werk. Hg. Helga Herting. Bln./DDR 1969. Literatur: Helga Herting: Leben u. Werk E. P.s. In: E. P. Ausw. aus seinem Werk. a. a. O. – Robert Höffner: P. In: NDB. Mechthild Hellmig / Red.

Prehauser

Prehauser, Gottfried, * 8.10.1699 Wien, † 29.1.1769 Wien. – Schauspieler, Theaterdirektor, Dramatiker.

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ins Allgemeine typisiert, vorgetragen – bis heute ist die Tradition des Theaterliedes im Volkstheater ungebrochen. Werke: Lustspiele: Zweites Dutzend Hanswurs-

P. stammte aus dem Kleinbürgertum, wurde tischer Träume, den sämtl. gnädigen Gönnern [...] als Kind Feldpage des Prinzen Eugen u. kam gewidmet v. Hanss Edlen v. der Wurst. Wien 1746. 1716 zu einer fahrenden Schauspielertruppe; – Lustige u. zgl. lustiger Glieder-Krieg dess men1720 debütierte er in der Hanswurst-Rolle in schl. Leibb’s ein König oder ein Haupt zu erwählen. Salzburg u. gründete eine eigene Truppe. Wien o. J. – Hanswurstische Träume, allen gnädi1725 ging er nach Wien, heiratete die Witwe gen Gönnern [...] dargereicht v. Johanne Wurstin. des Schauspieldirektors Hilferding u. wurde Wien o. J. – Der Wienerische Hanswurst oder lusans Kärntnertortheater engagiert. Stranitzky tige Reysebeschreibung aus Salzburg in verschieerklärte ihn zu seinem Nachfolger in der dene Länder. Wien o. J. Literatur: Otto Rommel: Die Maschinenkom. Hanswurst-Rolle, in der P. über 20 Jahre geLpz. 1935. – Monika Baar de Zwaan: G. P. u. seine feiert wurde. In den letzten Lebensjahren zog Zeit. Diss. Wien 1967. – Reinhard Urbach: Die sich P. von der Bühne zurück, der Streit um Wiener Komödie u. ihr Publikum. Stranitzky u. die die Stegreifkomödie bedrohte seine Erfolge. Folgen. Wien/Mchn. 1973. – Hilde Haider-Pregler: Mit P. kann man eine zweite Hanswurst- Des sittl. Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch Epoche ansetzen, die Identifizierung der Fi- u. Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jh. in gur mit dem Bauern ist aufgehoben. Hans- Wien. Mchn. 1980. – Herbert Zeman: Die Altwurst schlüpft in viele Rollen, er steht mitten Wiener Volkskom. des 18. u. frühen 19. Jh. [...]. In: im Geschehen u. nimmt nicht mehr eine iron. Zeman, Bd. 1, Tl. 2, S. 1299–1394. – Friedrich Außenseiterposition ein. Die Wandlung vom Sengle: Aufklärung u. Rokoko in der dt. Lit. Mit täpp. Salzburger Räsoneur zum komisch- einer Nachbemerkung v. Manfred Windfuhr. Hg. Sabine Bierwirth. Heidelb. 2005. drolligen Wiener Tänzer u. Sänger beginnt. Cornelia Fritsch / Red. Derbe Erotik wird von lyr. Verliebtheit abgelöst, die gemütl. Scherze sprengen nicht den Rahmen der Schicklichkeit. Ein neues Preining, Jörg, auch Breining, Breuning, bürgerl. Selbstbewusstsein manifestiert sich Preyning oder Preynling genannt, * ca. in der realist. Stegreifkomödie, die groteske 1450 Augsburg, † ca. 1526 Menchingen (= Komik bleibt wirklichkeitsnah u. erhält so- Schwabmünchen). – Weber u. Laienprezialkrit. Aspekte in der Beziehung Dienende/ diger, Verfasser von geistlichen Sprüchen, Herrschende. Die drastische, grausame Liedern in Meistertönen, Liedern u. Haupt- u. Staatsaktion wird von der beweg- Sendbriefen. lichen, lebendigen Burleske, vom anmutigen, Der Weber P. war der Sohn des Augsburger kom. Singspiel nach dem Vorbild der Com- Webers Josef Preining u. seiner Frau Anna, er media dell’arte ersetzt; das bürgerl. Publi- hatte einen jüngeren Bruder, Franz, dessen kum bedarf einer eigenen Illusionswelt auf Tochter er 1483 adoptierte. Ostern 1484 erdem Theater. Weiterhin bleibt die Travestie, regte P. Aufsehen, denn er verließ seine Wedie Erniedrigung des scheinbar Erhabenen, berstube, begab sich nach St. Radegunde, eidas wesentliche dramaturg. Werkzeug. Das nem Wallfahrtsort bei Augsburg, u. begann Unverhoffte, der schicksalhafte Zufall, ist der dort zu predigen u. das Leben eines EinsiedMotor des Dramas. Ein immer wiederkeh- lers zu führen. Die sog. Peutingersche Chronik rendes Motiv in der satir. Stegreifkomödie P.s berichtet von diesem Ereignis. P. kehrte nach ist der Gegensatz: erzwungene Ehe/Bewäh- wenigen Wochen zurück aus der »Einsiederung der wahren Liebe. Der derbe Salzburger lei« u. bezeichnete sich jetzt als »bruoder«, Bauerndialekt ist gemildert, die Wortspiele d.h. er sah sich selbst als »Bruder des Herbringen oft geistreiche Pointen. Im Brenn- ren«, als frommer Christ u. Laienprediger. P.s punkt des Geschehens stehen die Komödien- Sprüche, je 72 Reimpaarverse, sind als AusArien, die Rollenlieder: Empfindungen, führungen der in St. Radegunde gehaltenen Sehnsüchte u. Wünsche der Figuren werden, Predigten zu sehen. Sie wurden als Einblatt-

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drucke durch den Augsburger Drucker Johann Blaubirer publiziert u. sind fast alle eingeklebt in Bände aus der Bibliothek des Klosters Wessobrunn aufgefunden worden (vgl. Einblattdrucke, Nr. 1210–1241; Nr. 1212 ist hier mit falschem Titel aufgeführt; s. Liefländer-Koistinen 1986, S. 82; Hain, Nr. 13332–13342 u. Cop., Nr. 4844–4861). Eine große Zahl von P.s Sprüchen ist verloren gegangen, wie aus der Art ihrer Nummerierung hervorgeht; von den erhaltenen gibt es noch bis zu drei Parallelüberlieferungen. P. hatte eine große u. anhängl. Zuhörerschaft, u. er kam durch sein Predigen u. vermutlich den Verkauf seiner geistl. Sprüche, die als Einblattdrucke im Handel waren, zu Vermögen, wie anhand der Augsburger Steuerbücher nachweisbar ist. P. gehörte zu den Zuhörern des Predigers Johann Geiler von Kaysersberg, der 1488 in Augsburg predigte. Williams-Krapp geht davon aus, dass P. Abschriften von Geilers Predigten verfasste: die beiden frühesten Handschriften der Augsburger Fassung (A u. H) stammen ihm zufolge von P.s Hand (Williams-Krapp 1995, S. 278). Auch die von Geiler vermittelten Ideen der Kritik am Klerus tauchen in P.s Werk auf, das im Laufe der Zeit an Radikalität zunimmt u. in Wiedertäuferkreisen geschätzt wurde. Das zeigt sich bei den Liedern im Ton »Maria zart«. In der Erstausgabe (Druck v. Lucas Zeissenmair, Wessobrunn 1503. Druckabschrift durch Valentin Holl, Nürnberg, German. Nationalmuseum, Hs. 28 966 Merkel, 155v-158v) besteht die Liedergruppe aus fünf vielstrophigen Liedern gleichen Tons, alle mit Strophenanaphern, inc. I Maria zart, II Ihesus ein wort, III Got ewig ist, IV Christus der herr, V Maria zart. Quelle für I ist das Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae des Franz von Retz, Quelle für V die Dreikönigslegende der Legenda aureae des Jacobus a Voragine. Lied II ist ein Preis Jesu mit einer Johannesvision; III beschreibt, oft mithilfe von Negationen, Gottes Unendlichkeit, Unerkennbarkeit u. Güte; IV ist ein Plädoyer für den frommen Laien, verbunden mit Kritik an Priestern, Papst u. Obrigkeit. P.s drei »Lieder von Gott und Christo« wurden nach der Reformation um 1526, 1537 u. 1538 neu publiziert, u. zwar durch den zu den

Preining

Wiedertäufern u. »Schwärmern« neigenden Augsburger Drucker Philipp Ulhart d.Ä. u. den nach Widerruf in Augsburg geduldeten Wiedertäufer Sigmund Salminger. P. wird in der älteren Literatur auch als »Meistersänger« bezeichnet, er hat jedoch nur drei Lieder in Meistertönen verfasst, u. zwar eine Legende von St. Ulrich, eine von St. Alexius in »des Regenbogen langem Ton« u. einen Schwank Der jud und pader im »zarten Ton Frauenlobs«. Zwei Sendbriefe in Prosa hat P. nach dem Verlassen Augsburgs an seine Anhänger geschrieben. Er kritisiert die Seelsorger, die nur »aines gaystlichen scheins und grossen namens« seien, u. preist die Liebe, die Gott selber sei. Der Drucker Heinrich Steiner war ein Gesinnungsgenosse von Ulhart u. druckte auch anonym, um sich dem Zugriff des Stadtrates zu entziehen (vgl. Schottenloher 1921, S. 83; Liefländer-Koistinen 1986, S. 80 f.). P. verließ Augsburg 1504 u. musste sein Bürgerrecht aufgeben, er scheint noch bis 1526/27 in Menchingen (Schwabmünchen) gelebt zu haben, wie aus einer Urkunde hervorgeht. Salminger, der Herausgeber der drei »Lieder von Gott und Christo« sagt in seiner Vorrede: »Man hat zween brieff/ Joerg Preinings auß lassen geen/ also auch diese Lieder/ zuo nutz und hayl den menschen/ die warlich vnderweysen/ von der waren lieb vnd erkentnuß Gottes/ das doch gesehen wurd/ was die vor Jaren von Gott gehalten haben. Du aber verwürffst die leer/ von wegen seines namens/ den weeg den er lernet/ muostu nachfolgen/ wiltu Gott lieben vnd erkennen/ Den weeg den er gewandlet hat/ muostu lassen/ er hat gesuocht/ vnn ist doch von einem fall ubereylt worden (...).« (vgl. Schottenloher 1921, S. 82; Liefländer-Koistinen 1986, S. 76). P. scheint also ein Sünder geworden zu sein, seine Lehre lebte jedoch zumindest in Augsburg u. Umgebung bis Ende des 16. Jh. weiter. Er kann als Beispiel eines kleineren Liederdichters u. frommen Laienpredigers gesehen werden, der mit seiner Kritik am Klerus vor der Reformation die »Zeichen der Zeit« ausformulierte. Ausgaben: Cramer 3 (1982), S. 20–135; 538–544. – Liefländer-Koistinen 1986 (s. u.).

Prellwitz

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Literatur: Karl Schottenloher: Philipp Ulhart, ein Augsburger Winkeldrucker u. Helfershelfer der ›Schwärmer‹ u. ›Wiedertäufer‹ (1523–29). Mchn. 1921. – Rolf Kiessling: Bürgerl. Gesellsch. u. Kirche in Augsburg im SpätMA. Augsb. 1971. – Luise Liefländer-Koistinen: Studien zu J. P. Stgt. 1986. – Dies.: J. P. In: VL. – Werner Williams-Krapp: Johann Geiler v. Kaysersberg in Augsburg. Zum Predigtzyklus ›Berg des Schauens‹. In: Literar. Leben in Augsburg während des 15. Jh. Hg. Johannes Janota u. ders. Tüb. 1996, S. 265–280. Luise Liefländer-Leskinen

Prellwitz, Gertrud, * 5.4.1869 Tilsit (heute: Sowetsk), † 13.9.1942 Küb/Semmering. – Prosa-Autorin, Essayistin, Dramatikerin. P. erhielt ihre Ausbildung als Lehrerin in Königsberg (heute: Kaliningrad) u. Droyßig bei Zeitz u. arbeitete zunächst in Königsberg. 1895 zog sie nach Berlin um, belegte an der Universität Vorlesungen über Theologie u. Literaturgeschichte u. suchte die Bekanntschaft des Malers u. Illustrators Fidus (Hugo Höppener, 1868–1948), mit dem sie bis zu ihrem Lebensende aufgrund ihrer gemeinsamen Vorstellungen von völkischem Idealismus, german. Erbe u. agrarromant. Antimodernismus eng verbunden blieb. Ihre schriftstellerische u. essayist. Tätigkeit stellte P. ganz auf das Einwirken auf die bürgerl. Jugend ab, die sie mit lebensreformerischidealistischen, individual-religiösen u. wahrheitssuchenden Vorstellungen zu überzeugen suchte. Sie verfasste zunächst recht anspruchsvolle Bühnenweihspiele u. Dramen, wie Oedipus (1898), Zwischen zwei Welten (1900) u. Michel Kohlhas (1904). 1904 zog P. mit Fidus, dessen Frau Elsa Knorr u. deren beiden Kindern an den Schweizer Walensee u. im Sommer 1905 nach Schreiberhau im Riesengebirge. Dort verfasste sie ihre erste erfolgreiche Schrift Vom Wunder des Lebens (Jena 1909), mit der sie die Jugend zu idealist. Menschentum aufrief. Ende 1908 erfolgte der Umzug nach Woltersdorf bei Erkner, 1911 wurde P. Mitgl. in Rudolf Steiners Anthroposophischer Gesellschaft u. begründete mit Fidus u. anderen Künstlern den theosophisch ausgerichteten St.-Georgs-Bund u. Verlag. Hier veröffent-

lichte sie die Legende vom Drachenkämpfer (Woltersdorf 1913), in der sie sich wie in ihren Flugschriften zum Freideutschen Jugendtag im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner bei Kassel im Sinne der »fortschrittlichen Reaktion« gegen Sozialismus u. Kapitalismus u. für einen Lebensstil im Sinne der Reformbewegungen aussprach. Mit Beginn des Weltkriegs setzte sich P. in nationalist. Flugblättern u. der Schrift Durch welche Kräfte wird Deutschland siegen? (Jena 1915) für die wilhelmin. Kriegszielpolitik ein u. reiste im Frühjahr 1915 an die Ostküste der USA, um für ihr geistidealist. Deutschlandbild zu werben. Nach dem Tod der Fidus-Tochter Drude entschloss sich P. 1918, deren Leben im Sinne von Reformpädagogik u. Sexualreform in einem dreibändigen Drude-Roman (Oberhof 1920, 1923, 1926) zu gestalten. Als der erste Band zu einem Bestseller bei der bürgerl. Jugendbewegung wurde, zog P. nach Oberhof im Thüringer Wald, wo sie ihren MaienBund u. Verlag gründete u. eine Reihe von latent antisemit. Weihespielen, Aufsätzen, Legenden, Erzählungen u. Romanen publizierte. Als die Reformbewegungen mit der Stabilisiering der Wirtschaft Mitte der 1920er Jahre ins Abseits gerieten, blieb P., wie in dem Buch Sonne über Deutschland! (Oberhof 1926), dem völk. Gedankengut treu, lehnte die Kriegsschuld Deutschlands ab u. trat weiterhin für alle reformfreudigen Ideale ein. P. begrüßte die Ernennung Hitlers am 30. Jan. 1933 zum Reichskanzler u. hielt, obwohl ihre Werke wegen angeblich verweichlichender Tendenzen auf den Index kamen, am propagandist. Bild des Führers als eines jugendl. Halbgotts u. religiösen Retters fest. Weitere Werke: Prosa: Das Osterfeuer. Eine Erzählung aus der Welt des Armanentums. Oberhof 1921. – Ruth. Ein Buch über Dtschld.s Not u. Dtschld.s Jugend. Oberhof 1921. – Deutschland! Deutschland! Oberhof 1921. – Schaffende. Oberhof 1922. – Baldurs Wiederkehr. Eine Schauung vom Völkerschicksal. Oberhof 1924. – Lebensanfänge. Erinnerungen aus Kindheit u. Jugend. Oberhof 1930. – Pfingstflammen. Oberhof 1932. – Dramen und Weihespiele: Der Kaisertraum. 1912. – Seine Welt. 1912. – Weltsonnenwende. 1919. – Maienspiel. 1933. – Die letzte Wala. 1935. – Essays: Weltfrömmigkeit u. Christentum. 1898. – Gottesstimmen. 1899. – Der religiöse Mensch u. die mo-

327 derne Geistesentwicklung. Bln. 1905. – Was ist Vaterlandsliebe. 1913. – Unsere neue Weltanschauung. Oberhof 1921. – Mein Bekenntnis zu Muck-Lamberty. Oberhof 1921. Literatur: Heinrich Spiero: G. P. In: Ders.: Dt. Geister. Lpz. 1910. – Janos Frecot, Johann Friedrich Geist u. Diethart Kerbs: Fidus 1868–1948. Zur ästhet. Praxis bürgerl. Fluchtbewegungen. Mchn. 1972. – Jost Hermand: Meister Fidus. Vom Jugendstil-Hippie zum Germanenschwärmer. In: Ders.: Der Schein des schönen Lebens. Ffm. 1972. – Peter Morris-Keitel: Der Schein der schönen Jugend. Zu G. P.’ erzählerischem Werk. In: Le culte de la jeunesse et de l’enfance en Allemagne 1870–1933. Hg. Marc Cluet. Rennes 2003. Peter Morris-Keitel

Presber Ausgaben: Ges. Gedichte. 3 Bde., Innsbr. 1951/ 52. – Meerferne Heimat. Graz/Wien 1961 (Teilslg.; mit Bibliogr.). – Ges. Werke. Hg. Kurt Eigl. Wien 1967 (mit Bibliogr.). – ... u. trotzdem gab es Hoffnung. ›Trümmerfrauen‹ aus Österr. berichten (mit dem Tgb. v. P. v. P.). Hg. Theresia Zierler. Graz 2006. Literatur: Ernst Molden: Skizzen zu einem Porträt. In: Ders.: P. v. P. Porträt einer Dichterin. Innsbr. 1955, S. 9–82 (Veröffentlichungen aus dem Nachl. S. 83 ff.). – Reginald Vospernik: P. v. P. Diss. Wien 1960. – Franz Theodor Csokor: P. v. P. In: Große Österreicher. Bd. 14, Wien 1960, S. 194–197. – Johann Vogelsang: P. v. P. In: ÖGL 10 (1966), S. 198–206. – Zorka Orlandic: Südslaw. Motive in der Dichtung der P. v. P. Diss. Wien 1979. Christa Veigl / Red.

Preradovic, Paula von, verh. Molden, Presber, (Hermann Otto) Rudolf, * 4.7. * 12.10.1887 Wien, † 25.5.1951 Wien; 1868 Frankfurt/M., † 1.10.1935 RehbrüGrabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyri- cke bei Potsdam; Grabstätte: Potsdam, kerin, Erzählerin. Neuer Friedhof. – Journalist, Erzähler u. Die Enkelin des kroat. Nationaldichters Petar Dramatiker. Preradovic wuchs in Pola an der istr. Adria auf. Die Mittelschule besuchte sie im Internat der Englischen Fräulein in St. Pölten. 1916 heiratete sie Ernst Molden. Von 1920 an lebte die Familie in Wien. Vor allem wegen der Teilnahme ihres Sohnes Fritz Molden am österr. Widerstand wurde sie kurz vor Kriegsende von der Gestapo inhaftiert. Von P. stammt der Text zur Hymne der Zweiten Österreichischen Republik. P.s erste Gedichtsammlungen, Südlicher Sommer (Mchn. 1929) u. Dalmatinische Sonette (Bln./Wien/Lpz. 1933), besingen die Heimat am Meer. Auch ihr einzig vollendeter, sehr erfolgreicher Roman Pave und Pero (Salzb. 1940. Wien 2003) führt als einen der Hauptschauplätze den Süden der Kindheit vor. P. bezog die Grundzüge zu dieser Geschichte einer gescheiterten Beziehung aus dem ihr vorliegenden Briefwechsel zwischen ihrem Großvater (Pero) u. ihrer Großmutter (Pave). P.s Religiosität katholischer Prägung, die in dem 1936 in Salzburg erschienenen Lyrikband Lob Gottes im Gebirge erstmals stärkeres Gewicht erhält, tritt auch in den Novellen Die Versuchung des Columba (Salzb. 1951) u. Königslegende (Innsbr. 1950) hervor. Weitere Werke: Ritter, Tod u. Teufel. Innsbr. 1946 (L.). – Wiener Chronik 1945. Wien 1995.

Als Sohn des Schriftstellers Hermann Presber studierte P. in Freiburg i. Br. u. Heidelberg (v. a. bei Kuno Fischer) Philosophie, Literaturu. Kunstgeschichte u. promovierte 1892 mit einer Arbeit über Schopenhauer. 1894 trat er in die Feuilletonredaktion des »Frankfurter General-Anzeigers« ein. 1898 zog er nach Berlin, wo er die Leitung des Feuilletons der »Post« übernahm. Seit 1906 war er Herausgeber der »Arena« u. ab 1909 Chefredakteur der Zeitschrift »Über Land und Meer«. Später betätigte er sich ausschließlich als freier Schriftsteller. P.s in seiner Fülle nur schwer überschaubares Werk prägt ein humoristischer Grundton. Bes. seine Kurzerzählungen, die Erinnerungen aus dem eigenen Familienleben verarbeiteten (Geschichten um Bübchen. Bln. 1931), haben den Charakter von Gelegenheitsarbeiten, in denen seine Herkunft aus dem Journalismus deutlich wird. Die heitere, episodenhafte u. mitunter selbstiron. Erzählweise verhalf P.s Werken in den 1920er u. 1930er Jahren zu großer Popularität. Weitere Werke: Der Vicomte. Stgt. 1897 (Kom.). – Der Untermensch u. a. Satiren. Lpz. 1905. – Von Torheit u. Freude. 2 Bde., Bln. o. J. [1910]. –

Pressler Ich gehe durch mein Haus. Erinnerungen. Stgt. o. J. [1935]. Literatur: Wilhelm Clobes: R. P. Ein rhein. Dichterleben. Bln. 1910. – Paul Lindenberg: P. als Journalist. In: Zeitungswiss. 18 (1943). – Kosch. – Wolfgang Presber: Ich suche unseren Vater R. P. Bln. 1997. Andreas Sturies / Red.

Pressler, Mirjam, * 18.6.1940 Darmstadt. – Jugend- u. Kinderbuchautorin, Übersetzerin. P., die als freie Autorin u. Übersetzerin in München lebt, erregte Aufmerksamkeit bereits mit ihrem Debütroman Bitterschokolade (Weinheim/Basel 1981), einem problemorientierten Roman um ein an Essstörung erkranktes junges Mädchen. P. erzählt in ihrem Werk von beschädigten Kindheiten, die von Ängsten u. dem Gefühl der Unbehaustheit geprägt sind; sie zeigt Familie als Ort der Gewalttätigkeit u. Verlusterfahrung (Nun red doch endlich. Weinheim u. a. 1981. Novemberkatzen. Weinheim 1982). Ihr psycholog. Roman Wenn das Glück kommt, muß man ihm einen Stuhl hinstellen (Weinheim 1994; Deutscher Jugendliteraturpreis 1995) erlaubt durch die Erzählperspektive, die kindl. Blickweise u. Wertung in moderner Erzählform zu spiegeln. P.s Romane wenden sich mit Ausnahme ihrer eher unterhaltsamen Texte wie beispielsweise die fantastisch-märchenhafte Geschichte Die wundersame Reise des kleinen Kröterichs (Illustrationen v. Wolf Erlbruch. Nach einem Theaterstück v. Yaakow Shabtai. Mchn./Wien 1998) an ein jugendl. Publikum. P. entwickelt eindringl. Psychogramme, lotet Ursachen u. Wirkungen von Diskriminierung aus u. entwirft differenzierte Milieustudien; dabei bedient sie sich einer realist. Schreibweise u. zählt zu den profiliertesten Autorinnen problemorientierter Jugendliteratur. In den 1980er Jahren lassen sich ihre eindrückl. Geschichten um junge Mädchen der emanzipatorischen Mädchenliteratur zuordnen, ab den 1990er Jahren wendet sie sich verstärkt dem postmodernen Adoleszenzroman zu (Für Isabel war es Liebe. Weinheim 2002). Ein bes. Schwerpunkt u. zentrales Thema ihres Schaffens liegt in den Themenbereichen

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Darstellung u. Erinnerung an den Holocaust. Als Romanautorin u. Chronistin, als Herausgeberin u. als Übersetzerin erzählt P. über die Judenverfolgung in histor. Rückblicken. In Jugendromanen widmet sich P. der von antijüd. Gewalt geprägten Geschichte (Shylocks Tochter. Venedig im Jahre 1568. Ghetto von Venedig 5327/8 (Ffm. 1999. Weinheim 2008. Nathan und seine Kinder. Weinheim 2009). Bes. herausragend im Gesamtwerk ist der an eine authent. Geschichte angelehnte Roman Malka Mai (Weinheim 2001). Berichtet wird von dem Schicksal eines 8-jährigen jüd. Mädchens, das ohne seine Mutter den nationalsozialist. Verfolgern ausgesetzt ist. Dem Thema jüd. Verfolgung widmet sich P. auch mit der Herausgabe oder dem Verfassen biogr. Literatur (Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank. Weinheim/Basel 1992) u. durch ihre Übersetzungstätigkeit. Hervorzuheben ist hier die Übertragung von autobiogr. Werken, die von der Erfahrung des Holocaust geprägt sind (neben der Neuübersetzung von Anne Franks Tagebuch ist hier das Werk des israelischen Autors Juri Orlev zu nennen: Das Sandspiel (Aus dem Hebräischen v. M. P. Weinheim 1997) u. Bleisoldaten (Weinheim 2001). Neben den Übersetzungen aus dem Hebräischen (neben Orlev außerdem Ida Vos, Amos Oz), überträgt P. ebenfalls versiert aus dem Niederländischen (Joke van Leeuwen, Bart Moeyaert), Jiddischen u. Afrikaans. 1994 wurde ihr Übersetzungswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet. Die Jurybegründung hebt insbes. »die Stimmenvielfalt« hervor, die P.s Übersetzungswerk kennzeichne. Weitere Werke: Kratzer im Lack. Weinheim/ Basel 1981. – Stolperschritte. Stgt. 1981. – Zeit am Stiel. Stgt. 1982. – Katharina u. so weiter. Weinheim/Basel 1984. – Leselöwen Traudich-Gesch.n. Bindlach 1986. – Leselöwen Oma-Gesch.n. Bindlach 1987. – Jessi, ich schenk dir einen Wackelzahn. Ravensburg 1987. – Warum, wie u. was ich übersetze. Überlegungen zum Übersetzen v. Kinder- u. Jugendbüchern aus dem Hebräischen u. Niederländischen. In: Kinder- u. Jugendlit. in Dtschld. Hg. Renate Raecke. Mchn. 1999, S. 221–227. – Eine Orchidee blüht im Continen-Tal. Rede in der Johann Wolfgang Goethe-Univ., Ffm., am 29.6.2001. Mit Werkverz. u. Lit. zum kinder- u. jugendliterar.

329 Werk. Ffm. 2001. – Wundertütentage. Ravensburg 2005. Literatur: Emer O’Sullivan: Die Stimmenvielfalt fremder Lit.en erschlossen. Ansprache der JuryVorsitzenden zum Sonderpreis Übersetzungen. In: JuLit/Arbeitskreis für Jugendlit. (1994), H. 4, S. 34–36. – Karin Richter u. Susanne Willuhn-Wolf: M. P. Gedanken zum literar. Werk u. dessen Behandlung in der Schule. In: DU 6 (1996), S. 282–294. – Malte Dahrendorf: M. P. In: KLG. – Barbara Gelberg (Hg.): Werkstattbuch M. P. Weinheim/Basel 2001. – Frank Grieshaber (Hg.): Werkstattbuch M. P. Weinheim/Basel 2004. – Günter Lange (Hg.): Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Historisches in der Kinder- u. Jugendlit. Baltmannsweiler 2004. – Gabriele v. Glasenapp (Hg.): Gesch. u. Gesch.n. Die Kinder- u. Jugendlit. u. das kulturelle u. polit. Gedächtnis. Ffm. 2005. – Jens Birkmeyer (Hg.): Holocaust-Lit. u. Deutschunterricht. Perspektiven schul. Erinnerungsarbeit. Baltmannsweiler 2008. Caroline Roeder

Preuschen, Hermi(o)ne Baronin von, verh. Schmidt (1882), verh. PreuschenTelmann bzw. Preuschen-Zitelmann (1891), * 7. (oder 5.) 8.1854 Darmstadt, † 12.12.1918 Berlin. – Malerin, Dichterin, Weltreisende. Hermione – so ihr Künstlervorname nach der Figur in Shakespeares Wintermärchen – hat häufig mit den gesellschaftl. Konventionen ihrer Zeit gebrochen. Weder in ihrem Privatnoch in ihrem Berufsleben erfüllte sie die von außen an sie herangetragenen Erwartungen, sie entwickelte außergewöhnl. Strategien, um sich als Frau auf dem Kunstmarkt zu behaupten. P.s zahlreiche Reisen, die sie in exot. Reiseberichten festhielt, sind sowohl Ausdruck ihrer Unabhängigkeit als auch ihres Außenseitertums. So betonte P. in Durch Glut und Geheimnis (Wolfenb. 1909) über ihre Reisen nach Indien, Birma u. Ceylon, ihre Seele sei »dem Alltag fremd und fern wie von anderm Stern«. Geboren als Hermine Ernestine Henriette Anna Baronin von Preuschen, entstammte sie dem althess. Adelsgeschlecht Preuschen von und zu Liebenstein u. war die erstgeborene Tochter des Maximilian von Preuschen, Oberkonsistorial- u. Regierungsrat in Darmstadt, u. der Friederike geborene Scheßer von

Preuschen

Althattendorf. Mit 19 Jahren konnte P., unterstützt durch die Familie des Bühnenautors u. Theaterintendanten Gustav Heinrich Gans Edler Herr zu Putlitz, eine dreijährige Ausbildung an der Karlsruher Malerakademie bei Ferdinand Keller absolvieren u. erhielt dort viele literar. Anregungen. Anschließend eröffnete sie in München ihr eigenes Atelier u. unternahm zahlreiche Studienreisen, u. a. nach Paris, Sizilien u. Rom. 1882 heiratete P. den Münchener Arzt Oswald Schmidt. Die Ehe, aus der ein Sohn u. eine Tochter hervorgingen, wurde bereits 1889 wieder geschieden. Das Paul Heyse gewidmete Gedicht Conventionen sollt’ ich malen, Conventionen sollt’ ich schreiben (Via Passionis! Lebenslieder. Dresden/Lpz. 1895) spielt auf den Rollenkonflikt während ihrer Ehe an. In Kritiken wurde P. der Makel der geschiedenen Frau angelastet, u. so trat sie in ihrem Aufsatz Die sexuelle Moral der Frau (Bln. 1911) nicht von ungefähr für die »freie Liebe« u. für »Probeehen« ein. 1886 zog es P. nach Berlin, wo sie über die kunstinteressierte Kronprinzessin u. spätere Kaiserin Viktoria Zugang zum Hof gewann u. von 1878 bis 1898 Mitgl. des Vereins der Berliner Künstlerinnen war, an dessen Ausstellungen sie teilnahm. Der Skandal um ihr symbolist. Gemälde Mors Imperator (1887), das den Tod als König der Könige darstellte, machte P. über die Grenzen Berlins hinaus berühmt. Das Bild wurde von der kgl. Akademie der Künste wegen »Majestätsbeleidigung« nicht zur Berliner Kunstausstellung zugelassen. Deshalb initiierte P. eine eigene publikums- u. pressewirksame Ausstellung, die sich nach ihrem späteren Bekunden »als Fluch ihres Lebens erwiesen habe, da er ihr eine Ausnahmestellung als Außenseiter einräumte«. Man schätzte sie zwar als Blumenmalerin, lehnte es aber ab, sie als »Erfinderin des Historischen Stilllebens« zu akzeptieren. Aufschlussreich ist P.s eigener Werkkommentar Meine Beziehungen zur Kaiserin Friedrich und wie meine symbolistischen Bilder entstanden (1911). In ihrer Rede Über das künstlerische Studium der Frau (Bln. 1897) auf dem Internationalen Kongress für Frauenwerke u. Frauenbestrebungen 1896 in Berlin beklagt sie sich rückblickend über die schlechte Ausbildungssituation der Künstlerinnen u. über

Preuschen

die Widerstände seitens der Professoren in Kunstakademien. In zweiter Ehe heiratete P. 1891 den Schriftsteller u. Dichter Konrad Telmann (Geschlechtsname: Zitelmann) u. lebte mit ihm u. ihren beiden Töchtern überwiegend in Rom. Nach Telmanns Tod im Jahre 1897 kehrte sie zurück nach Berlin, wo sie 1908 eine Villa in Lichtenrade erwarb, die sie zu einer Ausstellungshalle, dem »Tempio Hermione«, aus- u. umbaute. Hier veranstaltete P. eigene Ausstellungen, themat. Feste, Lyrikrezitationen u. hielt Vorträge über ihre Reisen. Während Theodor Storm zwar ihr »großes, gewaltiges Talent« anerkannte, sich aber über P.s ersten Gedichtband Regina Vitae! (Bln. 1888), der ihm gewidmet war, entsetzt äußerte (»Das ist Stammeln wilder Leidenschaft, in abgerissenen Tagebuchblättern«), schrieb Rainer Maria Rilke 1896 in einer Rezension, dass sich bei P. »Dichtkunst und Malerei schwesterlich vertrügen. Sie male ihre herrlichen Gedichte und sie dichte in farbensatten Allegorien auf die Leinwand.« Füllten zu P.s Lebzeiten noch Ankündigungen u. Berichte regelmäßig die Blätter nicht nur der Berliner Presse, so erinnerten später nur vereinzelte Artikel in Berliner Lokalzeitungen an »Berlins griechische Mondgöttin«, die »im Tempio residierte«. Die meisten ihrer Bilder gelten heute als verschollen. Mit der Entscheidung, 90 Jahre nach ihrem Tod den Hohenzollernplatz in Berlin-Lichtenrade nach ihr zu benennen, soll an diese ungewöhnl. Frauengestalt der letzten Jahrhundertwende erinnert werden. Die defizitäre Materiallage mag ein Grund dafür sein, dass bisher noch keine zusammenhängende Lebensgeschichte P.s vorliegt. Der größte Teilnachlass befindet sich im Archiv zur Geschichte von Tempelhof u. Schöneberg sowie im Archiv des Vereins der Berliner Künstlerinnen, dessen Mitgl. sie war. Da sie mit vielen Schriftstellern, u. a. mit Storm, Ibsen, Rilke, Heyse u. Heinrich Mann, korrespondierte, sind ihre Briefe verstreut in den jeweiligen Nachlässen zu finden. Die wichtigsten Quellen über ihr Leben stellen ihr anonym erschienener autobiografisch gefärbter Roman Die Tragödie des Weibes. Roman von einer, die daran verblutet (Bln. 1904) sowie

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ihre postum veröffentlichte Autobiografie Der Roman meines Lebens. Ein Frauenleben um die Jahrhundertwende (Bln./Lpz. 1926) dar. Beide Romane schrieb sie unter dem Leitthema ihres Künstlerinnenberufs u. den damit verbunden Problemen. Das wichtigste Motiv ist auch in ihren Gedichten das des Außenseitertums, das zu den Topoi gehört, die eng mit der Grundfrage verbunden sind, ob sich Kunst u. weibl. Bestimmung vereinbaren lassen. Was die Forschungslage betrifft, so liegen bisher nur einzelne Aufsätze sowie meist populärwissenschaftlich gehaltene Zeitungsartikel zu bestimmten Aspekten ihres Lebens vor, zum größten Teil jedoch unveröffentlichte Typoskripte sowie kurze Einträge in biogr. Lexika. Weitere Werke: Symbolistische Gemälde: Die Lebenssphinx. – Irene v. Spilimberg auf der Totengondel. – Das Lager der Kleopatra. – Asrael der Todesengel. – Vampyr-Sehnsucht. – Gloria. – Kirke u. die Schweine. – Gedichte: Vom Mondberg. Erlebte Gedichte. Zürich 1900. – Astartenlieder. Zürich 1902. – Flammenmal. Bln. 1903. – Kreuz des Südens. Bln. 1907. – Perlenkrönlein. Auto-Anthologie. Dresden 1912. – Romane: Yoshiwara. Vom Freudenhaus des Lebens, Roman in drei Teilen. Bln. 1920. – Erloschene Vulkane. Bln. 1922. – Novellen: Tollkraut. Dresden/Lpz. 1893. – Halbweiber. Bln. 1905. – Dunkelkammer. Lpz. 1900. Literatur: Ernst Brausewetter (Hg.): Meisternovellen dt. Frauen. 2. Reihe. Lpz. 1907, S. 299–310. – Gerhard Ranft: Theodor Storms Briefe an H. v. P. In: Schreiben der Theodor-StormGesellsch. 22 (1973), S. 55–94. – Renate Berger: ›Und ich sehe nichts als die Malerei‹. Autobiogr. Texte v. Künstlerinnen des 18.-20. Jh. Ffm. 1987, S. 136–139. – Annette Dorgerloh: ›Ich werfe meinen künstlerischen Ruf getrost in die Waagschale‹. Eine Künstlerin in Berlin am Ende des 19. Jh. In: Kunstverhältnisse. Ein Paradigma kunstwiss. Forsch. FS P. H. Feist zum 60. Geburtstag. Bln. 1988, S. 79–83. – Petra Budke u. Jutta Schulze (Hg.): Schriftstellerinnen in Berlin 1871–1945. Ein Lexikon zu Leben u. Werk. Bln. 1995, S. 287–289. – Carola Muysers: ›In der Hand der Künstlerinnen fast allein liegt es fortan...‹. Zur Gesch. u. Rezeption des Berufsbildes bildender Künstlerinnen v. der Gründerzeit bis zur Weimarer Republik. In: Feminist. Studien 1 (1996), S. 50–65. – Dies. (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung u. Wandel in dt. Quellentexten 1855–1945. Amsterd./Dresden 1999, S. 73–76. – Felicitas Rink: Der Verein der

331 Künstlerinnen u. Kunstfreundinnen zu Berlin. In: Victoria v. Preußen 1840–1901. Kat. des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867 e.V. Hg. Karoline Müller u. Friedrich Rothe. Bln. 2001, S. 395–405. – Muriel Eberhardt: H. v. P. (1854–1918). Eine Künstlerin um die Jahrhundertwende. In: Ztschr. für Museum u. Bildung 63 (2005), S. 8–27. – Willi Jasper: ›Was soll ich glühender Strom an diesem Eismeer?‹ (H. v. P.). In: Ders.: Die Jagd nach Liebe. Heinrich Mann u. die Frauen. Ffm. 2007, S. 196–211. Muriel von Hartrott

Preuß, Gunter, * 15.9.1940 Leipzig. – Prosa-Autor, Verfasser von Kinder- u. Jugendliteratur. P. ist in kein Genreschema zu pressen: Er schreibt für Kinder u. Jugendliche ebenso wie für Erwachsene, er verfasst Romane, Märchen, Erzählungen, Gedichte, Essays, Aphorismen, Bilderbücher, Theaterstücke, Hörspiele u. Filme. Literarische Vielseitigkeit u. außerordentl. Produktivität gehen bei ihm Hand in Hand (bisher über 100 Titel). Geboren u. aufgewachsen als Sohn eines musisch ambitionierten Fleischers in Leipzig, lebt P. noch heute am Rande der Messestadt (lange Zeit in Schkeuditz, jetzt in Lützschena) – mit Frau u. Hund (was literarisch relevant ist). Zunächst absolvierte er eine Lehre als Fernmeldemechaniker, erprobte seine Kräfte als Judo-Leistungssportler, war dann als Lagerist u. Güterbodenarbeiter tätig, bevor er mit seinem Freund – den Spuren Jack Londons folgend – auf dem Weg in die Südsee in Berlin hängen blieb. Die brodelnde Stadt kurz vorm Mauerbau wurde für den abenteuerlustigen Jugendlichen zum prägenden Erlebnis, hier studierte er schließlich – inspiriert von der Zirkusatmosphäre – drei Jahre an der Fachschule für Artistik (1958–1961). Am Ende aber kehrte er doch nach Leipzig zurück, arbeitete hier in seinem erlernten Beruf als Fernmelderevisor, nahm dann ein Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher auf (1970–1974) u. riskierte sofort nach dessen Abschluss eine Existenz als freischaffender Schriftsteller. Erfolgreiche Erstlingswerke hatte es anfangs der 1970er Jahre schon gegeben (Jo spannt den Wagen an. Bln./DDR 1972, Kinderbuch. Die Grasnelke. Bln./DDR 1973, E.en), jetzt sorgten wesentl.

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Texte in verschiedenen Gattungen für erhebl. Aufsehen: der bis heute immer wieder aufgelegte Jugendroman Julia (Bln./DDR 1976), mehrere Hörspiele (Ein Tag aus dem Leben des Ulli Ferch, 1974. Ich sage die Wahrheit, 1975), das in der Heimatstadt uraufgeführte Theaterstück Muzzelkopp (1977), der Fernsehfilm Hochzeitsreise (1979). Es konnte im Zuge der öffentl. Anerkennung nicht ausbleiben, dass einerseits die Stätte seines einstigen Studiums, das Literaturinstitut, sich bald seiner Mitarbeit versicherte – nun als Dozent für Prosa, u. dass sich andererseits Auszeichnungen einstellten, darunter der Kunstpreis der Stadt Leipzig (1979), der Alex-WeddingPreis der Akademie der Künste (1986), der Brüder-Grimm-Preis (1999), der Gellert-Preis (2000). P. ist Mitgl. des P.E.N. u. des VS. Er ist ein Sucher, ein Versucher, ein Ausprobierer, deshalb die Vielfalt der Schreibweisen, die Breite des Œuvres. P.’ Credo lautet: »Das Suchen scheint mir der Menschen Bestimmung zu sein. Es ist unsere Chance, unser Dasein wahrzunehmen, in flüchtigen Augenblicken Glück zu spüren, um wieder an sich glauben zu können und Mut für Neues zu haben.« Viele seiner literar. Figuren sind solche Sucher. Etwa Bernhard, die am stärksten autobiogr. Gestalt. Ihr begegnet man in dem vergleichsweise frühen Roman Nimm Abschied und gesunde (Bln./DDR 1985) als Jugendlichem, u. sie kehrt in der bilanzierenden Trilogie, deren erster Teil Und wenn ich sterben sollte (Lpz. 2005) publiziert vorliegt, wieder. Vom Typ des Suchers ist auch eine frühe Figur P.’, der Titelheld des Debütdramas Muzzelkopp. Der Sechzehnjährige geht in den fensterlosen Untergeschossen des Fernmeldeamtes dem Beruf seines Autors nach: Er ist Fernmeldemechaniker, füllt in den Verliesen unter Tage die Akkus nach. In Wirklichkeit aber will er hinaus auf hohe See, in die große weite Welt. Sein häusl. Bett baut er mit allerlei Mechanik zur Hochseejolle um, hier kann er träumen, seinen Sehnsüchten nachhängen. Dieser Muzzelkopp ist eine für den Autor symptomat. Figur. Er steht für ein zentrales Thema bei P.: die Suche nach der eigenen Identität. Das hat oft mit dem Erwachsenwerden zu tun, immer aber auch mit dem Ausschreiten von Grenzen u. einem in-

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dividuellen Reichtum an Fantasie. Signaturen solcher fantast. Grenzüberschreitungen sind etwa der Tschomolungma (Bln./DDR 1981) oder die Wüste Kalahari (Die Falle. Mchn. 2000). Fantastische Elemente spielen im Werk von P. generell eine erhebl. Rolle. Insbes. am Personal wird dies erkennbar. Da finden sich Feen (Feen sterben nicht. Bln./DDR 1985, R.), Hexen (Das kleine Hexeneinmaleins. Trickfilm 1992, auch als Musical 2003. Kleine Hexe Toscanella. Würzb. 1993, Kinderbuch, mit zahlreichen Forts.en. Die Hexenlovestory. Hörsp. 1994. Hexensprüche. Gedichte für Kinder. Lpz. 2008), Geister (Geisterstunde. Hörsp. 1992), Zauberer (Annabella und der große Zauberer. Bln./DDR 1986, auch als Theaterstück 1996), Gespenster (Gespenstergeschichten. Bindlach 1994, Kinderbuch) sowie Räuber u. Ritter (Räuberin Anna und Ritter Florian. Mchn. 1996, Kinderbuch). Eine eigene Werkgruppe im Schaffen des Tier- u. Hundenarren P. bilden jene Texte, in denen prononciert – u. gelegentlich mit Fabelqualität – diverse Tiere, allerdings vorzugsweise Hunde, agieren (Tomkin der Bär. Bindlach 1993, Kinderbuch. Schnurz, so ein Hundeleben. Bln. 1993, Kinderbuch. Vom Kater, der Maus und vierzehn Schweinsohren. Theaterstück 1999. Schulmaus Ottilie Nagezahn. Hörsp. 2005). Aus der Welt der Fantasie kehrt P. allerdings ganz regelmäßig in die harte Alltagsrealität zurück, trifft hier immer wieder auf Hass u. Gewalt, nennt die Konflikte – auch mehrfach solche zwischen den Generationen – unverblümt beim Namen. Der Roman Stein in meiner Faust (Ravensburg 1993, auch als Theaterstück 2008) etwa erzählt die Geschichte des Alexander Steiner, eines ostdt. Jugendlichen nach dem Mauerfall, auch Killer genannt, ohne Bindung an das Funktionärs-Elternhaus, der bei den Rechtsradikalen die elterlicherseits ausgebliebene Anerkennung sucht, sich an Gewaltexzessen beteiligt, unter den Einfluss der Skin-Anführerin Lady Maria gerät, bis ihn der Weltkriegsveteran Sombrero, den Lady Maria später hasserfüllt erschießt, doch zu einem ersten Nachdenken bringt. Die hier anklingende Thematik der Wende in Deutschland findet sich in weiteren Texten (Vertauschte Bilder. Bln. 1991, E. Vom armen Schwein: eine deutsch-deutsche Groteske.

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Oschersleben 2003). Nach 1990 hat P. auch seine Neigung zum Aphorismus entdeckt u. ihr immer wieder nachgegeben; vier Bände sind mittlerweile erschienen (Treibholz. Bln. 1990. Kieselsteine. Staßfurt 1998. Vogelfedern. Halle/S. 2003. Clownstränen. Lpz. 2007). P.’ Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Polnische, Russische, Niederländische, Spanische, Französische, Dänische, Ungarische, Tschechische u. Koreanische. Weitere Werke: Die großen bunten Wiesen. Bln./DDR 1976 (E.en). – Der hölzerne Kuckuck. Bln./DDR 1977 (Kinderbuch). – Komm über die Brücke. Bln./DDR 1979 (Kinderbuch). – Die Nacht vor dem Gewitter. Bln./DDR 1982 (E.en). – Große Liebe gesucht. Bln./DDR 1983 (R.). – Verbotene Türen. Bln./DDR 1985 (E.en). – Spiegelscherben. Bln./DDR 1986 (E.en). – Frau Butzmann u. ihre Söhne. Bln./DDR 1987 (N.). – Das Kind aus dem Brunnen. Bln./DDR 1987 (E.). – Briefe an die Geliebte. Bln./DDR 1989 (R.). – Ein Berg, so groß wie dein Mut. Bln. 1990 (Kinderbuch). – Vertauschte Bilder. Bln. 1991 (Kinderbuch). – Eine Handvoll Sehnsucht. Bln. 1993 (Kinderbuch). – Das Geheimnis des blauen Lichts. Lpz. 1994 (Kinderbuch). – Die Schule auf dem Baum. Mchn. 1997 (Jugendbuch). – Der 884. Montag. Roman eines Rebellen. Lpz. 1999. – Gesichter u. Masken: Gespräche aus der Dunkelkammer. Dresden 1999. – Aus der eigenen Haut. Mchn. 2000 (E.en). – Im Bauch der Stadt. Dresden 2000 (E.en). – Die Falle. Mchn. 2000 (Kinderbuch). – Grauer. Mchn. 2001 (N.). – Mit den Augen der Nacht. Halle/S. 2003 (G.e). – Betreten auf eigene Gefahr. Schulgesch.n. Freiberg 2004. – U. wenn ich sterben sollte ... Lpz. 2005 (R.). – Zwei im Spinnennetz. Halle/S. 2006 (R.). – Niccolò u. die drei Schönen. R. für Kinder. Lpz. 2006. – Träum was Schönes. G.e für Kinder. Lpz. 2007. – Rufe in die Wüste. Aufsätze u. Interviews v. gestern u. heute. Halle/S. 2009. – Fußspuren werde ich hinterlassen. Texte für Hörsp., Theater u. Fernsehen. Lpz. 2009. Literatur: Muzzelkopp – Das Gespräch führte: Peter Reichel. In: Temperamente 1 (1976). – Da ich ein Suchender bin, darf ich ein Irrender sein – Das Gespräch führte: Wolfgang Tittel. In: WB 6 (1983). Peter Reichel

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Preußler, Otfried, * 20.10.1923 Reichenberg/Böhmen (heute: Liberec/Tschechien). – Kinderbuchautor, Erzähler, Theaterautor. P. verlebte Kindheit u. Jugend im ehemaligen Nordböhmen (heute Tschechien) u. wurde von dieser kulturellen Landschaft u. den dort verbreiteten Sagen u. Erzähltraditionen geprägt. Der Sohn eines Lehrerehepaars arbeitete nach Kriegsdienst u. russ. Gefangenschaft ab 1953 als Lehrer u. war bis 1970 Rektor in Rosenheim. P. prägte maßgeblich die sich nach 1945 neu entwickelnde Kinder- u. Jugendliteratur der Bundesrepublik. Er zählt zu den sog. »Großen Drei« (P., James Krüss, Michael Ende), zu den Vertretern des »Goldenen Zeitalters der Kinderliteratur« (Ewers), wie die in den 1950er u. folgenden Jahren entstandene märchenhaft-fantastische u. zgl. komisch inszenierte Kinderliteratur genannt wurde. Die hohen Auflagen seiner Bücher u. großen Aufführungszahlen seiner Kindertheaterstücke weisen ihn als einen der bekanntesten deutschsprachigen Kinderbuchautoren nach 1945 aus. Heutige Kinder kennen P.s Werk v. a. durch das umfangreiche Hörmedienangebot, vielgestaltige Adaptionen (z.B. in Lernmaterialien) sowie zahlreichen (Neu-)Verfilmungen (auch Zeichentrickfilme u. Puppenspiele). P. versteht sich der mündl. Erzähltradition verpflichtet u. wendet sich mit seinen vornehmlich märchenhaft-fantast. Geschichten v. a. an Kinder des Vorlese- u. ersten Lesealters. P. debütierte Mitte der 1950er Jahre mit dem Kinderbuch Der kleine Wassermann (Illustrationen v. Winnie Gayler. Stgt. 1956), gefolgt von Die kleine Hexe (Illustrationen v. W. Gayler. Stgt. 1957). Beide Titel sind (ebenso wie das 1966 erschienene Das kleine Gespenst. Illustrationen v. Franz Josef Tripp. Stgt.) zu Klassikern der Kinder- u. Jugendliteratur avanciert (Kümmerling-Meibauer), haben Millionenauflagen erzielt u. sind seit ihrem Erscheinen auf dem Buchmarkt u. im Medienverbund (mehrfache Verfilmungen, Hörspiele, Hörbücher sowie Adaptionen u. pädagog. Begleitmaterialien wie Englisch lernen mit der kleinen Hexe etc.) präsent. Die »Der-

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Die-Das-Trilogie« (Preußler) basiert auf Adaptionen von sagen- u. märchenhaften Figuren wie Hexe, Wassermann u. Gespenst, die, in der Volksmythologie mit Schrecken besetzt, von P. zu freundlichen, aber auch autonomen kindl. Wesen umgeschrieben werden. Die Bücher spiegeln die idyllisierende Kinderweltdarstellung der damaligen westdt. Kinder- u. Jugendliteratur, allerdings vermögen P.s humorist. Erzählstil u. die verfremdenden Verkehrte-Welt-Motive die pädagog. Implikationen zu kompensieren. Die kindl. Bedürfnisse stehen in diesen Geschichten im Vordergrund, womit der alleinige Geltungsanspruch der Erwachsenen (wie in den 1940er/1950er Jahren) radikal in Frage gestellt wird (Steinlein). Als ebenfalls sehr erfolgreich umgesetzt erwies sich der unterhaltsame Stoff einer Lausbuben-Kasperlegeschichte in Der Räuber Hotzenplotz. Eine Kasperlegeschichte (Illustrationen v. F. J. Tripp. Stgt. 1962). Die Theaterfassung in einer Version der Augsburger Puppenkiste 1967 sowie die Verfilmungen (1973, 1979 u. 2006) machten den Stoff überaus bekannt. An den Hauptfiguren Kasperl u. Seppl, die mit ihrer Pfiffigkeit den erwachsenen Figuren – dem Dorfpolizisten Dipflmoser, dem Räuber u. dem Zauberer – immer überlegen sind, zeigt sich P.s charakterist. Figurenzeichnung: aufmüpfige Kinderfiguren, die in der Traditionslinie einer von der Romantik geprägten Literatur der »Kindheitsautonomie« (Ewers) zu verstehen sind. Neben diesen Longsellern verfasste P. religiös ambitionierte Literatur für Kinder (Das Eselchen und der kleine Engel. Illustrationen v. Julian Jusim. Stgt./Wien 1993), aber auch für Erwachsene (Die Flucht nach Ägypten. Mchn. 1978). Durch seine literarisch ambitionierten Übersetzungen u. Nacherzählungen wirkte er als Brückenbauer zwischen Ost u. West u. machte neben russ. Märchenstoffen wie Die Abenteuer des starken Wanja (Illustrationen v. Herbert Holzing. Würzb. 1968) v. a. tschech. Kinderliteratur in Deutschland bekannt wie die märchenhafte Tiergeschichte Kater Mikesch. Geschichten vom Kater, der sprechen konnte (v. Josef Lada. Dt. nacherzählt v. O. P. Aarau/ Ffm. 1962). Das innovative u. länderüber-

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greifende Projekt eines Kriminalromans von Kümmerling-Meibauer: O. P. In: Dies.: Klassiker zehn Autoren initiierte P. u. übertrug es ins der Kinder- u. Jugendlit. Ein internat. Lexikon. Deutsche (Das Geheimnis der orangenfarbenen Bd. 2, Stgt./Weimar 1999, S. 872–876. – O. P. zum Katze. 10 Autoren aus 10 Ländern schreiben eine 80. Geburtstag. FS. Stgt./Wien 2003. – Günter Lange: O. P. In: Kinder- u. Jugendlit. – Ein Lexiaufregende Geschichte für Kinder von 8–80. Illuskon. Hg. Kurt Franz, ders. u. Franz-Josef Payrhutrationen v. F. J. Tripp. Stgt. 1968). ber. Meitingen 1995 ff. (Loseblattslg.), 33. Erg.-Lfg. Hervorstechend an P.s Werk ist die 1971 Juni 2008, S. 1–60. – Ders.: O. P.s Kinder- u. Juveröffentlichte Sagenbearbeitung Krabat gendbücher in der Grundschule u. Sekundarstufe I. (Würzb.), an der P. mehr als ein Jahrzehnt Hohengehren 2008. – Rüdiger Steinlein: Neubegearbeitet hatte. Im Krabat-Roman verbindet ginn, Restauration, antiautoritäre Wende. In: P. eine überlieferte sorb. Sage von einem Gesch. der dt. Kinder- u. Jugendlit. Hg. Reiner Schwarzkünstler mit der Adoleszenzthema- Wild. 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Stgt. 2008, tik. Die psychologisch angelegte Reifungsge- S. 312–342. Caroline Roeder schichte lässt sich auch als polit. Parabel verstehen, die davor warnt, falschen Führern zu Priessnitz, Reinhard, * 27.10.1945 Wien, folgen. Das Jugendbuch wurde 1972 mit dem † 5.11.1985 Wien; Grabstätte: ebd., Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichPötzleinsdorfer Friedhof. – Verfasser exnet. Der DDR-Schriftsteller Jurij Brezan hat perimenteller Lyrik u. Prosa; Essayist. den Stoff für Kinder als Märchenerzählung Die schwarze Mühle (Bln./DDR 1968) u. für er- P. verkehrte schon als Schüler in jenen Wiener wachsene Leser mit noch deutlicheren polit. Untergrundkreisen, die in den 1950er u. Implikationen gestaltet (Krabat oder die Ver- 1960er Jahren eine überraschende Blüte wandlung der Welt. Bln./DDR 1976). P.s Krabat avantgardistischer Kunst hervorbrachten. wurde verschiedentlich für das Theater ad- Sowohl die Wiener Gruppe als auch der aptiert (Hbg. 1982, Mchn. 1994) u. als Oper Wiener Aktionismus bildeten für P. das Um(v. Cesar Bresgen. Urauff. 1983; v. Fredrik feld für seinen künstlerischen Weg, den er Zeller. Urauff. Mannheim 2007) in Szene ge- sich nicht nur gegen Anfeindungen u. Ignosetzt. Als Audiofassung (v. P. gelesen: 1988, ranz des offiziellen Kulturbetriebs, sondern 2007) u. als Trickfilm (v. Karel Zeman. Prag auch gegen die Herausforderung durch die 1977) sowie als Kinofilm (Regie: Marco mächtigen Vorbilder (in der Wiener Gruppe) bahnen musste. Kreuzpaintner, 2008) umgesetzt. Zu seinen Lebzeiten wurden seit 1966 GeZu Lebzeiten hat P. seinen literar. Nachlass dichte (vierundvierzig gedichte. Linz 1978) u. an die Internationale Jugendbibliothek in der Prosastücke sowie Beiträge, Reden, InterMünchner Blutenburg gegeben. Weitere Werke: Bei uns in Schilda. Eine wahre views, Würdigungen in Zeitschriften u. KaGesch. der Schildbürger nach den Aufzeichnungen talogen veröffentlicht, die P.’ Auseinanderdes Stadtschreibers Jeremias Punktum. Stgt. 1958. setzung mit Kunst u. sein Bemühen, anderen – Neues vom Räuber Hotzenplotz. Stgt. 1969. – Die Sehweisen u. Entwürfen zur Geltung zu verdumme Augustine. Stgt. 1972. – Hotzenplotz. helfen, dokumentieren. Diese Publikationen Bd. 3, Stgt. 1973. – Hörbe mit dem großen Hut. – Aufsätze zur malerei, plastik etc. u. literatur, Eine Hutzelgesch. Illustrationen v. O. P. Stgt. 1981. gesellschaft etc. (= Bd. 3/1 u. 3/2 der Gesamt– Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern. Stgt. ausgabe. Hg. Ferdinand Schmatz. Linz 1988 1987. u. 1990) – sind aber auch Zeitdokumente, die Literatur: Heinrich Pleticha (Hg.): O. P. – Werk 15 Jahre Wiener Avantgardekunst widerspieu. Wirkung. FS zum 60. Geburtstag v. O. P. als geln. Begleitbuch zu der Ausstellung in der Internat. P. hat sich nur selten in Dienst nehmen Jugendbibl. München. Stgt. 1983. – Regine Stiglolassen. 1968–1974 war er Redakteur des her (Hg.): Gesch.n für Menschenkinder. O. P. zum 70. Geburtstag. Stgt. u. a. 1993. – Susanne Barth: »Neuen Forum«, 1976 schrieb er regelmäßig Aufmüpfig u. doch brav. O. P.s ›Die kleine Hexe‹. für die »Presse«. 1982 erhielt er Lehraufträge In: Klassiker der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Bettina für Literatur u. Poetik an der Akademie der Hurrelmann. Ffm. 1995, S. 419–438. – Bettina bildenden Künste in Wien u. an der Hoch-

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schule für industrielle u. künstlerische Ge- Zusammengestellt v. Ferdinand Schmatz u. Thostaltung in Linz. P. hat als Lektoratsberater mas Eder. In: schreibheft, H. 47 (1996), S. 148–157. Literatur: Dossier R. P. In: Sprache im techn. des Medusa-Verlags die Krimi-Reihe »Vienna School of Crime« initiiert. Seit 1974 war er Zeitalter, Nr. 100, Dez. 1986. – Renate Kühn: Das mit der Fotografin Cora Pongrácz verheiratet. Experiment mit der Tradition. Zur Lyrik v. R. P. In: P.’ Schreibweise ist dadurch gekennzeich- Kolloquium Neue Texte. Hg. Heimrad Bäcker. Linz 1990, S. 24–34. – reinhard priessnitz symposium net, dass sie das Experimentelle vorantreibt, paris 1990. Hg. Walter Ruprechter. Graz/Wien ohne die Bindung an Traditionen (die Dich- 1992. – Thomas Kling: Die Rede, die in Schrift tung Hölderlins, Benns, Trakls ebenso wie flieht. Zum Abschluss der P.-Werkausg. In: Becketts oder der bei Karl Kraus oder Nestroy schreibheft, H. 45 (1995), S. 189 f. – Franz Josef zu findende Sprachwitz) aufzugeben. Tradi- Czernin: Die Schreibhand. Zu R. P.’ Gedicht heldin. tion ist für P. aber auch schon die experi- Wien 1997. – W. Ruprechter: Zur Poetik v. R. P. In: mentelle u. konkrete Literatur selbst, deren Toritsu Daigaku Gakuho, H. 284 (1997), Erfahrungen mit der zum Material erklärten S. 221–251. – Volker Kaukoreit: R. P. u. die ›Mappe Sprache in seinem Werk gewissermaßen vor- Tatrangi‹. Zu einem Bestand des österr. Literaturausgesetzt sind. Für P. ist Sprache aber nicht archivs (mit einem Gedichtsregister). In: biblos. Bd. 46/1 (1997), S. 199–210. – Thomas Eder: Unfetischisiertes Material, das formalistisch arterschiedenes ist/gut. R. P. u. die Repoetisierung rangiert wird, sondern ein Medium zum der Avantgarde. Mchn. 2003 (mit ausführl. BiblioAustesten von Möglichkeiten des Verstehens gr.). – Ders.: R. P. In: LGL. – Franz Kaltenbeck: R. u. Kommunizierens. Dabei ist das Scheitern P. Der stille Rebell. Graz/Wien 2006. – Daniela immer schon mit eingeplant. Gegen einen Bartens: R. P. In: KLG. Walter Ruprechter oberflächlich modernist. Textbegriff hielt P. bewusst an der Gattungsbezeichnung GePriester Arnolt ! Arnolt, Priester dicht fest. Er bediente sich sprachspielerischer Formen wie des Anagramms oder des Priester Eberhard ! Eberhard (von Palindroms, um Texte zu schaffen, die sich Gandersheim) auf sich selbst u. auf die Bedingungen ihrer Entstehung aus dem Zwischenbereich des Printz, Wolfgang Caspar, auch: Cosmus Noch-nicht-Sprachlichen u. des sprachlich Pierius Bohemus, * 10.10.1641 WaldVorgeformten beziehen. thurn/Oberpfalz, † 13.10.1717 Sorau Als ständiger Rückbezug auf die Entste(Zary)/Niederlausitz. – Musiker, Musikhungsbedingungen im schreibenden (Un-) schriftsteller u. Romancier. Bewussten sind auch die Prosatexte P.’ zu lesen. Sie »sind zugleich Subjekt und Objekt P., wie sein Zeitgenosse Johann Beer ein der ästhetischen Reflexion, sie vereinen in Musiker mit literar. Ambitionen, war der sich experimentelles Schreiben und dessen zweite Sohn eines ehemaligen Offiziers u. Theorie (und bilden eben darin wiederum späteren Forstmeisters u. Steuereinnehmers. einen Bestandteil der experimentellen Mo- P.’ Schulbildung begann in Waldthurn, doch übersiedelte die Familie wegen der Rekathoderne)« (Thomas Rothschild). P.’ Werk – so schmal es ist – hat bei einer lisierung der Oberpfalz 1649 nach Vohenneuen Autorengeneration um Heimrad Bä- strauß, wo P. Schulbesuch u. musikal. Ausckers »edition neue texte« enorme Wert- bildung fortsetzte. 1654 kam er aufs Gymschätzung erfahren. Auch Kritiker u. Litera- nasium nach Weiden u. begann 1658 sein turwissenschaftler stehen nicht an, seine theolog. Studium an der Universität Altdorf. Methode der »Repoetisierung der Avantgar- Daneben fühlte er sich bes. zur Mathematik de« (Thomas Eder) als Maßstab für eine neue hingezogen u. empfing in den Vorlesungen sprach- u. erkenntniskrit. Dichtung anzuse- von Abdias Treu die Grundlagen für seine musiktheoret. Ausbildung. Durch den Tod hen. Weitere Werke: Werkausg. Hg. Ferdinand der Mutter u. die Wiederverheiratung des Schmatz. Linz/Wien 1986 ff. – ›... und knallt ganz Vaters in finanzielle Nöte geraten, musste er laut die ecritüre zu‹. Textsplitter aus dem Nachl. 1661 »mit schwerem Hertzen« sein Studium

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abbrechen. Eine Probepredigt in Vohenstrauß führte zum Konflikt mit den Autoritäten, da der Fürst von Sulzbach inzwischen zum kath. Glauben übergetreten war. Im Frühjahr 1661 entschied sich P., »Profeßion von der Musik zu machen«, u. ging an den kurpfälz. Hof nach Heidelberg. Die Hoffnung auf eine Anstellung an der neu erbauten Providenzkirche scheiterte an einer anticalvin. Bemerkung, u. bald danach befand sich P. als Hofmeister eines vornehmen Holländers auf dem Weg nach Italien. Die Reise hatte einen nachhaltigen Einfluss auf seine Entwicklung als Musiker u. Schriftsteller. Empfehlungen führten ihn nach Dresden u. dann im Juni 1662 nach Sorau in die Niederlausitz, wo er nach wenigen Tagen bestallter »Director Musices« des Reichsgrafen Erdmann von Promnitz wurde. P. begleitete seinen Herrn, der als kaiserl. Obrister ein Regiment im Krieg gegen die Türken befehligte, als Musterschreiber in die Winterquartiere nach Schlesien u. danach auf den ungarischen Kriegsschauplatz. Der Graf starb im Jan. 1664, u. einen Monat später bekam P. seinen Abschied. Er übernahm die Stelle eines Kantors im nahe gelegenen Triebel u. heiratete die Tochter eines Sorauer Apothekers. P. hat mehrfach das Jahr in Triebel als das glücklichste seines Lebens bezeichnet, doch übernahm er im Juni 1665 das Kantorat in Sorau. In dieser Position verblieb er nahezu ein halbes Jahrhundert; er hat nicht, wie viele Kantoren des 17. Jh., den Sprung ins angesehenere u. besser dotierte Pfarramt gemacht. Den Titel eines reichsgräfl. Musikdirektors behielt er bei u. wohl auch einige damit verbundene Verpflichtungen. 1684 zerstörte ein Feuer sein Anwesen u. stürzte ihn in eine langwährende Krankheit; 1700 wurde P. nochmals von einer Feuersbrunst geschädigt. Als 1704 der frz. Kultur u. Musik zugetane Graf Erdmann II. die Regierung antrat u. den jungen Georg Philipp Telemann an seinen Hof rief, musste P. erfahren, wie sehr sein Einfluss u. seine Bedeutung geschwunden waren. Um 1713 verfasste P. eine Autobiografie, die in Johann Matthesons Grundlage einer Ehrenpforte (Hbg. 1740) auszugsweise abgedruckt ist u. in der er die Sorauer Jahre als großenteils unglücklich bezeichnet.

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Von P.’ Kompositionen ist bis auf ein paar Notenbeispiele in den musiktheoret. Schriften nichts erhalten. Als vielseitig interessierter u. geistig reger Mensch fand P. seine Befriedigung in der Gelehrsamkeit. Zu seinen frühen Publikationen gehört ein Compendium musicae (Guben 1668), nach Heckmann das einzige rein theoretische u. zgl. bedeutsamste Werk von P., sowie eine Anweisung zur SingeKunst (Guben 1671), die in mehreren Fassungen erschien. Als Erzähler trat er zuerst 1675 (unter dem Pseud. Cosmus Pierius Bohemus) mit Güldner Hund (2 Tle., Wrzeckowitz [fingierter Druckort] 1675/76) hervor, einem pikaresken Roman, bei dem Apuleius u. Grimmelshausen Pate standen. Zur gleichen Zeit kam sein Phrynis oder Satyrischer Componist heraus (Tl. 1, Quedlinb. 1676; Tl. 2 u. d. T. Phrynis Mytilenaeus [...]. Sagan 1677), sein bekanntestes musiktheoret. Werk. Ein geplanter dritter Teil erschien erst in einer Neuausgabe von 1696. Nachdem ihn der Brand von 1684 seiner Bibliothek beraubt hatte, begann er die Musikerromane Cotala, Pancalus u. Battalus zu schreiben, die 1690/91 in rascher Folge erschienen. Gleichzeitig brachte er eine urspr. in lat. Sprache verfasste Historische Beschreibung der edelen Sing- und Klingkunst (Dresden 1690) heraus, die erste Musikgeschichte in dt. Sprache. Phrynis oder Satirischer Componist, in dem die musiktheoret. Unterweisung in eine satir. Rahmenhandlung gekleidet ist, hatte die Kritik Beers herausgefordert, der P. im Simplicianischen Weltkucker (21679) u. im Narrenspital (1681) angriff. P. hat auf diese Kritik überaus empfindlich reagiert u. Beer wiederum in einem Pamphlet (Declaration, oder weitere Erklärung, der Refutation des Satyrischen Componistens [...] von Philomuso Polyandro. Cosmopolis [fingierter Druckort] 1679) sowie in seiner Vertheidigung des löblichen Schneider-Handwercks heftig angegriffen, eine Schrift, die um 1682 entstand, aber erst 1745 (Pseud.: C. P. Bohemius) in Dresden gedruckt wurde. P.’ Musikerromane wurzeln in der volkstüml. Erzähltradition des 16. u. 17. Jh. u. sind dem Werk Grimmelshausens u. Weises verpflichtet. An der Grenze zwischen Barock u. Aufklärung stehend, sind sie als Zeugnisse für Ausbildung, Ansehen u. Stand des Be-

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rufsmusikers mit seiner engen Bindung an das handwerklich-zunftmäßige sowie das protestantisch-bürgerl. Milieu noch heute interessant. P., wenn auch nicht ein geniales Erzähltalent wie sein Nebenbuhler Beer, schildert die Welt seiner Helden mit großer Anschaulichkeit u. Lebendigkeit. Weitere Werke: Dissertatio logica de accedentis esse. Präses: Johann Paul Felwinger; Respondent: W. C. P. Altdorf 1660. – Exercitationes musicae [...]. Dresden 1687–89. – Musicus vexatus, oder der wohlgeplagte, doch nicht verzagte [...] musicus instrumentalis [...] gestellet v. Cotala, dem KunstPfeiffer-Gesellen. Freyberg [fingierter Druckort] 1690. – Musicus magnanimus oder Pancalus, der großmüthige Musicant [...] vorgestellet v. Mimnermo [...]. Freyburg [fingierter Druckort] 1691. – Musicus curiosus, oder Battalus, der vorwitzige Musikant [...] vorgestellet v. Mimnermo [...]. Freyburg [fingierter Druckort] 1691. – Phrynis Mitilenaeus, oder Satyr. Componist [...]. 3 Tle. u. Prodromus. Dresden/Lpz. 1696. – Teutsche Practica arithmetica [...]. Görlitz 1712. Ausgaben: Compendium musicae signatoriae et modulatoriae vocalis. Dresden 1689. Nachdr. Hildesh. 1974. – Histor. Beschreibung der edelen Singu. Klingkunst. Hg. Othmar Wessely. Graz 1964 (mit ausführl. Einl. u. Namensverz.). – Ausgew. Werke. Hg. H. K. Krausse. 3 Bde., Bln./New York 1974–93. Literatur: Bibliografien: Répertoire International des Sources Musicales. Bd. B VI, 2, S. 669–672. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3231–3238. – VD 17. – Weitere Titel: Wilhelm Bäumker: W. C. P. In: ADB. – Hans Friedrich Menck: Der Musiker im Roman. Heidelb. 1931. – Richard Alewyn: Johann Beer. Lpz. 1932. – Susanne Stöpfgeshoff: Die Musikerromane v. W. C. P. u. Johann Kuhnau zwischen Barock u. Aufklärung. Diss. Freib. i. Br. 1960. – Ulf Scharlau: Athanasius Kircher (1601–80) als Musikschriftsteller. Kassel 1969. – Alois Eder: Erstlich in poln. Sprache beschrieben [...] W. C. P., Güldner Hund u. Polen. In: Acta Universitatis Wratislaviensis No. 431 (1978), S. 213–239. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1685. – Giles R. Hoyt: Metamorphosis as bourgeois satire. Printz’ ›Güldener Hund‹. In: ›Der Buchstab tödt, der Geist macht lebendig‹. FS HansGert Roloff. Hg. James Hardin u. a. 2 Bde., Bern u. a. 1992, Bd. 2, S. 863–871. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. 2. Tl. (Gesch. der Musiktheorie, Bd. 8/II), Darmst. 1994, passim. – Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stgt. 1994. – Lynne Tatlock: Authority, Prestige, and Value: Professionalization in the Musicians’ Novels of W. C. P. and Johann Kuhnau. In: The Construction of

Prischuch Textual Authority in German Literature of the Medieval and Early Modern Periods. Hg. James F. Poag u. a. Chapel Hill 2001, S. 239–260. – Andreas Anglet: ›Ich bin kein Spiel-Mann‹. Die Verteidigung des bürgerl. Status u. das künstler. Selbstbewusstsein der Hauptfiguren in den Musiker-Romanen v. W. C. P. In: Daphnis 30 (2001), S. 333–354. – Bernhard Jahn: ›Encomium musicae‹ u. ›Musica historica‹. Zur Konzeption v. Musikgesch. im 17. Jh. an Beispielen aus dem schlesischsächs. Raum (Scherffer, Kleinwechter u. P.). Ebd., S. 491–511. – The Cambridge History of Western Music Theory. Hg. Thomas Christensen. Cambridge 2002, Register. – W. Braun: W. C. P. als Hymnologe (1690). In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 41 (2002), S. 187–194. – M. A. Katritzky: ›Unser sind drey‹. The quacks of Beer, P. and Weise. In: Theater am Hof u. für das Volk [...]. FS Otto G. Schindler. Hg. Brigitte Marschall. Wien u. a. 2002, S. 117–142. – Michael Heinemann: Die Würde der Musik. Zur Auseinandersetzung zwischen Johann Beer u. W. C. P. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist u. Hofbeamter 1655–1700 [...]. Hg. Ferdinand van Ingen u. a. Bern u. a. 2003. S. 305–326. – W. Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, Register. – Birgit Plank: Johann Sieders Übers. des ›Goldenen Esels‹ u. die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen-Rezeption‹ [...]. Tüb. 2004. – Volker Meid: W. C. P. In: MGG 2. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. 941–944. – Thomas Buchner: Der ›Satyrische Componist‹ v. W. C. P. [...] im Wirkungsgefüge des musikökonom. u. musiktheoret. Wandels zum ausgehenden 17. Jh. Winzer 2008. Helmut K. Krausse / Red.

Prischuch, Thomas, † 1419/20. – Verfasser von Reimpaarreden. P. war Augsburger Bürger, als der er seit 1402 u. bis zu seinem Tod 1419/20 urkundet. Er dürfte dem Augsburger Patriziergeschlecht der Breyschuchs/Preyschuchs angehört haben. Seine insg. überschaubare literar. Produktion umfasst ein auf 1396 datiertes Werk, Unser Frauen Guldin Predigt (vermisst), bei dem es sich dem Titel nach um eine Mariendichtung, wohl einen Preis der Gottesmutter, gehandelt hat, u. zwei Reimpaarreden über das Konstanzer Konzil: Des Consili Grundtvest von 1418 (1878 Verse) u. Des Consili Schlussred vom 15.7.1418 (692 Verse). Die erste Rede liefert v. a. einen Katalog der Teilnehmer des Konzils. Ihre einzelnen Nachrichten sind nur be-

Pritius

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dingt historisch zuverlässig, doch erfüllt der Pritius, Johann Georg, auch: J. G. Pri(t)z, ausladende Katalog wesentlich panegyr. * 22.9.1662 Leipzig, † 24.8.1732 FrankFunktion. Die ganze Rede ist König Sigmund furt/M. – Lutherischer Theologe. (1410–1437) gewidmet, dessen Lob sie breit propagiert u. dem sie anlässlich seines Be- P. besuchte die Schule St. Nikolai u. die suchs in Augsburg im Herbst 1418 vom Ver- Universität in Leipzig, um Theologie zu stufasser dediziert worden sein könnte. Das wird dieren, verteidigte dort 18 philosophische u. auch für die zweite, ebenfalls Sigmund ge- theol. Dissertationen (1685 Magister phil., widmete u. die Verdienste des dt. Königs für 1699 Dr. theol. Leipzig). Persönliche Bedas Gelingen des Konzils feiernde Rede ver- kanntschaften mit August Hermann Francke mutet. Obschon P. hier wie dort ein in der u. Philipp Jacob Spener sind nicht ausdrückzeitgenöss. Reimpublizistik prominentes Er- lich bezeugt, werden aber beide als mögl. eignis in einer sehr verbreiteten literar. Gat- Anstöße für P.’ milden Pietismus genannt. tung bearbeitet, präsentieren sich seine Ge- Unter seinen Leipziger Lehrern waren Jacob legenheitsreden nicht anspruchslos. So setzt Thomasius, Valentin Alberti u. Johann Benedie Grundtvest mit einer artifiziellen Bitte um dict Carpzov. 1690 wurde er Sonnabendprehimml. Beistand für den Dichter ein, ver- diger an St. Nikolai, 1698 Professor für wendet öfter gesuchte Reime, u. P. hebt sich Theologie am Gymnasium u. Pfarrer an der mit der Idee von anderer Ereignisdichtung Dreifaltigkeitskirche in Zerbst, 1701 durch ab, das Sprecher-Ich des Textes zunächst im Heinrich XI. von Reuß-Schleiz zum SuperinDialog mit einem fingierten Zeitzeugen vom tendenten in Schleiz berufen. Auf einer Reise 1705 nach Holland u. England kam er u. a. Konzilsgeschehen unterrichten zu lassen. Die Überlieferung der Texte bleibt mit drei mit William Penn in Kontakt. 1705 wurde P. erhaltenen Handschriften u. zwei mittelbar zgl. Hofprediger. Durch die Berufung nach bezeugten schmal u. räumlich im Wesentli- Greifswald (1708) in der Nachfolge von Nichen auf Augsburg beschränkt, wo man sie colaus Dassow als Konsistorialrat, Pfarrer an freilich noch bis ins dritte Viertel des 15. Jh. St. Marien u. o. Theologieprofessor erhielt die kennt. Dort sind zwei der drei erhaltenen dortige theolog. Fakultät auch pietist. Züge. Handschriften geschrieben (München, BSB, Nach dem Tod Johann Daniel Arcularius’ Cgm 568; Heidelberg, UB, Cpg 321); eine 1711 auf das Seniorat des luth. geistl. Minisweitere befand sich im Besitz des Augsburger teriums, 1728 zum Mitgl. des neu eingerichChronisten Burkhard Zink. Eine literar. teten Konsistoriums in Frankfurt/M. berufen, behielt P. diese Stelle trotz ehrenvoller Rufe Nachwirkung ist nicht sichtbar. Ausgaben: Die histor. Volkslieder der Deutschen nach Pommern, Leipzig u. Wittenberg bis zu vom 13. bis zum 16. Jh. Hg. Rochus v. Liliencron. seinem Tod bei. P. blieb unverheiratet. Er Bd. 1, Lpz. 1865. Neudr. Hildesh. 1966, S. 229–257 stiftete 3.000 fl. für theologische sowie 600 fl. (Nr. 50). – Johannes Lochner: T. P.s Gedichte auf für hebräische u. mathemat. Studien. das Konzil v. Konstanz. Bln. 1906, S. 140–156, Der umfassend gebildete P. hat ein breites 157–162. – Geschichtsschreiber der hussit. Bewe- literar. Werk hinterlassen, vielfach praktischgung in Böhmen hg. v. Karl Höfler. Bd. 2, Wien theologischen u. aszet. Fragen zugewandt, 1865. Neudr. Graz 1970, S. 354–399. aber nicht ohne Berücksichtigung der Literatur: Liliencron 1865/1966 (s. o.), S. 228 f. Grundlagenfragen. Eine Ausgabe des griech. – Lochner 1906 (s. o.), passim. – Frieder Schanze: NT (Lpz. 1703. 21709) sowie die Introductio in P., T. In: VL. – Karina Kellermann: Abschied vom 5 ›historischen Volkslied‹. Studien zu Funktion, Äs- lectionem Novi Testamenti (Lpz. 1704. 1764) thetik u. Publizität der Gattung historisch-polit. fallen in seine Schleizer Zeit. Stark an frömEreignisdichtung. Tüb. 2000, S. 229–231 u. ö. (vgl. migkeitl. Fragen interessiert, besorgte er revidierend, verbessernd, bevorwortend u. Register). Michael Baldzuhn übersetzend viele Werke, u. a. Johann Arndts Postille (1713) u. dessen Wahres Christentum (lat., mit den Anmerkungen Johann Georg Dorsches. 1704), ebenso Christian Hoburgs

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Praxis Arndiana. Mit Gottfried Arnold verbindet P. die Hinwendung zu Makarios (er edierte dessen Opuscula. Lpz. 1698. 21714); wohingegen seine (nur späte?) Praxis, für ein ganzes Kirchenjahr die Predigtthemen u. -gliederungen bekannt zu machen – vorhanden für 1729/30 u. 1730/31 (Ffm.: J. A. Junge; Münden 31737, S. 72) –, ihn von Arnolds Predigtweise doch sehr unterscheidet. P.’ Predigten fanden bei einflussreichen pietismusnahen Bürgern, z.B. Johann Christoph Ochs, Anklang. Den »Christenbrand« in Frankfurt am 26.6.1719 nahm P. zum Anlass einer scharf deutenden Predigt Die [...] entsetzliche Feuers-Brunst [...] Als ein Rach- und Warnungs-Feuer [...]. Ffm. 1719 (Buß 2004, S. 75, 104 f., 271). In die damals auflebende Frage einer Wiedergewinnung der Mystik schaltete sich P. mit der Diss. de amore Dei puro, in causa Fenelonensi oratio (Ffm. 1708) ein – wie überhaupt »moderne« Themen vielfach in seinen Dissertationen behandelt wurden. Das Atheismusproblem griff er in damals übl. Weise auf (De Atheismo et in se foedo et in humano generi noxio [...]. Lpz. 1695). Eine Schrift über den Moscovitischen und Konstantinopolitanischen Kirchenstaat (Lpz. 1698) geht wohl auf persönlich-briefl. Verbindungen mit dem Patriarchen von Konstantinopel (Münden 31737, S. 55 f.) sowie mit griechisch-orthodoxen Theologen zurück. Zweiter Nachfolger Speners in Frankfurt/ M., besorgte P. mehrfach Neuauflagen bzw. Umarbeitungen wichtiger aktueller Schriften Speners, z.B. zum Katholizismus oder zur Katechismusunterweisung, z.T. herausgegeben von Johann Friedrich Starck, dem äußerst erfolgreichen Erbauungsschriftsteller, der ab 1723 an der Frankfurter Barfüßerkirche wirkte. P. scheute Konflikte mit dem Magistrat nicht: So veröffentlichte er seine vom Stadtregiment wegen der Anwesenheit einer kaiserl. Kommission ungnädig aufgenommene Frankfurter Reformationsgeschichte, Kurze und deutliche Erzählung [...] (Ffm. 1717). Vom Konsistorium erfuhren P.’ (pietistische) Bestrebungen spürbaren Widerstand. Pfarrern, die bei Kriegsgefahr fliehen wollten, redete P. in der von ihm herausgegebenen u. mit einem Vorwort versehenen Schrift Was willst du laufen, mein Sohn? (Ffm. 1711) ernst-

Pritius

haft ins Gewissen. Sein Ohnmaßgeblicher Vorschlag von größerer Förderung des Heils der Juden (Ffm. 1718) hat ein in Frankfurt/M. immer wieder aufscheinendes Problem im Auge. Daneben verfasste P. auch Sinnsprüche in der Absicht erbaul. Belehrung (Gottselige Gemütsübungen, bestehend in 200 geistlichen Überschriften. Ffm. 1713). In den Acta Eruditorum bis 1706 rezensierte P. in den Jahrgängen 1688–1703 58-mal, u. a. Schriften Daniel Casper von Lohensteins, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus, frz., engl., ital. Werke, lutherische wie reformierte Theologen sowie Ausgaben antiker Schriftsteller. P.’ als vielsprachig, prominent, weitreichend u. inhaltlich vielseitig gerühmter Briefwechsel (Münden 31737, S. 55 f.) ist bisher kaum fassbar. Literatur: Christian Münden: Memoria D. Jo. Georg. Pritii [...]. In: Acta Historica Ecclesiastica 1. Weimar 31737, S. 48–73 (mit Teilbibliogr.). – Johann Georg Walch: Histor. u. theolog. Einl. in die Religions-Streitigkeiten der Evang.-luth. Kirche. Bd. 3, Jena 21733. Neudr. Stgt. 1985, S. 235–236; Bd. 5, Jena 1739. Neudr. mit einem Nachw. v. Dietrich Blaufuß. Stgt. 1985, S. 1157 f. – Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. 3 Bde., Gött. 1893–1906. Neudr. Hildesh. 1988. Bd. 3: Bibliogr., Nr. 3, 138, 70, 169, 51, 173, 304 u. 308. – Stadtbibl. Frankfurt/M.: Kat. der Abt. Frankfurt. Bd. 1: Bearb. Arthur Richel; Bd. 2: Lit. zur Familien- u. Personalgesch., bearb. v. dems. Ffm. 1914. 1929. – Hermann Dechent: Kirchengesch. v. Frankfurt/M. Lpz./Ffm. 1921, S. 123–140. – Helmut Lother: Pietist. Streitigkeiten in Greifswald [...]. Gütersloh 1925 (Register). – Peter Schicketanz: C. H. v. Cansteins Beziehungen zu P. J. Spener. Witten 1967 (Register). – Martin Schmidt: Wiedergeburt u. neuer Mensch. Witten 1969, S. 257 (Hs. London). – Hans Martin Barth: Atheismus u. Orthodoxie [...]. Gött. 1971 (Register). – Hanspeter Marti: Philosoph. Dissertationen dt. Univ.en 1660–1750 [...]. Mchn. u. a. 1982, S. 371, Nr. 6070–6080; S. 165, Nr. 1757; S. 500, Nr. 8800. – Dietrich Blaufuß: Einl. In: Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 4 (u. a. ›Natur u. Gnade‹. 1687. Hg. v. P. 1714), Hildesh. 1984, S. 44, 48–51, 66. – H. Dechent: Senior D. J. G. P. [1919]. In: Ders.: Ich sah sie noch, die alte Zeit [...]. Hg. Jürgen Telschow. Ffm. 1986, S. 85–93 (Abb.). – Gesch. Piet. Bd. 2, S. 199, 221. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1165. – Joachim Dyck u. Jutta Sandstede: Quellenbibliogr. zur Rhetorik [...] des 18. Jh. [...]. Stgt. 1996. – Uwe Buß: Johann Friedrich Starck

Pröhle

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(1680–1756). Leben, Werk u. Wirkung eines Pietisten der dritten Generation. Darmst. 2004. Dietrich Blaufuß

Pröhle, Heinrich Christoph Ferdinand, auch: Christoph Hobohm, Heinrich Roth, * 4.6.1822 Satuelle bei Neuhaldensleben, † 28.5.1895 Steglitz bei Berlin. – Folklorist, Literarhistoriker, Erzähler, Lyriker, Herausgeber.

P. wurde bekannt als Sammler u. Kommentator von Volkssagen, v. a. aus dem Harz (u. a. Kinder- und Volksmärchen. Lpz. 1853. Neudr. mit einem Nachw. v. Helga Stein. Hildesh./New York 1975. Harzsagen. Lpz. 1854. Erg. u. komm. Neuausg. v. Will-Erich Peuckert. Gött. 1857. Deutsche Sagen. Bln. 1863. Brockensagen. Harzburg 1888); er sammelte auch Novellen, Erzählungen, Skizzen u. Volksschauspiele. Aus ähnlich nationalbewusster Gesinnung verfasste P. literarhistor. Abhandlungen über Vorbilder an sittlich-ästhet. Unverdorbenheit (etwa Lessing, Wieland, Heinse. Nach den handschriftlichen Quellen in Gleims Nachlasse. Bln. 1877. Abhandlungen über Goethe, Schiller, Bürger und einige ihrer Freunde. Mit Knesebeck’s Briefen an Gleim. Potsdam 1889) u. besorgte die erste Ausgabe von Christoph Martin Wielands Werken (Wielands Werke. 5 Bde. Bln./Stgt. 1883–87), deren Bände in der Reihe Deutsche National-Litteratur erschienen sind. An P.s lyr. u. erzählerischen Beiträgen rühmte Robert Prutz den »lebendigen, kräftigen Patriotismus« (in: Deutsches Museum, Nr. 35, 1859) u. das Ungekünstelte des Ausdrucks. In seinen Patriotischen Erinnerungen (Bln. 1873) verarbeitete P. den dt.-frz. Krieg u. bezog mit seinen Neuen Liedern aus Wittenberg gegen Rom (Wittenb. 1875) auch Stellung im preuß. Kulturkampf.

Der Sohn des luth. Pfarrers u. Dichters Andreas Pröhle (1797–1875) studierte Geschichte u. Philologie in Halle u. Berlin, wo ihn Jacob Grimm zu folklorist. Studien anregte, denen er als freier Schriftsteller 1846 bis 1856 nachging. 1847 unternahm P. eine Studienreise durch Ungarn, Oberösterreich u. Tirol. Während der Revolutionsjahre 1848/49 war er im Auftrag der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« in Wien (vgl. Aus dem Kaiserstaat. Wien 1849). Zuvor gründete er bereits als Herausgeber das nur in einem Jahrgang erschienene »Norddeutsche Jahrbuch für Poesie und Prosa« (1847), in dem auch sein Gedicht Wie die Bergleute die Weber totgeschlagen haben publiziert wurde, das ein Ereignis aus dem schles. Weberaufstand thematisiert. Ab 1851 lebte P. vorwiegend in Wernigerode u. schrieb hier seine idyll. Zeitromane Walddrossel (Dessau 1851) u. Der Pfarrer von Weitere Werke: Dt. Leben. Novellen, ErzähGünrode (Lpz. 1852). Nach Vermittlung durch lungen u. Skizzen. Lpz. 1853. – Feldgarben. BeiWilhelm Grimm u. Karl Simrock wurde P. träge zur Kirchengesch., Literaturgesch. u. Cul1855 bei Friedrich Christoph Dahlmann mit turgesch. Lpz. 1859. – Gedichte. Lpz. 1859. – einer volkskundl. Arbeit über die Brockensa- Philipp Melanchthon. Bln. 1860. Literatur: Brümmer 5. – Ludwig Geiger: Berlin gen promoviert. Im gleichen Jahr erschien auch P.s Biografie von »Turnvater« Jahn 1786–1890. Bln. 1895. – Rainer Kutscher: Zum 10. (Friedrich Ludwig Jahn’s Leben. Nebst Mittheilun- Todestag v. Dr. H. P. In: Heimatblätter für den südwestl. Harzrand 50 (1994), S. 57–62. gen aus seinem literarischen Nachlasse. Bln. John A. McCarthy / Bernhard Walcher 1855), die als Beitrag »zur Erweckung und Belebung patriotischen Sinnes« zu verstehen ist, wie es im Untertitel von P.s 1861–1862 Prokesch von Osten, Anton Graf (seit erschienener Zeitschrift »Unser Vaterland. 1871), * 10.12.1795 Graz, † 26.10.1876 Blätter für deutsche Geschichte, Cultur und Wien; Grabstätte: Graz, St.-LeonhardHeimathkunde« heißt. Durch seine HerausFriedhof. – Orientalist, Historiker, Reisegebertätigkeit u. literar. Arbeiten konnte P. schriftsteller. allerdings seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten u. nahm deshalb 1859 eine Stelle als P. erwarb sich – neben seiner glänzenden Lehrer an der Louisenstädtischen Realschule Karriere als Militär u. Diplomat – den Ruf in Berlin an. eines bedeutenden Altertumswissenschaftlers

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Prokop von Templin

u. Reiseschriftstellers. Der Sohn eines bür- Orients wider; die formal glatten, mit Bilgerl. Staatsbeamten brach 1813 sein Jurastu- dungsgut überfrachteten Elegien, Sonette u. dium ab u. schlug die militär. Laufbahn ein; Stimmungsbilder sind der klassizist. Tradier nahm als Kriegsfreiwilliger am Feldzug tion ebenso verhaftet wie der Gefühlskultur gegen Napoleon teil u. wurde 1818 Adjutant des Weltschmerzes. des Fürsten Schwarzenberg (dessen DenkWeitere Werke: Briefw. zwischen Julius würdigkeiten P. 1822 herausgab). In Wien ver- Schneller u. seinem Pflegesohn P. Hg. Ernst kehrte P., der auch als vaterländ. Lyriker di- Münch. Stgt. 1840. – Mehemed Ali, Vicekönig v. lettierte, in den Zirkeln der Karoline Pichler Ägypten. Aus meinem Tagebuche 1826–41. Wien u. des Hofrats Hammer-Purgstall. 1823 wur- 1877. – Briefw. mit Herrn v. Gentz u. Fürst Metde er nach Triest beordert; von der Zeitströ- ternich. 2 Bde., Wien 1881. – Aus den Tagebüchern. 1830–34. Hg. Anton Prokesch v. Osten. Wien mung des Philhellenismus erfasst, bereiste er 1909. als Marineoffizier die Levante u. erlebte den Auswahlausgaben: Abendland-Morgenland. griech. Aufstand von 1824 mit. Hg. Ernst Joseph Görlich. Graz/Wien 1956. – ›Und Von seinen Reisen berichtete P. in Erinne- nur das Wandern ist mein Ziel‹. Hg. Georg Pflinrungen aus Ägypten und Kleinasien (3 Bde., Wien gersdorffer. Graz 1978. 1829–31), Das Land zwischen den Katarakten des Literatur: Anton Berger: P. Graz 1921. – Nil, Reise in das Heilige Land (beide Wien 1831) Friedrich Engel-Janosi: Die Jugendzeit des Grafen u. Denkwürdigkeiten und Erinnerungen aus dem P. Innsbr. 1938. – Lawrence Ross Beaber: A. P. and Orient (eine Zusammenstellung von Briefen Austria’s Balkan Policy 1860–72. Diss. Philadelphia P.s an seinen Förderer, den liberalen Histo- 1973. – Lorenz Mikoletzky: A. Graf P. 1795–1876. riker Julius Schneller, aus dessen Nachl. hg. v. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch., 3. F., 12 (1976), Ernst Münch. 2 Bde., Stgt. 1836/37), die eine S. 183–203. – Eugen Thurnher: A. v. P. u. Ernst v. Fülle an archäologischem, kunstgeschichtl. u. Lasaulx. Zur Frage der Palästinafahrten im 19. Jh. topograf. Material enthalten u., in ihrer Mi- In: Ders.: Wort u. Gesch. Innsbr. 1990, S. 281–301. – Daniel Bertsch: P. v. O. In: NDB. – Ders.: A. P. v. schung aus Erlebnisberichten, empfindsamer O. Mchn. 2005. Cornelia Fischer / Red. Naturschilderung u. histor. Studie, als eine gelungene Synthese von anspruchsvoller literar. Darstellung u. wiss. Arbeit gelten dürProkop von Templin, Procopius v. T., fen; Alexander von Humboldt nannte P. den * 1608 Templin/Uckermark, † 22.11.1680 »vollendeten Forschungsreisenden«. Linz. – Kapuzinerprediger u. LiederdichSein Verhandlungsgeschick, polit. Weitter. blick u. nicht zuletzt seine militär. Erfolge qualifizierten P., der seit seiner Erhebung in P. wurde als Sohn einer protestantischen den Ritterstand 1830 das Prädikat »von Os- bürgerl. Familie in Brandenburg geboren. ten« im Namen führte, für die diplomat. Nach dem großen Brand in Templin 1618 Laufbahn. Nach Missionen in Bologna, Rom verließ er seine Vaterstadt u. ging nach Berlin, u. Alexandrien war P. ab 1834 Gesandter am wo er vermutlich das dortige Gymnasium griech. Hof. In diesen Jahren entstand sein besuchte. 1625 im Dienst eines kaiserl. Offihistor. Hauptwerk, die Geschichte des Abfalls der ziers nach Böhmen gesandt, konvertierte er in Griechen vom türkischen Reiche (6 Bde., aus polit. Prag zum Katholizismus u. trat 1627 in Wien Gründen erst Wien 1867 ersch. Neudr. Graz in den Kapuzinerorden ein. Mit seiner Ver1970). 1849–1853 war P. Gesandter in Berlin, setzung nach Maria Zell, einem Wallfahrtsort anschließend österr. Delegierter am Bundes- in der Steiermark, einige Jahre später begann tag in Frankfurt/M., 1855–1871 schließlich seine unermüdl. Tätigkeit als WanderprediInternuntius an der Hohen Pforte in Kon- ger. Er durchzog Ober- u. Niederösterreich, stantinopel. Böhmen u. Süddeutschland, bis man ihn P.s Gedichte, die 1844 im sechsten Band 1642 wieder nach Wien, dann nach Linz u. der Kleinen Schriften gesammelt erschienen schließlich ins Kloster Mariahilf bei Passau (Hg. Hermann Fürst Pückler-Muskau. 7 Bde., berief. Die Passauer Periode war die Blütezeit Stgt. 1842–44), spiegeln die Eindrücke des seines dichterischen Schaffens. Hier entstan-

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den die Marienlieder, die P.s Ruhm begründeten; von Georg Kopp u. den Patres Berenger u. Albin vertont, erschienen sie, mit Noten versehen, in vier Bänden: Mariae Hülff EhrenKräntzel (Passau 1642), Der groß-wunderthätigen Mutter Gottes Mariae Hülff Lob-Gesang (Passau 1659), Hertzen-Frewd und Seelen-Trost (2 Tle., Passau 1660/61), Mariae Hülff ob Passaw Gnaden-Lust-Garten (an., Passau 1661). Auch die Marienpredigtsammlung Mariale (2 Tle., Salzb. 1665) enthält zahlreiche Marienlieder. In Passau wirkte P. über zehn Jahre, bis während des Erdbebens 1662 sein Kloster niederbrannte. Seit 1663 lebte er in Salzburg. Hier wurde der Großteil seiner insg. über 2000 Predigten umfassenden Sammlungen verlegt, von denen mehrere noch zu seinen Lebzeiten Neuauflagen erlebten. Kurz vor seinem Tod übersiedelte er in das Linzer Kapuzinerkloster. In den volksnahen Predigten, aus denen Weltoffenheit u. Menschenfreundlichkeit sowie Sanftmut sprechen, passte sich P. sprachlich – er setzte auch die Mundart ein – u. stofflich den Bedürfnissen, dem Geschmack u. der Lebenserfahrung seiner ungebildeten Zuhörer an. Seine schlichten Texte sind poetisch u. visionär, wirken teilweise naiv u. frisch, auch wenn sie mit ihrer allegorisch-emblemat. Bildlichkeit den Gestaltungsprinzipien der Barockpredigt verpflichtet bleiben. 1661–1666 erschienen in Passau zwölf Bände mit Predigten, nummeriert als Opusculum I bis XII. Noch 1666 wurden alle Opuscula als Sammelwerk verlegt: Lignum vitae [...] Das ist: Jn drey Tomos abgetheilte zwölff Opuscula (Mchn.). Im selben Jahr erschien am gleichen Ort der erste Band der Kirchenjahrpredigten, Adventuale, ac natale Iesu Christi (4 Tle.), die bis 1676 in weiteren fünf, in Salzburg gedruckten Bänden fortgesetzt wurden: Quadragesimale et passionale (5 Tle., 1666), Dominicale paschale (4 Tle., 1667. Neuausg. 2 Tle., 1669), Dominicale aestivale (4 Tle., 1667), Dominicale triennale primum (1676). Vielen Predigten hat P. Lieder angehängt. Oft vom Prosatext losgelöst, befassen sie sich mit Fragen der einfachen Leute, verfolgen aber in ihrem seelsorgerischen Anliegen immer denselben Zweck wie die Predigt. Die

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schlichte, an das altdt. Kirchen- u. Volkslied angelehnte Form der Gesänge hat Arnim u. Brentano dazu bewogen, einige in Des Knaben Wunderhorn aufzunehmen. Mit seinem in der einheimischen oberdt. Sprachtradition verwurzelten Werk steht P. wie andere Kapuzinerdichter abseits von der gelehrten, nach sprachl. u. formalen Reformen strebenden Literatur des dt. Barock u. ist bemüht, die geistigen Werte seiner Epoche den unteren Volksschichten zugänglich zu machen. Weitere Werke: Sanctorale [...]. Salzb. 1666. Verm. ebd. 1668. – Mariale concionatorium, rhythmo-melodicum [...]. 3 Tle., Salzb. 1667 (2 Tle. ersch. 1665 u. d. T. ›Mariale‹). – Funerale [...]. 4 Tle., Salzb. 1670. – Encaeniale [...]. Salzb. 1671. – Patrociniale [...]. Salzb. 1674. – Catechismale [...]. 6 Bde., Salzb. 1674/75. – Sacrum epithalamium [...] Das Hohe Lied des Salomonis [...]. Mchn. 1678. – Tugend-Spiegel aller Zucht-liebenden ClosterJungfrauen [...]. Sulzbach 1679. Ausgaben: Barocklyrik. Hg. Herbert Cysarz. Bd. 3, Lpz. 1937, S. 140–142. – Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 463–481, 868–870, 1283 f. – Encaeniale [...] (1671). Nachdr. mit Komm., Glossar u. Bibliogr. hg. v. Dieter Bitterli. 2 Bde., Amsterd. u. a. 1990. Literatur: Bibliografien: Pyritz 2, S. 538. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Register. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3239–3254. – VD 17. – Weitere Titel: Veit Gadient: P. v. T. [...]. Regensb. 1912. – August H. Kober: P. v. T. 1609–80. In: Euph. 21 (1914), S. 520–546, 702–736; 22 (1915), S. 25–53, 268–287. – Sebastian Wieser: P. v. T., ein dt. Paulus im 17. Jh. Mönchen-Gladbach 1916. – August Heinrich Kober: Die Mariengedichte des P. v. T. Borna/Lpz. 1916. – Eleonore Kinsky: Das Predigtwerk des Paters P. v. T. Diss. Wien 1962. – Urs Herzog: Der Roman auf der Kanzel. P. v. T., ein erster Leser v. Grimmelshausens ›Simplicissimus‹. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 99–110. – Philip V. Brady: P. v. T. (1608–80). ›Redner‹ u. ›Poet‹. Zur volksbezogenen Praxis eines dichtenden Kapuziners. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. [...]. Hg. Wolfgang Brückner u. a. Tl. 2, Wiesb. 1985, S. 527–541. – Ders.: P. v. T. A Seventeenth-Century German Capuchin and the Arts of Communication. In: Collectanea franciscana 55 (1985), S. 33–51. – HansGeorg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2, Tüb. 1987, Register. – Friedhelm Kemp: P. v. T., ein süddt. Barockprediger. Mchn. 1987. – U. Herzog: ›Der Beerin Ampt u. Dienst‹, geistlicherweise.

Prosch

343 In: Simpliciana 11 (1989), S. 149–159. – HKJL, Bd. 2, Sp. 156–171, 1686 f. u. Register. – Elisabeth Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. – Peter Ilgen: P. v. T. (1608–80) u. das kath. dt. Kirchenlied im 17. Jh. In: Kirchenmusikal. Jb. 80 (1996), S. 81–115. – Leonhard Fethke: P. aus T. 1608–80 als Dichter [...]. Binningen 1998. – Die Imm der Blum zuflieht. P. v. T. Hg. Rosmarie Zell. Binningen 22008 (12001). – Dieter Breuer: Die Lieddichtung des Procopius v. T. In: MorgenGlantz 14 (2004), S. 53–76. – Klaus Schreiner: Siegbringende Marienbilder [...]. In: Literar. u. religiöse Kommunikation in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Peter Strohschneider. Bln./New York 2009, S. 844–903. Ewa Pietrzak / Red.

Prokop, Gert, * 11.6.1932 Richtenberg bei Stralsund, † 1.3.1994 Berlin (Freitod). – Märchen-, Kriminalroman- u. ScienceFiction-Autor. P., der seit 1950 in (Ost-)Berlin lebte, studierte zwei Semester an der Kunsthochschule Weißensee, war 1952–1967 Journalist bei der »Neuen Berliner Illustrierten« u. 1967–1970 Filmdokumentarist. Seit 1971 war er freier Schriftsteller. Neben Märchenbüchern wie Der Drache mit den veilchenblauen Augen (Bln./ DDR 1973) u. Der kleine Riese (Bln./DDR 1976) waren seine Kriminalgeschichten für Kinder bes. erfolgreich, so Detektiv Pinky (Bln./DDR 1982), im Jahr 2001 von Stefan Lukschy als Pinky und der Millionenmops verfilmt. Der Kriminalroman Das todsichere Ding (Bln./DDR 1986) behandelt einen sorgfältig recherchierten Fall von Computerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Die »Kriminalgeschichten aus dem 21. Jahrhundert«, Wer stiehlt schon Unterschenkel? (Bln./DDR 1977. U. d. T. Der Tod der Unsterblichen. Mchn. 1977) u. Der Samenbankraub (Bln./DDR 1983), schildern die Vereinigten Staaten von Amerika als ein dekadentes, hoch technisiertes, ideologisch grotesk verzeichnetes Land, in dem der skurril-geniale Privatdetektiv Timothy Truckle, ein perfekt getarnter Agent des als humanistisch beschriebenen kommunist. Untergrunds, ausgeklügelte futurist. Kriminalfälle löst. Die Kurzgeschichtenbände Die Phrrks (Bln./DDR 1989) u. Null minus unendlich (Bln. 1994) enthalten abwechslungs-

reiche, oft pointiert satir. u. humorvolle Variationen beliebter Science-Fiction-Themen. Weitere Werke: Johannes R. Becher – Bildchronik seines Lebens. Bln./DDR 1963 (Sachbuch, mit Lilly Becher). – Der Tod des Reporters. Bln./ DDR 1973 (Kriminalroman). – Einer muss die Leiche sein. Bln./DDR 1976 (Kriminalroman, verfilmt 1977 v. der DEFA, Regie: Iris Gusner). – Die Maus im Fenster. Bln./DDR 1980. – Der Hausflug. Bln./ DDR 1989. – So blond, so schön, so tot. Bln. 1994 (Kriminalroman). – Herausgeber: Die Sprache der Fotografie. Foto-Lesebuch. Bln./DDR 1978. Franz Rottensteiner

Prosa-Lancelot ! Lancelot Prosch, Peter, * 28.6.1744 Ried im Zillertal/Tirol, † 5.1.1804 Ried im Zillertal/Tirol. – Verfasser einer Autobiografie. P. war das jüngste von elf Kindern einer armen Tiroler Bauernfamilie. Nach dem Tod der Eltern verdiente der 9-Jährige seinen Lebensunterhalt als Hirtenbub u. Ölträger u. wurde Läuferlehrling beim Fürsten von Thurn und Taxis. Mit 13 Jahren erhielt P., der seine naive Naturwüchsigkeit geschickt zu inszenieren wusste, bei einer Audienz von Maria Theresia Geld für ein Häuschen u. das Brennrecht. Der mit Handschuhen hausierende P. gelangte an den österreichischen, süddt. u. rheinischen Höfen zu einer gewissen Berühmtheit, indem er als Hofnarr den Herrschaften nach Tisch die Zeit vertrieb. Die durchaus menschenunwürdigen Veranstaltungen der Hofgesellschaften ließ P. in der Gewissheit guter Entlohnung über sich ergehen, um den Preis schizophrener Zustände mit Selbstmordversuchen, die er in seiner Autobiografie beschrieben hat. Höhepunkt seiner Karriere als »Hoftyroler« war der Besuch bei Marie Antoinette in Paris 1786, mit der er über ihre Mutter plauderte (»ein solches Weibsbild trägt die Erde nicht mehr«). Als mit der Französischen Revolution die Zeit der Hofnarren zu Ende ging, zog sich der inzwischen wohlhabende P. als Gast- u. Landwirt in seine Heimat zurück. Seine im selben Jahr wie Bräkers Autobiografie erschienene Lebensbeschreibung gehört durch die Schilderung des höfischen (aber auch des bäuerl.) Lebens, durch P.s ei-

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gene ungewöhnl. Rolle u. die (häufig gespielte) Naivität der Darstellung zu den sonderbarsten der dt. Literatur. Sie darf auch als Beitrag zum Thema feudalabsolutist. Inhumanität »in den Zeiten der Aufklärung« gelesen werden. Ausgabe: Leben u. Ereignisse des P. P., eines Tyrolers v. Ried im Zillerthal, oder Das wunderbare Schicksal, Geschrieben in den Zeiten der Aufklärung. Mchn. 1789. Neudr., hg. v. Karl Pörnbacher. Mchn. 1964.

(R.). – Österr. Volks- u. Jugendschr.en zur Hebung der Vaterlandsliebe. 24 Tle., Wien 1876–84. Ausgabe: Ges. Schr.en. Hg. Hermine Proschko. 6 Bde., Warnsdorf u. Wien 1901–09. Literatur: Hans Maria Truxa: Der österr. Dichter u. Schriftsteller Dr. F. I. P. Wien 1892. Gerald Leitner / Red.

Prutz, Robert (Eduard), * 30.5.1816 Stettin, † 21.6.1872 Stettin. – Literaturhistoriker, Publizist, Dramatiker, Lyriker, RoLiteratur: Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinmanautor. nerte Ich. Mchn. 1974, S. 157–161. Christoph Weiß / Red.

Proschko, Franz Isidor, auch: F. von Hohenfurth, * 2.4.1816 Hohenfurth/Böhmen, † 6.2.1891 Wien. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. Der früh verwaiste P. studierte in Prag Rechts- u. Staatswissenschaft. Während seiner Tätigkeit als Polizeikommissär in Linz setzte er seine Studien fort (Dr. phil. Gießen 1852; Dr. jur. Wien 1857). Er war befreundet mit Adalbert Stifter. Seine konservative u. patriot. Einstellung, die ihm eine Reihe von hohen Orden u. Auszeichnungen bescherte, stellte P. während der 1848er Unruhen nicht nur durch sein Eingreifen als Polizeikommissär, sondern auch durch epische u. lyr. Publikationen unter Beweis, die 1849 u. d. T. Fels und Aster (Wien/ Lpz.) gesammelt erschienen. Hervorzuheben an P.s literar. Schaffen ist v. a. seine enorme Produktivität. In mehr als 50 Erzähl-, Gedicht- u. Dramenbänden mit meist histor. Sujets, die zahlreiche Neuauflagen u. Übersetzungen erfuhren, suchte er eine katholische u. patriot. Gesinnung zu erwecken. Weitere Werke: Leuchtkäferchen. Regensb. 1849 (Fabeln u. Parabeln). – Die Höllenmaschine. 2 Bde., Prag 1854 (R.). – Ein dt. Schneiderlein. 2 Bde., Prag 1856 (R.). – Der Jesuit. 2 Bde., Prag 1857 (R.). – Pugacˇew. 2 Bde., Prag 1860 (R.). – Ein böhm. Student. 2 Bde., Prag 1861. – Der letzte der Rosenberge. Wels 1861 (R.). – Der Jugend Feierstunde. 2 Bde., Prag 1861/62 (L. u. E.en). – Der Peter in der Luft. Linz 1863 (E.en). – Der schwarze Mann. 3 Bde., Wien 1867 (R.). – Ein Hexenproceß. Wien u. Pest 1866 (R.). – Erasmus Tattenbach. Graz 1873

P., der einer Kaufmannsfamilie entstammte u. früh seinen Vater verlor, studierte 1834 bis 1838 klass. Philologie in Berlin, Breslau u. Halle. Nach Abschluss seiner Promotion u. kurzer Rückkehr nach Stettin bezog P. eine Wohnung im Haus seines Freundes Arnold Ruge in Halle u. machte seit 1839 durch seine rege Mitarbeit an den Hallischen »Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst« auf sich aufmerksam. Redaktionelle Beteiligung u. erste Veröffentlichungen polit. Gedichte in der 1842 gegründeten u. 1843 wieder verbotenen »Rheinischen Zeitung« führten zu ersten Konflikten mit Staat u. Zensur. Zwei Habilitationsversuche an den Universitäten Jena u. Halle scheiterten in den folgenden Jahren an polit. Widerständen, 1843 wurde P. aufgrund seiner Bekanntschaft mit Herwegh u. der Publikation eines unzensierten Gedichts auf Dahlmann aus SachsenWeimar ausgewiesen. Die aristophan. Komödie Die politische Wochenstube (Zürich/Wintherthur 1845), in welcher er auf die zeitgenöss. polit. Verhältnisse hinweist u. über die Regierung Preußens spottet, wurde verboten u. brachte P. einen Prozess wegen Hochverrats u. Majestätsbeleidigung ein. Ungeachtet verschiedener Rede-, Publikations- u. Aufführungsverbote gelang es P. dennoch, sich als Bühnenautor, Lyriker, Publizist u. Literaturhistoriker einen Namen zu machen. Nach kurzer Beschäftigung als Dramaturg am Hamburger Stadttheater u. vorübergehender Vortragstätigkeit in Dresden ging er anlässlich der Märzereignisse 1848 nach Berlin, wo er als führendes Mitgl. des von Ludwig Crelinger gegründeten »Constitutionellen Clubs« wirkte. 1849 durch die Fürsprache

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Alexander von Humboldts von Friedrich Wilhelm IV. zum a. o. Prof. für Literaturgeschichte an der Universität Halle ernannt, bekleidete er diese Funktion neun Jahre. Von Kollegen öffentlich angefeindet u. gesundheitlich geschwächt, nahm der von seinen Studenten als »Fahnenträger der Hallenser liberalen Jugend« (Julius Grosse) gefeierte P. 1858 seinen Abschied. Er ließ sich als Publizist, Dichter u. Privatgelehrter in Stettin nieder u. erwarb sich große Anerkennung durch seine unermüdl. Vortragstätigkeit als Literaturhistoriker. 1865 wurde er von der Deutschen Schillerstiftung zum Pensionär auf Lebenszeit ernannt. Seine im Gedicht Mai 1866 spontan zum Ausdruck kommende Empörung über den Krieg Preußens gegen Österreich brachte ihm eine dreimonatige Gefängnisstrafe ein, die er jedoch aufgrund der Amnestie von 1866 nicht zu verbüßen brauchte. Aus der Fülle seines Schaffens ragen v. a. die aus liberaler Oppositionshaltung heraus geschriebenen satir. Zeitgedichte (Gedichte. Neue Sammlung. Zürich/Wintherthur 1843), sein an der Weberthematik orientierter Roman Das Engelchen (3 Bde., Lpz. 1851. Neudr. Gött. 1970) u. seine an Gervinus’ u. Schlossers Methodik anknüpfenden literarhistor. Arbeiten heraus (Der Göttinger Dichterbund. Lpz. 1841. Neudr. Bern 1970. Geschichte des deutschen Journalismus. Tl. 1, Hann. 1845. Neudr. Gött. 1971. Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters. Bln. 1847. Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1849. 2 Bde., Lpz. 1859). Hervorzuheben sind auch P.’ »Litterarhistorisches Taschenbuch« (1843–48) u. das zus. mit Wilhelm Wolfsohn 1851 gegründete »Deutsche Museum« (Lpz.), das er bis 1866 redigierte u. mit dem er in einem politischaufklärerischen Sinne in der breiten Öffentlichkeit wirken wollte. P.’ theoretische wie dichterische Werke gründen auf der Überzeugung, Literatur sei nicht primär ästhetisch-autonom, sondern als geschichtl. Teilbereich an einer demokrat. Fortschrittsbewegung beteiligt, die zur absolutistisch-restaurativen Wirklichkeit eine liberale Gegenöffentlichkeit darstelle: »Die Theorie muß zur Praxis, die Literatur zum Leben werden – ganz gewiß! Aber nur auf welchem andern

Prutz

Wege kann und soll dies geschehen, als auf dem Wege allmählicher Vermittlung, indem wir das spezielle literarische Bewußtsein zum allgemeinen nationalen erweitern und, mit einem Worte, die Literatur hinüberleiten in die Massen.« (Über die gegenwärtige Stellung der Opposition in Deutschland). Der Verklammerung von Kunst u. polit. Volkserziehung gemäß greift P. für seine Werke auf bewährte, bisweilen triviale Formen zurück, die polit. Inhalte wie die der Presse- u. Meinungsfreiheit, der Volkssouveränität oder Forderungen nach einer konstitutionellen Monarchie transportieren. Gängigen genrespezif. Vorbildern bleiben sowohl die polit. Dichtung, seine von Sue u. Dickens beeinflussten Romane als auch die histor. Dramen (Erich XIV., der Bauernkönig. Lpz. 1843. Karl von Bourbon. Hann. 1845. Moritz von Sachsen. Lpz. 1847) verhaftet. Als Literaturhistoriker war sein Versuch, den vagen Subjektivismus der »ästhetisierenden Literaturgeschichte« (Prutz) durch die konsequente Einbeziehung einer histor. Betrachtungsweise zu überwinden, richtungweisend. Prägend waren die an Hegel orientierten methodolog. Postulate der Text- u. Subjektkritik sowie die Forderung einer quellengestützten Arbeit, die regelgeleitet u. in krit. Distanz zur literaturhistor. Urteilsfindung gelangen sollte – beispielsweise in der Geschichte des deutschen Journalismus. P.’ Professionalisierungstendenzen werden auch heute noch von der Wissenschaft als außerordentl. Leistung hervorgehoben, während seine Dichtung in den Literaturgeschichten eher geringe Berücksichtigung findet. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1841. – Ein Märchen. Lpz. 1841 (L.). – Badens Zweite Kammer. Zürich/Winterthur 1842 (L.). – Die Polit. Poesie der Deutschen. Lpz. 1845. – Kleine Schr.en. Zur Politik u. Lit. 2 Bde., Merseburg 1847. – Vorlesungen über die dt. Lit. der Gegenwart. Lpz. 1847. – Dramat. Werke. 4 Bde., Lpz. 1847–49. – Neue Gedichte. Mannh. 1849. – Zehn Jahre. Gesch. der neuesten Zeit. 1840–50. 2 Bde., Lpz. 1850 u. 1856. – Felix. 2 Bde., Lpz. 1851. – Die Schwägerin. Dessau 1851 (N.). – Neue Schr.en. Zur dt. Lit.- u. Kulturgesch. 2 Bde., Halle 1854. – Der Musikantenthurm. 3 Tle., Lpz. 1855 (R.). – Helene. Ein Frauenleben. 3 Bde., Prag/Lpz. 1856 (R.). – Goethe. Lpz. 1856. – Ludwig Holberg. Stgt./Augsb. 1857. – Oberndorf. 3 Bde.,

Przybyszewski

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Prag/Lpz. 1857–62 (R.). – Aus der Heimat. Lpz. 1858 (L.). – Dt. Dichter der Gegenwart. Prag/Hbg. 1859. – Aus goldenen Tagen. Prag/Hbg. 1861 (L.). – Menschen u. Bücher. Biogr. Beiträge zur dt. Lit.- u. Sittengesch. des achtzehnten Jh. Lpz. 1862. – Herbstrosen. Mchn. 1865 (L.). – Buch der Liebe. Lpz. 1869 (L.). – Schr.en zur Lit. u. Politik. Hg. Bernd Hüppauf. Tüb. 1973. – Zwischen Vaterland u. Freiheit. Eine Werkausw. Hg. Hartmut Kircher. Geleitwort Gustav W. Heinemann. Köln 1975. – R. P. (Hg.): Constitutionelle Club-Ztg. Bln. 1848. Literatur: Georg Büttner: R. P. Diss. Lpz. 1912. – Herbert Neumann: R. P. u. seine Kom.n. Diss. Marburg 1913. – Ernst Hohenstatter: Über die polit. Romane v. R. P. Diss. Mchn. 1913. – Anton Dietrich: R. P. als polit. Tendenzdichter. Diss. Wien 1928. – Karl-Heinz Wiese: R. E. P.’ Ästhetik u. Literaturkritik. Diss. Halle 1933. – Werner Spilker: R. P. als Zeitungswissenschaftler. Diss. Lpz. 1937. – Ingrid Pepperle: Arnold Ruge u. R. E. P. [...]. Diss. Bln. 1971. – Reinhard Lahme: Zur literar. Praxis bürgerl. Emanzipationsbestrebungen. R. E. P. Ein Kap. aus den Anfängen der akadem. Literaturwiss. im 19. Jh. Erlangen 1977. – Edda Bergmann: Ich darf das Beste, das ich kann, nicht tun. R. E. P. (1816–1872) zwischen Lit. u. Politik. Würzb. 1997. – Dies.: P. In: NDB. – Michael Ansel: P., Hettner u. Haym. Hegelian. Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung u. philolog. Quellenkritik. Tüb. 2003. York-Gothart Mix / Carolina Kapraun

Przybyszewski, (Felix) Stanislaw, * 7.5. 1868 Lojewo/Polen, † 23.11.1927 Jaronty/ Polen; Grabstätte: Góra, Dorffriedhof. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Essayist u. Übersetzer. /

»Man hat mich in meinem eigenen Vaterland proskribiert, weil ich den sinnlosen Mut hatte, nicht nach dem lächerlich billigen Lorbeer der Straße zu langen« – so P., dessen größte literar. Erfolge in seine dt. Schaffensphase fielen, an Richard Dehmel 1907. Der Sohn eines Dorfschullehrers besuchte die dt. Gymnasien in Thorn (1881–1884) u. Wongrowitz (1884–1889). Anschließend begann er in Berlin Architektur zu studieren, wechselte bald zur Medizin; auf eine Verhaftung wegen seiner Kontakte zur Arbeiterbewegung folgte 1893 die Relegation. Vor das Scheitern seines »schönsten Wunschtraums von einer Professur in der Psychiatrie« ge-

stellt, folgte er dem Rat des Berliner Arztes Dr. Max Asch (»Jetzt bleibt Ihnen nur die Literatur«), im Schreiben sein Lebensglück zu versuchen. Obwohl das Polnische seine Muttersprache war, schrieb P. zunächst in dt. Sprache. Gefördert von dem Literaturkritiker Franz Servaes, debütierte er mit der essayist. Abhandlung Zur Psychologie des Individuums (2 Tle., Bln. 1892). Über Nacht im literar. Berlin berühmt geworden, Offenbarung der exotischen »slavischen Seele« u. Künder der europ. Moderne in einem, avancierte P. neben Strindberg (der über ihn das Etikett »der geniale Pole« in Umlauf brachte) zum Kopf der Berliner u. skandinav. Bohemiens in deren berühmter Stammkneipe »Zum schwarzen Ferkel«, wo er sich mit Richard u. Ida Dehmel befreundete. P., der auch Kontakte zum Friedrichshagener Kreis (Olla Hansson) pflegte, war 1895 Mitbegründer der modernist. Zeitschrift »Pan«, veröffentlichte aber auch in Karl Kraus’ »Fackel« u. in der »Freien Bühne«. In seiner Berliner Schaffensphase (1892 bis 1898) war P. »vielleicht der einzige ganz und gar konsequente Vertreter des Fin de siècle im slawischen und deutschen Sprachgebiet« (Willy Haas) u. als Androgynist u. Satanist stand er in seinem Milieu auch vereinsamt da. Seiner Philosophie der Kunst lagen Schopenhauers Determinismus u. Nietzsches Individualismus zugrunde. Der Auffassung des Künstlers als »Übermensch« folgend, leugnete er jedwede soziale, polit. oder eth. Aufgabe der Kunst, sah diese vielmehr nur in der Erkenntnis der »nackten Seele«. Nötig hierfür sei die Analyse des Sexuellen u. des Pathologischen, also der Bereiche, die sich der Kontrolle des Bewusstseins entziehen. Die Sexualität sah P. als kosm. Macht: »Im Anfang war die Lust«, heißt es in dem Prosagedicht Totenmesse (Bln. 1893), mit dem er dank eigener, bisher ungeahnter metaphorischer Synästhesie als sprachgewaltiger Dichter von Rang in die dt. Literatur fand. Ins Extrem trieb er die für die Literatur des Fin de siècle typische Dämonisierung des Erotischen in seiner lyr. Erzählung De Profundis (Bln. 1895), in der sich die begehrte Frau schließlich zum blutsaugenden Vampir wandelt. Die beiden erwähnten Werke fügen sich mit ebenfalls in

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lyrischer Prosa (»poèmes en prosa«, so P.) gehaltenen Vigilien (1895), Epipsychidion (1900) u. Androgyne (1906) zu dem von P. so genannten Pentateuch zusammen, der den Frühexpressionismus in der dt. Literatur markiert u. heute als eines der Hauptwerke der europ. Moderne gilt. Von seinen Romanen, die performance-artige (Steltner) Manifestationen seiner Anschauungen zur Kunst, Erotik u. der Metaphysik des Bösen sind, war Homo sapiens (3 Bde., Bln. 1896) bes. erfolgreich. Die Handlung dieser Trilogie ist eher flüchtig skizziert; das eigentl. Interesse des Autors gilt der psycholog. Analyse (mit der er Freuds psychoanalyt. Theorie vorwegnimmt), wozu er sich des stellenweise monströs langen inneren Monologs bedient. P.s neuartiges Verfahren bestand darin, das fiktive Schema seiner Romane mit autobiogr. Stoff aufzufüllen. Dabei brach er ethische, v. a. kulturbedingte Normen des Sexualverhaltens, um daraus ästhet. Valeurs abzuleiten. Das alte Dilemma Ethik vs. Ästhetik erhielt so bei ihm eine originelle Auslegung. Nach 1900 verblasste der Stern P.s zusehends. Seine neuartige Erzählhaltung, die sich in der radikalen Destruktion der Romanstoffe kundtat, isolierte ihn von der Literaturentwicklung der Zeit u. entfernte ihn vom ästhet. Geschmack des Lesepublikums (dass er damit den literar. Entdeckungen der Döblins, Joyces oder Dos Passos’ [Marx] vorgegriffen hatte, konzedierte ihm erst die späte Nachwelt). Immer häufiger gab er lediglich poln. Fassungen seiner frühen Werke heraus, wobei sie – ein interessanter Fall der Autorübersetzung – eher Nach-Schöpfungen, stilist. Neufassungen denn Übersetzungen waren. Stark publizistisch aktiv wurde er während des Ersten Weltkriegs, als er energisch für eine dt.-poln. Verständigung eintrat, so in dem Aufsatzband Polen und der heilige Krieg (Mchn./Bln. 1916). 1916–1918 bestimmte er die Programmlinie des führenden Organs der poln. Expressionisten, »Zdrój« (»Die Quelle«). Im Nachkriegspolen lebte er zurückgezogen u. schrieb an seinen Erinnerungen Moi wspólczesni (Meine Zeitgenossen. 2 Bde., Warschau 1928 u. 1930), die zu den fesselndsten Memoiren der dt.-skandinav. u.

poln. Moderne gehören u. jetzt im 7. Band (1994) der Paderborner Werkausgabe in dt. Sprache zugänglich sind. Im ausgehenden 20. Jh. erwachte das Interesse am Werk des Schriftstellers geradezu sprunghaft. Der »Deutschpole« P. (so seinerzeit Soergel), der vor hundert Jahren für die Kunst ohne Grenzen plädierte, scheint dazu prädestiniert, in der Zeit der polit. Vereinigung Europas den Geist der kulturellen Durchdringung von West u. Ost auf dem Kontinent geradezu idealtypisch zu verkörpern. Die Folge davon ist u. a. die neue Profilierung der poln. P.-Forschung, die sich nunmehr zunehmend den Ergebnissen der dt. P.-Philologie öffnet u. die ihre bisherige (mitunter vom Misstrauen gegenüber dem »abtrünnigen« Autor getragene) reservierte Haltung revidiert. Ausgabe: Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen u. ausgew. Briefe in acht Bänden u. einem Kommentarbd. Hg. Michael M. Schardt. Paderb. 1990–2003. Literatur: Manfred Schluchter: S. P. u. seine deutschsprachigen Prosawerke 1892–99. Tüb. 1969. – Klaus Günther Just: Nihilismus als Stil. Zur Prosa S. P.s. In: FS Wolfdietrich Rasch. Hg. ders. u. Renate v. Heydebrand. Stgt. 1969, S. 112–133. – Ulrich Steltner: Überlegungen zur Literarität am Beispiel v. Stanislaw P.s Romantrilogie ›Homo sapiens‹. Gießen 1989. – Jörg Marx: Lebenspathos u. ›Seelenkunst‹ bei S. P. Interpr. des Gesamtwerkes [...]. Ffm. u. a. 1990. – George Klim: S. P. Leben, Werk u. Weltanschauung im Rahmen der dt. Lit. der Jahrhundertwende. Biogr. Paderb. 1992. – Gabriela Matuszek (Hg.): Über S. P. Rezensionen – Erinnerungen – Porträts – Studien (1892–95). Rezeptionsdokumente aus 100 Jahren. Paderb. 1995. – Dies.: Der geniale Pole? S. P. in Dtschld. (1892–1992). Paderb. 1996. – German Ritz u. a. (Hg.): Literar. Rezeption u. literar. Prozess. Zu den poln.-dt. literar. Wechselbeziehungen vom Modernismus bis in die Zwischenkriegszeit. Krakau 1999. – Jan Papiór: S. P. als Vermittler europ. Kulturgutes. In: Studia Germanica Posnaniensia 24 (1999), S. 131–144. – U. Steltner: Grenzgänger zwischen der dt. u. der poln. Lit.: Tadeusz Rittner u. S. P. In: Auf der Suche nach einer grösseren Heimat ... Hg. ders. Jena 1999, S. 105–115. – Marek Fialek: August Strindberg u. S. P. Zwei ›Kometen‹ am Berliner Himmel des ausgehenden 19. Jh. In: Studia Germanica Posnaniensia 27 (2002), S. 91–105. – Hendrik Madsen: Erotisch-vampir. /

Pückler-Muskau Schriftmetamorphosen: S. P.s Erzählung ›De profundis‹. In: Lit. in Wiss. u. Unterricht 36 (2003), S. 307–318. – U. Steltner: P. u. die russ. Missverständnisse mit seiner Kunst aus dem Geist des ›Übermenschen‹. In: Vladimir Solov’ev u. Friedrich Nietzsche. Hg. Urs Heftrich. Ffm. 2003, S. 223–237. – Monika Fick: Präsenz: sinnesphysiolog. Konstruktion u. ästhet. Transformation der Wahrnehmung am Beispiel v. P., Benn u. Rilke. In: Scientia poetica 9 (2005), S. 114–135. – G. Matuszek: P. in Danzig u. Zoppot. In: Grenzüberschreitungen. Hg. Marion Brandt. Mchn. 2006, S. 109–124. – Thomas Auwärter: S. P. – ›Der Geist des Bösen‹? Zur künstler. Spiritualität eines Bohèmiens um 1900. In: ZRGG 60 (2008), S. 131–151. Marek Zybura

Pückler-Muskau, Hermann (Ludwig Heinrich) Fürst (seit 1822; vorher: Graf) von, auch: Der Verstorbene, Semilasso, * 30.10.1785 Schloss Muskau/Oberlausitz, † 4.2.1871 Schloss Branitz bei Cottbus; Grabstätte: ebd., »Tumulus« des Parks. – Gartenkünstler u. Reiseschriftsteller. P., altem schles. Adel entstammend, kam infolge der unglückl. Ehe seiner Eltern bereits mit sieben Jahren in das Internat der Herrnhuter Brüdergemeine in Uhyst bei Bautzen, 1797 auf das Pädagogium in Halle. Sein verschwenderisches Leben u. hohe Schulden ließen ihn das 1801 begonnene jurist. Studium in Leipzig bereits nach einem Jahr abbrechen. Er trat als Leutnant in die sächs. Garde du Corps in Dresden ein, wo er sich durch zahlreiche Eskapaden den Ruf des »tollen Pückler« erwarb. 1804 nahm er als Rittmeister seinen Abschied u. bereiste in den folgenden Jahren, meist zu Fuß, die Schweiz, Frankreich u. Italien (vgl. sein erst 1835 erschienenes Reisetagebuch u. d. T. Jugendwanderungen. Stgt.). Auf seiner Heimreise nach Muskau (1810) besuchte er Goethe in Weimar. Der Tod des Vaters machte ihn 1811 zum Standesherrn des riesigen Muskauer Besitzes. Ab 1813 nahm P. als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teil, war Adjutant des Großherzogs von Sachsen-Weimar, zeichnete sich mehrfach aus u. wurde Militärgouverneur von Brügge u. Oberstleutnant. Eine erste Englandreise brachte ihm wesentl. Anregun-

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gen für die spätere Gestaltung der Muskauer u. Branitzer Parkanlagen. 1817 heiratete er die neun Jahre ältere Lucie, geschiedene Gräfin Pappenheim, Tochter des preuß. Staatskanzlers Hardenberg, die »Schnucke« seiner späteren Briefe. Häufige Berlinaufenthalte brachten ihn in intensiven Kontakt zu literar. Kreisen (Freundschaften mit Rahel u. Karl August Varnhagen von Ense, E. T. A. Hoffmann, Heine, Bettina von Arnim). P.s Muskauer Parkomanie (als Verwalter hatte er seinen Jugendfreund Leopold Schefer eingesetzt) u. sein exzentrischer, opulenter Lebensstil verschlangen Unsummen, sodass die Pückler-Muskaus 1826 eine Pro-FormaScheidung beschlossen, damit er in England reich heiraten u. so Muskau sanieren könne. Diese 1829 beendete Englandreise P.s brachte ihm zwar nicht die erhoffte Verbindung, dafür aber einen der größten Bucherfolge des 19. Jh.: Die von Varnhagen redigierten Reisebriefe an seine geschiedene Frau erschienen anonym u. d. T. Briefe eines Verstorbenen (4 Tle., Mchn. 1830. Stgt. 1832. Neudr. New York/ London 1968. Neuausg. Ffm. 1991). Darin vermittelt er dem Leser ein Panorama engl. Lebens, lobte die Bequemlichkeit brit. Lebensart, die engl. Staatsform u. Literatur, kontrastierte aber die geistige Leere des Adels mit dem frz. »esprit«. Daneben stand die breite Darstellung gesellschaftl. Vergnügens u. gepflegten Müßiggangs. Für die private Brief-/Tagebuchform entwickelte er einen »impressionistischen« Skizzenstil des präzisen subjektiven Blicks, der dem Moment der Bewegung u. der Offenheit der Wahrnehmung entsprach. Der geistreich-elegante, oft iron. Konversationston wurde Kennzeichen von P.s Reisebeschreibungen. Die positiven Urteile u. a. von Goethe u. Heine sowie der ökonom. Erfolg begünstigten seine Produktivität: 1834 folgten die Andeutungen über Landschaftgärtnerei (Stgt. Neuausg. Ffm. 1988), womit er entscheidend zur Verbreitung des neuen engl. Parkstils beitrug. Im selben Jahr erschienen die vermischten Schriften Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen (5 Bde., Stgt. 1834) mit polit. Akzenten (Empfehlung der konstitutionellen Monarchie nach engl. Vorbild für Preußen, Kritik der Bürokratie) u. zahlreichen Pikanterien u. Anspielungen auf

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lebende Personen. 1835 unternahm P. eine neuerl. große Reise, die ihn zunächst nach Algerien u. Tunis, dann nach Griechenland führte; 1837 besuchte er Ägypten (Nilexpedition, Freundschaft mit dem Regenten Mehmed Ali), 1838 den Vorderen Orient u. Kleinasien; die Rückkehr mit der jungen äthiop. Sklavin u. Geliebten Machbuba erregte überall Aufsehen. In vier ausführl. Reiseberichten dokumentierte P. diese fünfjährige Reise. 1845 musste er Muskau verkaufen u. siedelte mit seiner geschiedenen Frau († 1854) nach Schloss Branitz über, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Während sein Name im Bewusstsein der Nachwelt v. a. mit den biogr. Aspekten verbunden ist (Lebensform des Dandy u. Flaneurs, des Abenteurers u. Frauenhelden, der kulinar. Gerichten seinen Namen gab), war P. bei den Zeitgenossen einer der meistgelesenen Autoren; neben dem zeittyp. Bedürfnis nach Reiseliteratur befriedigte er die Neugier seiner Leser nach Informationen aus den höchsten Kreisen. Dabei verhalf P. trotz seines dominant-aristokratischen Gestus u. seiner Verhaftung in der aufgeklärten u. geselligen Kultur des 18. Jh. erstaunlich liberalen Ideen zum Durchbruch u. hatte einen unvoreingenommenen Blick für die Erscheinungen der Moderne. Seine autobiogr. Reiseliteratur ist zgl. adäquates Medium einer sich ständig selbst stilisierenden »ästhetischen Existenz« u. wesentlicher Bestandteil der Vormärz-Literatur. P. selbst bewertete seine Schriftstellerei nicht allzu hoch, sondern sah sein Lebenswerk in der Theorie u. v. a. der Praxis der Gartenkunst. Weitere Werke: Vorletzter Weltgang v. Semilasso. [...] Europa. 3 Bde., Stgt. 1835. – Semilasso in Afrika. 5 Bde., Stgt. 1836. – Der Vorläufer. Stgt. 1838. – Südöstl. Bildersaal. 3 Bde., Stgt. 1840/41. Neuausg. Ffm. 21981. – Aus Mehemed Ali’s Reich. 3 Bde., Stgt. 1844. Neuausg. Zürich 21988. – Die Rückkehr. 3 Bde., Bln. 1846–48. – Briefw. u. Tagebücher. Hg. Ludmilla Assing. 9 Bde., Hbg. 1873. Bln. 1874–76. Neudr. Bern 1971. – Frauenbriefe v. u. an H. Fürsten P. Hg. Heinrich Conrad. Mchn. 1912. – Fürst Pücklers Oriental. Reisen. Hg. Helmut Wiemken. Hbg. 1964. – Liebesbriefe eines alten Kavaliers. Briefw. mit Ada v. Treskow. Hg. Werner Deetjen. Bln. 1938. Neuausg. Zürich/Mchn. 1986. – Briefe aus der Schweiz. Hg. Charles Lins-

Pückler-Muskau mayer. Zürich 1981. – Ausgew. Werke. Hg. Heinz Ohff u. Ekhard Haack. 2 Bde., Ffm. u. a. 1985. Literatur: Ludmilla Assing: Fürst H. v. P. 2 Bde., Bln. 1873/74. – Klaus Günther Just: Fürst H. v. P. Würzb. 1962 (mit Nachl.-Ausw.). – Ders.: Fürst H. v. P. In: Ders.: Übergänge. Bern/Mchn. 1966, S. 153–188. – Gerhard F. Hering u. Vita Huber: Ein großer Herr. Das Leben des Fürsten P. Düsseld./ Köln 1968. – Hermann Graf v. Arnim: Ein Fürst unter den Gärtnern [...]. Bln./Wien 1981. – Heinz Ohff: Fürst H. P. Bln. 1982. – Brigitte Bender: Ästhet. Strukturen der literar. Landschaftsbeschreibung in den Reisewerken des Fürsten P. Ffm./Bern 1982. – Rainer Gruenter: Der reisende Fürst. Fürst P. in England. In: Der curieuse Passagier. Heidelb. 1983, S. 119–137. – Wulf Wülfing: Reiselit. u. Realitäten im Vormärz. In: Reise u. soziale Realität [...]. Hg. Wolfgang Griep u. Hans-Wolf Jäger. Heidelb. 1983, S. 371–394. – Günther J. Vaupel: P. [...] zur Komposition u. Rezeption seiner Werke. In: Schlesien (1986), S. 236–246; (1988), S. 80–88. – Reiner Marx: Ein Liberaler dt. Adeliger sieht Englands Metropole. In: Rom – Paris – London. Hg. Conrad Wiedemann. Stgt. 1988, S. 595–610, 685–688. – Erich Schutt u. Wolfgang Knape: P.s Parks. Lpz. 31990. – Heinz Ohff: Der grüne Fürst. Das abenteuerl. Leben des H. P. Mchn. u. a. 1991. – Hans Christoph Buch: ›Sklaverei ist süß! Glaubt es, liebe Liberale!‹ Außenseiter: Fürst P. u. Ida Pfeifer. In: Ders: Die Nähe u. die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Ffm. 1991, S. 89–109. – Inge Rippmann: Tradition u. Fortschritt. Das frühindustrielle England aus der Perspektive eines aristokrat. Individualisten. In: RG 25 (1995), S. 159–176. – Harald Tausch: Vom Bild der Natur zum imaginären Landschaftsgarten. H. v. P.s Andeutungen über Landschaftsgärtnerei u. die Literarisierung des Landschaftsgartens: In: Archiv 233/ 148 (1996), H. 1, S. 1–19. – Hartmut Steinecke: ›Reisende waren wir beide‹. P. u. Heine, London, Frühjahr 1827. Aspekte der Reiselit. vor der Julirevolution. In: Vormärz u. Klassik. Hg. Lothar Ehrlich. Bielef. 1999, S. 163–180. – Thomas Diecks: P. In: NDB. – Der tolle P. H. Fürst v. P. in Selbstzeugnissen u. im Urteil seiner Zeitgenossen. Cottbus 2002. – Tilmann Fischer. Lit. u. Aristokratie. Zur Debatte um Fürst H. v. P. In: Jb. der Charles Sealsfield-Gesellsch. 14 (2002), S. 181–224. – Peter Milan Jahn: H. Fürst v. P. als Schriftsteller in Ägypten. In: Kairoer germanist. Studien 14 (2004), S. 227–262. Reiner Marx / Red.

Pühringer

Pühringer, Franz, * 27.12.1906 Pernegg/ Steiermark, † 30.8.1977 Linz; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Verfasser von Lyrik, Prosa u. Dramen.

350 P.s ›Abel Hradscheck und sein Weib‹. In: FontaneBlätter 48 (1989), S. 60–68. Christine Schmidjell / Red.

Als ältester Sohn eines Lehrerehepaars ver- Der Püller, * ca. 1250/55, † vor 1316. – brachte P. die Kindheit in St. Stefan ob Le- Minnesänger. oben. Er besuchte Schulen in Bruck a. d. Mur Die Manessische Liederhandschrift überliefert 14 u. ab 1920 in Linz, bevor er dort seine Aus- Strophen (fünf Lieder) Konrads von Hohenbildung zugunsten einer freien Schriftstell- burg, der 1262–1315 bezeugt ist u. seit 1273 erexistenz aufgab. Wesentlich beeinflusst regelmäßig den Beinamen »Püller« führt. vom Expressionismus u. der ihm innewoh- Seine Miniatur in der Handschrift zeigt einen nenden Lebenshaltung, hielt sich P. auf Ritter, der mit erhobenem Schwert einen anzahlreichen Reisen in Berlin u. Paris auf. 1930 deren in eine Burg hinein verfolgt oder mit erschien der erste Gedichtband, Antlitz (Lpz.), diesem einem dritten Ritter nachjagt, u. bie1932 im Selbstverlag (Ottensheim) traumtro- tet in kleiner Variation das Wappen der elsäss. penflug 1925, ein zyklus (Neudr. 1990). Ab 1930 Hohenburger mit Stammsitz in der Nähe von war P. Mitarbeiter angesehener Zeitschriften Weißenburg. Der Beiname »Püller« kann als (»Simplicissimus«, »Weltbühne«, »Berliner stürmischer Charakterzug (Polterer) gelesen Tageblatt«). werden oder auf die ital. Landschaft Apulien Nach dem kurzen Bestehen des von ihm (mhd. »pülle«) verweisen. mitinitiierten literar. Kabaretts »ThermopyP. Lieder kennzeichnet eine hohe Formlen« erwarb er sich ab 1934 jahrzehntelang kunst, wenn er etwa in Lied 4 eine Stollengroße Verdienste um das Puppentheater, u. a. terzine in der Tradition Neifens verwendet als Leiter der »Linzer Puppenspiele«. Als oder unterschiedl. Verslängen, Binnenreime Dramatiker stand P. nach 1945 mit zahlrei- u. Pausen effektvoll kombiniert. Der typische chen Komödien, Lustspielen u. Bearbeitun- Natureingang leitet zur Klage über den ungen (v. a. von Werken Franz von Poccis) auf gelohnten Dienst über, Frau Minne u. die den Spielplänen österr. Bühnen (Der König von Damen der höf. Gesellschaft werden als Torelore. Urauff. Linzer Landestheater 1951). Hilfsinstanzen angerufen. Der P. verknüpft Neben Lyrikbänden, die bes. sein realistisch- seine Minnereflexionen objektivierend mit iron. Naturbild sichtbar machen (Die Wiesen- der aktuellen polit. Sphäre u. lässt in Lied 3 festung. Wien 1947), dokumentieren Erzäh- selbst den König beim Anblick seiner Minlungen u. die Novelle Das Natternhemd (Wien nedame in Bewunderung verfallen (vgl. das 1959) P.s vielfältiges literar. Schaffen. P. Motiv des Kaisers als »spileman« bei Walther wurde 1951 mit dem Staatlichen Förde- von der Vogelweide, L 63,5 ff.). Trotz fehlenrungspreis, 1958 mit dem Dramatiker-Preis der urkundl. Belege lässt Lied 4 vermuten, des Landes Oberösterreich ausgezeichnet. dass der P. am Feldzug Rudolfs von Habsburg Ausgaben: Ges. Gedichte. Bd. 1: Letzter Duft der gegen Ottokar II. von Böhmen 1276–1278 Gartenfrühe. Bd. 2: An den Quellen der Neben- beteiligt war: Das Ich macht sein Minneglück flüsse. Wien 1963/64. – Drei Stücke. Wien 1974. – vom österr. König abhängig, der ihn von Lustspiele, Komödien. 2 Bde., Wien 1977. – Die seiner Geliebten im »Elsâzenlant« trennt u. Schmetterlingswolke. Linz 1988 (E.en aus dem ihn durch Einforderung seiner Lehnspflicht Nachl. Mit biogr. Ess. v. T. M. Seidelmann). – Die von ihr entfremdet. Auch Lied 5 reflektiert in Dinge sind erst durch das Licht. Liebesgedichte u. Konfrontation von Gedichte aus dem Nachl. Hg. Traude Maria Sei- sprachspielerischer »nein« u. »jâ« der Dame die räuml. Trennung delmann. Aspach 2000. Literatur: Traude Maria Seidelmann: Die Lin- durch den Aufenthalt in Wien u. Ungarn. zer Puppenspiele F. P.s. In: Histor. Jb. der Stadt Beide Lieder weisen deutl. Parallelen zu den Linz. Linz 1981. – Wilhelm Bortenschlager: Drama Liedern 5 u. 12 Konrads von Landeck auf, als u. Dramatiker Oberösterr.s. Wels 1986, S. 159–165. Verfluchung des Königs begegnet die Kon– Beatrix Müller-Kampel: Fontane dramatisiert. F. kurrenz von Herren- u. Minnedienst auch bei

Pürstinger

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den Troubadours (Marcabru). Dass der P. im Sommer 1278 wieder im Elsass ist, ergibt sich aus drei Urkunden. Ausgabe: KLD, Bd. I, S. 321–324. Literatur: Franz Josef Worstbrock: Konrads des P.s v. Hohenburg Lied IV. In: ZfdA 101 (1972), S. 341–343. – Volker Mertens: Der P. In: VL. – Uwe Meves (Hg.): Regesten dt. Minnesänger des 12. u. 13. Jh. Bln./New York 2005, S. 759–776. Sandra Linden

Pürstinger, Pirstinger, Berthold, Perthold, auch: B. von Chiemsee, * 1465 Salzburg, † 19.7.1543 Saalfelden; Grabstätte: ebd., Pfarrkirche. – Bischof von Chiemsee; katholischer Reformer. Der Sohn eines Hofschreibers besuchte die St. Ruperts-Domschule in Salzburg u. ging zur weiteren Ausbildung nach Italien. Er studierte in Perugia (wahrscheinlich auch in Padua u. Bologna) Kirchenrecht, wurde 1490 ordiniert, erhielt jedoch erst zwei Jahre später ein kirchl. Beneficium. Seine öffentl. Laufbahn begann P. als Beamter der erzbischöfl. Kurie in Salzburg, wo er 1495 als einer der Notare des Erzbischofs erwähnt wird. 1499 »Magister camerae Curiae Salisburgensis«, wurde er 1508 zum Bischof von Chiemsee (zgl. salzburgischer Weihbischof mit Sitz im Chiemseehof in Salzburg) ernannt. In dieser Eigenschaft konnte er mehrmals erfolgreich zwischen der Bürgerschaft u. Erzbischof Leonhard von Keutschach vermitteln. Als im Verlauf der Salzburger Bauernkriege 1525 die Veste Hohensalzburg von aufständ. Bauern unter Beschuss genommen wurde, trat P. als Unterhändler zwischen dem zu Hilfe eilenden Herzog Wilhelm von Bayern u. den Bauernführern auf, erreichte Straffreiheit für die Belagerer u. führte den Krieg zu einem unblutigen Ende. Nachdem er in der Folge jedoch mehrfach von Aufständischen persönlich bedroht worden war, legte er 1526 seine Ämter nieder u. zog sich in das Kloster Raitenhaslach bei Burghausen zurück. Den Lebensabend verbrachte P. in Saalfelden, wo er u. a. 1532 eine Priesterbruderschaft zur Unterstützung mittelloser Geistlicher mit zugehörigem Spital stiftete.

Der vielseitig humanistisch gebildete, sich streng der Autorität der Kirche u. der Konzilien unterwerfende P. kann nur mit Vorbehalten als Kontroverstheologe bezeichnet werden. Er suchte als Schriftsteller wie auch als Seelsorger durch eine innere Reform der Kirche einer Glaubensspaltung vorzubeugen. Die 1519 entstandene, P. zugeschriebene (zur Verfasserfrage siehe Schmuck, S. 257–279) anonyme Schrift Onus ecclesiae (Landshut 1524. Köln 1531. o. O. 1620) gibt eine düstere Gesamtdarstellung der Verfehlungen des Klerus durch alle Stände, um anschließend die bevorstehenden göttl. Strafen, v. a. angesichts der drohenden Türkenkriege, aufzuzählen. Das Ablasswesen wird – teilweise in erstaunl. Nähe zu Luthers Standpunkt – kritisiert; das Luthertum selbst jedoch erfährt als Satanswerk eine deutl. Absage. Dieser Flugschrift folgte seine auf Anregung Matthäus Langs entstandene Tewtsche Theologey (Mchn. 1528. Basel 1557. Lat.: Theologia germanica [...]. Augsb. 1531), die erste dt. kath. Dogmatik. Die Beweggründe P.s sind eindeutig: Den »verirrten Christen« soll »auf rechte pan des glawbs vnd christenlicher gehorsam [...] geholffen werden« (Ausg. Reithmeier, S. 1). Eine allg. zugängliche, umfassende u. gut verständl. kath. Glaubenslehre sollte die theolog. Unklarheit beseitigen, v. a. aber den Thesen Luthers entgegenwirken. P. zeigt sich hier als guter Kenner der Altscholastik wie der Patristik, bes. des Augustinus. Die geringe Auflage des Werks verhinderte jedoch eine weitreichende Wirkung. Weiteres Werk: Tewtsch Rational über das Ambt heiliger meß [...]. Augsb. 1535. Ausgaben: Onus ecclesiae [...]. Köln 1531. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg. – Tewtsche Theologey. Hg. Wolfgang Reithmeier. Mchn. 1852 (mit Vorw.). – Dass. Hg. Joseph Bernhart. Mchn. 1947. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 24. – VD 16. – Weitere Titel: Johannes Ficker: B. P., gewöhnlich B. v. Chiemsee gen. Lpz. 1905. – Karl Eder: B. Bischof v. Chiemsee. In: NDB (ältere Lit.). – Franz X. Remberger: Die Lehre v. der Kirche in der ›Tewtschen Theologey‹ B.s v. Chiemsee. In: Münchner Theolog. Ztschr. 9 (1958). – Josef Schmuck: Die Prophetie ›Onus ecclesiae‹ des Bischofs B. P. Diss. Univ. Graz. Wien 1973. – Gerhard Marx: Glaube, Werke u. Sakramente im Dienste der Rechtferti-

Püschel gung in den Schr.en v. B. P., Bischof v. Chiemsee. Lpz. 1982. – Ernst Walter Zeeden: B. P., Bischof v. Chiemsee. Ein kath. Theologe in den Glaubensauseinandersetzungen des 16. Jh. In: Rottenburger Jb. für Kirchengesch. 5 (1986), S. 177–212. – Hans Sallaberger: Der Chiemseer Bischof B. P. (1464/ 65–1543). Biogr. Daten zu seinem Leben u. Werk. In: Mitt.en der Gesellsch. für Salzburger Landeskunde 130 (1990), S. 427–484. – Paul Jerome Langsfeld: Theology for Piety in the Early Reformation Era. B. P.’s ›Tewtsche Theologey‹. Diss. Rom 1993. – Zum 450. Todestag v. Bischof B. P. Saalfelden 1994. – Volker Leppin: B. P. In: TRE. – Michael Dean Milway: The Burden and the Beast. An Oracle of Apocalyptic Reform in Early Sixteenth-Century Salzburg. Ann Arbor 1997. – Ders.: Apocalyptic reform and forerunners of the end. B. P., Bishop of Chiemsee (died 1543). In: Zeitsprünge 3 (1999), S. 316–327. – Oskar Veselsky: Das Konsekrationsprotokoll des Bischofs B. P. v. Chiemsee. Graz 2005. Bernhard Graßl / Red.

Püschel, Walter, auch: W. Schell, * 3.2. 1927 Einsiedel, † 26.12.2005 Berlin. – Prosa- u. Hörspiel-Autor, bes. im Bereich Kinder- u. Jugendbuch, Lektor u. Herausgeber.

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lenkrieges in Florida (1835–1843). P. schrieb – basierend auf dessen Figuren u. Motiven – gemeinsam mit Günther Karl schließlich auch das Szenarium für den sechsten DEFAIndianerfilm Osceola von 1971. Mit Abenteuerromanen wie Das Vermächtnis des Kundschafters u. Die Trommel des Mahdi (beide Bln./DDR) versuchte sich P. 1968 bzw. 1973 auch an südamerikanischen bzw. oriental. Karl-MaySchauplätzen. Bereits 1957 geriet P. u. a. wegen seiner Kontakte zu dem inzwischen inhaftierten Erich Loest u. einer Reihe anderer missliebiger Autoren ins Visier des MfS. Sieben Jahre später erpresste es ihn schließlich mit seiner gegenüber der SED verschwiegenen SS-Mitgliedschaft in der letzten Kriegsphase, sodass sich P. zur langjährigen Mitarbeit als GI (Geheimer Informator) »Adler« bereit erklärte. Weitere Werke: Crazy Horse. Bln./DDR 1979. 1983. – Das Schulschwein Bln./DDR 1981. 51989. – Buffalo Bill. Eine Wild-West-Legende. Bln. 1991. – Old Shatterhand in Moabit. Bln. 1994. Literatur: Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Herbert Greiner Mai u. a. (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Bd. 2, Lpz. 1975. – Joachim Walter: Sicherungsbereich Lit. Schriftsteller u. Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Bln. 1996. – Rüdiger Steinlein, Heidi Strobel u. Thomas Kramer (Hg.): Hdb. zur Kinder- u. Jugendlit. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stgt./Weimar 2006. Thomas Kramer

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Der Sohn eines Tischlers absolvierte eine Lehrerbildungsanstalt u. arbeitete von 1947 bis 1952 in diesem Beruf. Nach dem Besuch der Verwaltungsakademie »Walter Ulbricht« in Berlin (Ost) studierte er 1955/56 am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig. P. arbeitete seit 1958 als Lektor im Verlag »Neues Leben« u. ab 1962 im »EulenspiegelVerlag«. Püterich von Reichertshausen, Jakob, P. hatte einen wichtigen Anteil an der * 1400, † 1469. – Verfasser des Ehrenbriefs. Herausbildung der DDR-Abenteuerliteratur für ein bevorzugt jugendliches, aber darüber Aus bayerischem Adel stammend u. in Hofhinaus alle Altersgruppen erreichendes Pu- diensten reüssierend, sah P. seine eigentl. blikum. Die Popularität seiner Bücher resul- Lebensaufgabe im Sammeln literar. Zeugnistierte nicht zuletzt aus der Suche nach Ersatz se vergangener Ritterherrlichkeit. Als die an für den bis in die frühen 1980er Jahre im humanist. Literatur interessierte Pfalzgräfin Osten Deutschlands verpönten Karl May. Wie Mechthild ihn um eine Liste seiner Bücher andere Autoren (v. a. Liselotte Welskopf- bat, schickte er ihr 1462 eine solche zu. Sie Henrich, Eduard Klein) versuchte er diese trägt den Titel Ehrenbrief, um Gerüchten über Lücke mit in der Stoffwahl an May erinnern- Mechthilds Lebenswandel entgegenzuwirde Texte zu schließen. Die erfolgreichsten ken, u. ist in Hadamars von Laber »gemainem Romanfiguren beider Autoren agieren in den thonn« (Titurelstrophe) verfasst. Ihr voran USA des 19. Jh. 1964 erschien P.s Robin und die gehen ein inhaltlich u. formal traditionelles, Häuptlingstochter (Bln. 101982 u. ö.). Der Ro- dabei doch auch selbstironisches, erotisch man spielt zu Beginn des zweiten Semino- gefärbtes Liebesgeständnis sowie ein Ver-

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zeichnis der turnierfähigen bayerischen Familien. Mechthilds ihm bereits früher zugesandter Bücherliste, aus der ihm 23 v. a. »moderne« Titel unbekannt sind, stellt er seine 164 Bücher in einer Folge gegenüber, in der demonstrativ den höf. Romanen – die von denen seines Lieblings Wolfram angeführt werden – die geistl. Werke nachgeordnet sind. Mit seiner donquichottehaften, bereits von den Zeitgenossen bespöttelten, gleichwohl für die Selbststilisierung von Teilen des Adels im 15. Jh. symptomat. Liebe für seine Ritterbücher (»die zue samb seind [...] geraffelt, mit stellen, rauben, auch darzue mit lehen, geschenkht, geschribn, khauft und darzue funden«, Str. 122) könnte P. auf die Bearbeitungen dieser Stoffe durch Ulrich Füetrer gewirkt haben. Ausgaben: Fritz Behrend u. Rudolf Wolkan (Hg.): Der Ehrenbrief des P. v. R. Weimar 1920. – Martha Mueller: Der ›Ehrenbrief‹ J. P.s v. R., die ›Turnierreime‹ Johann Hollands, der ›Namenkatalog‹ Ulrich Fuetrers. Diss. New York 1985, S. 67–146 (mit Komm.). – Bayer. SB (Hg.): J. P. v. R. Der Ehrenbrief. Cgm 9220. Faks. mit einer Einf. v. Klaus Grubmüller u. einer Beschreibung der Hs. v. Ulrich Montag. Bln. 1999. Literatur: Gustav Roethe: P. In: ADB. – Christelrose Rischer: Literar. Rezeption u. kulturelles Selbstverständnis. Stgt. u. a. 1973, S. 68–93. – Mueller 1985 (s. o.), S. 1–66. – Klaus Grubmüller: P. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Alfred Karnein: Mechthild v. der Pfalz as Patroness. Aspects of Female Patronage in the Early Renaissance. In: Medievalia et Humanistica. Studies in Medieval and Renaissance Culture 22 (1995), S. 141–170. – Ulrich Gaier: Musenhof Rottenburg. Erzherzogin Mechthild, eine emanzipierte Frau im 15. Jh. In: Ders., Monika Küble u. Wolfgang Schürle (Hg.): Schwabenspiegel 1000–1800. Lit. vom Neckar bis zum Bodensee. Bd. 2, Ulm 2003, S. 105–116. – Christine Wand-Wittkowski: Pfalzgräfin Mechthild u. ihr literar. Zirkel. Ein Irrtum der Mediävistik. In: IASL 30 (2005), S. 1–28. Jens Haustein / Red.

Pütter, Johann Stephan, * 25.6.1725 Iserlohn, † 12.8.1807 Göttingen. – Staatsrechtswissenschaftler und juristischer Schriftsteller. Der aus kinderreicher Familie stammende P. nahm im Alter von 13 Jahren breitangelegte

Studien auf, die ihn nach Marburg, Halle u. Jena führten. Sein Lehrer Johann Georg Estor beeinflusste maßgeblich die Entscheidung zugunsten einer akadem. Laufbahn, die P. mit 18 Jahren einschlug u. die er zeitlebens mit forensischer Tätigkeit als Berater in Rechtsangelegenheiten zu verbinden wusste. 1747 wurde er durch den hannoverschen Minister von Münchhausen als Professor für Reichskammergerichts- u. Reichshofratsprozess für die Universität Göttingen gewonnen, der er bis zu seinem Tod angehörte; ehrenvolle Berufungen namentlich nach Wien zum Reichshofrat (1766) schlug er aus. P. zählt zu den wichtigsten Vertretern der »Reichspublizistik« des 18. Jh., deren Gegenstand das »jus publicum imperiale« des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war. Er nimmt eine eigentüml. Stellung zwischen Vernunftrecht u. histor. Schule ein. Der didaktisch ungewöhnlich befähigte P. konnte fast »alle bedeutenden Männer, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine führende Stellung im deutschen politischen und Staatsleben einnahmen« zu seinen Schülern zählen (Ebel), unter ihnen Gustav Hugo u. Karl Friedrich Eichhorn. Nicht minder erfolgreich war P. als wiss. Schriftsteller, dessen Werk eine bes. Begabung zu transparenter Darstellung bezeugt. Auf dem Gebiet des Privatrechts entwickelte P. aus eigener leidvoller Erfahrung den Begriff des »geistigen Eigentums« u. die Grundlagen eines modernen Urheberrechts (Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft. Gött. 1774). Aus der literar. Hinterlassenschaft ragt als wichtigstes Werk zum Staatsrecht das 1754 in Göttingen erschienene, an dt. Universitäten weit verbreitete Lehrwerk Elementa juris publici germanici (ab 1770 u. d. T. Institutiones juris publici germanici) heraus, das bis 1802 wiederholt neu aufgelegt wurde. Mit dem Ende des Alten Reiches (1806) nahm die Bedeutung der spezifisch staatsrechtl. Schriften P.s ab u. wich im 19. Jh. einer wesentlich kritischeren Beurteilung. Dagegen blieb der eigenwillig systematisierte, vornehmlich der akadem. Lehre dienende Entwurf einer juristischen Enzyklopädie (Gött. 1757), in dem P. das geltende Recht in Staatsrecht, Privatrecht u. eine »dritte Sam-

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melkategorie« (M. Stolleis) einteilte, bis ins 19. Jh. hinein ebenso einflussreich wie die Arbeiten zur Reichsgeschichte, namentlich die Historische Entwicklung der heutigen StaatsVerfassung des teutschen Reiches (3 Bde., Gött. 1786/87), die P als »ersten echten Verfassungshistoriker« erscheinen lässt (Kleinheyer). Zu nennen sind schließlich das zus. mit Gottfried Achenwall verfasste Lehrbuch des Naturrechts Elementa iuris naturae (Gött. 1750) sowie die Litteratur des Teutschen Staatsrechts (3 Tle., Gött. 1776/83; fortgesetzt 1791 v. J. L. Klüber). Weitere Werke: Beyträge zum Teutschen Staats- u. Fürstenrechte. 2 Bde., Gött. 1777/79. – Erörterungen u. Beyspiele des Teutschen Staats- u. Fürstenrechts. 3 Bde., Gött. 1793/97. – Über Missheiraten teutscher Fürsten u. Grafen. Gött. 1796. – J. S. P.s Selbstbiogr. 2 Bde., Gött. 1798. Literatur: Robert v. Mohl: Die Gesch. u. Lit. der Staatswiss.en. Bd. 2, Erlangen 1856, S. 425–438. – F. Frensdorff: P. In: ADB. – Ulrich Schlie: J. S. P.s Reichsbegriff. Gött. 1961. – Wilhelm Ebel: Der Göttinger Prof. J. S. P. aus Iserlohn. Gött. 1975. – Dietmar Willoweit: P. In: Handwörterbuch zur dt. Rechtsgesch. Bd. 4, Bln. 1985, Sp. 114–117. – Christoph Link: J. S. P. (1725–1807). Staatsrecht am Ende des Alten Reiches. In: Rechtswiss. in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren. Hg. Fritz Loos. Gött. 1987, S. 75–99. – Stolleis, Bd. 1, S. 312 f. – Otto Martin: P. In: NDB. – Arno Buschmann: Estor, P., Hugo. Zur Vorgesch. des Histor. Rechtsschule. In: Vielfalt u. Einheit in der Rechtsgesch. FS Elmar Wadle. Hg. Thomas Gergen u. a. Köln 2004, S. 75–101. – Gerd Kleinheyer: J. S. P. In: Kleinheyer/Schröder. Heidelb. 52008, S. 345–349 (mit Werkverz.). Stefan Christoph Saar

Püttmann, Hermann, * 12.8.1811 Elberfeld, † 24.12.1874 Richmond/Australien. – Lyriker u. Publizist. Das literar. Werk P.s ist schmal, seine Rolle im Vormärz als Publizist, Herausgeber frühsozialistischer Zeitschriften u. Förderer junger Talente bedeutend. Nach einigen Semestern Philosophiestudium in Freiburg i. Br. ließ er sich 1832 in Elberfeld als Kaufmann nieder. Um 1839 übernahm er die Redaktion der liberalen »Barmer Zeitung«, wechselte aber 1842 zum Feuilleton der »Kölnischen Zeitung«. Seine Hinwendung zum »wahren«

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Sozialismus – P. war u. a. mit Moses Hess, Georg Weerth u. Karl Grün befreundet – führte Ende 1844 zu seiner Entlassung. 1845 emigrierte P. in die Schweiz, wo er mit dem zweiten Band der »Rheinischen Jahrbücher für gesellschaftliche Reform« (Bd. 1, Darmst. 1845. Bd. 2, Belle-Vue bei Konstanz 1846) u. der Zeitschrift »Prometheus. Organ zur Sozialen Reform« (Herisau 1846) sein sozialistisches Engagement fortsetzte. 1848/49 hielt er sich in Berlin auf. Er war Mitgl. des »Berliner Bezirkskomitees der deutschen Arbeiterverbrüderung«. Aus Berlin ausgewiesen, kehrte er nach Barmen zurück u. übernahm die Redaktion der Arbeiterzeitung »Der Volkmann« (1849/50), die zeitweise über 800 Abonnenten hatte. Ob P. 1852/53 die »Permanente Elberfeld-Barmer Kunstausstellung« in der kulturkonservativen, streng kirchl. Stadt gründete – eine Galerie, die vornehmlich Bilder der Düsseldorfer Malerschule vermutlich in Kommission verkaufte –, oder ob er sie als deren Geschäftsführer leitete, ist nicht feststellbar. Die polit. Verhältnisse zwangen ihn schließlich 1855 – mit dem Umweg über Belgien und England (15.6.1853 Ausstellung eines Reisepasses nach England; 1854 »assistant librarian« von Prinz Albert in London) zur Emigration nach Ausstralien. Dort entfaltete er eine rege publizist. Tätigkeit. Er gab mehrere, meist kurzlebige Zeitungen u. Zeitschriften heraus (u. a. »Deutsche Monatsschrift für Australien«, Melbourne/Sydney 1859, 2 H.e, zunächst zus. mit J. Kruse. »Melbourner Deutsche Zeitung«, 1859/60, zus. mit A. Brahe u. J. Kruse. »Australische Vierteljahresschrift«, Melbourne 1862, Druck u. Verlag H. P.), die auch über europ. Vorgänge berichteten u. liberale Denker porträtierten. 1862 erschien sein Deutsches Liederbuch für Australien, bestimmt v. a. für die Liedertafel der Melbourner Turnervereins. Im Gedenkbuch für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (Melbourne 1871) begeisterte er sich für die dt. Reichsgründung, schien damit doch eines der Ziele der 1848er erreicht. Gleichwohl forderte er religiöse Freiheit u. demokrat. Rechte für alle Bürger, ein Thema, das P. wiederholt in seinem »Australischen Kalender« aufgriff

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Literatur: Hermann W. Püttmann: Zur Erin(1867–74, fortgeführt bis 1894 v. Hermann nerung an H. P. In: Püttmanns Austral. Kalender. Wilhelm P.). P.s Werk ist von verschiedenen Strömun- 10. Jg., Melbourne 1875, S. 41–46. – Karl Buchgen geprägt, die er zu integrieren verstand. heim: Die Gesch. der Kölnischen Ztg. Bd. 2, Köln 1930, S. 51 f, S. 216–218, S. 331–333. – Friedrich Nachklänge der Befreiungslyrik u. rheiniEngels: Die wahren Sozialisten. In: Marx/Engels: schen Spätromantik – 1838/39 war er zum Werke. Bd. 4, Bln. 1959, S. 246–290. – M. Gilson u. Kreis der Herausgeber des »Jahrbuchs für J. Zubrzycki: The Foreign-Language Press in AusKunst und Poesie« gestoßen – sowie links- tralia. 1848–1964. Canberra 1967. – Kurt Schnöhegelian. Religionskritik u. Geschichtsauf- ring: H. P. In: Wuppertaler Biogr.n. 11. F., Wupfassung verbinden sich mit einem »philoso- pertal 1973, S. 71–74. – Horst Meyer: H. P. [...]. phischen Sozialismus«. Der Freiheitskampf Versuch einer Bibliogr. Wuppertal (Fuhlrott-Muanderer Völker diente P. zur Darstellung der seum) 1975. – Herbert A. Pogt: H. P. Miszellaneen eigenen republikan. Wünsche (Tscherkessen- zur Kunstkritik im Vormärz. Münster 1980. – Doris Köster-Bunselmeyer: Literar. Sozialismus. Tüb. lieder. Hbg. 1841. Neue Tscherkessenlieder. In: 1981. – Margaret Rose: ›Die Poesie sitzt – wahr»Rheinische Zeitung«, Köln 1842. Dithmar- haftig [ ...] auf den Wolken‹. H. P., Heine and the schen-Lieder. Lpz. 1844). Seine Socialen Gedichte Criticism of Nazaren Art. In: Antipod. Aufklärun(Belle-Vue bei Konstanz 1845. Z.T. aufge- gen. Hg. Walter Veit u. a. Ffm. 1987, S. 409–521. – nommen in Gedichte. Herisau 1846) enthalten Gerd Vonhoff: Aus Zyklus wird Sequenz. Von Uhmehr eine soziale Mitleidspoesie als – wie bei lands ›Wanderliedern‹ zu P.s ›Wanderbildern‹. In: dem von ihm geförderten Weerth – den lyr. Naturlyrik. Hg. ders. Ffm. 1998, S. 18–38. – Leslie Entwurf einer neuen Gesellschaft. Im Ge- Bodi: A Forty-Eighter in Australia. In: Lit., Politik, Identität. Hg. ders. St.Ingbert 2002, S. 85–90 (zugensatz zu Marx u. Engels, die auf einen geerst 1985). Ernst Weber waltsamen Umsturz setzten, trat P. für eine friedliche, vernunftbestimmte Lösung der sozialen Frage ein. Wie schon in der Düssel- Pütz, Albert, * 15.3.1932 Saarburg, † 19.1. dorfer Malerschule (Lpz. 1839), einer von jung- 2008 Aachen. – Schriftsteller u. Literadt. u. linkshegelian. Vorstellungen geprägten turfunktionär. Analyse der Wirkungen des »Zeitgeistes«, sieht P. in der »Bildung« den wesentl. Faktor P. studierte zunächst moderne Sprachen an geschichtl. Fortschritts. Dieser Gedanke lei- der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz tete auch seine Herausgebertätigkeit. Im bald in Germersheim sowie Rechtswissenschaften nach Erscheinen verbotenen Deutschen Bür- an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Unigerbuch (Darmst. 1845. Tl. 2, Mannh. 1846. versität Bonn u. arbeitete danach als Richter Neudr. Köln 1975), das P.s Wanderbilder ent- am Amtsgericht in Idar-Oberstein (1966 bis hielt, vereinigte er verschiedene Richtungen 1994). Er war Vorsitzender des Förderkreises Deutscher Schriftsteller Rheinland-Pfalz linker Opposition zur Darstellung sozialer (1984–1990), Landesvorsitzender des VerGegenwart u. Zukunft. Das Album (Borna bandes deutscher Schriftsteller in der IG 1847. 2. Aufl. u. d. T. Sozialistisches Liederbuch. Medien (1984–1994) sowie Präsidiumsmitgl. Kassel 1851) enthält jene zeit- u. geselldes Bundesschriftstellerkongresses, wo er schaftskrit. Lyrik (u. a. Weerth, Grün, Weit1989 dt.-dt. Literaturbegegnungen vermitling, Beck, Heine), die die »Gefühle und telte, außerdem einer der Initiatoren der Schmerzen« des Volkes artikulierte. rheinland-pfälz. Literaturtage u. des WettbeWeitere Werke: [Thomas] Chatterton. 2 Tle., werbes »Buch des Jahres in Rheinland-Pfalz« Barmen 1840 (Biogr., Dichtungen). – Der Kölner u. Jurymitgl. u. a. beim Kunstpreis RheinDom. Köln/Aachen 1842. – Kunstschätze u. Bauland-Pfalz sowie der Carl-Zuckmayer-Medenkmäler am Rhein. Mainz 1843. – Nordische Elfenmährchen u. Lieder. Lpz. 1844. – Austral. daille. P. lebte in Kirschweiler. In seinen Werken befasste sich P. mit GeMonatsztg. Melbourne 1860/61. – Dt. Ztg. Melschichte, Landschaft u. Mentalität der Bebourne 1861/62. – Gesch. der viktorian. Expedition zur Erforschung Australien’s. Melbourne 1862. – wohner seiner rheinländisch-pfälz. Heimat. Demokritos. Bibl. des lachenden Weltweisen. 1862. Die Handlung vollzieht sich stets in einem

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klar umrissenen räuml. u. zeitl. Rahmen, Pufendorf, Samuel von, auch: Severinus etwa einem Wirtshaus im Hunsrück (Landau de Monzambano, Petrus Dunaeus, Basiliu. a. 1977. 2. Aufl. u. d. T. Die Villa Erholung. us Hypereta, Julius Rondinus, Josua Erzählungen. Landau 1984. 3. Aufl. u. d. T. Schwartz, * 8.1.1632 Dorfchemnitz/SachVilla mit Gästen. Roman. Blieskastel 1997), zur sen, † 26.10.1694 Berlin. – NaturrechtsZeit der frz. Besatzung oder auf dem Höhe- philosoph, Historiker, Laientheologe. punkt der RAF-Aktivitäten in der Bundesrepublik. Seine Sympathie gilt dabei den »Un- Als P. am 7.11.1694 in der Berliner Nikolaibotmäßigen«, den Außenseitern, Sonderlin- kirche in Anwesenheit des Kurfürsten Friedgen, Staatsfeinden u. Störenfrieden, die an richs III. u. der ganzen kurfürstl. Familie den polit. Verhältnissen nicht selten schei- unter einem bunten Wappenschild begraben tern. Er fühlt sich psychologisch glaubhaft in wurde, endete ein an Kämpfen, Leistungen u. seine Charaktere ein. Die Handlungen sind Ehren reiches Leben, das in einer kinderreifantasievoll, angereichert mit skurrilen oder chen sächs. Pastorenfamilie begonnen hatte. drast. Details. In seiner mittleren Schaffens- P.s Vater Elias Esaias (1592–1648) war von periode, etwa in der im fiktiven Inselreich 1633 bis zu seinem Tod Pastor in Flöha, einer Montagua spielenden wissenschaftskrit. Er- Stadt im Vorland des Erzgebirges, die schwer zählung Der Therapeut oder die Irren auf der unter den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs Bastion (Ffm./Bln./Wien 1982), gab er den gelitten hatte. Dort verbrachte P. seine sihistorisch konkreten Hintergrund zugunsten cherlich nicht unbeschwerte Kindheit: Er war einer fiktiven Handlung auf, kehrte aber in fünf Jahre alt, als er miterleben musste, wie seinem Opus Magnum Hecht in Himmerod kaiserl. Soldaten die Wohnung der Familie (Landau 1990) wieder zu einer solchen zu- plünderten u. seinen Vater misshandelten u. rück. Der in der Eifel spielende, auf histor. fast ermordeten. Wie seine älteren Brüder Tatsachen beruhende Roman beschäftigt sich Jeremias, der Nachfolger seines Vaters als auf fantastisch-krit. Weise mit der Wieder- Pfarrer in Flöha wurde, u. Esaias, der mehr als 30 Jahre als Diplomat im schwed. Dienst bewaffnung der Bundesrepublik. Weitere Werke: Das unbotmäßige Leben des stand u. entscheidende Bedeutung für den Nikolaus Haffner. Neustadt/Weinstraße 1976. – Lebenslauf P.s haben sollte, besuchte er Glashaus mit Steinen. Landau 1979 (R.). – Geläch- (1645–1650) die kurfürstl. Landschule von ter am Weg. Landau 1992 (E.en). – Störverdacht. Grimma, wo er die damals an Gymnasien Erkundigungen über Durchreisende. Blieskastel übliche klassisch-rhetorische Erziehung 1996. – Das SS-Sonderlager/KZ Hinzert 1940–45. empfing. Von 1650 bis 1658 studierte er an Eine jurist. Dokumentation. 2 Bde., Ffm. der Leipziger Universität (zunächst an der 1998–2001. – Schinderhannes u. der junge ApolliArtistenfakultät, danach wahrscheinlich an naire. In: Guillaume Apollinaire an Mittelrhein u. der theologischen), wo er neben der luth. Mosel 1901–02. Hg. Kurt Roessler u. a. Andernach 2002, S. 79–86. – Die Strafverfolgung der Täter aus Orthodoxie auch die zeitgenössischen philodem KZ-System Hinzert. Birkenfeld 2003. – Her- soph. u. histor. Strömungen kennenlernte. ausgeber: Innenansicht einer Zeit. Anthologie zum 1657 studierte er an der Universität Jena, wo 40jährigen Bestehen des Landes Rheinland-Pfalz. er bes. von dem jungen Mathematikprofessor Speyer 1987 (zus. mit Bernd Goldmann u. Jens Erhard Weigel beeinflusst wurde, dessen Huppert). – Signale landeinwärts. Lit. an der Nahe. These von der Beweisbarkeit der Ethik u. der Texte aus drei Jahrhunderten. Birkenfeld 1987 Existenz der »entia moralia« (der morali(zus. mit Klaus Eberhard Wild). – Terror ’93. Lischen Wesen) P. für seine naturrechtl. Werke terar. Ess.s zu Fremdenhass, Gewalt u. Vertreibung. übernahm. Ein unerwünschter Heiratsplan Mainz 1993 (zus. mit Klaus Wiegerling). bewegte P., sich eine Stelle im Ausland zu Klaus-Peter Walter suchen. Durch die Vermittlung seines Bruders Esaias wurde er Hauslehrer bei dem schwed. Gesandten in Kopenhagen, Peter Julius Coyet (April 1658). Als Schweden überraschend den Frieden mit Dänemark brach u.

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Kopenhagen angriff, wurde er mit den anderen Mitgliedern der schwed. Gesandtschaft von den Dänen acht Monate lang in Haft genommen. Sein erstes Werk, das anonyme Gundaeus baubator Danicus (Amsterd. 1659), eine auf völkerrechtl. Argumente gestützte Widerlegung der dän. Rechtfertigung dieser Gefangennahme, wurde von diesen Ereignissen angeregt. In der Haft, in der er keine Bücher zur Verfügung hatte, versuchte er, »um sich von dem elend seiner Lage zu zerstreuen«, die mit eigenen Überlegungen bereicherten Lehren von Grotius u. Hobbes niederzuschreiben. Daraus entstand sein erstes Naturrechtswerk Elementa Jurisprudentiae Universalis (1660), das in Holland, wo er sich im Gefolge der Familie Coyet aufhielt (am 31.3.1660 wurde er an der Universität Leiden immatrikuliert), mit einer Widmung an den Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz veröffentlicht wurde u. das ihm im Okt. 1661 die Berufung zum Professor »iuris gentium et philologiae« an der philosoph. Fakultät der Universität Heidelberg einbrachte. In Heidelberg, wo er bis zum Frühjahr 1668 wirkte, war er nicht nur als Professor (s. die Dissertationes academicae selectiores, 1675 in Schweden gesammelt u. veröffentlicht) u. als Betreuer adliger, meist schwed. Studenten tätig, sondern auch als Verfasser von Auftragsschriften des Kurfürsten. Die berühmteste von diesen ist die Reichsverfassungsschrift De Statu Imperii Germanici (Genf [recte Den Haag] 1667), die er unter dem Pseud. eines angeblich im Reich umherreisenden Italieners, Severinus de Monzambano, veröffentlichte. In dieser brillanten satir. Schrift, die das Reich entheiligt u. die kath. Kirche scharf angreift, wird die Meinung des Heidelberger Hofes über die Verfassung des Reiches propagiert, das keine beschränkte Monarchie sei, sondern ein irregulärer Staat »monstro simile«, der einem System ungleicher Bundesgenossen nahe komme. Der Monzambano ist zum Teil in Zusammenarbeit mit dem reformierten Theologen Johann Ludwig Fabricius entstanden, dem P. wahrscheinlich auch die Kenntnis der Bundestheologie des Johannes Coccejus verdankte. Später, in seinem nachgelassenen Alterswerk Jus feciale divinum (Lübeck 1695), das eine

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Vereinigung der Lutheraner u. der Calvinisten begünstigen sollte, legte P. die Doktrin dieses reformierten Theologen zugrunde. 1665 heiratete P. in Heidelberg die intelligente, vermögende Witwe eines Heidelberger Juristen, Katharina Elisabeth Hedinger (geb. Palthen), die eine Tochter in die Ehe brachte. In Heidelberg wurden auch ihre gemeinsamen Töchter Christina Magdalena u. Emerencia Elisabeth geboren. Dank seiner guten Kontakte zu schwed. Amtsträgern (z.B. dem Reichskanzler Magnus de la Gardie) wurde er am 29.11.1667 als erster Prof. der jurist. Fakultät an die neu gegründete Universität Lund in Schonen (Südschweden) für das Fach Natur- u. Völkerrecht berufen. Die Lunder Jahre (1668–1676) sind von der Veröffentlichung seines Hauptwerkes De Jure naturae et gentium (Lund 1672) u. dessen Zusammenfassung De officio hominis et civis (Lund 1673) gekennzeichnet, die ihn in erbitterte Fehden, zuerst mit zweien seiner Kollegen, dem Juristen Nicolaus Beckmann u. dem Theologen Josua Schwarz, danach mit mehreren Vertretern der aristotel. Schulphilosophie in Deutschland, verwickelten. Gerade die von seinen Gegnern angegriffenen Hauptzüge seines Werkes sind diejenigen, die es noch heute für uns lesenswert machen: der Verzicht auf eine religiös-konfessionelle Begründung des Naturrechts, die Behauptung der gesetzesgebundenen Natur des Guten u. Bösen u. der Wertneutralität der phys. Natur, die Beschränkung des Naturrechts auf die zwischenmenschl. Beziehungen, der Versuch, alle natürl. Gesetze von einem einzigen Prinzip, dem Gebot der »socialitas« (d.h. dem friedl. Zusammenleben mit den anderen Menschen) abzuleiten, die Betrachtung des Staates u. der Ehe als artifizielle menschl. Schöpfungen, die erst durch einen Vertrag gestiftet werden. Die Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern sind in der Sammlung seiner polem. Schriften Eris Scandica (= Schwedischer Streit) (Ffm. 1686) eindrucksvoll, sarkastisch, unterhaltsam u. lehrreich dargestellt. Als 1676 der Ausbruch eines erneuerten Krieges zwischen Dänemark u. Schweden den Lehrbetrieb in Lund unterbrach, folgte P. einem Ruf zum Hofhistoriografen nach Stock-

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holm, nachdem er schon früher als Verfasser polit. Pamphlete für den König gearbeitet hatte (Discussio quorundam Scriptorum Brandenburgicorum. o. O. 1675). Dort stellte P. seine erfolgreiche Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten (Ffm. 1682) vor, die bes. für künftige Amtsträger gedacht u. auf die Lehre von den Interessen der Staaten gegründet war. Seine Aufgabe als Hofhistoriograf erfüllte er mit der quellenmäßigen Darstellung des Eingreifens Gustav Adolfs in den Dreißigjährigen Krieg u. der anschließenden Regierung der Königin Christina (Commentarii de rebus Suecicis. Utrecht 1686). Vor seiner Übersiedlung nach Berlin (Febr. 1688) hatte er auch seine Geschichte der Regierung Karls X. Gustav abgeschlossen, die aber erst postum erschien (De rebus a Carolo Gustavo Sueciae Rege gestis. Nürnb. 1696). Die Berufung P.s zum Hofhistoriografen in Berlin kündigte sich schon in der Widmung seines Werks über die Beziehungen zwischen Staat u. Kirche (De habitu religionis Christianae ad vitam civilem. Bremen 1687) an den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg an. In diesem bedeutenden Beitrag zur Toleranzproblematik, der unter dem Eindruck des Widerrufs des Edikts von Nantes u. der aggressiven Machtpolitik Ludwigs XIV. entstand, gelangte P. aufgrund der verschiedenen Aufgaben von Kirche u. Staat zu der Forderung, diese zwei Institutionen müssten getrennt sein u. der Herrscher habe die Gewissensfreiheit der Bürger zu achten. Viele Argumente dieses Werks sind denen der viel berühmteren Epistola de tolerantia (1689) von John Locke sehr ähnlich. In Berlin, wo er den Titel eines »Hof- und Kammergerichtsrats« erhielt, arbeitete er an der Darstellung der Regierung des kurz nach seiner Ankunft verstorbenen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Die Commentarii der rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni (Bln. 1695) wurden in wenigen Jahren zum Abschluss gebracht, sodass P. sich sofort an die Darstellung der Regierung des Nachfolgers Friedrichs III. machte. Das Werk De rebus Gestis Friderici III. blieb unvollendet u. dessen Fragment über die sog. zweite Englische Revolution wurde erst 1784 veröffentlicht. In Berlin wurde er auch als Sachverständiger in Kommissionen eingesetzt, die

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heiklere Fälle, wie den des »sozinianischen« Buchs von Friedrich Wilhelm Stosch, Concordia rationis et fidei (1692), beurteilen sollten. Schon in Schweden hatte er als Gutachter in philosophisch-religiösen Angelegenheiten gewirkt: in seinem Unvorgreiflich Bedencken über der deputierten von der Priesterschafft requeste wegen abschaffung der Cartesianischen Philosophie (um 1688) hatte er den Cartesianismus u. die Freiheit der Wissenschaften gegen die Forderung der Geistlichen verteidigt, den Cartesianismus aus den Universitäten zu verbannen. Im Frühling 1694 musste er eine Reise nach Schweden antreten. In Stockholm erlitt er einen Schlaganfall, u. als er, schon geschwächt, im Sept. 1694 nach Berlin zurückkam, infizierte sich einer der Füße so schwer, dass auch die Amputation die Blutvergiftung nicht mehr stoppen konnte u. er am 26.10.1694 »wie ein Marterer« (so erzählte seine Frau) starb. Die Leichenpredigt hielt der Pietist Philipp Jacob Spener, dem P. in den letzten Jahren nah stand. P.s scharfe Kritik der Metaphysik u. der aristotel. Schulphilosophie, seine bissige u. witzige Ironie hatten den jungen Christian Thomasius begeistert, der sein Schüler u. Vertrauter wurde. Kritisch dagegen war die Haltung von Leibniz, der P. u. a. vorwarf, die Gerechtigkeit vom Willen Gottes abhängig zu machen, statt sie als eine objektive Gegebenheit vorauszusetzen, der der göttl. Wille, weil Gott gerecht ist, entsprechen muss. Aber sein vernichtendes Urteil konnte den Siegeszug von P.s Naturrechtslehre in den deutschen, schweizerischen u. schott. Universitäten nicht verhindern. De officio wurde als Handbuch für den Ethikunterricht ein verlegerischer Erfolg. Zu diesem Siegeszug trugen wesentlich die frz. Übersetzungen des Hugenotten Jean Barbeyrac bei. Hugenotten waren übrigens auch die Übersetzer seiner histor. Werke u. verständlicherweise seiner Toleranzschrift. Ganz anders als Leibniz beurteilte Locke das De iure naturae et gentium als »the best work of that kind« (Works, 1801, Bd. 3, S. 272). Rousseau u. Montesquieu empfahlen u. schätzten es. Diderot benutzte es in seinen Encyclopedie-Artikeln, u. die geistigen Führer der amerikan. Revolution be-

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riefen sich neben Grotius u. Locke als Autoritäten auch auf P. In der Forschung blieb P. bis Mitte des 19. Jh. bes. in den Geschichten der Rechts- u. Moralphilosophie präsent. Ein Interesse für seine Geschichtsschreibung u. für seine polit. Auffassungen entstand zur Zeit der Reichsgründung (Droysen, Treitschke, Dilthey), während die Renaissance des Natur- u. Völkerrechts nach dem Ersten Weltkrieg die Neudrucke der Originale seiner drei Naturrechtswerke mit engl. Übersetzungen brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg u. bis zum Anfang der 1970er Jahre ist P. eher Objekt des Interesses der Historiker des neuzeitl. Privatrechts als der Historiker der Moral- u. polit. Philosophie gewesen; seit der Monografie von Denzer (1972) aber hat die stetig wachsende P.-Forschung immer mehr versucht, ihn wieder in seiner Zeit (bes. dank der quellenbasierten Arbeiten von Döring) u. innerhalb der geistigen Strömungen der Frühaufklärung zu verstehen. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Wilhelm SchmidtBiggemann. Bln. 1996 ff. Bisher erschienen: Bd. 1: Briefw. Hg. Detlef Döring. 1996; Bd. 2: De officio hominis. Hg. Gerald Hartung. 1997 (mit dt. Übers.); Bd. 3: Elementa jurisprudentiae universalis. Hg. Thomas Behme. 1999; Bd. 4: De jure naturae et gentium. Hg. Frank Böhling. 2 Tle., 1998; Bd. 5: Eris Scandica. Hg. Fiammetta Palladini. 2002; Bd. 9: Jus feciale divinum. Hg. D. Döring. 2004. – On the Natural State of Men. Hg. Michael Seidler. Lewiston u. Queenston 1990 (lat. u. engl. Text). – Die Verfassung des dt. Reiches. Hg. u. übers. v. Horst Denzer. Ffm./Lpz. 1994 (lat. u. dt. Ausg.). – Über die Pflicht des Menschen u. des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. u. übers. v. Klaus Luig. Ffm./Lpz. 1994 (nur dt. Übers.). – Kleine Vorträge u. Schr.en. Texte zu Gesch., Pädagogik, Philosophie, Kirche u. Völkerrecht. Hg. D. Döring. Ffm. 1995. Literatur: Bibliografie: Fiammetta Palladini: Discussioni seicentesche su S. P.: Scritti latini: 1663–1700. Bologna 1978. – Detlef Döring: P.Studien. Bln. 1991, S. 214–266. – Bibliothek: La biblioteca di S. P. Catalogo dell’asta di Berlin del settembre 1697. Hg. F. Palladini. Wiesb. 1999. – Weitere Titel: Horst Denzer: Moralphilosophie u. Naturrecht bei S. P. Mchn. 1972. Nachdr. Goldbach 1996. – Kjell Å. Modéer (Hg.): S. P. 1632–1982. Ett rättshistoriskt symposium i Lund 15–16 januari 1982. Lund 1986. – D. Döring: S. P. als Student in

Puganigg Leipzig. Lpz. 1994. – Ders.: Untersuchungen zur Entstehungsgesch. der Reichsverfassungsschrift S. P.s (Severinus de Monzambano). In: Der Staat 33 (1994), S. 185–206. – F. Palladini u. Gerald Hartung (Hg.): S. P. u. die europ. Frühaufklärung. Bln. 1996. – Bodo Geyer u. Helmut Goerlich (Hg.): S. P. u. seine Wirkungen bis auf die heutige Zeit. BadenBaden 1996. – F. Palladini: Stato, chiesa e tolleranza nel pensiero di S. P. In: Rivista storica italiana 109 (1997), S. 436–482. – T. J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment. Cambridge 2000. – Ian Hunter: Rival Enlightenments. Civile and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany. Cambridge 2001, S. 148–196. – Friedrich Vollhardt: Selbstliebe u. Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis v. naturrechtl. Denken u. moraldidakt. Lit. im 17. u. 18. Jh. Tüb. 2001. – Horst Dreitzel: S. P. In: Ueberweg, Bd. 4/2, S. 757–812 u. 854–562 (Bibliogr.). – Simone De Angelis: P. u. der Cartesianismus. Medizin als Leitwiss. u. die Rolle der Bibelhermeneutik in P.s Verteidigung des Naturrechts um 1680. In IASL 29 (2004), S. 129–172. – D. Döring: S. P. u. die Heidelberger Univ. in der Mitte des 17. Jh. In: Späthumanismus u. reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz u. Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jh. Hg. Christoph Strohm u. a. Tüb. 2006, S. 293–323. – Julia Haas: Die Reichstheorie in P.s ›Severinus de Monzambano‹: Monstrositätsthese u. Reichsdebatte im Spiegel der politisch-jurist. Lit. v. 1667 bis heute. Bln. 2006. – F. Palladini: P. disciple of Hobbes: The Nature of Man and the State of Nature: The Doctrine of Socialitas. In: History of European Ideas 34 (2008), S. 26–60. Fiammetta Palladini

Puganigg, Ingrid, eigentl.: I. Kapeller, verh. P., verh. Metzger, * 22.1.1947 Gassen/Kärnten. – Erzählerin, Lyrikerin. Nach einer abgebrochenen Drogistenlehre arbeitete P. in verschiedenen Berufen, u. a. als kaufmänn. Angestellte. Auf dem zweiten Bildungsweg holte sie die Matura nach. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in München. Bereits P.s erster Roman, Fasnacht (Mchn. 1981. Verfilmt u. d. T. Martha Dubronski; Regie: Beat Kuert), wurde von der Kritik gefeiert u. beim Klagenfurter Ingeborg-BachmannWettbewerb mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Jenseits aller literar. Moden erzählt P. die Geschichte von zwei »beschädigten Menschen«, von Außenseitern – geheimnis-

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voll verrätselt, in lakonisch-schlichter Spra- Pulver, Max, * 6.12.1889 Bern, † 13.6. che. Während der Leser in Fasnacht noch mit 1952 Zürich. – Lyriker, Erzähler, Dramaeiner »Story« konfrontiert ist u. im Krimi- tiker; Grafologe. nalroman La Habanera (Bln./Wien 1984) noch Ansätze zu einer Handlung angeboten wer- Schwer erschüttert über den Tod seines Vaden, präsentiert sich P.s folgender Roman, ters, begann P. nach eigener Erinnerung beLaila. Eine Zwiesprache (Ffm. 1988), aus- reits mit acht Jahren zu schreiben, wobei die schließlich als Aneinanderreihung von Nota- Motivation bereits weitgehend identisch mit ten. Briefe, Dialoge, Monologe u. Erzählan- derjenigen war, die sein ganzes späteres sätze wechseln einander ab – über Sprünge u. Schaffen bestimmen sollte: Er wollte sich Brüche werden bizarre, groteske, trag. u. über sich selbst u. über den Sinn des Lebens Klarheit verschaffen. Nach dem Gymnasium kom. Effekte erzielt. In ihrem bisher letzten Buch Hochzeit. Ein in Bern studierte P. ab 1908 in Straßburg, Fall (Ffm. 1992) verwendet P. die Auflösung Leipzig u. Freiburg/Br. Geschichte, Psychodes linearen Handlungsablaufes u. eine her- logie u. Philosophie (Dr. phil. 1911) u. vermetisch verknappte Sprache, um ein hochar- tiefte dann sein Wissen in Paris, wo er u. a. tifizielles Spiel mit dem Leser zu treiben. Bergson hörte. 1914–1924 lebte er, verheiraÄußerlich erscheint der Roman als eine Va- tet mit der Holländerin Berta Feldmann, in riation des Briefromans, bestehend aus Ton- München, war zunächst Assistent am Phäbandaufzeichnungen von brief-, tagebuch- u. nomenologischen Seminar Moritz Geigers u. dialogartigem Charakter, die gelegentlich wandte sich ab 1918 berufsmäßig der Grafovon reflexiven oder scheinbar berichteten logie zu. Gefördert von Rilke, debütierte P. Passagen unterbrochen werden. Das gemein- damals mit den von religiöser Inbrunst u. same Thema dieser Aufzeichnungen ist die einem gewissen formalen Klassizismus geSprache u. zgl. die sich darin manifestierende prägten Versen des Bandes Selbstbegegnung Dialektik von Nähe u. Distanz, Liebe u. Kälte, (Lpz. 1916) als Lyriker. Zwischen 1917 u. Zärtlichkeit u. Gewalt. Dargestellt wird diese 1921 versuchte er sich mit einigem Erfolg Dialektik anhand des »Wortkrieges« eines auch als Dramatiker, so mit Alexander der Große sadomasochistisch veranlagten Ehepaars, das (Lpz. 1917), der Parabel vom Aufstieg eines selbst für die intimste Kommunikation ein Gottmenschen zur Macht u. letztlich zur Erdistanzschaffendes Medium benötigt. In kenntnis, dass Seligkeit nur in der Selbstaufdiese merkwürdig gebrochene Intimität zieht gabe zu finden sei, oder mit der »Epiphanie« P. ihre Leser hinein, doch nicht ohne sie Christus im Olymp (Mchn. 1918), die den mittels einer fortwährend destabilisierenden christl. Gott in den Olymp einziehen u. dort an die Stelle der alten Götter treten lässt. Erzähltechnik ständig zu irritieren. Weiteres Werk: Es ist die Brombeerzeit die Nach der Begegnung mit Werfel u. Johannes R. Becher u. im Gefolge der Münchner Rätedunkle. Baden bei Wien 1978 (L.). Literatur: Mira Miladinovic´ : Zum Prosawerk I. revolution stimmte nicht nur der Lyriker – P.s. In: Acta Neophilologica 24 (1991), S. 93–99. – erstmals mit Auffahrt (Lpz. 1919) –, sondern Svjetlan Lacko Vidulic´ : Postmoderne Liebesprosa. I. auch der Dramatiker P. in den expressionist. P.s Sprach- u. Liebesexperiment ›Hochzeit. Ein Aufbruch mit ein. Typisch für diese StilrichFall‹ (1992). In: Zagreber Germanist. Beiträge 12 tung ist seine Komödie Das große Rad (Mchn. (2003), S. 79–99. – Antonella Gargano: Die Maske, 1921), die eine Liebesgeschichte mit der russ. der Spiegel u. der Fleischhauer. Der Karneval v. I. P. Oktoberrevolution verquickt u. die MenschIn: Jb. des Franz-Michael-Felder-Archivs 8 (2007), heit in einer schweren geistigen Krise zeigt, S. 57–65. an welcher die Unruhe das einzig HoffKristina Pfoser-Schewig / Alexander Schüller nungsvolle ist. Den gewichtigsten Beitrag zum literar. Expressionismus leistete P. jedoch mit seiner Prosa: den knappen, virtuosen Stimmungsbildern der Bände Kleine Galerie u. Arabische Lesestücke (beide Lpz. 1925)

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sowie v. a. mit dem Roman Himmelpfortgasse (Mchn./Zürich 1927. Neuausg. Zürich 1981. Ffm. 1990). Der Roman, der von der zeitgenöss. Kritik u. später auch von P. selbst als Darstellung einer verdorbenen Triebwelt abgelehnt wurde, bezieht einen guten Teil seiner Sprachgewalt u. v.a. seinen fiebrigen Rhythmus aus der Erfahrung mit der visionären Droge Kokain. Die Begegnung mit Mariquita, der jungen Malerin aus der Wiener Himmelpfortgasse, stürzt den Protagonisten Alexander Moenboom in eine Lebenskrise, die vom höchsten Taumel bis zur tiefsten Depression alle denkbaren Abstufungen durchläuft u. von P. mit der dem Psychologen eigenen Einfühlsamkeit nicht einfach beschrieben, sondern in Syntax u. Sprachduktus regelrecht seismografisch nachgezeichnet wird. Sieht man von den zwei wieder ganz im Konventionellen angesiedelten Lyrikbänden Neue Gedichte (Zürich 1939) u. Übergang (Zürich 1946) ab, so verstummte P., der seit 1924 als Grafologe in Zürich lebte, nach den negativen Reaktionen auf seinen einzigen Roman als Schriftsteller weitgehend u. beschränkte sich auf Publikationen wie Symbolik der Handschrift (Zürich 1930), Person, Charakter, Schicksal (Zürich 1944) oder Intelligenz im Schriftausdruck (Zürich 1949), mit denen er die Grafologie in den Rang einer Wissenschaftsdisziplin erhob. Literatur: Jan Haltmar: M. P. u. sein Roman ›Himmelpfortgasse‹. Diss. Zürich 1979. – Werner Günther: M. P. In: Dichter der neuen Schweiz 2. Bern 1968. – Charles Linsmayer: M. P. Nachw. zur Neuausg. v. ›Himmelpfortgasse‹. a. a. O. Charles Linsmayer / Red.

Pump, Hans (W.), * 9.3.1915 Tantow/ Uckermark, † 7.7.1957 Esmarkholm bei Schleswig. – Erzähler.

der Rückkehr aus dem Krieg wurde er Sozialbeamter in Hamburg. Wie für viele Schriftsteller seiner Generation war die Erfahrung des Kriegs für P. prägend. In seinem ersten Roman, Vor dem großen Schnee (Hbg. 1956), schildert er den Kampf dt. Soldaten gegen russ. Partisanen. An den drei Hauptfiguren, einem russ. Partisanenjungen, seiner Freundin Tanja u. dem Berichtenden, einem dt. Soldaten, versucht P. zu zeigen, dass das Streben nach Freiheit in einer Situation wie der des Kriegs unausweichlich in (tödliche) Verstrickungen führt u. nur zum Preis des Verrats (am Freund, an der Gemeinschaft, an den Kameraden) erlangt werden kann. Die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit ohne schuldhafte Verstrickung steht auch im Mittelpunkt der beiden Werke, die aus P.s Nachlass herausgegeben wurden: des Erzählbands Gesicht in dieser Zeit (Hbg. 1958) u. des Romans Die Reise nach Capuascale (Hbg. 1957). Dieser Roman handelt von einer jungen Frau, die auf der Flucht vor ihrem moralisch belasteten Elternhaus bei einem Zirkus ihre persönl. Freiheit wiederzufinden glaubt. Erst die Begegnung mit einem verkrüppelten Clown führt zu einer allmähl. Desillusionierung, an deren Ende die Einsicht in die Unmöglichkeit der Freiheit u. die Rückkehr in bürgerl. Lebensverhältnisse stehen. Stilistisch steht P. in der Nachfolge des Expressionismus durch Elemente wie »konstruierte Handlungen und Gespräche, [...] Protest gegen die Väterwelt und die nicht recht zu definierende Vorstellung eines neuen Lebens« (Rudolf Hartung). Literatur: Rudolf Hartung: ›Flucht in die Freiheit‹. In: NDH 4 (1957/58), S. 739–741. – Horst Bienek: ›Die Freiheit heißt Capuascale?‹ In: Frankfurter H.e 13 (1958), S. 666 f. Peter König / Red.

In den 1950er Jahren wurde P. als hochtalentierter Nachwuchsautor betrachtet. Sein Purmann, Purrmann, Matthäus Gottfried, früher Tod zerschlug jedoch alle in ihn ge- * 28.3.1649 Lüben/Schlesien, † 27.5.1711 setzten Hoffnungen u. ließ sein Werk bald in Breslau. – Publizist chirurgischer Sachvöllige Vergessenheit geraten. Über sein Le- bücher. ben ist wenig bekannt. Nach dem Abschluss einer kaufmänn. Lehre arbeitete er zunächst Nach wundärztl. Lehrjahren in Glogau (1665) als Spediteur. 1940–1945 war er Soldat. Nach u. Frankfurt/O. (1668) trat P. in Militärdienste (Küstrin 1669) u. nahm als Feldscher an Feldzügen des preuß. Kurfürsten Fried-

Purselt

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rich Wilhelm im Elsass, in Westfalen u. dt. Wundarzt im Dienste des Großen Kurfürsten. Pommern teil. Dann trifft man ihn in städti- In: Jb. für brandenburg. Landesgesch. 42 (1991), schen Diensten, zunächst in Halberstadt S. 53–64. – Michael Sachs: M. G. P. (1649–1711). (1680–1685), dann bis zu seinem Tode in Ein schles. Chirurg auf dem Weg von der mittelalterl. Volksmedizin zur neuzeitl. Chirurgie. In: Breslau (1690). Zu seinen persönl. Bekannten Würzburger medizinhistor. Mitt.en 12 (1994), zählten namhafte Mediziner (Heinrich Mei- S. 37–64. – Wlodzimierz Kaczorowski: M. G. P. In: bom, Helmstedt; Johann Sigismund Elsholtz, Ostdt. Gedenktage 1999, S. 80–84. – Werner E. Berlin). Gerabek: P., Prießnitz u. Kahlbaum – drei schles. Seine oft mehrfach gedruckten u. bei Lebensläufe. In: Würzburger medizinhistor. MitMehrfachausgaben im Textbestand schwan- t.en 18 (1999), S. 415–419. – Michael Sachs: Histor. kenden Schriften adressierte P. hauptsächlich Chirurgenlexikon. Ein biogr.-bibliogr. Hdb. bean »Professions-Verwandte«. Sowohl seine deutender Chirurgen u. Wundärzte. Heidelb. 2002, Monografien zur Pestbekämpfung (Kurtze [...] S. 319–326. – Markwart Michler: Der Breslauer Stadtarzt M. G. P. (1649–1711). In: Jb. der schles. Anweysung/ [...] alle Arten der [...] pestilentzischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Breslau 42–44 Drüsen [zu] erkennen. Ffm. 1680. Der [...] Pest- (2001–03), S. 91–112. Joachim Telle Barbierer. Halberstadt 1683), zur Cur der »Franzosen-Krankheit« (Ausführlicher Unterricht/ [...] Wie die Salivation-Cur/ [...] vorzuneh- Purselt, Conrad, * 26.4.1644 Pottenstein/ men. Liegnitz 1692) u. zur Schusswunden- Oberfranken, † 17.11.1706 Mainz. – Jeheilung (Funfftzig [...] Schuß-Wunden Curen. suit, Prediger. Ffm./Lpz. 1703, erstmals 1687 [Kleinfassung]) als auch seine thematisch weiter ge- Die Ordensliteratur vermittelt nur wenige spannten Werke (Der rechte [...] Feldscher/ Oder Lebensdaten. Demnach ist P. am 20.10.1662 [...] Feldschers-Kunst. Halberstadt 1680. Chir- in die Gesellschaft Jesu eingetreten u. wurde urgischer Lorbeer-Krantz/ oder Wund-Artzney. für insg. 26 Jahre emsiger Kanzeltätigkeit Halberstadt 1684) bieten vorzügl. Einblicke gerühmt, zunächst als Domprediger zu Fulin P.s ärztl. Praxis u. wurden bald von ein- da. Auf dem Titelblatt seiner ersten, dreibänflussreichen Autoren (Johann von Muralt, digen Publikation von Sonn- u. FeiertagsLorenz Heister) beachtet. Allerorten bekunpredigten, Fons aquae triplici scaturigine salientis det sich P.s gegen späthumanist. Normen lateinverwurzelter Akademikerärzte gerichte- in vitam aeternam. Ein Brunn des mit dreyfacher tes Bestreben, ein seit dem SpätMA unter Quellen springenten Wassers (Augsb./Dillingen Medizinern um sich greifendes Sprachver- 1698–1702), bezeichnet er sich dann als »des halten fortzuführen u. sich einer »unzierli- Kayserlichen Hohen Dohm-Stifts Bamberg chen«, »recht«- u. »gemein-deutschen Re- dermaligen in das Siebende Jahr Predigern«. dens-Art« zu bedienen. Neuzeitliche Histo- Zuletzt wirkte P. in Mainz. Außer Einzelriografen erinnern an P.s prakt. Tätigkeiten predigten brachte er noch einen weiteren etwa auf dem Gebiet der Bluttransfusion, Zyklus u. d. T. Tres propagines evangelicae veriintravenösen Injektion u. Trepanation; hin- tatis [...] Das ist: Drey Reben evangelischer Warheit gegen liegen seine fachsprachl. Leistungen oder drey-jährige Sonn- und Feyertägs-Predigen bei der Verschriftlichung wundärztl. Erfah- (Augsb./Dillingen 1706–09) zum Druck. P. pflegte einen sicherlich publikumswirksarungswissens im Dunkel. men Kanzelstil unter häufiger Verwendung Weitere Werke: Chirurgia Curiosa. Ffm./Lpz. von Sprichwörtern, Redensarten u. mitunter 1699. – Curiöse Chirurg. Observationes. Ffm./Lpz. skurril anmutenden Metaphern; er übermit1710. telt eindrucksvolle Kulturbilder seiner Zeit. Literatur: H. Frölich: P. In: ADB. – Jonas Graetzer: Lebensbilder hervorragender schles. Ob es sich bei den Druckfassungen, wie von P. Aerzte aus den letzten vier Jahrhunderten. Breslau angegeben, tatsächlich um das »mündlich 1889, S. 62–64. – Albert Koehler: Kriegschirurgen vorgetragene Predigwerck« oder um nachu. Feldärzte des 17. u. 18. Jh. Bln. 1899, S. 86–114. trägl. Überarbeitungen handelt, muss, wie – Hans-Joachim Schwengler: Matthaeus G. P., ein auch bei anderen Kanzelrednern des Barock, /

Pustkuchen

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in Frage gestellt werden. Predigtmanuskripte wie von Abraham a Sancta Clara, die Vergleiche ermöglichen würden, liegen von P. nicht vor.

neren Ordnungsregeln des Meistergesangs; es sollte den Meistersingergesellschaften als Handbuch dienen u. ihre Kunst zgl. nach außen rechtfertigen.

Ausgabe: Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 842–848, 1284.

Ausgaben: Das Singebuch des A. P., nebst den Originalmelodien. a. A. Behaim u. Hans Sachs. Lpz. 1906. Nachdr. Hildesh. u. a. 1970. – Gründl. Ber. des dt. Meistergesangs. Hg. Brian Taylor. 2 Bde., Göpp. 1984. – Dass. in: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CR-ROM).

Literatur: Bibliografien: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 237, 275. Bd. 2, S. 743. – VD 17. – Weitere Titel: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 276–284. – Dies.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen [...]. Stgt. 1991, passim. – Peter Stoll: Analoge Strukturen in der barocken Heiligenpredigt am Beispiel der Predigten v. C. P. (1644–1706). Diss. Augsb. 1993. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Puschman, Adam, * 1532 Görlitz, † 4.4. 1600 Breslau. – Meistersinger.

Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Hans-Jürgen Schlutter: A. P.s Skansionsbegriff. In: ZfdA 97 (1968), S. 73–80. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. – Reinhard Hahn: ›Die löbliche Kunst‹. Studien zu Dichtung u. Poetik des späten Meistergesangs am Beispiel A. P.s. [...]. Wroclaw 1984. – RSM 8, S. 562–623 (mit Hinweisen auf weitere Ausg.n). – Johannes Janota: A. P. Vom Poeten zum Poetologen. In: Autorentypen. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 144–163. – Johannes Rettelbach: Variation, Derivation, Imitatio. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Andrzej Wolanski: A. P. u. seine Kunst des Meistergesanges [...]. In: Beiträge zur Musikgesch. Schlesiens. Hg. Jaroslaw Stepowski u. a. Bonn 1994, S. 9–18. – R. Hahn: Meistersinger in Schlesien. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 75–102. – J. Rettelbach: A. P. In: NDB. – Ders.: A. P. In: MGG 2. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. 1077 f. Heinz Wittenbrink / Red. /

P. machte eine Schneiderlehre u. wurde auf der Wanderschaft in Frankfurt/M., Augsburg u. vor allem in Nürnberg (1555/56–1561; enger Kontakt mit Hans Sachs) mit dem Meistergesang vertraut. 1561 kehrte er nach Görlitz zurück; er besaß dort 1562–1567 einen Kramladen. Etwa 1578 zog er nach Breslau, wo er sich wohl als Schulhalter etablieren konnte. P. sammelte bereits in Nürnberg Meisterlieder; sein nach dem Vorbild der Kolmarer Liederhandschrift angelegtes Singebuch (1584; Pustkuchen(-Glanzow), Johann Friedrich Handschrift verloren) überliefert 300 Töne. P. Wilhelm, * 4.2.1793 Detmold, † 2.1.1834 selbst hinterließ mit 180 Liedern eines der Wiebelskirchen. – Theologe u. Schriftumfangreicheren Liedcorpora des späten steller. Meistergesangs; bekannt blieb das (in Des Knaben Wunderhorn aufgenommene) Elogium Der Sohn eines Organisten studierte in Götreverendissimi viri Johannis Sachsen, Noribergensis tingen Theologie, wurde Hauslehrer u. (1576). Wie seine Lieder gilt die 1580 ge- Hilfsprediger u. trat 1820 seine erste Pfarrschriebene u. 1592 in Görlitz gedruckte Co- stelle in Lieme bei Lemgo an. Nach heftigen media. Von dem Patriarchen Jacob, Joseph und sei- Auseinandersetzungen u. a. um einen von P. verfassten Katechismus für den Konfirmannen Brüdern als recht unbeholfen. Eine der wichtigsten Quellen zur Praxis des denunterricht musste er 1827 sein Amt aufMeistergesangs ist P.s Gründtlicher Bericht des geben u. versuchte, sich in Herford als Zeitdeudschen Meistergesangs (Görlitz 1571). Das in schriftenredakteur u. freier Schriftsteller einer zweiten (im Singebuch) u. einer dritten durchzuschlagen. Seine sehr schlechte mateFassung (Frankf./O. 1596) in Richtung auf rielle Lage besserte sich erst, als ihm 1830 eine umfassende Poetik des dt. Verses ausge- eine Pfarrstelle in Wiebelskirchen übertragen baute Werk behandelt, durchgängig orien- wurde. tiert an den Nürnberger Kunstregeln, VersP. veröffentlichte neben einer Vielzahl arten, Töne u. Melodien sowie die allgemei- theologischer Schriften histor., pädagog. u. /

Putlitz

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staatstheoret. Abhandlungen, denen christ- (1987), S. 122–133. – Thomas Wolf: P. u. Goethe. lich-konservative Auffassungen zugrunde Tüb. 1999. – Ders.: P. In: NDB. Hans-Martin Kruckis / Red. liegen. Größere Aufmerksamkeit erregten neben kirchenpolit. Schriften (u. a. Die Rechte der christlichen Religion über die Verfassung Putlitz, Gustav Heinrich Gans Edler Herr christlicher Staaten. Schleswig 1822) seine Kritik von und zu, * 20.3.1821 Retzin/Mark der Schulen und der pädagogischen Ultras (Bremen Brandenburg, Westpriegnitz, † 5.9.1890 1824) u. die pädagog. Zeitschrift »Levana« Retzin/Mark Brandenburg, Westpriegvon 1829. nitz. – Dramatiker, Erzähler, Intendant. P. wäre jedoch vergessen, hätte er nicht mit seinem anonym erschienenen Roman Wilhelm Der Gutsbesitzersohn P. besuchte ab 1831 das Meisters Wanderjahre (5 Bde., Quedlinb./Lpz. Gymnasium in Magdeburg, studierte nach 1821–28) einen der größten Skandale der dt. der Reifeprüfung 1841 in Berlin u. HeidelLiteraturgeschichte verursacht. Der erste berg Rechtswissenschaften. Seit 1846 TätigBand erschien wenige Wochen vor der Erst- keit bei der Provinzialregierung in Magdefassung von Goethes Wanderjahren u. löste burg; nach einer Italienreise 1848 Rückkehr großes Rätselraten über den Verfasser aus, der nach Retzin, Übernahme des Gutes nicht zuletzt unter den prominentesten zeit- (1853–1863) u. Heirat 1853 mit der Gräfin genöss. Autoren vermutet wurde. P. griff hier Elisabeth von Königsmark. 1863–1867 leitete Goethe wegen dessen angebl. Amoralität u. er auf Anregung des bis dahin amtierenden religiöser Indifferenz an u. ließ den Titelhel- Schweriner Hofintendanten, Friedrich von den aus einer nach Goethes Grundsätzen ge- Flotow, das Hoftheater in Schwerin. 1867 lebten ungeregelten Lehrjahre-Existenz zu ei- wurde P. Hofmarschall des preuß. Kronprinnem sinnvollen Leben auf christlich-ständ. zen Friedrich Wilhelm (späterer Kaiser Grundlage finden. Diese literarisch insg. Friedrich Wilhelm III.) in Potsdam. Seit 1868 dürftige Arbeit hatte nachhaltige Signalwir- umfassende schriftstellerische Tätigkeit in kung für die heftige polit. u. religiöse Goethe- Berlin, bis P. 1873 auf Wunsch des GroßherKritik der nächsten Jahrzehnte. Heine rech- zogs Friedrich I. von Baden zum Intendanten nete in der Romantischen Schule mit P. ab, u. des Hoftheaters in Karlsruhe ernannt wurde. noch 1837 widmete ihm der junge Marx 1889 trat P. aus Altersgründen in Karlsruhe mehrere Spottgedichte. Goethe selbst hielt zurück, nachdem er Erbmarschall der Kursich mit öffentl. Reaktionen zurück (in Faust mark Brandenburg u. damit Mitgl. im preuß. II gibt es allerdings eine versteckte Anspie- Herrenhaus geworden war. Vor seinem Tode lung auf P.), scheint aber von der Affäre wurde P. zum Ehrenmitgl. des Deutschen schwer getroffen gewesen zu sein. Der Roman Bühnenvereins. fand mehrere Fortsetzungen durch z.T. nie Das umfangreiche literar. Werk des Theaermittelte Autoren. terenthusiasten P. begann mit einer Reihe Weitere Werke: Die Natur des Menschen u. von meist einaktigen Lustspielen. Die entseines Erkenntnisvermögens als Fundament der sprechende dramaturg. Verfahrensweise hatErziehung psychologisch entwickelt. Lpz. 1818. – te sich P. auf seinen Studienreisen (Wien u. Das Ideal der Staatsökonomie. Schleswig 1822. – Italien 1847/48), Frankreich (1850) u. EngHist.-krit. Untersuchung der bibl. Urgesch. Halle land (1851) über die jeweilige Theaterpraxis 1823. – Die Wiederherstellung des ächten Protes- angeeignet. Seine eigenen Lustspiele (4 Bde., tantismus. Hbg. 1827. – Erzählungen. Iserlohn Bln. 1853–60, darunter u. a. Das Herz vergessen, 1832. Badekuren, Zwei Tarsen, Die blaue Schleife, Spielt Literatur: Wolfgang Merkel: J. F. W. P. u. die nicht mit dem Feuer, Das Schwert des Damokles, ›falschen Wanderjahre‹. Diss. o. O. 1975. – HansFamilienzwist und Frieden) orientieren sich Martin Kruckis: Enträtselte Welt. Anmerkungen zu P.s ›Falschen Wanderjahren‹. In: Grabbe-Jb. 6 strukturell an den frz. Boulevardstücken, v. a. an den Werken Eugène Scribes. Auf Anregung Friedrich Halms verfasste P. auch eine Reihe von »vaterländischen« u. histor. Dra-

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Puttkamer

men, die wenig Erfolg hatten (Das Testament kamer, seit 1871 Staatssekretär von Elsassdes Großen Kurfürsten, Wilhelm von Oranien in Lothringen (bis 1901), u. suchte durch ihren Whitehall, Waldemar u. das Trauerspiel Don Salon u. die eigenen Schriften für dt. Wesen Juan d’Austria). Die 1848 beginnende Freund- u. Kultur im Elsass zu werben (vgl. ihr Geschaft mit Willibald Alexis begründete den schichtswerk: Die Ära Manteuffel. Stgt./Lpz. großen Erfolg der in der Jugendzeit verfass- 1904. Aus Vergangenheiten. Ein elsäßisches Balten Märchenidylle Was sich der Wald erzählt ladenbuch. Straßb. 1899). In Mehr Wahrheit als (Bln. 1850; bis 1990 in 50 Auflagen u. zahl- Dichtung (Bln. 1919) schreibt sie gefühlsselig reichen Übersetzungen weit verbreitet). P. u. ichbezogen von ihrem Leben in der oberen verfasste außerdem eine Reihe von Novellen Gesellschaftssphäre, die ihre Lyrik (Akkorde u. umfangreicheren Prosaerzählungen sowie und Gesänge. Straßb. 1889. Offenbarungen. Stgt. ein Opernlibretto für Friedrich von Flotow 1894. Mit vollem Saitenspiel. Bln. 1912), ihre (Indra. Wien 1852). Von theatergeschichtl. Dramen (Kaiser Otto III. Glogau 1883. Merlin. Bedeutung sind P.’ kommentierte Ausgabe Bln. 1911) u. den Essayband Aus meiner Geder Briefe, Tagebücher u. Theater-Briefe Karl dankenwelt (Bln. 1913) begeistert aufnahm u. Immermanns (Theater-Briefe. Bln. 1851. Sein in ihr das Vorbild einer deutschgesinnten Leben und seine Werke. 2 Bde., Bln. 1870) u. P.’ Autorin zu erkennen meinte. eigene Kindheits- u. Jugenderinnerungen Literatur: Stefan Zweig: A. v. P. In: Das literar. (Mein Heim. Erinnerungen aus Kindheit und Ju- Echo 8 (1905/06). Eda Sagarra gend. Bln.n 1885. 21886). Seine Ausgewählten Werke erschienen in 6 Bänden (Bln. 1872–77), Puttkamer, Gertrud Freifrau von, geb. ein Ergänzungsband folgte 1888. Günther, auch: Marie Madeleine, * 4.4. Weitere Werke: Don Juan de Austria. Bln. 1863 (Trauersp.). – Waldemar. Bln. 1863 (D.). – Theatererinnerungen. 2 Bde., Bln. 1874. – Das Schwert des Damokles. Bln. 1878 (Lustsp.). – Rafaella. Stgt. 1881 (N.). – Rolf Bernd. Bln. 1881 (Schausp.). – Die Halben. Bln. 1868 (N.). Literatur: Elisabeth zu Putlitz: G. zu P., ein Lebensbild [...]. Bln. 1894. – Heinz Bär: Dt. Lustspieldichter unter dem Einfluß v. Eugène Scribe. Diss. Lpz. 1923. – Marion Erhardt: Camões – Protagonista de una ópera romântica alemã. In: Revista portugesa de estudos germanisticos 3 (1985), S. 3–8 (zu P.’ Oper ›Indra‹). – Kosch. – Bernhard v. Barsewisch u. Torsten Foelsch: Sieben Parks in der Prignitz. Gesch. u. Zustand der Gutsparks der Edlen Herren zu Putlitz. Bln. 2004. Bärbel Puff / Rudolf Denk

Puttkamer, (Anna Lucie Karoline) Alberta von, geb. Weise, * 5.5.1849 Glogau, † 17.4.1923 Baden-Baden. – Lyrikerin, Essayistin, Dramatikerin. »Aus dem überströmend reichen Born meiner Empfindung« habe sie so viele ihrer Landsleute beschenkt, stellte P., postume Tochter eines schles. Großbürgers, rückblickend fest, denn »deutsch, ja deutsch bin ich bis zum Kerngrund meines Lebens«. Die Goethe-Epigonin heiratete mit 18 Jahren Max von Putt-

1881 Eydtkuhnen/Ostpreußen, † 30.9. 1944 Katzenelnbogen/Taunus; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Lyrikerin, Erzählerin. Als Frau eines Generalmajors a. D. († 1914) lebte P. in Berlin, später in Baden-Baden u. an der Riviera; in der zweiten Lebenshälfte war sie Morphinistin. Bekannt wurde sie unter ihrem Sünderin-Pseud. mit schwülstigschwüler, triebentfesselter Liebeslyrik voller Pflanzen- u. Raubtiermetaphorik aus dem Umkreis der Décadence-Literatur. Am erfolgreichsten war ihr Erstlingsband Auf Kypros (Bln. 1900. 461911), mit für diese (Post-)Pubertätslyrik bezeichnenden Titeln wie Aus dem Tagebuch einer demivierge. P., die bekannte: »Selbst zu erleben find’ ich ruinös!«, setzte auch in der Folge, etwa mit den Novellen Der süße Rausch (Lpz. 1916), den eingeschlagenen Weg fort. Für ihre Lyrik fanden sich eine Reihe Nachahmerinnen. Ausgaben: Ausgew. Werke. 2 Bde., Lpz. 1924. – Die rote Rose Leidenschaft. Gedichte u. Prosa. Mchn. 1977. Arno Matschiner / Red.

Pyra

Pyra, Immanuel Jakob, * 25.7.1715 Cottbus, † 14.7.1744 Berlin. – Lyriker, Übersetzer, Dichtungstheoretiker. P.s Lebenszeit war kurz bemessen, sein Werk allerdings – wenn auch dem Umfang nach bescheiden – erhielt eine nicht geringe Bedeutung für die literar. Entwicklung des 18. Jh. im Übergang zwischen der Gottsched-Ära u. der Klopstock-Zeit. Aus wenig begüterten bildungsbürgerl. Verhältnissen stammend – sein Vater war ein in seiner Berufsausübung stark eingeschränkter Advokat –, studierte P. nach dem Besuch des Gymnasiums in Bautzen 1734–1738 Theologie in Halle (u. a. bei Sigmund Jakob Baumgarten u. Joachim Lange) u. geriet so in das Spannungsfeld einer von pietist. Frömmigkeit geprägten u. sich zgl. (beispielhaft an den weiteren akadem. Lehrern Georg Friedrich Meier u. Alexander Gottlieb Baumgarten, bei dem P. Privatvorlesungen über Ästhetik u. Metaphysik hörte) der ästhet. Sinnenfreude öffnenden Kultur. Ende 1736 erhielt der mittellose P. eine Informatorenstelle in der dt. u. lat. Schule der Franckeschen Anstalten zu Halle, wurde jedoch schon 1737, weil er u. a. »im regime zu Exzessen geneigt«, wieder abgesetzt. Der mit dem älteren Studienkollegen Samuel Gotthold Lange (Sohn seines theolog. Lehrers Joachim Lange) geschlossene enge Freundschaftsbund, dem die beiden auch literarisch Ausdruck verliehen (Thirsis’ und Damons freundschaftliche Lieder), wurde vorbildlich für den Freundschaftskult der Empfindsamkeit. Auf Einladung Langes trat P. in die 1733 nach dem Vorbild der Leipziger »Deutschen Gesellschaft« (Gottsched) gegründete Hallenser »Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit« ein. Nachdem Lange 1737 eine Pfarrstelle in Laublingen (nahe Halle) angenommen hatte, fand auch der nach dem Abschluss seines Studiums zunächst ohne Anstellung bleibende P. dort Aufnahme. Literarisch ambitioniert, korrespondierte P. seit 1737 u. a. mit Gottsched u. Johann Jakob Bodmer. Nach kurzer Hauslehrertätigkeit verließ P. 1742 endgültig die ländl. Idylle der »poetischen Insel« Laublingen, um eine Gymnasiallehrerstelle am Köllnischen Gymnasium in Berlin

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anzutreten, an dem er noch zum Konrektor aufrückte. In Berlin schloss P. Bekanntschaft mit den Anakreontikern Johann Christoph Rost, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der später bedeutende Teile von P.s Nachlass erhielt, u. Ewald Christian von Kleist. Nicht einmal dreißigjährig starb der gesundheitlich stets angegriffene P. 1744 in Berlin. Mit Samuel Gotthold Lange zur »Ersten Hallischen Dichterschule« zählend, debütierte P. in Halle mit dem anonym publizierten allegor. Versepos Der Tempel der wahren Dichtkunst mit dem Untertitel Ein Gedicht in reimfreyen Versen von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft in Halle (Halle 1737. Neudr. Heilbr. 1885), das zgl. sein poetolog. Programm einer »heilig-erhabenen« Poesie enthielt, das sowohl die rationalist. Literaturkritik als auch pietist. Kunstverächter provozieren musste. In deutl. Anlehnung an die engl. Welt – bes. Milton u. Pope – weist P. das für die Gottsched-Schule noch maßgebliche klassizist. frz. Kulturideal ab u. setzt ihm eine an der christl. Tugendlehre orientierte Poesie entgegen, des Weiteren ergreift er mit dem programmatisch gewählten reimlosen Alexandriner in der zeitgenöss. Diskussion entschieden gegen die Verfechter des Reims als qualitativem Merkmal der Dichtkunst Partei. In fünf Gesängen werden einerseits unter Führung der »heilgen Poesie« die Bezirke der »falschen Poesie« (ausgewiesen durch ihre Nähe zu Wollust, Ehrsucht u. Geiz) wie der »wahren Poesie« (ethisch qualifiziert durch ihre angemessene Verbindung von moral. Ernst u. anmutiger Sinnenfreude) durchmessen u. andererseits, ausgehend von den in ihrer besonderen literar. Qualität gerühmten bibl. Schriften, ein literaturgeschichtl. Kanon vorbildlicher christl. Poesie entworfen (u. a. Prudentius, Luther, Vida, Milton, Opitz, Fleming, Gryphius), innerhalb dessen schließlich auch der Freund Lange (dem das Gedicht gewidmet ist) die höchsten Weihen als Priester dieser Dichtkunst erfahren kann. P.s Plädoyer für die Bibel als poet. Gegenstand, sein Konzept einer religiös wie ästhetisch-literarisch anspruchsvoll begründeten »Heiligen Poesie« sowie der inspirierte Erhabenheitsgestus in der Vates-Figuration des Dichters haben ihre Wirkung auf die Zeitgenossen

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nicht verfehlt. Klopstock wird das Programm mit seinem Messias (1748 ff.) mit großem Erfolg aufnehmen. Im Streit zwischen Leipzig u. Zürich stand P. anfangs auf Seiten Gottscheds, den er als Kombattanten in seinem Kampf gegen den Reim ansah u. dem er eine Probe seiner reimlosen Vergil-Übersetzung zur Prüfung übersandt hatte (von Gottsched allerdings kritisch kommentiert, publiziert in den Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Bd. V, 17. St., 1737). Schließlich wandte sich P. jedoch auf die Seite Bodmers u. Breitingers. So legte er 1743 in seinem Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe (Hbg. u. Lpz. 1743/44. Neudr. Hildesh./New York 1974), mit einer Verteidigung von Miltons Bibelepos Paradise Lost (1667; von Bodmer 1732 ins Deutsche übertragen) eine entschiedene, auf das Recht der Fantasie pochende u. dem natürl. »poetischen Feuer« des Dichters maßstabsetzende Bedeutung zuweisende Abrechnung mit der Regeldoktrin der Gottsched’schen Dichtkunst vor. Ebenso bedeutsam u. auf ein autonomieästhet. Literaturverständnis vorausweisend ist P.s im Erweis [...] formulierte Auffassung, dass es »abgeschmackt [sei], eine dichtermäßige Vorstellung, wie einen theologischen oder philosophischen Aufsatz zu richten, da sie durch gantz verschiedne Gemütskräfte, folglich nach gantz verschiednen Regeln gemacht sind.« Seine Fortsetzung des Erweises [...] (Bln. 1744. Neudr. Hildesh./New York 1974) exemplifiziert diese Kritik in scharfsinnig-polem. Weise u. trägt erheblich zum Verfall der Autorität Gottscheds bei, den Lessing schließlich im 17. Literaturbrief (1759) besiegeln wird. Entscheidende Impulse gewinnen P.s literaturkrit. Stellungnahmen u. sein eigenes literar. Werk aus der Beschäftigung mit Ps.-Longins Schrift Vom Erhabenen, an deren Übersetzung wie auch an einer eigenen Theorie des Erhabenen P. arbeitete (Über das Erhabene. Hg. Carsten Zelle. Ffm. u. a. 1991). Beide Unternehmungen blieben jedoch Fragment. In engem Austausch mit Lange verfasste P. außerdem Oden (u. a. Das Wort des Höchsten, 1738, in der Vorrede mit einer bemerkenswerten Abgrenzung der Dichtkunst von der

Pyra

Rhetorik: »Was ein Redner an schlechten Metaphern sagt, das verwandelt der Dichter in lauter Vorstellungen«) u. v.a. die seinen Nachruhm begründenden »Freundschaftlichen Lieder«, die von Bodmer nach P.s Tod – zus. mit denen Langes – unter dem anakreontisch verschleiernden Titel Thirsis’ und Damons freundschaftliche Lieder (Zürich 1745), erweitert von Lange dann in Halle 1749 (mit Angaben über P.s Pläne u. Nachlass), herausgegeben wurden (Neudr. Heilbr. 1885. Nendeln 1968). Unter dem Eindruck eines starken u. als einzigartig begriffenen Freundschaftsgefühls gelingt insbes. P. ein Sprachton, der die Themenkreise von Gott, Natur u. Poesie mit lebhafter Empfindung auffüllt u. so Tugend u. Freude in eine Antike (Horaz) u. Christentum vermittelnde Beziehung setzt. Andererseits überhöhen P. u. Lange, mystisch-pietist. Vorstellungen adaptierend, in den Freundschaftlichen Liedern ihre, noch um »Doris« (Langes Ehefrau Anna Dorothea geb. Gnüge) erweiterte Seelengemeinschaft zu einem heiligen Bund, der für die kommenden Jahrzehnte empfindsamen Freundschaftskultes stilbildend werden sollte. So haben die bei aller Typisierungstendenz auch als Beginn der Erlebnislyrik geltenden Freundschaftlichen Lieder den Halleschen Dichterkreis in die Literaturgeschichte eingeschrieben, anziehend gleichermaßen für die Anakreontiker wie für die »Heilige Poesie« Klopstocks oder des jungen Wielands u. beiden so gegensätzl. literar. Strömungen des Jahrhunderts vorarbeitend. Abgesehen von der kurzlebigen, verschollenen Zeitschrift »Gedanken der unsichtbaren Gesellschaft« (neun Stücke. Halle 1741) blieben P.s weitere literar. Arbeiten – Übersetzungen (Gesänge aus der Aeneis, Proben zur Ilias), literaturkrit. Abhandlungen, ein satir. »Heldengedicht« Bibliotartarus (1741) u. Dramen (v. a. mit bibl. Stoffen: Saul, Jephta) – unveröffentlichte u. durch seinen frühen Tod unvollendet gebliebene Bruchstücke (Teilnachlass im Gleimhaus, Halberstadt). Sie, wie sein übriges Werk, weisen ihn als einen Schriftsteller aus, dessen Bemühung um eine Verbindung von antiker u. christl. Welt, Moralität u. Sinnlichkeit sowie der Emanzipation der literarästhet. Kritik u. literar. Pro-

Pyramus und Thisbe

duktion von philosoph. u. theolog. Vorgaben von hoher Signifikanz für die vielfältigen Strömungen der dt. Frühaufklärung sind. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Gustav Waniek: I. P. u. sein Einfluß auf die dt. Lit. des 18. Jh. [...]. Lpz. 1882. – Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult u. Freundschaftsdichtung [...]. Halle/S. 1936. – Ferdinand Joseph Schneider: Das geistige Leben in Halle im Endkampf zwischen Pietismus u. Rationalismus. In: Sachsen u. Anhalt 14 (1938), S. 137–166. – Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik u. literar. Selbstdarstellung im achtzehnten Jh. Stgt. 1982. – Burkhard Dohm: P. u. Lange. Zum Verhältnis von Empfindsamkeit u. Pietismus in ihren ›Freundschaftlichen Liedern‹. In: Dichtungstheorien der dt. Frühaufklärung. Hg. Theodor Verweyen. Tüb. 1995, S. 86–100. – Jutta Heinz: Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung v. I. P.s ›Tempel der wahren Dichtkunst‹. Ebd., S. 73–85. – Carsten Zelle: ›Logik der Phantasie‹. Der Beitr. v. I. J. P. zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung. Ebd., S. 55–72. – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literar. Modell bei P., Klopstock u. Wieland. Tüb. 1997. – Hans-Georg Kemper: Der Himmel auf Erden u. seine poet. Heiligung. Säkularisierungstendenzen in den ›Freundschaftlichen Liedern‹ v. I. J. P. u. Samuel Gotthold Lange. In: ›Geist=reicher‹ Gesang. Halle u. das pietist. Lied. Hg. Gudrun Busch u. Wolfgang Miersemann. Tüb. 1997, S. 269–286. – Ders.: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6.1, Tüb. 1997. – Carsten Zelle: P. In: NDB. Klaus Bohnen / Joachim Jacob

Pyramus und Thisbe, erste Hälfte 14. Jh. oder später. – Mittelhochdeutsches Märe. Die novellist. Kurzerzählung ist in zwei Mären-Handschriften, aus Innsbruck (1393) u. aus Tirol (um 1456), überliefert. Der unbekannte Verfasser, der wohl aus dem alemann. Sprachraum stammt, greift auf Ovids Metamorphosen zurück (IV, 55–166), vermutlich nicht auf das altfrz. Fabliau Piramus et Tisbé (um 1170) oder auf mlat. Fassungen. Der Darstellung Ovids, eines im MA viel gelesenen Schulautors, entspricht der Handlungsverlauf. Da die Eltern der beiden Nachbarskinder eine Verbindung zu verhindern suchen, können sich die Liebenden nur durch eine Mauerritze verständigen. Eine Zusam-

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menkunft vor der Stadt Babylon misslingt: Pyramus tötet sich, als er Thisbe von einem Löwen zerrissen glaubt; sie folgt ihm in den Tod. Hervorgehoben ist im mittelalterl. Märe die Bewachung (»huote«), die den Liebenden zum Verhängnis wird, v. a. aber der Preis ihrer bedingungslosen Minne u. Treue, deren Entstehen nicht weiter begründet wird. Beide empfinden ihren Selbstmord als ein Sterben für den anderen; beide erflehen von Gott die Vereinigung ihrer Seelen. Thisbes Bitte um ein göttl. Gnadenzeichen wird in der wundersamen Verwandlung des Maulbeerbaums erfüllt: Die ovidische »Metamorphose« variierend, trägt er seither nicht mehr schwarze, sondern rote Früchte – wie der Baum, unter dem beide ihr Blut vergossen haben. So erscheint die zerstörerische Macht der Minne in die christl. Heilsordnung eingebunden. Eine weitere Veränderung der Vorlage geht wohl auf dt. Fassungen des Tristan-Romans zurück, die den Romanschluss enthalten – wie sich dort Rosenzweig u. Weinrebe verschlingen, so neigt sich hier die Weinrebe über dem gemeinsamen Grab vom einen zum anderen u. schlägt dort neue Wurzeln. P. u. T. lässt sich mit früheren höfisch stilisierten Mären vergleichen, die, entstanden zwischen ca. 1260 u. 1310, ebenfalls Erscheinungsformen übermächtiger Liebe thematisieren, etwa das Herzmœre Konrads von Würzburg, Der Schüler von Paris, Frauentreue oder Hero und Leander. Die Kraft der Minne wird, vorgeprägt durch den Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, am Gegensatz zu den gesellschaftl. Ordnungen u. Regeln demonstriert. Vorbildhaft ist nicht die Handlung selbst, sondern die einer unbedingten Liebe zugrunde liegende Haltung. Deren Erkenntnis wird im (märentypischen) Erzählen der »Pointe« vermittelt: Wie z.B. im Herzmœre findet diese Liebe schließlich ihre Erfüllung – unter den Bedingungen der erzählten Geschichte jedoch erst im Tod. Das »wunder« der Weinrebe stellt dem Leser von P. u. T. die Vereinigung des Liebespaares bildhaft vor Augen. Im MA u. in der Frühen Neuzeit war die Geschichte von P. u. T. in ganz Europa verbreitet, häufig wird darauf angespielt. In mlat. Bearbeitungen in Hexametern oder

Pyrker

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Distichen findet sie sich ebenso wie in Meisterliedern von Hans Sachs u. Georg Wickram (16. Jh.), in erzählender Darstellung bei Boccaccio u. Chaucer. Shakespeares Übertragung ins Komische (in den Rüpelszenen des Sommernachtstraums) hat Andreas Gryphius in seiner Absurda Comica oder Herr Peter Squentz (1657) aufgegriffen. Ausgabe: Novellistik des MA. Märendichtung. Hg. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 336–363, 1144–1153 (mit Übers., Einf., Komm. u. Lit.). Literatur: Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mären im Kontext v. Minnereden, Bispeln u. Romanen. Mchn./Zürich 1985, S. 258–281. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA. Tüb. 2006, bes. S. 156–166. – Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Kulturwiss. Perspektiven. Hg. Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber u. Christopher Young. Bln. 2006, S. XI-XXXII (allg. Forschungsfragen), 87 f., 132–135. Anette Syndikus

Pyrgallius, Henning, eigentl.: H. Feuerhahn, Hildesheim, † 1546. – Neulateinischer Dichter. Über P.’ Leben ist nur wenig bekannt. Er nahm im Sommersemester 1507 unter Entrichtung der vollen Gebühr das Studium der Philosophie in Leipzig auf; dort erwarb er im Sommer 1508 das Bakkalaureat (»determinavit sub mag. Arnoldo Wustenfeldes«) u. im Winter 1510 den Magistergrad. Am 4.10.1513 wurde er in das Konzil der philosoph. Fakultät aufgenommen u. las in den folgenden Semestern u. a. über Peri hermeneias, Topica, Parva logicalia u. Parva naturalia. P. bekleidete mehrfach universitäre Ämter; im Sommer 1517 war er Dekan, im Sommer 1525 u. 1541 Rektor u. 1540, 1541 u. 1543 Vizekanzler. Noch im Winter 1545 wird er als »examinator magistrandorum« genannt. In Verbindung mit Hieronymus Emser zeigt ihn eine an diesen adressierte, gegen die Reformation gerichtete Obiurgatio pathetica (Lpz. 1523). Nach 1530 widmete P. Herzog Georg von Sachsen ein längeres Gedicht; vermutlich verbrachte er seine letzten Jahre in Hildesheim. Todesjahr u. Ort (»Hallis«) sind in der Leipziger Matrikel genannt.

P.’ lat. Gedichte weisen ihn der Nachhut des altkirchlich gebundenen frühen Humanismus zu; den Schwerpunkt bilden religiöse Themen, so in seinem De verbi divini incarnatione jubilus (Lpz. 1512. Internet-Ed.: VD 16 digital). Verhalten antikisierend beschäftigt sich P. – abgesehen von Trauergedichten für Petrus Mosellanus u. Henricus Aquilonipolensis – nur in einer Frühlingselegie mit einem profanen Gegenstand. Weitere Werke: De anime immortalitate elegia. Lpz. 1513. 1515. – Lusus. De ebrietatis ac crapulae exterminio [...]. Lpz. 1515. Ausgaben: Carmen penitentionale. Lpz. 1512. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Carmen vernale. Lpz. 1512. Internet-Ed.: VD 16 digital. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 240 f. – VD 16. – Weitere Titel: Ellinger, Bd. 1, S. 372 f. – Kosch. Heinz Wittenbrink / Red.

Pyrker, (Johann) Ladislaus von Felsö-Eör (= Oberwart), * 2.11.1772 Lángh/Ungarn, † 2.12.1847 Wien. – Epiker, Dramatiker, Lyriker. P., Abkömmling eines alten Tiroler Adelsgeschlechts, wuchs zweisprachig im Komitat Stuhlweißenburg auf, wo sein Vater als Gutsverwalter tätig war. Dort besuchte er das Gymnasium; die abschließenden obligator. philosoph. Studien betrieb er auf der Akademie in Fünfkirchen. In der Berufswahl zunächst unschlüssig, trat er mit 20 Jahren als Novize in das Zisterzienserstift Lilienfeld ein, studierte in St. Pölten Theologie u. wurde 1796 zum Priester geweiht. Sowohl in der Stiftsverwaltung als auch später in seiner Pfarre bewährte sich P. hervorragend; 1812 wurde er Abt von Lilienfeld. Unter seiner Leitung nahm das Stift administrativ u. kulturell einen bedeutenden Aufschwung; 1819 ernannte Kaiser Franz I. P. zum Bischof von Zips/Ungarn, zwei Jahre später wurde er Patriarch von Venedig, 1827 Erzbischof von Erlau/Ungarn. Hochdekoriert, war P. auch Ehrenmitgl. der k. k. Akademie der bildenden Künste in Wien, Mitgl. der österr. u. der kgl. ungar. Akademie der Wissenschaften sowie zahlreicher anderer Akademien Europas.

Pyrker

P., der an mehreren, in Sprache u. Kultur ganz unterschiedl. Orten der österr. Vielvölkermonarchie wirkte, stand in regem Briefwechsel mit vielen herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Seine Autobiografie (Mein Leben. Hg. Aladar Paul Czigler. Wien 1966) legt ein eindrucksvolles Zeugnis ab von den vielfältigen sozialen, kirchenpolit., gesellschaftl. u. kulturellen Tätigkeiten des Kirchenfürsten. Als Dichter wurde P. in seiner Zeit wegen seiner großen histor. Epen berühmt. Bereits die patriotischen histor. Jambendramen Die Korwinen, Karl der Kleine, König von Ungarn u. Zrinis Tod (gesammelt u. d. T. Historische Schauspiele. Wien 1810) zeigen ein für das Hauptwerk spezif. Profil: Thematisch eng der aktuellen Vorliebe für vaterländ. Stoffe nachkommend, im Ton erhaben u. dynastisch-restaurativ in der Aussage, ist die Gestaltungsweise barockisierend, die Prosodie akademisch u. der Gesamteindruck klassizistisch. Mit P. u. seinen Freunden Matthäus von Collin, Meyern, HammerPurgstall u. Hormayr ist eine zunehmend konservative literar. Kultur des österr. Biedermeier u. Vormärz bezeichnet, die ihre traditionsgemäße Verankerung in der josephin. Zeit zu behaupten weiß. Die in mehreren Auflagen erschienenen hymn. Epen stehen mit ihren kunstvollen Hexametern u. der religiösen Dramaturgie in der Nachfolge Johann Heinrich Voß’ u. Klopstocks u. wurden dementsprechend von der orthodoxen Ästhetik gepriesen. Das »höfische Biedermeier« (Sengle) kommt auch in den Sujets zum Tragen; zur höheren Ehre des Habsburgergeschlechts besingt P. in der Tunisias (Wien 1820) die Eroberung Tunis’ u. Befreiung der Christensklaven durch Kaiser Karl V., Rudolph von Habsburg (Wien 1825) behandelt

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den Kampf Rudolfs II. mit Ottokar. Auch in der religiösen Dichtung knüpft P. an Vorbilder in hoher Stillage an: Bilder aus dem Leben Jesu und der Apostel u. Legenden der Heiligen [...] (Lpz. bzw. Wien 1842) greifen die erhabenepisierende Dichtweise der Patriarchaden Bodmers auf. Schlichter u. persönlicher im Ton sind die Gedichte der Sammlung Lieder der Sehnsucht nach den Alpen (Stgt./Tüb. 1845). Teile des Nachlasses verwahrt die österr. Nationalbibliothek. Ausgaben: Sämmtl. Werke. 3 Bde., Stgt. 1832–34. Neue, durchaus verbesserte Aufl. 1843. – Briefe an Joachim Heinrich Jäck. Hg. Adolf Dietrich. In: Cistercienser-Chronik 43 (1931). – Mein Leben. Hg. Aladar Paul Czigler. Graz u. a. 1966. Literatur: Wurzbach. – August Sauer: P. In: ADB. – Goedeke 12. – Abel Czigler: Felsö-Eöri Pyrker János László. Diss. Budapest 1937 (mit dt. Zusammenfassung). – Ernst Joseph Görlich: L. P. Mit Krummstab u. Leyer. Graz/Wien 1958. – Viktor Suchy: Franz Grillparzer u. L. P. In: Ders.: Studien zur österr. Lit. Wien 1992, S. 167–196. – Alexander Läuchli: Der Dichter J. L. P. (1772–1847). 1994 (zgl. Diss. Zürich). – István Bitskey: J. L. P. u. die europ. Lit. In: Jura Soyfer 4 (1995), H. 3, S. 4–6. – Roland Dobersberger: J. L. P. St. Pölten 1997. – Ilona T. Erdélyi: Deutschsprachige Dichtung in Ungarn u. ihre Gegner v. 1820–70. In: Jb. der ungar. Germanistik 1997, S. 13–21. – Michael Maier: Franz Schuberts ›Gastreiner Lieder‹ op. 79 nach Texten des Patriarchen v. Venedig, L. P. In: Archiv für Musikwiss. 55 (1998), S. 332–353. – Madleen Podewski: Geister, Helden u. P.: zur Integration v. Gattungsnormen u. Herrscherhistoriographie in ›Tunisias‹. In: Von Sommerträumen u. Wintermärchen. Hg. Bernd Füllner. Bielef. 2007, S. 73–89. – Kálmán Kovács: J. L. P. oder die Verweigerung kultureller Differenz: eine Fallstudie. In: Gedächtnis – Identität – Differenz. Hg. Marijan Bobinac. Tüb. 2008, S. 43–54. Cornelia Fischer / Red.

Q Quadflieg, Roswitha, * 3.11.1949 Zürich. – Schriftstellerin u. Buchkünstlerin. In Zürich geboren, wuchs Q. in Hamburg auf, wo sie an der Fachhochschule für Gestaltung u. an der Hochschule für bildende Künste Malerei, Grafik u. Typografie studierte. Q. gründete anschließend 1973 in Schenefeld, am westl. Stadtrand, die »Raamin-Presse« als Verlag ihrer eigenen Pressendrucke. Ihre grafischen Werke u. Buchillustrationen werden hoch geschätzt u. sind in Europa oft ausgestellt u. wiederholt mit Preisen ausgezeichnet worden. Unter ihren Illustrationen außerhalb der Raamin-Presse ist die zu Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte (Stgt. 1979) die bekannteste. Parallel zu ihren Malerbüchern, für die sie jedes Mal einen anderen Autor (von Kafka bis Morgenstern, von Shakespeare bis Enzensberger), eine abweichende Technik (Radierung, Holzstich, Linolschnitt, Kunstharzdruck) u. eine andere Schrifttype wählte, begann Q. 1985, auch selbst Prosa zu schreiben. Ihre erste Erzählung, Der Tod meines Bruders (Zürich 1985), ein »Bericht«, in dem sich Wirklichkeit u. Traum verflechten, erzählt von einem Todesfall, der vorübergehend eine Familie zusammenführt, deren Mitglieder sich untereinander völlig fremd sind. Vor allem die Beziehung der Erzählerin/Autorin zum Vater – Q. ist die Tochter des Schauspielers Will Quadflieg – ist in diesem unsentimentalen Buch mit offenbar autobiogr. Zügen als sehr problematisch gestaltet. Alle Protagonisten von Q.s Büchern sind Exzentriker: Der Maler im Mittelpunkt des Prosawerks Fabels Veränderung (Zürich 1987), der mit 40 plötzlich von dem obsessiven Gedanken verfolgt wird, vielleicht doch Vater zu sein, sodass er sich in seiner Fantasie ein Kind

ausmalt, das es gar nicht gibt, ist eine nicht weniger seltsame Natur als die extravagante Gräfin, deren Leben u. Tod der Roman Die Braut im Park (Zürich 1992) schildert; sie hegt den Wahn, an ihrem 70. Geburtstag werde ihr ehemaliger Liebhaber wiederkommen u. sie heiraten, wie er es ihr etwa 40 Jahre zuvor versprochen hatte. Ein bizarrer Fantast ist auch der alte Journalist, von dem der Roman Bis dann (Zürich 1994) handelt. Aus dem Altersheim, in dem der Krebskranke auf sein Lebensende wartet, schreibt er Briefe an ein sehr junges Mädchen in Athen, das Brieffreunde in Deutschland sucht. Dabei betrügt er seine Briefpartnerin, indem er sie glauben lässt, er sei ein 19-Jähriger, der gerade seinen Zivildienst in dem Altersheim ableistet. Der Briefwechsel wird ihm aber zum Verhängnis: Als das Mädchen ihn besucht, flieht sie voller Furcht vor der Wirklichkeit seiner »unvorzeigbaren« Dekadenz. Die Verfilmung dieses ironisch-bitteren Buchs durch Gerd Steinheimers, die am 10.4.1998 u. d. T. Eine Herzensangelegenheit im ZDF gesendet wurde, verzuckert u. verfehlt den nüchternen Ton von Q.s Prosa. Ungelöst bleibt die Frage im Titel des Romans Wer war Christoph Lau? (Zürich 1996). Hier versucht ein junger Epileptiker vergeblich, sich mithilfe seiner vier Halbgeschwister ein Bild seines Vaters zu machen, den er nie gekannt hat. Im nächsten Roman Alles Gute (Ffm. 1999) versöhnt sich ein eitler Amerikaner, der seine Frau u. sein minderbegabtes Kind mit dieser Grußformel verlassen hat, erst wieder mit dem Leben, als er herausfindet, dass sein »wahres« Kind ein Violinvirtuose ist, der ihm durch die Vertauschung der Säuglinge in der Klinik entzogen worden war.

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Weitere Werke: Traumalphabet. Eine BiblioNach 30 Jahren u. 28 Drucken, die Q. in ihrer Verlagswerkstatt selbst gestaltet, ge- genie. Zürich 1988. – 20 Jahre Raamin-Presse setzt, mit Originalgrafiken ausgestattet u. in 1973–1993. Almanach, 21 Büchergesch.n u. eine limitierten Auflagen gedruckt hatte, stellte halbe. Hbg. 1993. – Die Zwanzig Dichter der Raamin-Presse Galerie, Revue, Erinnerung, Bilanz. sie die Reihe der Raamin-Presse 2003 ein, Zwanzig farbige Portraits (ausgearbeitete Entwürfe über welche sie in den Nachrichten aus Schene- der Radierungen des 25. Drucks) u. ein Ess. im 25. feld 1977–2003 regelmäßig berichtet hatte. Jahr der Raamin-Presse. Hbg. 1998. – Der GlückliDer letzte Band mit dem Titel Alles kommt auf che. Roman zu zehn Stimmen. Ffm. u. a. 2009. so viel an enthält das Hamburg-Kapitel der Literatur: Rudolf E. O. Ekkart u. Huib van sog. »German Diaries« von Samuel Beckett, Krimpen: R. Q. Raamin Presse 1973–83. Haarlem der sich 1936 für kurze Zeit in der Hansestadt 1984. – Gabriella Rovagnati: R. Q. In: KLG. aufgehalten hatte. Grafisches Werk u. literar. Gabriella Rovagnati Arbeit, die sich bei Q. immer gegenseitig beeinflusst hatten, kamen mit dem sog. »BeQualtinger, Helmut, * 8.10.1928 Wien, ckett-Projekt« zu einer totalen Verschmel† 29.9.1986 Wien; Grabstätte: ebd., zung anlässlich des 100. Beckett-Jubiläums, Grinzinger Friedhof. – Kabarettist, zu dem Q. auch eine Version desselben Textes Schauspieler, Dramen- u. Satirenautor. für den gewöhnl. Büchermarkt u. d. T. Beckett was here (Hbg. 2006) herausbrachte. Das mi- Bühnenerfahrungen erwarb sich Q. bereits in nutiöse Tagebuch des Iren ist mit Doku- der frühesten Nachkriegszeit als Mitbegrünmenten u. mit Schwarz-Weiß-Fotos versehen, der einer Studentenbühne. 1948 wurde die die seinen 9-wöchigen Hamburger Aufent- Grazer Uraufführung seines Justiz- u. Genehalt detailliert illustrieren. rationendramas Jugend vor den Schranken ein Q. führt in diesem Buch die Technik fort, stattl. Reinfall. Umso besser reüssierten die die sie bereits in ihrem Roman einer »Spu- Kabarettabende, die das 1950 gestiftete Team rensuche«, Requiem für Jakob (Ffm. 2004), an- Q./Gerhard Bronner/Michael Kehlmann/Carl gewandt hatte, in dem geschriebener Text u. Merz ersann u. bestritt; Programme wie Brettl Abbildungen alternieren. Eine Hamburger vor’m Kopf oder Glasl vor’m Aug entstellten das Schriftstellerin versucht hier, das Leben eines selbstzufriedene, wirtschaftswunderbare dt.-frz. Juden anhand einiger Fotos, auf die Österreich der 1950er Jahre zu tragikom. sie zufällig stößt, zu rekonstruieren. Ihre Kenntlichkeit. Der Herr Karl heißt indes das akrib. Recherchen bringen das Bild einer fa- (von Q. u. Merz geschriebene) Ein-Manncettenreichen Persönlichkeit ans Licht: Jakob, Stück, das den Autoren ungeheure Popularider in seinem Leben abwechselnd Dieb u. tät bescherte u. Vergleiche mit Nestroy u. Karl Hochstapler, Paladin der Justiz u. Betrüger, Kraus schier obligat machte (Buchausg. Spieler u. erfolgreicher Geschäftsmann war, Mchn. 1962. Wien 2007): In vollendeter Mispiegelt das Ambivalente wider, das viele mikry redete Q. als Magazineur Karl auf eiExistenzen in den Wirren des 20. Jh. prägte. nen (unsichtbaren) fiktiven Kollegen so ein, Erst nach dem Tod ihres Vaters ist Q., die dass der Monolog der Kunstfigur, freilich mit nun ihr Leben zwischen Hamburg u. Frei- stupend berechnetem Abstand zu deren Einburg teilt, zu einem Genre übergegangen, das bildung, dem Begriff von der Banalität des sie vielleicht zu Lebzeiten des erfolgreichen Bösen große lebens- u. zgl. sozialgeschichtl. Schauspielers nicht anzufassen gewagt hatte: Anschaulichkeit verlieh. Der über Ständedem Theater. Der Adaption des Romans Bis staat, NS- u. Besatzungszeit schwadroniedann (Hbg. 2005, in niederdt. Version für das rende Wiener Spießer erschien als InkarnatiOhnsorg-Theater 2008) für die Bühne folgten on der mit den mitteleurop. Katastrophen das Stück Handy (Hbg. 2006, Urauff. ebd. dieses Jahrhunderts unlösbar verbundenen 2008) u. das Hörspiel Angst hat keine Augen Mitläufer- u. Untertanenmentalität. Der Herr (gesendet am 6.3.2009, SWR2). Karl war als Auftragsarbeit für das österr. Fernsehen entstanden; die blindwütigen Zuschauerreaktionen, die während u. unmittel-

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Quenstedt

bar nach der TV-Uraufführung des Stücks Agitation u. Konformismus. H. Q.s ›politisches (am 15.11.1961, elf Tage vor der Premiere im Kabarett‹ u. der Kalte Krieg. In: Stachel wider den Kleinen Theater der Josefstadt im Wiener Zeitgeist. Polit. Kabarett, Flüsterwitz u. subversive Konzerthaus) im Funkhaus eingingen, zeig- Textsorten. Hg. Oswald Panagl u. a. Wien/Köln/ Weimar 2004, S. 129–155. – Ders.: ›... es ist eine ten, wie viele sich betroffen fühlten. Art Wahlverwandtschaft ...‹. H. Q. u. Johann NesFür Fernsehen u. Theater blieb Q. in der troy. In: Nestroyana 24, H. 1/2 (2004), S. 62–77. – Folge sehr aktiv; zumal nach dem Misserfolg Branka Ivusˇic´ : Zum Wortschatz H. Q.s. In: Modes (abermals gemeinsam mit Merz verfass- derne Sprachen 51 (2007), S. 137–156. ten) parabolisch-satir. Dramas Die Hinrichtung Martin Loew-Cadonna / Red. (Mchn. 1965. Urauff. Wien 1965) verdrängte das schauspielerische Engagement oft die Quenstedt, Johann Andreas, * 13.8.1617 schriftstellerische Tätigkeit. 1971 bis 1975 Quedlinburg, † 22.5.1688 Wittenberg. – lebte Q. als Theaterakteur in Hamburg, da- Professor der Theologie in Wittenberg, nach, wie zuvor, hauptsächlich in Wien; Verfasser theologischer Werke. starke Beachtung fanden in den 1980er Jahren seine Lesetourneen (mit eigenen u. frem- Q. wuchs in einer streng lutherisch geprägten Familie auf. Johann Gerhard, einer der beden Texten, u. a. mit Hitlers Mein Kampf). rühmtesten luth. Theologen im 17. Jh., war Ausgaben: Werkausg. Hg. Traugott Krischke. 6 Bde., Wien/Mchn. 1996/97. – Q.s beste Satiren. sein Onkel. Nach seinem Studium in HelmVom Travnicek zum Herrn Karl (zus. mit Carl Merz stedt bei Georg Calixt u. in Wittenberg wurde u. Gerhard Bronner). Hg. Brigitte Erbacher. Mchn. Q. dort 1649 Professor für Logik u. Meta1973. – Im Prater blühn wieder die Bäume. Satiren. physik u. übernahm 1660 einen theolog. Bln./DDR 1977. – Drei Viertel ohne Takt. Satiren. Lehrstuhl. Mchn. 1980. – Das Q.-Buch. Mchn. 1986. Ffm. Mit seinem Kollegen u. späteren Schwie1990. – Best of Q. Hg. Ilse Walter. Wien/Mchn. gersohn Abraham Calov steht Q. für die 1999. Wittenberger luth. Orthodoxie, die eine klare Literatur: Wolfgang Kudrnofsky: Vom Dritten Gegenposition zu der von ihr als kryptocalReich zum Dritten Mann. H. Q.s Welt der vierziger vinistisch bekämpften Helmstedter Schule Jahre. Wien 1963. – Gerhard Hofmann: Das polit. (Calixt) einnimmt u. sich auch von der auf Kabarett als geschichtl. Quelle. Ffm. 1976. – Mi- Vermittlung bedachten Jenaer Theologie chael Horowitz: H. Q. Wien 1987. 1996. – Michael (Musäus) unterscheidet. Q.s Hauptwerk, die Kehlmann u. Georg Biron: Der Q. Ein Porträt. Theologia didactico-polemica sive systema theoloMchn./Wien 1987. – Klaus Kemetmüller: Q. In: gicum (Wittenb. 1685), orientiert sich an der KLG. – Helmut Gollner: Über H. Q. (1932[sic!]-86). In: LuK 297/298 (1995), S. 101–107. – Ingeborg zu seiner Zeit als Standardwerk geltenden Rabenstein-Michel: Identité et satire après 1945. Theologia positiva acroamatica von Johann Carl Merz/H. Q. In: EG 50, H. 2 (1995), S. 175–189. Friedrich König u. fand als Lehrbuch weite – Gunna Wendt: H. Q. Ein Leben. Wien/Mchn. Verbreitung. Mit Hilfe der analyt. Methode 1999 (Tb. Mchn./Zürich 2000). – Egon Schwarz: entfaltet Q. das System der Theologie als poWas ist österr. Lit.? Das Beispiel H. C. Artmanns u. sitiver Wissenschaft in vier Teilen über Gott H. Q.s. In: Ders.: ›Ich bin kein Freund allgemeiner als Grund u. Ziel der Theologie (in Gottes-, Urteile über ganze Völker‹. Ess.s über österr., dt. u. Schöpfungslehre u. Eschatologie), über den jüd. Lit. Hg. Dietmar Goltschnigg u. Hartmut von Gott abgefallenen Menschen als Subjekt Steinecke. Bln. 2000, S. 13–32. – Osman Durrani: der Theologie, u. schließlich über die UrsaH. Q. The Mouth Behind the Fig Leaf. In: From chen u. die Mittel des Heils. Am Ende eines Perinet to Jelinek. Hg. W. E. Yates, Allyson Fiddler jeden Kapitels widerlegt er die theolog. Geu. John Warren. Oxford/Bern u. a. 2001, genpositionen der römisch-kath. Kirche, des S. 243–256. – Arnold Klaffenböck: H. Q. Textanalyt. Untersuchungen zum schriftsteller. Werk v. Calvinismus, des Sozinianismus u. des 1945 bis 1970. Wien 2003. – Ders. (Hg.): Quasi ein Helmstedter Synkretismus. Sein System wird Genie. H. Q. (1928–86). Wien/Ffm. 2003. – Günter später als die »vollständigste Rüstkammer Grenn (Hg.): H. Q. Die Arbeiten für Film u. Fern- lutherischer Polemik« (Tholuck) beschrieben. sehen. Wien 2003. – A. Klaffenböck: Zwischen Darüber hinaus lässt Q. insbes. in seiner

Queri

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Ethica pastoralis, et instructio cathedralis (Wittenb. 1678. 31708) ein von Philipp Jacob Spener u. Johann Arndt beeinflusstes Interesse an der Vertiefung gelebter Frömmigkeit erkennen, das aber streng an den kirchl. Rahmen gebunden bleibt. Ausgabe: Theologia didactico-polemica [...]. Wittenb. 21691. Internet-Ed. in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com). Literatur: August Tholuck: Der Geist der luth. Theologen Wittenbergs. Hbg./Gotha 1852, S. 214 ff. – Jörg Baur: Die Vernunft zwischen Ontologie u. Evangelium. Gütersloh 1962. – Robert D. Preus: The Theology of Post-Reformation Lutheranism I. St. Louis/London 1970, S. 62 f. – Michael Coors: Scriptura efficax. Die biblisch-dogmat. Grundlegung des theolog. Systems bei J. A. Q. Ein dogmat. Beitr. zu Theorie u. Auslegung des bibl. Kanons als Hl. Schrift. Gött. 2009. Friederike Nüssel

Queri, Georg, * 30.4.1879 Frieding bei Andechs, † 21.11.1919 München. – Journalist, Romancier, Erzähler.

ernhumors gibt er in den Schnurren des Rochus Mang (Mchn. 1909). Die Sammelbände Bauernerotik und Bauernfehme in Oberbayern (Mchn. 1911) u. Kraftbayrisch (Mchn. 1912. Neuausg.n 1970 u. 2003), ein Wörterbuch der erot. u. skatolog. Redensarten mit Beispielen aus dem Volkswitz, brachten Q. einen Sittlichkeitsprozess ein, den er jedoch mithilfe seiner Freunde Thoma, Ruderer u. Michael Georg Conrad gewann. In seinem einzigen, unvollendet gebliebenen Roman Der Kapuziner (Lpz. 1920) entwirft Q. ein Kulturbild aus dem dunkelsten Bayern des 18. Jh.; in 56 Kapiteln plaudert er über bigottes Spießertum. Zus. mit Ludwig Thoma gab er das Bayernbuch. Hundert bayerische Autoren eines Jahrtausends (Mchn. 1913. 1975) heraus. Weitere Werke: D’Hochzeiterin. Ein oberbayr. Stück in drei Ereignissen. Mchn. 1901 (D.). – Die weltl. Gesänge des Pfanzelter Gidi v. Polykarpszell. Mchn. 1909 (P.). – Der wöchentl. Beobachter v. Gesch.n. Polykarpszell. Mchn. 1911. – Der schöne Soldatengesang vom dapfern Kolumbus. Mchn. 1912. Neuaufl. 1973. – Bayer. Kalender auf das Jahr 1913. Mchn. 1913 (P.). – Kriegsbüchl aus dem Westen. Bielef./Lpz. 1915 (P.). – Wanderbuch vom blutigen Westen. Weimar 1917 (P.). – Der Bayr. Watschenbaum. Bln. 1917 (P.).

Der Sohn eines Fischereimeisters u. Gastwirts besuchte nach der Schule das Studienseminar in Neuburg/Donau, das er jedoch aus geLiteratur: Hans Ulrich Schmid: Von Mundart sundheitl. Gründen wieder verlassen musste. u. Moral. G. Q., die Justiz, die Geistlichkeit, das Er begann als Mitarbeiter bei der »Münchner Bayerische Wörterbuch u. Ludwig Thoma. In: Zeitung«; später wechselte er zu den Zwischen den Wiss.en. FS Bernhard Gajek. Hg. »Münchner Neuesten Nachrichten«. Aben- Bernhard Hahn. Regensb. 1994, S. 268–375. – Miteuerlust zog ihn für kurze Zeit nach New chael Stephan: G. Q.: Journalist, Schriftsteller u. York, wo er für die deutschsprachige Volkskundler aus Oberbayern. Mchn. 2002 (Ausstellungskat.). – Ders.: Der Prozess um das Buch »Staatszeitung« arbeitete. ›Kraftbayrisch‹ v. G. Q. (1912). Rechtsgeschichtl. Durch seine Beiträge im »Simplicissimus«, Anmerkungen zum § 184 Reichsstrafgesetzbuch u. in den »Lustigen Blättern« u. in der »Vossi- zum Münchner Zensurbeirat. In: FS Hermann schen Zeitung« erlangte Q. rasch Popularität. Rumschöttel. Hg. Gerhard Hetzer. Bd. 2, Köln. u. a. Er war befreundet mit Gulbransson u. Karl 2006, S. 977–994. – Gertrud M. Rösch: Q. In: NDB. Arnold. 1908–1919 war er ständiger MitarNicolai Riedel / Red. beiter der illustrierten Wochenschrift »Jugend« u. während des Ersten Weltkriegs Quidde, Ludwig, * 23.3.1858 Bremen, Kriegsberichterstatter für das »Berliner Ta† 5.3.1941 Genf. – Historiker u. Pazifist. geblatt«. Seine Originalität u. Beobachtungsgabe, Der aus begüterter Kaufmanns- u. Beamtensein Sprachwitz u. sein kräftig-derber Hu- familie stammende Q. widmete sich nach mor, die auch seine journalist. Arbeiten – dem Studium in Straßburg u. Göttingen der Gerichtsberichte u. Szenen aus dem ländl. Geschichte des späten MA u. war seit 1885 Bayern – auszeichnen, finden ihren Nieder- Mitherausgeber der Deutschen Reichstagsakten schlag in zahlreichen Mundarterzählungen. (Mchn.; Ältere Reihe). Er war Begründer u. Einen unverfälschten Eindruck derben Bau- Herausgeber der »Deutschen Zeitschrift für

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Geschichtswissenschaft« (Freib. i. Br. 1889 bis 1894), mit der er der als konservativ u. fachlich beschränkt geltenden führenden »Historischen Zeitschrift« wirkungsvoll entgegentrat. 1890–1892 Leiter des Preußischen Historischen Instituts in Rom u. 1893 einer der Begründer der Deutschen Historikertage, endete seine Karriere als Historiker bereits 1894, nachdem er mit seiner Schrift Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn (Lpz. 1894. 301896. 311926) eine beißende Satire auf Kaiser Wilhelm II. veröffentlicht hatte u. daraufhin von seinen Fachgenossen ignoriert u. verfemt wurde. Von da an engagierte sich Q. in der Deutschen Volkspartei als entschiedener Linksliberaler (1919/20 Mitgl. der Deutschen Nationalversammlung), wirkte 1914–1929 als Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft u. wurde 1927 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nach seiner Emigration 1933 lebte er in Genf. Sein Werk erfuhr auf dem Historikertag in Freiburg i. Br. 1967 späte Ehrung. Weitere Werke: Völkerbund u. Demokratie. Bln. 1920. 21922. – Der dt. Pazifismus während des Weltkrieges 1914–18. Boppard 1979. Literatur: Die Friedenswarte 38,2 (1938; = Sonderh. zu Q.s 80. Geburtstag). – Hans Wehberg (Hg.): L. Q. Offenbach 1948. – Utz-Friedebert Taube: L. Q. Kallmünz 1963 (mit Bibliogr.). – Karl Dietrich Erdmann: Gesch., Politik u. Pädagogik. Aus den Akten des Dt. Historikerverbandes [1967]. In: Ders.: Gesch., Politik u. Pädagogik. Stgt. 1970, S. 384–407. – Klaus Simon: Die württemberg. Demokraten. Stgt. 1969. – Reinhard Rürup: L. Q. In: Dt. Historiker. Bd. 3, Gött. 1972, S. 124–147. – Brigitte Maria Goldstein: L. Q. and the Struggle for Democratic Pacifism in Germany 1914–30. New York 1984. – Karl Holl: Q. In: NDB. – Ders., Hans Kloft u. Gerd Fesser: Caligula – Wilhelm II. u. der Caesarenwahnsinn. Bremen 2001. – K. Holl: L. Q. Düsseld. 2007. Michael Behnen / Red.

Quindt, William, * 22.10.1898 Hildesheim, † 29.12.1969 Marquartstein/Obb. – Erzähler. Nach schwerer Jugend war Q. im Ersten Weltkrieg Soldat u. danach bei den Zirkusunternehmen Sarasani u. Busch als Pressechef tätig. Ab 1933 lebte er als freier Schriftsteller

Quirl

in Hamburg-Blankenese, seit 1960 in Marquartstein. Q.s sehr erfolgreiche Romane schildern in leuchtenden Farben Zirkus u. Jahrmarkt, spielen in der Wildnis Afrikas u. Indiens, die er durch Reisen selbst kennengelernt hatte. Q. stellt diese Bereiche als eine von der Zivilisation noch unberührte Welt des Abenteuers u. der Bewährung dar. Sein größter Erfolg wurde der Roman Der Tiger Akbar (Bln. 1933. 1979), der von einem faszinierenden Duell zwischen einem Dompteur u. einem Tiger handelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Q. an die außerordentl. Erfolge der frühen Werke nicht mehr anknüpfen. Nach einer Reihe von Jugend- u. Tierbüchern veröffentlichte er 1954 den zeitkritischen u. partienweise pessimist. Roman Götter und Gaukler (Wien). Weitere Werke: Das hungernde Herz. Braunschw. 1934 (R.). – Der Wildpfad. Dresden 1936 (R.). – Die Pantherbraut. Dresden 1937 (R.). – Die Straße der Elefanten. Hbg. 1939. 1997. Tb.-Ausg. 1999. – Bambino. Hbg. 1940. 1979 (R.). – Sehnsucht nach Joana. Dresden 1943. – Die fremden Brüder. Bln. 1943. 1983. – Wolken wandern im Wind. Hbg. 1947 (R.). – Die Gefährten. Hann. 1954 (E.). – Der schwarze Jaguar. Wien 1955 (E.). Hermann Schreiber / Red.

Quirl, (Johann) Justus Samuel, * 6.1.1724 Aspenstedt bei Halberstadt, † 12.10.1779 Magdeburg. – Theologe, Schriftsteller. Der Sohn eines Pfarrers besuchte die Domschule in Halberstadt, bevor er 1741–1743 an der Universität Halle Theologie studierte. Nach einer Tätigkeit als Hauslehrer wurde Q. am 20.5.1751 in Osterwieck ordiniert u. war bis 1775 ebendort als Diakon tätig. Seit 1772 erschienen im »Hannoverischen Magazin« sowie in den »Braunschweigischen Anzeigen« Beiträge pädagogischen wie literar. Inhalts, als deren Verfasser wiederholt Q. vermutet wurde. Eine Autorenschaft konnte jedoch bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden, da viele dieser Veröffentlichungen – um die Zensur zu umgehen – anonym erschienen, so auch die Bittschrift der geplagten Männer an die Mode (Braunschw. 1774), bei der jedoch die Verfasserschaft gesichert ist.

Quistorp

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Nachdem diverse Erkundigungen über Q. Magdeb. 1998, S. 113 u. 169. – Pfarrerbuch der (insbes. wegen dessen Heirat am 12.3.1771) Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 7, Lpz. 2008, S. 18. Hans Peter Buohler eingeholt worden waren, erfolgte am 30.11.1775 einstimmig Q.s Wahl zum Propst des Klosters Unser Lieben Frauen zu MagdeQuistorp, Johann Jacob, * 19.3.1717 Rosburg. Er führte im Kloster teilweise gegen tock, † 26.12.1766 Rostock. – Evangeliden Willen des Konventes einige Neuerungen scher Theologe. ein wie etwa 1776 eine »école militaire«, an der künftige Offiziere unterrichtet wurden, Der ältere Bruder Theodor Johann Quistorps agierte dabei jedoch meist glücklos; gleich- nahm am 28.4.1734 in Rostock das Studium wohl erhöhte sich die Anzahl der Schüler. der Philosophie u. Theologie auf. Am Zus. mit Philipp Engel Klipstein verfasste Q. 3.4.1742 erwarb er dort den Magistergrad u. 1778 eine Schrift über den Nutzen und Schaden wurde am 4. Juni in die philosoph. Fakultät der Monopolien [...] (Hg. Justus Friedrich Run- rezipiert. 1743 übernahm er eine a. o. Prode. Kassel 1778), für welche er von der Ge- fessur für Philosophie in Kiel, 1747 folgte die sellschaft des Ackerbaus und der Künste zu Anstellung als Hofprediger in Eutin. Am Kassel einen Preis von 10 Louisd’or erhielt. 30.12.1754 erhielt Q. die Berufung zum PasAus Q.s Nachlass wurden zwei Anti-Romane tor an die Rostocker St. Nicolai-Kirche (Vgl. herausgegeben, die eine Sammlung wahrer Ge- Zwo Predigten bey Veränderung seines Amtes. schichten und Scenen aus dem menschlichen Leben Rostock 1754). Dieses Amt behielt er bei, als enthalten: Neben Leben und Maximen Richard er am 31. Aug. des folgenden Jahres als Filzhausens. Eine Geschichte, die sich in Nieder- Nachfolger des verstorbenen Peter Christian sachsen wirklich zugetragen hat (Magdeb. 1785), Kämpfer zum Prof. für Metaphysik ernannt die unter dem Pseud. Birkner, Kantor u. wurde. Als »candidatus fratris«, des TheoloSchulhalter in Großtheurungen veröffent- gieprofessors Bernhard Friedrich Quistorp, licht wurden, waren dies die Reisen auf die legte er am 21.11.1757 in Göttingen das Freite. Erster und zweiter Ritt (Magdeb. 1786). In theolog. Examen ab, wurde dort am diesen Reisen, die in der »Allgemeinen Lite- 26.1.1759 zum Dr. theol. promoviert (vgl. ratur-Zeitung« vernichtend beurteilt wur- Christian Wilhelm Franz Walch: Ordinis theoden, schildert Q. auf humoristisch-heitere logici in Academia Georgia Augusta decanus [...] Weise die Brautfahrten eines Provinzlers u. Ioanni Iacobo Quistorpio [...] summos theologorum zieht mit ihnen satirisch gegen die Flut der honores rite collatos esse publice significat [...]. (fiktiven) Reiseliteratur in »schreibseligen Gött. 1759) u. am 9. Febr. desselben Jahres in Zeiten« zu Felde. Gleichzeitig liefert Q. somit die Rostocker theolog. Fakultät aufgenomeine aufklärerische Satire gegen provinziellen men. Q. bekleidete verschiedene Male uniDünkel: Bleibt der »erste Ritt« des Klein- versitäre Ämter (Dekanat der philosoph. Fastädters noch erfolglos, so finden im zweiten kultät im Winter 1758, Rektorat im Winter Teil die Brautleute in beispielhafter, vorur- 1759, Sommer 1761 u. 1764 u. Winter 1766). teilsfreier Liebe zueinander. In seinen Schriften befasste sich Q. mit Literatur: Vgl. Archivalien im Geh. Staatsarchiv theologischer Dogmatik u. pädagog. SeelsorPreuß. Kulturbesitz (Sign. I.HA, Rep. 76 alt Nr. ge gleichermaßen. Gesellschaftspolitisch un801) u. im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt abdingbar war für Q. die christlich fundierte Magdeburg (u. a. Aktenbestand A 4f, Sektion VIa). – Ehe als zentraler Bestandteil einer aufgeJb. des Pädagogiums zum Kloster Unser Lieben klärten, vernunftgeleiteten Gemeinschaft Frauen in Magdeburg 63 (1899), S. 26. – Goedeke 4/ (Untersuchung der Frage, ob eine Braut mit Recht 1, S. 609. – Kosch 12, Sp. 445. – Gudrun Olbrich: J. den Verlust ihrer Jungfrauschaft beweinen könne. S. Q. u. Wolfgang Winkelmann: KonferenzprotoRostock 1736. Beweis, daß eine vernünftige Ehe koll zur ›école militaire‹. In: Zwischen Kanzel u. Katheder. Das Kloster Unser Lieben Frauen Mag- von keiner Herrschaft wisse. Jena 1741). In der deburg vom 17. bis 20. Jh. Hg. Matthias Puhle. Diskussion um die rationalist. Positionen des Aufklärungstheologen Wilhelm Abraham Teller meldete sich Q. mit einer Stellung-

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nahme zu Wort, die gegen Teller die Relevanz der Engel für die christl. Dogmatik betont (De recentissima loci, de angelis bonis ex theologia dogmatica proscriptione Telleriana programma [...]. Rostock 1764). Weitere Werke: Die Glückseligkeit der Hochzeitsdichter. Kiel 1743. – De consensu iuris naturalis praesumto libellus. Kiel 1746. Rostock 1755. – Reden über verschiedene Texte der hl. Schrift [...]. 4 Tle., Hbg. 1748–52. – Dissertatio de Christo legem et prophetas non solvente sed implente ad Matth. V, 17. Präses: Bernhard Friedrich Q.; Respondent: J. J. Q. Rostock 1758. – Grundlehren der christl. Religion. Rostock 1765. Ausgabe: Spottreden eines Mitgliedes der dt. Gesellsch. in Jena. Hg. v. einem Mitgliede der kgl. dt. Gesellsch. in Göttingen. Lpz./Rostock 1753. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Christian Ehrenfried Eschenbach: Programma dem Andenken des [...] Herrn J. J. Q. [...] welcher den 25sten December 1766 als Rector der Academie verstarb u. dessen entseelter Leichnam den 2ten Januar 1767 zu seiner Ruhestäte gebracht ward. Rostock o. J. – Dt. biogr. Enzyklopädie der Theologie u. der Kirchen. Hg. Bernd Moeller u. Bruno Jahn. Bd. 2, Mchn. 2005, S. 1078. Dominica Volkert / Reimund B. Sdzuj

Quistorp, Theodor Johann, * 11.4.1722 Rostock, † 29.5.1776 Wismar. – Dramatiker. Q. verdankt seine Bekanntheit paradoxerweise v. a. einer vernichtenden Polemik: Als Lessing 1759 im 17. Literaturbrief seinen Angriff gegen Gottsched u. dessen Schule führte, stellte er Q.s Dramen in die vorderste Linie der abschreckenden Beispiele. Als Sohn eines angesehenen Kaufmanns studierte Q. ab dem 5.12.1736 in Rostock u. ab dem 25.10.1742 in Leipzig Jurisprudenz. Am 7.11.1743 legte er in Rostock das jurist. Examen ab, am 16.9.1744 erwarb er den Grad eines Lizentiaten, am 30.6.1748 wurde er zum Doktor beider Rechte promoviert. Seit 1746 lebte er in Wismar, wo er erst Advokat u. dann Prokurator am Königlich Schwedischen Tribunal war. 1750 wählte man ihn in den Rat der Stadt. Q.s literar. Arbeiten sind in seinen jungen Jahren im Zusammenhang mit Gottscheds

Quistorp

Literatur- u. Theaterreform entstanden. Q. hat vier Stücke für die Deutsche Schaubühne geliefert, mit der Gottsched dem Theater ein neues Repertoire schaffen wollte: Aurelius, oder Denkmaal der Zärtlichkeit (Bd. 4, 1743) ist eine formstrenge Alexandriner-Tragödie, deren pathetische, psychologisch oft unglaubwürdige Handlung in antiken Kulissen spielt. Das Nachspiel Die Austern (ebd.) führt mit burlesker Komik Szenen aus dem studentischen Lotterleben in Rostock vor. Auf Anregung Gottscheds versuchte sich Q. in einem dt. Gegenstück zu Racines Les Plaideurs: Der Bock im Processe (Bd. 5, 1744). Obwohl der Autor selbst hinsichtlich der Juristen-Satire fürchtete, »daß die Lauge zu scharf geräth« (vgl. Theodor W. Danzel: Gottsched und seine Zeit. Lpz. 1848, S. 104 f.), wirkt das Lustspiel eher langatmig u. umständlich. In Q.s letztem Stück, Der Hypochondrist (Bd. 6, 1745), erkannten spätere Literaturhistoriker die Darstellung eines zeittyp. Seelenleidens, übersahen allerdings oft, dass Q. seinen Protagonisten recht mitleidlos als kom. Figur betrachtet u. ihm seine Exzentrizitäten mit handfester Pädagogik austreibt. So wird das Stück zu einem Dokument für die robuste Vernünftigkeit der Frühaufklärung. – Erwähnenswert ist endlich Q.s kuriose Abhandlung Erweis, daß die Poesie schon für sich selbst ihre Liebhaber leichtlich unglückselig machen könne (in Gottscheds Neuem Büchersaal der schönen Wissenschaften. Bd. 1, Lpz. 1745, S. 433 ff.). Der Traktat erhebt, gestützt auf die Philosophie Wolffs, moralische Bedenken gegen die Poesie: Der Dichter müsse seine Einbildungskraft spielen lassen u. sich in die verschiedensten Affekte versetzen, was unvermeidlich zur Herrschaft der sinnl. Natur u. damit »in eine Sklaverey des Willens, und in eine sittliche Knechtschaft« führe. Ausgabe: Der Hypochondrist. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CD-ROM). Literatur: Fritz Brüggemann: Die bürgerl. Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre. In: Dt. Lit. in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung. Bd. 6, Lpz. 1933, S. 18 ff. – Hans Friederici: Das dt. bürgerl. Lustsp. der Frühaufklärung (1736–50). Halle 1957, S. 83 f. – Walter Hinck: Das dt. Lustsp. des 17. u. 18. Jh. u. die ital. Kom. Stgt. 1965, S. 209 ff. – Wolfgang Lukas: Anthropologie u.

Quistorp Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730–70). Gött. 2005. – Edward T. Potter: Hypochondriacal homoeroticism. Sickness and Same-Sex Desire in T. J. Q.’s ›Der Hypochondrist‹. In: Seminar 44 (2008), S. 6–20. – Wolfgang Lukas: Wissen in Lit. um 1750. Das psychomedizin. Modell der ›ästhetischen Therapie‹ u. das Konfliktlösungsmodell

378 der frühaufklärer. Kom. In: Germanistik im Konflikt der Kulturen. 12 Bde., hg. v. Jean-Marie Valentin u. a. Bd. 7, Bern 2008, S. 229–236. – Ekiko Kobayashi: Hypochondrie im Konflikt der Kulturen. Satire u. Wiss. in C. Mylius’ ›Die Ärzte‹ u. T. J. Q.s ›Der Hypochondrist‹. Ebd., S. 237–244. Jürgen Jacobs / Red.

R Raabe, Wilhelm Karl, auch (1856–1861): Jacob Corvinus, * 8.9.1831 Eschershausen, † 15.11.1910 Braunschweig; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Erzähler. In Eschershausen als Sohn eines Justizamtmanns geboren, wuchs R., bedingt durch den berufl. Aufstieg seines Vaters u. damit verbundene Wohnortswechsel, in Holzminden u. Stadtoldendorf auf. R. genoss die einem Bürgerssohn entsprechende Erziehung, wobei ihn nicht nur seine literarisch gebildeten Eltern, sondern auch sein Großvater väterlicherseits prägten, der, obzwar studierter Theologe, als Postmeister in Holzminden tätig war. Die häufigen Umzüge der Familie ließen eine regelgerechte Schullaufbahn nicht zu. 1836–1842 besuchte R. die Bürgerschule u. das Gymnasium in Holzminden, 1842–1845 die Stadtschule in Stadtoldendorf, nach dem plötzl. Tod des Vaters 1845 schließlich die humanist. »Große Schule« in Wolfenbüttel, an der die Brüder der Mutter, Justus u. Christian Jeep, als Direktor u. Lehrer unterrichteten. 1849 verließ R. das Gymnasium mit der Sekundarreife. Der Versuch, in Wolfenbüttel das Reifezeugnis extern zu erwerben, misslang. Eine im selben Jahr in Magdeburg begonnene Lehre als Buchhändler, die ihm eine zwar unsystematische, aber doch kontinuierl. Beschäftigung mit dt. u. europ. Literatur ermöglichte, brach R. 1853 aus gesundheitl. Gründen ab. Nach Wolfenbüttel zurückgekehrt, betrieb er autodidakt. Studien, die er 1854–1856 als Gasthörer an der Universität Berlin zu vertiefen suchte. Am 15.11.1854, einem Tag, den er später zum »Federansetzungstag« stilisierte, begann er mit der Niederschrift des Romans Die Chronik der Sperlingsgasse, der im Okt. 1856 unter dem Pseud. Jacob Corvinus u. vordatiert auf das

Jahr 1857 erschien (Bln.). Ermutigt durch die positive Kritik, entschloss sich R. zu einem Leben als freier Schriftsteller, das er in Wolfenbüttel (1856–1862) durch den Ausbau seiner Verlegerbeziehungen u. den Anschluss an Honoratioren- u. Intellektuellenkreise abzusichern suchte. Bis Juli 1862 entstanden sechs Romane u. dreizehn kleinere Erzählungen, die in der Mehrzahl in »Westermanns Monatsheften« erschienen. Obwohl die meisten Werke aus R.s früher Schaffensphase trotz der Aufnahme histor. Stoffe (Der Student von Wittenberg, 1857. Die alte Universität, 1858/59. Die schwarze Galeere, 1861) vielfach noch klischeehaft u. sentimental erscheinen, lassen einige bereits Ansätze jenes sozial- u. zeitkrit. Bewusstseins erkennen, das charakteristisch für die Werke der Stuttgarter (1862–1870) u. insbes. für die der Braunschweiger Zeit (1870–1910) werden sollte. So reflektieren etwa der Roman Die Kinder von Finkenrode (1859) u. die E. T. A. Hoffmann nachempfundene Erzählung Weihnachtsgeister (1858) in humorist. Weise das feuilletonist. Rezensionswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Während Dramenpläne unausgeführt blieben, verfasste R. eine Reihe von Gedichten, von denen sich das polit. Gedicht Zum Schillerfest am 10. November 1859 als das wirkungsmächtigste erwies. Auf einer Bildungsreise, die ihn vom 5.4. bis zum 18.7.1859 u. a. nach Prag u. Wien führte, gewann R. nicht nur zahlreiche Eindrücke, die er später in seinen Novellen verarbeitete, sondern auch die Überzeugung für eine kleindt. Lösung der dt. Frage. Sein polit. Engagement gipfelte in der Teilnahme als Delegierter an den Versammlungen des Deutschen Nationalvereins in Coburg (Sept. 1860) u. in Heidelberg (Aug. 1861). Als sich 1866 der Konflikt zwischen Preußen u.

Raabe

Österreich um die Führungsrolle in Deutschland zuspitzte, stellte er sich durch seinen Beitritt zur nationalliberalen Deutschen Partei auf die Seite Bismarcks. Nach der Heirat mit Bertha Leiste siedelte R. 1862 nach Stuttgart über, wo bis 1870 umfangreiche Romane (Der Hungerpastor, 1864. Drei Federn, 1865. Abu Telfan, 1867. Der Schüdderump, 1869) u. Erzählungen (Holunderblüte, 1863. Die Hämelschen Kinder, 1863. Else von der Tanne, 1865. Die Gänse von Bützow, 1866. Gedelöcke, 1866; Im Siegeskranze, 1866) entstanden, von denen der triviale u. antisemit. Klischees bedienende Roman Der Hungerpastor zu einem seiner erfolgreichsten avancierte, während das erzählerische Glanzstück Abu Telfan nur wenig Beachtung fand. Der Fortgang aus dem provinziellen Wolfenbüttel in die schwäb. Literaten- u. Verlegermetropole leitete für R. eine Phase der literar. Neuorientierung ein, die ihn zu Erzählformen finden ließ, die zum Zeitgeschmack eher konträr liefen. So experimentierte er mit multiplen (Drei Federn) u. unzuverlässigen Erzählern (Die Gänse von Bützow), mit weibl. Erzählerfiguren (Im Siegeskranze) u. mit der aufklärerischen Umdeutung von Sagenstoffen (Die Hämelschen Kinder). In die Stuttgarter Zeit fällt 1862 zudem die Bekanntschaft mit dem Erfolgsschriftsteller Wilhelm Jensen, zu dessen gebildeter Frau Marie sich R. sein Leben lang hingezogen fühlte, wie der Briefwechsel der beiden dokumentiert. Im Juli 1870 kehrte R. nach Braunschweig zurück, wo er bis zu seinem Tod blieb. Den Umgang mit Persönlichkeiten des literarischen u. polit. Lebens, den er in Stuttgart gepflegt hatte, ersetzten ihm hier Künstler- u. Intellektuellengemeinschaften wie der »Große Klub«, »Die ehrlichen Kleiderseller« u. »Der feuchte Pinsel«. Erzähltechnisch führte R. in Braunschweig die schon in Stuttgart begonnenen innovativen Experimente fort. Mit den histor. Erzählungen Höxter und Corvey (1875), Die Innerste (1876), Das Odfeld (1888) u. Hastenbeck (1899) u. mehr noch mit den gesellschaftskrit. Erzählungen u. Romanen Horacker (1876), Zum wilden Mann (1874), Pfisters Mühle (1884), Unruhige Gäste (1885), Im alten Eisen (1887), Stopfkuchen (1891) u. Die Akten des Vogelsangs (1896), in denen er deutlicher als jeder andere

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seiner Schriftstellerkollegen die ökolog. u. sozialen Probleme der fortschreitenden Industrialisierung thematisierte, erreichte R.s Werk seine Vollendung. R.s Werk blieb zu Lebzeiten des Dichters nur einem kleinen Leserkreis vorbehalten, was abgesehen von dessen Experimentalcharakter u. der Wahl nicht marktgängiger Stoffe v. a. auf die Sättigung mit humanist. Bildungsgut u. das daraus resultierende hohe Anspruchsniveau zurückzuführen ist. Breite Aufnahme fanden mit Die Chronik der Sperlingsgasse u. Der Hungerpastor lediglich jene Werke, die R. selbst im Alter als »Kinderbücher« bzw. »abgestandenen Jugendquark« abtat. Als Person des öffentl. Lebens empfing R. im letzten Lebensjahrzehnt u. noch über seinen Tod hinaus zahlreiche Ehrungen. Sieht man von den Arbeiten von Gerber (1897) u. Speyer (1908) ab, so vollzog sich die R.-Forschung zunächst fast ausschließlich im Bannkreis der 1911 von Wilhelm Brandes gegründeten »Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes«. Indem man das unreflektierte Zusammentragen von Anekdoten u. persönl. Erinnerungen an die Stelle einer wiss. Untersuchung der textkonstitutiven Ideen u. Verfahrensweisen setzte, leistete man ungewollt der völk. Vereinnahmung R.s als eines Dichters von dt. Innerlichkeit u. dt. Gemüt Vorschub. R.s Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dadurch erschwert. Obwohl Romano Guardino mit seiner Abhandlung zu Stopfkuchen schon 1932 einer modernen R.Forschung den Weg gewiesen hatte, indem er gegenüber der Sentimentalität der frühen Erzählungen u. Romane die erzählerische Artistik des Spätwerks betonte, dauerte es bis zum Ende der 1960er Jahre, ehe man R. als eigenständigem Autor des poet. Realismus einen angemessenen Platz in der Literaturgeschichte zuwies. Gesamt- und Auswahlausgaben: Sämtl. Werke. 3 Serien. 18 Bde., Bln. 1913–16. – Sämtl. Werke. 3 Serien. 15 Bde., Bln. 1934. – Werke in Einzelausg.n. Hg. Hans-Jürgen Schrader. 10 Bde., Ffm. 1985. – Hist.-krit. Ausgabe: Sämtl. Werke. Braunschweiger Ausg. (BA). Hg. Karl Hoppe (bis 1973), fortgeführt v. Jost Schillemeit (seit 1973). 20 Bde. u. 5 Erg.-Bde., Gött. 1951–94. – Briefe: ›In alls gedultig‹. Briefe (1842–1910). Hg. Wilhelm Fehse. Bln.

381 1940. – Briefe 1842–70. Hg. William Webster. Bln. 2004. – Gespräche: Gespräche. Ein Lebensbild in Aufzeichnungen u. Erinnerungen der Zeitgenossen. Hg. Rosemarie Schillemeit. Gött. 1983 (BA Erg.-Bd. 4). Literatur: Bibliografien, Periodika und Nachschlagewerke: Fritz Meyen: Bibliogr. W. R. BA, Erg.-Bd. 1 (21973). – Jb. der R.-Gesellsch. 1960 ff. (mit Nachträgen zur R.-Bibliogr.). – Mitt.en der Gesellsch. der Freunde W. R.s. 1911–43, fortgesetzt als: Mitt.en der R.-Gesellsch. 1948–99. – Manfred R. W. Garzmann u. Wolf-Dieter Schuegraf: R.-Verz. Bestände in Braunschweig., Marbach/N. u. Wolfenbüttel. Braunschw. 1985. – Fritz Jensch: W. R.s Zitatenschatz. Wolfenb. 1925. – Heinrich Spiero: R.-Lexikon. Bln. 1927. – Monografien: Paul Gerber: W. R. Eine Wuerdigung seiner Dichtungen. Lpz. 1897. – Marie Speyer: R.s ›Hollunderblüte‹. Eine Studie. Regensb. 1908. – Romano Guardini: Über W. R.s ›Stopfkuchen‹. Mainz 1932. – Wilhelm Fehse: W. R. Braunschw. 1937. – Georg Lukács: W. R. In: Internat. Lit. 10 (1940), H. 1, S. 75–83; H. 12, S. 17–81. – Hermann Pongs: W. R. Heidelb. 1958. – Karl Hoppe: W. R. als Zeichner. Gött. 1960. – Barker Fairley: W. R. Eine Deutung seiner Romane. Mchn. 1961. – Hubert Ohl: Bild u. Wirklichkeit. Studien zur Romankunst R.s u. Fontanes. Heidelb. 1968. – Hermann Helmers: W. R. Stgt. 1968. 21978. – Gertrud Höhler: Unruhige Gäste. Das Bibelzitat in W. R.s Roman. Bonn 1969. – Eugen Rüter: Die Gesellsch. der Freunde W. R.s. Rezeptionssteuerung als Programm. Darmst. 1977. – Hans Oppermann: W. R. Reinb. 1980. – Jochen Meyer: W. R. Unter Demokraten, Hoflieferanten u. Philistern. Eine Chronik seiner Stuttgarter Jahre. Stgt. 1981. – Eckhardt Meyer-Krentler: ›Unterm Strich‹. Literar. Markt, Trivialität u. Romankunst in R.s ›Der Lar‹. Paderb. 1986. – Jeffrey L. Sammons: W. R. The Fiction of the Alternative Community. Princeton 1987. – Irmgard Roebling: W. R.s doppelte Buchführung. Paradigma einer Spaltung. Tüb. 1988. – Horst Denkler: Neues über W. R. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller. Tüb. 1988. – Ders.: W. R. Legende – Leben – Lit. Tüb. 1989. – Heinrich Detering: Theodizee u. Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk W. R.s. Gött. 1990. – Uwe Vormweg: W. R. Die histor. Romane u. Erzählungen. Paderb. 1993. – Werner Fuld: W. R. Eine Biogr. Mchn. 1993. – Helmuth Mojem: Der zitierte Held. Studien zur Intertextualität in W. R.s Roman ›Das Odfeld‹. Tüb. 1994. – Ulrike Koller: W. R.s Verlegerbeziehungen. Gött. 1994. – Julia Bertschik: Maulwurfsarchäologie. Zum Verhältnis v. Gesch. u. Anthropologie in W. R.s histor. Erzähltexten. Tüb.

Raaber Liederbuch 1995. – Ulla Heine: Psychopatholog. Phänomene im Kunstspiegel der Lit. des Realismus. Dargestellt an Werken v. W. R. Marburg 1996. – Gabriele Henkel: Studien zur Privatbibl. W. R.s. Braunschw. 1997. – Rosemarie Schillemeit: Antikes im Werk W. R.s u. andere Beiträge zur R.-Philologie. Gött. 1997. – G. Henkel: R. u. Braunschw. 1870–1910. Braunschw. 1998. – Friedhelm Henrich: W. R. u. die dt. Einheit. Die Tagebuchdokumente der Jahre 1860–63. Mchn. 1998. – Frauke Berndt: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Lit. zwischen 1800 u. 1900 (Moritz – Keller – R.). Tüb. 1999. – Oliver Fischer: Ins Leben geschrieben. Zäsuren u. Revisionen. Poetik privater Gesch. bei Adalbert Stifter u. W. R. Würzb. 1999. – Christoph Zeller: Allegorien des Erzählens. W. R.s Jean-Paul-Lektüre. Stgt. 1999. – Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literar.-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz u. Weimarer Republik. Tüb. 2000. – Herbert Blume (Hg.): Von W. R. u. a. Vorträge aus dem Braunschweiger R.-Haus. Gütersloh 2001. – Sigrid Thielking (Hg.): R.-Rapporte. Literaturwiss. u. literaturdidakt. Zugänge zum Werk W. R.s. Wiesb. 2002. – Almut Drummer: Verstellte Sicht. Erinnerndes Erzählen als Konstruktion von Ablenkung in späten Schr.en W. R.s. Würzb. 2005. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. R. Mchn. 2006. – Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller u. R. Heidelb. 2006. – Sören R. Fauth: Der metaphys. Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption in W. R.s Spätwerk. Gött. 2007. Ralf Georg Czapla

Raaber Liederbuch. – Um 1600 entstandene Sammlung von Gesellschaftsliedern. Erst 1959 wurde das R. L. aus einer Handschrift in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars zu Raab (Györ) in Ungarn veröffentlicht. Es umfasst mehr als 100 dt. Gesellschaftslieder, die um die Wende vom 16. zum 17. Jh entstanden. Beziehungen zum zeitgenöss. literar. Liedschaffen, u. a. zu Theobald Hocks Schönem Blumenfeldt (1601), weisen diese Sammlung nach Österreich. Ihr unbekannter Verfasser dürfte wie Christoph von Schallenberg der österr. Oberschicht angehört haben. Ein Akrostichon der eröffnenden Minneallegorie nennt Hans Ulrich von Eggenberg (1568–1634), den kunstfreundlichen ersten Minister Kaiser Ferdinands II. Die meisten Lieder stellen »Liebesklagen« dar, handeln von der Trennung von der Geliebten,

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von der Unbeständigkeit der Liebe, von ihrer Paradigmenwechsel, zur Petrarca- u. Petrarkismuskrankmachenden Gewalt, von erneuter Wer- Rezeption im R. L. Zgl. ein Beitr. zur Gesch. probung u. dem steten Verlangen nach Liebes- testant. ›Renaissancelyrik‹ in Österr. Ffm. u. a. lohn. Die sich darbietende Geschichte einer 1996. Klaus Düwel / Wilhelm Kühlmann schmerzl. Liebe scheint auf konkretem Erleben zu beruhen. Sie spielt u. a. in den gerade Rabener, Gottlieb Wilhelm, * 17.9.1714 in Mode gekommenen Bädern von Lucca, Wachau bei Leipzig, † 22.3.1771 Dresden. deren landschaftl. Reize unter Anführung – Satiriker. von Berg- u. Quellnamen beschrieben werGeboren wurde R. auf dem Rittergut seines den. Einzelne Lieder gehen auf Sonette Petrar- Vaters, eines reich gewordenen Anwalts beim cas zurück. Es handelt sich jedoch nicht um Leipziger Oberhofgericht. Nach anfängl. PriÜbersetzungen – nicht einmal die Sonettform vatunterricht kam R. 14-jährig auf die Fürswird gewählt –, sondern um freie Bearbei- tenschule St. Afra in Meißen, wo u. a. Gellert tungen im Rahmen einer Auseinanderset- u. Karl Christian Gärtner zu seinen Mitschüzung v. a. mit dem »Cinquecento-Petrarkis- lern zählten. 1734–1737 folgte ein Jurastu2 mus«. Daneben gibt es Einwirkungen aus dium in Leipzig (Diss. Lpz. 1737. 1751), anderer ital. Dichtung (z.B. Ariost), ja sogar wenig später mit der Arbeit bei dem Leipziger Ausstrahlungen provenzalischer Trobadorly- Steuereinnehmer Johann Gottfried Latzer rik. Aber in die Lieder gehen auch Aus- bereits der erste Schritt in die ihm neben drucksweisen des dt. Volkslieds u. bildhafte seiner literar. Tätigkeit fortan bestimmte bePrägungen von Sprichwörtern ein, die sich rufl. Laufbahn. 1741 Steuerrevisor für den mit den ital. Elementen zu formvollendeter Leipziger Kreis, trat R. mit ersten, sogleich Dichtung verbinden. Dabei liegt einzelnen satir. Beiträgen zu der im Gottsched’schen Liedern eine lehrhafte Absicht nach Maßgabe Sinne von Johann Joachim Schwabe redigierdiverser erotischer »Diskurse« zugrunde. Die ten Leipziger Zeitschrift »Belustigungen des Vers- u. Strophenformen sind virtuos ge- Verstandes und des Witzes« hervor. Seit 1744 handhabt, es begegnen unterschiedl. Reim- gehörte er dem von Gottsched abgefallenen schemata mit Dreireimen. Als bes. kunstvoll Autorenkreis von Karl Christian Gärtners »Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Vererweisen sich einige längere Echo-Gedichte. Das R. L. stellt einen wichtigen Beitrag zur standes und Witzes« (»Bremer Beiträge«: 4 deutschsprachigen Renaissancelyrik dar. Bde., Bremen: Saurmann 1744/48) an, wenig »Schwerflüssiger, besinnlicher, mit Reflexion später auch zu den Autoren der von Johann stärker durchsetzt als Schallenbergs Lyrik, Andreas Cramer u. Nikolaus Dietrich Giseke mehr in sich gekehrt als Höcks der Umwelt herausgegebenen Wochenschrift »Der Jüngzugewandte Gesellschaftskritik«, vertritt das ling« (2 Bde., Lpz. 1747/48). In Leipzig R. L. »in Haltung und Ton eigenartig eine wohnte R. in der Burgstraße außer mit Cradritte Abart unter den Sammlungen, die in mer, Giseke u. a. auch mit Klopstock zusamihrem wesentlichen Bestande Erlebtes aus men, der neben vielen anderen Mitgliedern innerer Veranlassung dichterisch formt« des Kreises in der 1747 entstandenen Ode An (Nedeczey). Dichte Detailanalysen, die vom meine Freunde (später: Wingolf) auch ihn beParadigma der »Erlebnislyrik« abrücken, sungen hat (»Haßer der Torheit, aber auch bietet die nun maßgebl. Untersuchung von Menschenfreund«). Nach dem Weggang der meisten Freunde aus Leipzig schloss sich R. – Jónácsik (1996). Ausgabe: Eugen Nedeczey (Hg.): Das R. L. Sit- zeitlebens unverheiratet – Gellert an, seit zungsberichte der Österr. Akademie der Wiss. 1750 auch Christian Felix Weiße. Als schoWien, Phil.-histor. Kl. 232 (1959), Bd. 4 (Abh.en). ckierenden Bruch muss R. dann die 1753 Literatur: Eugen Nedeczey: Das R./Györer L. ohne sein Zutun erfolgte Ernennung zum In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hunga- ersten Steuersekretär in Dresden erlebt haricae. Bd. 2, Budapest 1959, S. 308–404. – László ben, weil damit die Entfernung aus dem Jónácsik: Poetik u. Liebe. Studien zum liebeslyr. Leipziger Ambiente verbunden war u. zudem

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die Nähe des Hofes sich als Produktionshemmung im Satireschreiben auswirkte. Nachdem 1751/52 die ersten drei Bände seiner Sammlung satyrischer Schriften (Lpz.: Dyck. Bd. 4: 1755. 111777, zahlreiche Raubdr.e u. Nachdr.e. Zuletzt: Sämtliche Schriften. Hg. Ernst Ortlepp. 4 Bde., Stgt. 1839) erschienen waren, erklärte R. 1755 im Vorbericht zum letzten Band, er werde – ungeachtet hoher Auflagen u. Übersetzungen seiner Satiren in zahlreiche europ. Sprachen – nichts mehr veröffentlichen u. stattdessen die Nachwelt überraschen mit den nach seinem Tod ans Licht kommenden Schriften (darauf bezieht sich Lessings Epigramm Auf Rabners Tod: »Der Steuerrath tritt ab, dem Satyr Platz zu machen; / Es weine, wer da will; ich spitze mich auf Lachen.«). Im Juli 1760 geschah die Katastrophe in R.s Leben, der Verlust seines Hauses mitsamt allen ungedruckten Manuskripten beim preuß. Bombardement Dresdens, ein Vorgang, den R. in seinem oft zitierten Brief an den Kabinettsekretär Friedrich Wilhelm Ferber in Warschau vom 12.8.1760 mit beispielloser innerer Überlegenheit geschildert hat. Weiße, der R. vergeblich anhielt, Rekonstruktionen der Satiren aus dem Gedächtnis zu versuchen, vermochte den Freund immerhin zur Sammlung von Briefen zu überreden, die er gleich nach R.s Tod herausgab (G. W. Rabeners Briefe, von ihm selbst gesammlet [...], nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften. Lpz. 1772). Systematische Streichungen Weißes oder R.s in dieser Ausgabe führten allerdings dazu, dass (mit weitreichenden Folgen für die spätere Beurteilung R.s) wichtige Hinweise, insbes. auf Dresdner Aktivitäten u. Kontaktpersonen, der Nachwelt vorenthalten blieben. Neu gefundene Briefe u. unbeachtete Dokumente (s. u.) verhalfen inzwischen zur weitgehenden Rekonstruktion dieser Zusammenhänge: bedeutsam darunter v. a. R.s Zugehörigkeit zu der im Laufe des Siebenjährigen Krieges entstandenen oppositionellen Gruppe um den allzu früh gestorbenen Kurprinzen Friedrich Christian, im Weiteren R.s Tätigkeit als persönl. Sekretär des brühlkritischen Ministers Thomas von Fritsch bei den Hubertusburger Friedensverhandlungen zum einen u. bei der kursächs. Reformkom-

Rabener

mission zur Neuordnung des Landes zum andern (die Akten von R.s eigener Hand befinden sich jeweils im HStaatsarch. Dresden), und nicht zuletzt die durch Fritsch u. Ferber veranlasste Berufung R.s in die Kommission zur nachträgl. Untersuchung des Brühlschen Amtsmissbrauchs. Ebenso wichtig ist vielleicht, dass sich die aus illegal gedruckten Briefen meist zitierte pro-friderizianische Stelle (R. an Gellert, 18.1.1757) durch Entdeckung der Originalhandschrift als eindeutige Fälschung herausstellte. Auf Fritsch ging übrigens die 1763 noch im Namen Friedrich Christians erfolgte Ernennung R.s zum nunmehr regierungsnahen Steuerrat zurück. Ungeachtet zweier Schlaganfälle 1767 u. 1769 blieb R. weiter im Amt u. starb am 22. März 1771 in seiner Dresdner Wohnung am Neumarkt. Die bisher unbekannten polit. Bindungen R.s müssten sich ihrer Natur nach auf die Einschätzung des Satirikers R. auswirken, den die bisherige Forschung, in Ermangelung eigentlicher Kenntnisse von R.s Lebensumständen ausschließlich textorientiert arbeitend, als politikfernen, jeder Obrigkeit gleich ergebenen Moralsatiriker gesehen hat, als »zahmen«, wenn nicht gar feigen Satiriker zudem, der im Vorbericht, von dem Mißbrauche der Satyre (Satyrische Schriften, Bd. 1, 1751) ausdrücklich versichert hatte, die persönl. Satire sei seine Sache nicht, Fürsten u. Obrigkeit, Geistliche u. Lehrer seien kein Gegenstand der Satire, u. in Briefen an die Freunde unverhohlen erklärt hatte, dass er nicht gesonnen sei, das Schicksal des Satirikers Liscow – Gefängnis u. Amtsverlust – zu teilen. Gegenüber dieser Position lag schon gleich die Vermutung nahe, dass der Vorbericht – alter satir. Praxis gemäß – die Funktion einer »Schutzschrift« hatte für Satiren, die es der eigenen Erklärung des Autors zufolge gar nicht hätte geben dürfen: Partien etwa in den Satyrischen Briefen (Satyrische Schriften, Bd. 3, 1752), die den im Normalzustand ihrer Korruptheit (Nepotismus, Amtserschleichung, Käuflichkeit, Heuchelei) in Erscheinung tretenden Amtsinhabern u. Würdenträgern galten bzw. am Beispiel der Privaterziehung auf adligen Gütern verdeckte Machtstrukturen der Zeit mit Lenz’schem Scharfblick offen-

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kundig machten. Mag der frühe R. im Kreis seiner theologisch-luth. Freunde noch deren obrigkeitshörige Dispositionen geteilt haben, so lenken die »neuen« Dresdner Sachverhalte den Blick auf bisher ungekannte Energien R.s u. lassen rückläufig fragen, wo der Zeitpunkt anzusetzen wäre, von dem an der allenfalls da m al s wörtlich zu nehmende Vorbericht tatsächl. als »Schutzschrift« anzusehen ist. Zgl. regt sich die Frage, was bei der so beschaffenen polit. Parteinahme R.s in den nie gedruckten, 1760 verbrannten Satiren gestanden haben mag. Nichtsdestoweniger können sich R.s Satiren schon unbefangener Lektüre als Versuch erschließen, »Aufklärung« zu bewirken durch die Veränderung des Bewusstseins beim größeren Teil des mitlebenden u. schließlich des nachlebenden Publikums. Im Wissen, dass bestehende Verhältnisse in Staat u. Gesellschaft zu ihrem Fortbestand des zu allen Zeiten populären u. öffentlich unmerklich geförderten unskept. Denkens u. Sprechens bedürfen, hat R. seine Satiren auf die Erschütterung falscher Gewissheiten im Durchgang durch den wirkliches Denken verhindernden übl. Sprachgebrauch eingerichtet, damit den jeweils Gemeinten ihr eigener Ton zum Schock u. dem Leser schlechthin gesellschaftl. Sprechen zum Problem wird. Diesem Gegenstand seines Schreibens ist R. in zwei Textfolgen am nächsten: In dem fiktiven Versuch eines deutschen Wörterbuchs (in: »Bremer Beiträge«, 1746) zum einen, worin Schlüsselwörter des Systems wie »Compliment«, »Eidschwur«, »Ehrwürdig«, »Pflicht«, »Menschenfeind« etc. unter der Feder des Satirikers ihre Dienlichkeit im System preisgeben. Zum andern persifliert R. die dumm-schlaue Extremform alltägl. Sprechens, das Reden in Sprichwörtern (»Wem Gott ein Amt giebt« etc.), mit deutlichem Rückbezug auf Cervantes in Antons Panßa von Mancha Abhandlung von Sprüchwörtern (in: »Bremer Beiträge«, 1750), nicht ohne den fiktiven Autor derselben, den gewitzten Nachfahr des alten Sancho, in der sehr viel später hinzugefügten Zueignungschrift (zuerst: Satyrische Schriften, Bd. 4, 1755) sein vieldeutiges Spiel treiben zu lassen mit den zeitübl. Unterwürfigkeiten solcher De-

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dikationen, indem dieser seine Abhandlung respektvoll dem Esel seines Ahnherrn »zu Hufe« legt, der sich als »ehrwürdiger Esel«, »weiser Esel«, »großer Esel« angeredet sieht. Einen bes. Widerspruch R.s haben schon die aufgeklärten Zeitgenossen bemerkt, z.B. Abraham Gotthelf Kästner in seinem Epigramm: »Zu spotten, und uns arm zu machen, / Ist Rabners doppeltes Bemühn; / Man sieht ihn über Alle lachen, / Und Alle seufzen über ihn.« Von dieser Spannung zwischen seinem »menschenfeindlichen« Amt u. seinen als »menschenfeindlich« diffamierten Satiren hat R. in seinen Briefen selbst gesprochen. Bei den oben mitgeteilten neuen Sachverhalten handelt es sich um Ergebnisse einer in Kürze erscheinenden Edition, die im Zusammenbringen aller überlieferten sowie zahlreicher unbekannter Briefe u. Lebenszeugnisse R.s unwillkürlich neue Kontexte schafft (s. u., Ausgaben). Weitere Werke: (alle in ›Satyrische Schriften‹, 1751–55): Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit (zuerst: ›Belustigungen des Verstandes und des Witzes‹, 1742). – Eine Todtenliste v. Nicolaus Klimen (›Belustigungen‹, 1743). – Ein Traum v. den Beschäfftigungen der abgeschiednen Seelen (›Bremer Beiträge‹, 1744). – Hinkmars v. Repkow Noten ohne Text (›Bremer Beiträge‹, 1745). Ausgaben: Internet-Ed. zahlreicher Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – E. Theodor Voss (Hg.): Briefe u. Gespräche G. W. Rabeners (1714–71). Krit. Ausg. nach bekannten u. unbekannten Quellen [mit Werk-Bibliogr. u. Nachw. der R.-Archivalien]. Gött. (in Vorb., voraussichtlich 2011). Literatur: Daniel Jacoby: R. In: ADB. – Julius Mühlhaus: G. W. R. Ein Beitr. zur Lit.- u. Kulturgesch. des 18. Jh. Diss. Marburg 1908. – Karl Kühne: Studien über den Moralsatiriker G. W. R. Diss. Bln. 1914. – Maria Tronskaja: Die dt. Prosasatire der Aufklärung. Bln. 1969, S. 52–60. – Günther Theodor Wellmanns: Studien zur dt. Satire d. Aufklärung. Diss. Bonn 1969. – Jürgen Jacobs: ›Die Laster auf ihrer lächerlichen Seite‹. Zur Satire der dt. Frühaufklärung. In: Erforsch. der dt. Aufklärung. Hg. Peter Pütz. Königst. 1980, S. 271–288. – Erhard Friedrichsmeyer: R.’s Satiric Apologies. In: Exile and Enlightenment. Hg. Uwe K. Faulhaber u. a. Detroit 1987, S. 11–18. – Hansjürgen Blinn: R. In: Kosch. – E. Theodor Voss: R., Cervantes u. der ›Ketzer Gordon‹. Donquichoterien des dt. Satiri-

385 kers. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. FS Jörn Garber. Eutin 2007, S. 279–303. – Ders.: Von Krieg u. Verlusten, neuer Regierung, hübschen Mädchen, Tokayer, Religion u. Witz. Ein Dresdner Brief G. W. R.s [an Karl Frhr. v. Amadei] nach beendetem siebenjährigen Krieg. In: Brotschrift [FS] Ulrich Keicher. Warmbronn 2008, S. 56–64. – J. Jacobs: R. In: NDB. E. Theodor Voss

Rabenschlacht ! Dietrichs Flucht und Rabenschlacht Raber, Vigil, * vermutlich letztes Viertel des 15. Jh. Sterzing/Südtirol, † 1552 Sterzing/Südtirol. – Bearbeiter u. Sammler geistlicher u. weltlicher Spiele. Der Sohn des Sterzinger Bäckers Michael Raber erlernte das Handwerk eines Malers. Noch vor 1510 muss er seine Vaterstadt verlassen haben, da er in diesem Jahr bereits in Bozen ein Fastnachtspiel (Rex mortis) abschrieb. Auch in der Folgezeit arbeitete er hier als Kunsthandwerker u. Maler u. war als einer von drei Initiatoren maßgeblich an der großen Passionsspielaufführung des Jahres 1514 beteiligt. Zu ihrer Vorbereitung reiste er nach Sterzing, um dort einen in Bozen offenbar bislang unbekannten Text für den ersten Spieltag abzuschreiben (Bozner Palmsonntagsspiel). Bei der Aufführung selbst übernahm R. die Rolle des Judas im Palmsonntagsspiel, im Spiel am Gründonnerstag u. am Karfreitag, während er am Ostersonntag den Hortulanus/Christus spielte, der Maria Magdalena in Gestalt eines Gärtners erscheint. Für das Frühjahr 1515 plante R. eine Reise nach Trient, vermutlich, um dort ebenfalls ein Passionsspiel zu inszenieren. 1517 leitete er die Aufführung eines Himmelfahrtsspiels in Cavalese. Als Wappenmaler begann er gegen Ende seiner Bozner Zeit (etwa 1522) mit den Arbeiten an den Wappenbüchern der St. Christopherus-Bruderschaft auf dem Arlberg. Spätestens 1524 kehrte R. wieder nach Sterzing zurück, wo er mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod als Maler tätig war (Wappen auf drei Steuerbüchern 1538, drei Wappen am Stadtturm 1549, Wappen in der Ratsstube 1552); die Existenz seiner durch zeitgenöss. Aufzeichnungen be-

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zeugten Tafelbilder ist nicht eindeutig nachweisbar. Ab 1533 wirkte er in Sterzing auch wieder als Initiator, Spielleiter u. Organisator von Aufführungen, zunächst bei einem geistl. Spiel zu Pfingsten. 1535 war er an einem Passionsspiel, 1538 u. 1541 an einem geistl. Spiel in der Kirche, 1543 erneut an einem Passionsspiel, 1548 an einem Himmelfahrtspiel beteiligt. Auch R.s Mitwirkung an der Aufführung von Fastnachtspielen ist für die Zeit von 1533 bis 1548 belegt. 1544 wurde ihm das Sterzinger Bürgerrecht verliehen; nach seinem Tod Anfang Dez. 1552 erwarb die Stadt von seiner Witwe alle Handschriften, Kostüme u. Requisiten, die sich in seinem Nachlass vorgefunden hatten. Zwischen 1510 u. 1539 war R. damit beschäftigt, Texte geistlicher u. weltl. Spiele (Fastnachtspiele) zu sammeln, zu kopieren, zu bearbeiten u. zu inszenieren. Er schuf damit einen einzigartigen, heute im Sterzinger Archiv befindl. Fundus mittelalterlicher Dramentexte. Insg. sind 40 Spieltexte von seiner Hand (teilweise unter Beteiligung weiterer Schreiber) erhalten. Die Reihe der 15 geistl. Spiele, bei denen es sich v. a. um Dramatisierungen der Ereignisse der beiden Festkreise des kirchl. Herrenjahres handelt, beginnt mit einem Weihnachtsspiel u. einer Marienklage (1511); es folgen ein Palmsonntagsspiel (1514) u. mehrere Spieltexte, Darstellerverzeichnisse u. ein Bühnenplan zur Bozner Passionsaufführung von 1514, wobei R. den endgültigen Text u. a. aus Bozner, Sterzinger u. Haller Vorlagen kompilierte. 1515 notierte er ein Spiel von David und Goliath, weiterhin ein Himmelfahrt- u. Pfingstspiel (1517), ein Osterspiel (1520), ein weiteres Pfingstspiel (1522), ein Emmausspiel (1523) u. zwei unvollendet erhaltene Dramatisierungen des Johannesevangeliums (erste Fassung 1526). Thematisch singulär innerhalb der Tradition des spätmittelalterlichen geistl. Dramas ist das als Gründonnerstagsspiel konzipierte, in Form eines Gerichtsspiels aufgebaute Ain recht / das Christus den tod leydet von 1529, in dem die Gottesmutter Maria entgegen dem göttl. Erlösungsratschluss vergeblich versucht, mit einem Prozess das unschuldige Leiden u. Sterben Jesu am Kreuz zu verhindern. Das voll-

Rabinovici

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ständig erhaltene Spiel wurde für eine Auf- zen 1996. – Eckehard Simon: Die Anfänge des führung vorbereitet, die allerdings nicht be- weltl. dt. Schauspiels. 1370–1530. Tüb. 2003. – V. legt ist. Die geistl. Textüberlieferung endet R. Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres. Hg. mit einem Spiel vom Reichen Mann und Armen Michael Gebhardt u. M. Siller. Innsbr. 2004. – Herbert Schempf: Recht u. Gericht bei V. R. In: Lazarus (1539). Forsch.en zur Rechtsarchäologie u. Rechtl. VolksUnter den von R. aufgezeichneten 25 kunde 24 (2007), S. 267–284. weltlichen, nach Sprache u. Inhalt z.T. sehr Bernd Neumann / Elke Ukena-Best groben u. obszönen Spielen mit sexueller u. skatolog. Komik sind bes. die im Fastnacht- Rabinovici, Doron, * 2.12.1961 Tel Aviv/ spiel beliebten Formen der Gerichts- u. Israel. – Historiker, Essayist u. SchriftStreitspiele u. der Arztspiele, in denen Motive steller. der Salbenkrämerszene der Osterspiele verarbeitet wurden, vertreten. Häufig behandelt Zus. mit Maxim Biller u. Robert Schindel wird die gattungstypische Werbungs-, Hei- gehört R. zu den wichtigsten jüd. Autoren der rats-, Ehe- u. Scheidungsthematik. Bemer- jüngeren Generation, in deren Schriften nicht kenswert ist die vielfältige Rezeption der mehr die persönl. Erfahrung, sondern die gesellschaftl. Folgen des Holocaust im MitNürnberger Fastnachtspieltradition. Wie aus einem von ihm selbst angelegten, telpunkt stehen. Seine Eltern entkamen der Judenverfoljedoch unvollständigen Inventar seiner Handschriften hervorgeht, sind darüber hin- gung durch die Nationalsozialisten nach Isaus auch noch etl. Abschriften verloren ge- rael. 1964 zog die Familie nach Wien, wo R. gangen, so ein Georgsspiel u. mehrere weltl. bis heute lebt. Er studierte Geschichte, EthDramen. R.s Hauptleistung bestand in der nologie, Medizin u. Psychologie, schrieb Bearbeitung u. Umformung älterer Vorlagen, polit. Essays u. bezog öffentlich Position gedie er z.T. aktualisierte, wobei er manche gen den »Rechtspopulisten« Jörg Haider. Texte immer wieder neu veränderte. Ver- 2000 erschien seine von Fachwelt wie Feuilmutlich hat R. einige der überlieferten Spiele leton gelobte Dissertation Instanzen der Ohnselbst verfasst, doch sind keine diesbezügl. macht (Ffm.) über die vermeintl. Verwicklung der jüd. Gemeindeleitung Wiens in DeportaNachweise erhalten. tion u. Vernichtung von Juden zwischen 1938 Ausgaben: Sterzinger Spiele. Nach Aufzeichu. 1945. Aus dem folgenden Jahr stammt nungen des V. R. hg. v. Oswald Zingerle. 2 Bde., Credo und Credit. Einmischungen (Ffm.), wofür Wien 1886. – Altdt. Passionsspiele aus Tirol. Hg. J[osef] E[duard] Wackernell. Graz 1897. Neudr. er den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Walluf 1972. – Sterzinger Spiele. Die weltl. Spiele Heidelberg (2002) sowie den Jean-Amérydes Sterzinger Spielarchivs. Hg. Werner M. Bauer. Preis (2002) erhielt. Die Sammlung von AufWien 1982. – Die geistl. Spiele des Sterzinger sätzen thematisiert wie seine beiden Romane Spielarchivs. Hg. Walther Lipphardt u. Hans-Gert die »Rituale der Verdrängung, die Tabus des Roloff. 6 Bde., Bern u. a. 1980–96. – V. R.s Neu- Verschweigens« von Opfern wie Tätern. Suche stifter Wappenbuch. Hg. Harwick W. Arch. Brixen nach M. (Ffm. 1997) ist eine formal als De2001. tektivroman angelegte Erzählung (mit ParalLiteratur: Conrad Fischnaler: V. R., der Maler lelen zum Werk des jüdisch-österr. Autors u. Dichter († 1552). Innsbr. 1894. Repr. eingel. v. Leo Perutz). Die Protagonisten reagieren in Max Siller. Innsbr. 2002. – Wolfgang F. Michael: komplementärer Weise auf das Schweigen The Staging of the Bozen Passion Play. In: GR 25 ihrer jüdischen, von den Nazis verfolgten (1950), S. 178–195. – Bernd Neumann.: Geistl. Eltern. Während der eine die Schuld fremder Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. Täter auf sich nimmt, rächt sie der andere – 1987. – Norbert Richard Wolf: V. R. In: VL. – Harald Zielske: Die Bozener Passionsspielaufführung Chiffren für die »Überlebensschuld« derer, v. 1514 u. der Bühnenplan des V. R. In: Daphnis 23 die der Vernichtung entkamen, u. für die (1994), S. 287–307. – Norbert H. Ott: R. In: NDB. – Sühneaktionen des israelischen GeheimFiammetta Bada: Le commedie di V. R. Dal tar- dienstes. Auch Ohnehin (Ffm. 2004) nimmt dogotico alla rivoluzione contadina del 1525. Bo- das Motiv der Erinnerung zweier komple-

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mentärer Akteure auf: Ein ehemaliger SSOffizier kann sich nicht an die Vergangenheit erinnern, sein behandelnder Psychologe versucht, die Gegenwart zu verdrängen. Weitere Werke: Papirnik. Stories. Ffm. 1994. – Der ewige Widerstand. Über einen strittigen Begriff. Wien 2008. – Herausgeber: Republik der Courage. Wider die Verhaiderung. Bln. 2000 (zus. mit R. Misik). – Österreich. Ber.e aus Quarantanien. Ffm. 2000 (zus. mit I. Charim). – Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Ffm. 2004 (zus. mit U. Speck u. N. Sznaider). Literatur: Thomas Kraft: D. R. In: LGL. – Matthias Beilein: 86 u. die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse u. D. R. im literar. Feld Österreichs. Diss. Bln. 2008. Sven Behrisch

Rabsch, Udo Oskar, * 17.2.1944 Praschnitz (Ostpreußen). – Erzähler.

Rachel

mann-Wettbewerb 1982 abgeben. Als Thema spielen Flucht, Krieg u. innere Zerrissenheit eine zentrale, die Liebe eher eine unterschwellige Rolle. In dem Antikriegsroman Julius oder Der schwarze Sommer (Tüb. 1986) mit Anklängen an das Science-Fiction-Genre versucht ein verzärtelter Kandidat der Theologie der atomaren Katastrophe zu entkommen. Für seinen Bürgerkriegsroman Tanz (Tüb. 1995), der im Stuttgarter Raum spielt, erhielt R. 1996 den Literaturpreis der Bundesärztekammer. Die Grenzen zum – zeithistorisch im Jahr 1955 verankerten – Krimi überschreitet Maria vom Schnee (Tüb. 2008), in dem ein elfjähriger Junge als Alter Ego des Autors »ein deutsches Wintermärchen« erzählt. R.s gesellschaftskrit. Theaterstücke (Eingeklemmt u. a.) werden von den deutschsprachigen Bühnen bislang weitgehend ignoriert. Weitere Werke: Erfahrungen über eine Zu-

Nach dem Studium der Evangelischen Theo- satzbehandlung mit Trijodtyromin beim Collumlogie u. Philosophie am Tübinger Stift u. der carcinom. Tüb. 1971. – Der Hauptmann v. StuttMedizin promovierte R. 1971 in Tübingen gart. Tüb. 1981 (R.). –Tazakorte. Tüb. 1988 (R.). – zum Dr. med. Zur Medizin fand R. über die Kaiman links. Tüb. 1998 (R.). – Zwei ältere Herren Lektüre von Heidegger u. Bultmann, dessen frühstücken. Tüb. 2010 (in Vorb.). Literatur: J. Jablkowska: Noch eine UnterEntmythologisierung der Theologie über gangsvision. In: Krieg u. Lit. 1 (1995). Ernst Käsemann in Tübingen Fuß fasste u. Günter Baumann bei manchen Zöglingen eine Sinnkrise hervorrief. R. engagierte sich zur Zeit der Vietkong-Krise kurz in der KPD, zog dann nach Rachel, Rachelius, Joachim, * 28.2.1618 Kalifornien, um sich als Arzt für César ChaLunden/Dithmarschen, † 3.5.1669 Schlesvez’ verbotene mexikan. Landarbeitergewig. – Satiriker. werkschaft einzusetzen. Es folgten Aufenthalte in Mexiko u. Deutschland, wo er als R., Sohn eines Pastors, wurde nach einem Vertrauensarzt der ehemaligen RAF-Terro- Studium (ab 11.11.1635) am Akademischen ristin Irmgard Möller auftrat. Seit 1980 ar- Gymnasium in Hamburg u. (ab Okt. 1637) an beitet R. als Arzt für Allgemeinmedizin u. als der Universität Rostock sowie langer HausAutor in Stuttgart. lehrertätigkeit in Estland u. Livland 1652 R.s Romane sind autobiografisch motiviert. Rektor der Lateinschule im heimatl. Heide. In Mexikanische Reise oder Abschied vom Regiment Im Mai 1660 übernahm er dieselbe Stelle an der Schwangeren (Tüb. 1980) verarbeitete er die der Ulrichsschule in Norden/Ostfriesland. Erlebnisse in Mexiko, in wenigen Wochen Dort wurde ihm jedoch der Aufenthalt durch niedergeschrieben u. inspiriert vom analyt. Angriffe des Konsistoriums auf seine RechtBlick des Mediziners sowie vom Kontakt mit gläubigkeit verleidet, nachdem er die BaptizaPatienten; »[d]er Praxisalltag ist der magische torum puerorum institutio (Vraghe en antvvoordt Realismus der Poesie bis auf die 30 Prozent over den Doop, 1618) des Hugo Grotius als bürokratische Schikane.« Seine schwäb. Christlicher Glaubens-Unterricht [...] aus dem LaWahlheimat, die ihm schon seit der Kindheit teinischen [...] in teutsche Verse gebracht (Aurich vertraut ist, wird in den folgenden Romanen o. J. [ca. 1664]. Tüb. 31666 u. ö.) übersetzt verarbeitet, die auch den Hintergrund seiner hatte. Durch Vermittlung seines jüngeren Texte bei der Teilnahme am Ingeborg-Bach- Bruders Samuel, des Professors für Natur- u.

Rack

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Völkerrecht an der Universität Kiel, wurde er 142 f., 1335, 1697. – Martin Tielke: J. R. In: Biogr. 1667 Rektor der Domschule in Schleswig, wo Lexikon für Ostfriesland. Bd. 3, Aurich 2001, er in den zwei Jahren bis zu seinem Tod eine S. 347–349. – Martin Klöker: J. Rachelius in Livreformerische Tätigkeit begann (Einführung land (1640–52). In: Regionaler Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation v. Humanismus bis der Geschichte u. der dt. Poetik in den Unins Zeitalter des Internet. FS Klaus Garber. Hg. Axel terricht). E. Walter. Amsterd. u. a. 2005, S. 337–371. – Gero Vermutlich von seinem Vater u. seinem v. Wilpert: Deutschbalt. Literaturgesch. Mchn. Rostocker Lehrer Peter Lauremberg angeregt, 2005. Dieter Lohmeier / Red. begann R. früh, lat. u. dt. Gedichte zu schreiben, zunächst v. a. Epigramme. Davon Rack, Johannes ! Rhagius, Johannes sind nur Quatrains in dt. Alexandrinern auf die Sonn- u. Festtage des Kirchenjahrs geRacknitz, Rackwitz, Joseph Friedrich Frhr. druckt: Epigrammata evangelica (o. O. 1654). von, * 3.11.1744 Dresden, † 10.4.1818 Nach einem niederdt. Lied im Stile DithDresden. – Kunstschriftsteller u. Mineramarscher Tanzlieder (Nu min Dochter seg van loge. Harten), das er während seiner Zeit in Heide schrieb, entstanden nach 1659 zunächst sechs Als Spross einer am sächs. Hof etablierten Verssatiren, die als Teutsche satyrische Gedichte Adelsfamilie genoss R. auf Gut Lockwitz bei (Ffm. 1664) gesammelt erschienen u. in der Dresden eine Privaterziehung, die seine muzweiten Ausgabe (Oldenb. 1677) um zwei sischen Talente förderte. Nach der Militärzeit Stücke erweitert wurden. Seit 1700 wurden 1761–1769 trat er in den Dienst des Hofes, sie bis 1743 mehrfach zus. mit Johann Lau- studierte nebenbei Theorie u. Geschichte der rembergs niederdt. Satiren Veer olde berömede Kunst, Botanik, Mineralogie sowie Mechanik Schertz-Gedichte gedruckt; zwei weitere Satiren u. betreute ab 1790 als Hausmarschall die kgl. R.s, die seither ebenfalls mit abgedruckt Schlösser, Kunstschätze u. Gartenanlagen. wurden, sind unecht. Als Nachahmungen Seit 1800 stand er als Hofmarschall der kgl. klass. Vorbilder gehören die Satiren in den Oper u. dem Theater vor. Von R.’ Vertrautheit mit den Dresdner Rahmen von Opitz’ Programm u. stehen auch stilistisch in dessen Nachfolge. Thematisch Kunstschätzen zeugen die Versuche zur Belassen sie sich der gegenhöf. Richtung der dt. urtheilung einiger Gemählde der Königl. Sächs. Barockliteratur zuordnen, obwohl in ihnen Gemähldesammlung (Dresden 1811). In seinem nicht die christl. Weltverneinung die Norm kunsttheoret. Hauptwerk Briefe über die Kunst ist, an der die kritisierten Erscheinungen ge- an eine Freundinn (Lpz. 1795) sucht R. im ersmessen werden, sondern ein teils bürgerli- ten Teil Schönheit u. Wahrheit auf ihren cher, teils gelehrter Konservativismus. Dass göttl. Ursprung zurückzuführen u. in diesem sie in ihrer Darstellungsweise dem Typus des Sinne als synonym zu erweisen, um im alten Strafgedichts entsprachen, ließ sie seit zweiten die Beurteilung von Kunstwerken der Mitte des 18. Jh. neben den neuen For- auf mathemat. Wahrheiten zu gründen, d.h. men der darstellenden Satire als überholt er- »das Reich der bildenden Künste als eine scheinen. In R.s Todesjahr erschien noch die Colonie der Mathematik« (S. 80) zu betrachten, indem er die Gegenstände der künstlelat. Satire Panegyris Menippea (Kiel). rischen Nachahmung als geometr. Figuren Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Drucke in: VD beschreibt. 17. – Satyr. Gedichte. Hg. Karl Drescher. Halle/ Als Mineraloge trat R. bereits 1788 mit S. 1903. – Zwei satir. Gedichte. Hg. Axel Lindqvist. Lund 1920 (Satiren 7 u. 8 nach den Kopenhagener seinen Briefen über das Carlsbad [...] (Dresden/ Lpz.) hervor, die auf einen gemeinsam mit Hss.). Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Goethe dort verbrachten Aufenthalt zurückBd. 5, S. 3255–3266. – VD 17. – Weitere Titel: August gehen. Sach: J. R. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 85 f., 225 f., 448 f. – Hans-Albrecht Koch: J. R. In: BLSHL, Bd. 6, S. 231–233. – HKJL, Bd. 2, Sp. 133,

Weitere Werke: Ueber den Schachspieler des Herrn v. Kempelen. Lpz./Dresden 1789. – Schreiben an einen Freund über den Basalt. Dresden

389 1790. – Darstellung u. Gesch. des Geschmacks der vorzüglichsten Völker. 4 H.e, Lpz. 1796–99. – Ueber die aus der Luft auf die Erde gefallenen Steine. Dresden 1804. – Idyllen-Tafeln für Engl. Parks. In: Allg. teutsches Garten-Magazin. Weimar 1805, S. 3–8. – Skizze einer Gesch. der Künste [...] in Sachsen. Dresden 1811. Literatur: August Wolfstieg: Bibliogr. der freimaurer. Lit. Burg/Lpz. 1911–26. – [Carl August Böttiger:] Worte der Bruderliebe gesprochen am Sarge [...]. [Dresden 1818]. – Ders.: R. In: Abendztg., Nr. 149 f., Dresden, 24./25.6.1818. – H. C. v. Einbeck: Ein bedeutender sächs. Hofmarschall. In: Das schöne Sachsen. Nr. 4, Dresden 1935, S. 1–3. – J. F. Frhr. v. R., seine ›Darstellung und Geschichte des Geschmacks der vorzüglichsten Völker‹ u. ein Ausstattungsprojekt für Schloss Moritzburg (1792/ 93). In: Staatl. Schlösser, Burgen u. Gärten Sachsen 11 (2003/04), S. 40–71. Dirk Kemper / Red.

Rad, Ludwig, * um 1420 Rankweil/Vorarlberg, † nach 1492. – Kleriker, Diplomat, Frühhumanist. Wie viele dt. Frühhumanisten begann R. seine Karriere als Kanzleischreiber. In den Diensten des Augsburger Bischofs, wo er Sigmund Gossembrot u. Johannes Roth kennenlernte, erreichte er die Verwendung in diplomat. Missionen, ehe er 1455 an die Wiener Neustädter Reichskanzlei wechselte. Obwohl er dort eine ausgezeichnete Stellung innehatte (1458 Wappenbrief von Kaiser Friedrich III.), suchte er bald die Muße des zweckfreien Studiums, die er ab 1460 in Zürich, durch verschiedene Pfründen abgesichert, verwirklichen konnte. 1465 trat er wieder in höf. Dienst, nun als Kanzler bei Herzog Sigmund von Tirol, bis er 1468 die Propstei in Rheinfelden erlangen konnte. R. war für die süddt. Frühhumanisten, wie seine Korrespondenz, aber etwa auch die von Roth an ihn gerichtete Beschreibung der Kaiserkrönung 1452 oder ein ihm gewidmetes Gedicht des Landshuter Notars Andreas Baier zeigen, Mentor u. gern befragte Instanz in den Studia humanitatis. Neben Gossembrot sind v. a. Niklas von Wyle u. Viktor Nigri, R.s Vetter, als Partner des in seiner Wiener u. Züricher Zeit geführten Briefwechsels zu nennen. Ihre spezifisch humanist. Prägung erhalten seine Briefe durch die Mischung von

Radbruch

Mitteilungen durchaus privater u. geschäftl. Natur mit Nachrichten über Freunde u. Bücher, durchsetzt mit kurzen Abhandlungen über traditionelle Topoi der Studia; sein Brief an Niklas aus dem Jahr 1461 wird so zu einem kleinen, von Enea Silvio beeinflussten Traktat über das Elend des Hoflebens. Ausgaben: Albrecht v. Bonstetten: Briefe u. ausgew. Schr.en. Hg. Albert Büchi. Basel 1893, S. 53–55. – Rudolf Wolkan: Neue Briefe v. u. an Niklas v. Wyle. In: PBB 39 (1914), S. 524–548, hier S. 536–539. – Paul Joachimsohn: Frühhumanismus in Schwaben. In: Ders.: Ges. Aufsätze. Ausgew. u. eingel. v. Notker Hammerstein. Aalen 1970, S. 149–247, hier S. 217–233 (zuerst 1896). Literatur: Paul Bänzinger: Beiträge zur Gesch. der Spätscholastik u. des Frühhumanismus in der Schweiz. Zürich 1945, S. 81–85. – Karl Heinz Burmeister: Der Vorarlberger Frühhumanist L. R. In: Innsbrucker histor. Studien 5 (1982), S. 7–26. – Franz Josef Worstbrock: R. In: VL (Lit.). Frank Fürbeth / Red.

Radbruch, Gustav (Lambert), * 21.11.1878 Lübeck, † 23.11.1949 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Rechtsphilosoph u. Strafrechtler. R. entstammte einer hanseat. Kaufmannsfamilie aus altniedersächs. Geschlecht. Auf dem Lübecker Gymnasium war Erich Mühsam sein Klassen-, Thomas Mann sein älterer Schulkamerad. Den schönen Künsten, bes. der Dichtung zugetan, studierte er auf väterl. Wunsch ohne innere Neigung Jurisprudenz in München, Leipzig u. Berlin, wo er 1902 bei Franz von Liszt promovierte. Stationen seiner durch Kriegsdienst 1915–1918 unterbrochenen akadem. Laufbahn waren Heidelberg (Habilitation 1903), Königsberg (1914), Kiel (1919) u. wieder Heidelberg (1926). 1920–1924 war er Reichstagsabgeordneter (SPD), Okt. 1921 bis Nov. 1922 u. Aug. bis Nov. 1923 Reichsjustizminister u. schuf den sog. StGB-Entwurf Radbruch von 1922 (Tüb. 1952). 1933 vom NS-Regime entlassen, war er 1945–1948 trotz schwerer Krankheit reaktiviert. R. war als Rechtsphilosoph, Kriminalpolitiker, Strafrechtshistoriker, Biograf u. Essayist ein bedeutender Rechtsdenker, der über die Grenzen seines Faches u. Landes hinaus

Raddatz

großes Ansehen genoss. Seine in zahlreiche Fremdsprachen übersetzten beiden Hauptwerke sind die für angehende Juristen wie für alle Gebildeten bestimmte Einführung in die Rechtswissenschaft (Lpz. 1910. Gött. 121969) u. die vom Neukantianismus der südwestdt. Schule ausgehende Rechtsphilosophie (Lpz. 3 1932. Stgt. 81973. Heidelb. 2003), für die das Recht eine wertbezogene, an der Idee des Gerechten auszurichtende Realität ist u. – zwischen Natur u. Ideal stehend – zum Reich der Kultur gehört. Wegweisend für die jurist. Biografik wurden R.s Lebensbeschreibung des Kriminalisten Paul Johann Anselm Feuerbach (Wien 1934. Gött. 31969), Eine Feuerbach-Gedenkrede ([1933] Tüb. 1952) u. seine Autobiografie Der innere Weg. Aufriß meines Lebens (Stgt. 1951. Gött. 21961), ferner 40 biogr. Studien über Rechtsgelehrte, Politiker u. andere Persönlichkeiten (ges. in: Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe. Hg. Arthur Kaufmann. Bd. 16: Biographische Schriften. Bearb. v. Günter Spendel. Heidelb. 1988). Für die schöne Literatur ist weiter beachtlich sein Band Gestalten und Gedanken (Lpz. 1945. Stgt. 21954) – mit Essays u. a. über Michelangelo. Die Mediceerkapelle, Shakespeare. Maß für Maß, über Goethe u. Die Feuerbachs – u. seine Schrift Theodor Fontane oder Skepsis und Glaube (Lpz. 1945. 21948). Alle diese Arbeiten zeichnen sich durch geistigen Gehalt u. schöne Sprache aus, die sich oft zu aphorist. Formulierungskunst erhebt (Aphorismen zur Rechtsweisheit. Hg. A. Kaufmann. Gött. 1963) u. ihren Autor als Meister dt. Prosa erweist. Seine über jurist. Spezialistentum hinausgreifende Universalität gab dem Rechts- u. Geistesleben mannigfache Impulse. Weitere Werke: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. Bln. 1904. – Religionsphilosophie der Kultur. Bln. 1919. Neudr. Darmst. 1968 (zus. mit Paul Tillich). – Kulturlehre des Sozialismus. Bln. 1922. Ffm. 41970. – Der Mensch im Recht. Tüb. 1927. – Elegantiae Juris Criminalis. Basel 1938. 21950. – Der Geist des engl. Rechts. Heidelb. 1946. Gött. 51965. – Lyr. Lebensgeleite. Heidelb. 1946. Gött. 21958. – Karikaturen der Justiz. Lithographien v. Honoré Daumier. Heidelb. 1947. Gött. 31967. – Gesch. des Verbrechens. Versuch einer histor. Kriminologie. Stgt. 1951. Neudr. Ffm. 1990 (zus. mit Heinrich Gwinner). – Gesetzl. Unrecht u. übergesetzl. Recht.

390 Mit einer Einf. v. Winfried Hassemer. Baden-Baden 2002. – Rechtsphilosoph. Tagesfragen. Vorlesungsmanuskript Kiel, Sommersemester 1919. Hg. Hidehiko Adachi u. Nils Teifke. Baden-Baden 2004. – Briefw. mit Archibald H. Campbell (1935–49). Münster 2005. – Der Geist des engl. Rechts u. die anglo-amerikan. Jurisprudenz. Aufsätze. Hg. Heinrich Scholler. Bln./Münster 2006. Ausgabe: Gesamtausg. Hg. Arthur Kaufmann. 20 Bde., Heidelb. 1987–2003. Literatur: Archibald Hunter Campbell: G. R.s Rechtsphilosophie u. die engl. Rechtslehre. Hannoversch Münden 1949. – Fritz v. Hippel: G. R. als rechtsphilosoph. Denker. Heidelb. 1951. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 41963, S. 713 ff. (mit Bibliogr. u. Schrifttum). – Günter Spendel: G. R. Lebensbild eines Juristen. Hbg. 1967. – Ders.: Jurist in einer Zeitenwende. G. R. zum 100. Geburtstag. Heidelb. 1979. – Holger Otte: G. R.s Kieler Jahre 1919–26. Ffm. 1982 (mit ausführl. Bibliogr.). – A. Kaufmann: G. R. [...]. Mchn. 1987. – Ian Ward: Law, Philosophy and National Socialism. Heidegger, Schmitt and R. in Context. Bern. u. a. 1992. – Virginia Martínez Bretones: La filosofía del derecho de G. R. Madrid 1994 (Bibliogr. S. 283–324). – Carola Vulois: G. R. in Oxford. Zur Aufarbeitung eines Kapitels länderübergreifender Rechtsphilosophie. Heidelb. 1995. – Wolfgang Schuller: G. R. als Literatur- u. Kunsthistoriker. In: Recht u. Politik 33 (1997), H. 3, S. 155–161. – Berthold Kastner: Goethe in Leben u. Werk G. R.s Mit einem Quellenanhang bisher unveröffentlichter R.-Mss. Heidelb. 1999. – Manfred Stange (Hg.): Nachlassverz. G. R. (1878–1949). Heidelb. 2001. – Heinrich Scholler: Die Rechtsvergleichung bei G. R. u. seine Lehre vom überpositiven Recht. Bln. 2002. – Marc André Wiegand: Unrichtiges Recht. G. R.s rechtsphilosoph. Parteienlehre. Tüb. 2004. – Eric Hilgendorf: G. R. Jurist u. Kulturphilosoph. In: Universitas 59 (2004), H. 2, S. 146–162. – Hidehiko Adachi: Die Radbruchsche Formel. Eine Untersuchung der Rechtsphilosophie G. R.s. Baden-Baden 2006. – Martin D. Klein: Demokrat. Denken bei G. R. Bln. 2007. – Ulfrid Neumann: Wissenschaftstheorie der Rechtswiss. bei Hans Kelsen u. G. R. In: Studien zur Rechtsphilosophie u. Rechtstheorie 47 (2008), S. 294–317. Günter Spendel / Red.

Raddatz, Fritz J(oachim), * 3.9.1931 Berlin. – Prosaschriftsteller, Literaturwissenschaftler, Verlagslektor, Journalist. Der Sohn von Friedrich Wilhelm Raddatz, Direktor der Filmgesellschaft Ufa, erlebte

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eine traumat. Jugend. Darüber berichtet er in seinem Memoirenband Unruhestifter (Mchn. 2003), in dem er auch sonst sich u. andere nicht schont. R. besuchte die Askanische Oberschule in Berlin-Tempelhof u. wandte sich nach dem Abitur 1949 bewusst zum Studium der Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaft u. Kunstgeschichte an die Humboldt-Universität im Ostteil der Stadt. 1958 wurde er dort mit einer Arbeit über Herders Konzeption der Literatur, dargelegt an seinen Frühschriften promoviert. Seit 1952 war R. als Leiter der Auslandsabteilung, von 1953 an als stellvertretender Cheflektor für den Verlag Volk und Welt tätig. Dort setzte er sich u. a. für eine Werkausgabe Kurt Tucholskys (Ausgewählte Werke. 6 Bde., Bln./DDR 1956–63) ein, der für ihn als Herausgeber u. Interpret ein Lebensthema bleiben sollte (u. a. Gesammelte Werke. [Hg.] 10 Bde., Reinb. 1975. Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. [Hg.] Reinb. 1982. Tucholsky. Eine Bildbiographie. Mchn. 1961. Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. Reinb. 1985. Tucholsky, ein Pseudonym. Essay. Reinb. 1993). Da er den Donnerstagskreis, einen Zusammenschluss auf kulturelle Liberalisierung drängender Intellektueller, gründete, geriet R. ins Fadenkreuz der Staatssicherheit u. floh 1958 in den Westen. 1959 wurde er Cheflektor des Kindler-Verlags, anschließend von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des RowohltVerlags. Hier machte er sich nicht nur um das belletrist. Profil des Verlages verdient, sondern lieferte auch in den von ihm gegründeten Taschenbuchreihen rororo-aktuell (seit 1965, u. a. Robert Havemann, Roger Garaudy, James Baldwin) u. rororo sexologie (seit 1968) der Studentenbewegung argumentative Grundlagen u. Publikationsmöglichkeiten. Gehörte R. zunächst zu den frühen, noch vereinzelten Anwälten des Marxismus in der Bundesrepublik, so wurde unter veränderten gesellschaftl. Bedingungen die von ihm herausgegebene dreibändige Anthologie Marxismus und Literatur (Reinb. 1969) zum Standardwerk an Germanistischen Seminaren. Dass sein Verhältnis zur marxist. Tradition kein unkritisches war, belegt Karl Marx. Eine politische Biographie (Hbg. 1975). Das in mehrere Sprachen übersetzte Buch führte zu einer

Raddatz

unter großer öffentl. Anteilnahme geführten Auseinandersetzung mit dem Ost-Berliner Philosophen Wolfgang Harich. Nach seiner Entlassung bei Rowohlt leitete R. von 1970 bis 1971 das Spiegel-Institut für Projektstudien. Im selben Jahr habilitierte er sich in Hannover, wo er seit 1968 einen Lehrauftrag hatte, bei Hans Mayer mit Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR (2 Bde., Ffm. 1971). Berufungen auf Lehrstühle an der Freien Universität Berlin u. in Hannover scheiterten nach R.’ eigener Darstellung an polit. Widerstand. 1977 wurde er Kulturchef der »Zeit«. Das Feuilleton der Wochenzeitung erreichte unter R.’ Leitung den Höhepunkt seiner Bedeutung u. bestimmte im Widerspiel mit dem von Joachim Fest verantworteten Kulturteil der »FAZ« stark die intellektuelle Debatte, wobei nicht zuletzt seine eigenen Beiträge (gesammelt u. a. in Zeit-Gespräche. 3 Bde., Ffm. 1978–86. Zur deutschen Literatur der Zeit. 3 Bde., Reinb. 1987. ZEIT-Dialoge. Reinb. 1996) das Profil schärften. Ein Plagiatsvorwurf bot 1985 den Anlass für seine Entlassung, doch blieb R. der »Zeit« noch länger als Autor verbunden. Schon zuvor war er mit Kuhauge (Reinb. 1984) erstmals als Erzähler hervorgetreten. Wie die folgende Erzählung Der Wolkentrinker (Reinb. 1987) u. der Roman Die Abtreibung (Reinb. 1991), mit denen es auch als autobiogr. Trilogie u. d. T. Eine Erziehung in Deutschland (Reinb. 2006) veröffentlicht wurde, fand das Buch in Frankreich eine enthusiast. Aufnahme durch die Kritik, während sich die dt. Kollegen überwiegend reserviert äußerten. Es folgten der Roman Gestörte Balance (Reinb. 1996) mit einem deutsch-span. Paar im Mittelpunkt sowie die Erzählung Ich habe dich anders gedacht (Zürich/Hbg. 2001) über eine Jugend im Nationalsozialismus. Daneben widmet sich R. seit seinem Ausscheiden bei der »Zeit« der Publikation der eigenen Korrespondenz (Lieber Fritz. Briefe an Fritz J. Raddatz 1959–1990. Hbg. 1991. ›Liebes Fritzchen‹, ›Lieber Groß-Uwe‹. Der Briefwechsel Uwe Johnson-Fritz J. Raddatz. Hg. Erdmut Wizisla. Ffm. 2006), der Essayistik (u. a. Süchtig nach Kunst. [Künstlerporträts] Regensb. 1995. Lebenfresser. Sechs literarische Essays. Hbg. 1996) u. Biografien (Taubenherz und

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Geierschnabel. Heinrich Heine. Eine Biographie. FAZ, 3.9.1991. – Heinz-Ludwig Arnold: Völlig aus Zürich 1991. Gottfried Benn: Leben niederer dem Reim gegangen. Ein Mensch in seiner ganzen Wahn. Eine Biographie. Bln. 2001. Rainer Maria Kulturwahrheit: Die Erinnerungen v. F. J. R. In: Rilke. Überzähliges Dasein. Eine Biographie. Zü- FAZ, 7.10.2003. – Jürgen Abel: Romancier, Kritiker, Wissenschaftler. Gespräch mit F. J. R. In: rich/Hbg. 2009). Journalistisch war R. in den Hamburger Ziegel. Jb. für Lit. 1 (1992), S. 425–438. letzten Jahren für die »Welt am Sonntag« – Hanjo Kesting: Leidenschaft u. Manier. F. J. R. In: tätig. Ders.: Ein Blatt vom Machandelbaum. Dt. SchriftR. ist Träger des Adolf-Grimme-Preises steller vor u. nach 1945. Gött. 2008, S. 174–181. (1967) u. Officier de l’Ordre des Arts et des Volker Hartmann Lettres der Republik Frankreich. Daneben wurde er 2010 mit dem Hildegard-von-Bin- Radecki, Sigismund von, auch: Homungen-Preis ausgezeichnet. culus, * 19.11.1891 Riga, † 13.3.1970 Weitere Werke: (Hg.) Die Stimme Amerikas. Amerikan. Kurzgesch.n. Bln. 1956. – (Hg.) Wollen Sie mit uns lachen? Ausländ. u. dt. Karikaturisten u. Humoristen. Bln. 1957. – (Hg.) Amerikan. Erzähler des 19. Jh. Bln. 1958. – (Hg.) Summa Iniuria oder Durfte der Papst schweigen? Hochhuths ›Stellvertreter‹ in der öffentl. Kritik. Reinb. 1963. – Verwerfungen. Sechs literar. Ess.s. Ffm. 1972. – Erfolg oder Wirkung. Schicksale polit. Publizisten in Dtschld. Mchn. 1972. – Georg Lukács in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1972. – Heine. Ein dt. Märchen. Ess. Hbg. 1977. – (Hg.) Warum ich Marxist bin. Mchn. 1978. – Revolte u. Melancholie. Ess.s zur Literaturtheorie. Hbg. 1979. – (Hg.) Mohr an General. Marx u. Engels in ihren Briefen. Eine Ausw. Mchn. 1980. – Von Geist u. Geld. Heine u. sein Onkel, der Bankier Salomon. Eine Skizze. Köln 1980. – Eros u. Tod. Literar. Porträts. Hbg. 1980. – (Hg.) Die Zeit-Bibl. der 100 Bücher. Ffm. 1980. – Das Tagebuch. Porträt einer Ztschr. Königst./Ts. 1981. – (Hg.) Friedrich Sieburg: Zur Lit. 2 Bde., Stgt. 1981. – Die Nachgeborenen. Leseerfahrungen mit zeitgenöss. Lit. Ffm. 1983. – Lügner v. Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. Reinb. 1987. – (Hg.) Zeit-Museum der 100 Bilder. Ffm. 1989. – Die Wirklichkeit der trop. Mythen. Auf den Spuren v. Gabriel García Márquez in Kolumbien. Reinb. 1988. – Pyrenäen. Mchn. 1989 (mit Martin Thomas u. Thorsten Droste). – Bilder einer Reise. Heinrich Heine in Italien. Mchn. 1989 (mit Dirk Reinartz). – Unterwegs. Lit. Reiseess.s. Reinb. 1991. – Männerängste in der Lit. Frau oder Kunst. Hbg. 1993. – Literar. Grenzgänger. 7 Ess.s. Mchn. 2002. – Günter Grass. Unerbittl. Freunde. Ein Kritiker – ein Autor. Zürich/Hbg. 2002. – Mein Sylt. Hbg. 2006 (mit Karin Székessy). – ›Schreiben heißt, sein Herz waschen.‹ Literar. Ess.s. Springe 2006. – Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut. Literar. Ess.s. Springe 2007. – Nizza, mon amour. Zürich 2010. Literatur: Frank Schirrmacher: Nicht immer Sonntagskind. Zum 60. Geburtstag v. F. J. R. In:

Gladbeck/Westfalen; Grabstätte: ebd., Friedhof Mitte, Lindenstraße. – Erzähler, Essayist, Übersetzer. In St. Petersburg besuchte der Sohn aus traditionsreicher Familie die Mittelschule. Nach dem Studium an der Bergakademie Freiberg/ Sachsen arbeitete er 1913/14 als Bewässerungsingenieur in Turkestan. Ende des Ersten Weltkriegs kämpfte er bei der Stoßtruppe der Baltischen Landwehr gegen die Bolschewisten. Bis 1923 war er in Berlin als Elektroingenieur tätig; danach wurde er zunächst Schauspieler u. versuchte sich als Porträtzeichner. Entscheidend für seine Wendung zur Schriftstellerei wurde R.s Freundschaft mit Karl Kraus. Von Paris 1926 wieder nach Berlin zurückgekehrt, konvertierte er, beeindruckt durch die Lektüre John Henry Newmans, zum Katholizismus. In München stand er Theodor Haecker nahe. Ende 1945 übersiedelte er nach Zürich, wo er bis kurz vor seinem Tod lebte. R. gilt als ein Meister der kleinen Prosaformen. In Presse u. Rundfunk veröffentlichte er seit Mitte der 1920er Jahre seine Skizzen, Betrachtungen u. Geschichten, die er erstmals in Der eiserne Schraubendampfer Hurricane (Wien 1929) sammelte. Breite Anerkennung verschaffte ihm ihr Ideenreichtum u. ihre in sorgfältiger Arbeit entstandene sprachl. Prägnanz zumal seit seinem folgenden Textband, Nebenbei bemerkt (Stgt. 1936). Mit Vorliebe knüpfen R.s scheinbar leicht hingeplauderte Glossen u. Betrachtungen an vermeintlich Beiläufigem an, um von dort schließlich zu grundsätzl. Lebensweisheiten vorzustoßen. Als Humorist hielt er »Zwerchfellerschütterung und Seelener-

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schütterung« für »untrennbar eins«. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten trat der mit verschiedenen Preisen ausgezeichnete Autor verstärkt als Kultur- u. Zeitkritiker hervor (Das Schwarze sind die Buchstaben. Köln 1957), als Moralist, der der polem. Schrift ebenso mächtig war wie des geistesgeschichtl. u. des theolog. Essays. Daneben wurde R. auch als Übersetzer aus dem Russischen u. Englischen bekannt. Insbes. seine Gogol-Übersetzung (3 Bde., Bln. 1938–43) ist eine eigenschöpferisch-kongeniale Nachdichtung. Weitere Werke: Im Vorübergehen. Mchn. 1959 (E., Ess.). – Ein Zimmer mit Aussicht. Mchn. 1961 (E., Ess.). – Gesichtspunkte. Mchn. 1964 (Ess.). – Im Gegenteil. Zürich 1966 (Ess.). Ausgaben: Bekenntnisse einer Tintenseele. Gesch.n u. Erinnerungen. Hg. Ruth WeilandtMatthaeus. Freib. i. Br./Heidelb. 1980. – Der ewige Tourist. Reisefeuilletons. Ausgew. v. Axel Dornemann. Schweinfurt 2008. Literatur: Herbert Ahl: Ernste Überlegung – heitere Überlegenheit. S. v. R. In: Ders.: Literar. Porträts. Mchn./Wien 1962, S. 180–187. – Monika Miehlnickel: Feuilletonist. Sprache u. Haltung bei Friedrich Sieburg u. S. v. R. Diss. Bln. 1962. – ErnstEdmund Keil: S. v. R. – Meister der kleinen Form. In: S. v. R. Bonn 1981, S. 1–4. – Josef Quack: S. v. R. Ein Meister der kleinen Form. In: Stimmen der Zeit 226 (2008), S. 755–766. Hans-Rüdiger Schwab / Red.

Rader, Matthäus, * 1561 Innichen/Tirol, † 22.12.1634 München. – Jesuit, Philologe, Pädagoge, Historiker, Dramatiker. Nach seinen Studien in Innsbruck trat R. mit 20 Jahren in den Jesuitenorden ein. Seine anschließenden wiss. Bemühungen dienten der Erforschung der lat. u. griech. Sprache u. Literatur, was ihm bes. Hochschätzung berühmter zeitgenöss. Altphilologen einbrachte. Vor allem Lipsius, Scaliger, Martin Delrio u. der auch als Historiker bekannte Marcus Welser sind hier zu nennen. An verschiedenen Kollegien der oberdt. Ordensprovinz wirkte R. nahezu 22 Jahre als Lehrer für Latein u. Rhetorik; 12 Jahre war er Studienpräfekt in München u. 16 Jahre Präses der Marianischen Kongregation. Zu seinen berühmtesten Schülern zählten Bidermann,

Drexel u. Georg Stengel. Wegen seiner Liebenswürdigkeit war er, wie aus Briefen seiner Schüler hervorgeht, als Lehrer geschätzt. Seine eigenen Briefe dokumentieren vielfältige gelehrte Interessen u. den Einfluss des Lipsianischen Stilideals. R. hat sich als Herausgeber antiker Autoren – z.T. in Erstausgaben – einen bedeutenden Namen gemacht. Eher schul. Zwecken diente seine erste, »gereinigte« Martialausgabe, die u. d. T. M. Valerii Martialis Epigrammaton Libri XII. Xeniorum Liber I. Apophoretorum Liber I. [...] (Ingolst. 1599. 16 Aufl.n bis 1648. Daneben weitere Bearbeitungen) erschien, wiss. Ansprüchen seine kommentierte Ausgabe M. Valerii Martialis Epigrammaton libri omnes, [...] (Ingolst. 1602. 41628). Dem Verständnis des antiken Dramas sollten seine Ad Senecae Medeam Commentarii (Mchn. 1631) dienen. Im Zusammenhang dieser Bemühungen um antike Autoren sind v. a. seine philolog. Studien zu Curtius Rufus hervorzuheben, die auch R.s histor. Ambitionen belegen: Q. Curtius Rufus Synopsibus et argumentis illustratus (Mchn. 1615. Antwerpen 101669). Historische Interessen dokumentieren auch die mit lat. Übersetzungen u. Anmerkungen veröffentlichten Akten des 8. allgemeinen Konzils (= 4. Konzil zu Konstantinopel), die eigentl. dem Komplex von R.s patrist. Untersuchungen zuzurechnen sind (Acta sacrosancti et oecvmenici Concilii octavi, [...]. Ingolst. 1614. Auch in: Labbés/Cossarts: Concilia. Bd. 8, Paris 1661, S. 1179–1524). Historischer u. theolog. Anspruch sowie philolog. Akribie kennzeichnen auch R.s hagiografische Werke. So wertete er griech., lat. u. ital. Quellen aus für sein Viridarivm Sanctorvm [...] (Bd. 1, Ingolst. 1604. Augsb. 21607. 3 1614. Bd. 2, ebd. 1610. 21614. Bd. 3, ebd. 1614. Als Gesamtausg. bis 1627 ediert), das vorbildliche christl. Verhaltensweisen in Heiligenviten exemplifiziert. Die Verbreitung dieses Werks wurde durch die Übersetzung des ersten Bands durch Christian Stengel (Lustgarten der heiligen aus den griechischen Menaeis gezogen. Ingolst. 1611) gefördert. Dem Konzept der Staatskirchenpolitik Kurfürst Maximilians I. von Bayern entsprach Bavaria Sancta [...] (Bd. 1, Mchn. 1615. Bd. 2, 1624. Bd. 3, 1627. Abdr. Dillingen 1704. Übers.:

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Matthäus Raders Bavaria Sancta [...]. Straubing M. R. SJ: eine Quelle zur Kulturgesch. Bayerns im 1840). Historische Gründlichkeit hebt dieses 17. Jh. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 60 (1997), Werk jedoch über bloßes Propagandaschrift- H. 3, S. 1109–1140. – Ders.: Die ›Bavaria sancta et tum hinaus, auch wenn es der wichtigen pia‹e d. P. M. eR. SJ. In: Les princes et l’histoire du XIV au XVII siècle. Hg. Chantal Grell u. a. Bonn Aufgabe der Identitätsfindung im frühabso1998, S. 499–522. – Sabine Mödersheim: M. R. u. lutist. Bayern dienen sollte. Mehrere Passa- das allegor. Programm im Augsburger Rathaussaal. gen wurden wegen ihrer wiss. Korrektheit In: Emblematik u. Kunst der Jesuiten in Bayern. von den Bollandisten in die Acta Sanctorum Hg. Peter M. Daly, G. Richard Dimler u. Rita Haub. übernommen. Die von Markus Welser be- Turnhout 2000, S. 227–247. – Jean-Marie Valentin: gonnenen Rerum Boicorum libri quinque, die er Les Jésuites et le théâtre (1554–1680) [...]. Paris nach dessen Tod auf Wunsch Maximilians 2001, Register. – A. Schmid: Wiss. Leben im Jefortsetzen sollte, durfte R. auf Anweisung der suitenkolleg St. Salvator zu Augsb. Der Briefw. des P. M. R. In: Jakob Bidermann u. sein ›Cenodoxus‹. Ordensleitung nicht vollenden. Hg. Helmut Gier. Regensb. 2005, S. 61–78. – Stefan R. hat sich als Lehrer natürlich für die Je- W. Römmelt: ›Als ob ich den ganzen Martial suitenbühne engagiert. Dies zeigt sich auch kommentiert hätte‹. M. R. SJ, ein problemat. in der Förderung seiner Schüler. So regte er Schulautor u. die jesuit. Zensurpraxis. In: Humaz.B. Bidermann zur Abfassung seines Ceno- nismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. Gernot doxus an u. betrieb durch persönl. Einla- Michael Müller. Bln./New York 2010, S. 309–326. – dungsschreiben Werbung für die Auffüh- A. Schmid: Die Korrespondenz zwischen P. M. R. SJ rung. Daneben wurden auch Werke R.s in- u. Marcus Welser. Ebd., S. 421–442. Franz Günter Sieveke szeniert – so z.B. 1585 in Freiburg/Schweiz u. 1587 in Luzern (vermutlich auch 1586 in Dillingen, 1587 in Graz u. 1596 in München) Raeber, Kuno, * 20.5.1922 Klingnau/Kt. ein Theophilus. Die Thematik ist mit der des Aargau, † 28.1.1992 Basel. – Lyriker u. Cenodoxus verwandt, jedoch wird hier das Prosa-Autor. durch Maria vermittelte Gnadenangebot R. wurde geboren als Kuno Zehnder; nach der Gottes vom büßenden Sünder angenommen. Scheidung der Eltern wurde der Geburtsna1594 führte R. in München für den Kurfürsme der Mutter zum Familiennamen, ab 1951 ten von Köln mit seinem Sanctus Cassianus Raeber geschrieben. R. lebte bis 1943 im Haus Martyr eines der ersten Märtyrerdramen auf seines Großvaters, des Verlegers Räber, in einer Jesuitenbühne auf u. protegierte damit Luzern u. besuchte die dortige Kantonsschueinen Dramentypus, der für die Barockdrale. Bereits als streng kath. Schüler schrieb er matik richtungweisend wurde. Leider ist das Gedichte u. bezeichnete Dichtkunst als LeBühnenschaffen R.s heute nur noch indirekt bensaufgabe. fassbar. Motiviert vom Studentenpfarrer Hans Urs Weitere Werke: Viridarium Sanctorum. 3 Bde., von Balthasar, begann R. 1945 ein Noviziat Augsb. 1604–14. – Opuscula Sacra M. Raderi. bei den Jesuiten, das er nach kurzer Zeit abMchn. 1614. – De Vita Petri Canisii libri III. Mchn. brach. In dieser Krise verlor er abrupt die 1614. 21623. – Bavaria pia. Mchn. 1628. Geborgenheit in der kath. Glaubenswelt u. Ausgabe: P. M. R. SJ. Eingel. u. hg. v. Alois gewann langfristig das Ziel, den verlorenen Schmid. Bd. 1: 1595–1612. Bearb. v. Helmut Zäh Kosmos der Kirche durch eine literar. »Geu. a. Mchn. 1995 (Bayer. Gelehrtenkorrespondenz). genwelt aus Worten« zu ersetzen. Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 6, Ab 1946 studierte R. Geschichte u. PhiloS. 1371–1382. – Weitere Titel: P. Anton Weis: R. In: sophie in Basel. Eine Rom-Reise wurde 1947 ADB. – Duhr, Jesuiten, Bd. 2/2, S. 417–423. – wegweisend, weil sich dort die Bilder seiner Ludwig Koch: Jesuiten-Lexikon. Paderb. 1934, S. 1490 f. – Johannes Müller: Das Jesuitendrama in religiösen Herkunft – Reliquiar u. Mumie für den Ländern dt. Zunge [...]. Bd. 2, Augsb. 1930, die Dauer, Kugel u. Kuppel für die VollkomS. 11–13. – Georg Schwaiger: Bavaria Sancta. Zeu- menheit, Stadt u. Palast für die schöne Ordgen christl. Glaubens in Bayern. Bd. 1, Regensb. nung – von kirchl. Dogmen ablösen ließen. R. 1970, S. 11–27. – Alois Schmid: Der Briefw. des P. erlebte diese »Bilder in meinem Innern« als

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Bestandteil einer seit der Antike gültigen myth. Tradition. 1950 promovierte er mit einer Dissertation über Sebastian Franck, heiratete Mareile Georgi u. veröffentlichte den Gedichtband Gesicht im Mittag (Basel). Anschließend arbeitete R. 1951 an der Schweizer Schule in Rom, 1952–1955 am Leibniz-Kolleg in Tübingen u. 1955–1957 am Europa-Kolleg in Hamburg. Im Gedichtband Die verwandelten Schiffe (Darmst. 1957) sind die Heiligen noch da, aber sie leben in der Großstadt. Da es keinen »unmittelbaren Ausdruck« gibt, müssen Wörter die Funktion von Masken – gebrochenen Bildsplittern aus allen Kulturen u. Erfahrungen – annehmen, damit das Zusammenspiel von Entsprechungen u. Verwandlungen das »wahre Bild« für die synkretist. Gegenwart schafft. Nach dem Tod der Mutter 1955 unterhielt R. homosexuelle Beziehungen, verließ die Universität u. lebte ab 1958 als freier Autor in München. 1959 wurde seine Ehe geschieden. Auch als Schriftsteller durchlebte er ein Jahrzehnt des Umbruchs. In zwei Lyrikbänden, gedichte (Hbg. 1960) u. Flußufer (Hbg. 1963), treten mehrfache Facetten eines Bildes nebeneinander (Miracula Sti. Marci), danach schrieb R. 17 Jahre lang keine Gedichte. Die Anfänge als Prosaautor waren schwierig, der autobiogr. Roman Die Lügner sind ehrlich (Hbg. 1960) wurde bei der Gruppe 47 verrissen, ein zweiter, Die Düne (1964), nicht gedruckt. R. begann, mit der Reihung, Variation u. Wiederholung sprachl. Formen in Prosa zu experimentieren wie im Hörspiel Der Brand (1965). Im Vorwort der Mißverständnisse (Mchn.) erklärte er 1968 seine Erzählungen zu Maskenspielen der Sprachkunst. Angeregt von Ovid u. Borges lässt R. in kurzen Texten alle Zeiten synchron werden oder schichtet Vergangenheit u. Gegenwart übereinander wie im Palimpsest. Gestalten aus Mythos u. Wirklichkeit, aus Innen- u. Außenwelt gleiten im Text ineinander. Viele der Heiligen u. Herrscher, der Orte u. Rituale werden zu »Grundbildern« im späteren Werk. 1967/68 ging R. als »poet in residence« an das Oberlin College in Ohio. In New York begann er die Arbeit an Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze (Darmst./Neuwied 1973). In Hofmannsthals Rede Der

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Dichter und diese Zeit (1906) gilt der Heilige Alexius als Sinnbild des Dichters, der unerkannt von den Menschen aus dem zufälligen Stoff der Welt eine Welt der Bezüge schafft. In R.s Roman ist er ein Hippie in New York, der die Splitter u. Spiegelungen des »wahren« Bildes der Stadt aus Drogenträumen von Jerusalem, Rom, Babylon, Konstantinopel u. Venedig beschwört u. dabei seine Identität zu Figuren dieser Städte wandelt. Aus der Beliebigkeit menschl. Lebensformen zu allen Zeiten stiftet sein Opfer in der Alexiusfasnacht die schöne Ordnung der Stadt, die alle Gegensätze in einem Bild der Versöhnung aufhebt. Die Sprache zitiert Heiligenlegende u. Pornoszene, der Aufbau reiht Bilder in nummerierten Abschnitten als Variation, Kontrast, Steigerung oder Parodie zusammen. Das Loreto-Motiv am Schluss des Romans hat einen Bezug zur Wallfahrtskirche Hergiswald in R.s Heimat; mehr als 300 emblemat. Deckenbilder mit Sinnsprüchen zum Lob der Gottesmutter sind dort nach ähnl. Prinzipien wie die »Wortbilder« der Texte zu einer Gesamtkomposition der Vollkommenheit geordnet. Ausgelöst vom Anschlag auf die Pietà des Michelangelo begann R. 1972 in Rom den Roman Das Ei (Düsseld. 1981) zu schreiben. In einer Abfolge von Bildern vollzieht sich ein Machtkampf zwischen Erscheinungen von Mutter u. Sohn, bei dem Räume, Zeiten u. die Identität der Hauptfiguren ständig wechseln. Neben den heiligen Mutterort Peterskuppel tritt das Kolosseum als Lustort der Söhne, als Gestalten erscheinen Maria u. Jesus aus der Bibel, Kaiser Joseph u. Maria Theresia, der Attentäter Laszlo, der Stricher Pino u. der »Konservator« Johann Joachim Winckelmann. Der Ich-Erzähler am Anfang u. Ende lässt den Kampf gegen die Zwänge einer nützl. Existenz im Reich der Mutter als Akt des Schreibens erkennen. 1977/78 lebte R. als Stipendiat des Istituto Svizzero in Rom. 1981 publizierte R. Gedichte, deren Titel, Reduktionen (Ffm. u. a.), die Konzentration u. Verdichtung nach dem Übergang der histor. u. myth. Themen auf die Prosa anzeigt. Sein Ziel einer »Musik der Worte« führt zu raffinierten Variationen u. Wiederholungen einfachster Ausdrücke, kurze Texte sind nach

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themat. Bezügen geordnet. Zwei Theaterstücke, Vor Anker (1980/81; ersch. Mchn. 1992) u. Bocksweg (1983/84; ersch. Mchn. 1989), die nie aufgeführt wurden, spielen gleichzeitig in einer magischen Welt des Heiligen u. in der homosexuellen Subkultur. R.s letzter Lyrikband, Abgewandt Zugewandt (Zürich 1985), weist themengleiche Gedichte in Schriftsprache u. der Mundart seiner Kindheit auf, sie rufen in dichten Mustern eine Fülle von Bildern wie Kugel, Rost, Grabmal, Herz auf, die wie ein Netzwerk alle Texte R.s zusammenhalten. 1989 erschien sein ungewöhnlichster Prosatext Wirbel im Abfluß u. d. T. Sacco di Roma (Zürich). Darin versucht die Figur »Er« in der Engelsburg rastlos Ordnung u. Gedächtnis zu stiften u. die Fülle von Bildern, die aus seiner Pupille stürzen u. sich ständig neu konfigurieren, festzuhalten. In den Umrissen der wandelbaren Gestalt ist der röm. Märtyrer Laurentius mit dem Dichterlorbeer im Namen u. seinem Festtag am 10. Aug. zu erkennen. Sein Erinnerungswerk ist vom Wirbel, der das Zentrum umspült u. alle Formen auflöst, bedroht. Die kreisenden Bilder tragen Aeneas u. Hadrian, den Escorial u. Caserta, den Brand im Borgo u. den Sacco di Roma in die Gegenwart der Römer u. lassen sie wieder entschwinden. »Er« hat ein Hündchen als Seelenbegleiter, u. wie bei Alexius ist der Höhepunkt der erfüllte Augenblick. Hier lässt der Engel auf dem Dach, der das Schwert in die Scheide steckt, das Bild der Versöhnung aufleuchten. Sprachlich nimmt der Schluss des Textes wie in einem Gedicht die Anfangszeilen auf; das Kreisen des Wirbels ist nicht nur Metapher für das Vergehen, sondern bildet zugleich das mimet. Anordnungsprinzip der Wörter. In einem punktlosen spiralförmig wirbelnden Satzgebilde rücken die Menschen u. Ereignisse durch Wiederholungen u. vielschichtige Variationen näher u. ferner. Ab 1988 arbeitete R. an drei Erzählungen, Der Ausflug, Nilfahrt u. Bilder Bilder, die postum 1994 u. d. T. Bilder Bilder (Zürich) erschienen u. seine in Jahrzehnten entwickelte Poetik des Bildes abschließen. Die erste u. die letzte Erzählung des »Triptychon« haben das Gemälde »Las Meninas« von Velázquez im Prado

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zum Zentrum, während in der mittleren ein Lehrer mit dem sprechenden Namen Lorenz auftritt. Der Maler Zurbaràn, der zwanghaft immer wieder das Gesicht Christi – also das »wahre Bild« – in neuen Facetten malen muss, präsentiert ein Spiegelbild der Obsession des Autors mit den Wörtern, während in der Figur Lorenz Bezüge zu Ereignissen in R.s Leben deutlich werden. Der Ich-Erzähler der dritten Geschichte führt in den Anspielungen u. Variationen seiner langen rhythmisch vorwärtsdrängenden Sätze die Elemente der beiden vorangehenden »kaleidoskopisch« zusammen. Geleitet von dichten Bezügen zur literar. Tradition, nähert er sich dem Blick auf die Vollkommenheit der Kunst. Seit Nov. 1990 war R. mit Aids infiziert, er konnte die Erstfassung seines letzten Werkes noch abschließen. R.s Lyrik fand ein positives Echo, während seine Prosa weniger beachtet wurde, weil sie sich allen gängigen Themen u. Formen verweigert. Bes. Das Ei brachte ihn wegen pornografischer u. blasphem. Sprache in Verruf. R. galt zunehmend als Außenseiter, sodass seine letzten Werke nahezu unbekannt geblieben sind. Ausgabe: K. R. 5 Bde., Zürich 2002–04. Literatur: Richard A. Klein (Hg.): Der Dichter K. R., Deutungen u. Begegnungen. Mchn. 1992. – Jürgen Egyptien: Der Künstler als Märtyrer u. die Kathedrale der Kunst. Zum Prosawerk v. K. R. In: Flucht u. Dissidenz. Hg. Zygmunt Mielczarek. Ffm. 1999, S. 69–91. – Ulrich Hohoff u. Christiane Wyrwa: K. R. In: KLG. – Hanno Helbling: Die Spirale schreiben, wieder zu entdecken der Schriftsteller K. R. In: NZZ, 16.1.2003. – U. Hohoff: K. R. In: LGL. – J. Egyptien: Einf. in die deutschsprachige Lit. seit 1945. Darmst. 2006, S. 40 u. 75. – Matthias Klein: Von den Grundbildern zum erfüllten Bild. Verständnis v. Kunst u. künstlerischem Werkprozess in K. R.s ›Bilder Bilder‹. In: Kunst u. Humanismus. FS Gosbert Schüßler. Hg. Wolfgang Augustyn. Passau 2007, S. 643–661. – Wiebke Amthor: Die Windungen der Spirale. Hand Erich Nossacks ›Spirale‹ u. K. R.s ›Wirbel im Abfluss‹. In: Labyrinth u. Spiel. Hg. Hans-Richard Brittnacher u. Rolf Peter Janz. Gött. 2007, S. 195–216. – Beatrice v. Matt: Myth. Manhattan. K. R.s Stadtphantasien. In: NZZ, 24.5.2008. Christiane Wyrwa

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Rätselbücher

Raeder, Gustav, * 22.4.1819 Breslau, Rätselbücher, seit etwa 1500. † 16.7.1868 Teplitz. – Schauspieler, BühR. sind gedruckte Bücher, deren Inhalt übernenautor. R. entstammte einer Schauspielerfamilie, erlernte den Beruf seiner Eltern auf deren Wanderbühne, vorwiegend bei Vorstellungen in Residenzstädtchen Thüringens u. bei dem Grafen Karl Hahn in Stralsund, wo er sich für das kom. Fach entschied. 1831–1833 war er am Königsstädtischen Theater in Berlin tätig, 1834 bis 1838 in Hamburg unter Lebrun; 1839 wurde er am Hoftheater Dresden, u. a. auf Fürsprache Tiecks, auf Lebenszeit angestellt u. rasch zum Publikumsliebling, auch als Sänger v. a. in Lortzing-Partien. Seinen Einfluss nutzte er zur Durchsetzung Offenbachs. R. auf den Leib geschrieben waren auch einige Rollen in Stücken Gutzkows u. Laubes; seit 1847 war er daneben auch Selbstversorger: zumeist mit Possen nach dem Vorbild der Wiener Zauberposse, deren Tiefgang er in seinem Bedacht auf kom. Überraschungseffekte nicht erreichte. R. verfuhr dabei teils eigenständig, teils als Bearbeiter, löste Motive bzw. Handlungsteile aus den Vorlagen u. gestaltete sie, häufig in völlig vom Original abweichender Handlung u. Charakterisierung, weiter aus. Sein bekanntestes Stück, Robert und Bertram oder die lustigen Vagabunden, das bei Nestroys Lumpacivagabundus Anleihen machte, war eine Parodie auf Meyerbeers Oper Robert der Teufel. R. scheute drast. Situationen nicht, vermied jedoch Frivolität ebenso wie polit. Themen. 1841–1862 wurden 21 seiner Stücke am Dresdener Hoftheater aufgeführt, zumeist an den Faschingstagen. Ausgaben: Ges. kom. Theaterstücke. 4 Bde., Dresden 1859–67. – Singspiele. 3 H.e, Dresden 1868. Literatur: Paul Schlenther: R. In: ADB. – Anette Spieldiener: Der Weg des ›erstbesten Narren‹ ins ›Planschbecken des Volksgemüts‹. G. R.s Posse ›Robert und Bertram‹ u. die Entwicklung der Judenrollen im Possentheater des 19. Jh. In: Judenrollen. Hg. Hans-Peter Bayerdörfer. Tüb. 2008, S. 101–112. Christian Schwarz / Red.

wiegend aus Rätseln u. verwandten Gattungen besteht. Zu den verwandten Gattungen gehört die Scherzfrage, die in den deutschsprachigen R. des 16. u. 17. Jh. z.T. sogar überwiegt, im 17. u. 18. Jh. der Logogriph u. die Scharade sowie im 19. Jh. der Rebus. Der Aufbau der R. steht im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Sitz im Leben. Im 16. Jh. wurden R., wie auch die Titelholzschnitte belegen, in geselliger Runde genutzt; ihre themat. Gliederung ermöglichte dem Rätselsteller eine gezielte Textauswahl. Im 17. u. 18. Jh. wurden die R. hingegen zunehmend auch zur Individuallektüre genutzt; die themat. Gliederung wurde deshalb zugunsten einer (z.T. gezielten) Unordnung aufgegeben. Aus dem gleichen Grund trennten sich im Verlauf der Entwicklungsgeschichte die Lösungen von den Fragen: Standen diese im 16. u. frühen 17. Jh. noch im direkten Anschluss an die Fragen oder als Überschrift, wurden sie in der zweiten Hälfte des 17. Jh. auf den Kopf gestellt u. seit dem 18. Jh. in einem Anhang oder separatem Lösungsheft aufgeführt. Der Inhalt der R. wiederum gibt Auskunft über sich im Laufe der Zeit ändernde Zielgruppen: Die deutschsprachigen R. des 16. u. 17. Jh., die zahlreiche skatologische bzw. obszöne Scherzfragen enthalten, waren für einen erwachsenen Rezipientenkreis geschrieben, während die nlat. R. u. die deutschsprachigen R. des 18. Jh., die priapeische Texte völlig vermeiden, sich zunehmend auch an junge Leute oder Kinder wandten. Den ersten gedruckten Rätselbüchern gingen in der zweiten Hälfte des 15. Jh. in Sammelhandschriften eingebundene Kollektionen von Scherzfragen u. Rätseln voraus, die wiederum in den lat. Fragesammlungen des MA, den sog. Joca Monachorum, wurzelten. Das erste gedruckte Rätselbuch erschien um 1498 anonym u. d. T. Demandes joyeuses in Paris (sechs weitere Ausgaben bis 1620), um 1510 folgte, von seinem frz. Vorgänger wohl inspiriert, aber weitgehend eigenständig, in Straßburg das (ebenfalls anonyme) erste dt. R., das sog. Straßburger Rätselbuch. Mit ca. 70 Ausgaben u. einer 280 Jahre währenden

Rätselbücher

Druckgeschichte (die letzte Ausgabe erscheint 1789) gehört es zu den bes. erfolgreichen volkssprachlichen weltl. Büchern der Frühen Neuzeit. Seine Wirkung lässt sich nicht nur in späteren dt. R., sondern auch in den R. der Niederlande u. Skandinaviens nachweisen. Die anstößigen Scherzfragen des Straßburger Rätselbuchs veranlassten 1535 den Bayreuther Prediger Johann Behem, als Gegenpublikation ein auf der Lutherbibel basierendes Christliches Ratbüchlein für die Kinder (Wittenb. u. a.) zu entwerfen, das nicht aus Rätseln, sondern aus katechismusartigen Wissensfragen bestand. Da er bald Nachahmer fand (z.B. Michael Sachs mit seinem erfolgreichen Christlichen Zeitvertreiber oder Geistlichem Rätselbuch. Lpz. 1593), wurde Behem zum Begründer des v. a. im 17. u. frühen 18. Jh. erfolgreichen Buchtyps eines »Christlichen Rätselbuchs«. Während Behem dem Straßburger Rätselbuch ablehnend gegenüberstand, wurde es, wie das erste nlat. Rätselbuch, der Aenigmatum libellus des Johannes Lorichius (Marburg 1540. 2 1545), belegt, von den Humanisten hingegen geschätzt. Lorichius, der erste sich namentlich nennende Rätselbuchautor auf dt. Boden, übersetzte nicht nur zahlreiche Rätsel u. Scherzfragen des Straßburger Rätselbuchs (u. einige der bibl. Wissensfragen Behems) ins Lateinische, sondern übernahm auch dessen Gliederungsprinzip. Darüber hinaus enthält der Aenigmatum libellus einige Rätsel antiker u. zeitgenöss. Autoren. Diese stehen im Zentrum der umfangreichen Aenigmatographia, in der Nikolaus Reusner 1599 (Ffm., 21602) nicht nur die zu seiner Zeit verfügbaren lat. Rätselsammlungen (z.B. Symphosius, Lorichius, Scaliger), sondern auch die rätseltheoret. Schriften (z.B. Giraldus) zusammenstellte. Dass dieses nlat. Kompendium, das einmalig in der Rätselbuchgeschichte nach dem Autorenprinzip geordnet ist, nicht nur archivierenden Charakter hat, macht Reusner durch ein detailliertes Lösungsregister deutlich. Das Rätselmaterial der Aenigmatographia diente in den folgenden Jahren mehreren Autoren als Quelle für ganz unterschiedlich konzipierte deutschsprachige R., z.B. Johannes Sommers Aenigmatographia Rythmica

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(Magdeb. 1605/06), Melchior Stahlschmidts Iocoseria mensalia (Paderb. 1610) oder Johann Christoph Ludwigs Centuria Aenigmatum selectorum (Ffm. 1746–50). Neben diesen zumeist recht eigenständigen R., für die die Rätsel der Aenigmatographia übersetzt oder die des Straßburger Rätselbuchs bearbeitet wurden, gab es im 17. u. 18. Jh. zahlreiche, zumeist anonyme Kompilationen, in denen Auszüge aus mehreren älteren zu neuen R. zusammengefügt werden – ein Verfahren, das noch Karl Simrock für sein erfolgreiches Deutsches Rätselbuch (Ffm. 1850) anwandte. Da viele der Kompilatoren zudem voneinander abschrieben, enthalten diese R. oft in unterschiedl. Mischung einen ähnl. Bestand an Rätseln u. Scherzfragen. Neue Stoffe wurden im 18. Jh. v. a. durch die Gattung der Scharade erschlossen. Nachdem mit Beginn der Aufklärung die Produktion der R. vorübergehend zurückgegangen war, setzt im letzten Viertel des 18. Jh. eine bis ins 20. Jh. andauernde reiche Produktion von R. ein. Zu den kompilatorischen Sammlungen gesellen sich nun zahlreiche R., die ausschließlich Scharaden u. Logogriphen enthalten. Bis heute sind R. Bestandteil der Gebrauchs- u. Unterhaltungsliteratur. Ausgaben: Straßburger Räthselbuch. Die erste zu Straßburg ums Jahr 1505 gedr. dt. Räthselsammlung. Neu hg. v. Adalbert Fidelis Butsch. Straßb. 1876. – Das dt. Räthselbuch. Ges. v. Karl Simrock. Nachdr. der Erstausg. Ffm. [1850]. Dortm. 1979. – Een Nederlands raadselboek uit de zestiende eeuw. Hg. Willy Louis Braekman. Brüssel 1985. Literatur: Arno Schmidt: Studien zum ›Straßburger Rätselbuch‹. In: Dt. Jb. für Volkskunde 8 (1962), S. 76–97. – Martin H. Jones: R. (dt.). In: VL. – Tomas Tomasek: Das dt. Rätsel im MA. Tüb. 1994. – Hanno Rüther: R. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., neu bearb. Aufl. hg. v. Severin Corsten, Stephan Füssel u. Günter Pflug. Bd. 6, Stgt. 2000, S. 161 f. – Frauke Rademann: Die skandinav. R. auf der Grundlage der dt. Rätselbuch-Traditionen (1540–1805). Diss. (masch.) Münster 2003. Ffm. 2010. – Heike Bismark: R. Entstehung u. Entwicklung eines frühneuzeitl. Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliogr. der R. bis 1800. Tüb. 2007. Heike Bismark

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Raffalt, Reinhard, * 15.5.1923 Passau, † 16.6.1976 München. – Journalist, Reiseschriftsteller, Dramatiker u. Kulturhistoriker. Nach Kriegsteilnahme u. Gefangenschaft studierte R. Musikwissenschaft, Theologie, Philosophie u. Kunstgeschichte in Leipzig, Passau u. Tübingen. Seit 1951 arbeitete er als Korrespondent für kath. Zeitungen u. für den Hörfunk in Rom, leitete dort 1954–1960 die von ihm gegründete »bibliotheca germanica«, das erste dt. Kulturinstitut nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach Reisen in Asien war er seit 1962 Korrespondent am Vatikan. Seine Wahlheimat Rom wurde zentrales Thema für ihn. Unter dem Sammeltitel Leben mit Rom widmete R. der Stadt insg. fünf Bände: Concerto Romano (1955. 141999) u. Fantasia Romana (1959) beschreiben anschaulich u. anekdotisch Altertümer, Architektur u. Alltagsleben. Sinfonia Vaticana (1966) ist ein Führer durch die päpstl. Paläste u. Sammlungen. 1977/78 folgten die Bände Cantata Romana u. Divertimento Romano. R.s größter Erfolg war sein didaktisch kluger, humorvoller Italienisch-Sprachkurs Eine Reise nach Neapel... e parlare italiano (1957. 91989. 111995; alle Mchn.). Weitere Werke: Ein röm. Herbst. Mchn. 1958. – Der Nachfolger. Mchn. 1962 (D.). – Das Gold v. Bayern. Mchn. 1966 (Kom.). – Wohin steuert der Vatikan? Mchn. 1973. Literatur: Nina Raffalt (Hg.): In memoriam R. R. Daten u. Fakten. Murnau 1998. Michael Langer / Red.

Ragaz, Leonhard, * 28.7.1868 Tamins/Kt. Graubünden, † 6.12.1945 Zürich. – Theologe, Publizist, Essayist. Der Bündner Bergbauernsohn studierte in Basel, Jena u. Berlin evang. Theologie u. war ab 1902 Münsterpfarrer in Basel. Dort wurde R., der sich von Anfang an für die Rechte des Proletariats eingesetzt hatte u. im Sozialismus ein Zeichen der Offenbarung Gottes sah, 1906 zum Gründer der religiös-sozialen Bewegung u. zum Redakteur von deren Zeitschrift »Neue Wege«, der er bis zu seinem Tod über 1000 eigene Aufsätze anvertraute. 1908 wurde er als Professor für Dogmatik u.

Ragaz

Ethik nach Zürich berufen – ein Amt, das er 1921 freiwillig aufgab, um sich zus. mit seiner Frau Clara im Zürcher Arbeiterviertel Aussersihl ganz der Sozial- u. Volksbildungsarbeit widmen zu können. Nachdem er zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Anwalt der Schweizer Militärdienstverweigerer Aufsehen erregt hatte, forderte er mit seinem Buch Die neue Schweiz (Olten 1918) eine Umwandlung der konservativ-beharrenden in eine soziale, weltoffene, moderne Schweiz. Sie müsse »ein Hochland« werden, dessen Auftrag es sei, »die Quellen des Geistes zu hüten, von denen die Völker leben«. Obwohl er damit v. a. bei der Jugend u. bei Intellektuellen viel Begeisterung weckte, zeigte die militär. Niederschlagung des Generalstreiks noch im selben Jahr, wie sehr er mit seinen Thesen der eigenen Zeit voraus war. Nach dem Krieg wurde R., der im Völkerbund ein unmittelbares messian. Ereignis sah, zu einem Führer der internat. Friedensbewegung. Das leidenschaftliche polit. u. soziale Engagement ließ ganz in den Hintergrund treten, dass R. auch als Theologe immer wieder Neuland betrat. So ist sein theolog. Hauptwerk Die Bibel. Eine Deutung (7 Bde., Zürich 1947–50) noch keineswegs seinem Rang entsprechend rezipiert. Sein Leben hat R., als Prediger wie als Schriftsteller ein glänzender Stilist, in Mein Weg (2 Bde., Zürich 1951/52) beschrieben. Weitere Werke: Gedanken. Aus 40 Jahren geistigen Kampfes. Bern 1938. 21951 (mit Bibliogr.). – L. R. in seinen Briefen. 3 Bde., Zürich 1966–82. – Religionsphilosoph. Vorlesungen an der Univ. Zürich 1909. 2 Bde., Zürich 1985. Literatur: Andreas Lindt: L. R. Eine Studie zur Gesch. u. Theologie des religiösen Sozialismus. Zollikon 1957. – Markus Mattmüller: L. R. u. der religiöse Sozialismus. 2 Bde., Zollikon 1957 u. 1968. – L. R. Religiöser Sozialist, Pazifist, Theologe. Hg. L. R.-Institut. Darmst. 1986 (mit Bibliogr.). – Dittmar Rostig: Bergpredigt u. Politik. Zur Struktur u. Funktion des Reiches Gottes bei L. R. Ffm. 1991. – Karl-Hans Kern: L. R. Dennoch glauben. Bonn 1995. – Traugott Jähnichen: R. In: Bautz. – Walter Lietha: R. In: NDB. Charles Linsmayer / Red.

Rahewin

Rahewin, Ragewin, Rachwin, Radewin, * um 1120, † zwischen 1170 u. 1177. – Chronist u. mittellateinischer Dichter.

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Lombardus (Flosculus ad H. prepositum) sowie naturphilosoph. Gedichte. Die Zuweisung weiterer Werke bleibt unsicher oder wird bestritten (so des Dialogus de pontificatu s. Romanae ecclesiae).

R., wohl ein Angehöriger der bischöfl. Ministerialienfamilie von Lohkirchen, war späAusgaben: Gesta Frederici: (s. Artikel Otto von testens seit 1144 Notar u. seit 1147 Kaplan u. Freising). – Versus de vita Theophili: Wilhelm Meyer: enger Vertrauter Ottos von Freising. 1157 Radewins Gedicht über Theophilus u. die Arten der überreichte er Friedrich Barbarossa Ottos gereimten Hexameter. In: Sitzungsber.e der Bayer. Weltchronik. Er bekleidete fortan eine füh- Akademie der Wiss.en, München (1873), S. 49–114. rende Stellung im Domkapitel u. lehrte an – Flosculus ad H. prepositum u. andere Gedichte der Domschule. Spätestens 1168 wurde er (überliefert in clm 19488): Haye (s. u.) S. 552–566; Propst des Kanonikerstiftes St. Veit bei Frei- Deutinger (s. u.) S. 235–304. Literatur: Bibliografie: Wilhelm Wattenbach u. sing. Im Auftrag Ottos setzte R. nach dessen Tod Franz-Josef Schmale: Deutschlands Geschichtsdie Gesta Frederici imperatoris fort, indem er in quellen im MA. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. [...]. Bd. 1, Darmst. 1976, S. 60–66 (zur älteren Lit.). – zwei Büchern die Geschichte Barbarossas vom Einzeltitel: Klaus Oesterle: Studien zu R. Diss. HeiPolenfeldzug im Aug. 1157 bis zum Febr. delb. 1962. – Hans-Peter Apelt: R.s Gesta Friderici 1160 beschrieb. Bezeichnend für R.s durch- I. imperatoris. Diss. Mchn. 1971. – Dietrich Becker: aus eigenständigen Geschichtsbericht sind Die Belagerung v. Crema bei R., im ›Ligurinus‹ u. die Einfügung von mehr als 30 Dokumenten, im ›Carmen de gestis Frederici I. imperatoris in die Dramatisierung des Geschehens mittels Lombardia‹. Diss. Würzb. 1975. – Hans-Werner nach rhetorischen Regeln stilisierter wörtl. Goetz u. Franz Josef Worstbrock: R. In: VL. – Reden der Geschichtsprotagonisten, Charak- Thomas Haye: R. als Dichter. In: Dt. Archiv für terbeschreibungen führender Persönlichkei- Erforsch. des MA 54 (1998), S. 533–566. – Roman ten sowie umfangreiche wörtl. Entlehnungen Deutinger: R. v. Freising. Ein Gelehrter des 12. Jh. Hann. 1999. – (Vgl. auch die Lit. zum Art. Otto von aus Werken antiker Autoren, v. a. Josephus u. Freising, insbes. Schmale 1963 u. Brezzi 1963.) Sallust. Seine auf polit. Belehrung bedachte Hans-Werner Goetz Geschichtsschreibung ist ganz auf die Person des Kaisers u. das reichspolit. Geschehen ausgerichtet, während man breite, ge- Rahmel, August Wilhelm Leopold von, schichtstheolog. Erörterungen im Stil Ottos * 12.3.1749 Rheinfeld/Pommern, † 15.2. vermisst, ohne dass R. sich von dessen Über- 1808 Schmiedeberg/Schlesien. – Gelezeugungen entfernt hätte. Vor allem die polit. genheitsschriftsteller. Ideale eines machtvollen Römischen Reichs R. besuchte die Kadettenschule in Berlin, wo übertreffen noch die mehr auf Ausgleich er u. a. von Karl Wilhelm Ramler unterrichtet zielenden Vorstellungen Ottos. Auch im wurde. 1767 trat er in den militär. Dienst ein, Konflikt zwischen Kaiser u. Papst stand R., ab 1780 bekleidete er kleinere zivile Ämter. der sich hinter die scheinbare Objektivität Zuletzt war er Bürgermeister von Schmiedeinserierter Dokumente zurückzog, auf der berg. Seite des Ersteren, wünschte sich jedoch wie Als Literat trat R. mit vorzugsweise jamOtto eine Harmonie zwischen beiden Gewal- bisch abgefassten Gelegenheitsdichtungen ten. (Huldigungsgedichte, Epigramme), in GeDaneben hat R. kunstvolle mlat. Lehrge- dichtform gebrachten Fabeln, Erzählungen dichte verfasst, die inhaltlich zwar wenig u. Satiren (oft nach frz. oder engl. Prosavororiginell sind, aber von hoher schriftstelleri- lagen) u. kleineren Prosaarbeiten hervor. Ein scher Begabung zeugen: eine Bearbeitung der thematisch buntes Spektrum, das sich am Theophiluslegende (Versus de Vita Theophili) in Gebrauchswert der Gedichte orientiert, stellt 651 gereimten Hexametern, eine dichteri- neben die Oden an die Freundschaft auch die Ode sche, kompendienhafte Ausgestaltung der an den Pantoffel. R.s Stil ist streng metrisch, Theologie nach den Sentenzen des Petrus leicht eingängig u. von bestechender Un-

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kompliziertheit. Aktualität u. Trivialität liegen eng beisammen. Weitere Werke: Winterzeitvertreib eines kgl. Preuß. Officiers. Breslau 1779. – Freymaurer-Reden u. Gedichte. Breslau/Lpz. 1780. – Ueber den Dienst. Von einem [...] Offizier. Entworfen noch eh’ derselbe seinen ersten Dienst verließ. Boston, recte Breslau 21784. – Ueber die Schwärmerey unserer Zeiten [...]. Breslau 1784. – Ueber das Point d’Honneur, ein Pendant zu der zwoten Aufl. der Schr.: über den Dienst [...]. Breslau 1785. – Ode auf den Geburtstag des Königs v. Preußen, Friedrich Wilhelm des Zweyten. Breslau 1786. – Sämtl. Gedichte. Schmiedeberg 1789. – Prosaische Schr.en. 2 Tle., Breslau 1789. – Salz u. Laune unter mancherley Gestalt. Halberst. 1795. – Schnurren, Launen u. Einfälle eines ehemaligen Kriegers bei der Preuss. Armee am Rhein. Constantinopel, recte Breslau 1796 (an.). Matthias Luserke / Red.

Rahner, Karl (Josef Erich) SJ, * 5.3.1904 Freiburg/Br., † 30.3.1984 Innsbruck; Grabstätte: ebd., Krypta der Jesuitenkirche. – Katholischer Theologe u. Religionsphilosoph. R. stammte aus einer kinderreichen Freiburger Lehrerfamilie. Nach dem Abitur am Freiburger Realgymnasium trat er 1922 in das Noviziat der Jesuiten ein, an deren Hochschulen in Feldkirch, Pullach u. Valkenburg/Niederlande er 1924–1933 Philosophie u. Theologie studierte; 1932 wurde er durch Kardinal Michael Faulhaber in München zum Priester geweiht. Da er zum Philosophiedozenten bestimmt war, kam er zum Weiterstudium nach Freiburg/Br., wo er von 1934 bis 1936 dem Seminar Martin Heideggers angehörte. Seine erkenntnistheoret. Arbeit Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin (Innsbr. 1939) wurde jedoch von dem kath. Philosophen Martin Honecker nicht als philosoph. Dissertation angenommen. R. sollte daher Theologiedozent werden, wurde 1936 in Innsbruck zum Dr. theol. promoviert u. 1937 für das Fach Dogmatik habilitiert. Aus den Salzburger Hochschulwochen 1937 entstand sein religionsphilosoph. Werk Hörer des Wortes (Mchn. 1941), aber der berufl. Werdegang wurde zunächst unterbrochen, da die NSBehörden die Theologische Fakultät u. das

Rahner

Jesuitenkolleg in Innsbruck schlossen u. R. Gauverbot erhielt. Er arbeitete 1939–1948 im Seelsorgeinstitut in Wien, als Pfarrer in Niederbayern u. als Dozent in Pullach u. München. 1949 wurde er o. Prof. für Dogmatik an der wieder eröffneten Theologischen Fakultät in Innsbruck. In den folgenden arbeitsintensiven Jahren griff R. mit zahlreichen Aufsätzen in die geisteswissenschaftliche Diskussion ein (Schriften zur Theologie. 16 Bde., Einsiedeln/ Zürich 1954–84). Vortragsreisen führten ihn durch ganz Europa, auch in den damaligen Ostblock, seit den 1960er Jahren in die USA u. nach Kanada. Als engagierter Wissenschaftsorganisator wirkte er für die Gründung der internationalen theolog. Zeitschrift »Concilium« sowie als entscheidender Mitherausgeber u. Mitautor der Reihe Quaestiones disputatae (101 Bde., Freib. i. Br. 1958–84), des Lexikons für Theologie und Kirche (11 Bde., Freib. i. Br. 21957–66. 31993–2001) u. des Handbuchs für Pastoraltheologie (5 Bde., Freib. i. Br. 1964–72). 1961 wurde R. von Papst Johannes XXIII. zum Experten bei der Vorbereitung des 2. Vatikanischen Konzils berufen. Während des Konzils 1962–1965 war er offizieller Konzilstheologe. Sein Einfluss war so groß, dass er sich in 13 der 16 Konzilsdokumente wiederfindet. Allg. wird R. ein Hauptanteil an der Befreiung der kath. Theologie vom erstarrten neuscholast. System zugeschrieben. Er war auch Mitinitiator u. -träger der Öffnung der Kirche zur säkularen Welt u. engagierte sich stark bei den Gesprächen zwischen Theologen u. Naturwissenschaftlern wie zwischen Christen u. Marxisten. Er trug zur Verständigung zwischen kath. u. evang. Theologen bei u. legte auch konkrete Pläne zur Kircheneinigung vor. Dogmengeschichtlich arbeitete er über Gnade, Sünde u. Buße, zur Theologie des HochMA u. zu myst. Themen bei altkirchlichen griech. u. lat. Theologen, wobei ihm die Zusammenarbeit mit seinem Bruder, dem Kirchenhistoriker Hugo Rahner SJ (1900–1968), zugute kam. 1964 folgte R. einer ehrenvollen Berufung auf den Lehrstuhl für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie nach München als Nachfolger Romano Guardinis.

Raiffer

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Hier hielt er seine Vorlesungen über den Be- the Vision of K. R. In: Thought 58 (1983), griff des Christentums, Grundkurs des Glaubens S. 439–452. – K. R. Bilder eines Lebens. Zürich u. a. (Freib. i. Br. 1976. 112008). 1967 nahm er ei- 1985. 2– Herbert Vorgrimler: K. R. verstehen. Freib. nen Ruf als o. Prof. für Dogmatik u. Dog- i. Br. 1988. Neuausg. Kevelaer 2002. – Ralf Miggelbrink: Ekstat. Gottesliebe im tätigen Weltbezug. mengeschichte in Münster an. Nach seiner Der Beitr. K. R.s zur zeitgenöss. Gotteslehre. AlEmeritierung 1971 setzte er seine ausge- tenberge 1989. – K. R. Sehnsucht nach dem gedehnte Vortrags- u. Publikationstätigkeit heimnisvollen Gott. Hg. H. Vorgrimler. Freib. i. Br. fort. Auf den Münchner Kardinal Julius 1990. – Anton Losinger: Der anthropolog. Ansatz Döpfner u. die Synode der westdt. Bistümer in der Theologie K. R.s. St. Ottilien 1991. – Werner in Würzburg (1971–1975) hatte er beträcht- Schreer: Der Begriff des Glaubens. Das Verständnis des Glaubensaktes in den Dokumenten des Vatilichen Einfluss. Charakteristisch für R. war sein positives kanum II u. in den theolog. Entwürfen K. R.s u. Verhältnis zu den Medien, wodurch er zu Hans Urs v. Balthasars. Ffm. u. a. 1992. – William v. Dych: K. R. London 1992 (engl.). – Hans-Dieter seiner Zeit der meistgefragte theolog. InterMutschler (Hg.): Gott neu buchstabieren. Zur Perviewpartner wurde. Zum Verständnis von R.s son u. Theologie K. R.s. Würzb. 1994. – Albert Denken sind die Interviewbände Im Gespräch Raffelt (Hg.): K. R. in Erinnerung. Düsseld. 1994. – (2 Bde., Mchn. 1982. Bd. 3, Düsseld. 1986) Karl H. Neufeld: Die Brüder R. Eine Biogr. Freib. i. unentbehrlich. Als erster theolog. Autor Br. 1994. 22004. – Albert Raffelt u. Hansjürgen überschritt er mit seinen Taschenbüchern, Verweyen: K. R. Mchn. 1997. – Roman A. Siebendarunter das in sieben Sprachen übersetzte rock (Hg.): K. R. in der Diskussion. Themen – ReKleine theologische Wörterbuch (zus. mit Herbert ferate – Ergebnisse. Erstes u. zweites Innsbrucker Vorgrimler. Freib. i. Br. 1961. 161988), eine K.-R.-Symposion. Innsbr. 2001. – Andreas R. Batlogg u. a.: Der Denkweg K. R.s. Quellen – EntAuflage von über 1 Mio. Exemplaren. Von wicklungen – Perspektiven. Mainz 2003. – H. den Ehrungen R.s seien 15 Ehrendoktorate Vorgrimler: K. R. Gotteserfahrung in Leben u. seit 1964 genannt sowie die Aufnahme in den Denken. Darmst. 2004. – David Berger (Hg.): K. R. Orden Pour le mérite u. der Sigmund-Freud- Krit. Annäherungen. Siegburg 2004. – Paul Eppe: Preis für wissenschaftliche Prosa. K. R. zwischen Philosophie u. Theologie: Aufbruch Als Philosoph u. Theologe bemühte sich R. oder Abbruch? Bln./Münster 2008. um die Analyse des menschl. Daseins u. ErHerbert Vorgrimler / Red. kennens u. um die Hinführung vor das absolute Geheimnis, das trotz seiner Selbster- Raiffer, Hans, eigentl.: H. Schmid(t), schließung unsagbar bleibt. Er stellte sich † 19.10.1558 Aachen. – Prediger u. Misden Fragen der Aufklärung u. Religionskritik sionar der Hutterischen Brüder; Verfasser u. vermochte denkerisch das Überzeitlich- religiöser Lieder, Briefe u. Sendschreiben. Transzendente mit dem Geschichtlich-Konkreten u. Sinnlichen zu vermitteln. In der Schmid, wahrscheinlich nach seinem Gevertrauensvollen Annahme des eigenen Le- burtsort Raiffach/Tirol H. Raiffer genannt, bens sah er den Kern des religiösen Verhal- wurde 1548, in einer Zeit schwerer Verfoltens. Seine Überlegungen zu »Urworten« gung, von den Hutterern in Mähren zum sind ein wichtiger Beitrag im Gespräch zwi- Prediger gewählt. Seine Missionsarbeit (Hesschen Theologie u. Literatur. R. wirkte weit sen, Kurpfalz, Niederrhein) ist bes. wegen seiner Verhandlungen mit den »Schweizer über konfessionelle u. fachl. Grenzen hinaus Brüdern« reformationsgeschichtlich bedeutu. findet unvermindert großes Interesse. sam. 1558 wurde er zus. mit elf weiteren Literatur: Bibliografien in: Gott in Welt. FestGlaubensangehörigen in Aachen gefangen gabe. 2 Bde., Freib. i. Br. 1964. – R.-Bibliogr. genommen u. nach monatelangem Prozess 1969–74. Freib. i. Br. 1974. – In: Wagnis Theologie. K. R. zum 75. Geburtstag. Freib. i. Br. 1979. – In: verbrannt. Aus R.s Gefangenschaft blieben 35 Briefe u. Glaube im Prozeß. Für K. R. Freib. i. Br. 1984. – Sendschreiben u. 15 Lieder erhalten, die bei Weitere Titel: Klaus P. Fischer: Der Mensch als Geheimnis. Die Anthropologie K. R.s. Freib. i. Br. den Hutterern handschriftlich weit verbreitet 1974. – Robert E. Doud: Poetry and Sensibility in wurden (Ed. in: Die Lieder der Hutterischen

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Brüder. Scottdale 1914. Cayley 1974, S. 551–611). Eine Rechenschaft vom Abendmahl verteidigt Zwinglis Position. Seine bis zu 112 Strophen umfassenden Lieder geben Märtyrerberichte u. Glaubenslehre. Etliche sind auf weltl. Melodien eingerichtet u. enthalten, wie nicht selten in der täuferischen Lieddichtung, in Akrostichen versteckte Botschaften. Weiteres Werk: Ain schön new gaystlich Lied, wie sich ain Christen mensch halten soll, jnn seinem leydenn trüebsal angst u. not [...]. o. O. um 1555. Literatur: Robert Friedmann: H. Schmid. In: Mennonite Encyclopedia 4 (1959), S. 462–464. – Ders.: Die Schr.en der Huter. Täufergemeinschaften [...]. Wien 1965, S. 126 f. – Ders.: H. Schmid. In: Mennonit. Lexikon 4 (1967), S. 75 f. Hartmut Kugler / Red.

Raimund, Ferdinand (Jakob), eigentl.: F. J. Raimann, * 1.6.1790 Wien, † 5.9.1836 Pottenstein bei Wien; Grabstätte: Gutenstein. – Autor von Zauberspielen; Schauspieler. Der Sohn eines aus Prag zugewanderten Drechslermeisters erhielt keine höhere Schulbildung. Er begann nach dem frühen Tod der Eltern (Mutter 1802, Vater 1804) eine Zuckerbäckerlehre u. versuchte sich dann als Schauspieler in der Provinz. 1814 gelang R. der Sprung nach Wien ans Theater in der Josefstadt, wo er 1815 in der Rolle des Adam Kratzerl in Gleichs Musikanten vom Hohen Markt durchschlagenden Erfolg verzeichnete. 1817 wechselte er an das Theater in der Leopoldstadt; hier trat er 1823 mit dem Barometermacher auf der Zauberinsel auch als Autor hervor. An den Erfolg dieses Erstlings – der wie alle Werke R.s zu Lebzeiten ungedruckt blieb – schlossen sich weitere an: Der Diamant des Geisterkönigs (1824) u. Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär (1826) machten R. zu einer österr. Berühmtheit, seine Stücke wurden von da an auch in Deutschland gespielt. Der andere Bildungsweg wird auch als Grund für R.s Versuch gesehen, sich am Burgtheater zu orientieren u. dem Volkstheater moralischen Ernst u. damit eine didakt. Funktion zu verleihen. Im Privaten entwickelten sich seine Verhältnisse

weniger günstig. Seine Werbung um die Kaffeewirtstochter Toni Wagner scheiterte 1819 am Widerstand der Eltern; die 1820 widerwillig geschlossene Ehe mit Louise Gleich, der Tochter des Theaterdirektors u. -dichters Joseph Alois Gleich, wurde nach eineinhalb Jahren geschieden. R. u. Toni gaben sich angesichts der Unmöglichkeit einer Heirat ein persönl. Treueversprechen, ihr künftiges gemeinsames Leben war jedoch von Missverständnissen u. Zwistigkeiten überschattet. Die auf den Bauer als Millionär folgenden Stücke hatten nicht die gewohnte Wirkung: Die gefesselte Phantasie, 1826 entstanden, wurde 1828 ohne Beifall aufgenommen, Moisasurs Zauberfluch, für das Theater an der Wien geschrieben, hatte dort 1827 nur einen Anfangserfolg. R.s Absicht, die Gattung des Zauberspiels dem ernsten Drama anzunähern, wurde vom Publikum nur teilweise akzeptiert; erst mit Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1828) konnte er wieder an die früheren Triumphe anknüpfen. Nach dem Misserfolg des »tragisch-komischen« Zauberspiels Unheilbringende Zauberkrone (1829) löste R. seinen Kontrakt mit der Leopoldstädter Bühne. Er ging 1831/32 auf Gastspielreisen, die ihn je zweimal nach München u. Hamburg sowie einmal nach Berlin führten u. sehr erfolgreich waren. Als er im Nov. 1832 für längere Zeit nach Wien zurückkehrte, fand er einen Konkurrenten vor: Nestroy brillierte im Theater an der Wien als Schauspieler u. Autor; sein Lumpacivagabundus gab 1833 dem Zauberspiel eine neue Richtung. R. reagierte 1834 mit dem Verschwender u. errang nochmals einen bedeutenden Erfolg. Er ging erneut auf Tournee, wurde aber nur in Prag (1836) begeistert aufgenommen. Sein jeweils drittes Auftreten in München (Sept. bis Nov. 1835) u. Hamburg (April/Mai 1836) fand weniger Anklang. Den Sommer 1836 verbrachte er in seinem Landhaus in Pernitz nahe Gutenstein. Eine seit Mitte der 1820er Jahre zunehmend depressive Gemütsverfassung führte zu seinem trag. Ende: Aus Angst vor einer eingebildeten Tollwutinfektion schoss sich R. eine Kugel in den Mund u. starb nach mehrtägigem Todeskampf.

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Trotz des schmalen Werks von nur acht eigenen Stücken, das an die umfangreiche Produktion etwa von Bäuerle oder Nestroy nicht heranreichte, stieß R.s. dramat. Schaffen bis heute bei Autoren u. in der Forschung auf große Resonanz. Dies liegt auch darin begründet, dass sich R. weder bruchlos in die Tradition des Volkstheaters einfügen noch ihr entgegenstellen ließ. Der schon von den Zeitgenossen u. später von Hofmannsthal begründete Mythos von der Originalität R.s, der an die Tradition des katholisch-barocken Wien anschließe, wurde lange Zeit in der Forschung reproduziert. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden R. u. sein Werk der frühen Biedermeierzeit zugeordnet u. in der Gefühlskultur, dem Theaterbetrieb, der Volkstheatertradition der Zeit sowie der ästhet. Verarbeitung biografischer Erfahrungen kontextualisiert. Die Tradition des Wiener Volkstheaters, die er vorfand u. erneuerte, war vielschichtig: Elemente des Jesuitendramas u. der barocken Oper hatten im Verlauf des 18. Jh. Eingang in das Stegreif- u. Wandertruppentheater gefunden. Diese Verbindung hatte zu einem Volksdrama geführt, das reich war an festen Spiel- u. Figurentypen u. sich keineswegs ausschließlich an die niederen sozialen Schichten wandte, sondern vom adeligen wie vom bürgerl. Publikum als Kontrast u. Alternative zum Programm des Hoftheaters angesehen wurde. Es hielt in der Substanz an den »reinigenden« Bestrebungen der österr. Aufklärung fest, öffnete sich aber manchen Stoffen u. Motiven der zeitgenöss. dt. Literatur. Gegen Ende des Jh. konnte es sich an den drei Vorstadtbühnen (in der Leopoldstadt, an der Wien, in der Josefstadt) etablieren. R. lernte die Breite dieses Volkstheaters v. a. in den Zauberspielen, mytholog. Parodien, Lokalstücken u. Typenkomödien von Gleich, Meisl u. Bäuerle kennen; seine ersten Stücke sind wie die ihren für den Tagesbedarf geschaffen u. gehen ganz aus der schauspielerischen Praxis hervor. Er wurde indessen nicht zum Vielschreiber, sondern entwickelte einen eigenen Typus des Zauberspiels, der ein teilweise barockes Instrumentarium der Aussage in eigener Sache dienstbar macht u. auf allen Ebenen durch eine Mischung gekennzeichnet ist, welche

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den Stil, die Wirklichkeitsebenen, die Sprache u. Figurationen umfasst. Dieses Weltanschauungstheater, das ebenso naiv wie emphatisch Tradition u. Aktualität verschmilzt, ohne den moralischen u. transzendentalen Gehalt preiszugeben, schien zunächst in seiner Wirkung stark von der Schauspielkunst seines Autors abhängig. Es zeitigte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. deutlich weniger Erfolg als die Parodien u. Satiren Nestroys; erst im 20. Jh. führten Plädoyers wie dasjenige Hofmannsthals zusammen mit wiss. u. theaterprakt. Initiativen zu einer mittleren R.-Renaissance. Der Barometermacher ist noch vorwiegend Theaterspaß, eine locker verbundene Folge von »Lachbildern«. Der auf einer Zauberinsel gestrandete Titelheld verliert in seiner Naivität die Zaubergaben einer guten Fee an eine hinterhältige Prinzessin, betrügt aber dann seinerseits die Betrügerin u. gewinnt zus. mit den mag. Gegenständen auch noch die Liebe ihrer Zofe. Der Stoff findet sich in einem Märchen Einsiedels, das Wieland in seine Sammlung Dschinnistan aufgenommen hatte; R. folgt der vorgegebenen Fabel, ersetzt aber den Prinzen, welcher in der Vorlage den Helden abgegeben hatte, durch die lustige Person des Barometermachers. Damit geht die »Verwienerung« des Stoffs Hand in Hand; mit dem Barometermacher u. der Zofe erscheint das erste jener naiv-heiteren Paare, die R.s Ideal der Zufriedenheit u. Lebensfreude verkünden. Der Diamant des Geisterkönigs u. Der Bauer als Millionär enthalten zwar noch viele kom., »verwienerte« Elemente, doch empfindet R. das Komische zunehmend als Konzession an das Publikum. Während im Diamant noch der Geisterkönig selbst die Zuschauer zum Lachen bringt, ist die Fee des jüngeren Stücks bereits eine ernste Figur, die Komik ist hier auf die unteren Ränge der Geisterwelt verlegt. Zgl. treten die moralischen Aspekte der von den Geistern ausgelösten u. zu einem guten Ende geführten Handlung immer mehr in den Vordergrund. Im älteren Stück findet der Held, welchem in Gestalt der Hoffnung eine erste Allegorie begegnet, vom materiellen Interesse zu den Werten der Liebe u. Treue, welche das Leben seines Dienerpärchens von jeher bestimmen;

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er ist bereit, eine durch manche Gefahren errungene diamantene Statue für die Geliebte hinzugeben. Im Bauer als Millionär sind zwei »moralische« Handlungsstränge ineinander geflochten: Die auf Erden zurückgelassene Tochter der Fee u. ihr Fischer entgehen den Allegorien des Neides u. Hasses, die ihnen nachstellen; sie finden mit Hilfe der gleichfalls allegorisierten Zufriedenheit ihr Glück u. erlösen so die Mutter in der Feenwelt. Andererseits erlebt der Bauer Fortunatus Wurzel, der durch die List des Neides zu Wohlstand gelangt war, das plötzl. Ende von Jugend, Reichtum u. Glück; er muss als Aschenmann die Hinfälligkeit des Daseins verkünden, bevor auch er durch die Zufriedenheit geheilt u. in seinen alten Stand zurückversetzt wird. Der Diamant ist das letzte Stück, in dem R. sich eindeutig an einer Quelle – einem Märchen aus 1001 Nacht – orientiert; mit dem Bauer als Millionär begann er »Original«-Zauberspiele oder -märchen zu verfassen. Sein Drang zum MoralischGrundsätzlichen nahm weiter zu, Reflexe der polit. u. sozialen Realität begegnen zwar immer wieder, bleiben aber der programmat. Absicht untergeordnet. Innerhalb dieser Entwicklung nimmt die Gefesselte Phantasie als Versuch der dichterischen Selbstrechtfertigung noch eine Sonderstellung ein; in Moisasurs Zauberfluch u. der Zauberkrone ist dann die Handlung durch den Kampf eines guten u. eines bösen Prinzips bestimmt, die unterschiedlich realisiert werden. Einmal stehen sich Moisasur, ein ind. Dämon des Übels, u. der Genius der Tugend gegenüber, das andere Mal die antiken Gottheiten Hades u. Lucina. Am Ende siegt in beiden Fällen die Tugend: Im Moisasur ermöglicht sie die Bewährung des Heldenpaares, wobei wieder ein armes, gutes, zufriedenes Pärchen mitwirkt, in der Zauberkrone stürzt sie einen Usurpator durch ihre mag. Kräfte. Die Qualität der drei letztgenannten Stücke wird heute unterschiedlich bewertet; die kühle Reaktion des zeitgenöss. Publikums erklärt sich jedenfalls durch den Mangel an kom. Szenen, durch den hohen Anteil ernst gemeinter Allegorik wie durch die kühne Kombination exotischer, antiker u. heimatl. Schauplätze.

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Im Alpenkönig greift R. auf die herkömml. Geisterwelt des Zauberspiels zurück, allerdings hält er sie von jeder Komik frei. Der Berggeist Astragalus nimmt die Gestalt u. das Wesen des Menschenhassers Rappelkopf an, verwandelt diesen in seinen eigenen Schwager u. gibt ihm so die Gelegenheit, sich selbst zu beobachten. Die Selbsterkenntnis verändert Rappelkopf u. versöhnt ihn mit seiner Familie. Anders als in den allg. Tugend-Laster-Modellen des Moisasur u. der Zauberkrone macht R. hier ein bestimmtes »Laster« zum Thema. Astragalus ist zwar in manchem den Tugendallegorien der genannten Stücke ähnlich, doch fehlt ihm der böse Dämon als Gegenspieler. Er dient im Grunde nur als Hilfsfigur der Gestaltung eines psycholog. Problems, das R. als sein eigenes empfand. Rappelkopfs Menschenhass ist halb sittl. Fehler, halb Seelenkrankheit, seine »Besserung« oder »Heilung« ist zweideutig: Die Integration in die Familie bedeutet nicht generelle Menschenfreundlichkeit, sondern steht unverbunden neben Resignation u. Weltskepsis. Im Verschwender vermeidet R. ebenfalls die Allegorisierung pauschaler moralischer Kategorien; er versucht auch hier seine moralische Absicht zu verwirklichen, ohne mit den Zwängen der Gattung Zauberspiel in Konflikt zu geraten. Er entwirft eine knappe, ernste Feenhandlung u. durchflicht damit den Leidensweg des leidenschaftl. u. großmütigen Verschwenders Julius von Flottwell. Dieser hat in seiner Jugend die Liebe einer Fee errungen, die ihn nun dadurch zu schützen sucht, dass sie einen Schutzgeist wiederholt als Bettler seinen Weg kreuzen lässt. Die Warnung, die in der Figur liegt, wird von Flottwell nicht verstanden, er vergeudet sein Vermögen weiter, gibt aber dem Bettler so viel, dass der ihn zu Beginn seines 50. Jahres, als er selbst zum Bettler geworden ist, in mäßigen Wohlstand versetzen kann. Teilhaber dieses bescheidenen Glücks ist sein alter Bedienter, der naive Tischler Valentin, der ihm auch in den Jahren der Trennung ein treues Andenken bewahrt u. ihn als Verarmten freudig aufgenommen hatte. Valentin wiederholt ein letztes Mal die Botschaft R.s, der Mensch solle mit sich selbst u. der Welt zufrieden sein, doch er verrät als

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Figur erneut, dass diese Botschaft vom Weltu. Selbstzweifel ständig bedroht ist. Die meisten seiner Stücke, v. a. jedoch Der Alpenkönig u. der Menschenfeind, Der Bauer als Millionär u. Der Verschwender, kommen beinahe jedes Jahr in neuen Inszenierungen auf die Bühnen. Ausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Johann Nepomuk Vogl. 4 Bde., Wien 1837. – Sämmtl. Werke. Nach den Original- u. Theatermanuscripten. Hg. Carl Glossy u. August Sauer. 3 Bde., Wien 1881. 3 1903. – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Säkularausg. in 6 Bdn. Hg. Fritz Brukner u. Eduard Castle. Wien 1924–34. Neudr. 1974. – Sämtl. Werke. Nach dem Text der Hist.-krit. Säkularausg. hg. v. Friedrich Schreyvogl. Mchn. 1960. 31966. – Werke in 2 Bdn. Hg. Franz Hadamowsky. Salzb. u. a. 1971. Literatur: Heinz Kindermann: F. R. Lebenswerk u. Wirkungsraum eines dt. Volksdramatikers. Wien 1940. 21943. – Otto Rommel: F. R. u. die Vollendung des Alt-Wiener Zauberstückes. Wien 1947. – Roger Bauer: La réalité, royaume de Dieu. Etudes sur l’originalité du théâtre viennois dans la première moitié du XIXe siècle. Mchn. 1965. – Kurt Kahl: F. R. Velber 1967. – Frank Schaumann: Gestalt u. Funktion des Mythos in F. R.s Bühnenwerken. Wien 1970. – Jürgen Hein: F. R. Stgt. 1970. – Ders.: F. R. Ein Forschungsber. (1881–1968). In: DVjs Sonderh. 1971, S. 469–495. – Gunther Wiltschko: R.s Dramaturgie. Mchn. 1973. – Friedrich Sengle: F. R. (1790–1836). In: Ders.: Biedermeierzeit. Bd. 3: Die Dichter, Stgt. 1980, S. 1–56. – Ruprecht Wimmer: F. R.s Zauberspiele. Mchn. 1984. – Renate Wagner: F. R. Eine Biogr. Wien 1985. – F. R. Bilder aus einem Theaterleben. Hg. Gottfried Riedl. Wien 1990. 22005. – Hugo Aust: ›O du steinerne Bosheit, wie bist du so gutmütig jetzt.‹ Der tragisch-kom. Sinn des Bösen in R.s Schauspielen. In: WW 40 (1990), S. 335–351. – Gerhart Scheit: Die Komik des Traurigen. F. R. In: Informationen zur Deutschdidaktik 19 (1995), H. 2, S. 46–57. – Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Darmst. 31997, S. 117–133. – Volker Klotz: R.s Zauberspiele u. seine Bedingungen. In: Ders.: Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne u. Publikum aufeinander eingehen. 2., durchges. Aufl., Würzb. 1998, S. 50–88. – G. Riedl: F. R. Stätten seines Lebens. Wien 2000. – R., Nestroy, Grillparzer. Witz u. Lebensangst. Hg. Ilija Dürhammer. Wien 2001. – Günter Holtz: F. R. der geliebte Hypochonder. Sein Leben, sein Werk. Ffm./Bln. u. a. 2002. – Fanny Platelle: L’œuvre dramatique de F. R. (1790–1836). L’ennoblissement de la comédie populaire viennoise. Lille 2003. – Wolfgang Greisenegger: R. In:

406 NDB. – J. Hein u. Claudia Meyer: F. R., der Theatermacher an der Wien. Ein Führer durch seine Zauberspiele. Wien 2004. – ›Es ist ewig schad um mich‹. F. R. u. Wien. Kat. zur 208. Sonderausstellung des Histor. Museums der Stadt Wien. Wien 2006. – ›Besser schön lokal reden als schlecht hochdeutsch‹. F. R. in neuer Sicht. Beiträge zum R.Symposium im Rahmen der Wiener Vorlesungen, 4.-5. Okt. 2006. Hg. Hubert Christian Ehalt. Wien 2006. – F. R.s inszenierte Fantasien. Beiträge zum R.-Symposium im Rahmen der Wiener Vorlesungen, 22. Okt. 2007. Hg. H. C. Ehalt. Wien 2008. – J. Hein: F. R. als ›ausübender Künstler‹ u. die Ed. seiner Dramen. In: Autoren u. Redaktoren als Editoren. Hg. Jochen Golz. Tüb. 2008, S. 253–260. Ruprecht Wimmer / Thorsten Fitzon

Raimund, Hans, * 5.4.1945 Petzelsdorf/ Niederösterreich. – Lyriker, Verfasser erzählender u. essayistischer Prosa, Übersetzer. Nach dem Studium der Musik, Germanistik u. Anglistik in Wien arbeitete R. 1972–1984 als Lehrer u. verbrachte die Jahre 1984–1997 in Duino bei Triest. Heute lebt er in Wien u. Hochstraß bei Lockenhaus im Burgenland. Er wurde u. a. mit dem Österreichischen W.-H. Auden-Übersetzer-Preis (1991), dem Georg Trakl-Preis für Lyrik (1994), dem Würdigungspreis des Landes Niederösterreich (1998), dem Anton Wildgans-Preis (2004) u. dem Silbernen Verdienstzeichen des Landes Wien (2006) ausgezeichnet. Als Topos der Literaturkritik hat sich für R. das Bild eines »skandalös Unterschätzten« (Hackl) etabliert. Mögliche Gründe dafür könnten zum einen die trotzige Konsequenz sein, mit der sich R. dem Kulturbetrieb verweigert, zum anderen eine gewisse Kompromisslosigkeit u. herbe Schonungslosigkeit seiner literar. Weltanschauung. R. debütierte 1981 mit Kurzprosa (Rituale. Eisenstadt), die in ihren Rhythmen u. Bildsequenzen äußerst sorgsam gearbeitet ist u. von der aus ein lyr. Schreiben naheliegt. Die Erzähl-Miniaturen Trugschlüsse (Klagenf./ Salzb. 1990) handeln von »Niederlagen« u. vielfach von »Zwängen«, Zwangshandlungen u. Traumata oder entwerfen suggestive u. z.T. surrealist. Charakterbilder von gescheiterten Existenzen (»Begrader«, »Heuler«,

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»Stinker«). Den Band beschließt eine Auseinandersetzung R.s mit seinem Vater, einem überzeugten Nationalsozialisten, der von seiner Einstellung auch nach Kriegsende nicht abließ u. sich deshalb gegenüber den neuen Verhältnissen in einer inneren Verweigerungshaltung vermauerte. Und obwohl R. gegen die antisemit. Einstellung des Vaters aufzubegehren u. sie abzulehnen lernte, erkannte er sich in seiner Lebenshaltung auf fatale Weise von diesem geprägt – in seinem »Neinsagen«, seiner Verhärtung gegen das ihm Zeitgenössische u. seinem »Sich-totStellen«: »Nur, indem ich mich tot stelle, kann ich [...] in einer Welt, die [...] ich als feindlich erfahre, überleben.« Jenes Sich-TotStellen meint für den Schriftsteller R. jedoch keineswegs eine Passivität, sondern eine hoch gespannte Aktivität des verweigerten Einverständnisses. Seine geschliffene u. scharfzüngige Prosa lebt aus der vibrierenden Intensität eines verneinenden »Befehdens«, welches sogar der Zuneigung ihre spezif. Form diktiert: »[...] seltsam, der Zwang, über den Umweg, besser: auf dem Un-weg gespielter Lieblosigkeit, mutwilliger Herabsetzung, sogar offener Häme zu lieben zu versuchen.« Vexierbilder (Salzb. 2007), eine »durchkomponierte Sammlung von Prosatexten«, versammelt Erzählungen u. a. von einem Mann, der – als David gegen den Goliath des anonymen Kulturbetriebes angehend – wahllos Bücher stiehlt u. sie zerreißt oder eine autobiografisch grundierte Imagination des »Dichters als altem Mann«. Darüber hinaus enthält der Band parodist. Pastiches (u. a. eine ins Alptraumhaft-Absurde modernisierte Neuerzählung der Ermordung König Arthurs, eine Sammlung von z.T. aphorist. Tagebuchnotaten sowie Reflexionen zum Übersetzen anhand von Beispielen ital. Lyrik). Als Übersetzer hat sich R. v. a. mit Stimmen des ital. 20. Jh. befasst (u. a. Bufalino u. Solmi), zudem mit engl. u. frz. Lyrik. R.s ab 1983 erscheinenden Gedichten werden zu Recht drei Charakteristika bescheinigt: »eine hohe Musikalität, eine schmerzende Präzision der Wahrnehmung und virtuose Stilvielfalt«. R. erkundet darin das gesamte formale, klangl. u. typograf. Spektrum

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der Lyrik: von (kinder)liedhaften geschlossenen Formen bis zu freien Versen unterschiedl. Länge, von haiku-ähnl. Moment-Impressionen zu litaneiartigen Reihungen oder zum Lang- oder Prosagedicht; typografisch wird mit Rechts- u. Linksbündigkeit oder verfremdendem Blocksatz gespielt, lexikalisch mit sprachspielerischen Verballhornungen, Lautassoziationen, fremdsprachigen Einsprengseln oder Dialektverwendung; v. a. kommen immer wieder suggestive Wort-Zusammensetzungen zum Einsatz (»Augenöhr«, »Pupillennadeln«, »Messertrotz«) oder in den jüngeren Bänden graf. Lexem-Zertrümmerungen. Inhaltlich befasst sich diese Lyrik einerseits mit den großen existentiellen Themen – Liebe, Leid u. Tod – oder begibt sich auf das Gebiet des Politischen (wenn R. etwa den vom Nationalsozialismus ererbten Antisemitismus in Österreich anprangert); andererseits fokussiert R. mit »langem geduldigem Blick« programmatisch »›die einfachen Dinge‹, [...] das Haus, die Bäume, die Tiere«, d.h. etwa die Landschaften des Karst oder des Burgenlands, Wien als eine vertraut-verhasste »vom Mief / des Greisentums durchwehte [...] Stadt«, seinen Hund, überfahrene Tiere, seine Familie u. v.a. immer wieder das geliebte Du einer Frau. Und er erfasst dabei – im Sinne des Bandtitels Kaputte Mythen (Klagenf. 1992) – durchweg die Symptome einer beschädigten, in nicht nur metaphysische, sondern auch mytholog. Obdachlosigkeit verkommenen, argen, bösen u. heillosen Welt. So dominieren auch in Landschaftsschilderungen u. in den Liebesgedichten vielfach Bilder von Gewalt u. Verletzung. Der refrainartig wiederkehrende Vers eines Gedichts, Perpetuum mobile, »verhärtest dich...« kann als Grundhaltung dieser Lyrik gewertet werden, die sich – eben aufgrund ihrer Wahrnehmungsverletzlichkeit in Bezug auf die Übel der Welt – schützend in Skepsis u. Schmähung verschließt, als Kehrseite von Melancholie u. machtlosem Zorn. Als »herrenloser / ratloser, / seit jeher // lebloser / Lügner« u. »wetterwendische[r] Poseur« ist das lyr. Ich »stets auf / Der Hut« (Porträt mit Hut. Salzb. u. a. 1998) vor einem »schlampigen Gefühl« oder einer als wohlfeil verdächtigten, beschwichtigenden Illusion.

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Im Zentrum zweier seiner Lyrikbände ste- Rainalter, Erwin H(erbert), * 6.6.1892 hen Liebesbeziehungen, die mit behutsams- Konstantinopel, † 29.10.1960 Wien; ter Achtsamkeit in ihren jeweiligen Konturen Grabstätte: Krems/Donau, Städtischer u. Facetten erkundet werden: Strophen einer Friedhof. – Theaterkritiker, Erzähler. Ehe (Klagenf. 1995) – R.s zweiter Ehefrau gewidmet – spürt den kontinuierlich flie- Der Sohn eines österr. Postbeamten studierte ßenden, sich beständig verflüchtigenden u. in Wien Germanistik u. Romanistik, war ab neu konfigurierenden Haltungen u. Emotio- 1924 Theaterkritiker u. zeitweilig Chefrenen der Zweisamkeit in einem zwanzigjäh- dakteur des »Neuen Wiener Tagblatts«. 1933 rigen Eheleben nach: Vertrautheit, Intimität, war er an der Gründung des nationalsozialist. aber auch unüberwindl. Fremdheit. In Trauer »Rings nationaler Schriftsteller« beteiligt, träumen (Salzb. 2004) verarbeitet R. den 30 trat im selben Jahr aus dem österr. PEN-Club Jahre zurückliegenden Tod seiner ersten aus u. ließ sich von Schriftstellerkollegen Ehefrau u. zeigt sich selbst als gezeichnet »Gelöbnisse auf die Betätigung im Sinne des Führers« ablegen. Er gehörte zu jenen Auto»[von] der Unfähigkeit / Zu trauern«. In jenem Band findet sich auch eine wich- ren, die ab 1935 den »nationalen« Charakter tige poetolog. Selbstbeschreibung des Autors: des Zsolnay Verlags prägten. In Berlin arbei»[...] ›Form‹ [ist] seit jeher für mein Schreiben tete er als Theaterkritiker beim »Völkischen wichtiger als ›Inhalt‹, weshalb ich bestrebt Beobachter«, kehrte nach dem »Anschluss« bin, für alles, was zum Gedicht wird, eine [...] nach Wien zurück u. gab die Anthologie Die [ihm] entsprechende Form zu finden. [...] Ich Ostmark erzählt (Bln. 1939) heraus. Erste größere Erfolge gelangen R. mit habe immer die proteischen Chamäleone Bauernromanen wie Die verkaufte Heimat unter den Kreativen bewundert [...], die seismographisch allen Einflüssen offen, im- (Mchn. 1928) u. Sturm überm Land (Lpz. 1932), stande sind, alles und jedes ihrem künstleri- in deren Zentrum ökonom. Probleme der Landwirtschaft im Zeitalter der Technisieschen Idiom anzuverwandeln.« Weitere Werke: Schonzonen. Wien 1983 (L.). – rung stehen u. die Hauptfiguren mit antiHaltungen Auf Distanz gegangen. Baden bei Wien 1985 (L.). – modernistisch-konservativen Der lange geduldige Blick. Mödling 1989. – Du identifiziert werden. Mit dem Roman über kleidest mich in Licht. Klagenf. 1994 (L.). – Das Andreas Hofer, Der Sandwirt (Wien 1935), Raue in mir. Aufsätze zur Lit. u. Autobiographi- wandte sich R. dem historisch-biogr. Roman sches 1981–2001. St. Pölten 2001 (mit Ess.s zu W. zu, dessen Konjunktur auch nach 1945 unH. Auden, Rainer Maria Rilke, André Gide, Natalia gebrochen anhielt. Ginzburg u. a.). – ER tanzt/Improvisationen. Meran 2007 (L.). – Hermann Hakel. Der raunzende Rebbe. Hg. H. R. Wien 2008.

Literatur: Sylvia M. Patsch: Zauber u. Trauer. In: NZZ, 7.12.1989. – Richard Exner: Vielstimmiger Virtuose. H. R.s ›Porträt mit Hut‹. In: LuK. Nov. 1998, S. 77 f. – Alexander v. Bormann: Verspannte Bilder. H. R.s neue Gedichte. In: NZZ, 30.10.1999. – Erich Hackl: Nachricht v. einem, der auf Hartlebigkeit baut. In: Anprobieren eines Vaters. Zürich 2004, S. 101–108. Alexander von Bormann / Pia-Elisabeth Leuschner

Weitere Werke: Anno dazumal u. heute. Anekdoten aus fünf Kriegen. Hann. 1916. – Der Einsatz. Reichenberg 1922 (N.n). – In engen Gassen. Lpz. 1934 (R.). – Der getreue Knecht. Wien 1936 (E.). – Das große Wandern. Lpz. 1936 (R.). – Gestalten u. Begegnungen. Bln. 1937 (E.en). – In Gottes Hand. Bln. 1937. – Die Gesch. meines Großvaters. Wien 1939. – Die Botin. Lpz. 1940 (E.). – Musik des Lebens. Bln. 1941 (E.en). – Die Enkelinnen der Kleopatra. Wien 1942. – Die schöne Beatrice. Wien 1942 (E.en). – Mirabell. Bln. 1943 (R.). – Die einzige Frau. Wien 1949. – Das Mädchen Veronika. Wien 1950 (R.). – Wolken im Frühling. Wien 1950 (R.). – Die Seele erwacht. Wien 1951 (R.). – Arme schöne Kaiserin. Elisabeth v. Österr. Wien 1954 (R.). – Geigen Gottes. Hbg. 1956 (R.). – Hellbrunn. Hbg. 1958 (R.). – Elegante Wiener Equipagen-Portraits. Stgt. 1959. – Kaisermanöver. Hbg. 1960 (R.). Johann Sonnleitner / Red.

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Rakette, Egon H. [Helmut], * 10.5.1909 Ratibor/Oberschlesien, † 2.10.1991 Remagen-Oberwinter. – Erzähler u. Lyriker, Anthologist u. Kulturorganisator. Nach den ersten, aber bleibenden Kindheitseindrücken im mehrsprachigen oberschles. Grenzgebiet besuchte R. das Johannes-Gymnasium in Breslau, studierte 1931/32 Architektur in Dessau (Bauhaus), dann in Paris u. arbeitete in der Folge zeitweise als Verwaltungsangestellter in Breslau. Die Dessauer Zeit verarbeitete er später in dem Roman Bauhausfest mit Truxa (Mchn., Bln. 1973) innerhalb einer Rahmenhandlung, welche die Gespräche des Protagonisten mit einem ehemaligen jüd. Mitschüler u. Bauhausgefährten imaginiert. Unerachtet angeblich früher sozialist. Neigungen u. der Teilhabe am Breslauer literar. Leben trat R. der NS-Partei bei, diente im Polen- u. Frankreichfeldzug als Infanterist, anschließend (1940–1944) als Kriegsberichterstatter v. a. in Russland. Nach dem Krieg, dessen Ende R. u. seine Familie in der Nähe von Schwäbisch Hall erlebten, u. nach dem Verlust der alten Heimat, an die er zeitlebens als Schriftsteller erinnerte, fand R. eine Stelle als Büroleiter (1948/49) der Ministerpräsidenten der drei westl. Besatzungszonen, von wo aus er (bis 1954) nach Bonn in die Verwaltung des Bundesrats wechselte. R. war hier zuständig für Flüchtlingsfragen u. Wiederaufbau. Seit dieser Zeit setzte er sich – nicht ohne mentale Brüche – immer wieder, auch in Kontakt u. a. mit Max Tau, für eine internationale, namentlich für die dt.-poln. Versöhnung ein, die er mehrfach in Anthologien dokumentierte u. in mancherlei Gesprächsrunden zu fördern suchte. Im Jahre 1950 gründete er zus. mit Willibald Köhler den sog. Wangener Kreis (»Gesellschaft für Literatur und Kunst: Der Osten«), der ältere u. jüngere Künstler v. a. aus Schlesien vereinigte u. protegierte. Bald darauf wirkte R. auch als Leiter des »Kulturwerkes der vertriebenen Deutschen« (gegr. 1953), dies allerdings nicht unangefochten, wie mancherlei Rivalitäten u. z.B. die Gegnerschaft des oberschles. Landsmannes August Scholtis dokumentieren (dazu manche Hinweise in ders.: Briefe. Hg. Joachim J. Scholz. 2

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Bde., Bln. 1991/92). R. erhielt nicht nur das Bundesverdienstkreuz (1974), sondern wurde auch mit diversen Preisen v. a. im Umfeld der auch amtlich geförderten Vertriebenenkultur geehrt (u. a. Eichendorff-Preis 1964, Gryphius-Preis 1974; G.-Freytag-Gedenkmedaille 1975). Sein Nachlass liegt im »Haus Oberschlesien« in Ratingen-Hösel (s. Vitt 2000). Zwar begann R.s schriftsteller. Wirken mit Gedichten u. journalist. Arbeiten, doch dominieren in seinem Schaffen, auch wenn nach dem Kriege weiterhin Lyrikbände, nun allerdings teilweise mit christl. Motivik, entstanden, die erzählerische Heimatkunst u. halbfiktionale Erinnerungspflege. Der Roman Planwagen (Bln. 1940. 61944; dafür 1942 der »Auslandsdeutsche Literaturpreis«) vergegenwärtigt die in ein unbestimmtes Mittelalter zurückweisende Auswanderung einer Familie aus dem wallon. Teil Flanderns nach Schlesien u. ihre Geschichte bis in das Jahr 1939. In Teilen handelt es sich um einen breit ausgesponnenen histor. Kolonistenroman, dessen Sujet mit der Herkunft von R.s Familie zu tun hat. Doch sind eindeutige ideolog. Prämissen v. a. gegen Ende unübersehbar, denn die zitierte Parole »Gen Ostland woll’n wir reiten« untermauert am Schluss auch den dt. Angriff auf Polen (»Schildwach zu halten auf neuem Boden«). Dem oberschles. Dorfleben widmet sich im Sinne volkskundl. Genremalerei, die nun auch das slaw. Element gelten lässt, nicht nur die Novelle Anka (Wangen 1959), sondern auch das wohl bedeutendste Werk R.s, der von den alten ideolog. Verblendungen befreite, atmosphärisch äußerst dichte Roman Schymanowitz oder Die ganze Seligkeit. Roman der letzten 60 Jahre (Augsb. 1965). Mit ihm rückt R. in die Nähe der kulturhistorisch wichtigen oberschles. Erzählkunst eines Lipinsky-Gottersdorf, Scholtis u. Bienek. Erzählt wird über drei Generationen hinweg (bis in die Flüchtlingsjahre nach 1945) die Geschichte einer Großfamilie. Diese Familie Kokott, zeitweilig in »Güldenkraut« germanisierend umbenannt, u. das Personal um sie berufen den farbigen Lebenskosmos der ländl. »Wasserpolakei« nicht nur mit markanten sprachl. Eigenheiten u. in vitaler Komik, sondern auch in einem bewusst unpolit. Habitus der »kleinen

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Leute«. R. gelingt es dabei, nationalpolit. Schriftsteller des 20. Jh. im Spiegel der Kritik. Kontroversen weithin ausklammernd, jen- Bd. 3, Stgt. 1984, S. 1367–1369. – Hans Rudi Vitt seits aller Grenzverschiebungen u. Abstim- (Bearb.): E. H. R. Nachlaßverz., Bibliogr., Matemungskämpfe die Turbulenzen, die idyll. rialien. Heidelb. 2000 (mit Abdr. verschiedener autobiogr. Texte, dazu Rez.en u. Würdigungen). – Züge, aber auch die Listen u. Zähigkeiten des Franz Heiduk (Bearb.): Oberschles. Lit.-Lexikon. Alltags mit Einstellungen toleranter Bd. 3, Heidelb. 2000, S. 4. – Kirsti Dubeck: Heimat Menschlichkeit zu vermitteln. Indem R. der Schlesien nach 1945. Eine Analyse dt., poln. u. eigenen Biografie folgte, entstanden weitere tschech. Prosatexte. Hbg. 2005. – Graz. yna Barbara Erzählwerke, die nicht nur das Schicksal der Szewczyk: Grenzüberschreitungen. Schlesien in Vertriebenen wie in Die Republik der Heimatlo- der Nachkriegsprosa v. E. H. R. In: Eine Provinz in sen. Erzählungen (Augsb. 1969, mit einem au- der Lit. Schlesien zwischen Wirklichkeit u. Imagitobiogr. Rückblick am Ende), sondern auch – nation. Hg. Edward Bialek u. a. Wroclaw/Zielona Góra 2005, S. 117–125. Wilhelm Kühlmann nun mit krit. Gestus – desillusionierende Erfahrungen innerhalb der westdt. Wohlstandsgesellschaft aufgreifen. Der Roman Die Rakusa, Ilma, * 2.1.1946 Rimavská SoboBürgerfabrik (Wolfenb. 1970) schildert das In- ta/Slowakei. – Erzählerin, Lyrikerin, Dranenleben einer Prothesenfabrik, die tüchtige matikerin. Mitarbeiter beschäftigt, deren Verantwortliche sich jedoch provokanter Außenseiter ele- Als Tochter eines slowen. Vaters u. einer ungant entledigen u. über die Aufdeckung ei- garischen Mutter in der Slowakei geboren, gener u. fremder Kriegsverbrechen hinweg- verbrachte R. die ersten Jahre in Budapest, gehen. Gerade in diesem Roman lassen sich Ljubljana u. Triest. Nach dem Studium der R.s bemerkenswerte Bemühungen erkennen, Slawistik u. Romanistik in Zürich, Paris u. St. in Sprache u. Konzeption Modelle einer nicht Petersburg promovierte R. in Zürich 1971 mit linearen, ästhetisch modernen Erzählkunst Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russinutzbar zu machen (innere Monologe, do- schen Literatur u. lehrt dort seitdem am Slakumentar. Montagetechnik, simultane wischen Seminar der Universität. Ihr literarisches Schaffen zeichnet sich Handlungsführung). durch die Suche nach neuen ästhet. Formen Weitere Werke: Morgenruf v. heller Birke. u. das Unterlaufen realistischer Stilmittel aus. Chemnitz 1936 (G.e). – Drei Söhne. Bln. 1939 (R.). – Berichtet R. in Die Insel (Ffm. 1982) noch anHeimkehrer. Hbg. 1947 (R.). – Mit vierundzwanzig liegt das Leben noch vor uns. Bonn 1952 (E.en). – hand konventioneller Erzählstrategien vom Rauch aus den Herbergen. Evang. Gedichte. Wan- Schicksal eines Intellektuellen, ist ihr lyr. gen 1964. – Zeichengebungen. Mchn. 1975 (G.e). – Ansatz in Leben. Fünfzehn Akronyme. Mit einer Sie alle sind wie wir. Heidenheim 1976 (E.en). – Der Umschlagzeichnung von Shizuko Yoshikawa (ZüAndere bist Du. Heidenheim 1978 (E.en). – Häuser rich 1990) bereits experimenteller. Eine Zuhaben viele Fenster. Heidenheim 1979 (E.en). – sammenstellung neuer u. älterer Texte ihres Widmungen. Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Hei- präzise Beschreibungen mit assoziativen denheim 1981. – Im Zwiespalt der Zeit. Unter Li- Momentaufnahmen verbindenden Prosateraten u. Präsidenten. Erlebnisse – Erfahrungen – werks (Miramar. Erzählungen. Ffm. 1986. Ansichten aus fünfundsiebzig Jahren. Heidenheim Steppe. Erzählungen. Ffm. 1990) liegt mit 1985. – Herausgeber: Gefährten. 60 dt. Autoren u. Durch Schnee. Erzählungen und Prosaminiaturen Künstler aus Schlesien. Wangen 1968. – Grenz(mit einem Nachw. v. Kathrin Röggla. Ffm. überschreitungen. Bln. 1973. – Max Tau. Der Freund der Freunde. Heidenheim 1977. – Hom- 2006.) vor. R.s Mut zum Sprachspiel zeigt sich neben ihrer Dramatik (Jim. Sieben Dramomage für Ernst Alker. Heidenheim 1983. lette. Ffm. 1993) v. a. in der strengen Form Literatur: Arno Lubos: Gesch. der Lit. Schlesiens. Bd. 3, Mchn. 1974, S. 336–342 u. ö. – Ernst ihrer Lyrik (Ein Strich durch alles. Neunzig Alker: E. H. R.: Ein Menschenfreund aus Schlesien. Neunzeiler. Ffm. 1997. Love after love. Acht AbIn: Hommage für Ernst Alker. Hg. E. H. R. Hei- gesänge. Ffm. 2001). R. ist als Publizistin (v. a. für die »Neue denheim 1983, S. 164–173, gekürzt auch in Vitt 2000 (s.u.), S. 125–130. – Franz Lennartz: Dt. Zürcher Zeitung«) u. als produktive Über/

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setzerin aus dem Französischen (u. a. Marguerite Duras), Russischen (u. a. Anton Tschechow, Marina Zwetajewa), Serbokroatischen (Danilo Kisˇ ) u. Ungarischen (Imre Kertész, Péter Nádas) tätig. Weitere Werke: Prosa: Garten, Züge. Eine Erzählung u. zehn Gedichte. Ottensheim 2006. – Lyrik: Wie Winter. Zürich 1977. – Lets mots/morts. Zürich 1992. – Publizistik: Farbband u. Randfigur. Vorlesungen zur Poetik. Graz 1994. – Von Ketzern u. Klassikern. Streifzüge durch die russ. Lit. Ffm. 2003. – Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration u. andere Zumutungen. Salzb. 2005. – Stille. Zeit. Salzb. 2005 (Ess.s). – Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Vorlesungen 2006. Mit einem Nachw. v. Walter Schmitz sowie einer Bibliogr. Dresden 2006. – Herausgeberin: Gedichte an Gott sind Gebete. Gott in der neuesten sowjet. Prosa (zus. mit Felix Philipp Ingold). Zürich 1972. – Dostojewskij in der Schweiz. Ein Reader. Ffm. 1981. – M. Duras. Materialienband. Ffm. 1988. – Anna Achmatowa. Ffm. 1988 (G.e). – Danilo Kisˇ : Homo poeticus. Gespräche u. Ess.s. Mchn. 1994. – Einsamkeiten. Ein Lesebuch. Ffm. 1996. – Joseph Brodsky: Haltestelle in der Wüste. Ffm. 1997 (G.e). – M. Zwetajewa: Versuch, eifersüchtig zu sein. Ffm. 2002 (G.e). – Die Minze erblüht in der Minze. Arab. Dichtung der Gegenwart. Mchn. 2007 (zus. mit Mohammed Bennis).

bis 1801 der »Jahrbücher der Preußischen Monarchie«. Ein Modeschriftsteller u. Vielschreiber, der sich auf den verschiedensten literar. Gebieten versucht hat, ist R., heute hauptsächlich bekannt als Lehrer Tiecks u. Wackenroders u. bes. als Förderer Tiecks, der für R.s Schauerroman Die eiserne Maske. Eine Schottische Geschichte (Ffm./Lpz. 1792) das Kapitel Ryno u. für dessen Räuber- u. Gaunerchronik Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Kniffgenies (2 Bde., Bln. 1790/91) Der bayrische Hiesel geliefert hat. Weitere Werke: Romant. Gemälde im antiken, goth. u. modernen Geschmacke. Halle 1793. – Ritter, Pfaffen u. Geister in E.en. Lpz. 1793. – Vaterländ. Schausp.e. 3 Bde., Lpz. 1798–1800. – Odeum, eine Sammlung dt. Gedichte aus verschiedenen Gattungen. 4 Bde., Bln. 1800–06. – Dionysiaka. Slg. v. Schausp.en. Bln. 1802. – Dramat. Gemälde. Bln. 1803. Literatur: James Trainer: Tieck, R. and the Corruption of Young Genius. In: GLL 16 (1962/63), S. 27–35. – Klaus-Gunther Wesseling: M. In: Bautz. Roger Paulin / Red.

Rambach, Johann Jakob, * 24.2.1693 Glaucha bei Halle/Saale, † 19.4.1735 GieLiteratur: Axel Ruckaberle: I. R. In: KLG. – ßen. – Evangelischer Theologe, KirchenAnne-Marie Heintz-Gresser: Das poet. Universum lieddichter. der I. R. Zwischen Nostalgie u. Utopie. In: Vom Gedicht zum Zyklus – vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen u. zeitgenöss. Lyrik. Hg. Jacques Lajarrige. Innsbr. 2000, S. 334–351. Pia Reinacher / Christoph Willmitzer

Rambach, Friedrich Eberhard, auch: Ottokar Sturm, Hugo Lenz, * 14.7.1767 Quedlinburg, † 13.7.1826 Reval. – Erzähler, Dramatiker, Herausgeber. Der Theologensohn wurde 1791 Lehrer am Friedrichswerderschen Gymnasium in Berlin, 1803 erfolgte die Berufung zum Professor für altklass. Sprachen, später für Finanz- u. Kameralwissenschaft in Dorpat; 1822 wurde er Staatsrat. 1795–1798 war R. Herausgeber (mit Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer u. Ignaz Aurelius Feßler) des »Berlinischen Archivs der Zeit und ihres Geschmacks«, danach

Der Sohn eines Schreiners studierte seit dem 28.10.1712 in Halle Theologie u. a. bei August Hermann Francke u. Joachim Lange u. seit 10.10.1719 in Jena bei Johann Franz Buddeus, wo er am 21.3.1720 den Magistertitel erwarb. 1723 als Adjunkt der theolog. Fakultät nach Halle berufen, wurde er dort 1726 a. o. Prof. u. 1727 o. Prof. als Nachfolger Franckes. Seit 1731 war er Prof. u. Superintendent, seit 1732 Direktor des Pädagogiums in Gießen. R. verkörperte einen hochgebildeten, versöhnl. Pietismus, der sich Luther verpflichtet wusste. Er hinterließ zahlreiche Schriften auf dem Gebiet der alt- u. neutestamentl. Exegese, der Kirchengeschichte u. der prakt. Theologie, unter denen Der wohl-informirte Catechet (Jena 1722. Lpz. 101762) u. seine Volksschulordnung die Jugendunterweisung für Jahrzehnte geprägt haben. Als Hermeneutiker u. Homiletiker fand er in der Pre-

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digtgeschichte Beachtung. Er gab sowohl ein Neu eingerichtetes Hessen-Darmstädtisches Kirchen-Gesangbuch (Darmst. 1733) als auch für die häusl. Andacht ein Geistreiches Haus-Gesangbuch (Ffm./Lpz. 1735) heraus. R.s Lieder u. Kantaten über die Evangelien erschienen u. d. T. Geistliche Poesien (2 Tle., Halle 1720) u. Poetische Fest-Gedanken (Jena 1723). Noch heute werden die Tauflieder Ich bin getauft auf deinen Namen u. Mein Schöpfer, steh mir bei (EKG 152 u. 436) gesungen. Weitere Werke: Institutiones hermeneuticae sacrae [...]. Vorrede v. Johann Franz Budde. Jena 1723. 41732. – Erbaul. Handbüchlein für Kinder [...]. Gießen 1734. 21734. – Herausgeber: Heßisches Heb-Opfer theolog. u. philolog. Anmerckungen. Gießen 1734 ff. – Ausführl. u. gründl. Erläuterung über seine eigene Institutiones hermeneuticae sacrae, aus der eignen Hs. des seligen Verfassers [...]. Vorrede v. Ernst Friedrich Neubauer. Gießen 1738. Ausgaben: Geistl. Lieder. Vollständig ges. u. nebst einem Abriß seines Lebens unverändert hg. v. Dr. phil. Julius Leopold Pasig [...]. Lpz. 1844. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Das Leiden Jesu Christi. 5 Bde., Bielef. u. a. 1987–93. – J. J. R. Leben, Briefe, Schr.en. Hg. Ulrich Bister u. a. Gießen/Basel 1993. – Der Rückfall aus der Gnade. Groß Oesingen 1995. – Betrachtungen über den Rat Gottes v. der Seligkeit der Menschen [...]. Hg. Johann Philip Fresenius (1737). Groß Oesingen 1999. Literatur: Carl Bertheau: J. J. R. In: ADB. – Koch 4, S. 521–535. – Paul Herbers: Die hermeneut. Lehre J. J. R.s. Diss. Heidelb. 1952. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. Gött. (auch Bln.) 1957, S. 247 f. – Karl Lischka: J. J. R. Praecepta homiletica. Diss. Münster 1975. – Rüdiger Mack: Pietismus u. Frühaufklärung an der Univ. Gießen u. in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984. – Christoph Bizer: J. J. R. In: Klassiker der Religionspädagogik. Hg. Henning Schröer u. Dietrich Zilleßen. Ffm. 1989, S. 85–97. – HKJL, Bd. 2, Sp. 259–279, 1697–1700 u. Register. – Martin Zeim: Die pietist. Lyrik J. J. R.s. In: PuN 18 (1992), S. 95–117. – Klaus-Gunther Wesseling: J. J. R. In: Bautz (Lit.). – Gesch Piet., Bd. 2, Register. – Christoph Bizer: J. J. R. In: TRE. – Matthias Wolfes: R. In: NDB. – Helge Stadelmann: ›Schriftgemäßheit‹ in der pietist. Hermeneutik J. J. R.s. In: Dein Wort ist die Wahrheit. FS Gerhard Maier. Wuppertal 1997, S. 315–331. – Walther Eisinger: J. J. R. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999

412 (22001), S. 247. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 25, S. 318 f. – Beiträge zur Musikgesch. Hamburgs v. MA bis in die Neuzeit. Hg. Hans Joachim Marx. Ffm. 2001, Register. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1171. – Pietismus u. Liedkultur. Hg. Wolfgang Miersemann u. a. Tüb. 2002, Register. – Walter Hug: J. J. R. (1693–1735). Religionspädagoge zwischen den Zeiten. Stgt. 2003. – Renate Steiger: Affektdarstellung u. Allegorese in Johann Sebastian Bachs Passionen. In: Passion, Affekt u. Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. Johann Anselm Steiger. Bd. 1, Wiesb. 2005, S. 39–107. – Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. 2 Bde., Tüb. 2005, Register. – Karl Dienst: Zwischen Pietismus u. Aufklärung. J. J. R.s oberhess. Schulordnung v. 1733. In: Jb. der hess. kirchengeschichtl. Vereinigung 57 (2006), S. 55–79. – Benjamin T. G. Mayes: The Mystical Sense of Scripture according to J. J. R. In: Concordia Theological Quarterly 72 (2008), S. 45–71. Dietrich Meyer / Red.

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von, * 21.7.1757 Hoya/Weser, † 26.7.1822 Neapel. – Epiker, Dramatiker u. Kunstschriftsteller. Als Spross eines im Verwaltungsdienst bewährten Juristengeschlechts studierte R. nach der Absolvierung des Hannoverschen Gymnasiums ab 1775 Jura u. Altertumswissenschaften in Göttingen. Als Hofgerichtsassessor in Hannover 1778–1787 fand er Kontakt zu Charlotte Kestner, geb. Buff, u. Luise Mejer, deren Briefe an Boie auch von R.s ersten Ambitionen als Dramatiker (Kaiser Otto der dritte. Gött. 1783) zeugen. Von seinen Amtspflichten beurlaubt, unternahm er 1784 eine Bildungsreise nach Paris, Rom u. Wien. Seine in Paris entflammte Rousseau-Begeisterung fand in zwei Aufsätzen für die »Berlinische Monatsschrift« ihren Niederschlag: Über Rousseau’s Todesart (1790, 4. Stück, S. 334–359) u. Ueber Rousseau, vorz. nach Anleitung seiner [...] Konfessionen (1790, 7. Stück, S. 50–85). Zu einiger Bekanntheit verhalf ihm sein erstes größeres Werk, Ueber Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom (3 Bde., Lpz. 1787. 2 1798. Neudr. Farnborough 1971), in dem R. die Ergebnisse seiner unter Johann Friedrich Reiffenstein angestellten Kunststudien zusammenfasste. Auch wenn dieser Katalog der Kunstwerke Roms in Goethes Italienischer

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Reise als »monstroses Mittelding zwischen Stolberg in oldenburgische Dienste zu treten, Compilation und eigen gedachtem Werk« wechselte R. 1806 in den preuß. Staatsdienst, (WA 1, 32, S. 117) kritisiert wird, fand er als musste jedoch nach der Niederlage von Jena Kunsthandbuch bei dt. zeitgenöss. Rom-Rei- u. Auerstedt bis 1810 in Merseburg u. Dresden privatisieren. In der Kunstwelt erregte er senden Verbreitung. Mit der Delegation an das Oberappellati- noch einmal 1809 mit seiner rationalist. Krionsgericht in Celle 1787/88 begann R.s tik an Caspar David Friedrichs Tetschener schriftstellerisch produktivste Lebensphase. Altarblatt Aufsehen u. heftigen Widerspruch. Seinen Studien zur Kenntniß der schönen Natur, 1810 wurde R. zweiter preuß. Gesandter der schönen Künste [...] auf einer Reise nach Dän- beim Vatikan, ging 1816 als a. o. Gesandter an nemark (Hann. 1792) folgte im selben Jahr die den Hof von Neapel u. lieferte während dieser Beschreibung der Gemälde-Galerie des Freiherrn Zeit Kunstnachrichten für Cottas »Morgenvon Brabek zu Hildesheim (Hann.). Mit dem blatt«. Entwurf einer Ästhetik in seinem HauptWeitere Werke: Ueber das Verhältniß des anwerk, Charis oder Ueber das Schöne und die erkannten Geburtsadels [...]. In: Berlinische MoSchönheit in den nachbildenden Künsten (2 Bde., natsschr. 2. Stück (1791), S. 124–174. – OrganisaLpz. 1793), wollte R. dem Kunstliebhaber tion verschiedener Stände u. Gewalten in monarch. eine »Apologie des empirischen Geschmacks Staaten. Hann. 1801. Auch u. d. T. Ueber die Orgavor dem Forum der Vernunft«, dem philoso- nisation des Advocatenstandes in monarch. Staaten. – Jurist. Erfahrungen. 3 Bde., Hann. 1809/10. – phisch Interessierten eine aus der Analyse der Beiträge zur Kenntniß der jetzt in Dtschld. vormenschl. Triebe abgeleitete Theorie des handenen Kunstslg.en u. Künstler. In: Morgenblatt Schönen u. des Geschmacksurteils bieten. für gebildete Stände (1812), Nr. 15, 33, 40, 52, 84; Von den überwiegend positiven Rezensionen (1814), Nr. 39, 41, 44, 57, 66, 67, 70. – Streitschr.en u. der Aufnahme in die Königliche Akademie zum Tetschener Altar. In: Caspar David Friedrich der Wissenschaften zu Göttingen ermutigt, in Briefen u. Bekenntnissen. Hg. Sigrid Hinz. Bln./ stellte sich R. auf einer Reise nach Dresden, DDR 1968, S. 135–195. Jena u. Weimar 1794 u. a. bei Goethe u. Literatur: Allg. Preuß. Staats-Ztg., 101. Stück Schiller vor, ohne jedoch die erhoffte Aner- (1822), Sp. 1022. – F. Frensdorff: R. In: ADB. – kennung zu finden. Seine wiederholten, z.T. Günter Schulz: F. W. B. v. R. In: GoetheJb 20 polem. Klagen darüber u. seine Selbstüber- (1958), S. 140–154. – Sachsenspiegel. In: Cellesche schätzung in kunsttheoret. Belangen trugen Ztg., 6.4.1963, S. 23. – Carl Haase: Neues über B. v. R. In: Niedersächs. Jb. für Landesgesch. 40 (1968), dazu bei, dass R. ab 1796 zum bevorzugten S. 166–182. – Caspar David Friedrich: Was die Objekt des literar. Spotts der Klassiker u. fühlende Seele sucht. Briefe u. Bekenntnisse. Hg. Romantiker wurde. Sigrid Hinz. Bln. 1991. – Hilmar Frank: Der Seiner Venus Urania (4 Bde., Lpz. 1798), ei- Ramdohrstreit. Caspar David Friedrichs ›Kreuz im ner weitläufigen Abhandlung über Natur, Gebirge‹. In: Streit um Bilder. Hg. Karl Möseneder. Ästhetik u. Geschichte der Liebe, folgten Bln. 1997, S. 141–160. Dirk Kemper / Red. 1799 die in der Tradition des Conte philosophique stehenden Moralischen Erzählungen (2 Ramler, Karl Wilhelm, * 25.2.1725 KolBde., Lpz. Bd. 2 21807 u. d. T. Der Aufenthalt berg/Hinterpommern, † 11.4.1798 Beram Garigliano), deren wirkungsästhet. Gatlin; Grabstätte: ebd., Alter Sophientungsmerkmal in der »Aufklärung des Verkirchhof. – Odendichter, Übersetzer, standes« statt in der »Spannung des HerHerausgeber. zens« liegen sollte. Mit dem im Anhang befindl. Beitrag Odoardo und seine Tochter, einer R. erreichte den Höhepunkt seines Ruhms als Prosabearbeitung der Emilia Galotti, erhob R. Dichter, Übersetzer u. Herausgeber um 1770. den Anspruch, stilist. Schwächen u. den In den Liedern der Deutschen (Bln. 1766. Neudr. Mangel an Motivation der Katastrophe in Stgt. 1965) hatte er 240 Gedichte in scherzLessings Stück zu beheben. haftem Ton von den besten, meist zeitgenöss. Nach dem 1800/01 gescheiterten Versuch, Dichtern gesammelt, in der Absicht, den als Nachfolger Friedrich Leopolds Graf zu poet. Geschmack in Deutschland zu verfei-

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nern. 1767 legte er seine eigenen Oden in einem Band vor. Die jungen Mitglieder des Göttinger Hains feierten ihn, indem sie ihre Sitzungen abwechselnd mit einer Ode von Klopstock oder von R. eröffneten. Die 15 Oden aus dem Horaz (Bln. 1769. Neudr. Eschborn 1992) wirkten ungezwungen, obwohl die Verse zum ersten Mal in den raffinierten Originalmetren ins Deutsche übertragen wurden. Die leidenschaftlichere Dichtung des Sturm u. Drang ließ den Glanz der R.’schen Oden bald verblassen. Als Herausgeber veränderte er Texte im Namen einer ihnen innewohnenden Vollkommenheit. Das hat schon die Zeitgenossen irritiert u. ihm den Ruf eines unverbesserl. Korrektors eingetragen, der das Charakteristische an einem Dichter unterschätzte. Auch wenn sein Ruhm im Laufe der 1780er Jahre rapide abnahm, spielte R. bis zu seinem Tode eine beachtl. Rolle in der Kulturwelt Berlins. Er war eine wichtige Integrationsfigur der Berliner Aufklärung u. verkehrte nicht nur gesellschaftlich, sondern auch oft in schöpferischer Zusammenarbeit mit Malern, Musikern, Dichtern u. Philosophen. R.s strenger Vater war preuß. Akziseinspektor in Kolberg. R. besuchte dort die Stadtschule, ab 1736 die Schule in Stettin u. ab 1738 das Waisenhaus in Halle. Die ersten überlieferten Verse des Schülers feiern den Regierungsantritt Friedrichs II. 1742 wechselte R. zur Universität Halle u. zum Studium der Theologie, doch rief ihn der Vater 1744 nach Kolberg zurück. Die erneute Rückkehr zur Universität 1745 führte ihn über Berlin, wo er den jungen Erfolgsautor Gleim kennenlernte u. sich zum Bleiben entschloss. Er arbeitete im Buchhandel, versuchte es mit dem medizinischen, dann mit dem jurist. Studium u. wurde ab Juli 1746 über ein Jahr lang Hauslehrer u. Schreiber bei Gleims Schwager auf der kgl. Domäne Löhme bei Werneuchen. 1748 fand er eine schlecht bezahlte Stelle als »maître de philosophie« am kgl. Kadettenhof, wo junge Adlige vom 13. bis zum 16. Lebensjahr zur Offizierslaufbahn ausgebildet wurden. In diesem Amt blieb er bis 1790.

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Diese Stelle ließ ihm Zeit zu literar. Projekten. Als Mitherausgeber der »Critischen Nachrichten [...]« (1750), zuerst mit Sulzer u. dann fast allein, war er überfordert, u. er brachte sich durch einen Aufsatz über Julian den Abtrünnigen in den Verdacht, Freidenker zu sein. Zus. mit dem Juristen u. Musiker Christian Gottfried Krause gab er Oden mit Melodien (2 Bde., Bln. 1753 u. 1755) heraus. Mit dem Text der Karfreitagskantate Der Tod Jesu (Bln. 1756), der von Carl Heinrich Graun vertont u. bis ins späte 19 Jh. regelmäßig aufgeführt wurde, söhnte sich R. mit den geistl. Kräften der Stadt aus. Der Erfolg des Stückes veranlasste dann zwei weitere Libretti, die u. a. von Telemann u. Carl Philipp Emanuel Bach vertont wurden (Geistliche Kantaten. Bln. 1760. Neudr. Magdeb. 1992). R. übersetzte Batteux’ Einleitung in die Schönen Wissenschaften (4 Bde., Lpz. 1756–58), wobei er zur Förderung der dt. Literatur die frz. Beispiele durch deutsche ersetzte, wenn er die dt. Leistung für gleich- oder höherwertig hielt. Lessing lernte er erst Ende 1754 kennen, u. sie gaben 1759 gemeinsam Friedrichs von Logau Sinngedichte (Lpz.) heraus, eine Sammlung, die die Existenz einer früheren, geistreichen Tradition modellartiger dt. Epigramme legitimieren sollte. R. galt als Meister der poet. u. der standartisierten Sprache, u. Lessing war einer von mehreren Autoren, die ihm Werke zur Korrektur übergaben, darunter Minna von Barnhelm. R. wurde von seinem Mentor Gleim schon frühzeitig aufgrund einiger weniger Gedichte zum »deutschen Horaz« erklärt, aber erst der Schock des Siebenjährigen Krieges u. seine Begeisterung für Friedrich II. regten ihn zur intensiven Eigenproduktion an, zunächst in der Form von Einzeldrucken. Nach den Oden (Bln. 1767) erschien eine erweiterte Sammlung seiner Lyrischen Gedichte (Bln. 1772) u. zuletzt postum Poëtische Werke (2 Bde., Bln. 1800/01. Neudr. der Ausg. Wien 1801: Bern 1979). Als Anthologist ließ er auf die Lieder der Deutschen vier Bände Lieder der Deutschen mit Melodien (Bln. 1767/68) folgen. Der Erfolg dieser Sammlungen führte zu den neun Büchern der Lyrischen Blumenlese (2 Bde., Lpz. 1774–78), die die neuesten, für R. noch nicht ausgereiften Tendenzen der Literatur

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Literatur: Bibliografien: Goedeke 4,1, unbeachtet ließ. Des Weiteren gab er heraus: Ewald von Kleist: Sämtliche Werke (2 Bde., Bln. S. 178–183, 1115 f. – Carl Schüddekopf: R. bis zu 1760); Sammlung der besten Sinngedichte der seiner Verbindung mit Lessing. Wolfenb. 1886 (Bibliogr., S. 56–66). – Urbanität als Aufklärung. K. deutschen Poeten (Riga 1766); Johann Nikolas W. R. u. die Kultur des 18. Jh. Hg. Laurenz LütteGötz: Vermischte Gedichte (Mannh. 1785) u. ken u. a. Gött. 2003 (Bibliogr. v. R.s Werken, »aus Liebe zur jüdischen Nation« Hinterlas- S. 435–507). – Weitere Titel: Hans-Martin Blitz: sene Gedichte von Ephraim Moses Kuh (2 Bde., Private Kommunikation über das Vaterland. In: Zürich 1792). Sehr zum Ärger Magnus Ders.: Aus Liebe zum Vaterland. Hbg. 2000, Lichtwers brachte R. anonym Herrn M. G. S. 198–223. – Jürgen Leonhardt: R.s Übers.en anLichtwers [...] auserlesene verbesserte Fabeln und tiker Texte. In: Urbanität als Aufklärung. Hg. L. Erzählungen heraus (Greifsw./Lpz. 1761). 1783 Lütteken u. a. Gött. 2003, S. 323–353. – Eberhard Fromm: R. In: NDB. – Peter Brenner: Harmoniesammelte er eine Fabellese (2 Bde., Lpz.). Die kultur: Gleims Briefw. mit R. u. Uz. In: Geselligpostume Ausgabe von Horazens Oden (Bln. keit u. Bibl. Gött. 2005, S. 175–199. – David E. Lee: 1800) enthielt schließlich alle Oden u. Epo- Berlin, Mitte des Jahrhunderts. Zwei Gedichte v. K. den des Lateiners. R. übertrug auch Catull W. R. In: Das Achtzehnte Jh. 30,1 (2006), S. 30–47. (Bln./Lpz. 1793) u. den Epigrammatiker – Agnieszka Ciolek-Józ´wiak: Logaus ›Sinngedichte‹ Martial (5 Bde., Lpz./Bln. 1787–91) u. legte in Lessings u. R.s Bearbeitung. In: Salomo in 1782–1783 eine Auswahl in acht Bänden aus Schlesien. Amsterd. 2006, S. 363–378. David E. Lee dem engl. »Zuschauer« vor. Friedrich II. ignorierte seinen Panegyristen, unter Friedrichs Nachfolger Friedrich Rammstedt, Tilman, * 2.5.1975 Bielefeld. Wilhelm II. jedoch wurde R. 1786 sofort zum – Erzähler, Kabarettist u. Musiker. Mitgl. der Akademie der Künste u. der AkaDer Sohn des Bielefelder Soziologen Otthein demie der Wissenschaften ernannt. Seine Rammstedt studierte nach dem Abitur 1994 Neigung zur Allegorie beeinträchtigte später Philosophie u. Literaturwissenschaft in Tüzwar die Wirkung seiner eigenen Gedichte, bingen, Berlin u. Edinburgh. Er ist Texter u. sicherte aber seinen Einfluss auf die Kunst u. Musiker bei der Berliner Kabarettgruppe Bildhauerei Berlins durch zwei mehrfach neu Fön; auch sein erzählerisches Werk weist eiaufgelegte Werke, Allegorische Personen zum nen Zug zum Satirischen u. Grotesken auf. Gebrauche der Bildenden Künstler (mit Kupfern Die Charaktere in R.s Erzähldebüt sind v. Bernhard Rode. Bln. 1788) u. Kurzgefasste gelähmt von einem Möglichkeitsdenken, das Mythologie [...] (2 Bde., Bln. 1790. Neudr. der ihnen ihr Dasein als Erledigungen vor der Feier Ausg. 1808: Karben 1996). Als Direktor des (Köln 2003) erscheinen lässt. Insbes. die LieBerliner Nationaltheaters von 1787 bis 1796 benden sind handlungs- u. bekenntnisunfä(bis 1794 zus. mit Johann Jacob Engel) trug er hig aus ständiger Angst vor dem Klischee: zur Konsolidierung u. Aufwertung des Jede Geste der Zuneigung empfinden sie als Theaters bei. Nachahmung, als Rolle. Die Protagonisten Goethe urteilte in Dichtung und Wahrheit: Felix u. Konrad in dem Roman Wir bleiben in »Alle seine Gedichte sind gehaltvoll [...]« (7. der Nähe (Köln 2005) wollen dagegen handeln: Buch), aber ab Mitte des 19. Jh. wurde R. als Weil sie ihre Freundin Katharina von einer »verkappter Gottschedianer« u. trockener Heirat abhalten möchten, entführen sie diese Pedant abgetan. Die neuere Forschung betont kurzerhand. R.s bislang avanciertestes Werk ist der Rodagegen die Vielseitigkeit der Beziehungen, bes. zur musikal. u. literar. Welt, u. die Brei- man Der Kaiser von China (Köln 2008). Er enthält mehrere Fiktionsebenen u. verbindet tenwirkung der Anthologien u. Ausgaben. Briefausgaben: Briefw. zwischen Gleim u. R. Elemente des Märchens mit denen der ParHg. Carl Schüddekopf. 2 Bde., Tüb. 1906/07. – odie: Der Erzähler Keith Stapperpfennig Briefw. zwischen Friedrich Nicolai u. K. W. R. Hg. täuscht seinen Geschwistern in Briefen eine Alexander Kosˇ enina. In: Urbanität als Aufklärung. abenteuerl. Chinareise mit seinem Großvater vor, während er sich in seiner heimatl. WohGött. 2003, S. 399–433. /

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nung versteckt hält. Das Vorgaukeln dieser Pseud. K. L. McCoy = R., Michael Ebmeyer, Bruno Reise muss dem Leser als Kompensation des Franceschini u. Florian Werner). Jan Wiele Erzählers für die nicht mit dem Großvater verbrachte Zeit erscheinen, der in der vorgeRango, Konrad Tiburtius, * 9.8.1639 Kolgebenen »Wirklichkeit« des Romans bereits berg (Kolobrzeg)/Pommern, † 3.12.1700 tot ist. Auch die vordergründig realist. ErGreifswald, dort Gemälde im Dom von St. zählebene weist jedoch Momente des SurNicolai. – Lutherischer Kontroverstheorealen auf – etwa bei der Darstellung der loge, Lehrer u. Pastor. amour fou, die Stapperpfennig mit der ehemaligen Geliebten seines Großvaters unter- Der Sohn eines wohlhabenden Patriziers behält. So steht nicht nur die Glaubwürdigkeit suchte nach häusl. Privatunterricht seit 1652 der Binnenerzählungen, sondern auch die mit seinen Brüdern die Lateinschule in Halle/ Zuverlässigkeit des Ich-Erzählers in Frage. Saale. Der ältere Bruder Martin (von) Rango Der spielerische Charakter des Romans wird wurde später als Jurist u. Ratsherr in Kolberg zusätzlich gestärkt durch einen paratextuel- bekannt. 1654–1655 studierte K. an der len Hinweis am Ende, dass alles, »was in den Universität Jena, wo Erhard Weigel u. der Schilderungen Chinas der Wahrheit entspre- Mediziner Werner Rolfinck lehrten, u. aus chen mag«, einem Reiseführer entstamme. dieser Zeit stammte das Interesse R.s an NaDas Buch schwankt insg. zwischen Famili- turforschung, das er auch noch später verenroman u. Farce, was sich auf die Rezeption folgt hat u. das sich u. a. in seiner Greifswalzwiespältig ausgewirkt hat. Während die ei- der Naturalien-Kammer dokumentierte (vgl. nen R.s surrealistische u. illusionsstörende die Publikation von ca. 1698). Nicht Rhetorik Mittel loben, werfen andere ihm Unglaub- u. Philologie, sondern »cognitio physica« würdigkeit vor (so Volker Weidermann in der scheint für R. die Leitdisziplin gewesen zu »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« sein. 1655–1657 wandte er sich schließlich vom 21.12.2008: »[...] und zu keinem Zeit- dem Studium der Theologie zu u. ging ins punkt hat man das Gefühl, dass wenigstens luth. Gießen. Eine Studienreise führte ihn der Autor selbst an seine Geschichte glaubt.«). anschließend nach Nord- u. Süddeutschland, R.s Erzählweise wird somit zum Prüfstein für in das Elsass, nach Holland u. Brabant, u. die noch immer aktuelle ästhet. Debatte, in vermittelte frühe Erfahrungen mit theolog. der entweder Authentizität oder Selbstrefe- u. kirchenpolit. Kontroversen. 1659–1661 rentialiät zum Wertmaßstab des Erzählens folgten Studienjahre in Wittenberg, wo er erhoben wird. den Magister erwarb, u. kurz an der Viadrina Im Herbst 2005 führte R. mit der ostdt. in Frankfurt/Oder, wo er seine Lehrtätigkeit Schriftstellerin Daniela Danz einen offenen begann. Auf Empfehlung seines WittenberBriefwechsel zum Thema »15 Jahre deutsche ger Mentors Abraham Calov amtierte er Einheit«, in dem er u. a. deren verfrühte 1662–1668 in Berlin als Rektor des luth. Historisierung kritisierte: »So wurde die Gymnasiums zum Grauen Kloster. Als Wiedervereinigung schon bevor sie über- nichtakademische Publikation erschien in haupt stattfand in die Vergangenheit verlegt, diesen Jahren von ihm eine Art ethnograf. und damit außerhalb der Reichweite eines Abhandlung über die Geschichte der Haarjeden, der an ihr noch etwas nachbessern tracht (De capillamentis. Magdeb. 1663), über wollte« (Der Prozess geht weiter. In: »Kölner Frisuren, Perücken u. Barbiere, als deren Stadtanzeiger«, 18.11.05). Autor man keinen militanten Theologen R. wurde u. a. mit dem Ingeborg-Bach- vermuten würde. 1668 wurde R. von der Remann-Preis u. dem Annette-von-Droste- gierung Schwedisch-Pommerns als Lehrer der Hülshoff-Preis ausgezeichnet. Philosophie an das Akademische Gymnasium Weiteres Werk: Mein Leben als Fön. Abenteu- Carolinum in Stettin berufen, er wurde aber erroman. Mchn. 2004 (Autorenkollektiv unter dem bald seines Amtes enthoben, nachdem er den dortigen Rektor des »Synkretismus« (der »Religions-Mengerey«) bezichtigt hatte, ein

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seit der Konkordienformel zunehmend beliebter Vorwurf der luth. Orthodoxie gegen inter- u. überkonfessionelle Ausgleichsbestrebungen etwa mit den Reformierten oder gar mit der Papstkirche, der v. a. durch Calov gefördert wurde. Um diese Zeit entstand neben zahlreichen anderen Schriften auch die Brevis, de origine et progressu Syncretismi a mundo condito, historia (2 Tle., Alten Stettin 1674–80). Darauf geriet R. als Diakon u. Pastor an der Stettiner Jakobi-Kirche in seiner Rolle des jugendl. Streiters für die Wittenberger Orthodoxie in noch größere Kontroversen mit Theologen u. den lokalen Obrigkeiten, etwa dem Generalsuperintendenten Augustinus Balthasar u. dem neuen Stettiner Rektor Johann Ernst Pfuel, u. er verglich wie üblich die heterodoxen Gegner kurzerhand mit Juden u. Türken, bis er sich wegen Verleumdung vor dem Wismarer Tribunal verantworten musste. Auch infolge des Schutzes durch den schwed. König Karl XI. kam es aber zu keiner Verurteilung R.s. Nach seinem inzwischen 1683 erworbenen Wittenberger Doktorat wurde er stattdessen im Jahre 1689 als Superintendent von Vorpommern u. Rügen, Pastor bei St. Nicolai u. Prof. der Theologie nach Greifswald berufen, nachdem er zuvor einen Ruf auf eine theolog. Professur in Dorpat abgelehnt hatte. Im Einvernehmen mit der schwed. Regierung wachte er nun über der streng luth.-orthodoxen Ausrichtung des theolog. u. geistl. Nachwuchses. R. galt als wenig eindrucksvoller Prediger, zeigte sich aber als Polemiker gegen Reformierte, Synkretisten, Indifferentisten, Calixtianer (wie Christian Dreier in Königsberg) u. Schwärmer, zumal gegen den aus England herüberwirkenden »Unrat« von Chiliasten, Kalvinisten (Presbyterianern), Quäkern u. Fanatikern (zu denen er z.B. auch Christian Scriver u. dessen 1675 zuerst gedruckten Seelen-Schatz zählte) umso eifriger u. wirksamer. Bes. im Anschluss an das sächs. Verbot gegen die Konventikel der sog. »Pietisten« (der Begriff war, zuerst als Selbstbezeichnung, eben aufgekommen) um Spener u. Francke war er während des letzten Jahrzehnts seiner Greifswalder Tätigkeit eifrig bemüht, die Ausbreitung der neuen Bewegung, die von ihm u. seinen Gesinnungsfreunden auch als

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»Perfectismus« bezeichnet u. in der Systematik der klass. Häresien dem Pelagianismus zugerechnet wurde, in seinem Einflussbereich zu verhindern, noch ehe man dort einen einzigen Pietisten gesichtet hatte. Sein Nachfolger in Greifswald war Johann Friedrich Mayer, der, als äußerst streitbarer Vertreter der luth. Orthodoxie noch weitaus produktiver, diesen Kampf, vor dem R. nur gewarnt hatte, tatsächlich aufnahm. Werke: De capillamentis seu vulgo Parucquen, liber singularis. Magdeb. 1663. – De curculionibus, v. den Korn-Motten oder Würmern [...]. Bln. 1665. – De patronis, advocatis et clientibus. Bln. 1665. – Necessitas cognitionis physicae ad studium juris. Neu-Cölln 1666. – De Adamante dissertatio philosophico-historico-physica. Neu-Cölln 1667. – Wollgemeindte Warnung vor dem falsch also genandten Christl. Glaubens-Spiegel Conradi Wimpinae. o. O. 1667. – Mataeologia Papistica ex Concilio Tridentino, Bellarmino cumprimis [...]. Stettin 1668. – Un-Catholisch Pabstthumb, oder gnugsamer Beweiß, daß die Röm. Religion nicht die wahre sey [...]. Alten Stettin 1669. – Porta coeli, oder Beweiß, daß die Luth. Kirchen u. Cantzeln der Lehre wegen allein Gottes-Häuser u. Pforten des Himmels sind. Stettin 1680 (Predigt). – Oratio de malis artibus, praepostera praxi et clandestinis machinationibus adeoque de dolis ac fraudibus pseudo-theologorum. Wittenb. 1682. – Disp. inaug. de descensu Christi ad inferos. Praes.: Abraham Calov. Wittenb. 1682. 1690 (gegen Christian Dreier). – Haereticorum et Syncretistarum obex formula concordiae. Das ist Warhaffte Erzehlung des Ursprungs, Fortgangs u. Ansehens der Concordien-Formul [...]. Hbg. 1683. – Letzter Ampts- u. Ehren-Ruhm dem weiland hoch-ehrwürdigen [...] Johanni Colberg [...] auff der Kgl. Univ. Greiffswald, als derselbe den 19. Sept. des 1687. Jahrs selig entschlaffen. Stettin 1687. – Suecia orthodoxa: Das ist: Das rechtgläubige nord. Königreich Schweden [...]. Stettin 1688. – Neue Quäckerey in der Quietisterey, das ist, kurtze Beschreibung des Ursprungs, Lehre u. ietzigen Zustandes der alt-neuen Schwärmerey, der [...] Quietisten, v. D. Michael Molinos erreget [...]. Ffm./Lpz. 1688. – Blick in den Abgrund deß Papist. Greuels. Stettin 1689. – Vindiciae graduum academicorum a fanaticorum injuriis. Greifsw. 1691. – Religionum indifferentismus non indifferens [...]. Greifsw. 1693. – Disp. inaug. theologica de enthusiasmo. Praes.: C. T. R., Resp.: Henning Johann Gerdes. Greifsw. 1694. – Prudentia, circa errores et haereses, ecclesiastico-politica. d. i. Christl. Klugheit [...]. Alten Stettin 1694. – Pietismo-perfectis-

Rank mus non novus, sed nov-antiquus, programmate publico demonstratus [...]. Greifsw. o. J. (Einladungsschrift zu den Lectiones cursoriae v. GeorgBalthasar Mascovius am 3. u. 4. Juli 1694 in Greifswald). – Von der Musica, alten u. neuen Liedern, Sende-Schreiben, nebst einer Anno 1675 [...] publicirten Vor-Rede. Greifsw. 1694. – Haereticorum maledicta paucis detecta. Greifsw. 1696. – Ecclesia Lutherana non schismatica, contra Joh. Philippum Pfeifferum, apostatam [...]. Praes.: C. T. R., Resp.: Hermann Witte. Greifsw. 1696. – Der Rangonischen Naturalien-Kammer Schönbergisches Cabinet, darinn 336. Stück, meist Meißn., auch einige andere Mineralien, Metallen, Flösse, Erden, Steine, etc. zusehen, in diesem Catalogo erzehlet, u. einigen Theils in Anmerckungen erklähret seyn. [Greifsw. o. J., ca. 1698]. – Catalogus bibliothecae [...] C. T. Rangonis. Greifsw. 1702. Literatur: Jöcher. – Theodor Pyl: C. T. R. In: ADB. – Edmund Lange: Greifswalder Professoren in der Slg. der Vitae Pomeranorum. In: Balt. Studien 44 (1894), S. 1–42. – Theodor Wotschke: Zum Stettiner Gebetsstreit. In: Pommersche Jbb. 19 (1918), S. 77–127. – Helmuth Lother: Pietist. Streitigkeiten in Greifsw. Gütersloh 1925 (Diss. Greifsw.). – Adolf Hofmeister: Die Berufung Johann Philipp Palthens nach Greifsw. 1694. In: Balt. Studien N. F. 35 (1933), S. 174–226. – Hellmuth Heyden: Kirchengesch. Pommerns. Bd. 2: Von der Annahme der Reformation bis zur Gegenwart. Köln 2 1957. – Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994 (Beiträge v. Achim Aurnhammer, Robert Seidel, Siegfried Wollgast, Dorothea Seeber). – Lothar Noack: C. T. R. In: Noack/Splett, Bd. 1, S. 317–333 (mit Werkverz.). – Eckhard Wendt: C. T. R. In: Ders.: Stettiner Lebensbilder. Köln 2004, S. 373–375 (mit Porträt). Herbert Jaumann

Rank, Josef, * 10.6.1816 Friedrichsthal bei Rothenbaum, † 27.3.1896 Wien. – Erzähler, Journalist. Der Sohn eines Bauern u. Händlers wuchs im Böhmerwald auf, besuchte das Gymnasium in Klattau u. begann ein Studium in Wien, das er aber bald zugunsten schriftstellerischer Arbeit aufgab (Bekanntschaft mit Lenau, Hartmann). Seine auf Anregung Frankls entstandenen Skizzen Aus dem Böhmerwalde (Lpz. 1843) machten ihn bekannt. 1848 wurde R. Mitgl. des Paulskirchenparlaments, wo er zu den gemäßigten Linken gehörte u. sich mit Uhland befreundete. 1849 war er Mitgl. des

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Stuttgarter Rumpfparlaments. In den 1850er Jahren lebte R. in Deutschland (Frankfurt/M., Weimar – hier gab er 1855–1857 das »Weimarer Sonntagsblatt« heraus –, Nürnberg). 1861 konnte er nach Wien zurückkehren u. war als Redakteur (»Oesterreichische Zeitung«, »Heimat«), Direktionssekretär der Hofoper u. Generalsekretär des Stadttheaters tätig. Seine Erinnerungen [...] (Hg. August Sauer. Prag 1896) entwerfen ein farbiges, lebendig geschriebenes Bild der Vormärzzeit. R.s Dorfgeschichten (z.T. gesammelt in: Aus dem Böhmerwalde. Bilder und Erzählungen aus dem Volksleben. 3 Bde., Lpz. 1851) vereinen populärwiss. Beschreibungen der Landschaft, der Menschen, der »Sitten und Gebräuche« mit »Volksnovellen«, in denen diese volkskundl. Partien in Genrebilder u. Erzählungen eingebettet sind. Sie gehören – zus. mit Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten – zu den ersten Beispielen dieser neuen u. im Vormärz überaus erfolgreichen Gattung. Die Darstellung ist meistens detailrealistisch, genau in der Beobachtung, mit scharfem Blick für das Einzelne. Private Schicksale u. Konflikte stehen im Vordergrund, soziale Spannungen u. polit. Fragen werden kaum berührt. In den zahlreichen späteren Erzählungen wird die Thematik nur geringfügig variiert, histor. Erzählungen treten hinzu, zeit- u. sozialkrit. Aspekte werden eingeblendet (Geschichten armer Leute. Stgt. 1853). Stärker sind die Zeitaspekte in den Romanen. Die krit. Akzente u. der Appell an das Mitleid dominieren im Vormärz, v. a. in Vier Brüder aus dem Volke (Lpz. 1844). In dem »Volksroman« Achtspännig (Lpz. 1857) verkündet R. hingegen stark lehrhaft die Segnungen des Fortschritts auch für das Dorf. Die meisten Werke sind sprachlich u. stilistisch sehr einfach gefasst u. schlicht erzählt. Zu ihrer Zeit viel gelesen, verloren sie schon seit den 1850er Jahren durch den aufkommenden Realismus an Bedeutung. Weitere Werke: Eine Mutter vom Lande. Lpz. 1848 (E.). – Weißdornblüten aus dem Böhmerwälder u. Wiener Volksleben. Lpz. 1848 (E.en). – Sage u. Leben. Gesch.n. aus dem Volk. Prag u. a. 1854. – Poet. Reise-Album. Stgt. 1855. – Von Haus zu Haus. Lpz. 1856 (E.). – Aus Dorf u. Stadt. 2 Bde., Zwickau

419 1859 (E.en). – Im Klosterhof. 2 Bde., Stgt. 1875 (R.). – Der Seelenfänger. Stgt. 1876 (R.). Literatur: Andrew D. Schrag: Situation u. Charaktere in der Dorfgesch. bei Immermann, Auerbach, R. u. Gotthelf. Bln. 1908. – Uwe Baur: Dorfgesch. Mchn. 1978. – Hubert Lengauer: R. In: NDB. Hartmut Steinecke / Red.

Ranke, Leopold von (seit 1865), * 21.12. 1795 Wiehe/Unstrut, † 23.5.1886 Berlin; Grabstätte: ebd., Alter Sophienkirchhof. – Historiker. Unbeschadet aller Kritik genießt R. bis heute das Ansehen, einer der ganz großen Historiker u. der Begründer der »modern school of history« zu sein. Dieses Ansehen gründet nicht allein auf einer neuen Methode, auf bahnbrechenden oder beispielhaften Werken der Geschichtsschreibung oder auf der Bildung einer einflussreichen Schule der Geschichtswissenschaft, vielmehr auf der Kombination dieser Momente. Er war nicht der Erste, der von den erzählenden auf originäre, kritisch geprüfte Quellen zurückgriff; aber er machte dies zur Grundforderung histor. Arbeit. Aus seinem histor. Seminar, in dem systematisch quellenkritisch gearbeitet wurde, sind eine Reihe von namhaften Ordinarien hervorgegangen; die akadem. Lehre war gleichwohl nicht der ihm wichtigste Teil seiner Arbeit. R. war in erster Linie Geschichtsschreiber: Er gab das Maßstäbe setzende Beispiel des Historikers, der auf der Grundlage umfangreicher archival. u. bibliothekarischer Recherchen große wiss. Darstellungen literar. Anspruchs schrieb, die zur Bildungslektüre wurden. R.s Vorfahren waren Pfarrer; sein Vater hatte das Studium der Theologie mit dem der Jurisprudenz vertauscht u. verwaltete die Patrimonialgerichte des Grafen von Werthern. Nach häusl. Unterricht u. zweijährigem Besuch der Lateinschule des Klosters Donndorf wurde er 1809 in die sächs. »Fürstenschule« Schulpforta aufgenommen, wo damals unter der Leitung des Rektors Karl David Ilgen eine bemerkenswert intensive Ausbildung praktiziert wurde, die strenge, aber nicht enge luth. Religiosität mit klass. Bildung verband. Die hier erfahrene philolog.

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u. ästhet. Schulung trug wesentlich dazu bei, dass der Theologiestudent R., der zu Ostern 1814 die Leipziger Universität bezog, sich zunehmend der Philologie zuwandte, durch die er – v. a. unter dem Einfluss Gottfried Hermanns – zur historisch-philolog. Quellenkritik geführt wurde. Der Schritt zur Geschichtswissenschaft als Beruf erfolgte allerdings erst in Frankfurt/O., wo er 1818 eine Stelle als Oberlehrer am dortigen Gymnasium erhielt. 1815 preuß. Untertan geworden, trat er nun in den Dienst eines Staates, mit dessen polit. u. sozialem System er sich identifizierte, in dem er zu höchsten Ehren aufstieg u. dessen Geschichte er einen beträchtl. Teil seiner Arbeit widmete. Während der sieben Jahre im Schuldienst wurde die Geschichte R.s Lebensthema. Charakteristisch, wie er bei der Behandlung der griech. u. röm. Literatur in der Oberstufe sich die Geschichte ihrer Entstehungszeit aus den antiken Geschichtsschreibern erarbeitete u. dieses Studium auch auf die Zeit der Völkerwanderung u. des MA ausdehnte. Dabei drängte sich ihm die Frage nach den Quellen der Geschichtsschreiber, nach den histor. Tatsachen u. ihrem wirkl. Zusammenhang auf. Dass im »Zusammenhang der großen Geschichte« das Wirken Gottes zu erkennen sei, an dieser tiefreligiösen Überzeugung hat R. zeit seines Lebens festgehalten; sie bildete für ihn die Grundlage der Möglichkeit objektiver Geschichtsdarstellung. »Die Mär der Weltgeschichte aufzufinden«, war seine früh bekundete Absicht, die er nicht nur in größeren u. kleineren Werken zur europ. Geschichte, vornehmlich der frühen Neuzeit, sondern am Ende seines Lebens in dem groß angelegten Unternehmen einer Darstellung der Weltgeschichte einzulösen versuchte. Die Widersprüche, auf die er bei den ital. Geschichtsschreibern der Zeit um 1500 traf, veranlassten R. zur krit. Prüfung aller erreichbaren zeitgenöss. Autoren u. Dokumente u. zum Entschluss, eine bessere eigene Darstellung zu versuchen. Sein Erstling, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (Bln. 1824), erregte sofort Aufsehen u. verschaffte ihm 1825 eine a. o. Professur an der Berliner Universität. Das Epochemachende an diesem Buch war einmal

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die Konzeption der romanischen u. german. Völker als engerer, geschichtlich konkreterer Einheit als die Europas oder der res publica christiana, die um 1500 aufgelöst u. durch das sich bildende europ. Staatensystem ersetzt worden war. Zum anderen war es die Methode der Erarbeitung des Buches, die es berühmt machte u. über die der beigegebene Band Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber Rechenschaft gab; er sollte »zur Sammlung eines unverfälschten Stoffes für die neuere Geschichte, zu einem gründlichen Urteil über Natur und Wert der über dieselbe vorhandenen urkundlichen Schriften [...] beitragen«. Bei den Studien zur Fortsetzung der Geschichten stieß er auf die schon von Johannes von Müller empfohlenen »Relationen« der venezian. Gesandten – eine einzigartig verlässl. Quelle v. a. zur diplomatisch-polit. Geschichte. Ihr Studium ließ den Plan eines Werkes über die Fürsten und Völker von Südeuropa im 16. und 17. Jahrhundert entstehen, von dem 1827 ein erster Band Die Osmanen und die spanische Monarchie (Hbg.) behandelte. Auf einer mehrjährigen Studienreise nach Österreich u. Italien entstand als politisch angeregte zeitgeschichtl. Gelegenheitsarbeit Die serbische Revolution (Hbg. 1829). Bei R.s Rückkehr nach Berlin (1831), wo man noch unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse des Vorjahres stand, ließ er sich für die Herausgabe einer halboffiziellen Zeitschrift zur Erläuterung u. Rechtfertigung der preuß. Politik gewinnen. Nach zwei Bänden (Hbg. 1832, Bln. 1836; zu Zweidrittel von R. selbst) kam die »Historisch-politische Zeitschrift« zum Erliegen: Sie war zu wissenschaftlich, R. kein Publizist. Seine irenische, maßvoll konservative u. etatistische Einstellung brachte ihm wenig Zustimmung ein u. begründete das Urteil polit. Leisetreterei u. Konfliktscheu – ein Urteil, das sich durch seine Revolutionsfurcht 1848, seine Zurückhaltung gegenüber dem liberalen Nationalismus u. zunächst auch der Reichsgründung, schließlich seine Erleichterung über die konservative Wendung der dt. Innenpolitik 1878/79 bestätigt sah. Dabei wird freilich übersehen, dass sein »objektiver« Konservatismus seinem Verständnis vom Gang der Weltgeschichte u. von seiner Aufgabe als Historiker

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entsprach: im Glauben an die göttl. Lenkung der Geschichte sich um objektive Erkenntnis u. Darstellung, »wie es wirklich gewesen ist«, zu bemühen. Mit seiner Antrittsrede als o. Prof., Über die Verwandtschaft und den Unterschied von Geschichte und Politik, von der polit. Publizistik Abschied nehmend (1836), trat R. nun in die Zeit der Fertigstellung großer Werke ein, die ihn zum bedeutendsten dt. Geschichtsschreiber seiner Zeit u. auch international berühmt machten. Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert (3 Bde., Bln. 1834–36; als zweiter, aber den Rahmen sprengender Band der Fürsten und Völker) war Frucht seiner ital. Studien, ein Beispiel histor. Unparteilichkeit u. ein Meisterwerk der Darstellung insbes. in der narrativen Verknüpfung des Allgemeinen u. des Besonderen, deren Erkenntnis u. Sichtbarmachung R. als die Hauptaufgabe des Historikers verstand. Sein nächstes großes Werk galt der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (5 Bde., Bln. 1839–43; Bd. 6: Analekten, Urkundenteil. 1847); mit ihm begann die moderne wiss. Deutung dieser entscheidungsvollen Epoche. Wieder stand eine Quellengruppe am Anfang, die Reichstagsakten, deren große Bedeutung R. erstmals erkannte u. deren Informationen er durch die Erschließung umfangreichen Archivmaterials ergänzte; wieder umspannte die Darstellung das ganze europ. Geflecht der polit. u. kirchl. Geschehnisse, das kompositorisch meisterhaft, oft um einzelne bedeutende Ereignisse, Personen, Schriften verdichtet u. immer wieder von der Höhe »allgemeiner« Betrachtung dargestellt wird. Mit dem Thronwechsel 1840, der Ernennung zum Historiografen des preuß. Staates u. dem Eintritt in den engeren Kreis um Friedrich Wilhelm IV. verstärkte sich R.s innere Bindung an das monarch. Preußen; die Revolution 1848 vertiefte seinen polit. Konservatismus. Seine unmittelbar zuvor erschienenen Neun Bücher preußischer Geschichte (3 Bde., Bln. 1847/48), die Darstellung der Ausformung des monarch. Absolutismus u. des Aufstiegs Preußens zur Großmacht (bis 1745), fanden im liberalen u. nationalgesinnten Lager, aber auch bei den Konservativen, nur geringe Re-

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sonanz, obwohl sie, 1874 auf Zwölf Bücher (5 Bde., Lpz.) erweitert u. bis 1763 fortgeführt, frühere Darstellungen in den Schatten stellten. Mit der Konzentration auf die innere Staatsentwicklung u. die partikularstaatl. Machtpolitik kam das Werk dem vorherrschenden Zeitgeist nicht entgegen. 1832 hatte R. in einem berühmt gewordenen Aufsatz, Die großen Mächte (in: Historischpolitische Zeitschrift), die Ausbildung des europ. Staatensystems als den wichtigsten Vorgang der frühneuzeitl. Geschichte u. als ihr beständiges, friedensicherndes Ergebnis skizziert. Die Erforschung u. Darstellung des inneren u. äußeren Aufstiegs dieser Mächte wurde sein großes Thema – zuerst in der Preußischen Geschichte, dann in der Französischen Geschichte, vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert (5 Bde., Stgt. 1852–61) u. in der Englischen Geschichte, vornehmlich im 17. Jahrhundert (7 Bde., Bln. 1859–69). Sie beruhten auf ausgreifenden Quellenstudien, deren Erträge in »Analekten« nachgewiesen u. kritisch reflektiert wurden. Und sie verwoben innere u. äußere Entwicklung, einzelstaatl. u. europ. Geschichte so souverän, wie es vor R. nicht geschehen war. Die darstellerische Höhe der Französischen Geschichte wurde allerdings von der Englischen nicht erreicht; sie geriet ins Breite; R. bekam den Gegenstand in seiner Besonderheit nicht so in den Griff wie die Entwicklung der kontinentalen Mächte; seine konservative Interpretation der Unruhen u. Umbrüche während der Stuart-Epoche, insbes. der Glorious Revolution 1688, stieß auf beträchtl. Kritik. Die große Französische Revolution u. ihre Aus- u. Fernwirkungen auf Deutschland, die tief in seine Lebenszeit hineinreichten, hat R. – trotz mancher Annäherungen – nicht zusammenhängend behandelt, sondern nur ausschnittsweise (z.B. in Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780–1790. 2 Bde., Lpz. 1871. Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792. Lpz. 1875. Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg. 5 Bde., Lpz. 1877–81): im Wesentlichen politikgeschichtliche, aus kühler Distanz geschriebene »etatistische« Geschichtsschreibung, die nicht mehr die Unmittelbarkeit seiner Abhandlung über

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Deutschland u. Frankreich in der »Historisch-politischen Zeitschrift« (1832) besaß. In seinen Vorlesungen hat R. wiederholt die Geschichte seiner Zeit behandelt; in seinen Werken kommt sie nur marginal u. auf bes. Veranlassung hin vor; sie war nicht sein eigentl. Thema; sie war zu nahe, ihr Verlauf im Zeitalter der Revolutionen noch zu offen für eine »objektive« Darstellung. Zu Ende seines Lebens legte R., der seine gesamte forschende u. darstellende Arbeit der »Mär der Weltgeschichte« gewidmet hatte, 1881 den ersten Doppelband seiner Weltgeschichte (Lpz.) vor; bis 1885 folgten fünf weitere Bände, die die Darstellung bis zum Tod Ottos des Großen (973) führen; postum wurden bis 1888 die drei letzten Bände, die bis zum Fall Konstantinopels u. zum Beginn der Renaissance reichen, von seinen Amanuenses (am bekanntesten: Alfred Dove) herausgegeben. Ein wissenschaftsgeschichtlich bereits überholtes, als Leistung eines über 80-jährigen, fast erblindeten Einzelnen jedoch erstaunl. Werk. Hier ist die Weltgeschichte noch einmal als die Geschichte der Kulturwelt des vorderasiatisch-europ. Raumes erzählt, die auf die romanisch-german. Völker zuläuft; ihre Darstellung breitet ein immenses histor. Wissen aus, das freilich nicht mehr dem Stand der Forschung entsprach; sie beruht auf R.s tiefreligiösem Glauben an die göttl. Leitung der Geschichte u. auf dem Vertrauen auf den Fortbestand der Kulturwelt, den er durch die soziale Revolution bedroht gesehen hatte. 54 Bände umfasst die Gesamtausgabe der Werke R.s (ohne die Weltgeschichte). Neben den großen darstellerischen Werken enthält sie Abhandlungen, textkrit. Untersuchungen u. Lebensnachrichten. Natürlich entsprechen sie nicht mehr dem Wissensstand u. den theoretisch-methodolog. Anforderungen der Gegenwart. Keines seiner Werke gehört heute noch zum Kanon der für bildungsrelevant angesehenen Literatur. In der Geschichte der – nicht nur deutschen – Geschichtswissenschaft aber nimmt R. die Stellung eines »Klassikers« ein. Ausgaben: Sämtl. Werke. 54 Bde., Lpz. 1867–90. – Gesamtausg. Hg. Paul Joachimsen u. a. Mchn. 1926 ff. (davon ersch. nur: Dt. Gesch. im

Ransmayr Zeitalter der Reformation. Hg. P. Joachimsen. Zwölf Bücher Preuß. Gesch. Hg. Georg Küntzel. 1930). – Aus Werk u. Nachl. Hg. Walther Peter Fuchs u. Theodor Schieder. Mchn. 1964 ff. (Bd. 1: Tagebücher. Hg. W. P. Fuchs. 1964; Bd. 2: Über die Epochen der neueren Gesch. Hg. T. Schieder u. Helmut Berding. 1971; Bd. 3: Frühe Schr.en. Hg. W. P. Fuchs. 1973; Bd. 4: Vorlesungseinl.en. Hg. ders. u. Volker Dotterweich. 1975). – The Theory and Practice of History. Hg. Georg G. Iggers u. Konrad v. Moltke. Indianapolis 1983. – Edward Muir: The L. v. R. Manuscripts of Syracuse University. Syracuse 1983. – Briefe: Das Briefwerk. Hg. W. P. Fuchs. Hbg. 1949. – Neue Briefe. Ges. u. bearb. v. Bernhard Hoeft, hg. v. Hans Herzfeld. Hbg. 1949. Literatur: Otto Diether: L. v. R. als Politiker. Histor.-psycholog. Studie [...]. Lpz. 1911. – Hans F. Helmolt: L. v. R.s Leben u. Wirken. Lpz. 1921. – Gerhard Masur: R.s Begriff der Weltgesch. Mchn. 1926. – Ernst Simon: R. u. Hegel. Mchn. 1928. – Theodor Schieder: Das histor. Weltbild L. v. R.s. In: Gesch. in Wiss. u. Unterricht 1 (1950), S. 138–153. – Theodor v. Laue: R. The Formative Years. Princeton 1950. – Kurt v. Raumer: R. als Spiegel dt. Geschichtsschreibung im 19. Jh. In: Die Welt als Gesch. 12 (1952), S. 242–258. – Pieter Geyl: R. in the Light of the Catastrophe. In: Ders.: From R. to Toynbee. Northampton/Mass. 1952. – Carl Hinrichs: R. u. die Geschichtstheologie der Goethezeit. Gött. 1954. – Rudolf Vierhaus: R. u. die soziale Welt. Münster 1957. – Ernst Schulin: Die weltgeschichtl. Erfassung des Orients bei Hegel u. R. Gött. 1958. – Aira Kemiläinen: Die histor. Sendung der Deutschen in L. v. R.s Geschichtsdenken. Helsinki 1968. – Günter Johannes Henz: L. R. Leben, Denken, Wort. 1795–1814. Darstellende Untersuchungen u. Edition. Diss. Köln 1968. – Gunter Berg: L. v. R. als akadem. Lehrer. Studien zu seinen Vorlesungen u. seinem Geschichtsdenken. Gött. 1968. – Helmut Berding: L. v. R. In: Dt. Historiker 1. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Gött. 1971, S. 7–24. – R. Vierhaus: R. u. die Anfänge der dt. Geschichtswiss. In: Geschichtswiss. in Dtschld. Hg. Bernd Faulenbach. Mchn. 1974, S. 17–34. – Ders.: R.s Begriff der histor. Objektivität. In: Theorie der Gesch. Bd. 1: Objektivität u. Parteilichkeit. Hg. Reinhart Koselleck u. a. Mchn. 1977, S. 63–76. – Leonhard Krieger: R. The Meaning of History. Chicago 1977. – Silvice Backs: Dialekt. Denken in R.s Geschichtsdenken bis 1854. Köln 1985. – R. Vierhaus: L. v. R. Geschichtsschreibung zwischen Wiss. u. Kunst. In: HZ 244 (1987), S. 285–298. – Wolfgang J. Mommsen (Hg.): L. v. R. u. die moderne Geschichtswiss. Stgt. 1988. – G. G. Iggers u. James M. Powell (Hg.):

422 L. v. R. and the Shaping of the Historical Discipline. Syracuse 1990. – Siegfried Baur: Versuch über die Historik des jungen R. Bln. 1998. – Thomas Gil: Kritik der klass. Geschichtsphilosophie. Bln. u. a. 1999. – Histor. Mitt.en. Bd. 14. Schwerpunkt L. v. R. Stgt. 2002. – Ulrich Muhlack: R. In: NDB. – Andreas Boldt: The Role of Ireland in the Life of L. v. R. Lewiston 2007. Rudolf Vierhaus / Red.

Ransmayr, Christoph, * 20.3.1954 Wels/ Oberösterreich. – Prosa-Autor u. Dramatiker. R. besuchte das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Lambach u. studierte von 1972 bis 1978 Philosophie u. Ethnologie in Wien. Zwischen 1979 u. 1982 arbeitete er als Kulturredakteur beim Wiener »Extrablatt« u. verfasste zahlreiche (Reise-)Reportagen u. Essays für Zeitschriften wie »TransAtlantik«, »Merian« oder »Geo«. Seit 1982 lebt R. als freier Autor in Wien u. (seit 1994) in West Cork/Irland; zudem begibt er sich regelmäßig auf ausgedehnte Reisen u. versteht sich selbst als »Halbnomaden«. Über sein Privatleben erfährt man wenig (»Ich habe nichts anderes anzubieten als Bücher«). Der Berufsbezeichnung »Schriftsteller« steht R. auch nach dem Welterfolg seiner in 30 Sprachen übersetzten vier Romane skeptisch gegenüber. In dem langen poetolog. Essay Geständnisse eines Touristen (Ffm. 2004) beschreibt er seine Lebenshaltung als die eines Touristen: »Ahnungslosigkeit, Sprachlosigkeit, leichtes Gepäck, Neugier« gehören für R. zu den Voraussetzungen des Erzählens; der Reisebericht ist die Keimzelle seines Schreibens. Mit dem öffentlich gemachten Wunsch nach der Grabinschrift »Auf und davon« entwirft er sich noch über seinen Tod hinaus als einen Reisenden, für den mit dem Unterwegssein eine vorsichtige Erlösungshoffnung verbunden zu sein scheint. In R.s Texten werden vornehmlich zivilisationsferne Gegenden bereist: die Sahara in dem Versepos Strahlender Untergang (Wien 1982), das nördl. Polarmeer in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (Wien/Mchn. 1984), der an einer Steinwüste am Schwarzen Meer gelegene Ort Tomi in Die letzte Welt (Nördlingen 1988) oder der Transhimalaya in Der fliegende

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Berg (Ffm. 2006). R. setzt auf die Faszinationskraft einer lebensfeindlich-erhabenen Natur u. auf die Spannung zwischen Naturu. Individualgeschichte, zwischen der Langsamkeit geologischer Prozesse u. dem Zeitkonzept des Menschen. Die Distanz zur Gesellschaft liefert den Erzählern zudem optimale Bedingungen für die »Erfindung der Wirklichkeit«, von der in den Romanen ebenso wie in poetolog. Äußerungen R.s die Rede ist. Evoziert werden soll ein Erzählraum, in den der Leser möglichst wenig Vorwissen mit einbringen kann – R.s Ideal ist ein in diesem Sinn »voraussetzungsloses Erzählen«. Den gelegentlich gegen seine Texte erhobenen Eskapismusvorwürfen hat R., der aufklärerische wie prophet. Autorkonzepte für antiquiert hält u. an kulturellen oder polit. Debatten nur selten teilnimmt, eine indirekte polit. Wirkungsabsicht entgegengestellt: Die beim Lesen aktivierte Vorstellungskraft versteht er als Immunisierung gegen alle Ideologien u. Dogmen. Auch wenn R.s Texte immer wieder vom Verschwinden des Menschen u. der Kultur in der Natur erzählen, stellen sie weder resignative Untergangsszenarien dar noch wollen sie eine postmoderne Lust am Tod des Subjekts befriedigen. Die Thematisierung von bedrohl. Natur u. einer Auslöschung des Menschen steht bei R. vielmehr im Rahmen einer ästhet. Utopie, in der Mensch, Natur u. Kunst zu einer Einheit verschmelzen; sie zielt auf einen nichtreligiösen Trost, der »das Verschwinden nicht leugnet, sondern davon erzählt und es so erträglich macht«. R. bedient sich dazu eines mittleren bis hohen Stils, der gelegentlich als phrasenhaft u. prunksüchtig kritisiert (Czernin), zumeist aber als »herrliche Sprachmusik« (Wittstock) gefeiert worden ist. Seine am mündl. Erzählen ausgerichtete Sprache ermöglicht es dem Autor, das Sinnlich-Konkrete ausführl. Beschreibungen von Farben, Gerüchen, Lauten u. Körperwahrnehmungen zusammenzubringen mit abstrakten Reflexionen zu anthropolog. Grundfragen. Dies, aber auch die Verbindung von spannender Handlung u. anspruchsvoller Form haben R. insbes. für seine ersten beiden Romane viel Lob von der Kritik, große Aufmerksamkeit in der Litera-

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turwissenschaft (v. a. im Zeichen der Postmoderne-Diskussion) sowie einen immensen Verkaufserfolg u. zahlreiche Literaturpreise eingebracht, darunter der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1992), der Kulturpreis des Landes Oberösterreich (1997) u. der Heinrich-BöllPreis der Stadt Köln (2007). Charakteristisch für R.s Texte ist die Kombination von histor. Ereignissen u. fiktionalen Elementen. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis verarbeitet R. die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von 1872–1874, mit der er sich zuvor in einigen Reportagen beschäftigt hatte. Von anderen Nordpolromanen unterscheidet sich der Text v. a. durch seine Vielstimmigkeit u. den ständigen Wechsel zwischen drei Zeitebenen: R. arbeitet mit den Reiseberichten der Expeditionsteilnehmer, schickt einen Geschichtenerfinder rd. 100 Jahre später auf die Spur der Expedition, dessen Verschwinden im Eis wiederum einige Zeit später vom Ich-Erzähler rekonstruiert wird. Der Erfolgsroman Die letzte Welt setzt historisch noch wesentlich früher an, nämlich bei der Verbannung des antiken Schriftstellers Ovid aus Rom. R.s Protagonist, der Römer Cotta, begibt sich auf die Suche nach Ovid, da er hofft, bei ihm eine Abschrift des (fiktionsintern) verbrannten Manuskripts der Metamorphosen zu finden. In Tomi, »am Ende der Welt«, begegnet Cotta weder Ovid noch dem Buch, sondern einer sich ständig wandelnden Welt, die bevölkert ist vom Personal der Metamorphosen – Literatur u. Wirklichkeit konvergieren. Die anachronist. Elemente des Textes haben mit dazu beigetragen, dass der Roman (gegen den ausdrückl. Willen seines Autors) als Paradebeispiel für den Spielcharakter postmodernen Erzählens verstanden worden ist. Nach R. hat die Präsenz u. a. von Telefonen u. Filmvorführungen im antiken Tomi die Funktion zu erfüllen, »eine Unzeit, eine Allzeit zu provozieren«, die den spezifisch-historischen in einen allgemein-narrativen Raum transformiert. Im histor. Niemandsland ist auch der fantast. Geschichtsroman Morbus Kitahara (Ffm. 1995) verortet, der am Beispiel eines abgelegenen Bergdorfs das Alternativszenario des sog. Morgenthau-Plans durchspielt;

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Deutschland u. Österreich werden nach dem Provokation des Lesers in C. R.s Erzählwerk. Zweiten Weltkrieg entindustrialisiert u. in Würzb. 2001. – Nicola Kaminski: Ovid u. seine einen archaischen Endzeit-Zustand versetzt. Brüder. C. R.s ›Letzte Welt‹ im Spannungsfeld v. R.s Vorliebe für die Engführung von Natur u. ›Tod des Autors‹ u. pythagoreischer Seelenwanderung. In: arcadia 37 (2002), S. 155–172. – Holger Mythos kommt hier ebenso zum Ausdruck Mosebach: Endzeitvisionen im Erzählwerk C. R.s. wie in dem Roman Der fliegende Berg, dessen Mchn. 2003. – Ulrich Kinzel: Konstruktionen des programmat. »Flattersatz« zwischen Vers- Nordens bei Andersch u. R. In: Imagologie des epos u. Prosa changiert. Locker angelehnt an Nordens. Hg. Astrid Arndt u. a. Ffm. 2004, die Biografie des Extrembergsteigers Rein- S. 237–259. – U. Wittstock: Vom Glück des Verhold Messner, mit dem R. mehrere Reisen schwindens im Zeitalter der Imperien. R.s Romane u. a. nach Tibet unternommen hat, brechen als Musik u. Modell. In: NR 117 (2006), H. 2, dort zwei Brüder aus Irland nach Kham, in S. 137–147. – Torsten Hoffmann: Konfigurationen das Hochland Tibets, auf, um den sagenhaf- des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhet. Katen, noch auf keiner Karte verzeichneten tegorie in der Lit. des ausgehenden 20. Jh. Bln./New York 2006. – Daniela Langer: Die letzte Welt zu »fliegenden« Berg Phur-Ri zu besteigen, auf Ende erzählt. Vom Status mündl. Erzählens bei C. dem nach tibetischem Volksglauben die Göt- R. im Kontext der Postmoderne-Diskussion. In: ter wohnen. In eleg. Ton berichtet einer der Moderne, Postmoderne – u. was noch? Hg. Ivar Bergsteiger als Ich-Erzähler davon, wie beim Sagmo. Ffm. u. a. 2007, S. 159–173. – Renata CiesAbstieg von dem Siebentausender sein Bru- lak: Mythos u. Gesch. im Romanwerk C. R.s. Ffm. der das Leben verliert. u. a. 2007. – Patricia Sanda: Romanwelt als GeSeit Mitte der 1990er Jahre widmet sich R. schichtsfiktion. C. R.s ›Morbus Kithara‹. In: Interdarüber hinaus verschiedenen kleineren kulturelle Grenzgänge. Hg. George Gut¸ u. Bukarest Spielformen des Erzählens: Es entstehen das 2007, S. 84–108. – Florian Grimm: Reise in die ep. Drama Die Unsichtbare (Urauff. 2001), Vergangenheit – Reise in die Fantasie? Tendenzen des postmodernen Geschichtsromans. Ffm. 2007. Texte über bildende Kunst (Der Ungeborene Torsten Hoffmann oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer. Ffm. 2002), eine Bildergeschichte zu Farbtafeln von Manfred Wakolbinger (Damen & Herren Rantzau, Ranzovius, Heinrich, auch: unter Wasser. Ffm. 2007) sowie zahlreiche Christianus Cilicius Cimber, * 11.3.1526 Reiseberichte u. poetolog. Texte. So unterSteinburg bei Itzehoe, † 31.12.1598 Breischiedlich die Anlässe, Formen u. Absichten tenburg. – Gelehrter, Politiker, Lyriker, dieser Texte sowie der vielfach publizierten Mäzen. (Dankes-)Reden sind, immer präsentiert sich R. als ein Geschichtenerzähler, der die Wirk- Der Sohn des holsteinischen adligen Feldlichkeit in den eigenen, relativ homogenen herrn Johann Rantzau studierte bereits 1538–1545 in Wittenberg, beeindruckt von literar. Kosmos integriert. Weitere Werke: Die dritte Luft oder Eine Luther u. Melanchthon, Philologie u. Jura. Bühne am Meer. Rede zur Eröffnung der Salzbur- 1548–1553 war er Begleiter des Herzogs ger Festspiele 1997. Ffm. 1997. – Der Weg nach Adolf von Schleswig-Holstein-Gottorf am Surabaya. Reportagen u. kleine Prosa. Ffm. 1997. – Hof Kaiser Karls V. Danach stand R. im Dienst Die Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen. Ffm. der dän. Könige, zunächst Christians III., der 2003. ihn 1556 zum Statthalter in Schleswig u. Literatur: Eske Bockelmann: C. R. In: KLG. – Holstein einsetzte. R. nahm diese politisch Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum einflussreiche Stellung bis kurz vor seinem Werk v. C. R. Ffm. 1997. – Petra Ernst: C. R. In: Tod wahr. Um ihn als zentralen Mentor entLGL. – Hans-Albrecht Koch: Die autist. Psyche im faltete sich in Holstein u. auch in Schleswig Spiegel der Landschaft. Zu C. R.s Romanen ›Die eine vielseitige humanist. Kultur. Auf seinem Schrecken des Eises und der Finsternis‹ u. ›Die letzte Welt‹. In: Ovid. Werk u. Wirkung. Hg. Wer- Schloss Breitenburg versammelte R. eine Biner Schubert. Ffm. u. a. 1999, S. 1107–1121. – bliothek von über 6300 Bänden aller DisziMonica Fröhlich: Literar. Strategien der Entsub- plinen u. legte nach dem Stand der Botanik jektivierung. Das Verschwinden des Subjekts als seiner Zeit einen Garten an. Diese Gründun-

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gen u. seine vielen weiteren Schlösser u. städt. S. 135–145. – Reimer Hansen: Krieg u. Frieden im Bauten ließ er in Form von Beschreibungen, Denken u. Handeln H. R.s (1526–98). In: Krieg u. Deutungen u. bildl. Darstellungen als ein Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus. umfassendes humanist. Programm erschei- Hg. Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1986, S. 125–138. – Wolfgang Harms: Verbindungen v. nen (Hypotyposis Arcium, Palatiorum, Librorum, Fama, Memoria, Vanitas u. Tod um H. R. In: FS Pyramidum [...] Epitaphiorum, ab [...] H. Ranzovio Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag. Baden-Baden conditorum. Hg. Peter Lindeberg. Rostock 1989, S. 337–346. – Wiebke Steinmetz: H. R. 1590. Ffm. 31592). Gleichen Zielen dienten (1526–98). Ein Vertreter des Humanismus in seine Genealogiae aliquot familiarum nobilium in Nordeuropa u. seine Wirkungen als Förderer der Saxonia (Hg. Hieronymus Henninges. Hbg. Künste. Ffm. 1991. – Horst Joachim Frank: Lit. in 2 1590) sowie seine Genealogia Ranzoviana Schleswig-Holstein. Von den Anfängen bis 1700. (Wittenb. 1586). Hier wie auch in anderen Neumünster 1995, S. 185–213. – H. R. Kgl. Statthalter in Schleswig u. Holstein. Ausstellungskat. von ihm initiierten oder geförderten SamSchleswig 1999. – Dieter Lohmeier: H. R. Humamelwerken ist eine Form von R. geprägter nismus u. Renaissance in Schleswig-Holstein. Heihumanist. Gemeinschaftsleistung zu erken- de 2000. – Peter Zeeberg: H. R. A Bibliography. nen, in der nicht immer klar zu unterschei- Kopenhagen 2004. – Walther Ludwig: Der Humaden ist, wer als Autor der vielen einzelnen, oft nist u. das Buch. H. R.s Liebeserklärung an seine lyr. Beiträge zu gelten hat, der Mentor oder Bücher. In: Ders.: Miscella Neolatina. Bd. 2, Hileiner der von ihm Geförderten (unter ihnen desh. u. a. 2004, S. 349–366. – Ders.: Der Humanist Georg Rollenhagen, Nikolaus Reusner, David H. R. u. die dt. Humanisten. Ebd., Bd. 3, 2005, u. Nathan Chytraeus, Justus Lipsius, Heinrich S. 361–394. Wolfgang Harms Meibom). Politische Erfahrungen u. histor. Kenntnisse setzt R. ein, wenn er in der Belli Raphael, Max, auch: M. R. Schönlank(e), Dithmarsici vera descriptio (Basel 1570) den * 27.8.1889 Schoenlanke/Posen, † 14.7. Krieg gegen die Dithmarscher Bauern als 1952 New York. – Kunstwissenschaftler. rechtmäßige Maßnahme gegen Rebellen darstellt. In seinem Hauptwerk, dem Com- Auf einer der ersten seiner vielen Reisen, 1911 mentarius bellicus (Ffm. 1595), tritt eine andere in Paris, lernte R., damals Student bei Georg Simmel u. Heinrich Wölfflin, Picasso kennen, Auffassung des Krieges hervor, der aus einem studierte Werke der Impressionisten u. Exbeständigen Antagonismus mit dem Frieden pressionisten, von Cézanne u. Matisse. Dies als höherem Gut abgeleitet wird. R. verfasste gab den Anstoß, eine »empirische Kunstwisauch astrologische, astronom., ökonom. u. senschaft« zu entwickeln, die den Erfahrunmedizin. Werke u. bezeugte sein humanist. gen der Moderne Rechnung trug. AusgangsSelbstverständnis im reichen Briefwechsel punkt sollte das einzelne Werk sein, seine mit europ. Politikern u. v.a. Gelehrten vieler materielle Gestalt als Resultat eines doppelFachgebiete. ten Prozesses: dem des »künstlerischen Weitere Werke: De somniis eorumque eventi- Schaffens« u. dem des »Sehens«. Seinem Lebus liber. Lpz. 1584. – Exempla, quibus astrologibensziel näherte R. sich in unzähligen Eincae scientiae certitudo [...] astruitur. Köln 1585. – zelstudien zu Bauten u. Bildern aller EpoDiarium sive calendarium Romanum, oeconomichen; auch zur Philosophie (Erkenntnistheocum, ecclesiasticum, astronomicum, et fere perperie u. Mathematik), Literatur (Flaubert, Racituum. Wittenb. 1593. ne u. a.), Ethik, Sozialgeschichte, Vor- u. Ausgabe: Internet-Ed. der Gedichte aus den Frühgeschichte. 1952 verübte er vermutlich Delitiae Poetarum Germanorum in: CAMENA. Selbstmord. Literatur: Stephan Macropus (Langbehn): ImDie isolierte Existenz des Privatgelehrten – mortalitas Henrici Ranzovii. Hbg. 1599 (LeichenVon Monet zu Picasso, Grundzüge einer Ästhetik predigt). – Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 3, Kopenhagen 1744, S. 567–599. – Richard Haupt: und Entwicklung der modernen Malerei (1913) H. R. u. die Künste. In: Ztschr. der Gesellsch. für wurde wegen des zeitgenöss. Themas als Schleswig-Holsteinische Gesch. 56 (1927), S. 1–66. Dissertation nicht angenommen – verhin– Dansk Biografisk Leksikon 19. Kopenhagen 1940, derte eine geschlossene Ausarbeitung der

Rappolt

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»Empirischen Kunstwissenschaft« ebenso Marxism and the History of Art. Hg. Andrew Hewie die zeitbedingten Lebensumstände: 1917 mingway. London u. a. 2006, S. 89–106. Klaus Binder / Red. Desertion in die Schweiz, 1920 Rückkehr nach Berlin, dort freier Autor (zahlreiche Aufsätze) u. Dozent der Volkshochschule, Auseinandersetzung mit dem Marxismus, Rappolt, Thomas von, auch: Honorius Flucht aus Deutschland schon 1932, Emi- Philaretes Hermopolitanus, † nach 1635. grant in Paris bis 1940, Internierung, Flucht – Lehrdichter. nach New York. Dort betrieb R. unter andeR. war ein »schlesischer Ritter« u. Doktor der rem Studien zur vor- u. frühgeschichtl. Medizin, der auf seinen Reisen in der »TurKunst, die er als Prüfstein seiner Methode ckey vnd andern Barbarischen örtern« in begriff: allein aus den künstlerischen Zeichen »schmertzliche« Gefangenschaft geraten war. u. Formen sollten Entwicklung u. (soziale) Aufgrund gewisser Kriegsgeschehnisse (in Bedeutung der Werke erkennbar werden. Schlesien?) seiner »Wolfahrt« verlustig, hielt Die Rezeption des vielfältigen nachgelassich R. schließlich in Gottorp/Schleswig senen Werks setzte erst nach 1968 ein; eine (1633) u. Hamburg (1635) auf. Er genoss Auswahl von R.s Werken in elf Bänden erspätestens 1613 in Prag »gnaden« von Herschien 1983 bis 1989. Die Kunstgeschichte zog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolbeginnt sich aufs Neue den Fragen zu widfenbüttel, traf Joachim Morsius (Eintrag in men, die R. vorformuliert hat. Morsius’ Liber amicorum, Gottorp, Ausgaben: Werkausg. in 11 Bdn. Hg. Klaus 12.10.1633), knüpfte dann spätestens 1635 Binder (Bde. 1–4) u. Hans-Jürgen Heinrichs Beziehungen zu Herzog August (d.J.) von (Bde. 5–11). Ffm. 1989 (ausführl. Bibliogr. u. Beschreibung des Nachlasses). – Prähistor. Höhlen- Braunschweig-Lüneburg u. Herzog August malerei. Aufsätze, Briefe. Hg. u. mit einem Ess. v. von Anhalt, aber wohl auch zu den WittenWerner E. Drewes. Köln 1993. – Das schöpfer. Auge berger Theologen Johann Hülsemann u. Paul oder die Geburt des Expressionismus: Die frühen Röber. Schr.en 1910–13. Hg. Patrick Healy u. H.-J. HeinR. bereicherte die barocke Lehrdichtung richs. Wien 1993. mit einer allegor. Darstellung einer auf die Literatur: Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.): ›Wir Präparation einer Universalarznei für Menlassen uns die Welt nicht zerbrechen‹. M. R.s Werk schen u. Metalle zielenden Fürstenalchemie in der Diskussion. Ffm. 1989. – Martin Jösel: Jo- (Jäger-Lust Oder Philosophischer Nymphen-Fang/ hann Faust u. Johannes Gast. Geist wider Macht Das ist: Gründliche [...] Beschreibung des uhralten oder Die Lörracher Zeit des Kunstphilosophen M. Steines der Weisen. Hbg. 1679. Erstdr. Hbg. R. In: Das Markgräflerland 2 (1991), S. 58–82. – 1635). Der Gewinn des (in einer Nymphe Michele Barrett: M. R. and the Question of Aesthetics. In: The Politics of Pleasure. Hg. Stephan personifizierten) »Steins der Weisen« wird Reagan. Buckingham 1992, S. 33–58. – H.-J. mittels Szenen herrschaftl. Jagdwesens nach Heinrichs: M. R. Unveröffentlichte Dokumente zu »Philosophischer Art [»allegoricè«] und Poeseinem Werk. In: Exil 12 (1992), H. 1, S. 46–57. – tischer Freyheit« verhüllt geschildert; lateiShirley Chesney: M. R. (1889–1952). A Pioneer of nische (aus Alchemica gehobene) Allegate the Semiotic Approach to Palaeolithic Art. In: Se- sollen den alchem. sensus statuieren. Die in miotica 100 (1994), S. 109–124. – Dieter Hornig: heroischen Alexandrinern gefasste Dichtung M. R. Théorie de la création et production visuelle. charakterisiert eine maßgeblich von Michael Revue Germanique Internationale 2 (1994), Maiers Mythoalchemie geprägte Schreibart; S. 165–178. – Werner E. Drewes: M. R. u. Carl mit Abschnitten vom idealen (hier: von der Einstein. Konstellationen des Aufbruchs in die ›klassische Moderne‹ im Zeichen der Zeit. In: EG 53 Nymphe geläuterten) Regenten hat sie gele(1998), H. 1, S. 123–159. – Gunter Baumann: Paul gentlich Anteil an der Fürstenspiegel-TradiValery u. M. R. In: Forsch.en zu Paul Valery/Re- tion; hauptsächlich aber wird eine aus aktucherches Valeryennes 18 (2005), S. 169–202. – ellen Sachschriften eklektisch abgeleitete AlStanley Mitchell: M. R. Aesthetics and Politics. In: chemie gelehrt. Literatur: Jöcher.

Joachim Telle

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Rappoltsteiner Parzifal, auch: Der alte und der nuwe Parzefal. – Epische Kompilation des Parzivalstoffs, entstanden 1331–1336 im Elsass. Das Versepos ist eine Kombination aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach u. Teilen des frz. Perceval-Korpus. Über seine Entstehungsgeschichte lassen sich für mittelalterl. Verhältnisse ungewöhnlich genaue Angaben machen: In einem eigens hinzugedichteten, den literar. Kleinformen der Minne- u. Ehrenrede nachgebildeten Epilog nennt der Straßburger Goldschmied Philipp Colin sich u. weitere an der Herstellung beteiligte Personen, darunter Claus Wisse, seinen Co-Autor, sowie den Auftraggeber des Werks, Ulrich von Rappoltstein (vermutlich Ulrich V. oder Ulrich VII.). Der Anlass für die Abfassung des R. P. wird von Colin kunstvoll in eine literar. Fiktion gekleidet: Frau Minne persönlich als höchste der höf. Tugenden habe Ulrich geboten, zum Zeichen seiner Minnehaftigkeit ein in seinem Besitz befindliches frz. Buch von den Abenteuern Parzivals, dessen Autorschaft König Artus selbst zugeschrieben wird, ins Deutsche übertragen zu lassen. Dies geschah auf Anraten von Frau »milte«, der personifizierten Freigiebigkeit, die Ulrich aufgrund seiner bekannten Großzügigkeit als Auftraggeber empfohlen habe. Mit der nicht unrealist. Angabe schließlich, dass Ulrich 200 Pfund für die Herstellung des Werkes aufgewandt habe, also den Gegenwert eines Turnierpferdes, das ein der Minne verpflichteter Ritter in kurzer Zeit bei einem Turnier verlieren könne, wird die Fiktion ins Faktische zurückgeführt. Hinter dem von Colin genannten Buch lässt sich eine nicht mehr erhaltene frz. Handschrift vermuten, die neben dem Perceval Chrétiens auch die Elucidation, die beiden anonymen Fortsetzungen u. die Weiterdichtung Manessiers enthalten haben muss. Colin u. Wisse verzichten jedoch auf eine Übersetzung des Perceval, die sie durch eine Abschrift von Wolframs Parzival aus anderer Vorlage ersetzen (alter Parzefal), u. übertragen nur die Wolfram nicht bekannten Erweiterungen u., zu geringen Teilen ergänzend, auch Chrétien. Ihre Übersetzung (nuwer Parzefal), bei der ein

Rappoltsteiner Parzifal

von Colin erwähnter Jude Samson Pine mitwirkte, wird in einer geschickten Montagetechnik an den entsprechenden narrativen Punkten in den Wolfram’schen Text eingefügt u. mit ihm verknüpft. Die frz. Vorlage wird dabei nicht, wie in der höf. Epik bis dahin üblich, frei bearbeitet, sondern möglichst inhaltsgetreu wiedergegeben. Die Qualität der offenbar noch immer als literarisch verbindlich empfundenen Versgestalt des R. P., die gemessen an den Regeln der klass. höf. Metrik als defizitär erscheint, muss daher vor dem Hintergrund des übersetzungstechn. Anspruchs beurteilt werden. Die Anreicherung des Wolfram’schen Parzival-Romans mit dem Material aus den Chrétien-Fortsetzungen bringt umfassende konzeptionelle Änderungen mit sich. Die ursprünglich relativ geschlossene Sinnstruktur, die auf Parzivals Erlangung der Gralsherrschaft zusteuert, wird in 37.000 Versen um mehr als das Doppelte erweitert. Die Aufschwellung erfolgt dabei über die Einfügung von additiv aneinandergereihten Aventiuren Parzivals u. anderer Artusritter. Zwar war bereits in Wolframs Konzeption eine Erweiterung des Figureninventars angelegt, da Parzivals Aufstieg durch die Abenteuer des Ritters Gawan gespiegelt wird; im Gegensatz zum alten sind im nuwen Parzefal jedoch kaum noch übergreifende Strukturprinzipien erkennbar. Dies mag nicht zuletzt durch die Uneinheitlichkeit der einzelnen Teile der Vorlage bedingt sein: Im Bereich der ersten anonymen Fortsetzung stehen Gawan u. der Ritter Karados im Zentrum, die zweite Fortsetzung bringt eine Reihe von schematisch verlaufenden Abenteuern Parzivals mit sich, die Fortsetzung Manessiers schließlich führt die Gralshandlung einem Ende zu, das in erhebl. Widerspruch zur Wolfram’schen Version steht. Insg. ergibt sich so eine v. a. auf Stofffülle u. Vollständigkeit abzielende Sammlung, die in ihrem additiven Charakter an zeitgenöss. Tendenzen zur Zyklus- u. Summenbildung erinnert. Das zugrundeliegende Strukturprinzip verlagert sich dabei von den übergreifenden Handlungszusammenhängen auf die Einzelpersonen. Die Erzählung wird zur Anthologie, aus der einzelne, durch den jeweiligen Protagonisten

Rappoltsteiner Parzifal

bestimmte Episoden zur auswählenden Lektüre herausgelöst werden können. Wohl um eine solche selektive Benutzung zu ermöglichen, aber auch um den Zusammenhalt der Einzelszenen zu erhalten, haben Wisse u. Colin ein System von Überschriften in den Text eingezogen, dessen Durchdachtheit belegt, dass die Autoren die Widersprüchlichkeit der Episoden nicht etwa aus Unvermögen, sondern bewusst in Kauf genommen u. der Zielsetzung der Vollständigkeit untergeordnet haben. Inhaltlich zeigt sich die Abweichung von Wolframs ursprüngl. Konzeption insbes. bei der Ausgestaltung der Gralshandlung. Während der Gral bei Wolfram der religiös überhöhte Zielpunkt der Handlung ist, der Parzival über die Grenzen der weltl. Sphäre des Artushofs hinaushebt, wird er im R. P. lediglich zu einem fast schon beliebig erscheinenden Anlassfall für Einzelabenteuer. Dementsprechend kann nicht nur der allein auserwählte Parzival, sondern ebenso Gawan zum Gral gelangen. Allerdings ist der auch sonst mitunter defizitär gezeichnete Gawan nicht in der Lage, das zerbrochene Gralsschwert zusammenzufügen; dies ist Parzival vorbehalten, der sich durch Waffentaten als bester aller Ritter erwiesen hat. Die Verweltlichung des Grals wird dann vollständig bei der für die Erlangung der Gralsherrschaft essentiellen Erlösungstat ersichtlich: Während in Wolframs Roman Parzivals zur Schau gestelltes Mitleid zur Heilung des leidenden Gralskönigs Anfortas führt, trägt im R. P. demgegenüber das von Parzival abgeschlagene Haupt von Anfortas’ Widersacher Partinias zu dessen Genesung bei. An die Stelle der christl. Barmherzigkeit ist blutige Rache getreten. Parzival agiert somit letztlich nicht anders als seine Gegner, die oftmals in sinnlos erscheinende Zwänge, die für den Artusstoff typischen »costumes« (Rechtsbräuche), verstrickt sind. Es ist daher nicht ohne Konsequenz, dass der inhaltlich bedeutendste Eingriff, den Wisse u. Colin im alten Parzefal vornehmen, darin besteht, dass zum Abschluss der Handlung nicht nur Parzival, sondern mit ihm auch König Artus u. sein Gefolge zur Gralsburg reiten. Das Gralsreich erscheint nicht mehr als substantiell überle-

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gener Gegenentwurf zur höf. Artuswelt, sondern wird in den Herrschaftsbereich von König Artus integriert. Der R. P. verweist somit auf eine veränderte Rezeptionsweise des Parzival-Stoffs, die im abschließenden Epilog auf nochmals andere Art akzentuiert wird. Colin hebt nämlich, in Übereinstimmung mit dem fiktiven Auftrag der Frau Minne an Ulrich, insbes. die Relevanz des Parzifal als Minnelehrbuch hervor, bei dem die einzelnen Aventiuren als Minneexempel gelesen werden sollen. Eine solche Bedeutungsdimension wird noch durch einige an der Nahtstelle zwischen altem u. nuwem Parzefal eingefügte Minnesangstrophen unterstrichen, die nicht als zufälliges Überlieferungsgut, sondern als Teil einer planvollen Konzeption zu betrachten sind. Die explizite Rezeptionsanweisung Colins steht jedoch in einem merkwürdigen Widerspruch zum Text, der einige Brüche im vorbildl. Minneverhalten der Protagonisten zeigt: So macht sich Gawan einer Vergewaltigung schuldig, Parzival hat neben seiner ehel. Beziehung zu Condwiramurs noch weitere Liebschaften, deren Verfolgung ihn mitunter ebenso beansprucht wie die Gralssuche. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich bei der von Colin beschworenen Minne nicht nur um eine bedeutungsleere Pose handelt, die als allg. Chiffre für die bereits verblassten Ideale der höf. Welt einstehen muss. Die Stilisierung des Auftraggebers Ulrich zum perfekten Minne-Herren, der in der Nachfolge von König Artus Liebesgeschichten aufzeichnet, lässt sich demnach als Versuch verstehen, ideologisch einen Anschluss an althergebrachte Legitimationsstrategien des Adels zu finden. Der R. P. ist überliefert in der mutmaßl. Originalhandschrift aus dem Besitz der Rappoltsteiner (Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 97) u. einer fragmentar. Abschrift. Die spezif. Genese u. Intention werden diese schmale Überlieferung bewirkt haben; wohl kaum aber ist dafür ein von der älteren Forschung verschiedentlich postuliertes Epigonentum der Bearbeiter verantwortlich zu machen. Ausgaben: Parzifal v. Claus Wisse u. Philipp Colin (1331–36). Hg. Karl Schorbach. Straßb. 1888. Fotomechan. Neudr. Bln./New York 1974.

Rasche

429 Literatur: Dorothee Wittmann-Klemm: Studien zum R. P. Göpp. 1977. – Thomas Cramer: Aspekte des höf. Romans im 14. Jh. In: Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Hg. Walter Haug, Timothy R. Jackson u. Johannes Janota. Heidelb. 1983, S. 208–220. – Manfred Günter Scholz: Zum Verhältnis v. Mäzen, Autor u. Publikum im 14. u. 15. Jh. Darmst. 1987, S. 97–111. – D. WittmannKlemm: R. P. In: VL. – Volker Mertens: Der R. P.: die Arthurisierung des Grals. In: Ders.: Der dt. Artusroman. Stgt. 1998, S. 288–300. – Joachim Bumke: Autor u. Werk. Beobachtungen u. Überlegungen zur höf. Epik (ausgehend v. der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gd). In: ZfdPh 116 (1997), Sonderh., S. 87–114. – Sonja Emmerling: Geld u. Liebe. Zum Epilog des R. P. In: Forsch.en zur dt. Lit. des SpätMA. Hg. Horst Brunner u. Werner Williams-Krapp. Tüb. 2003, S. 31–49. – Peter Strohschneider: Literar. Ligaturen. Philipp Colin über Paradoxien höf. Kunstaufträge im MA. In: Kunst, Macht u. Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziolog. Theorie u. Kultursoziologie der Moderne. FS Karl-Siegbert Rehberg. Hg. Joachim Fischer u. Hans Joas. Ffm./ New York 2003, S. 537–556. – J. Janota: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hg. Joachim Heinzle. Band III: Vom späten MA zum Beginn der Neuzeit, Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/ 90–1380/90), Tüb. 2004, S. 195–198. Frank Fürbeth / Gabriel Viehhauser

Rasche, Friedrich, * 7.9.1900 Radeberg bei Dresden, † 23.3.1965 Hannover. – Feuilletonredakteur, Publizist, Lyriker u. Erzähler. Seit 1926 lebte R. in Hannover. 1933 wurde er aus polit. Gründen aus seiner Stellung als Redakteur entlassen. Er war bis 1935 Lektor u. hatte zeitweilig Schreibverbot, da seine Frau Jüdin war. Zuletzt wurde ihm jede literarische u. publizist. Tätigkeit untersagt. Gedichte, die während der NS-Zeit entstanden u. Unterdrückung, Deportation (Die Verschollenen) u. Bombenterror (Frühling 1944) zum Thema haben, erschienen erstmals 1946 in der Sammlung De Profundis (Mchn.). Nach dem Krieg war R. Chefredakteur u. Leiter des Feuilletons der »Hannoverschen Presse«. Er veröffentlichte noch einige Gedichtbände, gab ein Werk über Fritz von Unruh (Hann. 1960) heraus u. schrieb das 1963 in Hannover erschienene Stadtporträt Goslar.

Weitere Werke: Gedichte. Mchn. 1935. – Gedichte. Konstanz 1949. – Aus allen vier Winden. Hann. 1967 (L.). Literatur: verboten u. verbrannt. Dt. Lit. 12 Jahre unterdrückt. Hg. Richard Drews u. Alfred Kantorowicz. Bln./Mchn. 1947. Joachim Dyck / Red.

Rasche, Johann Christoph, * 21.10.1733 Scherbda bei Eisenach, † 21.4.1805 Maßfeld bei Meiningen. – Evangelischer Theologe, Schriftsteller, Historiker, Numismatiker. Der Sohn eines Pfarrers studierte in Jena seit 1751 zunächst Medizin, später Theologie. Bereits im Alter von 20 Jahren war er Mitgl. in Johann Christoph Gottscheds Deutscher Gesellschaft in Leipzig; unter dem Eindruck Gottscheds stehen neben der u. d. T. Etwas zum lehrreichen Vergnügen (Erfurt 1753/54) veröffentlichten zweibändigen Sammlung von Gelegenheitslyrika die Oden (Ffm. 1758). 1755 schloss R. sein Studium mit dem Mag. phil. ab u. wurde Vikar in Offenbach u. Frankfurt/M., wo er 1756 eine sechsbändige Tugendlehre, die Urtheile über das Verhalten der Menschen (Ffm./Lpz.) publizierte, welche »bald im Tone eines Weltweisen und bald mit satyrischer Einkleidung« dargeboten werden sollte. Ebenfalls in Frankfurt gab R. Benjamin Neukirchs Satyren und poetische Briefe (1757) heraus. 1759 berief ihn Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen als Rektor an das Lyceum in Meiningen; seit 1763 bekleidete R. eine Pfarrstelle in Untermaßfeld bei Meiningen u. wurde in Maßfeld zum Adjunkt u. Assessor des geistlichen Untergerichts ernannt. Als Gottscheds Ansehen zunehmend schwand, veröffentlichte R. keine poet. Schriften mehr, sondern widmete sich unterschiedl. Themen wie beispielsweise der Epistolografie (Die Kunst, teutsche Briefe schön abzufassen. 2 Tle., Nürnb. 1775) oder der Parömiologie (Antons Pansa von Mancha Abhandlungen von Sprüchwörtern. Ffm. 1774. [Lpz. 21777]). Dabei machte sich R. als Pflanzenzüchter, insbes. jedoch als Numismatiker einen Namen: Als Hauptwerk kann dabei das sechsbändige Lexicon universae rei numariae veterum et praecipue Graecorum ac

Raschke

Romanorum (Lpz. 1785–95, Bde. 1802–05) gelten.

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3

Suppl.-

Weitere Werke: Etwas für alle Leser auswärtiger u. einheim. Ztg.en. Hg. J. C. R. Ffm./Lpz. 1759. . – Carl der Große, groß durch seine Bemuhungen . fur die Schulen der Teutschen. Meiningen 1760. – Kleinigkeiten. Helmstedt 1768. – Etwas v. Ohngefähr. 2 Tle., Ffm. 1769. – Nichts von Ohngefähr. 8 Tle., Lpz. 1775–85. – Kunst Nelken zu ziehen u. ihre Schönheit zu beurtheilen. Nürnb. 1777. – Die Kenntniß antiker Münzen nach den Grundsätzen des L. Jobert u. de la Bastin, mit vielen Verbeßerungen. 2 Bde., Nürnb. 1778/79. Literatur: Georg Carl Friedrich Emmrich: Einige Worte [...] am Sarge des J. C. R. Meiningen [1805]. – M. Bendiner: R. In: ADB. – Goedeke 4/1, S. 673. – Hamberger/Meusel 6, S. 218; 10, S. 444; 11, S. 626; 12, S. 371; 15, S. 501. – Adelung 6, S. 1374. – Kosch. Hans Peter Buohler

Raschke, Martin, auch: Otto Merz, * 4.11. 1905 Dresden, † 24.11.1943 bei Nevel/ Russland (gefallen). – Verfasser von Essays, Lyrik, Prosa u. Hörspielen.

die zeitgenöss. Welt des Kriegs als ein sinnvoll geordnetes, in sich harmon. Ganzes. Bedeutend war R.s Rolle als Literaturvermittler. Zus. mit A. Arthur Kuhnert gab er die Zeitschrift »Die Kolonne« (1929–1932) heraus. In diesem wichtigen Organ des Nachexpressionismus publizierten Günter Eich, Oda Schaefer, Horst Lange, Elisabeth Langgässer u. andere namhafte Naturlyriker u. Vertreter eines neuen, mag. Realismus. In mehreren u. a. in der »Kolonne« veröffentlichten Essays propagierte der auch nach 1945 etwa von Alfred Andersch, Erich Kästner u. Hermann Kasack geschätzte R. eine an neoromant. Idealen orientierte »biologische Metaphysik«. Dabei verwahrte er sich gegen einen »weltfernen Ästhetizismus« u. forderte die Verbindung von »Sachlichkeit« u. »Wunder« in einer Dichtung, der »die Ordnung des Sichtbaren Wunder genug erscheint«. Weitere Werke: Fieber der Zeit. Roman einer Jugend nach dem Krieg. Dresden 1930. – Die ungleichen Schwestern. Lpz. 1939 (R.). – Simona oder die Sinne. Lpz. 1943 (R.). Ausgabe: Jahr über der Stadt. Ess.s u. Reflexionen. Hg. Norbert Weiss. Dresden 1993. Literatur: Dieter Hoffmann: Nachw. In: Hinweis auf M. R. Eine Ausw. der Schr.en. Hg. ders. Heidelb./Darmst. 1963 (mit Werkbibliogr.). – Helmut Peitsch: Ästhet. Introversion u. NS. In: Leid der Worte. Panorama des literar. NS. Hg. Jörg Thunecke. Bonn 1987. – Michael Scheffel: Mag. Realismus. Tüb. 1990. – Wilhelm Haefs (Hg.): M. R. (1905–43). Chronik u. Dokumentation. Dresden 1993. – Ders. u. Walter Schmitz (Hg.): M. R. (1905–43). Leben u. Werk. Dresden 2002. – Andreas Möller: Aurorafalter u. Spiralnebel. Naturwiss. u. Publizistik bei M. R. 1929–32. Ffm. u. a. 2006. Michael Scheffel / Red.

Der Sohn eines städt. Beamten wuchs in Dresden auf, studierte Literatur in Leipzig, Berlin u. München u. lebte ab 1933 als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. 1941 als Kriegsberichterstatter eingezogen, fiel er 1943 in Russland. R. war u. a. mit Günter Eich, Horst Lange u. Ursula von Kardorff befreundet, als Kritiker hatte er Peter Huchel u. Guido Zernatto gefördert. Als Gymnasiast war R. 1925 Mitherausgeber von »Mob«, einer linksgerichteten »Zeitschrift der Jungen«; seine erste Buchveröffentlichung, das aphorist. »Zielbekenntnis« Wir werden sein (Bln. 1926), u. die Gedichtsammlung Winde, Wolken, Palmen (Bln. 1926) sind vom Pathos einer idealisierten Jugend erfüllt. In den folgenden ArbeiRasp, Renate, verh. Rasp-Budzinski, * 3.1. ten, so z.B. der Sammlung kurzer lyr. Prosa 1935 Berlin. – Schriftgrafikerin, ErzähleHimmelfahrt zur Erde (Dresden 1930), verrin, Lyrikerin. suchte R., ähnlich wie etwa Horst Lange, Klänge des Spätexpressionismus mit klassi- Nach einer Schauspielausbildung u. einer zist. Formelementen zu verbinden. Grafiklehre studierte R. Malerei in Berlin u. In Erzählungen wie Der Pomeranzenzweig München. Sie war Mitgl. der Gruppe 47 u. (Lpz. 1940), eine Dreiecksgeschichte, die den erhielt 1968 den Hamburger Lesepreis. Heute Wert der Ehe mit dem der militärischen Ka- lebt sie in München/Gräfelfing. meradschaft konfrontiert, gestaltete der von R. debütierte 1967 mit der Erzählung Der den Nationalsozialisten geförderte R. auch Spaziergang nach St. Heinrich, in der sie den

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intimen, banalen Alltag eines älteren Ehe- tion Literature. In: Dt. Pop an der Jahrtausendpaars genauestens mit sachlich-ironischer wende. Hg. Anke Biendarra. Lit. für Leser 2 (2009). Bettina Mähler / Carrie Smith-Prei Stimme beschreibt. Der Text erschien in der Anthologie Wochenende (Köln/Bln. 1967), herausgegeben von Dieter Wellershoff. KennRaspe, Rudolf Erich, * 1736 Hannover, zeichnend für den von ihm begründeten getauft ebd. 28.3.1736, † November 1794 »neuen Realismus« (»Kölner Schule«) ist der Muckross bei Killarney/Irland, bestattet filmische Stil, die detaillierte, auf Kunstgriffe 19.11.1794; Grabstätte: Friedhof von verzichtende Sprache u. die Thematisierung Killegy. – Schriftsteller, Editor, Übersetder Alltagswelt. Mit ihrem satir. Erziezer, Geologe, Kunst- u. Geschichtswishungsroman Ein ungeratener Sohn (Köln/Bln. senschaftler. 1967), in dem der Ich-Erzähler Kuno von seinem Stiefvater in einen Baum verwandelt R. gehört zu den Gelehrten der Aufkläwerden soll, wurde R. als literar. Entdeckung rungszeit, die in unterschiedlichsten Diszides Jahres gefeiert u. mit Gisela Elsner u. plinen forschten u. zgl. belletristisch publizierten. Als Sohn eines Bergbaubeamtem früh Gabriele Wohmann verglichen. Eine Lyriklesung auf der Frankfurter an Geologie interessiert, kam er nach dem Buchmesse (1968) – mit entblößter Brust – Jurastudium in Göttingen u. Leipzig 1761 zementierte ihren Ruf als literar. »Femme nach Hannover zurück, wo er an der Königfatale«. Die Gedichte u. ihr Auftreten weisen lichen Bibliothek tätig war. Hier verfasste er eine Affinität zur Dirty Speech der amerikan. seine erste selbständige Publikation (Specimen Underground-Popliteratur auf u. verkörpern historiae naturalis. Amsterd./Lpz. 1763), in der eine Verbindung zwischen der Vermarktung er unter Bezug auf Robert Hooke den Einfluss des weibl. Körpers u. der Kunst. Die Gedichte vulkanischer Kräfte auf die Gestaltung der wurden 1969 in dem Band Eine Rennstrecke Erdoberfläche darstellt. In der Königlichen (Köln/Bln.) vorgelegt. Mit präzisen Begriffen, Bibliothek entdeckte R. Manuskripte von die häufig aus dem Analbereich stammen, Leibniz, in denen dieser in bis dahin unbecharakterisiert R. die selbstzerstörerischen kannter Weise als Erkenntnistheoretiker Zwänge der Liebe. Die weibl. Prostitution hervortritt u. mit deren Edition (Oeuvres Phithematisiert R. in Chinchilla. Leitfaden zur losophiques. Amsterd./Lpz. 1765) R. eine neue praktischen Ausübung (Reinb. 1973). Sie des- Leibniz-Rezeption anstieß (u. a. Kant). Über avouiert mit nüchtern formulierten, doch Gerlach Adolph von Münchhausen lernte er Hohn u. Ironie nicht verbergenden Ratschlä- Benjamin Franklin kennen, dessen Glasharmonika er in der Neuen Bibliothek der schönen gen den Warencharakter der Sexualität. Weitere Werke: Junges Dtschld. Mchn./Wien Wissenschaften schildert (4. Bd., Lpz. 1767). 1978 (L.). – Zickzack. Mchn./Wien 1979 (R.). – Die General Johann Ludwig von Wallmoden beGeister v. morgen. Mchn. 1979 (D.). – Keltisches auftragte R. mit der Katalogisierung u. Publizierung seiner antiken Plastik, die als erste Quartett 1982 (Hörsp.). Literatur: Martin Kurbjuhn: R. R. Ein unge- Sammlung dieses Umfangs in Deutschland ratener Sohn. In: NR 79 (1968), S. 331–336. – Peter solcherart öffentlich bekannt wurde (NachHandke: Zu dem Sammelbd. ›Wochenende‹. In: richt von der Kunstsammlung des Hrn. General von Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Walmoden, ebd.). Mit seinen – von Herder Ffm. 1972, S. 191–194. – Jürgen Serke: Nachden- gerühmten – Rezensionen u. Erstübersetken über Ulrike Meinhof. In: Ders.: Frauen zungen der Ossian-Gedichte u. von Percy’schreiben. Hbg. 1979, S. 276–280. – Stephen W. schen Volksliedern aus dem Englischen verSmith: R. R. In: Neue Lit. der Frauen. Hg. Heinz mittelte R. Impulse für die Literatur- u. Puknus. Mchn. 1980, S. 94–98. – Carrie Smith-Prei: Böser Blick, entblößte Brust: Der Autorinkörper als Bildwelt von Sturm und Drang u. der RoGegenstand des literar. Skandals: Gisela Elsner u. mantik (Nachricht von den Gedichten des Ossian; R. R. In: Lit. als Skandal. Hg. Stefan Neuhaus. Gött. Auszug und Übersetzung des Fingal. In: Hanno2007, S. 549–558. – Dies.: Kölner Realismus Re- verisches Magazin, 1764. Reliques of ancient dux? The Legacy of 1960s Realism in Postunifica- English Poetry. In: Neue Bibliothek der schönen

Raspe

Wissenschaften. Lpz. 1765/66). Mit einem eigenen Versepos, das als erste Romanze im dt. Sprachraum gilt, griff R. selbst einen volkstümlich-mittelalterl. Stoff auf u. stellte sein Gedicht mit dem Plädoyer für eine vorurteilsfreie Betrachtung der Geschichte u. eine Gleichwertigkeit aller Kulturen zgl. in einen aufklärerisch-polit. Kontext (Hermin und Gunilde. Lpz. 1766). Für die Jahre in Hannover ist R.s Zugehörigkeit zu den Freimaurern belegt, auch Kontakte zu Logenbrüdern in England, wie er auch eine umfangreiche Korrespondenz mit Wissenschaftlern im In- u. Ausland pflegte. Mit großem Einsatz betrieb er seine Berufung zum Mitgl. der Royal Society in London, die 1769 erfolgte. Zu dieser Zeit war R. bereits als Professor für Altertumskunde u. Kustos an den Kunstsammlungen im Dienst von Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel. Sein museumsgeschichtlich bedeutender Vorschlag, Teile der Kunstkammer in ein nach histor. Kriterien geordnetes »gothisches Cabinett« umzugestalten, gilt als erstes Konzept für ein kulturhistor. Museum. R.s Engagement für eine historisch-krit. Neubewertung der Gotik sowie des MAs insgesamt, artikulierte sich auch in seiner Quellensammlung zur hess. Geschichte sowie dem Erwerb kostbarer Handschriften für die fürstl. Bibliothek (u. a. Hardehäuser Evangeliar, Vita Meinwerci). Als Beitrag zur Kunstgeschichte ist auch seine Edition von Francesco Algarottis ästhet. Schriften zu nennen (Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera. Kassel 1769). Für kurze Zeit gab R. eine an engl. Vorbildern orientierte Wochenschrift heraus (»Der Casselsche Zuschauer«. Gött. 1772). Seine Thesen zum vulkanischen Ursprung der niederhess. Gebirgszüge publizierte er in Beytrag zur allerältesten und natürlichen Historie von Hessen (Kassel 1774). Als R. nicht länger verheimlichen konnte, dass er, durch aufwendigen Lebensstil u. unregelmäßige Gehaltszahlungen hoch verschuldet, Münzen aus der fürstl. Sammlung entwendet hatte, floh er im März 1775 nach England. Obwohl er gleich nach Bekanntwerden seines Vergehens aus der Royal Society ausgeschlossen wurde, fand er schnell Anschluss auch zu höheren engl. Kreisen.

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Zunächst arbeitete er v. a. als Übersetzer ins Deutsche u. Englische. Befreundet mit Georg Forster, hat er große Teile von dessen A Voyage round the World ins Deutsche übersetzt (Bln. 1778–80). Als Kulturvermittler wirkte er auch mit der Erstübersetzung von Lessings Nathan ins Englische (London 1781) u. mit mehreren naturwiss. Schriften, die seinen Ruf als Geologe festigten: so die seiner eigenen Publikation von 1774 (An account of some German volcanos. London 1776) u. die von ihm kommentierten Editionen von Johann Jakob Ferber (Travels through Italy. London 1776) u. Ignaz Edler von Born (Travels through the Bannat of Temeswar. London 1777. New Process of Amalgamation. London 1791). Als Begleiter von Baron Heinrich von Offenberg durch England, dessen Reisetagebuch er führte (Ed. in Vorb.), entdeckte R. 1779 in der Universitätsbibliothek Cambridge mittelalterl. Traktate zur Maltechnik, welche belegen, dass die Ölmalerei schon vor den Brüdern van Eyck in Gebrauch war; für die Finanzierung der kommentierten Edition dieser Quellentexte konnte er Horace Walpole gewinnen (A Critical Essay on Oil-Painting. London 1781). Von 1782 an war R. immer wieder als wiss. Berater u. Prospektor des Großindustriellen Matthew Boulton in Cornwall tätig. Hier schrieb er im Rückgriff auf im Vade Mecum für lustige Leute (1781/83) publizierte Anekdoten die erste Fassung von Baron Munchausen’s narrative of his marvellous travels and campaigns in Russia (Oxford 1786). In rascher Folge erschienen bis 1789 unter variierten Titeln fünf weitere, jeweils vermehrte Ausgaben. Die dritte Ausgabe lag Bürgers um eigene Textpassagen erweiterter Rückübertragung ins Deutsche zugrunde, die überaus populär wurde. 1792 erschien, ebenfalls anonym, ein zweiter Band, A Sequel to the Adventures of Baron Munchausen (London). Für den Modelleur James Tassie, der im Auftrag der russ. Zarin Katharina II. alle erreichbaren Gemmen aus europ. Sammlungen reproduzierte, erarbeitete R. einen wiss. Katalog dieser rd. 16.000 Gemmenabdrücke, ergänzt um eine Einführung in die Geschichte der Glyptik (A Descriptive Catalogue. London 1791). An mehreren Projekten des Verlegers Nichols wirkte R. in diesen Jahren gleichfalls mit (u. a. Domesday

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Rasser

Book). Zuletzt als Prospektor der Minen in Rasser, Johann, * vor 1535 Ensisheim/ Muckross bei Killarney/Irland tätig, starb er Oberelsass, † vor 1594 Ensisheim/OberelEnde 1794 an Fleckfieber. sass (?). – Katholischer Pfarrer; DramatiObwohl R. mit seinen Munchausen-Erzäh- ker, Verfasser von Predigtsammlungen. lungen eine der berühmtesten Figuren der Weltliteratur schuf u. seine wiss. Arbeiten R., dessen Vater Diebolt Rasser Mitgl. des internat. Rang besitzen – sei es in seiner Be- Stadtrates von Ensisheim war, besuchte die deutung als erster »deutscher Vulkanist« Lateinschule seiner Heimatstadt. Am (Goethe über R.), als Kulturvermittler u. 16.5.1556 nahm er in Freiburg das Studium Philologe, als Pionier mittelalterl. Quellen- auf, wo er 1558 den Magistergrad erwarb. forschung oder ideenreicher Museologe –, Danach war er als Pfarrer u. a. in Colmar u. in gehört er nach wie vor zu den wenig be- seiner Heimatstadt tätig, wo er auch die Leikannten Persönlichkeiten der Literatur- u. tung der 1551 als Klerikerseminar eingeWissenschaftsgeschichte des 18. Jh. Lange richteten Schule übernahm. Sein seelsorgeriwirkte v. a. in Deutschland das moral. Verdikt sches u. erzieherisches Wirken stand ganz im über den »Münzdieb« R. nach, sodass auch Dienst der Gegenreformation, die in Ensisdie beiden Monografien über ihn nicht ge- heim ihr oberrheinisches Zentrum hatte. bührend wahrgenommen wurden (Rudolf Mit seinen öffentlich veranstalteten AufHallo: Rudolf Erich Raspe. Stgt./Bln. 1934. John führungen von Schuldramen nutzte R. das Carswell: The Prospector. London 1950. U. d. T. Theater zur Belehrung u. Disziplinierung im The Romantic Rogue. New York 1950). Erst in Sinne altgläubiger Religionsauffassung. Zwei jüngster Zeit wird das ganze Spektrum seines Texte sind erhalten: Ein schön christlich new Wirkens anerkannt, u. auch Münchhausen Spil von Kinderzucht, 1574 in Straßburg bei erfährt eine Neubewertung: steckt in den Thiebolt Berger gedruckt, vermittelt moraFlunkergeschichten des drolligen Freiherrn lisch-dogmatische Erziehungsnormen in doch eine Fülle von polit. Satire, von An- krasser Polarisierung von positivem u. negaspielungen auf Historie, Literatur u. Natur- tivem Beispiel: Der richtig, d.h. mit äußerster wissenschaft, in denen sich R.s Gesamtwerk Strenge erzogene Hans promoviert u. wird gewissermaßen spiegelt. kgl. Ratgeber, der nicht erzogene Aleator Ausgaben: Eine Gesamtausg. der Schriften u. wird zum Dieb u. endet am Galgen. R. führte des Briefwechsels R.s fehlt bis heute, ebenso hist.das Stück, das die humanist. Tradition der krit. Editionen seiner Münchhausen-Erzählungen. »Knabenspiegel«-Dramen rezipiert, am 9. u. – Einzelausgabe: An Introduction to the Natural History of the Terrestrial Sphere. Hg. u. übers. v. 10.8.1573 in Ensisheim unter Mitwirkung von 97 Schülern auf. Theatergeschichtlich Audrey N. Iversen u. a. New York 1970. Literatur: Uwe Meier: R. In: NDB. – Wolf interessant sind die als Textillustrationen Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ u. ›Mutter überlieferten 44 Holzschnitte, die Rückder Romantik‹. James Macphersons ›Ossian‹ u. schlüsse auf Inszenierung u. Bühnenform seine Rezeption in der deutschsprachigen Lit. 4 (erweiterte Terenzbühne) zulassen. Als dreiBde., Bln./New York 2003/04, passim (mit Text- tägige Aufführung, an der 162 Schüler beabdr., s. Register). – Andrea Linnebach (Hg.): Der teiligt waren, wurde im Sept. 1574 R.s ComMünchhausen-Autor R. E. R. Kassel 2005. – Bernoedia. Vom König der seinem Sohn Hochzeit machte hard Wiebel: Münchhausen – das Märchen vom Lügenbaron. In: Hören, Lesen, Sehen, Spüren. gespielt. Das 1575 in Basel bei Samuel ApiaMärchenrezeption im europ. Vergleich. Hg. Regina rius gedruckte Stück dramatisiert unter EinBendix u. Ulrich Marzolph. Baltmannsweiler 2008, bezug von Mt XXI das neutestamentl. S. 47–74. Andrea Linnebach Gleichnis vom kgl. Gastmahl (Mt XXII, 1–14) u. ist neben der Polemik gegen die Neugläubigen von stark antijüd. Tendenz geprägt. R.s Predigtsammlungen dienen insbes. der Verteidigung des kath. Glaubens gegen zentrale Vorwürfe der Protestanten (Verfälschung des

Raßmann

Gottesworts, Glauben ohne Werke, Institution der Sakramente usw.). Ausgaben: Ernst Martin: Landsknechte u. Hofleute in elsäss. Dramen des 16. Jh. In: Jb. für Gesch., Sprache u. Lit. Elsaß-Lothringens 5 (1880), S. 90–106 (Teilabdr. der ›Kinderzucht‹). – Louis Augustus Triebel: R. of Alsace. Melbourne u. a. 1954 (Abdr. der Holzschnitte). – New Jars Predig [...]. Basel 1580. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Underricht, die Sterbenden zutrösten [...]. Dillingen 1584. Internet-Ed.: VD 16 digital. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Jürgen Bücking: J. R. (ca. 1535–94) u. die Gegenreformation im Oberelsaß. Münster 1970. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern/Ffm. 1984, S. 233–235 (Lit.). – Ders.: Ein Forschungsber. [...]. Bern 1989. – HKJL, Bd. 2, Sp. 827–842, 1700–1702 u. Register. – Benoît Jordan: J. R. In: NDBA, Lfg. 30 (1997), S. 3088. – Dietrich Schmidtke: Ständevögelserien in spätmittelalterl. u. frühneuzeitl. Neujahrspredigten, samt Abdruck der Neujahrspredigt, die J. R. 1580 in Ensisheim im Elsaß gehalten hat. In: Ars et scientia [...]. FS Hans Szklenar. Hg. Carola L. Gottzmann u. a. Bln. 2002, S. 251–278. – Erich Kleinschmidt: Normative Selbstvergewisserung. J. R.s ›Spil von Kinderzucht‹ (1573) als Medium urbaner Repräsentation u. Disziplinierung. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2004, S. 325–342. – Maria E. Dorninger: Erzählstrategien in J. R.s ›Comoedia. Vom Koenig der seinem Sohn Hochzeit machte‹. In: Current Topics in Medieval German Literature [...]. Hg. Sibylle Jefferis. Göpp. 2008, S. 169–182. Elke Ukena-Best / Red.

Raßmann, (Christian) Friedrich, auch: Hortensio Orlay, * 3.5.1772 Schloss Wernigerode, † 9.4.1831 Münster. – Lyriker, Literarhistoriker, Herausgeber, Lexikograf. Die Liebe zur Literatur wurde R. vom Vater vererbt, einem Bibliothekar beim Grafen von Stolberg-Wernigerode auf Schloss Wernigerode. 1783 wurde sein Vater als Schulrektor nach Halberstadt versetzt, wo R. seine Schulausbildung fortsetzte. Nach dreijährigem Theologiestudium in Halle (1791–1794) u. Examen als Predigtamtskandidat war er dort bis 1800 Lehrer. Anschließend blieb er »nur von seiner Schriftstellerei lebend, im Privatstande« (ADB). Er unterhielt damals

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enge Freundschaft mit Gleim u. Klamer Schmidt, die seine belletrist. Neigungen förderten. 1803/04 leitete er die »Neuen Anzeigen vom Nützlichen, Angenehmen und Schönen« u. die »Allgemeine Zeitung der Merkwürdigkeiten«; nebenbei war er Korrektor in einer Druckerei. 1804 ging er nach Münster u. wurde Redakteur des »Merkur oder neueste Nachrichten von politischen, literarischen, ökonomischen und Handlungssachen« (1805/06). Mehrere eigene Zeitschriftengründungen ab 1810 scheiterten kläglich. Parallel arbeitete R. an 58 Zeitschriften mit, u. a. an Cottas »Morgenblatt« u. der »Zeitung für die elegante Welt«, gab ab 1815 diverse themenbezogene Anthologien heraus u. trat als Organisator des literar. Lebens hervor. Mit seinem Münsterländischen Schriftsteller-Lexikon (5 Tle., Lingen, dann Münster 1814–33, mehrere Folgeaufl.n) versuchte er, der westfäl. Literatur ein Fundament zu geben. Sein Taschenbuch Mimigardia (2 Bde., Münster 1810, 1811/12) sollte die poet. Kräfte des Münsterlandes bündeln. R.s ungemeiner Fleiß drückt sich jedoch am ehesten in lexikal. Unternehmungen aus. Den Anfang bildete das Münsterländisches Schriftsteller-Lexikon, es folgten seine Gallerie der jetzt lebenden deutschen Dichter (Helmstädt 1818), Pantheon deutscher jetzt lebender Dichter und in die Belletristik eingreifender Schriftsteller (Helmstädt 1823), Kurzgefaßtes Lexikon deutscher pseudonymer Schriftsteller (Lpz. 1830. Neuausg. Zürich 2007) u. ein Pantheon der Tonkünstler (Quedlinb. 1832). R.s Lebens- u. Arbeitsbedingungen waren bedrückend. Obwohl er weit über 100 Bücher herausbrachte, nagten er u. seine Familie am Hungertuch. Das färbte auch auf seine eigenen lyr. Werke ab. Sie sind in formaler Hinsicht ohne Fehl u. Tadel, bleiben aber in ihrer ästhet. Qualität u. Originalität blass. Geschmacklich blieb R. der »Schönen Literatur« verpflichtet u. eiferte zeitlebens seinen Vorbildern Gleim, Klopstock, Hölty, Bürger u. Hagedorn nach. Die Erlebnislosigkeit seiner Lebensumstände fangen die Verse ein: »Ich will empor mich raffen / Aus meinem tiefen Leid! / Der Tag ist ja geschaffen / Einmal zur Fröhlichkeit. / Und sink’ ich auch gleich wieder / Erschöpft und matt zurück; / Mich

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hob doch Schwunggefieder / Für einen Augenblick.« R.s literarhistor. Bedeutung liegt in seinen »noch heute brauchbaren« (Goedeke) themat. Kompilationen u. vielfach gewürdigten lexikal. Arbeiten. Darüber hinaus liefern R.s Briefe ergiebige Kommentare zum literar. Geschehen aus regionaler Perspektive. Alle Versuche, in dem damals etwa 15.000 Einwohner zählenden Münster der schönen Literatur Leser zu erobern, schlugen fehl. Hierfür fand er drast. Worte: »Viele Menschen in Münster, die auf Bildung Anspruch machen, wissen von der vaterländischen Literatur höchst wenig, oder sie achten es unter ihre Würde, mehr, als höchst wenig davon zu wissen. Das sind in meinen Augen Flegel.« Weitere Werke: Kalliope. Eine Slg. lyr. u. epigrammat. Gedichte. Münster 1806. – Sonette der Deutschen. 3 Bde., Braunschw. 1817/18. Mikrofiche-Ed. Mchn. 1990–94. – Dt. Dichternekrolog. Nordhausen 1818. – Poetisches Lustwäldchen. Köln 1818. – Auserlesene poet. Schr.en. Heidelb. 1816. – Herausgeber: Rhein. Westfäl. Musenalmanach 1821. – Musenalmanach aus Rheinland u. Westfalen. Hamm 1823. Literatur: C. F. R.s Leben u. Nachl. Münster 1833. – Ernst Förstemann: R. In: ADB. – Goedeke 9. – DBA. – Walter Gödden: Das vergebl. Wirken des Zeitschriftenherausgebers, Anthologisten u. Dichters F. R. (1772–1831). In: Lit. in Westfalen 2 (1992), S. 31–58. – W. Gödden u. Iris Nölle-Hornkamp (Hg.): Von den Musen wachgeküsst. Als Westfalen lesen lernte. Paderb. 1990. – Westf. Autorenlex. 1 (1993). Walter Gödden

Rathenau, Walther, * 29.9.1867 Berlin, † 24.6.1922 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof Köpenick. – Großindustrieller, Schriftsteller u. Politiker. Der Sohn des jüd. Großindustriellen u. Gründers der AEG Emil Rathenau u. Vetter des Malers Max Liebermann wurde Elektroingenieur, war seit 1899 Vorstandsmitgl., seit 1915 Präsident der AEG u. hatte in der Folgezeit etwa 100 Verwaltungsratsposten inne. R. organisierte 1914/15 die dt. Kriegswirtschaft, wirkte von 1920 an als Sachverständiger in Wirtschafts- u. Reparationsfragen, trat der DDP bei u. wurde als Außenminister von Mitgliedern der rechtsradikalen Organi-

Rathenau

sation Consul als sog. Erfüllungspolitiker ermordet. Der hochgebildete R. war einer der bedeutendsten Repräsentanten des dt.-jüd. Großbürgertums, der mit vielen Künstlern seiner Zeit in freundschaftl. u. förderndem Kontakt stand. Nachdem 1897 ein erster Aufsatz von der »Zukunft« des später mit ihm eng befreundeten Maximilian Harden angenommen wurde, nahm R. in zahlreichen Schriften vor u. während des Ersten Weltkriegs kritisch zu philosophischen, gesellschaftl., kulturellen u. polit. Fragen Stellung. Robert Musil hat ihn in der Figur des Dr. Paul Arnheim im Mann ohne Eigenschaften als großindustriellen Schöngeist beschrieben. Angeregt von Gerhart Hauptmann, legte R. mit Zur Kritik der Zeit (Bln. 1911. 151918) eine geschichtsphilosoph. Deutung der Gegenwart vor u. untersuchte – wie etwa gleichzeitig Werner Sombart u. Max Weber – die Zusammenhänge von Kapitalismus, moderner Technik u. Gesellschaft. Ebenfalls in zahlreichen Auflagen erschien Zur Mechanik des Geistes (Bln. 1913): Mit »Mechanisierung« glaubte R. einen treffenden, wenngleich unscharfen Begriff für die Beschreibung u. Kritik der Gleichförmigkeit von industrieller Massenproduktion u. -kultur gefunden zu haben. Stark von der zeitgenöss. Lebensphilosophie geprägt, bewegten sich R.s zuweilen von Pessimismus nicht freien Spekulationen zwischen den Polen »Zweckmenschentum« u. »Seele« (als Inbegriff alles nichtmateriellen Guten). Stand er mit diesen Werken am Anfang einer Kulturkritik, die von Alfred Weber, Karl Jaspers u. Ortega y Gasset fortgeführt wurde, so initiierte er mit Von kommenden Dingen (Bln. 1917. 691922) eine heftige Debatte über das Verhältnis von Staatswirtschaft u. privatem Unternehmertum, dessen Freiraum er zugunsten staatl. Lenkung im Rahmen einer berufsständisch organisierten Gesellschaft einschränken wollte. Der Starautor des S. Fischer Verlags führte eine ausgedehnte Korrespondenz, auch mit Frauen wie Lili Deutsch u. der Schriftstellerin Fanny Künstler, ohne das Gefühl von Vereinsamung überwinden zu können. In seiner viel gelesenen Broschüre Der Kaiser (Bln. 1919. 541921) klagte R. nicht so sehr Wilhelm II. als vielmehr das servile dt.

Rathenow

Bürgertum an, das ebenso sehr wie die Arbeiterschaft zu einer echten Revolution, d.h. zu einer von Verantwortungsethik getragenen Neufundierung der Gesellschaft, nicht fähig sei. Ausgaben: Ges. Reden. Bln. 1924. – Nachgelassene Schr.en. 2 Bde., Bln. 1928. – Ges. Schr.en. 6 Bde., Bln. 1929. – Polit. Briefe. Dresden 1929. – Briefe. 3 Bde., Dresden 1930. – Tgb. 1907–22. Düsseld. 1967. – Gesamtausg. 6 Bde., Mchn. u. Düsseld. 1974–2006. – Gespräche mit R. Mchn. 1980. Literatur: Bibliografie: W.-R.-Bibliogr. Bln. 1929. – Weitere Titel: Harry Graf Kessler: W. R. Bln. 1928. Wiesb. 21962. – Peter Berglar: W. R. Ein Leben zwischen Philosophie u. Politik. Bremen 1970 (mit Bibliogr.). – Harry Wilde: W. R. Reinb. 1971. – Rudolf Kallner: Herzl u. R. Wege jüd. Existenz an der Wende des 20. Jh. Stgt. 1976. – Ernst Schulin: W. R. Repräsentant, Kritiker u. Opfer seiner Zeit. Gött. 1979. – Martin Sabrow: R. In: NDB. – Wolfgang Brenner: W. R.: Deutscher u. Jude. Mchn. 2 2006. – Christian Schölzel: W. R.: eine Biogr. Paderb. 2006. – Lothar Gall: W. R.: Portrait einer Epoche. Mchn. 2008. Michael Behnen

Rathenow, Lutz, * 22.9.1952 Jena. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. Nach dem Wehrdienst studierte R. von 1973 bis 1977 Germanistik u. Geschichte in Jena, wurde aber drei Monate vor dem Studienabschluss wegen »Zweifeln an Grundpositionen« u. »Intellektualisieren der Probleme« exmatrikuliert. Seit 1978 lebt er als freier Schriftsteller in (Ost-)Berlin. Wie die meisten jungen Autoren der Berliner Künstlerszene hatte auch R. nahezu keine Möglichkeit, in der DDR zu publizieren. In der Bundesrepublik avancierte er bereits mit seiner ersten Buchveröffentlichung zu einem bedeutenden Nachwuchstalent: Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet (Ffm. u. a. 1980) lautet der beredte Titel dieses Erzählbandes, in dem sich R. als ebenso sensibler wie kompromissloser Kritiker fatalistischer Anpassungshaltungen präsentiert. Die Szenen in Boden 411. Stücke zum Lesen und Texte zum Spielen (Mchn./Zürich 1984) zeigen, dass Gleichgültigkeit u. Unterordnung unter die Autorität des Staats zur Zerstörung der Individualität führen. In seiner Lyrik hingegen

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verzichtet R. weitgehend auf satir. Überspitzungen u. Angriffe. So weicht auch der aufklärerische Ton etlicher seiner Gedichte aus Zangengeburt (Mchn./Zürich 1982. 2., überarb. Fassung 1987) zunehmend einer spielerischen Leichtigkeit, die freilich in scharfem Kontrast zu der Bitterkeit steht, mit der er die Nähe von Normalität u. Alltag zum Wahnsinn aufspürt. In den ersten Jahren nach der Wende 1989 galt R. neben Wolf Biermann, Jürgen Fuchs u. a. als eine der wichtigen krit. Stimmen aus der ehemaligen DDR, die sich bes. für die öffentl. Aufarbeitung der Verstrickung von Autoren in das System der Staatssicherheit einsetzt. Für seinen krit. Journalismus wurde R. 1998 mit dem KarlHermann-Flach-Preis ausgezeichnet. Neben seiner journalist. Arbeit verfasst R. weiterhin Erzählungen, Lyrik u. nicht zuletzt Literatur für Kinder. Weitere Werke: Was sonst noch passierte. Bln. 1984 (P.). – Jeder verschwindet so gut er kann. 7 Prosatexte. Ullrich Panndorf 5 Radierungen. Bln. 1984 (P.). – Tiger im Hochhaus. Mit Illustrationen v. Anke Westphal. Schleiden 1986 (Kindergesch.n). – Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten u. Bildern. Fotografien v. Harald Hauswald. Mchn. 1987. – Ein seltsamer Zoo. Bln./DDR 1988 (Kinderbuch). – Sterne jonglieren. Ravensburg 1989 (L.). – Zärtlich kreist die Faust. Offsetlitographien v. Sascha Juritz. Pfaffenweiler 1989 (L.). – BerlinOst. Die andere Seite einer Stadt. Bln. 1990 (zus. mit H. Hauswald). – Die lautere Bosheit. Satiren, Faststücke, Prosa. Remchingen 1992. – Tag der Wunder. Illustriert v. Frank Ruprecht. Hbg./Zürich 1992. Veränderte Aufl. Regensb. 2007 (Kinderbuch). – Der Wettlauf mit dem Licht. Letzte Gedichte aus einem Jahrhundert. Weilerswist 1999. – Die Fünfzig. Weilerswist 2002 (L.). – Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage. Illustriert v. Franz van der Leeuw. Weilerswist 2004. – Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. Bln. 2005 (zus. mit H. Hauswald). – Gewendet. Vor u. nach dem Mauerfall. Fotos u. Texte aus dem Osten. Bln. 2006 (zus. mit dems.). – Der König u. die Sonne. Illustriert v. Bettina Weller. Donauwörth 2006 (Kinderbuch). – Gelächter, sortiert. Wien 2006 (L.). – Gelächter, sortiert. Weilerswist 2008 (L.). – Floh Dickbauch. Donauwörth 2008 (Kinderbuch). – In Anthologien: Vogelbühne. Gedichte im Dialog. Hg. Dorothea Törne. Bln./DDR 1982. – Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Lit. der DDR. Hg. Sascha Anderson u. Elke Erb. Köln 1985. – Schöne Aussichten. Neue Prosa

437 aus der DDR. Hg. Christian Döring u. Hajo Steinert. Ffm. 1990. Herausgeber: Einst war ich Fänger im Schnee. Neue Texte u. Bilder aus der DDR. Bln. 1984. Literatur: Interview mit Heimo Schwilk. In: Rheinischer Merkur, 10.11.1989. – Uwe Wittstock: Mauerwerk. L. R.s Protesterklärungen. In: Ders.: Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Wege der DDR-Lit. 1949–89. Mchn. 1989, S. 252–255. – Ders.: R. In: KLG. – Ulrich Struve: Gespräch mit L. R. In: Dt. Bücher 28 (1998), H. 3, S. 162–186. – Carsten Gansel: Sehnsucht u. Utopie. Ein Gespräch mit L. R. In: DU 55 (2003), H. 5, S. 89–94. – Petra Ernst: L. R. In: LGL. Andrea Jäger

Rathlef(f), Ernst Lorenz, Laurenz, Michael, * 2.1.1743 Langenhagen bei Hannover, † 14.1.1791 Nordholz bei Cuxhaven. – Amtsschreiber, Erzähler u. Dramatiker.

Ratke

Charlotte Ackermann noch in deren Todesjahr, das sich formal am Werther, inhaltlich an der Emilia Galotti zu orientieren versucht. 1777 wurde R. für ein Jahrzehnt Amtsschreiber u. »Licent-Einnehmer« in Aerzen bei Hameln, bevor er – seit 1782 verheiratet – diese Position seit 1787 in Nordholz ausübte. Mit der Serklaide (Lemgo 1788) verfasste er ein Versepos in zwölf Gesängen mit einer »von der Belagerung Magdeburgs ausgehende[n] u. mit der entscheidenden Schlacht bey Breitenfeld sich endigende[n] Handlung«, zu deren Held er Johann Tserclaes Graf von Tilly bestimmte, wenngleich diese Wahl beispielsweise in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« kritisiert wurde. Weitere Werke: Von den ältesten Hofämtern des [...] Hauses Braunschweig-Lüneburg. Gött. 1764. Lemgo 21786. – Die Reisenden. Hbg. 1774 (Kom.). – Wilhelmine, oder der Sieg der Treue. Hbg. 1775 (Kom.). – Albert Stucke. Hbg. 1778 (Trag.). – Das Schloß Wartenfels, oder die Wiedervergeltung. Hbg. 1779 (Trag.). – Auserlesene Abhandlungen über Gegenstände der Policey, der Finanzen u. der Oekonomie. 3 Bde., Hann. 1786–88. Nachdr. Hildesh. u. a. 1999. – Die ungleichen Brüder. Jena 1779. – Vom Geiste der dt. Gesch. Lüneb. 1781. – Handschriften: UB Göttingen u. Frels, S. 232. Literatur: Goedeke 4/1, S. 129; 5, S. 378. – Hamberger/Meusel 11, S. 53. – Adelung 6, S. 1394. – Kosch 12, S. 617 f. – Uta Sadji: Der Mohr auf der dt. Bühne des 18. Jh. Anif/Salzb. 1992. – Wendy Sutherland: Staging Blackness: Race, Aesthetics and the Black Female in Two Eighteenth-Century German Dramas: E. L. R.’s ›Die Mohrinn zu Hamburg‹ (1775) and Karl Friedrich Wilhelm Ziegler’s ›Die Mohrinn‹ (1801). Diss. Philadelphia 2002. – Hans-Cord Sarnighausen: Amtsjuristen des 18. Jh. in Winsen an der Luhe. In: Ztschr. für Niederdt. Familienkunde 4 (2006), S. 164–177. – Barbara Riesche: Schöne Mohrinnen, edle Sklaven, schwarze Rächer: Schwarzendarstellung u. Sklavereithematik im dt. Unterhaltungstheater (1770–1814). Diss. Mchn. 2007. Hans Peter Buohler

Der »nachmittags um 4 geborene« (Taufregister) Sohn des Pfarrers Ernst Ludwig Rathlef(f) schrieb sich im Sommersemester 1761 an der Jenaer, 1763 an der Göttinger Universität für Jura ein, bevor er als Amtsauditor an unterschiedl. Orten arbeitete u. 1769 an seinen Geburtsort zurückkehrte. 1770 veröffentlichte R. neben Die Wilden (Hann.), einem »Drama mit Arien und Balletten«, das er Georg III. zu dessen Geburtstag widmete, u. a. das Gedicht Die Leidenschaften (Hann.). 1772 folgte das in Alexandrinern verfasste Epyllion Der Schuh (Hann.) in fünf Gesängen, ein »heroisch-komisches Gedicht«, in dem – wie die Widmung zeigt – in Anlehnung an Pope zwar keine Locke, indes ein Schuh geraubt wird. 1774 wurde R. Amtsschreiber in Winsen an der Luhe, wo er die Tragödie Die Mohrinn zu Hamburg (o. O. 1775) verfasste. Diese belegt nicht nur R.s Shakespeare-Rezeption, sondern zeigt in ihrem Egalitarismus auch den aufklärerischen Impetus, den R. mit diesem Drama verfolgte – so wie er in seiner Schrift Vom Geiste der Criminalgesetze (Hbg. 1777. Bremen 21790) kompromisslos Ratke, Ratich(ius), Wolfgang, * 18.10.1571 für die Abschaffung oder Milderung von Wilster/Holstein, † 27.4.1635 Erfurt; Selbstmordstrafen eintrat. Mit dem BriefroGrabstätte: ebd., Barfüßerkirche. – Pädaman Die letztern Tage der jüngern Demoiselle goge u. Didaktik-Reformer der BarockM.M.Ch. A*** (Hbg. 1775) u. der Fortsetzung, zeit. dem Beytrag zu den letztern Tagen (Hbg. 1775) entwirft R. in insg. 59 bzw. 26 Briefen ein Der Sohn einfacher Bürger besuchte das JoBild der Todesumstände der Schauspielerin hanneum in Hamburg u. immatrikulierte

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sich 1593 in Rostock für Theologie, Philosophie, Mathematik u. oriental. Sprachen. 1598 beendete er das Studium ohne Abschluss. 1603–1610 lebte er als Privatlehrer in Amsterdam. In dieser Zeit begann er, seine Konzeption einer auf der Reform der Didaktik beruhenden, das Pädagogische vom Didaktischen her verstehenden Revision des gesamten Bildungswesens u. die Grundzüge einer enzyklopädisch angelegten wiss. Propädeutik auszuarbeiten. Ab 1610 arbeitete er in Frankfurt/M. an diesem Reformwerk weiter u. legte, davon überzeugt, mit seiner Didaktik auch politische u. soziale Probleme lösen zu können, am 7.5.1612 dem dort zur Kaiserwahl versammelten Reichstag sein Memorial vor (in: Erika Ising: Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik. Bln. 1959, S. 101–104), das zeigen sollte, »wie im gesamten deutschen Reich eine einträchtige Sprache, eine einträchtige Regierung und endlich auch eine einträchtige Religion bequemlich einzuführen und friedlich zu erhalten sei« (Die neue Lehrart. Hg. Gerd Hohendorf. Bln. 1957, S. 49). Er erhielt zwar nicht, wie erhofft, Unterstützung durch den Kaiser oder den Reichstag, lenkte aber die Aufmerksamkeit v. a. protestantischer Kleinfürsten auf sich. So stellte der luth. Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt bis 1615 mit dem Gießener Theologen Christoph Helwig als Sprach- u. Joachim Jungius als Naturwissenschaftler u. Mathematiker zwei bekannte Professoren zur Mithilfe bei der Ausarbeitung des Reformwerks ab, nachdem diese sich gutachtlich (»Kurzer Bericht von der Didactica oder Lehrkunst Wolfg. Ratichii«) positiv über R. geäußert hatten. Helwig wirkte 1614 bei dem von Protestanten gewünschten Schulversuch von R. in Augsburg mit, der allerdings scheiterte. Ideelle u. materielle Unterstützung sowie 1619 die Möglichkeit, seine Reformideen in eine Schulordnung einzubringen, erhielt R. auch vom Weimarer Hof. Nach etl. Reisen durch das ganze Reich, auf denen er sein Konzept vorstellen konnte, erhielt R. 1618 durch Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen Gelegenheit, in Köthen eine regionale Schulreform zu versuchen. Sie scheiterte 1619 u. a. am Streit mit der Ortsgeistlichkeit (Vorwurf der Betrügerei

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u. Rosenkreuzerei); ähnlich ging es 1620–1622 in Magdeburg zu. Auch Verhandlungen mit dem schwed. Kanzler Oxenstierna 1632 führten nicht zu einem Reformauftrag. Ziel von R.s utopischen, »nach der Weise der Zeit auch in marktschreierische und geheimnisvolle Formen gekleideten« (Erich Weniger in: RGG, 2. Aufl., Bd. 4, Sp. 1711) Plänen zur Welterneuerung, Kircheneinigung u. Harmonisierung der Wissenschaften war eine auch politisch-ökonomisch bedeutsame »Harmonie« des Glaubens, der Natur (Vernunft) u. der Sprachen. Zu dieser neuen Ordnung führte für ihn eine neue didakt. Methode: Neue deutsche einheitl. Lehrbücher, neue staatl. Schulen u. Lehrer, neue Unterrichtsmethoden (bes. sprachliche), Hebräisch als erste Fremdsprache (»Gottessprache«), dann Chaldäisch, Syrisch, Griechisch, Latein. Ein zentrales Element von R.s Reformvorhaben war die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache in allen Schulen, um dadurch den Grund für eine einheitl. Sprache im ganzen Reich zu legen. Als Vorbild für die zuvor erforderl. Sprachreinigung galt ihm die »Meißnische Arth zu reden«. R. hielt es zum Gelingen der Reform für notwendig, alle Wissenschaften in dt. Sprache in Lehrbücher (»Lehren«) zu fassen u. sie gleichzeitig in ein »modernes« Wissenschaftssystem zu integrieren, dessen vielgestaltiger, auch Hoffnungen auf eine umfassende Weltreform mit luth. Scholastik verbindender barocker Kontext allerdings nicht übersehen werden darf: »Der Unterricht ist allein zu rechtfertigen aus seiner Bedeutung für das Seelenheil« (Ballauff/Schaller 1970, S. 152); sein Naturbegriff (»Alles nach Ordnung oder Lauf der Natur«) ist noch schöpfungstheologisch verankert. Trotz dieses eher protestantisch geprägten Horizontes sollte die von R. propagierte Erziehung aber für alle »Stände« u. Berufe verbindlich sein. Unter R.s Leitung u. nach seinem Entwurf arbeiteten an wechselnden Orten u. in wechselnden Zusammensetzungen Mitarbeiterstäbe. R. selbst legte seinen Schwerpunkt auf die Ausarbeitung einer deutschsprachigen Grammatik, von der 1612 zuerst als Manuskript eine Sprachkunst entstand, ehe 1619 dann in Kö-

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then eine Allgemeine Sprachlehr erschien. Zu des Übergangs (vom Konfessionalismus des diesen grammat. Schriften, für die R. eine 16. Jh. zum Rationalismus des 17. Jh.) Gestalt eigenständige grammat. Fachterminologie zu geben« (Max Luckow in: RGG, 3. Aufl., entwickelte, gehörten ferner eine Distinc- Bd. 5, Sp. 801) nicht übersehen werden. tionslehr (Zeichensetzung), eine Schreibungslehr Teilausgaben: Ratichianische Schr.en. Hg. Paul (Rechtschreibung), eine Wortschickungslehr Stötzner. 2 Bde., Lpz. 1892/93. – Die neue Lehrart. (Flexion, Syntax) u. eine Wortbedeutungslehr Hg. Gerd Hohendorf. Bln. 1957. – Kleine pädagog. (Wörterbuch. Alle in: Ising, a. a. O.). Wie für Schr.en. v. W. R. Hg. Karl Seiler. Bad Heilbrunn die Grammatik, musste er auch für alle an- 1967. – Die SittenLehr der christl. Schule. Hg. deren »Lehren« eine dt. Fachterminologie Herbert Schmidt. Oberhausen 1994. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., entwickeln u. wurde so einer der Begründer Bd. 5, S. 3267–3283. – Weitere Titel: Gerd Hohender dt. Wissenschaftsterminologie. dorf: W. R. Bln. 1963. – Franz Hofmann: AnmerDie 354 geplanten »Lehren« hat R. im Rekungen zu einem modernen R.-Bild. In: Paegister aller Lehren so [...] aus der Heiligen Schrift, dagogica historica 5 (1965), S. 38–64. – Theodor Natur und Sprachen genommen sind (in: Allun- Ballauff u. Klaus Schaller: Pädagogik. Bd. 2, Freib. terweisung. Hg. G. Hohendorf u. Franz Hof- i. Br./Mchn. 1970, S. 152–157, 666 f. – Gerhard mann. Tl. 1, Bln. 1970, S. 81–87) in ein Sys- Michel: Die Welt der Schule. R., Comenius u. die tem gebracht, das die gesamte Wirklichkeit didakt. Bewegung im 17. Jh. Hann. 1978. – Ders.: umfassen sollte. Die »Lehren« sind didak- Der andere R. In: Pädagog. Rundschau 39 (1985), tisch aufbereitet. Die bedeutsamsten unter S. 439–450. – Michael Freyer: Barocke Wiss. ... ihnen sind neben der Regentenamtslehre der Theologie in W. R.s Didaktik als Dachwiss. In: christlichen Schule (in: Allunterweisung. Tl. 2, Paedagogica historica 24 (1984), S. 82–104. – Karl Dienst: W. R. In: Bautz. – Die Dt. Akademie des 17. Bln. 1971, S. 17–256), einer Art FürstenspieJh. Fruchtbringende Gesellsch. Krit. Ausg. [...]. R. gel, diejenigen, welche als Grundlegung der I, Abt. A, Bd. 1, 3 u. 4; R. II, Abt. A, Bd. 1. Hg. Pädagogik als Wissenschaft gelten: Allunter- Martin Bircher u. a. Tüb. 1992–2006, Register. – weisung: Nach Der LehrArt Ratichii (Köthen Wilhelm Kühlmann in: Hdb. der dt. Bildungsge1619), Die Allgemeine Verfassung der christlichen sch. Bd. 1, Mchn. 1996, S. 153–196. – Uwe Kordes: Schule (Cranichfeld 1632), Schuldieneramtslehr, W. R. (Ratichius, 1571–1635). Gesellsch., Religiosität u. Gelehrsamkeit im frühen 17. Jh. Heidelb. Lehrartlehr (alle in: Allunterweisung, a. a. O.). Die Pädagogik R.s war, trotz ihres prakt. 1999. – Ders.: R. In: NDB. Gerhard Michel / Karl Dienst Scheiterns, von (unterschiedlich beurteiltem) Einfluss auf die pädagog. Praxis u. Theorie des 17. Jh. »Ratichianer« waren – neben Ratschky, Joseph Franz, * 21.8.1757 Wien, Helwig u. seinem Schwiegersohn Balthasar † 31.5.1810 Wien. – Lyriker u. Epiker. Schupp – v. a. Johannes Rhenius u. Johannes Kromayer. Die 1619 von Kromayer im An- Der Sohn eines kleinen Wiener Beamten beschluss an R. ausgearbeitete Weimarer suchte 1767–1773 das Jesuitengymnasium Schulordnung enthielt erstmals in Deutsch- am Hof, studierte Philosophie an der Uniland den staatl. Schulzwang (Gotha 1642, versität Wien u. trat 1776 in den Staatsdienst Preußen 1717). Die weitere Beurteilung der ein. Dank seiner literar. Tätigkeit fand er Pädagogik u. Wirkungsgeschichte des R. einflussreiche Protektoren (z.B. Joseph von schwankt allerdings. Während z.B. Michel u. Sonnenfels) u. machte rasch Karriere: Nach Kühlmann tendenziell v. a. auf die »letztlich seiner Ernennung zum Hofkonzipisten wurpolitisch-ökonomische« Motivation solcher de er 1787 für fünf Jahre Präsidialsekretär des Reformproklamationen hinweisen, würdigen oberösterr. Regierungspräsidenten Leopold z.B. Ballauff/Schaller u. Dienst auch dessen Graf Rottenhan in Linz. 1795 wurde er zum barocke theologisch-philosoph. Implikatio- Hofsekretär ernannt, 1806 zum Hofrat u. nen. Über sozialgeschichtl. Aspekten sollte 1807 zum »Staats- und Conferenzrath«. die zeitgeschichtl. Einordnung R.s in die R.s literar. Laufbahn begann mit einer Tat, »Versuche der protestantischen Scholastik, in die für das literar. Leben des Josephinismus neuen Systembildungen dem Geist der Zeit entscheidend werden sollte: 1777 gründete er

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gemeinsam mit seinem Jugendfreund Gottlieb von Leon den »Wienerischen [ab 1786: Wiener] Musenalmanach«. Der Plan, mit diesem vom »Göttinger Musenalmanach« inspirierten Unternehmen ein Publikationsorgan für die neue österr. Literatur zu schaffen, scheiterte zwar zunächst; die etablierten, der Bardendichtung nahestehenden Wiener Lyriker um Denis blieben R.s Almanach fern, da sie der von R. gepflegten Lyrik im Stil der dt. Anakreontiker ablehnend gegenüberstanden. R. legte 1779 die Herausgabe des Almanachs vorübergehend nieder (der Jahrgang 1780 wurde von Martin Joseph Prandstetter betreut). Seit dem Jahrgang 1781 jedoch (der von R. u. Blumauer herausgegeben wurde) waren tatsächlich alle wichtigen Schriftsteller Wiens im Almanach vertreten: Die Versöhnung der zunächst feindl. literar. Lager dürfte von Denis selbst u. von Franz Sales von Greiner ausgegangen sein, in dessen Salon das geistige Wien verkehrte. In den 1780er Jahren – dem josephin. Jahrzehnt – gehörte der junge Beamte R. zu jenen bürgerl. Intellektuellen, die das ambitionierte Reformprogramm Josephs II. in jeder Hinsicht unterstützten. Eine zentrale Institution der josephin. Aufklärung war die – vom Kaiser selbst misstrauisch betrachtete – Freimaurerei. 1783 wurde R. durch Joseph Friedrich von Retzer in die einflussreiche Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht« eingeführt, die von Born u. Sonnenfels geleitet wurde. Diese Loge, der R. bis zu ihrem Ende (1786) angehörte, vereinigte die führenden Köpfe Wiens u. betrachtete sich als geistige Vorhut im Kampf gegen Aberglauben u. Intoleranz. Als R. mit der Broschüre Kontroverspredigt eines Layen über die Frage: Warum sind die Mönche theils verachtet, theils verhaßt (Wien 1782) sein Scherflein zur sog. »Broschürenflut« beitrug, griff er ganz im Sinne des Josephinismus in die Kirchendiskussion ein. R.s eigentl. literar. Werk begann in den späten 1770er Jahren. Mit dem empfindsamen Singspiel Weiß und Rosenfarb (in: Wienerischer Musenalmanach, 1777) leistete er einen Beitrag zu einer in der zeitgenöss. poetolog. Diskussion viel besprochenen Gattung: Das Werk hatte in Wien schon 1776 mehr als 30 Aufführungen erlebt. Weniger

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erfolgreich waren R.s weitere dramat. Versuche: Das Schauspiel Bekir und Gulroui (Wien 1780) nahm in seinem türk. Ambiente u. im Preis aufgeklärter Humanität Elemente der späteren Mozart’schen Entführung aus dem Serail vorweg; das 1781 veröffentlichte Lustspiel Der Theaterkizel (Wien) folgt dem Vorbild der älteren sächs. Typenkomödie u. ist lediglich durch seine satir. Polemik gegen die Bühnenpraxis des Sturm und Drang bemerkenswert; das Lustspiel Der verlogene Bediente (Wien 1781) ist die Bearbeitung einer 40 Jahre alten Vorlage David Garricks. Bedeutend ist R. als Lyriker. Nachdem er zunächst mit verschiedenen lyr. Formen (Balladen im Stil Bürgers, empfindsamen Liedern) experimentiert hatte, fand er das ihm gemäße Genre: scherzhafte, oft satir. Gedichte, die sich formal an der mitteldt. Lyrik der Jahrhundertmitte (Gleim, Uz) orientierten, aufgeklärte Geselligkeit besangen u. immer wieder im Sinn der josephin. Aufklärung zu gesellschaftl. Missständen Stellung bezogen; bezeichnend für seine Haltung sind die vielen poet. Episteln an seine Freunde. In R.s Lyrik herrscht ein urbanes Stilideal vor, das sich sowohl von den Derbheiten Blumauers als auch von dem Pathos Haschkas oder der empfindsamen Poesie Leons abhebt. Das große Vorbild war Horaz: R. hat viele seiner Oden bearbeitet u. mit satir. Anspielungen auf die zeitgenöss. Realität versehen. Bearbeitet wurden auch Pope u. Swift (wobei aber Swifts Bitterkeit entschieden gemildert wurde). Satirisch nahm R. ihm unangenehme literar. Erscheinungen aufs Korn – die Bardendichtung, Voß’ Homerübersetzung, die Jenaer Romantik – u. wandte sich immer wieder im Sinn der Aufklärung gegen Aberglauben u. Obskurantismus. R.s Lyrik, die im »Wiener Musenalmanach«, im »Göttinger« u. im »Voßschen Musenalmanach«, im »Deutschen Museum« u. im »Teutschen Merkur« sowie seit den 1790er Jahren in Wilhelm Gottlieb Beckers »Taschenbuch zum geselligen Vergnügen« erschien, blieb der dt. Aufklärungsliteratur verpflichtet u. zeigte sich von Sturm und Drang, Klassik u. Romantik unberührt. R.s Hauptwerk ist das »heroischepische Gedicht für Freunde der Freyheit und

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Weitere Werke: Gedichte. Wien 1785. Verm. u. Gleichheit«, Melchior Striegel (Wien 1793–95. Überarb. Neuaufl. Lpz. 1799). Das Werk ist verb. Neuaufl. 1791. – Klaudians Gedicht wider vor dem Hintergrund der heftigen Diskus- den Rufin. Wien 1801. – Neuere Gedichte. Wien sionen um die Französische Revolution zu 1805. Ausgabe: Melchior Striegel. Neu hg. v. Wynfrid sehen. R. war Mitarbeiter an Alxingers »Österreichischer Monathsschrift« (1792 bis Kriegleder. Graz 1992. Literatur: Roger Bauer: Ein ›mock-heroic 1794), die sich gegen die Aufklärungsgegner Leopold Alois Hoffmann u. Felix Franz poem‹ in dt. Sprache. J. F. R.s ›Melchior Striegel‹. In: Austriaca. FS Heinz Politzer. Tüb. 1975, Hofstäter richtete. 1795 wurde im Rahmen S. 75–90. – Ders.: Die Gedichte des J. F. R. In: Zeder Wiener Jakobinerprozesse, denen R.s man, S. 891–907. – Wynfrid Kriegleder: J. F. R. Freund Prandstetter zum Opfer fiel, gegen R. Eine Monogr. Mit bisher unveröffentl. Hss. Diss. ermittelt; er kam – mit viel Glück – mit einer Wien 1985. – Marcel Mouseler: Kom. Aspekte in J. schweren Verwarnung davon. Der Melchior F. R.s ›Melchior Striegel‹. In: Komik in der österr. Striegel ist ein Versuch R.s, aus seiner josephin. Lit. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler u. a. Bln. 1996, S. 88–103. – W. Kriegleder: R. In: NDB. – Ritchie Sicht zur Revolution Stellung zu nehmen. Das kom. Epos steht in der Tradition von Robertson: Puritans into Revolutionaries. Butler’s Butlers Hudibras, aber auch von Popes Dun- ›Hudibras‹ and Ratschky’s ›Melchior Striegel‹. In: ciad. Die Geschehnisse der Französischen Re- Austrian Studies 15 (2007), S. 17–40. Wynfrid Kriegleder volution werden auf der Ebene einer Dorfgeschichte abgehandelt: Der Wirtssohn Melchior Striegel ruft in Schöpsenheim die ReRatzel, Friedrich, * 30.8.1844 Karlsruhe, publik aus u. stürmt statt der Bastille das † 9.8.1904 Ammerland/Starnberger See. – Gemeindegefängnis. Das Knittelverspoem Geograf. erreicht einen guten Teil seiner kom. Wirkung durch die virtuose Handhabung des Der Sohn des großherzogl. badischen KämReims. Ein dem Poem beigegebener, es an merers war zunächst Apotheker, studierte Umfang übertreffender Kommentar trägt zur aber nach abgeschlossener Lehre u. nachgeKomik bei u. verdeutlicht die satir. Intention holtem Abitur seit 1866 in Karlsruhe u. Heides Werks: Sie richtet sich gegen Jakobiner u. delberg Naturwissenschaften. R. schrieb Obskuranten gleichermaßen. Beide Gruppen 1869/70 u. 1872–1875 als Reisekorresponwerden unter dem Gesichtspunkt der Auf- dent für die »Kölnische Zeitung« aus Südklärung in eins gesetzt u. verspottet. italien, den USA, Mexiko u. Kuba (Wandertage Die große Zeit der Josephiner endete in den eines Naturforschers. 2 Bde., Lpz. 1873/74. 1790er Jahren. 1796 ging mit dem Ende des Städte- und Kulturbilder aus Nordamerika. 2 Bde., »Wiener Musenalmanachs« das renommierte Lpz. 1876. Aus Mexico. Breslau 1878). 1875 Publikationsorgan verloren; der Tod Alxin- habilitierte er sich in München über Die chigers (1797) u. Blumauers (1798) beraubte die nesische Auswanderung. Ein Beitrag zur KulturGruppe ihrer anerkanntesten Vertreter. Zwar und Handelsgeographie (Breslau 1876) für Geoschuf man sich mit dem »Österreichischen grafie; bereits im Jahr darauf erhielt er eine Taschenkalender« (1801–1806) u. dem Ta- a. o. Professur an der TH München. In rascher schenbuch »Apollonion« (1807–11) neue Pu- Folge erschienen weitere Abhandlungen: Die blikationsorgane, in denen weiterhin Auf- Erde in 24 gemeinverständlichen Vorträgen über klärungsliteratur verbreitet wurde – die lite- allgemeine Erdkunde (Stgt. 1881) u. Die Vereirarhistor. Entwicklung war jedoch über die nigten Staaten von Amerika (2 Bde., Mchn. 1878 Josephiner hinweggeschritten. R., der immer u. 1880). Schon vor seiner Berufung nach stärker durch seinen Beruf belastet war, pro- Leipzig 1886 begann er seine Hauptwerke duzierte vereinzelt noch Lyrik, verlegte sich Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwenaber mehr u. mehr auf Übersetzungen aus dung der Erdkunde auf die Geschichte (Stgt. 1882) dem Lateinischen. Bei seinem unerwartet u. die Völkerkunde (3 Bde., Lpz. 1885–88) zu frühen Tod arbeitete er an der Pharsalia Lu- publizieren. Aufgrund der in diesen Schriften kans. differenziert ausgebreiteten Materialgrund-

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lage ließ R. in der Absicht, die Geografie Rau, Heribert, * 11.2.1813 Frankfurt/ systematisch zu fassen, eine weitere Ab- Main, † 26.9.1876 Offenbach/Main. – handlung zur Anthropogeographie. Die geogra- Verfasser kulturhistorischer Romane, pophische Verbreitung des Menschen (Stgt. 1891) pulärwissenschaftlicher, historischer u. folgen. Sie war ihrerseits Vorarbeit zu der religiöser Schriften. Studie Politische Geographie (Mchn. 1897), in der nach biologist. Manier das anhaltende Zum Kaufmann ausgebildet, schloss sich R. Wachstum von Staaten als Bedürfnis nach sich 1844 den von Johannes Ronge gegrünLebensraum ausgelegt wurde. Den Abschluss deten Deutsch-Katholiken an. Er ging zum der rastlosen Publikationstätigkeit bildeten Theologiestudium nach Heidelberg (1844 bis die in Anlehnung an Wilhelm Heinrich Riehl 1846) u. wirkte danach als Prediger der dt.entstandene Arbeit Deutschland. Einführung in kath. Gemeinde zunächst in Stuttgart, ab die Heimatkunde (Lpz. 1898), die Schrift Über 1849 in Mannheim. Seine z.T. sehr erfolgNaturschilderung (Mchn. 1904) u. Die Erde und reichen populärwiss. Schriften, in denen er das Leben. Eine vergleichende Erdkunde (2 Bde., naturwiss. u. religiöse Betrachtung zu verLpz. 1901/02), in der R. den Versuch unter- binden suchte (v.a. Das Evangelium der Natur. 6 nahm, ein umfassendes Gebäude der Bio- Tle., Mannh. 1853–55. Lpz. 81897. Neue geografie zu errichten. Stunden der Andacht. Zur Beförderung wahrer ReIm Gegensatz zu vielen seiner Fachkolle- ligiosität. Ein Buch zur Erbauung und Belehrung gen war R. als Schöpfer einer auf naturwiss. für denkende Christen. 3 Bde., Lpz. 1850. Prinzipien beruhenden, Darwins Gedanken 71893), sowie seine gemäßigt demokratischweiterverarbeitenden geograf. Weltanschau- sozialist. Überzeugungen führten 1856 zu ung ein Hochschullehrer u. Publizist von seiner Entlassung. Er kehrte als freier enormer Breitenwirkung. Während kaum ei- Schriftsteller nach Frankfurt zurück. Von ner seiner Schüler im deutschsprachigen 1868 bis 1874 leitete er als Prediger u. Reliakadem. Bereich Karriere machte – R. be- gionslehrer die dt.-kath. Gemeinde in Offentreute allein in seiner Leipziger Zeit mehr als bach, wo er nach langer Krankheit starb. 100 Dissertationen –, wurden seine GedanSein frühes Schaffen besteht neben Preken von der als Multiplikator viel wichtigeren digten u. Erbauungsschriften aus z.T. anLehrerschaft aufgegriffen. Damit wurde eine onym erschienenen satir. Schriften u. Romader Grundlagen für das seit dem Ersten nen (Die Pietisten. Roman aus dem Leben der Weltkrieg sich ausbreitende, später verhängneuesten Zeit. 3 Bde., Stgt. 1841. Freuden und nisvoll wirkende geopolit. LebensraumLeiden eines Commis Voyageur. Stgt. 1844. Genidenken geschaffen. al. Ffm. 1844. Briefe eines Affen an seine Brüder. Weitere Werke: Die Gesetze des räuml. Hanau 1846). Er schrieb auch Libretti, Die siWachstums der Staaten. In: Petermanns Geograph. Mitt.en 42 (1896), S. 97–107. – Polit.-geograph. zilianische Vesper, vertont von Peter Josef von Rückblicke. In: Geograph. Ztschr. 4 (1898), Lindpaintner (Urauff. 1843) u. Kaiser Adolph S. 143–156, 211–244, 268–274. – Der Lebensraum. von Nassau, vertont von Heinrich Marschner In: FS Albert Schäffle. Tüb. 1901, S. 89–101. – Ju- (Urauff. 1845). Am erfolgreichsten war er als genderinnerungen. Mchn. 1966. Verfasser umfangreicher »kulturhistoriLiteratur: Mark Bassin: F. R. In: Geographers. scher« Romanbiografien, die er in seinen anBiobibliographical Studies. Bd. 11, London 1987, stellungslosen Frankfurter Jahren in rascher S. 123–132. – Gerhard H. Müller: R. In: NDB. – Folge publizierte (Mozart. Ein Künstlerleben. 6 Ders.: F. R. Stgt. 1996. – Hans-Dietrich Schultz: F. Bde., Ffm. 1858. Beethoven. 4 Bde., Ffm. 1859. R. (k)ein Rassist? Flensburg 2006. – Ders.: F. R. und sein (politisch-)geograph. Weltbild. In: Mitteilun- Alexander von Humboldt. 7 Tle., Ffm. 1860. Jean gen der Geograph. Gesellsch. Mchn. 89 (2007), Paul. 4 Tle., Lpz. 1861. Hölderlin. 2 Tle., Lpz. 1862. Theodor Körner. 2 Tle., Lpz. 1863. GariS. 3–45. Ute Wardenga / Red. baldi, Italiens Held und Schwert. 3 Bde., Bln. 1864. William Shakespeare. 4 Bde., Bln. 1864. Carl Maria von Weber. 3 Tle., Lpz. 1865).

443 Weitere Werke: Girandolen. 2 Bde., Stgt. 1841. – Zeitgemäßer Auszug aus dem NT. Stgt. 1841 – Gedichte. Stgt. 1843. – Taddhäus Kosciuszko. 3 Bde., Stgt. 1843 (R.). – Mysterien eines Freimaurers. 2 Tle., Stgt. 1844. – Lese-Abende für das Jahr 1845. 2 Bde., Ffm. 1844 (E.). – Erinnerungen an die Gründung einer dt.-kath. Gemeinde zu Frankfurt/ M. Ffm. 1845. – Fünf Reden, vorgetragen in der dt.kath. Gemeinde. Ffm. 1845. – Kaiser u. Narr. 3 Tle., Lpz. 1845 (histor. R.). – Allg. Gesch. der christl. Kirche v. ihrem Entstehen bis auf die Gegenwart. Ffm. 1846. – Gesch. des alten u. neuen Bundes nach den Urkunden der hl. Schrift bearb. 2 Tle., Heidelb. 1847. – Bibl. Gesch.n für die Jugend bearb. Heidelb. 1847. – Memorandum. Die vollst. Gleichberechtigung der Deutschkatholiken mit den staatlich anerkannten Confessionen betreffend. Stgt. 1848. – Worte zum Herzen des dt. Volks. Vorträge u. Gebete. Stgt. 1848. – Katechismus der christl. Vernunft-Religion. Ein Leitfaden für den ReligionsUnterricht. Stgt. 1848. – Morgen- u. Abendopfer: Eine Slg. poet. Gebete für denkende Christen. Stgt. 1850. – Die Ohren-Beichte. Mannh. 1851 (Rede). – Eine Oster-Predigt. Mannh. 1851. – Gesch. des dt. Volkes für das dt. Volk. Heidelb. 1850. – Dt. Erzählungen. 2 Bde., Lpz. 1851. – Ignatius v. Loyola u. der Orden der Jesuiten. Geschichtl. Vortrag. Mannh. 1851. – Zum 25. maurerischen Jubel-Feste Wilhelm Mayers. Mannh. 1853 (G.e). – Der Friedensfürst. Histor. Gemälde aus Spaniens neuerer Gesch. 2 Tle., Ffm. 1853. – In einer Zeit, in der man mit Blitzen denkt, soll man mit Blei nicht beten. Predigt. Mannh. 1854. – Reisebeschreibungen, Naturschilderungen u. Erfindungen mit eingeflochtenen Erzählungen. Für die Jugend bearb. Stgt. 1854. – Feuerflocken der Wahrheit. Zwölf Predigten. Wiesb. 1854. – Die Feuertaufe des hl. Geistes, die unserem Jh. geworden, ist die Freiheit des religiösen Gedankens. Mannh. 1854. – Katechismus der Kirche der Zukunft zum Gebrauch in der Gegenwart für Jung u. Alt. Ffm. 1855. – Natur, Welt u. Leben. Lpz. 1855 (L.). – Biogr.n berühmter Männer der Vergangenheit. Für die Jugend bearb. Stgt. 1855. – Die Apostelgesch. des Geistes. Neustadt/St. Louis 1858. – Nach der Arbeit. Illustrirter Volkskalender. 2 Jgg., Ffm. 1859 f. – Der Raub Straßburgs im Jahr 1681. Vaterländ. Roman. 3 Tle., Ffm. 1862. – Antwort gegeben dem Jesuitenpater Roder auf seinen Protest der Jesuiten zu Mainz gegen die Frankfurter Schmähschrift Schwester Adolphe. Ffm. 1863. – Der Fluch unserer Zeit. Sitten-Roman. 2 Tle., Lpz. 1863. – Ronge, oder die Offenbarung der hl. Schrift. Schweidnitz o. J. – Ronge’s Verhältniß zur freien religiösen Reform in Nord- u. Süd-Dtschld. Nebst dem Briefe des Johannes Ronge an Bischof Arnoldi in Trier. Graz

Rauchfuss 1869. – Überzeugungstreue. Offenbach 1869 (Predigt). – Was muß die goldene Frucht der blutigen Aussaat sein? Mannh. 1870 (Predigt). – Das Papstthum, seine Entstehung, seine Blüthe u. sein Verfall. Stgt. 1870/71. – Dtschld.s Kassandra. Der Raub des Elsaß u. die Verwüstung der Pfalz unter Ludwig XIV. Stgt. 1871 (histor. R.). – Rast’ ich, so rost’ ich. Roman aus dem Leben. Hann. 1873. – Peter der Große. Eine cultur-histor. Studie. Lpz. 1874. – Kulturgeschichtl. Vorlesungen. Wiesb. 1875. – Liederfrühling im Herbste des Lebens. Lpz. 1878 (L.). – Freimaurerische Vorträge, Ansprachen, G.e u. Tafelreden. Ffm. 1880. – Nachlass: UB Frankfurt/M. Literatur: ADB. – Brümmer. – Kosch. – Bautz. Peter-Henning Haischer

Rauchfuss, Hildegard Maria, * 22.2.1918 Breslau, † 28.5.2000 Leipzig. – Erzählerin, Lyrikerin, Verfasserin von KabarettTexten, Chansons u. Fernsehspielen. R., deren Erziehung durch die Strenge u. Nüchternheit des Vaters, eines preuß. Offiziers, u. durch das Talent u. die Fantasie der frz. Mutter geprägt war, genoss nach dem Lyzeumsbesuch eine Ausbildung als Sängerin. Während des Zweiten Weltkrieges als Bankangestellte tätig, musste sie 1945 Breslau verlassen u. siedelte über Cieplice nach Leipzig. Nach einer Tätigkeit als Buchhalterin u. Rundfunkjournalistin widmete sich R. seit Beginn der 1950er Jahre dem literar. Schaffen. Ihr erfolgreiches Debüt, der Roman Wem die Steine Antwort geben (Halle 1953. 111962) reflektiert die Probleme einer Künstlerehe im neu gegründeten DDR-Staat. Autobiografische Züge tragen die Romane Schlesisches Himmelreich (Lpz. 1968. Halle 81983) u. Fische auf den Zweigen (Halle 1980. 31982), welche die Geschichte einer Frau erzählen, die sich aus konservativen Zügeln löst. Die Romane umfassen den Zeitraum der 1920er bis Mitte der 1970er Jahre u. verdeutlichen die Entwicklung einer Frau auf der Suche nach Glück u. Zufriedenheit im Deutschland des Dritten Reiches sowie nach der Umsiedlung in der DDR. Der von detailgetreuen Milieuschilderungen geprägte Roman Schlußstrich (Halle 1986. 61989) handelt von Problemen einer

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alkoholabhängigen Frau u. rief ein breites Echo hervor. In den 1960er bis Mitte der 1970er Jahre verfasste R. zahlreiche Kabarett- u. Chansontexte. Ihr Gedicht Am Fenster wurde in der Vertonung u. Interpretation der Berlin Gruppe »City« europaweit populär. 1986 erhielt R. den Nationalpreis der DDR. Weitere Werke: Jahrmarkt u. a. E.en. Lpz. 1949. – Das schilfgrüne Kleid u. a. E.en. Lpz. 1949. – Gewitter übern großen Fluß. Lpz. 1952. 21960 (E.en). – Besiegte Schatten. Halle 1954 u. ö. (R.). – Fräulein Rosenzeh u. a. Märchen. Bln/DDR 1959. – Die weißen u. die schwarzen Lämmer. Halle 1959. 3 1962 (R.). – So anders fällt das Licht. Halle 1959 (L.). – Die grünen Straßen. Halle 1963. 21964 (R.). – Versuch es mit der kleinen Liebe. Bln./DDR 1970. 2., veränderte Aufl. 1977 (G.e, Lieder, Chansons). – Kopfbälle. Lpz. 1974. 31976 (Feuilletons). – War ich zu taktlos, Felix? Lpz. 1976. 21981 (E.). – Mit dem linken Fuß zuerst. Nachw. v. Irmfried Hiebel. Halle 1984 (Gesch.n, G.e). – Zwei Gedichte. Lpz. 1998. Birgit Baum / Ulrich Kiehl

Raumer, Friedrich (Ludwig Georg) von, * 14.5.1781 Wörlitz bei Dessau, † 14.6. 1873 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Historiker. Der Sohn eines Verwaltungspächters zu Wörlitz u. späteren fürstl. Kammerdirektors in Dessau besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin. Seit 1798 hörte er in Halle Jura, Naturwissenschaften u. Geschichte u. schloss 1801 seine Studien in Göttingen ab. R. entschied sich für den Verwaltungsdienst u. war während der großen preuß. Reformzeit als Steuerrat tätig, zuletzt in Potsdam. Seit 1805 publizierte staatswiss. Arbeiten zogen die Aufmerksamkeit Hardenbergs auf sich, der ihn 1810 ins Berliner Finanzministerium versetzen ließ. R.s zunehmende Beschäftigung mit histor. Studien führte jedoch 1811 zur Übernahme einer Professur für Staatswissenschaften in Breslau. 1819 wechselte er nach Berlin, wo er 1859 emeritiert wurde. Um 1805 machte R. die Bekanntschaft Johannes von Müllers, der im Sommer 1807 einen ersten unveröffentlichten Aufsatz R.s über die Eroberung Jerusalems durch Saladin

enthusiastisch begutachtete. Er unterhielt Kontakte zu Hegel u. Wilhelm von Humboldt, zu Friedrich Schlegel, Schleiermacher u. eine lange enge Freundschaft mit Tieck, die ihren Niederschlag in einem regen Briefwechsel fand. In seinem späteren Schaffen tritt eine fruchtbare u. eigentüml. Verbindung von reformwilliger Fortschrittlichkeit u. romant. Vergangenheitsverpflichtung zutage. R.s Hauptwerk war die bahnbrechende Geschichte der Hohenstaufen und ihre Zeit (8 Bücher in 6 Bdn., Lpz. 1823–26); erste Entwürfe entstanden 1807. Als »Nebenfrucht historischer Knechtsarbeit« erschien 1813 ein Handbuch merkwürdiger Stellen aus den lateinischen Geschichtsschreibern des Mittelalters (Breslau). In Italien sammelte R. umfangreiches Quellenmaterial u. a. aus dem Vatikanarchiv, zu dem er, obwohl der evang. Kirche zugehörig, als einer der ersten dt. Historiker Zugang erhielt. Die ersten sechs Bücher enthalten eine spannende u. großartig angelegte Erzählung der dt. Geschichte vom Beginn des ersten Kreuzzugs bis zum Tod Konradins (1268). Den Höhepunkt dieser Epoche sieht R. in der Regierungszeit Friedrichs II., dessen Gesetzgebung u. kulturelle Bestrebungen er ausführlich darstellt. Diesem Kapitel wird dann eine Diskussion der Ursprünge u. Entwicklung der Bettelmönchsorden gegenübergestellt. Die letzten zwei Bücher befassen sich mit einer damals neuartigen strukturellen Analyse der kulturellen u. kirchl. Zustände des dt. MA. Wegen seiner Form u. harmon. Mischung aus spannender Erzählung u. einfühlsamer Analyse wurde das Werk von der Romantik verpflichteten Kritikern mit Begeisterung aufgenommen. Tieck nannte es »ein für sich bestehendes Kunstwerk, ein ausgewachsenes reifes Individuum«. Es war die erste, zgl. die bedeutendste u. meistgelesene Darstellung dieses Zeitabschnitts u. diente sogleich nach Erscheinen als literar. Quellenvorlage. R.s Geschichte Europas seit dem fünfzehnten Jahrhundert (8 Bde., Lpz. 1832–50) wurde hingegen selbst von Freunden mit Enttäuschung aufgenommen. Immer häufiger meldete er sich mit kritisch-scharfsichtigen Pu-

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blikationen, z.T. auch in Form von Reisebe- Rölleke. Kassel 1991, S. 110–129. – Stefan Jordan: richten, zu tages- u. gesellschaftspolit. Fragen R. In: NDB. Joachim Whaley / Red. zu Wort, z.B. mit Ueber die preußische Städteordnung (Lpz. 1828) u. den Briefen über den Raumer, Karl (Georg) von, * 9.4.1783 Zollverein (Lpz. 1833). R. galt als entschiede- Wörlitz bei Dessau, † 2.6.1865 Erlangen. ner Gegner der Revolution u. Befürworter der – Mineraloge u. Pädagoge. Reform. Sein Versuch, 1849 als Mitgl. der Frankfurter Nationalversammlung politisch R. studierte in Göttingen u. seit 1803 in tätig zu werden, schlug fehl. Nach der Revo- Halle, wo er bei Steffens naturwiss. Vorlelution zog er sich aus der aktiven Politik zu- sungen hörte. Er wandte sich dann an dessen rück. Zuletzt beschäftigte er sich mit der Lehrer, Abraham Gottlob Werner in Freiberg, Zusammenstellung von Lebenserinnerungen wo er sich mineralog. Studien (mit geognost. und Briefwechsel (2 Bde., Lpz. 1861) u. seinem Ausflügen ins Erzgebirge) widmete, die er auf einer Reise nach Paris 1808/09 vertiefte. Nach Literarischen Nachlaß (2 Bde., Bln. 1869). Obwohl von Ranke hoch geschätzt, hat R. einem Besuch bei Pestalozzi in Iferten begab keinen dauerhaften Einfluss ausgeübt. Ab- er sich nach Nürnberg, wo er 1811 auf Anregesehen von seinem Buch über die Hohens- gung seines Freundes Gotthilf Heinrich taufen, das eine ohnehin in erster Linie lite- Schubert Geognostische Fragmente veröffentrar. Wirkung erzielte, blieben seine Werke für lichte, die in der Fachwelt Aufsehen erregten. die Geschichtswissenschaft von geringer Be- Durch Vermittlung seines Bruders Friedrich deutung. Als Lehrer hat er keine Schule ge- wurde R. Sekretär beim Oberbergdepartegründet, u. als Wissenschaftler hatte er keine ment in Berlin; 1811 wurde er nach Breslau Geduld mit einer alle Quellen kritisch über- als Bergrat u. zgl. als Professor für Mineraprüfenden »trockenen Osteologie des Le- logie berufen. 1813/14 Teilnehmer der Bebens«, wie er die Werke von Zeitgenossen wie freiungskriege, wurde er 1819 wegen SymNiebuhr nannte. R. kann als Historiker der pathien für die Burschenschaften von der »vorwissenschaftlichen« Zeit gelten, der das Berliner Regierung an das Oberbergamt u. Mittelalterbild der dt. Romantik weitgehend die Universität Halle versetzt, die er 1823 verließ. 1824 nahm er eine private Lehrstelle bestimmte. am Dittmarschen Erziehungsinstitut in Weitere Werke: Vorlesungen über die alte Gesch. 2 Bde., Lpz. 1821. – Briefe aus Paris u. Nürnberg an. 1827 wurde er auf Schuberts Frankreich im Jahre 1830. Lpz. 1831. – England im Empfehlung Professor für Naturgeschichte u. Jahre 1835. 3 Bde., Lpz. 1836–42. – Beiträge zur Mineralogie an der Universität Erlangen. Als Pädagoge erhob R. in seinem Hauptneueren Gesch. aus dem Brit. Museum u. Reichsarchive. 5 Bde., Lpz. 1836–39. – Vermischte werk Geschichte der Pädagogik (4 Tle., Stgt. Schr.en. 3 Bde., Lpz. 1852–54. – Histor.-polit. 1843–54. Gütersloh 71902–09) die histor. Briefe über die geselligen Verhältnisse der Men- Pädagogik zur Wissenschaft; die Kindererschen. Lpz. 1860. ziehung wollte er am Vorbild der »göttlichen Literatur: Leopold v. Ranke: Rede zur Eröff- Erziehung des Menschengeschlechts« oriennung der XIV. Plenarversammlung am 20.10.1873. tiert wissen. In: HZ 31 (1873), S. 149–156. – Franz Xaver v. Wegele: R. In: ADB. – W. Friedrich: F. v. R. als Historiker u. Politiker. Diss. Lpz. 1928. – Edwin H. Zeydel: Ludwig Tieck and F. v. R. In: PMLA 48 (1928), S. 863–893. – Ders. u. Percy Matenko: Unpublished Letters of Ludwig Tieck to F. v. R. In: GR 5 (1930), S. 19–37, 147–165. – Klaus Hohlfeld: F. v. R. als Bibliotheksgründer. In: Bibl. 7 (1983). – Roger Paulin: F. v. R. u. Heinrich v. Kleist. In: KleistJb. (1988/89), S. 147–159. – Achim Hölter: F. v. R. als Novellenautor. In: Waltende Spur. Hg. Heinz

Weitere Werke: Der Granit des Riesengebirgs. Bln. 1813. – Das Gebirge v. Niederschlesien, der Grafschaft Glatz. Bln. 1819. – K. v. R.s Leben v. ihm selbst erzählt. 2 Bde., Stgt. 1866. Literatur: Wilhelm v. Gümbel: R. In: ADB. – Gottfroed Hofbauer: Abraham Gottlob Werners Sprach- u. Erkenntnistheorie u. ihre Umbildung durch K. v. R. In: Language and Earth (1992), S. 369–399. – Joachim Dorweiler: K. v. R. u. sein

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Beitrag zur Volksbildung im 19. Jh. Diplomarbeit Bamberg 1994. – Peter Krüger: R. In: NDB. Roland Pietsch / Red.

Raumer, Rudolf (Heinrich Georg) von, * 14.4.1815 Breslau, † 30.8.1876 Erlangen. – Sprachwissenschaftler. Der älteste Sohn des Geologen Karl Georg von Raumer studierte von 1832 an klass. u. oriental. Philologie in Erlangen, dann in Göttingen altgerman. Sprachen bei den Gebrüdern Grimm, mit denen seine Familie freundschaftlich verbunden war. 1836 wechselte R. nach München, wo Johann Andreas Schmeller seine wiss. Ausrichtung beeinflusste. Nach Promotion 1839 u. Habilitation 1840 in Erlangen erhielt er dort 1846 ein Extraordinariat u. 1852 eine Professur für dt. Sprache u. Literatur. R. gehört mit August Friedrich Pott, Heymann Steinthal u. August Schleicher zu einer Gruppe von Sprachwissenschaftlern, die zwischen der romant. Gründergeneration u. der junggrammat. Schule liegt. Im Zentrum von R.s Arbeit stand die dt. (Standard-)Sprache seiner Zeit. Damit vollzog er eine erste entscheidende Wende von der ausschließl. Untersuchung der histor. Sprachstufen hin zur Gegenwartssprache. Diese veränderte Haltung implizierte auch eine Ablehnung des Organismusmodells u. den Entwurf einer neuen Konzeption, die vom Zusammenspiel einer physiologisch gesetzmäßigen u. einer histor. freien Komponente ausging, sodass R. auch auf den »Sprachgeist« als Erklärungsinstanz verzichten u. die sprachl. Entwicklung stärker an das kommunizierende Individuum binden konnte. In diesem Rahmen befasste sich R. insbes. mit der Frage nach dem Wesen der Sprachlaute, ihrer Veränderbarkeit u. ihrer Verschriftlichung. Damit vollzog er eine zweite ebenso bedeutsame Wende: weg von der ausschließl. Betrachtung der Buchstaben u. hin zur Analyse der gesprochenen Laute; in dieser Veränderung des linguist. Forschungsgegenstands zeigt sich deutlich der Einfluss der dialektolog. Arbeiten Schmellers. Aufgrund der neuen Sichtweise gelang R. in seinem Erstlingswerk Die Aspiration und die

Lautverschiebung (Lpz. 1837. Neudr. Hildesh. 1972) eine fundierte Kritik an der Methodik Jacob Grimms u. eine überzeugende Erklärung der lautgesetzl. Veränderungsprozesse. In konsequenter Fortführung seiner Arbeitsweise forderte er 1857 in Analogie zur Fotografie techn. Möglichkeiten für Sprachaufzeichnungen. Damit wurde er zum Begründer der Lautphysiologie (Phonetik); seine Vorstellungen wirkten entscheidend auf Wilhelm Scherer u. wurden fortgeführt von Ernst Brücke u. Eduard Sievers. In engstem Zusammenhang mit dieser Neuorientierung steht die Frage nach dem Verhältnis von Laut u. Schrift. Seit 1855 engagierte sich R. in der vehement geführten Orthografie-Diskussion. 1875 erhielt er den Auftrag des preuß. Kultusministeriums für einen Entwurf zur Reform der dt. Orthografie; sein hierin vertretenes Grundprinzip basiert auf einer sprachhistorisch begründeten u. möglichst genauen Abbildung der gesprochenen Laute in entsprechende Schriftzeichen. Die Berliner orthografische Konferenz erbrachte 1876 kein allg. anerkanntes Ergebnis, führte aber zur Einführung seiner Vorschläge in Bayern 1879 u. Preußen 1880, sodass es lediglich ein histor. Zufall ist, dass heute nach »Duden« u. nicht nach »Raumer« geschrieben wird. In seinem Hauptwerk Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland (Mchn. 1870. Neudr. New York 1965) beschrieb er erstmals die sprachwiss. Theorien u. Theoretiker in einem Gesamtüberblick. Seiner Wissenschaftsauffassung entsprach seine Definition von Philologie, die er auf die Erforschung von Sprache u. Literatur eingrenzte, sodass die noch bei Jacob Grimm vorherrschende kulturhistor. Komponente eine untergeordnete Rolle spielte. Neben seiner sprachwiss. Arbeit wirkte R. an der Konzeption u. dem weiteren Ausbau des Germanischen Museums in Nürnberg mit. Weitere Werke: Die Einwirkung des Christenthums auf die ahd. Sprache. Stgt. 1845. Neudr. Vaduz 1977. – Vom dt. Geiste. Drei Bücher geschichtl. Ergebnisse. Erlangen 1848. 21850. – Über Dt. Rechtschreibung. Wien 1855. – Der Unterricht im Deutschen. Stgt. 31857. – Das dt. Wörterbuch

447 der Gebrüder Grimm u. die Entwicklung der dt. Schriftsprache. Wien 1858. – Dt. Versuche. Erlangen 1861. – Gesammelte sprachwiss. Schr.en. Ffm. 1863. Nachdr. Hildesh. 2004. – Forts. der Untersuchungen über die Urverwandtschaft der semit. u. indoeurop. Sprachen. Ffm. 1867. – Erläuterungen zu den Ergebnissen der Berliner orthograph. Konferenz. Halle 1876. – Offener Brief an Karl Frommann aus dem Jahre 1857. In: Phonetica 5 (1960), S. 1–3. Literatur: Ernst Steinmeyer: R. In: ADB. – Berthold Delbrück: Einl. in das Studium der indogerman. Sprachen. Lpz. 41904. – Irene SchmidtRegener: Der histor. Aspekt in der Sprachauffassung R. v. R.s. Grimm-Rezeption eines GrimmSchülers? In: Humboldt-Grimm-Konferenz. Protokollbd. 2, Bln. 1986, S. 127–136. – Dies.: ›... ich halte es an der Zeit [...]‹. Wurzeln u. Konsequenzen der Sprachauffassung R. v. R.s. In: Beiträge zur Erforsch. der dt. Sprache 8 (1988), S. 34–55. – Ulrich Schröter: Zur Gesch. der Germanistik im 19. Jh. am Beispiel des Briefw.s zwischen R. v. R. u. Jacob u. Wilhelm Grimm. In: Brüder-Grimm-Gedenken 14 (2001), S. 161–175. – Irena Regener: R. In: NDB. Wolfgang Putschke / Red.

Raupach, Ernst (Benjamin Salomo), auch: Emil Leutner, * 21.5.1784 Straupitz bei Liegnitz/Niederschlesien, † 18.3.1852 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Dramen- u. Lustspielautor; Verfasser erzählender u. politischer Schriften. Aus einer streng lutherisch u. preußisch gesonnenen Landpfarre gebürtig, besuchte R. trotz familiärer Not die Liegnitzer Stadtschule u. studierte 1801–1804 an der von Pietismus u. Aufklärung gleichermaßen geprägten Universität Halle Theologie, daneben Ästhetik, Mathematik, röm. Altertümer u. v.a. Geschichte. Statt sich als Hauslehrer in der Nähe seines Geburtsorts zu verdingen, folgte er seinem älteren Bruder Friedrich nach St. Petersburg. 1805–1822 wirkte er dort als Privaterzieher u. Kanzelredner, seit 1816 auch als Professor für Geschichte u. dt. Literatur. Kurz verheiratet mit der Prinzenerzieherin Cäcilie von Wildermeth, verließ er Russland nach deren frühem Tod im Kindbett, aber auch wegen nationalruss. Angriffe gegen den dt. Einfluss.

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Nach Reisen in Italien u. Deutschland samt einem fruchtlosen Besuch bei Goethe ließ R. sich 1824 in Berlin nieder, wo sein um 1810 geschriebenes Drama Die Fürsten Chawansky (in: Dramatische Dichtungen. Liegnitz 1818) über die russ. Wirren vor Peter dem Großen bereits 1820 Anklang gefunden hatte, ebenso seine weiteren Werke, z.B. die Tragödie Die Erdennacht (Lpz. 1820) mit ihrem Konflikt der Pflicht gegenüber dem Vater u. dem Vaterland; später sein Libretto zu Gasparo Spontinis letzter großer Oper, Agnes von Hohenstaufen (Bln. 1827); auch sein erstes Lustspiel, Kritik und Antikritik (1825. Hbg. 1827), über schriftstellernde Damen u. schon mit der stehenden Figur des komisch-räsonierenden Till, zu der später noch die des pfiffig-plumpen Dorfbaders Schelle kam. Bis 1842 versorgte R. die Berliner Theater mit über 100 Stücken. Daneben entstanden Erzählungen wie Die Christnacht (in: Jenaer Allgemeine Literaturzeitung, 1827) u. als Zeitsatire Leberecht Hirsementzels, eines deutschen Schulmeisters, Briefe aus und über Italien (Lpz. 1823; von Immermann in dessen Münchhausen parodiert), ferner polit. Schriften von der Rede Napoleon der Tyrann, der Unterdrücker, der Verderber Teutschlands (Dresden 1813) bis zu der gewagt antiaristokrat. Polemik Die Aufgabe der jetzigen Kammern (Bln. 1849) u. dem antiklerikalen Vortrag Der Aberglaube als weltgeschichtliche Macht (Bln. 1852). Meist in epigonalen Blankversen, folgen R.s Dramen dem idealistisch rhetorischen Schwung Schillers oft bis zu phrasenhaftem Bildungsprunk. Seine Lustspiele sind den eingängigen Erfolgsrezepten Kotzebues verpflichtet. Eigenständiger wirkt das kom. Gespann Till u. Schelle in possenhaften Stücken wie Die Schleichhändler (1828. Hbg. 1830) oder Der Nasenstüber (1830. Hbg. 1835), u. als langlebiger Sonderfall gilt Der Müller und sein Kind (1830. Hbg. 1835), ein sentimentales »Volksdrama« in histor. Einkleidung. Vorrang für R. hatte das Geschichtsdrama; als »eine Schule der Volksbildung« habe es »größere Glaubensfreiheit« u. die »Neugestaltung Deutschlands in unseren Tagen« zu fördern – so R. über die 16 Teile seines Hohenstaufen – Zyklus (1829–37). Neben histor. Komödien, einem Stück wie Der Nibelungen-

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Hort (1828. Hbg. 1835) u. dem Künstlerdrama Tassos Tod (1833. Hbg. 1835) dramatisierte er mehrfach Ereignisse der europ. Geschichte, z.B. in seiner Cromwell-Trilogie (1829–33. Hbg. 1841–44) mit antidemokrat. Tendenz, während sein spätes Drama Mirabeau (Bln. 1850) für eine konstitutionelle Monarchie mit strenger Trennung von Kirche u. Staat eintritt. Vermeintlich bloß Mode- u. Hofdramatik, wurde R.s vielseitiges Schaffen zu Unrecht bald vergessen. Weitere Werke: Dramat. Werke kom. Gattung. 4 Bde., Hbg. 1829–35. – Dramat. Werke ernster Gattung. 16 Bde., Hbg. 1835–43 (Bde. 5–12: ›Die Hohenstaufen‹. Ein Cyclus histor. Dramen. 1837). Literatur: Eduard Wolff: R.s Hohenstaufendramen. Diss. Lpz. 1912. – Curt Bauer: R. als Lustspieldichter. Diss. Breslau 1913. – Kurt Kohlweyer: R. u. die Romantik. Diss. Gött. 1923. – Ernst Riemann: R.s dramat. Werke ernster Gattung. Diss. Mchn. 1926. – Friedrich Sengle: Das histor. Drama in Dtschld. Stgt. 1969, S. 149–152. – Gertrud Maria Rösch: R. In: NDB. – Simone Staritz: Geschlecht, Religion u. Nation. Genoveva-Lit.en 1775–1866. St. Ingbert 2005. – Danielle Buschinger: E. R., ›Der Nibelungen-Hort‹ u. Heinrich Dorn, ›Die Nibelungen‹. Zwei Beispiele für die produktive Nibelungenlied-Rezeption im 19. Jh.. In: wort unde wise – singen unde sagen. Hg. Ingrid Bennewitz. Göpp. 2007, S. 223–236. Rainer Schönhaar † / Red.

Rausch, Albert Heinrich ! Benrath, Henry Rausch, Jürgen, * 12.4.1910 Bremen, † 8.6.1995 München. – Schriftsteller, Lyriker, Essayist. Nach dem Abitur studierte R. Philosophie, Germanistik u. Geschichte, wurde 1934 in Philosophie zum Dr. phil. promoviert u. habilitierte sich 1941 für dasselbe Fach an der Universität Jena (Habilitationsschrift: Der Urteilssinn. Eine logische Untersuchung. Bln. 1943). Dort lehrte er als Privatdozent von 1942 bis 1945. Während des Krieges, an dem er als Soldat teilnahm, geriet er in Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende u. Befreiung aus der Gefangenschaft ließ sich R. als freier Schriftsteller in München nieder. 1953–1958 war er als Lektor der Deutschen Verlagsan-

stalt tätig. Ab 1962 lehrte er als Prof. für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Bonn u. wurde 1967 deren erster Rektor. 1955 erhielt R. den Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie. 1947 trat R. mit einigen Gedichten in Erscheinung, an denen sich nicht nur bereits seine Liebe zu Italien ablesen lässt, sondern auch eine Vorliebe für die Symbolmontage als genuine Ausdrucksform. Sein Debüt als Prosaschriftsteller gab er zwei Jahre später mit dem schmalen Roman Nachtwanderung (Stgt. 1949), einer in elegischer Sprache verfassten u. sehr stark an der bibl. Genesis u. Dantes Comedia orientierten Dichtung. Der Text ist aus zahlreichen Traumvisionen u. Traumerlebnissen eines namenlosen Ich-Erzählers komponiert, welche sich kapitelweise aneinanderreihen. Schon diese Anlage erfordert geradezu eine psychoanalytische bzw. allegor. Lektüre. Wenn von der »finstere[n] Tiefebene des Todes, die [...] mit Leichen erfüllt ist«, gesprochen wird, tritt der zeitgeschichtl. Bezug des Romans klar zutage. Auch die beständige Reflexion des Ich-Erzählers über eine nicht näher geklärte Schuld, die ihm anhaftet, weist deutlich in diese Richtung (»Du bist kein Zuschauer, du bist Zeuge gewesen«). Robert Minder lobte den Roman als »symbolische Verdichtung unserer Zeit«. Das Dritte Reich u. dessen Bewältigung ist aber nur einer der zentralen Bezugspunkte des Romans. Daneben steht die Suche des IchErzählers nach der Wirklichkeit seines eigenen Selbst im Mittelpunkt des Geschehens. Immer wieder geht es dabei um die alte, schon von Platon u. Augustin diskutierte Frage, was denn eigentlich Wirklichkeit sei u. was Traum u. wie sich beides unterscheiden lasse. Dieses theoret. Problem analysiert R.s Erzähler allerdings nicht nur, sondern er erlebt es auch: als Grundgefühl einer ungeheuren existenziellen Verunsicherung: »Hier liege ich [..] zwischen einem Traum, von dem ich hoffe, daß er nicht Wirklichkeit war, und einer Wirklichkeit, von der ich hoffe, daß sie ein Traum ist, und so zusammengepreßt fliehe ich ins Unmögliche – in’s Nichts!« Die Flucht ins Nichts steigert sich am Ende zur jäh auffahrenden Erkenntnis, dass alle ge-

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träumten Figuren u. Begebenheiten nur Selbstbegegnungen waren; alles geschah – so heißt es in Anspielung auf Hoffmanns Sandmann – »in rasender Drehung um mich selbst«. Der 1953 in Stuttgart erschienene Tagebuch-Roman In einer Stunde wie dieser behandelt das Thema der Nazi-Vergangenheit Deutschlands auf eine völlig andere Weise als Nachtwanderung. Er beruht weitgehend auf R.s eigenen Aufzeichnungen aus der Zeit der ital. Kriegsgefangenschaft u. des Kriegsendes. Nicht eine groteske Traumwirklichkeit bildet jetzt den Hintergrund des Erzählten, sondern die histor. Ereignisse der Jahre 1945–1947 – entrückt freilich in die Ruhe u. Einsamkeit einer Almhütte in den Dolomiten. Das viel gelobte Buch blieb – vom Tagebuch einer Sizilienreise abgesehen (Reise zwischen den Zeiten. Aufzeichnungen in Sizilien. Düsseld./Köln 1965) – R.s letztes größeres Prosawerk von Rang. In der Folgezeit konzentrierte er sich vornehmlich auf seine Tätigkeit als Essayist u. Rezensent, was gelegentliche lyr. Arbeiten nicht ausschloss. Weitere Werke: Ernst Jüngers Optik. Stgt. 1951. – Der Mensch als Märtyrer u. Monstrum. Stgt. 1957 (Ess.s). – Die Hl. Drei Könige auf der Reise. Weihnachtserzählung in Versen. Zürich 1969. – Gedichte. Stgt. 1978. – Der Eindringling. Stgt. 1978. Marco Schüller

Rauscher

Warschau geschickt, wo er bis zu seinem überraschenden Tod zu einem der bedeutendsten Diplomaten der Weimarer Republik aufstieg. R.s bibliophil gestalteter Erstling Das Abenteuer des Herrn von Florville. Ein RoKoKo-Akt (Straßb. 1909) ist eine epigonale, galante Erotikintrige um eine Marquise von Albon. Der Roman Richard Dankwards Weltgericht (Ffm. 1911) wird fast vollständig, wenn auch in Er-Form, aus der Innenperspektive der Zentralfigur erzählt u. weist gelegentlich pathetisch-expressionist. Elemente auf: Ein wohlhabender Rechtsanwalt steigt plötzlich aus seinem bürgerl. Berufsleben aus u. fühlt sich immer mehr zum Initiator einer blutigen Revolution berufen, die auf vagen Ideen u. a. von anarch. Antibürgerlichkeit u. animal. Erotik beruht. In der Broschüre Der Krieg und die Literatur (Mchn./Bln. 1914) plädiert R. für die Freigabe einer Literatur, die nicht unmittelbar u. direkt im Dienste des Krieges steht. Weitere Werke: Die Kriegspflicht der Daheimgebliebenen. Mchn. 1914. – Paris – Moskau in Deutschlands Außenpolitik. Bln. 1920. – Herausgeber: 40 Jahre aus dem Leben eines frz.-preuß. Offiziers. 3 Bde., 1915. Literatur: Kurt Doß: Zwischen Weimar u. Warschau. U. R. Dt. Gesandter in Polen 1922–30. Eine polit. Biogr. Düsseld. 1984. Walter Olma

Rauscher, Ulrich, * 26.6.1884 Stuttgart, Rauscher, (nach Taufmatrikeln: Rauch), † 18.12.1930 St. Blasien/Schwarzwald. – Wolfgang, * 10.4.1641 Mühldorf/Inn, Journalist, Romancier, Dramatiker. † 11.6.1709 München. – Jesuit, Prediger. R. entstammte dem gehobenen Bürgertum. Er studierte in Heidelberg Jura u. arbeitete in Straßburg, ab 1914 in Berlin – v. a. für die »Frankfurter Zeitung« – als Journalist, häufig im Bereich Feuilleton. Zu dieser Zeit entstand auch sein schmales literar. Œuvre. Während des Ersten Weltkriegs war er im Dienste der Regierung im besetzten Brüssel tätig; das polit. Buch Belgien heute und morgen (Lpz. 1915) entsprang diesem Tätigkeitsfeld. Gegen Ende des Krieges war R. Unteroffizier an der Westfront. Politisch wandte er sich der Sozialdemokratie zu. 1919 Pressechef der Reichsregierung, wurde er Ende 1920 als Gesandter nach Georgien, Anfang 1922 nach

R. trat im Alter von 17 Jahren in den Jesuitenorden ein u. verbrachte das Noviziat in Landsberg/Lech, studierte Rhetorik u. Philosophie in Augsburg u. Ingolstadt, wo er sich 1667–1671 intensiver der Theologie zuwandte. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Professor der Philosophie in Landshut u. Freiburg i. Br. widmete er sich zunehmend der Kanzeltätigkeit, u. a. 1685–1691 u. 1695–1698 als Domprediger in München. 1698–1701 war er Rektor in Luzern, ab 1707, von Krankheit geplagt u. daher seiner Ämter enthoben, wieder in München. Der Nekrolog rühmte R.s bes. Frömmigkeit u. ungewöhnl. Geistesgaben wie auch die Herausgabe

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»weltberühmter Predigten« in jeweils stattl. cke. Nottingham 1979, S. 4–13. – E. Moser-Rath: Foliobänden. Sonntagspredigten erschienen Lesestoff fürs Kirchenvolk. Lektüreanweisungen in u. d. T. Oel und Wein deß mitleidigen Samaritans kath. Predigten der Barockzeit. In: Fabula 29 für die Wunden der Sünder (3 Tle., Dillingen (1988), S. 48–72. – Patricia Ophelders-van Neerven: Zum Exempelgebrauch bei W. R. Prolegomena zur 1689–98. 21695–98), ein Festivale als Marck Erforsch. seiner Predigten. In: Grenzgänge [...]. FS der Cederbäum. Das ist Lobwürdige Thaten, un- Hans Pörnbacher. Hg. Guillaume van Gemert u. a. sträffliche Sitten, heiliger Wandel [...] Christi (2 Amsterd. u. a. 1990, S. 111–140. – E. Moser-Rath: Tle., Dillingen 1689–94). Dazu lieferte R. Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen [...]. Stgt. Fastenpredigten u. d. T. Blutiges und unblutiges 1991, passim. – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Opffer Jesu Christi (Augsb./Dillingen 1698), Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. acht Kanzelreden zur Passion, Trauben-Preß 1994, passim. – Theorien zu Fabel, Parabel u. biß auff den letsten Bluts-Tropffen (Dillingen Gleichnis. Hg. Reinhard Dithmar. Ludwigsfelde Elfriede Moser-Rath † / Red. 1689. 21695), u. eher heitere, für den Vortrag 2000. an den Osterfeiertagen bestimmte Diskurse als Zugab etwelcher Predigen von der guten und Rauschnick, Rauschnik, Gottfried Peter, schlimmen Haußhaltung (Dillingen 1695). Eine auch: P. Rosenwall, * 10.9.1778 (oder fünfbändige Gesamtausgabe der Predigten 1779) Königsberg, † 13.5.1835 Leipzig. – erschien 1728 in Augsburg. Verfasser populärgeschichtlicher Werke R. stand berechtigterweise über viele Jahre u. von Unterhaltungsliteratur. auf den vornehmsten Kanzeln Bayerns. Seine Predigten sind sprachgewandt, klug, leben- R., über dessen Herkunft u. Ausbildung wedig u. ausgewogen in Ernst u. Heiterkeit, nig bekannt ist (möglicherweise war er Arzt), überdies von beachtlichem kulturhistor. widmete sich zunächst der Landwirtschaft u. Quellenwert. Aus vielen eher beiläufigen Be- kaufte 1807 ein Landgut in Ostpreußen. Nach merkungen wird ein nahes u. warmherziges ausgedehnten Reisen privatisierte er von Verhältnis zum Kirchenvolk spürbar. Des 1815 an zunächst in Frankfurt, später in allzu häufigen Gebrauchs der Fremdwörter Mainz u. Bonn. Unter dem Pseud. »Ph. Rohabe er sich bewusst enthalten, »weilen senwall« veröffentlichte er Reisebeschreihierdurch die Zierd der Teutschen Sprach nur bungen in Briefform (Bemerkungen eines Russen verdunckelt« werde, der gelehrte Leser u. über Preußen und seine Bewohner. Gesammelt auf einer im Jahre 1814 durch dieses Land unternomZuhörer bei einer allzu »prächtig auffgemenen Reise. Mainz 1817). Erfolgreich waren mutzten Predigt nichts / als Mucken fangt; v. a. seine Gespenstersagen (2 Bde., Rudolstadt das gemaine Mann aber gerad nichts ver1817 f.), eine Sammlung von Schauererzähsteht«. Seine Konzepte sollten »auch die lungen, die sich an dem beliebten »GespensPfarrer auff dem Land werden brauchen terbuch« (1810 f.) von Johann A. Apel u. können«. Kaum ein anderer hat über den Friedrich Laun orientieren. R. veröffentlichte Predigtstil des Barock so eingehend reflekinnerhalb weniger Jahre zahlreiche Grusel- u. tiert, immer bemüht, weniger gebildeten u. Liebesgeschichten in der Art der melodramat. eloquenten Amtsbrüdern Hilfestellung zu Unterhaltungsliteratur von Christian Heingeben u. den Laien Verhaltensmuster u. Lekrich Spieß oder Josef Alois Gleich. Seine Kötüreanweisungen zu bieten. nigskerzen. Eine Sammlung romantischer und Literatur: Bibliografien: Kat. gedr. deutschspra- abentheuerlicher Erzählungen (2 Bde., Mainz chiger Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, 1819) stehen in der novellist. Tradition mit Wien 1984, S. 218–221; Bd. 2, ebd. 1987, S. 745 f. – einer Rahmenhandlung. Eine Gruppe VD 17. – Weitere Titel: E. Moser-Rath: PredigtmärKriegsflüchtlinge vertreibt sich im Jahre 1806 lein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 179–212. – Hubert Rauscher: Die Barockpredigten des Jesuiten- auf einer einsamen Burg mit dem Erzählen paters W. R. in volkskundl. Sicht. Diss. Mchn. 1973. außergewöhnlicher, vorgeblich selbsterlebter – P. V. Brady: Realism and the Bavarian ›Barock- Begebenheiten die Zeit. Auch die Päonien. Eine predigt‹. W. R. (1641–1709). In: Formen realist. Sammlung von Erzählungen, Mährchen, Sagen und Erzählkunst. FS Charlotte Jolles. Hg. Jorg Thune- Legenden (2 Bde., Mainz 1820) knüpfen an

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frühere Erfolge des »Verfassers der Gespenstersagen«, wie die Autorenbezeichnung lautet, an. Mit der Sammlung histor. Anekdoten Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der Vorzeit (2 Bde., Marburg/Cassel 1822/23) begann R. eine Reihe populärgeschichtlicher Veröffentlichungen, u. a. zum Bürgerthum und Städtewesen der Deutschen im Mittelalter (3 Bde., Dresden 1829 f.) u. zur Geschichte des deutschen Adels (4 Bde., Dresden 1831). Seit 1819 redigierte R. zunächst in Elberfeld u. Schwelm verschiedene Zeitungen u. lebte von 1827 bis zu seinem Tod in Leipzig. Weitere Werke: (unter Pseud.) Malerische Ansichten u. Bemerkungen, ges. auf einer Reise durch Holland, die Rheinländer, Baden, die Schweiz u. Württemberg. 2 Bde., Mainz 1818. – Kaiserkronen. Eine Slg. v. romant. u. abentheuerl. Erzählungen. 2 Bde., Elberfeld 1820/21. – Pragmatisch-chronolog. Hdb. der europ. Staaten-Gesch. 3 Bde., Schmalkalden 1824 f. – Züge aus dem Pfaffenthum der Deutschen im MA. Lpz. 1833. Literatur: Bibliografie: NND. Jg. 13, 1835 (1837), Kurze Todesanzeigen Mai. – Hamberger/ Meusel 19, S. 255 f. – Goedeke 10, S. 154–155. – Weitere Titel: Franz Brümmer: Dt. Dichterlexikon. Bd. 2, Eichstätt 1877. – Altpr. Biogr. 3, S. 1047. – Kosch 12, Sp. 657. – Gero v. Wilpert: Die dt. Gespenstergesch. Stgt. 1994, S. 232. Nicolas Detering

Rautenberg, Arne, * 10.10.1967 Kiel. – Lyriker, Prosa-Autor, bildender Künstler, Feuilletonist. R. studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft u. Volkskunde in Kiel (1994–1999), seit 2000 arbeitet er als freier Schriftsteller u. Künstler, Rezensent u. Feuilletonist für verschiedene Zeitungen. Seit 2006 ist er zudem als Lehrbeauftragter der Kieler MuthesiusKunsthochschule tätig. Schwerpunkt von R.s Schaffen ist sein lyr. Werk, daneben entstanden Hörstücke, Kurzgeschichten, ein Roman, Essays sowie bildkünstlerische Arbeiten (Collagen, Schriftinstallationen), die seit 1990 in mehreren Ausstellungen in Kiel, Hamburg, Graz, Lauenburg, Wien u. Klagenfurt gezeigt wurden. R. arbeitet formal äußerst heterogen. Unverkennbar in der Traditionslinie moderner Lyrik (Dadaismus, Expressionismus, Futuris-

mus, Konkrete Poesie) stehen die experimentellen, alliterativ, assonant u. assoziativ strukturierten Texte der ersten Gedichtbände (Neondämmerlicht. Lintig-Meckelstedt 1996. DAR ERNST DIS LOBUNS. Siegen 1997), die in zersetzendem Sprachspiel, in monoton wiederholten Silbenrhythmen bisweilen die Grenze zur Nonsenslyrik übertreten u. an Kurt Schwitters’ reine Klangpoesie erinnern. Überraschend werden jedoch diese tautophonen Klangassoziationen durchbrochen; im parodist. Buchstabentausch treten erneut semant. Elemente ins Spiel. Für die Entwicklung von R.s poetolog. Standpunkt sind zudem Einflüsse des amerikan. Underground u. z.T. verwandter deutschsprachiger Erscheinungen (Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Ploog, daneben Ernst Jandl, Horst Janssen, Arno Schmidt) richtungsgebend: R. entscheidet sich für eine formale Befreiung gegen »poetische Selbstbegrenzung in Ausdrucks- und Stilfragen, wie sie von vielen Kollegen praktiziert wird« (Essay über Jandl, etc is poetry – poetry is etc. In: Ernst Jandl: Musik, Rhythmus, radikale Dichtung. Hg. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2005, S. 91–97). R.s erklärte Programmlosigkeit, die ihm bisweilen den Vorwurf der Beliebigkeit oder Trivialität eintrug, führt mitnichten zu formaler Indifferenz, sondern zu gekonntem Wechsel von elaborierter Formgebung (im aufwendigen Gedichtzyklus bergeller rondelle. 2010) u. unbekümmerter Sprachbehandlung. Tradierte Gedichtformen werden auf- u. angegriffen, so die Form japan. Haikus, die R. nicht als erbauliche, gedanklich geschlossene Weltminiaturen realisiert, sondern ihrer Kontemplativität u. meditativen Ausgewogenheit beraubt u. zur unaufhörlich fortsetzbaren, in Binnenreimen automatisierten Litanei verlängert (Benetton-SchockHaiku in vermeeren, zus. mit Jonathan Meese u. Ulrike Draesner. Köln 2006). Ähnlich »gattungsresistent« gestaltet R. als Genre-Amalgamierung »Kindergedichte für Erwachsene« (neunmalneun blutsbrüder betreun. Zeichnungen v. J. Meese. Kiel 2008), die nicht Possierliches oder Lehrhaftes erzählen, sondern durch Umschlag in Vulgarismen u. Bosheiten Gattungserwartungen subvertieren. Eine komplexe Gattungserweiterung entwickelt R. mit

Rautenkranz

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seinen palindromisch angeordneten Kreisge- Rahmen verschiedener Literaturfestivals entdichten (einblick in die erschaffung des rades. standen Übersetzungen von R.s Gedichten Köln 2004), die sich, doppelt kreisförmig ge- ins Englische, Spanische, Polnische u. Walisetzt, in Vorwärts- u. Rückwärtsbewegungen sische. als unendl. Gedichte lesen lassen. Inhaltlich Weitere Werke: Detaillierter Nachweis der auf den Gegenstand der Rundung bezogen, Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften u. Samwirken sie nicht nur in ihrer opt. Gestalt, melbänden sowie bildkünstlerischer Arbeiten auf sondern können auch in akust. Fassung be- der Autorenwebsite: http://www.arnerautenstehen (Gräf). Noch deutlicher im Über- berg.de/). – Gedichtbände: Dislimitation. Mit einem gangsbereich von Wort- u. Bildkunst, von Vorw. v. Christopher Ecker. Florida 1995 (engl.). – alle hebel umgelegt auf faulen fisch. Sulzbach Text u. Muster, damit einer Spielart Konkre1999. – hoppe hoppe rei rei rei. Zus. mit Johanna ter Poesie verbunden, stehen R.s zahlreiche Ludwig. Kiel 2005. – träumende eulen. Zus. mit »optische Gedichte«, z.B. Textposter, die fort- Katharina Jesdinsky. Kiel 2006 (Kinderg.e). – poeschreitende anagrammat. Textauflösung ins mas no escritos. ungeschriebene gedichte. Córdoba Bild setzen (Kurzes Black und langes Out in 2009 (span. u. dt.). – gebrochene naturen. Wiesb. HONEY MAKES THE WORLD GO ROUND. Kiel 2009. – Essays: Zwischen Bubble-Gum u. Elfen2007). »Frei und losgelöst von der Inhalts- beintürmchen-öffne-dich. In: DAS GEDICHT 11 last« wirke das Wort bei Betonung der Bild- (2003/04), S. 95–98. – In Meeressphären. Eine lichkeit von Schrift, nahe liegt hier die posi- Nordlichterei u. eine poet. Reflexion. In: NZZ, tive Bezugnahme auf Graffiti-Kunst, die R. 30.8.2003. – Hörspiel: sag die zukunft voraus – In temple with furby. ARD 2006. – Gedichtverfilmung: reflektiert als weltweit verbreitete »literariLars Büchel, Friederike Jehn u. a. (Regie): nichts sche Subkultur«, als Wortkunst, deren Leere weiter als. Hbg. 2006. u. Hermetik allerdings die »träge LiteraturLiteratur: Sylvia Geist: ›in uns das genossene wissenschaft uninteressiert« lasse (in Pimp my land‹. Über neue Lyrikbände v. A. R., Peter Piontek Word – Graffiti und die Emanzipation der Schrift- u. Anja Utler. In: die horen 45 (2000), S. 236–238. – kunst. In: Volltext 4, 2007). Peter Geist: Bewertung zu A. R.s ›barbarenlichter‹. R.s Debütroman Der Sperrmüllkönig (Hbg. [online] Hannes Luxbacher, Andreas R. Peternell, 2002) erzählt die Geschichte eines Sonder- Werner Schandor: www.literaturboerse.com, steilings, Hartmut, Archivar u. Resteverwerter rischer herbst, 2001. – Gustav Mechlenburg: der Wohlstandsgesellschaft, dessen Sammel- Schmalspurweisheiten. Zu A. R.s ›Der Sperrmüllleidenschaft zgl. zum poet. Prinzip wird: könig‹. In: textem, 4 (2002). – Thomas Kraft: A. R. »ready wrotes«, Fundstücke sprachl. Alltags- In: LGL. – Dieter M. Gräf: Vorw. In: einblick in die erschaffung des rades. a. a. O., S. 5 f. – Ulrike welt finden hier Eingang in den literar. Text. Draesner: Nachw. In: vermeeren, a. a. O., S. 87 f. – »Found poetry« u. »Abfall-Ästhetik« sind Gertrude Cepl-Kaufmann: A. R.. In: acoustic turn. bezeichnend für die Offenheit von R.s Lite- Hg. Petra Maria Meyer. Mchn. 2008, S. 249–259. raturbegriff, der durch Verweigerung einClaudia Löschner deutiger Botschaften wie eines ästhet. Programms, durch die Betonung der performativen Aspekte literar. Texte (Lesungen im Rautenkranz, Johann Wenzel, * Wien, Rahmen von Kunstperformances, Poetry † 14.9.1830 (?) Innsbruck (?). – GelegenSlam-Auftritte) deutl. Bezüge zu aktuellen heitslyriker. popliterar. Tendenzen u. postmodernen Schreibweisen aufweist. Von R.’ Lebensdaten ist kaum etwas bekannt. Unter zahlreichen Auszeichnungen erhielt Der Provinzial-Stadtbuchhalter Wenzel RauR. ein Jahresstipendium des Landes Schles- tenkranz ermöglichte seinem Sohn ein Jurawig-Holstein (1996/97), ein Stipendium des studium an der Innsbrucker Universität. Klagenfurter Literaturkurses (1999), ein Ar- Nach Abschluss des Studiums trat R. in den beitsstipendium des Landes Schleswig-Hol- Staatsdienst ein. Seit 1817 Gerichtsregistrant stein (1999), den 3. Lyrikpreis der Akademie in Bozen, avancierte er 1823 schließlich zum Graz (2001) u. den Förderpreis für satirische Innsbrucker Gerichtskanzlisten. 1824 kehrte Literatur von Random House (2002). Im er in gleicher Funktion nach Bozen zurück.

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R. erregte um die Wende vom 18. zum 19. Jh. im oberbayerisch-tirolerischen Raum durch seine verstreut publizierten Gelegenheits- u. Huldigungsgedichte auf einfache Geistliche, Kirchenfürsten, Adelige u. Militärs (z.B. Auf den Retter Tyrols. Innsbr. 1797. Auf den Lorbeersammler S. K. Hoheit den Erzherzog Karl. Innsbr. 1799) Aufmerksamkeit. Obwohl eigenen Aussagen nach literar. Autodidakt, weiß sich R. in seinen Oden u. Liedern deutlich Klopstocks Odendichtung, dem Göttinger Hain u. der Bardenpoesie verpflichtet. Mangelnde Originalität u. Unzeitgemäßheit kamen freilich im süddt. Raum wenig zu Bewusstsein. Dort erfreuten sich die von R. endlich gesammelten u. z.T. im Selbstverlag publizierten Gedichte (Poetische Früchte meiner Nebenstunden. Ffm./Lpz., recte Bregenz 1802. Poetische Blüthen und Früchte. Bregenz 1805. Poetische Blumen. Bregenz 1807. Blumenstrauß für Musen und Menschenfreunde. 2 Bde., Mchn. 1810 u. ö. Oden. Kempten 1824) in adeligen Kreisen großer Beliebtheit. Literatur: Goedeke 6, S. 66 f. – Simon Marian Prem: Gesch. der neueren dt. Lit. in Tirol. Bd. 1, Innsbr. 1922. Gerda Riedl / Red.

Rautenstrauch, Johann, auch: Salzmann, * 10.1.1746 Erlangen, † 8.12.1801 Wien. – Dramatiker, Lyriker; Verfasser historischer u. kirchenpolitischer Schriften. R. kam vor 1768 nach Straßburg u. entfaltete dort eine rege publizist. Tätigkeit; er schrieb Gelegenheitsgedichte wie Das beglückte Straßburg (1768), das er als seine Vaterstadt preist, gab die »Realzeitung von Straßburg« heraus, besang den Einzug der Erzherzogin Maria Antoinette in Straßburg am 7.5.1770 in einem Gedicht. Im Herbst verließ R. die Stadt u. reiste über Ulm nach Wien. Er suchte dort über Christian Gottlob Stephanie d.Ä. Anschluss an das Theater zu finden, konvertierte zum Katholizismus, studierte Jura, wurde Lizentiat der Rechte, gab die Jurisprudenz auf u. versuchte sich als Theaterschriftsteller. Das Landstraßer Theater, das er 1789 erwarb u. dessen Direktor er war, ging nach kurzer Zeit ein. Seine Tätigkeit hatte sich ohnehin seit Mitte der 1770er Jahre von der Theaterschriftstellerei auf die politische, histor. u.

Rautenstrauch

kirchenpolit. Publizistik verlagert. R. war glühender Anhänger der Reformpolitik Josephs II. u. begab sich streitlustig, auch mit großer Zivilcourage, ins Handgemenge seiner Zeit. Nach dem Tod Josephs II. (20.2.1790) erhielt er eine kaiserl. Pension u. veröffentlichte nur noch wenige Gelegenheitsgedichte. Zu R.s literar. Œuvre gehören Dramen, Lyrik u. erzählende Prosa. Er übersetzte das Lustspiel Die unversehene Wette (Wien 1771) aus dem Französischen des Michel Jean Sedaine (La gageure imprévue, 1768). Am bekanntesten ist das Lustspiel Der Jurist und der Bauer (Wien 1773), das allein in Wien innerhalb von knapp zwei Jahren 24-mal aufgeführt u. im gesamten Reichsgebiet gespielt wurde. Bis 1856 ist es im Mannheimer Nationaltheater 81-mal zur Aufführung gekommen – 1785 unter Ifflands Mitwirkung. Die Bernersche Schauspielergesellschaft spielte es 1782 in Bern; 1788 wurde es in Weimar, 1791 in Frankfurt/M. gegeben, in Hamburg sogar noch 1833/34. Aufführungen sind ferner belegt für Bremen, Königsberg, Berlin, Dresden, Salzburg u. Zagreb. Dieses Lustspiel, das R. weit über Wien hinaus bekannt machte, thematisiert einen Prozess, in dem zwei Bauern mit ihren Anwälten um Eigentumsrechte streiten. Über das eigentl. Verfahren hinaus gestaltete R. Herrschafts- u. Knechtschaftsverhältnisse, führte das Recht vor u. die Möglichkeiten seiner Beugung. R.s Gelegenheitslyrik ist thematisch vielfältig. Sie umfasst Hymnen bei kaiserl. Veranstaltungen u. patriot. Kriegslieder für Josephs Heere (Wien 1778) ebenso wie humorist. Gedichte (Vorlesungen für den Fasching. Wien 1775) u. das Bänkellied. R.s histor. Schriften befassen sich, wie schon die Jahrbücher der Regierung Marien Theresiens (Übers. aus dem Französischen des Fromageot. Wien 1776) zeigen, mit der österr.-habsburgischen Monarchie. Der Oesterreichische Kriegs-Almanach behandelt den Bayerischen Erbfolgekrieg (1778/79) u. erlebte zwei Auflagen. In die öffentl. Polemik um die von den Wiener Zeitgenossen sehr kritisch aufgenommene Biographie Marien Theresiens (Wien 1779) schaltete sich die Kaiserin auf Drängen R.s selbst ein.

Rauwolf

R.s kirchenpolit. Schriften lesen sich zusammengefasst als Plädoyer für die Reformen Josephs II., deren Wert R. der kath. Geistlichkeit nahezubringen suchte, wie z.B. in der Abhandlung Traum von einem Hirtenbrief (Wien 1783). Sie provozierte heftige Kontroversen, was R. lediglich zu verschärften Angriffen auf alle Gegner der Reform herausforderte mit den satir. Erzählungen Der Teufel in Wien (Wien 1783) u. dessen Fortsetzung Der Teufel in den Vorstädten (Wien 1783). Hier begutachtet der Teufel auf einer Inspektionsreise durch Wien v. a. die kirchl. Einrichtungen. Am Ende muss er einräumen, daß die staatl. Reformen ihm selbst u. nicht der Kirche geschadet haben. Weitere Werke: Die Vormundschaft, oder Der Strich durch die Rechnung. Augsb. 1775 (Lustsp.). – Josephs siebente Reise. Ein Vaterlandslied. Wien 1778. – Oesterr. Kriegslieder. Wien 1779. Literatur: Eugen Schlesinger: J. R. Biogr. Beitr. zur Gesch. der Aufklärung in Österr. Wien 1897. – Eva-Marie Loebenstein: J. R. u. seine Biogr. Maria Theresias. In: Österr. in Gesch. u. Lit. 15 (1971), S. 25–31. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Wien 2 1995. Friedhelm Auhuber / Red.

Rauwolf, Rauwolff, Leonhard, * um 1540 Augsburg, † 15.9.1596 bei Hatvan/Ungarn. – Arzt; Botaniker, Verfasser einer Reisebeschreibung. R. entstammte einer Augsburger Kaufmannsfamilie. Im Nov. 1556 nahm er in Wittenberg das Studium auf, das er 1560 an der medizin. Fakultät der Universität Montpellier bei Guillaume Rondelet fortsetzte. Dort spezialisierte er sich auf die Botanik, in Südfrankreich u. Italien legte er bedeutende Herbarien an. 1562 erwarb er in Valence den Doktorgrad der Medizin. Nach Deutschland zurückgekehrt (unterwegs Bekanntschaft mit Konrad Gesner in Zürich u. Leonhart Fuchs in Tübingen), praktizierte er in Aichach u. Kempten, um sich schließlich 1571 in Augsburg als Stadtarzt zu etablieren. Seine verwandtschaftl. Verbindung mit dem Handelshaus der Manlich, die von Augsburg aus den dt. Levantehandel organisierten, ermöglichte ihm seine große Forschungs- u. Sammelreise in den Orient. Als erbaulich für Christen,

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»nutzbarlich« für Apotheker u. Ärzte u. »erlustigend« für den gutherzigen Leser schätzte er seine Ausführungen ein. Am 1.9.1573 trat R. in Begleitung von Hans Ulrich Krafft die Seereise nach Syrien an. In seinen Notizen, die für die Reisebeschreibung Kraffts sehr einflussreich wurden, beschreibt er Dattelpalmen, Zuckerrohr u. Kaffeebohnen, Krankheiten u. Arzneien, Essgebräuche u. Lebensgewohnheiten, die Architektur der Häuser, die Topografie der Städte u. der hl. Orte. Er mischt Topos- u. Erfahrungswissen, zitiert Theophrast, Galen u. Avicenna, berichtet aber auch recht eigenständig über fremde Religionen u. die Christen in der Fremde. In der Verkleidung eines armen. Kaufmanns begibt er sich nach Bagdad, erkundet die Möglichkeit, nach Indien zu reisen, wird aber nach Aleppo zurückberufen u. entgeht nur knapp dem Schicksal Kraffts, der nach dem Bankrott der Manlich von den türk. Behörden in Haft genommen wurde. Er besucht u. beschreibt den Libanon, Jaffa u. Jerusalem u. kehrt über Tripolis (Nov. 1575) u. Venedig nach Augsburg zurück (Febr. 1576). R. wird Leiter des Pestspitals in Augsburg, Medicus in Linz (1588), begleitet das österr. Militär in den Türkenkrieg u. stirbt bei der Belagerung von Hatvan. Die ersten Ausgaben seiner Reisebeschreibung erschienen 1582 in Lauingen u. in Frankfurt/M., eine Ausgabe mit 42 Holzschnitten von Pflanzenbildern 1583 in Lauingen, Nachdrucke im Reyßbuch deß heyligen Lands Siegmund Feyerabends (Ffm. 1584 u. 1609), engl. u. niederländ. Übersetzungen noch im 18. Jh. Die oriental. Pflanzensammlung R.s wanderte durch Schweden, England u. Holland (heute im Rijksherbarium Leiden). Die nach ihm benannte Rauwolfia hat als Heilpflanze so große Bedeutung, dass die Pharmaindustrie 400 Jahre nach Abschluss der Reise ein Faksimile der Schrift herausgab. Ausgaben: Leonharti Rauwolfen, der Artzney Doctorn, u. bestelten Medici zu8 Augspurg. Aigentl. beschreibung der Raiß, so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer [...] selbs volbracht [...]. Lauingen 1582. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Dass.: Nachdr. Hann. 1977. – Dass.: Lauingen

455 1583. Nachdr. mit Einl. v. Dietmar Henze. Graz 1971. – Dass.: Nachdr. Ffm. 1995. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 25, S. 363 f. – Weitere Titel: Friedrich Ratzel: L. R. In: ADB. – Vaira Tempel: Medizin u. Pharmazie in L. R.s ›Aigentliche beschreibung der Raiß ...‹. Lauingen 1582. Diss. Düsseld. 1967. – Karl H. Dannenfeldt: L. R., Sixteenth-Century Physician, Botanist, and Traveler. Cambridge 1968. – Fritz Junginger: L. R., ein schwäb. Arzt, Botaniker u. Entdeckungsreisender des 16. Jh. Heidenh. 1969. – Wolfgang Neuber: Grade der Fremdheit. Alteritätskonstruktion u. experientia-Argumentation in dt. Turcica der Renaissance. In: Europa u. die Türken [...]. Hg. Bodo Guthmüller u. Wilhelm Kühlmann. Tüb. 2000, S. 249–265. – Romy Günthart: Ein Botaniker im Hl. Land. L. R.s ›Aigentliche beschreibung der Raiß inn die Morgenlander‹. In: Nova Acta Paracelsica 15 (2001), S. 25–40. – Mark Häberlein: L. R. In: NDB. – Swetlana Beloschnitschenko: Deutschsprachige Pilger- u. Reiseber.e des 15. u. 16. Jh. [...]. Osnabr. 2004. – M. Häberlein: ›Mehrerlay Secten vnnd Religionen‹. Der Augsburger Arzt L. R. u. die Erfahrung religiöser Vielfalt im 16. Jh. In: Gesch. in Räumen. FS Rolf Kießling. Hg. Johannes Burkhardt u. a. Konstanz 2006, S. 225–240. – Ders.: Botan. Wissen, ökonom. Nutzen u. sozialer Aufstieg im 16. Jh. Der Augsburger Arzt u. Orientreisende L. R. In: Humanismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. Gernot Michael Müller. Bln./New York 2010, S. 101–116. Horst Wenzel / Red.

Rave, Judith, geb. Freiin von Scheither, auch: Molly, † um 1805. – Erzählerin. Die Tochter eines hannoverschen Generals wuchs in Berlin im Haus ihres Onkels, des Ministers von Horst, auf. 1789 heiratete sie den Pastor Siegfried Rave, mit dem sie in Groß-Solschen bei Hildesheim lebte. Nachdem sich beide untreu geworden waren, trennten sie sich. R. lebte daraufhin in ärml. Verhältnissen in Dessau u. Halle, arbeitete als Lehrerin in Hildesheim u. schließlich als Erzieherin im Haus des preuß. Ministers Julius Ernst von Buggenhagen. Unter dem Pseud. Molly publizierte sie zwei empfindsame, weitgehend unbeachtet gebliebene Romane: In Molly’s Bekenntnisse, oder so führt Unbefangenheit ins Verderben; eine wahre Geschichte zur Warnung für alle Wildfänge unter den heiratslustigen Mädchen (Lpz. 1804)

Rebhuhn

verarbeitete sie ihre eigene Lebensgeschichte; in Der Regenstein, oder die glückliche Einsamkeit (Rudolstadt 1816) trat R. zumindest auf dem Gebiet der Moral u. Herzensbildung gegen das »traurige Vorurteil, daß ein Mann anders handeln dürfe als ein Weib« (S. 43), ein. Weitere Werke: Chronolog. Verse zu Brandenburgs Gesch. bis auf Friedrich II., König v. Preußen, im Geschmack v. Voltaire u. Kroneck’s Kaisergesch. zur Erleichterung der Jahreszahlen, für Kinder von 10 bis 14 Jahren. Ein Versuch. Lpz. 1805. Literatur: Carl Wilhelm Otto August v. Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bd. 2, Lpz. 1825. – Brümmer 2. – Goedeke 6, S. 431. Sabine Lorenz / Red.

Rebhuhn, Rebhun, Paul, lat.: Paulus Perdix, * um 1500 Waidhofen/Ybbs, † 1546 Oelsnitz/Sachsen. – Katechet u. Dramatiker. Der Sohn eines Rotgerbers studierte wahrscheinlich in Wittenberg. Als Kantor zu St. Marien u. Lehrer der Lateinschule wirkte er seit 1526 in Zwickau, 1529–1535 in Kahla/ Saale. Von der Bürgerschaft wurde hier am ersten Fastensonntag 1535 R.s bedeutendstes Drama aufgeführt: Ein Geistlich Spiel von der Gotfurchtigen und keuschen Frawen Susannen (gedr. Zwickau 1536; überarb. ebd. 1544. Wittenb. 1537. Worms 1538). Engen Kontakt hielt R. in diesen Jahren mit dem Dramenschreiber Johann Tyrolff, mit dem er sich um eine dt. Spielfassung von Naogeorgs Pammachius (dt. von Tyrolff um 1540 mit Vorrede von R.) bemühte. R.s geistl. Laufbahn führte zurück nach Zwickau (1535–1538 Lehrer an der Lateinschule), dann über Plauen (Rektorat) nach Oelsnitz. Auf Empfehlung Luthers u. Melanchthons wurde er hier 1542 Pfarrer u. Superintendent des Bezirks Voigtsberg. Ausdrücklich berief sich R. für sein Susanna-Drama (nach Daniel 13) auf Luthers Empfehlung, bibl. Stoffe (Tobias, Judith, Daniel) für die Bühne zu bearbeiten u. in den Dienst der Katechese zu stellen. In einer Mischung von Spielszenen u. belehrenden Kommentaren sind Formschemata der antiken Komödie verwendet (fünf Akte mit Szeneneinteilung; Prolog u. Epilog; Chöre als

Rebmann

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Aktschluss). Die variationsreiche Versgestalt bert Pilger: Die Dramatisierungen der Susanne im des Dramas weist auf R.s – nicht veröffent- 16. Jh. In: ZfdPh 9 (1880), S. 129–217. – Paul F. lichte – Vorstudien zu einer dt. Grammatik u. Casey: The Susanna Theme in German Literature. Metrik. Prinzipiell gelang es ihm, Wort-, Bonn 1976. – Waltraud Timmermann: Theaterspiel als Medium evang. Verkündigung. In: AKG 66 Satz- u. Versakzent zur Deckung zu bringen; (1984), S. 117–158. – Wolfgang F. Michael: Das dt. er konnte jedoch auf die Kürzung bzw. Deh- Drama der Reformationszeit. Bern 1984 (Register). nung der Wörter nicht verzichten. Das Drama – P. F. Casey: P. R. Stgt. 1986. – Ders.: The Power of gehört somit zu den wichtigsten Zeugnissen a Preface. A ›Vorrede‹ by P. R. In: Daphnis 16 (1987), S. 33–45. – Ders: P. R. als Komponist. Ebd. der dt. Versreform. Susanna verkörpert in R.s Spiel den lei- 19 (1990), S. 379–421. – Joe G. Delap: Early Modern denden Gehorsam des luth. Christen u. ein Dialogs on Poverty and P. R.s ›Klag des armen unbedingtes Gottvertrauen, das im »prophe- Manns‹. Ebd. 22 (1993), S. 603–620. – Hans-Gert Roloff: R. In: NDB. – Wolfram Washof: Die Bibel tischen Knaben« Daniel erfüllt wird. Zgl. auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. geht es um die Lebensordnung der patriar- Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformachal. Großfamilie, die auch in R.s oft ge- tionszeit. Münster 2007, bes. S. 392–398. druckter Ehelehre Hausfried. Was fur Ursachen Wilhelm Kühlmann den christlichen Eheleuten zubedencken / den lieben Hausfried in der Ehe zuerhalten (Wittenb. 1546. 1549. 1559. 1570. Nürnb. 1556. 1569. 1571. Rebmann, Andreas Georg Friedrich, Straßb. 1662) u. in einem Hochzeit spiel auff die auch: Anselmus Rabiosus der Jüngere, Hochzeit zu Cana Galileae (Zwickau 1538. 1546. * 23.11.1768 Sugenheim/Mittelfranken, Nürnb. 1572) behandelt wurde. R.s Susanna- † 16.9.1824 Wiesbaden. – Radikal-demoDrama, das mit Ergänzungen auch zur pri- kratischer Publizist. vaten Lektüre gedacht war, sollte in Gestalt der unkeuschen Richter zgl. den Missbrauch R., Sohn eines Finanzbeamten, studierte in Erlangen u. Jena die Rechte u. promovierte obrigkeitl. Amtsgewalt verurteilen. In einge1789. Er wandte sich der Schriftstellerei u. legten Kommentaren (v. a. Chor nach Akt 11) polit. Publizistik zu u. veröffentlichte ansah R. hierin prototypisch die sozialen Unonym den Ritterroman Heinrich von Neideck gerechtigkeiten innerhalb der städt. Gesell(Erlangen 1791), krit. Briefe über Erlangen schaft abgebildet. Dieser sozialdidakt. Ap(Ffm./Lpz. 1792) sowie Kosmopolitische Wanpellwert trug maßgeblich dazu bei, dass der derungen durch einen Teil Deutschlands (Lpz. Susannastoff von vielen anderen Autoren des 1793), die das Elend der handarbeitenden Jahrhunderts bearbeitet wurde (u. a. Sixt Plebejer schildern. 1792 bis 1794 war R. als Birck, Jasper von Gennep, Nicodemus Zeitschriftenredakteur in Dresden tätig. SeiFrischlin). ne ebenfalls anonymen utop. Romane EmpWeitere Werke: Klag des armen Manns u. findsame Reise nach Schilda (Lpz. 1793), Hans Sorgenvol, ynn theurung u. hungersnot. Zwickau Kiekindiewelts Reisen in alle vier Weltteile und den 1540. – Ein Christl. unnd nötig Gesprech v. der Mond (Lpz./Gera 1794) u. Ludwig Wagehals Summa des Christl. glaubens u. wesens. Lpz. o. J. (Lpz./Gera 1795) sind Satiren auf Engstir(entstanden in Plauen 1538–42). – Latine dicendi formulae [...] ex Terentio collectae. Bautzen 1545. nigkeit u. Günstlingswirtschaft der dt. Zwergdespotien. In die beiden letztgenannAusgaben: P. R.s Dramen. Hg. Hermann Palm. ten Romane flocht R. Teile aus Reden RoStgt. 1859. Nachdr. Darmst. 1969. – Susanna. Eingel. u. redigiert v. W. Zitzenbacher. Graz/Wien bespierres ein. R., der sich zu einem leidenschaftl. Ver1961. – Ein Geistlich Spiel v. der [...] Frauen Susannen. Kritisch hg. v. Hans-Gert Roloff. Stgt. fechter der Menschenrechte entwickelte, 1967. – Das Gesamtwerk. Hg. Paul F. Casey. 2 Bde., übersetzte Robespierres Rede vom 18. Nov. 1793, die den Revolutionsexport grundsätzBern u. a. 2002. Literatur: Hermann Palm: P. R. In: Ders.: lich ablehnte, u. veröffentlichte sie anonym Beitraege zur Gesch. der dt. Lit. des 16. u. 17. Jh. Anfang 1794 u. d. T. Neuestes Manifest der Breslau 1877. Nachdr. Lpz. 1977, S. 84–102. – Ro- Frankenrepublik an alle Völker der Welt in Des-

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sau. Als Jakobiner verfolgt, verließ R. Sachsen Mainz. 1803 war er Präsident des Kriminalu. übersiedelte gemeinsam mit dem Verleger gerichtshofs im Prozess gegen die Bande des Gottfried Vollmer nach Erfurt, wo er die re- »Schinderhannes«. Obwohl seit dem Machtvolutionäre Zeitschrift »Das neue graue Un- antritt Napoleons R.s polit. Publizistik abgeheuer« herauszugeben begann, die »Zen- ebbte, hielt er stets an der Überzeugung fest, sur- und Preßzwang, Militär-Despotismus, dass der Kampf der frz. Revolutionäre gerecht Elend mit Luxus verkleistert, Mätressen- gewesen sei u. der Herrscher sich den von herrschaft und Pfaffenkabale« anprangerte. einer gewählten Volksvertretung beschlosseDer drohenden Verhaftung entzog er sich im nen Gesetzen zu unterwerfen habe. Nach Dez. 1795 durch Flucht ins dän. Altona, wo er Napoleons Sturz wurde R. in den Justizdienst bei den dortigen Demokraten Heinrich Wür- Pfalzbayerns übernommen. Er starb als zer u. Friedrich Wilhelm von Schütz Zuflucht Oberpräsident des Appellationsgerichtshofs fand. Die von Vollmer u. R. 1794 in Zusam- Zweibrücken. menarbeit mit Schütz begründete jakobin. Weitere Werke: Nelkenblätter. 4 Bde., Lpz. »Verlagsgesellschaft von Altona« publizierte 1792–95. – Albrecht der Friedländer. Lpz. 1794. – 1795–1800 zahlreiche revolutionsfreundl. Wahrheiten ohne Schminke. Dtschld., recte Altona Schriften. Die unter dem Pseud. »Huergel- 1794. – Wanderungen u. Kreuzzüge durch einen mer« publizierte jakobin. Kampfschrift Der Tl. Dtschld.s. Altona 1795. Neu hg. u. mit einem politische Tierkreis oder die Zeichen unserer Zeit Nachw. vers. v. Heinz Weise. Lpz. 1990. – Bruchstücke aus meinem polit. Glaubensbekenntnis. Al(Straßb. 1796) stammt vermutlich von R., tona 1796. – Haideblümchen. Hbg. 1796. – Die möglicherweise in Zusammenarbeit mit dem Wächter der Burg Zion. Hbg. 1796. – Gesch. der Altonaer Schriftsteller Johann Friedrich Ernst Revolution vom 18. Fructidor. Paris/Altona 1797. – Albrecht. Die Deutschen in Mainz. Mainz 1799. – HistorischUm der Auslieferung nach Erfurt zu ent- polit. Miscellen. Germanien, recte Mainz 1805. – gehen, flüchtete R. im Sommer 1796 über Bescheidene doch freimütige Andeutung über Amsterdam nach Paris. Seine Briefe auf einer Übertreibungen u. Rückwirkungen mit bes. HinReise durch Holland und Frankreich veröffent- sicht auf Dtschld. Germanien, recte Mainz 1815. Literatur: Hedwig Voegt: Die dt. jakobin. Lit. lichte zuerst Albrecht in seiner Zeitschrift »Der Totenrichter« (Altona 1796. Neuausg. u. Publizistik. Bln./DDR 1955. – Rainer Kawa: G. F. Bln. 1981). Von Paris aus redigierte R. die in R. Bonn 1980. – Walter Grab: Ein Volk muß seine der »Verlagsgesellschaft von Altona« er- Freiheit selbst erobern. Zur Gesch. der dt. Jakobiner. Ffm. 1984. – Christian Wirth: Der Jurist. Joscheinenden Journale »Die Schildwache« hann A. G. F. R. zwischen Revolution u. Restaura(1796/97) u. »Die Geißel« (1797–99). Er er- tion. Ffm. 1996. – G. F. R. Hg. Elmar Wadle u. lebte in seinem Pariser Exil, wie die frz. Di- Gerhard Sauder. Sigmaringen 1997 (mit Bibliogr.). rektorialregierung von den urspr. verkünde- – Georg Seiderer: R. In: NDB. – Werner Röcke: ten demokrat. Revolutionsidealen abrückte, Joseph Görres’ ›Teutsche Volksbücher‹ u. G. F. R.s u. begriff, dass sie an keiner Republikanisie- ›Empfindsame Reise nach Schilda‹. In: Daphnis 33 rung Deutschlands interessiert war. In der (2005), S, 745–757. Walter Grab † / Red. Flugschrift Laterne für die mittlere Klasse des deutschen Volkes, deren drei Folgen auch 1797/ Rebmann, Räbmann, Hans Rudolf, auch: 98 in der »Geißel« erschienen, rief R. die Ampelander, * 4.7.1566 Bern, † nach dem Bevölkerung der dt. Teilstaaten auf, sich zu 11.4.1605 Muri bei Bern. – Pfarrer u. erheben u. »eine Art von revolutionärer DikDichter. tatur, mit Mäßigung ausgeübt« zu errichten. Die demokrat. Neuordnung müsse ohne Bei- R. war Sohn des Berner Professors für alte stand der Franzosen erkämpft werden. »Ein Sprachen Valentin Rebmann (ebenfalls: AmVolk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht pelander) u. Enkel des Reformators u. Theozum Geschenk erhalten!« rief der patrioti- logieprofessors Wolfgang Müslin (auch: Mösche Jakobiner aus. sel, Musculus). Er studierte 1586–1589 in Nach der Annexion des Rheinlands durch Heidelberg u. Basel Theologie u. war danach Frankreich wurde R. Ende 1797 Richter in Pfarrer in den bernischen Orten Kirchlindach,

Recheis

Thun u. Muri. Neben lat. Gelegenheitsgedichten verfasste er eine Reihe allgemeingeschichtl. u. kirchenhistor. Studien, die handschriftlich erhalten sind. Sein umfangreiches Lehrgedicht in mehr als 14.000 silbenzählenden Knittelversen, Einn neuw, lustig, ernsthafft, poetisch Gastmal, und Gespräch zweyer Bergen, in der löblichen Eydgnoßschafft [...]: Nemlich deß Niesens und Stockhorns, als zweyer alter Nachbaren (Bern 1606), enthält neben einem Wust versifizierten Bildungsguts auch eindrückl. Schilderungen der Bergwelt. Es stellt die Alpen nach dem Vorbild humanistischer Beschreibungen dar u. bietet eine Fülle kosmografischen u. weltgeschichtl. Wissens. Im dritten Teil entwickelt R. außerdem eine christl. u. staatsbürgerl. Morallehre sowie das Bild einer Obrigkeit, die theologischen u. philosoph. Grundsätzen verpflichtet ist. Späthumanistische, in der Volkssprache vorgetragene Gelehrsamkeit tritt damit in den Dienst einer für das Gemeinwesen verantwortl. Seelsorge auf der Grundlage des reformierten Glaubens. Aufgrund eines älteren Manuskripts gab der Sohn, Valentin Rebmann, eine veränderte u. erweiterte Auflage heraus (Bern 1620). Literatur: Friedrich Trechsel: Die Familie R. (Ampelander). Sittenzüge u. Culturbilder aus dem Leben des 16. Jh. (Berner Tb. auf das Jahr 1883). Bern 1883, S. 53–124. – Jakob Baechtold: Johann R. R. In: ADB. – Hans Forster: H. R. R. u. sein ›Poetisch Gastmahl zweier Berge‹ [...]. Frauenfeld/Lpz. 1942. – Heiduk/Neumeister, S. 86, 226, 449. – Rosemarie Zeller: Die Wunderwelt der Berge. Literar. Form u. Wissensvermittlung in H. R. R.s ›Gastmal u. Gespräch zweier Berge‹. In: Scientiae et artes. Hg. Barbara Mahlmann-Bauer. 2 Bde., Wiesb. 2004, Bd. 2, S. 979–995. – Dies.: H. R. R. In: HLS (2009). Hellmut Thomke / Red.

Recheis, Käthe, * 11.3.1928 Engelhartszell/Oberösterreich. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. R., vierte Tochter eines Arztes, ging in Hörsching u. Linz zur Schule; nach dem Krieg arbeitete sie in einem Lager, in dem v. a. ungarische Juden des KZ Mauthausen untergebracht waren; ihr Vater, hier als Lagerarzt tätig, zog sich eine Gelbsuchtinfektion zu u. verstarb. Nach dem Abitur 1948 war sie als

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Redaktionssekretärin im Verlag, später bei der internationalen kath. Organisation ICMC tätig, eine Beratungsinstitution für Auswanderer nach Übersee, danach als Büroleiterin dieser Institution in Wien. Im Rahmen dieser Arbeit kam es erstmalig zu einem mehrmonatigen Aufenthalt in Nordamerika. Erste Texte erschienen 1954 in Hans Weigels Stimmen der Gegenwart; seit 1961 wandte sich R. ganz dem Schreiben zu. In den folgenden Jahren unternahm sie zahlreiche Reisen nach Nordamerika. R.’ kinderliterar. Werk ist vornehmlich der realist. Erzähltradition verpflichtet. Schon lange vor der gesellschaftl. Diskursivierung des Umweltthemas schärfte sie mit ihren Natur- u. Tierbüchern das Bewusstsein gegenüber der eigenen Lebenswelt (Der kleine Biber und seine Freunde. Wien u. a. 1963. Nikel, der Fuchs. Wien 1968); ihr Werk durchzieht die Beschäftigung mit Naturmythen, sei es im religiösen Kontext der Schöpfung oder in fantastisch-parabelhaften Tiergeschichten wie Der weiße Wolf (Wien 1982) oder in der weit über Österreich hinaus erfolgreichen Wolfsaga (Wien 1994) mit ihrer menschheitsgeschichtl. Fabel, den Kampf zwischen Gut u. Böse. R. engagiert sich mit ihren Kinderbüchern ebenso wie mit der Herausgabe von Originaltexten für die indigene Bevölkerung Nordamerikas, deren Kultur u. Sitten sie europ. Kindern nahe bringen möchte u. deren Geschichten u. Zeugnisse sie vor dem Vergessen zu bewahren sucht (Kleiner Bruder Watomi. Wien u. a. 1974. Der weite Weg des Nataiyu. Wien 1978. Die Stimme des Donnervogels. Möding 1983). Daneben hat R. für die österr. Kinder- u. Jugendliteratur die wichtige Rolle der Aufklärerin über die NS-Zeit inne. Ihr autobiografisch gefärbter Roman Das Schattennetz (Wien 1964. Neuausg. u. d. T. Geh heim und vergiß alles. Wien 1981) greift ihre Erfahrungen im Auffanglager Hörsching auf. Aus der Sicht der 17-jährigen Protagonistin Christine werden das Elend u. die zahlreichen Todesfälle im Lager schonungslos beschrieben. Der insbes. zur Erscheinungszeit kontrovers diskutierte Roman erfährt in der neueren Forschung (Seibert) Rehabilitation u. Anerkennung. Das Kinderbuch Lena, unser Dorf und der

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Vom Rechte

Krieg (Wien 1987) thematisert ebenfalls Vom Rechte. – Geistliches, moraldidaktiKindheits-Erfahrungen aus dem Krieg. sches Gedicht (549 Verse) eines anonymen R. erhielt viele Auszeichnungen u. Preise: oberdeutschen Dichters vermutlich aleden Kinder- u. den Jugendbuchpreis der Stadt mannischer Herkunft, 12. Jh. (zur geWien, den Österreichischen Staatspreis für naueren Datierung, zur Überlieferung u. Kinder- und Jugendliteratur, den Katholi- über das enge Verhältnis zum Gedicht von schen Jugendbuchpreis (1987) sowie den der Hochzeit siehe dort.) Adalbert-Stifter Preis (2007). Sie war mehrfach für die Honorlist IBBY Hans Christian Dem Dichter ist »reht« ein themat. Leitmotiv, das er terminologisch mit größter Variabilität Andersen Award nominiert. handhabt, selbst gemessen an der BedeuWeitere Werke: Sinopah u. das Pony. Hbg. 1963. – Die Hunde Wakondas. Hbg. 1964. – Red tungsvielfalt im zeitgenöss. Gebrauch des Boy. Wien u. a. 1967. – König Arthur u. die Ritter Wortes. Ein erster Hauptteil behandelt in drei der Tafelrunde. Düsseld. 1974. – Martys irischer Punkten eine allg. Pflichtenlehre, ein zweiter Sommer. Hbg. 1974. – London, 13. Juli. Hbg. 1975. eine spezielle, ebenfalls dreifache für Herren/ – Das Entchen u. der große Gungatz. Wien u. a. Knechte, Eheleute u. Priester. Ständig wird 1981. – Komm, kleiner Indianer. Wien u. a. 1984. – auf einen heilsgeschichtlich-eschatolog. RahLaßt mein Volk leben: 12 Indianergesch.n. Düs- men zurückgegriffen: Gott schuf den Menseld./Wien 1984. – Fabeln. Illustriert v. Monika schen, damit er sein Gebot erfülle u. beim Laimgruber. Wien 2003. – Das Geschenk des Feuletzten Gericht in die ewige Seligkeit eingehe. ervogels Düsseld. 2006. – Die schönsten TiergeVerunklärung durch Exkurse, Verschleierung sch.n. Freib. i. Br. 2007. von Abschnittsgrenzen u. das Mitschwingen Literatur: K. R.: Wie mein Leben mein Schreider einen Thematik bei Behandlung der anben bestimmte u. mein Schreiben mein Leben. Rede in der Johann Wolfgang Goethe-Univ., Ffm. deren lassen die an sich klare Gliederung eher am 4.7.1997. Hg. vom Freundeskreis des Instituts im Verborgenen. In der allg. Pflichtenlehre werden Treue, für Jugendbuchforsch. Jahresgabe 1997. – Christa Ellbogen: Die ist ganz anders, als ihr glaubt. Österr. Gegenseitigkeit (nach Mt 7,12) u. WahrhafKinder- u. Jugendlit. in der Zweiten Republik. In: tigkeit besprochen. Unter »Gegenseitigkeit« Gesch. der österr. Kinder- u. Jugendlit. v. 1800 bis wird das Verhältnis von Arm u. Reich zgl. mit zur Gegenwart. Hg. Hans-Heino Ewers u. Ernst dem von Herr u. Knecht behandelt. GemeinSeibert. Wien 1997, S. 128–139. – Porträt K. R. In: sam roden sie die kleinen u. großen WurzelDie Rampe. Hefte für Lit. 7 (1998). – Heidi Lexe (Hg.): K. R. Drei Laudationes. Fernkurs Kinder- u. stöcke des Waldes. Das selbstersonnene ExJugendlit. Studien- u. Beratungsstelle für Kinder- empel, das sicherlich auf die großen Rodunu. Jugendlit. Wien 2003. – E. Seibert: Kindheits- gen des 12. Jh. Bezug nimmt, wird zweifach muster in der österr. Gegenwartslit. Zur Genealogie ausgedeutet. Heilsgeschichtlich-allegorisch: v. Kindheit. Ein mentalitätsgeschichtl. Diskurs im Der hartgesinnte Mann gleicht dem starken Umfeld v. Kindheits- u. Kinderlit. Ffm. 2005. – Wurzelstock, an dem die Pflugschar rechter Ders.: ›Sprachliche Narben‹ – Von K. R. zu ElisaLehre zerbricht. Nur Gott selbst kann u. wird beth Reichart. In: Gesch. u. Gesch.n. Die Kinder- u. Jugendlit. u. das kulturelle u. polit. Gedächtnis. ihn durch Ausrottung aus der HeilsgemeinHg. Gabriele v. Glasenapp u. Gisela Wilkending. schaft der Christenheit bezwingen. Moralisch-tropologisch: Herr u. Knecht sollen den Ffm. 2005, S. 199–209. Caroline Roeder Ertrag aus dem gemeinsam gewonnenen Rodungsland teilen u. sich überhaupt jeden Beistand leisten. Zur »Treue« wird der Mythos von Luzifer erzählt u. als warnendes Exempel für das loyale Verhalten zwischen Herr u. Knecht, Herrin u. Magd typologisch ausgelegt. »Wahrhaftigkeit« wird anhand des Exempels der Feuerprobe im Gottesurteil diskutiert.

Reck-Malleczewen

Die spezielle Pflichtenlehre für Herren u. Knechte sieht den Herrn im Bild des Reiseführers auf dem Lebensweg. An »rechter« ehel. Gemeinschaft nimmt Gott als dritter Partner unter der Bettdecke der Eheleute teil. Das rechte Verhalten des Priesters wird im bibl. Bild des guten Hirten wie im bäuerlichen des Mitanspänners bei der Pflugarbeit angesprochen. Bilder u. Exempel entstammen der Tradition allegor. Bibelauslegung u. alltäglichbäuerlicher, gelegentlich adliger Vorstellungswelt. Das durchaus originelle Verfahren der Sinnkonstituierung u. -explikation ist ganz dasselbe wie im Gedicht von der Hochzeit. Der didakt. Stil ist rhapsodisch-erzählend, nicht gnomisch pointiert, argumentierend, nicht konstatierend. Wie die Syntax im wörtl. Sinn hypotaktisch ist, so das Denken des Dichters im übertragenen. Die Kompositionstechnik erzeugt den Eindruck des frei improvisierten, schriftlos konzipierten Vortrags. Eine memoriertechnisch wirksame, im Großen wie im Kleinen praktizierte Gliederung der behandelten Gegenstände in Dreiergruppen u. die starke, teilweise mechanisch klappernde Formelhaftigkeit des Textes in Reim u. Redewendung unterstreichen diesen Eindruck. Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1972, S. 112–131. – Claudia Händl (Hg.): Vom Rechte – Sul diritto. Pisa 1998 (mit ital. Übers.). Literatur: Carl v. Kraus: V. R. u. ›Die Hochzeit‹. Wien 1891. – Ingeborg Schröbler: Das mhd. Gedicht V. R. In: PBB 80 (1958), S. 219–251. – Stephan Speicher: V. R. Ein Komm. im Rahmen der zeitgenöss. Literaturtradition. Göpp. 1986. – Peter F. Ganz: V. R. In: VL. – Inga Persson: Ehe u. Zeichen. Studien zu Eheschließung u. Ehepraxis anhand der frühmhd. religiösen Lehrdichtungen V. R., ›Hochzeit‹ u. ›Schopf von dem lône‹. Göpp. 1995. Ernst Hellgardt / Red.

Reck-Malleczewen, Fritz, eigentl.: F. Reck, * 11.8.1884 Malleczewen bei Neuendorf/Ostpreußen, † 16.2.1945 Dachau. – Romancier, Journalist u. Arzt. R. stammte aus einem ostpreuß. Bauerngeschlecht. Die nach dem Abitur 1904 eingeschlagene Offizierslaufbahn brach er nach

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einem halben Jahr ab u. studierte Medizin (1904–1910). Nachdem er 1911 in Königsberg zum Dr. med. promoviert worden war, machte er eine viermonatige Schiffsreise nach Süd- u. Nordamerika (1912), über die er in der »Ostpreußischen Zeitung« berichtete. Ab 1913 lebte er – von einem kurzen Zwischenspiel bei der »Süddeutschen Zeitung« in Stuttgart u. am Königlichen Hof- u. Nationaltheater in München abgesehen – als freier Schriftsteller in Pasing bei München, später auf Poing bei Truchtlaching/Chiemgau. R. trat als Journalist mit Beiträgen für namhafte Zeitungen u. als Bestsellerautor hervor. Der gehobene Unterhaltungsroman Frau Übersee (Bln. 1918) verriet bereits die ihm eigene Vorliebe für die überdimensionierte Figur einer verführerisch-zerstörerischen Femme fatale. Noch größeren Erfolg als dieser Erstlingsroman hatte sein mit Hans Albers u. Heinz Rühmann 1931 verfilmtes Buch Bomben auf Monte Carlo (Bln. 1930). Da R. an einer »Pseudologia phantastica« (= krankhafte Sucht zu lügen) litt (Alphons Kappeler), schmückte er im Laufe der Zeit seine Biografie mit vielen großartigen, aber erfundenen Zügen aus (Offiziersrang, engl. Vorfahren, adelige Herkunft u.a.m.). 1934 trat er zum Katholizismus über. Im Dritten Reich, das er von einem monarchistisch-antiliberalen Standpunkt aus ablehnte, blieb R. lange ein Erfolgsautor. Er artikulierte seine Opposition unverhüllt in dem zwischen 1936 u. 1944 geschriebenen, auf Poing vergrabenen u. postum mehrfach publizierten Tagebuch eines Verzweifelten (Neuausg. Ffm. 1994. Mit einem biogr. Essay v. Christine Zeile). 1937 brachte er seinen camouflierten satirisch-antifaschist. Roman über das Münsterische Wiedertäuferreich des 16. Jh. u. d. T. Bockelson. Geschichte eines Massenwahns (Bln. 1937) heraus. Das mutige Werk erregte ebenso wenig den Verdacht der nationalsozialist. Kontrollinstanzen wie der 1938 in Berlin erschienene Roman über die Französische Revolution, Charlotte Corday. Geschichte eines Attentates. Ende 1944 wurde R. von der Geheimen Staatspolizei aufgrund einer Denunziation wegen Kritik am NS-Regime ver-

Recke

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haftet. Er starb im Konzentrationslager Dachau an Fleckfieber. Weitere Werke: Die Dame aus New York. Bln. 1921 (R.). – Phryg. Mützen. Mchn. 1922 (N.n). – Von Räubern, Henkern u. Soldaten. Als Stabsoffizier in Rußland v. 1917 bis 1919. Bln. 1924. – Die Siedlung Unitrusttown. Bln. 1925 (R.). – Acht Kapitel für die Deutschen. Großschönau 1934 (Ess.s). – Ein Mannsbild namens Prack. Bln. 1935 (R.). – Das Ende der Termiten. Ein Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Fragment. Lorch/Stgt. 1946. Literatur: Alphons Kappeler: Ein Fall v. ›Pseudologia phantastica‹ in der dt. Lit.: F. R. Mit Totalbibliogr. 2 Bde., Göpp. 1975. – Ralf Schnell: Literar. Innere Emigration 1933–45. Stgt. 1976. – Beatrix Müller-Kampel: Von der histor. Utopie zur utop. Historie. Das Täuferreich zu Münster bei F. R. u. Franz Theodor Csokor. In: Ideologie u. Utopie in der dt. Lit. der Neuzeit. Hg. Bernhard Spies. Würzb. 1995, S. 135–143. – Heidrun Ehrke-Rotermund u. Erwin Rotermund: Zwischenreiche u. Gegenwelten. Texte u. Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im ›Dritten Reich‹. Mchn. 1999, S. 527–546. – Ulrike Siebauer: ›Kameradschaft über alles. Selbst über Saufen u. Weibergeschichten‹. Leo Perutz u. F. R. 1926–31. In: Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgesch. Hg. Georg Braungart. Tüb. 2004, S. 231–243. – E. Rotermund: Probleme der ›Verdeckten Schreibweise‹ in der literar. ›Inneren Emigration‹ 1933–45: F. R., Stefan Andres u. Rudolf Pechel. In: ›Gerettet und zugleich von Scham verschlungen‹. Neue Annäherungen an die Lit. der ›Inneren Emigration‹. Hg. Michael Braun u. Georg Guntermann. Ffm. 2007, S. 17–38. Heidrun Ehrke-Rotermund

Recke, Elisa(beth) Charlotte Konstantia von der, geb. Reichsgräfin von Medem, * 1.6. (20.5.) 1754 Schönberg/Kurland, † 13.4.1833 Dresden. – Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin, Publizistin. Die Kindheit der Tochter eines Gutsbesitzers u. Kammerherrn im damaligen Herzogtum Kurland war überschattet vom Tod der Mutter (1758). Danach lebte R. bei ihrer Großmutter mütterlicherseits. 13-jährig kam sie ins Haus ihres Vaters, wo ihre geistige Entwicklung u. Bildung gefördert wurde, bes. durch den Pfarrer Christoph Friedrich Neander (Briefwechsel). Dieser glücklichere Teil ihrer Jugend endete, als sie 1771 mit Georg

Peter Magnus von der Recke verheiratet wurde. Die Ehe der empfindsamen, literarisch interessierten jungen Frau mit dem 15 Jahre älteren Landwirt war unglücklich u. für R. eine traumat. Erfahrung. 1776 trennte sich das Paar u. wurde 1781 geschieden. Die Heirat ihrer Stiefschwester Dorothea mit Herzog Peter von Kurland (1779) verband E. bis 1795 eng mit dem polit. Schicksal u. Ende des selbständigen Kurland. In den folgenden Jahrzehnten reiste R. mit Unterbrechungen (längere Aufenthalte in Dresden, Berlin, Leipzig u. in den böhm. Bädern) durch Deutschland, Italien, Russland u. die Schweiz. Seit 1819 lebte sie mit dem Schriftsteller Christoph August Tiedge in Dresden, wo sie ein geselliges Haus führte. 1780 veröffentlichte R. ihr erstes Werk: Geistliche Lieder einer vornehmen Churländischen Dame, mit Melodien von Johann Adam Hiller (an., Lpz.). 1783 folgten Elisens geistliche Lieder, nebst einem Oratorium und einer Hymne von C. F. Neander, hrsg. durch Johann Adam Hiller (Lpz.). R.s geistl. Gedichte sind schlicht u. liedhaft. Ihr Inhalt ist mit der Beschreibung einer Tugendnachfolge Christi pietistischen u. rationalist. Glaubensvorstellungen verpflichtet. Für das Bedürfnis nach empfindsamer Hausmusik lieferten sie nicht nur Hiller, sondern auch Johann Abraham Peter Schulz, Johann Gottlieb Naumann u. Friedrich Heinrich Himmel willkommene Vorlagen für Klavierlieder. Berühmt wurde R. durch ihre Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen, die sie unter ihrem vollständigen Namen 1787 bei Nicolai in Berlin publizierte. Damit reagierte sie auf Cagliostro, der sich in einer Verteidigungsschrift im Zusammenhang mit der »Halsbandaffäre« 1785 auf sie berufen hatte. Sie legte darin Rechenschaft ab von ihren persönl. Erfahrungen mit dem Geisterbeschwörer. Mit der Nachricht, die ihren Aufzeichnungen einen aktuellen Kommentar gegenüberstellte, löste R. einen öffentl. Meinungsstreit aus, in dem bes. der Berliner Oberhofprediger Johann August von Starck hervortrat. Auf Betreiben Katharinas II. wurde das Buch noch im Erscheinungsjahr ins Russische übersetzt (1792 auch holländisch), u. die Za-

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rin belohnte R. 1795 nach dem Ende Kur- 1900–02. – Mein Journal. Elisas neu aufgefundene lands mit einer Leibrente u. dem Gut Pfalz- Tagebücher aus den Jahren 1791 u. 1793–95. Hg. grafen. R.s Schrift ist – nicht zuletzt wegen Johannes Werner. Lpz. 1927. – Tagebücher u. der Beschreibung von Cagliostros Methoden, Selbstzeugnisse. Hg. Christine Träger. Mchn. 1984. Literatur: August Wilhelm v. Schindel: die denen moderner Sektenführer gleichen – Dtschld.s Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bde. 2–3, auch heute noch lesenswert. Lpz. 1825/26. – Johann Friedrich v. Recke u. Karl Während ihrer Reisen bewegte sich R. in Eduard Napiersky: Allg. Schriftsteller- u. Gelehrden Kreisen der aufklärerischen Schriftstel- ten-Lexikon der Provinzen Livland, Estland u. ler, Philosophen und Erzieher. Engere Kurland. Bde. 1–6, Mitau 1859–61. Nachdr. 5 Bde., Freundschaft verband sie mit Gleim, Nicolai, Bln. 1966. – Günter Schulz: E. v. d. R., die FreunMendelssohn, Parthey, Goeckingk, Böttiger din Friedrich Nicolais. In: Wolfenbütteler Studien u. Tiedge. Wie all ihren Schriften haftet auch zur Aufklärung 3 (1976), S. 159 ff. – Karin A. dem Tagebuch einer Reise durch einen Theil Wurst: ›Begreifst du aber / wie viel andächtig Deutschlands und durch Italien in den Jahren 1804 schwärmen leichter, als / Gut handeln ist?‹ – Elibis 1806, hrsg. von Hofrath Böttiger (4 Bde., Bln. sabeth (Elisa) C. K. v. d. R. (1754–1833). In: Lessing Yearbook 15 (1993), S. 97 ff. – Gudrun Busch: Die 1815–17, frz. 1818) sowie ihren früheren Emanzipation einer ›freyen Kurländerin‹, oder: Tagebüchern u. Erinnerungen (alle postum Musik u. Musiker im Leben Elisa v. d. R.s. In: Carlveröffentlicht) ein stark didakt. Zug an. In Philipp-Emanuel-Bach-Konzepte. Sonderbd. 3,2, ihnen zeigt sie sich als eine Frau, die v. a. Frankf./O. 2002, S. 360 ff. – Gertrud M. Rösch: R. enthusiastisch dem Netzwerk ihrer Freund- In: NDB. – Kornél Magvas: Für Freimaurerloge u. schaften lebte u. sich dennoch zwischen Adel häusl. Kreis. Johann Gottlieb Naumann u. das u. Bürgertum »heimatlos« fühlte. Zu Leb- Dresdner Liedschaffen im 18. Jh. Bd. 1, Beeskow zeiten eine bekannte Schriftsellerin, ist R. 2008, S. 219 ff. – Wilhelm Kühlmann: Cagliostro in heute weitgehend vergessen. Wo sie im Zuge Mitau. E. v. d. R. u. Friedrich Nicolai – Motive u. Kontexte einer rationalist. ›Selbstaufklärung‹ der Neuentdeckung weiblicher literar. Kultur (1779–87). In: Aufklärung im Baltikum. Hg. Ulrich u. der Erforschung des Klavierliedes wieder Kronau (im Druck). gewürdigt wird, sollte man ihre Rolle nicht Bettina Eschenhagen / Gudrun Busch nur zwischen Empfindsamkeit u. Aufklärung sehen, sondern auch als Teil der noch zu entdeckenden böhm. Bäderkultur u. der Reckert, Karl Christian, * 1739 Minden, Dresdner Frühromantik. † 20.2.1800 Berlin. – Lyriker, Idyllen- u. Weitere Werke: Unveröffentlichte Briefe: u. a. Gleimhaus Halberstadt; Lettische Nationalbibliothek Riga. – Weitere Titel: Etwas über des Herrn Oberhofpredigers Johann August Star[c]k Vertheidigungsschrift. Bln./Stettin 1788. – Elisens u. Sophiens Gedichte. Hg. J[ohann] L[udewig] Schwartz. Bln. 1790. – Ueber Naumann, den guten Menschen u. großen Künstler. In: Neuer Teutscher Merkur 1 (1803). – Über C. F. Neanders Leben u. Schr.en. Bln. 1804. – Gedichte. Hg. Christoph August Tiedge. Halle 1806. 21816. – Familien-Scenen oder Entwicklungen auf dem Maskenball. Lpz. 1826 (Schausp.). – Gebete u. religiöse Betrachtungen. Bln. 1826. – Kleinere Schriften: vgl. Magvas 2008 (s. u.). – Verstreute Gedichte in weiteren Liedersammlungen v. J. A. P. Schulz (1786), J. A. Hiller (1790), J. G. Naumann (1787, 1799) u. F. H. Himmel (1798 ff.). Ausgaben: Aufzeichnungen u. Briefe aus ihren Jugendtagen (= Bd. 1). Tagebücher u. Briefe aus ihren Wanderjahren (= Bd. 2). Hg. Paul Rachel. Lpz.

Gelegenheitsdichter. Von dem gebürtigen Westfalen, der seine Heimat gegen die Schmähungen des französisch schreibenden Georg Ludwig von Bar verteidigte (vgl. Beantwortung eines Briefes An mein Vaterland. In: Vermischte Schriften. Bd. 1, Münster 1770, S. 241 ff.), ist nur bekannt, dass er als Stadtsekretär in Spandau, dann bis zu seinem Tod als Homburgischer u. Hohenzollerischer Geheimer Legationsrat in Berlin lebte. In rascher Folge erschien ab 1765, zunächst anonym, eine Reihe von Duodez- u. Kleinoktavbändchen (1770–1773 immer bei Perrenon in Münster), in denen R. den berühmtesten Kleinmeistern seiner Zeit nacheiferte (Kleinigkeiten. Bln. 1765. Scherze. Bln. 1766. Amazonenlieder. 1770. Kleine Lieder. 1770. Ein kom. Epyllion in Gleim’schen Chevy-Chase-

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Strophen, Der junge Held, in vier Gesängen. 1770. Idyllen. 2 Tle., 1771–73. Sinngedichte. 1773). Diese Werke übernahm R., teils auswählend, meist aber unverändert in seine Vermischten Schriften (1770–73). Wahrscheinlich weil seine Veröffentlichungen von der zeitgenöss. Kritik kaum beachtet wurden, beschränkte sich R. im Alter im Wesentlichen auf Gelegenheitsdichtungen (Huldigungsgedichte auf Friedrich II. u. Mitglieder des preuß. Königshauses), die er in Berlin als Einzeldrucke erscheinen ließ. R. besaß eine gewandte Feder, blieb aber in Form u. Gehalt unselbständig. Seine Vorbilder (Hagedorn, Rost, Gleim, Götz, der Lessing der Kleinigkeiten von 1751, Weiße oder Gessner) kann man nicht nur an den Titeln seiner Sammlungen erkennen, er scheute sich auch nicht, viele Vorlagen verflachend nur zu variieren, gelegentlich auch wörtlich zu übernehmen. R. wird damit zum wertvollen Zeugen der unbedenkl. Rezeption von Vorbildern in den 1760er u. 1770er Jahren, an dem man den weit verbreiteten frühempfindsamen u. v.a. rokokohaften Zeitstil der zweiten Jahrhunderthälfte bes. gut studieren kann. Weitere Werke: Patriot. Gedanken über die Gesunderhaltung des Landvolkes. Bln. 1776. – Wintergemählde. Bln. 1777. – Lieder meiner Muse. Bln. 1782 (an.). – Aufsätze u. Übers.en in der Berliner Wochenschrift ›Neue Mannigfaltigkeiten‹ (1774 ff.). Literatur: Hamberger/Meusel 8, S. 244 f. (Nachweis v. Huldigungsgedichten in Einzeldrucken). Alfred Anger / Red.

Reclam, Anton Philipp, * 28.6.1807 Leipzig, † 5.1.1896 Leipzig; Grabstätte: Stuttgart, Waldfriedhof. – Buchhändler, Verleger. Als Nachkomme einer Hugenottenfamilie absolvierte der Buchhändlerssohn eine vierjährige Lehrzeit in dem Verlag seines Onkels Friedrich Vieweg in Braunschweig. R. ließ sich in Leipzig nieder, verkaufte 1837 sein 1828 erworbenes »Literarisches Museum«, eine Leihbibliothek mit Lesezirkel, u. wandte sich mit eigener Druckerei ausschließlich der Verlegertätigkeit zu. Mit oppositionellen

Redentiner Osterspiel

Schriften jungdt. Autoren wie etwa Laubes kam der Verfechter eines bürgerl. Liberalismus häufiger mit den Behörden in Konflikt. Geprägt von der Bildungsidee des 19. Jh., erkannte R. das Bedürfnis eines breiten Lesepublikums nach preisgünstigen Klassikerausgaben; Shakespeares Sämtliche dramatische Werke brachten 1858 einen ersten großen Erfolg. Begünstigt von der Neuregelung des Urheberrechts vom 9.11.1867, wonach allen dt. Autoren eine Schutzfrist von 30 Jahren nach ihrem Tod gewährt wurde, erschien ein Tag darauf als erster Titel der R.’schen »Universal-Bibliothek« Goethes Faust. Das klass. Bildungsgut konnte nun in Einzelausgaben zu 20 Pfennig Gemeinbesitz der Nation werden. Die Aufnahme in die »UniversalBibliothek« galt seitdem als Zeichen für das Klassischwerden eines literar. Werkes. Literatur: Heinz Friedrich: P. R. In: Die Großen der Weltgesch. Bd. 7, Zürich 1976, S. 752–761. – Dietrich Bode: A. P. R. In: Die großen Leipziger. Ffm. u. Lpz. 1996, S. 228–236. – Reclam. Daten, Bilder u. Dokumente zur Verlagsgesch. 1828–2003. Hg. ders. Stgt. 2003. Markus Knecht / Dietrich Bode

Redentiner Osterspiel. – Niederdeutsches Osterspiel des 14. Jh. Der 2025 Verse umfassende Text ist zus. mit einer lat. Predigt u. einem Kreuzverehrungshymnus in einer Papierhs. überliefert (Karlsruhe, Badische Landesbibl., K. 369, f. 1v-12v) mit dem Datum 3. Juli 1464 u. der Ortsangabe »in redentyn«, d. i. ein Hof bei Wismar, der dem Zisterzienserkloster Doberan gehörte. Es handelt sich um eine Abschrift, der wohl ein zur Aufführung bestimmtes Manuskript zu Grunde lag. Wo u. wann das Schauspiel entstanden ist, kann lediglich aus Indizien erschlossen werden. Für die Entstehung kommt kaum der Schreibort Redentin in Frage, vielleicht Wismar, am wahrscheinlichsten Lübeck, wenn man den mögl. Zusammenhang mit dem 1463 vollendeten gemalten Totentanz in der Lübecker Marienkirche akzeptiert u. die textinterne Bemerkung Lucifers, dass in Lübeck bald viele Menschen sterben werden (v. 1295 ff.), auf die

Redentiner Osterspiel

Pestwelle von 1464 bezieht (auch 1450/51 wäre möglich). Das R. O. gilt als literarisch qualitätsvollstes aller mittelalterl. Osterspiele. Es zeichnet sich durch eine bes. zweigliedrige Struktur, durch souveränen Umgang mit traditionellen Osterspielszenen u. -motiven sowie durch eine gewandte, selbständige Sprache aus. Diese ist in Feierlichkeit, Komik u. Drastik den verschiedenen Situationen angepasst. Auch lat. Gesänge sind in die Auferstehungsu. Höllenfahrtsszene aufgenommen mit anschließenden dichterisch durchgestalteten dt. Paraphrasen. Das R. O. besteht aus einem Auferstehungsspiel (vv. 19–1043) u. einem Teufelsspiel (vv. 1044–1986). Zwei Engel animieren die Zuschauer einleitend zum inneren Nachvollzug der Auferstehung u. verheißen Sündenvergebung. Den Epilog spricht ein Conclusor, er vermittelt Hoffnung auf das ewige Leben u. fordert zum gemeinsamen Singen von Cristus is up ghestanden auf. In dem ersten Teil fehlen die alten Kernszenen des Osterspiels: der Salbenkauf u. der Besuch der Marien am Grab (»Visitatio sepulchri«), der Lauf der Jünger zum Grab u. die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen (»Hortulanusszene«). Der Auferstehung ist eine eigene Szene gewidmet. Engel, die laut Bericht eines Turmwächters (»vigil«) über die Ostsee herangefahren sind, rufen Christus aus dem Grab. Er steigt in die Hölle hinab, befreit die Seelen der Verstorbenen, u. sie werden ins Paradies geführt. Die heilsgeschichtl. Dimension der Höllenfahrtsszene wird durch alttestamentl. Figuren verdeutlicht, die auf ihre Prophezeiungen u. die gegenwärtige Erfüllung eingehen. Durch die Begegnung mit Elias u. Enoch im Paradies wird der Bogen zum Jüngsten Gericht geschlagen. Die Auferstehung u. die Höllenfahrt (»Descensus«) sind von zwei Wächterszenen umgeben, in denen Juden, Hohepriester, Pilatus, Ritter u. ein Turmwächter auftreten, zuerst um den Diebstahl des Leichnams Christi zu verhindern, dann um die Auferstehung zu bestreiten. In dem Teufelsspiel wird die entleerte Hölle mit Seelen gegenwärtiger Sünder aufgefüllt (»Seelenfangszene«). Der von Christus

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gefesselte Lucifer schickt seine Unterteufel aus. Beim ersten Versuch bleiben sie erfolglos, dann schleppen sie aus Lübeck außer einem Priester u. einem Räuber eine große Zahl von Vertretern bürgerl. Handwerks- u. Händlerberufe heran, die für relativ kleine Vergehen hart bestraft werden (Bäcker, Schuhmacher, Schneider, Metzger, Fischhändler u. a.). Regierungsvertreter aus Stadt u. Land sind nicht unter den eingefangenen Seelen. Dem gewitzten Priester gelingt es, dem Teufel Angst einzujagen u. freizukommen, denn ungeachtet berufsbezogener Vergehen erkennt er die Allmacht Gottes an, der auch der Teufel unterworfen ist (vv. 1912 f.). Lucifer beklagt seinen Hochmut, der zu seiner unaufhebbaren Verdammnis geführt hat. Für die Menschen stehen die höll. Bedrohung u. die ewige Seligkeit zur Wahl. Die Botschaft des Spiels umfasst Mahnung zur Buße u. Erlösungshoffnung. Ausgabe: Das R. O. Hg. Brigitta Schottmann. Stgt. 1975 (mit Übers. u. Lit.). Literatur: Lothar Humburg: Die Stellung des R. O. in der Tradition des mittelalterl. geistl. Schauspiels. Neumünster 1966. – Hansjürgen Linke: Die Teufelsszenen des R. O. In: Nd. Jb. 90 (1967), S. 89–105. – Achim Masser: Das R. O. u. der Totentanz v. Lübeck. In: ZfdPh 89 (1970), S. 66–74. – David Brett-Evans: Von Hrotsvit bis Folz u. Gengenbach. Bd. 1, Bln. 1975, S. 131–137. – Werner Williams-Krapp: Überlieferung u. Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im MA. Tüb. 1980, S. 17–19. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, S. 166–169. – Hansjürgen Linke: R. O. In: VL. – André Schnyder: Das R. O. Dramat. Struktur u. theolog. Sinn. In: Nd. Jb. 118 (1995), S. 27–55. – Katja Scheel: ›Dat ghelt maket den helt springhen‹. Überlegungen zur Ritterfigur im R. O. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 215–232. – Johan Nowé: ›Wy willen ju eyn bilde gheven‹. Explizite u. implizite Regieanweisungen als Grundlage für Inszenierung u. Aufführung des R. O. Ebd., S. 325–359. – Cobie Kuné: Johannes der Täufer im Limbus. Zum Auftreten Johannes’ des Täufers in der Vorhölle: im R. O. u. in den anderen dt. religiösen Dramen des späten MA. Ebd., S. 233–248. – Elke Ukena-Best: ›Homud heft us duvele senket in afgrunde‹. Suberbia, Teufel, Hölle im R. O. Ebd., S. 181–214. – Hartmut Freytag, Maike Claußnitzer u. Susanne Warda: ›De resurrectione – sub specie aeternitatis‹. Heilsgeschichtl. Elemente im R.: Eine

Reding

465 Skizze. In: FS Johan Nowé. Leuven 2002, S. 87–111. – Dies.: Das Redentiner – ein Lübecker Osterspiel. Über das R. v. 1464 u. den Totentanz der Marienkirche in Lübeck v. 1463. In: ZfdA 132 (2003), S. 189–238. – M. Claußnitzer: ›Sub specie aeternitatis‹. Studien zum Verhältnis von histor. Situation u. Heilsgesch. im R. Ffm. 2007.

mann). – Gedichte. Memmingen 1859. – Der Bayernwald, geschildert u. illustriert. Regensb. 1861. – Antwort auf Maximilian Schmidt’s ›Jämmerlichkeiten in der Münchner Schriftstellerwelt‹. Mchn. 1891 (Polemik). – Rothes u. blaues Blut. Mchn. 1893 (L.). – Lyr. Skizzenbuch. Mchn. 1893 (L.). – Mein Wanderbuch. Mchn. 1895 (L.).

Ursula Schulze

Literatur: Hyacinth Holland: R. In: Biogr. Jb. 14 (1909), S. 173–177. – Artur Kutscher: Einl. In: R.s ›Gedichte‹. Hg. A. Kutscher. Mchn. 1910, S. 1–22. – Achim Fuchs: Möglichkeiten u. Grenzen einer militär. Laufbahn. In: FS Hermann Rumschöttel. Köln u. a. 2006, S. 177–190.

Reder, Heinrich von, * 19.3.1824 Mellrichstadt in Unterfranken, † 17.2.1909 München. – Lyriker u. Epiker; Maler.

Der Sohn eines Gerichtsarztes absolvierte das Gerhard Stumpf / Red. Gymnasium Schweinfurt u. die Forstakademie Aschaffenburg, praktizierte im bayeriReding, Josef, * 20.3.1929 Castrop-Rauxel. schen Forstwesen u. betrieb naturwiss. Stu– Verfasser von Fernseh- u. Hörspielen, dien. 1846 wurde er Soldat, kämpfte 1866 u. Kurzgeschichten, Erzählungen, Lyrik u. 1870 als Artillerieoffizier, nach Aussage seiKinderbüchern. ner Briefe ohne Begeisterung, u. erhielt doch Tapferkeitsauszeichnungen u. das persönl. Der Sohn eines Filmvorführers erwarb nach Adelsprädikat. Nach dem Abschied 1881 Kriegseinsatz im »Volkssturm« u. amerikan. lebte R. als Oberst d. R. (zuletzt Generalma- Gefangenschaft 1951 das Abitur u. arbeitete jor) in München. anschließend zwei Jahre als Betonarbeiter. Zwar hatte keines seiner Werke große Die Erfahrung des Dritten Reiches bestärkte Wirkung, doch stellt R. eine markante Über- ihn in seiner Überzeugung von der polit. gangsfigur dar zwischen dem Münchner Li- Verantwortung des Schriftstellers. Für seine teraturleben der Jahrhundertmitte u. der Li- erste Buchveröffentlichung Silberspeer und Roteraturboheme der Jahrhundertwende, aus ter Reiher (Recklinghausen 1952), die Geder der sportl. Junggeselle als »Oberst Wo- schichte eines Seifenkistenderbys, erhielt er tan« nicht wegzudenken war. R. gehörte zum 1952 den Jugendbuchpreis der »gruppe junVerein »Von der Isar« (1851), zu den »Kro- ger autoren«. 1953/54 studierte R. zunächst kodilen« (1864 wurde er dort Sekretär) u. seit in Münster, dann mit einem Fulbright-Sti1882 zum Naturalistenkreis um Conrad. An pendium in Urbana u. Illinois Germanistik, Lenau, Geibel u. der Münchner Schule ori- Anglistik, Psychologie u. Kunstgeschichte u. entiert, heben sich seine Gedichte doch viel- erwarb den Master of Arts. In den USA schloss fach (z.B. Federzeichnungen aus Wald und Hoch- er sich der Bürgerrechtsbewegung Martin land. Entstanden 1861. Mchn. 1885) durch Luther Kings an u. lebte mit Farbigen in den naturnahe Frische von der Epigonenlyrik ab Elendsvierteln amerikan. Großstädte. Nach u. stehen Liliencrons Realismus nahe. Das freiwilligem Aufbaueinsatz im Grenzdurchmärchenhafte Epos Wotans Heer (Dresden gangslager Friedland 1954/55 entstand sein 1892) bedeutete R. viel, doch seine Domäne einziges umfangreicheres episches Werk sind vielfach auf Reisen entstandene Land- Friedland. Chronik der großen Heimkehr (Reckschaftsschilderungen, die er auch als Maler linghausen 1956. 31985. Neuausg. Würzb. aus der Schule Carl Millners erfolgreich 1989), ein Tatsachenroman über das Elend pflegte, daneben Genrebilder mit humorist. der Heimatvertriebenen. Zügen u. militär. Motive. Die Lyrik der R.s bevorzugtes literar. Genre ist die Spätzeit, als R. gegen die Literaturkritik der Kurzgeschichte, deren Poetik er in dem Text Moderne verbitterte, blieb wohl zu Recht Mein Bekenntnis zur Kurzgeschichte (in: Nennt ungedruckt. mich nicht Nigger. Recklinghausen 1957) darWeitere Werke: Soldatenlieder v. zwei dt. Of- legt. Er schulte sich an den »short stories« fizieren. Ffm. 1854 (L., zus. mit Karl W. v. Neu- amerikan. Autoren wie Hemingway, Dos

Redinger

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Passos u. Faulkner, aber auch an John Stein- 1982. Würzb. 1999. – Friedenstage sind gezählt. beck u. William Saroyan, die er während sei- Freib. i. Br. 1983 (Kurzgesch.). – Papierschiffe genes Aufenthalts in den USA kennengelernt gen den Strom. Erkundungsfahrten eines Schrifthatte. R. schätzt die Kurzgeschichte wegen stellers. Freib. i. Br. 1984. – Friedensstifter – Friedensboten. Gegen Unrecht u. Gewalt. Recklingihrer sprachl. Ökonomie, die sich zum einen hausen 1986. – Der Mensch im Revier. Köln 1988 vom Jargon des Dritten Reiches abhebt, zum (Ess.). – Das Kreuz auch heute tragen. Meditatioanderen aber ein Signum der Alltagskom- nen. Recklinghausen 1990. – Tiere sprechen dich munikation der Menschen im Ruhrgebiet ist, an. Texte v. kleinen u. großen Tieren, für kleine u. u. macht sie zum Medium seiner Gesell- große Menschen. Recklinghausen 1993. – J. R.-Leschaftskritik. Mit der formalen Genauigkeit sebuch. Kurzgesch.n-Ausw. Recklinghausen 1994. einher geht die inhaltliche: In Sammlungen – Wie eine Narbe im Stein. Kurzgesch.n. Kevelaer wie Ein Scharfmacher kommt (Recklinghausen 1996. – Bei Gott kann man nicht petzen. Würzb. 1967. 31989), Und die Taube jagt den Greif 2000. Literatur: Hedwig Gunnemann (Hg.): J. R. (Freib. i. Br. 1985) oder Neue Not braucht neue Namen (Freib. i. Br. 1986) treten v. a. die in- Fünf Jahrzehnte Leben. Drei Jahrzehnte Schreiben. dividuellen Alltagserfahrungen kleiner Leute Zeugnisse seines Lebens. Dortm. 1979. – Manfred Durzak: Die dt. Kurzgesch. der Gegenwart. Stgt. in den Blickpunkt. 1980, S. 263–272. – Jörn Stückrath: ›Ich möchte R., der sich früh schon in der kath. Ju- gern Menschen zeichnen, die ich gesehen habe...‹. gendbewegung engagierte u. 1971–1975 Gespräch mit J. R. über die Figuren seiner KurzMitgl. der Gemeinsamen Synode der Diöze- gesch.n. In: DD 19 (1988), S. 657–664. – Vom Leben sen in der Bundesrepublik war, schreibt aus schreiben. Eine Schr. zum 60. Geburtstag J. R.s. Hg. der Perspektive des sozialkrit. Christen. Die Stadt- u. Landesbibl. Dortmund. Dortm. 1989. – »Liebe zum geringsten Bruder« kennzeichnet Alan Corkhill: Überlebenschancen der dt. Kurzgeseine (satir.) Gedichte u. Erzählungen. Auf- sch.: J. R. u. Gabriele Wohmann. In: Lit. für Leser sehen erregte er mit einigen provokanten 22,2 (1999), S. 63–72. – Gerd Holzheimer: J. R. In: LGL. – Harro Zimmermann: J. R. In: KLG. Texten: Vor allem die in zahlreichen ZeitunReinhard Tenberg / Ralf Georg Czapla gen veröffentlichte, scheinbar blasphemische Krippenrede (1969) stieß bei großen Teilen der kath. Leser auf offene Ablehnung. Redinger, Johann Jakob, * 24.8.1619 NefMit dem Bekenntnis zur »littérature enga- tenbach bei Winterthur, † 10.3.1688 Zügée« will R. auch in seinen Kinderbüchern rich. – Reformierter Pfarrer, Schulmann, zur krit. Reflexion anregen. Überwiegend Mystiker. stehen aktuelle Probleme wie die Rassendiskriminierung, die Situation der Gastarbeiter Der Sohn eines Schreiners besuchte, nach u. Zivildienstleistenden, militär. Bedrohung dem frühen Verlust beider Eltern durch ein u. Umweltverschmutzung, Familie u. Religi- Stipendium gefördert, ab 1630 die Lateinon im Zentrum seiner inzwischen in viele schule in Zürich u. ab 1636 das Alumnat Sprachen übersetzten Kurzprosa. R. gehörte (1641 Examen »Philosophicum« u. Theolozu den Mitbegründern der Dortmunder gieexamen). Seit 1642 war er Feldprediger im »Gruppe 61«. Für sein engagiertes Schaffen Regiment Rahn in Piemont u. Katalonien, seit wurde er u. a. mit dem Annette-von-Droste- 1646 Pfarrer in Urdorf-Dietikon. Wegen der Hülshoff-Preis (1969) u. dem Preis für die Beteiligung an konfessionellen Auseinanderbeste deutsche Kurzgeschichte (1981) ausge- setzungen zwischen Reformierten u. Kathozeichnet. 1986 erhielt er den Ehrenring der liken verlor der engagierte reformierte PfarStadt Dortmund, 1989 den Literaturpreis rer 1656 sein Amt. Er ging nach Amsterdam, wurde dort Lehrer für alte Sprachen u. lernte Ruhrgebiet. Weitere Werke: Erfindungen für die Regierung Comenius kennen. Im Okt. 1658 berief man u. a. Satiren. Augsb. 1962. Erg. Ausg. Freib. i. Br. ihn zum Rektor der Lateinschule in Fran1983. – Krippenrede für die siebziger Jahre. Skan- kenthal. Vor allem unter dem Einfluss Comenius’ dal um ein Gedicht. Neukirchen-Vluyn 1978. – Nennt sie beim Namen. Asphaltgebete. Freib. i. Br. wurde R. immer mehr vom Sprachtheoretiker

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Redslob

u. -didaktiker zu einem fanat. Vertreter des S. 577–579, Nr. 942–944. – Weitere Titel: Jakob Mystizismus, religösen Dissidenten u. Pro- Baechtold: J. J. R. In: ADB. – Fritz Zollinger: J. J. R. pagator chiliastischer Erwartungen. Von u. seine Beziehungen zu Johann Amos Comenius. April bis Juni 1664 hielt er sich in der Schweiz Zürich 1905. – D. Fretz: R. In: Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz. Bd. 5, Neuenburg 1929. – Züru. in Frankreich auf, um dort die prophet. cher Pfarrerbuch 1519–1952. Hg. Emanuel Dejung Schriften von Comenius zu verbreiten, u. u. Willy Wuhrmann. Zürich 1953, S. 478. – Georg wurde deshalb nach seiner Rückkehr des Biundo: Die evang. Geistlichen der Pfalz seit der Landes verwiesen. 1664/65 reiste R. mit Reformation (Pfälz. Pfarrerbuch). Neustadt a. d. demselben Ziel ins türk. Heerlager in Un- Aisch 1968, Nr. 4199, S. 362. – Basil Schader: J. J. R. garn. Nach einer zweiten Reise nach Holland (1619–88). Sprachwissenschaftler u. Pädagoge im (1665) u. Frankreich (1666) wurde er in Zü- Gefolge des Comenius. Zürich/Mchn. 1985. – Klaus rich wegen angebl. Landesverrats verhaftet u. Schaller: J. J. R. u. Johann Amos Comenius. Eine im Okt. 1667 ins Spital eingewiesen, wo er bis Episode in den pädagogisch-polit. Beziehungen zu seinem Tod blieb. Von seinen chiliast. zwischen Dtschld., der Schweiz u. den Niederlanden im 17. Jh. In: Paedagogica historica 25 (1985), Vorstellungen ließ er auch hier nicht ab, beS. 225–262. – HKJL, Bd. 2, Sp. 453–455, 1706–1708 schäftigte sich jedoch weiterhin auch mit u. Register. – Albrecht Ernst: Die reformierte KirVorschlägen zur Verbesserung des Sprachun- che der Kurpfalz nach dem Dreißigjährigem Krieg terrichts u. mit Übersetzungsarbeiten. (1649–85). Stgt. 1996, S. 189–192. – S. Katalin In seinem lat.-dt. Sprachbuch Latinisher Németh: Neue Funde aus dem Nachl. v. J. J. R. In: Runs der Tütshen Sprachkwäl (Schaffh. 1656) Daphnis 26 (1997), S. 519–523. – Erich Wenneker: erklärte R. die Abstammung des Lateini- J. J. R. In: Bautz. – Estermann/Bürger, Tl. 2, schen, Französischen, Italienischen usw. vom S. 1177. – S. K. Németh: Zwei Propagandisten der Deutschen u. zeigte einen leichteren Weg zur polit. Ziele v. Comenius, J. J. R. u. Christian HoErlernung der Sprachen. Literarisch trat R. burg. In: Comenius u. der Weltfriede. Hg. Werner Korthaase. Bln. 2005, S. 613–632. – Rosmarie Zelv. a. dadurch hervor, dass er zur Verbreitung ler: J. J. R. In: HLS. Gabriele Henkel / Red. der schulpädagogischen u. sprachdidakt. Vorstellungen des Comenius dessen Schulbücher in holländischer u. dt. Übersetzung Redslob, Edwin, * 22.9.1884 Weimar, herausbrachte, so 1658 die erste holländ. † 24.1.1973 Berlin. – Kunst- u. KulturAusgabe des Vestibulum u. 1662 die dt. Überhistoriker; Erzähler, Dramatiker, Essaysetzung: Erster theil der schulerischen Gelehrtheit, ist, Übersetzer. genennet, Vor-Thüre (Ffm.). Diese Ausgabe ist in Gesprächsform umgearbeitet, »mit monatli- R., aus bürgerl. Weimarer Familie stamchen Spielen gemehret« u. enthält Anwei- mend, schloss das Studium Kunst- u. Literasungen zum Gebrauch des Buchs u. zu den turwissenschaft mit der Promotion ab (Die fränkischen Epitaphien im 14. und 15. JahrhunAufgaben des Lehrers. Weitere Werke: Comeniana Grammatica [...] / dert. Diss. Heidelb. 1907). Er veröffentlichte Komen. Sprach-Lehr [...]. Hanau 1659. – Ver- Studien zu Architektur, Plastik, Malerei, v. a. wandschaft der teutschen u. lat. Sprache, oder: aber zum Kunstgewerbe, ferner kulturhistor. Gleichstimendes Wortbüchlein [...] / Affinitas teu- Bücher über Weimar u. Thüringen. R. orgatonicae atque latinae linguae [...]. Hanau 1659. – nisierte Ausstellungen u. wirkte seit 1920 als Himel. Zeitungen. [Zürich] 1678. – Jan Janszoon Reichskunstwart der Weimarer Republik. Struys: Unglükl. Schiffs-Leute, oder merkwirdige Nach der Entlassung durch die NationalsoReise zwenzig Holländeren [...] Erstlich in Niderzialisten 1933 wandte er sich verstärkt der Teutscher Sprache beschriben, v. Joh. Jansen Strauß, u. nun in Zürich zum Truk verfertiget, Goethe-Forschung zu, bes. den Realien. Bereits 1932 hatte er den großen Essay Goethes durch J. R. Zürich 1679. Leben (Bln. Stgt. 31954) vorgelegt. Daneben Literatur: Bibliografien: VD 17. – William Jervis schrieb er auch Gedichte, v. a. vollendete SoJones: German Lexicography in the European nette – darunter eines auf den Tod des 1945 Context. A Descriptive Bibliography of Printed Dictionaries and Word Lists Containing German hingerichteten Freundes Ernst von Harnack Language (1600–1700). Bln./New York 2000, –, Dramen sowie Romane (Dianens Heimkehr.

Redwitz

Hbg. 1937) u. übersetzte Michelangelos Sonette (Ausw. in: Sonett und Zeichnung. Hg. Sibylle Redslob. Bln. 2001). R. gehörte 1945 zu den Mitbegründern des »Tagesspiegels« u. wurde einer der Initiatoren der Freien Universität Berlin, an der er seit 1948 Ordinarius für Kunst- u. Kulturgeschichte war u. die er 1949/50 als Rektor leitete. Das Berlin-Museum verdankt ihm seine Entstehung. Im hohen Alter kehrte der inzwischen Erblindete noch einmal zur GoethePhilologie zurück u. ging in zahlreichen Aufsätzen Goethes künstlerischer Entwicklung u. dem Verhältnis von Leben u. Dichtung nach (Schicksal und Dichtung. Mit Vorw. v. Wieland Schmidt. Bln./New York 1985). Weitere Werke: Ein Jh. verklingt. Breslau 1935 (Autobiogr.). – Charlotte v. Stein. Lpz. 1943. – Goethes Begegnung mit Napoleon. Weimar 1944. Baden-Baden 21954. – Kunst u. Kultur der dt. Stadt. Bln. 1950. – Barock u. Rokoko in den Schlössern v. Berlin u. Potsdam. Bln. 1954. – Goethes Geburtstage. Olten 1955. Mchn. 21956. – Berliner Frauen. Bln. 1957. – Freie Universität Berlin. Bln. 1963. – Bekenntnis zu Berlin. Bln. 1964. Literatur: Georg Rohde (Hg.): E. R. zum 70. Geburtstag. Bln. 1955. Hans-Albrecht Koch / Red.

Redwitz(-Schmölz), Oskar Frhr. von, * 28.6.1823 Lichtenau bei Ansbach, † 6.7. 1891 Nervenheilanstalt St. Gilgenberg bei Bayreuth; Grabstätte: München, Alter Südlicher Friedhof. – Versepiker, Romancier, Lyriker. R., aus altem fränk. Adel stammend, fasste während seines 1846 aufgenommenen Jurastudiums in München den Plan einer »Restauration der Poesie aus dem Geist der Religion« (Lütkehaus). Sein Versepos Amaranth (Mainz 1849. 441904) zeichnet als Kontrastbild zur revolutionären Gegenwart ein »romantisch« kath. MA; der jungdt. Frauenemanzipation wird das Ideal weibl. Pflichterfüllung entgegengesetzt: »Mein stilles Haus sei meine Welt.« Das Werk fand über die Konfessionsgrenzen hinweg begeisterte Leser. 1851 heiratete R. Mathilde Hoscher, die »wirkliche Amaranth«, die er lange umworben hatte. Er quittierte den Staatsdienst, studierte bis 1851 in Bonn bei Simrock Mit-

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telhochdeutsch u. Literatur, übernahm dann – nach vergebl. Bemühung bei König Maximilian II. um eine Münchner Professur – im Sommer 1852 Vorlesungen in Wien. Seit 1854 bewirtschaftete er die Stammgüter Schmölz u. Theisenroth. R. wurde – für Zeitgenossen wie Fontane, Heyse, Roquette – zur heftig umstrittenen literar. Symbolfigur einer »katholischen Reaktion«. In R.’ Märtyrertragödie Thomas Morus (Mainz 1856) wurde die zeitgenöss. Bildung denn auch an einem kath. Humanismus gemessen, während Philippine Welser (Mainz 1859) u. der Doge von Venedig (Mainz 1863) einem religiös indifferenten Konservatismus verpflichtet sind. Der autobiogr. Roman Hermann Stark (3 Bde., Stgt. 1869) gibt Rechenschaft über die aufsehenerregende weltanschaul. Wandlung R.’; in die Zweite Kammer des bayerischen Abgeordnetenhauses gewählt, schloss er sich der liberalen Partei an. Als Kämmerer des Königs u. nun auch Träger des Maximiliansordens für Kunst u. Wissenschaft nahm er rege am Kulturleben Münchens teil. Das Lied vom neuen deutschen Reich. Eines ehemaligen Lützow’schen Jägers Vermächtniß an’s Vaterland (Bln. 1871), eine Erzählung in Sonetten, fand Anerkennung bei Kaiser Wilhelm I., Bismarck u. Moltke, wohl nicht zuletzt wegen seines Bekenntnisses gegen Partikularismus u. Konfessionsstreit. Seit 1872 lebte R., schwer nervenleidend u. zunehmend von Morphium abhängig, in seiner Villa »Schillerhof« bei Meran. Sein Versepos Odilo (Stgt. 1878), ein Pendant u. eine Art Widerruf der Amaranth, schildert den exemplarischen Lebenslauf Odilos vom Mönch zum Arzt u. wirbt für eine dt.-humanistisch geprägte, werktätige Bildungsreligion gegen die widernatürl. u. deshalb heuchlerische Askese eines ultramontanen Katholizismus. Das Irrenhaus wird hier zur satir. Weltmetapher; die ungelösten »Welträtsel« zwingen den wahren Menschen zur Entsagung. Weitere Werke: Gedichte. Mainz 1852. – Ein dt. Hausbuch. Stgt. 1882. – Haus Wartenberg. Bln. 1884 (R.). Literatur: Wilhelm Molitor: O. v. R. u. seine Dichteraufgabe. Mainz 1853. – Otto Gmelin u. Adolf Wilhelm Ernst: Zur Entstehungsgesch. der ›Amaranth‹. In: Euph. 3, Erg.-H. (1897),

469 S. 193–203. – Bernhard Lips: O. v. R. als Dichter der Amaranth. Münster 1908. – P. Expeditus Schmidt: O. v. R. In: Lebensläufe aus Franken. Hg. Anton Chroust. Bd. 5, Erlangen 1936, S. 262–267. – Friedrich Winterscheidt: Die geistesgeschichtl. Grundlagen der dt. Unterhaltungslit. der Jahre 1850–60. Diss. Erlangen 1966, S. 214–219. – Ingrid Leitner: Sprachl. Archaisierung. Ffm. u. a. 1978, S. 98–102. – Ludger Lütkehaus: Der ›Renegat‹ R. In: GRM 34 (1984), S. 174–176. – Bernhard Ebneth: R. In: NDB. – Rudolf Pfadenhauer: O. F. v. R. Edelmann u. Dichter aus Schmölz. In: Gesch. am Obermain 22 (2000), S. 159–165. – Joachim Faller: ›Hirtenruf‹ – O. v. R. u. sein lyr. Beitr. zum bad. Kirchenstreit. In: Freiburger Diözesan-Archiv 123 (2003), S. 99–107. Walter Schmitz / Red.

Reformatio Sigismundi. – 1439 in Basel entstandene anonyme Reformschrift. R. S. (Reformation Kaiser Sigismunds) wird schon in der handschriftl. Überlieferung eine deutschsprachige Reformschrift genannt, deren Verfasser, damit wohl auf lat. Quellen verweisend, sein Werk als aus dem Lateinischen übertragen kennzeichnet. Offensichtlich war er ein rechtskundiger Kanzlist, der die Verhandlungen u. Statuten des Konzils von Basel (1431–1449) kannte u. in nicht näher bestimmbarer Weise zum Umkreis Kaiser Sigismunds (1368–1437) u. König Albrechts II. (1397–1439) zählte. Die Schrift hebt mit einer Beschreibung der tiefgreifenden Missstände in der geistlichen u. weltl. Ordnung an u. wendet sich insbes. an die Reichsstädte als die einzig noch handlungsfähigen Träger einer grundlegenden Reform. Als Wurzel aller Übel benennt der Verfasser die seit der ersten Hälfte des 13. Jh. zerstörerisch wirkende, dem Wucher gleichgesetzte Simonie bei Päpsten, Kardinälen, Bischöfen u. Domklerikern sowie die dadurch bei den Laien beförderte Habgier. Als Basis einer Reformation, der Rückkehr zur göttlichen u. natürl. Ordnung, gelten ihm die Beachtung der sieben Sakramente sowie der Gottesglaube der einfachen Leute, deren religiöses Leben um freie Pfarrkirchen als »haupt der cristenheyt« zentriert sein soll. In einem längeren ersten Teil wird eine Ordnung für den Klerus vom Papst über die Kardinäle u. (Erz-)Bischöfe bis zu den Pfar-

Reformatio Sigismundi

rern u. Domherren sowie für deren jeweilige Einkommen u. Ausstattung entworfen. Den Priestern soll die Ehe erlaubt sein; kein Kleriker dürfe einem Orden angehören. Da die Orden seit langer Zeit ihre Ordensregeln verletzten, müssten ihre Mitglieder in ihre Klausuren rückgeführt u. ihnen Aufgaben u. Pfründen des Weltklerus genommen werden; Ordensgeistliche sollten nur den Chordienst versehen dürfen. Im zweiten, der Reichsreform gewidmeten Teil beklagt der Verfasser den Machtverfall des Königs u. fordert, diesem das ehemalige Reichsgut sowie seine Regalien zurückzugeben. Der König solle gelehrt, möglichst ein Jurist sein u. einen geistl. Rang, zumindest die Diakons-, besser noch die Priesterweihe besitzen. Die Reformvorschläge beschäftigen sich mit Zöllen, den kritisch beurteilten städt. Zünften, Handwerk u. Gewerbe einschließlich der Kaufmannschaft, der Leibeigenschaft, der weltl. u. geistl. Ritterschaft, der Rechtsprechung, dem Siegel- u. Notariatswesen, dem Münzwesen, der Friedenswahrung. Undeutliche Erwartungen des Verfassers gelten den nicht genauer bestimmten »Kleinen«; seine Hoffnungen orientieren sich auch an bibl. Prophezeiungen eines künftigen geweihten Königs. Die R. S. schließt mit einem Sigismund in den Mund gelegten Bericht über eine seine Reformvorstellungen begründende Traumvision, die er am 24.5.1403 (Christi Himmelfahrt) in Pressburg gehabt haben soll. In dieser vorgeblich visionär an ihn ergangenen »Offenbarung eins neuen stats« wird er als Wegbereiter eines kommenden priesterl. Friedensherrschers mit dem programmat. Namen »Friderich von Lantnewen« bezeichnet, der die in der R. S. entworfene Ordnung realisieren werde. Die R. S., deren Original verloren ist, ist in ihrer Fassung von 1439 in nur einer Handschrift erhalten. Darüber hinaus existieren mehrere, bis um 1450 entstandene, je unterschiedliche polit. Tendenzen hervorhebende Bearbeitungen, die sich der Fiktion vermeintlich autoritativer Darlegungen von Reformvorstellungen Kaiser Sigismunds verdanken dürften. Die R. S. ist öfters wie ein (authentisches) Reichsgesetz in Verbindung mit der als »Reformatio Friderici« bezeich-

Regenass

neten Frankfurter Reformation von 1442 (Reichslandfriede) sowie auch der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356 überliefert. 17 Handschriften u. acht Druckauflagen (stets Sammelbände) zwischen 1476 u. 1522 belegen eine die Verbreitung anderer reichstheoret. Texte übersteigende Rezeption der R. S.; sicher nachweisbar ist ihre Kenntnis allerdings erst bei Wolfgang Aytinger (1496). Der sog. Oberrheinische Revolutionär bezog sich im »Buch der 100 Kapitel« wohl auf sie. Ausgaben: R. S. Hg. Heinrich Koller. In: MGH. Staatsschr.en des späteren MA. Bd. 6, Stgt. 1964. Nachdr. 1995. – R. S. Fotomechan. Neudr. der Originalausg. 1497 [...]. Lpz./Köln 1979 (mit einem Nachw. v. Ursula Altmann). – R. S. (Augsb.: Lukas Zeissenmair 1497) mit einem Nachw. v. U. Altmann. 2. Repr. [...]. Lpz. 1984. – Anonymus: R. S. (Ausw.). In: Quellen zur Reichsreform im SpätMA. Ausgew. u. übers. v. Lorenz Weinrich. Darmst. 2001 (Ausgew. Quellen zur dt. Gesch. des MA. Frhr. vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 39), Nr. 29, S. 226–247. Literatur: Hartmut Boockmann: Zu den Wirkungen der ›R. S.‹. In: Studien zum städt. Bildungswesen des späten MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Bernd Möller u. a. Gött. 1983, S. 112–135. – Klaus H. Lauterbach: Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe u. Reformgedanke an der Wende zum 16. Jh. Freib. i. Br./Mchn. 1985, S. 57–72. – Heinrich Koller: R. S. In: VL (Lit.). – Peter-Johannes Schuler: Recht u. Billigkeit als polit. Forderung der Reformschr.en des 15. Jh. In: Kaiser Friedrich III. (1440–1493) in seiner Zeit. Studien anläßlich des 500. Todestags am 19.8.1493/1993. Hg. Paul-Joachim Heinig. Köln/Weimar/Wien 1993, S. 301–315. – Tilman Struve: Kontinuität u. Wandel in zeitgenöss. Entwürfen zur Reichsreform des 15. Jh. In: Sozialer Wandel im MA. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hg. Jürgen Miethke u. Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 365–382.  Alexander Patschovsky: Der Reformbegriff zur Zeit der Konzilien v. Konstanz u. Basel. In: Reform v. Kirche u. Reich zur Zeit der Konzilien v. Konstanz (1414–18) u. Basel (1431–49) [...]. Hg. Ivan Hlavácˇek u. A. Patschovsky. Konstanz 1996, S. 7–28. – Claudia Märtl: Der Reformgedanke in den Reformschr.en des 15. Jh. Ebd., S. 91–108. – Hartmut Boockmann: Über den Zusammenhang v. Reichsreform u. Kirchenreform. Ebd., S. 203–214. – Ders.: Die Orden in den dt. Texten zur Kirchen- u. Reichsreform des 15. Jh. In: Häresie u. vorzeitige Reformation im SpätMA. Hg. Frantisˇek Sˇmahel. Mchn. 1998, S. 275–288. – Carl

470 Pfaff: Klerus u. Laien im Spiegel der ›Reformatio Sigismundi‹. In: Pfaffen u. Laien – ein mittelalterl. Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996. Hg. Eckart Conrad Lutz u. Ernst Tremp. Freib./Schweiz 1999, S. 191–207. – Christian Jörg: ›zu ratslagen von des kornes wegen‹ – Überlegungen zu den Rahmenbedingungen städt. Versorgungspolitik in Zeiten v. Hungersnöten während des 15. Jh. im oberdt. Raum. In: Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit u. Armut v. der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Andreas Gestrich u. Lutz Raphael. Ffm. 2004, S. 309–338. – Ernö Marosi: R. S. In: Sigismundus rex et imperator. Kunst u. Kultur zur Zeit Sigismunds v. Luxemburg 1387–1437. Ausstellungskat. [...]. Hg. Imre Takács. Mainz 2006, S. 469. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/4978. Sabine Schmolinsky

Regenass, René, * 15.5.1935 Basel. – Erzähler, Dramatiker, Publizist. Nach einem abgebrochenen Studium (Germanistik, Geschichte, Romanistik) unternahm R. längere Fahrradreisen durch Europa, war dann u. a. als Werbetexter, Gärtner u. Redakteur tätig u. lebt heute als freier Schriftsteller u. Objektkünstler in Basel. R. veröffentlicht seit den 1960er Jahren in wechselnden, meist kleinen Verlagen ein umfangreiches Prosawerk, schrieb aber, namentlich in den 1970er u. 1980er Jahren, auch für Theater u. Radio. R.’ Romane u. Erzählungen bilden eine Porträtgalerie. Sie konzentrieren sich ganz auf das Erleben u. die Wahrnehmung ihrer Zentralfiguren, welche, oft als Ich-Erzähler, die Darstellungsperspektive bestimmen. Alternative Standpunkte kommen nicht zu Wort, was die Vereinsamung der Figuren u. ihre oft ans Wahnhafte grenzende Befangenheit in einer eigenen Welt (Porträt eines Portiers. Reinb. 1979, Roman) hervorhebt. Sie haben ein unscheinbares Leben geführt, bis ein Ereignis – eine polit. Protestaktion (Wer Wahlplakate beschmiert, beschädigt fremdes Eigentum. Basel 1973, Roman), ein plötzl. Erinnerungsschub (Schattenreise. Zürich 1986, Erzählung), eine unerwartete Liebesbeziehung (Doppelgesicht. Aachen 2009) – sie aus der Routine reißt u. in ihrer Spontaneität blockiert. Dass ein befreiender Reflexionsprozess ausgelöst wird, ist

471

die Ausnahme (Die Kälte des Äquators. Zürich 1982, Roman). Während in den früheren Werken die gesellschaftl. Determiniertheit der Akteure noch sichtbar gemacht wird, dominiert in den späteren das Private. Das Herausfallen aus der Normalität ist oft mit einem Ortswechsel verbunden, der die Protagonisten aus Basel, wo die Mehrzahl der Werke spielt, etwa in die ebenfalls aus intimer Kenntnis geschilderte Abgeschiedenheit des Juras führt (Die Schranke. Basel 2002; Doppelgesicht). Neben den elegischen verfügt R. auch über satir. Töne; das beweisen seine Kurzgeschichten aus der satir. Wochenzeitung »Der Nebelspalter« (Kopfstand. Rorschach 1984. Sehnsucht nach Nummerngirls. Rorschach 1995) sowie der Roman Der Anmacher (Basel 1998), der den Verlust von Authentizität unter dem Diktat von TV u. Modebranche in einer burlesken Handlung spiegelt. Stationen aus seinem eigenem Leben gestaltet R. im Erzählband Wegmarken (Basel 2004) in eindrücklichen biogr. Miniaturen. Weitere Werke: Der Besuch blieb meist über Nacht. Bern 1969 (E.en). – Wir haben das Pulver nicht erfunden, uns gehören nur die Fabriken. Basel 1971 (Kurzprosa u. L.). – Triumph ist eine Marke. Basel 1975 (Kurzprosa u. L.). – Aufbruch nach Urbino. Basel 1976 (E.). – Damit die Zunge nichts Falsches sagt. Basel 1979 (L.). – Vernissage. Zürich 1984 (R.). – Die Liliputanerin. Zürich 1986 (E.en). – Scotts Einsamkeit. Zwei E.en. Zürich 1989. – Theaterstücke: Die Sitzung. Urauff. Solothurn 1974. – Der Anschneider. Urauff. Salzb. 1976. – Mein Tschechow. Urauff. Solothurn 1980. – Arme, arme Bären. Urauff. Solothurn 1982. – Schöne Zeiten. Urauff. Solothurn 1983. – Wo liegt der Hund begraben? Basel 1984. – Hörspiele: Wer kennt den Mann. Radio DRS 1969. – Unerwartet rasch heimgegangen. Radio DRS 1978. – Autostop. Radio DRS 1979. Literatur: Dieter Altmann: R. In: KLG. – Valentin Herzog: R. R. In: LGL. – Brigitte Marschall: R. In: Theaterlexikon der Schweiz. Bd. 3, Zürich 2005, S. 1469. Dominik Müller

Regenbogen. – Fahrender Sangspruchdichter um 1300. Leben u. Legende sind bei R., den die Meistersinger zu den zwölf Begründern ihrer Kunst zählten, schwer auseinanderzuhalten.

Regenbogen

Er trägt wohl einen Spielmannsnamen: »Rege den (Fiedel-)Bogen!« Den Vornamen Barthel führt er erst im 16./17. Jh. Zeitgenosse des berühmten Frauenlob († 1318), mag er diesen überlebt haben; doch fehlt dafür ein sicheres Indiz. Wie Frauenlob ist der »cantor« R. in Tiroler Rechnungsbüchern bezeugt: 1302 erhielt er vom Kämmerer des Herzogs Ludwig in Mittewald im Eisacktal, Ottelin, ein Geldgeschenk. Aufenthalte im Westen u. bes. im Norden Deutschlands lassen sich aus sechs Strophen eines frühen Fragments (Berlin, Nachlass Grimm) erschließen: Dem Straßburger Bischof Konrad III. von Lichtenberg († 1299), dem als Minnesänger bekannten Brandenburger Markgrafen Otto IV. mit dem Pfeil († 1308) sowie Herzog Waldemar von Schleswig († 1312) widmet R. Totenklagen. Und in (mindestens) drei Strophen preist er Markgraf Waldemar von Brandenburg u. das große Ritterfest vor Rostock (1311). Demselben Fest gilt der Zyklus V, 13–17 Frauenlobs, der zuvor mehreren norddt. Fürsten gehuldigt hatte. Vermutlich trafen also R. u. Frauenlob wenigstens einmal in ihrem Leben, vor Rostock, zusammen u. wetteiferten anschließend im Preis desselben Fürsten. Die Gegnerschaft zwischen R. u. Frauenlob, ein zentrales Element der R.-Legende, wird demnach eine reale Basis haben. Dass R. Schmied war, ist in der meistersingerl. Literaturgeschichte seit dem späteren 15. Jh. fester Bestandteil seiner »Biografie«. Die Tradition reicht zwar bis in die erste Hälfte des 14. Jh. zurück: Die Miniatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) stellt R. als Waffenschmied – mit Dichterkranz, im Disput mit dem ebenfalls bekränzten Frauenlob – dar; u. eine Strophe in R.s Grauem Ton enthält die Drohung des enttäuschten Sängers (R.s selbst?), zum einträglicheren Schmiedberuf zurückzukehren, sollten die Fürsten seine Kunst künftig nicht besser honorieren. Aber diese ältesten Zeugnisse lassen sich keineswegs zweifelsfrei biografisch interpretieren. In Mainz, das heißt in der Nachbarschaft Frauenlobs, oder auch in Ulm wird R. seit etwa 1500 angesiedelt. Werk u. Wirkung R.s erscheinen merkwürdig disproportioniert: Von R.s gewiss umfängl. Œuvre sind aus alter Überlieferung

Regenbogen

nur kümmerl. Splitter bekannt. Andererseits nennen ihn schon um die Mitte des 14. Jh. Lupold Hornburg u. Heinrich von Mügeln (in der lat. Ungarnchronik) ehrend neben Frauenlob. Kein Tonautor ist dann in den Meisterliedersammlungen bis etwa 1520 häufiger u. breiter vertreten als R. (über 1500 Strophen); in der Kolmarer Liederhandschrift nimmt das R.Corpus nahezu ein Viertel des Raums ein. R. werden zahlreiche Töne zugeschrieben, z.T. erst im nachreformator. Meistergesang. Vier gelten als sein Eigentum (alle noch im 16./17. Jh. in Gebrauch): die Briefweise (Prüfweise), der Lange, der Kurze u. der Graue Ton. Die Briefweise fand den weitesten Anklang (auch bei lat. Dichtern). In der meisterl. Tradition waren die ausladenden Töne, der Graue u. der Lange, am beliebtesten; letzterer gehörte zu den vier Gekrönten Tönen. Etwa ein Dutzend Briefweise-Strophen wird heute als authentisch angesehen: die fünf lehrhaften Sprüche in C, die sechs Strophen des Fragments in Berlin, dazu wohl zwei Minnestrophen in einer Vorauer Handschrift. Frauenlobs Virtuosität geht ihnen gänzlich ab, doch braucht der zufällige Ausschnitt kein adäquates Bild von R.s Dichtkunst zu vermitteln. In welchem Maß er an der Polemik gegen Frauenlob beteiligt war, ist kaum zu rekonstruieren; den mehrstrophigen Sängerkrieg, den C im FrauenlobCorpus bietet, hat jedenfalls erst ein Redaktor arrangiert. Das themat. Spektrum der Nachdichtungen ist breit, v. a. in den Briefweise-Liedern; insg. aber dominieren geistl. Themen. Mehrere Lieder – darunter die vielstrophigen Erzählungen Veronika (mit R.-Signatur) u. Der Graf von Savoyen (Grundlage eines Basler Bildteppichs) – waren auch gedruckt verbreitet oder sind nur aus Drucken bekannt. Lieder, die Sängerkriegmotive aufgreifen u. R. oder Frauenlob als Herausforderer auftreten lassen, sind in beider Tönen abgefasst (Krieg von Würzburg, Schmiedegedichte II u. III, Rätsel usw.). Das R. in den Mund gelegte Sterbelied in Frauenlobs Zugweise (s. RSM 3, Tüb. 1986, S. 510 f.) endet versöhnlich: R. hofft, den Tonschöpfer im Himmel wiederzutreffen.

472 Ausgaben: Eine Gesamtausg., auch nur der älteren Strophen, fehlt. Einzelnachweise in RSM (s. Lit.). – Mehrere Strophen bzw. Meisterlieder in: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 2, S. 309, 344–346. Tl. 3, S. 344–354, 452 f., 468i-m. – Karl Bartsch (Hg.): Meisterlieder der Kolmarer Hs. Stgt. 1862, S. 338–424, 599–601, 616. – Wackernagel 2, S. 254–270, 279–286 u. ö. – Weitere Texte (s. ggf. Lit.): Wachinger. – Schröder 1984 u. 1990. – Jörg Dürnhofers Liederbuch. [Faks.] Mit Nachw. u. Komm. v. Frieder Schanze. Tüb. 1993 (s. Register S. 36 f.). – Elisabeth Wunderle: Die Sammlung v. Meisterliedern in der Heidelberger Hs. cpg 680. Ed. u. Komm. Göpp. 1993 (s. S. XII). – Annette Volfing: The authorship of John the Evangelist as presented in medieval German sermons and ›Meisterlieder‹. In: Oxford German Studies 23 (1994), S. 1–44, hier S. 38–44. – Ulrike-Marianne Schulz: Liebe, Ehe u. Sexualität im vorreformator. Meistersang. Texte u. Untersuchungen. Göpp. 1995 (s. S. 25 f.). – Joachim Knape: Das Grazer mittelniederdt. Veronica-Fragment (Pseudo-Regenbogen i) aus dem 15. Jh. In: JOWG 10 (1998), S. 225–234. – Gade 2001, S. 235 f.; 2005, bes. S. 51–55. – Baldzuhn 2002; 2004, S. 166 f.; 2007, S. 232–242. – Schnyder, S. 34–59. – Krause, S. 217 f. – Derron, S. 245–247. – Kornrumpf. – Melodien (u. Texte): Geistl. Gesänge des dt. MA. Melodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bis um 1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1–4. 6–7, Kassel u. a. 2003 ff., Nr. 105, 156, 181/229, 215, 288, 366, 492, 657. – Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Friedrich Heinrich v. der Hagen, Tl. 4, a. a. O., S. 633–642. – Ludwig Schönach: Urkundliches über die Spielleute in Tirol. In: ZfdA 31 (1887), S. 171–185, bes. S. 176. – Anton Wallner: R. In: PBB 33 (1908), S. 542–544. – Reinhold Schröder: Vorüberlegungen zu einer R.-Edition. In: Kolloquium über Probleme altgermanist. Ed.en. Hg. Hugo Kuhn u. a. Wiesb. 1968, S. 138–142. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973, bes. S. 188 f., 280–298. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975 (Register). – Hella Frühmorgen-Voss: Text u. Illustration im MA. Mchn. 1975 (Register). – Frieder Schanze: ›Der Graf v. Savoyen‹. In: VL. – Ders.: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Bd. 1, Mchn. 1983 (Register). Bd. 2, Mchn. 1984, bes. S. 66–77, 321–323. – R. Schröder: Die R. zugeschriebenen Schmiedegedichte. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984,

Regener

473 S. 289–315. – H. Brunner u. Johannes Rettelbach: ›Der vrsprung des maystergesangs‹. In: ZfdA 114 (1985), S. 221–240. – F. Schanze: R. In: VL (Lit.). – R. Schröder: ›Der regenboge den vrouwenlop bestunt gelicher wer‹. In: ›Ja muz ich sunder riuwe sin‹. FS K. Stackmann. Hg. Wolfgang Dinkelacker u. a. Gött. 1990, S. 180–205. – RSM 5. Bearb. v. F. Schanze u. B. Wachinger. Tüb. 1991, S. 1–200; RSM 1, Tüb. 1994, S. 27. – J. Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Reinhard Bleck: Sängerwettstreit vor Rostock. Die Treffen Frauenlobs mit Hermann Damen (1302) u. mit R. (1311/12) auf Rostocker Ritterfesten. In: Beiträge zur Gesch. der Stadt Rostock 23 (1999), S. 23–64, bes. S. 50 ff. – Martina Probst: ›Nu wache ûf, sünder træge‹. Geistl. Tagelieder des 13. bis 16. Jh. Ffm. 1999, bes. S. 47–79. – F. Schanze: ›Veronika‹ II. In: VL. – Dietlind Gade: e ›Hoch in dem lufft wirt vns erzogt ir wunder‹. Eine versifizierte ›Lucidarius‹-Passage in R.s Langem Ton. In: PBB 123 (2001), S. 230–252. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Mchn. 2002, S. 39, 265–312. – Anna Rapp Buri: Die Gesch. des Grafen v. Savoyen auf einem Basler Wirkteppich um 1475/80. In: Lit. u. Wandmalerei I. Hg. Eckart Conrad Lutz u. a. Tüb. 2002, S. 491–506. – J. Rettelbach: Sangspruchdichtung zwischen Frauenlob u. Heinrich v. Mügeln – eine Skizze. In: Studien zu Frauenlob u. Heinrich v. Mügeln. FS K. Stackmann. Hg. Jens Haustein u. a. Freiburg/Schweiz 2002, S. 145–174. – Ders.: R. In: NDB. – M. Baldzuhn: Teichnerreden u. Meisterlieder. In: ZfdA 133 (2004), S. 151–176, hier S. 153, 165–167. – André Schnyder: Das geistl. Tagelied des späten MA u. der frühen Neuzeit. Tüb./Basel 2004, S. 223–229, 668 f. – H. Brunner: R. In: 2 MGG, Personenteil. – Maria Dobozy: Re-membering the Present. Medieval German Poet-Minstrel in Cultural Context. Turnhout 2005, bes. S. 150–154. – D. Gade: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie u. Astronomie in der meisterl. Lieddichtung des 14. u. 15. Jh. Tüb. 2005 (Register). – Berenike Krause: Die ›milte‹-Thematik in der mhd. Sangspruchdichtung. Ffm. 2005. – M. Baldzuhn: Minne in den Sangspruchtönen R.s. Eine Überschau in typolog. Absicht. In: Sangspruchdichtung. Hg. Dorothea Klein u. a. Tüb. 2007, S. 187–242. – Marianne Derron: Des Strickers ›ernsthafter König‹. Ffm. 2008, S. 173–188. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2009. – Gisela Kornrumpf: Fürstenpreis u. Totenklagen R.s (im Druck).

Regener, Sven, * 1.1.1961 Bremen. – Romanautor, Rockmusiker.

Gisela Kornrumpf

Literatur: Carlo Brune: ›Die Sterne wärmen den Himmel nicht mehr und eiskalt scheint der Mond‹. S. R.s ›Romantik‹ des 21. Jh. In: Lit. im Unterricht 6 (2005), H. 1, S. 1–16. – Simone Merk:

Der gebürtige Bremer R. studierte einige Semester Musikwissenschaft in Hamburg u. Berlin u. spielte klassische u. E-Gitarre, Trompete u. Piano in den Bands Zatopek u. Neue Liebe. Seit 1985 ist er Songwriter, Gitarrist u. Trompeter in der von ihm gegründeten, inzwischen deutschsprachigen Gruppe Element of Crime. R.s Bekanntheit als Schriftsteller fußt auf Charakter u. Lebensweise seines Protagonisten Frank Lehmann, eines »neuen deutschen Archetypus« (»Der Spiegel«) u. »Oblomow unserer Tage« (»Der Tagesspiegel«), den R.s Romantrilogie vom Bremer Zivildienst über das Berliner Avantgarde-Milieu der frühen 1980er Jahre bis zu seinem 30. Geburtstag, dem Tag des Mauerfalls, begleitet. Lehmann – ambitionsloser Pragmatiker, dabei jedoch mit sich u. seinem Leben im Reinen – schenkt in einer Kreuzberger Kneipe Bier aus u. sucht diese beschaul. Existenz gegen Veränderungen im Privaten wie im Politischen zu verteidigen. 2001 gelang R. so mit Herr Lehmann (Ffm.) ein in mehr als 20 Sprachen übersetzter Debüterfolg bei Kritik u. Publikum; auch Leander Haußmanns gleichnamige Verfilmung mit Christian Ulmen in der Hauptrolle (2003) wurde mehrfach prämiiert (u. a. Deutscher Filmpreis in Gold, Deutscher Drehbuchpreis). Als Prequel erschien drei Jahre später Neue Vahr Süd (Ffm. 2004); 2008 schloss Der kleine Bruder (Ffm.; R. arbeitet an der Drehbuchfassung) die Trilogie ab. Alle drei Romane sind auch erhältlich als vom Autor gelesene Hörbücher (Bochum 2002. 2004. 2008), Herr Lehmann außerdem als Hörspiel (Mchn. 2008). Die Zusammenarbeit zwischen R. u. Leander Haußmann setzte sich jüngst im Soundtrack zu dessen Komödie Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe (2008) fort. Weiteres Werk: Angulus Durus. Traum eines lächerl. Menschen. Ein Katastrophenfilm. Ffm. 2006 (zus. mit Germar Grimsen).

Burggraf von Regensburg

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›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹. Zeit, Gesch. u. Zeitgesch. in S. R.s ›PostPop-Roman‹ ›Herr Lehmann‹. In: Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartslit. Hg. Andrea Bartl. Augsb. 2005, S. 127–161. – ›Wir sind doch alle keine Pappkameraden!‹ [André Boße im Interview mit S. R.]. In: Galore 42 (2008), S. 36–41. Kathrin Klohs

Burggraf von Regensburg, Burggraf von Rietenburg, zweite Hälfte des 12. Jh. – Minnesänger. Die Manessische Handschrift (C) überliefert sieben Strophen für den Burggrafen von Rietenburg, von denen sich fünf auch in Handschrift B finden, sowie vier Strophen für den Burggrafen von Regensburg, die – teilweise Leuthold von Seven zugeschrieben – auch in Handschrift A erscheinen. Während die Forschung nach dem Zeugnis der Handschrift C meist von zwei verschiedenen Minnesängern ausging, legt das 1985 entdeckte Budapester Fragment (Bu) nahe, dass beide Namensformen auf denselben Sänger verweisen: Bu überliefert die in Handschrift C dem Rietenburger zugesprochenen Strophen als Dichtung des Regensburgers. Eine Vermischung der Funktionsbezeichnung des Burggrafen von Regensburg u. der Herkunftsbezeichnung nach Rietenburg im Altmühltal lässt sich damit erklären, dass die Familie von Steffling und Rietenburg das Regensburger Burggrafenamt 970–1184 in Erbfolge innehatte, entsprechend zeigt auch die nicht ausgeführte Miniatur in Handschrift Bu unter der Überschrift des Burggrafen von Regensburg das Rietenburger Wappen. Der Minnesänger war wohl nicht der bis 1174 nachweisbare Heinrich III., sondern einer seiner drei Söhne: Der älteste Sohn Friedrich ist zwischen 1155 und 1181 bezeugt u. hatte durch seine babenbergische Mutter Bertha Kontakt zu Herzog Heinrich II. Jasomirgott u. dessen Sohn Leopold V. Friedrich ist wie sein jüngerer Bruder Heinrich IV., der zwischen 1171 u. 1184 urkundlich belegt ist, auch im Umfeld Kaiser Friedrichs I. zu finden. Otto III. (1170–1185 bezeugt), der jüngste Bruder, entstammt der zweiten Ehe Heinrichs III.

Die beiden in Handschrift C dem Regensburger zugeschriebenen Lieder (MF 16,1; MF 16,15) sind durchgängig in Langversstrophe verfasst, während die Strophen, die C für den Rietenburger aufweist, eine Entwicklung von der Langzeilenstrophe zur Kanzonenform zeigen, indem etwa MF 18,1 u. 18,9 mit paargereimten Langversen beginnen u. als kurze Paarreime fortfahren. Betrachtet man das Regensburg/Rietenburg-Œuvre als Einheit, so scheint sich der B. in Auseinandersetzung mit romanischer Lyrik (Peirol, Folquet de Marseille) zunehmend der moderneren Kurzversstrophe zu öffnen. Mehrfach begegnet eine Frau, die gegen gesellschaftl. Anfeindungen ihr sehnsuchtsvolles Begehren formuliert, mitunter als Zuwiderhandlung gegen ein direktes Verbot u. in Erinnerung an eine heiml. Liebesbegegnung mit dem tugendhaften Ritter (MF 16,1; 16,8; 16,23). Auch in dem zweistrophigen Wechsel Nu endarf mir nieman wîzen (MF 18,1) sind die Liebenden einander unbedingt zugetan. Das weibl. Ich will seine Beziehung zum Ritter notfalls auch gegen die Gesellschaft durchsetzen, die syntaktisch komplexere Strophe des Mannes beschreibt die Hochstimmung, in die ihn ihre Zuneigung versetzt, affektives u. reflektierendes Sprechen sind hier ineinander verschränkt. MF 18,25 bietet eine anspruchsvollere 10-versige Strophenform mit zwei Stollen im Kreuzreim u. einem in doppelter Reimbindung an den Aufgesang angereimten Abgesang. An die Stelle einer gegenseitigen Liebe tritt nun das Konzept höfischer Dienstminne. Der Mann bleibt ganz abhängig vom Verhalten der Dame, neben dem emotionalen Bedürfnis formuliert er einen ethischen Anspruch, ist zu entsagungsvollem Dienst bereit. In drei einstrophigen Liedern MF 19,7–19,27 kommt schon früh ein selbstreflexives Moment in den Sang: MF 19,7 stellt dem Minneleid ein neues, kunstvolles Singen als Möglichkeit einer von äußeren Bedingungen unabhängigen, positiven Wirklichkeitskonstruktion gegenüber – ein abwägendes Gegenüberstellen von altem u. neuem Sang, das sich gut zur Experimentierfreude des Œuvres fügt. In MF 19,17 Sît si wil versuochen mich interpretiert das Ich die Ablehnung der Dame

Reger

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als Prüfung u. Ansporn zur ästhet. Verbesserung des Sangs, in MF 19,27 sorgt es sich, des Landes verwiesen, um das Lob der Dame. Das Œuvre des B. ist durch ein starkes Experimentieren mit Strophenform u. Minnekonzept bestimmt u. steht im schrittweisen Entwickeln eines neuen Stil- u. Minneideals an der Grenze zwischen der älteren Langversstrophe des donauländischen Minnesangs u. der neuen, auf die Romania ausgerichteten Kanzonenform, zwischen einer frühen Minnekonzeption, die ein gegenseitiges Begehren der Geschlechter formuliert, u. dem frühklass. Konstrukt, in dem die Verweigerung der idealisierten Dame das Ich zu ethischer Vervollkommnung im Dienst anspornt. Ausgaben: Minnesangs Frühling I, S. 32–37 (zitiert). – Dt. Lyrik des frühen u. hohen MA. Hg. u. komm. v. Ingrid Kasten, übers. v. Margherita Kuhn. Ffm. 2005, S. 62–67 (Ausw.). Literatur: Manfred Mayer: Gesch. der Burggrafen v. Regensburg. Diss. Mchn. 1883. – Max Ittenbach: Der frühe dt. Minnesang. Halle 1939, S. 117–140. – Günther Schweikle: Burggraf v. Regensburg. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: Burggraf v. Riedenburg. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – András Vizkelety: Die Budapester Liederhs. In: PBB 110 (1988), S. 387–407. – Johannes Janota: Zum Burggrafen v. Regensburg im Budapester Fragment. In: Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhss. Akten des Grazer Symposiums 13.-17. Okt. 1999. Hg. Anton Schwob u. András Vizkelety. Bern/Bln. 2001, S. 131–142. – Thomas Neukirchen: ›Sît sich hât verwandelt diu zît‹. Alter Sang u. neuer Sang beim Burggrafen v. Rietenburg in der Redaktion der Hs. C (MF 19,7–19,27). In: GRM 51 (2001), S. 285–302. Sandra Linden

Reger, Erik, eigentl.: Hermann Dannenberger, * 8.9.1893 Bendorf/Rhein, † 10.5. 1954 Wien. – Romanautor, Journalist. Nach dem Abitur studierte R. zunächst in Bonn, München u. Heidelberg Germanistik, Kunst u. Geschichte. Unmittelbar bei Kriegsbeginn eingezogen, geriet er 1917 in engl. Gefangenschaft, aus der er 1919 ins Ruhrgebiet zurückkehrte. Ein Kriegsroman mit dem Titel 554 blieb unveröffentlicht. Durch die Arbeit im Pressebüro der Krupp-

Werke (1919–1927) wurde er mit entscheidenden Entwicklungen u. Interna der dt. Nachkriegsindustrie vertraut. Für die seit 1924 regelmäßige Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen entstand sein Pseud., da R. als Angestellter der Kruppschen Pressestelle nicht für andere Zeitungen schreiben durfte. R.s frühe Artikel, denen die polem. Schärfe der Romane u. späteren Aufsätze noch fehlt, bewegen sich im breiten Feld des Feuilletons u. sind an expressionist. Kunstvorstellungen orientiert. Unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit kehrte sich R. nach 1927 in radikaler Weise von dieser Position ab u. propagierte einen neuen operationalen Literaturbegriff u. eine »publizistische Funktion der Dichtung« (in: »Generalanzeiger«, 31.3.1931). Bereits in seinem Erstlingswerk, dem Reportageroman Union der festen Hand (Bln. 1931. Reinb. 1979. Neuaufl. Essen 2007), realisierte R. dieses Programm in perspektiv. Komplexität u. stilist. Eleganz. Der mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Roman schildert in historisch genau fixierten Etappen die zentralen wirtschaftl. wie polit. Prozesse der Jahre 1918–1930 im Brennpunkt Ruhrgebiet: von den revolutionären Nachkriegswirren über die erneute Konsolidierung der Schwerindustrie durch geschickte Manipulation mit Reparationsverpflichtungen u. Inflationswerten zur zunehmenden Monopolisierung u. Kartellbildung, die polit. u. ideolog. Maßnahmen flankierten. Der für die Weimarer Republik typischen Mischung von Modernität u. Ungleichzeitigkeit galt dabei R.s bes. Interesse. Obwohl nahezu alle Ereignisse, Institutionen u. Personen für den histor. Leser eindeutige Referenz haben, lässt sich Union der festen Hand nicht auf einen Schlüsselroman reduzieren. Die Figuren des auf zwei gesellschaftl. Ebenen (Oberbühne von Industrieadel, Hochfinanz u. Politik u. Unterbühne proletarischer u. kleinbürgerl. Lebensverhältnisse) angesiedelten Romans sind in konsequenter Weise depersonalisiert u. fungieren als Träger gesellschaftlicher bzw. ökonom. Strukturen, sodass der durch Zitatmontagen durchbrochene Text als modellhafte Gestaltung zeitgeschichtlicher Prozesse, als »Vivisektion der Zeit« (Reger) gele-

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sen werden muss. Eine vorangestellte »Ge- sektion der Zeit‹. Studien zur Darstellung u. Kritik brauchsanweisung« exponiert den operatio- der Zeitgesch. in Publizistik u. Romanwerk E. R.s nalen, auf eine krit. Öffentlichkeit zielenden (1924–32). Hbg. 1997. – E. Schütz: Durchs Dritte Charakter des Textes, dem R. nur widerstre- Reich. E. R. In: Katastrophen u. Utopien. Exil u. innere Emigration 1933–45. Hg. Hermann Haarbend die Bezeichnung »Roman« gab. Im mann u. a. Bln. 2002, S. 53–68. – Jörn Steigerwald: Gegensatz zu der Fülle kommunistisch mo- Das imaginäre Kapital der Industrie. E. R.s ›Union tivierter Industrie- u. Reportageromane spart der festen Hand‹. In: Die Macht u. das Imaginäre. seine polem. Kritik den Arbeiter nicht aus: Hg. Rudolf Behrens u. Jörn Steigerwald. Würzb. Ironisch entlarvt er kleinbürgerl. Sehnsüchte 2005, S. 251–270. – Jan-Pieter Barbian: ›Ein Autor, vermeintlich klassenbewusster Proletarier der nicht mehr so darf, wie er will‹. E. R. u. der oder die unterschwellige Identität von natio- Rowohlt Verlag im Dritten Reich. In: Ders.: Die nalem u. kollektivem Pathos. Während Das vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger u. wachsame Hähnchen. Polemischer Roman (Bln. Buchhändler im NS-Staat. Essen 2008, S. 227–251. Frank Raepke / Red. 1932) dokumentarischen Stil u. iron. Analytik des Erstlings aufnimmt, sind die späteren Veröffentlichungen bestenfalls als unpolit. Regino, Abt von Prüm, * vermutlich Mitte Unterhaltungsromane zu bezeichnen. des 9. Jh. Altrip bei Speyer, † wohl 915 Nachdem R. 1934 zunächst ins Schweizer Trier. – Verfasser historischer, kanoniExil geflohen war, konnte er 1935 nach scher und musiktheoretischer Schriften. Deutschland zurückkehren u., teilweise unter Aufsicht der Gestapo, als Redakteur u. R. wird erstmalig 892 als Abt des Klosters Lektor (Deutscher Verlag, Berlin) arbeiten. Als Prüm in der Eifel erwähnt. Dort ließ er, um Lizenznehmer, Mitherausgeber u. Chefre- nach den Normannenüberfällen des vergandakteur des »Tagesspiegels« knüpfte er nach genen Jahrzehnts das Kloster wirtschaftlich 1945 erfolgreich an seine journalist. Arbeit zu sichern, ein Güterverzeichnis, das sog. an. Sein deutl. Engagement gegen die Prümer Urbar, erstellen. R. wurde auf BeZwangsintegrierung der SPD verhinderte treiben der Matfridinger 899 aus Prüm vereine angemessene Rezeption der 1946 erneut trieben u. erhielt durch Erzbischof Ratbod die aufgelegten Union der festen Hand in der DDR, Leitung des Klosters St. Martin bei Trier, wo aber auch in der Bundesrepublik blieb der seine drei überlieferten Werke entstanden 1984 verfilmte Roman weitgehend unbe- sind. In ihnen zeigt sich R. als selbständiger Kommentator u. Realist, der sich pragmakannt. tisch an den Bedürfnissen des kirchl. Alltags Weitere Werke: Schiffer im Strom. Bln. 1933 (R.). – Napoleon u. der Schmelztiegel. Bln. 1935 orientiert. In seinem vermutlich kurz nach (R.). – Lenz u. Jette. Chronik einer Leidenschaft. 900 entstandenen Tonar – nach dem Metzer Bln. 1935 (R.). – Der verbotene Sommer. Bln. 1941 überhaupt erst der zweite umfassende Tonar (R.). – Vom künftigen Dtschld. Aufsätze zur Zeit- des Mittelalters – sind die klösterl. Gesänge gesch. Bln. 1947. – Zwei Jahre nach Hitler. Hbg./ (Antiphonen) nicht nach liturg. Kriterien, Stgt. 1947. – Raub der Tugend. Bln. 1955 (N.). sondern nach den acht mittelalterl. KirchenLiteratur: Wolfgang Harich: Union der festen tonarten geordnet. Innerhalb jeder Tonart Hand. In: Aufbau 2 (1946), S. 808–827. – Helmut wird dann die Verbindung von notierter AnLethen: Neue Sachlichkeit 1924–32. Stgt. 1975. – tiphon u. mündlich überlieferter Psalmodie Karl Prümm: Nachw. mit Auswahlbibliogr. In: mit Hilfe von sog. EUOAE-Formeln herge›Union der festen Hand‹. Reinb. 1979, S. 509–571. stellt. Außerdem helfen kurze, vorangestellte – Erhard Schütz u. Matthias Uecker: ›PräzisionsMelodien dem Sänger, die Besonderheiten ästhetik‹? E. R.s ›Union der festen Hand‹. In: Neue der einzelnen Tonarten zu erfassen u. die Sachlichkeit im R. Hg. Sabina Becker u. Christoph Weiss. Stgt. u. a. 1995, S. 89–111. – M. Uecker: Der Gesänge sicherer vorzutragen. Mit diesen Publizist als Romancier. E. R.s Ruhrgebiets-R.e. In: Hilfen zielt R. auf eine Verbesserung des Sprache u. Lit. an der Ruhr. Hg. Konrad Ehlich, Choralgesangs in der Trierer Diözese, wie er Wilhelm Elmer u. Rainer Noltenius. Essen 1995, auch zu Beginn seiner Epistola, eines meist S. 163–178 (21997). – Christian Tauschke: ›Vivi- getrennt vom Tonar überlieferten musik-

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theoret. Textes, mitteilt. Die Kompetenz R.s auf diesem Gebiet ist allerdings eher zweifelhaft, da der größte Teil seiner Briefabhandlung zu musikal. Grundlagen wie Intervallen u. Tonsystemen lediglich aus Texten von Boethius, Martianus Capella, Macrobius u. a. kompiliert ist. Die Unterteilung der Musik in »Musica naturalis« u. »Musica artificialis« hingegen stammt von R. selbst, wobei für ihn die »Musica naturalis« die Musik der Himmelskörper nach pythagoräischem Vorbild, den Kirchengesang sowie die Laute der Tiere umfasst. Auf diese Weise ersetzt er nicht nur die »Musica mundana« u. »Musica humana« des Boethius, sondern schließt auch die klangl. Realität der menschl. Stimme mit ein u. akzentuiert so auf theoret. Ebene die Bedeutung des Kirchengesangs. Dies vertieft R. im vorletzten Kapitel seines Briefes, indem er den traditionell schlecht beleumundeten »Cantor« aufwertet: Dieser müsse nicht nur gut singen können, sondern außerdem die Ordnung der Harmonien erfassen; eine Aufgabe, die bei Boethius noch allein dem »Musicus« als Instanz des theoret. Wissens zufiel. Seine spätestens 906 abgeschlossenen Libri duo sollten dem Widmungsträger u. Mainzer Bischof Hatto als Handbücher für dessen Sendgerichte dienen, damit dieser keine umfangreichen Kirchenrechtshandschriften mit sich führen musste. Mithilfe solcher Gerichte wird seit dem 9. Jh. die Disziplin einer Diözese aufrechterhalten u. jede Verfehlung gegen kirchl. Vorschriften geahndet. In beiden Büchern – Bd. 1 betrifft die Geistlichkeit (455 Kapitel), Bd. 2 die Laien (454 Kapitel) – findet sich zunächst ein Verzeichnis der zu stellenden Fragen, anschließend eine Zusammenstellung der entsprechenden Stellen aus Konzilsakten (v. a. aus der Collectio hispania, der Dionysiana sowie aus jüngeren Akten fränkischer Synoden des 9. Jh.), schließlich vermutlich aus der Trierer Kirche stammende Eidesformulare, Exkommunikationsformeln u. Formbriefe. Dabei kürzt, vereinfacht u. verändert R. die Quellen bisweilen stark. Den inhaltl. Schwerpunkt bilden Eherechtsfragen, wobei R. mitunter zum brutalen Strafrecht der Spätantike neigt. Das bis ins 11. Jh. als das wichtigste Handbuch für Sendgerichte

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geltende Werk ist vollständig nur in der (unzuverlässigen) Ausgabe von Waschersleben ediert, in Teilen, einschließlich Übersetzung, bei Hartmann. Die zweibändige Chronik (908 beendet) ist Bischof Adalbero von Augsburg gewidmet u. diente möglicherweise der Erziehung Ludwigs IV. R. will nach eigener Aussage v. a. Zeitgeschichte schreiben, da er befürchtet, die Gegenwart könne in Vergessenheit geraten. Das erste, auf Beda basierende Buch reicht von Christi Geburt bis ins Jahr 741 u. wird von einem Papstkatalog sowie einem zusammenfassenden Rückblick beendet. Im umfangreicheren zweiten Band lässt R. mit den Karolingern eine neue Epoche beginnen u. durchbricht gleichzeitig das traditionelle Schema von den vier Weltreichen. Er greift hier auf die Annales Regium Francorum (bis 813), die Lorscher Annalen, Aktenstücke u. evtl. westfränk. Quellen zurück. Aus heutiger Sicht interessanter ist der Abschnitt ab 875, da R. sich auf eigenes Erleben stützt, dabei allerdings Rücksicht auf Zeitgenossen nehmen muss. R.s Text gehörte zu den im Mittelalter am häufigsten gelesenen Geschichtswerken. Nach einem 1581 aufgefundenen Grabstein im Kloster St. Maximin zu Trier ist R. wohl 915 verstorben. Ausgaben: De harmonica institutione: In: Scriptores ecclesiastici de musica sacra. Hg. Martin Gerbert. Bd. 1, St. Blasien 1784. Nachdr. Hildesh. 1963, S. 230–247. – Michael Bernhard: Clavis Gerberti. Eine Revision v. Martin Gerberts ›Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum‹ (St. Blasien 1784). Tl. 1, Mchn. 1989, S. 37–73. – Tonarius: In: Scriptores de musica medii aevi. Hg. Edmond de Coussemaker. Bd. 2, Paris 1867. Nachdr. Hildesh. 1987, S. 1–73. – Friedrich G. A. Waschersleben (Hg.): Reginonis abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis. Lpz. 1840. Nachdr. Graz 1964. – Teilausgabe einschließlich dt. Übersetzung: Wilfried Hartmann: Das Sendhandbuch des R. v. P. Darmst. 2004. – Friedrich Kurze (Hg.): Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon cum continuatione Treverensi. Hann. 1890. Nachdr. 1978. – Lat.-dt. Ausgabe: Quellen zur karoling. Reichsgesch. Tl. 3: Jbb. v. Fulda, R.s Chronik, Notkers Taten Karls. Bearb. v. Reinhold Rau. Darmst. 2002 (1969), S. 6–10, S. 179–319.

Regiomontanus Literatur: Wolf-Rüdiger Schleidegen: Die Überlieferungsgesch. der Chronik des R. v. P. Mainz 1977. – Michael Bernhard: Studien zur ›Epistola de armonica institutione‹ des R. v. P. Mchn. 1979. – Gerhard Schmitz: Ansegis u. R. Die Rezeption der Kapitularien in den ›Libri duo de synodalibus causis‹. In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. Kanonist. Abt. 74 (1988), S. 95–132. – Ders.: R. v. P. In: VL. – Franz Brunhölzl: Gesch. der lat. Lit. des MA. Bd. 2, Mchn. 1992, S. 82–89 u. 568–569. – Susan Boynton: The Sources and Significance of the Orpheus Myth in ›Musica Enchiriadis‹ and R. of P.’s ›Epistola de harmonica institutione‹. In: Early Music History 18 (1999), S. 47–74. – Achim Diehr: Lit. u. Musik im MA. Eine Einf. Bln. 2004. – Wilfried Hartmann: ›Sozialdisziplinierung‹ u. ›Sündenzucht‹ im frühen MA? Das bischöfl. Sendgericht in der Zeit um 900. In: Jb. des Histor. Kollegs 2005, S. 95–119. – Harald Siems: ›In ordine posuimus‹. Begrifflichkeit u. Rechtsanwendung in R.s Sendhandbuch. In: Recht u. Gericht in Kirche u. Welt um 900. Hg. W. Hartmann. Mchn. 2007, S. 67–90. Achim Diehr

Regiomontanus (der »Königsberger«), Johannes, eigentl.: J. Müller, * 6.6.1436 Königsberg/Franken, † 6. (oder 8.) 7.1476 Rom. – Mathematiker u. Astronom. Der Sohn eines Königsberger Stadtmühlenbesitzers konnte bereits im Wintersemester 1447/48 in Leipzig mit dem Studium beginnen. Am 14.4.1450 wurde er an der Universität Wien immatrikuliert, wo er am 16.1.1452 das Baccalaureat erwarb u. 1457 Magister wurde. Am 11.11.1457 trat er in die philosoph. Fakultät ein u. las hier wie sein Lehrer Georg Peuerbach nicht nur über mathematisch-naturwiss. Themen (Geometrie, Optik, Astronomie), sondern auch über röm. Dichtung. Peuerbach u. R. waren aufgeschlossen für den von Piccolomini 1445 in Wien eingeführten Humanismus, übertrugen diese Geisteshaltung auch auf das Fachschrifttum der Antike u. begründeten damit die humanist. Naturwissenschaft. Bestärkt wurden sie durch Kardinal Johannes Bessarion, der sich 1460/61 in Wien aufhielt. Beide nahmen eine Einladung Bessarions nach Italien an, u. R. begann mit dem Erlernen des Griechischen. Nach Peuerbachs frühem Tod führte er dessen Epitoma in Almagestum (gedr. Venedig

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1496 u. ö.) zu Ende u. musste die Reise im Gefolge Bessarions allein antreten. In Italien hielt er Vorlesungen (Rom, Padua), stellte Beobachtungen an, sammelte u. kopierte aber hauptsächlich griechische mathemat. Handschriften. Nach seiner Rückkehr wurde er vom ungarischen König Matthias Corvinus 1467 an die neue Universität Pressburg berufen, hielt sich aber v. a. am Hof in Ofen u. in Gran auf, bis er sich 1471 in Nürnberg niederließ. Er fand hier so große Unterstützung durch Patrizier (u. den ungarischen König), dass er eine eigene Beobachtungswarte, v. a. aber eine eigene Druckerei einrichten konnte, um sein ehrgeiziges Programm der Edition drucktechnisch bis dahin zu schwieriger mathemat. Texte in die Tat umsetzen zu können. In dem Patrizier Bernhard Walther (1430–1504) fand er nicht nur einen Gönner, sondern auch einen gewissenhaften Gehilfen bei astronom. Beobachtungen. Nach einer zweiten Italienreise 1472 begab sich R. Ende Juli 1475 auf Einladung Papst Sixtus’ IV. zur Vorbereitung der Kalenderreform nach Rom (seine vorangegangene Abhandlung De instauratione kalendarii ecclesiae ist verschollen) u. starb hier vermutlich an einer Seuche. R.’ Ziel war die Erneuerung der Mathematik u. Astronomie sowohl durch exakte Beobachtungen wie auch durch Wiedergewinnung der Kenntnisse der Griechen mithilfe gereinigter u. kommentierter Texteditionen. Der hohe Standard der Wiener mathemat. Schule u. die humanist. Gesinnung Peuerbachs u. seines Schülers R. erlaubten es ihnen, sprachlich wie fachlich ein Niveau zu erreichen, auf dem sie die Wiedergewinnung antiken Wissens u. Denkens auch auf die mathemat. Disziplinen ausdehnen konnten. Zu Lebzeiten im Druck erscheinen konnten von den in R.’ berühmter Einblattdruck-Verlagsanzeige von 1473/74 angekündigten Ausgaben, Übersetzungen u. Kommentierungen der erhaltenen astronom. u. mathemat. Werke der Antike u. ihrer griech. Kommentare allein die Astronomica des Manilius. An eigenen Arbeiten gedruckt wurden, neben Peuerbachs Theoricae novae planetarum (1473) u. R.’ Kritik an der Vorläuferschrift des Gerhard von Cremona (Disputationes contra Cremoniensia [...] deliramenta. 1474 u. ö.), nur der

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deutsche u. der lat. Kalender für die Jahre bei der Erschließung der antiken Texte her1475–1513 (1474 u. ö. Faks. des dt. Kalen- angezogen. ders, hg. v. Ernst Zinner. Lpz. 1937) sowie Ausgaben: Commensurator. Übers. v. Wilhelm Ephemerides für die Jahre 1475–1506 (1474), Blaschke u. Günther Schoppe. Wiesb. 1956. – R. on die lange für die Navigation wichtig waren u. Triangles – De triangulis omnimodis. Hg. u. ins Engl. übers. v. Barnabas Hughes. Madison 1967. – etwa von Columbus benutzt wurden. Zum Wegbereiter der neuzeitl. Naturwis- Johannis R. Opera collectanea. Hg. Felix Schmeidsenschaft, insbes. der Astronomie, wurde R. ler. Osnabr. 1972 (z.T. auszugsweise Faksimilia älterer Drucke). v. a. durch Arbeiten, die lange nur in HandLiteratur: Ernst Zinner: Leben u. Wirken des schriften zugänglich waren. Nach dem AbJohannes Müller v. Königsberg, gen. R. Mchn. schluss der Epitoma stellte er in Italien die 1938. Osnabr. 21968. Engl. Amsterd. u. a. 1990 (mit erste systemat. Dreieckslehre des Abendlands Ergänzungen, u. a. Menso Folkerts: New Results on zusammen, sein wohl wichtigstes mathemat. the Mathematical Activity of R.). – 500 Jahre R., 500 Werk (De triangulis omnimodis libri quinque. Mit Jahre Astronomie. Ausstellung der Stadt Nürnberg. R.’ Widerlegungen der vermeintl. Quadratur Nürnb. 1976. – Maria G. Firneis u. Helmuth des Kreises durch Nikolaus von Kues zuerst Grössing: Das Meteoroskop des R. In: Globushg. v. Johannes Schöner. Nürnb. 1533), u. freund 31/32 (1983), S. 140–157. – Jane L. Jervis: begann die Tabula primi mobilis (sphär. Drei- Cometary Theory in Fifteenth-Century Europe. eckslehre zur Berechnung der tägl. scheinba- Dordrecht 1985 (mit Texteditionen). – Günther ren Bewegung des Sternenhimmels), die er in Hamann (Hg.): R.-Studien. Wien 1980. – H. Grössing: R. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ungarn fortsetzte (Hg. Georg Tannstetter. Rudolf Mett: R. in Italien. Österr. Akademie der Venedig 1514; die den Gebrauch erklärenden Wiss.en, Phil.-hist. Klasse. Bd. 520, Wien 1989. – Fundamenta operationum gab Andreas Schöner Ders.: R. – Wegbereiter des neuen Weltbildes. Stgt./ postum 1557 in Neuburg/Donau heraus). In Lpz. 1996. – Manfred Wegner: R., ein fränk. Ungarn verfasste er auch die Tabulae directio- Astronom. Mchn. 2005 (histor. R.). Fritz Krafft num zur Umrechnung sphär. Koordinaten in die neu definierten Häusergrenzen der GeRegis, Johann Gottlob, * 23.4.1791 Leipburtshoroskopie (Venedig 1490; vielfach zig, † 29.8.1854 Breslau. – Übersetzer. nachgedruckt) u. berechnete drei unterschiedlich genaue Sinustafeln (Hg. J. Schöner. R., Sohn eines protestant. Pfarrers u. mütNürnb. 1541). Der Beobachtungsgenauigkeit terlicherseits aus einer berühmten Gelehrdienten neben der Eigenkonstruktion von tenfamilie stammend, studierte nach dem Instrumenten auch deren Beschreibungen, Besuch der Klosterschule Roßleben Jura in die später Schöner in Nürnberg veröffent- Leipzig, widmete sich dann aber intensiv allichte (Saphaea. 1534. Astrolab. 1544. Torque- ten u. neuen Sprachen u. Literaturen. Nach tum. 1544. Daneben: Regula Ptolemaei. Ms., Wanderjahren in Sachsen u. Reisen an den Krakau). Astronomisch-astrologische Jahrbü- Rhein u. in die Schweiz lebte er ab 1825 in cher (Kalender) hatte R. schon für 1448, 1451 Breslau als Privatgelehrter u. Übersetzer in u. 1453–1461 berechnet u. durch astronom. bescheidenen Verhältnissen; Friedrich Wilu. meteorolog. Beobachtungen ergänzt (Mss., helm IV. bewilligte ihm seit 1841 eine jährl. Wien). Seine krit. Stellungnahmen zu älteren Pension von 300 Talern. Den verschlossenen, astronom. Theorien – neben der Oratio [...] unverheirateten Gelehrten verband u. a. mit habita Patavii (in: Rudimenta astronomica Alfra- Carus eine Freundschaft. gani. Hg. J. Schöner. Nürnb. 1537) eine verR.’ Hauptleistung ist die Übertragung von schollene Schrift über Thabits Theorie der Rabelais’ Gargantua und Pantagruel (2 Bde., Fixsternbewegung – sowie zu Übersetzungen Lpz. 1832), der 1839 ein voluminöser Kom– des Almagest durch Georg von Trapezunt mentar folgte. Aus innerer Verwandtschaft (um 1470; unveröffentlichtes Ms., Leningrad) mit dem Satiriker gelang es R., den Geist des u. der Geographie des Ptolemäus durch Jacopo Vorbilds einzufangen u., inspiriert auch von d’Angeli (um 1460. Hg. Willibald Pirck- Fischart, eine bis heute gültige Diktion zu heimer. Nürnb. 1525) – wurden z.T. später schaffen. Auch dem engl. Pendant Rabelais’

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galt sein Interesse: Proben seiner ab 1816 entstandenen Übersetzungen fasste er im Swift-Büchlein (Bln. 1847) zusammen. Philologische Studien u. Übersetzungen galten weiterhin Shakespeare (Timon von Athen. Zwickau 1821. Shakespeare-Almanach. Bln. 1830), Boiardo (Verliebter Roland. Bln. 1840), dem Liederbuch vom Cid (Stgt./Tüb. 1842) u. Michelangelo (Sämtliche Gedichte. Bln. 1842), die zus. mit den souveräneren Prosaübertragungen R. einen unangefochtenen Platz in der dt. Übersetzungskunst sichern. Weitere Werke: Der Fürst des Nicolo Macchiavelli. Stgt./Tüb. 1842 (Übers.). – Epigramme der Griech. Anth. Stgt. 1856 (Übers.). – Mein Bekenntnis über Goethes Faust. Lpz./Wien 1908. Literatur: Julius Elias: R. In: ADB. – Alfred Schneider: Aus J. G. R.’ Breslauer Tagen. In: FS Fritz Milkan. Lpz. 1921, S. 321–328. – Ders.: J. G. R. In Schles. Lebensbilder. Bd. 3, Breslau 1929, S. 246–257. – Jürgen Engler: Fortpflanzung Shakespeare. In: NDL 48 (2000), S. 128–135. – Thomas Diecks: R. In: NDB. Günter Häntzschel / Red.

Regler, Gustav, auch: Thomas Michel, G. Saarländer, * 25.5.1898 Merzig/Saar, † 14.1.1963 Neu Delhi; Grabstätte: Merzig/Saar. – Romanautor, Lyriker, Essayist. R. war der Sohn eines Papierwaren- u. Buchhändlers, eines krit. Demokraten nach dem Zeugnis R.s in seiner politischen, apologetischen, auch romanhaften Autobiografie Das Ohr des Malchus (Köln 1958). Er nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde verwundet, studierte u. a. Germanistik an den Universitäten Heidelberg u. München, promovierte 1923 (Die Ironie im Werk Goethes) u. trat 1929 oder 1930, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, in die KPD ein, mit der späteren Begründung: »So konnte es nicht weitergehen«. R.s erster Roman, Zug der Hirten (Bln. 1928), erzählt die Geschichte des jüd. Volkes, das von Moses aus Ägypten in das Gelobte Land geführt wird. Der Übergang eines Volkes vom Dämonenglauben zur monotheist. Religion programmiert zgl. das künftige Werk des Politikers u. Gottsuchers R. In Worpswede lernte er 1928 den utop. Kommunisten Heinrich Vogeler u. dessen Tochter Marieluise, seine spätere Frau, kennen. Der Zucht-

hausroman Wasser, Brot und blaue Bohnen (Bln. 1932) symbolisiert mit realistischen, expressionist. u. dokumentar. Erzählelementen die Agonie der Weimarer Republik. Das folgende Werk, der religiöse u. kirchenkrit. Roman Der verlorene Sohn, musste bereits im Exilverlag (Amsterd. 1933) erscheinen. Ein Zeugnis von R.s Engagement im Abstimmungskampf an der Saar ist sein Agitations- u. Heimatroman Im Kreuzfeuer (Paris 1934). Zwei Reisen in die Sowjetunion 1934 u. 1936 u. sein Auftreten auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris profilierten ihn als kämpferischen Antifaschisten; seine Emotionalität führte zu frühen Konflikten mit der Taktik der KPD-Funktionäre. 1936 erschien sein Bundschuh-Roman Die Saat (Amsterd. 1936. Ffm. 1991), ein Paradigma des antifaschistischen histor. Romans, im gleichen Jahr wurde er Politischer Kommissar der XII. Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg. Den Kampf dieser Brigaden dokumentierte er in dem auf Tagebuchaufzeichnungen beruhenden Roman The Great Crusade (New York 1940), dessen dt. Fassung u. d. T. Das große Beispiel zwar 1938 fertiggestellt war, aber erst postum 1976 erscheinen konnte (Köln). Nach einer schweren Verwundung 1937 sammelte R. Gelder für die Spanische Republik in den USA. Der Pakt zwischen Hitler u. Stalin, R.s Internierung in Frankreich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, seine Kritik am Verhalten seiner KP-Genossen u. seine Erfahrungen nach seiner Einreise in Mexiko führten zur Lösung von der KP u. 1942 zum öffentl. Bruch. Nach dem Tod Marieluises heiratete er 1946 die Amerikanerin Margret (Peggy) Paul. Die ersten Veröffentlichungen im Nachkriegseuropa waren Vulkanisches Land. Ein Buch von vielen Festen und noch mehr Widersprüchen u. Amimitl oder Die Geburt eines Schrecklichen (beide Saarbr. 1947), zwei Mexiko-Bücher, in denen Kulturgeschichte u. polit. Aufklärung vereint sind u. die zgl. die Suche nach einem neuen Mythos erkennen lassen. Der Heimkehrerroman Sterne der Dämmerung (Stgt. 1948) u. der RenaissanceRoman Aretino, Freund der Frauen und Feind der Fürsten (Stgt. 1955) repräsentieren das Spät-

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werk. Der zweiteilige polit. Essay Journal d’Europe (in: Texte und Zeichen. Neuwied/ Darmst. 1956) u. schließlich seine Lebensgeschichte Das Ohr des Malchus machten R. in der Öffentlichkeit wieder bekannter; beide Werke zeigten u. zeigen einen Autor, der seine politischen u. ästhet. Erfahrungen literarisch verarbeitete im Kampf gegen NachkriegsQuietismus, gegen den Postfaschismus u. gegen den aktuellen Stalinismus. 1960 erhielt er als erster Preisträger den Kunstpreis des Saarlandes für Literatur. Eine endgültige Heimkehr aus dem Exil fand nicht statt. Rundfunkarbeiten u. Materialsammlungen für Künstleressays führten ihn auf Reisen durch Europa u. in die USA. Während der letzten Reise nach Griechenland, in den Libanon u. nach Indien erlag er einem Gehirnschlag. Weitere Werke: The Hour 13. Mexiko 1943 (L.). – The Bottomless Pitt / Der Brunnen des Abgrunds. Mexiko 1943 (L.). – Marielouise. Mexiko 1946 (L.). – Wolfgang Paalen. New York 1946 (Ess.). – Jungle Hut. Mexiko 1946 (Ballade). – Der Turm u. a. Gedichte. Calw 1951. – Juanita. Roman aus dem Span. Bürgerkrieg. Ffm. 1986. – Ruhrtiger, Locarno-Engel u. rote Matrosen. Seine Beiträge als Journalist in Nürnb. 1926–1928/29. Hg. Günter Scholdt. St. Ingbert 2002. – Nachl. in der Arbeitsstelle für Gustav-Regler-Forsch. an der Univ. des Saarlandes. Ausgabe: Werke. 12 Bde. Hg. Gerhard SchmidtHenkel u. a. Basel/Ffm. 1994–2007. Literatur: Gerhard Schmidt-Henkel: G. R. In: Saarländ. Lebensbilder. Bd. 1, Saarbr. 1982. – Ralph Schock: G. R. Lit. u. Politik (1933–40). Ffm. 1984. – G. R. Dokumente u. Analysen. Tgb. 1940 u. Werkinterpr.en. Hg. Uwe Grund u. a. Saarbr. 1985. – Günter Scholdt: G. R. Ein saarländ. Weltbürger 1898–1963. Lebach 1988. – Heinz Müller-Dietz: Pardon wird nicht gegeben. Assoziationen zu u. Reflexionen über G. R.s R. ›Wasser, Brot u. blaue Bohnen‹ (1932). In: Ders: Grenzüberschreitungen. Baden-Baden 1990, S. 489–503. – Hans-Albert Walter: Von der Freiheit eines kommunist. Christenmenschen oder G. R.s ›Saat‹, ein Exilr. in der Sklavensprache. Ffm. 1991. – Robert Acker: The Post-Exile Works of G. R. In: German and International Perspectives on the Spanish Civil War. Hg. Luis Costa u. a. Columbia 1992, S. 467–476. – Georg Rupp: Der Kampf mit dem dunklen Gott. Religionskritik u. Religiosität in Sprache u. Denken G. R.s. St. Ingbert 1993. – Michael Winkler: G. R. in Spain. His Diary of 1937 and the Genesis of The

Regnart Great Crusade. In: ABNG 37 (1994), S. 57–69. – Martine Hermes: Darstellung der Bundschuh-Aufstände in der deutschsprachigen Epik der 1930er Jahre anhand der R.e G. R. ›Die Saat‹ u. Norbert Jacques ›Der Bundschuhhauptmann‹. Esch 1994. – G. Scholdt (Hg.): G. R. Odysseus im Labyrinth der Ideologien. Eine Biogr. in Dokumenten. St. Ingbert 1998. – Guy Stern: ›Und im Herzen bin ich bei Paris‹. G. R. zwischen zwei Erdteilen. In: Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration u. der Fluchtweg Frankreich – Lateinamerika. 1933–45. Hg. Anne Saint Saveur-Henn. Bln. 1998, S. 120–132. – Anna Lürbke: Mexikovisionen aus dem dt. Exil. B. Traven, G. R. u. Anna Seghers. Tüb. 2000. Ann Arbor 2005. – Hermann Gätje: ›Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher‹. G. R., die Bücherverbrennung u. seine Entwicklung im Exil. In: Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen u. Autoren. Hg. Reiner Wild. Mchn. 2003, S. 323–332. – Ilka Haederle: G. R.: ›Juanita‹. In: Erinnern u. erzählen. Der span. Bürgerkrieg in der dt. u. span. Lit. u. in den Bildmedien. Hg. Bettina Bannasch. Tüb. 2005, S. 423–433. Gerhard Schmidt-Henkel / Red.

Regnart, Regnard, Jacob, * um 1540 Douai/ Flandern (?), † 16.10.1599 Prag. – Sänger, Hofkapellmeister, Komponist. R. entstammte einer niederländ. Musikerfamilie u. erhielt seine musikal. Ausbildung in der Prager Hofkapelle (um 1557). Ende 1564 wurde er kaiserl. Kapellsänger, avancierte 1579 zum Vizekapellmeister u. ging 1582 in gleicher Funktion an die Erzherzogliche Hofkapelle in Innsbruck (1585 Kapellmeister). Als diese 1596 aufgelöst wurde, kehrte er als Vizekapellmeister an die Kaiserliche Hofkapelle in Prag zurück. 1568–1570 hielt er sich in Italien auf. Ein Empfehlungsschreiben Orlando di Lassos bemerkt, »das es ein trefflicher Kerll ist, bescheiden und vernunftig [...]. Er ist ein Niederlender, redet gutt deutzsch, und kan auch andere sprachen. Und in Summa ist ein gutter Musicus«. Sein Werk umfasst 376 Kompositionen, darunter 37 Messen, 195 Motetten, (davon neun mit dt. Text), zwei Bücher Canzone italiane, zwei Oden, eine Litanei u. ein Madrigal. Zu den bedeutendsten Leistungen im dt. Gesellschaftslied in der zweiten Hälfte des 16. Jh. zählen R.s Kurtzweilige teutsche Lieder zu dreyen Stimmen, nach Art der Neapolitanen oder

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Welschen Villanellen (Nürnb. 1574. 21576). Sie der evang. Kirchenmusik. Bd. 3, Gütersloh 1894. erschienen 1578 noch einmal als erster Teil, Nachdr. Hildesh. 1974, S. 28 f. – Helmuth Osthoff: nachdem 1577 ein anderer Theyl herausge- Die Niederländer u. das dt. Lied [...]. Bln. 1938. kommen war, dem 1579 ein dritter Teil Nachdr. Tutzing 1967. – Walter Brauer: J. R., Johann Hermann Schein u. die Anfänge der dt. Bafolgte. 1583 vereinigte R. alle drei Teile rocklyrik. In: DVjs 17 (1939), S. 371–404. – Leu. d. T. Teutsche Lieder (Mchn.). Er hat, v. a. im bensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. ersten Teil der Teutschen Lieder, die dt. Lied- zum EKG, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. texte ital. Vorlagen nachgebildet u. deren Gött. (auch Bln.) 1957, S. 123 f. – Erich Trunz: Vers- u. Strophenformen adaptiert, wie z.B. Pansophie u. Manierismus im Kreise Kaiser Rudolfs in dem bekannten »Venus du und dein Kind / II. In: Zeman, Bd. 1, Tl. 2, S. 865–983. – Manfred seid alle beide blind / und pflegen auch zu Cordes: Die lat. Motetten des Iacobus R. im Spiegel verblenden / wer sich zu euch thut wenden / der Tonarten- u. Affektenlehre des 16. Jh. Diss. wie ich wol hab erfaren / in meinen jungen Bremen 1991. – Bernhard Schmid: J. R. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. jaren« – mit drei Strophen zu sechs- bis sieHg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 250 f. – bensilbigen Zeilen nach dem Reimschema aa/ Gert Hübner: Christoph v. Schallenberg u. die dt. bb/cc. Themen sind die Liebe u. die Empfin- Liebeslyrik am Ende des 16. Jh. In: Daphnis 31 dungen eines liebenden Ich: »Ein süßer (2002), S. 127–186. – Bernhold Schmid: J. R. In: Traum mich thät / in Nachtes Ruh umfan- NDB. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien gen.« Es handelt sich um »eingedeutschte u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, Register. – Michael italienische Renaissancelyrik petrarkischer Zywietz: J. R. In: MGG 2. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. Observanz, mehr oder weniger versetzt mit 1439–1443 (Lit.). – Gert Hübner: Die dt. Villanellen deutschen Volkslied-Motiven« (Brauer). Ge- J. R.s. In: Dt. Lit. u. Sprache im Donauraum. Hg. genüber älteren dt. Liedern zeigt R. »poeti- Christine Pfau u. a. Olomouc 2006, S. 237–259. Klaus Düwel / Red. sche Dialektik, die Kunst der Motiventwicklung durch Antithese und Steigerung« (Osthoff). Bei der Entwicklung einer deutsch- Regula (Lichtenthaler Schreibmeisterin), sprachigen Kunstlyrik spielte R. eine Schlüs- † 1478 Lichtenthal. – Lesemeisterin, selrolle. Zumal in Wien (Christoph von Übersetzerin, Kompilatorin. Schallenberg) machten seine petrarkist. LieÜber Herkunft u. Familie der Schwester der Schule. R.s Sammlung Neue kurtzweilige teutsche Margaretha, gen. Regula, ist nichts bekannt. Lieder mit fünff stimmen (Nürnb. 1580), bei der Es ist anzunehmen, dass sie um 1440 mit eier noch mehr als im zweiten u. dritten Teil ner Gruppe Nonnen aus dem bereits reforder Teutschen Lieder wieder bevorzugt auf äl- mierten Zisterzienserinnenkloster Königstere dt. Formen u. Motive zurückgriff, bildet brück bei Straßburg nach Lichtenthal (Badenmit ihren Liebesliedern einen Höhepunkt Baden) kam, um dort die Wiederbelebung der seines weltl. Liedschaffens. Bekannt ist dar- Ordensregeln durchzusetzen. Sie hatte von aus Einsmal in einem tiefen Tal, in dem ein Esel diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem Tod im als Schiedsricher die Sangeskunst von Nach- Jahr 1478 die Leitung der Schreibstube u. tigall u. Kuckuck zu beurteilen hat (Kriti- vermutlich auch die Ausbildung der Novikersatire). Unvollständig sind die vierstim- zinnen unter sich, was ihr den Beinamen »Regula« eintrug. Im Zuge ihres Amtes migen dt. Lieder von 1591. überarbeitete sie die klösterl. Leseordnung, Ausgaben: Dt. dreistimmige Lieder nach Art der sie korrigierte u. ergänzte viele Codices der Neapolitanen nebst Leonhard Lechners fünfstimmiger Bearbeitung. Hg. Robert Eitner. Lpz. 1895. – Klosterbibliothek u. schrieb mehrere – vorNewe kurtzweilige teutsche Lieder [...]. Nürnb. nehmlich Legendenwerke u. erbauliche Literatur – gänzlich neu. Die hierbei zwischen 1580. Nachdr. Stgt. 1997. Literatur: Bibliografien: Themat. Kat. sämtl. Absätzen u. am Seitenrand vermerkten Werke J. R.s (ca. 1540–99). Hg. Walter Pass. Wien/ Kommentare u. Leseanweisungen erlauben Köln 1969. – VD 16. – Weitere Titel: Robert Eitner: J. es, sowohl ihre Übersetzungs- u. KompilatiR. In: ADB. – Salomon Kümmerle: Encyklopädie onsleistung wie auch den Rezeptionsrahmen

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der Texte nachzuzeichnen. Als außergewöhnlich eigenständig gilt das von ihr erstellte Frauenlegendar (BLB Karlsruhe, Cod. Licht. 69), in dessen Konzeption u. Kommentierung die theolog. Begriffe »Jungfräulichkeit« u. »Brautliebe« als Elemente der aktiven Christusnachfolge für gläubige Frauen herausgearbeitet werden. Literatur: Konrad Kunze: Buch v. den hl. Mägden u. Frauen. In: VL. – Kaspar Elm (Hg.): Die Zisterzienser. Bonn 1980. – Felix Heinzer u. Gerhard Stamm: Die Hss. v. L. Wiesb. 1987. – F. Heinzer: Lichtenthaler Bibliotheksgesch. als Spiegel der Klostergesch. In: ZGO 136, N. F. 98 (1988), S. 35–62. – G. Stamm: R.: Lichtenthaler Schreibmeisterin. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Karl-Ernst Geith: Die Leben-Jesu-Übers. der Schwester R. aus L. In: ZfdA 119 (1990), S. 22–37. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA v. der Mitte des 12. Jh. bis zur Reformation. Wiesb. 1995, S. 292–306. – Werner Williams-Krapp: Frauenmystik u. Ordensreform im 15. Jh. In: Literar. Interessenbildung im MA. Hg. Joachim Heinzle. Stgt. 1993, S. 301–313. – G. Stamm: Klosterreform u. Buchproduktion. Das Werk der Schreib- u. Lesemeisterin R. In: 750 Jahre Zisterzienserinnen-Abtei Lichtenthal. Hg. Harald Siebenmorgen. Sigmaringen 1995, S. 63–70. – Maria Pia Schindele: ›Die ordenung. die daz. Capitel von Zitel... hat gemacht‹ (HS 3, 11r). Eine unbekannte Hs. der Schwester R. im Archiv der Abtei Lichtenthal. In: FDA 116 (1996), S. 79–121. – K. Kunze: R.s Bearb. der ›Legenda Aurea‹ für die Tischlesung in Kloster Lichtenthal. Werk- u. wortgeschichtl. Beobachtungen. In: ›Ze hove und an der strâzen‹. Hg. Anna Keck u. Theodor Nolte. Stgt. 1999, S. 84–94. – Astrid Breith: Textaneignung. Das Frauenlegendar der Lichtenthaler Schreibmeisterin R. Münster 2009. Astrid Breith

Rehberg

Mecklenburgs u. Schleswig-Holsteins, bis er 28-jährig durch einen Arbeitsunfall an einer der neu eingeführten Dampf-Dreschmaschinen invalide wurde. R. begann eine sozialdemokrat. Parteikarriere: zunächst als Flugblattverteiler u. Wahlhelfer, dann als Mitarbeiter der »Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung« in Elmshorn. Um die Jahrhundertwende galt R. als einflussreichster, wenn auch in der eigenen Partei umstrittener Landagitator in Dithmarschen. 1900 veröffentlichte er in Kiel die Broschüre Sozialdemokratie und Landarbeiter. 1902 wurde R. Lokalberichterstatter beim »Vorwärts«; ab 1907 war er im Büro der Berliner Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands tätig. Seine Autobiografie erschien postum 1911 u. d. T. Das Leben eines Landarbeiters bei Diederichs in Jena (Neu hg. v. Guntram Turkowski. Heide 2007), wie im Falle Brommes, Carl Fischers u. Holeks herausgegeben von Paul Göhre; durch dessen Bearbeitung rückt der individualisierte Versuch ins Zentrum, der nach Herkunft u. Milieu unabwendbar erscheinenden Barbarisierung durch das Landleben zu entgehen. R.s Text gilt als sozialgeschichtl. Quelle von großem dokumentar. Wert. Literatur: Ursula Münchow: Frühe dt. Arbeiterautobiogr. Bln./DDR 1973. – Georg Bollenbeck: Zur Theorie u. Gesch. der frühen Arbeiterlebensbeschreibungen. Kronberg 1976. – Jürgen Warneken: Populare Autobiographik. Tüb. 1985. – Frank Schömer: Autobiogr. KörperGesch.n. Sozialer Aufstieg zwischen 1800 u. 2000. Gött. 2007, S. 227–272. Ernst-Friedrich Suhr / Red.

Rehbein, Franz, * 1867 Neustettin, † 24.3. Rehberg, Hans, * 25.12.1901 Posen, 1909 Berlin. – Sozialdemokratischer Pu- † 20.6.1963 Duisburg. – Dramatiker, blizist u. Verfasser einer Autobiografie. Verfasser von Hörspielen. R. wurde in kümmerl. Verhältnissen als Sohn eines Schneiders in Hinterpommern geboren. Er selbst nannte seine Heimat, das klass. Gebiet der ostelb. Junker (Bismarcks Gut Varzin lag in unmittelbarer Nachbarschaft), »Puttkamerun«, um die halbkoloniale Lage seiner sozialen Schicht zu kennzeichnen. Nach kurzer Volksschulzeit lebte R. als Landarbeiter in verschiedenen Dörfern Pommerns,

Schon R.s zweites Drama, Johannes Kepler (Bühnen-Ms. Bln. 1933), zeigte seine effektsichere sprachl. u. dramat. Begabung, die er bis in die 1940er Jahre in den Dienst der NSPropaganda stellte. Offen u. direkt tat er dies z.B. in der Trilogie England zur See, die 1940 während des Kriegs gegen Frankreich vom Reichssender Stuttgart in frz. Sprache gesendet wurde, um die frz. Hörer gegen England

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einzunehmen. Mystisch verbrämt trat er für gang D. Elfe u. James Hardin. Detroit 1992, das NS-Regime z.B. in dem »Sprechchor- S. 355–359. Walther Kummerow † / Red. spiel« (wie er viele seiner Stücke nannte) Der Tod und das Reich (Lpz. 1934) ein, das die Rehfisch, Hans José, auch: Georg Turner, christl. Vorstellung, dass Jesus durch seinen René Kestner, Sydney Phillips, * 10.4. Tod den Tod überwunden hat, auf die dt. 1891 Berlin, † 9.6.1960 Schuls/Schweiz; Geschichte im 20. Jh. überträgt: »Die Toten Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer des Weltkriegs und der [NS-]Bewegung [haFriedhof. – Dramatiker. ben] den Tod unseres Volkes überwunden« R., Sohn eines jüd. Arztes, studierte Jura, (Nachwort). Dennoch wurde R. von der NSDAP v. a. Philosophie u. Staatswissenschaften an den wegen seines Zyklus Die Preußen-Dramen (Bln. Universitäten in Berlin, Heidelberg u. Gre1937) angegriffen, weil er seine Protagonisten noble. 1916 promovierte er in Würzburg mit aus der Zeit zwischen dem »Großen Kur- der Schrift Die rechtliche Natur der Enteignung fürsten« u. Friedrich dem Großen um der (Bln.). Nachdem er zunächst als Staatsanwalt theatral. Wirkung willen nicht nur zu Heroen u. Rechtsanwalt in Berlin gearbeitet hatte, stilisierte, sondern behutsam auch manche gab er 1923 seinen Beruf auf, wurde Syndikus Einzelheit aus ihrem histor. Leben durch- einer Filmgesellschaft u. übernahm zusammen mit Erwin Piscator die Direktion des scheinen ließ. Nach 1945 wollte R. schon immer ein eu- Berliner Zentraltheaters. Bis 1933 war R. eiropäisch u. christlich orientierter Demokrat ner der meistgespielten Dramatiker auf dt. gewesen sein, dem es nur um die zeitlosen Bühnen. Nach kurzer Inhaftierung emigrierIdeen des Volkes, des Staates u. der ge- te er 1933 nach Wien, 1938 nach Großbrischichtl. Größe gegangen sei. Er pflegte nun tannien, wo er eineinhalb Jahre als Metallarausschließlich seine Neigung, histor. Zu- beiter arbeitete. 1943 gründete er die Kulsammenhänge in Schicksals- u. Charakter- turvereinigung »Club 1943«, als deren Prädramen jenseits von Politik u. Ethos aufzu- sident er die Anthologie In Tyrannos (London lösen. Die Metaphysik der Ideen u. Nationen 1944) über die Geschichte der Widerstandstrat ganz hinter einem irrationalistischen, kämpfer in Deutschland herausgab. 1945 personalist. Geschichtsbild zurück. Die Stoffe siedelte R. in die USA über. In New York entnahm R. nun v. a. den dramat. Werken unterrichtete er sowohl in dem von Piscator Shakespeares u. Schillers, die er »moderni- gegründeten Dramatic Workshop als auch an sierte«, indem er versuchte, die Inhalte zu der New School for Social Research als Dozent vereinfachen u. die seel. Konflikte pathetisch für Soziologie. 1950 kehrte er nach Deutschu. drastisch in Szene zu setzen. Die Texte sind land zurück, lebte zunächst in Hamburg, meist nur als Bühnenmanuskripte zugäng- dann in München. Ab 1957 hielt er sich lich u. wurden kaum noch gespielt, weil der häufig in der DDR auf. Trotz einzelner Bühanerkannt wirksamen Theatralik die über- nenerfolge konnte R. nach dem Krieg die zeugenden Inhalte fehlten, z.B. in der drei- Popularität der 1920er Jahre nicht mehr erfachen Aufnahme des Maria-Stuart-Stoffs reichen. Nach seinem ersten, neuromant. SchauBothwell und Maria (1949), Elisabeth und Essex (1949) u. Maria und Elisabeth (1953). Etwas spiel, Die goldenen Waffen (Bln. 1913), über den erfolgreicher blieb R. nach 1945 als Verfasser Kampf zwischen Ajax u. Odysseus, u. einigen von Hörspielen: An den Mond (1955; über expressionist. Versuchen gelang R. der Goethe), Shakespeares Hamlet (1955), Rembrandt Durchbruch als Dramatiker mit der Tragödie Der Chauffeur Martin (Bln. 1920). R. proble(1956). Weitere Werke: Heinrich u. Anna. Bln. 1942 matisiert hier am Fall Martins, der schuldlos (D. über Heinrich VIII.). – Cajus Julius Cäsar. Büh- einen Menschen überfährt, Fragen der nen-Ms. Bln. 1942. – Karl V. Bln. 1943. menschlichen u. göttl. Gerechtigkeit. InterLiteratur: Jürgen G. Sang: H. R. In: Twentieth- nationalen Erfolg erreichte er mit der TragiCentury German Dramatists 1919–92. Hg. Wolf- komödie Wer weint um Juckenack (Bln. 1925). In

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Ausgabe: Ausgew. Werke. 4 Bde., Bln./DDR dieser Gesellschaftssatire schildert er einen egoist. Juristen, der aus Angst, niemand 1967. Literatur: Martin Linzer: R. oder Die späte werde seinen Tod beweinen, sein Leben ändert u. nun sein Vermögen freizügig verteilt; Entscheidung. In: NDL 18, H. 8 (1970), S. 160–163. er erntet jedoch nur Hohn u. Hass u. scheitert – Hugo Huppert: R. oder Die überwundene Verführung. In: SuF 23 (1971), S. 1331–1344. – Geran der Lieblosigkeit der Gesellschaft. hard Hay: Mißerfolg eines Stückes. In: Maske u. R.s große Popularität in der Weimarer ReKothurn 28 (1982), S. 120–124. – Reinhold K. publik beruhte zum einen auf seinen gesell- Bubser: H. J. R. In: Twentieth-Century German schaftssatir. Komödien (z.B. Nickel und die Dramatists 1919–92. Hg. Wolfgang D. Elfe u. James sechsunddreißig Gerechten. Bln. 1925. Neuaufl. Hardin. Detroit 1992, S. 360–363. – James M. RitEmsdetten 1954). Mit bühnenwirksamen chie: The Exile Plays of H. J. R. In: Ders.: German Arrangements u. kolportagehaften Elemen- Exiles. New York u. a. 1997, S. 146–160. ten schrieb er aggressiv-realist. Stücke, die, in Heiner Widdig / Red. der Tradition George B. Shaws u. Georg Kaisers, ihre Wirkung nicht verfehlten. Zum Rehfues, Philipp Joseph von (seit 1825 anderen profilierte R. sich mit krit. Zeitstüoder 1826), * 2.10.1779 Tübingen, cken. In Der Frauenarzt (Bln. 1929) themati† 21.10.1843 Bonn. – Verfasser von Reisierte er z.B. die Auseinandersetzung um den seliteratur, historischen Romanen, politiAbtreibungsparagrafen. In Die Affäre Dreyfus schen, historischen u. sozialwissenschaft(mit Wilhelm Herzog. Urauff. Bln. 1929. lichen Arbeiten; Publizist, Übersetzer. Buchausg. Zürich 1932) wandte er sich in der Form des historisch-polit. Schauspiels an- R.’ Entwicklung vom kosmopolitisch zum hand des bekannten Justizskandals gegen national Denkenden u. schließlich zum antisemitische, nationalist. u. militarist. preuß. Konservativen ist exemplarisch für Tendenzen in der Weimarer Republik. So viele zur Zeit der Spätaufklärung geborene warnte er auch in Der Verrat des Hauptmanns Literaten. Er studierte als Stiftler in Tübingen Grisel (Bln. 1932) vor der Anfälligkeit der (sein Vater war dort Bürgermeister) Theologie, lebte 1801 bis 1805 in Italien, wo er u. a. Republik für die Diktatur. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war die mit Thorvaldsen, Schinkel u. Wilhelm von Heimkehrertragödie Oberst Chabert (Wien/ Humboldt verkehrte, u. wurde 1806 BiblioMchn./Basel 1956), nach einer gleichnamigen thekar u. Vorleser beim Kronprinzen WilNovelle von Honoré de Balzac, R.s größter helm von Württemberg. In diesen BildungsNachkriegserfolg. Viel diskutiert wurde auch jahren erschienen R.’ Übersetzungen ital. Lisein Drama Jenseits der Angst (Wien/Mchn./ teratur (Vittorio Alfieri: Sämtliche Trauerspiele. Basel 1962), mit dem er gegen den Miss- Bln. 1804) u. erste Reiseberichte. In seinen Zeitschriften (»Italien«. Bln. 1803/04. »Itabrauch der Atomenergie Stellung bezieht. Weitere Werke: Das Paradies. Bln. 1919 (Trag.). lienische Miscellen«. Stgt. 1804/06) u. Bü– Die Erziehung durch ›Kolibri‹. Bln. 1922. Neu- chern (Gemählde von Neapel. 3 Bde., Zürich aufl. u. d. T. Die Libelle. Bln. 1924 (Kom.). – Duell 1808. Briefe aus Italien. 4 Bde., Zürich 1809) am Lido. Bln. 1926 (Kom.). – Razzia. Bln. 1927 wird Italien anders als in der zeitgenöss. (Tragikom.). – Sprung über Sieben. Bln. 1931 Reiseliteratur nicht mehr unter dem Aspekt (Kom.). – Semmelweis. Wien/Bln. 1934. Neuaufl. einer konservierten Antike betrachtet. R. war u. d. T. Der Dämon. 1950 (D.). – Wasser für Cani- bemüht – wie auch später in seinen Reisebetoga. Hbg./Hollywood 1936 (D.). – Lysistrata. richten aus Frankreich (Ansichten von Paris. Mchn. 1947 (D.). – Hände weg v. Helena. Bln. 1951 Zürich 1809. Reisen durch die [...] Provinzen von (Kom.). – Von der Reise zurück: Doktor Walter. Bln. Frankreich während der Jahre 1807–1809 und im 1951 (D.). – Die Hexen v. Paris. Stgt. 1951. Bergisch Gladbach 2007 (histor. R.). – Der Kassenarzt. Bln. Jahre 1815. Ffm. 1816) –, die Vielfalt des ak1954. Neuaufl. u. d. T. Strafsache Dr. Helbig. Mchn. tuellen Volkslebens u. -charakters wie den 1955 (D.). – Lysistratas Hochzeit. Wien/Mchn./Ba- Reichtum der Kultur zu vermitteln. Die Befreiungskriege gaben R.’ Leben eine sel 1959 (histor. R.). – Sieben Dramen. Wien/Mchn./ neue Wendung. Die von ihm herausgegebene Basel 1961.

Rehfues

historisch-polit. Zeitschrift »Europäisches Magazin« (Nürnb. 1813/14) – Forum für süddt. patriotische u. nat. Lyrik – entwickelte sich zu einem Organ der dt. Nationalbewegung. R.’ dort zuerst gedruckte Reden an das deutsche Volk (1. Rede 1813, Bd. 2, S. 441–534. 2. Rede 1814, Bd. 1, S. 97–170, separat Nürnb. 1814), die eine neue Einheit von Einzelnem u. Nation fordern, führten zu seiner Anstellung durch den Freiherrn vom Stein in der Verwaltung der linksrhein. Gebiete (Generalgouverneur von Koblenz, dann Kreisdirektor von Bonn). R. vertrat nun auch publizistisch die preuß. Interessen. Erfolgreich setzte er sich für eine Universität in Bonn ein, deren Kurator er 1819 wurde (bis 1842). Der Verdruss mit den amtl. Geschäften u. die seitens der Presse heftige Reaktion auf seine nur ordnungspolitisch auf die revolutionären u. sozialen Bewegungen der Zeit antwortende Schrift Mémoire sur le malaise de la génération actuelle (1831. Dt. Die Unzufriedenheit der Völker. Mchn. 1833) veranlassten R., sein seelisches Gleichgewicht in der Abfassung von histor. Romanen zu suchen. Sie alle erschienen – wie der Essay Mémoire – anonym. Mit Scipio Cicala (4 Bde., Lpz. 1832. 21840. Stgt. 31898, Reclam UB 2581–88, leicht gekürzte Fassung), beim Publikum erfolgreich, Die Belagerung des Castels von Gozzo (2 Bde., Lpz. 1834) u. Die neue Medea (3 Bde., Stgt. 1836. 21841) entfaltete R. noch einmal in einem »Poesie« (Mythen, Sagen) u. »Wirklichkeit« (Geschichte) vereinigenden Erzählen als Voraussetzung für ein »Epos der neueren Zeit« (Brief vom 9.1.1834 an Johann Friedrich Kind) sein Talent als Vermittler ital. Kunst, Sitten u. Landschaft. Sie sind von Scotts histor. Romanen inspiriert (s. Vorrede zu Scipio), greifen aber auch auf Erzählverfahren des Romans eines moralisierenden Pragmatismus der Aufklärung zurück (wissensbefrachtete Exkurse, Lehrgespräche, häufige ErzählerLeser-Anreden). Die Kritik hat R.’ Romane unterschiedlich beurteilt. Während Gutzkow R. »ein außerordentliches Erzähltalent« bescheinigt u. Scipio mit seiner »üppigen Fülle italienischer Natur- und Sittenschilderungen« als ein »bleibendes Meisterstück der deutschen Literatur« lobt (Aus der Zeit und dem Leben. Lpz. 1844, S. 397–416), kritisiert – ne-

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ben Menzel – Laube den anekdotischen, ästhetische u. geistige Einheit verfehlenden Charakter des Scipio sowie die Flachheit der Figuren. Dieser Roman sei »wie eine Examensaufgabe geschrieben« (Moderne Dichtercharaktere. Mannheim 1835, S. 420–424). R. berührt zwar die in den histor. Romanen der Zeit literarisch verklausuliert gestalteten Themen wie Nationwerdung, Legitimation von Herrschaft bzw. von Revolten. Doch stellt er sich nicht wirklich diesen Problemen. Die bestehende Gesellschaftsordnung – ob im Bild der Renaissance oder in seiner Gegenwart – ist für R. gottgegeben. Seine passiven, wenig differenziert gezeichneten »Helden« scheitern an zu großem Selbst- bzw. mangelndem Gottvertrauen oder überlassen sich Mächten, die fatalistisch als schicksalshaft erlebt werden. In der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jh. nimmt R. noch einen bescheidenen Platz ein. Heute ist er als Vermittler italienischer Kultur, als konservativer polit. Schriftsteller wie als Verfasser historischer Romane ein vergessener Autor. Weitere Werke: Süddt. Miszellen. Karlsr. 1811–14. – Über das Zunftwesen. Bonn 1818. – La frontière du Rhin. Lettre d’un Prussien-Rhénan. Lüttich 1840. – Über den Rhein. In: Augsburger Allg. Ztg. 2. u. 22.8.1840, Beilage. – Über Vermögen u. Sicherheit des Besitzes. Tüb. 1843. Literatur: P. J. R. Ein Lebensbild. In: Ztschr. für preuß. Gesch. u. Landeskunde. 18. Jg., Bln. 1881, S. 89–224 (S. 89–168 v. Alexander Kaufmann, v. einem Unbekannten fortgesetzt). – Walter Rehm: Das Werden des Renaissancebildes in der dt. Dichtung. Mchn. 1924 (zu ›Scipio‹ S. 148–150). – Ilse-Eva Heilig: P. J. v. R. Ein Beitr. zur dt. Romangesch. Breslau 1941. – Wolfgang Altgeld: Das polit. Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung u. europ. Revolution v. 1848. Tüb. 1984. – Paul Michael Lützeler: Bürgerkriegs-Lit. Der histor. Roman im Europa der Restaurationszeit (1815–30). In: Bürgertum im 19. Jh. Hg. Jürgen Kocka. Bd. 3, Mchn. 1988, S. 232–256 (zu Gattung u. Epoche). – Hermann J. Sottong: Transformation u. Reaktion. Histor. Erzählen v. der Goethezeit zum Realismus. Mchn. 1992 (zu ›Scipio‹ passim). – Kurt Habitzel u. Günter Mühlberger: Gewinner u. Verlierer. Der histor. Roman u. sein Beitr. zum Literatursystem der Restaurationszeit (1815–1848/ 49). In: IASL 21 (1996), S. 91–123 (zu ›Scipio‹ in Leihbibliotheken S. 113). – Stefanie Kraemer u.

Rehmann

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Rehmann, Ruth, eigentl.: R. Schonauer, * 1.6.1922 Siegburg. – Verfasserin von Ernst Weber Romanen, Erzählungen, Hörspielen.

Peter Gendolla (Hg.): Italien. Eine Bibliogr. zu Italienreisen in der dt. Lit. Ffm. u. a. 2003.

Rehkopf, Heinrich Wohlfarth, * 1764 Zwickau, † 11.7.1814 Globig bei Wittenberg. – Theologe; Erzähler. R., Sohn des namhaften protestant. Theologen Johann Friedrich Rehkopf, schlug ebenfalls die theolog. Laufbahn ein, auf die er sich nach einer guten Schulausbildung u. a. in Schulpforta mit einem Philosophie- u. Theologiestudium in Wittenberg u. Leipzig (Magister 1787) vorbereitet hatte. 1788 wurde er Hilfsprediger in Wilsdruff bei Dresden u. 1796 Pfarrer in Globig u. Dorna bei Wittenberg. Offenbar um die kargen Einkünfte aus seiner Hilfspredigertätigkeit aufzubessern, verfasste R. mehrere auf einen anspruchslosen Zeitgeschmack berechnete Romane, die er wohlweislich anonym veröffentlichte u. die z.T. mehrere Auflagen erlebten (v. a. Franz Wall, oder der Philosoph auf dem Schaffot. 2 Bde., Halberst. 1791. Die Menschheit im Negligée. 2 Bde., Lpz. 1793/94). Zeitgenössische Rezensenten warfen ihnen nicht zu Unrecht primitive Handlungsstruktur u. Schlüpfrigkeit vor. Wohlwollender beurteilt wurden die in der Wieland-Nachfolge stehenden Ritter- u. Feengeschichten: Scenen aus der Feenwelt (2 Bde., Hbg. 1794–96; anonym). Nachdem R. eine einträglichere Pfarrstelle übernommen hatte, wandte er sich seriöser theolog. Publizistik zu, gab das »Prediger-Journal für Sachsen« (1803–10), später die »Zeitschrift für Prediger« heraus (1811/12) u. veröffentlichte Arbeiten zur prakt. Theologie (Entwürfe zu öffentlichen Religionsvorträgen [...]. 3 Tle. Lpz. 1804–07) u. der Bibelkunde (Die ältesten Geschichtsbücher der Hebräer, erklärt nach Joh. David Michaelis. Wittenb. 1805). Literatur: Jöcher/Adelung 6. Matthias Richter / Red.

Die Tochter einer rheinischen Pastorenfamilie besuchte nach dem Abitur eine Dolmetscherschule in Hamburg u. studierte anschließend Kunstgeschichte, Archäologie u. Germanistik in Bonn u. Marburg, dann Musik mit dem Hauptfach Geige in Berlin, Köln u. Düsseldorf. Das Studium musste sie abbrechen, weil sie als Bürokraft zur Wehrmacht eingezogen wurde. Im Mai 1945 floh sie nach Oberbayern. Der Bäuerin, die sie damals aufnahm, widmete sie ihren Roman Die Schwaigerin (Mchn. 1987 u. ö., zuletzt 2005). Heute lebt R. als freie Schriftstellerin im Chiemgau. Sie gehört dem Verband der deutschen Schriftsteller an u. ist Mitgl. des PEN-Clubs. Nach einer kurzen Tätigkeit als Lehrerin entstanden frühe Reiseberichte, Feuilletons u. Hörspiele. In R.s erstem Roman, Illusionen (Ffm. 1959. 1962. Mchn. 1989), finden sich vier Büroangestellte eines großen Industriekonzerns mit einer, gemessen an ihren Lebenserwartungen, trostlosen Realität konfrontiert, der sie sich anpassen müssen; so z.B. gibt ein Akademiker seine wiss. Ambitionen auf, weil er von einer Zukunft in Afrika träumt, u. arbeitet stattdessen als Übersetzer. Die Büros der Angestellten befinden sich auf einem Stockwerk so hoch oben, dass sie quasi eine abgeschlossene, eigene Welt bilden. Aus dem Roman hat R. 1958 auf einer Tagung der Gruppe 47 vorgelesen. Erst knapp zehn Jahre später erschien R.s zweiter Roman, Die Leute im Tal (Ffm. 1968. Mchn. 1979. 1989), ein moderner Bauernroman weitab von pastoraler Romantik, in dem erstarrtes Traditionsbewusstsein u. Fortschrittsglaube hart aufeinanderprallen. Mit diesem Text gewann R. 1968 ein Preisausschreiben zum Thema »Der Bauer in der Industriegesellschaft«. Das Motiv der bäuerl. Gesellschaft greift sie in dem Roman Die Schwaigerin, der die Lebensgeschichte der Kleinbäuerin Anna aus dem Chiemgau schildert, nochmals auf. Der Roman hat die Form eines Briefes, der von der Ich-Erzählerin, ei-

Rehmann

ner »Städterin«, an die Protagonistin geschrieben wird u. der die vierzigjährige Freundschaft der beiden reflektiert. Geschildert wird u. a., wie die Industrialisierung sich auf das Leben in einem kleinen Dorf auswirkt. In dem Roman Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater (Mchn./Wien 1979 u. ö., zuletzt Mchn. 51995) setzt sich R. mit ihrem wilhelminisch geprägten Elternhaus auseinander. In nüchterner Betrachtung zeichnet sie ein Vaterbild, das gekennzeichnet ist durch Güte u. Verständnis auf der einen u. Patriotismus u. Kaiserverehrung auf der anderen Seite. Von der Schuld, durch seine passive Haltung gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus u. durch seine Flucht in die Welt der Religion das Dritte Reich mit ermöglicht zu haben, spricht sie ihren Vater nicht frei. Das Werk, das zu R.s erfolgreichsten Büchern zählt, gehört zur sog. »Väterliteratur«, in der das Verhältnis zwischen Kind u. Vater untersucht u. dabei auch das Psychologische berücksichtigt wird (Kosta 1994, S. 92). Eine Aufarbeitung ihrer abgebrochenen Laufbahn als Orchestergeigerin stellt der Roman Abschied von der Meisterklasse (Mchn. 1985) dar, in dem R. den Kunstbetrieb als elitäre Welt der Selbstdarstellung kritisiert. Exakte Beobachtung u. in bildstarke Rede gefasste sinnl. Eindrücke kennzeichnen ihren Erzählstil. In dem Werk wird die Karriere der Geigenvirtuosin Claire Schumann gezeigt, die in der NS-Zeit begann. Auch die »dunklen« Stellen in der Biografie der Musikerin werden beleuchtet. Erzählt wird aus der Perspektive einer Journalistin, Hanna Steinbrecher, die zgl. auch eine ehemalige Schülerin von Schumann ist. Der Roman Fremd in Cambridge (Mchn. 1999) erzählt von der Studienrätin Elisabeth Götte, die, von ihrer Arbeit strapaziert u. aufgezehrt, nach England flieht. Paradoxerweise wird das, was zuerst fremd ist, ganz rasch zum Vertrauten. In mehreren ihrer Werke setzt sich R. mit der Problematik des Nachkriegsdeutschlands auseinander, so in der Erzählung Der Abstieg (Stgt. 1987): Der US-Soldat Dave, der eigentlich ein dt. Jude ist, besucht das Haus seiner Kindheit. Er ist der Einzige aus seiner Fami-

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lie, der überlebt hat. Bei dem Besuch seiner alten Heimat trifft er auf zahlreiche alte Bekannte, die in der Kriegszeit seiner Familie nicht helfen wollten. Der Roman Ferne Schwester (Mchn. 2009) erzählt von zwei Schwestern, die auf unterschiedl. Art u. Weise versuchen, in der Nachkriegswelt, die noch in Trümmern liegt, zu sich selbst zu finden. Die Ich-Erzählerin steht im Gegensatz zur Titelperson, ihrer Schwester Clara. Letztere hat die Entscheidung getroffen, in einem religiösen Orden zu leben, u. soll in Indien den Aussätzigen helfen. Die Erzählerin dagegen reist zwischen Oberbayern, Frankreich u. Algerien hin u. her. Im Gegensatz zur frommen Schwester geht sie immer wieder Beziehungen mit Männern ein, mit einem amerikan. Soldaten, einem dt. Journalisten u. einem jungen Franzosen. R.s Schaffen wurde mit vielen Preisen gewürdigt: 1962 erhielt sie den Förderpreis der Stadt Hannover, 1974 den Georg-MackensenLiteraturpreis, 1989 den Literaturpreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie u. 2004 den Oberbayerischen Kulturpreis. R. ist Gegnerin der Globalisierung u. setzte sich aktiv für die Friedens- und Umweltschutzbewegung ein, wofür sie 2001 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Weitere Werke: Ein Projekt stirbt ab. 1969 (Report). – Paare. Mchn. 1978 (E.en). – Unterwegs in fremden Träumen. Mchn. 1993. – Bootsfahrt mit Damen. Mchn. 1995. – Der Oberst begegnet Herrn Schmidt. Stgt. 1995. – Hörspiele: Ein ruhiges Haus. 1960. – Alte Männer. 1962. – Flieder aus Malchien. 1964. – Ich mag deine Freunde. 1970. – Schreibende Frauen. 1971. – Frau Violets Haus. 1974. – Gehörbildung oder Ein exemplar. Reinfall. 1976. – Drei Gespräche über einen Mann. 1977. – Herr Selinger geht zu weit. 1977. Literatur: Thomas R. Hinton u. Keith Bullivant: Westdt. Lit. der sechziger Jahre. Mchn. 1975. – Albert v. Schirnding: Patre absente. Eine Generation schreibt sich frei. In: Merkur 34 (1980), S. 489 ff. – Inge Stephan: Von Bildern umstellt. Zu den Frauenfiguren bei R. R. In: Frauenlit. ohne Tradition. Ffm. 1987, S. 221–240. – Barbara Kosta: Recasting Autobiography. Women’s Counterfictions in Contemporary German Literature and Film. New York 1994. – Rüdiger Dilloo: Du u. Dein Dorf (2). In: SZ, 6.5.2005. . Bernhard Iglhaut / Agnieszka Bozek

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Rehn, Jens, eigentl.: Otto J. Luther, * 18.9. 1918 Flensburg, † 3.1.1983 Berlin. – Erzähler, Hörspielautor, Komponist. R. wuchs als Sohn des Kammermusikers Paul Luther in Berlin auf. Nach dem Besuch von Gymnasium u. Konservatorium schlug er 1937 die Laufbahn eines Offiziers bei der Kriegsmarine ein. Im Zweiten Weltkrieg stieg er bis zum U-Boot-Kommandant auf. 1943 geriet er in Gefangenschaft, die ihn nach Afrika, Kanada u. England führte. Von 1950 bis 1981 war er – zuletzt in leitender Stellung – in der Literaturredaktion des Berliner Senders RIAS tätig. 1954–1958 studierte er an der FU Berlin Anglistik, Musikwissenschaft u. Philosophie. R. debütierte mit der langen Erzählung Nichts in Sicht (Neuwied/Bln.-Spandau 1954. Tb.-Ausg. mit einem Nachw. v. Siegfried Lenz. Darmst./Neuwied 1977. Neuausg. mit einem Ess. v. Jürgen Egyptien. Wien/Zürich 1993. Ffm. 2003). Unter den erzählerischen Texten, die der Kriegserfahrung eine Wendung ins Existentialistische u. Parabolische geben, nimmt R.s Erzählung eine exklusive Stellung ein. Die Ausgangssituation besteht darin, dass ein deutscher u. ein amerikan. Soldat in einem Schlauchboot über den Atlantik treiben. Der schwerverletzte Amerikaner, dem der Deutsche behelfsmäßig einen Arm amputiert hat, stirbt schon bald. Nach einigem Zögern wird er über Bord geworfen, bleibt aber als imaginäres Gegenüber präsent. Die Reflexionen des Deutschen über sein Leben u. die in ihm aufsteigenden Erinnerungsbilder gehen allmählich in Fieberfantasien über. Erzählerisch ist Nichts in Sicht dadurch gekennzeichnet, dass die Stationen des Sterbens durch nüchterne medizin. Informationen begleitet u. metaphys. Begriffe wie Gott oder Hoffnung in kurzen lexikal. Artikeln erläutert werden. Zu dieser Technik passt der lakon. Erzählstil, der R.s Intention einer desillusionierenden Überprüfung der abendländ. Werte dient. Während auf der konkreten Wahrnehmungsebene der Schiffbrüchigen nichts in Sicht ist, kommt auf der metaphys. Ebene das Nichts in Sicht. Für dieses Lebensgefühl findet R. eindrucksvolle Bilder.

Rehn

Die Diagnose der Verlassenheit des modernen Menschen hat R. in seinem Roman Feuer im Schnee (Darmst. u. a. 1956) über das Thematische hinaus in die erzählerische Struktur überführt. Der namenlose Protagonist ist ein alter Schulmeister, der der einzige Überlebende eines Flüchtlingstrecks ist, der vor der heranrückenden Roten Armee nach Westen flieht. Durch Zufall bei einem Fliegerangriff verschont geblieben, beschließt er der allgemeinen Bewegungsrichtung entgegen nach Osten zu reiten. Vor seinem Aufbruch unterzieht er sein Reisegepäck einer krit. Musterung u. sortiert die Bibel, Homers Epen, Goethes Werther, die Philosophen u. die moderne Dichtung aus. Auf seinem vermeintl. Weg nach Osten spült sein Bewusstsein immer wieder alle mögl. Bildungsgüter nach oben, sein Gehirn verfängt sich in »Kreisel-Gedanken«. So wie sich sein Denken im Kreis bewegt, so auch er selbst. Feuer im Schnee ist ein Stationenroman, der in sich selbst zurückläuft. Der Kreis hat sich geschlossen, der Ritt gen Osten erweist sich als Zirkelschlag um eine Zone der Auslöschung. Zwei Tage u. zwei Nächte ist der Protagonist in einer Todeslandschaft unterwegs, deren absurde Wirklichkeit alle abendländ. Kulturtradition Lügen straft. R. konfrontiert den Schulmeister mit der unabsichtl. Selbstsprengung eines verirrten russ. Soldaten, dem wütenden Schusswechsel zweier sich über die Identität des jeweils anderen Täuschenden, den letzten entrückten Halluzinationen einer Erfrierenden. Nur kurze Zeit, nachdem der Schulmeister entdeckt, dass ihn der Kompass getrogen hat, stößt er auf den von ihm zurückgelassenen Stapel Bücher. Nicht zufällig liegt die Odyssee obenauf. Um in der Kälte zu überleben, macht er ein Feuer, das er mit allen Büchern nährt. Die Literatur der Antike wie die der Klassik u. Moderne wird von den Flammen verzehrt, weil sie ihm in dieser Zone der Auslöschung als unwahr erscheint. Dieses private Autodafé steht in einem kontradiktorischen Verhältnis zur nationalsozialist. Bücherverbrennung. Das Fanal, das R.s Schulmeister entfacht, ist eine radikale Kritik an der unzulängl. Immunisierung der Zivilisation gegen den Rückfall in

Rehn

die Barbarei, eine purgatorische Selbstkritik des humanist. Geistes. Den Abschluss von R.s Kriegstrilogie bildet der postapokalypt. Roman Die Kinder des Saturn (Darmst. u. a. 1959). Er handelt von drei Überlebenden eines Atomkriegs, einem Arzt u. einem Ehepaar, die sich ins Innere eines Bergs gerettet haben. Der Roman setzt in der Erzählgegenwart ein u. blendet dann in die Biografien der drei Figuren zurück. In den Intermezzi kehrt er in die Zeit des gemeinsamen Eingeschlossenseins zurück u. registriert den Prozess der fortschreitenden körperl. u. geistigen Mutationen. Am Ende betreten sie die Erdoberfläche. Bald löst sich das Paar auf u. versickert im Boden, der Arzt zieht mit einem Spaten in die Leere. Zitate aus dem thematisch weitausgreifenden Tagebuch des Arztes u. lexikal. Notizen führen zu einer komplexen Erzählstruktur. Das Diarium fungiert zudem als Medium der dichtungstheoret. Selbstreflexion, die um die Bedingungen eines quasi postumen Schreibens kreist. Die Titelerzählung des Bands Der Zuckerfresser (Neuwied/Bln.-Spandau 1961) avancierte rasch zu einer exemplarischen Kurzgeschichte in Schullesebüchern. Der stilistisch schlichte Text, der mit einer Bunkerruine als Handlungsort noch in der Tradition der Trümmerliteratur steht, gewinnt durch den Einbezug klass. Musik an erzählerischer Tiefe. Auffällig an R.s Prosatexten ist ihre oft musikal. Kompositionsform. Thematisch setzen sie R.s Vorliebe für Grenzsituationen fort. Sie wirken als Prüfsteine menschlicher Bewährung u. als Mittel der Konfrontation von Traum u. Wirklichkeit. Hervorzuheben ist die Erzählung Verrostete Sterne (in: Nach Jan Mayen und andere Geschichten. Darmst./Neuwied 1981), die anhand eines Treffens ehemaliger Schüler eines Berliner Gymnasiums die Verdrängung der Erinnerung an einen jüd. Lehrer aufzeigt. R. hat sich auch als Satiriker versucht. In seinem als Rehns Tierleben apostrophierten bibliophilen Band Das neue Bestiarium der deutschen Literatur (Stierstadt/Ts. 1963. 21970) porträtiert er mal mehr, mal weniger treffend 43 zeitgenöss. Autoren. Sein Roman Morgen Rot oder Die Kehrseite des Affen (Stgt. 1976) ist

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eine Auseinandersetzung mit der politisch aufgewühlten Atmosphäre im Berlin der späten 1960er Jahre, die ästhetisch unreif u. nicht frei von Ressentiments ist. Gelungener erscheint demgegenüber der letzte Roman Die weiße Sphinx (Herford 1978), der in dokumentarischer Form die scheiternde Polarexpedition des Schweden Olofson 1885/86 schildert u. in dem sich R.s souveräne Einfühlung in Grenzsituationen bewährt. Weitere Werke: Rondo u. Scherzo funèbre. Zwei musikal. Prosastücke. Stierstadt/Ts. 1958. – Daten, Bilder, Hinweise, Störungen. Bln.-Friedenau 1964. – Kyushu Nikki. Ein südjapan. Tgb. Stierstadt/Ts. 1965. – Das einfache Leben oder der schnelle Tod. Baden-Baden 1966 (E.). – Hörspiele (alle RIAS): Der Chefrechner (1961). – Drei Begegnungen (1961). – Nichts Außergewöhnliches (1963). Literatur: Martin Walser: Wenn die Kimmung leer bleibt. In: Texte u. Zeichen 1 (1955), H. 3, S. 390–392. – Wolfgang Bovelet: J. R. In: Schriftsteller der Gegenwart. 53 Porträts. Hg. Klaus Nonnenmann. Olten/Freib. i. Br. 1963, S. 240–243. – Malte Dahrendorf: Der Erzähler J. R. In: J. R.: Das einfache Leben oder der schnelle Tod (s. o.), S. 7–22. – Maximilian Scherner: Makrosyntax u. Textinterpr. J. R.s Erzählung ›Der Zuckerfresser‹. In: DU 22 (1970), H. 6, S. 51–66. – Peter Krahé: Schiffbruch u. Selbstaufgabe. Ein Vergleich v. ›Nichts in Sicht‹, ›Bericht eines Schiffbrüchigen‹ u. ›Pincher Martin‹. In: GRM N. F. 36 (1986), S. 433–454. – Jürgen Egyptien: Die Freiheit der Enttäuschung. Zum erzähler. Werk v. J. R. In: Hirschstrasse Nr. 6 (1995), S. 22–30. – Dietrich Hofmann: J. R.s Die Kinder des Saturn. Ebd., S. 31–43. – Karina Gómez-Montero: Literar. Nihilismus im deutschspr. Roman nach 1945. Köln u. a. 1998. – J. Egyptien: ›Fliegt und tötet!‹ Anmerkungen zu einer Luftkrieg-Episode in J. R.s Roman ›Feuer im Schnee‹. In: die horen 48 (2003), H. 212, S. 155–158. – Raffaele Louis: Gleichnisse vom verlorenen Sinn. Georg Hensels ›Nachtfahrt‹, J. R.s ›Feuer im Schnee‹, Werner Warsinskys ›Kimmerische Fahrt‹ u. Herbert Zands ›Letzte Ausfahrt‹. In: Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 u. 1965. Hg. J. Egyptien. Mchn. 2007, S. 125–156. – Ludger Claßen: J. R. In: KLG. Jürgen Egyptien

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Reich, Lucian, * 26.2.1817 Hüfingen, † 2.7.1900 Hüfingen. – Maler, Illustrator, Heimatschriftsteller, Historiker u. Volkskundler. R. wuchs in Hüfingen, einer kleinen Verwaltungsstadt am südöstl. Schwarzwaldrand (Baar), als Sohn eines Oberlehrers auf. Neben der Ausbildung in den alten Sprachen durch einen Privatlehrer besuchte er die Zeichenschule seines Vaters, in der sein Talent rasch erkannt wurde. Ein Onkel, Opernsänger in Frankfurt, ermöglichte ihm von 1833 bis 1836 den Besuch des dortigen Städelschen Kunstinstituts, bis der Tod des Gönners R. zur Rückkehr in die Heimat zwang. Über Kontakte zu Moritz von Schwind u. dem Karlsruher Galeriedirektor Carl Ludwig Frommel, die ihm sein Bruder Franz Xaver, ebenfalls Künstler, vermittelt hatte, erhielt R. ein Stipendium, mithilfe dessen er 1840–1842 seine Ausbildung in München abschloss. Als Assistent von Schwind war R. zwischen 1842 u. 1845 an der Ausgestaltung der neuen von Heinrich Hübsch erbauten Kunsthalle in Karlsruhe beteiligt. Die Jahre in der badischen Hauptstadt, in denen er Bekanntschaft mit Literaten wie August Lewald, Berthold Auerbach u. Hermann Kurz schloss, prägten R. nachhaltig. In diese Zeit fallen sowohl der Beginn seiner Tätigkeit als Buchillustrator (für die Schriften des Volkskundlers Josef Bader u. für das Deutsche Familienbuch von Kurz) als auch die ersten literar. Pläne. Unter dem Eindruck des Erfolgs von Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten u. von diesem persönlich dazu ermutigt, begann R. mit der Arbeit an seinem Hauptwerk Hieronymus. Lebensbilder aus der Baar und dem Schwarzwald, das 1852/53 erschien (Karlsr. 2., überarb. Aufl. 1875. Neuausg. Freib. i. Br. 1958). Die Lebensgeschichte des Sohnes eines einfachen Dienstmanns trägt z.T. autobiogr. Züge u. ist ekphrastisch komponiert: 25 Litografien, die mit Versen aus Hebels Allemannischen Gedichten unterschrieben sind, bebildern die einzelnen Stationen aus dem Leben des Protagonisten, der nach langen Wanderjahren als Uhrschildmacher in seine Heimat zurückkehrt, um seine Jugendliebe zu heiraten.

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Gemäß dem Versprechen des Vorworts, »das Sitten- und Gewohnheitsleben der früheren Geschlechter eines kräftigen Volksstammes in stillschweigendem Vergleiche zur Gegenwart« zu schildern, eignet dem Roman in zweifacher Weise ein regressiver Zug. Zum einen ist die Handlung in die Zeit vor der Französischen Revolution verlegt, zum anderen kreisen die zahlreichen Gespräche häufig um die vor der Handlungszeit liegende Vergangenheit. Auch in den Wanderblühten aus dem Gedenkbuche eines Malers (Karlsr. 1855) bestehen die einzelnen Kapitel, die von der Rahmenhandlung, einer Wanderung R.s durch den Breisgau u. den Schwarzwald, zusammengehalten werden, hauptsächlich aus Gesprächen u. Berichten der Einheimischen, die das Bild einer vorgeblich aussterbenden Volkstümlichkeit skizzieren. Pädagogischerbauliche Absichten verfolgt hingegen die in der Zwischenzeit erschienene Geschichte eines Eremiten (Bruder Martin. Ein Hausbüchlein für die Jugend. Karlsr. 1853), mit der R. an die seit der Romantik wieder populär gewordene Tradition von Mönchsbiografien u. Heiligenlegenden anknüpft. R.s – wenn auch bescheidener – literar. Erfolg bewegte Großherzog Friedrich I. von Baden dazu, ihn mit der Beschreibung der 1853 zurückerworbenen Insel Mainau u. des bad. Bodenseeufers zu beauftragen. R.s mit Illustrationen, poet. Landschaftsbeschreibungen, histor. Erklärungen, aber auch prakt. Ratschlägen versehener Reisebericht (Die Insel Mainau und der Badische Bodensee. Mit Berücksichtigugn der angrenzenden Gebietstheile. Karlsr. 1856) nimmt das zeitgenössische romantisch-verklärte Bodenseebild (Mörike, Schwab) auf – die zahlreichen barocken Denkmäler werden gegenüber den mittelalterlichen entsprechend dem Zeitgeschmack abgewertet oder schlicht übergangen – u. trug zur touristischen Erschließung des Bodensees im 19. Jh. bei. Die Jahre intensiver literar. Produktion, welche R. nicht zuletzt aus finanziellen Gründen begonnen hatte, endeten 1855, als er eine Stelle als Zeichenlehrer am Rastatter Lyceum annahm, welche er bis zu seiner Pensionierung 1889 ausfüllte. Obgleich R. den Hauptteil seiner Schaffenskraft, die nicht

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der ungeliebte Brotberuf am Gymnasium in Anspruch nimmt, nun wieder zahlreichen bildkünstlerischen Arbeiten widmete, entstanden in der Folgezeit auch lokalhistor. Studien u. einige literar. Texte, die er nach der Rückkehr nach Hüfingen teilweise u. um eine autobiogr. Skizze angereichert 1896/97 veröffentlichte (Novellen und Skizzen. Karlsr. o. J.). Während der Arbeit an einer dritten Auflage des Hieronymus u. an einem Baarer Idiotikon, dessen Erträge in das Badische Wörterbuch geflossen sind, starb R. 83-jährig in seiner Geburtstadt. Weitere Werke: Die bad. Landschaft Baar in Baden. In: Badenia oder das Badische Volk. Hg. Josef Bader. Bd. I, Hbg. 1859, S. 431–461. – Aus den Zeiten des dreißigjährigen Krieges. Ebd., S. 500–529. – Die Gesch. der Stadt Hüfingen. Ebd., Bd. II, 1862, S. 495–548. – Die Bürgschaft. Genrebild. Karlsr. 1892. Literatur: August Stocker: L. R. Ein bad. Maler u. Schriftsteller. In: Schr.en des Vereins für Gesch. u. Naturgesch. der Baar 18 (1931), S. 12–96. – Jenny Dopita: Der Maler u. Schriftsteller L. R. Biogr. u. Verz. der Buchillustrationen. Hbg. u. a. 2007. Philipp Gresser

Reich, Philipp Erasmus, * 1.12.1717 Laubach/Wetterau, † 3.12.1787 Leipzig. – Buchhandelsreformer. Der Sohn des Laubacher Leibarztes Johann Jakob Reich absolvierte bei Johann Benjamin Andreae in Frankfurt/M. zunächst eine Buchhandelslehre. Anschließend war er geschäftlich in London u. Stockholm tätig. Nach Deutschland zurückgekehrt, gelang es R. als Leiter der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung in Leipzig (1747–1787) bedeutende Dichter(innen) an seinen Verlag zu binden u. zu fördern, so u. a. Bode, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Lenz, Gellert, Wieland, Jung-Stilling, Thümmel u. Sophie La Roche. Die aufwendige Gestaltung der Bücher mit künstlerisch bedeutenden Kupferstichen, qualitätvollem Papier u. Einband war für den Absatz überaus förderlich u. eine der Voraussetzungen dafür, dass schließlich ein hauptberufl. Dichtertum entstehen konnte. Wichtiger hierfür waren aber die von R. angebahnten Reformen des dt. Buchhandels, wie er sie von Leipzig aus, das sich nicht zu-

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letzt durch ihn zum Zentrum des dt. Buchhandels entwickelte, vorantrieb: Unterbindung des Raubdrucks, Nettohandel statt des übl. Tauschhandels u. organisatorische Zusammenfassung der am Buchhandel Beteiligten. Entschieden bekämpfte er die Versuche von Schriftstellern, in Eigenregie zu publizieren (wie sie etwa Klopstock mit dem Subskriptionsplan zur Gelehrtenrepublik oder die Dessauer Gelehrtenbuchhandlung unternommen hatten), da er durch Verleger u. Buchhandel die effizienteste Herstellungsu. Vertriebsform des Buches gewährleistet sah (Zufällige Gedanken eines Buchhändlers über Herrn Klopstocks Anzeige einer gelehrten Republik. o. O. [Lpz.] 1773 u. Der Bücher-Verlag in allen Absichten genauer bestimmt. An den Verfasser des Bücher-Verlags in Betrachtung der Schriftsteller, der Buchhändler und des Publikums erwogen. o. O. [Lpz.] 1773). So kann R. als der vor Göschen u. Cotta einflussreichste Verleger für die dt. Literatur des 18. Jh. angesehen werden, der sich als »Wegbereiter des gewinnorientierten Handels mit Geistesarbeit« (Rosenstrauch, S. 111) profilierte. Weiteres Werk: Nicht Eitelkeit, sondern ein warmes Herz, errichtete Gellert u. Salzern dieses Denkmahl. o. O. u. J. (Trauerschrift, Einblattdr.). Ausgaben: Zufällige Gedanken eines Buchhändlers (1773) u. Der Bücher-Verlag (1773). In: Nachdr. u. geistiges Eigentum (Quellen zur Gesch. des Buchwesens. Bd. 7/1). Mchn. 1981. – Auszug aus dem Leben des Buchhändlers P. E. R. ao. 1782 von ihm selbst aufgesetzt. Hildesh. 1990. Literatur: J. Braun: P. E. R. In: ADB. – Hazel Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur u. Aufklärung. Die Reformen des Buchhändlers P. E. R. (1717–87). In: AGB 26 (1986), S. 1–129. – Mark Lehmstedt: P. E. R. (1717–87). Verleger der Aufklärung u. Reformer des dt. Buchhandels. Lpz. 1988. Hildesh. 1989. – H. Rosenstrauch: P. E. R., Bougeois u. citoyen. In: Wiss. Zeitschr. der KarlMarx-Univ. Leipzig. Gesellschaftswiss. Reihe 38 (1989), S. 96–107. – M. Lehmstedt: ›Ich bin nicht gewohnt, mit Künstlern zu dingen ...‹. P. E. R. u. die Buchillustration im 18. Jh. Lpz. 1989. – Ders.: Struktur u. Arbeitsweise eines Verlages der dt. Aufklärung. Die Weidmannsche Buchhandlung in Leipzig unter der Leitung v. P. E. R. zwischen 1745 u. 1787. Diss. Lpz. 1990. – Ders.: ›Ein Strohm, der alles überschwemmet‹. Dokumente zum Verhältnis

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493 v. P. E. R. u. Johann Thomas v. Trattner. Ein Beitr. zur Gesch. des Nachdrucks in Dtschld. im 18. Jh. In: Bibl. u. Wiss. 25 (1991), S. 176–267. – Gerhard Kurtze: ›Erster Buchhändler der Nation‹. P. E. R. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel (1996), Nr. 13, S. 19–21. – Alexander Jegge: Anton Graff u. die Gelehrtenportraits der Slg. P. E. R. Liestal 2000. – Rafael Arto-Haumacher: Ein erster Bestsellerautor der Verlagsgesch. Gellert, R. u. die Weidmannsche Buchhandlung. In: Aus dem Antiquariat (2001), Nr. 2, S. 64–74. – Volker Titel: P. E. R. In: NDB. Felix Leibrock / Red.

Reich, Wilhelm, * 24.3.1897 Dobrzcynica/ Galizien, † 3.11.1957 Lewisburg/Pennsylvania. – Psychoanalytiker. Der Sohn eines jüd. Gutsbesitzers wurde bereits als Medizinstudent in die von Freud geleitete Wiener Psychoanalytische Gesellschaft aufgenommen. Nach seiner Promotion 1922 arbeitete R. im neu gegründeten Seminar für psychoanalyt. Theorie in Wien, dessen Leitung er zwei Jahre später übernahm. Von 1930 bis zu seiner Flucht vor den Nationalsozialisten nach Dänemark 1933 praktizierte er als Psychotherapeut in Berlin u. veröffentlichte zahlreiche Schriften zum Verhältnis zwischen Sexualität, psych. Individualentwicklung u. Gesellschaft. Obwohl R. seine Arbeiten als konsequente Fortführung der Libidotheorie Freuds begriff, fanden sie bei diesem keine Anerkennung. R. sah sich unter den Psychoanalytikern zunehmend isoliert u. wurde 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Ebenso reagierte die KPD, der er 1928 beigetreten war, mit dem Ausschluss R.s wegen seines als entpolitisierend gewerteten Versuchs, Marxismus u. Psychoanalyse zu verbinden. Nach seiner Ausweisung aus Dänemark u. später auch aus Schweden lebte R. in Oslo, bis er 1939 in die USA emigrieren konnte. Die Überzeugung von der funktionellen Einheit von Körper u. Psyche führte R. zur Erforschung der biophysikal. Korrelate psych. Phänomene in dem von ihm gegründeten Institut »Orgonon« auf seinem Landsitz in Maine. Er glaubte, kosm. Energie – die sog. Orgon-Energie – entdeckt zu haben, die Menschen energetisiere u. deren Mangel zu

psych. u. psychosomat. Erkrankungen führe. Zur Therapie, u. a. von Krebs, stellte R. Orgon-Akkumulatoren her, deren Vertrieb ihm 1954 eine Anklage einbrachte. Nachdem er nicht vor Gericht erschienen war u. den Verkauf nicht einstellte, wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. 1957 musste er die Haft antreten, in der er nach acht Monaten starb. Wegbereitend für die Liberalisierung der Sexualität wurde R.s Werk Die Funktion des Orgasmus (Wien 1927. Köln 1987). Darin versuchte er zu zeigen, dass unerfüllte Sexualität u. dadurch nicht abgebaute Libidoenergie die Ursache für Neurosen sei. Er beschrieb den Erregungsablauf des gesunden u. des unbefriedigten sexuellen Erlebens u. schloss, dass die »orgastische Potenz« sich nicht in der Dauer, Häufigkeit u. Intensität des Geschlechtsakts zeige, sondern im vollständigen Abbau der zuvor erzeugten Spannung. Die Konsequenz zog R. unter dem Einfluss des Ethnografen Bronislaw Malinowski mit seiner Theorie der Sexualökonomie (Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Bln. 1932. Neudr. Köln 1972): freie Empfängnisverhütung, Aufgabe des Abtreibungsverbots u. rechtl. u. moralische Gleichstellung verheirateter u. unverheirateter Paare. In der Charakteranalyse (o. O. Selbstverlag 1933. Köln 1989) stellte R. seine Therapieform dar. Sie basiert auf der Analyse verschiedener Charakterstrukturen, die psychisch Kranke zum Schutz vor der Erkenntnis ihrer zugrundeliegenden Neurosen aufbauen. Zu Recht verstand sich R. als Erbe der Freud’schen Psychoanalyse. Denn sowohl sein inzwischen als zu einseitig angesehener mechan. Sexualitätsbegriff kann sich auf den frühen Freud, etwa den der Kulturellen Sexualmoral, berufen, als auch seine kulturkrit. Neurosentheorie. Gerade seine Thesen zum autoritären Charakter u. zur Massenpsychologie des Faschismus (Kopenhagen 1933. Köln 1986. Wiesb. 2005), deren Ursache er im gehemmten Sexualleben sah, gehören inzwischen zur Allgemeinbildung, ohne dass allerdings R.s politische u. therapeut. Konsequenzen akzeptiert werden müssten. Diese spielten selbst nach seiner Wiederentdeckung in Deutschland durch die Studentenbewegung der 1960er Jahre eine untergeordnete Rolle.

Reich-Ranicki Weitere Werke: Was ist Klassenbewußtsein? Kopenhagen 1934 (Pseud. Ernst Parell). – The Sexual Revolution. New York 1945. Dt. Ffm. 1966. 1993. – The Discovery of the Orgone. 2 Bde., London 1974. Dt. 4 Bde., Köln 1982–94. – Frühe Schr.en. 2 Bde., Köln 1977–82. 4 Bde., Köln 1982–94. – Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefw. zwischen W. R. u. A. S. Neill 1936–57. Hg. u. eingel. v. Beverley R. Placzek. Aus dem Englischen v. Bernd A. Laska. Ffm. 1989. – Rede an den kleinen Mann. Ffm. 1989. 1994. – Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiogr. 1897–1922. Hg. Mary Boyd Higgins u. Chester M. Raphael. Köln 1994. – Jenseits der Psychologie. Briefe u. Tagebücher 1934–1939. Hg. u. mit einer Einf. v. Mary Boyd Higgins. Köln 1997. Literatur: Ilse Ollendorfer-Reich: W. R. New York 1969. Dt. Mchn. 1975. – Ola Raknes: W. R. and Orgonomy. Oslo 1970. Dt. Ffm. 1973. – Charles Rycroft: W. R. London 1971. Dt. Mchn. 1972. – David Boadella: W. R. London 1973. Dt. Bern 1981. 2 1996. Tb. Mchn. 1998. Darmst. 2008. – Peter Reich: A Book of Dreams. London 1974. Dt.: Der Traumvater. Mchn. 1975. Bln. 1997. – Bernd A. Laska: W. R. Reinb. 1981. 62008. – Thomas Kornbichler: W. R. Enfant terrible der Psychoanalyse jenseits v. Sigmund Freud? Bln. 1989. – Karl Fallend u. Bernd Nitzschke: Der ›Fall‹ W. R. Beiträge zum Verhältnis v. Psychoanalyse u. Politik. Ffm. 1997. 22002. – Harry Mulisch: Das sexuelle Bollwerk. Sinn u. Wahnsinn v. W. R. Aus dem Niederländischen v. Gregor Seferens. Mchn./Wien 1997. Tb. 1999. – Fritz Erik Hoevels: W. R.s Beitr. zur Psychoanalyse. Freib. i. Br. 2001. – Frédéric de Rivoyre: W. R. et la révolution sexuelle. Paris 2006. – Michael Girkinger: Mensch u. Gesellsch. in der frühen Tiefenpsychologie. Politik bei Sigmund Freud, Alfred Adler u. W. R. Marburg 2007. Matthias Meyer / Red.

Reich-Ranicki, Marcel, * 2.6.1920 Wloclawek/Polen. – Literaturkritiker. /

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Der seit den 1960er Jahren bis in das 21. Jh. hinein produktivste, einflussreichste, populärste u. umstrittenste Literaturkritiker im dt. Sprachraum veröffentlichte im Alter von fast 80 Jahren seinen größten Bucherfolg: die Autobiografie Mein Leben (Mchn. 1999 u. ö.). Sie wurde in über einer Million Exemplaren aufgelegt, in etwa 20 Sprachen übersetzt u. 2009 (unter der Regie von Dror Zahavi) verfilmt.

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Das Buch erzählt in fünf Teilen die Lebens-, Bildungs-, Leidens- u. Erfolgsgeschichte eines Mannes jüdischer Herkunft, die mit der Geschichte v. a. des Nationalsozialismus u. auch des Kommunismus eng verbunden ist sowie, seit den 1960er Jahren, mit der Literaturgeschichte Deutschlands. Der erste Teil umfasst die Jahre von 1920 bis 1938, erzählt knapp von der Kindheit in der poln. Geburtsstadt Wloclawek, dem beruflich erfolglosen, vom Sohn wenig geschätzten poln. Vater u. der geliebten dt. Mutter, der Übersiedlung der Familie Reich nach Berlin (1929) u. ausführlicher von der Berliner Schulzeit in der Spätphase der Weimarer Republik sowie im »Dritten Reich«. Als Jude u. poln. Staatsangehöriger konnte er in Berlin zwar 1938 noch das Abitur machen, sein Immatrikulationsgesuch für ein Studium der Germanistik lehnte die Universität jedoch ab. Im Okt. 1938 wurde R. verhaftet u. nach Polen deportiert. Der zweite Teil (1938–1944) schildert das Leben im Warschauer Getto, die Ermordung der Eltern u. des Bruders, die Flucht mit seiner Frau Teofila, das Überleben in einem Versteck u. die Befreiung durch die Rote Armee. Der dritte Teil (1944–1958) berichtet über die Tätigkeit in London als Vizekonsul (später Konsul) der Republik Polen u. leitender Mitarbeiter des Auslandsnachrichtendienstes, die Entlassung, Verhaftung u. den Ausschluss aus der Kommunistischen Partei (1949/50) wegen »ideologischer Entfremdung« u. die Anfänge einer Laufbahn als Verlagslektor, Übersetzer u. Literaturkritiker (mit zeitweiligem Publikationsverbot) in Polen, der vierte (1958–1973) über die Karriere als freier Literaturkritiker (v. a. für »Die Zeit« u. in der Gruppe 47) nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik (1958), der fünfte (1973–1999) über die vielfältigen Aktivitäten, Freundschaften u. Feindschaften im literar. Leben nach der Anstellung als Leiter des Literaturteils der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (1973–1988). Im Zusammenhang mit, neben u. nach seiner Redaktionstätigkeit initiierte R. viele neue u. nachhaltig wirksame Projekte zur Vermittlung vergangener u. gegenwärtiger dt. Literatur. Zu den wichtigsten gehören: die seit 1974 in jeder Wochenendausgabe der /

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»FAZ« um einen Beitrag vermehrte Frankfur- als mehr oder weniger verschlüsselte literar. ter Anthologie, eine Sammlung von Gedichten Figur (mehrfach sogar in Werken von Peter mit kurzen Interpretationen (bislang in über Handke u. Martin Walser) ist er im literar. 35 Bänden erschienen); der Klagenfurter Leben präsent. Dieses hat er mit seiner PerWettbewerb um den Ingeborg-Bachmann- sönlichkeit u. seinem Werk über ein halbes Preis, den er als Sprecher der Jury von 1977 Jahrhundert hinweg so stark geprägt wie kein bis 1988 maßgeblich prägte; die Fernseh- zweiter Kritiker u. nur wenige Schriftsteller sendung Das literarische Quartett, die von 1988 seiner Generation. bis 2002 Maßstäbe für literaturkrit. Debatten Weitere Werke: Lit. der kleinen Schritte. Dt. in diesem Medium setzte; die 50 Bände um- Schriftsteller heute. Bln./Wien 1972. – Zur Lit. der fassende, u. d. T. Der Kanon (Ffm.) zwischen DDR. Mchn. 1974. – Nichts als Lit. Aufsätze u. 2002 und 2006 erschienene Sammlung Anmerkungen. Stgt. 1985. – Mehr als ein Dichter. deutschsprachiger Romane, Erzählungen, Über Heinrich Böll. Köln 1986. – Herz, Arzt u. Lit. Zwei Aufsätze. Zürich 1987. – Thomas Mann u. die Dramen, Gedichte u. Essays. Seinen. Stgt. 1987. – Zwischen Diktatur u. Lit. M. In der Tradition der dt. Aufklärung u. mit R. im Gespräch mit Joachim Fest. Ffm. 1987. – Berufung u. a. auf Lessing u. Börne plädiert R. Thomas Bernhard. Zürich 1990. – Ohne Rabatt. in seinen Rezensionen u. Essays, die zunächst Über Lit. aus der DDR. Stgt. 1991. – Sieben Wegin Zeitungen, später gesammelt in mehrfach bereiter. Schriftsteller des 20. Jh. Mchn. 2002. – aufgelegten Büchern erschienen, für ein Ma- Über Amerikaner. Von Hemingway u. Bellow bis ximum literaturkritischer Klarheit u. Ver- Updike u. Philip Roth. Mchn. 2004. – Für alle ständlichkeit, für eine Provokation einge- Fragen offen. Antworten zur Weltlit. Mchn. 2009. spielter Vorurteile (Wer schreibt, provoziert. Literatur: Walter Jens (Hg.): Lit. u. Kritik. Stgt. Mchn. 1966) u. für entschiedene Wertung 1980. – Jens Jessen (Hg.): Über M. R. Aufsätze u. (Lauter Verrisse. Mchn. 1970 u. ö. Lauter Lobre- Komm.e. Mchn. 1985. – Peter Wapnewski (Hg.): den. Stgt. 1985). Er begreift Literaturkritik als Betrifft Lit. Stgt. 1990. – Franz Josef Czernin: M. R. Dienst für ein breites Publikum u. wird zgl. Eine Kritik. Gött. 1995. – Volker Hage u. Matthias Schreiber: M. R. Köln 1995. – Jochen Hieber (Hg.): auch von der Literaturwissenschaft mit hoLieber Marcel. Briefe an R. Stgt. 1995. – Hubert hem Respekt wahrgenommenen: mit grund- Spiegel (Hg.): Welch ein Leben. M. R.s Erinnerunlegenden Beiträgen zur Geschichte, Theorie gen. Stimmen, Kritiken, Dokumente. Mchn. 2000. u. Praxis der Literaturkritik (Der doppelte Bo- – Frank Schirrmacher (Hg.): M. R. Sein Leben in den. Ein Gespräch mit Peter von Matt. Zürich Bildern. Mchn. 2001. – Thomas Anz: M. R. Mchn. 1992 u. ö. Die Anwälte der Literatur. Stgt. 1994 2004. – Uwe Wittstock: M. R. Gesch. eines Lebens. u. ö. Über Literaturkritik. Mchn. 2002), mit Mchn. 2005. – Gerhard Gnauck: Wolke u. Weide. frühen Bestandsaufnahmen der zeitgenöss. M. R.s poln. Jahre. Stgt. 2009. Thomas Anz Literatur (u. a. Deutsche Literatur in West und Ost. Mchn. 1963 u. ö. Entgegnung. Zur deutschen Reichard, Heinrich August Ottokar, * 3.3. Literatur der siebziger Jahre. Stgt. 1979 u. ö.) 1751 Gotha, † 17.10.1828 Gotha. – Reioder mit den Aufsatzbänden über Juden in seschriftsteller, Übersetzer, Herausgeber, der deutschen Literatur (Über Ruhestörer. Publizist. Mchn. 1973 u. ö.), über Goethe, Heine, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Max Frisch, R. entstammte einer alten thüring. Familie. Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll, Günter Sein Vater, Beamter in Gotha, starb 1755, u. Grass u. Thomas Bernhard. Zu den zahlrei- R. wurde von seinem Stiefvater, Mitgl. der chen Preisen u. Ehrungen, die R. erhalten hat, herzogl. Regierung, zu Hause erzogen, wo er gehören etliche Gast- u. Honorarprofessuren eine umfassende Bildung erhielt. 1767–1771 sowie neun Ehrendoktorwürden von Uni- studierte er Jura in Göttingen, Leipzig u. versitäten des In- u. Auslands. Jena. In diese Zeit fielen erste poet. Versuche, R.s Wirkung reicht bis in die Wunsch- u. die er, nach Gotha zurückgekehrt, 1772/73 Alpträume renommierter Autoren hinein, die anonym veröffentlichte. In Zusammenarbeit sich über den Kritiker zuweilen mit Dank- mit Gotter sammelte R. erste Theatererfahbarkeit u. oft mit Empörung äußerten. Auch rung u. wurde 1774 in die Direktion des neu

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errichteten Gothaischen Hoftheaters berufen (1775–1779), verbunden mit dem Titel eines Bibliothekars. 1780–1814 hatte er die Aufsicht über die Privatbibliothek Herzog Ernsts II. von Sachsen-Gotha. Seit 1775 Mitgl. des Freimaurerordens »Zum Kompaß«, besorgte er 1776 gemeinsam mit Christian G. von Helmolt den ersten dt. Freimaurer-Almanach: »Sammlung für die freien und angenommenen Maurer in Deutschland« (Gotha). 1786 wurde R. zum Rat, 1799 zum Kriegskommissionsrat u. 1801 zum Kriegsrat befördert. Zu R.s großem Bekanntenkreis zählten die Verleger Friedrich Justin Bertuch in Weimar u. Johann Christian Dieterich in Gotha u. später Göttingen, die Schriftsteller Kotzebue u. Schiller sowie der Philosoph u. Arzt Johann Georg Zimmermann. Weniger durch Gelegenheitsschriften, Gedichte, Übersetzungen (hauptsächlich aus dem Französischen) u. Freimaurerschriften wurde R. bekannt als durch polit. Schriften, Reisehandbücher u. Periodika zum Theater. Hier waren die von ihm herausgegebenen »Theater-Kalender« auf die Jahre 1775–1800 (Gotha. 1784 u. 1797 u. d. T. »Taschenbuch für die Schaubühne«) sowie das »TheaterJournal für Deutschland« (22 Bde., Gotha 1771–84) erfolgreich. Als Revolutionsgegner verfasste R. Flugschriften, wie Zuruf eines Deutschen an patriotische Schweizer (1790), Aufruf eines Deutschen an seine Landsleute am Rhein, sonderlich an den Nährund Wehrstand (Jan. 1792), Adresse an den gesunden deutschen Menschenverstand (1798), u. gab bis 1798 (danach Hg. Bertold Friedrich von Haller) den »Revolutions-Almanach« heraus (Gött. 1793–1804. 1803 u. d. T. »Friedens-Almanach«. 1804 u. d. T. »Kriegs- und Friedensalmanach«). Zur Vorbereitung seiner ersten größeren Reise 1785 verfasste R. das Handbuch für Reisende aus allen Ständen (Lpz. 1784. 21792). 1793 folgte Guide des Voyageurs en Europe (Weimar. 9 1822. Zahlreiche Teilbde. Nachdr. mit Atlasbd. Paris 1819) u. 1801 Der Passagier auf der Reise in Deutschland und einigen angrenzenden Ländern (Weimar. 61826), von dem nach seinem Tod noch mehrere Neubearbeitungen erschienen. R.s Reisen führten ihn haupt-

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sächlich in die Schweiz, nach Paris u. Südfrankreich sowie nach Karlsbad, wo er 1807 seinen Führer für Kurgäste zurückzog, als Goethe seine Sammlung zur Kenntnis der Gebirge von und um Karlsbad (1807) veröffentlichte. Als Herausgeber führte R. den von Emanuel Christoph Klüpfel begründeten »Gothaischen Hof-Kalender« fort; 1800 übernahm er die Redaktion des ehemals von Lichtenberg herausgegebenen »Göttinger Taschen Calenders«. R. war auch an den ersten vier Jahrgängen der seit 1774 von Klüpfel besorgten »Gothaischen Gelehrten Zeitung« maßgeblich beteiligt. Weitere Werke: Verseleien. Gotha 1772/73. – Gesch. meiner Reise nach Pyrmont. Gotha 1773. – Zur Kunde fremder Völker u. Länder. Lpz. 1781–83. – Gedichte v. R. Gotha 1783. – Kleine Reisen. Tb. für Reisedilettanten. 8 Bde., Bln. 1785–91. – Malerische Reise durch einen großen Teil der Schweiz, vor u. nach der Revolution. Jena 1805. 21827. – Versuch einer Gesch. der [...] Loge Ernst zum Kompaß. Gotha 1824. – Herausgeber: Bibl. der Romane. 21 Bde., Bln./Lpz./Riga 1773–94. – Übersetzungen französischer Reisewerke: Bernard de Saint-Pierre: Reise nach Isle de France u. Bourbon. Altenburg 1774. – Marc Théodore Bourrit: Schilderung seiner Reise nach den Savoyischen Eisgebirgen. Gotha 1775. – Beschreibung der Penninischen u. Rhät. Alpen. Zürich 1782. – Laurent P. Berenger: Briefe über eine Reise durch die Provence. Lpz. 1787. – Philippe S. Bridel: Reise durch einige der romantischesten Gegenden der Schweiz 1788. Gotha 1789. – Elisabetta R. Princesse de Gonzaga: Briefe auf ihren Reisen. Gotha 1791. – Louis F. Jauffret: Reisen u. Abenteuer Rolands [...] für Kinder. Bln. 1800–03. Literatur: Hermann Uhde (Hg.): H. A. O. R., seine Selbstbiogr. Stgt. 1877. – Fritz Rupp: H. A. O. R., sein Leben u. seine Werke. Marburg 1908. – Werner Greiling: Hofbibliothekar u. frankophiler Publizist: H. A. O. R. In: Frankreichfreunde. Hg. Michel Espagne. Lpz. 1996, S. 151–176. – Christoph Weiß: ›Deutschlands Hohn und Schmach‹. Der Beginn des Briefw.s zwischen Johann Georg Zimmermann u. H. A. O. R. In: Johann Georg Zimmermann. Hg. Hans-Peter Schramm. Wiesb. 1998, S. 185–210. – Annett Volmer: Presse u. Frankophonie im 18. Jh.: Studien zur französischsprachigen Presse in Thüringen, Kursachsen u. Russland. Lpz. 2000, S. 66–75. Alex W. Hinrichsen / Red.

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Reichardt, Johann Friedrich, * 25.11.1752 Königsberg, † 27.6.1814 Giebichenstein bei Halle/S.; Grabstätte: Halle, Alter Giebichensteiner Friedhof. – Komponist, Musikschriftsteller. R., Sohn eines Königsberger Lautenisten u. Stadtmusikanten u. einer streng herrnhutisch erzogenen Mutter, trat, vom Vater ausgebildet, mit ihm in Hauskonzerten auf u. wurde von der Familie des Grafen Keyserling gefördert. 1768 begann R. das Studium der Rechte u. gewann die Freundschaft von Hamann, Kant u. Hippel. 1771–1774 unternahm er als Violinist u. Cembalist eine ausgedehnte Konzertreise durch zahlreiche dt. Städte. In Berlin begeisterten ihn die Liebhaberaufführungen Händel’scher Oratorien; in Leipzig verkehrte er im Hause Breitkopf, erfuhr die Förderung Johann Adam Hillers u. wurde von der Sängerin Corona Schröter auf Goethes Dichtungen aufmerksam gemacht. In Hamburg bzw. Wandsbek traf er Carl Philipp Emanuel Bach, Klopstock u. Claudius. Seine Eindrücke schilderte er, zuweilen recht kühn, in den Briefen eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend (2 Tle., Ffm./Lpz. 1774. 1776. Nachdr. Hildesh. 1977). 1775 bewarb er sich mit Erfolg um die durch Agricolas Tod frei gewordene Stelle des Berliner Hofkapellmeisters, um bald feststellen zu müssen, dass der alternde Friedrich II. lediglich Wiederaufführungen der Opern von Carl Heinrich Graun u. Hasse erwartete. R. hielt sich durch die Einrichtung geistl. Konzerte nach frz. Muster (»Concerts spirituels«) schadlos u. begleitete seine Unternehmungen u. seine auf einer Italienreise gewonnenen Erfahrungen klassischer ital. Kirchenmusik durch das Musikalische Kunstmagazin (2 Tle., Bln. 1782. 1791. Nachdr. Hildesh. 1969). Als Liederkomponist bereicherte er das »Berliner« Strophenlied durch die erweiterte Rolle der Klavierbegleitung u. sein sicheres Gespühr für komponierbare Texte, so die ersten Goethe-Kompositionen 1780. Die persönl. Verbindung zu Goethe selbst verlief eher zögernd u. zeichnete sich durch einen Wechsel zwischen Annäherung u. Abstoßung aus. Auch die Veröffentlichung seiner vertonten Mignon-Lieder in Goethes Wilhelm Meisters

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Lehrjahren (1795) stellte eine Eigeninitiative R.s dar. R. entschädigte sich für den eng begrenzten Hofdienst durch ausgedehnte Reisen: nach Wien, wo er Gluck kennen lernte, u. London (1785) zur Wiederholung des Händelfestes. Trotz seiner Cantata in the Praise of Handel u. des Versuches einer Händel-Biografie (Georg Friedrich Händel’s Jugend. Bln. 1785) vereitelte seine Abwesenheit von Berlin eine Beteiligung an der Berliner Messias-Aufführung im Mai 1786, die vielmehr Hiller dirigierte. R. hatte sich nach Paris gewandt, um seine frz. Opern Tamerlan u. Panthée auf die Bühne zu bringen – ohne Erfolg. Der Tod Friedrich II. im Aug. 1786 rief ihn nach Berlin zurück, wo ihn der musikbegeisterte Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., in seinen Hofämtern bestätigte. Zu seinen Verpflichtungen gehörten weiterhin Kompositionen für die ital. Hofoper, die erst 1789 mit Brenno, einem »national« getönten Stoff, eigenes Profil gewannen. Bühnenmusiken wie zu den Hexenszenen aus Macbeth (1787, Übers. Gottfried August Bürger) bereicherten seine instrumentale Ausdrucksskala. Die Zusammenarbeit mit Goethe an dessen SingspielLibretti eröffnete für R. die persönl. Bekanntschaft, beginnend 1789 mit Claudine von Villa Bella (Urauff. 1789) u. ausgedehnt auf Jery und Bätely (1789, Urauff. 1801), Lila (1791), Erwin und Elmire (um 1791, Urauff. 1793). Der Berliner Hofintrigen müde, nahm R. 1791 einen dreijährigen Urlaub, um sich auf das Gut Giebichenstein bei Halle zurückzuziehen. R.s Frankreich-Reise 1792 galt anfangs mehr dem Pariser Musikleben; doch verhehlten seine unter dem Pseud. »J. Frei« publizierten Briefe (Vertraute Briefe über Frankreich. 2 Tle., Bln. 1792/93. Nachdr. Bln. 1980) nicht seine polit. Sympathien. Angesichts zunehmender Bespitzelung in Preußen zog es R. 1793 vor, in die Heimat seiner aus Hamburg stammenden zweiten Frau, Johanna Hensler geb. Alberti, u. später in den politisch großzügigeren, Hamburg benachbarten dän. Gesamtstaat zu ziehen. Seine Verbindungen zu Hamburger Frankreich-Sympathisanten machten ihn, wohl durch eine Denunziation bedingt, am Berliner Hof

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missliebig, sodass Friedrich Wilhelm II. sich gezwungen sah, ihn im Okt. 1794 ohne Pensionsanspruch zu entlassen. Den nun dringend notwendigen journalist. Brotberuf, die Herausgabe der Zeitschrift »Frankreich im Jahr 1795 (-1805)« (ab Bd. 2 hg. v. Peter Poel. Nachdr. Amsterd. 1972) unter Mitarbeit von Carl Friedrich Cramer, verdankte er den Hamburger Freunden. Seine Ernennung zum Salinendirektor in Halle (1796) bedeutete die Wiedergewinnung der kgl.-preuß. Gnade u. den Höhepunkt der Giebichensteiner »Herberge der Romantik«, des musikseligen Treffpunkts für die junge Generation der Jenaer Frühromantik (Eichendorff, Arnim, Brentano, Novalis, Tieck). Politisch blieb R. kritisch u. wagte mit Friedrich Schlegel die Zeitschrift »Deutschland« (1796. Nachdr. in Ausw. Lpz. 1989). Das Verhältnis zu Goethe war angesichts der Frankreich-Sympathien R.s merklich abgekühlt, woran der erste Band von R.s Musik zu Goethes Werken (1793) wenig änderte. Auch ihn bedachten die Weimarer Klassiker mit dem scharfen Spott ihrer »Xenien«; erst 1801 kam es zu einer Wiederannäherung. 1809 sandte R. dem Dichter die Gesamtausgabe seiner Kompositionen auf dessen Texte. Von Giebichenstein aus knüpfte R. erneut Kontakt mit den Berliner Bühnen u. experimentierte mit dem »Liederspiel«, einer Weiterentwicklung von Goethes Jery und Bätely, die jedoch wenig bühnenwirksam war (z.B. Lieb und Treu, 1800), u. der dt. romant. DialogOper: R.s Geisterinsel nach Shakespeares The Tempest (1798) konnte einen beachtl. Erfolg erringen. Seine Liedkompositionen bewegten sich zwischen Experimenten mit größeren, der Durchkomposition nahen Formen, die Goethes Strophenliedideal verließen u. in der Entwicklung der Klavierbegleitung Schubert beeinflussen sollten, u. Sammlungen von Liedern für volkstüml. Geselligkeit. 1802 erneut in Paris, verleitete ihn seine Abneigung gegen Napoleon, Gustav von Schlabrendorfs anonyme Schrift gegen den Usurpator als Napoleon und das französische Volk unter seinem Consulat (in: »Germanien«, 1804) herauszubringen. Nach der preuß. Niederlage von Jena u. Auerstedt persona non grata, ergriff R. die Flucht u. gab Giebichenstein der frz. Plün-

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derung preis. Auch die Übernahme des Theaters am neuen frz. Hof in Kassel bot nur eine kurzzeitige Existenz; die letzte große Reise nach Wien (1808/09) erbrachte zwar eine erneute Publikation, aber auf Dauer keine Minderung seiner finanziellen Probleme, sodass seine letzten Jahre in Giebichenstein einsam wurden. R. ist eine der interessantesten, allerdings auch umstrittensten Gestalten der dt. Musiku. Literaturszene zwischen Spätaufklärung, Klassizismus u. Frühromantik; dabei zählt zum einen das Gewicht seines kompositor. Gesamt-Opus, dessen Stärken im frühromant. Lied u. Singspiel, bes. in seinen Goethe-Vertonungen, liegen, zum andern seine musikästhetische, literar. u. polit. Wachheit gegenüber neuen Strömungen, die ihn zum auch heute noch lesenswerten Schriftsteller macht. Weitere Werke: Über die dt. com. Oper. Hbg. 1774. Nachdr. Mchn. 1974. – Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden (nur Tl. 1). Bln. 1779. Nachdr. Lpz. 1967. – Oden u. Lieder. Tle. 1–4, Bln. 1779–84. – Göthe’s lyr. Gedichte. Bln. 1794. – Vertraute Briefe aus Paris geschrieben in den Jahren 1802 u. 1803. Hbg. 1804. 21805. – Romant. Gesänge. Lpz. 1805. – Berlinische Musikal. Ztg. 2 Tle., Bln./Oranienburg 1805/06. Nachdr. Hildesh. 1969. – Göthe’s Lieder, Oden, Balladen u. Romanzen. 4 Tle., Lpz. 1809–11. Neuausg. Mchn./ Duisburg 1964. – Schillers lyr. Gedichte. 2 Tle., Lpz. 1810. – Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise nach Wien. 2 Tle., Amsterd. 1810. Neuausg. Mchn. 1915. – J. F. R.: Autobiogr. Schr.en. Hg. Günther Hartung. Halle 2002. – Briefe: nachgewiesen mehr als 600 an u. mehr als 100 Briefe v. R. (vgl. Pröpper 1965). Editionen vgl. Ottenberg/Grimm 2005. – Briefw. mit Goethe. Hg. Volker Braunbehrens, Gabriele Busch-Salmen u. Walter Salmen. Stgt./Weimar 2002. Literatur: E. Neuss: D. Giebichensteiner Dichterparadies. Halle/S. 1932. 21949. 32007. – Walter Salmen: J. F. R. Freib. i. Br./Zürich 1963. 2., rev. Ausg. Hildesh./New York 2002. – Günther Hartung: J. F. R. als Schriftsteller u. Publizist. 2 Bde., Diss. Halle/S. 1964 (masch.). – Rolf Pröpper: Die Bühnenwerke J. F. R.s. 2 Bde., Bonn 1965. – HansAlbrecht Koch: Das dt. Singspiel. Stgt. 1974. – Renate Moering: J. F. R.s Liederspiele. In: Das dt. Singsp. im 18. Jh. Heidelb. 1981, S. 191 ff. – Konstanze Musketa (Hg.): J. F. R. (1752–1814). Komponist u. Schriftsteller der Revolutionszeit. Kon-

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499 gressber. Halle 1989. 1992. – Christoph Henzel: Die ital. Hofoper in Bln. um 1800. Stgt./Weimar 1994. – W. Salmen u. Regine Zeller (Hg.): Der Tonkünstler R. u. Goethe. Kat. Goethe-Museum. Düsseld. 2002. – K. Musketa (Hg.): J. F. R. Zwischen Anpassung u. Provokation . Goethes Lieder u. Singspiele in R.s Vertonung. Kongressber. Halle 1999/2002. Halle 2003. – Gabriele Busch-Salmen, R. Moering u. W. Salmen (Hg.): [...] Musik u. Musiker im Umfeld Goethes. Kat. FDH. Ffm. 2003. – W. Salmen (Hg.): J. F. R. u. die Lit. Hildesh. 2003. – Ders.: R. In: NDB. – Hans-Günter Ottenberg u. Hartmut Grimm: J. F. R. In: MGG 2. Aufl., Personenteil, Bd. 13, Sp. 1471–1488. – Jean Schneider: J. F. R. et la France. Paris 2006. – Carl Dahlhaus: J. F. R. u. die preuß. Anfänge der Romantik. In: Ders.: Europ. Romantik in der Musik. Bd. 2: Oper u. symphon. Stil 1800–50, Stgt. 2007, S. 3 ff. – G. Hartung: J. F. R. in den Weltanschauungskämpfen der Jahre 1785 bis 1795. In: Ders.: Ges. Aufsätze u. Vorträge. Bd. 5, Lpz. 2007, S. 115 ff. – G. BuschSalmen u. Benedikt Jeßing (Hg.): Musik u. Tanz in den Bühnenwerken. In: Goethe-Hdb. Suppl.- Bd. 1, Stgt./Weimar 2008. Hans-Albrecht Koch / Gudrun Busch

Reichart, Elisabeth, * 19.11.1953 Steyregg/Oberösterr. – Prosaschriftstellerin. R. wuchs im ländl. Raum von Oberösterreich auf, besuchte in Salzburg eine höhere Schule u. absolvierte dann an den Universitäten Salzburg u. Wien ein Studium der Geschichte u. Germanistik. Aus eigenen Aussagen der Autorin wird klar, dass R.s persönl. Erfahrung der österr. Lebenswelt in Familie, Dorfgemeinschaft, Schule u. Studium zum Impuls für ihr intellektuelles Engagement wurde. Prägend für R. wurde das Heranwachsen in einer vom Kriegserleben schwer gestörten Gesellschaft, die trotz veränderter polit. Struktur an Normen des Gehorsams festhält u. Rebellion mit Ausschlussdrohungen bekämpft. Durch ihre akadem. Arbeit – v. a. durch ihre Dissertation – fand R. zu einem ihrer literar. Hauptthemen, der Unterdrückung von Wissen über Widerstand u. Kollaboration im Nationalsozialismus. R. lebt seit 1982 als freie Autorin in Wien; längere Auslandsaufenthalte brachten sie wiederholt in die USA. Mit dem ersten Werk, dem Roman Februarschatten (Wien 1984), konnte sich R. als

sprachskeptische, feministisch gesinnte u. kritisch engagierte Schriftstellerin etablieren, die der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs u. seinen langfristigen gesellschaftl. Folgen anhand konkreter Ereignisse in der eigenen Heimatgegend nachzuspüren sucht. Diese Spurensuche, die auch die weiteren Werke (Komm über den See. Ffm. 1988; La Valse. Salzb. 1992, E.en; Fotze. Salzb. 1993, E.; Nachtmär. Salzb. 1995, R.) thematisch bestimmt, verknüpft – mit unterschiedl. Schwerpunkten – das Schweigen über Verdrängtes u. Vergessenes mit der Sprache des Widerstands, der Gewalt u. Unterdrückung mit der Realität von Geschlechterverhältnissen, die Dominanz von patriarchal. Diskurs mit der Notwendigkeit weibl. Sprachfindung sowie das Erbe der Geschichte mit Verantwortlichkeit in der Gegenwart. R.s Interesse, das symbolische Gesetz des Vaters kritisch in Frage zu stellen u. die Zerstörung des weibl. Ich aufzuzeigen, spiegelt sich auch in ihrem Text Sakkorausch. Ein Monolog (Salzb. 1994) u. im Roman Das vergessene Lächeln der Amaterasu (Bln. 1998) wider. Im einen Fall will R. an das Schicksal der österr. Philosophin Helene von Druskowitz (1856–1918) erinnern, deren Kreativität u. Brillanz mit Internierung in psychiatr. Krankenhäusern bestraft wurde; im anderen Fall lässt R. ihre Heldin Alwina der Geschichte der Malerin Artemisia Gentileschi (1593–1653) nachgehen und so über die Fragen von weibl. Selbständigkeit reflektieren. Wurde R. in den 1980er u. 1990er Jahren noch mit etl. Stipendien u. Preisen ausgezeichnet, was auch durch Erfolg bei der Kritik in Medien u. Wissenschaft bestätigt wurde, so lässt sich für die letzten Jahre nichts Vergleichbares feststellen. Grund dafür mag das mangelnde bzw. negative Echo auf die neueren Romane Das Haus der sterbenden Männer (Salzb./Wien 2005) u. Die unsichtbare Fotografin (Salzb./Wien 2008) sein. Es stellt sich die Frage, ob R.s Entscheidung, ihre oben beschriebenen Schlüsselthemen aufzugeben u. sich auf neues Terrain zu wagen, ausschlaggebend für den Misserfolg ist. Da beide Romane auch die frühere, eindrucksvolle Ausdruckskraft u. komplexe Erzählkomposition

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missen lassen, scheint die Schaffenskrise von R. tiefgehender zu sein. Literatur: Juliet Wigmore: ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Austria: The Personal and the Political in Erika Mitterer’s ›Alle unsere Spiele‹ and E. R.’s ›Februarschatten‹. In: GLL 44 (1991), H. 5, S. 477–487. – Dies.: ›Auch Schweigen kann Verrat sein‹. Coming to Terms with Women’s History: E. R.’s ›Februarschatten‹ and ›Komm über den See‹. In: From High Priests to Desecrators. Contemporary Austrian Writers. Hg. Ricarda Schmidt u. Moray McGowan. Sheffield 1993, S. 119–134. – MariaRegina Kecht: Resisting Silence: Brigitte Schwaiger and E. R. Attempt to Confront the Past. In: Gender, Patriarchy, and Fascism in the Third Reich. The Response of Women Writers. Hg. Elaine Martin. Detroit 1993, S. 244–273. – Linda C. DeMeritt: The Possibilities and Limitations of Language. E. R.’s ›Fotze‹. In: Out From the Shadows. Essays on Contemporary Austrian Women Writers and Filmmakers. Hg. Margarete Lamb-Faffelberger. Riverside 1996, S. 128–142. – Dies. u. Peter Ensberg: ›Für mich ist die Sprache eigentlich ein Schatz‹: Interview mit E. R. In MAL 29 (1996), H. 1, S. 1–22. – Konstanze Fliedl: Etymology of Violence: E. R.’s Prose. In: Contemporary German Writers, Their Aesthetics and Their Language. Hg. Arthur Williams u. a. Bern u. a. 1996, S. 251–266. – M.-R. Kecht: Erinnerungskultur im Textgewebe v. ›Nachtmär‹. In: SCRIPT 2000, H. 18, S. 50–57. – Dies.: Wo ist Mauthausen? – Weibl. Erinnerungsräume bei E. R. In: MAL 35 (2002), H. 1/2, S. 63–86. – Thomas Kraft: E. R. In: LGL. – Renata Cornejo: Das Dilemma des weibl. Ich. Untersuchungen zur Prosa der 1980er Jahre v. Elfriede Jelinek, Anna Mitgutsch u. E. R. Wien 2006. – Thomas Kraft: E. R. In: KLG. Maria-Regina Kecht

Reichenbach, Konstantin Moritz, * 16.2. 1804 Leipzig, † 4.2.1870 Altona. – Erzähler, Redakteur u. Schauspieler. Nach dem Abitur in Leipzig studierte R. in Dresden u. Leipzig Medizin. Er brach sein Studium ab, wurde Schauspieler u. begann nebenher zu schreiben. 1842 lebte er in Hamburg; im folgenden Jahr siedelte er auf die Ostseeinsel Alsen um, die im Zentrum des dt.-dän. Konflikts stand. R. widmete sich nun ganz der Schriftstellerei; er übernahm in Sonderburg die Redaktion eines Provinzblattes u. engagierte sich als polit. Autor u. Lyriker im Freiheitskampf Schleswig-Holsteins. Als die dän. Regierung der Zeitung die

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Konzession entzog, kehrte R. 1847 nach Hamburg zurück. Dort veröffentlichte er 1848 die Flugschrift Hilf dir selbst, mein Vaterland! und Schleswig-Holsteins Freiheits-Kampf. Im gleichen Jahr wurde er erster Redakteur der Hamburger Tageszeitung »Reform«. 1852 musste er Hamburg verlassen, da ihm der Senat das weitere Wohnrecht absprach. R. ließ sich in Altona nieder u. verfasste weiter literar. Beiträge für die »Reform«. Als der mit ihm befreundete Verleger u. Buchhändler J. F. Richter im Herbst 1868 den »Altonaer Merkur« kaufte, stellte er R. als Redakteur ein. Diese Tätigkeit übte R. bis zu seinem Tod aus. Weitere Werke: Freischützfunken. 3 Bde., Lpz. 1829/30 (E.en).  Die drei Gräber auf der Heide oder der schwed. Bauernkrieg. Ein Revolutionsgemälde aus dem 16. Jh. Lpz. 1832.  Der Bund mit dem Bösen oder der Fluch des Meineids. Lpz. 1833 (N.).  Der Dal-Junker. Ein schwed. Revolutionsgemälde aus dem 16. Jh. 3 Bde., Lpz. 1834.  Die Blume v. Granada. Ein histor.-romant. Gemälde aus dem 15. Jh. 2 Bde., Lpz. 1835.  Teufelsstreiche. Sagen aus dem Harzgebirge. Lpz. 1840.  Ein Jahr im Orient. 1841 (N.n).  Mephisto’s Verwandlungen. Märchen aus unserer Zeit. Lpz. 1841.  Konrad v. Marburg, der erste dt. Ketzerrichter. Histor.-romant. Gemälde aus dem 13. Jh. 3 Bde., Lpz. 1841.  Wehmutter u. Todtengräber. Lpz. 1843 (N.n).  Julitage en miniature. Humorist.-satyr. Bilder in Novellenform. Lpz. 1845.  Die Erscheinung am Grabe nebst zwei andern Novellen. Lpz. 1846.  Aus dem Orient. Lpz. 1846.  Schleswig-Holstein. Kampflieder. St. Pauli 1848.  Die Mazzinisten. Romant.-polit. Gemälde aus der Gegenwart. Hbg. 1859.  Garibaldi, der ital. Freiheitsheld. Romant.-polit. Gemälde. Hbg. 1861.  Die Hamburger in Amerika. Hbg. 1863.  Ein Roman aus den Zeiten der Schleswig-Holstein. Kriege. Hbg. 1865. Literatur: H. Pfeist: Poet. Album der Reform. Hbg. 1864, S. 301. – Eduard Alberti: Lexikon der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen u. Eutin. Schriftsteller. Bd. 2, Kiel 1868, S. 245. – Franz Brümmer: M. R. In: ADB. – Alexa Geisthövel: Eigentümlichkeit u. Macht. Dt. Nationalismus 1830–51; der Fall Schleswig-Holstein. Stgt. 2003, S. 186 f. Katharina Grätz

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Reichwald, Fred, * 15.3.1921 Berlin, † 17.1.1963 Berlin/DDR. – Dramatiker, Fernsehspielautor. R. entstammte einer wohlhabenden jüd. Familie; seine Eltern kamen im Konzentrationslager ums Leben. 1933 emigrierte er nach England, 1939 nach Australien u. Indien, seit 1941 nahm er in Europa am antifaschist. Widerstandskampf teil. Nach seiner Rückkehr in die SBZ 1947 leistete R. kulturpolit. Arbeit auf dem Land, bis er nach einem Studium am Johannes-R.-Becher-Literaturinstitut (1955/56) freier Schriftsteller wurde. R. ist einer der Pioniere des DDR-Fernsehspiels; alle seine später als Bühnenstücke bekannt gewordenen Texte entstanden aus Drehbüchern. Sie thematisieren die Kollektivierung der Landwirtschaft der DDR in ihren Auswirkungen auf Psyche u. Bewusstsein der dörfl. Bevölkerung – v. a. von Frauen. Der Glaube an die persönlichkeitsfördernde Qualität des sozialist. Systems ist bei dem Kommunisten R. in den 1950er Jahren ungebrochen; diese Haltung dominiert die formal traditionellen Stücke Das Haberfeldtreiben (Urauff. Eisleben 1957), Das Wagnis der Maria Diehl (Urauff. Anklam 1959) u. Der Hektarjäger (Urauff. Anklam 1959. Beide Stücke in einem Bd., Bln./DDR 1959), die R. selbst als themat. Zyklus interpretiert hat. Die eheliche u. berufl. Krise eines Schuldirektors wird in dem Stück Erzieher im Examen (Bln./DDR 1960) psychologisch gestaltet. Weitere Werke: Dachziegel oder Bomben. Halle 1951 (Laiensp.). – Verdacht auf Dieter. Lpz. 1957. Literatur: Jochen Hoffmann: Das Frauenbild im frühen DDR-Drama u. in der proletarisch-revolutionären Lit.: F. R.s ›Das Wagnis der Maria Diehl‹. In: Studies in GDR Culture and Society. Hg. Margy Gerber u. a. Washington 1981, S. 195–204. Gottfried Fischborn / Red.

Reicke, Georg, * 26.11.1863 Königsberg, † 7.4.1923 Berlin. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. Nach Jurastudium in Königsberg u. Leipzig war der Sohn des Kant-Forschers Rudolf Reicke ab 1892 beim Berliner Evangelischen Oberkirchenrat, ab 1897 als Konsistorialrat u.

Reicke

Justitiar beim Konsistorium von Berlin tätig; 1901 wurde er Regierungsrat im Reichsversicherungsamt, 1903–1919 bekleidete er das Amt des Zweiten Bürgermeisters. Die literar. Tätigkeit R.s, der dem Kreis um Fontane nahestand, reiht sich in die Tradition des »poetischen Realismus«. Den Schwerpunkt bildet das epische Werk: Resignation oder bewusste Verinnerlichung prägen das aus Schopenhauers Blickwinkel wahrgenommene »durchweg zweideutige Leben«. Detail- u. Naturbeobachtungen spiegeln die psycholog. Entwicklung der Romanfiguren wider. Die Liebes- u. Eheproblematik im gesellschaftl. Kontext, der Moral- u. Ehrbegriff, die soziale Frage u. die Darstellung spezif. Frauenbilder sind Kernpunkte von Das grüne Huhn (Bln. 1902) u. Der eigene Ton (Bln. 1907). Autobiografische Züge trägt der 1903 in Berlin erschienene Roman Im Spinnenwinkel, der den Zwiespalt zwischen bürgerl. Beruf u. künstlerischer Berufung behandelt u. die gesellschaftl. Funktion von Kunst u. Künstler reflektiert. Weitere Werke: Der Sterngucker. Bln. 1900 (D.). – Winterfrühling. Bln. 1901 (L.). – Märtyrer. Bln. 1903 (D.). – Schusselchen. Bln. 1905 (Tragikom.). – Sie. Bln. 1920 (Lustsp.). – Ein Bürger zwischen Welt u. Stadt. Aufsätze, Reden, Briefe, Gedichte. Hg. Heinrich Spiero. Bln. 1923. – Päpstin Jutte. Ein Mysterienspiel. Lpz. 1924. Literatur: Brümmer. – Heinrich Spiero: G. R. In: Dt. Biogr. Jb. Bd. 5, Bln./Lpz. 1930. – Wolfgang v. Ungern-Sternberg: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. Stgt. 1996. Gabriela Walde / Red.

Reicke, Ilse, verh. von Hülsen, * 4.7.1893 Berlin, † 14.1.1989 Fürth. – Journalistin, Essayistin. R., die spätere Ehefrau Hans von Hülsens, besuchte das Realgymnasium u. studierte anschließend Philosophie, Geschichte u. Germanistik in Berlin, Heidelberg u. Greifswald. Nach ihrer Promotion war sie Dozentin an der Lessing-Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Kriegsberichterstatterin. 1919–1921 leitete sie die erste täglich erscheinende »Neue-Frauen-Zeitung«.

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Dominierendes Thema aller journalistischen u. schriftstellerischen Werke R.s ist die Frauenbewegung, mit der sie sich in Essays, Romanen u. vor allem in zahlreichen Biografien auseinandersetzte. Allerdings verraten ihre während der Zeit des Dritten Reichs in der Zeitschrift »Die Frau« veröffentlichten Aufsätze – meist über Frauenberufe – nicht immer Distanz zur NS-Ideologie. Zuletzt erschien ihr Erinnerungsbuch Die großen Frauen der Weimarer Republik (Freib. i. Br. 1984). Weitere Werke: Der Weg nach Lohde. Bln. 1920. Neuaufl. u. d. T. Leichtsinn, Lüge, Leidenschaft. Dissen 1930 (R.). – Frauenbewegung u. -erziehung. Mchn. 1921 (Ess.). – Berühmte Frauen der Weltgesch. Sechs Betrachtungen. Bln. 1931 (Ess.s). – Das tätige Herz. Ein Lebensbild Hedwig Heyls. Lpz. 1938 (Biogr.). – Bertha v. Suttner. Ein Lebensbild. Bonn 1952 (Biogr.). Bettina Mähler / Red.

Reifenberg, Benno, * 16.7.1892 Oberkassel bei Bonn, † 9.2.1970 Kronberg/Ts. – Journalist. Nach dem Studium der Kunstgeschichte u. einem Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg wurde R. 1919 Mitarbeiter u. Redakteur der liberalen »Frankfurter Zeitung«, zuerst im Feuilleton, dessen Leiter er sechs Jahre war, später als Korrespondent in Paris u. von 1932 bis zum Verbot der Zeitung 1943 im polit. Ressort. 1945 gründete er mit früheren Kollegen die politisch-kulturelle Zeitschrift »Die Gegenwart«. 1959–1966 war R. Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Schon früh zeichnete R.s Essays ein bildhaft-impressionist. Stil aus, den er von den frühen Kunst- u. Landschaftsbetrachtungen später auch auf die polit. Artikel übertrug. Ein intuitives Gespür für das Individuelle prägte seine Kritiken, Leitartikel u. Reportagen. Einen Höhepunkt erreichte diese kontemplative Form mit den Feuilletons In Kriegszeiten, die die martial. Durchhalteparolen des Zweiten Weltkriegs mit stillen persönl. Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg relativierten. Auch nach dem Krieg schafften es viele seiner Tagesarbeiten, die Zeitstimmung in poetische, oft melanchol. Bilder zu

fassen, 1946 etwa in das von Deutschlands Verstummen nach der erzwungenen Lautstärke der vergangenen Jahre. R.s Bedeutung für das intellektuelle Leben v. a. der 1920er u. der 1950er Jahre ging über die eigenen Veröffentlichungen hinaus. Als Leiter des Feuilletons der »Frankfurter Zeitung« wie Mitherausgeber der »Gegenwart« wirkte er als Anreger u. Katalysator, nicht zuletzt durch seine zahlreichen Freundschaften zu so unterschiedl. Charakteren wie Joseph Roth, Friedrich Sieburg, Theodor Heuss, Wilhelm Hausenstein oder Max Picard. In den 1930er Jahren war R. die vielleicht wichtigste Integrationsfigur der »Frankfurter Zeitung«. Nach dem Krieg gehörte er zu jenen Intellektuellen, die den neuen dt. Staat v. a. auf festere moral. Fundamente stellen wollten. Bis zu seinem Tod setzte er sich für einen historisch überlegten Wiederaufbau seiner Heimatstadt Frankfurt/ M. ein, deren Goethe-Preis er 1964 erhielt. Weitere Werke: Karl Hofer. Lpz. 1924. – Max Beckmann (zus. mit Wilhelm Hausenstein). Mchn. 1949. – Das Abendland gemalt. Schr.en zur Kunst. Ffm. 1950. – Lichte Schatten. Ffm. 1953. – In den Tag gesprochen. Ffm. 1962. – Francofordia (zus. mit Anselm Jaenicke). Ffm. 1963. – Johann Christian Senckenberg in seiner Zeit. Ffm. 1964. – Landschaften u. Gesichter. Wien 1973. – Das Einzigartige v. Frankfurt. Ffm. 1979. – Herausgeber: Die großen Deutschen (zus. mit Hermann Heimpel u. Theodor Heuss). 4 Bde., Bln. 1956. – Federlese (zus. mit Wolfgang Weyrauch). Mchn. 1967. Ausgabe: Offenbares Geheimnis. Ausgew. Schr.en. Ffm. 1992. Literatur: Margret Boveri: B. R. In: Merkur (1962), S. 793 ff. – B. R. 1892–1970. Worte des Gedenkens. Ffm. 1970. – Helga Hummerich: Wahrheit zwischen den Zeilen. Erinnerungen an B. R. u. die Frankfurter Ztg. Freib. i. Br. 1984. – Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die ›Frankfurter Zeitung‹ im Dritten Reich. Bln. 1986. – J. Hughes: Joseph Roth and B. R. Aspects of the Author-Editor Relationship. In: MLR 101 (2006), H. 4, S. 1044–1054. – Dagmar Bussiek: ›Nur in Deutschland selbst ließ sich das dt. Geschehen – wenn überhaupt – begreifen‹. B. R. u. die Frankfurter Ztg. im NS. In: Der Intellektuelle u. der Mandarin. Hg. François Beilecke u. a. Kassel 2005, S. 359–378. Mark Siemons / Red.

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Reimann, Brigitte, * 27.7.1933 Burg bei Magdeburg, † 20.2.1973 Berlin/DDR. – Erzählerin, Hörspielautorin. R., Tochter eines Journalisten, arbeitete nach dem Abitur in verschiedenen Berufen. Dem Bitterfelder Programm leistete sie 1960 mit dem Umzug in die Industriestadt Hoyerswerda Folge. Seit 1966 lebte sie als freie Schriftstellerin in Neu-Brandenburg. 1965 erhielt R. den Heinrich-Mann-Preis. Noch nicht ganz 40-jährig, starb sie 1973 an Krebs. Die frühen Arbeiten R.s, die zur ersten Generation junger DDR-Autoren gehört, sind typische Beispiele sozialistischer »Ankunftsliteratur« der DDR in den 1950er u. 1960er Jahren – von ihrem ersten Text, Die Frau am Pranger (Bln./DDR 1956. Bln. 51995. Verfilmung 1962), der sozialist. Geschichte im Kleinformat als Liebesgeschichte zwischen einer Deutschen u. einem Russen erzählt, bis zu Ankunft im Alltag (Bln./DDR 1961. Zuletzt Bln. 2008), einer autobiografisch grundierten Geschichte proletar. Bildungsglücks. R. hatte es mit ihren Bilderbuchtexten leicht, in der DDR Anerkennung zu finden; andererseits war die Kritik nicht blind für die Grenzen dieses auf der »Suche nach einer Zola-Sprache« unsicher tastenden, schlichten Schreibens. Eine differenziertere Gesellschaftsanalyse u. ein selbständigeres literar. Arbeiten kündigt sich mit der Erzählung Die Geschwister (Bln./DDR 1963. Bln. 1998. 72008) an, die das Thema Republikflucht in Form einer das reflexive Moment sichernden Rahmengeschichte abhandelt. Der postum erschienene Roman Franziska Linkerhand (Bln./DDR u. Mchn. 1974. Neuausg. Bln. 1998. 82005. Ffm. 1999. Dramatisierte Fassung von Bärbel Jaksch u. Heiner Maaß. Urauff. Schwerin 1978. Bundesdt. Erstauff. Saarbr. 1981. Verfilmung u. d. T. Unser kurzes Leben. Regie: Lothar Warnecke. 1981) machte sie auch in der Bundesrepublik bekannt. Mit der Geschichte der jungen Architektin, die den Absturz aus der sozialist. Theorie des Bauens in die von ökonom. Zwängen diktierte sozialist. Praxis des Bauens erlebt u. reflektiert, gelingt R. eine keineswegs bravouröse, aber genaue Darstellung der gesellschaftl. Widersprüche des rea-

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len Sozialismus, ein Staatsroman, Fragment geblieben wie das histor. Gebilde, auf das er sich bezieht. Zu R. in ihrem Werk gibt es auch u. gerade seit den 1990er Jahren eine rege literaturwiss. Forschungstätigkeit. Weitere Werke: Kinder v. Hellas. Bln./DDR 1960. 1989 (E.). – Das Geständnis. Bln./DDR 1960 (E.). – Ein Mann steht vor der Tür. Bln./DDR 1960 (Hörsp., zus. mit Siegfried Pitschmann). – Sieben Scheffel Salz. Bln./DDR 1960 (Hörsp., zus. mit dems.). – Das grüne Licht der Steppen. Tgb. einer Sibirienreise. Bln./DDR 1965. Bln. 2000. 22004. Ausgaben: B. R. in ihren Briefen u. Tagebüchern. Hg. Elisabeth Elten-Krause u. Walter Lewerenz. Bln./DDR 1983. Neudr. u. d. T. Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher u. Briefe. Darmst./Neuwied 1984. – Sei gegrüßt u. lebe. B. R. – Christa Wolf. Eine Freundschaft in Briefen 1964–73. Hg. Angela Drescher. Bln./Weimar 1993. 2 1999. – Mit Respekt u. Vergnügen Briefw. B. R. – Hermann Henselmann. Hg. Ingrid Kirschey-Feix. Bln. 1994. 2001. – Aber wir schaffen es, verlass Dich drauf! Briefe an eine Freundin im Westen. Hg. Ingrid Krüger. Bln. 1995. 1999. – Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–63. Bln. 1997. 2000. – Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964–70. Hg. A. Drescher Bln. 1998. 2001. – Grüß Amsterdam. Briefw. B. R. – Irmgard Weinhofen 1956–73. Hg. Angela Drescher u. Dorit Weiske. Bln. 2003. – Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete R.e. Bln. 2003. – Jede Sorte v. Glück. Briefe an die Eltern. Hg. Heide Hampel u. A. Drescher. Bln. 2008. Literatur: Manfred Jäger: Bemerkungen zu B. R.s ›Franziska Linkerhand‹. In: DDR-Roman u. Literaturgesellsch. Hg. Jos Hoogeveen u. Gerd Labroisse. Amsterd. 1981, S. 407–418. – Theo Mechtenberg: Schriftstellerisches Selbstverständnis u. ›weibl. Ästhetik‹. Die Tagebücher u. Briefe der B. R. In: Dt. Studien 24 (1986), S. 378–382. – Manfred Behn-Liebherz: R. In: KLG. – Helen Louise Jones: ›Immer schwebend zwischen Erinnerung, Erlebnis u. Gespräch‹. Continuity in the Work of B. R. Swansea 1993. – Barbara Krause: Gefesselte Rebellin B. R. Bln. 1994. Freib. i. Br. u. a. 1996 (biogr. R.). – Karin MacPherson: ›Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen?‹ B. R. – Christa Wolf. In: ZfG 7, H. 3 (1997), S. 543–559. – Helen Louise Jones: Narrative Structure and the Search for the Self in B. R.’s ›Franziska Linkerhand‹. In: GLL 51 (1998), H. 3, S. 383–397. – Heide Hampel: Wer schrieb Franziska Linkerhand? B. R. 1933–73. Fragen zu Person u. Werk. Neubrandenburg 1998.

Reimann – Margrid Bircken u. H. Hampel (Hg.): Als habe ich zwei Leben. Beiträge zu einer wiss. Konferenz über Leben u. Werk der Schriftstellerin B. R. Neubrandenburg 1998. – Withold Bonner: Ankunft im Inzest. Geschwisterliebe in den Texten v. B. R. In: ABNG 46 (1999), S. 135–151. – Margret Gottlieb: B. R. Mchn. 1999. – J. Brethome: Un roman de rda encore trop méconnu: Franziska Linkerhand de B. R. In: Allemagne d’aujourd’hui 153 (2000), S. 139–155. – Dorothea v. Törne: B. R. – einfach wirklich leben. Eine Biogr. Bln. 2001. – Monika Schneikart: Selbstentwurf u. Geschlecht in B. R.s Tagebuchtexten. In: Selbstentwurf u. Geschlecht. Hg. Ulrike Jekutsch. Würzb. 2001, S. 139–157. – Ilse Nagelschmidt: An Leib u. Seele krank sein – die Autorin B. R. In: Körper/Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst u. Wiss. Hg. Pascal Nicklas u. Angelika Corbineau-Hoffmann. Hildesh. 2002, S. 257–271. – Heidi Swanson: Written Friendship. Hannah Arendt, B. R., Christa Wolf. Diss. Princeton 2002. – Withold Bonner: ›Das Signal steht auf Fahrt‹. Narrative Struktur u. Eisenbahnen in frühen Texten v. Irmtraud Morgner, B. R. u. Christa Wolf. In: Text u. Welt. Hg. Christoph Parry. Vaasa 2002, S. 193–208. – Elizabeth Mittman: ›Ich habe kein Ortsgedächtnis ...‹. Ort u. Identität bei B. R. In: Reisen Hals über Kopf. Hg. M. Bircken u. H. Hampel. Neubrandenburg 2002, S. 89–110. – Barbara Wiesener: Von der bleichen Prinzessin, die ein purpurrotes Pferd über den Himmel entführte. Das Utopische im Werk B. R.s. Diss. Potsdam 2003. – K. MacPherson: Leben u. Schreiben aus Leidenschaft. B. R.s Tagebücher der 50er u. frühen 60er Jahre. In: Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Hg. Anne Fuchs u. a. Würzb. 2003, S. 189–200. – J. Brethome: Relire B. R. In: Allemagne d’aujourd’hui 163 (2003), S. 131–143. – M. Bircken u. H. Hampel (Hg.): B. R. Eine Biogr. in Bildern. Bln. 2004. – Helene u. Martin Schmidt: B. R. (1933–73). Begegnungen u. Erinnerungen. Hagen 2005. – Christa Wolf: ›Der ganze menschl. Entwurf‹. Inge Müller, Maxie Wander, B. R. u. Irmtraud Morgner. In: Dies.: Der Worte Adernetz. Ffm. 2006, S. 129–141. – Rainer Godel: Phasenweise Zuwendung. Stadtideale in B. R.s R. Franziska Linkerhand. Monatsh.e 99 (2007), H. 4, S. 485–500. – Hunter Bivens: Neustadt. Affect and Architecture in B. R.’s East German Novel ›Franziska Linkerhand‹. In: GR 83 (2008), H. 2, S. 139–166. – Katja Semmler: Die Straße als literar. Topos. Beobachtungen zu Texten v. B. R. u. Sibylle Berg. Schkeuditz 2008. Sibylle Cramer / Red.

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Reimann, Hans, auch: Max Bunge, Hans Heinrich, Hanns Heinz Vampir, Artur Sünder, Andreas Zeltner, * 18.11.1889 Leipzig, † 13.6.1969 Schmalenbeck bei Hamburg. – Humoristischer Erzähler, Parodist, Drehbuchautor. R., Sohn eines Kohlenhändlers, absolvierte nach der Schulzeit in Leipzig eine Grafikerausbildung, besuchte die Kunstakademie in München u. studierte anschließend dt. Philologie u. Kunstgeschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte R. nach Leipzig zurück, gab die satir. Zeitschriften »Der Drache« u. »Das Stachelschwein« heraus u. war als Mitarbeiter für den »Simplicissimus« u. »Die Weltbühne« tätig. R. gründete die Kabaretts »Retorte« (Leipzig) u. »Astoria« (Frankfurt/M.). Seit 1925 lebte er in Berlin. Während des NS-Regimes arbeitete er kurzzeitig für die Zeitschriften »Kladderadatsch« u. die in einem NS-Verlag erscheinende »Brennessel«, konnte aber Filmdrehbücher nur anonym veröffentlichen. 1939 siedelte R. nach Bernried/ Obb. über u. war während des Kriegs als Frontunterhalter dienstverpflichtet. Seit 1951 lebte er in Schmalenbeck, wo er die literaturkrit. Reihe Literazzia (1–14, Heidenheim 1952 bis 1969) herausgab. Nach Beginn mit Grotesken u. Gymnasialsatiren wurde R. v. a. durch seine Sächsischen Miniaturen (5 Bde., Lpz. 1921 ff. 2005/06), in denen er den Charakter der Sachsen u. ihre Geschichte in Mundart darstellt, u. durch Parodien über Erfolgsautoren wie CourthsMahler, Wallace, den Antisemiten Artur Dinter u. den späteren NS-Autor Hanns Heinz Ewers bekannt. R. behauptete zus. mit Heinrich Spoerl den erfolgreichen Schulroman Die Feuerzangenbowle (Düsseld. 1933) verfasst zu haben. R.s umfangreiches Werk, das auch Stadt- u. Reisebeschreibungen umfasst, stellt v. a. Szenen des Alltags u. Randphänomene des Kulturlebens aus der Perspektive des Humoristen dar, als der er sich zeitlebens verstand (Mein blaues Wunder. Mchn. 1959; Autobiogr.). Weitere Werke: Das verbotene Buch. Mchn. 1917 (Grotesken). – Das Paukerbuch. Mchn. 1918 (Satiren). – Ewers. Roman v. Hanns Heinz Vampir. Ein garantiert verwahrloster Schundroman [...]. Hann. 1921. – Die Dinte wider das Blut. Ein Zeit-

505 roman v. Artur Sünder. Hann./Lpz. 1921 [Parodie auf Artur Dinters antisemit. Schr. ›Die Sünde wider das Blut‹, 1918]. – Hedwig Courths-Mahler, Schlichte Gesch.n fürs traute Heim. Hann./Bln. 1922. Lpz. 1990. – Mein Kabarettbuch. Hann./Bln. 1923. – Das Buch v. Lpz. Mchn. 1929. Lpz. 1995. – Das Parodienbuch. Dresden 1930 (Slg.). – Das Buch v. Frankfurt. Mainz/Wiesb. 1930. Lpz. 1995. – Vergnügl. Hdb. der dt. Sprache. Bln. 1931. Erw. Aufl. Düsseld./Wien 1964. – Motorbummel durch den Orient. Bln. 1935 (Reisebuch). – R. rast nach Babylon. Heidenheim 1956. Ausgabe: Ges. Werke in Einzelbdn. 5 Bde., Lpz. 2007/08. Literatur: Rudi Schweikert: Wenn zwei Gleiches erzählen, ist es noch lange nicht dasselbe. Witz u. Anekdote bei H. R. u. Arno Schmidt, insbes. in dessen Juvenilium ›Die Fremden‹ (1942). In: Bargfelder Bote 148 (1990), S. 3–9. – Dieter Lemhofer: H. R. – postumer Fund eines Erstlings. In: Marginalien 152 (1998), S. 69–78. – Wolfgang U. Schütte: Erich Weinert u. H. R. Zwei ungleiche Freunde. In: ›Halb erotisch – halb politisch‹. Kabarett u. Freundschaft bei Kurt Tucholsky. Hg. Stefanie Oswalt u. a. Oldenb. 2000, S. 117–132. – Maurice Gode: L’adaptation de Chveik pour la scène allemande par Max Brod et H. R. (1927). In: Cahiers de l’ILCEA 8 (2006), S. 109–123. – Margarete Zimmermann: H. R. u. der Streit um die Garçonne. In: Garçonnes à la mode im Bln. u. Paris der zwanziger Jahre. Hg. Stephanie Bung u. dies. Gött. 2006, S. 216–223. Christian Schwarz / Red.

Reimarus, Hermann Samuel, * 22.12. 1694 (a. St.) Hamburg, † 1.3.1768 Hamburg. – Philologe, Philosoph, Religionskritiker. R. ist der wohl bedeutendste Bibelkritiker des 18. Jh. Wie sonst niemand in der dt. Aufklärung verkörpert er deren unterschwellige antireligiöse Radikalität in ihrem heiml. Zusammenhang mit einer säkularen Metaphysik, die die Theologie unbemerkt ersetzte. Als Sohn des Lehrers Nikolaus Reimarus besuchte R. zunächst die Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg, wo sein Vater unterrichtete, danach das Akademische Gymnasium. Seine berühmtesten Lehrer waren Johann Albert Fabricius, einer der führenden Gräzisten, u. Johann Christoph Wolf, Hebraist von Weltrang. Mit ungewöhnlichen philolog. Kenntnissen ausgestattet, ging er 1714

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an die Universität Jena. Der Unterricht bei dem Polyhistor u. Theologen Johann Franz Buddeus, den er in Jena hörte, scheint ihn philosophisch u. theologisch zwar nur anfangs beeindruckt zu haben, aber dieser Eindruck war nachhaltig u. legte den jungen R. auf die Zweckmäßigkeitsorientierung der Philosophie u. den Wert der Gelehrsamkeit fest. Im Herbst 1716 wechselte er nach Wittenberg u. promovierte am 17. Okt. mit einer Arbeit über hebr. Lexikologie zum Magister, zwei Jahre später habilitierte er sich mit der Dissertation De Machiavellismo ante Machiavellum (Wittenb., Nov. 1719). Seine Peregrinatio academica begann 1720; R. besuchte Leiden, Oxford u. London zu philolog. Studien u. begegnete Jean Le Clerc, dessen krit. Philologie er bewunderte. Ostern 1722 ging er an die Universität Wittenberg zurück. Im Herbst bewarb er sich mit Erfolg um das Rektorat der Großen Stadtschule in Wismar. In diesem – ungeliebten – Amt blieb er vier Jahre, bis er im Nov. 1727 auf die freigewordene Professur für oriental. Sprachen seines Lehrers Wolf ans Akademische Gymnasium in Hamburg berufen wurde. In diesem Amt ist er sein Leben lang geblieben; 1728 trat er es an, nachdem er am 11.11.1727 die Tochter seines Lehrers Fabricius, Johanna Friderica, geheiratet hatte. Damit war er im Hamburger akadem. Betrieb auch familiär fest verankert. Die Verbindung zur vermögenden Hamburger Gesellschaft festigte sich durch die Freundschaft mit dem Hamburger Ratsherrn u. Dichter Brockes. R.’ Haus war seit den 1740er Jahren ein Treffpunkt der Hamburger aufgeklärten Bürger; auch wurde hier die einflussreiche zweite Hamburgische Patriotische Gesellschaft mitbegründet. Für den Philologen, dessen Ruhm sich langsam über Hamburg hinaus erweiterte, blieben akadem. Ehrungen nicht aus; 1740 wurde R. Mitgl. der Lateinischen Gesellschaft in Jena, 1761 erreichte ihn ein später Ruf auf die Professur für klass. Philologie in Göttingen (die dann Christian Gottlob Heyne bekam), 1761 wurde er Mitgl. der Petersburger Akademie der Wissenschaften. R.’ akadem. Ruhm beruhte zunächst auf seiner philolog. Kompetenz: Neben seinen Wittenberger Dissertationen hatte er Texte

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der Renaissancephilosophen Pletho, Bessarion u. Camariotes ediert (Plethonis libellus de Fato eiusdemque et Bessarionis amoebae de eodem argumento, una cum Matthaei Camariotae orationibus II in Plethonem de Fato. Leiden 1722), die Neue Übersetzung des Buches Hiob (Hbg. 1734) des philosoph. Erbauungsschriftstellers Johann Adolf Hoffmann mit z.T. implizit kritischen philolog. Kommentaren u. einer neuen Teilübersetzung herausgegeben, die Bio-Bibliografie seines Schwiegervaters (De Vita et scriptis Joannis Alberti Fabricii Commentarius. Hbg. 1737) verfasst, u. die von seinem Schwiegervater begonnene große Edition der röm. Geschichte des Cassius Dio Cocceianus fertiggestellt (TWN DIWNIS TOY KASSIOY TOY KOKKHIANOY RWMAIWN ISTO RIWN TA SWZOMENA. 2 Bde., Hbg. 1750 u. 1752). Neben diesen philolog. Arbeiten entwickelte sich immer stärker ein Interesse am eklektisch-gelehrten Umgang mit philosoph. Literatur, dem R. zunächst in seiner Machiavellismus-Dissertation folgte; später beschäftigten ihn u. a. Leibniz u. Wolff. Ab den 1730er Jahren, vermutlich im Anschluss an den Streit um die rationalist. Bibelübersetzung des Wolffianers Johann Lorenz Schmidt (Wertheimer Bibel, 1735), plante R., die Offenbarung u. Philosophie in einem einzigen umfassenden Werk kritisch u. affirmativ einander gegenüberzustellen. Er hatte vor, die natürl. Theologie als Maßstab der Kritik einer positiven Offenbarung philosophisch zu entwickeln als den suffizienten Grund der natürl. Religion u. zgl. die bibl. Offenbarung als unglaubwürdig u. obsolet zu erweisen. Dieses Unternehmen ließ sich nicht durchhalten. Aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann, veröffentlichte R. nur die positiven, die apologet. Teile seiner Philosophie: 1754 zuerst die Abhandlungen über Die vornehmsten Wahrheiten der Natürlichen Religion (Hbg. Neudr. hg. v. Günter Gawlick. Gött. 1985), 1756 die Vernunftlehre (Hbg. Neudr. hg. v. Frieder Lötzsch. Mchn. 1979), 1760 als ein bes. Exempel der Kunstfertigkeit der Natur Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntnis des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst (Hbg. Neudr. hg. v.

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Jürgen v. Kempski. Gött. 1982). Mit diesen Werken wurde R. für viele Zeitgenossen einer der wichtigsten Vertreter einer aufgeklärten apologet. Popularphilosophie. Dass dieser positive Bereich seiner Philosophie die Folie einer radikalen Religionskritik war, konnte den Zeitgenossen nicht deutlich werden; denn die offenbarungskrit. Rückseite seiner Philosophie entwickelte R. heimlich (die spätere Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes). Mit dem Nachweis der Unvernünftigkeit der bibl. Offenbarung einher geht hier eine Kritik der durch sie gestifteten jüd. u. christl. Religion mit den meisten ihrer Dogmen u. Zeremonien. In der Apologie greifen ineinander eine an Machiavelli u. John Toland geschulte soziologisch-psycholog. Religionskritik, eine gelehrte u. an den Maßstäben profaner Philologie orientierte Bibelkritik u. eine den Sozinianismus u. Johann Konrad Dippel religionskritisch radikalisierende Dogmenkritik, die sich primär auf die Lehren von der Versöhnung, Trinität u. Sünde richtet, die assoziierten Lehren von der Gnadenwahl, den Sakramenten, der christolog. Zwei-NaturenLehre u. Eschatologie aber mit einschließt; Schöpfungs- u. Vorsehungslehre werden im Interesse der gegen den frz. Materialismus u. Atheismus gerichteten physikotheolog. Apologetik der Vornehmsten Wahrheiten nicht kritisiert. Zur systemat. Mitte seiner Kritik erhebt R. die Forderung, dass der Glaube an eine positive Offenbarung der Vernunft (insbes. den Prinzipien der Übereinstimmung u. des Widerspruchs) sowie den Gesetzen einer vernünftig geschaffenen Natur entsprechen müsse. Der Wunderglaube, auf den die Orthodoxie in der Begründung ihrer Dogmen rekurriert, verfällt damit der Kritik, denn die bibl. Wunder erweist R. teils als religionsbetrügerische Inszenierungen, teils als selbstwidersprüchl. Erfindungen der bibl. Geschichtsschreiber (paradigmatisch ist R.’ Destruktion des Durchgangs durch das Rote Meer, wo berechnet wird, dass die Israeliten viele Tage hätten brauchen müssen, um das Meer zu durchqueren). Für das NT zeichnet R. die Geschichte des Lebens Jesu vor dem Hintergrund eschatologischer Hoffnungen des Judentums nach u. interpretiert es poli-

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Reimarus

tisch: der jüd. Messiasprätendent Jesus habe Philological Foundations of H. S. R.’s (1694–1768) zunächst nichts als die natürl. Religion u. Radical Enlightenment (im Druck). Wilhelm Schmidt-Biggemann / Dietrich Klein Moral gelehrt, wie sie sich in der Bergpredigt findet, dann aber nach dem Königtum Judae gestrebt u. sei mit seiner polit. Mission geReimarus, Johann Albert Heinrich, scheitert. Nach der Kreuzigung hätten die * 11.11.1729 Hamburg, † 6.6.1814 Rantenttäuschten Jünger den Leichnam Jesu ge- zau/Holstein. – Arzt; Nebenstundenstohlen u. ihrer Klientel vorgelogen, der Herr schriftsteller in Naturwissenschaften, sei auferstanden. Theologie, Philosophie, Ökonomie. Als Lessing 1774 u. 1777 diese Teile der Apologie (Wolfenbütteler Fragmente eines Unge- Der Sohn des Hermann Samuel Reimarus nannten – R.’ Verfasserschaft wurde bis 1814 sollte – nach einer mäßigen, von Privatlehnur vermutet) veröffentlichte, erhob sich ein rern aufgebesserten Schulausbildung am literar. Orkan, der Lessing selbst bis zu sei- hamburgischen Johanneum – Jura studieren, nem Tod umtrieb. Über 200 Gegenschriften wählte aber Medizin: zuerst in Göttingen erschienen; der heftigste Streit tobte zwi- (1752), dann in Leiden (1753), wo er 1757 schen Lessing u. dem Hamburger Hauptpas- auch promoviert wurde, u. London (1755). tor Goeze. In diesem Sturm wurde klar, dass Nach Hamburg zurückgekehrt, wurde er als hinter der Stärkung der Vernunft u. der na- prakt. Arzt bald sehr erfolgreich, führte z.B. türl. Religion eine Philosophie möglich war, dort die Impfung gegen die Blattern ein, deren Übertragung durch nicht sichtbare Ordie die Bedingung der Offenbarung prinziganismen er schon mutmaßte, u. regte später piell in Frage stellte, u. dass die Natur- u. den Gebrauch der Belladonna bei StaroperaVernunftstabilisierung der Aufklärungsphitionen an. Doch wandte er sich nebenher losophie zumal in Deutschland die Bedinzeitlebens allen nur mögl. anderen Aufgaben gung für die Aufhebung der Offenbarungszu, die ihm sein freier u. aufklärerischer religion in sich trug. Bürgersinn eingab: Theologisch-moralische Wahrscheinlich wäre die Veröffentlichung u. philosoph. Fragen beschäftigten ihn (imdieser Einsicht dem Verfasser der Apologie mer idealistisch u. antimaterialistisch) gleischlecht bekommen. So war es sicher klüger, chermaßen wie Biologie, öffentl. Ordnung u. dass er bei seinem Tod das Manuskript seinen Ökonomie (u. a. Handlungsgrundsätze zur wahKindern Elise u. Johann Albert Heinrich ren Aufnahme der Länder [...]. Hbg. 1768. übergab, die es Lessing in Teilen zugänglich 21775). Gegner aller Privilegien u. entschiemachten. Es hat schließlich noch etwa 200 dener Anhänger des Freihandelsgedankens, Jahre gedauert, bis diese konsequenteste Re- schrieb er zahlreiche Broschüren gegen Geligionskritik der Aufklärung vollständig ver- treidesperre, öffentl. Kornmagazine, Fleischöffentlicht worden ist (Hg. Gerhard Alexan- besteuerung. In der Physik, die er ab 1796 der. Gött. 1979). auch am Gymnasium unterrichtete, wurde er Literatur: Bibliografie: H. S. R.: Handschrif- durch seine Franklin verpflichteten Überletenverz. u. Bibliogr. Zusammengestellt v. Wilhelm gungen zur Anlage von Blitzableitern rasch Schmidt-Biggemann. Gött. 1979. – Weitere Titel: berühmt, nachdem ihn 1767 ein BlitzeinDavid Friedrich Strauß: H. S. R. u. seine Schutzschr. schlag in der Nikolaikirche auf dieses Gebiet [...]. Lpz. 1862. – Carl Mönckeberg: H. S. R. u. Jogebracht hatte (u. a. Vom Blitze, dessen Bahn und hann Christian Edelmann. Hbg. 1867. – H. S. R. Wirkung. Hbg. 1778). [...]. Vorträge der Jungius-Gesellsch. 1972. Gött. R.’ Rang als Schriftsteller besteht in der 1973. – Peter Stemmer: Weissagung u. Kritik. Eine Vielfalt der Themen u. jener Weite einer Studie zur Hermeneutik bei H. S. R. Gött. 1983. – Dirk Fleischer: R. In: NDB. – Martin Mulsow (Hg.): aufgeklärten, republikan. Gesinnung, die ihn Between Philology and Radical Enlightenment: H. auch zum Freund Lichtenbergs u. Lessings S. R. Leiden 2009. – Dietrich Klein: H. S. R. werden ließ (Letzterem vermittelten R. u. (1694–1768) Das theolog. Werk. Tüb. 2009. – Ul- seine Schwester Elise die Schutzschrift ihres rich Groetsch: From Polyhistory to Subversion: The Vaters), indes nicht in der sprachl. Gewalt

Reimmann

seiner durchweg klaren, aber kaum je brillanten Prosa. Weitere Werke: Ziemlich vollst. in: Hamberger/Meusel 5. Literatur: J. A. H. R. In: ADB. – David Veit: J. A. H. R. nach zurückgelegten 50 Jahren seiner medizin. Laufbahn. Hbg. 1807. – J. A. H. R.: Lebensbeschreibung v. ihm selbst [1812] aufgesetzt. Hbg. 1814. – Gerhard Alexander: J. A. H. R. u. Elise R. in ihren Beziehungen zu Lessing. In: Lessing u. der Kreis seiner Freunde. Hg. Günter Schulz. Heidelb. 1985. – Franklin Kopitzsch: Knigge u. seine Hamburger Freunde: J. A. H. R. u. Sophie R. In: Adolph Freiherr Knigge: neue Studien. Hg. Harro Zimmermann. Bremen 1998, S. 70–73, 141–143. – Almut Spalding: Siblings, Publications, and the Transmission of Memory: J. A. H. and Elise R. In: Sibling Relations and Gender in the Early Modern World: Sisters, Brothers and Others. Hg. Naomi J. Miller u. Naomi Yavneh. Aldershot u. a. 2006, S. 216–227. Ulrich Joost / Red.

Reimmann, Jakob Friedrich, * 22.1.1668 Gröningen bei Halberstadt, † 1.2.1743 Hildesheim. – Schulmann, Pastor u. Autor der Historia litteraria. Aus der kinderreichen Familie eines Schulmeisters stammend, musste R. einen mühevollen Weg zurücklegen, der ihn auch nie über den engeren Kreis seiner Heimat hinausführte, ehe er später als gewöhnlich eine gesicherte Stellung fand, wie wir aus seiner postum (1745) gedruckten Autobiografie wissen. Er erhielt Unterricht vom Vater, dann in Schulen der Umgebung u. in den Gymnasien zu Aschersleben, Magdeburg u. Altenburg. Dazwischen musste er dankbar sein, dass er als Hauslehrer seinen Unterhalt verdienen konnte: auf dem Rittergut Ahlten bei Hannover, danach in Calbe an der Saale, u. die Universität in Jena konnte er nur ein Jahr besuchen. Nach der Magisterdisputation (Paedagogia philosophiae ad revelationem ex ignorantia ortus linguarum primi. Praes.: Johann Philipp Treuner. Jena 1689) verdingte er sich erneut als Hauslehrer u. durfte seinen Wissensdurst im nahen Hannover beim Hofbuchhändler Förster stillen, der ihm die unerschwingl. Bücher auslieh. Nach Jahren im Schuldienst in Osterwieck am Harz (dort 1692 als Rektor), wo er auch heiratete, u. (seit

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1693) als Rektor des Gymnasiums in Halberstadt brachte er es 1702 zum stellvertretenden Inspektor der Halberstädtischen Schulen, ehe er 1704 in den geistl. Stand wechselte, zuerst als Pastor in Ermsleben, dann als Domprediger in Magdeburg. Seit 1717 amtierte R. als Superintendent u. Leiter der Schulverwaltung dauernd in Hildesheim. Zu großer Berühmtheit gelangte R. als einer der maßgebl. Autoren der gelehrten Bücherkunde in Deutschland, der Historia litteraria, die eigentlich Disziplinen- u. Gelehrtengeschichte (»notitia auctorum«) u. histor. Bibliografie (»notitia librorum«) war u. deren Konzept auf Christoph Mylaeus u. v.a. Francis Bacon zurückgeht. Auch Leibniz versprach sich viel von einer Historie der wiss. Leistungen für das Fortschreiten der Wissenschaften; er schätzte die Arbeiten R.s u. wechselte zahlreiche Briefe mit ihm. Die wichtigsten Schriften sind vor der Hildesheimer Zeit erschienen, bes. der Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch [...] derer Teutschen insonderheit (Halle 1708), der bis 1713 auf sechs Bände anwuchs. »Literatur« im modernen Verstand – dichterische Fiktion – gehört nur ganz am Rande (u. d. T. »Poesie«) in das System der »Litterärgeschichten« (wie sie später mit einem verdeutschten Titel, der sich glücklicherweise nicht durchgesetzt hat, genannt wurden), die im Prinzip mit »Literaturgeschichten« nichts zu tun haben. Doch führt R. die Sparte einer »Historia poeseos particularis« ein (eine »Gesonderte Geschichte der Poesie«) u. grenzt damit die Werke der Poesie deutlicher ab als dies etwa Morhof im Polyhistor (1688 ff.) getan hatte. Hier liegt dann doch – im gänzlich andersartigen Rahmen der Historia litteraria – ein erster, noch recht formaler Ansatz zur Literaturgeschichtsschreibung vor, die als solche aber keinesfalls als eine Fortentwicklung aus der Historia litteraria betrachtet werden darf. Dem Versuch einer Einleitung gab R. eine Systematik bei, die kurze Zusammenfassungen aller 76 Kapitel des Werks enthält: Die ersten Linien von der Historia literaria derer Teutschen (Halle 1713). Neben Kompendien zu einzelnen Disziplinen wurde bes. der Catalogus Bibliothecae Theologicae systematico-criticus (zuerst Hildesh. 1731)

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geschätzt, der auch häret. Literatur enthält. R. schreibt urteilsfreudig, gelegentlich umständlich (wie im Versuch einer Critique über das Dictionaire Historique et Critique des Mr. Bayle. Halle 1711), aber immer ideenreich u. wohlinformiert auch über entlegene u. kontroverse Schriften. Berühmt war er auch für seine ungewöhnlich reichhaltige Gelehrtenbibliothek, u. seine Historia universalis Atheismi et Atheorum falso et merito suspectorum (Hildesh. 1725) gilt noch heute als eine erstrangige Quelle für das Studium der clandestinen u. radikalen Schriften der frühen Neuzeit (vgl. Mulsow 2002 u. 2007). Hamann hat ihn im Zuge seiner Beschäftigung mit der vom Humanismus ausgehenden gelehrten Überlieferung studiert (darüber Gajek 1967). Speziell einer Historie der Poesie in Deutschland ist der Band Poesis Germanorum canonica et apocrypha. Bekandte und unbekandte Poesie der Deutschen (Lpz. 1703) vorbehalten. Die Geschichte der Dichtung (in Tabellenform zunächst) wird darin einem antiken Schema gemäß in Kindheit, Knabenalter u. Mannesalter gegliedert u. bis gegen 1700 verfolgt; die »neue Zeit« (»virilis aetas«) beginnt nicht, wie üblich, mit dem »Humanismus« (als Epochenbegriff in Deutschland erst zu Beginn des 19. Jh. eingeführt), sondern mit Opitz im frühen 17. Jh. Unter der »unbekandten Poesie«, die den dt. Dichtern bislang »noch wie Böhmische Dörffer gewesen« (S. 83), versteht R. Verse – gemeint ist eigentlich eine bestimmte Bildlichkeit u. Funktion –, die er emblematisch, symbolisch, hieroglyphisch, parabolisch, paradigmatisch u. mythisch nennt. Weitere Werke: Schediasma philosophicum de logices Aristotelicae, Rameae, Cartesianae et eclecticae insufficientia. Halberst. 1697. – Unvorgreiffl. Concept v. der wahren Gelehrsamkeit, darinnen vornehmlich die Gedancken des Hrn. Christiani Thomasii [...] untersuchet [...] wird. o. O. 1697. – Versuch einer Einl. in die historiam literariam antediluvianam. Halle 1709. – Versuch einer Einl. in die Historie der Theologie insgemein, u. der Jüdischen Theologie insonderheit. Magdeb. 1717. – Versuch eines kleinen bibl. Kinder-Catechismi. Goslar 1726. – Historia philosophiae Sinensis. Braunschw. 1727. – Eigene Lebensbeschreibung. Hg. F. Heinrich Theune. Braunschw. 1745. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3284–3304. – Weitere Titel: Gabriel Wil-

Rein helm Götten: Das jetztlebende gelehrte Europa [...]. Bd. 1, Braunschw. 1735. Nachdr. Hildesh. u. a. 1975. – Zedler. – Carl Prantl: J. F. R. In: ADB. – Klaus Scholder: Ursprünge u. Probleme der Bibelkritik im 17. Jh. Mchn. 1966. – Bernhard Gajek: Sprache beim jungen Hamann. Bern 1967. – Sigmund v. Lempicki: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Ende des 18. Jh. (1920). 2., durchges. u. verm. Ausg. Gött. 1968. – Hans-Martin Barth: Atheismus u. Orthodoxie. Analysen u. Modelle christl. Apologetik im 17. Jh. Gött. 1971. – Theodor Günther: J. F. R (1668–1743). Mühsal u. Frucht. Köln 1974. – Über Literaturgeschichtsschreibung. Hg. Edgar Marsch. Darmst. 1975. – James E. Force: The Origins of Modern Atheism. In: Journal of the History of Ideas 50 (1987), S. 153–162. – Klaus Weimar: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Ende des 19. Jh. Mchn. 1989. – Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis u. Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des Wissens in der frühen Neuzeit. Köln/ Weimar 1992. – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u. Thomasius. Leiden 1995. – Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- u. Religionskritik des 17. u. 18. Jh. Stgt.-Bad Canstatt 1998. – Skepsis, Providenz, Polyhistorie. J. F. R. (1668–1743). Hg. Martin Mulsow u. Helmut Zedelmaier. Tüb. 1998. – Matthias Wolfes: J. F. R. In: Bautz. – M. Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Dtschld. 1680–1720. Hbg. 2002. – Dieter H. Steinmetz: J. F. R., der Polyhistor der Aufklärungszeit, u. seine Beziehungen zu Calbe. In: Das Calbenser Blatt 13 (2003). – Theodor Günther u. Stefan Jordan: J. F. R. In: NDB. – M. Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage u. Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stgt. 2007. – Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2007. Herbert Jaumann

Rein, Heinz, auch: Reinhard Andermann, * 9.3.1906 Berlin, † 16.1.1991 Baden-Baden. – Erzähler, Romancier, Essayist. Nach einer Lehre als Bankkaufmann begann R. 1922 für die Sportpresse zu schreiben; Anfang der 1930er Jahre wurde er arbeitslos. Dieses Schicksal bildete später den Hintergrund zu seinem Roman Berlin 1932 (Bln./SBZ 1946). Politisches Engagement brachte R. im Dritten Reich Schreibverbot, Haft u. Zwangsarbeit ein, verschaffte ihm jedoch

Reinacher

nach dem Krieg einen Posten in der Deutschen Verwaltung der SBZ. Er war zunächst in der Gemeindeverwaltung, dann in der Volksbildung tätig, verfasste gleichzeitig Zeitromane u. Erzählungen u. wurde schließlich freier Schriftsteller. Sein bekanntestes Werk, der Roman Finale Berlin (Bln./SBZ 1947), der auch ins Englische, Polnische u. Russische übersetzt wurde, handelt vom Leben in Berlin während der letzten Kriegstage; die acht Erzählungen im Band In einer Winternacht (Bln. 1952) spielen in Berlin nach 1947. Sie sind mit ihrem Realismus u. ihrem Engagement Beispiele einer sozialist. »Trümmerliteratur«. Im Band Die neue Literatur (Bln. 1950) unternahm R. eine essayist. Bestandsaufnahme der Nachkriegsliteratur. Nach seinem Bruch mit der SED in den 1950er Jahren übersiedelte R. in die Bundesrepublik. Hier schrieb er auch satir. Erzählungen (Wer einmal in den Fettnapf trat [...]. Satiren. Erftstadt 1985) u. Kriminalgeschichten (Zwei Trümpfe in der Hinterhand. 17 Kriminalstories. Ffm. 1988). Weitere Werke: Mädchen auf der Brücke. Bln. 1949 (N.n). – Keine Corrida mehr. Fabeln u. Satiren. Neckargemünd 1989. – Ein Anti-Knigge. Faustregeln für den modernen Menschen. Klagenf. 1991. Stefan Bauer / Red.

Reinacher, Eduard, auch: Alsaticus, * 5.4. 1892 Straßburg, † 16.12.1968 StuttgartBad Cannstatt; Grabstätte: Aichelberg, Friedhof. – Lyriker, Dramatiker, Hörspielautor, Erzähler. Bedingt durch sein Geburtsjahr gehörte R. zu einer verlorenen Generation: In entscheidenden Lebensphasen brachen die beiden Weltkriege aus, zweimal (1919 u. 1941) musste R. seine Heimat, das Elsass, verlassen u. unter schwierigsten Bedingungen neu anfangen. Die Kindheit u. Schulzeit verbrachte R. im damals zu Deutschland gehörenden Straßburg; 1911 begann er dort das Studium der Philologie. Schon als Schüler entschloss er sich, Dichter zu werden; erste Gedichte entstanden, 1913 wurden die ersten veröffentlicht. Mit seiner Entscheidung war ihm bewusst, ein Leben Am Abgrund hin führen zu

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müssen, wie er 1956 seine Fragmente der Lebenserinnerungen nannte (Weinheim 1972). Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, an dem R. 1914/15 als dienstverpflichteter Sanitäter teilnahm, führten zu seiner Erzählung Erinnerungsbuch an mein Pferd (1917), die die Bewunderung Thomas Manns hervorrief; auch spätere Werke R.s fanden dessen Anerkennung. 1919 entschied sich R., das nunmehr frz. Elsass zu verlassen, um sein dichterisches Werk weiterhin in dt. Sprache schreiben zu können. Zunächst kam er im Verlag seines Freundes aus Straßburger Zeit, Oskar Wöhrle, unter – erst in Stuttgart, dann in Konstanz. Aus dieser Zeit resultierten die teilweise lebenslangen Freundschaften mit den Malern Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, Reinhold Nägele u. Franz Frank, dem Dichter Hermann Hesse u. dem Komponisten Paul Hindemith, der drei seiner Gedichte vertonte (Des Todes Tod, op. 23a, 1922). In Stuttgart lernte R. auch die Keramikerin Dorkas Härlin kennen (Heirat 1923). Die Erlebnisse während der Zeit am Bodensee führten zum komischen Roman Bohème in Kustenz (Mchn. 1929. Neuaufl. Eggingen 2009) – eine leicht verschlüsselte u. dichterisch freie Darstellung der Künstler- u. Expressionistenszene im Nachkriegs-Konstanz. Das zentrale Motiv in R.s Dichtungen ist der Tod, sodass der Malerfreund Reinhold Nägele 1921 für den noch nicht dreißigjährigen R. ein Exlibris entwarf, in dem der Dichter Rücken an Rücken mit dem Tod (dargestellt als Frau) sitzt. Schon 1912 waren unter dem Eindruck der Totentanz-Holzschnitte von Holbein d.J., die R. in Basel gesehen hatte, die ersten Totentanz-Bücher entstanden (u. a. Der Tod von Grallenfels. Straßb. 1918. Die Hochzeit des Todes. Stgt. 1921. Todes Tanz. Stgt. 1923). Für seine »dramatische Dichtung« Der Bauernzorn (Stgt. 1922. Urauff. 1925) erhielt R. 1929 den Kleist-Preis. Den damals viel beachteten Gedichtband Elsässer Idyllen und Elegien (Stgt. 1925) bezeichnete er selbst als »Hymnus des Dankes an die Heimat«. Großen Erfolg hatte R. mit dem 1930 (u. bis heute immer wieder) gesendeten Hörspiel Der Narr mit der Hacke (Mchn. 1931), das als Pio-

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niertat für das dichterische Hörspiel gilt. Folgerichtig wurde 1932 R. zum Hörspieldramaturg beim Rundfunk in Köln berufen, 1933 aber schon wieder durch die Nationalsozialisten entlassen; diese kurze Zeit beim Kölner Sender war die einzige einer finanziellen Sicherheit. 1938 bekam der gänzlich unpolit. R. als erster Elsässer den Johann-Peter-Hebel-Preis, was seine Verwurzelung im alemann. Raum zeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es R. nicht mehr, in das literar. Bewusstsein zurückzukommen; lediglich eine Buchveröffentlichung (Der Tintenbaum. Stgt. 1956) u. eine Wiederaufführung seiner dramat. Legende Agnes Bernauer (1959, auf der großen Freitreppe in Schwäbisch Hall) sind zu verzeichnen. Die Thematik u. die nicht leicht zugängl. Sprache verhindern eine weite Verbreitung seiner Dichtungen. Weitere Werke: Die Hochzeit des Todes. Stgt. 1921 (E.en). – Silberspäne. Straßb. 1931 (L.). – Herr Wilhelm u. sein Freund. Mchn. 1933. – Das Buch vom Freunde. Aichelberg 1937. – Der starke Beilstein. Eine schöne elsäss. Lügengesch. Stgt. 1938. Neuaufl. Stgt. 1980. – Robinson. In: Das Drei-Elsässer-Buch. St. Ingbert 2007. – Gastruf. Bln. 2008 (mit 3 farbigen Holzschnitten v. Peter Rensch). Literatur: Bibliografie: Gerhard Reinacher (Hg.): R. Hildesh./Zürich/New York 1984. – Weitere Titel: Ders.: Geboren unter dem Straßburger Münster, E. R. (1892–1968): Leben u. Werk. Bad Neustadt/Saale 1984. – E. R. In: Der Johann-Peter-Hebel-Preis 1936–88. Dokumentation v. Manfred Bosch. o. O. 1988, S. 19–27. – M. Bosch u. Norbert Heukäufer: ›Fang auf, Europa, Silberspäne fliegen!‹ E.R. (1892–1968). Ein Leben im Spiegel v. Werk u. Freundschaften. Eggingen 1995. – M. Bosch: Bohème am Bodensee. Lengwil am Bodensee 1997, S. 428–432 – N. Heukäufer: E. R. In: Baden-Württembergische Biogr.n. Bd. 2, hg. v. Bernd Ottnad, Stgt. 1999, S. 364–366 Norbert Heukäufer

Reinbeck, Georg (Gottlieb Sigismund) von, * 11.10.1766 Berlin, † 1.1.1849 Stuttgart. – Dramatiker, Novellist, Lyriker, Kritiker, Essayist, Lehrbuchautor. R. stammte aus einer bekannten protestant. Theologenfamilie. Nach dem Studium in Berlin lebte er ab 1791 in Petersburg, zu-

Reinbeck

nächst als Hauslehrer, seit 1792 als Lehrer an der dt. Hauptschule (bis 1804) u. schließlich am kaiserl. Pageninstitut. 1805 verließ R. Russland u. ließ sich in Stuttgart nieder, wo er von 1808 an als Mitredakteur des Cottaschen »Morgenblatts« tätig war. 1811 wurde er mit dem Titel eines Hofrats Professor am oberen Gymnasium in Stuttgart (1818–1827 war er daneben in gleicher Funktion am Katharinenstift tätig). Nach dem Tod seiner ersten Frau schloss R. 1817 eine zweite Ehe mit der Malerin Emilie Hartmann u. heiratete damit in eine der angesehensten Stuttgarter Familien ein. 1837 erhielt er den Kronenorden, 1839 wurde er dort Ehrenbürger. Das umfangreiche u. vielseitige Werk R.s, der bereits in Petersburg enge Kontakte zum Theater unterhielt, umfasst an das bürgerl. Drama des 18. Jh. anknüpfende Dramen (überwiegend Lustspiele nach frz. u. engl. Vorlagen, die, z.T. häufig gespielt, u. a. von Goethe in Weimar aufgeführt wurden), Prosaarbeiten, Gedichte u. Essays, literarkritische, literatur- u. sprachwiss. Schriften sowie Lehrbücher für den prakt. Schulunterricht, in denen er sich nachhaltig für die vernachlässigte dt. Literatur als Unterrichtsgegenstand einsetzt. Der nachklassizist. Schriftsteller R. war zgl. ein eigenständiger Ästhetiker, dessen Theorie der Situationsnovelle (bes. Situationen. Ein Novellenkranz. Nebst einigen Worten über die Theorie der Novelle. Stgt. 1841) in der späteren Novellendiskussion weiterwirkte. Das Haus der Familie Hartmann-Reinbeck war ein Zentrum des geistigen Lebens in Stuttgart u. zog über mehrere Jahrzehnte bedeutende Gäste von Jean Paul über Uhland, Schelling, Tieck, Matthisson, Rückert, Hauff, Auerbach u. Schwab bis hin zu Freiligrath an. Insbes. Lenau war eng mit dem Hause verbunden. Weitere Werke: Winterblüthen. Erster u. zweiter Kranz. Lpz. 1810. – Blüthen der Muße. E.en u. N.n. Duisburg/Essen 1813. – Hdb. der Sprachwiss. 3 Bde., Duisburg/Essen 1813–24. – Sämmtl. dramat. Werke. 6 Bde., Heidelb. 1817/18. Koblenz 1818–22. – Lebensbilder. N.n u. E.en. 3 Bde., Essen 1829. – Reise-Plaudereien [...]. 2 Bde., Stgt. 1837. Literatur: Ernst Müller: G. R. als Vorbild v. Wilhelm Hauff. In: Euph. 4 (1897), S. 319–323. –

Reinbeck Bernhard Gerlach: Die literar. Bedeutung des Hartmann-Reinbeckschen Hauses in Stuttgart, 1779–1849. Diss. Münster 1910. – Alois Wierlacher: R.s Novellentheorie. Zur Situationsnovelle des 19. Jh. In: JbFDH (1971), S. 430–447. Norbert Eke / Red.

Reinbeck, Johann Gustav, * 25.1.1683 Celle, † 21.8.1741 Schönwalde bei Berlin. – Evangelischer Theologe. Der Sohn des Lüchower Pastors Andreas Reinbeck hatte sein Philosophie- u. Theologiestudium im April 1701 in Halle begonnen u. mit der theolog. Disputation De redemtione per lytron (Präses: Paul Anton. Halle 1707), die gegen Dippel gerichtet war, beendet. Zu Christian Wolff, der 1707 seine Lehrtätigkeit in Halle aufnahm, hatte R., der über seine Studienjahre hinaus pietistisch geprägt blieb, zunächst keinen Kontakt; erst 1723 wurde er direkt mit den Streitigkeiten zwischen Wolff u. den Halleschen Pietisten konfrontiert, als er vom König in die Kommission zur Untersuchung der Anschuldigungen berufen wurde, die Francke u. Lange gegen jenen erhoben hatten. R. wurde vom Gegner zum Befürworter der neuen Philosophie (vgl. die im Nov. 1729 gehaltene Predigt Die von dem Königschen unter den Gehorsahm des Glaubens gefangen genommene Vernunfft [...]. Bln. 1730, in der er seine geänderte Meinung erstmals öffentlich darlegte). 1709–1713 Predigergehilfe bei der Berliner Friedrichswerderschen u. Dorotheenstädtischen Gemeinde, avancierte R. dort zum zweiten (u. 1714 zum ersten) Prediger u. wurde 1717 Propst in Cölln u. Pastor an der Peterskirche. 1728 erfolgte seine Ernennung zum Konsistorialrat. 1736 ehrte ihn die theolog. Fakultät zu Königsberg mit der Doktorwürde. 1740 beauftragte Friedrich II. R., Wolff nach Preußen zurückzurufen. Mit seinem Hauptwerk, Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte göttliche Wahrheiten (4 Tle., Bln./Lpz. 1731–41; Tle. 5–9 verfasst v. Israel Gottlieb Canz. Bln./Lpz. 1743–47; viele Aufl.en), das durch Empfehlung Friedrich Wilhelms I. an die preuß. Kirchenbibliotheken nachgerade offiziösen Charakter gewann,

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suchte R. die Vernünftigkeit von christl. Offenbarungsgehalt u. Dogmatik zu erweisen. Damit u. mit seinem Beitrag zu Gottscheds Grundriß einer Lehrart, ordentlich und erbaulich zu predigen [...] (Bln. 1740), der die Klarheit der Disposition u. die Deutlichkeit der Begriffe in der Homiletik propagierte, wies sich R. als früher, dabei nicht unkrit. Vertreter eines gemäßigten Wolffianismus in der Theologie aus (vgl. auch Erörterung der philosophischen Meynung von der [...] Harmonia praestabilita [...]. Bln. 1737; Stellungnahme zu Johann Lorenz Schmidts Wertheimischem Bibelwerk). Weitere Werke: De redemtione per lytron tractatio theologica [...]. Halle 1710. – Die Natur des Ehestandes u. Verwerfflichkeit des dawieder streitenden Concubinats, aus der heil. Schrifft [...] u. wider des [...] Thomasii Dissertation [...] behauptet. Bln. 1714. 21715. – Nachricht v. Gichtels Lebens-Lauf [...]. Bln. 1714. – Beantwortung der Einwürffe, welche [... in Johann Georg Palms] Abh. v. der Unschuld Gottes bey der Zulassung des Bösen [...] sind gemacht worden [...]. Bln. 1736. – Philosoph. Gedancken über die vernünfftige Seele u. derselben Unsterblichkeit [...]. Bln. 1740. Nachdr. Hildesh. u. a. 2002. Frz. Amsterd./Lpz. 1744. – Nachgelassene kleine Schr.en, nebst zwoen Vertheidigungsschr.en u. einem dem seligen Manne gestifteten Ehrengedächtnisse. Bln. 1743. Ausgaben: Beantwortung der Einwürffe [...]. Bln. 1736, u. Erörterung der philosoph. Meynung [...]. Bln. 1737. Nachdr. in: Schr.en über Joachim Langes u. Johann Franz Buddes Kontroverse mit Christian Wolff. Zusammengestellt v. Jean École. Tl. 2, Hildesh. 2000. Literatur: Catalogus [...] librorum [...] quos collegit J. G. R. Bln. 1743. – Anton Friedrich Büsching: Beyträge zu der Lebensgesch. denkwürdiger Personen [...]. Tl. 1, Halle 1783 (zu Wolff: S. 1–138; zu R.: S. 139–236; mit Dokumenten). – Georg v. Reinbeck: Leben u. Wirken des Dr. Th. J. G. R. [...]. Stgt. 1842. – Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched u. seine Zeit [...]. Lpz. 21855. – Cornelia Buschmann: Wolffianismus in Berlin. In: Aufklärung in Berlin. Hg. Wolfgang Förster. Bln. 1989, S. 73–101. – Gesch. Piet., Bd. 2 u. 4, Register. – Detlef Döring: Beiträge zur Gesch. der Gesellsch. der Alethophilen in Leipzig. In: Gelehrte Gesellsch.en im mitteldt. Raum (1650–1820). Tl. 1. Hg. ders. u. Kurt Nowak. Stgt./Lpz. 2000, S. 95–150. – S. Lorenz: Wolffianismus u. Residenz. Beiträge zur Gesch. der Gesellschaft der Alethophilen in Weißenfels. Ebd., Tl. 3 (2002), S. 113–144. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1207. – James Jakob Fehr:

513 ›Ein wunderlicher nexus rerum‹. Aufklärung u. Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz. Hildesh. 2005, bes. S. 169–184. – Andres Straßberger: J. G. R. In: Bautz (mit umfassendem Werk- u. Lit.-Verz.). – A. Straßberger: J. G. R. (1683–1741). Pietismus u. Aufklärung. In: Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Gesch. 2 Bde. Hg. Albrecht Beutel. Ffm. 2009, Bd. 1, S. 163–183. Stefan Lorenz / Red.

Reinbot von Durne. – Verfasser eines höfischen Legendenromans, 13. Jh.

Reindl

Forschung bisweilen vorwirft. Auch lässt die Figur des Georg nur geringe Möglichkeiten für dichterische Kreativität: Die verbindl. Tradition fordert, den Megalomartyr als statischen u. verklärten Helden darzustellen, der dem absoluten Bösen trotzt. R. schmückt die Legende aber immer wieder mit didakt. Einlagen aus. R.s Werk erreichte in seiner urspr. Gestalt nur mäßigen Erfolg, wahrscheinlich fehlte den Lesern in späteren Jahrhunderten der Drachenkampf. Dennoch wurde es zweimal in Prosa aufgelöst. Vor allem im Rahmen des Legendars Der Heiligen Leben, dort durch eine Prosaauflösung der Drachenkampf-Szene aus dem Passional ergänzt, wurde es bis ins 16. Jh. gelesen.

R. ist nordbair. Herkunft. Er nennt den »markt [...] ze Werde« (vermutlich Wörth/ Donau) als den Ort, in dem er seinen Legendenroman vom hl. Georg verfasste. Zu welcher Familie er gehörte, ist nicht geklärt. Er Ausgabe: Carl v. Kraus (Hg.): Der hl. Georg R.s v. verfasste sein Werk im Auftrag Herzog Ottos D. Heidelb. 1907. II. von Bayern (1231–1253) u. dessen Frau Literatur: Klaus Brinker: Formen der HeiligAgnes. Eine Anspielung auf die Hochzeit ei- keit. Studien zur Gestalt des Heiligen der mhd. ner Tochter Ottos erlaubt eine ungefähre Legendenepen des 12. u. 13. Jh. Diss. Bonn 1968. – Datierung des Werks auf 1250 oder – wahr- Ulrich Wyss: Theorie der mhd. Legendenepik. Erscheinlicher – auf 1246. R. ist der erste sicher langen 1973. – Gisela Vollmann-Profe: Der Prolog bezeugte Auftragsdichter in Bayern. Er ver- zum ›Hl. Georg‹ des R. v. D. In: Befund u. Deutung. Hg. Klaus Grubmüller. Tüb. 1979, S. 320–341. – fügte über Latein- u. möglicherweise FranWerner Willams-Krapp: R. In: VL (auch: Nachträge zösischkenntnisse u. kannte die wichtigsten u. Korrekuren). – Edith Feistner: R. v. D.: ›GeWerke der höf. Literatur seiner Zeit. orgslegende‹. In: Horst Brunner: Mhd. Romane u. Die unbekannte Quelle des Georg enthielt Heldenepen Stgt. 1993, S. 311–325. – Klaus Klein: noch nicht die Drachenkampf-Episode, die Ein neues Fragment v. R.s ›Georg‹. In: ZfdA 130 das Georgbild im späten MA prägte. Dennoch (2001), S. 58–62. – Peter Strohschneider: ›Georius geht der Text weit über die übl. Georgsle- miles – Georius martyr‹. Funktionen u. Repräsengenden hinaus. Der ritterl. Aspekt wird stark tationen v. Heiligkeit bei R. v. D. In: Literar. Leben. ausgebaut, der »miles Christi« ist mit seinen FS Volker Mertens. Hg. Matthias Meyer. Tüb. 2002, Brüdern zunächst ein großer Heidenkämp- S. 781–811. Werner Williams-Krapp / Red. fer, bis er beschließt, ohne Waffen gegen die Ungläubigen vorzugehen, um sie missionieReindl, Ludwig Emanuel, * 16.2.1899 ren zu können. Am Hof des heidn. Herrschers Brunnthal bei München, † 4.6.1983 KonDacian gerät er in einen ausgedehnten Glaustanz; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – bensdisput, der mit Dacians Beschluss endet, Lyriker, Essayist. Georg mit Gewalt von Christus abzubringen. Georg wird schwer gefoltert; er wirkt dabei R. entstammte einer Lehrerfamilie. Er stuWunder, zahlreiche Heiden bekehren sich, dierte Germanistik in München. Seine Einschließlich wird er enthauptet. Dacian aber drücke als junger Kriegsfreiwilliger schlugen wird mit der Hölle bestraft. sich in ersten Gedichten nieder, die gesamR. stellt den Georg bewusst in die Tradition melt in dem Doppelband Sonette vom Krieg. der hochhöf. Epik, es finden sich Anspielun- Hymnen (Mchn. 1922) erschienen. 1926 trat er gen v. a. auf Wolframs Willehalm, aber auch in die Feuilletonredaktion der »Magdeburauf Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue gischen Zeitung« ein, 1933 in die »Vossische u. Konrad von Heimesfurt. Dennoch ist er Zeitung« des Ullstein Verlags Berlin. 1934 kein bloßer Wolfram-Imitator, wie ihm die wurde er Chefredakteur der bei Ullstein er-

Reinecker

scheinenden Mode- u. Kulturzeitschrift »Die Dame«. 1945 siedelte er nach Konstanz über u. wurde Leiter der Kulturredaktion des »Südkurier« (bis 1964). R. war 1946 Mitbegründer u. Chefredakteur der Zeitschrift »Das Kunstwerk« in Baden-Baden u. 1947–1950 Herausgeber der Konstanzer Monatszeitschrift »Die Erzählung«. Er gab Anthologien heraus, darunter eine Werkauswahl Hans Carossas (Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange. Zürich 1952). In seiner Lyrik folgte R. formal u. inhaltlich traditionellen, durch Nachklassik u. -romantik geformten Mustern. Weitere Werke: Landschaften. Mchn. 1922 (L.). – Sonette. Mchn. 1925. – Dt. Elegien. Mchn. 1926. – Venezian. Sonette. Chemnitz 1927. – Tanzende. Konstanz 1948 (L.). – Lichtblicke. Konstanz 1958 (Betrachtungen). – Herbstlaub. Amriswil 1960 (L.). – Zuckmayer. Mchn. 1962 (Bildbiogr.). – Die zusammengesetzte Brücke. Zürich 1975 (L.). – Cosima Wagners Tagebücher 1869–83. Konstanz 1979 (Ess.). Literatur: Walter Reimer: L. E. R. In: Bad. Heimat, Jb. 1970. Karlsr. 1969, S. 157–161. – Egon Treppmann: Das Leben ganz erfassen. In: Hegau, Jahresh. 36/37 (1981), S. 164–166. – Manfred Bosch: Bohème am Bodensee. Literar. Leben am See v. 1900 bis 1950. Lengwil am Bodensee 1997, S. 488–491. Egon Treppmann / Red.

Reinecker, Herbert, auch: Alex Berg, Herbert Dührkopp, * 24.12.1914 Hagen/ Westfalen, † 27.1.2007 Kempfenhausen, Gemeinde Berg am Starnberger See. – Erzähler, Jugendschriftsteller, Dramatiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor, Journalist. Der Sohn eines Bahnbeamten schrieb schon als Schüler seit 1929 für die »Hagener Zeitung«. Nach dem Abitur 1934 wurde er Chefredakteur der vom Landesjugendamt u. der HJ-Gebietsführung Westfalen in Münster herausgegebenen Zeitschrift »Unsere Fahne«, wechselte aber schon 1935 zur Reichsjugendführung nach Berlin, wo er für »Das Jungvolk« redaktionell verantwortlich war. Ab 1940 schrieb R. für eine Kriegsberichterkompanie der Waffen-SS. Während dieser Zeit erschienen R.s erste Bücher, darunter Jugend in Waffen (Bln. 1936), das im vorgebl.

514

Kontrast zu Deutschland die Militarisierung der Jugend in anderen europ. Ländern anprangert, der 1942 von Paul Verhoeven nach R.s Drehbuch verfilmte Roman Der Mann mit der Geige (Bln. 1939) aus der Endphase der Donaumonarchie sowie das Drama Das Dorf bei Odessa (Bln. 1942) über die Identitätsprobleme von Bessarabiendeutschen. Mit Alfred Weidenmann verfasste R. das Drehbuch zu dem erfolgreichen Jugendfilm Junge Adler (1944). Seine Rolle während des Nationalsozialismus suchte R. in seinen Memoiren Ein Zeitbericht unter Zuhilfenahme des eigenen Lebenslaufs (Erlangen 1990. Auch als Tb. u. d. T. Die Illusionen der Vergangenheit. Ffm. 1992) als im Wesentlichen unpolitisch zu rechtfertigen. Nach dem Krieg betrieb er zunächst eine Agentur, die von ihm selbst verfasste literar. Texte an Zeitungen vertrieb. Dann wandte er sich dem Hörspiel u. erneut dem Kino zu. Seine Drehbücher für den Film umfassen ein großes themat. Spektrum. Es reicht von sozialen Problemen (Weg in die Freiheit, 1952, über eine Jugendstrafinsel, mit A. Weidenmann; Filmband in Silber), Klassikerverfilmungen (Unterm Birnbaum, nach Theodor Fontane, 1963), zeitgeschichtl. Stoffe (Canaris, 1954, mit Erich Ebermayer; 1955 Filmband in Gold) bis hin zu Genrefilmen (Der Hexer, 1964, mit H. G. Petersson, nach Edgar Wallace). Daneben war er auch als Romanschriftsteller erfolgreich, nicht zuletzt, weil er Krieg u. Wiederaufbau so thematisierte, dass sich damit eine breite Leserschaft – allerdings, wie Übersetzungen zeigen, nicht nur in Deutschland – identifizieren konnte (Kinder, Mütter und ein General. Darmst. 1953. Taiga. Mchn. 1958. Das stärkere Geschlecht. Mchn. 1977). Einen bleibenden Bekanntheitsgrad sicherten R. nicht zuletzt die Arbeiten für das Fernsehen, v. a. seine Kriminalfilme, wobei er nicht nur hier die Möglichkeiten einer gattungs- u. medienübergreifenden Mehrfachverwertung von Stoffen u. Personen erkannte. Während einige seiner TV-Kriminalfilme zunächst erkennbar dem Vorbild von Francis Durbridge folgten (Babeck, 1968), stellte R. mit den auch international erfolgreichen Reihen Der Kommissar (1969–1976) u. Derrick (1974–1998) erklär-

515

Reinerová

termaßen die psycholog. Ergründung von H. R. In: NZZ, 18.6.1993. – H. Pöttker: Verdrängt – Straftaten in den Vordergrund; als Vorbild heimlich fortgesetzt – instrumentalisiert. Zum nannte er Georges Simenon. Nachdem R. Umgang mit der NS-Vergangenheit in der dt. Öf1997 mit den ersten Folgen von Siska die Ar- fentlichkeit seit 1945. In: Faschismus in Texten u. Medien: Gestern – heute – morgen? Hg. Peter beit für das Fernsehen beendete, publizierte Conrady. Oberhausen 2004, S. 155–177. – Volker R. u. a. noch Prosa (z.B. Der Jesus von Stallopö- Helbig: H. R.s Gesamtwerk. Seine gesellschafts- u. nen. Nördlingen 2002) u. Theaterstücke mediengeschichtl. Bedeutung. Wiesb. 2007. (Herzlich willkommen beim Jüngsten Gericht, Volker Hartmann 2002). Für sein Fernsehschaffen erhielt er mehrere Preise (u. a. Goldener Bambi 1975, Reinerová, Lenka, * 17.5.1916 Prag, Goldene Kamera 1980). † 27.6.2008 Prag. – Journalistin, SchriftDie Publizistik zu R. hat sich weitgehend stellerin. darauf beschränkt, vermeintl. Kontinuitäten zwischen dessen Werk vor u. nach 1945 her- R., die letzte Vertreterin der Prager dt. Liteauszuarbeiten. Dies führte zu widersprüchl. ratur, wuchs zweisprachig in einem jüdischErgebnissen. Einerseits wurde R.s Kriminal- bürgerl. Haus auf. Als Mitarbeiterin der exifilmen vorgehalten, er mache den Einzelnen lierten »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung« war statt der Gesellschaft für Verbrechen verant- sie mit dem Herausgeber Franz Carl Weiswortlich, andererseits wurde jedoch auch der kopf u. mit Egon Erwin Kisch befreundet (Es Vorwurf erhoben, er rechtfertige durch Ein- begann in der Melantrichgasse. Bln. 1985). Sie fühlung in die Täter Mord als Strafe für so- war der Verfolgung durch die Nazis – ihre Familie wurde in den Konzentrationslagern zialschädl. Verhalten. Weitere Werke (in Auswahl): Panzer nach vorn! umgebracht – sowie durch die Kommunisten Panzermänner erzählen vom Feldzug in Polen. Bln. ausgesetzt. Ihr autobiografisch geprägtes 2 1940 (mit Karl Georg v. Stackelberg u. Wilhelm Werk legt Zeugnis über Exil, Holocaust u. Utermann). – Unser Doktor. Gesch. eines Land- stalinist. Säuberungen u. zgl. über Widerarztes. Mchn. 1964. – Der Kommissar läßt bitten. stand gegen den Terror ab. Auf dem Weg ins Mchn. 1971. – Das Mädchen v. Hongkong. Percha Exil wurde R. als linke Antifaschistin für 1973. – Feuer am Ende des Tunnels. Percha/Kem- mehr als zwei Jahre in Frankreich u. in Mapfenhausen 1974. – Derrick Junior: Die verräter. rokko interniert, bis sie Ende 1941 in Mexiko Zahl. Mchn. 1978. – Ein Denkmal wird erschossen. City landete. Dort gab sie eine tschech. ExilBergisch Gladbach 1978. – Ich bring die Freude zeitschrift heraus, schrieb für »Freies mit. Kleine Weltbeschreibung in liebenswerten Deutschland«, bewegte sich in beiden EmiGesch.n. Mchn. 1984. – Die Reise nach Feuerland. Mchn. 1986. – Warten auf Nachricht. Nördlingen grantenkreisen u. arbeitete in der Gesandtschaft der tschechoslowak. Exilregierung. 2001. Literatur: Helmut Kreuzer: ›Ostfront‹ 1941. 1948 kehrte sie nach Prag zurück. Ihre ExilEin dramat. Thema in drei Variationen v. H. R., erfahrung griff sie etwa im fiktiven Gespräch Johannes R. Becher u. Heiner Müller. In: Ders.: mit einer jungen Obdachlosen in London Aufklärung über Lit. Epochen – Probleme – Ten- (Titelgeschichte in Zu Hause in Prag – manchdenzen. Ausgew. Aufsätze. Bd. 1, hg. v. Peter Sei- mal auch anderswo. Bln. 2000) auf. 1952/53 bert, Rolf Bäumer u. Georg Bollenbeck. Heidelb. wurde sie von den kommunist. Machthabern 1992, S. 170–192. – Horst Pöttker: Subtile Konti- u. a. wegen ihrer diplomat. Tätigkeit in Menuität. Unterhaltungsfilme nach Drehbüchern v. xiko inhaftiert. Diese »Umkehrung eines H. R. 1943–92. In: Ders.: Abgewehrte Vergangen- Traums in Alptraum« schildert R. in den als heit. Beiträge zur Erinnerung an den NS. Köln fiktives Verhör konzipierten Memoiren Alle 1992, S. 58–70. – Glückseliger Dämmerzustand. H. Farben der Sonne und der Nacht (Bln. 2003). R. über Junge Adler u. seine Vergangenheit im NS im Gespräch mit H. Pöttker u. Rolf Seubert. Ebd., Während der polit. Auflockerung des Prager S. 71–82. – Ricarda Strobel: H. R. Unterhaltung im Frühlings redigierte sie die Zeitschrift »Im multimedialen Produktverband. Heidelb. 1992. – Herzen Europas«, nach dessen NiederschlaJürgen Kasten: Verbrechen u. Laster in einer ge- gung wurde sie bis 1989 mit einem Publikaordneten Welt. Das Weltbild des Drehbuchautors tionsverbot belegt. R. verstand sich als Prager

Reiners

Autorin u. beschwor den magischen Geist der Stadt, in deren »drei Kulturen verstrickt« sie sich sah (Närrisches Prag. Bln. 2005; Titelgeschichte in Das Traumcafé einer Pragerin. Bln. 1983). Sie wurde u. a. mit dem »SchillerRing« ausgezeichnet (1999), 2004 hat sie das »Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren« mitbegründet. Weitere Werke: Grenze geschlossen. Bln. 1958. – Ein für allemal. Bln. 1962. – Der Ausflug zum Schwanensee. Bln. 1983. – Die Premiere. Bln. 1989. – Mandelduft. Bln. 1998. – Das Geheimnis der nächsten Minuten. Bln. 2007. Literatur: Steffen Höhne: L. R. In: LGL. – Corinna Schlicht: L. R. Oberhausen 2003. Dana Pfeiferová

Reiners, Ludwig, * 21.1.1896 Ratibor/ Schlesien, † 10.8.1957 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Essayist, Biograf, Sachbuchautor. Der promovierte Jurist u. Staatswissenschaftler R., Sohn eines Zigarrenfabrikanten, war im Hauptberuf Kaufmann. Er arbeitete als Börsenvertreter einer Großbank, Direktionsassistent in der Schwerindustrie, Holzhändler auf dem Balkan, schließlich als Verkaufsdirektor einer Textilfabrik in München. Daneben verfasste er seit 1931 vorwiegend populäre Sachbücher. In seinen Schriften ist R. von dem Gedanken geleitet, dass auch komplexe Sachverhalte dem Laien verständlich gemacht werden können u. Fragen der Lebens- u. Berufspraxis durch Rat u. Tat zu meistern sind. R. befasste sich mit der Volkswirtschaft (Die wirkliche Wirtschaft. 2 Bde., Mchn. 1930. 1933 u. ö. Die Sache mit der Wirtschaft. Mchn. 1956 u. ö.) u. schrieb prakt. Ratgeber (Sorgenfibel. Mchn. 1948. 1992. Fibel für Liebende. Hbg. 1950). Daneben stehen Biografien (Friedrich. Mchn. 1952 u. ö. Bismarck. 2 Bde., Mchn. 1956/57 u. ö.) u. historisch-polit. Schriften mit nat. Tendenz. Den größten Erfolg erzielte R. mit Deutsche Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa (Mchn. 1944. Ab 1950 u. d. T. Stilkunst. Neuausg. 1991. 22004) u. Der sichere Weg zum guten Deutsch. Eine Stilfibel (Mchn. 1951. Ab 1959 u. d. T. Stilfibel. Zuletzt 2007).

516 Weitere Werke: Roman der Staatskunst. Mchn. 1951. – Fräulein, bitte zum Diktat. Hand- u. Wörterbuch der Sekretärin. Mchn. 1953. – In Europa gehen die Lichter aus. Mchn. 1954. – Der ewige Brunnen. Ein Volksbuch dt. Dichtung. Ges. u. hg. v. L. R. Mchn. 1955. 2005. – Die Kunst der Rede u. des Gesprächs. Bern 1955. – Wer hat das nur gesagt? Zitatenlexikon. Bern 1956. Literatur: Reinhard M. G. Nickisch: Das gute Deutsch des L. R. In: DD (1972), S. 323–341. – Willy Sanders: Die Faszination schwarzweißer Unkompliziertheit. In: WW 38 (1988), S. 376–394. – Andreas Schulze: Ist L. R.’ ›Stilkunst‹ noch zeitgemäß? In: Muttersprache 105 (1995), H. 3, S. 227–242. Jürgen Schiewe / Red.

Reinert, Werner, * 25.4.1922 Saarbrücken, † 3.2.1987 Berlin. – Erzähler u. Lyriker. R. entstammte einer Saarbrücker Kaufmannsfamilie mit bäuerl. Hintergrund. Die kath. Jugendbewegung, Kontakte zur »Weißen Rose« (Willi Graf) u. der Krieg, in dem er schwer verwundet wurde, prägten Leben u. Werk. 1950 wurde er hoher Regierungsbeamter des Saarlands u. lebte, früh pensioniert, nach 1977 meist in Südfrankreich. Das politisch-humanistisch u. auch autobiografisch motivierte Werk R.s setzte ein mit dem Episodenroman Der Dicke muß weg. Ein Saar-Roman (Dillingen/Saar 1980; entstanden 1956), der, anlässlich der Saarabstimmung von 1955, vor einem neu erwachenden Nationalismus warnt. In seiner bedeutendsten Prosaarbeit, Knaut (Köln 1963. Blieskastel 1995), entsteht die Biografie eines sterbenden Soldaten aus Erinnerungen, Zeugenaussagen u. Traumvisionen. Die Lyrik R.s ist Totenklage u. Mahnung an die Lebenden (halte den tag an das ohr. Mchn. 1966); sie meidet Hermetismus u. sucht einfache Natur- u. Farbchiffren für Ängste, Liebe, Gewalt u. Tod. Weitere Werke: In den Sand geschrieben. Schwarzenacker/Saar 1972 (Kinderlieder; vertont v. Aribert Reimann). – Steinkreis. St. Michael 1979 (L.). – In diesem Land. St. Ingbert 1989 (autobiogr. R.). – Einmal war die Erde Ohr. Ges. Gedichte. Hg. Dirk Bubel u. Hermann Gätje. Blieskastel 2004. Literatur: Arnfried Astel: W. R.: Knaut. In: NDH 10 (1963), S. 122–125. – Alexander Hildebrand: Zur Lyrik W. R.s. In: Welt u. Wort, H. 12 (1966), S. 402 f. – Klaus-Michael Mallmann: ›Der Tod ist ein Meister aus Deutschland‹. Anmerkun-

Reinfrank

517 gen zu W. R. In: W. R.: ›In diesem Land‹. a. a. O., S. 361–369. – Georg Bense: Welchen Abschied nehmen wir? Skizzen zu einem Portrait W. R. In: Saarbrücker H.e 92 (2004), S. 73–76. Hartmut Dietz / Red.

Reinfrank, Arno, auch: Jean Kahn, Rudi Mannheim, * 9.7.1934 Mannheim, † 28.6. 2001 London. – Lyriker, Erzähler, Mundart-, Theater-, Hörspiel- u. Drehbuchautor, Essayist, Übersetzer. Geboren 1934 u. aufgewachsen in Mannheim nahe den BASF-Chemie-Fabriken, musste R. mit seiner Mutter vor den Nazis fliehen u. untertauchen. Beides, die Nähe zur Großindustrie u. den dort Arbeitenden u. die Erfahrung der Verfolgung prägten R.s Schaffen lebenslang. Erste Lektüren galten Erich Weinert. Seit 1946 veröffentlichte R. Gedichte. Seit 1950 publizierte der versierte Autodidakt der »Ersten deutschen Journalistenschule« in Aachen, Gasthörer in Heidelberg u. an der Sorbonne, feuilletonist. Artikel. Im Dez. 1955 siedelte R. aus Protest gegen die Wiederbewaffnung nach London über. 1956 wurde er Mitgl. des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (vormals ExilP.E.N.). Erste politische Gedichte erschienen 1959 in West- u. Ostdeutschland, didaktischaufklärend im Stil Brechts bzw. der Lehrdichtung. Sie protestierten aus der Erfahrung der Verfolgung u. des Exils gegen Wiederbewaffnung u. das Totschweigen der Nazi-Vergangenheit. Seit den 1960er Jahren veröffentlichte R. Gedichte-Sammlungen, bes. nach der Erklärung der Göttinger 7 für die nachkriegsdt. Friedensbewegung (Fleischlicher Erlass, Vorübergehende Siege, Die Davidsschleuder, Deutschlandlieder zum Leierkasten mit Anklängen an Heinrich Heine). Anfang u. Mitte der 1960er Jahre reiste R. für weniger erfolgreiche Drehbuch- u. Übersetzungsprojekte u. a. in die UdSSR u. die CSSR u. veröffentlichte Hörspiele beim SWF. In der Gedichte-Sammlung Vorübergehende Siege (Egnach 1963), der er die Entstehungsgeschichten von zehn Gedichten beigab, formulierte R. bereits 1961 Grundgedanken seiner später systematisierten Poesie der Fakten (PdF): »Gedichte können dem Leser unbe-

kannte Tatsachen und neue Gedanken präsentieren. Ohne Kenntnis der Faktengrundlage, ohne Sinn und Verstand an einem Gedicht herumzudeuteln, ist oft sinnlos. Etwas Realistisches ist jedoch nie völlig unsinnig«. Fundament seiner PdF ist die Orientierung an nachprüfbaren Tatsachen, wiss. Fakten. Er vertritt eine konsequent antifaschistische, demokrat. Dichtung u. zwar (während des Kalten Krieges) in beiden Teilen Deutschlands. Grundbedingung aller lebensförderlichen, zivilisatorischen Tätigkeit, bes. der künstlerischen, ist dabei der Frieden. Zu diesem Programm passte die antitotalitaristische, die modernen Natur- u. Sozialwissenschaften untersuchende Philosophie Sir Karl Poppers, den R. in London gehört hatte. Als kollegiales Vorbild für die Integration moderner, »harter« naturwissenschaftlich-technolog. Erkenntnisse u. Fakten in die Gefühlswelt bzw. Lyrik des 21. Jh. diente R. der schott. Dichter u. Freund Hugh MacDiarmid (auch: McDermott), dessen Gedichte R. 1968 ins Deutsche übersetzte. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes, Mutationen (Wiesb. 1973), des Hauptwerkes Poesie der Fakten arbeitete R. in den bis 2001 erschienenen insg. zehn Bänden die Bruchstellen der Sicherheit (PdF 5, Bln. 1989, mit Nachw. v. Gerhard Bauer) der modernen Wohlstandsgesellschaft heraus. Selbstvergessen am Fernsehabend (PdF 2, Wiesb. 1975) tolerieren bzw. betreiben die eigentlich zu Höherem berufenen Wolfskinder (PdF 7, Speyer 1993) bewusst die wirtschaftl. Ausbeutung u. Zerstörung ihrer natürl. Lebensgrundlagen. So entstehen die Bilder einer schrägen Welt (PdF 9, Rohrbach 1996), das kollektive Sündenregister des modernen bürgerlichen, wissenschaftlich-techn. Fortschritts. Anfang des 21. Jh. zählt nach zwei Weltkriegen, Macht-, Profitstreben nur mehr das Raketenglück (PdF 10, Ffm. 2001), das technisch Machbare, Profitable, Schnelle, Rationelle. Aber die verletzte, geschändete Natur rächt sich durch Katastrophen u. warnt durch Menetekel der Elementar-, Pflanzen-, Tier- u. Menschenwelt. R. versteht sich als einer ihrer Übersetzer, Mahner, Propheten in der Wüste. Die zum Verständnis nötigen Informationen verdichten R.s Faktengedichte

Reinfrank

im Gewand poetisch-didakt. Fabeln, Anekdoten oder gar »Kurzessays in Gedichtform« in der Tradition der polit. Lehrdichtung Heines, Brechts u. Tucholskys. Formal findet die PdF zu dem ihr eigenen Stil in den in Jamben als Trittleitern der Erkenntnis abgefassten meist 2- bis 6-zeiligen, überwiegend ungereimten Versen. Seit Anfang der 1970er Jahre publizierte R. als Nazi-Verfolgter in England Autobiografisches reflektierende Gedichtsammlungen in »moderner jüdischer Schicksalsdichtung« (Die Totgesagten. Mchn. 1973), Prosa-Texte, an Brecht orientierte Fabeln (Geschichten aus Ithiopien. Höhr-Grenzhausen 1971) u. Mundart-Erzählungen. In heiteren, manchmal skurillen Genre-Bildern zeichnet R. in der selbstiron. Attitüde des Berichterstatters in den volkstümlich-deftigen, bodenständig»realistischen« Ansichten u. Leidenschaften humor- u. liebevoll typische Charakterzüge von Land u. Leuten der Pfalz. Beliebt u. erfolgreich sind von den Mundart-Dichtungen u. a. die 1993 (Speyer, 5. bzw. 3. Aufl. zusammengefasst) zusammengefasst veröffentlichten Geschichten-Sammlungen Zwei Pfälzer in Paris (Ludwigshafen 11980) u. Mach de Babbe net struwwlich (Ludwigshafen 11981). R.s parabelhaft u. metaphorisch die Themen der PdF aufnehmenden Prosa-Erzählungen Die Rettung durch Noah (Bln./DDR 1988) u. Solly und die 99 Engel (Mannh. 1988) sowie die amüsant-sublime KriminalgeschichtenSammlung Der Tollkirschenmord (Bln. 1997) sind bislang weniger bekannt. R.s lyr. Hauptwerk, die Faktenposie, erfährt seit Ende des Kalten Krieges breitere Anerkennung. Sein Testament als Dichter hinterließ R. u. a. in seinem letzten großen, abgeschlossenen Tagebuch-Projekt Fin-de-siècle – die letzten 1000 Tage (d.i. des 20. Jh., Speyer 2000). R. besichtigt sein Zeitalter kritisch. Der »realistische Optimist« zeigt sich zuversichtlich, dass die Kluft zwischen dem ethisch-moralischen u. dem wissenschaftlichtechn. Fortschritt einer »globalisierten« Menschheit verringert wird. Seit 2006 wird alle drei Jahre der von Jeanette Koch-Reinfrank gestiftete, mit 5000 Euro dotierte Arno-Reinfrank-Literaturpreis von der Stadt Speyer vergeben, erstmals an

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Jan Wagner. R.s Nachlass betreuen Jeanette Koch-Reinfrank u. Helen Reinfrank in London sowie das Landesbibliothekszentrum/ Pfälzische Landesbibliothek. Weitere Werke: Hauptwerk: Feuerbefragung. Nachwort v. Guy Stern. Poesie der Fakten 3. Mchn. 1977. – Kernanalyse. Poesie der Fakten 4. Hünstetten 1983. – Jahrtausend-Fürbitte. Poesie der Fakten 6. Bln. 1991. – Bärentanz. Speyer 1994 (= Poesie der Fakten 8). – Gedichtsammlungen: Pfennigweisheiten. G.e u. Fabeln. Bln./DDR 1959. – Vor der Univ. Fürstenfeldbruck 1959. – Deutschlandlieder zum Leierkasten. Satir. Balladen. Bln./West 1968. – Die Totgesagten. Moderne jüd. Schicksalsdichtung. Mchn. 1973. – Kopfstand der Pyramide. Nachw. v. Theodor Karst. Mchn. 1974. – Heuschrecken am Horizont. Bln./West 1984. – Babylon. Lieder. Gedichtzyklus. Bln./DDR 1985. – Tartar. Liebe. Szen. Gedichte. Oberhausen 1985. – Was wollt ihr auf meiner Prärie? Ein Zyklus Westernlyrik. Bln. 1995. – Veröffentlichungen in bzw. über Mundart: Der erot. Otto. Aus dem pälzer sowie kurpälzer Liewesleewe. Ludwigshafen 1983. – Ein Butler aus der Pfalz. Speyer 1992. – Die Krodd in de Dudd. Die Kröte in der Tüte. Un weiterer pälzer Schmus. Speyer 1997. – (Hg. Jeanette Koch-Reinfrank) A. R. Moi Pälzer Werterbuch: vom Mutterwitz der Umgangssprache. Mit vielen Anekdoten zur Gesch. der Wörter. Speyer 22007. – Theaterstücke: Das Manöver findet bei Straubs auf der Veranda statt. Bln./West 1976. Urauff. 22.3.1975, Wuppertaler Kammerspiele, Wuppertal. – Plutonium hat keinen Geruch. Bln. 1978. – Proben mit Schiller oder Der Mannemer Aff. Komödie (Neufassung). Speyer 1987. Urauff. 6.8.1987, Theater im Hemshof, Ludwigshafen. – Alles wege de Kohle. Urauff. Boulvard Theater Deidesheim 16.4.1999. – Hörspiele: Pryscilla u. der Columbus. Südwestfunk 1964. – Eine geheime Ansichtssache. Südwestfunk 1972/73. – Übersetzungen: Hugh MacDiarmid: Die hohe Felsenküste (On a raised beach). Nachdichtung v. A. R. Bln./West 1969. – (mit Clive Barker) Bertolt Brecht: The Days of the Commune. London 1978. Urauff. Royal Shakespeare Company 1977, Aldwych Theatre 1977. Literatur: Bibliografie: Jeanette Koch (Hg.): A. R. Zeitzeuge – Lyriker – Querdenker; ein bibliogr. Ber. Speyer 2001. – Weitere Titel: Guy Stern: Wiss. u. Lit.: A. R. als ›Poet der Fakten‹ (1978). In: Ders.: Lit. im Exil. Ges. Aufsätze 1959–89. Ismaning 1989, S. 349–366. – Rolf Paulus: Die Poeten u. die Fakten. Naturwissenschaftlich-techn. Elemente in der dt. Lyrik. In: Der Humanist 6 (1981), S. 167–170. – Jerry Glenn: A. R.: Satirist, Holocaust Poet, and Poet of Facts. In: CG 14/1 (1981), S. 26–47. – Tho-

Reinfried von Braunschweig

519 mas K. Dullien: A. R.s ›Poesie der Fakten‹. Sachlyrik in einer neuen Perspektive. Diss. The University of Utah, Salt Lake City 1984. – Theodor Karst: ›Sommerlied und Technik‹. Zur Poesie der Fakten v. A. R. In: Und immer ist es die Sprache. FS Oswald Beck. Hg. Nikolaus Hofen. Baltmannsweiler 1993, S. 133–140. – R. Paulus: A. R. In: KLG. – Ausstellungen: A. R. Rückblick auf ein Schriftstellerleben. Begleith. zur Ausstellung im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz/Pfälzische Landesbibliothek, 13.11.2004–15.1.2005. Speyer 2005. Stephan Lobert

Reinfried von Braunschweig. – Späthöfischer Versroman, um 1300. Das epische Fragment eines anonymen Dichters mit alemannischer Mundart bricht nach 27.627 Versen mitten im Satz ab. Den Terminus post quem für die Entstehungszeit bildet der vom Erzähler beklagte Verlust Akkons, der letzten Kreuzfahrerfestung im Hl. Land (1291). Zwar repräsentiert der Roman eine Fassung der Braunschweiger Löwensage, von der sonst nur spätere literar. Ausformungen erhalten sind – im zweiten Teil gibt die Heimkehrergeschichte eines Herzogs von Braunschweig das Ziel der Handlung vor. Doch die wiederholt geäußerte Annahme, der R. v. B. sei als Welfendichtung zu betrachten, bleibt Vermutung. Im Werk selbst, das in einer einzigen Handschrift erhalten ist, finden sich dafür keine eindeutigen Hinweise; Angaben zu einem mögl. Gönner oder Adressaten fehlen. Auch eine Nachwirkung bei anderen Autoren ist nicht greifbar. Im Mittelpunkt des R. v. B. steht Reinfried, Herzog von Braunschweig, Sachsen u. Westfalen, der als idealer Landesherr, höf. Ritter u. vorbildl. Kreuzfahrer präsentiert wird. Im ersten Teil (12.373 Verse) wird die Minnegeschichte Reinfrieds u. der dän. Königstochter Yrkane erzählt. Erst nachdem der junge Herzog in einem Gerichtskampf angetreten ist, um ihre Ehre zu verteidigen, kann er die Minnepartnerin als Gattin heimführen. Minne u. Turnier bilden die themat. Schwerpunkte: Der ritterl. Fürst u. die »minneclîche« Yrkane verkörpern Idealtypen, die der literar. Tradition einer höf. Kultur verpflichtet sind. Da dem Paar ein Nach-

komme versagt bleibt, gelobt Reinfried zehn Jahre später eine Kreuzfahrt ins Hl. Land. Es gelingt ihm, Jerusalem für die Christenheit zurückzugewinnen. Doch nachdem er sich vom unbeirrbaren »miles christianus« zum toleranten Heidenfreund gewandelt hat, bricht er mit dem Perserkönig zu einer Reise in den Orient auf (8989 Verse). Die Erinnerungen an Land u. Minnepartnerin verblassen: Pygmäen, Greifen, Wundervölker, Amazonen u. die Begegnung mit einer Sirene am Magnetberg ziehen den neugierigen Reisenden in ihren Bann. Der Roman bricht ab, als Reinfried bei der Heimkehr nach Sachsen von seinen Gefährten allein auf einer Insel zurückgelassen wird. Zahlreiche beschreibende, belehrende u. reflektierende Exkurse geben dem Erzähler Gelegenheit, biblisches, antikes, naturkundl. u. ethnograf. Wissen einzuflechten. Die wichtigsten Referenztexte aber stammen aus der mhd. Literatur. Nicht zuletzt deshalb wurde das Werk früher als »Epigonendichtung« abgewertet. Doch der stete Rückgriff auf verbindl. Traditionen ist nicht zu trennen vom Blick auf die eigene Gegenwart, die direkt oder indirekt berücksichtigt wird. Aus den vielfältigen Überschneidungen der verschiedenen Ebenen ergibt sich die eigentümliche, oft als widersprüchlich verstandene Komplexität des Romans. Die erzählte Handlung ist in die geograf. Realität verlegt; sie umfasst das dt. Reich, das Palästina der Kreuzzüge sowie den »wunderbaren« Orient, dessen ethnograf. Richtigkeit durch die gängige »imago mundi«-Literatur u. den Alexanderroman als verbürgt galt. Gleichzeitig kommt in Exkursen immer wieder die – vom Erzähler negativ beurteilte – moralische Befindlichkeit der Zeitgenossen in den Blick. Als Zeitklage impliziert diese Kritik die Wahrnehmung einer außerliterar. Wirklichkeit, in der die rechte Weltordnung bedroht erscheint. Vor allem in Prolog u. Binnenprolog (V. 12.659–12.918) wird ein didakt. Impetus deutlich: Den zeitgenöss. Fürsten soll mit Herzog Reinfried ein positives Gegenbild gegenübergestellt werden, wobei sich zgl. eine Gemeinschaft mit den Lesern, den »frumen« Menschen, ergibt.

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Maßstäbe für die themat. Schwerpunkte mehr gibt, fasst man den Orientteil zuneh»Minne« u. »Aventiure« setzen die Protago- mend als eigenständige Einheit auf: Betont nisten der ritterlich-höf. Dichtung, allerdings werden Veränderungen gegenüber den je nach Rolle Reinfrieds (als Minneritter, Werthorizonten des ersten Teils oder auch Kreuzfahrer, Orientreisender) auf je unter- innovative Aspekte, etwa dass der Reiz des schiedl. Weise. Partielle Struktur- u. Wortzi- Fremden keiner Rechtfertigung bedarf. tate daraus verdeutlichen zgl. die ArbeitsAusgaben: Hg. Karl Bartsch. Tüb. 1871. – Faks.weise eines Dichters am Ausgang des 13. Jh., Ausg. der Hs. [...]. Hg. Wolfgang Achnitz. Göpp. der Erwartungshaltungen eines kundigen 2002 (mit Einl.). Publikums u. deren Umkehrung souverän Literatur: Wolfgang Harms: ›Epigonisches‹ im miteinbezieht. So wird – kurz vor der Abfahrt ›R. v. B.‹ (zuerst 1965). Neudr. in ders.: Kolloins Hl. Land – im Rückgriff auf Hartmanns quialität der Lit. Stgt. 2006, S. 233–242. – Otto Erec ein ambivalentes Signal für das Ver- Neudeck: Continuum historiale. Zur Synthese v. ständnis der Orientfahrt gegeben: Reinfried tradierter Geschichtsauffassung u. Gegenwartserfahrung im ›R. v. B.‹. Ffm. u. a. 1989. – Herfried beschuldigt sich selbst unritterlicher PassiviVögel: Naturkundliches im ›R. v. B.‹ [...]. Ffm. u. a. tät, er habe sich zu Hause »verlegen«. Später 1990. – Walter Haug: Von ›aventiure‹ u. ›minne‹ zu allerdings droht er dem anderen Extrem zu Intrige u. Treue. Die Subjektivierung des hochhöf. verfallen: Getrieben von Neugier, vergisst er Aventüreromans im ›R. v. B.‹ (zuerst 1990). Neudr. im Wunderorient wiederholt seine Ver- in: Ders.: Brechungen auf dem Weg zur Indivipflichtungen, sodass Herrschaft, Minnebin- dualität. Tüb. 1995, S. 301–311. – Christian Kiedung u. Familie gefährdet erscheinen, wie die ning: ›wer aigen mein die welt ...‹. Weltentwürfe u. vorwurfsvollen Briefe aus Sachsen nahelegen. Sinnprobleme dt. Minne- u. Abenteuerromane des (Yrkane hat mittlerweile einen Sohn gebo- 14. Jh. In: Literar. Interessenbildung im MA. Hg. ren.) Aber gerade das überlieferte gelehrte Joachim Heinzle. Stgt. 1993, S. 474–494. – Klaus Ridder: Mhd. Minne- u. Aventiureromane. Fiktion, Wissen ist es, das eine »Krise« des Helden Gesch. u. literar. Tradition im späthöf. Roman: ›R. verhindern hilft. Am Magnetberg, dem Ort v. B.‹, ›Wilhelm v. Österreich‹, ›Friedrich v. der Umkehr des Reisenden, werden durch Schwaben‹. Bln./New York 1998. – Christine WandReinfrieds Lektüre u. durch Augenzeugen- Wittkowski: Der vergnügte Reisende als Romanberichte die Grenzen menschl. Wissbegier held. ›R. v. B.‹ u. der Bruch mit der Tradition. In: angesichts der Allmacht Gottes aufgezeigt. Poetica 32 (2000), S. 327–350. – Wolfgang Achnitz: Zu diesem Zweck sind unterschiedlichste Babylon u. Jerusalem. Sinnkonstituierung im ›R. v. Überlieferungskomplexe (Vergil-Sagen, Her- B.‹ u. im ›Apollonius v. Tyrland‹ [...] Heinrichs v. zog Ernst u. Alexanderroman) miteinander ver- Neustadt. Tüb. 2002 (S. 55, 94 f., 128–131: Überknüpft u. in die Heilsgeschichte eingebun- sichten zu Inhalt u. Erzählerkomm.). – Martin Baisch: ›durchgründen‹. Subjektivierung u. Objektiden, deren Ablauf selbst der babylonische vierung von Wissen im ›R. v. B.‹. In: InszenierunZauberer Savilon 1200 Jahre vor der Geburt gen v. Subjektivität in der Lit. des MA. Hg. ders. Christi nicht stören konnte. Die vielfältigen Königsst./Ts. 2005, S. 186–199. Anette Syndikus Wissensbereiche verweisen den Leser also bei aller Heterogenität immer wieder auf eine übergreifende geschichtl. Konzeption. Rein- Reinhard, Franz Volkmar, * 12.3.1753 fried selbst reagiert freilich nicht auf dieses Vohenstrauß/Oberpfalz, † 6.9.1812 Dresvom Erzähler präsentierte Wissen, sodass den. – Oberhofprediger. seine proklamierte Vorbildlichkeit ins Wan- R. stammte aus einem Pfarrhaus. Früh verlor ken geraten kann. er die Eltern. Nach dem Besuch des GymnaAusgehend von der Komplexität u. der sium poeticum u. des Auditoriums in ReTendenz zur »Summe«, die der R. v. B. mit gensburg studierte er Theologie u. Philosoeiner Reihe von zeitgenöss. Werken teilt, phie in Wittenberg. 1780 wurde er dort a. o. wurde in jüngerer Zeit das Spektrum der Prof. der Philosophie u. 1782, nach Erwerb Deutungsmöglichkeiten erheblich erweitert. des Dr. theol., außerdem o. Prof. der TheoDa es – anders als im Artusroman – kein einheitsstiftendes Zentrum der Erzählwelt

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logie. 1792–1812 war er Oberhofprediger in Reinhard, Karl (von), * 20.8.1769 HelmDresden. stedt, † 24.5.1840 Zossen. – Lyriker, ErPhilosophisch ging R. von Christian Au- zähler, Herausgeber, Übersetzer, Publigust Crusius aus, wandte sich dann aber in zist. einer schweren Jugendkrise, über die er in seiner homilet. Autobiografie Geständnisse R. studierte in Helmstedt, wo sein Vater seine Predigten und seine Bildung zum Prediger Universitätsstallmeister war, u. scheint hier betreffend [...] (Sulzbach 1810) berichtete, den Grad eines Magisters der Philosophie Christian Wolff zu. Die krit. Philosophie erworben zu haben. 1789–1791 war er HofKants lehnte er ab. Theologisch war er einer meister bei den Grafen Stolberg-Wernigerode; hier kam er in Verbindung mit dem der Wortführer des Supranaturalismus. R. war der erfolgreichste Prediger der dt. Halberstädter Dichterkreis um Gleim. 1792 Aufklärung. Seine Predigten, die er in der trat er in Göttingen als Privatdozent auf (vgl. Sophienkirche in Dresden hielt, wurden seine Einladungsschrift Ueber die jüngsten sonntäglich von 3000 bis 4000 Menschen Schicksale der alexandrinischen Bibliothek. Gött. besucht. Sie wurden jahrgangsweise publi- 1792) u. hielt Vorlesungen über dt. Stilistik ziert u. vielfältig nachgeahmt. Davon sind rd. (Erste Linien eines Entwurfs der Theorie und Lite850 erhalten. Nach den Vorbildern der anti- ratur des Deutschen Styles. Gött. 1796). Prägend ken Rhetorik streng disponiert, ist es ihr wurde die Freundschaft mit Bürger, dessen Grundanliegen, die Menschheit religiös-sitt- Werke u. Nachlass er edierte (Gottfried August lich zu bessern, um so den Fortschritt in der Bürger. Sämmtliche Schriften. 4 Tle., Gött. 1796 Geschichte voranzutreiben. Impliziert ist hier u. weitere Ausgaben; zuletzt Ästhetische eine zunehmende Kritik am Zeitgeist, d.h. an Schriften von [...] Bürger. Bln. 1832). Anonym der aufkommenden moralischen Ungebun- gab er die apologet. Dokumentensammlung denheit u. Unkirchlichkeit, an der Französi- über Bürgers dritte Ehe mit Elise Hahn herschen Revolution u. Napoleon, der Sachsen in aus ([...] Bürger’s Ehestands-Geschichte. Bln./ den Rheinbund gezwungen hatte. Nachdem Lpz., recte Hbg. 1812). R. blieb bis 1806 in die Erweckungsbewegung seinen Stern hatte Göttingen. Danach lebte er als vielseitig tätisinken lassen, war R. fast vergessen, bis er von ger freier Schriftsteller: 1807–1811 in Ratzeder predigtgeschichtl. Forschung der 1970er burg, 1811–1824 in Hamburg u. Altona, ab 1824 in Berlin u. Potsdam, zuletzt in Zossen. Jahre wiederentdeckt wurde. Weitere Werke: Vorlesungen über Dogmatik. Seit Mitte der 1820er Jahre nannte er sich Nürnb./Sulzbach 1801. 51824. – System der christl. »von Reinhard«, ohne dass eine NobilitieMoral. 5 Bde., Reutl. 1802–16. – Sämtl. Predigten. rung nachweisbar wäre. 42 Bde., Reutl. 1815–21. R.s zersplittertes Schaffen lässt sich keiner Literatur: Karl Heinrich Ludwig Pölitz: D. F. V. bestimmten Richtung zuordnen, obwohl R. nach seinem Leben u. Wirken dargestellt. 2 Bde., Tendenzen der Spätaufklärung erkennbar Lpz. 1813–15. – Harald Martin: Die Bedeutung des sind. Eigenständige poet. Leistung sind einiTheologen F. V. R. unter bes. Berücksichtigung ge seiner formal gewandten, der Lyrik des seiner homilet. Wirksamkeit. Diss. Jena 1965. – Göttinger Hains nahestehenden Gedichte Christian-Erdmann Schott: Möglichkeiten u. (gesammelt: Gedichte. Bde. 1 u. 2, Gött. 1794. Grenzen der Aufklärungspredigt. Dargestellt am Bd. 3, Münster 1803. Neubearb. Altona Beispiel F. V. R.s. Gött. 1978. – Karl August Ruppel: Theologie u. Wirtschaft. Hildesh. u. a. 1999. – Ha- 1819), namentlich die der Helmstedter, rald Rabe: Die Veränderung im Freiheitsverständ- Wernigeroder u. frühen Göttinger Zeit. Nenis v. F. V. R. durch die Aufnahme luth. Theologie. ben vielfacher Herausgebertätigkeit (z.B. Diss. Lpz. 2004 (Online-Publikation). – Susanne Göttinger »Musenalmanach«, 1795–1806. Siebert: R. In: Bautz. – C.-E. Schott: R. In: NDB. Kleine Romanen-Bibliothek. Gött. 1798–1802) u. Christian-Erdmann Schott / Red. Übersetzungen stehen zahllose Almanach- u. Zeitschriftenbeiträge meist poetischer, (populär-)wiss. u. histor. Art sowie Rezensionen in verschiedenen Periodika.

Reinhard Literatur: Heinrich Döring in: NND 18 (1840), S. 612–616 (mit Bibliogr.). – Eduard Förstemann: R. In: ADB. – Goedeke 5, S. 423.7, S. 373 f. 14, S. 736. Matthias Richter / Red.

Reinhard, Karl Friedrich Graf von (seit 1815), * 2.10.1761 Schorndorf/Württemberg, † 25.12.1837 Paris; Grabstätte: ebd., Montmartre. – Französischer Diplomat, deutsch-französischer Literat. Von seiner Familie für das Pfarramt bestimmt, studierte R. seit 1778 am Tübinger Stift u. schloss 1780 das Studium generale mit einer Magisterarbeit über arab. Dichtkunst ab. Neben dem Theologiestudium (1780–1783) widmete er sich der frz. Sprache u. Literatur u. verfasste im Wettstreit mit anderen Stiftlern (u. a. Karl Philipp Conz u. den Brüdern Stäudlin) von Klopstock, dem Hainbund u. Bürger inspirierte Gedichte, von denen er 26 im »Schwäbischen Musenalmanach« (1782–87 u. 1792/93) unterbrachte. Im Jan. 1782 gründete R. mit Conz, Christoph Gottfried Bardili, Karl Friedrich Stäudlin u. a. einen kurzlebigen Dichterbund. Von Lavater in der vorgezeichneten Laufbahn bestärkt, wurde R. 1783 Vikar in Balingen; als Lyriker u. Übersetzer aus dem Lateinischen (Alb. Tibullus. Nebst einer Probe aus dem Properz und den Kriegsliedern des Tyrtäus [...]. Mit einem Anhang von eigenen Elegien. Zürich 1783) betätigte er sich weiterhin. Das öffentl. Aufsehen nach der Publikation seiner Abrechnung mit dem Tübinger Stift im »Schwäbischen Museum« (Einige Berichtigungen und Zusätze den Aufsatz im Grauen Ungeheur Nr. 9, Über das theologische Stift in Tübingen betreffend. Bd. 1, Kempten 1785, S. 245–291) bot R. den willkommenen Anlass zur Aufgabe des Pfarrerberufs. 1786 ging er als Hauslehrer in die Schweiz, 1787 nach Bordeaux, wo er der Société des Amis de la Constitution beitrat. Ein geplantes mehrbändiges Werk über die Französische Revolution kam über den Anfang, Übersicht einiger vorbereitender Ursachen der Französischen Staatsveränderung, in Schillers »Thalia« (H. 12, 1791, S. 31–77) nicht hinaus. Mit befreundeten Girondisten ging R. im Sept. 1791 nach Paris, wo er mit Pierre Victurnien Vergniaud

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u. Jean-François Ducos in einer polit. Arbeitsgemeinschaft lebte. Zgl. war er Korrespondent des »Moniteur universel« u. Mitarbeiter von Archenholtz’ »Minerva«. 1792 mit Bürgereid als Franzose naturalisiert, wurde R. auf Empfehlung seines Freundes Abbé Sieyès u. seines Förderers Talleyrand Erster Legationssekretär in London u. avancierte fortan rasch im diplomat. Dienst Frankreichs. Nach Stationen in London u. Neapel 1795 Gesandter bei den dt. Hansestädten in Hamburg, fand R. Anschluss an den revolutionsfreundl. intellektuellen Zirkel um Georg Heinrich Sieveking u. Johann Albert Heinrich Reimarus, dessen Tochter Christine er 1796 heiratete. R. lernte dort u. a. Friedrich Heinrich Jacobi, Klopstock, Wilhelm von Humboldt u. Sulpiz Boisserée kennen. Weitere Stationen seiner Diplomatenlaufbahn waren Florenz (1798/ 99), Paris (1799/1800, als Interims-Außenminister), Bern (1800/01) u. Hamburg (1802–05). Für einen folgenschweren polit. Fehler verantwortlich gemacht, bedeuteten R.s Abberufung (1805) u. seine Mission als Generalkonsul u. Resident für die türk. Donauprovinzen (1806) eine Art Strafversetzung. In Jassy lernte R. den österr. Diplomaten u. Orientalisten Joseph von HammerPurgstall kennen, mit dem er eine langjährige, vom gemeinsamen Interesse an arab. Literatur geprägte »politikferne« Brieffreundschaft führte. Zwei Monate nach seiner Verschleppung durch russ. Truppen kam R. auf Intervention des Zaren frei (Jan. 1807). Im Frühsommer 1807 lernte R. in Karlsbad Goethe kennen; ihre enge Freundschaft fand Ausdruck in ihrer regen Korrespondenz über Literatur, Kunst u. Wissenschaften. R. setzte sich nachdrücklich für die Rezeption von Goethes Werken in Frankreich ein. 1808 bis 1813 amtierte R. als Familienminister am Hof des Königs Jérôme von Westphalen in Kassel, von wo aus er in Paris um Reform- anstelle von Besatzungspolitik warb. Nach Napoleons Niederlage bei Leipzig kehrte R. im Nov. 1813 nach Paris zurück. Als Gesandter am Deutschen Bundestag u. bei der Freien Stadt Frankfurt (1815–1829) begegnete R. 1822 dem sachsen-weimarischen Kanzler Friedrich von Müller, mit dem er

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fortan korrespondierte. 1829 abberufen, war R. nach der Julirevolution 1830 zunächst kommissarischer Außenminister Frankreichs u. 1830–1832 Gesandter an den sächs. Höfen in Dresden. Von Zeitgenossen wurde R. postum als gewandter Diplomat u. geistreicher Verfasser diplomatischer u. privater Korrespondenz gewürdigt, so von Talleyrand vor der Akademie der moralischen und polit. Wissenschaften (Eloge de M. de Comte Reinhard prononcé à l’Académie des sciences morales et politiques par M. le Prince de Talleyrand dans la séance du 3 mars 1838. Institut royal de France. Paris 1838), deren Vizepräsident R. gewesen war, u. von Louis Baron de Bignon vor der Pairskammer (Eloge funèbre du comte Reinhard, prononcé le 14 mai 1838 à la Chambre de pairs. In: Le Moniteur universel, 15.5.1838), der R. seit seiner Ernennung zum Pair de France 1832 angehört hatte. R. gilt als Kosmopolit mit zwei Vaterländern, der dem übernat. Denken der Spätaufklärung ebenso treu blieb wie den Idealen der Französischen Revolution. Heute hebt die Forschung bes. R.s Bedeutung für den dt.-frz. Kulturtransfer hervor. Nachlass und Werke: Delinière 1989 (s. u.), S. XIV-XVI, XVI-XVIII. – Goedecke 7, § 300, 10. Literatur: Jean Delinière: K. F. R. [...]. Stgt. 1989. Frz. Paris 1983. – Jean Tulard: Charles-Frédéric R. In: Dictionnaire Napoléon. Paris 21995, S. 1450. – Ina Ulrike Paul: R. In: NDB. – Inge Grolle: Eine Diplomatenehe im Banne v. Napoleon u. Goethe. K. F. R. (1761–1837), Christine R., geb. Reimarus (1771–1815). Bremen 2007. – Ulrike Hasemann-Friedrich: ›Ich erschien mir als Mensch ohne Vaterland.‹ K. F. R. (1761–1837) – ein Württemberger im frz. Diplomatendienst. Hbg. 2007. Ina Ulrike Paul

burg u. Jena (Bekanntschaft mit August Wilhelm u. Friedrich Schlegel). Politische Äußerungen ab 1795 in Briefen an seinen Bruder Karl Friedrich zeigen ihn als Anhänger der Französischen Revolution. 1797 erschien sein Versuch einer Theorie des Gesellschaftlichen Menschen (Lpz., Gera. Neudr. Kronberg 1979). In beiden Büchern erwies sich R. als Kantianer, doch versuchte er stärker als Kant, die Philosophie auf alle Lebensbereiche anzuwenden u. zu popularisieren. Von März 1798 bis in den Herbst 1803 lebte R. in Köln u. wirkte dort am Aufbau der neuen polit. Verhältnisse mit. Er wurde 1798 Mitgl. des Konstitutionellen Zirkels u. war Herausgeber der Zeitung »Beobachter im Ruhrdepartement«, in der er sich um unparteiische Darstellung, philosophisch fundierte Deutung der Ereignisse u. republikan. Grundsätze bemühte. Im Nov. 1799 wurde er Geschichtsprofessor an der Kölner Zentralschule (Universität). R. begrüßte zunächst den Staatsstreich Napoleons (seine um 1800 veröffentlichte Schrift darüber ist verschollen), verließ jedoch im Herbst 1803 resigniert den frz. Herrschaftsbereich u. wurde Philosophieprofessor in Moskau. Aus dieser Zeit ist nur seine gelegentl. Mitarbeit an der »Allgemeinen Literaturzeitung« in Halle bekannt. 1812 floh R. vor den napoleon. Truppen, erkrankte u. starb. Neben dem älteren Bruder weitgehend vergessen, wurde R.s polit. Lebensweg erst in den 1970er Jahren von der dt. Jakobinerforschung dargestellt. Weitere Werke: Neue Organisation des Religionswesens in Frankreich. Köln 1803. Literatur: Axel Kuhn: Jakobiner im Rheinland. Stgt. 1976, S. 73–80 u. ö. Axel Kuhn / Red.

Reinhard, Philipp Christian, * 2.12.1764 Schorndorf/Württemberg, † 7.11.1812 Reinhardt, Karl, * 14.2.1886 Detmold, Nischni-Nowgorod. – Popularphilosoph. † 9.1.1958 Frankfurt/M. – Klassischer Philologe. Der Sohn eines Pfarrers besuchte nach väterl. Unterricht Lateinschule u. Klosterschule, studierte Theologie in Tübingen u. war 1788 Vikar. Dann wirkte er 1788–1794 als Hauslehrer in Wetzlar. 1794 veröffentlichte er sein erstes Buch, Abriß einer Geschichte der Entstehung und Ausbildung der religiösen Ideen (Jena), u. lebte als Privatgelehrter in Marburg, Ham-

Der Sohn eines Frankfurter Gymnasialdirektors u. späteren Beamten im Berliner Kultusministerium studierte 1905–1910 Klassische Philologie in Bonn u. – bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – in Berlin. Nach der Promotion De Graecorum theologia capita duo (Bln. 1910) habilitierte sich R. 1914 in

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Bonn, wurde 1916 a. o. Prof. in Marburg, chen. Gött. 1960. Neudr. 1989 (Aufsätze). – Tradi1919 o. Prof. in Hamburg, 1923 in Frankfurt/ tion u. Geist. Gött. 1960 (Aufsätze). Literatur: Uvo Hölscher: K. R. In: Gnomon 30 M. u. 1942 in Leipzig. 1946 wurde er nach Frankfurt zurückberufen, wo er bis zu seiner (1958), S. 557–560. – Gedenkreden auf K. R. Ffm. Emeritierung lehrte. R. war Mitgl. mehrerer 1959. – Hans-Georg Gadamer: Philosoph. Lehrjahre. Ffm. 1977, S. 151–160. – Hugh Lloyd-Jones: Akademien der Wissenschaften u. der British Blood for the Ghosts. London 1982, S. 238–250. – Academy, 1953 wurde er in den Orden Pour le José S. Lasso de la Vega: K. R. y la filologia clasica en mérite gewählt. el siglo XX. Madrid 1983. – Uvo Hölscher: K. R. u. Im Mittelpunkt von R.s wiss. Arbeit stand Stefan George. In: Die Wirkung Stefan Georges auf zunächst die griech. Philosophie, später die die Wiss. Hg. Hans-Joachim Zimmermann. HeiDichtung. Seine erste große Leistung war eine delb. 1985, S. 97–104. – Friedrich Kittler: K R. Die Studie über Parmenides und die Geschichte der klass. Walpurgisnacht. Entstehung u. Bedeutung. griechischen Philosophie (Bonn 1916). Die Ar- In: Grundlagen der Literaturwiss. Hg. Bernhard J. Dotzler u. a. Köln 1999, S. 71–114. beiten zu Poseidonios (Mchn. 1921), Kosmos und Kjeld Matthiessen / Red. Sympathie (Mchn. 1926) u. Poseidonios über Ursprung und Entartung (in: Orient und Antike 6, 1928), in denen er ein völlig neues Bild dieses Reinhardt, Reinhard, Karl Heinrich Leobedeutenden Philosophen zeichnete, fanden pold, * 17.11.1771 Wittenberg, † 2.4.1824 ihren Abschluss im großen, noch immer un- Leipzig. – Erzähler, Dichter, Übersetzer u. entbehrl. Artikel Poseidonios (in: Paulys Real- Gelehrter. encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. R. stammte aus einer angesehenen Dresdner Bd. 22/1, Stgt. 1953, S. 558–826). Auf Platons Familie: Sein Vater war Hofrat u. seine MutMythen (Bonn 1927) folgten der meisterhafte ter eine Geborene von Haugwitz. Nach der Sophokles (Ffm. 1933), Aischylos als Regisseur und Jugendzeit in Dresden studierte R. in HelmTheologe (Bern 1949) u. das unvollendete Buch stedt Geschichte, in Leipzig u. Wittenberg Die Ilias und ihr Dichter (Gött. 1961), eine groß Jura. Im Juli 1794 habilitierte er sich in Witangelegte Gesamtinterpretation des Epos, die tenberg mit der Abhandlung De initio praeihren Wert behält, auch wenn die Forschung scriptionis in crimine bigamiae. Daraufhin seither andere Wege gegangen ist. wandte sich R. immer stärker der Dichtung u. R. versuchte, die method. Strenge der Alder Philosophie zu u. wurde Privatdozent für tertumswissenschaft, wie Wilamowitz sie Philosophie in Wittenberg. Er war Freimauvorgelebt hatte, zu vereinen mit den neuen rer. In Folge eines Badeunfalls verlor er seiForderungen an die Philologie, die Nietzsche nen Gehörsinn völlig. Nachdem die Wittengestellt hatte. Ein auf gründlicher histor. berger Universität geschlossen worden war, Kenntnis beruhendes, doch intuitives Erfas- siedelte R. nach Merseburg, dann nach Leipsen der »inneren Form« des Denkens eines zig über, wo er bis an sein Lebensende in rePhilosophen, eine fragend u. vergleichend lativ bescheidenen Verhältnissen lebte. den Gegenstand umkreisende, die poet. SiAb 1801 trat R. als Schriftsteller in der Öftuation einfühlsam vergegenwärtigende, die fentlichkeit auf u. beteiligte sich an literar. allg. menschl. Bezüge hervorhebende Inter- Debatten. Er war Mitarbeiter der von Kotzepretation der Dichtertexte, eine expressive bue begründeten Berliner Zeitschrift »Der Sprache, durch Ironie gemildert: Dies sind Freimüthige«, wiewohl er auch Beiträge für die Kennzeichen der wiss. Prosa R.s, der die »Zeitung für die elegante Welt« lieferte, nichts als Philologe sein wollte, aber zgl. deren Herausgeber mit Kotzebue verfeindet auch, ganz gegen seine Absicht, ein glänzen- waren. Gut belegt ist R.s Kritik an der Weider Essayist war, »der reichste Geist seit marer Klassik durch seine Parodien auf GeHofmannsthal«, wie Max Kommerell ihn dichte Schillers (Der Antritt des neuen Jahrhunnannte. derts, Die Götter Griechenlandes, Theklas KlageWeitere Werke: Vermächtnis der Antike. Mit lied Der Eichwald braust), Goethes (König von autobiogr. Skizze: Akademisches aus zwei Epo- Tule) u. durch seinen Schiller-Aufsatz von

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Weitere Werke: Lettres sur Dresde à Madame 1804 im »Freimüthigen«. Unsicher ist, ob R. den Verriss von Tiecks Minneliedern verfass- *** contenant une esquisse de ce que cette ville offre te, der 1803 im »Freimüthigen« erschien. In de plus remarquable aux étrangers. Bln. 1800. – Die jedem Falle war seine Haltung zu den Ro- Nasiade. Ein kom. Heldengedicht, oder Herrn Waahl’s große Nase unter Sang u. Klang durch 100 mantikern insg. positiv. Bereits sein Lilar und Nasenstüber neupoetisch geängstigt. Lpz. 1804 Rosaide (Lpz. 1807. Mikrofiche-Ausg. Mchn. (ohne Verfassername). – Nouveau voyage dans le u. a. 1990–94) trägt den Untertitel Ein ro- Nord et le Midi de l’Allemagne. Paris u. a. 1805. – mantisches Gedicht. In seinem Dichterroman Die Circe v. Glas Llyn. Ein Roman nach dem EngDie Kinder des Lichts und der Nacht (Wittenb. lischen des Walter Scott [Scott untergeschoben]. 1818) karikiert R. zwar den romant. Subjek- Lpz. 1822. – Biographies et Anecdotes des pertivismus des angehenden Dichters Kalli, al- sonnages les plus remarquables de l’Allemagne, lerdings nach dem Muster von E. T. A. Hoff- durant le 18. siècle. Nürnb. 1825–28. – Beiträge im manns eigener Romantik-Kritik. Wie bereits Freimüthigen (1803, 1804, 1808, 1812), in der Ztg. zeitgenöss. Rezensenten beobachteten, ist für die eleg. Welt (1805, 1806, 1814), in der Salina (1812), in der Minerva (1816), in dem Allg. Anzeiauch R.s Roman Der Kreuzzug nach Griechenland ger der Deutschen (1817). – Nachlass: Stadtbibl. (2 Bde., Lpz. 1822) in seiner Vermischung des Altona. – Frels, 136. Alltäglichen u. Wunderbaren Hoffmann zuLiteratur: Neuer Nekrolog der Deutschen. Hg. tiefst verpflichtet. Für R. zentral ist weiterhin Friedrich August Schmidt. 2. Jg., 1824, H. 2, Ildas Vorbild Wielands, dessen spielerisch- menau 1826, S. 1106–1108. – Goedeke, Bd. 6, 365; leichten Ton er nachzuahmen versuchte. Bd. 8, 98. – Meusel-Hamberger, Bd. 15, S. 127 Auch die Technik der narrativen Verschach- (unter R., Kaspar H. L.). – Kosch. Mario Zanucchi telung, die R. in Lilar und Rosaide geradezu manieristisch einsetzt, ist Wieland – etwa Reinhardt, Max (bis 1904: M. Goldmann), dem Oberon – abgeborgt. Bedeutsam ist wei* 9.9.1873 Baden bei Wien, † 31.10.1943 terhin der Einfluss Jean Pauls, wie bereits der New York; Grabstätte: Jüdischer Friedhof Name »Lilar« – wohl in Anlehnung an den bei Hastings on Hudson, dann Tel Aviv. – Landschaftsgarten in Jean Pauls Titan – verÖsterreichischer Schauspieler, Regisseur; rät. In der ihm zugeschriebenen Rezension Theaterintendant, Theaterunternehmer, der ersten drei Bände der Flegeljahre für den Festspielbegründer. »Freimüthigen« 1804 kritisiert R. allerdings Jean Pauls anthropolog. Pessimismus, der er R. fühlte sich nach einer Banklehre in Wien die didakt. Forderung einer »Metamorphose zum Schauspielerberuf in mehrfacher Form ins Bessere« sowohl der Romanfiguren als hingezogen: Als Darsteller von Nebenrollen auch der Leserschaft entgegensetzt. in ersten Engagements in Wien, Pressburg u. R.s Lyrik ist epigonal u. noch dem Geist der Salzburg kam R. nach intensiven Seh- u. Anakreontik verpflichtet, wie auch das en- Hörerfahrungen auf Galerieplätzen des Wiekomiast. Sonett An Gleim bestätigt. Oft vari- ner Burgtheaters 1894 nach Berlin. Er spielte ieren R.s Liebeslieder das alliterierende Bi- zum einen in Otto Brahms naturalistischem nom »Liebe« – »Leben« in der Nachfolge des Theater alte Männer in den Dramen Ibsens, von ihm geschätzten Mimnermos (»Was ist Hauptmanns u. Gorkis u. war seit 1901 kondoch das Leben, was die Lust, wenn die gol- zeptionell an der Gründung des Kabaretts dene Aphrodite fern ist?«). Wie in der Ana- »Schall und Rauch« intensiv beteiligt. 1903 kreontik wird das Pathos stets durch Urba- übernahm R. die Leitung des Kleinen Theanität u. Ironie in Schach gehalten (Orpheus, ters u. des Neuen Theaters am SchiffbauerAus Samuel Johnson). Erwähnenswert sind auch damm. An den Erfolg von Gorkis Nachtasyl R.s lyr. Nachbildungen u. Übersetzungen aus (1904) war R. auch inszenatorisch beteiligt. R. der Anthologia Graeca, Horaz, dem Französi- war Schauspieler, empfand »mit dem Schauschen, Alt-Englischen, Persischen, Arabi- spieler«, der der »natürliche Mittelpunkt des schen u. Indischen. Theaters« (Arthur Kahane: Tagebuch eines Dramaturgen, 1926) ist, u. erfand auf diesem Wege den Beruf des modernen Regisseurs. R.

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kehrte dem naturalist. Theater den Rücken zu; er entwickelte als Regisseur von Dramen Ibsens den neuen impressionist. Stil des »Kammerspiels« der leisen Töne u. Haltungen. Nach der Übernahme als Direktor der Kammerspiele des Deutschen Theaters erzielte R. den eigentl. Durchbruch beim Berliner Publikum als Regisseur eines neuen »Zaubertheaters« 1905 mit seiner Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum. Der gezielte Einsatz der Drehbühne, ein »echter Bühnenwald« des Bühnenbildners Oskar Strnad, die völlig neue Führung der Schauspieler durch einen Regisseur überraschten u. faszinierten die durch den Brahm’schen Naturalismus geschulten Zuschauer. 1905 verkaufte R. das Kleine Theater u. pachtete das Deutsche Theater. 1906 eröffnete er mit Ibsens Gespenster (im Bühnenbild von Edvard Munch) die Kammerspiele, die dem Deutschen Theater angeschlossen waren. R. baute in den Folgejahren auf diesen Erfolgen als Theaterdirektor u. Privateigentümer zahlreicher Bühnen (u. a. Deutsches Theater, Kammerspiele, Großes Schauspielhaus, Zirkusarenen) ein Theatergroßsystem in Konzernform auf; in grandiosen Massenu. Monumentalaufführungen – etwa von Büchners Dantons Tod – führte er seinen Inszenierungsstil ebenso konsequent an unbekannte Grenzen wie mit den raffiniert-deliziösen Inszenierungen im Boulevard- u. Operettenstil an Kleintheatern. Neue Maßstäbe hatte R. mit der Uraufführung von Hugo von Hofmannsthals Elektra (1911) am Deutschen Theater gesetzt. Ein »Seelendrama« wurde inszeniert, während die Uraufführung von Der Rosenkavalier mit dem Libretto Hofmannsthals u. der Musik von Richard Strauß 1911 in Dresden R. als Opernregisseur des Komödiantischen zeigte. Die Großrauminszenierungen griechischer Dramen (König Ödipus, Die Orestie) in der Ausstellungshalle München, im Wiener Zirkus Renz, im Berliner Zirkus Schumann zeigen R. als Meister der Massenregie u. machten ihn in aller Welt bekannt; in einer Pantomime in der Olympia Hall in London waren so bis zu 1400 Statisten u. eine riesige Bühnenmaschinerie im Einsatz. 1915–1918 leitete R. auch die Berliner Volksbühne u. gründete eine Ver-

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suchsbühne Das junge Deutschland, an der er zwei expressionist. Dramen inszenierte. Die Glanzzeit der Berliner Theaterkultur der 1920er Jahre stand u. fiel mit den Namen Erwin Piscator, Leopold Jeßner u. R. Deshalb bedeutete die Verlagerung der Regie- u. Intendantentätigkeit R.s nach Wien u. Salzburg eine entscheidende Wende für die gesamte Berliner Theaterszenerie. Mit der Gründung der Salzburger Festspiele 1920 in Kooperation mit Hofmannsthal u. Strauß wandte sich R. mittelalterlichen (Jedermann), spanischen (Das große Welttheater) Stoffen u. Klassikern (Faust I u. Faust II) in Musterinszenierungen zu u. machte die Stadt Salzburg zum Schauplatz für ein Welttheater im Stil der barocken Feste (neue Schauplätze wie der Domplatz, die Felsenreitschule, das Schloss Hellbrunn, Hecken- u. Naturtheater in u. um Salzburg). 1918 hatte R. das Schloss Leopoldskron in Salzburg gekauft, das bis 1938 zum Künstlertreffpunkt wurde. In Wien erwarb R. das alte Vorstadttheater in der Josefstadt u. erneuerte es als ein »Theater der Schauspieler«, das vom Schauspielensemble unter dem Vorsitz R.s selbst geleitet wurde. Er errichtete eine bis heute bestehende Schauspielausbildungsakademie, das Reinhardt-Seminar, eine Abteilung der heutigen Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Der anschließende neuerl. Wechsel nach Berlin 1924 zeigt R. als Direktor verschiedener Berliner Bühnen (Circus Schumann, Theater am Kurfürstendamm). Das Theater am Kurfürstendamm konzipierte R. als erstes Boulevardtheater für Berlin. Die seit 1929 virulente Wirtschaftskrise u. die polit. Umbrüche trafen R.s Theater. R.s letzte Inszenierung in Berlin war 1933 Das große Welttheater von Calderón u. Hofmannsthal. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sah R. keine Chance, sich im deutschsprachigen Raum weiter künstlerisch zu betätigen. Er ging 1937 von Österreich aus ins amerikan. Exil. Trotz seiner frühen Arbeiten in den 1920er Jahren in den USA gelang es ihm nicht, sich in Kalifornien als Filmregisseur durchzusetzen. Noch einmal konnte der »Zauberer« R. mit seiner Verfilmung des beliebten Sommernachtstraums mit amerikan. Schauspielern u. ins Filmische transponierten

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theatral. Effekten einen Achtungserfolg er- Leisler u. Gisela Prossnitz: M. R. in Europa. Salzb. zielen. Als jedoch sein »Workshop for Stage, 1973. – Gottfried Reinhardt: Der Liebhaber. ErinScreen and Radio« keinen Erfolg brachte, nerungen seines Sohnes Gottfried Reinhardt an M. R. Mchn./Zürich 1973. – Helene Thimig-Reinscheiterte R. künstlerisch u. persönlich. hardt: Wie M. R. lebte. Percha 1973. – Alfred G. R. blieb stets Schauspieler u. ein Mann der Brooks (Kat.-Hg.): M. R. 1873–1973. An Exhibition schauspielerischen Praxis. Er brachte die Commemorating the 100th Anniversary of his Birth. »Schauspieler an die Macht«. Die Aufwer- 7.6.-4.8.1974. The New York Cultural Center in tung des modernen Schauspielers in Theater, Association with Fairleigh Dickinson University, in Film u. später im Fernsehen hat seine Wur- Conjunction with The Max Reinhardt Archive and zeln bei R. Auch wenn er sich selbst nur an- Foundation. New York 1974. – Leonard M. Fiedler: ekdotisch-autobiografisch geäußert hat, har- M. R. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. ren seine Regiebücher, Artikel, Ansprachen, Reinb. 1975. – Edward Harris: M. R. In: Dt. Exillit. Bd. 1, S. 789–800. – Edda Fuhrich-Leisler u. Gisela Interviews u. Briefe noch der systemat. AusProssnitz: M. R. in Amerika. Salzb. 1976. – Heinwertung u. Anwendung. Mit seinen Regie- rich Huesmann: Welttheater R.: Bauten, Spielstätbüchern ist er nicht nur Ahnherr des En- ten, Inszenierungen. Mit einem Beitr. ›M. R.s sembletheaters u. der Allmacht der Regis- amerikan. Spielpläne‹ v. L. M. Fiedler. Mchn. 1983. seure auf heutigen Bühnen, sondern seine – Knut Boeser u. Renate Vatkova (Hg.): M. R. in Impulse sind wegweisend für die Arbeit eines Berlin. Bln. 1984. – Margaret Jacobs u. John Warren konzeptionellen Theaters mit Erlebniswir- (Hg.): M. R. The Oxford Symposium. Oxford 1986. kungen, die das Theater als Fest für alle Sinne – M. R. ›Ein Theater, das Menschen wieder Freude betrachtet. Erstaunlich sind die stilist. Über- gibt [...]‹. Eine Dokumentation. Hg. E. Fuhrich u. G. Prossnitz. Mchn. 1987. – Gudrun Brokophgänge u. Wechselwirkungen zwischen den Mauch: M. R. am Broadway. In: Dt. Exillit. Bd. 2, völlig intimen Kammerinszenierungen der Tl. 2, Bern 1989, S. 1580–1591. – E. Fuhrich u. G. Frühzeit mit den leisen Tönen bis hin zu Prossnitz: M. R. Die Träume des Magiers. Salzb. u. Zirkusveranstaltungen in den Massenthea- Wien 1993. – Dt. Theater (Hg.): Es ist nicht die Welt tern Berlins u. der USA bis hin zur Feier des Scheins [...]. M. R. über das Theater. Bln. 1993. »höfischer« Feste an den barocken Schau- – Karl Arndt: M. R.: Theater – Bauten u. Projekte. plätzen in Salzburg mit den Methoden der Gött. 1994. – Susanne Höper: M. R.: Theater-BauSimultanbühne in der »Faust-Stadt« der ten- u. Projekte: ein Beitr. zur Architektur- u. Felsenreitschule. R. ist keineswegs auf eine Theatergesch. im ersten Drittel des 20. Jh. Gött. 1994. – Christoph Funke: M. R. Bln. 1996. oder mehrere theatral. Stilformen festzuleErnst Fischer / Rudolf Denk gen. Er bevorzugte ein sinnenbezogenes theatral. Fest jenseits von Alltag u. Politik u. blieb auf der Suche nach dem den jeweiligen Reinhart Fuchs ! Heinrich Stücken entsprechenden Stil, experimentierte immer wieder mit neuen Spielformen u. Reinhart, Johann Christian, * 24.1.1761 perfektionierte seine Arbeit als Regisseur, Hof/Oberfranken, † 8.6.1847 Rom; Grabsodass er das eigentl. Vorbild für den Beruf stätte: ebd., Altkatholischer Friedhof. – Maler u. Radierer; Lyriker, Autor von des modernen Regisseurs wurde. Ausgaben: Ausgew. Briefe, Reden, Schr.en u. Szenen aus Regiebüchern. Hg. Franz Hadamowsky. Wien 1983. – Schr.en. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hg. Hugo Fetting. Bln./DDR 1974. – Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hg. Hugo Fetting. Bln./DDR 1989. U. d. T. Leben für das Theater. Bln. 1989. Literatur: Gusti Adler: M. R. Sein Leben. Salzb. 1964. – Heinrich Braulich: M. R. Theater zwischen Traum u. Wirklichkeit. Bln./DDR 21969. – Edda

Streitschriften, Herausgeber. Nach einer soliden humanist. Ausbildung in seiner Heimatstadt bezog der Sohn eines protestant. Geistlichen 1778 die Universität in Leipzig zum Studium der Theologie. Er wandte sich jedoch bald von der Universität ab, nahm Unterricht im Zeichnen u. Malen bei Adam Friedrich Oeser u. besuchte 1783 die Akademie in Dresden. 1784 reiste er im Gefolge Elisa von der Reckes u. lernte u. a. Goeckingk, Bürger, Herder u. Wieland ken-

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nen. Im Freundeskreis in Gohlis bei Leipzig kam er in Kontakt mit Schiller, der ihn zu weiteren dichterischen Versuchen ermutigte; R. verfasste daraufhin Liebesgedichte, Balladen wie Der Vatermörder u. das philosophischpsycholog. Fragment Der Selbstmörder. Seine ersten gezeichneten u. gemalten Varianten zum Thema Auch ich in Arkadien haben wahrscheinlich Schillers Resignation angeregt. 1786/87 wirkte R. am Hof des Herzogs von Sachsen-Meiningen. Ab 1789 lebte er in Italien, wo er neben Joseph Anton Koch zum Begründer der heroischen dt. Landschaftsmalerei wurde. Seine Kunst bildete die Grundlage von Fernows Über die Landschaftsmalerei (1806). Seit 1801 mit der Tochter eines röm. Schachtelmalers verheiratet, verfasste der temperamentvolle, als Originalgenie bekannte R. in bildhafter Sprache seine streitbaren Drei Schreiben aus Rom gegen Kunstschreiberei in Deutschland (Dessau 1833) u. Beiträge zu Kochs Moderner Kunstchronik. 1810/11 war er Mitherausgeber des »Almanachs aus Rom für Künstler und Freunde der bildenden Kunst« (Lpz.). Von Interesse ist sein reger Briefwechsel (u. a. mit Schiller u. dem bayerischen Kronprinzen Ludwig). Nach Maler Müllers Tod 1825 erhielt er einen Teil von dessen Jahrespension. Literatur: Otto Baisch: J. C. R. u. seine Kreise. Lpz. 1882 (mit Werkbeispielen). – Inge Feuchtmayr: J. C. R. Mchn. 1975. – Ausstellungskataloge Schweinfurt 1982 u. Köln 1984. – F. Carlo Schmid: Die Landschaftsgraphik v. J. C. R. u. seinem Umkreis. Bln. 1998. – Ina Weinrautner: R. In: NDB. Ingrid Sattel Bernardini / Red.

Reinhart, Josef, * 1.9.1875 Galmis bei Rüttenen/Kt. Solothurn, † 14.4.1957 Solothurn. – Lyriker, Erzähler, Pädagoge.

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steigerten Qualitätsbewusstsein, auch treu, als er sich in Zürich, Berlin u. Bern zum Gymnasiallehrer weitergebildet hatte u. – 1912–1945 – Deutschlehrer an der Solothurner Kantonsschule war. R.s Prosabücher Heimelig Lüt (Bern 1905), Waldvogelzyte (Bern 1917), Der Galmisbub (Bern 1922), Lehrzyt (Bern 1938) u. v. a. kreisen ebenso wie seine weitere Lyrik (z.B. Im grüene Chlee. Neui Liedli ab em Land. Bern 1913. 4., veränderte Aufl. 1927) um das Thema Heimweh nach der Mutter bzw. nach der verlorenen Kindheit u. sind schon durch den minutiös wiedergegebenen Dialekt auf die immer gleiche Landschaft des Galmis eingeengt, wo R. aufwuchs. Werner Günther erkennt das Geheimnis von R.s Popularität darin, dass er »mit erstaunlichem Feingefühl den Volkston traf, jenen halb innigen, halb schelmisch-witzigen, immer aber vertraulichen und unkompliziert schlichten Ton, der im anscheinend subjektiven Erleben und Sagen das allgemeine Erleben und Sagen spiegelt«. Mit seinen hochdeutschen, zumeist allerdings stark beschönigenden Lebensbildern von Pestalozzi, Gotthelf, General Suter, Graf Zeppelin oder Henry Ford war der Pädagoge R. zgl. ein vielgelesener Jugendschriftsteller. Ausgabe: Ges. Werke. 11 Bde., Aarau 1944–55. Literatur: Solothurnerland – Heimatland. FS zum 70. Geburtstag v. J. R. Aarau 1945 (mit Bibliogr.). – Fritz Wartenweiler: Freu di! Aus dem Leben u. Schaffen v. J. R. Zürich 1955. – Paul Zinsli u. Otto Basler: J. R. Aarau 1958. – Peter Schönborn: J. R. Leben u. Werk. Diss. der Univ. Freib./Schweiz. Gedr. Winterthur 1964. – Werner Günther: J. R. In: Dichter der neuen Schweiz 2. Bern 1968. – Fred Reinhardt: J. R. Motive u. Persönlichkeit. Diss. Bern 1976. – Ernst Zurschmiede-Reinhart: J. R. (1875–1957). Heimat u. Sprachlandschaft als Bereicherung der Innenwelt der Menschen. In: Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz. Hg. Joseph Bättig. Fribourg 1993, S. 75–85. Charles Linsmayer / Red.

Der Bauernsohn besuchte das Lehrerseminar Solothurn u. wurde dann Lehrer in Niedererlinsbach. Hier entstanden, gefördert u. warm begrüßt von Adolf Frey, Jost Winteler Reinhold, Karl Leonhard, * 26.10.1758 u. Otto von Greyerz, den Mentoren der im Wien, † 10.4.1823 Jena. – Philosoph. Gefolge der Heimatschutzbewegung entstehenden Schweizer Dialektdichtung, R.s Liedli Nach den Gymnasialjahren begann R. bei den ab em Land (Zürich 1897. Bern 21908) sowie Jesuiten zu St. Anna in Wien das Noviziat u. Gschichtli ab em Land (Aarau 1901). Der Stillage trat 1774, nach Aufhebung des Ordens, ins dieser beiden Bücher blieb R., bei allem ge- Barnabitenkollegium ein. Hier erhielt er eine

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philosophische u. theolog. Ausbildung, wurde Philosophielehrer u. Novizenmeister. Mit dem Eintritt in die Loge »Zur wahren Eintracht« wandte sich R. vom Mönchtum ab, nahm Partei für die Aufklärung u. floh 1783 nach Leipzig. Von 1784 an weilte er in Weimar u. verfasste Beiträge für den »Teutschen Merkur« Wielands, dessen Tochter Sophie er 1785 heiratete. Zwei Jahre darauf wurde er als Philosophieprofessor nach Jena, 1793 nach Kiel berufen. Erste Buchbesprechungen u. die im »Merkur« erschienenen Aufsätze enthalten ein Bekenntnis zur Aufklärung, an deren Sieg R. glaubte. Im Herbst 1785 nahm er mit der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft ein gründl. Kantstudium auf. Kants Lehre entsprach R.s aufklärerischen Erwartungen; daher brachte er sie in einigen ab 1786 im »Merkur« veröffentlichten Briefen dem Publikum nahe. In ihrer ersten Stunde zählte er zu den bedeutendsten Erklärern u. Verbreitern der krit. Philosophie. Im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (Prag/Jena 1789) führte R. die bis dahin unüberwindl. Meinungsverschiedenheiten unter den Philosophen auf ein von Kant entdecktes u. geklärtes Missverständnis über die Erkennbarkeit übersinnl. Gegenstände zurück. Mithilfe einer Typologie der bisher verwirklichten, jedoch mangelhaften Denkformen wies er den Theisten u. Pantheisten ihre Überschätzung der Möglichkeiten menschlicher Vernunft, den Supernaturalisten u. dogmat. Skeptikern das Gegenteil nach. R. glaubte, der Kant’sche Kritizismus habe das metaphys. Grundproblem gelöst. Nach R. habe Kant der Philosophie durch den transzendentalen Reflexionsmodus sichere Grundlagen gegeben sowie die in den typischen Grundpositionen früheren Denkens schon enthaltenen Teilwahrheiten eklektisch aufgegriffen u. in einem einzigen System widerspruchsfrei verbunden. Das Zeitalter der Dispute sei vorbei u. die Aufklärung ihrem Ziel nahe. Um dem Idealzustand noch näherzukommen, übernahm R. die Rolle des Kantpopularisators u. gleichzeitig die eines Anklägers der sog. Popularphilosophie. Kants Lehre kam R.s religiös motivierten, rigorosen Moralvorstellungen u. seinem Bestreben

Reinhold

entgegen, Wissen u. Glauben, Aufklärung u. Religion miteinander zu versöhnen. Indem er einen umfassenden Begriff der Vorstellung einführte – jede Erkenntnis ist eine Vorstellung, nicht jede Vorstellung eine Erkenntnis –, wollte er nicht bloß Sprachrohr Kants sein, sondern Kant über Kant selbst aufklären. In den Briefen über die Kantische Philosophie (2 Bde., Lpz. 1790 u. 1792) nahm R. seine Vermittlerfunktion weiterhin wahr u. entwarf unter dem Eindruck der Französischen Revolution eine Ethik des Bürgerstandes, dessen Position als goldene Mitte zwischen den Extremen der privilegierten Stände u. der Bauern gepriesen wird. In Fichte, den Baggesen mit R. bekannt gemacht hatte, sah dieser den Vollender der Kant’schen Philosophie. Im Sendschreiben an J. C. Lavater und J. G. Fichte über den Glauben an Gott (Hbg. 1799) teilte R. Fichte mit, dass er dessen Philosophie erst durch Friedrich Heinrich Jacobi richtig verstanden habe. Im Gewissen erkannte R. den durch Reflexion uneinholbaren Wesenskern des Menschen, den Quellgrund göttl. Offenbarung. Später wandte sich R. dem sog. rationalen Realismus Christoph Gottfried Bardilis zu, da dessen Philosophie das Denken ohne empirisch-psycholog. oder metaphys. Zusätze zum Gegenstand philosophischer Reflexion mache. In seinen letzten Schriften hat R. dazu beigetragen, die sprachphilosoph. Indifferenz des dt. Idealismus zu überwinden. Von Hegel wurde R. kritisiert, er habe den Unterschied zwischen dem Fichte’schen u. dem Schelling’schen System nicht erkannt. Schon R. hat mit dem in der gegenwärtigen Ethikdiskussion aufgegriffenen Theorem des Selbstwiderspruchs die Skeptiker widerlegt. Auch die Abneigung des Systemdenkers gegen die bloß erzählende u. deshalb den Wahrheitsanspruch preisgebende Philosophiegeschichtsschreibung kann sich auf R.s Autorität berufen. Weitere Werke: Schr.en zur Religionskritik u. Aufklärung 1782–84. Hg. Zwi Batscha. Bremen/ Wolfenb. 1977. – Über das Fundament des philosoph. Wissens. Über die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wiss. Jena 1790/91. Neudr. Hbg. 1978. – Über die Paradoxien der neuesten Philosophie. Hbg. 1799. – K. L. R. (Hg.): Beyträge zur

Reinick leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie [...]. Hbg. 1801–03. – Grundlegung einer Synonimik für den allg. Sprachgebrauch in den philosoph. Wiss.en. Kiel 1812. Literatur: Bibliografie: Alexander v. Schönborn: K. L. R. Eine annotierte Bibiliogr. Stgt.-Bad Cannstatt 1991. – Weitere Titel: Ernst Reinhold: K. L. R.s Leben u. litterar. Wirken nebst einer Ausw. v. Briefen Kants, Fichtes, Jacobis u. a. philosophirender Zeitgenossen an ihn. Jena 1825. – Alfred Klemmt: K. L. R.s Elementarphilosophie. Hbg. 1958. – Ders.: Die philosoph. Entwicklung K. L. R.s nach 1800. In: Ztschr. für philosoph. Forsch. 15 (1961), S. 79–101. – Hermann-Josef Cloeren: Philosophie als Sprachkritik bei K. L. R. [...]. In: KantStudien 63 (1972), S. 225–236. – Wilhelm Teichner: Rekonstruktion oder Reproduktion des Grundes. Die Begründung der Philosophie als Wiss. durch Kant u. R. Bonn 1976. – Philipp Alfred König: Denkformen in der Erkenntnis. Bonn 1980. – Ders.: R.s Modifikation des Kantischen analyt. Urteils. In: Kant-Studien 73 (1982), S. 63–69. – Gerhard W. Fuchs: K. L. R. – Illuminat u. Philosoph. Ffm. 1994. – Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosoph. Frühromantik. Ffm. 1997. – Die zeitgenöss. Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. R.s. Hg. u. eingel. v. Faustino Fabbianelli. Hildesh. u. a. 2003. – Die Philosophie K. L. R.s. Hg. Martin Bondeli. Amsterd. 2003. – A. v. Schönborn: R. In: NDB. Hanspeter Marti / Red.

Reinick, Robert, * 22.2.1805 Danzig, † 7.2.1852 Dresden; Grabstätte: ebd., Trinitatisfriedhof. – Maler, Illustrator, Lyriker, Jugendschriftsteller u. Herausgeber.

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1831). 1831 zog es ihn an die Düsseldorfer Malakademie, wo er unter Anleitung Schadows an der Wiederbelebung romant. Malerei mitwirkte. Obwohl sein Bild Saul und David in der Höhle Anerkennung fand, verhinderte die Verschlechterung der Sehkraft die Malerkarriere. Immer häufiger tauschte er Pinsel gegen Feder aus. Mit Kugler gab er 1833 das Liederbuch für deutsche Künstler heraus, dem 1837 die Lieder eines Malers (beide Bln.) folgten: ein gemeinsames Unternehmen seines Düsseldorfer Freundeskreises. Beide Bände verdankten ihren Buchhandelserfolg den Versen R.s u. dem hohen Niveau der Buchillustration. Außer Heine u. Geibel wurde kein zeitgenöss. Dichter so oft vertont wie er. Finanziell unabhängig, reiste R. 1838 nach Italien, bis ihn 1841 sein Augenleiden zur Rückkehr zwang. 1844 heiratete er u. zog ins Kunstzentrum Dresden; seine Laufbahn als Jugendschriftsteller (u. a. ABC-Buch für große und kleine Kinder. Lpz. 1845) gipfelte in der Herausgabe des »Deutschen Jugendkalenders« (Lpz. 1847–52). R.s volkstüml. Dichtungsverständnis, das ästhet. Schönheit mit einem christlich naiven Gottesglauben verknüpfte, schloss Politik u. Philosophie weitestgehend aus; zeitbezogene Verse wie zu Rethels Auch ein Totentanz (Lpz. 1849) blieben die Ausnahme. Weitere Werke: Konradin, der letzte Hohenstaufe. Lpz. 1846 (Libretto; Musik v. Ferdinand Hiller). – Hebels alemann. Gedichte. Lpz. 1851 (Übers. ins Hochdt.). – Märchen-, Lieder- u. Geschichtenbuch. Lpz. 1873. – Aus Biedermeiertagen. Briefe R. R.s u. seiner Freunde. Hg. Johannes Höffner. Bielef./Lpz. 1910.

Malerei, Poesie u. Musik bestimmten R.s LeLiteratur: Berthold Auerbach: Lebensskizze. ben. Als Sohn eines Großwarenhändlers In: R. R.: Lieder [1844]. Dresden 1857, S. IX-XXXII. stand ihm der Weg zu gründl. Bildung offen. – Robert Müller: R. R. Diss. Wien 1922. – Eckhard Der frühe Tod seiner Eltern u. ein Augenlei- Grunewald: ›Liederbuch für dt. Künstler‹. Mateden überschatteten die Jugendzeit. Vielfältig rialien zur Entstehungs- u. Wirkungsgesch. In: künstlerisch begabt, ließ er sich von der Aurora 39 (1979), S. 125–154. – Eckhard GruneLektüre Höltys zu erster Poesie anregen. R. wald: R. R. Münster 2007 (Kat.). ging dann aber nach Berlin an die KunstakaRoland Berbig / Red. demie, wurde Schüler Karl Begas’ u. schulte sich in Historienmalerei. R. fand zum Reinig, Christa, * 6.8.1926 Berlin, † 30.9. Freundeskreis um Kugler u. lernte Chamisso 2008 München. – Lyrikerin, Prosa- u. kennen, den er malte u. in dessen »Deutschen Hörspielautorin, Übersetzerin. Musenalmanach« erste Gedichte von ihm erschienen. Für die Nürnberger Dürerfeste (Nach-)Krieg u. Außenseiter, Frauen u. Lesverfasste er Texte zu Bildern Dürers (1828, ben u. zuletzt Lektüre u. Schreiben waren die

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Themen, die R. in ihrer literar. Karriere beschäftigten. Dabei erscheint der Übergang von einem Themenfeld zum nächsten ähnlich abrupt wie ihr bruchstückhafter Stil. Die Meisterin der kleinen Form stammte aus einfachen Verhältnissen. Während des Zweiten Weltkriegs absolvierte sie eine Blumenbinderlehre; nach 1945 war sie Fabrikarbeiterin u. Bürogehilfin. Nach Ablegung des Abendabiturs wurde sie an die Arbeiteru. Bauern-Fakultät delegiert (1950–1953); sie studierte 1953–1957 Kunstgeschichte u. christl. Archäologie an der Humboldt-Universität in Ostberlin. Anschließend war sie als wiss. Assistentin u. Kustodin am Märkischen Museum u. am Pergamon-Museum (Berlin) tätig. Nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik 1964 lebte R. als freie Schriftstellerin in München. Nach einem Treppensturz im Jahr 1971 verschlechterte sich die gesundheitl. Situation der an der Bechterewschen Krankheit Leidenden u. zwang sie in die Frührente. R.s literar. Karriere in der DDR war nur kurz. Bis 1951 konnte sie Gedichte in der satir. Zeitschrift »Ulenspiegel« u. eine Erzählung veröffentlichen, danach war sie auf die Publikation im Westen angewiesen. Sie gab 1949–1960 die Westberliner Zeitschrift »Evviva Future« mit heraus u. war Mitgl. der Gruppe »Zukunftsachliche Dichter«. Den literar. Durchbruch verdankte sie Walter Höllerer, der 1956 in »Transit« die später populär gewordene Ballade vom blutigen Bomme aufnahm. R. schrieb zunächst über Außenseiter u. Randfiguren, verfasste »freche Grabsprüche für Huren, Gammler und Poeten« (Schwabinger Marterln. Stierstadt/Ts. 1969). In ihren Gedichten konzentriert sie sich auf Grenzsituationen (Haft, Folter, extreme Einsamkeit, Brutalität), wobei das Schockierende gerade dadurch unerhört wirkt, dass es beiläufig mitgeteilt wird. Diesen Effekt steigert R. noch durch die souveräne Handhabung der Lyrikformen (von Bänkelsang u. Epigramm bis hin zum experimentellen Gedicht) u. der Verstechnik. Die Reime sind scheinbar kunstlos; sie stellen rein formal Harmonie in einer unästhet. Welt her u. zwingen damit

Reinig

höhnisch zusammen, was eigentlich unvereinbar ist. Doch nicht nur radikalen Sarkasmus u. lakon. Bitterkeit führen die Gedichte vor, sondern auch satir. Verspieltheit (Papantscha-Vielerlei. Exotische Produkte Altindiens. Stierstadt/ Ts. 1971) u. zarte, leise Töne in der lesb. Liebeslyrik. Mit den reimlosen Kalendersprüchen (Müßiggang ist aller Liebe Anfang. Düsseld. 1979) hat R. eine »Zwischenform zwischen allen Stühlen zu einem Ausgang« auf noch unbekannte Freiräume hin gewählt. Ähnlich wie in der Lyrik dominiert auch in der frühen Prosa R.s die Vision: Die Geschichten über extreme Erfahrungen, die häufig im fremden, exot. Raum spielen, kommen als Märchen, Parabeln, (Alp-)Träume daher (Drei Schiffe. Ffm. 1965). Mit R.s Hinwendung zur Frauenbewegung Mitte der 1970er Jahre ändern sich Tonfall u. Szenarien. Die Erzählungen in Der Wolf und die Witwen (Düsseld. 1980) u. Die ewige Schule (Mchn. 1982) finden ihre Gegenstände in der Geschlechterkonstellation; die Beziehung zwischen Mann u. Frau als Verhältnis der Gewaltanwendung wird mit Mitteln des schwarzen Humors, der Satire, auch des direkten Sprechens bloßgelegt. Der rote Faden ihrer Erzählprosa ist ein Moment des Spekulierens über andersartige Lebensentwürfe. R.s Romane basieren auf einzelnen Miniaturen, lose verbundenen Szenen, Notaten, fingierten Dialogen; v. a. der Roman Entmannung (Düsseld. 1976) erzielte breiten Erfolg. Die Protagonisten führen im intellektuell inszenierten Rollenspiel Möglichkeiten des weibl. u. männl. Verhaltens vor. Dabei wird in ironisch gebrochener Form Kritik sowohl am Patriarchat als auch an matriarchal. Wunschvorstellungen geübt. Der souveräne Reflexionsstil unterscheidet R.s Romane von bekenntnishafter Selbsterfahrungsliteratur; dennoch sind sie bis hin zum jüngsten Roman, Die Frau im Brunnen (Mchn. 1984), oft ausgeprägt autobiografisch. In ihren letzten Werken rückte R. verstärkt die Literatur in das Zentrum ihrer Betrachtungen. Während in Simsalabim (Düsseld. 1999) noch die Sprachakteure selbst im Mittelpunkt stehen, wendet sich die Autorin in

Reinkingk

Das Gelbe vom Himmel (Düsseld. 2006) der Sprache selbst zu. Weitere Werke: Der Traum meiner Verkommenheit. Bln. 1961 (E.). – Orion trat aus dem Haus. Stierstadt/Ts. 1969 (E.). – Schwalbe v. Olevano. Stierstadt/Ts. 1969 (L.). – Das Aquarium. Stgt. 1969 (Hörsp.). – Das große Bechterew-Tantra. Stierstadt/ Ts. 1970 (P.). – Hantipanti. Kinderbuch. Weinheim 1972. – Die himml. u. die ird. Geometrie. Düsseld. 1975. – Der Hund mit dem Schlüssel. Düsseld. 1976 (E.). – Die Prüfung des Lächlers. Ges. Gedichte. Mchn. 1980. – Mädchen ohne Uniform. Düsseld. 1981 (E.en). – Sämtl. Gedichte. Mchn. 1984. – Ges. Gedichte 1960–79. Darmst./Neuwied 1985. – Feuergefährlich. Bln. 1985 (L., E.en). – Ges. E.en. Darmst./Neuwied 1986. – Nobody u. a. Gesch.n. Düsseld. 1989. – Glück u. Glas. Düsseld. 1991 (E.en). – Der Frosch im Glas. Neue Sprüche. Düsseld. 1994. Literatur: Wolfgang Maier: C. R. In: Schriftsteller der Gegenwart. Olten 1963. – Dieter Hülsmanns u. Friedolin Reske (Hg.): Gratuliere. Eine FS zum 50. Geburtstag v. C. R. Düsseld. 1976. – C. R.: Abgestorbener Raum. Interview. In: Alternative 20 (1977). – Mein Herz ist eine gelbe Blume. C. R. im Gespräch. Düsseld. 1978. – Manfred Jurgensen: Dt. Frauenautoren der Gegenwart. Bern 1983. – Esther N. Elstun: C. R.s ›Emasculation‹: Male Chauvinism as Science Fiction. In: Women Worldwalkers. Hg. Jane B. Weedman. Lubbock 1985, S. 125–138. – M. Hausmann: Die Poesie der Nüchternheit: C. R. In: Ders.: Zwiesprache. Ffm. 1985, 132–152. – Marie L. Gansberg (Hg.): Gespräche mit C. R. Mchn. 1986. – Veronika Schnell: Blutrünstiges u. Monströses in ›Entmannung‹. Einige Überlegungen zur literar. Aufarbeitung geschlechtsspezif. Gewaltverhältnisse bei C. R. In: Der Widerspenstigen Zähmung. Hg. Sylvia Wallinger u. Monika Jonas. Innsbr. 1986, S. 311–334. – Karl Riha: R. In: KLG. – Angelika Bammer: Testing the Limits: C. R.’s Radical Vision. In: Women in German Yearbook 2 (1986), S. 107–127. – Margret Brügmann: C. R., eine Amazone mit der Feder: subversive Aspekte in C. R.s Roman ›Entmannung‹. In: Kontroversen, alte u. neue. Hg. Albrecht Schöne. Bd. 6, Tüb. 1986, S. 92–96. – Lothar Köhn: Zeit der Weiblichkeit? Zur neueren Lyrik C. R.s. In: Lyrik – Erlebnis u. Kritik. Hg. Lothar Jordan u. a. Ffm. 1988, S. 290–313. – Reinhard Röhl: Zwischen Reading u. Linienstraße: C. R.s ›Ballade vom blutigen Bomme‹ noch einmal gelesen. In: Dt. Balladen. Hg. Gunter E. Grimm. Stgt. 1988, S. 425–443. – M. L. Gansberg: C. R. ›Müßiggang ist aller Liebe Anfang‹ (1979). Ästhet. Taktlosigkeit als weibl. Schreibstrategie. In: ›Wen kümmert’s, wer spricht‹. Hg.

532 Inge Stephan. Köln 1991, S. 185–194. – Cäcilia Ewering: Frauenliebe u. -lit.: (un)gelebte (Vor)Bilder bei Ingeborg Bachmann, Johanna Moosdorf u. C. R. Essen 1992. – Klaudia Heidemann-Nebelin: Rotkäppchen erlegt den Wolf: Marieluise Fleißer, C. R. u. Elfriede Jelinek als satir. Schriftstellerinnen. Bonn 1994. – Kathleen L. Komar: Klytemnestra in Germany. Re-visions of a Female Archetype by C. R. and Christine Brückner. In: GR 69 (1994), H. 1, S. 20–27. – Cathrin Winkelmann: C. R.’s Lesbian Warriers: ›One Sunday during the War‹ of the Genders. In: Queering the Canon. Hg. Christoph Lorey u. John L. Plews. Columbia 1998, S. 234–247. – Peter Maiwald: Vom Inselmenschen. In: Frankfurter Anth. 22 (1999), S. 211–214. – R. Schmid: Sockelguß am ›gußeisernen Paradepferd der Weltgeschichte‹: C. R.s autobiogr. R. ›Die himmlische und die irdische Geometrie‹ als ›Weibsgeschichte‹ aus der Zeit des Kalten Krieges. In: GQ 72 (1999), H. 4, S. 362–376. – Bozena Choluj: C. R.s Spiel mit Leseerwartungen in ihrem Roman ›Entmannung‹. In: Postmoderne Lit. in dt. Sprache. Hg. Henk Harbers. Amsterd. u. a. 2000, S. 187–198. – Sibylle Scheßwendter: Darstellung u. Auflösung v. Lebensproblemen im Werk: C. R. Diss. Univ. Siegen 2001 (elektron. Ressource). – Gerd Holzheimer: C. R. In: LGL. Anneli Hartmann / Birgit Lang

Reinkingk, Reinking, Dietrich, Theodorus, * 10.3.1590 Windau/Kurland, † 15.12. 1664 Glückstadt. – Jurist u. Staatstheoretiker. Die Laufbahn des Sprosses einer alten westfäl. Familie, deren Mitglieder seit Generationen Offiziere u. Hofbeamte gewesen waren, war vorgezeichnet. R. besuchte zuerst die Schule in Osnabrück, seit 1605 die in Lemgo u. seit 1609 das akadem. Gymnasium in Stadthagen, wo er De justitia et jure (Stadthagen 1611) disputierte. Das Studium der Rechte setzte er 1611 in Köln fort. Weitere Studien führten ihn 1614 nach Marburg u. bereits im Jahr darauf nach Gießen, wo er am 7.3.1616 das jurist. Lizentiat u. den Doktortitel (3.10.1616) erwarb u. heiratete. Der Kanzler Gottfried Anton – Begründer der »kaiserlichen« Richtung der Reichspublizistik – dürfte R.s Interesse für Fragen des Reichsstaatsrechts angeregt haben. In seiner Inauguraldisputation, den Conclusiones CCXC. de brachio seculari et ecclesiastico (Gießen 1616), werden die Grund-

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linien seiner »caesarianischen« Interpretation der Reichsverfassung erkennbar, die in seinem Hauptwerk Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico (Gießen 1619 u. ö.) entfaltet erscheint. Nach kurzer Lehrtätigkeit in Gießen folgte er der ehrenvollen Berufung zum Hofrat u. jurist. Berater Landgraf Ludwigs von HessenDarmstadt. 1622 begleitete er den Fürsten zum Regensburger Reichstag; in den folgenden Jahren vertrat er dessen Sache im Marburger Erbschaftsstreit beim Reichshofrat mit Erfolg. Der weitere Lebensweg R.s wurde durch den Dreißigjährigen Krieg bestimmt. Nachdem er 1632 in die Dienste des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin als Kanzler übergetreten war, setzte er sich für den Wiederaufbau des Landes ein. Außenpolitisch versuchte er eine allmähl. Annäherung an den Kaiser, was ihm die Feindschaft der Schweden eintrug. Zweimal, 1636 u. 1645, geriet er in deren Gefangenschaft; ab 1646 nahm er im Auftrag des Bremer Erzbischofs (in dessen Dienste er ein Jahrzehnt zuvor eingetreten war) an den Westfälischen Friedensverhandlungen teil. Seine Versuche, die staatl. Existenz des Erzstifts in den Frieden zu retten, scheiterten; als sein Auftraggeber die Thronfolge in Dänemark antreten konnte, folgte R. ihm nach. Er wurde Geheimer Rat u. Kanzler von Schleswig u. Holstein, später noch Präsident des pinnebergischen Oberappellationsgerichts. Nach dem Tod seiner Frau u. erneuter Eheschließung widmete sich R. zunehmend religiösen Themen im Sinne der protestant. Orthodoxie. Es ist merkwürdig u. doch bezeichnend, dass es ausgerechnet dem Protestanten R. vorbehalten war, mit seinem Tractatus den wichtigsten Beitrag des Zeitalters zu einer kaiserlich-monarchischen Reichstheorie vorzulegen. Merkwürdig, weil er damit für die Machtstellung eines kath. Monarchen plädiert, der, wie sich zeigte, seinen Glaubensgenossen keineswegs wohl wollte; bezeichnend, weil es den Grad der Reichsbindung – die fast immer in erster Linie als »Kaiserbindung« aufgefasst wurde – dokumentiert, den auch ein luth. Theoretiker artikulieren konnte. Als guter Protestant

Reinkingk

schöpfte R. seine Argumente v. a. aus der Hl. Schrift; er griff die zu seiner Zeit noch weit verbreitete Lehre auf, das Heilige Römische Reich sei die letzte der im Buch Daniel geweissagten Universalmonarchien u. werde bis ans Ende der Zeiten dauern. Als Hilfsargument für diese These – zgl. als Beleg für die seit der Antike überkommene kaiserl. Plenitudo potestatis – bedarf R. schließlich der Behauptung der Translatio imperii, einer zu seiner Zeit ebenfalls bereits heftig umstrittenen Anschauung. Das röm. Recht besitzt im Reich nach seiner Auffassung nach wie vor grundsätzlich Gültigkeit. R. stellt so eine universalhistor. Tradition gegen die reale Schwäche des Reichs, deren Folgen er nicht zuletzt am eigenen Leib erfahren hatte. Es war ihm im eigentl. Sinne des Wortes »heilig«. Er argumentiert eigentlich theologisch; v. a. daraus lassen sich die Unstimmigkeiten in seiner staatsrechtl. Beweisführung erklären. Der Westfälische Friede spätestens bewies, dass seine Anschauungen in der Wirklichkeit des Reichs keine Grundlage mehr hatten. R. selbst durfte sich immerhin verschiedener Ehrungen durch das Haus Habsburg erfreuen; so wurde ihm 1648 durch Ferdinand III. der erbl. Adelstitel verliehen – Auszeichnung für einen Mann, der nach Stintzing der kaiserl. Partei mit dem Tractatus ein »symbolisches Buch« geschrieben hatte. Seine Lehre fand kaum weitere Adepten, eine dünne Traditionslinie führt mit dem Werk des J. B. Multz bis an die Schwelle des 18. Jh. R. war somit eher als Politiker denn als Staatstheoretiker bedeutend, obwohl seine gelegentlich naiv oder archaisch wirkende »biblische« Beweisführung zu seiner Zeit alles andere als ungewöhnlich war. Er hat, was seltener gewürdigt wird, bes. in seiner Biblische[n] Policey (Ffm. 1653 u. ö.) einen wiederum aus der Hl. Schrift geschöpften gewichtigen Beitrag zur Staatsethik des luth. Territoriums geliefert. Bedeutend waren schließlich seine Beiträge zum Kirchenrecht, wo er als Vorläufer der territorialist. Theorien Thomasius’ u. Georg Ludwig Böhmers gelten kann.

Reinmar der Alte

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Weitere Werke: Jus feciale armatae Daniae [...]. Kopenhagen 1657. – Der verjüngte röm. ReichsAdler, sampt der Macht u. Herrligkeit des Reichs über alle Reiche [...]. Hg. Johann Dietrich v. Gülig. Gött. 1687. Ausgabe: Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico. Ffm. 61659. Internet-Ed.: CAMENA (Abt. Historica & Politica). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 697–703. – Roderich v. Stintzing: Gesch. der dt. Rechtswiss. 2. Abt., Mchn./Lpz. 1884. Nachdr. Aalen 1978, Register. – Ernst Landsberg: D. v. R. In: ADB. – Hauke Jessen: ›Bibl. Policey‹. [...]. Diss. jur. Freib. i. Br. 1962. – Otto Brunner: D. R. [...]. In: Jb. der Akademie der Wiss.en u. Lit. Mainz 1963, S. 94 f. – Friedrich H. Schubert: Die dt. Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Gött. 1966, S. 540–542. – Horst Dreitzel: Protestant. Aristotelismus u. absoluter Staat [...]. Wiesb. 1970, Register. – Christoph Link u. Dieter Lohmeier: D. R. In: BLSHL, Bd. 7 (1985), S. 185–190 (Lit.). – C. Link: D. R. In: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. Michael Stolleis. Mchn. 3 1995, S. 78–99. – Dt. u. europ. Juristen aus neun Jh.en. [...]. Hg. Gerd Kleinheyer u. Jan Schröder. Heidelb. 41996, S. 346–349. – Martin Otto: D. R. In: NDB. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. CXXXIII-CXXXV, Bd. 3, S. 2422 f. – Wolfgang E. J. Weber: ›Tyrannis nulla major, quam imperare velle conscientiis‹. Tyrannislehren in der dt. Politica christiana des 17. Jh. [...]. In: Tirannide e dispotismo nel dibattito politico tra Cinque e Seicento. Hg. Artemio Enzo Baldini. Florenz 2009. Bernd Roeck / Red.

Reinmar der Alte. – Minnesänger, um 1200. Schlicht »Reinmar« heißt der neben Heinrich von Morungen bedeutendste Minnesänger vor Walther von der Vogelweide in der Kleinen Heidelberger, der Weingartner u. der sog. Würzburger Liederhandschrift (A, B, E). Nur die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) gibt ihm den Beinamen »der Alte«, zur Unterscheidung von gleichnamigen jüngeren Sängern, insbes. Reinmar von Zweter. Über Stand u. Herkunft fehlen sichere Nachrichten. In C, B u. E führt R. den Titel »her(re)«, doch will das nicht viel besagen. Das Wappen auf den Miniaturen in C u. B lässt sich nicht zuordnen. Gottfried von Straßburg rühmt im Literaturexkurs des Tristan (um 1210) als verstorbene Leiterin der

Nachtigallenschar, d. i. der Minnesänger, die »von Hagenouwe« (v. 4779), deren Stelle nun »diu von der Vogelweide« einnehme. Nach allg. Ansicht dürfte es sich bei der Hagenauer Nachtigall um R. handeln (anders Bauschke 1999); ob der Ortsname ein Hagenau in Österreich oder die berühmte Kaiserpfalz im Elsass meint u. ob ggf. R. dort wirkte, dorther stammte oder einem danach benannten Geschlecht angehörte, bleibt umstritten. Eine zumindest zeitweilige Verbindung R.s zum Wiener Hof ergibt sich aus der Totenklage 167,31 (XVI) um »aller fröiden hêrre Liutpolt«, die dessen Witwe in den Mund gelegt ist; denn das Lied ist doch wohl auf Herzog Leopold V. von Österreich († 31.12.1194) zu beziehen u. demnach im Frühjahr 1195 entstanden. Die Lieder 180,28 (XXX) u. 181,13 (XXXI) könnten in den Herbst 1195, die Zeit der Kreuzzugsvorbereitungen von Leopolds Sohn Friedrich, gehören. Alle Versuche, die Umstände von R.s Leben u. literar. Schaffen weiter zu konkretisieren, müssen Spekulation bleiben. Sein Tod fällt in das erste Jahrzehnt des 13. Jh., vorausgesetzt, R. ist im Tristan erwähnt. Walther hat zwei Nachrufstrophen auf ihn gedichtet. R.s Lieder sind in vier Corpora unter seinem Namen überliefert: Zu den drei bekannten Minnesangsammlungen A (70 Strophen), B (35 Strophen; dazu die nach das Morungen-Corpus geratene namenlose Reihe b, 87 Strophen), C (262 Strophen) tritt, wie bei Walthers Liedern, noch E (129 von urspr. etwa 179 Strophen erhalten; mit Anhang e, 35 Strophen). Darüber hinaus existieren anonyme Zeugnisse von etwa 1230 an (Handschrift der Carmina Burana) bis in den Anfang des 15. Jh. u. Aufzeichnungen unter anderen Namen in A, B, C, der Budapester Liederhandschrift u. in den Möserschen Bruchstücken einer niederdt. Liederhandschrift (um 1400). Auffallend ist die wechselnde Attribution einer ganzen Gruppe von Liedern an R. u. Heinrich von Rugge, die »Reinmar-Rugge-Vermischung« (s. Hausmann 1999, Boll, HenkesZin). Die Corpus-Überlieferung in A, B (b), C u. E (e) umfasst insg. 86 Töne mit 340 Strophen. Die Echtheitsdiskussion hat in der Forschung früh eingesetzt, aber zunächst nur Lieder mit konkurrierenden Zuschreibungen

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oder Unica betroffen. Am rigorosesten hat Carl von Kraus (1919, 1939/40) die Zahl der R.-Lieder reduziert. Maßgeblich bestimmt wurde seine Echtheitskritik von der Vorstellung, R. habe einen geschlossenen Zyklus geschaffen. Doch hat offenbar auch die Art der handschriftl. Bezeugung Kraus’ Entscheidungen beeinflusst: Das von ihm als authentisch anerkannte Textcorpus deckt sich weitgehend mit dem in BbC u. AE oder A oder E bezeugten Kernbestand der R.-Überlieferung, also mit einer bereits von den mittelalterl. Rezipienten getroffenen Auswahl aus R.s Œuvre. Die weniger charakterist. Liedtypen, v. a. Lieder des genre objectif, sind anscheinend bald an den Rand des Tradierungsprozesses geraten u. wohl hauptsächlich dank des systemat. Sammeleifers, der in der Spätphase der Minnesangüberlieferung herrschte, erhalten geblieben. Die neuere Forschung ist bemüht, von verschiedenen method. Prämissen ausgehend, möglichst viele R. abgesprochene Lieder für ihn zurückzugewinnen, u. versucht im Gegenzug, das Zentrum des Œuvre neu in den Blick zu nehmen. Das Bild, das die Forschung von R. zeichnet, hängt wesentlich von der Textbasis ab, auf die sie sich stützt. Zu unzulässigen Vereinfachungen hat oft die beliebte Kontrastierung R.s mit Morungen u. mit Walther geführt. Das viel zitierte, Ludwig Uhland zugeschriebene Diktum vom »Scholastiker der unglücklichen Liebe« wird nicht einmal dem R. des Kraus’schen Zyklus gerecht, sondern trifft allenfalls einen Teilaspekt. R. selber erhebt in einer seiner großen Kanzonen den Anspruch, unbestrittener »meister« der »kunst« zu sein, »sîn leit [...] schône [ze] getragen« (163,5–9; XII 5,1–5); er zielt damit auf literar. Meisterschaft im ranghöchsten Genre des Minnesangs, dem Werbelied, in dem der Sänger immer wieder Liebeserfüllung als Lohn für seinen Frauenpreis erhoffen, aber nie besingen kann. Dass die kunstreiche Variation des Klagethemas dem mittelalterl. Publikum »vröide mêrte«, bezeugen für R. sowohl Walther u. ggf. Gottfried wie etwas später noch Heinrich von dem Türlin in der Crône (vv. 2416 ff.). Die Lieder der hohen Minne stehen im Zentrum von R.s Schaffen,

Reinmar der Alte

Querverweisungen u. Rückbezüge verleihen diesem Teil seines Œuvre sogar ein zyklusähnl. Gepräge. Doch das Spektrum der Themen u. Stillagen, über die R. verfügt, ist entschieden breiter; selbst in den Minneliedern scheut er scherzhafte u. derbe Töne u. Motive nicht, zumal in den leichteren Strophenformen. Ein Genre wie das Tagelied zitiert R. nur (154,32; VIa/b). Bemerkenswert zahlreich sind aber Frauenmonologe (öfter unikal überliefert), dazu Lieder mit einzelnen Frauenstrophen, Wechsel, der Dialog der »vrowe« mit dem Boten (177,10; XXVII). Mit romanischen Formen u. Reimkünsten muss R. wohlvertraut gewesen sein, er hat sie jedoch fast ganz gemieden; die beiden für ihn charakterist. Typen der ungleichversigen, asymmetr. Kanzone (mit meist vierzeiligem Aufgesang u. kürzerem oder längerem Abgesang, häufig in eine Waisenterzine mündend), die R. sehr bewusst für Lieder verschiedener Stilhöhe verwendet, hat er vielleicht geradezu gegen das zeitgenöss. romanische Formideal entwickelt. Die komplizierten Satzgefüge zumal der großen Kanzonen gleiten souverän über die Vers- u. Periodengrenzen hinweg, ohne irgendwelche Behinderung durch das einmal gewählte Formschema spüren zu lassen. Außer Zweifel steht, dass Walther von der Vogelweide R.s Minnesang – auch seiner Formkunst – starke Impulse verdankt, ohne dass man an ein unmittelbares Lehrer-Schüler-Verhältnis denken müsste. Die gelegentl. Polemik zwischen beiden – am explizitesten in Walthers Lied 111,23 artikuliert, das R.s Kanzone 159,1 (X) aufs Korn nimmt (das Überloben der Dame u. den Kussraub) u. im selben Ton gedichtet ist – braucht man nicht im Sinne einer Grundsatzdiskussion über Minnekonzeptionen zu verstehen, also im Sinne jener »Walther-Reinmar-Fehde«, die die ältere Forschung daraus konstruiert hat; es handelt sich wohl eher um eine Art Schlagabtausch zwischen hochrangigen Sängerrivalen von recht verschiedenem Naturell. Als Meister des Frauenpreises hat Walther R. ausdrücklich in der ersten Nachrufstrophe anerkannt, in deren Mittelpunkt er R.s Vers »Sô wol dir, wîp, wie rein ein nam!« (165,28; XIV 3,1) stellt. Gottfried von Straßburg prä-

Reinmar der Alte

sentiert vermutlich R. u. Walther als Vorgänger u. Nachfolger im Amt der Nachtigallen-»leitevrouwe«; die Überlieferung – v. a. in A u. E – rückt beide zusammen, u. die Sängerkataloge – Reinmars von Brennenberg (?), des Marner u. a. – verfahren meistens ebenso (in jüngeren Zeugnissen verdrängt dann freilich der Sangspruchdichter Reinmar von Zweter den Minnesänger). Es erscheint nur natürlich, dass bes. gute Kenner von R.s Liedern unter den Minnesängern aus nachklass. Zeit – hervorgehoben seien Rubin u. Ulrich von Liechtenstein – sich zgl. als WaltherKenner erweisen. Ausgaben: Minnesangs Frühling 1, S. 285–403, ergänzend S. 201–203, 207–221 (Heinrich v. Rugge) u. 467 f. (zitiert). – R., Lieder. Nach der Weingartner Liederhs. (B). Mhd./Nhd. Hg., übers. u. komm. v. Günther Schweikle. Stgt. 1986. 2., erg. Ausg. 2002. – Mutabilität im Minnesang. Hg. Hubert Heinen. Göpp. 1989 (s. Namenregister nach Hss. S. 297–301). – Dt. Lyrik des frühen u. hohen MA. Ed. u. Komm. v. Ingrid Kasten, Übers. v. Margherita Kuhn. Ffm. 1995 (tb-Ausg. 2005), Nr. 125–157. Literatur: Bibliografie: Tervooren, S. 76–80 (bis 1968); ergänzend: Hausmann 1999; Manfred Günter Scholz: Walther-Bibliogr. 1968–2004. Ffm. 2005, bes. S. 61–63, 142 f. – Weitere und neuere Titel in Auswahl: Hermann Paul: Krit. Beiträge zu den Minnesingern. In: PBB 2 (1876), S. 405–560, bes. S. 487–545. – Carl v. Kraus: Die Lieder R.s d. A. 3 Tle., Mchn. 1919. – Konrad Burdach: R. d. A. u. Walther v. der Vogelweide. Halle 21928. – Hermann Schneider: Die Lieder R.s d. A. In: DVjs 17 (1939), S. 312–342. – Minnesangs Frühling 3,1 (C. v. Kraus) u. 3,2 (Karl Lachmann, Moriz Haupt, Friedrich Vogt, C. v. Kraus). – Friedrich Maurer: Die ›Pseudoreimare‹. Heidelb. 1966. – Karl Bertau: Überlieferung u. Authentizität bei den Liedern R.s d. A. In: ZfdPh 88 (1969), S. 389–400. – G. Schweikle: War R. ›v. Hagenau‹ Hofsänger zu Wien? In: Gestaltungsgesch. u. Gesellschaftsgesch. Hg. Helmut Kreuzer. Stgt. 1969, S. 1–31. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973, bes. S. 97–107, 115. – Gerhard A. Vogt: Studien zur Verseingangsgestaltung in der dt. Lyrik des HochMA. Göpp. 1974, bes. S. 188–192. – Silvia Ranawake: Höf. Strophenkunst. Mchn. 1975. – Wiebke Schmaltz: R. d. A. Beiträge zur poet. Technik. Göpp. 1975. – Manfred Stange: R.s Lyrik. Forschungskritik u. Überlegungen zu einem neuen Verständnis R.s d. A. Amsterd. 1977. – Jeffrey Ashcroft: Der Minnesänger u. die Freude des Hofes.

536 Zu R.s Kreuzliedern u. Witwenklage. In: Poesie u. Gebrauchslit. im dt. MA. Hg. Volker Honemann u. a. Tüb. 1979, S. 219–238. – William E. Jackson: R.’s Women. A Study of the Woman’s Song (›Frauenlied‹ and ›Frauenstrophe‹) of R. d. A. Amsterd. 1981. – S. Ranawake: Gab es eine R.Fehde? In: Oxford German Studies 13 (1982), S. 7–35. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, bes. S. 137–150. – Adrian Stevens: ›Dîn wol redender munt‹: R. d. A. als Minnesänger. In: Minnesang in Österr. Hg. Helmut Birkhan. Wien 1983, S. 176–196. – Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors u. Minnesängern im 12. Jh. Heidelb. 1986, bes. S. 307–359. – G. Schweikle: Die Fehde zwischen Walther v. der Vogelweide u. R. d. A. In: ZfdA 115 (1986), S. 235–253. – Helmut Tervooren: Brauchen wir ein neues R.-Bild? In: GRM 36 (1986), S. 255–266. Wieder in: Ders.: ›Schoeniu wort mit süezeme sange‹. Hg. Susanne Fritsch u. a. Bln. 2000, S. 220–232. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – András Vizkelety: Die Budapester Liederhs. Der Text. In: PBB 110 (1988), S. 387–407. – Rüdiger Krohn: Ergänzung im Gegensang. Anmerkungen zu R.s (?) Lied ›Herre, wer hât sie begozzen‹. In: ›Ist zwîvel herzen nâchgebûr‹. FS G. Schweikle. Hg. Rüdiger Krüger u. a. Stgt. 1989, S. 43–62. – G. Schweikle: R. d. A. In: VL (Lit.). – H. Tervooren: R. u. Walther. Überlegungen zu einem autonomen R.-Bild. In: Walther v. der Vogelweide. Hg. Hans-Dieter Mück. Stgt. 1989, S. 89–105. – Ders.: R.-Studien. Ein Komm. zu den ›unechten‹ Liedern R.s d. A. Stgt. 1990. – Eva Willms: Liebesleid u. Sangeslust. Mchn. 1990. – Hans-Joachim Behr: Die Aporie als Denkform. In: ZfdPh 112 (1993), S. 344–357. – Rüdiger Brandt: ›Liebe auf Zeit‹. Ansätze zu Privatheitsvorstellungen in R. d. A. XV,6? Ebd., S. 105–111. – W. E. Jackson: Das Kreuzzugsmotiv in R.s Lyrik. In: GRM 43 (1993), S. 144–166. – Alan V. Murray: ›Ich clage din edel kunst daz si ist verdorben‹. Did Walther really lament for the death of R.? In: Archiv 230/145 (1993), S. 365–371. – G. Schweikle: Minnesang in neuer Sicht. Stgt./Weimar 1994 (Register); darin die Aufsätze v. 1969 u. 1986. – Hubert Heinen: R. als Narziß: Zu MF 145,1 e. In: ›Dâ hœret ouch geloube zuo‹. Überlieferungs- u. Echtheitsfragen zum Minnesang. FS G. Schweikle. Hg. R. Krohn. Stgt./Lpz. 1995, S. 51–64. – Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Tüb./Basel 1995 (Register). – J. Ashcroft: ›Obe ichz lâze oder ob ichz tuo‹. Zur Entstehung u. Funktion des dilemmat. Frauenmonologs. In: Lied im dt. MA. Hg. Cyril Edwards u. a. Tüb. 1996, S. 57–65. – Gert Hübner: Frauenpreis. 2 Bde., Baden-Baden 1996, S. 101–140, 423–438. – Hermann Reichert: Ge-

537 wollte oder ungewollte Mißverständnisse um 1200? In: Verstehen durch Vernunft. FS Werner Hoffmann. Hg. Burkhard Krause. Wien 1997, S. 279–301. – Ricarda Bauschke: Die ›R.-Lieder‹ Walthers v. der Vogelweide. Literar. Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelb. 1999. – Albrecht Hausmann: R. d. A. als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung u. zur programmat. Identität. Tüb./Basel 1999. – M. G. Scholz: Walther v. der Vogelweide. Stgt./Weimar 1999. 2., erg. Aufl. 2005. – Harald Haferland: Hohe Minne. Bln. 2000. – Ingrid Kasten: The Conception of Female Roles in the Woman’s Song of R. and the Comtessa de Dia. In: Medieval Woman’s Song. Hg. Anne L. Klinck u. a. Philadelphia 2001, S. 152–167. – Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei R. (1999). Wieder in: Ders.: Minnesang u. Literaturtheorie. Hg. Ute v. Bloh u. a. Tüb. 2001, S. 209–231. – H. Haferland: Minnesang bis Walther v. der Vogelweide. Eine Forschungsdiskussion. In: Forschungsber.e zur Internat. Germanistik. Germanist. Mediävistik. Hg. Hans-Jochen Schiewer u. a. Tl. 2, Bern 2003, S. 54–160. – H. Tervooren: R. d. A. In: NDB. – R. Bauschke: Spiegelungen der sog. R.-Walther-›Fehde‹ in der Würzburger Hs. E. In: Würzburg, der Große Löwenhof u. die dt. Lit. des SpätMA. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 2004, S. 227–250. – A. Hausmann: Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung u. Minnesang. In: Sangspruchtradition. Hg. Margreth Egidi u. a. Ffm. 2004, S. 25–43. – G. Hübner: Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu R. MF 162,7. In: Text u. Handeln. Hg. A. Hausmann. Heidelb. 2004, S. 139–164. – H. Brunner: R. d. A. In: 2MGG, Personenteil. – Monika Unzeitig: Sängerkonkurrenz in der provenzal. Trodaborlyrik u. im mhd. Minnesang. In: Eros u. Lit. FS Gert Sautermeister. Hg. Christiane Solte-Gresser u. a. Bremen 2005, S. 35–51. – Nicola Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitan. u. frz. Lyrik im klass. dt. Minnesang. Heidelb. 2005 (Register). – H. Haferland: Subjektivität, Fiktion u. Realität in R.s Frauenliedern. In: ZfdPh 125 (2006), S. 368–389. – R. Krohn: Die Antwort der ›hêren frouwe‹. Das ›Lindenlied‹ Walthers v. der Vogelweide als Beitr. zu einer Minne-Auseinandersetzung mit R. In: ›Von Mythen u. Mären‹ [...]. FS Otfrid Ehrismann. Hg. Gudrun Marci-Boehnke u. a. Hildesh. 2006, S. 33–48. – Katharina Boll: ›Alsô redete ein vrowe schoene‹. Untersuchungen zu Konstitution u. Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jh. Würzb. 2007, S. 310–334, 359–465, 518–538. – Elke Brüggen: Die Wort gewordene Frau. Zur Vertextung ›weiblicher‹ Selbstreflexion in R.s Ly-

Reinmar von Brennenberg rik. In: Innenräume in der Lit. des dt. MA. Hg. Burkhard Hasebrink u. a. Tüb. 2008, S. 225–241. – Christiane Henkes-Zin: Überlieferung u. Rezeption in der Großen Heidelberger Liederhs. (Codex Manesse). Diss. Aachen (2004), publiziert 12.02.2008, URL: http://darwin.bth.rwth-aachen.de (Volltextsuche), S. 138–145, 157, Anhang S. 85–106. – Manfred Kern: Tod, Text u. Auto(r)-Kanonisierung. Am Beispiel v. Walthers Nachruf auf R. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen u. Revisionen. Hg. Jürgen Struger. Wien 2008, S. 301–313. – Gisela Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008, bes. S. 40–46, 82–87, 111. – Klaus Grubmüller: Was bedeutet Fiktionalität im Minnesang? In: Fiktion u. Fiktionalität in den Literaturen des MA. FS J.-D. Müller. Hg. Ursula Peters u. a. Mchn. 2009, S. 269–287. Gisela Kornrumpf

Reinmar von Brennenberg. – Liederdichter u. Held einer Dichtersage, 13. Jh. Namen u. Werk R.s überliefert die Große Heidelberger Liederhandschrift. Nicht endgültig gesichert ist seine Identifizierung mit einem der vier Träger des Namens Reinmar, die im 13. Jh. als Angehörige der bei Regensburg ansässigen Ministerialenfamilie von Brennenberg bezeugt sind. Da der von R. geschaffene Spruchton (Nr. IV) bereits um 1260 adaptiert wurde, kommen aber eigentlich nur zwei früher bezeugte Angehörige dieser Familie – entweder R. I. (1220–1236) oder R. II. (1238) – als Dichter in Frage. Offen bleiben muss, ob R. mit dem vor 1276 ermordeten Bruder des Kanonikus Bruno von Brennenberg identisch ist. Der höchst ungewöhnl. Umstand, dass das ganzseitige Autorbild der Handschrift den gewaltsamen Tod des Dichters darstellt, scheint dies zwar nahe zu legen. Doch sind biogr. Bezüge der Miniatur schon deswegen fraglich, weil das Bildthema auch durch die Minnemetaphorik in R.s Liedern motiviert sein könnte. Das Œuvre umfasst vier Minnelieder u. eine spruchartige Strophenreihe. In den Liedern gestaltet R. das Thema der hohen Minne aus u. variiert Motive u. Topoi aus der Tradition des höf. Minnesangs (z.B. Sterben u. Tod in der Liebe). Von dieser Gruppe hebt sich der Ton Nr. IV durch die Verknüpfung von strophisch breiter Sangspruchform mit

Reinmar von Hagenau

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Stil u. Themen des Minnelieds markant ab. Seine zwölf Strophen bilden nur bedingt eine inhaltl. Einheit (IV, 1–8: Preis der Dame; IV, 9–12: Streitgespräch zwischen »Liebe« u. »Schoene«). Einzelne Strophen (bes. IV, 4) haben eine längere Wirkungsgeschichte; auch geht die Strophenform in die Meisterlied-Überlieferung als Bremberger Hofton ein. Als Protagonist der Bremberger-Ballade (weiteres siehe dort) wurde R. zum vorbildlich liebenden Ritter stilisiert. Ausgaben: Arthur Kopp (Hg.): Bremberger-Gedichte. Wien 1908. – KLD 1, S. 325–333; 2, S. 385–396. Literatur: Fritz Rostock: Mhd. Dichterheldensage. Halle 1925, S. 16–18. – Paul Sappler (Hg.): Das Königsteiner Liederbuch. Mchn. 1970, bes. S. 221–229. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975 (Register). – Joachim Bumke: Ministerialität u. Ritterdichtung. Mchn. 1976 (Register). – Frieder Schanze: R. v. B. In: VL. – RSM 5. – Heinz Kischkel: Bemerkungen zu R. v. B. In: Archiv 231 (1994), S. 359–369. – Uwe Meves: Regesten dt. Minnesänger des 12. u. 13. Jh. Bln./New York 2005, S. 777–797. – Hanno Rüther: Der Mythos v. den Minnesängern. Köln u. a. 2007, S. 267–320. Manfred Eikelmann

Reinmar von Hagenau ! Reinmar der Alte Reinmar von Zweter. – Leich- u. Sangspruchdichter, erste Hälfte des 13. Jh. R.s Lebensdaten sind nur aus spärl. Hinweisen in seiner Dichtung zu erschließen. Dem im Spruch 150 stilisierten autobiogr. Rückblick zufolge wurde R. am Rhein geboren. Zweter als Herkunftsort ist nicht nachgewiesen. Adlige Abstammung (Titel »her« in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C) bleibt völlig ungewiss, ja eher unwahrscheinlich. Ob R. blind war (Hinweis in der LosseSammlung; Darstellung mit geschlossenen Augen in der Autorminiatur in C), ist nicht zu entscheiden. R. berichtet, er sei in Österreich aufgewachsen, ob am Herzogshof Leopolds VI. († 1230) u. seines Sohns Friedrich des Streitbaren, ist wieder unsicher, die Namen werden beide nicht erwähnt. Für die frühe polit. Lyrik ist Kaiser Friedrich II. als Auftraggeber zu vermuten. Die ersten datierba-

ren Sprüche (125–135) sind um 1227 bis nach 1230 gegen Papst Gregor IX. gerichtet. Ab etwa 1237 bis 1241 hält sich R. in Böhmen am Hof König Wenzels I. auf. Danach ist keine feste Bindung mehr an einen Auftraggeber zu erkennen. Es tauchen verschiedene Adressaten des Lobs u. der Polemik auf; die Datierungen schwanken, die Parteistandpunkte wechseln. Der letzte datierbare Spruch wird um 1246–1248 angesetzt, der Tod des Dichters meist auf 1260 hinaufgerückt. Nach Lupold Hornburg (Preislied im Hausbuch des Michael de Leone, Anfang 14. Jh.) wurde R. in Eßfeld, jetzt eingemeindet in Giebelstadt, Landkreis Würzburg, begraben. Der religiöse Leich von 234 Versen ist in fünf Handschriften u. mehreren Fragmenten (jüngster Fund: Naß 1989) überliefert; die Melodie ist erhalten. Auf den Preis der Trinität, ein Marienlob u. die Darstellung der Inkarnation sowie der Erlösungstat Christi folgt die Mahnung an den sündigen Menschen zu Reue u. Vertrauen in die Gnade Gottes. Die gleitende Gedankenbewegung hält v. a. der geistl. minne-Begriff zusammen. Bertau (1964) nennt diesen Typus »Andachtsleich«. Die nahezu 300 echten Spruchstrophen R.s bilden eines der umfangreichsten Œuvres der mhd. Spruchdichtung. R. verwendet fast ausschließlich den später so genannten »Frau-Ehren-Ton« (Melodie erhalten). Nur wenige Strophen sind in der formal verwandten »Neuen Ehrenweise« (Roethe: »Minnen-Ton«) verfasst. Die Echtheit weiterer Töne ist unsicher. Die wichtigsten Überlieferungsträger sind die Große Heidelberger Liederhandschrift C (cpg 848) u. die Heidelberger Liederhandschrift D (cpg 350). Die inhaltl. u. chronolog. Ordnung der Letzteren könnte auf R. selbst zurückgehen (nach Roethe »Sammlung X« mit Texten bis 1240/41). Wie streng das chronolog. Prinzip durchgehalten ist, wird diskutiert; für wichtige Gruppen lässt es sich plausibel aufrechterhalten (Behr 1989). Die Sammlung setzt ein mit religiösen Themen u. leitet über zum Marienpreis, von vornherein verflochten mit dem allg. Frauenpreis u. weltl. Minnelehren. Im Spiel mit den Bezeichnungen »wîp« u. »vrouwe« führt R. Anregungen Walthers von der Vogelweide

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fort, der auch sonst häufig als literar. Leitfigur im Hintergrund steht. Es folgen bes. auf den adligen Herrn zugeschnittene Männerlehren. Als zentralen Wert stellt R. die »êre« heraus, die er als Erster konsequent personifiziert (vgl. den Namen des Haupttons). Weiter umreißt er »adel«, »mâze«, »milte« usw., also das geläufige höf. Tugendspektrum. Dabei arbeitet er bahnbrechend Formen der formalrhetorisch reihenden oder abstrakt konstruktiven Begriffsdarstellung heraus. Sprachkritische Sprüche nehmen Wortgebrauch u. Redensarten unter die Lupe. Missstände wie Verfall der Turniersitten u. der Hofzucht, Trunksucht u. Spielleidenschaft werden angeprangert. Daneben findet sich Spielerisches wie Lügenstrophen, Scherzfragen, Rätsel. R. komponiert seine Sprüche geschickt u. wirkungsvoll. Er beherrscht die Techniken von Personifikation u. Allegorie. Die beiden Strophen (99 u. 100), die den »idealen Mann« als ein allegor. Mischwesen aus verschiedenen Tieren vorstellen, eröffnen eine Tradition bis Hutten u. Grimmelshausen. R. zeigt sich hier mit modernen lat. Quellen (Thomas von Chantimpré: De natura rerum) vertraut u. in der allegor. Sinnsetzung produktiv (Gerhardt 1987). Bei der Beurteilung der polit. Spruchdichtung wirkten lange die Schablonen u. Wertungen der älteren Germanistik nach. Eine polit. Biografie im Sinne Roethes ist auf keinen Fall zu halten. Die Parteinahme etwa bald pro, bald contra Kaiser Friedrich II. ist nicht an Überzeugungen R.s, sondern an die Programme der Auftraggeber zu binden. Bei seinem Eintreten für das Reich stimmt R. mit den von Walther umrissenen Grundgedanken überein. Wenn er dabei ein übergreifendes Ordnungskonzept, wie es Walthers »Reichston« formuliert, vermissen lässt u. die Funktion des Kaisers allein in der Erhaltung des allg. Landfriedens konkretisiert, muss das nicht als signifikanter Konzeptwandel gedeutet werden. R.s Leistung ist v. a. in der Entfaltung der Möglichkeiten der Gattung im 13. Jh. zu sehen. Zwischen Walther u. Frauenlob gebührt ihm ein Platz als Schlüsselfigur. Polemisch erwähnt ihn der Marner (XI, 39) mit dem

Reinmar von Zweter

noch nicht befriedigend erklärten Vorwurf, er sei ein »Töne-Dieb«. Als Zielscheibe erscheint er ferner in den Polemiken um Frauenlob. Lobend nennen ihn zahlreiche Dichterkataloge. Neben berühmten Sängerkollegen lässt ihn das »Fürstenlob« des Wartburgkrieges auftreten. Die Meistersänger rechnen R. zu den legendären »zwölf alten Meistern«, benutzen seine Töne u. schreiben ihm weitere zu. Dabei wird sein Name oft verballhornt. In der Epik wurde R. von Albrecht, Fortsetzer u. Umdichter von Wolframs Titurel, rezipiert (herausragend die Allegorie vom »idealen Mann« in der Brackenseilinschrift, Str. 1894 ff.). Doch wäre über die bisher zusammengetragenen Nachweise hinaus die produktive Auseinandersetzung der späten Sangspruchlyrik mit R. neu zu beschreiben. Ausgaben: Die Gedichte R.s v. Z. Hg. Gustav Roethe. Lpz. 1887. Neudr. Amsterd. 1967 (mit grundlegender Einl.). – Weitere Nachweise, insbes. zu später entdeckten Strophen, im RSM (s. u.). Literatur: Edgar Bonjour: R. v. Z. als polit. Dichter. Bern 1922. Neudr. Nendeln 1970. – Karl Bertau: Sangverslyrik. Gött. 1969 (Register). – Volker Schupp: R. v. Z., Dichter Kaiser Friedrichs II. In: WW 19 (1969), S. 231–244. Auch in: Die Reichsidee in der dt. Dichtung des MA. Hg. Rüdiger Schnell. Darmst. 1983, S. 247–267. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973 (Register). – V. Schupp: Der Kurfürstenspruch R.s v. Z. (Roethe, Nr. 240). In: ZfdPh 93 (1974), S. 68–74. Auch in: Schnell 1983 (s. o.), S. 268–276. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975 (Register). – Joachim Bumke: Ministerialität u. Ritterdichtung. Mchn. 1976 (Register). – Christoph Huber: Wort sint der dinge zeichen. Mchn. 1977 (Register). – Ursula Schulze: Zur Vorstellung v. Kaiser u. Reich in stauf. Spruchdichtung bei Walther v. der Vogelweide u. R. v. Z. In: Stauferzeit. Hg. Rüdiger Krohn u. a. Stgt. 1979, S. 206–219. – Hans-Joachim Behr: Projektion u. Verklärung. Zum Reichsbegriff R.s v. Z. u. den Schwierigkeiten seiner Adaptation in der dt. Germanistik. In: MA-Rezeption 2. Hg. Jürgen Kühnel. Göpp. 1982, S. 31–44. – Franz H. Bäuml u. Richard H. Rouse: Roll and Codex: A New Manuscript Fragment of R. v. Z. In: PBB 105 (1983), S. 192–231. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. 1983/84 (Bd. 2, Register). – Christoph Gerhardt: R.s v. Z. ›idealer Mann‹ (Roethe, Nr. 99 u. 100). In: PBB 109 (1987), S. 51–84. – Helmut Tervooren u. Thomas Bein: Ein neues Fragment zum

Reinolt von Montelban Minnesang u. zur Sangspruchdichtung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26. – H.-J. Behr: Lit. als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhm. Königshof im 13. Jh. Mchn. 1989 (Register). – H. Brunner: R. v. Z. In: VL (Lit., auch: Nachträge u. Korrekturen). – Klaus Naß: Die Fragmentfunde aus dem Nachl. Martin Last. In: ZfdA 118 (1989), S. 286–318. – R. v. Z. In: RSM, Bd. 5 (1990). – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Tüb. 1993, S. 87–89. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Mchn. 2002, S. 42 f., 83, 376–379. – Margreth Egidi: Höf. Liebe. Heidelb. 2002 (Register). – ShaoJi Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung. Würzb. 2006 (Register). – Claudia Lauer: Ästhetik der Identität. Heidelb. 2008 (Register). Christoph Huber / Michael Baldzuhn

Reinolt von Montelban, auch: Vier Haymonskinder, Heimonskinder. – Spätmittelalterlicher Versroman, zwischen 1450/60 u. 1480.

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Heidelberger Hofs entstand, ist unbekannt. Sein Werk blieb wie die Prosaversion, die Herzog Johann II. von Simmern ausgehend von der frz. Volksbuchfassung 1535 im Druck erscheinen ließ, ohne größere Wirkung. Weite Verbreitung fand erst die Übersetzung des niederländ. Prosaromans durch Paul von der Aelst (Köln 1604). Sie diente als Grundlage für die Fülle der Neubearbeitungen in den folgenden Jahrhunderten u. a. durch Tieck, Eichendorff, Bechstein, Schwab u. Simrock. Ausgaben: R. v. M. oder Die Heimonskinder. Hg. Friedrich Pfaff. Tüb. 1885. Neudr. Amsterd. 1969. – Johann II. v. Simmern: Die Haymonskinder. Hg. Werner Wunderlich. Hildesh./New York 1989. Literatur: Hartmut Beckers: R. v. M. In: VL. – Werner Wunderlich: Haimonskinder. In: EM. – Bernd Bastert: Die Autorität des Tyrannen. Zum spätmittelalterl. Interesse an R. v. M. In: The Growth of Authority in the Medieval West. Hg. M. Gosman u. a. Groningen 1999, S. 193–212. – Beate Weifenbach: Die Haimonskinder in der Fassung der Aarauer Hs. v. 1531 u. des Simmerner Drucks v. 1535. 2 Bde., Ffm. 1999 (mit einem Überblick über die europ. Stofftradition). – Dies. (Hg.): Reinold. Ein Ritter für Europa, Beschützer der Stadt Dortmund. Bln. 2004. Martina Backes

Der in verschiedenen Vers- u. Prosafassungen überlieferte Stoff geht auf altfrz. Chansons de geste (Renaut de Montauban; Les quatre fils Aymon) zurück. Während die Abenteuer Reinolts u. seiner Brüder in Frankreich bereits im HochMA beliebt waren, setzt die dt. Erzähltradition erst in der zweiten Hälfte des 15. Jh. mit der Übertragung einer heute weitgehend Reinowski, Werner, * 13.10.1908 Bernverlorenen mittelniederländ. Versdichtung burg, † 22.7.1987 Rottleberode. – Erzähein. Die Erzählung gehört zu den sog. Reler, Publizist. bellenepen, doch ist die urspr. feudale Auseinandersetzung zwischen Herrscher u. Va- R., Kind einer Arbeiterfamilie, kam, wie sein sall durch eine Fülle anderer Erzählmotive Bruder, der Schriftsteller Johannes Reinowüberlagert. Die vier Söhne des Grafen Heyme ski, bereits als Lehrling zur Sozialistischen (Haimon, Aymont), eines Vasallen Karls des Arbeiterjugend. Während dieser jedoch als Großen, geraten wie zuvor bereits ihr Vater in Parteifunktionär der SPD Karriere machte u. Konflikt mit Karl. Dieser verfolgt sie über 1933 nach Skandinavien ins Exil ging, wurde Jahrzehnte unerbittlich, doch können sie – R. bald arbeitslos u. mehrfach wegen polit. mit Hilfe des Zauberpferdes Beyart u. ihres Tätigkeit verhaftet. Nach 1945 trat R. entzauberkundigen Vetters Malagis – immer schieden als proletarischer Funktionär, Puwieder entkommen. Der Versöhnung am blizist u. sozialist. Schriftsteller auf. Mit der Schluss folgt als Ausblick die legendenhafte Romantrilogie Der kleine Kopf (Halle 1952), Lebensgeschichte des jüngsten Sohnes Rei- Vom Weizen fällt die Spreu (Halle 1952) u. Der nolt. Ungeduldige (Halle. 1960), die dem Typus des Der Bearbeiter der rheinfränk. Versfassung sozialist. Dorfromans entspricht, wurde R. (15.388 Verse), die zwischen 1450/60 u. 1480 zum Dokumentaristen der Bodenreform nach zus. mit Übertragungen der stofflich eng 1945. Der erfolgreiche Roman Unbequeme verwandten mittelniederländ. Versepen Ma- Freundin (Halle 1973) hat Freundschaft u. lagis u. Ogier von Dänemark im Umkreis des Hilfe zwischen Menschen unterschiedl. Ge-

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sellschaftsgruppen zum Gegenstand. R.s Autobiografie Unkraut vergeht nicht. Meine Lehrjahre (Halle 1986) legt nochmals, wie schon zahlreiche publizist. Beiträge, seine Absicht dar, v. a. den Arbeitern verständlich sein zu wollen. Aus diesem Grund suchte er auch immer die Polemik, entschieden z.B. gegen Ehm Welks Roman Im Morgennebel, aber auch gegen Erich Arendt u. dessen hohen Bildungsanspruch. Weitere Werke: (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Halle): Diese Welt muß unser sein. Roman einer Produktionsgenossenschaft. 1953. – Der heitere Heinrich. 1956 (R.). – Die Versuchung. 1956 (R.). – Zwei Brüder. Bln./DDR 1959 (R.). – Bernard Koenen. Ein Leben für die Partei. 1962. – Hochzeit über Jahr u. Tag. 1964 (R.). – Der Bitterfelder Weg im sozialist. Dorf. Bln./DDR 1965. – Zivilcourage. 1969 (R.). – Die Guldenwiese. 1975. – Hoch-Zeit am Honigsee. 1984 (R.). Literatur: Christa Wolf: Komplikationen. aber keine Konflikte. In: NDL, H. 6 (1954). – W. R., Bibliogr. Kalenderbl. Berliner Stadtbibl. 9–10 (1968). – Rüdiger Bernhardt: Lehrjahre-Schreibanfänge. W. R. ›Unkraut vergeht nicht‹. In: NDL, H. 1 (1987). – Gabriele Baumgartner: R., W. In: Biogr. Hdb. der SBZ/DDR: 1945–90. Hg. dies. u. Dieter Hebig. Bd. 2, Mchn. 1997, S. 699. Rüdiger Bernhardt / Red.

Reinshagen, Gerlind, * 4.5.1926 Königsberg. – Dramatikerin, Hörspiel- u. Prosaautorin, Lyrikerin. R.s Jugend war vom Krieg geprägt. Nach Abitur u. Pharmaziestudium in der DDR lebt sie seit 1953 in Berlin, schrieb zunächst Kinderbücher u. Hörspiele; dann begannen eine Phase intensiver Dramenproduktion u. eine Reihe kontrovers diskutierter, erfolgreicher Aufführungen. Im Theater sieht sie einen Ort der Selbstbesinnung, den Ausgangspunkt für neue Entwürfe, wo Menschen auch im Scheitern eigene, latent vorhandene Kräfte wahrnehmen können. Seit Ende der 1970er Jahre tritt R. auch als Romanautorin hervor. R.s Werke zeigen eine stilistische u. inhaltl. Kontinuität über die Jahrzehnte u. Gattungsformen hinweg. Ihr erstes Drama Doppelkopf (in: Deutsches Theater der Gegenwart. Hg. Karlheinz Braun. Bd. 2, Ffm. 1967) greift soziale Probleme in der Zeit des Wirtschafts-

wunders auf. Die Reflexion des zerstörerischen Potentials der Arbeitswelt setzt sie in Eisenherz (in: Spectaculum 36, 1982) anhand der Figur der Angestellten Ellinor Bublitz fort u. sie prägt R.s ersten Roman Rovinato oder die Seele des Geschäfts (Ffm. 1981). Mit R.s zweitem Stück, Leben und Tod der Marilyn Monroe (Ffm. 1971), beginnt die Beschäftigung mit Mythen, die sie anhand der Gestalt einer zeitgenöss. Medea im Drama Die grüne Tür (Ffm. 1999) sowie im Roman Göttergeschichte (Ffm. 2000) fortführt. Darin bevölkern die imaginären Paten der Figuren R.s, u. a. Emily Brontë, Dylan Thomas, Giorgio Morandi, das Leben der Protagonistin, die im Gespräch mit ihnen zeitweise aus dem Alltag aussteigt. Sie ist früheren Figuren R.s in den Dramen Die Clownin (Ffm. 1985) u. Himmel und Erde (in: Theater heute 10, 1974) verwandt, in denen psychische u. phys. Krankheiten den Protagonistinnen neue Wahrnehmungsräume eröffnen. Seit Sonntagskinder (in: Spectaculum 25.2, 1976) beschäftigt sich R. mit der Deformierung des Einzelnen durch die histor. Umstände. In der Trilogie, zu der auch Das Frühlingsfest (Ffm. 1980) u. Tanz, Marie! (in: Gesammelte Stücke. Ffm. 1986) gehören, zeigt sie, wie sich die Jugendlichen der Sonntagskinder, die Krieg u. Nationalsozialismus erleben, als Erwachsene im Wirtschaftswunder u. als alte Leute verhalten. Bes. die Protagonistinnen leisten hier Widerstand gegenüber einem ungehemmten Fortschrittsdenken. Der Roman Vom Feuer (Ffm. 2006) greift das Schicksal dieser Zwischengeneration erneut auf u. erzählt diskontinuierlich von der Traumatisierung durch den Krieg. R.s Theatertext Die Frau und die Stadt (Ffm. 2007) ergreift die Perspektive der verfolgten (u. schließlich von den Nationalsozialisten getöteten) Jüdin Gertrud Kolmar u. schildert in einem fiktiven, doch auf Recherche basierenden Monolog eine Nacht, in der die Dichterin ihre Entscheidung, sich durch den Sprung von der Siegessäule zu töten, widerruft. R. nimmt hier die Frage nach den Möglichkeiten des Einzelnen zum Widerstand auf u. sie führt das Thema Berlin fort. Die Stadt wird zum imaginären Dialogpartner Kolmars, wie sie bereits Bezugspunkt von

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R.s Romanen Die flüchtige Braut (Ffm. 1984) u. Wolfgang Paulsen. Bern 1979, S. 237–247. – Ingeborg Drewitz: G. R. In: Neue Lit. der Frauen. Hg. Am Großen Stern (Ffm. 1996) war. R.s Texte leben von einer rhythmisierten, Heinz Puknus. Mchn. 1980. – Jutta Kiencke-Wagpoetisch durchgeformten Sprache, die in El- ner: Das Werk v. G. R. Gesellschaftskritik u. utop. Denken. Ffm. 1989. – Katrin Sieg: Exiles, Eccenlipsen u. Satzabbrüchen dem Ungesagten u. trics, Activists. Women in Contemporary German Unsagbaren Raum lässt. Dass R. mit Die Frau Theater. Ann Arbor 1994. – Madeleine Herzog: ›Ich und die Stadt ein lyr. Monodrama vorlegt, bin ... nicht ich‹: Subjektivität, Gesellsch. u. Geführt die scheiternde Kommunikation zwi- schlechterordnung in G. R.s dramat. Werk. Bielef. schen Figuren zum konsequenten Abschluss. 1995. – Helga Kraft: Ein Haus aus Sprache. Frauen In Drei Wünsche frei (Ffm. 1992), R.s Stück zur u. das andere Theater. Stgt. 1996. – Annette BühlerWiedervereinigung, ermöglicht nur die Dietrich: Auf dem Weg zum Theater. Else LaskerTaubheit des Gegenübers noch eine Artiku- Schüler, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, G. R., Ellation, die sich dem übermächtigen, medial friede Jelinek. Würzb. 2003. – Peter Michalzik: G. R. In: LGL. – Michael Töteberg: G. R. In: KLG. präsenten Geräuschchor widersetzt. ChoriHiltrud Häntzschel / Annette Bühler-Dietrich sche Elemente verwendet R. seit Leben und Tod der Marilyn Monroe variierend. In ihrer Prosa arbeitet R. mit konventionellen Erzählsitua- Reinwald, Wilhelm Friedrich Hermann, tionen wie auch mit dem in verschiedene * 11.8.1737 Wasungen/Thüringen, † 6.8. Stimmen u. Perspektiven aufgeteilten Text. 1815 Meiningen. – Philologe, GelegenR. erhielt 1974 die Fördergabe des Schiller- heitsdichter. Gedächtnispreises des Landes Baden-Württemberg, 1977 den Mülheimer Dramatiker- Der Sohn eines meining. Amtmanns studierte preis für Sonntagskinder, 1981 das Nieder- 1753–1756 in Jena die Rechte u. ging 1762 in sächsische Künstlerstipendium, 1982 die Eh- meining. Dienste. Von 1776 an betreute er die rengabe des Andreas-Gryphius-Preises der herzogl. Kunst- u. Literatursammlungen, seit Künstlergilde, 1988 die Roswitha-Gedenk- 1802 als Erster Bibliothekar, ab 1805 mit dem medaille der Stadt Bad Gandersheim, 1993 Titel eines Hofrats. 1782 lernte er Schiller den Ludwig-Mülheims-Preis u. 1999 den kennen, dem er, wesentlich älter, ein wertvoller Mentor war; 1786 heiratete er dessen Niedersachsenpreis. R.s Theaterstücke wurden in den letzten Schwester Christophine. Seit 1779 Rezensent Jahrzehnten im In- u. Ausland aufgeführt u. der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«, bes. von der feminist. Forschung mit Blick schrieb R. regelmäßig für literarische u. wiss. auf innovative Formmerkmale u. die Figu- Periodika. Auch für Schillers »Thalia«, »Murenkonstruktion analysiert. Von ihren Ro- senalmanach« u. »Horen« lieferte er poetimanen wurde bes. Vom Feuer besprochen. Mit sche u. histor. Beiträge. Aus dem Englischen übersetzte er die Wertheriade Lottens Briefe an Eine Welt aus Sprache (Hg. Helga Kraft u. eine Freundin [...] (Bln./Stettin 1788). Therese Hörnigk. Bln. 2007) liegt ein SamAls Dichter bloß dilettierend, wurde R. als melband vor, der in Forschungsbeiträgen das Gelehrter zu einer Autorität; er zählt zu den Werk R.s würdigt u. obendrein ausgewählte Pionieren der german. Sprach- u. LiteraturLyrik umfasst. forschung vor den Brüdern Grimm. Mit den Weitere Werke: Kann das Theater noch aus Briefen über die Elemente der germanischen Spraseiner Rolle fallen? oder Die halbwegs emanziche. Erster Brief (Ffm./Lpz. 1776; mehr nicht pierte Mariann. In: Spielplatz I. Hg. Karlheinz Braun u. Klaus Völker. Bln. 1972, S. 59–72 (Dialog- ersch.) setzten seine Studien zur gotischen, Ess.). – Das Frühlingsfest. Elsas Nachtbuch. Annä- altsächs. u. ahd. Philologie ein. Ab 1795 herungen. Ein Stück. Ffm. 1980. – Zwölf Nächte. Mitarbeiter der »Allgemeinen Literatur-ZeiFfm. 1989 (R.). – Jäger am Rand der Nacht. Ffm. tung«, publizierte er hier u. in anderen re1993 (R.). – Joint Venture. Kleine Studie über die nommierten Blättern die Ergebnisse seiner Impotenz. Ffm. 2003. sprachwiss., antiquarischen u. glossolog. Literatur: Betty N. Weber: G. R. Versuch eines Forschungen (v. a. zum Wessobrunner Gebet, Porträts. In: Die Frau als Heldin u. Autorin. Hg. zum Hildebrandslied u. zur Wulfila-Bibel). Un-

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vollendet blieben die Arbeiten an einem karoling. Glossar, einer angelsächs. Chrestomathie u. einer Heliand-Ausgabe. Weitere Werke: Poet. Briefe u. Kleine Gedichte. Meiningen 1769. – Poet. Launen, Briefe u. Miscellaneen. Dessau 1782. Neuaufl. 1794. – Hennebergisches Idiotikon. 2 Bde., Bln./Stettin 1793–1801. Neudr. Lpz. 1975. – Wissenschaftlicher Nachlass: Bayer. Staatsbibl. München. Literatur: Max Löwisch: R. In: ADB. – Günther Wölfing: W. F. H. R. In: Wasunger Geschichtsbl. 19 (1969), S. 93–96. – Ludwig Denecke: Eine neue Philologie. Zum Briefw. Jacob Grimms mit W. F. H. R. In: Brüder Grimm Gedenken. Hg. ders. Bd. 2, Marburg 1975, S. 1–27. – Georg Kurscheidt: ›Als 4 Fräulens mir einen Lorbeerkranz schickten‹. Zum Entwurf eines Gedichts v. Schiller u. R. In: JbDSG 34 (1990), S. 24–36. Wolfgang Riedel / Red.

Reisch, Gregor, * um 1467 Balingen, † 9.5. 1525 Freiburg. – Humanist u. Enzyklopädist. R. trat nach Studien in Freiburg (1487) u. Ingolstadt (1494) vor 1500 in den Kartäuserorden ein, als dessen berühmtesten Gelehrten ihn das kommende Jahrhundert feiern sollte. Von 1502 bis zu seinem Tod stand er der Freiburger Niederlassung vor. 1507 wurde er ins Generalkapitel, 1521 zum Generalprior seines Ordens gewählt. Der Philologe R. widmete sich der Pflege des Buchstabens auf vielfältige Weise. Für Kaiser Maximilian I. überwachte er die Herstellung von Handschriften, für seinen Orden veranlasste er den Druck der Statuten, namhaften Verlegern wie dem Basler Haus Amerbach half er als Vorlagenbeschaffer, Berater u. Herausgeber aus. Er korrespondierte mit Erasmus von Rotterdam, nahm Maximilian 1519 die letzte Beichte ab, u. angesehene Theologen u. Naturwissenschaftler nannten sich voll Stolz seine Schüler. Bleibenden Ruhm erlangte R. indes durch seine wohl schon 1496 vollendete, 1502 erstmals in der Kartause gedruckte lat. Margarita philosophica, die bis 1535 neun vollständige Auflagen erlebte u. noch 1600 ins Italienische übersetzt wurde. Konventioneller Werktitel, Dialogform u. reiche Bebilderung deuten auf ihren Anspruch, die Gesamtheit der um 1500 verfüg-

Reisch

baren Bildungsgüter systematisch zu vermitteln. R., der den Wissensbetrieb nicht revolutionieren wollte, bemühte einander ergänzende Wissensystematiken. Er stellte eine theoretische u. prakt. Philosophie unterscheidende Systematik voran, gliederte indes nach dem Artes-Schema (Buch I-VII), wobei er bei den mechan. Künsten (Buch IV-VI) zwischen theoretischem u. prakt. Aspekt trennte, um dann im berühmten Holzschnitt zur Grammatik den Turm der Weisheit als Inbegriff mittelalterl. Wissenssystematik einzuführen, in dessen oberstem Stockwerk die Theologie in Gestalt des Petrus Lombardus regiert. Die vierte Auflage konfrontiert die Leser dann mit dem einleitenden Holzschnitt vom aus der Seite der Philosophie wachsenden Baum, auf dessen Zweigen die drei »partes philosophiae« u. die Artes angeordnet wurden. Desungeachtet blieb der Grundriss bis zur letzten Auflage unangetastet. Zu den Vorzügen der Margarita zählte, dass Autor u. konkurrierende Drucker dem raschen Wissenszuwachs mit jeder Auflage Rechnung trugen. Ständige Korrekturen u. Zusätze machten sie zu einer »Encyclopaedia in progress«. Jakob Wimpfeling empfahl sie anlässlich der Heidelberger Hochschulreform (1521/22), Leopold Mozart nutzte sie in seiner Violinschule (1756), u. noch Alexander von Humboldt lobte sie im Kosmos (1845). Ausgaben: Lucia Andreini (Hg.): Margarita Philosophica nova. Straßb. 1508. Nachdr. Salzb. 2002. – L. Geldsetzer (Hg.): Margarita Philosophica cum additionibus nouis. Basel 1517. Nachdr. Düsseld. 1973. Literatur: Robert Ritter v. Srbik: Die Margarita philosophica des G. R. (gest. 1525). In: Denkschr. der Wiener Akademie der Wiss., Math.-Naturwiss. Klasse 104 (1941), S. 85–205. – Udo Becker: Die erste Enzyklopädie aus Freiburg um 1495. Freib. i. Br. 21976. – Manfred Hermann Schmid: Die Darstellung der Musica im spätmittelalterl. Bildprogramm der ›Margarita philosophica‹ v. G. R. 1503. In: Musikal. Ikonographie. Hg. Harald Heckmann u. a. Laaber 1994, S. 247–261. – Lucia Andreini: G. R. e la sua ›Margarita Philosophica‹. Salzb. 1997. – Christel Meier: Die Musik in der Enzyklopädie des SpätMA u. der frühen Neuzeit. In: Grenzgebiete. Hg. Michael Zywietz. Münster 2000, S. 72–85. –

Reiser Christoph Fasbender: R. In: VL Dt. Hum. – Jaumann Hdb. Christoph Fasbender

Reiser, Anton, auch: Reinerus Sionatus Ophtalmopolita (»Aug«sburger), Reinhartus Onesimus Lyco-Vindanus, Marianus Sertorius, M. A. R. A., * 7.3.1628 Augsburg, † 27.4.1686 Hamburg. – Lutherischer Theologe. Wegen des frühen Todes des Vaters wuchs R. unter der Obhut seines Onkels, des Augsburger, dann Pressburger Pfarrers Daniel Schmidt, auf. Dieser unterrichtete ihn, schickte ihn auf das St. Anna-Gymnasium bzw. Anna-Colleg mit seinem bedeutenden Lehrer Peter Meiderlin u. auf die Universitäten in Straßburg (1646), Tübingen (1649 bis 1651), Gießen u. Altdorf (Magister). Auch eine Diakonenstelle in Schemnitz/Ungarn wurde R. 1652 von seinem Onkel vermittelt. 1659 wechselte er nach Pressburg, wo er wegen seiner Predigten auffiel, die sich v. a. durch Festigkeit gegenüber dem Katholizismus auszeichneten. Im Zuge der Gegenreformation musste R. nach Gefangenschaft Pressburg überstürzt verlassen. Die Stelle als Rektor u. Stadtbibliothekar in Augsburg 1673–1675 vertauschte R. – nach vergebl. Versuchen, in Nürnberg oder Gotha unterzukommen – für drei Jahre mit der des hohenlohischen Predigers in Öhringen, bis er 1678 als Hauptpastor von St. Jacobi in Hamburg Nachfolger von Aegidius Strauch wurde u. dort von 1679 (nach Promotion zum Lizentiaten in Gießen, 1683 zum Dr. theol.) bis zu seinem Tod wirkte. R. kämpfte auch in seinen Werken entschieden gegen Katholizismus (etwa gegen Christoph Otto SJ), Synkretismus (z.B. Petrus Musaeus, oder: Wiederholter Beweis, daß die Calvinisch-Reformierten sich der Augsburgischen Confession nicht anmaßen können [...] wider Christianum Pauli [...] Altona [...]. Hbg. 1680), Atheismus (De origine, progressu et incremento Antitheismi seu Atheismi [...]. Augsb. 1669), Sittenverderbnis u. a. durch das Theater (Theatromania [...]. Ratzeburg 1681; beantwortet durch Heinrich Elemenhorst: Dramatologia [...]. 2. Ausg. Hbg. o. J. [nach 1687]. Neudr. Lpz. 1978) u. Verderbtheit des eige-

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nen Standes (De atheismo theologorum, geplant; von Spener zunächst 1680 begrüßt, schließlich aber verhindert, s. Blaufuß 1977, S. 270) wie auch der eigenen Konfession. In der Dedikation seiner Vindiciae Evangelico-Thomisticae [...] (Ulm 1669) gibt R. an, in Straßburg von Sebastian Schmidt, Isaac Faust u. Balthasar Bebel hierfür Entscheidendes gelernt zu haben. R.s Schriften sind unterschiedlich gründlich gearbeitet; sein Anti-Barclajus [...] (Hbg. 1683) z.B. wurde deshalb kritisiert. Ein entschlossener lutherisch-orthodoxer Standpunkt hinderte R. nicht an einer öffentlichen, Einzelpunkte aufgreifenden, von Spener erbetenen Stellungnahme zu dessen Pia Desideria (1675), Gravamina Non Injusta: Oder Rechtmässige Beschwerden [...] (Ffm. 1676). Dem Pietismus ist er jedoch nicht zuzurechnen, trotz intensiven, u. a. zu Jakob Böhme votierenden (Spener: Schriften, Bd. 16/2, S. 839–842, 849 f.) Briefwechsels mit Spener (der R. mit dem von diesem 1678 [Freye Feder, dt.] edierten Johann Valentin Andreae verglich, in der Tauftheologie aber R. vor gefährl. Aussagen warnte). Er blieb ein mehr die Gefahren der Zeit als die Erfordernisse der Zukunft in Blick nehmender reformwilliger Theologe des orthodoxen Luthertums im 17. Jh. Weitere Werke: Kleine Bibel oder Spruch-Catechismus [...]. Hbg. 1680. – Cometa Index, dux et judex oder drey schriftmäßige Cometen. Predigten über Prediger 3,11 [...]. Hbg. 1681. – Der Gewissenlose Advocat [Christoph Rauch] mit seiner ›Theatrophania‹ kürzlich abgefertigt [...]. Hbg. 1682. – Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 16 (1989), Teilbd. 1, (1) S. 316, (2) S. 113 f.; Teilbd. 2, S. 147 f., 350–353, 489 f., 602, 839–842, 849 f. – Ders.: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 2–4, Tüb. 1996/2005 [7 Briefe]; [...] Dresdner Zeit. Bd. 1–2, Tüb. 2003/09. – Handschriftliche Briefe: SUB Hamburg, Staats- u. Stadtbibl. Augsburg, Kgl. Bibl. Kopenhagen, Bibl. Predigerseminar Wittenberg (s. Bethge 1996, s. u., S. 58 u. ö.). Literatur: Bibliografie: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller [...]. Bd. 6, Hbg. 1873, S. 231–238, Nr. 1–48. – Backer-Sommervogel, Bd. 3, Sp. 507; Bd. 4, Sp. 961, Nr. 4 [6]; Bd. 6, Sp. 4–5, Nr. 8 u. Sp. 5–6 Nr. 10 (Jesuiten-Kontroversen). – Briefe: Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 952; Tl. 2, S. 1210: Korrespondenz mit Balthasar Bebel u. Gottlieb Spizel – Schröder 1873, Nr. 22, 43, 47. –

545 Weitere Titel: Johann Moller: Cimbria Litterata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 703–712. – Johann Christian Wibel: Hohenloh. Kirchen- u. Reformationshistorie. Bde. 1–4, Ansbach 1752 ff. – Franciscus Antonius Veith: Bibliotheca Augustana [...]. Bd. 12, Augsb. 1796, S. 14–35. – Johann H. Wilhelmi: A. R. In: Ztschr. für die evang.-luth. Kirche in Hamburg 7 (1901), S. 25–43. – Hans Leube: Kalvinismus u. Luthertum [...]. Bd. 1, Lpz. 1928, S. 190, 374. Nachdr. Aalen 1966. – Wilhelm Rahe: Johann Lassenius [...]. Gütersloh 1933, S. 46, 97–104. – Paul Schattenmann: Eigenart u. Gesch. des dt. Frühpietismus [...]. In: BWKG 40 (1936), S. 1–32. – Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch 4 Jahrhunderte. Augsb. [1952–54] (1963), S. 145–158 (Lit.). – Hans-Martin Barth: Atheismus u. Orthodoxie [...]. Gött. 1971 (Register). – Dietrich Blaufuß: Reichsstadt u. Pietismus – Philipp J. Spener u. Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt/Aisch 1977 (Register). – HansJoachim Marx: Gesch. der Hamburger Barockoper. Ein Forschungsber. In: Studien zur Barockoper. Hg. Constantin Floros u. a. Hbg. 1978, S. 7–34, hier S. 10 f. – D. Blaufuß: Spener-Arbeiten. Bern u. a. 2 1980 (Register). – W. Gordon Marigold: Opera, Politics and Religion in Hamburg 1678–1715. In: Lutheran Quarterly N. S. 3 (1989), S. 65–90. Dt. in: Res Publica Literaria. Wiesb. 1987, S. 484–496. – Gesch. Piet., Bd. 1, S. 181, 344 (m. 387 Anm. 25) u. ö. (Register). – Katharina Bethge: Epistolae Theologicae [...] [an] Abraham Calov. In: PuN 22 (1996), S. 12–68. – Joachim Kremer: Joachim Gerstenbüttel (1647–1721) im Spannungsfeld v. Oper u. Kirche [...] Hamburgs. Hbg. 1997, S. 106–111 u. ö. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005 (Register). Dietrich Blaufuß

Reisiger, Hans, * 22.10.1884 Breslau, † 28.4.1968 Garmisch-Partenkirchen; Grabstätte: ebd. – Dichter, Übersetzer, Essayist. Nach dem Besuch des humanist. Gymnasiums in Breslau u. abgebrochenem Jura- u. Philosophiestudium lebte R. 1907–1911 als freier Schriftsteller in Italien. Seine frühen Romane (Maria Marleen. Bln. 1911. Jakobsland. Bln. 1913) sind als subtil-eindringl. Seelengemälde dichterischer Ausdruck des Fin de siècle. Die Novellensammlung Junges Grün (Stgt. 1919), deren Titelerzählung autobiografisch von den verwirrten Gefühlen erster Liebe berichtet, bringt diese Erzählform zum Abschluss. In Totenfeier (Bln. 1916), düsteren

Reisiger

Oden in der Tradition der Antike (Pindar, Horaz) u. Klopstocks, findet R.s Teilnahme am Ersten Weltkrieg dichterischen Niederschlag. Mehr als Brotarbeit war ihm die Übersetzertätigkeit, die mit der kongenialen Übertragung von Walt Whitmans Gedichten Grashalme (Bln. 1919) einsetzte; die Hymnen der amerikan. »democracy« stießen zu Beginn der ersten dt. Demokratie auf große Resonanz. Für R. begann eine lebenslange Übersetzer- u. Editionstätigkeit an Whitmans Werken; seine Whitman-Monografie (in: Werke. Ausgew., übertragen u. eingel. v. H. R. 2 Bde., Bln. 1922) begründete die Kenntnis des großen amerikan. Lyrikers im deutschsprachigen Raum. Für R.s eigenes Werk erwuchs aus dieser Arbeit die Form des biogr. Romans: Unruhiges Gestirn (Lpz. 1930) über die Jugend Richard Wagners, 1933 verboten, u. Ein Kind befreit die Königin (Stgt. 1939) über die erste Gefangenschaft Maria Stuarts. Nur dem Geistigen verhaftet, lebte R. gerne in Pensionen u. Hotels. 1938 wurde er in Seefeld/Tirol in »Schutzhaft« genommen; nach der Entlassung ging er nach Berlin. Eine Berufung an die University of Berkeley, die sein Freund Thomas Mann arrangiert hatte, lehnte R. 1938 ab: Er sei in das dt. Schicksal »hineingedreht«. 1942 erschien seine biogr. Dokumentation Johann Gottfried Herder (Bln. Neudr. Darmst. 1970), Zeugnis eines anderen, geistigen Deutschland. In dem »ProsaPäan« (Thomas Mann) Aeschylos bei Salamis (Hbg. 1952) gestaltete R. sein humanist. Kunst- u. Bildungsideal zu höchster Form. R. übersetzte u. a. Werke von Defoe, Kipling, Gandhi, Joseph Conrad, Flaubert, Sartre, Saint-Exupéry u. Carlo Sforza u. edierte das Epos Der große Traum aus dem Nachlass seines Freundes Gerhart Hauptmann (Bln./Ffm./ Wien 1963) neu. 1947 wurde er Dr. h. c. der Universität München, 1959 erhielt er den Professorentitel h. c. des Landes BadenWürttemberg. Weitere Werke: Stille Häuser. Ffm. 1910 (N.n). – Santa Catarina da Siena. Bln. 1921 (N.). – Von innerer Freiheit. Prien/Celle 1923 (Ess.). – Einl. zu: Frans Masereel: Das Werk. 60 Holzschnitte. Mchn. 1928. – Schwalbengedicht. In: Die Fähre. Hg. Willi Weismann. Stgt. 1946 (L.). – Literar. Porträts. Hg.

Reiske

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u. Nachw. v. Ulrich K. Dreikandt. Heidelb. 1969 (Bibliogr., Ess.). Literatur: Thomas Mann: H. R. In: Ges. Werke 10, Ffm. 1960, S. 539–543. – Thomas Mann – H. R., Briefe aus der Vor- u. Nachkriegszeit. Zürich 1968 (= Bl. der Thomas-Mann-Gesellsch. 8). Ulrike Leuschner / Red.

Reiske, Johann Jacob, * 25.12.1716 Zörbig, † 14.8.1774 Leipzig. – Klassischer Philologe, Byzantinist u. Arabist.

verteidigte er gegenüber den »Orthographisten« die Eigenheiten seiner Orthographie. Zus. mit seiner Frau Ernestine Christine (geb. Müller, 1735–1798) besuchte R. 1771 den ihm befreundeten Lessing in Wolfenbüttel. Dieser verwirklichte sein Vorhaben, R.s Biografie nach den ihm von R.s Witwe übergebenen Nachlassmaterialien zu schreiben, leider nicht. Die von Ernestine Christine Reiske 1783 veröffentlichte Lebensbeschreibung R.s ist ein über die rein fachl. Aspekte hinaus literarisch bedeutsames, menschlich ergreifendes autobiogr. Dokument der Aufklärungszeit.

Aus ärml. Verhältnissen stammend, besuchte R. 1728–1732 die Schule des Waisenhauses in Halle. 1733 schrieb er sich in Leipzig für Weitere Werke: Meusel II, S. 192–208 (WerkTheologie ein, trieb aber privat v. a. ArabischStudien. 1738 zog er nach Leiden, wo ihm der verz.). – J. J. R.s Briefe. Hg. Richard Förster. In: dortige Orientalist Albert Schultens Abh.en der philosoph.-histor. Classe der Kgl. sächs. (1686–1750) zwar den Zugang zu den von R. Gesellsch. der Wiss.en 16 (1897); 34 (1917), Nr. 4. Erg.en dazu: B. A. Müller in: Berliner philolog. intensiv genutzten reichen HandschriftenWochenschr. 39 (1919), S. 366–375, 391–397. schätzen der Bibliothek ermöglichte, seinen Literatur: Samuel Friedrich Nathanael Morus: philolog. Arbeiten jedoch ablehnend gegenDe Vita I. I. R. Lpz. 1777. Dt. in: Ders.: Kleine überstand. So beschloss R. 1746 seine Lei- Schr.en. Bd. 2, Lpz. 1794, S. 316–354. – Richard dener Studien mit dem Erwerb des medizin. Förster: R. In: ADB. – Heinrich Schneider: Lessing Doktorgrades. u. das Ehepaar Reiske. In: Ders.: Lessing. Mchn. Nach Leipzig zurückgekehrt, bekam R. 1951, S. 110–165. – Gotthard Strohmaier: J. J. R. – weder hier noch an einer anderen Universität der Märtyrer der arab. Lit. In: Das Altertum 20 eine seinen hervorragenden philolog. Fähig- (1974), S. 166–179. – Ders.: J. J. R. – Byzantinist u. keiten angemessene Stelle. 1758 wurde ihm Arabist der Aufklärung. In: Klio 58 (1976), das Rektoramt an der Nikolaischule in Leip- S. 199–209. – Holger Preissler: Ein Einsamer in zig übertragen, das er bis zu seinem Tod ge- Leipzig? Zu R.s Beziehungen in Leipzig 1746–76. In: Johann Heinrich Schulze. Hg. Wolfram Kaiser wissenhaft u. als Lehrer erfolgreich ausübte. u. Arina Völker. Halle 1988, S. 185–191. – HansR.s Arbeiten zur Arabistik, philologisch ex- Georg Ebert (Hg.): J. J. R. – Leben u. Wirkung. Ein akte Editionen bzw. Übersetzungen poeti- Leipziger Byzantinist u. Begründer der Orientalisscher u. histor. Werke, meist auf eigene Kos- tik im 18. Jh. Lpz. 2002. – Hartmut Bobzin: R. In: ten gedruckt, fanden zu seinen Lebzeiten NDB. Hartmut Bobzin / Red. kaum ein Echo, sodass er, der »Märtyrer der arabischen Literatur« (D. Johann Jacob Reiskens von ihm selbst aufgesetzte Lebensbeschreibung. Reisner, Stefan, * 20.1.1942 Berlin. – ErLpz. 1783, S. 11), sich zunehmend der klass. zähler, Lyriker, Verfasser von DrehbüPhilologie zuwandte. Als krit. Herausgeber chern, Theaterstücken u. Hörspielen, griech. (auch byzantin.) Texte leistete er Journalist, Übersetzer. Hervorragendes. Seine in kräftigem Deutsch verfassten Übersetzungen attischer Reden Nach dem Studium der Romanistik arbeitete riefen Widerspruch hervor, dem er in einer R. u. a. als Lektor, Redakteur u. Torfhändler langen programmat. Einlassung zur Über- u. war freier Mitarbeiter der Satirezeitschrift setzungskunst (Einl. zu Bd. 3 von Demosthenis »Pardon«. R., der zunächst Lyrik u. Prosa und Aeschinis Reden, verdeutschet. Lemgo veröffentlichte u. die Literaturzeitschrift »al1764–69) entgegentrat. In der Einleitung zu ternative« mit herausgab, verfasste seit den seinen Reden aus dem Thucydides (Lpz. 1761) 1970er Jahren hauptsächlich Bücher u. Theaterstücke für Kinder. Er lebt heute als freier Journalist in Hongkong u. Ubud auf

Reithard

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Bali, wo er 2005 einen botanischen Garten Reißner, Adam ! Reusner, Adam eröffnet hat, der sich an der europ. Gartenbaukunst orientiert; Vorbild waren u. a. Peter Reithard, Johann Jakob, auch: Demius der Joseph Graf Pückler u. Peter Joseph Lenné. Im Andere, Jeremias Lachmund, Pater InRoman Der Koordinator (Ffm. 1962) erzählt er cognitus, * 15.3.1805 Küsnacht/Kt. Züvon Machtverhältnissen, die in Westdeutsch- rich, † 9.10.1857 Zürich. – Lyriker, Erland auch nach Kriegsende weiter bestehen zähler, Publizist. blieben. Der Roman enthält keine einheitl. Nach einer Lehrerausbildung bei Pestalozzi Perspektive, vielmehr berichten die Protagoin Yverdon wirkte der aus bescheidenen Vernisten neben dem eigentl. Erzähler in der Ichhältnissen stammende R. als (Haus-)Lehrer, Form von ihrem Alltag. Ihre Reden zeichnen 1835–1839 als Bibliothekar in Burgdorf, sie als bloße Funktionsträger aus. 1840–1842 als reformierter Schulinspektor Im Sommer 1973 trat R. dem GRIPSdes Kantons Glarus, seit 1830 zudem als Theater als Autor bei. In dem ersten Stück, polit. Journalist, Redakteur, (Mit-)Herausgedas er für GRIPS verfasste, thematisiert er den ber von Kalendern u. Almanachen sowie als Rollenkonflikt zwischen Jungen u. Mädchen freier Schriftsteller u. Mitarbeiter an unzäh(Mensch Mädchen! In: 3mal Kindertheater. Bd. 3, ligen Zeitungen u. Zeitschriften DeutschMchn./Ffm. 1975). Die dem intensiven Enlands u. der Schweiz. Von größerem Interesse gagement beim GRIPS-Theater folgenden als die von Gotthelf gelobten Gedichte (St. Erzählungen u. Romane behalten die kriGallen/Bern 1842) u. die von R. selbst als sein tisch-emanzipator. Konzeption von KinderHauptwerk betrachteten Geschichten und Sagen literatur bei. In den Romanen Die drei im Turm aus der Schweiz (Ffm. 1853) sind seine zunächst (Bln. 1982, zuletzt Hbg. 1994) u. Ein Pferd, ein radikalen, nach der polit. Konversion um Schwein, und Mirja spinnt (Bln. 1984) erzählt R. 1840 scharf antiradikalen u. antijesuit. Pamvon gelungenen Versuchen, in Großstädten phlete u. Erzählungen mit ihrer Verbindung »grüne Inseln« zu schaffen. Gegen die klass. von Elementen der Schauer- u. SensationsliKindergeschichten wendet er sich in der teratur (Sue-Einfluss), krassen Effekten u. kurzen Erzählung Rotkäppchen rückwärts (in: wohlkalkulierter Wirkungsabsicht: Die RevoNoch mehr Schlafsahne. Bln. 1984, zuletzt lution von Babel (= Basel; in: Schweizerischer Reinb. 1990). Indem das Märchen Rotkäppchen Merkur, 1832), Radikale Jesuitenpredigt [...] von seinem Ende her erzählt wird, verwan(Basel 1845), Die Jesuiten von Freiburg (Zürich/ delt sich Gewalt in Befreiung u. die schlechte Frauenfeld 1848. 21851) sowie Reiseberichte Absicht in eine gute. Vor allem R.s Geu. biogr. Abhandlungen. schichten zum Vorlesen u. Selberlesen, die Nachlass: Kleiner Teilnachl.: Winterthurer BiSchlafsahne, haben mehrere Auflagen erlebt. Weitere Werke: Theaterstücke: Ruhe im Karton! (zus. mit dem GRIPS-Ensemble). In: 3mal Kindertheater. a. a. O. – Kannst du zaubern, Opa? (zus. mit Rainer Hachfeld). Ebd. Bd. 5, 1976. – Die Ruckzuckmaschine (zus. mit Reiner Lükker). Ebd. Bd. 6, 1977. – Erzählungen: Mensch Mädchen! Bln. 1981. – Neunundzwanzig Pfund Schlafsahne. Bln. 1983. Reinb. 1992. – 10 Pfund Schlafsahne Dortm. 1983. Hbg. 1994. – Quackelkontakt. Bln. 1986. – 88 Pfund Schlafsahne. Bln. 1990. Literatur: Jost Hermand: Petras Mondfahrt. In: Brecht-Jb. (1976), S. 177 ff. – Wolfgang Kolneder u. a. (Hg.): Das GRIPS-Theater. Bln. 1979. – Karl W. Bauer: Emanzipator. Kindertheater. Mchn. 1980, S. 82–93 u. ö. Waldemar Fromm

bliotheken, Sondersammlungen.

Literatur: R. P.: R. In: ADB. – Rudolf Hunziker: J. J. R u. Jeremias Gotthelf [...]. Winterthur 1903. – Ders.: J. J. R. Zürich 1912–14. In: Neujahrsbl. der Stadtbibl. Zürich, Nr. 268–270. – Henry Ernest Tièche: Die polit. Lyrik der dt. Schweiz v. 1830–50. Diss. Bern 1917. – Reinhard Straumann: Literar. Konservatismus in der Schweiz um 1848. Bern 1984, S. 60–66. – Claudia Weilenmann: J. J. R. In: Sagenerzähler u. Sagensammler der Schweiz. Hg. Rudolf Schenda u. Hans ten Doornkaat. Bern/Stgt. 1988, S. 223–244. – Anna Stüssi: K. In: Kosch. – Alfred Egli: J. J. R. Dichter, Lehrer, Publizist. In: Küsnachter Jahrh. 45 (2005), S. 76–83; 46 (2006), S. 43–50. Rémy Charbon

Reitz

Reitz, Johann He(i)nrich, * 24.6.1655 Oberdiebach, † 26.11.1720 Wesel. – Pietistischer Theologe, Pädagoge u. Erbauungsschriftsteller. Der Pfarrerssohn studierte Theologie in Heidelberg (11.5.1675), Bremen (11.4.1678), wo er Moses and Aaron von Thomas Goodwin ins Lateinische übersetzte u. mit Anmerkungen versah (Moses et Aaron, seu civiles et ecclesiastici ritus [...]. Bremen 1679. 1684 u. ö.) u. Leiden (7.12.1679; persönl. Beziehung zu Theodor Undereyck), wurde Rektor der Lateinschule Frankenthal u. besuchte als Hauslehrer in Frankfurt/M. die Collegia pietatis Speners. Seine erste Pfarrstelle erhielt er 1681 in Freinsheim. 1689 kam er als Inspektor nach Ladenburg, 1693 als Pfarrer nach Aßlar in der Grafschaft Solms u. erhielt im Frühjahr 1695 eine Pfarr- u. Inspektorenstelle in Braunfels. Seinem Landesherrn, Wilhelm Moritz zu Solms, widmet R. 1693 die Instruction eines Informatoris bey einem jungen hohen Herrn. Pädagogische Tendenzen zeigen sich auch in der Form des katechismusartig in Fragen u. Antworten abgefassten Lehr- u. Erbauungsbuchs Der geöffnete Himmel (Wetzlar 1696. 2 1706) mit pietist. Reformvorschlägen für das Hofleben, die Kinderzucht u. den Predigerstand. Zu R.’ Amtsenthebung führte 1697, wie bei dem Herborner Professor Heinrich Horche, seine Verbindung mit dem sich als Prophet gebärdenden, den Gottesdienstbesuch u. die Taufe seines Sohns verweigernden Balthasar Klopfer. R. hat danach kein Pfarramt mehr angenommen, lebte als freier Schriftsteller in der Wetterau (Frankfurt/M. u. Offenbach) u. hielt sich längere Zeit in Berleburg auf; Offenbach wie Berleburg sind bedeutsam für den Druck radikalpietistischer Literatur u. das Erscheinen von R.’ Hauptwerk Historie der Wiedergebohrnen (Bde. 1–3, Offenbach 1698–1701; Bde. 4 u. 5, Idstein 1716–17; weitere Aufl.n siehe Schrader, S. 107), das als pietist. Sammelbiografie gattungsbildend wirkte. Zu Unrecht von der Forschung bisher unbeachtet geblieben ist R.’ sprach-, literatur- u. geistesgeschichtlich interessante Übersetzung des NT (Offenbach 1703. Ffm./Lpz. 21706). Nach kurzem Zwischenspiel als Rektor der reformierten La-

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teinschule in Siegen (1703/04) wurde R. in Terborg Verwalter bei der verwitweten Fürstin Ernestine Charlotte von Nassau-Siegen (Schloss Wisch in Gelderland). Nachdem sie 1709 ihren Besitz an den Markgrafen Albrecht von Brandenburg verkauft hatte, eröffnete R. eine Schule in Wesel. Zeugnis seiner wiss. Tätigkeit ist eine postum 1721 in Idstein erschienene Epiktetausgabe mit Anmerkungen u. einer lat. u. dt. Übersetzung (Epicteti Enchiridium cum nova versione latina, variantibus lectionibus, nec non perpetuis notis rerumque in capitibus indice). Im Dienst der Selbstbeobachtung, der Entwicklung auf das Ziel der Bekehrung oder Wiedergeburt hin, der Kommunikation mit Gleichgesinnten u. der Verbreitung eigener Frömmigkeitsideale kultivierte der Pietismus vier Literaturformen: das Tagebuch, die Autobiografie, den Brief u. in Ansätzen die Zeitschrift. Elemente aller vier Gattungen finden sich in den Kurzbiografien der Historie. Dazu die theolog. Prämissen, die R. in seinen Apologien vertritt: Die göttl. Offenbarung setzt keine wiss. Vorbildung voraus, auch keine bestimmte Konfession. Christen sollten irenisch sein, bereit zu einer geistlichen, nicht organisatorischen »Union«. Kirchlicher Zwang ist generell abzulehnen. Prophetische Begabung u. ekstat. Phänomene gibt es über die bibl. Zeit hinaus bis in die Gegenwart, sie haben keine heilsgeschichtl. Bedeutung, aber seelsorgl. Wert. In der Entwicklung der Weltgeschichte ist angelegt, dass vor dem Ende der Welt der Satan gebunden wird, das Antichristentum verschwindet u. die erste Liebe u. der erste Glaube wiederkehren (Chiliasmus, philadelph. Bewegung). Die teils hagiografisch, martyrologisch u. propagandistisch stilisierten pietist. Lebensläufe u. die in sie eingeschlossenen Selbstzeugnisse stellen nicht nur eine zeittyp. Kritik an Kirche, Kultur u. Zivilisation (»Welt«) dar, sondern bereiten mit ihrer differenzierten Beobachtung seel. Vorgänge die empir. Psychologie vor u. stellen der Empfindsamkeit Ausdrucksmittel zur Verfügung. Unter den Vorläufern, Fortsetzern u. Nachahmern von R.’ Sammelbiografien bilden Thanatografien einen bes. Zweig, die in ihrem Realitätsgehalt mit den als Personal-

Rellstab

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schriften gedruckten protestant. Leichenpre- Reitzenstein, Carl Ernst Frhr. von, zweite digten verglichen werden müssten. Hälfte des 18. Jh. – Lyriker, TrauerspielDie auch in R.’ Exempeln deutl. Vorliebe dichter. für das Geheimnisvolle u. Übernatürliche R. gehörte einem alten vogtländ. Adelsgewurde durch die Aufklärung nicht geschlecht an, genaue Lebensdaten sind nicht schwächt, sondern gestärkt. Sie begegnet u. a. bekannt. Erwähnt wird lediglich, dass er um wieder bei Jung-Stilling in der Theorie der 1775 Regierungsrat in Ansbach war. Die LiGeisterkunde u. in Schillers Der Geisterseher. teraturgeschichte weist ihn v. a. als Verfasser Weitere Werke: Diatribe de igne inextinguibi- eines der bekanntesten Werther-Lieder (Lotte li. Präses: Johann Eberhard Schweling; Autor u. bey Werthers Grab. Wahlheim 1775) aus, in Respondent: J. H. R. Bremen 1679. – Ein kurtzer dem Lotte sich nach Werthers Tod zu ihrer Begriff deß Leidens, der Lehr, u. deß Verhaltens. Liebe bekennt u. die Vereinigung mit dem Offenbach 1698. Geliebten in einem elys. Jenseits visionär Ausgaben: Historie der Wiedergebohrnen [...]. vorwegnimmt. Der noch 1775 in mehreren Vollst. Ausg. der Erstdr.e [...] mit einem werkgeZeitschriften (darunter Wielands »Teutschem schichtl. Anhang der Varianten u. Ergänzungen Merkur« u. Schubarts »Deutscher Chronik«) [...]. Hg. Hans-Jürgen Schrader. 4 Bde., Tüb. 1982. nachgedruckte eleg. Monolog war bei WerLiteratur: Bibliografien: VD 17. – Schmidt, ther-Enthusiasten bes. populär u. wurde, wie Quellenlexikon, Bd. 25, S. 465–468. – Weitere Titel: Friedrich Christian Laukhard berichtet, im Cuno: J. H. R. In: ADB. – Georg Biundo: Die evang. Frühjahr 1776 bei einer nächtl. Feierstunde Geistlichen der Pfalz seit der Reformation (Pfälzisches Pfarrerbuch). Neustadt a. d. Aisch 1968, Nr. an Jerusalems vermeintl. Grab gesungen. 4254, S. 366. – R. Mohr: Ein zu Unrecht vergesse- Trotz motivischer Anklänge ist er jedoch ner Pietist: J. H. R. In: Monatsh.e für evang. Kir- nicht zu den Melodramen zu rechnen. Die R. chengesch. des Rheinlandes 22 (1973), S. 46–109 zugeschriebenen späteren Trauerspiele be(Vorarb. zu einer Bibliogr.). – Reinhard Breymayer: handeln histor. sowie exot. Stoffe, unterEin unbekannter Kat. der Bibl. des Johannes Coc- scheiden sich in der Gestaltung aber nicht von cejus [...]. In: Linguistica Biblica 52 (1982), S. 7–40. der Massenproduktion der Zeit. Ihre Büh– H.-J. Schrader: Literaturproduktion u. Bücher- nenwirksamkeit in Deutschland blieb bemarkt des radikalen Pietismus. J. H. R.’ ›Historie grenzt, doch gelangten die Stücke in Benja[...]‹ u. ihr geschichtl. Kontext. Gött. 1989. – Hans- min Thomsons engl. Übersetzung zu beGeorg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/ scheidenem Erfolg (Count Königsmark. A trage1, Tüb. 1991, Register. – Gesch. Piet., Bd. 1, 2 u. 4, dy in five acts. London 1801. 4 weitere Aufl.n). Register. – Erich Wenneker: J. H. R. In: Bautz (Lit.). – Johann Erich Maier: Gnade u. Ästhetik. Von der Wiedergeburt zur Gnadenpoetik. Ffm. u. a. 1998. – Douglas H. Shantz: ›Back to the sources‹. Gottfried Arnold (1666–1714), J. H. R. (1655–1720), and the Distinctive Program and Practice of Pietist Historical Writing. In: Commoners and Community. FS Werner O. Packull. Hg. C. Arnold Snyder. Kitchener 2002, S. 75–99. – Ulrich Weiß: ›[...] uff solche pietist[en] absonderlich die H[erren] Geistlich[en] ein wachsames Aug zu haben‹. Die Siegener Episode des J. H. R. 1703/04 [...]. In: Siegener Beiträge 3 (2003), S. 37–88. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1210. – Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. 2 Bde., Tüb. 2005, Register. – Thomas Kronenberg: Toleranz u. Privatheit. Die Auseinandersetzungen um pietist. u. separatist. Privatversammlungen in hess. Territorien im späten 17. u. frühen 18. Jh. Darmst./Marburg 2005. Rudolf Mohr / Red.

Weitere Werke: Trauerspiele: Graf Königsmark. Wien 1792. – Die Negersklaven. Jamaika [recte: Wien] 1793. – Herausgeber: Dietrich Ernst Frhr. v. Pickelsheim: Gedichte. Wien 1793. Literatur: Klaus R. Scherpe: Werther u. Wertherwirkung. Wiesb. 31980. – Georg Jäger: Die Leiden des alten u. neuen Werther. Mchn./Wien 1984. Wolfgang Schimpf / Red.

Rellstab, (Heinrich Friedrich) Ludwig, auch: Freimund Zuschauer, * 13.4.1799 Berlin, † 28.11.1860 Berlin; Grabstätte: ebd., Petri-Kirchhof. – Musikkritiker, Librettist, Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Der Sohn eines Musikalienhändlers u. Vetter von Willibald Alexis studierte 1815 Klavier u. Musiktheorie bei Ludwig Berger u. Bernhard

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Klein. R.s Meldung als Kriegsfreiwilliger Laune, einsame Stille und Majestät« favoriwurde wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht sierte, auch das abstrakte Stimmenballett akzeptiert, er bestand jedoch die Aufnahme- Rossinis als trivial u. formlos verwerfen. Seine prüfung für die Kriegsschule. 1818 wurde er ohne Fachtermini verfassten Kritiken, die das Artillerieleutnant u. Lehrer an einer Briga- kompositor. Detail bewusst aussparen, sugdeschule. Die Erbschaft aus dem Erlös des gerierten den Lesern die Teilnahme am Berväterl. Geschäfts ließ ihn 1821 den Abschied liner Musikleben; vermitteln konnten sie sie nehmen. Er erlernte in Frankfurt/O. die alten nicht. Daneben war R. einer der meistgelesenen Sprachen, besuchte Tieck u. Carl Maria von Weber in Dresden, Goethe in Weimar, Jean Erzähler seiner Zeit. Sein Roman 1812 (4 Bde., Paul in Bayreuth u. studierte 1822 in Hei- Lpz. 1834. 341923) über den Russland-Felddelberg u. Bonn Philosophie u. Philologie. zug Napoleons wurde in mehrere Sprachen Seine Oper Dido (Musik: B. Klein) wurde 1823 übersetzt. R.s Geschichtsdramen in der am Königlichen Opernhaus Berlin ein Miss- Nachfolge Schillers, wie die Tragödien Karl erfolg. der Kühne (Bln. 1824) oder Eugen Aram (Bln. Die Satire Henriette oder Die schöne Sängerin 1839), hatten keinen Erfolg. Sieben seiner (Lpz. 1826. Neuausg. hg. v. Bernd Zegowitz. Beethoven gewidmeten Gedichte (u. a. StändBielef. 2008) machte R. im Musikleben chen) gelangten nach dessen Tod an Schubert schlagartig bekannt: Er wurde 1826 der erste (Schwanengesang). ständige Musikkritiker der »Vossischen ZeiWeitere Werke: Gedichte. Bln. 1827. – Algier u. tung«. Einer der karikierten Verehrer der Paris im Jahre 1830. 3 Bde., Bln. 1831 (E.). – Der Henriette Sontag, der engl. Gesandte, er- Wildschütz. Bln. 1835 (R.). – Die Venetianer. Bln. wirkte 1827 eine dreimonatige Haftstrafe. 1837 (D.). – Der Prophet. Lpz. 1849 (Oper; Musik v. Mit Über mein Verhältniß als Kritiker zu Herrn Meyerbeer). – Ges. Schr.en. 24 Bde., Lpz. 1860/61. – Spontini [...] (Lpz. 1827) eröffnete R. einen Aus meinem Leben. 2 Bde., Bln. 1861. Literatur: M. Bendiner: L. R. In: ADB. – Else jahrelangen Kampf gegen den Berliner GeKönig: L. R. Ein Beitr. zur Gesch. der Unterhalneralmusikdirektor – er gipfelte 1841 in eitungslit. in Dtschld. in der ersten Hälfte des 19. Jh. nem Eklat, als dieser nach der Don GiovanniWürzb. 1938. – Wolfgang Franke: Der TheaterkriOuvertüre wegen anhaltender Proteste das tiker L. R. Bln. 1964. – Jürgen Rehm: Zur MusikPult verlassen musste. Der Vorwurf, Spontini rezeption im vormärzl. Berlin. Hildesh. 1983. – habe durch Begünstigungen eigener Werke, Gertrud Maria Rösch: R. In: NDB. – Elmar Budde: überteuerte Ausstattung u. Überforderung Schuberts Liederzyklen. Mchn. 2003. – Barbara der Sänger die Königliche Oper ruiniert, Beßlich: Der dt. Napoleon-Mythos. Darmst. 2007, führte ebenfalls zu einem Beleidigungsver- bes. 270–274. Alain Michel / Red. fahren; R. wurde 1836 zu vier Monaten Haft verurteilt. Rem, Georg, auch: Remus, * 4.1.1561 34 Jahre lang, bis zu seinem Tod, besprach Augsburg, † 15.8.1625 Altdorf bei Nürner Aufführungen der Königlichen Oper. Seine berg (?). – Jurist u. Lyriker. Zeitschrift »Iris im Gebiete der Tonkunst« (Bln. 1830–41) machte ihn zum einfluss- In Nürnberg aufgewachsen, studierte R. die reichsten Musikkritiker im vormärzl. Berlin. Rechte. Nach längeren Reisen, u. a. in FrankEr übernahm die konservative Musikästhetik reich u. Italien, wurde er 1600 Ratsconsulent seiner Lehrer u. machte die Klassik (Gluck, in Nürnberg, 1623 Vertreter des Prokanzlers Haydn, Mozart) zum Maßstab der romant. der Universität Altdorf, 1624 Prokanzler. Oper der Gegenwart. In seinen Musikalischen Sein Hauptwerk ist die Nemesis Karulina (zuBeurteilungen [1826–1847] (= Gesammelte erst Herborn 1594), ein Kommentar zum Schriften. Bd. 20, Lpz. 1861) hält er Meyerbeer Strafrecht Kaiser Karls V., der in mindestens u. Wagner undramat. Texte, überladene In- zwölf Auflagen (zuletzt Heidelb. 1837) breit strumentation u. Überforderung der Stim- wirkte. In seinen theologischen exeget. Wermen vor. Seine Abneigung gegen ungewöhnl. ken steht er dem Calvinismus nicht fern. Sein Konzeptionen u. Effekte ließ R., der »Grazie, umfangreiches Werk als Verfasser nlat. Lyrik,

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insbes. von Gelegenheitsdichtung, ist noch nicht erschlossen. Seine Texte zur Buchausgabe der Nürnberger Rathausembleme erreichten mit den Grafiken Peter Isselburgs weite Wirkung. Weitere Werke: Vir pius et sapiens. Hoc est, in Solomonis regis paroimio¯n librum, post aliorum messes spicilegium primum. Siegen 1596. – In Salomonis Ecclesiasten, qui de vanitate rerum et adipiscendo summo bono, spicilegium alterum. Siegen 1596. – Emblemata politica in aula magna curiae Noribergensis depicta. Nürnb. 1617. Nachdr. der 2. Aufl. Nürnb. 1640 hg. u. eingel. v. Wolfgang Harms. Bern/Ffm. 1982. Ausgabe: Internet-Ed. der Gedichte aus den Delitiae Poetarum Germanorum in: CAMENA. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Wolfgang Harms: a. a. O., S. 10*-14* (mit Lit.). – DBA. – Manfred H. Grieb: Nürnberger Künstlerlexikon. Bd. 3, Mchn. 2007. Wolfgang Harms

Rem, Lucas (III.), * 14.12.1481 Augsburg, † 22.9.1541 Augsburg. – Kaufmann; Verfasser eines Tagebuchs.

reitschaft, Menschenkenntnis, Umgänglichkeit, Geschäftskenntnis, Fleiß u. Ausdauer, dazu Risikobereitschaft trotz Angst u. Sorgen. Tugendhaft ist, statt aristokratischer Prachtentfaltung u. ritterl. Zeitvertreib, nun das Ausnutzen der Zeit. Der Mangel an Muße, das Kalkulieren der Zeit, scheint sich bis in den Stil der Aufzeichnungen auszuwirken, die sich durch lakon. Knappheit auszeichnen u. vielfach elliptisch oder fragmentarisch bleiben. Ausgaben: Tgb. des L. R. aus den Jahren 1494–1541 [...]. Hg. Benedikt Greiff. Augsb. 1861. Nachdr. Mchn. 1996. – Aus dem Zeitalter des Humanismus u. der Reformation. Hg. Marianne Beyer-Fröhlich. Lpz. 1931, S. 181–199 (Auszüge). Literatur: Wilhelm Vogt: L. R. In: ADB. – Balthasar Springers Indienfahrt 1505/06. Hg. Franz Schulze. Straßb. 1902. – Konrad Häbler: Die überseeischen Unternehmungen der Welser u. ihrer Gesellschafter. Lpz. 1903. – Jacob Strieder: Das reiche Augsburg. Mchn. 1938. – Christoph v. Imhoff: Nürnbergs Indienpioniere. In: Reiseber.e der Frühen Neuzeit. Hg. Stephan Füssel. Mchn. 1987, S. 11–44. – Inge Friedhuber: L. R. In: Contemporaries, Bd. 3, S. 138 f. – Reinhard Jacob: R. In: NDB. – Ralph Frenken: Kindheit u. Autobiogr. v. 14. bis 17. Jh. [...]. 2 Bde., Kiel 1999. – Barbara Schmid: Schreiben für Status u. Herrschaft. Dt. Autobiographik in SpätMA u. früher Neuzeit. o. O. 2006, S. 76–81 u. Register. Horst Wenzel / Red.

R. gehörte zu einer der angesehensten u. wohlhabendsten Familien Augsburgs. Der Vater Hans Rem erwarb 1492–1496 Schloss u. Dorf Riedheim bei Ulm, ein reichunmittelbares Rittergut, dessen Besitz den Rems u. a. die Mitgliedschaft im Schwäbischen Bund eröffnete. Remarque, Erich Maria, eigentl.: E. Paul 13-jährig kam R. nach Venedig u. wurde Remark, * 22.6.1898 Osnabrück, † 25.9. dort den Faktoren der Welser Handelskom1970 Locarno; Grabstätte: Ronco bei Aspanie unterstellt. Er lernte Italienisch, Rechcona/Kt. Tessin. – Verfasser von Romanen u. Buchführung u. ging dann nach Lyon. nen, Schauspielen, Kurzprosa u. Essays, 1499 verpflichtete er sich in die HandelsgeLyrik u. Filmdrehbüchern. sellschaft Anton Welser u. Konrad Vöhlin. Über Lyon, Genf, Freiburg u. Bern Als zweites von vier Kindern des Buchbinders (1503–1508) kam er nach Lissabon, um die Peter Franz Remark u. seiner Frau Anna Interessen der Welser im neu erschlossenen Maria wuchs R. im provinziellen Osnabrück Indienhandel wahrzunehmen. Nach 1511 in ärml. u. bildungsfernen Verhältnissen auf; verlagerte er seine Tätigkeit hauptsächlich die Familie konnte ihm nur eine Ausbildung nach Antwerpen. Nach Konflikten mit den zum Volksschullehrer ermöglichen. Erst die Welsern gründete R. 1518 mit seinen Brüdern Bekanntschaft mit dem Osnabrücker Lyriker, eine eigene Handelsgesellschaft in Augsburg. Maler u. Bohemien Fritz Hörstemeier führte Noch völlig unbeeinflusst von Calvins den Heranwachsenden R. ab 1915 an LiteraGenfer Katechismus (1541/42), stellt sich R. tur, Kunst u. Musik heran, wobei er stark von in seinem Tagebuch schon als Verkörperung der Jugend- u. Freikörperkulturbewegung u. der kaufmänn. Tugenden dar, die der pro- der Lebensphilosophie beeinflusst wurde. testant. Ethik zugerechnet werden: Lernbe- Ende 1916 wurde der 18-jährige Lehrerse-

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minarist zum Militär einberufen u. nach der Ausbildung in Osnabrück u. Celle im Juni 1917 an die Westfront in Flandern versetzt, wo er am ersten Tag der 3. Ypernschlacht (31. Juli 1917) schwer verwundet wurde u. daraufhin den Rest des Krieges in einem Duisburger Lazarett verbrachte. Nicht nur das Kriegserlebnis, sondern v. a. der Tod der Mutter (Sept. 1917) u. der Tod Hörstemeiers (März 1918) gestalteten den Ersten Weltkrieg zu dem prägenden u. einschneidenden Ereignis in R.s Leben. Zus. mit dem frühen u. langen Sterben des älteren Bruders Theodor Arthur (1896–1901) liegen hier die Ursachen für die intensive Beschäftigung mit Tod, Sterben u. Vergänglichkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk R.s zieht. Erster Ausdruck hierfür war sein erster Roman Die Traumbude. Ein Künstlerroman (Dresden 1920), eine Hommage an den verstorbenen Hörstemeier. Nach Kriegsende schloss R. zunächst die Lehrerausbildung ab u. arbeitete kurze Zeit als Volksschullehrer in der Region Osnabrück, ehe er sich im Juni 1921 endgültig entschloss, Schriftsteller zu werden. Hiermit einher ging die Namensänderung von Remark in Remarque; R. griff dabei auf die ursprüngl. Schreibweise des Familiennamens zurück. Nach Theaterrezensionen u. literar. Arbeiten für verschiedene Osnabrücker Zeitungen ging R. im April 1922 zur Werkszeitschrift der Continentalwerke nach Hannover. Es gelang ihm, »Echo Continental« als eine der wichtigsten Auto- u. Motorsportzeitschriften der frühen Weimarer Republik zu etablieren, parallel dazu veröffentlichte er zahlreiche Erzählungen, Essays u. Gedichte in mehr als 30 Zeitungen u. Zeitschriften. Der Erfolg mit »Echo Continental« ermöglichte es R., im Jan. 1925 nach Berlin zu »Sport im Bild. Das Blatt für die gute Gesellschaft« zu wechseln. Zus. mit dem Chefredakteur Konrad Elert gestaltete er das im Hugenberg-Konzern beheimatete Mode- u. Gesellschaftsblatt zu einem gehobenen Kunst- u. Literaturmagazin um, in dem führende Künstler u. Autoren der Weimarer Republik wie Brecht, Musil, Ernst Weiss, Zuckmayer u. a. publizierten. In »Sport im Bild« erschien 1927/28 in Fortset-

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zungen auch R.s zweiter Roman Station am Horizont. Bereits 1917 im Duisburger Lazarett hatte R. begonnen, einen Roman über den Krieg zu konzipieren, diese Arbeiten jedoch erst 1927 wieder aufgenommen. Nach einem vergebl. Versuch beim S. Fischer Verlag gelang es ihm 1928, den als Teil einer Trilogie über die Folgen des Ersten Weltkriegs geplanten Roman Im Westen nichts Neues im Ullstein-Konzern unterzubringen. Im Rahmen einer umfassenden Marketingstrategie wurde der mit einer starken Nachkriegsorientierung versehene Text über das Schicksal einer Gruppe Frontsoldaten (»soll von einer Generation berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam«) zu einem angeblich authent. Erlebnisbericht eines einfachen, literarisch unerfahrenen Soldaten umfunktioniert, der im Rahmen der anhaltenden Weimarer Debatte um die Bewertung des Ersten Weltkrieges als »unser Denkmal des unbekannten Soldaten« (Umschlag) dienen u. damit die liberal-demokrat. Position in dieser Debatte manifestieren sollte. Nach dem Vorabdruck in der »Vossischen Zeitung« Ende 1928 wurde die Buchpublikation (Bln. 1929) zu dem bis dahin größten Bucherfolg in der dt. Literaturgeschichte (innerhalb eines Jahres wurden 1 Mio. Exemplare verkauft), der wegen der polit. Positionierung des Textes eine heftige Kontroverse auslöste. Diese war im kulturpolitischen u. politischen, nicht jedoch im literar. Spektrum angesiedelt u. fand ihren Höhepunkt im Verbot der amerikan. Verfilmung des Textes durch die demokrat. Zensurinstitutionen Anfang Dez. 1930. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen zunehmend persönl. Angriffen ausgesetzt, die v. a. von nationalistischer u. nationalsozialistischer Seite erfolgten, zog sich R. bereits 1931 ins Exil in die Schweiz nach Porto Ronco am Lago Maggiore zurück. Mit Der Weg zurück (Bln. 1931), einem Roman über die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung der ehemaligen Kriegsteilnehmer in die Zivilgesellschaft u. über die polit. Unruhen der unmittelbaren Nachkriegszeit, setzte er erfolgreich seine Trilogie fort; die Machtübergabe an die Nationalsozialisten verhinderte die Veröf-

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fentlichung des im Jan. 1933 fertiggestellten dritten Teiles, der die Problematik u. d. T. Drei Kameraden bis in die Mitte der 1920er Jahre fortschreibt (dän. Kammerater Kopenhagen 1936; engl. Three Comrades. Boston 1937; dt. Amsterd. 1938). Da Im Westen nichts Neues zgl. ein internat. Erfolg war (Übersetzungen in 25 Sprachen bereits 1929), konnte R. als internat. Autor auch im Exil (zunächst in der Schweiz u. Frankreich) ungehindert publizieren. Auf die Verfolgung durch die Nationalsozialisten (Attentat 1933, Bücherverbrennung 1933, Ausbürgerung 1938) reagierte er mit aktiver, zumeist anonymer Hilfe für Emigranten u. Flüchtlinge aus dem »Dritten Reich«, er schloss sich allerdings keiner Emigranten-Organisation an. Die Beschreibung des Exils der »einfachen Leute« für ein Weltpublikum wurde zum Thema seiner weiteren Romane Liebe Deinen Nächsten (Vorabdr. engl. Flotsam, 1939; Buchausg. engl. Boston 1941 u. dt. Stockholm 1941) u. Arc de Triomphe (engl. Arch of Triumph New York 1945; dt. Zürich 1945). Seit Sept. 1939 in den USA, zunächst in Los Angeles, ab 1943 in New York, verfasste R. im Sept. 1944 für den US-Geheimdienst OSS die Denkschrift Practical Educational Work in Germany after the War, die – zus. mit der Nachricht über die Ermordung seiner Schwester Elfriede Scholz wegen »Wehrkraftzersetzung« durch den »Volksgerichtshof« im Dez. 1943 – Grundlage u. Anlass für sein schriftstellerisches Werk der 1950er Jahre wurde. Überzeugt davon, dass nur eine umfassende Aufklärung u. Information über die dt. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg u. eine intensive Auseinandersetzung mit individueller Schuld eine Demokratisierung Deutschlands ermöglichen könne, verfasste R. mit Der Funke Leben (engl. Spark of Life. New York 1952; dt. Köln 1952) zunächst einen Roman über ein fiktives Konzentrationslager, wobei er sowohl die sozialen Verhaltensweisen der Täter als auch der Opfer beschreibt. Mit Zeit zu leben und Zeit zu sterben (Köln 1954) widmete R. sich den Verbrechen der dt. Wehrmacht an der Ostfront u. der Verantwortung des Einzelnen im u. am Zweiten Weltkrieg. Beide Texte konnten in der Bundesrepublik nur unter großen Schwierigkeiten erscheinen, Zeit zu

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leben und Zeit zu sterben erst nach umfangreichen Zensureingriffen des Verlages. Diese Texte u. das Schauspiel Die letzte Station (Urauff. Berlin 1956) sowie das Drehbuch für den Film Der letzte Akt (Österreich 1955) über Hitlers letzte Tage im Führerbunker der Reichskanzlei lösten im Gegensatz zu den internat. Reaktionen ein überwiegend negatives Echo der bundesdt. Kritik aus. Gegenstand dieser Kritik waren jedoch weniger die polit. Inhalte der Texte als der Vorwurf, R. als Emigrant habe keinerlei Legitimation, sich mit der jüngsten dt. Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen; die Texte seien daher »Trivialliteratur«. Von diesen Angriffen stark beeindruckt, beendete R. diese explizit polit. Werkphase zwar noch mit dem Roman über die Wurzeln des Nationalsozialismus im Kleinbürgertum der frühen 1920er Jahre, Der schwarze Obelisk (Köln 1956). Der Text enthielt zgl. eine Warnung vor einem mögl. Dritten Weltkrieg, sollte die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelingen. R. zog sich danach jedoch erneut auf das Thema »Exil« zurück. In den Romanen Die Nacht von Lissabon (Köln 1962) u. Schatten im Paradies (postum Mchn. 1971) stand allerdings nicht mehr nur die Exilsituation in Europa bzw. den USA im Mittelpunkt, sondern R. diskutierte verstärkt Fragen der Identität, der Erinnerung u. der Möglichkeiten der Emigranten, unter den gegebenen Umständen der 1960er Jahre überhaupt nach Deutschland zurückkehren zu können. R.s in diversen Essays u. Interviews geäußerte Intention war es, mit seiner an einem kompromisslosen Individualismus ausgerichteten humanist. u. pazifist. Grundüberzeugung ein möglichst breites Publikum in aller Welt zu erreichen. Hierzu entwickelte er einen am Journalismus, an filmischen Erzählweisen u. ab den späten 1930er Jahren auch an Vorbildern der US-amerikan. Literatur orientierten Stil, der bewusst auf ästhet. Experimente verzichtete. Diese Zielsetzung u. diese Erzählweise stoßen weltweit bis in die Gegenwart hinein auf große Zustimmung, trafen in der Bundesrepublik jedoch auf nahezu völliges Unverständnis, sodass hier eine wiss. Auseinandersetzung mit dem

Renfranz

Autor u. seinem Werk bis in die 1980er Jahre hinein unterblieb. Seit Beginn der 1990er Jahre haben R.s Werke auch aufgrund nun vorhandener Grundlagenforschungen jedoch eine Neubewertung erfahren, die verdeutlicht, dass unter der vermeintlich »glatten« Oberfläche des Erzählstils komplexe Verweisu. Motiv-Strukturen vorhanden sind, die die weltweite Einschätzung R.s als einer der bedeutendsten Autoren der dt. Literatur des 20. Jh. auch ästhetisch zu rechtfertigen vermögen. Weitere Werke: Der Himmel kennt keine Günstlinge (zunächst als Vorabdr. u. d. T. Geborgtes Leben, 1959). Köln 1961 (R.). – Der Feind (zunächst in Forts.en engl. 1930/31). Köln 1993 (E.en). Ausgaben: Das unbekannte Werk. Frühe Prosa, Werke aus dem Nachl., Briefe u. Tagebücher. Hg. Thomas F. Schneider u. Tilman Westphalen. 5 Bde., Köln 1998. – ›Sag mir dass du mich liebst‹. Korrespondenz mit Marlene Dietrich. Köln 2001. – E. M. R. u. der Comic. ›Kapitän Priemke‹ u. ›Die Conti-Buben‹. Gött. 2007 (Comics). Literatur: E. M. R. Jb./Yearbook 1 (1991) ff. (darin laufende bibliogr. Berichterstattung). – Hans Wagener: Understanding E. M. R. Columbia 1991. – Julie Gilbert: Opposite Attraction. The Lives of E. M. R. and Paulette Goddard. New York 1995. – Thomas F. Schneider (Hg.): E. M. R. Leben, Werk u. weltweite Wirkung. Osnabr. 1998. – Wilhelm v. Sternburg: ›Als wäre alles das letzte Mal‹. E. M. R. Eine Biogr. Köln 1998. – Text + Kritik H. 194 (2001): E. M. R. – T. F. Schneider. Unabhängigkeit, Toleranz, Humor. E. M. R., 1898–1970. Osnabr. 2001. – Mariana Parvanova: ›...das Symbol der Ewigkeit ist der Kreis‹. Eine Untersuchung der Motive in den Romanen v. E. M. R. Bln. 2003. – Henrich Placke: Die Chiffren des Utopischen. Zum literar. Gehalt der polit. 50er-Jahre-Romane E. M. R.s. Gött. 2004. – T. F. Schneider: E. M. R.s Roman ›Im Westen nichts Neues‹. Text, Entstehung, Distribution u. Rezeption (1928–1930). Tüb. 2004. – Brian Murdoch: The Novels of E. M. R. Sparks of Life. New York 2006. Thomas F. Schneider

Renfranz, Hans Peter, * 19.6.1941 Posen, † 8.3.1990 Mainz; Grabstätte: ebd., Mombacher Waldfriedhof. – Dramatiker, Erzähler, Romancier, Fernsehredakteur. R. wuchs in einem schleswig-holsteinischen Dorf auf. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte u. Theaterwissenschaften an

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den Universitäten in Kiel u. Mainz war er Regieassistent u. seit 1966 Redakteur beim ZDF für Fernsehspiele u. Serien (Derrick, Der Alte, Ein Fall für zwei). Wenn auch der im weiteren Sinne dramat. Teil seines literar. Schaffens Realisierungen in Rundfunk, Fernsehen u. auf Bühnen erfahren hat, so liegen doch lediglich die konventionell erzählten u. unterhaltsamen Prosawerke als selbständige Veröffentlichungen vor. Für sein Schreiben wurde R. mehrfach ausgezeichnet. Erst 1987, acht Jahre nach dem Tod seines Vaters Hans Hermann Renfranz, erfuhr R. von dessen aktiver Beteiligung als medizinischer Leiter einer psychiatr. Anstalt in Polen während des Dritten Reiches an Selektionen zur Euthanasie zahlreicher psychisch Kranker. Diese schreckl. Entdeckung bewegte u. beschäftigte ihn bis zu seinem frühen Tod auch schriftstellerisch, bes. in einer umfangreichen »Skizze« über Die ersten dreißig Jahre im Leben des Vaters aus der Sicht des Sohnes (in: Weil der Vater das Sagen hatte als Herr über Leben und Tod. Die Auseinandersetzung von Hans Peter Renfranz mit seinem Vater. Hg. v. d. Landeszentrale für Politische Bildung RheinlandPfalz. Mainz 1996). R.’ erstes Buch war der Erzählungsband Machtwechsel (Pfullingen 1976. U. d. T. Einladung an einen Helden. Mchn. 1979), dem ein umfang- u. personenreicher Roman über den engen Kosmos eines norddt. Dorfes folgte (Das Dorf. Mchn. 1978. Verfilmt ZDF 1981). Im Roman Das Haus meines Vaters (Mchn. 1980) erinnert sich ein Ich-Erzähler an seine Kindheit auf dem Lande. Weitere Werke: Warum ist Blixer so böse. Urauff. Hbg. 1974 (Kinderstück). – Zwei Väter. Urauff. Mainz 1977 (Kom.). – Das Miraculum. Urauff. Mainz 1978 (D.). – Die Stadt. Mchn. 1981 (R.). – Der Saurier. Urauff. Essen 1988 (D.). – Eckermann feiert Goethes 100. Geburtstag. Ffm. 1990 (E.). Walter Olma

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Renker, Armin, * 22.7.1891 Schoellershammer bei Düren, † 14.8.1961 Zerkall; Grabstätte: Bergfriedhof Bergstein bei Zerkall. – Papier- u. Wasserzeichenforscher, Novellist u. Lyriker.

Renn

Langnau. Literarisch debütierte R. mit Als Bergsteiger gegen Italien (Mchn. 1918), dem Bericht über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, als er auf österr. Seite freiwillig »in das stählerne Bad dieses ungeheuren Weltringens« eingetaucht war. Halb Schweizer, halb Kärntner, schaffte er jedoch später scheinbar spielend das Kunststück, von Atmosphäre u. Sprachklang her unverkennbar österr. Bergbücher wie Das Volk ohne Heimat (Lpz. 1925) oder Schicksal in der Nordwand (Bln. 1938) spezifisch schweizerischen Alpenromanen wie Heilige Berge (Zürich 1921) oder Schrattenfluh (Basel 1940) gegenüberzustellen. Bei aller Monotonie in der für das Genre typ. Thematik verfügte R., der mit über 50 Romanen einer der meistgelesenen Heimatautoren war, über einen sicheren, gelegentlich sogar musikalisch inspirierten Stil u. einen verlässl. Instinkt für spannende Handlungsabläufe.

R. stammte aus einer alten Papiermacherfamilie. Nach einem Studium an der TH Darmstadt, der Universität Grenoble u. an der Handelshochschule Berlin übernahm R. 1920 die Papier- u. Pappenfabrik Zerkall in Düren als Direktor. R.s Neigungen galten frühzeitig nicht nur technisch-histor. Fragen der Papierkunde u. bibliophilen Themen – er verfasste eine Vielzahl von Fachaufsätzen –, sondern auch literaturgeschichtl. Problemen. 1924 erschien eine Arbeit über Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik (Bln.), die erstmalig Mussets Einfluss nachweist. R.s eigene Dichtungen, vornehmlich kleine Prosastücke, Legenden u. Märchen (Kleine Prosa. Heidelb. Weitere Werke: Symphonie u. Jazz. Lpz. 1931 1946), zeugen von tiefem Naturverständnis, (R.). – Dichter um Heinrich Mark. Basel 1935 (R.). – das, an Stifter geschult, sich etwa in den ro- Schicksal am Piz Orsalia. Zürich 1945 (R.). mantisch-hymn. Anklängen seiner Lyrik nieCharles Linsmayer / Red. derschlägt (Klang aus der Stille. Querfurt 1949). »Populär« wurde R. allerdings durch sein Standardwerk Das Buch vom Papier (Lpz. 1934. Renn, Ludwig, eigentl.: Arnold Friedrich Vieth von Golßenau, * 22.4.1889 Dresden, Wiesb. 41951). Weitere Werke: Das Kloster. Mchn. 1934 (N.). – Der Sammler v. Leiden. Köln 1937 (N.). – Das Uhrenmännchen u. a. Märchen. Bln. 1938. – Hölderlins Schatten. Erlebnis einer Reise. Stgt. 1955 (N.). – Die Reise nach Filigranistan. Eine Gesch. um das Wasserzeichen für Kinder v. 1080 Jahren. Mainz 1957. Literatur: Rudolf Adolph: A. R. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel, Nr. 57, 1952 (mit Bibliogr.). – Herbert Günther: A. R. zum Gedächtnis. In: Imprimatur 3 (1961/62), S. 262–266. Oliver Riedel / Red.

Renker, Gustav, * 12.10.1889 Wien, † 23.7.1967 Langnau/Kt. Bern. – Romanautor, Musiker u. Komponist. Der Sohn eines Zürchers u. einer Wienerin wuchs in Bodensdorf am Ossiacher See/ Kärnten auf, studierte in Wien Musik u. Musikgeschichte (Dr. phil.), ehe er in Wien, Graz u. Nürnberg als Kapellmeister tätig war. Dann wurde er Journalist u. war 1931–1945 Redakteur des »Emmentaler-Blatts« in

† 21.7.1979 Berlin-Kaulsdorf/DDR. – Romancier u. Kinderbuchautor. Wie bei wenigen anderen Schriftstellern ist das Werk R.s in seiner Thematik an der wechselvollen Biografie seines Autors orientiert. Als Sohn eines Prinzenerziehers am Dresdener Hof dem sächs. Uradel zugehörig, trat R. 1910 dem privilegierten Ersten Leibgrenadierregiment Nr. 100 bei, wurde 1911 Leutnant der kgl.-sächs. Garde u. schien einer schnellen militärischen Karriere sicher. Sensibilisiert durch die liberale Tradition des Elternhauses u. abgestoßen vom reaktionären Standesdünkel des Offizierskorps, verzichtete R. im Ersten Weltkrieg jedoch auf seine Privilegien u. meldete sich nach zwei Verwundungen zur Fronttruppe. Seine 1916 begonnenen Kriegsaufzeichnungen gingen nach umfangreichen Umarbeitungen u. Kürzungen in den Roman Krieg (Ffm. 1928. Bln./ Weimar 1989; mit Dokumentation) ein u. formulierten R.s Kritik an der Entfremdung von Offizieren u. Frontsoldaten. Der inter-

Renn

national erfolgreiche Roman leitete zus. mit Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa (1927) u. Remarques Im Westen nichts Neues (1929) die umfängl. Produktion von Kriegsu. Antikriegsromanen ein. Neben seiner einfachen, »volkstümlichen« Erzählweise erklärt v. a. die ganz auf die Unterbühne der histor. Ereignisse, auf den Erfahrungsbereich einfacher Soldaten beschränkte Thematik den großen Erfolg des Buchs. Unter Ausblendung politisch-wirtschaftl. Zusammenhänge reduziert es den Krieg auf die individuelle Katastrophe u. bietet so ein hohes Maß an Identifikationsmöglichkeiten. Trotz der in ihrer Kargheit oft erschreckenden Schilderungen eines anonymen Todes in den Materialschlachten ist ein zentrales Ideologem der Vorkriegsbegeisterung nicht in Frage gestellt: das erotisch konnotierte Lob der Kameradschaft, des Männerbundes. 1920 beendete R. nach den Erfahrungen des Kapp-Putsches endgültig seine militärische Laufbahn u. studierte drei Jahre in Göttingen u. München Russisch, Jura, Nationalökonomie u. Kunstgeschichte. Die politischmilitärischen Wirren der Revolution u. der ersten Jahre der Weimarer Republik bildeten das Material des Folgeromans, Nachkrieg (Bln. 1930). Während der Inflationszeit war R. im Dresdener Kunsthandel tätig (Inflation. Bln./ DDR 1963), unternahm 1925 ausgedehnte Wanderungen durch Italien, Griechenland, die Türkei u. Ägypten (Zu Fuß im Orient. Bln./ DDR 1966), um im Folgejahr in Wien das Studium wieder aufzunehmen (Archäologie, Ostasiatische Geschichte). Nach Deutschland zurückgekehrt, trat R. 1928 der KPD u. dem Roten Frontkämpferbund bei. 1928–1932 war er Sekretär des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) u. Mitherausgeber der militärpolitisch kommunistischen Zeitschrift »Aufbruch« sowie der »Linkskurve«, die er zudem finanziell unterstützte. Bereits 1932 wurde R. nach militärtechn. Vorträgen an der Marxistischen Arbeiterschule in Berlin wegen »literarischen Hochverrats« inhaftiert, 1933, in der Nacht des Reichstagsbrandes, erneut verhaftet u. nach Bautzen verbracht. 1935 entlassen, gelang ihm über die Schweiz die Flucht nach Spanien. Als Kommandeur des »Thälmann-

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Bataillons« u. späterer Stabschef kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg (Der spanische Krieg. Bln./Weimar 1955) u. wurde 1939 beim Rückzug der »Interbrigaden« in Südfrankreich interniert. Durch die Hilfe frz. Intellektueller gelang ihm die Flucht ins mexikan. Exil (Professur an der indian. Universität Morelia 1940/41; ab 1941 Präsident der Bewegung Freies Deutschland in Mexiko). 1947 kehrte er nach Dresden zurück, erhielt dort u. in Berlin Dozenturen u. wurde durch zahlreiche Auszeichnungen u. Preise geehrt. Seit 1952 freier Schriftsteller, schrieb R. Kinderbücher, in denen er den sachl. Stil des Chronisten durch szen. Elemente auflockerte. Auch R.s spezifisch reduzierter Stil ist geprägt vom Bemühen um autobiogr. Geschichtsschreibung. Seine schlichte, einlinige Erzählweise, die nachträglich dem Tatsachenstil der Neuen Sachlichkeit u. den literaturdidakt. Konzepten des »proletarisch-revolutionären« Romans zugeordnet wurde, ging hervor aus der engen Verbindung von autobiogr. Skizzen, Erlebnisnotaten u. Romanentwürfen, gegenüber deren funktionaler Qualität ihre Literarizität sekundären Charakter hat. Die in ihrem abschätzigen Urteil über R.s literar. Vermögen einmütige bundesrepublikan. Literaturkritik hat diese Intentionen u. den damit verbundenen didaktischen, operationalen Literaturbegriff stets ignoriert. Entsprechend übersah die umfangreiche u. durchgehend positive Rezeption R.s in der DDR (1964–1970 erschienen im Aufbau-Verlag die gesammelten Werke in zehn Bänden) nicht nur seinen eindimensionalen Erzählstil, der in seinen abstrakten, mitunter unfreiwillig komischen Schilderungen gerade den angestrebten Realismus verfehlt. Sie schönte auch die typ. Mischung von Sozialromantik u. revolutionärem Heldentum, die R.s Werke durchzieht, zum Ausdruck eines klassenbewussten Engagements u. konsequenten poetolog. Prinzips. Weitere Werke: Rußlandfahrten. Bln. 1932 (Reportage). – Vor großen Wandlungen. Zürich 1936. Mit einem Nachw. v. Sigrid Bock. Bln./Weimar 1989 (R.). – Warfare, the Relation of War to Society. London/New York 1939. – Adel im Untergang. Mexiko 1944. Bln./Weimar 1992 (Auto-

557 biogr.). – Trini. Die Gesch. eines Indianerjungen. Bln./DDR 1954 (R.). – Der Neger Nobi. Bln./DDR 1955 (R.). – Krieg ohne Schlacht. Bln./DDR 1957 (R.). – Meine Kindheit u. Jugend. Bln./Weimar 1957 (Autobiogr.). – Herniu u. Armin. Bln./DDR 1958 (R.). – Auf den Trümmern des Kaiserreichs. Bln./ DDR 1961 (R.). – Briefe an die Eltern. In: WB, H. 4 (1989), S. 5–33. Ausgabe: Werke in Einzelausg.n. 6 Bde., neu hg. v. Günther Drommer. Bln. 2001–06. Literatur: Annemarie Auer: L. R. Ein ungewöhnl. Leben. Bln./DDR 1964. – Edith Mertens: L. R. Literatursoziolog. u. persönlichkeitstheoret. Aspekte der biogr. Entwicklung des Offiziers Arnold Friedrich Vieth v. Golßenau zum Schriftsteller L. R. Diss. Münster 1981. – Gisela Goldbach: L. R. als Jugendschriftsteller. Ffm. 1985. – Manfred Schnabel (Hg.): Autorenportrait L. R. zum 100. Geburtstag. Bln./DDR 1989. – Jorn Meve: ›Homosexuelle Nazis‹. Zur literar. Gestaltung eines Stereotyps des Exils bei L. R. u. Hans Siemsen. In: Forum Homosexualität u. Lit. 11 (1991), S. 79–100. – Manfred Herzer: L. R. Ein schwuler kommunist. Schriftsteller im Zeitalter des Hochstalinismus. In: Erkenntniswunsch u. Diskretion. Erotik in biogr. u. autobiogr. Lit. Hg. Gerhard Harle, Maria Kalveram u. Wolfgang Popp. Bln. 1992, S. 365–374. – Ulrich Broich: World War I in Semi-Autobiographical Fiction and in Semi-Fictional Autobiography. Robert Graves and L. R. In: Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914–18. Hg. Franz Karl Stanzel u. a. Heidelb. 1993, S. 313–325. – Andrea Jäger: ›Ich wollte den wahren Helden zeigen‹. L. R.s Antikriegsr. ›Krieg‹. In: Neue Sachlichkeit im R. Hg. Sabina Becker u. a. Stgt. u. a. 1995, S. 157–175. – Matthias Stresow: L. R. in Dresden. Dresden 2000. – Edward Reichel: Ein Spanienkämpfer ohne Spanienbild. L. R. In: Dresden u. Spanien. Hg. Christoph Rodiek. Ffm. 2000, S. 179–189. – Birgit Schmidt: Wenn die Partei das Volk entdeckt. Anna Seghers, Bodo Uhse, L. R. u. a. Ein krit. Beitr. zur Volksfrontideologie u. ihrer Lit. Münster 2002. – Ulrich Broich: ›Hier spricht zum ersten Male der gemeine Mann‹: Die Fiktion vom Kriegserlebnis des einfachen Soldaten in L. R.: ›Krieg‹ (1928). In: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige P. zum I. Weltkrieg. Hg. Thomas Schneider u. Hans Wagener. Amsterd. 2003. – Günther Drommer: Im Graben. Henri Barbusse u. L. R. In: NDL 558 (2004), S. 16–32. Frank Raepke / Red.

Rennert

Renner, Kaspar Friedrich, auch: Franz Heinrich Sparr(e), * 20.3.1692 Münden, † 21.5.1772 Bremen. – Fabeldichter, Sprachforscher. Nach dem Studium der Rechte in Jena ab dem 8.12.1712 machte der Arztsohn R. ab 1717 Karriere in der Verwaltung Bremens. 1738 erhielt er die Stelle des Stadtvogts. R. war in bes. Maße an der Erforschung der niederdt. Sprache interessiert. Er war Mitarbeiter bei dem unter der Leitung von Eberhard Tiling von der Bremischen Deutschen Gesellschaft herausgegebenen Projekt Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs (6 Bde., Bremen 1767–1869. Nachdr. Osnabr. 1975) u. veröffentlichte darüber hinaus Aufsätze (Erforschung des Wortes Wedewe, Witwe. In: Hamburgische Berichte vom Jahre 1735, S. 746 f.; Menasle und Lohn [...]. Gött. 1772). Sein wichtigstes literar. Werk, Hennynk de Han (o. O. 1732. Bremen 1752. Neu hg. v. Nicolaus Meyer. Bremen 1814. Hbg. 1976 mit Nachw. v. Dieter Bellmann), das die Handlung des Reinke de Vos fortsetzt, schrieb R. im niederdt. Dialekt. In der Vorrede stilisiert er sich als Herausgeber einer Handschrift aus dem 16. Jh. Den in Versen abgefassten Handlungsteilen sind jeweils Nutzanwendungen in Prosa beigegeben, entsprechend den poesiolog. Forderungen, denen die Fabel in der Aufklärung unterworfen ist. Weitere Werke: Ver-lie-be-tes ABC-Buch. o. O. 1734. – Eine Handvoll Knittel-Gedichte. Bremen 1738. – Die Windsbeckin, oder mütterl. Unterricht glücklich zu lieben u. zu heirathen. o. O. 1760. Ausgabe: Hennink der Hahn. 2 Bde., Bremen 1813–14. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Ruth Hanna Lesser: R. (1692–1772). Ein Beitr. zum niedersächs. Schrifttum des 18. Jh. Diss. Greifsw. 1936. – Dieter Bellmann: ›Hennynk de Han‹. Eine Forts. des ›Reineke de Vos‹ aus dem Geist des 18. Jh. In: Klaus-Groth-Gesellsch. Jahresgabe 19 (1977), S. 97–103. Dominica Volkert / Red.

Rennert, Jürgen, * 12.3.1943 Berlin-Neukölln. – Lyriker, Essayist, Übersetzer. R., der zunächst in Westberlin aufwuchs, siedelte 1953 zu den Eltern in die DDR über.

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Nach einer Ausbildung zum Schriftsetzer ar- sammelt Gedichte seit der Mitte der 1980er beitete er als Hilfspfleger u. schließlich von Jahre; hervorzuheben sind hier insbes. die 1964 bis 1975 als Werberedakteur im Verlag Texte der Wendezeit (Mein Land ist mir zerfallen) u. die bitteren Zeitdiagnosen (z.B. FlugVolk und Welt. R. debütierte 1973 in der Reihe Poesiealbum schriften aus dem Berliner Dom). In den letzten (Poesiealbum 75. Bln./DDR), 1976 folgte der Jahren hat R. mehrere Erzählgedichte zu bibl. Lyrikband Märkische Depeschen (Bln./DDR Stoffen publiziert (Noachs Kasten. Teetz 2003. 2 1978). Dieser ist durch (kritische) Naturlyrik Hiobs Botschaft. Das seltsame Buch. Teetz u. Zeitbilder geprägt; neben die Memoria [2008]). tritt die Auseinandersetzung mit jüd. MärWeitere Werke: Emma, die Kuh – u. andres chen u. Legenden. In Hoher Mond (Bln./DDR dazu. Bln./DDR 1981. 21984. – Dialog mit der Bi1983. 21989) dominiert die Sprachthematik, bel. Malerei u. Grafik aus der DDR zu bibl. Theohne dass der Zeitbezug (Zeit der Nachgebo- men. Begleitender Text v. J. R. Bln./Altenburg renen) aufgegeben würde. R., rhythmisch u. 1984. – Der gute Ort in Weißensee: Bilder v. Jüdiklanglich einer der virtuosesten Lyriker sei- schen Friedhof u. eine Slg. jüd. Stimmen zu Vergehen u. Werden, Bleiben u. Sein. Bln./DDR 1987. ner Generation, geht »der Schleifspur entLiteratur: Armin Zeißler: Nachw. zu ›Märk. schwundener Wörter« nach, arbeitet vielfach Depeschen‹. a. a. O., S. 113–123. – Hans Ester: Geintertextuell (»Ich spreche mehrere Sprachen spräche mit J. R. In: Dt. Bücher XVII/2, Amsterd. in meiner«), neigt kabbalistischer Sprach- 1987, S. 85–97. – Nele Löw-Beer: Bleiben. [...]. mystik zu u. findet anrührende Bilder für ein Autorenporträt J. R. In: gep-Buchmagazin Nr. 6, ausgesetztes Dasein. In dieser frühen Publi- Ffm. 1987, S. 18–20. – Laura M. Sager: German kationsphase entzieht er sich doktrinärer In- Unification: Concepts of Identity in Poetry from dienstnahme seines Werkes durch den ent- East and West. In: GQ 76 (2003), H. 3, S. 273–288. waffnenden Hinweis auf die »Einfalt«, die Alexander von Bormann / Stefan Wieczorek hinter seinem Schreiben stünde: »Jener Einfalt nämlich, aus der heraus ich meine GeRentzsch, Gerhard, * 24.4.1926 Leipzig, dichte schreibe, relativ unbekümmert um † 1.6.2003 Berlin. – Hör- u. FernsehSpielräume und Wirkungsmöglichkeiten.« spielautor, Essayist. (Ungereimte Prosa. Bln./DDR 1977). Von 1975 bis 1990 lebte R. als freischaf- Nach einer Buchhändlerlehre u. einer kurzen fender Autor. Bei mehreren Buchprojekten Beschäftigung als Lehrer war R. 1948–1951 hat R. mit der Malerin Hannelore Teutsch zunächst Literaturredakteur beim Sender zusammengearbeitet, ihrem Schaffen wid- Leipzig, wo er mit ersten eigenen Hörspielen mete er auch Essays. Zahlreiche Predigten, hervortrat. Mit Beginn seiner Tätigkeit als Traktate u. Diskussionsbeiträge, die poeto- Hörspieldramaturg in Berlin 1952 u. in der log. Überlegungen an die Seite gestellt wer- Funktion als Chefdramaturg der Hörspielabden, bezeugen R.s Verwurzelung im protes- teilung 1957 bis 1966 (amtsenthoben als tant. Christentum. Mit dieser konsequent Folge des 11. Plenums des ZK der SED) entvorgetragenen »Konfession« (Angewandte Pro- wickelte sich R. zu einem der wichtigsten sa. Erfragtes, Zwischengefunktes, Vermittelndes. Vertreter des realist. Problemhörspiels in der Bln./DDR 1983) nimmt R. in der Literatur der DDR. Sein Hörspiel Altweibersommer (RundDDR einen besonderen Platz ein. Er war 1987 funk der DDR 1960) stellte einen ersten inMitbegründer der »Tage der jiddischen Kul- ternat. Erfolg dieser bis dahin noch wenig tur« in Ostberlin. R. übersetzt aus dem Jid- profilierten Gattung der DDR-Literatur dar. dischen, Russischen, Tschechischen und Un- R.s (über 40) funkdramat. Arbeiten, die oft garischen. auf komödiantische u. stets zum Nachdenken Nach der Wiedervereinigung war R. bis anregende Weise vorwiegend Gegenwarts2005 als Programmplaner u. Referent für probleme behandeln, wurden 1964 mit dem Öffentlichkeitsarbeit beim »Kunstdienst der Lessing-Preis, 1980 mit dem Nationalpreis u. Evangelischen Kirche« tätig. Der 2001 er- 1986 mit dem OIRT-Hörspielpreis (für Bienschienene Band Verlorene Züge (Mchn.) ver- chens Verwandte. Rundfunk der DDR 1985)

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ausgezeichnet. R.s groß angelegter Rückblick Das war – das ist Hörspiel. Zeugen und Zeugnisse aus drei Jahrzehnten (zus. mit Peter Gugisch. 8 Tle., Urauff. 1979) dokumentierte die wichtigsten Etappen der DDR-Hörspielgeschichte. In den 1980er Jahren wandte sich R. featureähnl. Formen zu (Augenblickchen – Szenen aus deutschen Landen. 1. Tl., Urauff. 1989. 2. Tl., Urauff. 1990) u. beschäftigte sich verstärkt mit Literaturverfilmungen, die wie die Storm-Trilogie (Am grauen Strand, am grauen Meer. Urauff. 1980. Der Schimmelreiter. Urauff. 1984. Immensee. Urauff. 1989) auch international erfolgreich waren. Eine Sammlung seiner Hörspiele erschien u. d. T. Der Almanach und andere Geschichten fürs Radio (Bln./DDR 1980). Weitere Werke: Hörspiele: Nachtzug. 1962. – Gesch. eines Mantels. 1963. – Mein Vater Eddie. 1966. – Das Amulett. 1971 (Hörsp.-R.). – Der zweite von links. 1982. – Der Nachlaß. 1975. – Der Haken. 1980. – Darf ich wieder zu Napoleon? 1985. – Geheimnis einer Nacht. 1987. – Traudel u. Luise. 1991. – Hörbuch-Feature: Die Titanic-Legende. Audio-CD 2000 (Sprecher: Otto Sander). – Herausgeber: Kleines Hörspielbuch. Bln./DDR 1960. – Dialoge (zus. mit Klaus Helbig). Bln./DDR. 1966. Literatur: Siegfried Hähnel: ›Die Glücklichen sollen nicht schläfrig werden, und die Unglücklichen sollen wissen, daß nicht geschlafen wird‹: Zu G. R.s Hörspiel ›Bienchens Verwandte‹. In: DDRLit. [...] im Gespräch, Jg. 3 (1986), S. 208–213. Stefan Bodo Würffel / Red.

Renz, Peter (Josef), * 8.6.1946 Weingarten/ Oberschwaben. – Erzähler, Essayist, Hörspiel- u. Drehbuchautor, Lektor u. Verleger. Nach zwei abgeschlossenen gewerbl. Lehren als Maschinenschlosser u. techn. Zeichner erwarb R. durch eine Sonderbegabtenprüfung den Zugang zum Studium an der PH Weingarten. Der erfolgreiche Abschluss des Lehramtsstudiums u. die anschließende Aufnahme als Stipendiat in die Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichten ihm ein weiteres Studium der Germanistik, Sprach- u. Politikwissenschaft an der Universität Konstanz, das er 1978 mit dem Magister beendete (Vorparadigmatische Sprachwissenschaft. Konstanz 1978). 1978–1983 war er Assistent an

der Universität Konstanz, seitdem lebt er als freier Schriftsteller in Waldburg. Zu schreiben begonnen hatte R. bereits in den 1960er Jahren; 1978 u. 1980 erhielt er Einladungen zum Bachmann-Wettbewerb. R., der Mitgl. des dt. P.E.N. u. des VS ist, wurde 1980 mit dem Kulturförderpreis der Städte Weingarten u. Ravensburg ausgezeichnet, 1981 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis (zus. mit Hermann Kinder), 1985 das New-York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds, 1985 u. 1988 Jahresstipendien des Deutschen Literaturfonds, 1989 das Stipendium der 1. Drehbuchwerkstatt München an der Hochschule für Film und Fernsehen. In seinem ersten, autobiografisch grundierten Roman Vorläufige Beruhigung (Hbg. 1980) lässt R. seinen Helden Josef Heim die Aufbruchserwartungen als Achtundsechziger an den konkreten Zuständen der ausgehenden 1970er Jahre mit Radikalenerlass u. Terrorismushysterie messen. Diesem viel beachteten Debüt folgte der Roman Die Glückshaut (Hbg. 1982); R. erzählt darin die Geschichte von Aufstieg u. Fall des Münchner Bauunternehmers Svoboda, der an die »Machbarkeit des Glücks« glaubt. An der Fortsetzung dieses erfolgreichen Starts als Erzähler hinderte R. zunächst ein viel versprechendes Engagement als Mitinhaber u. Lektor im neu gegründeten Drumlin-Verlag, mit dem er zwischen 1983 u. 1987 im Umfeld »kulturpolitischer Bestrebungen von unten« zum politisch-geistigen Aufbruch der oberschwäb. Region beitrug (Verlagsslogan: »Die Region unter dem Packeis entdecken«) u. an dessen Programm namhafte Autoren (Martin Walser, Gerhard Köpf, Hermann Kinder, Werner Dürrson u. v. a.) beteiligt waren. Nach dem Scheitern des Verlags zwang R. seine persönl. Situation zu weitreichenden Konzessionen. Dazu zählten verstärkt Arbeiten für den Funk sowie die Absolvierung der ersten Drehbuchwerkstatt an der Hochschule für Film und Fernsehen (1989/90), in deren Folge er in den 1990er Jahren mehrere Drehbücher schrieb (u. a. Schatten der Wüste, BR/Voissfilm 1989/90; Lauras Entscheidung, ZDF/arte 1993, Heirate mir, WDR/AVISTA 1994/95; Zweiter Frühling, TeleNormFilm/BR 1997). Daneben

Reschke

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übernahm er Regiearbeiten (SDR), schrieb Herman Bausinger: Von Aufsteigern u. AussteiFeatures, Funkerzählungen, Hörspiele u. gern. Laudatio für H. Kinder u. P. R. bei der VerTheaterstücke (u. a. Die Glückshaut. Urauff. leihung des Bodenseeliteraturpreises. In: Allmende Konstanz 1991). Ende der 1990er Jahre er- 1 (1981), H. 2, S. 136–142. – Jens Jessen: Von Bankrott zu Bankrott. P. R.’ Roman ›Die Glücksöffnete R. ein »literaturbüro« mit umfanghaut‹. In: FAZ, 16.11.1982. – Josef Hoben: P. R. – reichen Serviceangeboten wie SchreibAkade- eine oberschwäb. Schriftstellerkarriere. In: Bodenmie, Lektorat u. Verlag (demand-Verlag mit see-H.e 42 (1991), H. 6, S. 24–27. Manfred Bosch ca. 50 literar. u. Sachbuchtiteln); seit 2000 kamen ständige Seminare u. a. zur Autorenu. Kursleiterfortbildung hinzu. Reschke, Karin, * 17.9.1940 Krakau. – Mit seinen weiteren Büchern, teilweise Schauspielerin; Journalistin, Erzählerin. Auftragsarbeiten, blieb R. seiner Heimat weitgehend verbunden: er verfasste Texte zu R. entstammte einer Schauspielerfamilie, Bildbänden über die Region (Schöne Gegend. Kindheit u. Jugend verbrachte sie in Berlin. Erfahrungen mit Deutschland. Friedrichshafen 1960–1964 studierte sie in München Germa1988. Kontraste in Oberschwaben. Ulm 1997, nistik, brach das Studium jedoch ab. Nach der zus. mit Rupert Leser. Weingarten. Tradition u. Rückkehr nach Berlin 1965 arbeitete sie als Gegenwart. Weingarten 2001) u. gab Samm- Volontärin beim Sender Freies Berlin lungen u. Monografien zu Kollegen u. be- (1972–1974), schrieb Reportagen, Berichte u. freundeten Künstlern wie Josef W. Janker Hörbilder. 1975–1978 war sie Mitarbeiterin (Seht ihn. Biberach 1982), Jan Peter Tripp (Die der Redaktion einer Literaturzeitschrift an Kehrseite der Dinge. Weingarten 1984) oder der Universität Konstanz, wo sie auch für die Hermann Waibel (Friedrichshafen 1990) Zeitschrift »Konkret« Filmkritiken u. Buchheraus, außerdem mehrere Anthologien. Der rezensionen schrieb. 1978 kehrte sie nach regionalen Literatur wandte sich R. erneut Berlin zurück. Dort arbeitete sie im Fachbemit dem Band Spielwiese für Dichter (Eggingen reich Politologie an der Freien Universität u. 1993, zus. mit Oswald Burger) zu, der das bei der sozialwiss. Zeitung »Leviathan«. Ihre Resümee der 25-jährigen Tradition des »Li- ersten literar. Texte wurden im »Kursbuch« terarischen Forums Oberschwaben« zog. Von veröffentlicht. Seit 1984 lebt sie als freider Ostracher Liederhandschrift bis in die Ge- schaffende Autorin in Berlin. Sie war Mitgl. genwart schließlich reichen die Textbeispiele, des Schriftstellerverbandes (1978–1988). mit denen R. in Geschichten aus Oberschwaben 1983 wurde sie Mitgl. des bundesdt. P.E.N.(Tüb. 2009, zus. mit Elmar L. Kuhn) seiner Zentrums. In den Jahren 1979 u. 1985 bekam Heimatregion wiederum literarisch-geistige sie ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats, Konturen verlieh. Den Blick ins Gesell- 1982 wurde sie mit dem Preis für Literatur schaftliche weitete R. in seinem Städteporträt der »FAZ« für ihr Buch Verfolgte des Glücks. Friedrichshafen. Eine deutsche Stadt am See (Tüb. Findebuch der Henriette Vogel (Bln. 1982) aus2008), einem gelungenen Versuch, einen ge- gezeichnet. 1995 erhielt R. den Bettina-vonschichtl. Stoff als »lebendiges Bild von Figu- Arnim-Preis. Drei Jahre später wurde ihr ein ren« vorzuführen, mit dem R. wieder an seine Sonderpreis des Kulturpreises Schlesien des anfänglichen erzählerischen Ambitionen an- Landes Niedersachsen verliehen. R. unternahm zahlreiche Reisen nach Skandinavien, schloss. Frankreich, Italien, Israel, in die USA u. in die Weitere Werke: Sprach- u. Literaturwiss. in der Sowjetunion. BRD u. der DDR. Erlangen 1981. – (Hg.) Lust auf Im Vordergrund ihres Schaffens stehen Abenteuer. Friedrichshafen 1989. – Hinüber. HinFrauen, die sich in einer schwierigen gesellaus. Texte. Stgt. 1994 (mit Bildern v. F. D. Bunsen). – Der Ravensburger Kreis. Eggingen 1999. – Wir schaftl. Situation befinden. Als Prosa-Autorin debütierte R. 1980 mit den autobiografisch vom Jahrgang 1946. Gudensberg-Gleichen 2005. Literatur: Paul Konrad Kurz: Wie eine Träne gefärbten Memoiren eines Kindes (Bln. 1980), im Bodensee. P. R.’ begabte Entkrampfungs- der Geschichte eines jungen Mädchens, das Übungen. In: Rheinischer Merkur, 12.9.1980. – von der gefühllosen Begehrlichkeit der

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Nachkriegsgesellschaft in eine Magersucht getrieben wird. Das Buch ist aus der Rückschau geschrieben u. zeigt die naive Erlebenswelt eines Kindes. Marie, die zentrale Figur, kommt mit ihrer Familie mit einem Flüchtlingszug nach Berlin. Sie versteht zwar nichts von dem, was auf der polit. Ebene passiert, bemerkt aber, dass die Eltern sich anders benehmen. Marie rettet sich durch die Flucht in eine Welt des Scheins. Diese zweite Welt ist der Mond, ein realer Mond, denn es ist »ein Spiegel der Kraterlandschaft der zerstörten Stadt, aber auch ein Ort des reinen Daseins, Gewißheit des Überlebens, Heimat und Geborgensein« (Brettschneider). Diese zweite Welt steht im Gegensatz zur Politik der Erwachsenen, die von dem »Sichanpassen« u. dem »Kampf um Wohlstand« gekennzeichnet ist. Verfolgte des Glücks erzählt die Lebensgeschichte der Freundin u. Todesgefährtin Heinrich von Kleists. Erhalten wurden nur einige Briefe von ihr. Am kleinen Wannsee in Berlin, dem Ort ihres Freitodes, wird sie auf dem Grabstein nicht erwähnt. Die fiktiven Tagebuchnotizen, Briefe u. Skizzen sind in Ton u. Stil den Aufzeichnungen anderer schreibender Frauen der Epoche um 1800, wie Rahel Varnhagen oder Karoline von Günderrode, nachempfunden. Sie zeichnen das Bild einer Romantikerin, die unter den gesellschaftlichen, die Frau ins Abseits der Belanglosigkeit drängenden Verhältnissen leidet, letztlich aber an dem eigenen inneren Widerspruch zwischen dem Aufbegehren gegen die bürgerl. Moral u. dem Wunsch nach männl. Anerkennung u. Liebe zerbricht. Die Ereignisse spielen sich in den Jahren 1798–1811 ab, Henriette ist depressiv und hofft, aus dem leeren Leben mit ihrem Gatten, dem pedantisch-nüchternen, preußisch-kalten Beamten Vogel, zu entkommen. R. ist weit entfernt von »Schwarz-weiß-Malerei« (Homann), u. auch das Verhalten von Louis Vogel wird für den Leser verständlich. Die Vorstellung von der Frau als ewigem Opfer männl. Omnipotenz greift auch die Erzählung Dieser Tage über Nacht (Bln. 1984) auf, in der die Protagonistin verzweifelt einem perversen Tyrannen zu entfliehen versucht, der sie zum Spielball eigener wie fremder Gelüste gemacht hat. Die Protago-

Reschke

nistin war von einem Mann, Albert, abhängig. Als sie sich entscheidet, von ihm zu fliehen, beginnt er, sie zu verfolgen u. ihr die weitere Lebensplanung unmöglich zu machen. In Margarete (Bln. 1987) rückt R. erneut eine literarhistor. Randfigur, das Gretchen des Faust-Stoffs, in den Mittelpunkt. Die in eine vage Gegenwart projizierte Geschichte eines jungen Mädchens, das ein unehel. Kind zur Welt bringt, tötet u. dem Wahnsinn verfällt, konnte jedoch an den Erfolg des »Findebuches« nicht anknüpfen. Die Handlung setzt während Margaretes Schwangerschaft ein; die Geburt des Kindes wird sehr detailliert geschildert. Die letzten Monate aus dem Leben des Mädchens werden in Form von Erinnerungen erzählt. Im Gegensatz zu Goethes Tragödie ist der Verführer von R.s Margarete ein zynischer Versicherungsvertreter, der Menschen verachtet u. auch ihr keine Liebe entgegenbringt. R. ist auch Autorin des Librettos Herzvergiftung (1986), dessen Protagonistin, die Giftmörderin Gesche Gottfried, 1831 hingerichtet wurde. Weitere Werke: K. R. (Hg.): Texte zum Anfassen. Frauenlesebuch. Mchn. 1978. – Henriette, Sophie u. andere Frauen. Aus Anlaß der Verleihung des F.A.Z.-Literaturpreises an K. R. In: FAZ, 19.2.1983. – Dieser Tage über Nacht. Bln. 1984 (E.). – Tribunal im Askanischen Hof. Drei Theaterstücke nach einem fiktiven Stück v. Jorge Semprun u. einem Brief Franz Kafkas. Bln. 1989. – Der bronzene Reiter. In: Das Buch der geheimen Leidenschaften. Hg. Julia v. Bachstein. Ffm. 1991. – Das Lachen im Wald. Hbg. 1993. – Asphaltvenus. Toscas Groschenroman. Hbg. 1994. – Kuschelfisch. Hbg. 1996 (E.en). – Birnbaums Bilder. Ffm. 1998. – Von Schleswig nach Holstein. Skizzen vom Ostseestrand. Ffm. 1999. – SpielEnde. Bln. 2000. – Kalter Hund. Ffm. 2009. – Hörspiele: Fluss-Krebse. Radio Bremen. 1989. – Kasperle. DeutschlandRadio Berlin. 1997. Literatur: Werner Brettschneider: Kindheitsmuster. Kindheit als Thema autobiogr. Dichtung. Bln. 1982, S. 56 f. – Ernst Osterkamp: ›Verfolgte des Glücks‹. In: Kleist-Jb. (1984), S. 163–175. – Ursula Homann: Selbst Hexen haben kein leichtes Leben. In: Zeitwende 55 (1984), S. 182–185. – Marcel Reich-Ranicki: K. R. oder der Doppelselbstmord am kleinen Wannsee. In: Ders.: Lauter

Resewitz Lobreden. Stgt. 1989, S. 163–172. – Doris Christiansen: K. R. In: KLG. – P. Ernst: K. R. In: LGL. . Rita Mielke / Agnieszka Bozek

Resewitz, Friedrich Gabriel, * 9.3.1729 Berlin, † 30.10.1806 Magdeburg. – Prediger u. Pädagoge.

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dass unter R.’ Führung die veraltete Gelehrtenschule in eine moderne Bürgerschule umgewandelt werden könne, erfüllte sich nicht. Zerwürfnisse mit dem Lehrerkollegium u. der Zerfall der aufklärungspädagog. Reformära führten 1796 zu R.’ Amtsenthebung. Weitere Werke: Slg. einiger Predigten. Qued-

Nach dem Besuch des Joachimsthalschen linb. 1766. – Nachricht v. der gegenwärtigen EinGymnasiums studierte R. 1747–1750 Theo- richtung [...] auf dem Pädagogio zu Kloster Bergen. logie in Halle. Hier entwickelte er sich v. a. Magdeb. 1776. – Gedanken, Vorschläge u. Wünsche unter dem Einfluss Siegmund Jakob Baum- zur Verbesserung der öffentl. Erziehung [...]. 5 gartens zum rationalist. Theologen. Wieder Bde., Bln./Stettin 1777–84. Literatur: Waldemar Kawerau: F. G. R. In: in Berlin, knüpfte er Verbindungen zu MenGeschichts-Bl. für Stadt u. Land Magdeburg (1885), delssohn u. Nicolai, beteiligte sich an den S. 149–192. – H. Holstein: R. In: ADB. – Uwe Versammlungen des von ihnen ins Leben geFörster: Scharfsinniger Erziehungsphilosoph oder rufenen »Gelehrten Kaffeehauses« u. trug bildungsunfähiger Aufklärer? [...] F. G. R. In: hier seine Auffassung Über das Genie vor, die in Freier Geist in engen Mauern. Halle 2006, S. 72–96. der Sammlung vermischter Schriften zur BefördeHorst Krause / Red. rung der schönen Wissenschaften und Künste (Bln. 1759. Bd. 2, S. 131–179. Bd. 3, S. 1–69) verRettenpacher, Rettenbacher, Simon, öffentlicht wurde. 1756 wurde R. Prediger an * 19.10.1634 Aigen bei Salzburg, † 9./ der Benedictikirche zu Quedlinburg. Nach 10.5.1706 Kremsmünster. – Theologe aus Ausscheiden Lessings aus der Redaktion der dem Benediktinerorden, Dramatiker, Ly»Literaturbriefe« beteiligte sich R. mit 20 riker, Polyhistor, Orientalist. Rezensionen u. a. über Spalding (277. Brief), Basedow (300./301. Brief) u. Kant (280./281., An der Universität Salzburg begann R. ein 323./324. Brief). Studium der Rechtswissenschaften, das er in 1765–1789 war R. Mitarbeiter an Nicolais Rom u. Padua fortsetzte. Er spezialisierte sich »Allgemeiner deutscher Bibliothek«. Seine auf das Feudalrecht, wandte sich daneben zahlreichen Rezensionen erweisen ihn als aber auch der Philosophie u. den modernen Verfechter der aufgeklärten Theologie ge- Sprachen zu. Nach seiner Rückkehr nach genüber der erstarrten Orthodoxie. 1767 ging Salzburg sollte er eine Professur am CollegiR. als Prediger an die dt. St. Petrikirche in um Lodrono-Rupertinum antreten, doch Kopenhagen. Hier entwickelte er freund- entschloss er sich, gegen den Willen seiner schaftl. Beziehungen zu Klopstock, Johann Verwandten u. anderer »Wohlmeinender«, in Andreas Cramer, Johann Heinrich Schlegel u. den Benediktinerorden einzutreten. Am Gottfried Benedict Funk. 2.2.1661 legte er in Kremsmünster seine OrIn Kopenhagen entstanden seine wichtigs- densgelübde ab. Nach Abschluss seiner theoten pädagog. Werke, Ueber die Versorgung der log. Studien in Salzburg wurde er 1664 zum Armen (Kopenhagen 1769) u., im Zusam- Priester geweiht. Zu weiterer Ausbildung menhang mit dem Auftrag Christians VII., schickte ihn sein Abt Placidus Puechauer eine Realschule einzurichten, Die Erziehung des wieder nach Rom, wo er zunächst durch den Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes [...] Kustos der Vatikanischen Bibliothek, Leo Al(Kopenhagen 1773. Neudr., hg. u. eingel. v. latius, in den oriental. Sprachen unterwiesen Horst Krause. Glashütten/Ts. 1975). Die in wurde. Später studierte er das Hebräische bei diesem Werk entwickelten Vorstellungen Giovanni Battista Jona u. Francesco Grisendi über eine Neugestaltung des Schulwesens u. das Arabische bei Antonio Nairone Banerregten das Interesse des preuß. Ministers nesio. Vom Mai 1667 an leitete er das GymKarl Abraham von Zedlitz, der ihn 1774 zum nasium in Kremsmünster. Ab 1671 lehrte er Abt von Kloster Berge berief. Die Erwartung, Ethik u. Geschichte an der Universität Salz-

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burg; zgl. leitete er als Pater Comicus das dortige Theater. Zu seinen Aufgaben gehörten die Inszenierungen eigener Dramen zum Abschluss jedes Studienjahres. Als Vorsteher der Stiftsbibliothek u. Professor für bibl. Sprachen berief der Orden ihn dann 1676 erneut nach Kremsmünster. Auch hier wirkte er gleichzeitig als Theaterleiter. 1689–1705 Pfarrer von Fischlham, verstand er es, wiss. Studien mit seelsorgerischer Tätigkeit zu verbinden. R.s literar. Œuvre ist entsprechend seinen Studien u. unterschiedl. berufl. Aufgabenfeldern sehr vielseitig. Nur ein Bruchteil dieses Werks wurde zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Vor allem seine Leistungen als Vertreter des Benediktinerdramas verdienen eine Würdigung. Dieses unterscheidet sich vom Jesuitendrama schon durch das Fehlen der militanten Agitation, die dem Träger der Gegenreformation eigen war. Auch wenn bisweilen die behandelten Stoffe in beiden Dramenformen gleich sind, zeigt sich bei den Benediktinern eine Differenz etwa in der Darstellung des Sünders, seiner Sehnsucht nach Gott u. dessen verzeihender Vaterliebe. Das Vorherrschen des Lokalkolorits resultierte aus der auch kulturellen Eigenständigkeit der Benediktinerklöster. So werden in Österreich früh kom. Interludien in den strengen Ablauf des Dramas eingeschaltet, was auch R. beeinflusste. Typisch für seine Dramen war die Behandlung allg. menschl. Probleme u. die Einbeziehung volkstüml. Elemente. R. war Theaterfachmann durch u. durch: Architektur, Bühnentechnik, Tanz u. Musik wurden – das Verständnis unterstützend – in die Aufführungen integriert u. charakterisieren seine Dramen als Gesamtkunstwerke. Imponierend für den Zuschauer des barocken Dramas (vgl. Weise u. a.) war der große Personenapparat auf der Bühne. Sein erstes erhaltenes u. gedrucktes Drama Innocentia dolo circumvente seu Demetrius [...] (Salzb. 1672) weist bereits die genannten Eigenarten auf: Die Handlung, die er mit dramat. Spannung führt u. die selten Raum für lange Monologe lässt, spricht für sich selbst u. bedarf nicht moralisierender Exegese. Der lasterhafte Affekt des Ehrgeizes treibt Perseus zum Mord an seinem Bruder Demetrius. Hass u. Intrige strukturieren

Rettenpacher

gleichsam die Handlung u. bieten ein Spiegelbild der realen Welt. Die Fortsetzung des Dramas u. d. T. Perfidia punita seu Perseus [...] (Salzb. 1674) führt vor Augen, wie Strafe u. Sühne konsequent aus der Tat folgen, Schuld rächt sich schon auf Erden. Aber der Tod ist nicht nur Strafe wie bei den Jesuiten oder Sinnbild der Vanitas wie bei Gryphius, sondern als »der Sünde Sold« auch Chance zur Rettung. Spätere Dramen – z.B. Prudentia victrix, sive Ulysseus [...] in patriam redux (Salzb. 1680) – belegen die Einbeziehung komplizierter Bühnenmaschinerie. R.s Hauptwerk, die Jubiläumsschrift Annales monasterii Cremifanensis (Salzb. 1677), feiert das 900-jährige Bestehen seines Klosters; zgl. wird die erste wiss. Geschichte Oberösterreichs geliefert. 1793 erfolgte eine Übersetzung ins Deutsche. Ebenso bedeutend wie der Dramatiker war auch der Lyriker R. Seine Vorliebe für die Satire führte fast automatisch zur HorazNachfolge u. stellt ihn auf eine Stufe mit Kasimir Sarbiewski u. Jacob Balde. Welt- u. Menschenkenntnis verbinden sich in seinen Satiren mit persönl. Erlebnissen; humorvoll werden Verhaltensweisen der Zeitgenossen getadelt. Die Oden sind religiösen Inhalts oder befassen sich mit polit. Ereignissen – z.B. mit den Türkenkriegen. R.s Briefe, die uns in eigenhändiger Abschrift vorliegen, sind eine wertvolle Grundlage zum Verständnis seines Lebens u. seines – nicht nur literarischen – Wirkens. Sie zeigen seine Einschätzung von Personen u. histor. Ereignissen u. belegen einmal mehr die Wichtigkeit der Briefliteratur für die Literaturgeschichtsschreibung. Ausgaben: Selecta dramata diversis temporibus conscripta, et in scena recitata. Salzb. 1683. Internet-Ed. in: CAMENA. – Lat. Oden des S. R. Hg. Tassilo Lehner. Wien 1891. – Lyr. Gedichte. Hg. ders. Wien 1893. Internet-Ed. in: CAMENA. – Ode an den hl. Stifter Rupert [...]. Hg. ders. In: Mitt.en der Gesellsch. für Salzburger Landeskunde 34 (1894). – Lat. Gedichte. Hg. ders. Wien 1905. – Dt. Gedichte S. R.s. Hg. u. Einl. Richard Newald. Augsb. 1930. – Innocentia Dolo Circumventa seu Demetrius [...]. Hg. u. Einl. Willi Flemming. In: Dt. Lit. in Entwicklungsreihen. Reihe Barock: Das Ordensdrama. Lpz. 1930, S. 304–362. – Oden u. Epoden (lat./dt.). Graz 1995. 22006. – S. R.s Kom. Judicium Phoebi, de nostri saeculi Vatibus. Einl.,

Retzer lat. Text, Übers. u. Komm. v. Veronika Oberparleiter. Horn u. a. 2004. – Silvae (lat./dt.) / S. R. Hg. Benno Wintersteller. Übers. Walter Zrenner. Wien u. a. 2006. – Dramen (lat./dt.). Hg. Benno Wintersteller, Übers. Alfons Isnenghi u. Walter Zrenner. 2 Tle. in 3 Bdn., Wien 2007–09.

564 In: Jb. der Österr. Goethe-Gesellsch. 108/109/110 (2004/05/06), S. 239–257. Franz Günter Sieveke

Retzer, Joseph Friedrich von, * 25.6.1754 Krems, † 15.10.1824 Wien. – Lyriker u. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Editor.

Bd. 5, S. 3305–3308. – Weitere Titel: Tassilo Lehner: R.s Stellung zum Griechischen. Linz 1894. – Ders.: R. [...]. In: Mitt.en d. Gesellsch. für dt. Erziehungsu. Schulgesch. 8 (1898). – Ders.: S. R. Wien 1905. – B. Münz: S. R., ein neuentdeckter dt. Horaz. In: Nord u. Süd 76 (1896). – Gotthard Übleis: P. S. R., Benediktiner v. Kremsmünster 1634–1706. Diss. masch. Wien 1922. – Artur Kutscher: Das Salzburger Barocktheater. Wien 1924, S. 48 f. – Edmund Haller: S. R. als Dramatiker. In: Heimatgaue. Ztschr. für oberösterr. Gesch. u. Landeskunde 8 (1927), S. 280–289. – Mauriz Schuster: R. u. seine Beziehungen zur Antike. In: Ztschr. für dt. Geistesgesch. 3 (1937). – Richard Newald: S. R.s ›Teutsche Reim-Gedichte‹. In: Oberösterr. Heimatbl. 4 (1950), S. 212–223. – Hildegart Pfanner: Das dramat. Werk S. R.s. Diss. masch. Innsbr. 1954. – August Klinglmair: Die Satiren P. S. R.s. Diss. Graz 1967. – Moriz Enzinger: S. R. In: Tausend Jahre Österr. Bd. 1, Wien 1973, S. 250–254. – Eckart Schäfer: Dt. Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paulus Melissus, Jacob Balde. Wiesb. 1976. – Benno Wintersteller: S. R.s Teutsche Reim-Gedichte. Diss. Salzb. 1973. – Ders.: R.s dt. Lyrik. Beiträge zur Erschließung. In: Jahresber. Öffentl. Gymnasium der Benediktiner zu Kremsmünster 118 (1975), S. 1–57. – Ders.: S. R. u. die dt. Lyrik des 17. Jh. Die Sprache der ›Dt. Reim-Gedichte‹ auf d. Hintergrund des oberdt. Literaturprogramms. In: Studien u. Mitt.en zur Gesch. des Benediktinerordens u. seiner Zweige 88 (1977), S. 146–187. – Ders.: Lat.dt. Zweisprachigkeit im kath. Kulturraum. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 47 (1984), S. 241–253. – Ders.: S. R.s Briefe – Spiegel seines Lebens u. literar. Schaffens. In: Die österr. Lit. Ihr Profil (1050–1750). Hg. Herbert Zeman. Graz 1986, S. 1283–1297. – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. 1554–1680. Bern 1978, S. 33–44. – Hermann Wiegand: Jacob Balde, Angelinus Gazaeus u. S. R. In: Jacob Balde u. seine Zeit. Hg. J.-M. Valentin. Bern/Ffm./New York 1986, S. 255–270. – Veronika Oberparleiter: Auf den Spuren v. Justus Lipsius: Das Motiv der Senatssitzung in satir. Schr.en S. R.s. In: Wiener humanist. Bl. 47 (2005), S. 70–90. – Walter Zrenner: Jacobus Balde, S. R., Michael Denis. Aspekte kath. Ordensdichtung im 17. u. 18. Jh.

Der Sohn eines in den Adelsstand erhobenen Beamten trat nach Besuch der Theresianischen Ritterakademie in den österr. Staatsdienst. Sein Gedicht Auf die verstorbene Kaiserinn, Beschützerinn der Wissenschaften (Wien 1782) erregte die Aufmerksamkeit Josephs II. u. brachte R. das Amt eines Bücherzensors ein, das er im Geist des Josephinismus ausübte. Er förderte aufklärerisches u. krit. Schrifttum u. versuchte, »obscurantistische« Literatur zu verbieten. Bereits 1787 wurde er zum Hofsekretär ernannt. Nach dem Tod Josephs II. war R. wiederholten Angriffen ausgesetzt. Leopold Alois Hoffmann denunzierte ihn als Illuminaten; R.s Zensurtätigkeit wurde 1801 eingeschränkt, u. seine berufl. Laufbahn stagnierte. R.s literar. Œuvre ist nicht sehr umfangreich. Er begann unter dem Einfluss seines Lehrers Denis mit Hochstillyrik, war 1776 Mitarbeiter an Friedrich Just Riedels Zeitschrift »Litterarische Monate« u. schloss sich schließlich dem Kreis des »Wiener Musenalmanachs« um Ratschky u. Blumauer an. Seine Gedichte, die sich allmählich den in diesem Kreis gepflegten Genres der mittleren Stilebene annäherten, erschienen u. a. auch im »Teutschen Merkur«, im »Deutschen Museum« u. im »Hamburger Musenalmanach«. Eine zentrale Rolle im literar. Leben des josephin. Wien spielte R. dagegen als Verbindungsmann zum übrigen dt. Sprachraum. Der fast 30 Jahre währende Briefwechsel mit Nicolai dokumentiert, dass R. in ästhet. Hinsicht den Primat der sächs. u. preuß. Literatur fraglos anerkannte u. die österr. Literatur an den Maximen der Berliner Aufklärung maß. Auch als Herausgeber leistete R. Bedeutendes. Neben der Anthologie Choice of the Best Poetical Pieces of the Most Eminent English Poets (6 Bde., Wien 1783–86), einem Zeugnis der in den Wiener Freimaurerkreisen vorherrschenden Anglophilie, gab er u. a. Werke des ital. Humanisten Hieronymus

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Balbus, Paul Scarrons, Denis’ sowie Ayrenhoffs heraus. Literatur: Eugene F. Timpe: A Viennese Acquaintance of Wieland. In: Christoph Martin Wieland. Hg. Hansjörg Schelle. Tüb. 1984. – Wynfrid Kriegleder: J. v. R.s Briefe an Friedrich Nicolai. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 89/90/91 (1985/86/ 87), S. 261–322. – Ders.: Johann Gottfried Seume u. die Autoren der Wiener Aufklärung: R., Ratschky u. a. In: Seume: ›Der Mann selbst‹ u. seine ›Hyperkritiker‹. Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Leipzig u. Catania 2002. Hg. Jörg Drews. Bielef. 2005, S. 211–227. Wynfrid Kriegleder

Reuchlin, Johannes, gräzisiert: Capnion, * 29.1.1455 Pforzheim (daher Beiname Phorcensis), † 30.6.1522 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Kirche St. Leonhard. – Humanist; Verfasser philosophischer, rhetorischer u. philologischer Schriften, Herausgeber, Übersetzer u. Kommentator griechischer, hebräischer u. lateinischer Texte, Komödiendichter. Bereits für seine Zeitgenossen bildete R. zus. mit Erasmus von Rotterdam das Zweigestirn des dt. Renaissance-Humanismus; Ulrich von Hutten bezeichnete sie 1516 als die »beiden Augen Deutschlands«, durch deren Wirken der Barbarei nördlich der Alpen ein Ende gemacht worden sei. Als Wegbereiter des Griechischen u. Hebräischen sowie als maßgebl. Begründer einer christl. Kabbala erschloss R. der frühneuzeitl. Gelehrtenkultur neue Horizonte. Sein 1510 für Kaiser Maximilian verfasstes Gutachten zum kulturellen Wert der jüd. Literatur löste eine jurist. u. publizist. Debatte aus, die für das vorreformatorische Deutschland von prägender Kraft war. Durch seinen Widerstand gegen den Kölner Inquisitor Jakob Hoogstraeten avancierte R. dabei im Urteil der Nachwelt zum Vorkämpfer für die Freiheit der Wissenschaft u. zu einem Vorläufer des modernen Toleranzgedankens. R.s Vater Georg war weltl. Verwalter des Dominikanerklosters St. Stephan in Pforzheim, der damaligen Residenz der Markgrafen von Baden; seine vermutlich aus dem Nordschwarzwald stammende Mutter Elisabeth war eine geborene Eck. R. hatte zwei

Reuchlin

jüngere Geschwister. Sein Bruder Dionysius studierte auf seinen Spuren in Basel, Florenz u. Tübingen, sollte 1498 in Heidelberg eine Griechischdozentur erhalten u. wurde später Priester. R.s Schwester Elisabeth war über ihren früh verstorbenen Mann mit den Großeltern seines späteren Lieblingsschülers Philipp Melanchthon verschwägert, der während seiner Pforzheimer Schulzeit (1508/ 09) bei ihr wohnte. 1516 ließen sich die drei Geschwister gemeinsam als Terziare in den Orden der Augustinereremiten aufnehmen. Nach dem Besuch der Pforzheimer Lateinschule immatrikulierte sich R. am 19.5.1470 in Freiburg/Br. Auf Geheiß Markgraf Karls I. von Baden begleitete er 1473/74 dessen Sohn Friedrich (den späteren Bischof von Utrecht) als Präzeptor an die Universität Paris; von den Humanisten Johannes Heynlin, Guillaume Tardif u. Robert Gaguin wurde er dort in Grammatik u. Rhetorik unterwiesen u. begann mit dem Studium des Griechischen. Anschließend wechselte er zus. mit seinem Lehrer Heynlin nach Basel (Griechisch-Unterricht bei Andronikos Kontoblakes); an der Basler Universität wurde er im Sept. 1474 zum Baccalaureus u. 1477 zum Magister artium promoviert. 1478 kehrte er nach Paris zurück (Griechisch-Unterricht bei Georgios Hermonymos). Im Jan. 1479 ging er dann zum Studium der Rechte nach Orléans. Dort erwarb R. noch im selben Jahr den Grad eines jur. Bakkalars, später in Poitiers am 14.6.1481 das Lizentiat im Römischen Recht. Am 9.12.1481 ließ er sich an der Universität Tübingen immatrikulieren, wo er jüngeren Forschungen zufolge (Lorenz 2009) möglicherweise auch die Poetiklektur erhielt; im Wintersemester 1484/85 erfolgte dort die Promotion zum Dr. jur. civ. Im Frühjahr 1482 begleitete R. Graf Eberhard von Württemberg (1445–1496) auf einer Reise nach Florenz u. Rom; 1483 trat er als Rat dauerhaft in dessen Dienste, ließ sich in Stuttgart nieder u. wurde Beisitzer am württemberg. Hofgericht. In diplomat. Mission unternahm er zahlreiche Reisen. Sie führten ihn u. a. 1486 zur Königskrönung Maximilians I. nach Frankfurt, Aachen u. Köln, 1490 abermals nach Florenz (Kontakt mit Giovanni Pico della Mirandola) u. Rom (Kontakt mit

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Ermolao Barbaro) sowie 1492/93 an den Kaiserhof nach Linz (Kontakt mit Jakob Jechiel Loans, seinem jüd. Hebräischlehrer); dort verlieh Kaiser Friedrich III. ihm am 24.10.1492 das kleine Palatinat u. erhob ihn somit in den Adelsstand. Zusätzliche private Anwaltstätigkeit (u. a. für den Dominikanerorden) u. die Einheirat in die Stuttgarter Ehrbarkeit (zwei Ehen) ließen ihn zu Wohlstand gelangen. Eberhards Tod am 25.2.1496 u. die politisch instabile Lage unter dem neuen Landesherrn (Eberhard d.J.) trieben R. jedoch vorübergehend ins Exil nach Heidelberg; damals frequentierte er den Kreis um den Wormser Bischof Johannes von Dalberg, dessen Bibliothek er zeitweilig auch betreute, u. gehörte der von Konrad Celtis gegründeten humanist. »Sodalitas literaria Rhenana« an. 1498 stand R. als Rat u. oberster Prinzenerzieher in Diensten Kurfürst Philipps von der Pfalz, in dessen Auftrag er im Frühjahr zu Verhandlungen mit Papst Alexander VI. ein drittes Mal nach Rom aufbrach u. auf der Rückreise Venedig besuchte, wo er bei Aldo Manuzio seine vor dem Papst gehaltene Rede drucken ließ. Im Sommer 1499 kehrte R. nach Stuttgart zurück. 1502–1513 amtierte er in der Nachfolge seines langjährigen Förderers Johannes Naukler als Richter der Fürstenbank des Schwäbischen Bundes (»triumvir Sueviae«). Nachdem Württemberg unter Herzog Ulrich aus dem Schwäbischen Bund ausgetreten u. das Bundesgericht deswegen 1513 von Tübingen nach Augsburg verlegt worden war, nahm R. seinen Abschied u. lebte von Anwaltshonoraren u. den Einkünften seines Ditzinger Landgutes. 1516 leitete er Nauklers postum erschienene Weltchronik mit einer wichtigen Vorrede über den Wert der Historiografie ein. Die durch Kurfürst Friedrich den Weisen ausgesprochene Berufung auf den Wittenberger Lehrstuhl für Griechisch u. Hebräisch lehnte er 1518 ab u. empfahl stattdessen Melanchthon. Krieg u. Pest veranlassten ihn jedoch, im Nov. 1519 nach Ingolstadt zu gehen (Immatrikulation an der Universität am 21.11.1519), wo er am 29.2.1520 eine Professur für Griechisch u. Hebräisch erhielt, die er aber bereits 1521 mit einem entsprechenden Tübinger Lehrstuhl wieder vertauschte. Nicht lange vor seinem

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Tod muss R. zum Priester geweiht worden sein; in einem alten Verzeichnis der Stuttgarter Salve-Regina-Bruderschaft ist sein Name unter den »sacerdotes« aufgeführt. Nach einem letzten erfolglosen Kuraufenthalt in Bad Liebenzell im Frühjahr 1522 starb er in seinem Stuttgarter Haus. Noch im selben Jahr setzte Erasmus ihm innerhalb seiner Colloquia familiaria mit der Apotheosis Capnionis ein eindrückl. Denkmal: Als eine Art humanistischer Heiliger plaudert R. am Ende im Himmel mit dem ebenfalls dreisprachigen Kirchenvater Hieronymus. R.s Ruhm als Humanist u. »vir trilinguis«, der in Lateinisch, Griechisch u. Hebräisch gleichermaßen versiert war, ist durch eine Vielzahl von Werken begründet. Das lat. Wörterbuch Vocabularius breviloquus, sein 1478 bei Johannes Amerbach in Basel noch anonym erschienenes kompilatorisches Erstlingswerk, erreichte bis 1504 nicht weniger als 22 Auflagen. Ähnlich erfolgreich waren seine beiden 1496/97 in Heidelberg entstandenen lat. Komödien Sergius vel Capitis caput u. Scaenica progymnasmata; insg. erschienen sie 1498–1615 in über 50 Ausgaben. Beide Stücke sind in jambischen Senaren verfasst u. wurden 1507 u. 1512 durch Georg Simler (Sergius) u. Jakob Spiegel ausführlich kommentiert u. noch in der ersten Hälfte des 16. Jh. ins Deutsche übertragen; sie bilden nicht nur einzigartige Zeugnisse für die Rezeption der röm. Palliata im Humanismus, sondern markieren den Anfang der nlat. Komödie auf dt. Boden u. wurden von Zeitgenossen wie Celtis oder Georg Macropedius, aber auch von Nachgeborenen wie Johann Christoph Gottsched als eine epochale Leistung gepriesen. Der etwas ältere Sergius wird heute zumeist als eine biografisch motivierte Invektive gegen den schwäb. Augustinermönch u. Fürstengünstling Conrad Holzinger interpretiert, vor dem R. 1496 nach Heidelberg geflohen war. Die in dem Dreiakter enthaltene Kritik an der zeitgenöss. Reliquienverehrung sicherte dem Text des selten gespielten Dramas (vermutlich erst 1509 in Pforzheim uraufgeführt) zu Beginn des 16. Jh. ein breiteres Lesepublikum; auch Martin Luther gehörte zu seinen Rezipienten. Die durch eingeschobene Chorpartien in fünf Akte ge-

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teilten u. dramaturgisch reiferen Scaenica progymnasmata (bereits am 31.1.1497 in Heidelberg uraufgeführt), die seit der dt. Bearbeitung durch Hans Sachs (1531) nach einer der Hauptfiguren meist Henno genannt werden, variieren Stoffe der ital. Commedia dell’arte u. der frz. Farce vom Maître Pathelin. Gekonnt greift R. in temporeichen Dialogen, die er in den bäuerlichen u. städt. Milieus der Zeit ansiedelt, das Motiv des betrogenen Betrügers auf. Zu diesen Komödien angeregt wurde R. offenbar durch den Erfolg seiner lat. Gedichte bei den Angehörigen der Heidelberger »Sodalitas«. Rund 25 Gedichte R.s sind noch erhalten; ein ihm bereits 1494 von Johannes Trithemius zugeschriebenes Buch mit lat. Epigrammen u. Elegien ist dagegen nicht überliefert. Eine Gelegenheitsschrift bildet der 1504 in Pforzheim gedruckte Liber congestorum de arte predicandi. R. schrieb dieses kurzgefasste Handbuch, in dem die Inhalte der antiken Rhetorik für die christl. Predigt fruchtbar gemacht werden, Ende 1502 während einer Pestepidemie als Dank für die mehrmonatige Aufnahme im Regularkanonikerstift zum Hl. Grab in Denkendorf. Zunehmend mehr hat R. sich auf theologisch relevante Inhalte u. Fragestellungen konzentriert: Die philosoph. Dialoge De verbo mirifico (Basel 1494) u. De arte cabalistica (Hagenau 1517) sowie die für die christl. Hebraistik bahnbrechenden philolog. Lehrbücher De rudimentis Hebraicis (Pforzheim 1506) u. De accentibus et orthographia linguae Hebraicae (Hagenau 1518) bilden die Hauptwerke seines Schaffens u. zeugen von einem bibl. Humanismus, der sich neben der paganen Literatur der Antike verstärkt den Kirchenvätern (bes. Hieronymus u. Athanasios) u. der »Hebraica veritas« zuwandte. Die Hinwendung zur jüd. Kabbala erfolgte dabei im Rahmen einer gleichsam archäolog. Spurensuche nach der Philosophie des Pythagoras, die R. durch Auswertung kabbalist. Quellen erstmals umfassend zu rekonstruieren unternahm. Auch sein Studium der hebr. Sprache diente R.s eigener Auskunft zufolge nicht zuletzt diesem Zweck: Schon 1506 kündigte er im Widmungsbrief von De rudimentis Hebraicis an, er wolle den durch sein hebr. Lehrbuch Vorgebildeten hernach die

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geheime Philosophie des Pythagoras nahebringen – eine Ankündigung, die er 1517 mit De arte cabalistica einlöste. Wie ein 1486 für ihn kopiertes hebr.-jidd. Lexikon u. ein 1484/85 an Rudolf Agricola gerichteter Brief beweisen, hat R. sich schon früh mit dem Hebräischen u. den Mysterien des hebr. Gottesnamens beschäftigt. Diesem Interesse entspringt auch sein philosoph. Erstlingswerk, der Dialog De verbo mirifico, dessen Rahmenhandlung in Pforzheim spielt: Zwischen dem Juden Baruchias, dem heidn. Philosophen Sidonius u. dem Christen Capnion entspinnt sich ein zunehmend mehr durch den christl. Vertreter dominiertes Religionsgespräch, in dem griech. Philosophie, kabbalist. Magie u. christl. Glaube zur Deckung gebracht werden; die Traditionskette der in die magische Kraft der göttl. Namen Eingeweihten lässt R. dabei mit den Hebräern beginnen, die auch als Erfinder der Schrift (noch vor den Phöniziern) bezeichnet werden. Der unaussprechliche vierbuchstabige Gottesname der Juden (»JHWH«) sei aber durch den wundertätigen Namen Jesu ersetzt worden, den der Erzengel Gabriel offenbart hatte; das fleischgewordene Wort bildet die Quintessenz jenes priesterl. Wissens, das von Moses über die Ägypter u. Griechen zu den Christen gewandert sei. In dem 23 Jahre später erschienenen Dialog De arte cabalistica wird R.s Theosophie weiter ausdifferenziert. Die Rahmenhandlung des erneut in drei Bücher geteilten u. sich über mehrere Tage erstreckenden Gesprächs spielt nunmehr in Frankfurt, wo R. den Pythagoreer Philolaus u. den Muslim Marranus auf den jüd. Kabbalisten Simon treffen lässt. Das Werk spiegelt R.s inzwischen stark erweiterte Kenntnis der kabbalist. Quellen, Methoden u. Inhalte wieder (Gematrie, Notarikon u. Temura; Emanationslehren; Engelsmagie). Die kabbalist. Kontemplation soll dem menschl. Intellekt den Aufstieg zur Gottheit ermöglichen. Die im zweiten Buch detailliert ausgeführte Verwandtschaft von Kabbala u. Pythagoreismus erklärt R. damit, dass Pythagoras sein Wissen von jüd. Lehrern empfangen habe; pythagoreische u. kabbalist. Traditionen werden als eine religiös-kulturelle Einheit identifiziert, u. die Freilegung dieser

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gemeinsamen arkanen Fundamente soll einer als nötig empfundenen Erneuerung christl. Religiosität dienen. R.s Zeitgenossen standen diesem religionsphilosoph. Konzept häufig mit erhebl. Skepsis gegenüber. Luther etwa benutzte zwar dankbar R.s hebr. Lehrbücher, die durch sie zugänglich gemachte Kabbala blieb ihm jedoch fremd. Jakob Hoogstraeten veröffentliche 1519 mit der Destructio cabale sogar eine harsche Verurteilung von R.s philosoph. Hauptwerk, die freilich in all ihrer Polemik nur eine von vielen Streitschriften bildet, die im Rahmen des sog. »Judenbücherstreits« erschienen sind. Der Auslöser für diese fast zehn Jahre andauernde Auseinandersetzung war die umfassende Konfiskation jüd. Bücher, die 1509 von dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn initiiert worden war. Da die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme schon bald in Frage gestellt wurde, forderte Kaiser Maximilian hierzu Gutachten an. Als einziger der sieben 1510 bestellten Gutachter sprach R. sich gegen die Konfiskation u. angestrebte Verbrennung der jüd. Literatur aus, da dies einerseits die gesetzlich verbürgten Eigentumsrechte der Juden verletze u. andererseits die jüd. Literatur (nicht nur die kabbalist. Texte, sondern ebenso der im Mittelpunkt der Kritik stehende Talmud) auch für Christen von erheblichem Wert sei u. daher erhalten u. zugänglich gemacht werden müsse. R. zog sich durch sein Gutachten, das er nach heftigen Anfeindungen Pfefferkorns 1511 im Augenspiegel (Tüb.) nachträglich veröffentlichte u. verteidigte, die erbitterte Feindschaft des Inquisitors Hoogstraeten, der Dominikaner u. der Kölner theolog. Fakultät zu, die anders votiert hatten. Die Auseinandersetzung vollzog sich auf zwei Ebenen: Auf jurist. Ebene wurden die von Kölner Seite gegen den Augenspiegel erhobenen Vorwürfe der Ketzerei u. ungebührl. Begünstigung der Juden 1514 durch ein Speyerer Urteil u. 1516 nochmals durch eine in Rom eingesetzte Kommission für nichtig erklärt, bevor der Prozess ins Stocken u. dann in den Sog der »causa Lutheri« geriet u. der Augenspiegel schließlich am 23.6.1520 durch Papst Leo X. doch noch verurteilt u. verboten wurde. Auf publizist. Ebene brachte der Streit einige

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Dutzend Schriften u. Ausgaben hervor, darunter R.s Ain clare verstentnus (1512) u. die geharnischte Defensio contra calumniatores suos Colonienses (1513) sowie die Sammlungen der an R. gerichteten Clarorum virorum epistolae (1514) u. Illustrium virorum epistolae (1519), deren erste eine der berühmtesten Satiren der Neuzeit anregte: Als Gegenstücke zu den von R. selbst zusammengestellten Briefen verfassten Crotus Rubeanus, Ulrich von Hutten u. Hermann von dem Busche die Epistolae obscurorum virorum (vgl. den gleichnamigen Artikel), die an den Kölner Magister Ortwin Gratius gerichtet waren u. 1515 u. 1517 anonym in zwei Teilen erschienen. Mit ihrem barbarischen u. von zahllosen Germanismen durchsetzten Latein konnten sich diese fiktiven Briefe des Gelächters der zeitgenössischen humanist. Avantgarde, zu deren Bannerträger R. avanciert war, sicher sein; der oft hanebüchene Inhalt der Briefe ließ die Kölner Gegner R.s als rückständige u. moralisch verkommene Dummköpfe erscheinen. Der zwischen R., Pfefferkorn u. Hoogstraeten ausgetragene Streit um die jüd. Bücher hatte sich durch die Epistolae obscurorum virorum zu einem humanist. Feldzug gegen die Scholastik u. die Anmaßungen einer verlotterten Amtskirche ausgeweitet; Ulrich von Huttens 1518 unter Pseudonym veröffentlichter Triumphus Capnionis legt von dieser Akzentverschiebung beredtes Zeugnis ab. Da R. sich Luthers Reformation gleichwohl nicht anschloss, wurde der Bruch mit Hutten u. Melanchthon später unvermeidlich. R.s Verhältnis zu den Juden wird in der jüngeren Forschung differenziert betrachtet. Seine Tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend sind (Pforzheim 1505) lehnt die gewaltsame Bekehrung der Juden zwar ab, bezeichnet eine anzustrebende Konversion zum Christentum aber dennoch als Voraussetzung für eine dauerhafte Duldung u. Integration; zu R.s ausgeprägtem kulturellen Philosemitismus gesellte sich mitunter ein überkommener Antijudaismus. Jüdische Gelehrte u. Literaten wie Heinrich Graetz, Ludwig Geiger, Max Brod oder Gershom Scholem haben sich gleichwohl mit R. identifiziert u. ihn als einen Urvater der Judenemanzipation verehrt.

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Während sich R.s jahrzehntelange Tätigkeit als Anwalt, Rat u. Richter jenseits des Bücherstreits nicht in jurist. Publikationen niederschlug, behandelte er als Philologe noch eine ganze Reihe von zumeist antiken Texten in Übersetzungen, Textausgaben u. Kommentaren. Einige dieser Arbeiten blieben zu seinen Lebzeiten ungedruckt u. sind teilweise verloren: die lat. Übersetzung von Xenophons Apologia Socratis, die lat. Übersetzung der Marienpredigt des Proklos (1529 postum erschienen), die lat. Übersetzung eines Briefes des Nestorios, die metrische dt. Übersetzung des dritten Buches von Homers Ilias, die lat. Prosaübersetzung der pseudohomerischen Batrachomyomachia, die dt. Übersetzung der ersten beiden Orationes Philippicae sowie der ersten Oratio Olynthiaca des Demosthenes, die dt. Übersetzung von Lukians zwölftem Dialogus mortuorum, die kommentierte dt. Übersetzung des ersten Buches von Ciceros Tusculanae disputationes. Anderes publizierte er bei Gelegenheit aus seinem Fundus: die lat. Übersetzung des pseudohippokrat. Traktats De praeparatione hominis (1512), die metrische lat. Übersetzung von Joseph Ezobis hebr. Lanx argentea (1512), die lat. Übersetzung einer anonymen griech. Biografie Konstantins des Großen (1513). Wieder anderes veröffentlichte er zumeist als Ergänzung seiner hebr. Lehrbücher oder als Textgrundlage für seine späte Lehrtätigkeit in Ingolstadt u. Tübingen: die kommentierte hebr.-lat. Ausgabe der sieben Bußpsalmen (1512), die lat. Übersetzung von Athanasios’ Epistola ad Marcellinum in interpretationem Psalmorum (1515), die kommentierte lat. Übersetzung der pseudoathanasian. Schrift De variis quaestionibus (1519), die Ausgaben von drei Opuscula Xenophons (1520) u. zweier Orationes adversariae des Aischines u. Demosthenes (1522). Seine griech. Grammatik Micropaedia, ein während des Studiums in Frankreich entstandenes Jugendwerk, blieb ungedruckt u. ist verschollen; zwei Johannes von Dalberg gewidmete frühe Arbeiten (De quattuor Graecae linguae differentiis u. Quottidiana colloquia Graeca) sind wenigstens abschriftlich erhalten. All diese Werke belegen, dass R. nicht nur als Hebraist, sondern auch als Gräzist unter den dt. Humanisten weg-

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weisend gewesen ist; Schüler wie Georg Simler mit dem Isagogicum sive introductorium in literas Graecas (1512) oder Melanchthon mit den Institutiones Graecae grammaticae (1518) haben an R.s Pionierleistung anknüpfen können. Ausgaben: Internet-Ed. fast aller Werke in: Dana F. Sutton: The Philological Museum. An Analytic Bibliography of On-Line Neo-Latin Texts (http:// www.philological.bham.ac.uk/bibliography). In: The Digital Library of the Catholic Reformation (http://solomon.dlcr.alexanderstreet.com) u. in: Slg. Hardenberg. – Briefw. Hg. Ludwig Geiger. Tüb. 1875. Nachdr. Hildesh. 1962. – Kom.n. Hg. Hugo Holstein. Halle 1888. – Gedichte. Hg. H. Holstein. In: Ztschr. für vergleichende Litteraturgesch. u. Renaissance-Litt. N. F. 3 (1890), S. 128–136. – Augenspiegel. Neudr. der Ausg. Tüb 1511. Mit einem Nachw. v. Josef Benzing. Mchn. 1961. – De verbo mirifico u. De arte cabalistica. Neudr. der Ausg.n 1494 u. 1517. Stgt.-Bad Cannstatt 1964. – Gutachten über das jüd. Schrifttum. Hg. u. übers. v. Antonie Leinz-v. Dessauer. Konstanz 1965. – Henno. Hg. u. übers. v. Harry C. Schnur. Stgt. 1970. – De rudimentis Hebraicis. Neudr. der Ausg. Pforzheim 1506. Hildesh. 1974. – De arte cabalistica. Neudr. der Ausg. 1517 mit engl. Übers. v. Martin u. Sarah Goodman. Lincoln 21993. Frz. Übers. v. François Secret. Mailand 21995. Ital. Übers. v. Saverio Campanini. Florenz 1995. – Sämtl. Werke. Hg. Widu-Wolfgang Ehlers u. a. Bd. I,1: De verbo mirifico. Lat. u. dt. Stgt.-Bad Cannstatt 1996; Bd. IV,1: R.s Schr.en zum Bücherstreit. Lat. u. dt. Stgt.-Bad Cannstatt 1999. – Briefw. Hg. Matthias Dall’Asta u. Gerald Dörner. Bisher 3 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 1999–2007. – Briefw. Leseausg. in dt. Übers. v. Adalbert Weh u. Georg Burkard. Bisher 3 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 2000–07. Literatur: Bibliografien: Josef Benzing: Bibliogr. der Schr.en J. R.s im 15. u. 16. Jh. Bad Bocklet 1955. – VD 16. – Stefan Rhein: Reuchliniana I-III. In: J. R. (1455–1522). Erw. Nachdr. der 1955 v. Manfred Krebs hg. Festgabe. Hg. Hermann Kling u. Stefan Rhein. Sigmaringen 1994, S. 277–327. – Weitere Titel: Philipp Melanchthon: Rede über J. R. aus Pforzheim (1552). In: Melanchthon deutsch. Hg. Michael Beyer u. a. Bd. 1, Lpz. 1997, S. 183–201. – Ludwig Geiger: J. R. Sein Leben u. seine Werke. Lpz. 1871. Nachdr. Nieuwkoop 1964. – Karl Christ: Die Bibl. R.s in Pforzheim. Lpz. 1924. – Guido Kisch: Zasius u. R. Konstanz 1961. – Max Brod: J. R. u. sein Kampf. Stgt. 1965. – James H. Overfield: A New Look at the R. Affair. In: Studies in Medieval and Renaissance History 8 (1971), S. 165–207. – Dorothea Glodny-Wiercinski: J. R. – Novus Poeta?

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Reumont, Alfred von, auch: Itasius Lemniacus, * 15.8.1808 Aachen, † 27.4.1887 Aachen. – Kulturhistoriker, Diplomat u. Publizist. R. entstammte einer ursprünglich in Lüttich ansässigen Familie. Auf Wunsch seines Vaters, Brunnenarzt u. Bäderinspektor im damals frz. Aachen, studierte R. Medizin erst in Bonn, dann in Heidelberg, wo er Kontakt zu Christoph Schlosser pflegte u. regionalge-

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schichtl. Studien zur Kultur der Rheinlande trieb (Aachens Liederkranz und Sagenwelt. Aachen/Lpz. 1829. Nachdr. Hildesh. 1984; BDL 5104/05). Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1828 brach R. das Studium ab u. ging im Dez. 1829 als Hauslehrer einer engl. Familie nach Florenz. Seit 1830 Privatsekretär des preuß. Gesandten in Florenz, wurde R., der 1833 kumulativ von der Universität Erlangen promoviert worden war, zu einem der bedeutendsten kulturellen Vermittler zwischen Deutschland u. Italien im 19. Jh. In Florenz hatte R. den Dante-Forscher Karl Witte sowie die Historiker Gino Capponi u. Leopold Ranke kennengelernt, unter deren Einfluss er sich einer quellengestützten Erforschung der ital. Geschichte u. Kultur verschrieb. Diesen Vorsatz zu verwirklichen, erleichterte ihm eine diplomat. Karriere im Auswärtigen Amt Preußens, die ihn, jeweils unterbrochen von kürzeren Berlin-Aufenthalten, immer wieder nach Italien führte. Nachdem sich R. 1848/49 am päpstl. Hof während der Revolution bestens bewährt hatte, wurde er 1850 preuß. Geschäftsträger in Florenz, ab 1856 gar Ministerresident am Großherzoglichen Hof. Durch die ital. Einigung unter dem Hause Savoyen, die das Ende der ital. Kleinstaaten bedeutete, war R.s Gesandtenposten in Florenz hinfällig geworden. Nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm IV. (1861), R.s Freund u. Förderer, gab es für den liberalen Katholiken keine Verwendung mehr im preuß. Staatsdienst. In den Ruhestand versetzt, zog sich R. resigniert zunächst nach Bonn, später nach Burtscheid zurück, wo er weiter seinen ital. Studien nachging. Während das von R. initiierte Jahrbuch »Italia«, zu dem Emanuel Geibel, Ida Gräfin Hahn-Hahn, August Kopisch (Entdeckung der blauen Grotte auf der Insel Capri, Bd. 1, S. 155–201), Carl Friedrich von Rumohr u. Witte beitrugen, nur kurzen Bestand hatte (2 Bde., Bln. 1838–40; BDL 17613/14), ist das von ihm 1844 mitbegründete »Archivio Storico Italiano« bis heute ein maßgebl. Periodikum der ital. Historiografie. Eine fundierte Schilderung des zeitgenöss. Italien liefern R.s Römische Briefe von einem Florentiner. 1837–1838 (4 Bde., Lpz. 1840–44; BDL

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5105–5108). R. verfasste insg. etwa 150 Publikationen zu kulturhistor. Perioden Italiens sowie Biografien, zudem zahlreiche Zeitungsartikeln. Seine Künstlerbiografien förderten den Ruhm der florentin. Renaissancekunst (Ein Beitrag zum Leben Michel Angelo Buonaroti’s. Stgt./Tüb. 1834; BDL 17016. Andrea del Sarto. Lpz. 1835). R., der Niccolò Macchiavellis Istorie fiorentine übersetzte (Geschichte von Florenz. Lpz. o. J. Zahlreiche Nachdrucke, zuletzt Zürich 31993), legte selbst keine umfassende Geschichte der Stadt Florenz vor. Dennoch prägten seine aus den Quellen gearbeiteten biogr. Werke wie Die Jugend Caterina’s de’ Medici (Bln. 1854. 21856; BDL 5109) u. das glänzende Zeitgemälde Lorenzo de’ Medici il Magnifico (Lpz. 1874. 2., überarb. Aufl. 1883. Engl. u. ital. Übers.en) maßgeblich den Renaissancismus u. den Florenz-Kult in Deutschland. Weniger wirkungsvoll war R.s Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates (Gotha, 2 Bde. 1876/77). R.s Hauptwerk, die von König Maximilian I. von Bayern in Auftrag gegebene u. nach achtjähriger Arbeit veröffentlichte Geschichte der Stadt Rom (3 Bde., Bln. 1867–70), konnte sich jedoch nicht gegen die Konkurrenz von Ferdinand Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (8 Bde., Stgt. 1859–72. Zahlreiche Neuaufl.n) durchsetzen. Bis heute ist R.s große Bedeutung für die ital.-dt. Kulturbeziehungen noch nicht angemessen gewürdigt. Als Dichter blieb R. – das Mitgl. der röm. Arkadier verfasste auch ital. Poesien – Gelegenheitslyriker, u. viele seiner Regionalstudien sind wissenschaftlich überholt. Seine Reaktion auf die Annexion des Kirchenstaats durch Italien (Pro Romano Pontifice: Rückblick und Abwehr. Bonn 1871) sowie seine kirchenpolit. Schriften differenzieren das Bild des dt. Katholizismus während des Kulturkampfs. Nicht gewürdigt sind bis heute R.s Übersetzungen aus dem Italienischen sowie seine diplomat. Tätigkeit. Doch v. a. als Historiograf u. Biograf sowie als Anreger u. Quelle des histor. Romans in Deutschland verdient R. eine Neubewertung. R.s etwa 6000 Bände umfassende Bibliothek verwahrt die Stadtbibliothek Aachen, den schriftl. Nachlass die Universitätsbibliothek Bonn. Neben der noch nicht edierten

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Korrespondenz findet sich unter den Manu- Reusner, Reisner, Reißner, Reissner, Adam, skripten eine umfängl. Dante-Monografie. lat. Reusnerus, Oryzius, Orisius, auch: Weitere Werke: Reiseschilderungen u. Umrisse aus südl. Gegenden. Stgt. 1835. – Rheinlands Sagen, Gesch.n u. Legenden. Köln/Aachen 1838 (BDL 15248). – Thorwaldsen. Eine Gedächtnisrede. Bln. 1844 (BDL 5109). – Die poet. Lit. der Italiener im 19ten Jh. Bln. 1844 (BDL 14163–14168). – Die Carafa v. Maddaloni. Neapel unter span. Herrschaft. Bln. 1851 (BDL 15248–15250). – Beiträge zur Ital. Gesch. 6 Bde. [gewidmet Leopold Ranke], Bln. 1853–57 (BDL 14163–14168). – Saggi di storia e letteratura. Florenz 1880. – Gino Capponi. Gotha 1880. – Vittoria Colonna. Leben, Dichten u. Glauben im 16. Jh. Freib. 1881. – Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden u. kranken Tagen. Lpz. 1885. – Charakterbilder aus der neueren Gesch. Italiens. Lpz. 1886. Literatur: Hermann Hueffer: A. v. R. Köln 1904. – Ferdinand Siebert: A. v. R. u. Italien. Ein Beitr. zur Gesch. der geistigen Beziehungen zwischen Dtschld. u. Italien. Lpz. u. a. 1937. – Francesco Cataluccio: Lo storico e diplomatico A. v. R. nel Risorgimento Italiano. In: Archivio Storico Italiano 117 (1956), S. 319–378. – Hubert Jedin: A. v. R. (1808–87). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95–112. – Ilaria Porciani: L’Archivio Storico Italiano. Organizzazione della ricerca ed egemonia moderata nel Risorgimento. Florenz 1979. – W. Altgeld: Das polit. Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung u. europ. Revolution v. 1848. Tüb. 1984. – Alberto Forni: La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e R. Rom 1985. – Herbert Lepper: A. v. R. u. Franz Xaver Kraus. In: Quellen u. Forsch.en aus ital. Archiven u. Bibl.en 69 (1989), S. 181–254. – Mauro Moretti: A. v. R. e Karl Hillebrand. Primi appunti per una indagine su personaggi e temi di una mediazione culturale. In: Dt. Ottocento. Hg. Arnold Esch u. Jens Petersen. Tüb. 2000, S. 161–186. – Herbert Lepper: R. In: NDB. – A. v. R. Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Ausstellungskat. Aachen 2008. Achim Aurnhammer

Ruffus Sarmentarius, * ca. 1496 Mindelheim/Mittelschwaben, † zwischen 1576 u. 1582 Mindelheim/Mittelschwaben. – Historiograf, geistlicher Liederdichter, Psalmübersetzer, Verfasser theologischer Schriften. Aus den schwäb. Besitzungen der Familie von Frundsberg stammend, studierte R. ab 1518 in Ingolstadt bei Reuchlin, bevor er 1523 gemeinsam mit Melchior von Frundsberg die Universität Wittenberg bezog, wo der begabte Philologe Anschluss an Luther u. Melanchthon fand. 1526–1528 begleitete er als Geheimschreiber Melchiors Vater, Georg von Frundsberg, auf dessen Feldzug für Karl V. in Norditalien u. legte wohl bereits Quellensammlungen für seine später verfasste Geschichte des Landsknechtsführers an; auch sein »Landsknechtspsalm« In dich hab ich gehoffet, Herr (EKG 179) mag hier entstanden sein. Ebenfalls auf dem Italienzug traf er in Ferrara mit dem Humanisten Jacob Ziegler zusammen, der ihn nach dem Tod Frundsbergs (1528) nach Straßburg holte. Dort kam R. 1531 mit Caspar Schwenckfeld in Kontakt, für den er in den Folgejahren, mittlerweile als Stadtschreiber von Mindelheim, immer wieder Übersetzungen anfertigte. Zu Schwenckfeld u. zu dessen Gemeinde in Augsburg hielt R. Kontakt, besorgte u. a. 1564–1570 auch dessen Werkausgabe. 1548 aufgrund seiner Parteinahme für die Protestanten im Schmalkaldischen Krieg seines Postens enthoben, ernährte R. fortan seine Familie als Übersetzer u. Privatlehrer, bei zeitweiligen Ortswechseln nach Frankfurt/M., Augsburg u. a., begann aber v. a. eine intensive schriftstellerische Tätigkeit. Unter den historiograf. Werken stehen v. a. die reichhaltige, auf Autopsie gestützte Historia Herrn Georgen unnd Herrn Casparn von Frundsberg [...] (Ffm. 1568. 2 1572. 31599) sowie das Chronicon oder Geschichtbuch (gedr. mit falscher Verfasserangabe, »Martin Richter von Rebwitz«. Ffm. 1598), eine auf der Mischung chiliastischer Naherwartung u. protestant. Antichrist-Polemik fußende scharf antipäpstl. Weltgeschichte, heraus.

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R. dichtete 60 geistl. Lieder, teils an ältere Carl Bertheau: A. R. In: ADB. – Wackernagel, v. a. Hymnik, etwa Prudentius’ Enchiridion, teils an Bd. 3, S. 133–167. – Karl Schottenloher: Jakob bibl. Psalmen wie den oft imitierten Psalm Ziegler u. A. Reissner. Eine quellenkrit. Untersu130 (Auß tieffer not, o Herre Gott) anschließend, chung über eine Streitschr. der Reformationszeit gegen das Papsttum. Mchn. 1908. – O. Bucher: A. deren einige einzeln gedruckt, einige in diR. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Hg. verse Gesangbücher, etwa das Konstanzer Götz Frhr. v. Bölnitz. Bd. 4, Mchn. 1955, Nüw Gesangbüchle (1540) aufgenommen wur- S. 170–183. – Peter C. Erb: A. R. His Learning and den u. in der Folgezeit auch in England u. Influence on Schwenckfeld. In: The Mennonite Amerika, z.T. bis heute, in Gebrauch sind. Sie Quarterly Review 54 (1980), S. 32–41. – Greta sind größtenteils in R.s eigenem Manuskript Konradt: A. R. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. (1596, HAB Wolfenbüttel) überliefert. 2 Wie in seiner Psalmenübertragung (Psalm Gött. 1999 ( 2001), S. 252 f. – Hans Pörnbacher: Buch. Ffm. 1568. Nachdr. noch 1683) bediente Schwäb. Literaturgesch. Weißenhorn 2002, S. 112, 116. – Johannes Janota: Die Augsburger Hs. des er sich auch in über 30, z.T. nur handGesangbuches v. A. R. In: Ztschr. des histor. Vereins schriftlich erhaltenen theolog. Erbauungs- für Schwaben 97 (2004), S. 195–206. – Anna Man´schriften zu biblischen u. patrist. Themen ko-Matysiak: Caspar Schwenckfelds Beitr. zum einer zeittypischen Allegorese, die auch sein geistl. Gesang. In: Kulturgesch. Schlesiens in der großes, von Johann Heyden noch im Er- Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 1, Tüb. scheinungsjahr ins Lateinische u. sogar noch 2005, S. 243–263. – Ute Evers: Das geistl. Lied der im 19. Jh. ins »Neudeutsche« übersetztes Schwenckfelder. Tutzing 2007, S. 104–112 – SiegWerk Iervsalem, die alte Haubtstat der Jüden (3 fried Risse: Das Psalmbuch v. A. R. (1568). In: Bde., o. O. 1563–69. Ffm. 21574–79) prägt, ZBKG 77 (2008), S. 97–122. Jost Eickmeyer präsentiert er doch im ersten Teil die Hauptstadt als Ort jüdischer Verfallsge- Reusner, Elias, * 8.9.1555 Löwenberg/ schichte, um sie im zweiten als »Jrrdisch Pa- Schlesien, † 1.10.1612 (oder 1619) Jena. – radeiß« in der Gegenwart Jesu u. im dritten Mediziner u. Historiograf. Teil mithilfe von Psalm-Auslegungen anagogisch als himml. Stadt Gottes zu schildern. R., jüngerer Bruder des Nicolaus Reusner, Zgl. beruht das Werk auf profunden topo- studierte Medizin in Jena. Dort erwarb er graf., histor., teils auch naometr. (zum Tem- auch das Licenziat u. wurde zgl. ab 1594 Prof. der Poetik u. der Geschichtswissenschaft. pels Salomos) Vorstudien. Weitere Werke: Johannes Cassianus: Von der Zweimal leitete er die Universität als Rektor Menschwerdung des Herren Christi [...]. Auß dem (Sommersemester 1599 u. 1611). R. verfasste Latein trewlich verteütscht. Ulm 1547. Internet-Ed. eine Reihe historiografischer, v. a. genealog. in: VD 16 digital. – Miracula, Wunderwerck Jhesu Fachschriften, etwa ein GENEALOGIKON Christj. Ffm. 1565. – Messiah. Daß Jhesus sey Romanvm (Ffm. 1589, Vorrede Nicolaus Christus der ware Messias. Ffm. 1566. Reusner), das den Stammbaum der röm. Ausgaben: Historia [...] Frundsberg. Ffm. 1599. Adelsfamilien von Romulus an bis auf die Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Jerusalem. Ins Kaiser u. Fürsten des Heiligen Römischen Neudt. übertragen v. Julius Schwabe. 2 Bde., Ffm. Reiches u. Sachsens verfolgt. Im BASILIKWN 1894. – Historia der Herren Georg u. Kaspar v. Opvs Genealogicum Catholicvm (Ffm. 1592, erg. Frundsberg (Ffm. 21572). Hg. Karl Schottenloher. um ein Auctarium, Ffm. 1602) weitet sich die Lpz. 1914. – Wackernagel, Bd. 1, S. 865 f.; Bd. 3, Perspektive auf nahezu alle europ. AdelsfaS. 133–167. – Gesangbuch. Hg. u. komm. v. Ute milien. Als histor. Grundlegung zu den Evers u. Johannes Janota. 2 Bde., Tüb. 2004. – Vgl. auch Corpus Schwenckfeldianorum. Lpz. u. a. panegyr. Icones [...] Ducum Saxoniae (Jena 1597) des Bruders Nicolaus können R.s Genealogiae 1907–61, Register. Literatur: Bibliografien: Otto Bucher: A. R. Ein Regum [...], qui origine à [...] Wedekindo ducunt Beitr. zur Gesch. der dt. Reformation. Kallmünz (Lpz. 1610) gelten. Chronologischen Themen 1957, S. 1–18. – VD 16. – Weitere Titel: G. Sixt: Eine widmen sich einige Werke R.s, die v. a. weltl. Prudentiusübers. A. R.s (1471–1563). In: Blätter für Historie u. Kirchengeschichte harmonisieren Hymnologie (1889). Nachdr. 1971, S. 170–173. – oder bestimmte Daten berechnen sollen, etwa

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das Weltende im Jahr 1670. Hierzu gehören die Isagoges Historicæ libri dvo (Jena 1600), in denen kirchliche u. weltl. Geschichte zwar nach Maßgabe Melanchthons getrennt, gleichwohl jedoch beide gemäß einer Gliederung in Weltalter u. Lebensalter einzelner Epochen behandelt werden. Der aktuellen Türkengefahr widmete R. eine Oratio contra furores Turcicos (1605). Neben einigen Kasualgedichten trat er als lat. Lyriker v. a. mit einer Sammlung von Horaz-Parodien (Ad Melpomenem Horatianam libri quatuor. Jena 1608) hervor, welche durchaus zeittypisch Odenformen des Augusteers mit historischen u. religiösen Themen zu füllen wissen. R. wurde v. a. als Historiker rezipiert, seine Harmonie römischer Historie mit der Weltgeschichte fand Aufnahme in verschiedene Sammelwerke der Folgezeit, seine Berechnungen wirkten auf apokalypt. Spekulationen. Viele Nachdrucke erlebte seine lateinische erläuterte Ausgabe von Stefano Guazzis Renaissance-Kompendium Dialoghi piacevoli (De civili conversatione. Jena 1606). Weitere Werke: Ephemeris, siue Diarivm Historicvm. Ffm. 1590 (zus. mit N. Reusner). – Strategematographia sive Thesaurus Bellicus. Ffm. 1609. – Speculum boni principis historico-politicum. Jena 1610. – Threnologia in exequiis [...] Christiani II., ducis Saxoniæ. Jena 1611. Ausgabe: Lat. Kasuallyrik aus den ›Delitiae Poetarum Germanorum‹ in: CAMENA. Literatur: Jöcher III, Sp. 2032. – Hermann Kappner: Die Geschichtswiss. an der Univ. Jena vom Humanismus bis zur Aufklärung. Jena 1931. – Carl Göllner: Turcica. Bd. 2, Bukarest 1968, S. 546. – Stefan Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit u. konfessioneller Identitätsstiftung. Luth. Kirchen- u. Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tüb. 2007, v. a. S. 200–207. – Joachim Bauer u. a. (Hg.): Die Univ. Jena in der Frühen Neuzeit. Heidelb. 2008, S. 74 f., 84, 91. Jost Eickmeyer

Reusner, Nikolaus, Nicolaus, von, * 2.2. 1545 Löwenberg/Schlesien, † 12.4.1602 Jena. – Jurist, Polyhistor, neulateinischer Dichter. Der aus einer weitverzweigten, ursprünglich in Siebenbürgen beheimateten Gelehrtenfamilie stammende R. bekam seine Schulbildung in Goldberg u. auf dem Elisabeth-

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Gymnasium zu Breslau. Nach medizinischen u. jurist. Studien in Wittenberg u. Leipzig hielt er sich beim Augsburger Reichstag 1565 auf, wo er durch seine lat. Gedichte Kaiser Maximilian II. auf sich aufmerksam machte. 1566 an das Gymnasium Lauingen an der Donau berufen, wurde er 1572 dessen Rektor, erwarb 1583 in Basel den Dr. jur. u. wurde Professor der Rechte in Straßburg. 1589 wechselte er auf einen jurist. Lehrstuhl an der Universität Jena, deren Rektorat er zweimal bekleidete. Für Schulpforta entwarf er einen Stundenplan, der 1594 eingeführt wurde. R., ein wichtiger Vertreter der schles. Gelehrtenrepublik, der »Silesia togata«, verkörpert den Typus des humanistisch-gelehrten Sammlers u. Kompilators. Seine Bibliografie umfasst über 80, z.T. voluminöse Werke, die er – oft unterstützt von seinem Bruder Jeremias – zu nahezu allen Gebieten des humanist. Wissenskanons edierte, wobei er bei der Textgestaltung recht willkürlich verfuhr: u. a. Sammlungen zur nlat. Reisedichtung (Hodoeporicorum [...] libri VII. Basel 1580. 21592), eine einflussreiche Zusammenstellung von versifizierten Rätseln (Aenigmatographia. Ffm. 1599), Kommentare zu den Devisen der röm. Kaiser (Symbolorum imperatorum classis [...]. Ffm. 1588 u. ö.). R.s in vier Bänden gesammelte eigene Dichtung (Operum pars prima [...] – pars quarta. Jena 1593/94) experimentiert mit allen Gattungen der zeitgenöss. Gelehrtendichtung: Elegien in lat. u. griech. Sprache, griech. geistl. Heroiden im Gefolge von Eobanus Hessus, Episches, Oden u. Epoden, »Sylvae«, Hymnen, Hendekasyllaben, Anagramme u. anderes mehr. Zahlreiche panegyr. Gedichte bilden eine noch unausgeschöpfte Fundgrube zur Fürsten- u. Gelehrtengeschichte des späten 16. Jh., zumal R. mit Koryphäen der internat. Gelehrtenrepublik wie Schede Melissus Gedichte austauschte. Bedeutend für die Gelehrtenbiografik des Humanismus sind seine mit Holzschnitten von Tobias Stimmer versehenen Icones sive imagines virorum literis illustrium (Straßb. 1587 u. ö. Ffm. 1719. Internet-Ed. in: CAMENA. Neu hg. v. Manfred Lemmer. Lpz./ Gütersloh 1973).

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575 Weitere Werke: Aureolorum Emblematum liber. Straßb. 1567. Mit Holzschnitten v. Tobias Stimmer. Straßb. 1587. Internet-Ed. in: CAMENA, u. ö. – Elementa artis rhetoricae. Straßb. 1571. – Elementorum artis dialecticae [...] libri IV. Lauingen 1571 u. ö. – Paradisus poeticus. Basel 1578. – Picta poesis Ovidiana. Ffm. 1580. – Emblemata partim Ethica, et Physica, partim vero Historica, et Hieroglyphica. Ffm. 1581. Nachdr. mit Nachw. u. Register v. Michael Schilling. Hildesh. 1990. – Oeconomia juris utriusque. Straßb. 1584. – Ethica philosophica et Christiana. Jena 1590. – (Hg.) Selectissimarum Orationum et consultationum de bello Turcico [...] volumina IV. Lpz. 1595/96. – (Hg.) Orationum panegyricarum volumina duo. Jena 1595. – Urbes Imperiales. Oberursel 1602. Literatur: Bibliografien: Jöcher/Adelung, Bd. 6. – VD 16. – Weitere Titel: Eisenhart: R. In: ADB. – Lemmer 1973 (s. o.), S. 431–436 (Nachw.). – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984 (Register). – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur nlat. Reisedichtung [...] im 16. Jh. Baden-Baden 1984, S. 13–21. – Walther Ludwig: Die poet. Beschreibungen des Herzogtums Wirtemberg durch Hugo Favolinus u. N. R. In: Ders.: Litterae Neolatinae. Mchn. 1977. 1989, S. 145–159. – Hartmut Freytag: Sieben Distichen auf die Stadt der sieben Türme. Ein v. N. R. unter dem Namen des Petrus Vincentius ediertes späthumanist. Gedicht auf Lübeck. In: Humanismus im Norden. Hg. Thomas Haye. Amsterd./Atlanta 2000, S. 157–173. – W. Ludwig: Ficino in Württemberg – ein Gedicht v. Nicolaus R. (1992); jetzt in: Ders.: Miscella Neolatina. Ausgew. Aufsätze 1989–2003. Bd. 2, Hildesh. 2004, S. 333–336. – Ders.: Das Studium der holstein. Prinzen in Straßburg (1583/84) u. Nicolaus R.s Abschiedsgedichte (1994). Jetzt in: Ebd., S. 293–332. – Ders.: Supplementa Neolatina. Ausgew. Aufsätze 2003–08. Hildesh. 2008, Register s. v. – Heike Bismark: Rätselbücher. Entstehung u. Entwicklung eines früneuzeitl. Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Tüb. 2007, S. 248–265 u. ö. (Register!). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1656–1670. Hermann Wiegand

Reuter, Christian, getauft 9.10.1665 Kütten bei Halle, † wahrscheinlich nach 1712. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. R., der einer früher anscheinend wohlhabenden Bauernfamilie entstammte, besuchte das Domgymnasium in Merseburg u. bezog erst 23-jährig die Universität Leipzig, um dort mit einem Stipendium Jura zu studieren.

Erste literar. Arbeiten, welche kecke Anspielungen auf Leipziger Lebensumstände enthalten, führten zwischen 1695 u. 1699 zu gerichtl. Klagen, weil einzelne Bürger den Spott R.s auf sich bezogen. Der Student wurde erst zu Karzer verurteilt, dann zeitweilig relegiert u. schließlich auf Lebenszeit von der Universität verwiesen. Als Sekretär des Kammerherrn Rudolf Gottlob von Seyfferditz verbrachte R. ab 1700 einige Zeit in Dresden, wo er von Angehörigen der Hofgesellschaft zunächst unterstützt u. gefördert wurde, bis er sich durch eine weitere literar. Arbeit die Gunst verscherzte u. damit alle Möglichkeiten einer Karriere in der sächs. Residenzstadt zunichte machte. Ein Plan, das Studium in Wittenberg fortzusetzen, verwirklichte sich nicht. Ab 1703 ist R. in Berlin nachweisbar, wo er als Gelegenheitsdichter am Hof König Friedrichs I. sein Glück u. Brot suchte. Nach 1711 verlieren sich alle Spuren von R.s Leben, Wirken u. Sterben im Dunkeln. Die Erfahrung der Universitäts- u. Handelsstadt Leipzig löste die literar. Tätigkeit R.s aus. Die Universität war mit ihren Studenten durch die luth. Orthodoxie der Professorenschaft bestimmt, die Handelsstadt durch das aufstrebende Bürgertum. R. gestaltete den damit verbundenen Gegensatz von Anspruch u. Wirklichkeit. Vor allem die hohle Standesüberheblichkeit, die nur auf materiellen Besitz pocht, wurde von R. in seinen Komödien angeprangert. In L’Honnéte Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plißine (1695) werden die Witwe Schlampampe u. ihre heiratsbegierigen Töchter als stereotype Vertreter von Lastern vorgeführt u. entlarvt. Der Name der Titelgestalt ist sprechend; »schlampampen« ist das damals noch lebendige dt. Wort für das Laster der »gula«, der Schlemmerei u. Völlerei. Der Ehewunsch der Töchter beruht allein auf dem Bestreben, durch den Rang der Männer eine eigene Standeserhöhung zu erzielen. Die locker gereihten Einzelszenen, deren abschließende Intrige an die Précieuses ridicules erinnert u. die damals in Deutschland einsetzende Wirkung Molières spiegelt, stellen die bürgerl. Handlungsträger bloß, deren angemaßtes Ideal einer vornehmen »honnêteté«, wie es seit

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1630 von Nicolas Faret dargestellt worden war, sich an der unkontrolliert einfließenden Dummheit u. Unflätigkeit bricht. Die Komödie Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod (o. O. 1696) wie auch die Oper Le Jouvanceau Charmant Seigneur Schelmuffsky (o. J.) zeigen R.s wenig gelungene Absicht, den ohnehin knappen Stoff der ersten Komödie weiter auszubeuten. Auch R.s Hauptwerk, der Roman Schelmuffskys Warhafftige Curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande, der in zwei an Umfang u. künstlerischer Gestaltung deutlich unterschiedenen Fassungen gedruckt vorliegt (1696 u. 1697), schließt an das Personenarsenal der Familie um Frau Schlampampe an, verlegt nun aber die Blickrichtung auf den großsprecherischen Sohn Schelmuffsky, eine polonisierende Weiterbildung des Typenbegriffs »Schelm«, der in tölpelhafter Weise von seinen behaupteten Reisen dummdreist schwadroniert u. dabei angeberisch auch auf Literarisches wie Zeitgeschichtliches beiläufig anspielt. Fantasie u. Wirklichkeit, Lüge u. überprüfbare Wahrheit vermischen sich in dieser literar. Meisterleistung R.s, dienen letztlich sogar der Selbstentlarvung des Titelhelden. Erst ein Rückbezug auf die rechtshistor. Bedeutung der Bezeichnung »Schelm« als eines »ehrlos gewordenen Menschen« zeigt, dass R. auch hier an sein Thema von einer beanspruchten, aber noch nicht im Leben eingelösten »honnêteté« anknüpft. Der Kontrast zwischen bürgerl. Rüpelhaftigkeit u. vermeintlich adligem Geckentum liegt auch dem Letzten Denck- und Ehren-Mahl Der weyland gewesenen Ehrlichen Frau Schlampampe (o. O. 1697) zugrunde, einer derb parodist. Leichenrede, die bei einer Adelshochzeit auf dem Lande von R. zum Besten gegeben worden sein soll. Die in Dresden entstandene Komödie Graf Ehrenfried (o. O. 1700) entlarvt demgegenüber einen Günstling bei Hof, Georg Ehrenfried von Lüttichau, u. spielt beiläufig auf den umstrittenen Konfessionswechsel des sächs. Kurfürsten zum Erwerb der poln. Königswürde an. Der in lockeren Einzelszenen gestaltete Stoff nimmt hier Züge u. Motive aus Molières Tartuffe auf. Graf Ehrenfried ist eine Umkehrung der Frau Schlampampe: War dort das

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standesüberhebl. Bürgertum die Zielscheibe von R.s Spott, so hier der heruntergekommene Adel, der zwar noch auf seine Geburtsprivilegien pocht, aber verschuldet von Tag zu Tag lebt. R.s Leipziger u. Dresdner literar. Schaffen geht von urspr. Lebenserfahrungen aus, die in der literarhistor. Methodenphase des Positivismus dazu führten, durch einen postulierten Rückgriff auf Zeitdokumente die literar. Gestaltungen biografisch zu deuten u. aufzulösen. Dabei blieb R.s Zeitsatire, seine Kritik an den barock-absolutist. Denk- u. Verhaltensmustern, weitgehend unberücksichtigt, in deren Mittelpunkt die brüchig gewordene Standeshierarchie u. der bürgerlich-moralische Tugendbegriff von »Ehre«, »Unehrenhaftigkeit« u. »Ehrgeiz« steht. In völligem Gegensatz zu solcher Kritik an der Endphase des Barockzeitalters stehen die Berliner Gelegenheitsgedichte R.s, die Trauer- oder Gratulationsanlässe von Mitgliedern der preuß. Königsfamilie zum Thema haben. Die vereinzelte geistl. Dichtung R.s, PaßionsGedancken (1708), deren Vertonung durch den Kapellmeister Johann Theile nicht erhalten ist, kündigt eine neue Entwicklung des evang. Oratoriums an. R. führt hier die Rolle des Evangelisten wieder ein u. lehnt den Text weitgehend an das Evangelium an. Nach vereinzelten Wirkungsspuren R.s bei Gottsched, Bürger u. Lichtenberg setzte erst bei den Romantikern eine Begeisterung für R.s Schelmuffsky ein. Nach mehreren damaligen Neudrucken gelang erstmals 1855 eine Auflösung von R.s Pseudonym. Friedrich Zarnckes Abhandlungen (1884 ff.) legten dann den Grundstein für alle weitere R.Forschung. Eine eingehende Zuordnung von R.s geistigem Ort zwischen Barock u. Aufklärung steht noch aus. Ausgaben: C. R.s Werke. Hg. Georg Witkowski. 2 Bde., Lpz. 1916. – Schelmuffsky. Abdr. der Erstausg. 1696/97 im Paralleldr. Hg. Wolfgang Hecht. Halle 1956. – Schelmuffskys Wahrhafftige curiöse u. sehr gefährl. Reisebeschreibung zu Wasser u. Lande. Hg. Eberhard Haufe. Lpz. 1972 (= Slg. Dieterich, Bd. 346) [wichtig wegen des Anhangs, S. 241–283, mit dem Nachw. u. den Worterläuterungen u. Anmerkungen]. – Graf Ehrenfried. Abdr. der Erstausg. Hg. Wolfgang Hecht. Tüb. 1961. –

577 Schlampampe. Komödien. Hg. Rolf Tarot. Stgt. 1977. – C. R.s Werke in einem Bd. Ausw. u. Einl. Günter Jäckel. Weimar 1962. 41980. – Schelmuffsky. Con testo originale a fronte. Hg. Emilio Bonfatti, Übers. Laura Rizzato. Mailand 1998. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 5, S. 3309–3318. – Weitere Titel: Friedrich Zarncke: C. R., der Verf. des ›Schelmuffsky‹. Sein Leben u. seine Werke. In: Abh.en der philolog.histor. Klasse der Kgl. Sächs. Gesellsch. der Wiss.en zu Leipzig. Bd. 9, 1884, S. 453–661. – Georg Ellinger: C. R. u. seine Komödien. In: ZfdPh 20 (1888), S. 290–324. – Otto Deneke: Schelmuffsky. Gött. 1927. – Eberhard Dehmel: Sprache u. Stil bei C. R. Diss. Jena 1929. – Ferdinand Josef Schneider: C. R. Halle 1936. – Hans König: R.s ›Schelmuffsky‹ als Typus der barocken Bramarbas-Dichtung. Hbg. 1945. – Karl Tober: C. R.s ›Schelmuffsky‹. In: ZfdPh 74 (1955), S. 127–150. – Wolfgang Hecht: C. R. Stgt. 1966. – Hans Geulen: Noten zu C. R.s ›Schelmuffsky‹. In: FS Günther Weydt. Bern 1972, S. 481–493. – Jörg-Ulrich Fechner: Schelmuffskys Masken u. Metamorphosen. Neue Forschungsaspekte zu C. R. In: Euph. 76 (1982), S. 1–26. – Eckart Oehlenschläger: C. R. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 819–835. – J.-U. Fechner: ›Allerunterthänigster Glück-Wunsch bei dem mit Gott höchst glücklich erlebten hohen Gebuhrts-Feste [...].‹ Vier Scherflein zu C. R. In: FS Paul Raabe. Hg. August Buck u. Martin Bircher. Amsterd. 1987, S. 393–414. – Johann Karl v. Schroeder u. Ulrich Seelbach: Drei Gedichte auf Georg Ehrenfried v. Lüttichau, Vorbild für Graf Ehrenfried in C. R.s Lustspiel. In: Daphnis 18 (1989), S. 281–295. – Jean-Louis Bandet: Foisonnement et pénurie de l’imaginaire. Remarques sur un ›Lügenroman‹. In: Les songes de la raison. FS Dominique Iehl. Bern 1995, S. 117–131. – Gunter E. Grimm: C. R., ›Schelmuffskys [...] Reisebeschreibung zu Wasser und Lande‹. Kapriolen eines Taugenichts. Zur Funktion des Pikarischen. In: Romane des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1996, S. 47–77. – Ansgar M. Cordie: C. R. ›Graf Ehrenfried‹ als Zeitdiagnose der Jahrhundertwende um 1700. In: ZfG N. F. 10 (2000), S. 42–60. – Sven Hanuschek: C. R.s Einkommen, Schelmuffskys Finanzen. Aus der Frühgesch. des freien Schriftstellers. In: Il Confronto letterario 69 (2002), S. 441–453. – Nicola Kaminski: Von Plißine nach Schelmerode. Schwellenexperimente mit der ›Frau Mutter Sprache‹ in C. R.s ›Schlampampe‹-Projekt. In: Kulturelle Orientierung um 1700 [...]. Hg. Sylvia Heudecker. Tüb. 2004, S. 236–262. – Heinz Rölleke: Clemens Brentanos Entwurf eines Gänsespielbretts nach C. R. barockem ›Schelmuffsky‹-

Reuter Roman. In: JbFDH 2004, S. 197–233. – Simone Trieder: Der Schelm aus Kütten. Betrachtungen zu C. R. u. über den kom. Halbgott Schelmuffsky. Halle/S. 2005. – Alfred D. White: Choose not these vices. Social Reality in the German Novel 1618–1848. Oxford u. a. 2005. – Maximilian Bergengruen: Der Große Mogol oder der Vater der Lügen des Schelmuffsky. Zur Parodie des Reiseber.s u. zur Poetik des Diabolischen bei C. R. In: ZfdPh 126 (2007), S. 161–184. – Maik Bozza: Das Martyrium der Ehrlichen Frau u. die Geburt des Schelms. Strategien der Selbstbeglaubigung in C. R.s ›Leipziger Schriften‹. In: Daphnis 36 (2007), S. 631–683. Jörg-Ulrich Fechner

Reuter, (Heinrich Ludwig Christian) Fritz, * 7.11.1810 Stavenhagen, † 12.7.1874 Eisenach; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Niederdeutscher Erzähler, Versepiker, Lustspielautor. Kindheit u. erste Jugendzeit als Bürgermeistersohn in einer Stadt von 12.000 Einwohnern im östl. Mecklenburg-Schwerin, bekannt v. a. aus Ut de Franzosentid (Wismar 1859) u. Meine Vaterstadt Stavenhagen (in: Schurr-Murr. Wismar 1861), lassen eine enge, aber beschützte Heimat erkennen. Die Mutter Johanna Luise, geb. Ölpke (1787–1826), seit 1812 gelähmt, zog R. zus. mit seiner jüngeren Schwester Lisette u. zwei verwaisten Vettern groß, führte zu Fibeln, Katechismus, Bibel u. mecklenburgischem Gesangbuch. Der Vater Georg Johann (1786–1845), ein juristisch ausgebildeter Pfarrersohn u. Nachfahre Christian Reuters, bestimmte seit 1808 die Geschicke der Stadt als Bürgermeister u. Stadtrichter, Landwirt, Brauerei- u. Mühlenbesitzer; er schickte R. 1824 auf die Gelehrtenschule in Friedland, 1828 auf das Gymnasium in Parchim. Nach dem Tod der Mutter reagierte der Vater auf R.s schulisches Desinteresse u. seine Neigung zur Malerei mit materieller Unterstützung u. vergebl. Versuchen, über Vermieter u. Lehrer einen kontrollierten Lebenswandel durchzusetzen. Das Jura-Studium, 1831 in Rostock aufgenommen, in Jena fortgeführt, machte R. zu einem in der Burschenschaft aktiven Bummelstudenten. Mobilisiert durch den poln. Freiheitskampf, schloss er sich in Jena dem aktionist. Germania-Flügel an. Nach dem

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Frankfurter Wachensturm im April 1833 wurde R., der im Febr. einer Relegation durch Abgang zuvorkam, in Untersuchungen einbezogen, am 30. Okt. in Berlin bei einer Prostituierten verhaftet u. wegen Hochverrats verurteilt. Es folgten sieben Jahre als Gefangener, deren Endphase Ut mine Festungstid (Wismar 1862) verklärend schildert. Zwei weitere Jura-Semester in Heidelberg endeten 1841 wegen Trunksucht u. Jähzorn in einem Fiasko; der Vater ließ ihn abholen. Gut eines Jahrzehnts bedurfte es für R., um in u. um Stavenhagen in eine bürgerl. Existenz zurückzufinden. Als Landwirtschaftsvolontär (»Strom«) erlebte er das Gefühl der Gesundung, ja des Glücks (1842–1845). Er lernte die energ. Pastorentochter Luise Kuntze (1817–1894) kennen; 1851 heirateten sie. Nach dem Tod des Vaters, der ihm nur wenige Zinserträge unter Bedingungen vererbte, lebte R. meist bei dem Freund Fritz Peters in Talberg. Nach Scotts gehörten jetzt Dickens’ Werke zu seiner Lektüre, u. 1846/47 erschien als sein Erstling die Satire Die Feier des Geburtstages der regierenden Gräfin (im »Mecklenburg«-Jahrbuch 1846/47). Während sich bisher nur in R.s Porträtzeichnungen ein künstlerischer Zug bemerkbar gemacht hatte, zeigte sich seit Hans Dumm, der kluge Bauer (ebd.) u. dem Fragment gebliebenen hochdt., mit plattdt. Dialogen untermischten Roman Herr von Hakensterz (Halle 1930) eine dichterische Ausdrucksform. 1848 war R. liberaler Vertreter des Stavenhagener Reformvereins in Güstrow u. Schwerin. 1850–1856 brachten sich die Reuters in Treptow an der Tollense als Lehrer durch, sie für Klavier, er für Zeichnen, Turnen u. als Schreiber. Der Erfolg der Schwankgedichte Läuschen un Rimels (Anklam 1853) ließ R. zielstrebiger auf eine Schriftstellerexistenz zusteuern: »Meine Gedichte sind nicht wie vornehme Kinder«, heißt es programmatisch in der Vorrede, »Nein! sie sind oder sollen sein eine Kongregation kleiner Straßenjungen«. 1855/56 edierte u. schrieb er großenteils selbst ein »Unterhaltungsblatt für beide Mecklenburg und Pommern«. Neben der Verserzählung De Reis’ nah Belligen (separat Treptow 1858), die humoristisch Bauern mit der Stadt konfrontiert, er-

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schienen 1855 noch zweckorientierte Polterabendgeschichten (Schwerin). Die Lebensjahre in Neubrandenburg (1856–1863) bringen R.s Durchbruch zum mecklenburgischen, niederdt. u. gesamtdt. Ruhm. Wenig trugen dazu seine selten aufgeführten vier Theaterstücke bei, die R. 1856–1858 fertigstellte. Kein Haus, kein Wohnrecht hat das Tagelöhnerpaar Johann u. Marie in der Verserzählung Kein Hüsung (Greifsw. 1857), deren sozialanklägerische Thematik in einem Mord am Gutsherrn gipfelt. Prutz verhalf der »Art Dorfgeschichte in Versen« durch eine Rezension im »Deutschen Museum« zu breiter Resonanz. Groth als plattdt. Autorität empörte sich hingegen über »einen Augiasstall von Grobheit und Plumpheit« (1858). R. reagierte mit einer scharfen Abweisung, begründete aber 1859, bei einer Neuauflage, seine Dialektformen u. verzichtete auf engere Eigenheiten des Stavenhagener Dialekts (z.B. wird »Frieden« danach aus »Frehren« zu »Freden«); Groth besprach spätere Werke positiv. 1858/59 gewann R. mit Dethloff Carl Hinstorff einen Verleger, der entscheidend zur Verbreitung beitrug. Nach einem zweiten Teil zu Läuschen un Rimels (Neubrandenburg 1858) setzte mit Ut de Franzosentid, einer bald populären Schilderung von Widerspenstigkeiten gegen die frz. Besatzung 1813 in Stavenhagen, die autobiogr. Olle Kamellen-Reihe ein. Unterbrochen durch Nebenarbeiten wie Hanne Nüte un de lütte Pudel (Wismar 1860), eine heitere Liebesgeschichte, oder die Sammlung SchurrMurr, entstand Ut mine Festungstid, wurde die Autobiografie in das dreiteilige Hauptwerk Ut mine Stromtid (Wismar 1862–64) transformiert. Mit genrehafter Perspektivik wird in dem Zeitroman die dörflich-kleinstädt. Welt Mecklenburgs im Biedermeier, mit Einschluss der Revolution von 1848, in episod. Alltagsszenen vorgestellt. Gestalten wie Unkel Bräsig oder Hawermann, Madam Nüßler oder »Fru Pastern«, Lining u. Mining oder Tiddelfitz werden in ihrer plast. Gestaltung durch physiognom. Bild- u. individualisierende Sprachmittel zu Gestalten mecklenburgischer Identität (z.B. zitiert Uwe Johnson kryptisch in den Jahrestagen Jochen Nüßlers stehende Redewendung »Dat’s all so as dat

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Ausgaben: Ges. Werke u. Briefe. Hg. Kurt Batt. 9 Ledder is«). 1863 erhält R. die EhrendoktorBde., Rostock 1967. – Autobiogr. Romane. Mchn. würde der Universität Rostock. Ab 1863 lebte der Erfolgsautor R. im thü- 1978 (Tb.). Literatur: Bibliografie: Arnold Hückstädt u. ring. Eisenach, wo er 1868 ein selbsterbautes Haus bezog. Zu dem neu gewonnenen Status Wolfgang Siegmund: F. R. Stavenhagen 1982. – Überblicke: Heinz C. Christiansen: F. R. Stgt. 1975. – zählte 1864 eine Orient-Reise, die sich in den Michael Töteberg: F. R. Reinb. 1978. – A. Hücksituationskom. Kontrastierungen von De me- städt: ›Wer ein Auge hat zu sehen...‹. F. R. Hbg. ckelnbörgschen Montecchi un Capuletti oder De 1986. – Christian Bunners: F. R. In: NDB. – Ders. Reis’ nah Konstantinopel (Wismar 1868) nie- (Hg.): F. R. u. die Lit. des 20. Jh. Hbg. 1997. – derschlägt. Veröffentlichen konnte er noch Cornelia Nenz (Hg.): F. R. Leben, Werk u. Wirkung. Dörchläuchting (Wismar 1866), der zwar in der Rostock 2001 (Kat.). – Volker Griese: F. R. Chronik Gestalt des Herzogs Adolf Friedrich IV. von seines Lebens. Husum 2003. Volkmar Hansen / Red. Mecklenburg-Strelitz zu einem histor. Stoff um 1780 greift, aber in der Charakterbezeichnung des Herrschers, der Zeichnung Reuter, Gabriele (Elise Karoline Alexanbürgerl. Lebens u. einer Liebesgeschichte in drine), * 8.2.1859 Alexandria/Ägypten, den Bahnen seiner Maxime bleibt, Selbstge- † 16.11.1941 Weimar. – Erzählerin, Pusehenes u. Selbsterlebtes zu gestalten. Pos- blizistin, Jugendbuch- u. Lustspielautotum erschien De Urgeschicht von Meckelnborg rin. (Wismar 1874; entstanden 1859–64), welche Über ihr Geburtsland, in dem sie als Kleindie Erschaffung der Welt mit Mecklenburg kind u. von 1869 bis zum Tod des Vaters beginnen lässt, um auf die Forderung hin(1872), eines pommerschen Großkaufmanns, auszulaufen: »fri Bahn möt wi hewwen! Un lebte, veröffentlichte R. schon als 16-Jährige Brod möt wi hewwen! Un Hüsung möt wi Artikel in dt. Lokalzeitungen u. 1888 das sohewwen! Un lihren möten uns Gören wat!« zialgeschichtlich bewusste Erstlingswerk Bei allem nat. Engagement des späten R., den Glück und Geld. Roman aus dem heutigen Egypten ein Herzleiden schließlich in den Rollstuhl (Lpz.), dem 1891 ihr Kolonialroman Koloniszwingt, ist die demokrat. Traditionslinie tenvolk. Roman aus Argentinien (Lpz.) folgte. Die doch unübersehbar. Entdeckung Nietzsches u. die Begegnung mit Durch Bismarck brieflich im Sept. 1866 Ibsen in München (1889), wie später (1895) »auserwählter Volksdichter« genannt u. um mit dem Kreis der »Freien Bühne«, waren die Jahrhundertwende mit Denkmälern ge- wichtige Stadien ihrer geistigen Entwickehrt, ist R. mit seinem Werk in zahlreichen lung. Bei S. Fischer erschien ihr »AntifamiliGesamtausgaben im niederdt. Sprachraum enblattroman« Aus guter Familie. Leidensgeverbreitet. Bis zur Gegenwart erscheinen schichte eines Mädchens (Bln. 1905. 281931), Übertragungen ins Hochdeutsche. (Teil-) vorher wiederholt von Verlegern zurückgeÜbersetzungen hat es früh im Ostseeraum u. wiesen u. später von entrüsteten Eltern als in Frankreich gegeben; heute reichen sie bis »Teufelswerk« verschrien (siehe ihre Autonach Japan. Thomas Mann profitierte von Ut biografie Vom Kinde zum Menschen. Bln. 1921, mine Stromtid, vorgelesen von der Mutter, für S. 474). Er machte sie zu einer der erfolgdie Buddenbrooks. Die SBZ/DDR zählte den reichsten Autorinnen der Zeit u. sicherte ihr »volksverbundenen Dichter« zum »progres- ein Publikum für weitere Erzählwerke siv-humanistischen Vermächtnis«; deshalb emanzipatorischer Tendenz, in denen die sind der Nachlass (im Goethe- und Schiller- psych. Verkrüppelung u. phys. Not der Frau, Archiv, Weimar), Gedenkstätten u. Museen der »höheren Töchter«, der weibl. Arbeiter(in Stavenhagen, Dömitz, Neubrandenburg, schaft oder der ledigen Mutter (die sie selber Eisenach) in gutem Zustand hinterlassen. war) im Mittelpunkt stehen. In Aus guter FaRezitatoren, wie zu R.s Zeit Emil Palleske milie (wie auch im Novellenband Frauenseelen. oder Karl Kraepelin, vermitteln den Bln. 1902. 481924. Engl. Übers. v. Lynne schnellsten Zugang zum realist. Humor R.s. Tatlock. Rochester 1999) macht die Mischung

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von objektiver u. subjektiver Erzählperspek- Mannh. 2003, S. 101–119. – Stefan Jordan: R. In: tive (explizit deutender Erzählkommentar, NDB. – Elke Friedrichsen: Aus guter Familie. Leierlebte Rede) auch der unerfahrenen Leserin densgesch. eines Mädchens (1895); Glück u. Geld. den Grad an weibl. Selbstentfremdung als Ein Roman aus dem heutigen Egypten (1888); Kolonistenvolk. Roman aus Argentinien (1891). In: Folge des zeitgenöss. Erziehungsprinzips Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. deutlich. Die seit frühester Kindheit einge- Autorinnen (1730–1900). Hg. G. Loster-Schneider übte Gefühlsverdrängung wird szenisch dar- u. G. Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 356 f.; 357 f; 359 f. gestellt, u. deren psychische u. phys. Kosten Eda Sagarra werden durch das Leben der als exemplarisch gezeichneten Agnes Heidling verfolgt, bis Reuter, Kilian, auch: Chilianus eques zum Wahnsinn u. zuletzt zu geistiger AbMellerstatinus, * wohl vor 1480 Mellrichstumpfung. stadt/Unterfranken (?), † 1516/17 WitR. besaß ein sicheres Gespür für den literar. tenberg. – Jurist, Dramatiker. Markt ihrer Zeit: Ihr Roman über ein in die Großstadt verpflanztes Naturkind, Ellen von R. wurde im Winter 1505 in die Matrikel der der Weiden. Ein Tagebuch (Bln. 1900), erreichte neu gegründeten Universität Wittenberg u. 1929 die 65., Der Amerikaner (Bln. 1907) 1924 am 10.2.1506 in die philosoph. Fakultät die 40. Auflage. Sie schrieb einen zweibändi- aufgenommen; dort hatte er den Lehrstuhl gen Künstlerinnenroman (Frühlingstaumel u. für die »Kleine Logik« inne. In Köln hatte er Die Jugend eines Idealisten. Bln. 1911 u. 1917), zuvor Philosophie v. a bei Lambertus de am Kriegsende harmonisierende Jugendbü- Monte († 1499) studiert u. (vor 1499) den cher (Grete fährt ins Glück. Bln. u. a. 1919. Magistergrad erworben. In Wittenberg Großstadtmädel. Bln. 1920), u. ihre Roman- wechselte der »Thomista« zur Rechtswissenproduktion nach dem Weltkrieg (u. a. Bene- schaft, 1507 legte er das jurist. Bakkalauredicta. Dresden 1923. Töchter. Der Roman einer atsexamen ab, im Sommer 1509 war er Dekan Generation. Bln. 1927. Irmgard und ihre Brüder. der philosoph. Fakultät, u. 1510 wurde er Bln. 1930), nach Soltau eine Art Revision ih- zum Dr. iuris utriusque promoviert u. las res früher dezidierten Emanzipationspro- dann u. a. vertretungsweise über die Institugramms, reflektierte doch die zunehmende tionen. Zu dem ebenfalls aus Mellrichstadt Ambivalenz der bürgerl. Frauenbewegung stammenden Gründungsrektor der Universider Zeit mit. Die beiden Monografien Marie tät, Martin Polich, dürfte R. in enger Bezievon Ebner-Eschenbach (Bln. 1904) u. Annette von hung gestanden haben. Er starb nach AusDroste-Hülshoff (Bln. 1905), wenn auch der kunft der Matrikel im Winter 1516/17, in Tradition der Werkdeutung aus der Biografie dem die Pest in Wittenberg wütete, jedoch verpflichtet, sind ein beachtenswerter Ver- nicht an dieser »kontagiösen Krankheit«. In der Tradition des Leipziger Frühumasuch, die Existenz einer selbstbewussten weibl. Literatur dt. Sprache zu dokumentie- nismus stehend, wird R. durch die von Celtis im Regensburger Kloster St. Emmeram geren. Literatur: Faranak Alimadad-Mensch: G. R. fundenen u. 1501 veröffentlichten Dramen Bern u. a. 1984. – Gisela Brinker-Gabler u. Heide Hrotsvits von Gandersheim zu einem eigenen Soltau: Perspektiven des Übergangs. Weibl. Be- Märtyrerdrama angeregt, einer fünfaktigen wußtsein u. frühe Moderne [...]. In: Dt. Lit. v. Comedia gloriose parthenices et martiris Dorothee Frauen. Hg. G. Brinker-Gabler. Bd. 2, Mchn. 1988, agoniam passionemque depingens (Lpz. 1507). S. 170–175; 224 f. – Georgia A. Schneider: Portraits Stofflich knüpft R. an die mittelalterl. Traof Women in Selected Works of G. R. Ffm./Bern dition der Dorotheenspiele in Sachsen an, 1988. – Karin Tebben: G. R. In: Schreibende Frauen wesentl. Motive, Handlungselemente u. im 18. u. 19. Jh. Hg. dies. Gött. 1998, S. 276–310. – wörtl. Wendungen entnimmt er Hrotsvits Annette Kliewer: G. R. In: Denn da ist nichts mehr, wie es die Natur gewollt. Hg. Britta Jürgs. Bln. Dulcitius u. Sapientia. Die eigentl. Dramen2001, S. 121–140. – Gaby Pailer: Der Staatsdiener, handlung tritt völlig hinter die rhetorische der Staatsfeind u. die gute Tochter. In: Geschlecht – Ausgestaltung zurück, für die R. aus den Lit. – Gesch. II. Hg. Gudrun Loster-Schneider. Werken röm. Autoren, v. a. aus Plautus’ Au-

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lularia u. Apuleius schöpft. R.s Dorotheenspiel in Prosa bleibt jedoch trotz eigener originell-humorvoller Zusätze im Wesentlichen dramatisierter Dialog, orientiert an Beherrschung der lat. Sprache u. der antiken Dramenform. R. versuchte mit diesem kaum für eine Bühnenfassung gedachten Märtyrerdrama einen christl. Stoff mit antiken bzw. antikisierenden Elementen zu verbinden, um so die scholast. Kritik an der humanist. Rezeption »heidnischer« Texte zu unterlaufen. Dieser Ansatz blieb jedoch ohne Nachwirkung. Weitere Werke: Oratio [...] habita in Gymnasio Vittenburgensi in vigilia divae Catharinae parthenices anno 1508. Wittenb. 1509. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Herausgeber: Liber de anima Aristotelis nuper per Joannem Argiropilum de greco in romanum sermonem elegantissime traductus cum comentariolis divi Thome Aquinatis [...]. Wittenb. 1509. – Elegans oratio de musice discipline laudibus. Wittenb. 1510. Ausgabe: Comedia gloriose parthenices [...]. Lpz. 1507. Internet-Ed.: VD 16 digital. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Julius Köstlin: Die Baccalaurei u. Magistri der Wittenberger Fakultät 1503–17. Halle 1887. – Franz Spengler: K. R. v. Melrichstadt. In: FS Richard Heinzel. Weimar 1898, S. 121–129. – Walter Friedensburg: Gesch. der Univ. Wittenberg. Halle/ S. 1917. – Martin Treu: Balthasar Fabritius Phacchus, Wittenberger Humanist u. Freund Ulrichs v. Hutten. In: ARG 80 (1989), S. 68–87. – Götz-Rüdiger Tewes: Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jh. Köln u. a. 1993, Register. – Heinz Kathe: Die Wittenberger philosoph. Fakultät 1502–1817. Köln 2002. – G.-R. Tewes: K. R. In: NDB. – Johannes Klaus Kipf: Der Beitr. einiger ›Poetae minores‹ zur Entstehung der nlat. Kom. im dt. Humanismus 1480–1520. In: Das lat. Drama der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Reinhold F. Glei u. a. Tüb. 2008, S. 31–57. Gerhard Wolf / Reimund B. Sdzuj

Reventlow, Franziska Gräfin zu, eigentl.: Fanny (Sophie Liane Auguste Adrienne), auch: Franziska von Revent, * 18.5.1871 Husum, † 25.7.1918 Muralto/Kt. Tessin; Grabstätte: Locarno. – Erzählerin, Verfasserin von Briefen u. Tagebüchern. R. war das vierte Kind einer geborenen Reichsgräfin zu Rantzau u. Ludwigs Graf zu

Reventlow

Reventlow, des Landrats von Husum. Lebhaft u. fantasiebegabt, leistete sie früh Widerstand gegen die Erziehung zur »höheren Tochter« u. deren Sexualmoral. Nach der Pensionierung des Vaters zog die Familie nach Lübeck. Hier besuchte R. das Lehrerinnenseminar u. traf im Ibsen-Klub auf einen Kreis Gleichgesinnter. Volljährig geworden, vollzog sie den endgültigen Bruch mit der Familie. In Hamburg lernte sie den Gerichtsassessor Walter Ernst Lübke kennen; er finanzierte ihr ab 1893 das Malstudium in München. Sie heirateten 1894, lebten seit 1895 getrennt, die Scheidung erfolgte 1897. Im gleichen Jahr wurde R.s Sohn Rolf geboren, an dem sie zeitlebens mit zärtl. Liebe hing; den Namen des Vaters gab sie nie bekannt. Die Schwabinger Boheme bot R. den ersehnten Freiraum u. wurde ihr zur neuen Heimat. Sie führte ein an äußeren Mitteln dürftiges Dasein, lebte von Übersetzungen sowie zeitweise von Prostitution u. führte ein Milchgeschäft; daneben arbeitete sie als Glasmalerin. Ein treuer Freund der frühen Münchner Jahre war Rilke. Seit 1909 lebte sie überwiegend in der Schweiz. 1911 ging sie eine Scheinehe mit einem balt. Baron ein, verlor aber das dadurch erworbene Vermögen durch Bankbankrott. 1899 traf R. auf die »kosmische Runde« um George, Klages, Schuler, Wolfskehl. Sie sahen München als Ausgangspunkt eines »neuen Heidentums« u. erhoben die Mutter u. Hetäre zum neuen Ideal, das R. vortrefflich verkörpern konnte, v. a. für Klages, mit dem sie eine Zeitlang eng befreundet war. In ihrem Aufsatz Viragines oder Hetären? (Zürich 1899) kritisierte R. die auf Egalität ausgerichtete Frauenbewegung u. trat unter Berufung auf die Hetären des Altertums für die sexuelle Freiheit der Frau ein. Ihr Entwurf blieb aber im Horizont der Lebensphilosophie an eine normative Geschlechterpolarität gebunden, die weibl. Lebenspraxis auf Liebe u. Mutterschaft begrenzte, allerdings jenseits konventioneller Ehenormen. R.s erster, stark autobiografisch geprägter Roman, Ellen Olestjerne (Mchn. 1903. Neuausg. Ffm. 1985. Mchn. 2002), gehört zum »aszendierenden Typus« (Kreuzer) des Bohemeromans: Die Boheme erscheint als neue

Rewald

Existenzform, als Ort der ersehnten Lebensfülle u. erot. Freiheit, obwohl die Protagonistin dort auch emotionale Kränkung, Unsicherheit u. Einsamkeit erlebt. Eine neue Perspektive auf ein unabhängiges, mit Liebe erfülltes Leben eröffnet sich mit der Geburt ihres Kindes, gestaltet als myst. Einheitserleben. In Herrn Dame’s Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (Mchn. 1913) mit der additiven Verknüpfung verschiedener Ebenen durch einen fiktiven Chronisten, einer ironisierenden, pointierten Erzählweise u. einer durch Verdoppelung von Frauenfiguren gebrochenen Selbstdarstellung gelingt R. eine kritischere, wenn auch grundsätzlich bejahende Darstellung der Boheme u. weibl. Lebensmöglichkeiten in ihr. Dieser Schlüsselroman über die Schwabinger Künstlergemeinschaft löste bei Erscheinen einen Skandal aus. Amüsant u. mit iron. Distanz beschreibt R. in den 1912 in München erschienenen Amouresken Von Paul zu Pedro (Neuausg. Mchn. 1994) die amourösen Abenteuer einer jungen Dame; in Geldkomplex (Mchn. 1916. Neuausg. Bln. 2002) schildert sie die Geschichte einer jungen Frau, die vor ihren Gläubigern in ein Sanatorium entflieht. Nach der Ausgabe der Gesammelten Werke (Mchn. 1925), besorgt von R.s Schwiegertochter Else Reventlow, geriet R. allmählich in Vergessenheit, bis sie seit den 1970er Jahren als Vertreterin weiblicher erot. Rebellion wieder Beachtung fand. Ihr bedeutendes Brief- u. Tagebuchwerk ist ein bewegendes Zeugnis der äußeren u. inneren Widersprüche eines unabhängigen weibl. Lebensentwurfs um die Jahrhundertwende. Weitere Werke: Das Männerphantom der Frau. Zürich 1898. – Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel. Mchn. 1917 (N.n). – Der Selbstmordverein. Mchn. 1976. Neuausg. Bln. 1991. Ausgaben: Briefe 1890–1917. Hg. Else Reventlow. Mchn. 1929. 1975. – Tagebücher. Hg. dies. Mchn. 1971. – Ges. Werke (Teilausg.). Hg. dies. Mchn. 1976. – Autobiographisches. Hg. dies. Mchn. 1980. – Sämtl. Werke, Briefe u. Tagebücher in fünf Bänden. Hg. Michael Schardt. Oldenb. 2004. – Wir üben uns jetzt wie Esel schreien. Briefw. (mit Bohdan v. Suchocki) 1903–05. Hg.

582 Irene Weiser u. a. Passau 2004. – ›Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich‹. Tagebücher 1895–1910. Hg. dies. u. Jürgen Gutsch. Passau 2007. Literatur: Georg Fuchs: Sturm u. Drang in München um die Jahrhundertwende. Mchn. 1936. – Helmut Kreuzer: Die Boheme. Stgt. 1968. – Margarete Privat: Vom Werden u. Wesen der Schriftstellerin F. R. In: Nordelbingen 38 (1969), S. 112–123. – Johann Albrecht v. Rantzau: Zur Gesch. der sexuellen Revolution. Die Gräfin F. R. u. die Münchner Kosmiker. In: AKG 56 (1974), S. 394–446. – F. v. R. Schwabing um die Jahrhundertwende. Bearb. Hans Eggert Schröder. Marbach 1978. – Johannes Székely: F. zu R. Bonn 1979. – Helmut Fritz: Die erot. Rebellion. Das Leben der F. zu R. Ffm. 1980. – Marlis Gerhardt: F. R. 1871–1918. In: Frauen. Porträts aus zwei Jahrhunderten. Hg. Hans J. Schultz. Stgt. 1981, S. 226–243. – Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibl. Bewußtsein u. frühe Moderne. In: Dt. Lit. v. Frauen. Hg. dies. Bd. 2, Mchn. 1988, S. 169–205. – Richard Faber: F. zu R. Köln u. a. 1993. – Franziska Sperr: Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich. Das Leben der F. zu R. Mchn. 1995. – Antje Böhning: Schreiben als purer Gelderwerb? Die Bedeutung des Schreibens für F. zu R. In: Zu früh zum Aufbruch? Schriftstellerinnen im Nordfriesland der Jahrhundertwende. Hg. Arno Bammé u. a. Bredstedt 1996, S. 121–134. – Brigitta Kubitschek: F. zu R. Leben u. Werk. Ebd., S. 135–164. – Dies.: F. Gräfin zu R. Leben u. Werk. Mchn./Wien 1998 (mit ausführl. Bibliogr.). – Katharina v. Hammerstein: Politisch ihrer selbst zum Trotz. In: Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Hg. Karin Tebben u. a. Darmst. 1999, S. 290–312. – Ulla Egbringhoff: F. zu R. Reinb. 2000. – Ralph Köhnen: R. In: NDB. – Johanna Seegers u. A. K. Geile (Hg.): Über F. zu R. Rezensionen, Porträts, Aufsätze, Nachrufe aus mehr als 100 Jahren. Oldenb. 2007. – A. Bammé: F. Gräfin zu R. – Protest als Lebensform. In: Ders.: Vergesst die Frauen nicht! Die Halligen, das Meer u. die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster 2007, S. 123–146. – Gunna Wendt: F. zu R. Die anmutige Rebellin. Biogr. Bln. 2008. Gisela Brinker-Gabler / Arno Bammé

Rewald, Ruth Gustave, * 5.6.1906 Berlin, † nach 17.7.1942 Auschwitz. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. Nach Abitur u. nicht beendetem Jurastudium wandte sich R. 1931 der Kinder- u. Jugendliteratur zu. Nach zahlreichen Kurzgeschichten, die R. in Kinder- u. Jugendbeilagen von

Rexius

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Tageszeitungen veröffentlichte, erschien Rexius, Johann Baptista, * um 1563 Wien, 1932 Müllerstraße. Jungens von heute (Stgt.). Das † 2.5.1598 Freistadt. – SpäthumanistiBuch wurde von der Kritik begeistert aufge- scher Übersetzer der Ilias. nommen, positive Bezugspunkte zum SchafAls Sohn eines kaiserl. Rats u. Hofkammerfen Erich Kästners wurden hervorgehoben. sekretärs gehörte R. der Wiener ArtistenfaDieser Erfolg machte R. zur anerkannten kultät an u. trat mit einem Preisgedicht auf Kinder- u. Jugendbuchautorin, für die realist. Martin Radwiger, Propst von St. Dorothea zu Schreibweise u. problemorientierte Themen Wien, erstmals hervor (Wien 1581). 1588 charakteristisch wurden. studierte er in Siena, Padua u. Bologna. Über Im Mai 1933 musste R. nach Frankreich sein letztes Lebensjahrzehnt ist nichts beemigrieren. Sie wurde geächtet u. vom dt. kannt. Buchmarkt verbannt. Unter schwierigen BeR. hat literarhistor. Bedeutung allein durch dingungen entstand 1934 im Exil Janko. Der seine Prosaübersetzung der Ilias (1584), die Junge aus Mexiko (Straßb. Neuausg. Wuppertal früheste deutschsprachige Version des Werks. 2007. Hg. Dirk Krüger). R. thematisiert hier Der Text ist nur in einer Handschrift (im das Exil u. entwirft mit dem Leben des meAugustinerchorherrenstift St. Florian/Oberxikan. Jungen Janko, der eine Schule in einer österreich) überliefert u. war wohl nicht für dt. Kleinstadt besucht, eine antifaschist. den Druck bestimmt (Teilausg.: Ilias Homeri Schul- u. Bildungskonzeption. Das Buch er[...] durch J. B. Rexium verteütscht. Hg. Richard schien auch in Norwegen u. Schweden u. Newald. Bln. 1929). R. arbeitete nach der lat. machte R. international bekannt. Im Juni 1936 beendete sie die Arbeit an Ilias des Lorenzo Valla, wahrscheinlich ohne einem weiteren Kinder- u. Jugendbuch, Tsao Berührung mit dem griech. Text. Er war und Jing-Ling. Kinderleben in China, das 1937 philologisch weniger versiert als der belediglich in elf Folgen in einer Schweizer kanntere Homer-Übersetzer Johann Spreng Gewerkschaftszeitung veröffentlicht werden (dt.: Ilias Homeri [...]. Augsb. 1610. InternetEd.: VD 17), doch ist R.’ Prosa dessen Knitkonnte. telversen überlegen. Seine ans Lutherdeutsch Ausgehend von einer authent. Begebenheit, gestaltete R. 1938 nach einem viermo- gemahnende kräftige Sprache hat Göttern u. natigen Aufenthalt in Spanien mit Vier spani- Helden eine naiv-grobe Statur verliehen u. sche Jungen das einzige deutschsprachige Kin- steht damit, nach Newalds Urteil, dem Geist der- u. Jugendbuch über den Spanischen des homerischen Originals näher als die Bürgerkrieg. Erst 1987 konnte es aus dem klassizist. Übersetzung Voß’. Ausgabe: Ilias Homeri teutsch. Mit synopt. Nachlass veröffentlicht werden (hg. u. mit Abdr. der ›Ilias‹-Übertragung Lorenzo Vallas. Hg., Nachw. v. D. Krüger. Köln). komm. u. eingel. v. Antje Willing. Bln. 2009. Am 17.7.1942 wurde R. von der Gestapo in Literatur: Richard Newald: Die erste dt. IliasFrankreich verhaftet u. nach Auschwitz deübers. in Prosa des J. B. R. (1584). In: ZfdPh 54 portiert. Am 15.6.1950 wurde sie für tot er(1929), S. 339–359. – Ders.: Die dt. Homerübers.en klärt. des 16. Jh. In: Das humanist. Gymnasium 43 Weiteres Werk: Rudi u. sein Radio. Stgt. 1931. Literatur: Dirk Krüger: Die dt.-jüd. Kinder- u. Jugendbuchautorin R. R. u. die Kinder- u. Jugendlit. im Exil. Ffm. 1990. – Ders.: ›Vater, du mußt mir zuerst etwas erklären. Was bedeutet staatenlos? Wie kommt es, daß jemand staatenlos ist?‹ Kinder- u. Jugendlit. im Exil. Erinnerungen an die dt.-jüd. Autorin R. R. In: Exilforsch. 11 (1993), S. 171–189. – Ders: R. R. 5. Juni 2006: 100. Geburtstag der dt.-jüd. Kinder- u. Jugendbuchautorin. Eine Erinnerung. Wuppertal 2004.

(1932), S. 47–52. – Ders.: J. B. R. In: Freistädter Geschichtsbl. 3 (1952), S. 34–47. – Ders.: Probleme u. Gestalten des dt. Humanismus. Bln. 1963, S. 142. – Ders. u. Helmut de Boor (Hg.): Gesch. der dt. Lit. Bd. 5, Mchn. 1970, S. 54–56. – Petra Fochler: Fiktion als Historie. Der Trojan. Krieg in der dt. Lit. des 16. Jh. Wiesb. 1990. – Die dt. Trojalit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Materialien u. Untersuchungen. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 1990, Register. – Antje Willing: Die ›Ilias Homeri‹ des J. B. R. In: ZfdA 136 (2007), S. 480–499.

Dirk Krüger / Red.

Hartmut Kugler / Red.

Reynke de vos

Reynke de vos. – Mittelniederdeutsches Tierepos in Versform, 1498 gedruckt. Die niederdt. Fassung der Erzählung vom Streit zwischen dem Fuchs Reinke u. dem Wolf Ysegrym kam 1498 in der Lübecker Mohnkopfdruckerei heraus. Bei dem unbekannten Bearbeiter handelt es sich vielleicht um einen Lübecker Ordensgeistlichen. Auf den Erstdruck folgen zahlreiche neue Auflagen, Bearbeitungen u. Übersetzungen. Für eine Rostocker Ausgabe (1539) ist die Umarbeitung der sog. »Glosse« – beigefügte Prosaerläuterungen – im protestant. Sinn charakteristisch. 1544 erschien in Frankfurt/M. die erste hochdt. Übersetzung, 1567 ebendort eine lat. Übersetzung durch Hartmann Schopper, dann auch Übersetzungen ins Dänische, Schwedische, Englische usw. Bereits Luther lobt den R. d. v. als »lebendige contrafactur des Hoflebens«, u. noch Goethe bezeichnet ihn als »Hof- und Regentenspiegel«, in welchem sich »das Menschengeschlecht [...] in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vorträgt«. Seine eigene Versbearbeitung folgt Gottscheds hochdt. Prosaübersetzung (1752). Der lang andauernden Rezeption – vgl. noch Glaßbrenners Neuer Reineke Fuchs (1846) – entspricht eine Vorgeschichte, die von der antiken Fabeltradition über die Ecbasis captivi (Toul um 940) zum lat. Ysengrimus (um 1150–1152) des Magisters Nivardus aus Gent führt. Für den R. d. v. bes. relevant wurde die erste Erzählung (Branche I) des frz. Roman de Renart (ca. 1165–1250). Sie berichtet von einem Hoftag des Königs Noble, von den Klagen verschiedener Tiere gegen den Fuchs Renart, von seiner Ladung durch drei Boten, von der Gerichtsverhandlung, von der List Renarts, die ihm Strafaufschub u. die Gunst des Königs beschert. Dieser Aufbau findet sich noch im ersten Teil des R. d. v. Vermittelt wurde er wohl über zwei mittelniederländ. Zwischenstufen, wohingegen der mhd. Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich einem anderen Überlieferungszweig folgt. Der niederländ. Reinart I (Van den vos Reynarde, Mitte des 13. Jh.) schließt sich weitgehend an die Erzählfolge der Branche I an. Im niederländ. Reinart II (um 1375) wird er um-

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gearbeitet u. – im Anschluss u. a. an die Branche VI des Roman de Renart – erweitert; diesen Erweiterungen folgen die Bücher II-IV des R. d. v. Den Rahmen bildet wiederum ein Hoftag; allerdings mündet das Geschehen hier in einen Gerichtskampf zwischen Fuchs u. Wolf, den der Fuchs gewinnt. Charakteristisch sind zahlreiche integrierte Fabeln u. andere Erzählungen. Diese erweiterte Fassung wird im 15. Jh. in die Form gebracht, die der Lübecker Anonymus zur Vorlage für seine Übersetzung u. Bearbeitung genommen hat: Sie ist in vier Bücher u. Einzelkapitel unterteilt sowie nach mehreren Kapiteln jeweils mit »Glossen« versehen, die den Text allegorisch, u. d.h. moralisch u. theologisch deuten. Diese Textfassung (gedruckt Antwerpen 1487) stammt von einem gewissen Hinrek van Alkmaar. Im Anschluss an diese Fassung nutzt der Lübecker Anonymus die Erzählung von der höf. Tiergesellschaft, die an der Raffgier ihrer höchsten Repräsentanten zu zerbrechen droht, u. von der listigen Überlegenheit des Fuchses, zu einer scharfen Kritik an den Missständen seiner eigenen Zeit u. als eine Art »Sündenspiegel«, den er seinen Lesern vorhält. Auch Luther u. Goethe stimmen dann darin überein, dass der »Hof- und Regentenspiegel« Probleme der höfisch-feudalen Gesellschaft, ihrer Rechtsprechung u. Rechtsbrüche, ihrer Bemühungen um Frieden u. Harmonie, aber auch ihre latente u. offene Gewalt darstellt. Die Erzählung beginnt mit dem Entwurf gesellschaftl. Harmonie, die mittels der Topik idyllischer Natur noch unterstrichen wird: Der König der Tiere hat zum Hoftag geladen, um Recht zu sprechen u. den gesellschaftl. Frieden wiederherzustellen. Dabei herrscht zunächst auch Gewissheit unter den Tieren, dass ihr harmon. Miteinander einzig durch die Übeltaten des Fuchses Reinke gestört wird. Doch wird immer deutlicher, dass Habgier u. Rechtsbruch, Übervorteilung u. Gewalt für alle Tiere gleichermaßen kennzeichnend sind, der Fuchs also nur offen realisiert, was auch im höf. Recht u. Frieden latent vorhanden ist. Die Einzelerzählungen von den Königsboten sowie die Gerichtsverhandlung mit Reinkes Bericht von einer angebl. Verschwörung des

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Reysmann

Adels gegen den König haben diese Verkeh- späthumanist. Adelserziehung. In: Kühlmann rung von Recht u. Unrecht, von höf. »mâze« (2006), S. 308–322. – Volker Honemann: Recht u. in Raffgier u. Gewalt zum Inhalt. Die literar. Gerechtigkeit im R. d. v. (Lüb. 1498). In: Nd. Jb. u. auch histor. Besonderheit des Fuchses liegt 130 (2007), S. 47–62. Werner Röcke in seiner listigen Klugheit, aber auch in seiner Außenseiterrolle: Reinke ist sozialen oder Reysmann, Dietrich, Theodor(ic)us, Diodoeth. Rücksichten auf seine eigene Familie, auf rus, Diether, * um 1503 Heidelberg, König u. Reich nicht mehr verpflichtet, son† 1543/44 Neukastel/Pfalz (?). – Neuladern verfolgt nur seinen individuellen Vorteinischer Dichter. teil. Darüber hinaus besteht seine List insbes. darin, die Verhaltensmuster seiner Gegner im Nach Studien in Heidelberg (1520) u. WitVorhinein zu kalkulieren. Dieser Fähigkeit tenberg (1521; Magister 5.3.1523) wurde R. zur Reflexion in langen Zeitreihen sowie zum auf Empfehlung u. a. Melanchthons Schulsouveränen Verstoß gegen sozialeth. Ver- meister in Altenburg (1524), überwarf sich pflichtungen jegl. Art sind seine Gegner nicht jedoch bald darauf mit den Wittenbergern u. gewachsen. Dabei liegt der satir. Sinn des dem örtl. Magistrat u. fand ein notdürftiges Textes wohl darin, dass er die Ambivalenz Unterkommen an der Schule von Nördlingen höf. Werte u. die Verkommenheit höf. Lebens (1527). In dieser Zeit näherte sich R. wieder dadurch demonstriert, dass er sich auf sie der kath. Kirche an, begrüßte Kaiser Karl V. beruft, sie bestätigt u. gerade dadurch der als den »Arzt einer kranken Zeit« (De adventu Caesaris [...] Caroli V. in Germania, Epistola. Selbstzerstörung anheimgibt. Ausgaben: R. d. v. Lübeck 1498. Nachdr., be- Augsb. 1530) u. wurde 1531 von Ferdinand I. sorgt u. mit einem Nachw. vers. v. Timothy Sod- zum Dichter gekrönt (Urkunde von 1533, mann. Hbg. 1976. – R. d. v., nach der Ausg. v. abgedr. bei Schirrmeister 2003, s. u., Friedrich Prien, neu hg. v. Albert Leitzmann, mit S. 273 f.). In nicht genau bestimmbarer einer Einl. v. Karl Voretzsch. 3., durchges. Aufl. mit Funktion fand er darauf eine Lehrstelle an der Vorw. v. Willi Steinberg. Halle 1960. – Reineke Universität Tübingen im damals habsburFuchs. Das niederdt. Epos ›R. d. v.‹ v. 1498, über- gisch verwalteten Württemberg (Trauerelegie tragen u. mit einem Nachw. vers. v. Karl Langosch. auf den namhaften Mathematiker Johannes Stgt. 1975. Stöffler. Tüb. 1531). In Blaubeuren, wohin Literatur: Irmgard Meiners: Schelm u. die Universität wegen der Pestgefahr ausgeDümmling in E.en des dt. MA. Mchn. 1967, wichen war, durchstreifte R. die Landschaft S. 69–103. – Lothar Schwab: Vom Sünder zum des Blautopfs u. die in der Nähe liegende Schelmen. Goethes Bearb. des Reineke Fuchs. Ffm. Höhle. Darüber schrieb er eine farbige Schil1971. – Hubertus Menke: Ars vitae aulicae oder derung in eleg. Distichen (Fons Blavus. Ulm descriptio mundi perversi. Grundzüge einer Rezeptions- u. Wirkungsgesch. des Erzählthemas vom 1531. Mit dt. Übers. hg. v. Günter Bilger. Reineke Fuchs. In: Nd. Jb. 98/99 (1975/76), Tüb. 1986). Eine Reise nach Speyer (Kontakte S. 94–136. – Werner Röcke: Fuchsjagd u. höf. mit dem Domkapitel) verarbeitete R. in seiFriede. Das niederdt. Tierepos ›R. d. v.‹ v. 1498. In: nem bedeutendsten Werk, der poet. BeAdelsherrschaft u. Lit. Hg. Horst Wenzel. Ffm./ schreibung Speyers u. des Kaiserdoms. Der Bern/Las Vegas 1980, S. 259–310. – Hartmut Ko- Dichter führt vor, wie die Eindrücke auf ihn kott: R. d. v. Mchn. 1981. – Jan Goossens: R. d. v. wirken: die Aussicht von den Domtürmen, In: VL. – Brigitte Janz: ›Wo dat Reynke mit kloker der Klang der Orgel, die Fenster, Gemälde, lyst den kamp wan‹. List u. Recht im R. d. v. von der Gottesdienst, in dem man um Schutz vor 1498. In: Schelme u. Narren in den Lit. des MA. den Türken bittet (Pulcherrimae Spirae summiGreifsw. 1994, S. 73–94. – Michael Schilling: Poque in ea templi enchroamata. Tüb. o. J. [1531]. tenziertes Erzählen. Zur narrativen Poetik u. zu den Textfunktionen v. Glossator u. Erzähler im R. Mit dt. Übers. hg. v. Gustav Bossert u. d. T. d. v. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narra- Theodorus Reysmann und sein Lobgedicht auf tiver Praxis im MA. Hg. Ludger Lieb u. Stephan Speyer. In: Mitt.en des Histor. Vereins der Müller. Bln./New York 2002, S. 191–216. – Wil- Pfalz 29/30, 1907, S. 156–248). Nach der helm Kühlmann: Reinike Voss de Olde in der Rückeroberung Württembergs durch Herzog

Rezzori

Ulrich bekannte sich R. wieder zur Reformation u. wurde »Lesemeister« im Kloster Hirsau (1534), dann Pfarrer im Dörfchen Cleebronn (1537). Wegen seines Lebenswandels (Wirtshaushändel, Trunksucht) verlor er sein Amt (1541). Schließlich bot ihm ein pfälz. Freund Obdach u. Gelegenheit, letzte Hand an religiöse Versdichtung zu legen. Literatur: Gustav Bossert: T. R. Humanist u. Dichter aus Heidelberg. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 61 (= N. F. 22, 1907), S. 561–626. 62 (= N. F. 23, 1908), S. 79–115, 220–242, 699–724 (Werkübersicht u. Briefe). – Ellinger 2, S. 190–192. – Günter Bilger, a. a. O. (Nachw. u. Werkverz.). – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln u. a. 2003 (passim, Register). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1670–1672. Wilhelm Kühlmann

Rezzori, Rezori, Gregor (Arnulph Herbert Hilarius) von, eigentl.: G. Rezzori d’Arezzo, * 13.5.1914 Czernowitz/Bukowina, † 23.4.1998 Donnini/Toskana. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, autobiografischen Texten, journalistischen Beiträgen für Zeitungen, Zeitschriften u. Rundfunk sowie populärwissenschaftlichen Sachbüchern; Drehbuchautor u. Filmschauspieler. R. stammte aus einer sizilian. Familie, die im 18. Jh. nach Wien übersiedelte. Sein Vater Hugo von Rezzori war Beamter der österr.ungar. Monarchie in Czernowitz u. zuständig für den Erhalt aller kirchl. Denkmäler in der Bukowina. Nach dem Ersten Weltkrieg u. dem Zusammenbruch der Donaumonarchie besaß die Familie die rumän. Staatsbürgerschaft. R. absolvierte seine Schulzeit nach der frühen Trennung der Eltern an verschiedenen Gymnasien in Kronstadt (Siebenbürgen), Fürstenfeld (Steiermark) u. Wien. Er studierte zunächst Bergbau in Leoben sowie Architektur u. Medizin, später auch Kunst, in Wien. Unterbrochen wurde die Studienzeit durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Rumänien, wo er seinen Militärdienst ableistete u. seine künstlerischen Fähigkeiten, insbes. als (Reklame-)Zeichner, erprobte. Bei seinem Zwischenaufenthalt in Wien (1937/38) erlebte er auch den Einmarsch Hitlers am 12.3.1938,

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den er als bedeutsamen lebensgeschichtl. Einschnitt u. weltpolit. Zäsur ansah, weil damit das Ende der alten u. in vieler Hinsicht als vorbildlich empfundenen Ordnung, die er in der k. u. k. Monarchie u. ihrem noch wirkungsmächtigen Erbe verkörpert sah, unwiderruflich feststand. Diese Erfahrung wurde zu einem der wesentl. Beweggründe für den Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Das Czernowitz seiner Kindheit erscheint im späteren Werk als multikulturelles, kosmopolit. Ideal, das im Medium der Erinnerung in die eigene Gegenwart hinübergerettet wird. Diesen für sein literar. Schaffen zentralen Vorgang bezeichnet R. mit dem Begriff der »Epochenverschleppung«. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte er, aufgrund seines rumän. Passes von der Verpflichtung zum Kriegsdienst befreit, auf adligen Landgütern in Pommern oder Schlesien sowie v. a. in Berlin, wo er seine Karriere als Autor mit drei Romanen begann, die hinsichtlich der Handlungsgestaltung der Trivialliteratur zugerechnet werden müssen u. deren affirmativer Charakter in ihrer Abkehr vom zeitgeschichtl. Kontext befremdlich wirkt. Der erste dieser Romane mit dem Titel Flamme, die sich verzehrt (Bln. 1939) erreichte mehrere Auflagen u. wurde vom Autor 1949 in leicht veränderter Fassung u. unter einem Pseud. (Herbert Gregor: Sentimentales Zwischenspiel. Flensburg) erneut veröffentlicht. Eine dritte Publikation erfuhr dieser Text 1978 in dem Band Greif zur Geige Frau Vergangenheit (Mchn.), wo R. die einzelnen Teile des Romans mit ausführl. Anmerkungen zum lebensgeschichtl. Kontext versieht. Der 1944 erschienene Roman Rose Manzani (Bln.) zeichnet sich bereits durch eine recht souveräne Handhabung erzähltechnischer Mittel, eine nuancierte Figurendarstellung sowie den Einsatz subtiler Ironie aus, welche die Qualitäten späterer Werke erahnen lassen. Im Jahre 2004 entdeckte die Witwe R.s im Nachlass ihres Mannes ein Heft mit bis dahin unpublizierten Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1943, Notaten, die von seiner dandyhaften Lebenshaltung Zeugnis ablegen u. ihn auf der Suche nach einem Konzept für sein Leben u. seine Arbeit als Schriftsteller zeigen. In diesen lebensge-

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schichtl. Zusammenhang gehört auch die 1942 mit Priska von Tiedemann (geb. 1919) geschlossene Ehe, der drei Söhne entstammten u. die 1957 wieder geschieden wurde. In der zweiten Hälfte der 1940er u. zu Beginn der 1950er Jahre arbeitete R. für den NWDR in Hamburg. Zu seinen herausragenden Arbeiten gehört die Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse sowie die maßgebl. Mitarbeit an einem mehrstündigen Hörfunk-Feature mit dem Titel Analyse des Nationalsozialismus (1948), in dem nicht nur nach den Ursachen für die Wirkungsmacht dieser Ideologie u. der Gestalt des Führers gefragt, sondern auch die Entstehung antisemit. Denkens u. dessen Fortbestehen nach 1945 kritisch beleuchtet wird, eine Fragestellung, die gleichfalls im Zentrum des 1979 veröffentlichten, eigene Erfahrungen verarbeitenden Erzählungsbandes Memoiren eines Antisemiten (Mchn.) steht. Aus Stegreifgeschichten für den Rundfunk hervorgegangen sind die Maghrebinischen Geschichten (1953), eine Sammlung von überlieferten Anekdoten, Witzen u. skurrilen Geschichten, die im imaginären Maghrebinien angesiedelt sind, das als Synonym für die vergangene Welt des Balkans gelten kann, der sich R. durch seine Herkunft verbunden fühlte. Dieses Nebenwerk wurde zum größten Erfolg des Autors u. trug zu seinem Ruf als wenig ernst zu nehmender Unterhaltungsschriftsteller bei, von dem er sich zeit seines Lebens nicht zu befreien vermochte. Dass er neben einer Fortsetzung der Maghrebinischen Geschichten u. d. T. 1001 Jahr Maghrebinien. Eine Festschrift (Reinb. 1967) auch für Zeitschriften wie »Quick«, »Vogue« u. »Playboy« durchaus niveauvolle Beiträge schrieb, Filmdrehbücher verfasste u. in den 1950er u. 1960er Jahren in nicht wenigen Spielfilmen (auch namhafter Regisseure wie Rolf Thiele oder Louis Malle) als Schauspieler mitwirkte (u. a. neben Marcello Mastroianni, Brigitte Bardot u. Jeanne Moreau), verstärkte seinen Ruf als zwielichtiger Lebemann u. galanter Illustrierten-Autor. Immerhin gehört R. zu den wenigen dt. Schriftstellern, denen eine Titelstory im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« (1/1959) gewidmet wurde.

Rezzori

Die beiden großen Romane, die der Autor in den 1950er Jahren verfasste, Oedipus siegt bei Stalingrad (Hbg. 1954) u. Ein Hermelin in Tschernopol (Hbg. 1958), fanden bedeutend weniger Echo u. wurden sowohl hinsichtlich ihrer zeitdiagnost. als auch ihrer literar. Qualitäten weit unterschätzt. In seinem Oedipus-Roman greift R. auf seine Erfahrungen im Vorkriegsberlin zurück u. entwirft ein umfassendes Bild von den alten Eliten, das zgl. deren Anfälligkeit für totalitäre Ideologien aufdeckt. Ein ausgesprochen vielfältiges Spiel mit intertextuellen Momenten u. eine differenzierte Handhabung der Ironie beweisen den hohen künstlerischen Anspruch dieses Textes. Der vier Jahre später erschienene Roman Ein Hermelin in Tschernopol spielt zwar im imaginären Maghrebinien, entwickelt hier aber, im Gegensatz zu den Maghrebinischen Geschichten, einen geschlossenen Erzählkosmos, der eine vergangene Realität, die Welt Habsburgs vor 1918, im fiktiven Entwurf in die Gegenwart hinüberzuretten u. vor dem Vergessen zu bewahren sucht, eine Welt, in der im Moment ihres Niedergangs noch die Utopie von einem friedl. Miteinander unterschiedl. Völker, Kulturen u. Religionen erkennbar wird u. in der in ihrem nicht mehr überlebensfähigen Exponenten Tildy die alten Werte wie Ehre, Gerechtigkeit u. Prinzipientreue letztmalig aufscheinen. Ende der 1950er Jahre war R. für kurze Zeit mit der Münchner Malerin Hanna Axmann (1921–1999) verheiratet, ab 1967 in dritter Ehe mit der ital. Adligen Beatrice Monti della Corte, der in Mailand eine bekannte Galerie für zeitgenöss. Kunst gehörte. Dadurch wurde Italien seit Mitte der 1960er Jahre zu seinem Lebenszentrum. Der 1976 erschienene umfangreiche Roman Der Tod meines Bruders Abel (Mchn.) war als Opus Magnum angelegt, kann aber lediglich in einzelnen Teilen überzeugen u. entbehrt einer schlüssigen erzählerischen Gesamtkonzeption. Auch ein aus dem Nachlass zusammengestellter zweiter Teil (Kain. Das letzte Manuskript. Mchn. 2001) vermochte die Probleme u. Fragen, die dieser Text aufwirft, nicht zu klären. Als zweiter Höhepunkt im Schaffen R.s nach den beiden großen Romanen der 1950er

Rhagius

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Jahre können die Veröffentlichungen aus dem Kliff. Mchn. 1991. – Begegnungen. Wien dem letzten Lebensjahrzehnt gelten. Im 1992. Literatur: Einzelveröffentlichungen: Maria KlansWissen um die Problematik autobiogr. Schreibens umkreisen die Bände Blumen im ka: Das Erbe der Habsburgermonarchie bei G. v. R. Schnee (1989), Greisengemurmel (1994), Mir auf In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen der Spur (1997) sowie die Erzählung Der Literaturlandschaft. Hg. Dietmar Goltschnigg u. Anton Schwob. Tüb. 1990, S. 403–412. – Hanjo Schwan (1994, alle Mchn.) in immer neuen Kesting: Die Epiphanie des Balkans. Porträt G. v. R. Anläufen das eigene Leben, an dem die Si- In: Lesart. Unabhängiges Journal für Lit. 8. Jg. H. 1 gnaturen eines Epochenumbruchs deutlich (2001), S. 30–37. – Peter Stenberg: G. v. R. In: LGL. werden. Die von R. als »hypothetische Auto- – Gerhard Köpf: Die Vorzüge der Windhunde. Über biographien« bezeichneten Werke werden zu G. v. R. In: Ders.: Die Vorzüge der Windhunde. einem Medium der Erinnerung, das der für Ess.s gegen das Vergessen. Tüb. 2004, S. 55–93. – seine Gegenwart diagnostizierten »Verpöbe- Heinz Schumacher: ›Ein Ausschnitt aus der Berlilung der Welt« die Rückbesinnung auf ner Wirklichkeit jener Tage.‹ Anmerkungen zu G. Menschlichkeit u. gepflegte Umgangsfor- v. R.s Roman ›Oedipus siegt bei Stalingrad‹. In: Treibhaus. Jb. für die Lit. der fünfziger Jahre. Bd. 3, men, auf Noblesse, Stil u. Eleganz entgegenMchn. 2007, S. 172–193. – Sammelbände (jeweils mit hält, die sich auch in der brillanten Sprache weiterführender Bibliografie): Die Horen. 35. Jg., H. 3 dieser Werke widerspiegeln u. den Autor zu (1990), S. 4–111. – G. Köpf (Hg.): G. v. R. Ess.s, einer Ausnahmegestalt in der deutschspra- Anmerkungen, Erinnerungen. Oberhausen 1999. – chigen Literaturlandschaft machen. Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur Die Werke von R. fanden, mit Ausnahme l’Autriche. Nr. 54, Rouen 2003. – Andrea Landolfi der Maghrebinischen Geschichten, weder bei der (Hg.): Memoria e disincanto. Attraverso la vita e breiten Leserschaft in Deutschland noch bei l’opera di G. v. R. Macerata 2006. Heinz Schumacher der Literaturkritik ein größeres Echo. Daran konnten auch zwei verlegerische Bemühungen bislang nur wenig ändern: Ende der Rhagius, eigentl.: Ra(c)k (sorb. »Krebs«), 1980er Jahre startete der Goldmann Verlag auch: Aesticampianus, Esticampianus (lat. eine Werkausgabe im Paperbackformat, die aus [de] Som-, Sommer-, Sumer-, Zom-, allerdings nach zwölf Bänden nicht weiter Zommer-, Zumer-, -feldt, -felt, -felth, fortgesetzt wurde u. seit Längerem vergriffen -feld, -uelth), Johannes, * ca. 1457 Somist. Ab 2004 veröffentlichte der Berliner Ta- merfeld/Niederlausitz, † 31.5.1520 Witschenbuch Verlag acht der wichtigsten Bü- tenberg. – Humanist. cher dieses Autors neu, darunter auch eine längere bislang unveröffentlichte Erzählung Urkundlich ist R. erstmals als Johannes Johannis de Zommerfelth dioc. Mysznensis am aus dem Nachlass mit dem Titel Affenhauer. Im Gegensatz zu Deutschland gilt R. in 19.5.1491 in der Matrikel der Universität vielen Ländern, insbes. in Italien, Frankreich Krakau belegt; hier studierte er unter Konrad u. den USA, als angesehener Autor, virtuoser Celtis, mit dem er auch freundschaftl. KonSprachkünstler u. wichtiger Vertreter der dt. takte knüpfte u. in Briefwechsel stand. In Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jh., Krakau war R. zudem Mitgl. der von Celtis dessen Werke vielfach übersetzt wurden. gegründeten Sodalitas litteraria Vistulana. Während er in Deutschland lediglich 1959 Versehen mit Empfehlungen Celtis’, setzte R. mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, ab 1499 über Wien seine Studien in Italien erhielt er allein in Italien zahlreiche wichtige fort. Nach Aufenthalten in Venedig, Padua, Ferrara u. Rom, wo er von Papst Alexander Literaturpreise zuerkannt. VI. zum Poeta laureatus gekrönt wurde, beWeitere Werke: Auswahl: Rombachs einsame Jahre. Bln. 1942. – Männerfibel. Hbg. 1955. – trieb er in Bologna unter Philippus Beroaldus Idiotenführer durch die dt. Gesellsch. 4 Bde., Studien zu Vergil, Cicero, Plautus u. Plinius. Reinb. 1962 ff. – Die Toten auf ihre Plätze. Reinb. Nach Stationen in Basel u. vermutlich auch in 1966. – In gehobenen Kreisen. Mchn./Bln. 1978. – Augsburg im Jahr 1501 sowie einem AufentKurze Reise übern langen Weg. Mchn. 1986. – Über halt in Straßburg bis 1502, der ihn mit Jakob

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Wimpfeling u. seinem Kreis zusammenführte, wirkte R. 1501/02–1506 als erster Lektor der Rhetorik u. Professor für Moralphilosophie in Mainz. Dietrich von Bülow, Bischof von Leubus, Mitbegründer u. Kanzler der Universität Frankfurt/O. (gegr. 1506), berief R. bei einer Begegnung 1505 zu Mainz als Professor für Rhetorik u. Poetik nach Frankfurt/O., wo R. als Erster Griechisch lehrte. Zu seinen Schülern zählte u. a. Ulrich von Hutten. Ein Festhalten an der scholast. Lehrmethode seitens der Universität, vertreten v. a. durch Konrad Wimpina, führte zum Weggang R.’ u. der Annahme eines Lehrstuhls für Poetik u. Rhetorik im Wintersemester 1507/08 in Leipzig, wo er u. a. über Plautus u. – als Erster auf dt. Boden – über Plinius las. Zeugnis von seiner Lehrtätigkeit legt R. selbst in seiner Oratio Lypsi habita coram vniversitate (Speyer 1512) ab. War der Abgang in Frankfurt/O. noch freiwillig, so führten antihumanist. Strömungen zu unüberbrückbaren Gegensätzen in der Lehrmethode, u., vorangetrieben v. a. durch Neider u. den Rektor der Universität, zur Verweigerung einer Räumlichkeit für R.’ Vorlesungen, schließlich zu seiner rasch betriebenen Relegierung für 10 Jahre u. 1511 zu seiner Vertreibung aus Leipzig. Einen literar. Niederschlag fanden diese Begebenheiten in den Epistolae obscurorum virorum (I,17) u. in der anonymen Passio Esticampiani secundum Ioannem (Hg. Carl G. Brandis: Beiträge aus der Universitätsbibliothek zu Jena zur Geschichte des Reformationsjahrhunderts. In: Ztschr. des Vereins für Thüring. Gesch. u. Altertumskunde N. F. Beih. 8 [1917], S. 1–11, hier S. 2–4). Vorübergehend hielt R. sich 1510/11 in Freiburg im Gefolge Kaiser Maximilians auf, was ihm möglicherweise eine zweite Dichterkrönung eintrug. In dieser Zeit ist auch sein Privileg, mit hofpfalzgräfl. Befugnis, sechs Poetae laureati zu erwählen, belegt. Seine Appellation an Papst Julius II. führte R. nach Rom, wo er die theolog. Doktorwürde erwarb. Eine ungünstige Wendung erfuhren seine Angelegenheiten durch den Tod Julius’ II. im Febr. 1513. Auf der Rückreise waren kurze Stationen mit Lehrtätigkeit in Paris (1512), wo R. u. a. Griechisch unterrichtete, u.

Rhagius

Köln (1513), wo er über Plinius u. Augustinus las, jedoch als Reuchlinist nochmals vertreiben wurde. Eine Lateinschule, begründet zu Cottbus u. nach kurzer Zeit wegen mangelnder Nachfrage nach Freiberg verlegt, wurde wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgegeben. 1517 wurde R. als Prof. für Plinius-Studien in Wittenberg immatrikuliert, nannte sich jedoch selbst bald Prof. der Theologischen Fakultät. Als solcher las er öffentlich über Hieronymus u. Augustinus u. behandelte Plinius privatim. Kurz vor seinem Tod erhielt er am 12.9.1519 eine Domherrenpfründe in St. Georgen/Altenburg u. zählte nun mit einer Besoldung von insg. einhundert Gulden zu den bestbezahlten Professoren in Wittenberg. Ein Epitaph des Vertreters des christl. Humanismus befindet sich in der Wittenberger Stadtpfarrkirche. R.’ editorisches Profil ist geprägt von seiner Lehrtätigkeit. Die von ihm besorgten Ausgaben von Autoren der paganen u. christl. Antike u. Spätantike sowie des SpätMA sollten seinen Unterricht begleiten. In fast allen Fällen ist der Quellentext selbst, im Gegensatz zu den Vorreden u. sonstigen Beigaben, weitzeilig gesetzt u. lässt somit Raum für interlineare Notizen. Zu den frühen Editionen zählen Teilausgaben von Martianus Capella (Grammatica Martiani foelicis Capelle [...]. Frankf./O. 1507. Neudr. Lpz. 1509; = Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii, Buch 3; F[oelicis] M[artiani] C[apellae] [...] Rhetorica [...]. [Lpz. 1509]; = Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii, Buch 5), der das von den Humanisten verspottete Doctrinale puerorum Alexanders von Villa Dei ersetzen sollte u. in Mainz auf R.’ Betreiben vom Lehrplan abgesetzt wurde. Ferner erschien Ps.-Donat (Aelius Donatus de figuris [...]. [Frankf./O. um 1508]; = Bartholomaeus Arnoldi: Ars maior, Tl. 3,1–2). Ergänzt wurden die Textausgaben durch einen Kommentar (Commentarij [...] in Grammaticam Martiani Capellae et Donati figuras. Frankf./O. 1508). Mit der Tabula des Sophisten Cebes (Frankf./O. 1507. Neudr. Lpz. 1512) bot R. die erste Ausgabe dieses Werks nördlich der Alpen. Weitere Editionen paganer u. patrist. Texte legen Zeugnis ab von seinen Bemühungen, Humanismus u. Religiösität zu verknüpfen.

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Unter den ersteren sind Plinius (C. Plinij Se- Oxford Guide to the Historical Reception of Aucundi [...] ad Titum Vespansianum in libros natu- gustine. Hg. Karla Pollmann (in Vorb.). Susann El Kholi ralis hystorie Epistola [...]. Lpz. 1508. Veränderter Neudr. u. d. T. C. Plinij Praefatio [...]. Wittenb. 1518), Tacitus (Germania. Lpz. 1509. Rhaw, Rhau, Georg, * 1488 Eisfeld/Werra, Neudr. 1511) u. Cicero (De oratore. Lpz. 1515), † 6.8.1548 Wittenberg. – Komponist, der als Ergänzung zu Augustinus (s. u.) geMusiktheoretiker, Drucker. dacht war. Von den Kirchenvätern schätzte R. bes. Augustinus, dessen Doctrina christiana er R. gilt unter den Druckern u. Verlegern der sowohl in toto ([Paris 1512]. Neudr. Lpz. Reformation als eine der herausragenden u. 1515) herausgab als auch eine Separatedition gebildetsten Persönlichkeiten. Er studierte in von Buch 4 (Köln 1513) besorgte. In seiner Erfurt (seit 1508) u. Wittenberg (seit 1512) u. Wittenberger Zeit setzte er zudem eine Aus- erwarb dort im Juni 1514 das Bakkalaureat gabe der Augustinus zugeschriebenen, mög- »in artibus«. In Leipzig wurde er im Sept. licherweise auch von Fastidius Britannicus 1518 in den Lehrkörper der Universität aufverfassten Schrift De vita christiana ins Werk genommen u. zgl. zum Thomaskantor beru(Lpz. 1518). Eine Auswahl von Hieronymus- fen. Zur Leipziger Disputation zwischen LuBriefen gab R. 1508 (Lpz.) in Druck. ther u. Eck führte er eine (eigene?) Messe u. Philologisch gelten die Editionen als un- ein Te Deum auf. Zum Anhänger Luthers bedeutend (Walther), unter druckgeschichtl. geworden, gab er seine Ämter auf, schlug sich Aspekt nehmen jedoch die Ausgaben von Ps.- kurzzeitig als Hauslehrer durch u. lebte von Donat u. Ciceros De oratore als erste Drucke 1523 an als Drucker u. Verleger in Wittenberg mit griech. Lettern in Frankfurt/O. bzw. (seit 1541 auch Ratsherr). Leipzig eine bes. Stellung ein. Aus seiner 1525 eröffneten Offizin stamHervorgehoben sei ferner eine Sammlung men die Erstdrucke des Großen Katechismus von Gedichten (Lpz. 1507), die während R.’ (1529) u. der Augsburgischen Konfession (1531) Mainzer Zeit entstanden u. einen eindrucks- sowie zahlreiche Musikdrucke, die der luth. vollen Überblick über seine dortigen Kon- Kirche »ein umfassendes Repertorium ihres takte bieten. gesamten liturgischen Bedarfs« (Blume) beAusgaben: Briefe u. Dokumente aus der Zeit der reitstellten. Grundlegend für R.s erfolgreiche Reformation im 16. Jh. nebst Mitteilungen über Drucktätigkeit sind drei Gegebenheiten: seiKölnische Gelehrte u. Studien im 13. u. 16. Jh. Hg. ne musikalische u. humanistisch-pädagog. Karl u. Wilhelm Krafft. Elberfeld 1875, S. 137–147, Begabung u. Bildung, seine engen Kontakte 199–201. – Der Briefw. des Konrad Celtis. Hg. Hans zu bedeutenden luth. Kantoren u. schließlich Rupprich. Mchn. 1934, Reg. s. v. die Bedeutung u. intensive Pflege der Musik Literatur: Geiger: A. In: ADB. – Gustav Bauch: im Kreis um Luther. J. R. A. in Krakau, seine erste Reise nach Italien u. An der Verbreitung der reformatorischen sein Aufenthalt in Mainz. In: AfLg 12 (1884), Liedweise hatte insbes. die für den KantoreiS. 321–370. – Ders.: Die Vertreibung des J. R. A. aus gebrauch bestimmte Sammlung Newe deudsche Leipzig. Ebd. 13 (1885), S. 1–33. – Hans-Heinrich Fleischer: J. R. A. Ein humanist. Dichter als Pro- geistliche Gesenge CXXIII. Mit vier und fünff fessor in Mainz (1501–06). In: Mainzer Ztschr. 63/ Stimmen. Für die gemeinen Schulen (Wittenb. 64 (1968/69), S. 79–85. – Heinrich Grimm: A. In: 1544) Anteil. R. bietet eine Auswahl von 123 NDB. – Peter Walther: R. In: Bautz (mit Bibliogr.). Tonsätzen der namhaftesten Zeitgenossen. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1672–1676. – Insg. stellen die Musik-Drucke R.s für viele Susann El Kholi: Ein Nachtr. zum 500. Todestag Meister die einzige oder die entscheidende des Mainzer Erzbischofs Berthold v. Henneberg Quelle dar. Johann Walters Wittembergisch (1484–1504). Das Preisgedicht des J. R. A. In: Ar- deudsch geistlich Gesang-büchlein (zuerst 1524 chiv für mittelrhein. Kirchengesch. 58 (2006), u. ö.) hat R. 1544 übernommen. Schon in S. 285–298. – Dies.: Der Barbarahymnus des J. R. A. Leipzig verfasste R. das musiktheoretischEbd. 60 (2008), S. 293–312. – Dies.: J. R. A. In: The pädagog. Enchiridion utriusque musicae practicae (Lpz. 1518. 121553), dem das Enchiridion mu-

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Rhegius

sicae mensuralis (Lpz. 1520. 101553) folgte. Für Rhegius, Regius, Urbanus, eigentl.: U. das dt. Volkslied sind seine Bicinia gallica, la- Rieger, * 1489 Langenargen, † 27.5.1541 tina, germanica (2 Bde., Wittenb. 1545) von Celle; Grabstätte: ebd., Stadtkirche. – Interesse, die u. a. Sätze zu Entlaubet ist der Reformatorischer Theologe u. Verfasser Walde (anonym) u. Ich stund an einem morgen von Flugschriften. (Stoltzer) enthalten. 1542 waren bereits die Tricinia [...] latina, germanica, brabantica et gal- R. studierte seit 1508 in Freiburg i. Br., ab lica (Wittenb.) vorhergegangen. Es ist unge- 1512 in Ingolstadt die Artes u. erwarb als klärt u. wohl auch kaum zu entscheiden, ob Schüler von Eck u. a. eine gründliche humau. wenn ja, in welchem Umfang R. sich unter nist. Bildung (1516 Mag. art. u. Mitgl. der den zahlreichen Anonyma seiner Sammlun- Sodalitas litteraria, 1517 Poeta laureatus). Nach der Priesterweihe 1519 in Konstanz gen verbirgt. (1520 in Basel Dr. theol.?) wurde er 1520 Weitere Werke: Die zwelff Hauptartickel des christl. Glaubens [...] grüntlich erklert [...]. Nürnb. Domprediger in Augsburg, wo er sich rasch 1539. – Kinder Glaube. Wittenb. 1539. – Hortulus Luthers reformatorische Theologie aneignete. animae. Lustgarten der Seelen [...]. Wittenb. 1548. Die Fronleichnamspredigt von 1521, in der er Gabriel Biel u. Luther kombinierte u. Kritik Internet-Ed.: VD 16 digital. Ausgaben: Newe deudsche geistl. Gesenge am Ablass übte, führte zur Entlassung; auch CXXIII. Hg. Johannes Wolff. Lpz. 1908. – Dass. Hg. eine Predigtstelle in Hall/Tirol verlor er 1523 Hans Joachim Moser. Wiesb. 1958. – Dass. Hg. aufgrund altgläubigen Widerstands. Im Okt. Ludwig Finscher. Kassel 1969. – Johann Walther: 1524 kehrte er als Prediger an St. Anna nach Wittembergisch deudsch geistlich Gesangbüchlein. Augsburg zurück, wo er durch Flugschriften In: Ders.: Sämtl. Werke. Hg. Otto Schröder. Kassel u. gelehrte Publikationen eine evang. Fröm1953 ff. – Enchiridion utriusque musicae practicae migkeit zu formen versuchte u. sich für die (›Musica plana‹). Nachdr. hg. v. Hans Albrecht. Reformation des städt. Kirchenwesens einKassel 1951. – Musikdrucke aus den Jahren 1538 bis 1545. Hg. ders. [Bisher] Bd. 1–12. Kassel setzte. Nach dem 1530 im Zuge des Augs1955–99. – Bicinia gallica, latina, germanica [...]. 2 burger Reichstags von Karl V. erlassenen Bde. Hg. H. Mönkemeyer. Wilhelmshaven 1963. – Predigtverbot folgte er dem Ruf Herzog Dt. Zwiegesänge aus G. R.s Bicinia [...]. Hg. Konrad Ernsts als Superintendent von BraunschweigAmeln. Kassel 1966. Lüneburg nach Celle, wo er die erste GeneLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: ration evang. Prediger ausbildete, die altRobert Eitner: G. R. In: ADB. – Friedrich Blume: R. gläubige Opposition gegen die fürstl. ReforIn: Jb. für Hymnologie u. Liturgie 4 (1958/59), mation v. a. in Lüneburg (Kirchenordnung S. 1–46 (1961), S. 49–61. – Ders.: Gesch. der evang. 1532) bekämpfte u. sich mit dem Chiliasmus Kirchenmusik. Kassel u. a. 21965. – Joseph Benzing: der Münsteraner Täufer auseinandersetzte. Die Buchdrucker des 16. u. 17. Jh. im dt. SprachAls Theologe war R. durch die frühen Lu2 gebiet. Wiesb. 1982, S. 500. – HKJL, Bd. 1, Sp. 272–283, 1167 f. u. Register. – Theodor Wohnhaas: therschriften dauerhaft geprägt u. versuchte, G. R. In: Bautz. – Carl Schalk: Music in Early Lu- auf dieser Basis im Abendmahlsstreit ein der reformatorischen theranism. Shaping the Tradition [...]. St. Louis Auseinanderfallen 2001. – Reinhard Schwarz: ›Ein kurzer Unterricht Theologie in Parteien zu verhindern. In von zweierlei Kirchen‹. Ein ekklesiolog. Text Lu- Norddeutschland vertrat er zunehmend eithers, 1547 durch G. R. publiziert. In: Luther-Jb. 70 nen lutherischen theol. Standpunkt, ohne (2003), S. 87–92. – Martin Geck: G. R. In: MGG 2. doch seine Unabhängigkeit aufzugeben. R. Aufl. Bd. 13 (Pers.), Sp. 1611–1615 (Lit.). war von der Überzeugung von der wahrhafKlaus Düwel / Red. ten »Katholizität« des evang. Glaubens getragen u. um die Kontinuität mit der frühen Kirche u. den Kirchenvätern (Loci theologici e patribus et scholasticis neotericisque collecti. Ffm. 1545) bemüht. R. begann als nlat. Dichter. Sein publizist. Einsatz für die Reformation wird vermutlich

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Ausgaben: Opera latine edita. Hg. Ernst Regius. unter den Pseudonymen Simon Hessus (mit der humanist. Satire Luthero ostendit caussas, Nürnb. 1562. – Dt. Bücher unnd Schrifften. Hg. quare luterana oposcula a Coloniensibus et Lova- ders. Nürnb. 1562. – Poemata juvenilia. Hg. Gottniensibus sint conbusta [...]. Augsb. 1521. In- fried Wagner. Wittenb. 1711. – Wie man fürsichtigl. [...] reden soll. Hg. Alfred Uckeley. Lpz. 1908. ternet-Ed.: VD 16 digital, u. dem Dialogus Si– Gunther Franz: Huberinus – R. – Holbein. monis Hessi et Martino Lutheri Vormacie nuper Nieuwkoop 1973 (Neudr. der ›Seelenarznei‹, Bihabitus. Landshut 1521) u. Phöniceus von bliogr.). – Sabine Pettke: Das Gutachten des U. R. Roschach (Anzaygung dasz die Romisch Bull für den Rostocker Rat vom 8. Nov. 1531. In: Jb. der mercklichen schaden in gewissin manicher men- Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 84 (1986), schen gebracht hab. Augsb. 1521) eröffnet. Seine S. 93–103. – Hellmut Zschoch: Reformatorische weiteren Publikationen zielen auf die Ver- Predigt zur Begründung der Priesterehe. In: Liebe mittlung der Grundbegriffe reformatorisch – Leben – Kirchenlehre. Neukirchen-Vluyn 1998, verstandenen Christentums (u. a. Ain kurtze S. 58–76 (›Sermon vom ehel. Stand‹). – Internet-Ed. erklaerung etlicher leüffiger puncten. Augsb. 1523 mehrerer Werke in: Slg. Hardenberg. – Kirchenordnungen: Die evang. Kirchenordnungen des 16. Jh. u. ö.), setzen sich mit den Altgläubigen (z.B. Hg. Emil Sehling. Lpz. u. a. 1902 ff., Abt. VI, 1,1 Responsio ad duos libros [...] de Missa Ioannis Eccii. (1955), S. 633–649 (Lüneburg); Abt. VI, 1,2 (1957), Augsb. 1529) u. den Täufern (Wider den newen S. 944–1017 (Hannover). Taufforden. Augsb. 1527) auseinander u. theLiteratur: Gerhard Uhlhorn: U. R. Elberfeld matisieren u. a. Bauernkrieg, Abendmahl u. 1861. Neudr. 1968. – Richard Gerecke: Studien zu Priesterehe. Dazu kommen Übersetzungen U. R.’ kirchenregimentl. Tätigkeit in Norddtschld. (Kirchenväter, Erasmus, liturg. Texte), ho- In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. miletisch-theolog. Arbeiten, aber auch (exe- 74 (1976), S. 131–177; 77 (1979), S. 25–95. – Magetisch-)seelsorgliche u. katechet. Schriften ximilian Liebmann: U. R. u. die Anfänge der Re(Predigten, Katechismen, Trostschriften, formation. Münster 1980 (mit Werkverz.). – HellBeichtbuch, Erklärung des Credo u. v. a.) u. mut Zschoch: Reformatorische Existenz u. konein Fürstenspiegel (Enchiridion odder handt- fessionelle Identität. Tüb. 1995. – Scott H. Hendrix: Die Bedeutung des U. R. für die Ausbreitung büchlin eines Christlichen Fürstens. Wittenb. der Wittenberger Reformation. In: Humanismus u. 1535 u. ö.). In dem Einblattdruck Himmlischer Wittenberger Reformation. Lpz. 1996, S. 53–72. – Applasbrief (Augsb. 1523) gestaltet er die Alejandro Zorzin: U. R.’ Flugschr. ›Von Leibeichristl. Heilsbotschaft als Kontrafaktur einer genschaft oder Knechtheit‹ (1525). In: Flugschr.en päpstl. Indulgenz. der Reformationszeit. Hg. Ulman Weiß. Tüb. 2001, Mit einigen auflagenstarken Schriften S. 157–172. – S. H. Hendrix: Angelic Piety in the konnte R. über sein Jahrhundert u. den dt. Reformation. In: Frömmigkeit – Theologie – Sprachraum hinaus wirken, etwa mit dem in Frömmigkeitstheologie. Leiden 2005, S. 385–394. mehrere Corpora Doctrinae aufgenommenen – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1678–1681. – homilet. Lehrbuch Formulae quaedam caute et Jaumann Hdb. Ute Mennecke-Haustein / Hellmut Zschoch citra scandalum loquendi (Wittenb. 1535), in dem er in den christl. Hauptlehren v. a. das »recte vivere« zur Geltung bringen will, aber Rheiner, Walter, eigentl.: W. Heinrich auch mit der zur Laienseelsorge anleitenden Schnorrenberg, * 18.3.1895 Köln, † 12.6. Seelenn ärtzney / für gesund und krancken (Augsb. 1925 Berlin (Freitod). – Lyriker u. Erzäh1529. Über 100 Drucke im 16. Jh.) u. dem – ler. als Gespräch mit seiner Frau stilisierten – Dialogus von der schönen predigt / die Christus Luc. Nach dem Realschulbesuch u. erfolgloser 24 von Jerusalem bis gen Emaus [...] gethan hat kaufmännischer Arbeit in Köln, Lüttich, Paris (Wittenb. 1537. Viele Drucke u. Übersetzun- u. London zog R. nach Berlin, wo er einer der gen bis ins 17. Jh.), in dem R. die Christus- »literarischen Nomaden« u. Bohemiens weissagungen des AT zusammenstellt u. wurde. Der stets mittellose R. kampierte in auslegt. billigen Absteigen oder bei Freunden u. verbrachte die meiste Zeit schnorrend im »Romanischen Café«. Seit 1914, als er zur Vor-

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Rheinhardt

spiegelung militärischer Untauglichkeit Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. erstmals Narkotika eingenommen hatte, war Mchn. 1988, S. 227–231. – Michael Kohtes: Der Dichter an der Nadel. W. R.: Expressionist u. er drogenabhängig. Dennoch musste er Ende 1914 an die russ. Großstadtsklave. In: Ders.: Literar. Abenteurer. Ffm. 1996, S. 85–95. – Frank Almai: W. R.: ›KoFront, wurde aber nach einer vergebl. Ent- kain‹. Eine Novelle aus der Zeit des Dresdner Exziehungskur u. Verhaftung wegen Entde- pressionismus. In: Ostragehege 7 (2000), H. 20, ckung der Untauglichkeitssimulierung 1917 S. 27–31. Thomas B. Schumann / Red. suspendiert. 1918 bis 1921 lebte R. vornehmlich in Dresden, wo er als zeitweiliger Rheinhardt, Emil Alphons, * 4.4.1889 Redakteur der Zeitschrift »Menschen« u. Wien, † 25.2.1945 Konzentrationslager Autor von sieben in kurzen Abständen puDachau. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer. blizierten Büchern zu den führenden Köpfen des spätexpressionistischen Künstlerkreises Während des Medizinstudiums verkehrte R. »Gruppe 1917« gehörte. Während seiner in Wiener Expressionistenkreisen u. war akletzten Jahre führte er ein unstetes Wander- tives Mitglied des »Akademischen Verbandes leben in äußerster materieller Not u. immer für Literatur und Musik«, der der Organisagrößerer Drogenabhängigkeit, oft dem tion u. Vermittlung zeitgenössischer (u. Wahnsinn nahe. Nach der Scheidung seiner avantgardistischer) Kunst in Wien diente u. Ehe, vorläufiger Entmündigung u. längerem neben literar. Veranstaltungen (Kraus, WeAufenthalt in einer geschlossenen Anstalt in dekind, Schnitzler) auch um internat. AusBonn beendete er völlig verzweifelt u. ver- stellungen (Futurismus, 1913) u. Musikaufeinsamt sein Leben mit einer Überdosis führungen (Schönberg, Berg, Webern) bemüht war. Seit 1918 war R. Redakteur des Morphium. In nur wenigen Jahren schuf R. ein beachtl. »Daimon«, 1920–1924 Lektor im Drei-MasŒuvre, hauptsächlich Lyrik. Die zwischen ken-Verlag in München. 1920 gab er eine Melancholie u. Ekstase, Aggresivität u. Resi- Anthologie österreichischer expressionist. gnation pendelnden Gedichte sind Themen Lyrik heraus (Die Botschaft. Wien/Prag/Lpz.), wie Großstadt, Nacht, Verlassenheit, Ent- in deren programmat. »Einleitenden Bemerfremdung, Lebensangst, Erlösung durch kungen« er von der Literatur die Reinigung Rausch gewidmet. Die 1918 geschriebene von der Schuld (des Weltkriegs) u. einen Erzählung Kokain (Dresden 1918. Bln./ Welterneuerungsmythos forderte. Die eigeDarmst. 1977) ist die einfühlsame Darstel- nen Gedichte, voll symbolist. Bildlichkeit u. lung einer Kokainpsychose. Sie beschreibt expressivem Sprachgestus, wurden in ZeitLeiden, Gedanken, Halluzinationen, den schriften des Expressionismus (»Der AnDrang nach Injektionen in immer kürzeren bruch«, »Daimon«, »Die Dichtung«, »Das Abständen u. die Angst vor Entdeckung der Flugblatt«, »Der Ruf«) publiziert. In den 1920er u. 1930er Jahren lebte R. lange in Sucht durch die Mitmenschen. Italien u. Frankreich, wo er sich als ÜbersetWeitere Werke: Das tönende Herz. Dresden zer (u. a. Flaubert u. Balzac) u. Biograf betä1918 (L.). – Insel der Seligen. Ein Abendlied. Drestigte. Zus. mit Musil, Werfel u. Bruno Walter den 1918 (L.). – Das schmerzl. Meer. Dresden 1918 (L.). – Der inbrünstige Musikant. Kiel 1918 (L.). – gründete er in Paris die antifaschist. »Liga für Der bunte Tag. Erste Gedichte, Gedicht-Fragmente, das geistige Österreich«. Im April 1943 von Prosa-Versuche, Skizzen, Novellist. Fragmente. der Gestapo verhaftet u. in die Lager Menton Dresden 1919. – Das Fo-Buch. Dresden 1921 (L.). – u. Marseille deportiert, wurde er im Juli 1944 Kokain. Lyrik, Prosa, Briefe. Hg. Thomas Rietz- nach Dachau verschleppt, wo er kurz vor der schel. Lpz. 1985. Lizenzausg. Ffm./Olten/Wien Befreiung dem Flecktyphus erlag. 1985. Literatur: W. R. 1895–1925. Akademie der Künste. Bln. 1969. – Thomas B. Schumann: Einer der literar. Nomaden Berlins. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983, S. 167 f. – Hans J. Schütz: W. R. In:

Weitere Werke: Stunden u. Schicksale. Lpz./ Wien 1913 (L.). – Das Abenteuer im Geiste. Bln. 1917 (E.en). – Tiefer als Liebe. Bln. 1919 (L.). – Die unendl. Reihe. Gedichte u. Aufrufe. Wien/Prag/ Lpz. 1920. Neudr. Nendeln 1973. – Der schöne

Rheinisches Marienlob Garten. Ein Märchen. Wien/Prag/Lpz. 1920. – Ferien. Wien/Bln./Lpz./Mchn. 1922 (E.). – Das Leben der Eleonora Duse. Bln. 1928 (Biogr.). – Napoleon III. u. Eugénie. Bln. 1930 (Biogr.). – Josephine. Bln. 1932 (Biogr.). – Der große Herbst Heinrichs IV. Wien 1935. – Tgb. aus den Jahren 1943/44. Hg. Martin Krist. Wien 2003. Literatur: Selma Steinmetz: E. A. R. (1889–1945). Aus dem Leben eines Exilschriftstellers. In: Zeitgesch. IV/4, Jan. 1977, S. 109–122. – Walter Eckel: Rekonstruktion eines tapferen Lebens [...] E. A. R. In: SZ, 24./25.6.1989. – Armin A. Wallas: ›Mich durchstieß der Sterbeschrei der Jahrtausende‹. E. A. R. In: LuK 313/314 (1997), S. 69–82. – Dominique Lassaigne: ›Vom Tod ist viel die Rede‹. Les journaux retrouvés d’E. A. R. (des prisons vichystes à Dachau: 1943–45). In: Lion Feuchtwanger u. die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich v. 1933 bis 1941. Hg. Daniel Azuélos. Bern u. a. 2006, S. 351–363. Walter Ruprechter / Red.

Rheinisches Marienlob. – Mittelhochdeutsche Dichtung in Reimpaarversen, um 1220/30. Die 5146 Verse umfassende Dichtung ist nur in der Handschrift Hannover, Landesbibliothek, cod. I. 81, Bl. 1r-93v, überliefert. Geschrieben wurde dieser Teil der Hs. im zweiten Viertel des 13. Jh. von zwei Schreibern, deren Schreibsprache auf ripuarisches Gebiet weist. Der anschließende zweite Teil der Handschrift ist im dritten Viertel des 13. Jh. entstanden (Schneider, S. 192; abweichende Datierung bei Honemann: um 1200). Der Verfasser des Werkes ist unbekannt. Die bisherigen Versuche, ihn zu identifizieren, konnten nicht völlig überzeugen. Aus den Angaben in seinem Gedicht lässt sich schließen, dass er Geistlicher war u. vor dem R. M., das er als »lesten bu« (v. 5143) bezeichnet, schon mehrere Werke zum Lob Mariens (z.B. v. 531) verfasst hat. Das Entstehungsgebiet ist nicht sicher bestimmbar. In der Forschung wird oft, auch aufgrund inhaltlicher Bezüge, das niederrheinische Gebiet genannt (Honemann, Sp. 36). Als Entstehungszeit wird wegen der vermuteten Kenntnis von Gottfried von Straßburgs Tristan, für die v. a. Verwandtschaft in der Wahl der Stilmittel, im Bereich des Wortschatzes u. der Reimtechnik angeführt wird, um 1220/30

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angenommen. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach der Verbindung des R. M. u. der dort vorkommenden Baumallegorese (vv. 221–344) zum Palmbaumtraktat, dessen Vorkommen schon 1217 anzusetzten ist, zu stellen. Verschiedentliche Anreden in dem Gedicht legen nahe, dass der Adressatenkreis Frauen waren, vielleicht ist das Werk im Rahmen der »klösterlichen, aber auch der außerklösterlichen religiösen Frauenbewegung zu Beginn des 13. Jh.s« (Schweitzer, S. 476) zuzuordnen. Das Gedicht beginnt mit einer 20 Verse umfassenden Rede des Buchs in der IchForm, in deren erstem Vers schon die Intention des Werks deutlich wird: Es soll dem Lobe Marias dienen. Die folgenden Anrufungen Jesu (vv. 21–44) u. Marias (vv. 45–64) sind in vierzeilige Strophen gegliedert, deren Anfangsbuchstaben die Akrosticha »Jhesus« u. »Maria« bilden, u. erinnern in ihrer Art an Gottfried von Straßburg. Der erste Abschnitt des Hauptteils (vv. 65–514) ist sieben Symbolen Marias u. deren Deutung gewidmet. Auffallend ist, dass bei der Deutung dieser aus der Patristik bekannten Symbole (z.B. Maria als hoher Himmel, reine Erde, versiegelter Brunnen) nicht die jungfräul. Gottesmutterschaft, sondern Marias Vollkommenheit im Vordergrund steht. Darauf (vv. 515–1381) widmet sich der Dichter den verschiedenen Bedeutungen des Namens Maria (Erleuchtete, Leitstern, Bitterkeit, Herrin); eingearbeitet ist eine Marienklage (vv. 896–1290) in abwechselnd zwei- bis vierhebigen Versen in unterschiedl. Reimverbindungen. Im dritten Teil (vv. 1382–1953) befasst sich der Dichter mit den Freuden Marias. Im Mittelpunkt des R. M. steht der vierte Teil (vv. 1954–4214), der allein fast die Hälfte des ganzen Werks umfasst: Der Dichter beweist im Einzelnen die Erhabenheit Marias über die neun Engelchöre. Der fünfte Teil (vv. 4215–4954) beschreibt, z.T. an die Apokalypse u. das Hohe Lied angelehnt, die Schönheit Marias u. enthält insbes. eine symbolische Ausdeutung ihres Gewandes u. ihrer Kronen. Es folgt als sechster Teil (vv. 4955–5094) eine Beschreibung der Glückseligkeit Marias im Himmel an der Seite ihres Sohnes. Am Ende dieses Abschnitts steht die

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Rheinsberg

Bitte an die mächtige Kaiserin Maria, in ihrer S. 476–478. – Helmut Tervooren unter Mitarb. v. Barmherzigkeit den Menschen Hilfe zuteil Carola Kirschner u. Johannes Spicker: Van der werden zu lassen. Den Schluss bilden, dem Masen tot op den Rijn. Ein Hdb. zur Gesch. der Anfang entsprechend, je ein Gebet an Maria mittelalterl. volkssprachl. Lit. im Raum v. Rhein u. Maas. Bln. 2006, S. 47 f. Elisabeth Wunderle u. Jesus: Maria wie Christus werden um gnädige Annahme des Werks gebeten; als Lohn erbittet der Dichter ihren Beistand in Rheinisches Osterspiel ! Berliner Osterspiel der Todesstunde. Das Werk steht in der Tradition der Marienverehrung der Zisterzienser: Im Vorder- Rheinisches Passionsspielfragment ! grund steht nicht die Bedeutung Marias im Wiener Passionsspielfragment Ablauf der Heilsgeschichte, sondern die Anteilnahme an ihrem Leben. Die Betrachtung Rheinsberg, Anna, * 24.9.1956 Berlin. – ihrer Vollkommenheit, ihrer Tugenden u. Lyrikerin, Prosaautorin u. Publizistin. ihrer Schönheit sollen Ansporn zur richtigen Lebensführung sein. Auf der anderen Seite R. lebt als freie Schriftstellerin in Marburg/ wird die Marienverehrung auch von der Lahn. Sie studierte Germanistik u. EthnoloMinnevorstellung der klass. mhd. Literatur gie u. schloss ihr Studium mit einer Arbeit beeinflusst: Maria erscheint als die Herrin, als über die Dichterin Claire Goll ab (Leid als den Dichter Belehrende. Schreiben ist Min- Prinzip). Bereits als Studentin veröffentlichte nedienst für Maria; als Lohn wird ihre Hilfe sie Lyrik, Prosaarbeiten, Essays u. Literaturerwartet. Für seine Dichtung hat der Verfas- kritiken. R. zählt zu jenen Autorinnen der Frauenser auch aus der Legendenliteratur geschöpft, literatur, die Schreiben u. die eigene Biografie u. a. aus der Theophilus-Legende; denkbar ist eng verweben. Von Frauen – ihrer Mutter u. v. a. bei der Schilderung des Gewandes MariGroßmutter – aufgezogen, zunächst in Berens auch die Anleihe an Fachliteratur wie lin, dann in einer Kleinstadt nahe Hannover, Steinbüchern. Das R. M. ist in seiner Herbetrachtet sie sich als Feministin. In diesem vorhebung der persönl. Frömmigkeit u. mit Sinn versucht sie in ihren Büchern, auf die seinen der Mystik nahestehenden Zügen der Situation der Frauen aufmerksam zu machen. zisterziens. Theologie des 12. Jh. zuzuordnen Schon während ihrer Schulzeit bekam sie u. reiht sich in die niederrheinisch-niederKontakt zur Frauenbewegung u. begann für länd. Frauenmystik (Beatrijs von Nazareth, feministische u. später auch für andere ZeiHadewijch) ein. Dass zwei geistl. Traktate aus tungen u. Zeitschriften zu schreiben. Von dem späteren 13. Jh. (Rede von den 15 Graden u. 1979 bis 1984 war sie Mitherausgeberin der Lilie) im selben Gebiet wie das R. M. entfeminist. Zeitschrift »Spinatwachtel«. R. bestanden sind, lässt an eine gemeinsame rhei- fasst sich auch gerne mit dem Werk schreinische Tradition geistl. Dichtung denken. bender Frauen, wie die Anthologien Die Engel. Ausgabe: Adolf Bach: Das R. M. Lpz. 1933. Prosa von Frauen (Mchn. 1988), Bubikopf. AufLiteratur: Wilhelm Prönnecke: Studien über bruch in den 20ern. Texte von Frauen (Darmst. das Niederrhein. M. Diss. Gött. 1904. – Roswitha 1988), Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. Wisniewski: Das Niederrhein. M. In: FS Arthur Lyrikerinnen der zwanziger Jahre. Gedichte und Henkel. Heidelb. 1977, S. 469–482. – Joachim Portraits (Mannh. 1993) zeigen. Letztere widHeinzle: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis met R. Dichterinnen wie Emmy Ball-Henzum Beginn der Neuzeit. Bd. II, 2, Königst. 1984, nings, Claire Goll, Henriette Hardenberg, S. 187 f., 220 f. – Karin Schneider: Got. Schr.en in Sylvia von Harden, Gertrud Kolmar, Else dt. Sprache I. Wiesb. 1987, S. 158–160; 192 f. – Karl Stackmann: Magd u. Königin. Dt. Mariendichtung Rüthel, Paula Ludwig, Rut Landshoff, Mades MA. 1988. – Volker Honemann. In: VL. – F. J. scha Kaléko u. Hertha Kräftner, mit denen sie Schweitzer in: Marienlexikon. Hg. im Auftrag des sich seit vielen Jahren beschäftigt u. die für Institutum Marianum Regensburg e. V. v. Remi- die 1920er Jahre stehen, jene Epoche, die den gius Bäumer u. a. Bd. 5, St. Ottilien 1993, Frauen erstmals Freiheit versprach.

Rhellicanus

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Nach zahlreichen Beiträgen in Zeitschrif- nal erscheinende Liebesgedichte werden forten u. Anthologien trat R. 1979 mit Gedich- mal gestaltet, indem sich schon die graf. Anten (Marlene in den Gassen. Hbg./Kassel) her- ordnung der Wörter einem linearen Lesen vor. Ihre ersten Schriften, z.B. der Gedicht- versperrt. band Bella Donna (Hbg. 1981) u. die LiebesWeitere Werke: (Hg., zus. mit Barbara Seifert) geschichten Hannah (Hbg. 1982), behandeln Unbeschreiblich weiblich: Texte an junge Frauen. die Problematik des Selbstfindungsprozesses Reinb. 1981. – Alles Trutschen! Gesch.n über der Frau. R. fächert zunehmend die Viel- Mädchen in einer Kleinstadt. Ffm. 1983. – Wolfsschichtigkeit der Frauenthemen auf: Dass die kuß. Gesch.n. Ffm. 1984. – Annakonda. Hbg. 1985 ursächl. Verknüpfung zwischen Gewalt u. (G.e). – HerzLos. Kerlsgesch.n. Darmst. 1988. – Nicht Reservat, nicht Wildnis. 10 Jahre Schreiben. Geschlecht nicht so schematisch freizulegen Bilanz u. Ausblick. Bremen 1988. – Nachw. in: ist wie in früheren feminist. Schreibversu- Claire Goll: Der gestohlene Himmel. Überarb. chen angenommen, zeigt R. in ihrer Erzäh- Neuausg. bearb. v. Barbara Glauert-Hesse. Ffm. lung Marthe und Ruth (Darmst./Neuwied 31990. – KRIEGS-LÄUFE. Namen. Schrift. Über 1987), der Geschichte der jungen Marthe u. Emmy Ball-Hennings, Claire Goll. Else Rüthel. der älteren Ruth, die in Machtstrukturen be- Mannh. 1989. fangen sind, denen sich Ruth vergeblich zu Literatur: Mechthild Curtius: Gespräch mit A. entziehen sucht. In der Anthologie Die Schö- R. In: Autorengespräche (1991), S. 169–180. – Monen und die Biester (zus. mit Jutta Siegmund- nika v. Aufschnaiter: A. R. In: LGL. – Renate ChotSchultze. Hbg. 1995) knüpft R. an eine literar. jewitz-Häfner: Alles Kanon oder was? Immer heiter Tradition an: Frauen schreiben über Tiere, u. Likör, über A. R. In: Der Literaturbote, Bd. 22 mit Hingabe u. Achtung vor allen Geschöp- (2007), H. 85, S. 47–50. Eva Maria Thüne / Clara Ervedosa fen. Liebe Hanna, Deine Anna (zus. mit Hanna Mittelstädt. Hbg. 1999) ist eher ein intimer Bericht aus dem Leben zweier Frauen, die ihr Rhellicanus, Johannes, eigentl.: J. Müller, Glück suchen, ohne dabei sich u. ihre Freiheit * 1478/88 Rhellikon bei Zürich, † 14.1. zu verlieren. Vom eigenwilligen u. kom. All1542 Biel. – Theologe u. neulateinischer tag unangepasster u. sich ständig in BeweDichter. gung befindender Figuren erzählen auch der Roman Schau mich an (Hbg. 2000) u. die drei Der nach seinem Geburtsort Rhellikon (GeErzählungen aus Schwarzkittelweg (Mannh. meinde Egg im Kanton Zürich) genannte Jo1995). Dieser Band widmet sich der Ge- hannes Müller inskribierte sich nach einem schichte dreier Generationen von Frauen in Studium in Krakau (1517–1522) am 5.5.1525 Berlin von den 1930er bis zu den 1970er in Wittenberg (wo er sich 1523 schon einmal Jahren, während die drei Erzählungen in aufgehalten hatte), wurde aber noch im gleiShanghai. Erste Klasse (Hbg. 1996) den weibl. chen Jahr als Lehrer an das Kloster Stein am Reifungsprozess u. die Suche nach Identität Rhein berufen u. 1527 nach Zürich, wo er in den Mittelpunkt rückt. Dabei vermischen Heinrich Bullinger im Griechischen untersich Erinnerungsstücke u. Träume, Realität richtete. Im März 1528 wurde er – ebenfalls u. Fantasie im Bewusstseinsstrom der Prot- für Griechisch u. Philosophie – an die neu agonistin. Im jüngsten Roman Basco. Eine gegründete Berner Hochschule geholt. Von Liebensgeschichte (Hbg. 2004) erzählt R. eine dort kehrte er nach zehnjähriger erfolgreierot. Geschichte zweier Liebender, die ein- cher Lehrtätigkeit wegen der Berner Kateander in der Jugend verloren haben u. nach chismus-Auseinandersetzungen 1538 nach Jahrzehnten einen neuen Anfang versuchen. Zürich zurück u. wurde dort Lehrer an der Während sich Magdalena nach Nähe u. Si- Lateinschule am Fraumünster. Seit 1541 amcherheit sehnt, verweigert sich Basco jedoch, tierte er als zweiter Pfarrer in Biel, wo er 1542 weil für ihn der Weg das Ziel ist. In R.s verstarb. jüngsten Gedichten (Narcisse noir. Hbg. 1990) Als Theologe Anhänger von Huldrich tritt der experimentelle Charakter ihrer Lyrik Zwingli, trat R. als Hebraist u. Gräzist hervor. stärker hervor: Sprachlich komplexe, irratio- Bedeutsam für die Geschichte der nlat.

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Dichtung, weiter für die botanische empir. Forschung im Umkreis Konrad Gesners wie als frühes Zeugnis des schweizerischen Interesses an den Alpen ist ein episches Gedicht Stockhornias in 130 lat. Hexametern, das eine Exkursion im Jahr 1536 gemeinsam mit dem Berner Münsterpfarrer Peter Kunz auf den Stockhorn zum Gegenstand hat (hg. v. Max A. Bartschi, 1992), zuerst publiziert im Anhang einer Übersetzung von Plutarchs Homer-Vita (Homeri Vita ex Plutarcho in latinum tralata [...]. Basel 1537; erneut in: Conrad Gesner: De raris et admirandis herbis [...]. Zürich 1555), die zgl. R. als versierten Gräzisten erweist. In der Vorrede zu dieser Übersetzung verteidigt R. die Beschäftigung mit antiker paganer Literatur, da durch ihr Studium die studierende Jugend besser gerüstet werde zur Beschäftigung mit der Hl. Schrift. In dem angefügten Gedicht schildert R. anschaulich den Anstieg auf den Stockhorn, die Alpenflora, die Jagd auf ein »Steinhünli« u. ein Picknick beim Aufstieg. Daneben publizierte R. im Anhang einer Erklärung des paulin. Galaterbriefs durch Kaspar Megander-Grossmann Briefe u. Epigramme, in denen das Studienprogramm (Ratio studii literarii Bernensis, 1533) der neuen Berner Hochschule erläutert wird, ferner eine Caesar-Ausgabe, in der er das Wort »commentarius« als Rohmaterial für nachfolgende Geschichtsschreibung erklärt. Weitere Werke: Casparis Megandri [d. i. Grossmann] Tigurini, nunc Bernae a concionibus, in epistolam Pauli ad Galatas, commentarius. Una cum I. R. epistola, et epigrammatis, in quibus ratio studij Bernensis indicatur. Zürich 1533. – Homeri Vita, ex Plutarcho in Latinum tralata per Io. Rhellicanum, Tigurinum: una cum eiusdem annotationibus marginalibus, ac epistola nuncupatoria: in qua libri argumentum continetur, & quibusdam poie¯tomastigo¯n cavillis respondetur. Item eiusdem Ioan. Rhellicani Stockhornias. Basel 1537. InternetEd. in: VD 16 digital. – In C. Iulii Caesaris dictatoris viri disertissimi, et Auli Hirtij, seu Oppij, commentaria de bello Gallico, Civili Pompeiano, Alexandrino, Africano, et Hispaniensi, annotationes [...] in quibus multa contextus loca mendosißima, partim quidem variorum exemplarium collatione sedula, partim vero coniecturis nequaquam frivolis emendantur. Basel 1543. Internet-Ed. in: VD 16 digital.

Rhenanus Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Manfred Vischer: Bibliogr. der Zürcher Druckschr.en des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 438. – Weitere Titel: Francis Cribble: The Story of Alpine Climbing. London 1904, 18 f. (u. a. engl. Teilübers. der ›Stockhornias‹). – William Augustus Brevoort Coolidge: Josias Simler et les origines de l’Alpinisme jusqu’en 1600. Grenoble 1904 (historischer Kontext, S. 172 ff. Text der ›Stockhornias‹ mit frz. Übers.). – Huldrych Zwingli: Sämtl. Werke. Bd. 8, Lpz. 1914 (= CR, Bd. XCV), S. 386–388 (Brief an Zwingli vom 15.10.1525). – Christine Hartl: Das Hochgebirge in der dt. Dichtung. Innsbr. 1961, S. 17–19 (mit freier dt. Übertragung der ›Stockhornias‹). – Walther Ludwig: Die Stockhornias des J. R. In: Humanistica Lovaniensia 32 (1983), S. 218–224. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur nlat. Reisedichtung des dt. Kulturraums im 16. Jh. Baden-Baden 1984, S. 191–194, 404 u. 518 f. – Bergbesteigungen im 16. Jh. Niesen u. Stockhorn. Zwei Lateintexte v. Berner Humanisten. Hg., übers. u. komm. v. Max A. Bratschi. Thun/Schweiz o. J. (1992), S. 8–31 (Text, Übers. u. Komm. zur ›Stockhornias‹). – Frank Hieronymus u. a.: Griech. Geist aus Basler Pressen. Basel 1992 (Internet-Ed.: UB Basel 2003), Nr. 107 (zur Homervita), S. 160 f. – Susanne Siebert: J. R. In: Bautz. – Thomas Gelzer: Die ›Stockhornias‹ des J. R. Eine Bergbesteigung im Simmental 1536. In: Zehn Jahre Sommeruniv. Lenk. Hg. Ellen J. Beer u. Thomas Gelzer. Lenk 1997, S. 25–33. – Martin Germann: J. R. In: HLS. – Hermann Wiegand: Die Alpen in der lat. Lit. des 16. Jh. Mit einem Ausblick (im Druck). Hermann Wiegand

Rhenanus, Beatus, eigentl.: B. Bild, * 22.8.1485 Schlettstadt (heute: Sélestat), † 20.7.1547 Straßburg; Grabstätte: Sélestat, Eglise St. Georges. – Humanistischer Historiker, Philologe u. Korrektor. Die Familie Bild stammte aus Rheinau in der Nähe von Schlettstadt u. war seit dem Ende des 14. Jh. in Schlettstadt, wo sie den Beinamen Rhinower erhielt, den R. während seines Studiums latinisierte. R.’ Vater, ein Metzger, war Ratsmitgl. u. 1495 bis 1512 Bürgermeister. R.’ Mutter starb 1487; er wurde vom Vater u. dessen alter Dienerin erzogen. R. besuchte zunächst die von Crato Hofmann u. Hieronymus Gebwiler geleitete Schlettstädter Lateinschule, aus der zahlreiche Humanisten hervorgingen (u. a. Wimpfeling, Jakob Spiegel, Matthias Schürer, die

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Gebrüder Amerbach, Martin Bucer, Thomas Platter u. Leo Jud). 1503 nahm er das Studium an der Pariser Sorbonne auf. Seine Lehrer waren Faustus Andrelinus, Josse Clichtove, Georgius Hermonymus u. v.a. Faber Stapulensis; R. beschäftigte sich mit lat. u. griech. Literatur, u. a. mit Aristoteles. Er besuchte die Druckereien Jean Petits u. Henri Estiennes, die zum Treffpunkt vieler Gelehrter geworden waren. Als Korrektor war er an mehreren von Faber Stapulensis kommentierten Aristoteles- u. Raimundus-Lullus-Ausgaben beteiligt. In Paris stand er in engem Kontakt mit seinen Schulfreunden Bruno u. Basilius Amerbach u. befreundete sich mit Michel Hummelberg. 1505 wurde er zum Baccalaureus, im Febr. 1507 zum Lizentiaten u. im Herbst 1507 zum Magister artium promoviert. Während seiner vier Studienjahre kaufte er fast 200 Bücher, darunter die Werke des Erasmus von Rotterdam, der ihn später als sein Alter ego bezeichnen sollte. Im Herbst 1507 kehrte R. nach Schlettstadt zurück, wo er sich bis 1511 aufhielt. Er arbeitete mit den Straßburger Druckern Johannes Grüninger u. Matthias Schürer zusammen, ließ die Gedichte seines Lehrers Faustus Andrelinus sowie eine Neuausgabe der Adagia des Erasmus publizieren, wurde Mitgl. der von Wimpfeling gegründeten Straßburger Societas litteraria u. schloss Freundschaften mit vielen Humanisten, darunter Sebastian Brant, Johannes Geiler von Kaysersberg u. Johannes Sapidus. Nach dem Tod Geilers schrieb er im Auftrag der Societas litteraria 1510 dessen Vita. In den Dedikationsepisteln zu den insg. 13 von R. vor der Begegnung mit Erasmus besorgten Ausgaben ital. Humanisten verweist er auf deren propädeut. Charakter: Er will seine Landsleute zu einem an klass. Vorbildern orientierten Latein erziehen u. die vom Neuplatonismus u. der Patristik geprägte Gedankenwelt der Italiener, v. a. deren Moralphilosophie, vermitteln. Dabei folgt R. dem pädagog. Programm Faber Stapulensis’, an dessen Cusanus-Ausgabe er sich durch die Suche nach Handschriften beteiligte. Am 31.7.1511 ließ sich R. in Basel nieder, um seine Griechischkenntnisse zu vervollkommnen u. als Korrektor u. Herausgeber bei

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den Baseler Druckern zu arbeiten. Zus. mit den Brüdern Amerbach besuchte er die Griechisch-Vorlesungen Johannes Cunos, mit dem er eine enge Freundschaft schloss. Nach Cunos Tod 1513 erbte R. einen Teil von dessen Bibliothek. Er lernte weitere Gelehrte u. Humanisten kennen (u. a. Ludwig Baer, Cantiuncula, Zasius, Glarean u. Wilhelm Nesen). Von seinem Famulus Albert Burer unterstützt, bereitete er für die Froben’sche Offizin lat. Ausgaben Gregors von Nyssa (1512), der Briefe Gregors von Nazianz (1512) u. von Schriften Basilius’ des Großen (1513) vor. Zu den von B. edierten lat. Werken zählen Schriften Suetons (1514), Plinius’ des Jüngeren (Straßb. 1514), das Ludus de morte Claudii (1515), das Lob der Kahlheit des Synesius von Cyrene (1515) u. die Moralischen Gedanken des Xystus Pythagoricus (1516). 1514 beginnt die Freundschaft mit Erasmus von Rotterdam, den R. bei dem Drucker Froben kennengelernt hatte. Unter dem Einfluss des Erasmus wandte er sich einer eigenständigen Erstellung von Texten mit Hilfe historisch-krit. Verfahren zu, statt nur bereits von anderen Humanisten edierte Autoren auch dem dt. Publikum bekannt zu machen. Von nun an ist für R. die philolog. Tätigkeit nicht länger – wie bei Faber Stapulensis – Zwischenstadium auf dem Weg zu einer mystisch-philosoph. Deutung des Textes; die historisch-philolog. Arbeit selbst soll den Sinn der Texte eruieren. In seiner Vorrede zum Kommentar der 1525 von Erasmus besorgten Ausgabe der Naturalis historia Plinius’ des Älteren formuliert R. als erster dt. Humanist die Grundsätze wiss. Textherstellung: Maßgeblich sind die ältesten erhaltenen Handschriften; Eingriffe des Herausgebers müssen außerhalb des Textes gekennzeichnet werden. Erasmus bevollmächtigte R. immer wieder, in editorischen wie privaten Angelegenheiten in seinem Namen zu handeln. Erasmus-Texte wurden ein Schwerpunkt von R.’ Herausgebertätigkeit: Neben dem Lob der Torheit (1515), dem Scarabeus (1517) u. dem Enchiridion (1518) steht eine Neuausgabe der Korrespondenz. Hinzu kamen die Epigrammata des Thomas Morus (1518), die Grammatik des Theodor von Gaza (1516) u. die Gedichte des

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Janus Pannonius (1518). Im Aug. 1519 publizierte R. die erste dt. Ausgabe der Werke des Tacitus; 1520 folgte die editio princeps des Velleius Paterculus, dessen Text R. in der Abtei von Murbach im Elsass wiederentdeckt hatte. R. besorgte 1521 auch den Erstdruck der Werke des Tertullian. Auch R.’ Haltung gegenüber der Reformation scheint v. a. von Erasmus beeinflusst. In engem Kontakt mit führenden Reformatoren (Bucer, Capito, Oekolampad, Zwingli) stehend, gehörte er zuerst zu den aktiven Verbreitern der luth. Lehre. Er widmete seine Velleius-Paterculus-Edition Luthers Beschützer Friedrich dem Weisen u. gab unter dem Pseud. Licentius Evangelus den Defensor Pacis des Marsilius von Padua heraus. Zwingli konnte ihn – offenbar vergeblich – um Vermittlung im Streit zwischen Luther u. Erasmus bitten. Doch bereits 1525 bezeichnete R. die Bauernerhebungen als eine negative Folge der neuen Lehre u. beklagte die Vernachlässigung der »bonae litterae« durch die Reformatoren. Auch R.’ endgültiger Weggang aus Basel dürfte mit den dortigen Glaubensauseinandersetzungen zusammenhängen. 1520 hatte R. das väterl. Anwesen geerbt, in dem er sich endgültig 1528 niederließ u. das er bis zu seinem Tod bewohnte. Er führte in Schlettstadt das Leben eines Gelehrten; auf vielen Denkmälern ließ er lat. Inschriften anbringen. Von seinem Famulus Rudolf Bertz unterstützt, ging er weiter seiner literar. Tätigkeit nach. In dieser Zeit besorgte er für Froben zwei Editionen Plinius’ des Älteren (1526, 1530) u. zwei Neuausgaben Tertullians (1528, 1539), gab den Seneca des Erasmus (1529) sowie Procop (1531), Tacitus (1533) u. Titus Livius (1535) heraus. Sein Hauptwerk wurden die Rerum Germanicarum Libri Tres (Basel 1531). Sie sind das Ergebnis eines gut zehnjährigen systemat. Studiums zahlreicher, z.T. damals noch unveröffentlicher Quellen aus Spätantike u. MA, die R. auf Reisen oder im Froben’schen Verlag vorfand u. teilweise selbst zum Druck vorbereitete. Im ersten Buch liegt der Schwerpunkt auf der Völkerwanderung, im zweiten auf dem frühen MA, das dritte befasst sich hauptsächlich mit einzelnen Orten v. a. des

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elsäss. u. südwestdt. Raumes. Durch die Einbeziehung von epigrafischen u. archäolog. Zeugnissen u. dank der konsequenten Ablehnung mythisch-genealogischer Konstrukte waren die Res Germanicae methodisch wegweisend. Nach dem Tod des Erasmus 1536 publizierte R. in der Origines-Ausgabe von 1536 einen Sterbebericht u. im ersten Band der Gesamtausgabe (1540) des »Fürsten der Humanisten« die erste Biografie des Erasmus, die die Erasmus-Vorstellung der folgenden Jahrhunderte entscheidend bestimmte. 1547 ließ sich R. wegen einer Blaseninfektion in Wildbad (bei Baden-Baden) behandeln; er starb auf dem Rückweg. R. wirkte als Übersetzer, Kommentator, Vorwortschreiber, Historiker u. Korrektor an insg. 67 Editionen mit. Sein Briefwechsel macht R.’ herausgehobene Position im internat. Beziehungsgeflecht der Humanisten sichtbar. Viele der bekanntesten unter ihnen zählten zu seinen Freunden (u. a. Andrea Alciati, Willibald Pirckheimer, Ulrich von Hutten, Sebastian Münster, Jean Grolier). Die Bibliothek R.’, dessen Verdienste Kaiser Karl V. durch die Verleihung des Adelstitels anerkannte, wird noch heute in Schlettstadt aufbewahrt. Ausgaben: Adalbert Horawitz u. Karl Hartfelder (Hg.): Der Briefw. des B. R. Lpz. 1886. Nachdr. Hildesh./New York 1966. – Otto Herding u. Dieter Mertens (Hg.): Jakob Wimpfeling/B. R.: Das Leben des Johannes Geiler v. Kaysersberg. Mchn. 1970. – Robert Walter: B. R. [...] Anthologie de sa correspondance (mit der Beati Rhenani Vita Johannes Sturms). Straßb. 1985. – Felix Mundt (Hg.): B. R: Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausg., Übers., Studien. Tüb. 2008. Literatur: Paul Joachimsen: Geschichtsauffassung u. Geschichtsschreibung in Dtschld. unter dem Einfluß des Humanismus. Lpz./Bln. 1910, S. 125–145. – Wilhelm Teichmann: Die kirchl. Haltung des B. R. In: ZKG 26 (1905), S. 363–381. – Paul Adam: L’humanisme à Sélestat. Sélestat 1962. 4 1978. Dt. v. Peter Schäffer. Sélestat o. J. – Hubert Meyer: B. R. et sa bibliothèque. In: Librarium 19 (1976), S. 21–31. – Martin Sicherl: Johannes Cuno. Ein Wegbereiter des Griechischen in Dtschld. Heidelb. 1978. – Annuaire Les Amis de la Bibliothèque Humaniste de Sélestat. Spécial 500e anniversaire de la naissance de B. R. Sélestat 1985 (mit ausführl.

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Bibliogr.). – J. F. D’Amico: Theory and Practice in Renaissance Textual Criticism: Beatus Rhenanus between Conjecture and History. Berkeley 1988. – Robert Walter: B. R. In: NDBA, Lfg. 31 (1998), S. 3185 f. – James Hirstein (Hg.): B. R. (1485–1547). Lecteur et éditeur des textes anciens. Actes du Colloque International tenu à Strasbourg et à Sélestat du 13 au 15 novembre 1998. Turnhout 2000. – Ders.: La bibliothèque de B. R. Une vue d’ensemble des livres imprimés. In: Les humanistes et leur bibliothèque. Actes du colloque international, Bruxelles 26–28 août 1999. Hg. Rudolf de Smet. Leuven u. a. 2002, S. 113–142. – Hans-Henning Walter: R. In: NDB. – Jaumann Hdb. Hubert Meyer / Felix Mundt

Rhesa, Martin Ludwig (Gedeminas), * 9.1. 1776 Karwaiten (Kurische Nehrung, heute Litauen), † 30.8.1840 Königsberg. – Theologieprofessor, Dichter, Übersetzer, Historiker, Philologe. R. wuchs nach dem frühen Tod seiner Eltern bei einem verwandten Pfarrer auf der Kurischen Nehrung u. damit in einer vorwiegend litauischsprachigen Umgebung auf. 1795 begann er ein Theologiestudium an der Universität Königsberg. Seit 1800 als Garnisonsprediger in der Königsberger Feste Friedrichsburg tätig, kehrte R. nach seiner Promotion 1807 als Dozent an die Universität zurück, er wurde 1810 außerordentlicher u. 1818 ordentl. Prof. der Theologie. Seit 1810 leitete er außerdem das Litauische Seminar an der Albertina. Im Jahre 1723 gegründet, diente dieses Seminar der Ausbildung von Pfarrern für die litauischen Gemeinden in Ostpreußen, es hatte sich aber neben der Parallelanstalt in Halle zum Zentrum der litauischen Philologie entwickelt. R., in dessen Wirkungszeit die Humboldt’schen Reformen fielen, entwickelte 1811 einen Plan zur Reorganisation des Litauischen Seminars u. führte es noch einmal zu einer Blüte. R., der 1812–1814 als Feldprediger an den Napoleonischen Kriegen teilnahm, veröffentlichte einige Sammlungen mit Gedichten, die ein preußisch-patriot. Ton u. ein Bemühen um Volksliedhaftes bestimmten (als umfangreichstes Werk erschien Prutena oder preußische Volkslieder und andere vaterländische Dichtungen. 2 Bde., 1809–25). Als typ. Pro-

dukte ihrer Zeit wirkten seine Gedichte über diese nicht hinaus. Bedeutung besitzt R. als Sammler, Übersetzer, Herausgeber u. Historiker litauischer Dichtung. 1818 gab er eine dt. Übersetzung der Metai (»Jahreszeiten«) von Christian Donaleitis (1714–1780) heraus (Das Jahr in vier Gesängen, ein ländliches Epos. Königsb.). Es ist die erste Ausgabe dieser Hexameterdichtung, die heute zum litauischen Nationalepos geworden ist. R.s Übersetzung setzte sich aber zu Recht nicht durch. Er lässt fast ein Sechstel des litauischen Textes aus u. glättet die teilweise derbe Sprache des Originals zu einer literar. Form, die der romant. Vorstellung von Volksdichtung entsprach. Wie stark R. v. a. von Herders volkspoet. Konzept beeinflusst war, zeigt seine Abhandlung über die Litthauischen Volksgedichte. Diese literaturgeschichtliche, aus früheren Versuchen ausgearbeitete Gesamtdarstellung gab er seiner 1825 vorgelegten litauisch-dt. Sammlung Dainos oder Litthauische Volkslieder (Königsb.) bei, in denen sich für ihn die »Seele« u. das »Gemüt« der litauischen Nation »treulich abspiegel[n]«. Doch gerade in seinem intensiven Bestreben, litauische Kultur im Spiegel ihrer literar. Zeugnisse in seine Gegenwart zu vermitteln, besteht R.s kulturgeschichtl. Verdienst. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings nur die litauische Forschung näher mit ihm u. seinem Werk befasst. Weitere Werke: Gesch. u. Verfassung des litthauischen Seminariums/ auf der Universitaet zu Königsberg (1811). Dt.-litauische Ed. aus der Hs., hg. v. L. Citavicˇiu¯te• . Vilnius 2003. – Nachrichten u. Bemerkungen aus dem Tgb. eines Feldgeistlichen. Bln. 1814. – Gesch. der litthauischen Bibel, ein Beitr. zur Religionsgesch. der Nordischen Völker. Königsb. 1816. – Ueber litthauische Volkspoesie. In: Beiträge zur Kunde Preussens. Bd. 1, Königsb. 1818, S. 517–524. – Kurzgefaßte Nachrichten v. allen seit 1775 an den evang. Kirchen in Ostpreußen (Tl. 2: in Westpreußen) angestellten Predigern. 2 Tle., Königsb. 1834. – Goedeke Bd. 14, S. 904–907. Literatur: F. W. Schubert: L. R. In: Neue Preuß. Provinzialblätter. 2. F., 7 (1855), S. 245–255. – Kurt Forstreuther: L. R. In: Ztschr. für slaw. Philologie 14 (1937), S. 25–27. – Ders.: L. R. In: Altpr. Biogr. Bd. 2 (1967), S. 552 f. – Albinas Jovaisˇas: L. R. Vil-

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601 nius 1969 (litauische Monogr.). – Stephan Kessler: Die litauischen Idyllen. Vergleichende gattungstheoret. Untersuchung zu Texten aus Polen u. Litauen 1747–1825. Wiesb. 2005, S. 222–234. – Nijole• Strakauskaite• u. Silva Pocyte• (Hg.): Martynas L. R. Epochu atspindzˇiai. Klaipe• da 2007. Axel Walter

Rheticus, Rhetikus, Rheaticus, Rhetius, Georg Joachim, Beiname nach der Mutter: de Porris, von Lauchen, * 16.2.1514 Feldkirch/Vorarlberg, † 4.12.1574 Kaschau (heute: Kosˇ ice/Slowakei). – Mathematiker, Astronom, Arzt. Der Vater Georg Iserin wurde im Dorf Mazzo bei Tirano im ital. Veltlin (Graubünden) geboren, heiratete um 1510 in Italien Thomasina de Porris aus einer wohlhabenden lombard. Adelsfamilie u. ließ sich als Arzt in Feldkirch in Vorarlberg nieder, wo er 1514 das Bürgerrecht erhielt. Der älteste Sohn Georg Joachim wuchs in Feldkirch auf u. besuchte nach dem Unterricht des Vaters die dortige Schule. Der Vater war Stadtarzt, gelangte zu Vermögen u. einer großen Bibliothek u. praktizierte auch als Alchemist, Astrologe u. Wahrsager, was ihm Ansehen, aber auch den Verdacht einbrachte, er sei als »Zauberer« mit dem Teufel im Bunde. 1528 wurde Iserin als Hexenmeister angeklagt, zum Tode verurteilt u. enthauptet. Da mit dem Delinquenten auch das Gedächtnis seines Namens getilgt werden sollte (»damnatio memoriae«), nannte sich der Sohn anfangs nach dem Namen der Mutter »de Porris« (dt.: »von Lauchen«), seit der Wittenberger Zeit aber »Rh(a)eticus«, nach der röm. Bezeichnung »Rhaetia« für seine weitere Heimatregion. R. besuchte die angesehene Frauenmünsterschule in Zürich, wo der Theologe, Humanist u. Mathematiker Oswald Myconius sein Lehrer war u. der später berühmte Gelehrte Konrad Gessner (1516–1565) zu seinen Mitschülern gehörte. In Zürich erwarb R. die Grundbildung in den Artes u. kam in Kontakt mit den führenden Theologen u. Philologen der zwinglianischen Reformation, neben Myconius Heinrich Bullinger, Konrad Pellikan (Kürschner), Theodor Bibliander (Buchmann) u. Kaspar Wolf. Zurück in Feld-

kirch, nahm sich der Mediziner, Astronom u. Historiker Achilles Pirmin Gasser (1503–1577) aus Lindau des Halbwaisen an. Gasser war als Stadtarzt Nachfolger des Vaters u. wie Gessner ein lebenslanger Freund u. Förderer, u. Gasser war es, der R. 1532 zum Studium nach Wittenberg schickte, wo er selbst Medizin studiert hatte u. der Landsmann Johannes Volmar Mathematik lehrte. Um 1532 war es auch, wahrscheinlich in Appenzell u. durch Vermittlung Gassers, zu einer Begegnung mit dem berühmten Paracelsus gekommen, der sich nach seiner Flucht aus Basel um diese Zeit wieder in der Schweiz aufhielt. R. hat viel später einen alchemist. Traktat des Paracelsus ins Lateinische übersetzt (De Alchimia vexationis liber, vgl. Sudhoff 1903), u. sein Interesse an dessen Lehren scheint später während der Jahre als Arzt in Krakau, über die wir weniger wissen, gewachsen zu sein. Nach dem Abschluss der Studien, die sich bevorzugt auf die Fächer des Quadriviums erstreckten, erwarb R. unter dem Rektorat Melanchthons 1536 den Magistergrad u. wurde im gleichen Jahr durch dessen Initiative im Alter von 22 Jahren auf die neu geschaffene zweite Mathematikprofessur berufen. R. gehörte von Anfang an zu den Vorzugsschülern Melanchthons, der selbst viel für die Ausstattung der mathemat. Disziplinen, der Astronomie (neben der Förderung der Astrologie, vgl. Brosseder 2004) wie auch der Medizin an der jungen Universität getan hatte. Für R. war in Wittenberg der Freundeskreis wichtig: die Poeten Simon Lemnius u. Kaspar Bruschius sowie Michael Schütz (Toxites, 1514–1581), später einer der führenden Frühparacelsisten in Deutschland, u. die Gruppe der Mathematiker u. Astronomen um den Theologen Kaspar Cruciger, den späteren Prof. der Physik u. lebenslang engen Freund Paul Eber u. den Kollegen Erasmus Reinhold, Prof. für höhere Mathematik, d.h. Astronomie, der neben Regnier Gemma (Frisius) im belg. Löwen einer der frühesten Copernicaner gewesen ist u. in seinem astronom. Tafelwerk (den »preußischen« Tafeln: Prutenicae tabulae, 1551) die Berechnungen des Copernicus teils berichtigt, teils übernommen hat. In diesem Kreis diskutierte man

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bereits die als Gerücht zirkulierenden Ideen des Frauenburgers von einem erneuerten Heliozentrismus (Copernicus als neuer »Aristarch«), wohl aufgrund des ungedruckten Commentariolus, den Copernicus als eine Art Rundbrief schon um 1515 verschickt hatte. So ist der Forschungsurlaub nur folgerichtig, der den jungen Gelehrten, der sein Wissen über die aufregenden Ideen aus erster Hand haben wollte, ins ferne Frauenburg im preuß. Ermland zu dem dort residierenden Domherrn u. Arzt Copernicus führte. Er reiste im Herbst 1538 über Nürnberg, der Stadt Regiomontans (zu Johannes Schöner, Georg Hartmann, dem Verleger Petreius), Ingolstadt (zu Peter Apian) u. Tübingen (zu Schülern des berühmten Astronomen Schöffler, auch Joachim Camerarius) in Gesellschaft seiner Famuli Nikolaus Gugler (der in Tübingen blieb) u. Heinrich Zell u. durfte sich fast drei Jahre, von Mai 1539 bis Herbst 1541, in Frauenburg aufhalten. R. trat in eine enge Beziehung zu seinem neuen, eigentl. Lehrer (wohl auch Vater-Ersatz) u. dessen Unterstützer-Kreis: bes. Tiedemann Giese, Bischof von Kulm; Johannes Dantiscus, Fürstbischof von Ermland in Heilsberg; Johann von Werden, Bürgermeister von Danzig, u. Herzog Albrecht von Preußen, er verfasste eine Vita Coppernici (das ungedruckte Ms. ist verloren) u. seine bis heute bekannte, wichtigste Schrift, die Narratio prima (»Erster Vorbericht«) über das Hauptwerk des Copernicus (Danzig 1540, anonym: »per quendam iuvenem, Mathematicae studiosum«, von einem jungen Mathematiker, Johannes Schöner in Nürnberg gewidmet), die immer als bes. hilfreich u. jedenfalls leichter verständlich als das komplizierte Werk des Copernicus gegolten hat. Dieser konnte dann sein im Laufe von Jahrzehnten gereiftes Manuskript unter Mithilfe seines Schülers u. Freundes vollenden, dem er es schließlich auch zur Publikation anvertraute. »Ohne R. kein Copernicus« gehört zu den noch heute festgehaltenen Meinungen der Astronomiehistorie (vgl. Danielson 2006, Prologue). In Frauenburg entstanden auch eine Lobrede auf Preußen (u. die dort wirkenden Persönlichkeiten: Encomium Prussiae, zuerst gedr. in der 2. Ausg. der

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Narratio prima. Basel 1541), als kartograf. Pionierarbeit eine Landkarte von Preußen (Borussiae tabula, gedr. 1542 in Nürnb. mit H. Zell als Verfasser) u. v.a. die Schrift über die Vereinbarkeit der Erdbewegung mit der Bibel: Epistola de terrae motu et Scriptura Sacra (gedr. zuerst Utrecht 1651; mit engl. Übers. 1984 hg. v. R. Hooykaas; dt. v. H. Bieri u. V. Masciadri 2008). Im Winter 1541/42 war R. wieder in Wittenberg, ehe er sich 1542 erneut in Nürnberg u. Vorarlberg aufhielt u. im gleichen Jahr eine Professur für Astronomie an der Leipziger Artistenfakultät übernahm. Deshalb war er zunächst unabkömmlich, u. an seiner Stelle war der Theologe Andreas Osiander in Nürnberg bei der Drucklegung von Copernicus’ De revolutionibus orbium coelestium libri VI im Winter 1542/43 behilflich (gedr. 1543, Papst Paul III. gewidmet). Osianders anonymes Vorwort Ad lectorem, in dem er in guter Absicht das neue System zu bloßen »Hypothesen« ohne Wahrheitsanspruch herabstufte, hat Unmut u. wütende Ablehnung von Seiten Gieses u. R.’ hervorgerufen, die sich auch gegen den Nürnberger Verleger Petreius richteten. In Leipzig wandte sich R. verstärkt den Grundfragen der Trigonometrie zu, einer Basisdisziplin für astronom. Berechnungen, aber auch der Geografie u. speziell der Topografie, Landvermessung u. Kartografie (»Chorographia«) sowie der für die Seefahrt gerade im Jahrhundert der Entdeckungsfahrten u. Weltumseglungen so unverzichtbaren Navigationskunde (Nautik). Eine theoret. Anleitung enthält die Chorographia tewsch (gedr. erst 1876). Von europaweiter Wirkung war die Einführung in die Dreieckslehre, Canon doctrinae triangulorum (Lpz. 1551), die auf einen in Leipziger Vorlesungen erprobten Lehrdialog im Stil des Erasmus zurückging. 1545–1548 nahm R., der in Leipzig auf dem Höhepunkt seines Ruhms als Gelehrter u. akadem. Lehrer angelangt war, wiederum Urlaub, um in Italien mit der allseits geforderten Verbesserung der mathemat. Basis der Astronomie bei sich selbst anzufangen u. bei dem Arzt u. Astrologen Girolamo Cardano, der auch als einer der größten Mathematiker seiner Zeit galt, zu lernen. Nach enttäuschenden Erfahrungen in

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Mailand hielt sich R. 1546/47 mehrere Monate krank in Lindau, danach in Konstanz u. im Winter 1547/48 in Zürich bei Gessner auf, der ihm medizin. Unterricht erteilte. 1548 zurück in Leipzig, wurde R. von einer Katastrophe gezwungen, seinem Leben eine neue Wendung zu geben: Im Frühjahr 1551 wurde er der homosexuellen Nötigung eines Studenten unter Alkoholeinfluss u. der Päderastie angeklagt (»Sodomitica et Italica peccata«) u. entzog sich umgehend der Verfolgung u. drohenden Todesstrafe (auf dem Scheiterhaufen) durch die Flucht nach Prag. R. kehrte seither nie mehr nach Leipzig oder als Lehrer an eine Universität zurück. Der im April eröffnete u. bis Mai 1552 verschleppte Prozess, in dessen Verlauf er sich allen Vorladungen des Leipziger Universitätsgerichts verweigerte, endete mit der formellen Verweisung von der Universität auf Lebenszeit (für die Dauer von 101 Jahren), dem Einzug des Vermögens u. des gesamten Hausrats sowie dem persönl. Konkurs, da sich überdies Schulden von 280 Gulden (etwa der Besoldung für zwei Jahre) gegenüber mehreren Gläubigern angehäuft hatten, sie waren auf Auslagen für seine kostspieligen wiss. u. publizist. Unternehmungen zurückzuführen. In der Sache blieb die Anklage unaufgeklärt. Mittellos u. ohne Amt hatte er sich, nun 37 Jahre alt, neu zu orientieren u. studierte, wohl ohne Abschluss, 1551/52 an der Prager Karlsuniversität Medizin. Anschließend hielt er sich in Wien auf, lehnte einen Ruf an die Universität ab u. ließ sich nach einem längeren Aufenthalt in Breslau, wo er sich bei seinem ehemaligen Wittenberger Schüler Johannes Crato von Krafftheim medizinisch weiterbildete, um 1554 für die verbleibenden zwei Jahrzehnte seines Lebens als prakt. Arzt im poln. Krakau nieder, damals kgl. Residenz u. eine kosmopolit. Metropole mit vielen Konfessionen u. der (nach Prag) zweitältesten mitteleurop. Universität (gegr. 1364). R. suchte als Arzt u. weiterhin mit astrolog. Gutachten (Prognostiken, »Praktiken«) den materiellen Erfolg, eines der Motive seines Berufswechsels, u. sein ungebrochener Optimismus kam ihm zustatten. Schon seit seiner wohl seelischen Krankheit in Lindau beschäftigte er sich mit religiöser Erbauung, er

Rheticus

neigte wohl zum Sozinianismus, dessen Anfänge er in Polen erlebte. Er bewunderte Paracelsus u. interessierte sich für den frühen Paracelsismus, obwohl die prominenten Mediziner unter seinen Freunden, Gessner wie Gasser u. Crato, entschiedene Gegner waren u. seine eigene wiss. Neugier sich jetzt eher auf Chemie als auf die »Steine« u. Mineralien richtete. Der Einladung des berühmten Philosophen Petrus Ramus von 1563 nach Paris folgte er nicht, er antwortete ihm in einem Brief von 1568, der einem Manifest über seine wiss. Pläne u. Prinzipien gleicht. Ramus hielt den dt. Copernicaner im weiteren Zusammenhang seiner Kritik der Methodologie der Naturforschung u. in Kenntnis des Canon doctrinae für die größte Hoffnung einer modernen Astronomie, die von bloßen Hypothesen befreit werden müsse (Ramus’ Brief u. die Antwort in: Burmeister, 1968, Bd. 3, Nr. 45 u. 50, mit dt. Übers.). Er habe »noch eine neue Methode der philosophischen Naturerkenntnis unter den Händen«, schreibt R. in der Antwort, »die sich allein auf die Betrachtung der Natur stützt und auf alle Schriften der Antike verzichtet. Dasselbe sollte man auch in der Medizin machen« (Übers. H. J.). R. konnte damit das Werk gemeint haben, das er selbst u. die gelehrte Fachwelt für sein bedeutendstes hielten, das Opus Palatinum de Triangulis, das u. a. in seitenlangen Zahlenkolonnen die trigonometr. Grundlage zur exakten Berechnung der Himmelsbahnen liefern sollte u. auf dem Kepler aufbauen konnte. Nach langer Vorbereitung war es sein letzter Schüler Valentin Otto, der aus Wittenberg kam u. R. 1572 in Kaschau, im Osten der Hohen Tatra, besuchte, um ihn bei der Fertigstellung des letzten Buches zu unterstützen. R. selbst sah in der Kooperation mit seinem Schüler die Wiederholung der engen Gemeinschaft, in der er einst bei Copernicus in Frauenburg mit diesem an der Vollendung des großen Opus arbeitete. So berichtet es Otto im Vorwort zu seiner Ausgabe. Sie wurde erst 1596, 22 Jahre nach R.’ Tod in Kaschau, im kurpfälz. Neustadt (daher Palatinum) gedruckt. Weitere Werke: In arithmeticen praefatio G. J. Rhetici; Oratio de astronomia et geographia; Oratio de physica. In: Philipp Melanchthon: Selectae de-

Rheticus clamationes. Bd. 1, Straßb. 1544 (auch im CR, Bd. 11, Nr. 39, 40, 69; die beiden letzteren auch in: J. R.: Orationes duae [...], habitae Vittebergae. Nürnb. 1542). – De libris revolutionum [...] Nicolai Copernici Torunnaei, Canonici Varmiensis, per quendam iuvenem, Mathematicae studiosum Narratio prima. Danzig 1540 (2. Aufl. mit dem Namen des Verf., besorgt v. Achilles Pirmin Gasser, im Anhang: Encomium Prussiae. Basel 1541. Nachdr. mit Epilog v. Bern Dibner. Osnabr. 1965. Auch in: Johannes Kepler: Prodromus dissertationum cosmographicarum. Addita est erudita Narratio M. G. I. Rhetici. Tüb. 1596. 1621). – De XII signis Zodiaci ac cerevisia Vratislaviana [...] iocus [lat. G.]. In: Kaspar Bruschius: Sylvarum liber. Lpz. 1543. – Tabulae Astronomicae. Wittenb. 1545. – Prognosticon oder Practica Deutsch, auff das jar Christi 1551. Lpz. 1550. – Ephemerides novae ad annum 1551, seu expositio positus diurni siderum. Lpz. 1550. – Canon doctrinae triangulorum. Lpz./Basel 1551. – Opus Palatinum de triangulis. Vollendet u. hg. v. Valentin Otto. Neustadt (Weinstraße) 1596 (auch in: Bartholomäus Pitiscus, Hg.: Thesaurus Mathematicus, sive Canon sinuum. Ffm. 1613, u. weitere Ausg.n teilw. u. a. T.). – Cujusdam Anonymi Epistola de terrae motu. Als Anhang gedr. in: David Gorlaeus. Idea Physicae. Utrecht 1651. – Herausgeber: (zus. mit Melanchthon): Ioannes de Sacrobosco (John Holywood): Libellus de sphaera. De computo ecclesiastico (De anni ratione). Wittenb. 1538 (spätere Aufl. hg. v. Erasmus Reinhold). – N. Copernicus: De lateribus et angulis triangulorum, tum planorum rectilineorum, tum sphaericorum libellus. Wittenb. 1542. – Euklid: Elementa Geometrica, libri VI. Lpz. 1549. – Johannes Werner: De triangulis sphaericis libri IV. De meteoroscopiis libri VI. Krakau 1557. Nachdr. Lpz. 1907 (mit Vorw. v. R.). Ausgaben: Franz Hipler: Die Chorographie des R., aus dem Autographon des Verf.s. In: Ztschr. für Mathematik u. Physik, Histor.-Literar. Abt. 21 (1876), S. 125–150. – Opus Palatinum. Sinus- u. Cosinus-Tafeln v. 10’’ zu 10’’. Hg. Wilhelm Jordan. Hann. 1897. – Three Copernican Treatises: the Commentariolus; the Letter against Werner; the Narratio prima of R. With a Biography of C. and C. Bibliographies 1939–1970. Engl. Übers., Einl. u. Anmerkungen v. Edward Rosen. New York 31971. Mineola/New York 2004. – Reijer Hooykaas: G. J. R.’ Treatise on Holy Scripture and the Motion of the Earth. Amsterd. 1984 [enth.: Epistola de terrae motu, lat.-engl.; dt. Übers. in Bieri/Masciadri 2008]. – Das neue Weltbild. Drei Texte, lat.-dt. Übers., mit Einl. u. Anmerkungen hg. v. Hans Günter Zekl. Hbg. 1990 [enth.: Auszüge aus Nar-

604 ratio prima]. – Texte zur Aufnahme der Copernican. Theorie, besorgt v. Heribert Maria Nobis u. Anna Maria Pastori. Copernicus Gesamtausg. Hg. Heribert N. Nobis u. a. Bd. 8,1, Bln. 2002 (enth. v. R.: Narratio prima; Encomium Prussiae; Diss. de terrae motu et Scriptura Sacra; Chorographia tewsch; Orationes duae; Ephemerides novae). – Die Arithmetik-Vorlesung des G. J. R. Wittenb. 1536. Eine komm. Ed. der Hs. Hg. Stefan Deschauer. Augsb. 2003 (In Elementa Arithmetices G. Peuerbachii Annotaciones et exempla Magistri G. I. Rhetii, Vorlesungsnachschrift: das lat. Ms., Transkription, dt. Übers.). Literatur: Leopold Prowe: N. Coppernicus. 3 Bde., Bln. 1883–84. Nachdr. Osnabr. 1967. – Anton v. Braunmühl: Vorlesungen über Gesch. der Trigonometrie. 3 Tle., Lpz. 1900–03. – Karl Sudhoff: R. u. Paracelsus. In: Verhandlungen der Naturforschenden Gesellsch. in Basel 16 (1903), S. 349–362. – M. Delcourt: Une lettre de Ramus à J. R. (1563). In: Bulletin de l’Association Guillaume Budé 44 (Juli 1934), S. 3–15. – Edward Rosen: The Ramus–R. Correspondence. In: Journal of the History of Ideas 1 (1940), S. 363–368. – Ernst Zinner: Entstehung u. Ausbreitung der Coppernican. Lehre, mit 78 Abb. Erlangen 1943. Nachdr. Vaduz 1978. – Heinrich Bornkamm: Kopernikus im Urteil der Reformatoren. In: ARG 40 (1943), S. 171–183. – Hans Schmauch: Cop(p)ernicus. In: NDB. – Gerald Strauss: Sixteenth-Century Germany. Its Topography and Topographers. Madison 1959. – Hans Blumenberg: Die kopernikan. Wende. Ffm. 1965. – Karl Heinz Burmeister: G. J. R. 1514–74. Eine BioBibliogr. 3 Bde., Wiesb. 1967/68 (Bd. I: Humanist u. Wegbereiter der modernen Naturwiss.en. Bd. II: Quellen u. Bibliogr. Bd. III: Briefw., mit Übers.). – Erich Somweber: Der Zauberer u. Hexenmeister Dr. Georg Iserin v. Mazo. In: Montfort. Vjs. für Gesch. u. Gegenwartskunde Vorarlbergs 20 (1968), S. 295–325. – K. H. Burmeister: Achilles Pirmin Gasser 1503–77. 3 Bde., Wiesb. 1970–75. – Karin Figala: Die sog. Sieben Bücher über die Fundamente der chem. Kunst. v. J. R. In: Sudhoffs Archiv 55 (1971), S. 247–256. – K. H. Burmeister: G. J. R. als Paracelsist. In: Montfort 24 (1972), S. 619–629. – Hans-Joachim Bartmuss: Nicolaus Copernicus u. die Wissenschaftstraditionen der Martin-LutherUniv. Halle-Wittenberg. Halle 1973. – K. H. Burmeister: Die chem. Schr.en des G. J. R. In: Organon 10 (1974), S. 177–185. – Ders.: Neue Forsch.en über G. J. R. In: Jb. des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 1974/75, 1977, S. 37–47. – DSB. – Robert S. Westman: The Melanchthon Circle, R. and the Wittenberg Interpretation of the Copernican Theory. In: Isis 66 (1975), S. 164–193. – Curtis A.

Rhoden

605 Wilson: R., Ravetz, and the ›Necessity‹ of Copernicus’ Innovation. In: The Copernican Achievement. Hg. Robert S. Westman. Berkeley u. a. 1975, S. 17–48. – Manfred Büttner u. K. H. Burmeister: G. J. R. In: Wandlungen im geograph. Denken v. Aristoteles bis Kant. Hg. Manfred Büttner. Paderb./ Mchn. 1979, S. 129–137. – Reijer Hooykaas: G. J. R.’ Treatise on Holy Scripture and the Motion of the Earth, with Translation, Annotations, Commentary and Additional Chapters on Ramus–R. and the Development of the Problem before 1650. Amsterd. 1984. – Fritz Krafft: Copernicus. In: Große Naturwissenschaftler. Biogr. Lexikon. Hg. ders. Düsseld. 2 1986, S. 88–91. – Manfred Tschaikner: Der verzauberte Dr. Iserin. In: Kulturinformationen Vorarlberger Oberland 2 (1989), S. 141–147. – Stefan Rhein u. a.: Philipp Melanchthon. Wittenb. 21998. – Felix Schmeidler: Komm. zu ›De revolutionibus‹. N. Copernicus Gesamtausg. Hg. Heribert N. Nobis, Menso Folkerts u. a. Bd. 3,1, Bln. 1998. – Jesse Kraai: G. J. R. (1514–74). R. über Proclus, Alfraganus u. die Astrologie. In.: Rechenbücher u. mathemat. Texte der frühen Neuzeit. AnnabergBuchholz 1999, S. 85–195. – Dennis Danielson: The Great Copernican Cliché. In: American Journal of Physics 69 (2001), S. 1029–1035. – Nicholas Jardine and Alain Segonds: A Challenge to the Reader: Ramus on ›Astrologia‹ without Hypotheses. In: The Influence of Petrus Ramus. Hg. Mordechai Feingold u. a. Basel 2001, S. 248–266. – CP I, S. 57–103. – Howard Margolis: It Started with Copernicus. How Turning the World Inside Out Led to the Scientific Revolution. New York 2002. – Andreas Kühne: R. In: NDB. – Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600. Chicago 2003. – K. H. Burmeister: Ein Inventar des G. J. R. v. 1551. In: Montfort 56 (2004), S. 160–168. – Claudia Brosseder: Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon u. andere Wittenberger Astrologen. Bln. 2004. – Katherine A. Tredwell: Michael Maestlin and the Fate of the Narratio prima. In: Journal for the History of Astronomy 35 (2004), S. 305–325. – Dennis Danielson: Achilles Gasser and the Birth of Copernicanism. Ebd., S. 457–474. – Ders.: The First Copernican. G. J. R. and the Rise of Copernican Revolution. New York 2006 (im Anh. die wichtigsten Briefe in engl. Übers.). – Hans Bieri, unter Mitarb. v. Virgilio Masciadri: Der Streit um das kopernikan. Weltsystem im 17. Jh. Galileo Galileis Akkomodationstheorie u. ihre histor. Hintergründe. Quellen – Komm.e – Übers.en. 2., überarb. Aufl. Bern 2008. Herbert Jaumann

Rhoden, Emmy von, eigentl.: E. Friedrich, geb. Kühne, * 15.11.1829 Magdeburg, † 17.4.1885 Dresden. – Jugendbuchautorin. Die Vermarktung u. Wirkungsgeschichte von R.s ungemein erfolgreichen Trotzkopf-Romanen markieren ein wichtiges Kapitel in der Kommerzialisierung des Jugendbuchs in Deutschland. Friedrich Friedrich, der Autorengatte der Bankierstochter R., warb im hochstilisierten Vorwort für R.s postum erschienene »Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen«, Trotzkopf (Stgt. 1885. 251897. Neuaufl. Mchn. 1983. 1996. 2009 auch als CD erhältlich), die zum Bestseller u. zur Vorlage zahlreicher späterer Nachahmungen des »Trotzkopf«-Sujets wurde; ihre Tochter, Elise Wildhagen, schrieb die Fortsetzungen Aus Trotzkopfs Brautzeit (Stgt. 1892. 1818–98) u. Aus Trotzkopfs Ehe (Stgt. 1894). Das Werk bedient sich eines ähnl. Grundmusters wie Enid Blytons Internatsgeschichten für 11- bis 13jährige Mädchen; im wilhelmin. Zeitalter wurde es mitunter »in hellem Damastleinwand und in elegantem Futteral [...] als besonders reizendes Geschenk« Konfirmandinnen überreicht. Name u. Verhalten der scheinbar burschikosen, im Grunde aber »echt« weibl. Titelheldin suggerieren geistige u. emotionale Autonomie, mit der sich die Leserin identifiziert, wie auch mit Trotzkopfs Verunsicherung durch die Hintertreppenromanmotive der Stiefmutter u. des neuen Geschwisterkindes. Tatsächlich ist die flotte Erzählung darauf angelegt, Trotzkopf zu einem affirmativen Verhältnis zu sich u. ihrer Umwelt zu verhelfen; die Heldin wirbt dabei für eine chauvinistisch antibrit. Einstellung unter den Mitschülerinnen. Anfang der 1980er Jahre lief die Trotzkopf-Geschichte als achtteilige Fernsehserie sehr erfolgreich im dt. Fernsehen (ARD, Regie: Helmut Ashley; Titelrolle: Anja Schüte). Weitere Werke: Das Musikantenkind (E.). – Lenchen Braun. Weihnachtsgesch. Beide Stgt. 1883. Literatur: Malte Dahrendorf: Das Mädchenbuch u. seine Leserin. Weinheim 1970. – Ders.: R. In: LKJL. – Dagmar Grenz: Mädchenlit. Stgt. 1981. – Susanne Barth: Töchterleben seit über 100 Jahren. E. v. R.s ›Trotzkopf‹. In: Klassiker der Kinder-

Rhodius u. Jugendlit. Hg. Bettina Hurrelmann. Ffm. 1995, S. 270–292. – Gisela Wilkending: E. v. R. In: NDB. – Ariane Asselborn-Kolm: Bürgerl. Mädchen- u. Frauentriviallit. im 19. Jh. u. ihre filmische Adaptation am Beispiel der Romane v. E. v. R. ›Der Trotzkopf‹ (1885), Else Wildhagen ›Trotzkopfs Brautzeit‹ (1892), E. Marlitt ›Das Geheimnis der alten Mamsell‹ (1867) u. ›Die zweite Frau‹ (1873). Diss. Salzb. 1995. – Gisela Wilkending: R. In: NDB. – Klaus Maiwald: E. v. R. ›Der Trotzkopf‹. In: Große Werke der Lit.: eine Ringvorlesung an der Univ. Augsburg. Bd. 10, Tüb./Basel 2006/07, S. 45–57. Eda Sagarra

Rhodius, Theodorus, eigentl.: Theodor Roth, * um 1575 Ladenburg/Pfalz, † 19.8. 1625 Asselheim/Pfalz. – Späthumanistischer Dramatiker u. Lyriker.

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bewies R. hohe ästhet. Sensibilität u. ein strenges Kunstbewusstsein. Dadurch gehörte er zu den Vertretern des »vorbarocken Klassizismus« (Richard Alewyn). In seiner Lyrik bevorzugte R. die Gedichte schlichten Stils in der Nachfolge Catulls. Entworfen wurde darin ein Bild des literar. Verkehrs im Rahmen der humanist. Freundschaftszirkel. Weitere Werke: Dramata Sacra. Ffm. 1615. Erw. u. mit einem lyr. Anhang versehen. Straßb. 1625. – Poemata Varia. Darmst. 1615. Ausgabe: Ausw. mit Übers. u. Komm. in: Parn. Pal., S. 170–185. Literatur: Paul Stachel: Seneca u. das Renaissancedrama. Bln. 1907, S. 120–133. – Johannes Bolte (Hg.): Coligny, Gustav Adolf, Wallenstein. Drei zeitgenöss. lat. Dramen. Lpz. 1933 (Vorw. mit Werkverz. u. Ausg. des ›Colignius‹). – Jean Lebeau: Salvator Mundi. L’exemple de Joseph dans le Théâtre Allemand au XVIème Siècle. Nieuwkoop 1977, S. 1059–1064 u. passim. – Hans-Gert Roloff: Klassizismus im dt. Drama um 1600. Beobachtungen an der ›Tragoedia Colignius‹ des T. R. In: FS Joseph P. Strelka. Bern u. a. 1987, S. 23–35. Auch in: Ders.: Kleine Schr.en. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Amsterd./New York 2003, S. 187–200. – Wilhelm Kühlmann: Zur literar. Lebensform im dt. Späthumanismus: Der pfälz. Dramatiker T. R. in seiner Lyrik u. in seinen Briefen. In: Daphnis 18 (1989), S. 671–749. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1681 f. Wilhelm Kühlmann

Als Stipendiat der Grafen von LeiningenWesterburg besuchte R. das Gymnasium zu Höningen bei Grünstadt, studierte dann in Tübingen (immatrikuliert 7.5.1594) u. in Straßburg (1595). Als Landpfarrer lebte er zunächst in Quirnheim (1601–1607), dann in Asselheim bei Worms. R. gehörte zum Umfeld des späthumanist. Heidelberger Dichterkreises. Paul Schede Melissus krönte ihn 1610 zum Poeta laureatus, in dem Juristen u. Politiker Marquard Freher u. dem berühmten Gelehrten Janus Gruter fand R. wohlwollende Gönner. Sie wussten v. a. sein ehrgeiziges Dramenwerk zu Riccabona, Max, eigentl.: M. von R. zu schätzen: zwei Komödien im Stil des Plautus Reichenfels, * 31.3.1915 Feldkirch/Voru. acht Tragödien in bewusster Nachfolge der arlberg, † 4.10.1997 Oberlochau/VorarlAntike (Seneca, Sophokles, Euripides). Die berg. – Romancier, Lyriker u. bildender Stoffe entstammten der Bibel – Simson, Esau, Künstler. Saul, die Josephsgeschichte (in drei Teilen), Debora, Tesaurus (nach 2Makk 3) – u. der Der Sohn des Rechtsanwalts u. Schriftstellers Agneslegende (Hagne). Ein brisantes zeitge- aus dem »Brenner«-Kreis Gottfried Riccaboschichtl. Ereignis griff R. in der Bühnendar- na (1879–1960) studierte ab 1934 in Graz u. stellung der Bartholomäusnacht von 1572 auf an verschiedenen Universitäten (Paris, Cam(Tragoedia Colignius. Oppenheim 1614). Dabei bridge, Salamanca, Perugia) Staatswissenbenutzte er den Auriacus sive Libertas saucia schaften (1949 Dr. iur. an der Universität (1602) des Daniel Heinsius. In scharfer Pole- Innsbruck). Von 1936 bis 1938 absolvierte er mik gegen eine volkstüml. Dramaturgie im die Konsularakademie in Wien u. war als Stil der u. a. von Meistersingern verfassten Gegner Hitlers für den engl. u. frz. Geheimepischen »Historien«, in knapper Fügung der dienst tätig. Mitte 1939 befand er sich in Paris Dialoge, in der Übernahme antiker Baufor- u. trat unmittelbar vor dessen Tod in Kontakt men (fünf Akte, Chor, Sentenzen-Stichomy- zu Joseph Roth. 1940 zur Wehrmacht eingethie, Monologe, Teichoskopie) u. in der zogen, aus polit. Gründen entlassen u. inRücksicht auf die drei aristotel. Einheiten haftiert, war R. 1942–1945 Häftling im KZ

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Richartz

Dachau; nach 1945 Obmann der »Österrei- Insidertipp zur Kultfigur u. mit der ersten chisch-demokratischen Freiheitsbewegung« Ausstellung zu einem lebenden Künstler im in Vorarlberg, 1979 erhielt er das »Ehrenzei- Vorarlberger Landesmuseum 1989, mit dem chen für Verdienste um die Befreiung Öster- Ehrenpreis des Vorarlberger Buchhandels reichs von der nationalsozialistischen Ge- 1991 sowie Projekten aus dem Nachlass auch waltherrschaft«. Ab 1949 trat R. in die väterl. zur Institution im kulturellen Leben. Anwaltskanzlei in Feldkirch ein, Mitte der Literatur: M. R. Hg. Vorarlberger Landesmu1960er Jahre musste er aufgrund der Spät- seum. Bregenz 1989 (Kat. mit Bibliogr.). – Ulrike folgen der KZ-Haft den Rechtsanwaltsberuf Längle: ›Ich bin ein Selbstbeobachter, der sich soaufgeben, wurde teilweise entmündigt u. zusagen unter dem Mikroskop analysiert.‹ Über lebte bis zu seinem Tod im Jesuitenheim in den Schriftsteller M. R. In: allmende 15 (1995), Nr. 46/47, S. 23–34. – Dies.: The Memoirs of M. R. The Oberlochau/Vorarlberg. Memorial of a Political Prisoner in Dachau. In: DiIn den 1970er Jahren trat R. mit Publikamension 24 (1997), Nr. 2, S. 159–171. – Andrea tionen in Zeitschriften (»protokolle«, »frei- Reiter: Protokolle vom Überleben? Albert Drachs bord«) u. Lesungen hervor, neben Gedichten ›Unsentimentale Reise‹ u. M. R.s ›Auf dem Neu. lyr. Prosa veröffentlichte er v. a. Fragmente bengeleise‹. In: Sprachkunst 31 (2000), H. 2, aus einem experimentellen Romanprojekt. S. 323–338. – M. R. Bohemien – Schriftsteller – R.s Hauptwerk liegt nicht als Ganzes vor, Zeitzeuge. Hg. Johann Holzner u. Barbara Hoiß. Teile erschienen u. d. T. Bauelemente zur Tragi- Innsbr. 2006. Stefan Alker komödie des x-fachen Dr. von Halbgreyffer oder Protokolle einer progressivsten HalbbildungsinfekRichartz, Walter E., eigentl.: W. Erich tion (Wien 1980) u., gemeinsam mit GedichFrhr. Karg von Bebenburg (seit 1942), ten, Übersetzungen u. Aleatorika, als Faksi* 14.5.1927 Hamburg, † Febr. 1980 Klinmiles in dem Band Poetatastrophen (Innsbr. genberg/Main (Freitod). – Erzähler, Ro1993). Das von R. als »work in progress« gemanautor u. Übersetzer. handhabte Werk arbeitet mit Wortschöpfungen, Tippfehlerverwertung, einer »cut up and Der Sohn des Korvettenkapitäns Karl Rifold in«-Methode (vgl. William S. Bur- chartz wurde 1942 von seinem Stiefvater adroughs); rund um monologisierende Figuren optiert u. lebte bis 1944 in Stuttgart, Vaihinentsteht ein keineswegs linearer Erzählver- gen u. Weilheim/Obb. Nach einem Jahr als lauf aus Dialogpartikeln, Zitaten, Exkursen Soldat, Kriegsgefangener u. sich anschlieu. Assoziations-»Klustern«, der in drei Pha- ßenden Gelegenheitsarbeiten begann R. 1946 sen eine Diskussionsrunde, die Halbbil- das Studium der Chemie an der TH München, dungsinfektion des Dr. Halbgreyffer (Auflö- das er ab 1952 an der Universität Hamburg sungserscheinungen gespiegelt in Wortwahl fortsetzte, wo er 1955 zum Dr. rer. nat. prou. Satzstruktur) u. dessen Zeit in einem Sa- movierte. Im Anschluss an eine Tätigkeit als natorium schildert. Anlässlich seines 80. Ge- Hochschulassistent u. einen Aufenthalt als burtstages erschienen R.s Erinnerungen an post-graduate fellow in den USA (1957–1960) seine Zeit im KZ Dachau, Auf dem Nebengeleise arbeitete R. als Angestellter in einem For(Innsbr. 1995). Fragmentarisch verschachtelt schungslabor der chem. Industrie. Seit 1979 der Autor drei Zeitebenen zu von wütendem lebte er als freier Schriftsteller u. Übersetzer Humor u. Infragestellung menschl. Existenz in Frankfurt/M. Im Febr. 1980 nahm er sich geprägten Erinnerungen, die den Prozess von das Leben. Erinnerung u. Niederschrift miteinbeziehen. R. war ein feinfühliger u. zgl. zyn. BeR. folgt einem »Automatismus« mit wenig trachter jener Alltagswirklichkeit, die er Auswahl bzw. Zensur u. setzt »sarkastische durch seinen Beruf als Angestellter kennenironie gegen dumpfen realismus«. zulernen gezwungen war. Er gilt als Meister R.s Arbeit als Collagekünstler steht in en- der »Angestelltenprosa«. Geschult durch seiger Verbindung zu seinen literar. Arbeits- ne Übersetzungstätigkeit (u. a. Dashiell techniken; darüber hinaus trat er auch als Hammett, F. Scott Fitzgerald, Patricia Übersetzer hervor. R. entwickelte sich vom Highsmith) u. durch sein Faible für die

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amerikan. »Black movie«-Literatur beispielsweise Raymond Chandlers interessierte sich R. für einen, wie er selbst formulierte, »Realismus bis zur Kippe [...], wo genau die Präzision ins Absurde umschlägt«. In allen seinen Erzählungen dominiert ein satir. Grundton, der das realistisch u. präzise Erzählte ins Surreale wendet. So wird z.B. in dem 1966 in Zürich erschienenen Roman Prüfungen eines braven Sohnes ein Student durch sein Studium zurückgebildet. Im Roman Tod den Ärtzten (Zürich 1969) parodiert R. die Schulmedizin, u. in seinem größten literar. Erfolg, dem Büroroman (Zürich 1976. Neuausg. 1992. 1998), dient der Angestelltenalltag mit seinen Machtkämpfen, Unterdrückungen u. Depressionen als Paradigma allg. gesellschaftl. Verhältnisse. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Zürich): Noface – Nimm was du brauchst. 1973 (R.). – Der Aussteiger u. a. Angestelltenprosa. 1979. – Vorwärts ins Paradies. Aufsätze zu Lit. u. Wiss. 1979. – Vom Äußersten. 1986 (E.en). – Schöne neue Welt der Tiere. 1987. – Das Leben als Umweg. 1989 (ges. E.en). Literatur: Gregor Arzt: W. E. R. Über literar. u. naturwiss. Erkenntnis. Mit einer Bibliogr. zu W. E. R. Paderb. 1995. – Johann P. Tammen (Redakteur): Doppel-Talente. Günter Grass u. W. E. R. Hommage u. Memorial. Bremerhaven 2007 (Aufsatzslg.). Gerhard Bolaender / Red.

Richental, Ulrich, * um 1365, † 1437 Konstanz. – Chronist. R., Sohn des angesehenen bürgerl. Konstanzer Stadtschreibers Johann Richental, besaß die Ausbildung eines Geistlichen u. dürfte die niederen Weihen empfangen haben; nach seiner Heirat ist er wohl als Kaufmann tätig gewesen; in ein öffentl. Amt gelangte er nie – vielleicht infolge des dritten Zunftaufstandes (1389). Er berichtet von verschiedenen, ihm anlässlich des Konstanzer Konzils übertragenen, dem kgl. Marschallamt zugehörigen Aufgaben. Während des Konzils legte R. sich offensichtlich eine auf Kopien amtl. Schriftstücke sowie auf Befragung von Teilnehmern u. seinem eigenen Augenschein beruhende Materialsammlung an, die er später zu einer

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deutschsprachigen (alemannischen) Chronik der politischen, kirchl. u. städt. Ereignisse in Konstanz 1414–1418 verarbeitete. Abgesehen von mehreren der Forschung bekannten, aber als verloren geltenden Handschriften ist sie in sieben illustrierten u. acht nicht illustrierten Handschriften sowie einem mit Holzschnitten versehenen Frühdruck (Augsb.: Anton Sorg 1483. Faks. Potsdam 1923) u. zwei Drucken des 16. Jh. erhalten. Die handschriftl. Überlieferung setzt erst in den 1460er Jahren ein u. lässt verschiedene, differierenden kommunikativen Bedürfnissen entsprechende Fassungen der Chronik erkennen. Die früheste u. umfangreichste, in der Ich-Form gehaltene Fassung ist nach 1421 entstanden (Aulendorfer Handschrift: um 1460/1465; Prager Handschrift: 1464 aus der Werkstatt des Konstanzer Bürgers u. Chronisten Gebhard Dacher [um 1425–1471], der auch an späteren Fassungen beteiligt war); eine um die Mehrzahl der Nachrichten über R. verkürzte, aber bezüglich der Stadt Konstanz erweiterte Version ist nach 1424 zu datieren (Konstanzer Handschrift: um 1464/ 1465; Wiener Handschrift: um 1475). Diese, in der dritten Person seitens einer anonymen Autorengruppe (»ettlich erber lüt«) objektiviert erzählende Fassung wurde intensiver rezipiert als die ältere. Vier Handschriften überliefern Mischtypen, denen auch die drei Druckausgaben folgen. In fünf chronikal. Sammelhandschriften aus dem Konstanzer u. Zürcher Raum finden sich stark gekürzte Bearbeitungen. Die lat. Redaktion ist auf Erläuterungen der Bildinhalte reduziert (zwei Handschriften, Abschriften Ende 17. Jh. aus einer verlorenen Handschrift). Zu R.s Konzept gehörten von Anfang an zahlreiche, von Malern nach seinen Anweisungen ausgeführte Illustrationen, Ereignisbilder, die in gänzlich neuen Bildtypen Szenen des Konzils darstellen. Plastische Schilderungen von Prozessionen u. Kirchenfesten bestimmen die Struktur des Werks; in Einschüben beschäftigt R. sich mit historischpolitischen, geograf. u. ähnl. Themen sowie dem wirtschaftl. Alltag in seiner von verschiedenartigen Fremden überfüllten Stadt. Die Chronik schließt mit Bistümer- u. Teilnehmerlisten (z.T. lat.) sowie den Abbildun-

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gen zugehöriger Wappen, die das Werk auch FS Hubert Mordek. Hg. Oliver Münsch. Ostfildern zu einem einflussreichen Heraldikbuch 2004, S. 411–443. – Ders.: Von Konstanz über Aulendorf nach New York. Zur Text- u. Rezeptionsmachten (600–1100 Wappen). R.s Werk wurde in der überarbeiteten Form gesch. einer oberschwäb. R.-Hs. In: Schr.en des Vereins für Gesch. des Bodensees u. seiner Umgevom Konstanzer Rat als offiziöse Geschichtsbung 125 (2007), S. 3–19. – URL: http:// schreibung akzeptiert. Mit Beginn der hand- www.handschriftencensus.de/werke/2062. schriftl. Überlieferung seit den 1460er Jahren Sabine Schmolinsky setzt auch die bis ins 17. Jh. reichende Rezeption des Konzilsberichts in der Schweizer (u. a. Conrad Justinger, Diebold Schilling, Richey, Johann, * 14.12.1706 Stade, † 9.2. 1738 Wien. – Diplomat, Lyriker. Claus Schultheiß) u. dt. Chronistik ein. Ausgaben: Handschrift A, z.T. kollationiert mit K: Hg. Michael Richard Buck. Tüb. 1882. Nach- u. Neudr.e. Faks. Karlsr. [1881]. – Handschrift K, z.T. kollationiert mit A: Hg. Otto Feger. Bd. 1: Faks.Ausg. Bd. 2: Komm. u. Text (mit Forschungsbeiträgen). Starnberg/Konstanz 1964. – RosgartenMuseum: Die Richental-Chronik. Das Konstanzer Konzil v. 1414–18. Konstanz 2003 (CD-ROM). Literatur: Wilhelm Matthiessen: U. R.s Chronik des Konstanzer Konzils. In: Annuarium Historiae Conciliorum (1985), S. 71–191, 323–455. – Dieter Mertens: U. R. In: VL (Lit.). – Thomas Cramer: Bilder erzählen Gesch. Die Illustrationen in U. R.s Chronik als Erzählung in der Erzählung. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Harald Haferland u. Michael Mecklenburg. Mchn. 1996, S. 327–349. – Thomas Martin Buck: Zur Überlieferungslage der R.-Chronik. Ein textkrit. Vergleich der Aulendorfer u. Konstanzer Hs. Konstanz 1999. – Thomas Rathmann: Geschehen u. Gesch.n des Konstanzer Konzils. Chroniken, Briefe, Lieder u. Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses. Mchn. 2000. – Gerrit Jasper Schenk: Sehen u. gesehen werden. Der Einzug König Sigismunds zum Konstanzer Konzil 1414 im Wandel v. Wahrnehmung u. Überlieferung (am Beispiel v. Hss. u. frühen Augsburger Drucken der R.-Chronik). In: Medien u. Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit. Hg. Franz Mauelshagen u. Benedikt Mauer. Augsb. 2000, S. 71–106. – T. M. Buck: Zur Gesch. der R.Ed. In: Ztschr. für württemberg. Landesgesch. 59 (2000), S. 433–448. – Ders.: Fiktion u. Realität. Zu den Textinserten der R.-Chronik. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 149 (2001), S. 61–96. – Gisela Wacker: U. R.s Chronik des Konstanzer Konzils u. ihre Funktionalisierung im 15. u. 16. Jh. Aspekte zur Rekonstruktion der Urschrift u. zu den Wirkungsabsichten der überlieferten Hss. u. Drucke. Tüb. 2002 (online erschienen unter http://tobiaslib.uni-tuebingen.de/volltexte/2002/520). – T. M. Buck: Figuren, Bilder, Illustrationen: Zur piktoralen Literalität der R.-Chronik. In: Scientia veritatis.

R. wurde zunächst von seinem Vater, Michael Richey, unterrichtet, kam 1713 nach Hamburg, besuchte 1714–1724 das Johanneum u. begann sein Studium 1725 am Akademischen Gymnasium. Ab 1728 studierte er in Leipzig Jura bei Gottlieb Corte, außerdem Latein, Französisch u. Englisch. 1732 reiste R. in die Niederlande, wo er Ende des Jahres sein Jurastudium in Utrecht abschloss. Wahrscheinlich danach erst bereiste er die Niederlande, das damalige Südbrabant, Frankreich, die Schweiz u. Deutschland. Im Nov. 1734 nach Hamburg zurückgekehrt, wurde R. alsbald Syndikus u. mit der hamburgischen Gesandtschaft am kaiserl. Hof betraut. Freundschaft verband R. mit seinem Studienkameraden Matthäus Arnold Wilckens. Aufsehen erregte er durch seine Kontroverse mit Voltaire über die Niederbrennung Altonas 1713 (Lettre d’un Anonyme [...]. In: Bibliothèque raisonnée des ouvrages des savans de l’Europe. Bd. 9, Amsterd. 1732, S. 469–477. Dt. zuerst in: Nieder-Sächsische Nachrichten von gelehrten neuen Sachen 1733, S. 89–98). R. trat in Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38. Neudr. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) mit Gelegenheitsgedichten hervor, deren sicher beherrschte, meist liedhafte Form sich mit menschl. Wärme, frühaufklärerischer Moralistik, Kürze u. Treffsicherheit des Ausdrucks verbindet. Literatur: Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Histor.-litterar. Hdb. Bd. 9/2, Lpz. 1807, S. 231 f. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller 6. Hbg. 1873, S. 261 f. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 140–142. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 956. Jürgen Rathje / Red.

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Richey, Michael, * 1.10.1678 Hamburg, † 10.5.1761 Hamburg. – Polyhistor, Lyriker. R. besuchte ab 1690 das Johanneum in Hamburg. Ab 1696 studierte er am Akademischen Gymnasium, wo sein bes. Interesse der Orientalistik u. Neuphilologie galt. 1699 ging er nach Wittenberg u. studierte Theologie, Naturlehre, Mathematik, Geschichte u. schöne Wissenschaften. Der Polyhistor Konrad Samuel Schurtzfleisch promovierte ihn 1699 zum Magister u. bewog ihn dazu, das akadem. Lehramt der Weltweisheit anzustreben. Indessen musste R. aus gesundheitl. Gründen 1701 nach Hamburg zurückkehren, setzte aber seine Studien dort privat bei den Orientalisten Sebastian u. Georg Elieser Edzardi sowie bei Johann Albert Fabricius fort. Eine Zeitlang hörte er auch Theologie bei Christoph Franck in Kiel. 1704 nahm er die Berufung zum Rektor des Gymnasiums in Stade an, floh 1712 vor den Dänen nach Hamburg u. legte 1713 sein Rektorat nieder. 1717 übernahm er den Lehrstuhl für Geschichte u. Griechische Sprache am Akademischen Gymnasium, dessen Rektor er siebenmal wurde. R. heiratete 1704 Anna Catharina Schulte († 1712), die Charitine seiner Gedichte. Von seinen Kindern überlebte ihn keines. R. korrespondierte mit bedeutenden Gelehrten, darunter mit seinem Lehrer Schurtzfleisch bis zu dessen Tod 1708, mit dem Prähistoriker Christian Detlev Rhode, an dessen Ausgrabungen R. sich beteiligte, sowie seit 1702 mit Fabricius. Verschönerung der dt. Sprache u. Aufklärung der dt. Geschichte u. Altertümer waren die Ziele, welche um 1712 den Freundschaftsbund zwischen R., Fabricius u. Johann Hübner entstehen ließen. Diese schlossen sich zur Gesprächsrunde der Hamburgischen »Bibliotheca Historica« (Hbg. 1715–29) zusammen u. gehörten auch 1715–1717 der Teutsch-übenden Gesellschaft an, die von R., Brockes u. Johann Ulrich von König konzipiert u. gemeinsam mit Fabricius schon 1714 geplant war. Ab 1724 gehörte R. zur Redaktionsgemeinschaft der ersten Patriotischen Gesellschaft. Die meisten ihrer Mitglieder sowie, bis auf Hübner, alle an der

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Teutsch-übenden Gesellschaft Beteiligten traten gemeinsam mit R. neben vielen anderen Autoren in Weichmanns Poesie der NiederSachsen (Hbg. 1721–38. Neudr. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) hervor. Sein wiss. Werk weist R. v. a. als Historiker u. Philologen aus, erstreckt sich aber auch auf die Literatur- u. Gelehrtengeschichte bis hin zur Theologie. Sein Idioticon Hamburgense (Hbg. 1743. Nachdr. Hbg. 1975), an dessen stark erweiterter zweiter Auflage (Hbg. 1755. Nachdr. Lpz. 1976) Mattheson mitarbeitete, ist das erste niederdt. Wörterbuch. Beachtung verdient R. als Verfasser von Aufsätzen im »Patrioten« (Hbg. 1724–26. Neuaufl. in 3 Bdn., hg. v. R., Hbg. 1728/29. 21737/38. 3 1747. 41765. Nach der Ausg. Hbg. 1724–26 in 3 Textbdn. u. einem Kommentarbd. kritisch hg. v. Wolfgang Martens. Bln. 1969–84). Nachgewiesene Beiträge R.s sind die Stücke 4, 16, 25, 27, 64 u. 79. Sein Hauptwerk aber bleiben die Deutschen Gedichte (Hg. Gottfried Schütze. 3 Bde., Hbg. 1764–66): Lob-, Hochzeits-, Trauer-, Sinngedichte u. Übersetzungen, Singgedichte für öffentl. Feierlichkeiten u. persönl. Anlässe, Vermischte Gedichte. Wohl enthält das Werk gewisse Schwächen – Archaismen, unreine Reime dann u. wann, Wortspiele, gelegentl. Rückfälle in modischkomplizierte Gedankengänge –, aber nicht sie, sondern Bürgerlichkeit, Natürlichkeit u. Volksnähe kennzeichnen diese Poesie. Hierin folgt der um Regeln eher unbekümmerte R. den Bestrebungen Christian Weises. Seine Verse sind leicht u. fließend, er schreibt deutlich u. klar, wenn auch nicht ganz ohne zeittyp. Manierismen, u. so gelingen ihm immer wieder Formulierungen, die Spontaneität u. überlegenen Geist verraten. Dem Prunk der zweiten Schlesischen Dichterschule stand R. ebenso fern wie dem Streit zwischen Gottsched u. den Schweizern über das Erhabene in der Poesie. Bezeichnend für viele seiner Gelegenheitsgedichte ist eine frei erfundene witzig-temperamentvolle Erzählung vor oft moralistischem Hintergrund, die an den gesellschaftl. Anlass, für den das jeweilige Gedicht geschrieben wurde, anknüpft. Damit ist er im dt. Sprachraum ein Neuerer u. nur den jüngeren Gellert u. Hagedorn vergleichbar. In der frz. Poesie hatten

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solche Erzählungen bereits ihre klass. Form bei La Fontaine gefunden. An diesen erinnert R. zumal durch den Humor der Lobgedichte. Aber anders als bei dem frz. Dichter prägt nicht Epikureertum u. die Weisheit des Menschenkenners u. Philosophen seinen Humor, sondern persönl. Anteilnahme am Wohlergehen vieler ihm verbundener Menschen. R., Sohn eines angesehenen u. in bürgerl. Ehrenämtern bewährten Kaufmanns, spricht als Bürger zu Mitbürgern. Lebenswerk u. Persönlichkeit sind bei R. nicht zu trennen. Bereits über die Gelehrtengesellschaften u. seine Mitarbeit am »Patrioten« übte er beachtl. Einfluss aus. Sein Idioticon Hamburgense regte Johann Christoph Strodtmann zum Idioticon Osnabrugense (Lpz./ Altona 1756) an u. war Vorbild für den Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs (6 Bde., Bremen 1767–69) der Deutschen Gesellschaft in Bremen sowie für Gottfried Schützes Holsteinisches Idioticon (4 Bde., Hbg. 1800–06). Aber auch Schützes Schutzschriften für die alten Deutschen und Nordischen Völker (2 Bde., verm. u. verb. Aufl. Lpz. 1773 u. 1776) weisen auf R. An Johann Ulrich von Königs Wendung vom Marinismus zu frühaufklärerischer Einfachheit u. Eleganz hatte er erhebl. Anteil. Für den Dichter R. fanden die Gräfin Königsmarck, Brockes u. Gottsched anerkennende Worte. Er galt als einer der Ersten, die in der deutschsprachigen Poesie den »guten Geschmack« neu begründeten, u. wirkte auf diese Weise nachhaltig auf das kulturelle Selbstbewusstsein seiner Zeitgenossen. R. war urban, beredt, wollte seinen Mitmenschen nützlich sein. Er war v. a. Philanthrop. Mehr als eine Studentengeneration hatte er im Sinne gemeinnütziger Ideen nach dem Vorbild des »Patrioten« geprägt. Zu R.s Schülern gehörten Friedrich von Hagedorn, Johann Albert Heinrich Reimarus u. Johann Georg Büsch. Umfangreich war das Publikum, das R.s Gedichte erreichten. Zu den Subskribenten ihrer Werkausgabe zählten Bode, Eschenburg, Goeze, Eva König, Erdmann Neumeister, Hermann Samuel Reimarus, Joachim Johann Daniel Zimmermann u. Barthold Joachim Zinck. R.s – oft von Telemann vertonte – Singgedichte wurden zudem aufgeführt. Bis ins späte 18. Jh. hielt die Re-

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zeption R.s an u. wich erst mit dem Aufkommen des Begriffs einer dt. Nationalliteratur einer engeren Betrachtungsweise: Die polit. Implikationen seiner Öffentlichkeitswirkung wurden nicht mehr wahrgenommen, u. der zukunftweisende Charakter seines frühaufklärerisch-emanzipator. Eintretens für bürgerl. Gemeinsinn wurde nicht mehr verstanden, geschweige denn als literar. Leistung begriffen. So galt R. eine Zeitlang als achtenswerter Vorläufer u. spielte schließlich für die Literaturgeschichtsschreibung keine Rolle mehr. Mit dem seit den späten 1950er Jahren wiedererwachten Interesse am »Patrioten« u. dessen nachweisl. Einfluss auf die Entwicklung von Gesellschaft u. Literatur im deutschsprachigen Raum jedoch steht auch einer zeitgerechteren Würdigung R.s nichts mehr im Weg. Weitere Werke: Disputationum Hamburgensium undecima, de versionibus scripturae s. ante Lutheri translationem impressis. Präses: Johann Friedrich Mayer; Respondent: M. R. Hbg. ca. 1697, S. 106–120. – De Catharina Lutheri conjuge, dissertatio. Präs.: J. F. Mayer; Resp.: M. R. Hbg./Lpz. 1698. – 14 v. a. den Gebrauch der dt. Sprache betreffende Aufsätze in: Christian Friedrich Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Bd. 2, Hbg. 1723, S. 2–46; Bd. 3, 1726, S. 1–64; Bd. 4, 1732, S. 7–12 (jeweils erste Paginierung). Ausgaben: Neukirch, Tl. 3, S. 248–250; Tl. 7, S. 105 f. – Dt. Gedichte. 3 Bde., Hbg. 1764–66. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Bibliografien: Schröder (s. u.). – VD 17. – Weitere Titel: Johann Georg Büsch: Senem meritis maturum [...] Michaelem R. [...] publice luget ad funus ejus [...]. Hbg. 1761. – Gottfried Schütze: Vorrede zu M. R.: Dt. Gedichte. Bd. 2, Hbg. 1764, S. III-XLVIII. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller 6. Hbg. 1873, S. 262–272 (mit vollst. Werkverz.). – Rudolf A. T. Krause: M. R., der Verf. des ersten niederdt. Lexikons. In: Niedersachsen 10 (1905), S. 317–319. – Ders.: Die Teutsch-übende Gesellsch. in Hamburg. In: Niedersachsen 12 (1907), S. 186–188. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. J. Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 143–157. – J. Rathje: Zur hamburg. Gelehrtenrepublik im Zeitalter Matthesons. In: New Mattheson Studies. Hg. George J. Buelow u. a. Cambridge University Press 1983, S. 101–122. – Ders.: Gelehrtenschulen. Gelehrte, Gelehrtenzir-

Richle kel u. Hamburgs geistiges Leben im frühen 18. Jh. In: Hamburg im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Inge Stephan u. a. Hbg. 1989, S. 93–123. – Herbert Ernst Brekle: Systemlinguistik vs. linguist. Realismus in der Sprachgebrauchsdiskussion am Beispiel der Streitschr.en zwischen R. u. Fabricius (1726). In: History and Historiography of Linguistics. Hg. Hans-Josef Niederehe u. a. Amsterd. 1990, S. 483–492. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 956. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995, Register. – BBHS, Bd. 7, Tüb. 2001, S. 172–177. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig [...]. Tüb. 2002, Register. – Serenata ›Ihr rüstigen Wächter Hamburgischer Zinnen‹ Zum jährl. Freudenmahl des Kollegiums der Bürgerkapitäne 1755 v. M. R. u. Georg Philipp Telemann. Einf. v. J. Rathje. Reinb. 2004. – Jürgen Overhoff: Die Frühgesch. des Philanthropismus (1715–71) [...]. Tüb. 2004. – J. Rathje: ›Weil nur die Freyheit mir die Flügel rege macht‹. M. R.s Musikal. Gedichte. In: Telemanns Vokalmusik. Über Texte, Formen u. Werke. Hg. Adolf Nowak u. a. Hildesh. 2008, S. 85–102 (Lit.). – Jaumann Hdb. Jürgen Rathje / Red.

Richle, Urs, * 24.6.1965 Wattwil/Kt. St. Gallen. – Romanautor u. Medienkünstler. Nach Beendigung des Lehrerseminars studierte R. 1989–1993 ohne Abschluss an der FU Berlin Philosophie u. Soziologie. Seit 1993 lebt u. arbeitet er in Genf als freier Autor u., nach einem Diplom 2006, als Medieningenieur an der Université de Genève. Bereits in seinem literar. Debüt Das Loch in der Decke der Stube (Bln. 1992) bekundet R. ein Faible für das Krimigenre. Ein Mann flieht aus seiner Schweizer Heimat, weil er eines Mordes verdächtigt wird. Der Plot ist indes nur Vorwand für andersartige Recherchen, die nicht auf Aufklärung, sondern auf subtile Beobachtung u. die präzise Beschreibung sowohl der subjektiven Befindlichkeit wie der gesellschaftl. Zustände abzielen. Dieser Doppelung entspricht im Roman Mall oder Das Verschwinden der Berge (Bln. 1993) das Bergwerk Gonzen bei Sargans (Kt. St. Gallen) als Wunschort u. Heimat-Metapher. Bild um Bild gräbt sich die Geschichte in eine wahnhafte Kopfgeburt hinein, wo Realität u. Wahn implodieren.

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Mit dem Roman Der weiße Chauffeur (Ffm. 1996) erfüllt R. die Gesetze des Krimis auch formal. Stilistisch betont karg entführt er in ein raffiniertes Erzähllabyrinth voller Falltüren u. Sackgassen: Zwei Menschen erschaffen sich gemeinsam ein fiktives Alter Ego u. verlieren allmählich die Kontrolle über die eigene fantast. Schöpfung. Das Imaginäre unterwirft sich das Reale. Sein Sensorium für dramaturg. Effekte beweist R. auch in Hand im Spiel (Ffm. 1998), worin Genf als halbweltl. Tummelfeld von Diplomaten u. Schiebern erscheint – allerdings stark vom Zufall geführt. Neue Wege beschreitet R. danach in Fado Fantastico (Zürich 2001), der Geschichte eines portugies. Arbeiters, der seit Jahren ohne je aufzubegehren illegal in der Schweiz lebt. Die Begegnung mit dem von ihm getrennt lebenden Sohn führt jedoch ins Unglück. Der Roman erzählt die Geschichte mit einfühlsamer, melanchol. Gelassenheit, die am Ende offen lässt, ob sich tatsächlich alles so zugetragen hat, wie der Chronist es erzählt. Speziellen Raum innerhalb von R.s Werk nehmen die Hypertext-Projekte aus. Mit ihnen schlägt er eine Brücke zwischen Literatur u. neuen Medien u. erforscht so innovative Möglichkeiten des Erzählens. Weitere Werke: Die Verwesung. Stgt. 1992 (E.). – Das Loch in der Decke der Stube. Mchn. 1995. Urauff. Winterthur 1997 (D.). – Nancy Huston: Kontertanz. Basel 1996 (R., Übers. aus dem Frz.). – Dorado City. Martigny 1997 (E.). – Die Fischer. Dramolett. Urauff. Bern 1997 (D.). – JAMES CLEAN. Ein Szenario. In: Netz-Lesebuch. Hg. Alexander Simon. Ebnat-Kappel/Bln. 1998 (E.). – Olivier Chiacchiari: Miese Gesch. Lausanne 1999 (D., Übers. aus dem Frz.). – Die Epigonen. Drei Hörspieldramolette. DRS 2000. – Texte u. Collagen. In: NULL. Lit. im Netz. Hg. Thomas Hettche u. Jana Hensel. Köln 2000 (P.). – Serie 99. Bilder u. Collagen aus dem Jahr 1999. Genf 2000 (Ausstellung). – Narcissimo. Genf 2001 (Jugendbuch). – Natürlich fragen sich alle, was das bedeuten soll. In: Swiss Made. Junge Lit. aus der deutschsprachigen Schweiz. Hg. Reto Sorg u. Andreas Paschedag. Bln. 2001 (E.). – Donna, die Wohnung. In: Motte im Datenkleid. Schweizer Autorinnen u. Autoren schreiben Science (Non) Fiction-Gesch.n. Hg. Margrith Raguth. Wabern/Bern 2005 (E.). – Die Taser. In: Tatort Schweiz. 19 kriminelle Gesch.n.

613 Hg. Paul Ott. Zürich 2005 (E.). – Chat with Hector. http://hector.sagas.ch, 2006 (Webprojekt). – Radio: Sheherazade.ch, 2006 ff. (Webradio-Projekt). – Tod eines Bankiers. In: Tatort Schweiz 2. 23 kriminelle Gesch.n aus der viersprachigen Schweiz. Zürich 2007 (E.). – Tom & Géraldine. Interaktiver Textgenerator. http://www.sagas.ch, 2007 (Webprojekt). Literatur: Plinio Bachmann: Das Hirn, das sich selber frisst. In: Weltwoche, 25.11.1993. – Thomas Kraft: U. R. In: LGL. Beat Mazenauer

Richter, Christian Friedrich, * 5.10.1676 Sorau/Niederlausitz, † 5.10.1711 Halle/ Saale. – Arzt, Kirchenlieddichter.

Richter Gött. (auch Bln.) 1957, S. 222 f. – Eckhard Altmann: C. F. R. [...]. Witten 1972. – Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert: Innerlichkeit u. Vergeistigung im Kirchenlied v. Pietismus u. Rationalismus. In: Liturgie u. Dichtung [...]. Hg. Hans J. Becker u. Reiner Kaczynski. 2 Bde., St. Ottilien 1983, Bd. 1, S. 775–810. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1, Tüb. 1991, Register. – Gesch. Piet., Bd. 1 u. 4, Register. – Sigrid FilliesReuter: C. F. R. In: Bautz. – Steffen Arndal: Medizin. Anthropologie u. myst. Frömmigkeit. Zu den Liedern C. F. R.s. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1995, S. 883–892. – Fred Ehrman: Alchemical Images of Rebirth in Pietist Hymns. Overcoming the Duality of Heaven and Earth. In: CG 28 (1995), S. 219–243. – S. Arndal: Inspiration u. subjektive Erfahrung. Zum Begriff des ›Geist-reichen‹ bei Johann Anastasius Freylinghausen u. C. F. R. In: ›Geist-reicher‹ Gesang. Halle u. das pietist. Lied. Hg. Gudrun Busch u. a. Halle 1997, S. 157–170. – Pietismus u. Liedkultur. Hg. Wolfgang Miersemann u. a. Tüb. 2002, passim. – Jürgen Helm: C. F. R. ›Kurtzer und deutlicher Unterricht‹ (1705). Medizin. Programmschr. des Halleschen Pietismus? In: Die Geburt einer sanften Medizin [...]. Hg. Richard Toellner. Halle 2004, S. 25–37. – Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. 2 Bde., Tüb. 2005, Register.

R., Sohn eines Rats u. Kanzlers der Promnitzschen Grafen, studierte seit 1694 in Halle Theologie, später auch Medizin. 1697 stellte ihn Francke als Arzt an, was er nach kurzer Tätigkeit als Inspektor des Pädagogiums (Ende 1697 bis 1699) bis zu seinem Tod blieb. Er war auch für die »Medicamentenexpedition« verantwortlich u. entwickelte wirksame u. für Halle gewinnbringende Medikamente. Darüber berichtete er u. a. in Die höchst-nöthige Erkenntniß des Menschen (Halle 1710. 181791). Dietrich Meyer / Red. R. war zgl. einer der begabtesten Liederdichter des Halleschen Pietismus, dessen Lieder im Freylinghausenschen Gesangbuch Richter, Christoph Gottlieb, zahlreiche * 17.9.1717 Nürnberg, von 1704 u. 1714 erschienen. Sie wurden ge- Pseudonyme, † 23.9.1774 Nürnberg. – Erzähler; Publisammelt dem von seinem Bruder Christian zist. Sigismund postum herausgegebenen Werk Erbauliche Betrachtungen vom Ursprung und Adel Der Sohn eines Kaufmanns galt als »philosoder Seelen (Halle 1718) beigegeben. Noch heute phischer und witziger Kopf, ein guter Jurist«, werden Es glänzet der Christen inwendiges Leben aber von leichtsinnigem Charakter (Waldau u. Hüter, wird die Nacht der Sünden nicht ver- 1787, S. 138). R. verfasste Gelegenheitsgeschwinden? (EKG 265 u. 266) gesungen. dichte u. jurist. Abhandlungen, betätigte sich Weitere Werke: Aria so auf den Krönungs-Tag als Zeitungsschreiber u. Historiograf, schrieb [...] Friederichs, Königs in Preussen [...] musiciret Romane, Wochenschriften u. Satiren. 1735 worden. Halle [1701]. – Merckwürdige Exempel begann er ein Jura- u. Philosophiestudium in der unter dem Seegen Gottes durch die essentiam Altdorf, das er, nach kurzer Schuldhaft, in dulcem geschehenen Curen. Halle 1702. – Selectus Marburg u. a. bei Christian Wolff drei Jahre medicamentorum zu einer compendieusen Haußfortsetzte. Um 1740 kehrte er nach Nürnberg Reise- u. Feld-Apothecke. Halle 1702. – Kurtzer u. zurück. Ende 1743 erwarb er in Altdorf mit deutl. Unterricht v. dem Leibe [...]. Halle 1705. Nachdr. Lpz. 1984. Zürich 1985. – Nothwendiger einer Dissertatio inauguralis de probabilitate in Unterricht, wie man sich bey ietzt grassirenden argumentis quae profert denuncians rite determinanda (Inauguraldissertation über die vorSeuchen [...] curiren könne. Halle 1710. Literatur: ADB. – Koch 4, S. 354–363. – Le- schriftsmäßig zu bestimmende Wahrscheinbensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. lichkeit von Argumenten, die jemand vorzum EKG, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. trägt, der eine Anzeige macht) die Lehrbe-

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fugnis (Licentiat) für Jura (vgl. R.s romanhaft Fürth, wo er sich, wie die Rede zur Einsegnung angelegte Autobiografie Das Verhängnuß, der [...] des [...] Waisen- und Armen Schulhauses Meister in der Unordnung des Lebens. Uffenheim (1767) belegt, eine bürgerl. Existenz als Advokat aufbauen konnte. 1748). R.s Romane u. Wochenschriften zeigen Die politisch-historiograf. Publizistik bildet das Zentrum von R.s Werk. In Anlehnung wenig Originalität. Die auf das kaufmänn. an Sprache u. Darstellungsform der Ge- Publikum Nürnbergs ausgerichtete Wochenschichtserzählung im AT bereitete er Zeitge- schrift »Moralische Gedanken der Stillen im schichte für Ungebildete auf, wobei er sich Lande« (Ffm./Lpz. [Nürnb.] 1743) entspricht bewusst von pragmat. Geschichtsschreibung in Anlage u. Themen (Erziehung zu sozialem abgrenzte (z.B. Lebens- und Staats-Geschichte Der Verhalten in Umsetzung der Wolff’schen [...] Maria Theresia. Tl. 1, o. O. [Nürnb.] 1743. Philosophie u. Gesellschaftslehre) dem Typus 2. verb. Aufl. o. O. [Nürnb.] 1743. 3. verb. der Zeit. Der Roman Die Schwachheit des Aufl. Nürnb. 1745. 4. verb. Aufl. Nürnb. menschlichen Herzens (Ffm./Lpz. [Nürnb.] 1747; Tl. 2, o. O. [Nürnb.] 1744; Tle. 3–5, 1755. U. d. T. Der erkannte Einsiedler. Ffm./Lpz. Nürnb. 1745–47. Ein Rezensent im »Ham- [Nürnb.] 1765) ist repräsentativ für den Verburgischen unpartheyischen Corresponden- fall der auf abenteuerl. Liebesgeschichten reten«, Nr. 40, 1745, charakterisiert dies kom- duzierten Gattung in den 1750er Jahren. pilator. Werk, welches R. einen »historischen Weitere Werke: Die Kunst nach vielen erhalAuszug aus öffentlichen Nachrichten« nennt tenen Körben auf der Extra-Post glücklich zu he[2. Tl., Vorrede], als einen »Mischmasch«). yrathen. o. O. 1745 (R.). – Gespräche im Reich der Mit seinen aus Zeitungsnachrichten zusam- Todten. Nürnb. 1757–63. – Europa [...] nach seiner mengeschriebenen, wenige Bogen starken jetztigen kriegerischen Verfassung. Grossenhagen Chroniken im »jüdischen Styl« trat R. als 1758. 5 Suppl. 1760–64. – Histor. Bildersaal 12, 13 u. 15. Tl. Nürnb. 1762, 1763, 1773. Propagandist Österreichs auf (Helden-Lied über Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. die Königin von Ungarn und Ihre Gnade gegen die Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Juden von Löwle Kemmel. o. O. 1745. Die Bücher Literatur: Georg Ernst Waldau: Vermischte der Chronicka Friederichs [...]. Von den Kriegen [...] Beyträge zur Gesch. der Stadt Nürnberg. Tl. 2, wider Theresia [...] von Kemuel Saddi. o. O. 1744. Nürnb. 1787. – Hugo Friedrich: Abbé Prévost in Die Chronika des Krieges im Königreiche Boheim Dtschld. Heidelb. 1929. – Wolfgang Martens: Die [...] in jüdischem Styl [...] von Habacuc Rasael. Botschaft der Tugend. Stgt. 1968. – Ernst Weber u. Amsterd.[Nürnb.] 1757. Historie des Kriegs Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen zwischen Oesterreich und Preussen [...] von Simeon 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. Ben Jochai. [Nürnb.] 1758–63. Die Bücher SaloErnst Weber mo aus Mitternacht [...] von Ruben Berechja. Amsterd. 5707 [Nürnb. 1758 u. 1760]). R. war Richter, Egon, * 12.12.1932 Bansin/Useauch Mitarbeiter der »Erlanger Realzeitung« dom. – Erzähler, Verfasser von Reisebeu. der »Nürnbergischen Reichs-Postzeitung«. richten u. Bildbänden. In den 1740er Jahren praktizierte R. in Nürnberg, wurde aber nicht ins Kollegium R., Neffe von Hans Werner Richter, entder Advokaten aufgenommen. Seine Fäl- stammt einer linken Arbeiterfamilie. Nach schung einer Urkunde – R. veröffentlichte sie dem Abitur u. einem Volontariat bei der in seiner polit. Zeitung »Bemerkte Fälle der DDR-Nachrichtenagentur ADN studierte er Zeit« (Nürnb. 1745 ff.) – brachte ihn erneut Germanistik u. Pädagogik in Ostberlin u. arins Gefängnis. Das gespannte Verhältnis zu beitete danach als Journalist. Seit 1965 freier seiner Vaterstadt schlug sich in Satiren auf Schriftsteller, legte R. zahlreiche Werke vor, Nürnberg nieder (z.B. Historia von der Herberge die seine Herkunft vom Journalismus nicht der Königin Theresia. Nürnb. 1745). Da ihm in verleugnen, darunter auch Erlebnis- u. ReiNürnberg jede jurist. Tätigkeit untersagt sebücher wie Sehnsucht nach Sonne. Bilder und war, lebte R., nach einigen Jahren in Re- Geschichten vom Großen Fels bis zum Stillen Ozean gensburg, wohl ab 1755/56 zwölf Jahre in (Rostock 1972. 41977; über Sibirien), Eine

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Stadt und zehn Gesichter (Rostock 1976; über Szczecin) u. Im Lande der weißen Kamele (Rostock 1986. 21988; über Tuwa/Sowjetunion). Seine Erzählungen (Der Lügner und die Bombe. Rostock 1979. 41982) wie auch die Romane Zeugnis zu dritt (Rostock 1967. 61986) u. Abflug der Prinzessin (Rostock 1974. 21975) greifen gesellschaftlich brisante Fragen auf u. sondieren kritisch den DDR-Alltag. Die Erzählung Der Tod des alten Mannes (Rostock 1983. 2 1985) bietet anhand einer Lebensbilanz eine Rückschau auf neuralg. Punkte der dt., speziell auch der DDR-Geschichte. R. ist überdies Autor von Theaterstücken u. Verfasser eines histor. Romans, Die letzte Fahrt der Königin Luise (Bln./DDR 1988. 31990). Seit den 1990er Jahren veröffentlicht er Reiseführer u. Bildbände über seine Heimat, die Ostseeregion (Die Insel Usedom. Fotos v. Angelika Heim. Rostock 1991. 21992. Stralsund, Rügen. Fotos v. Hauke Dressler. Mchn. 1996. 2000), u. bemüht sich um die Bewahrung ihrer Sagentradition (Usedom. Sagen und Geschichten. Neu vorgestellt u. erzählt v. E. R. Schwerin 1992. 5 2000). R. lebt u. arbeitet in seinem Geburtsort Bansin auf Usedom. Weitere Werke: Ferien am Feuer. Rostock 1966. 2., veränderte Aufl. 1987. – Der goldene Schlüssel v. Mangaseja. Bln./DDR 1975 (Kinderbuch). – Mit Katzensprüngen ins Land der Fische. Bln./DDR 1985 (Kinderbuch). – Ahlbeck – Heringsdorf – Bansin: die Usedomer Kaiserbäder. Schwerin 1998. Literatur: Armin Roscher: Lit. des Veränderns. In: NDL, H. 5 (1970). Gunnar Müller-Waldeck / Red.

Richter, E(rich) A(lois), * 1.4.1941 Tulbing/Niederösterreich. – Erzähler, Lyriker, Roman-, Hörspiel- u. Drehbuchautor. R., Sohn einer Bäuerin u. eines Tischlers, besuchte die Fachschule für Wirtschaftswerbung in Wien, arbeitete dann in verschiedenen Berufen u. studierte 1963–1968 Germanistik u. Geschichte in Wien. Er war 1969–1974 u. 1978–1982 Gymnasiallehrer u. zwischen 1986 u. 2001 Lehrbeauftragter an einem Wiener Universitätsinstitut. Von 1986 bis 1998 trat R. unter dem Künstlernamen RICHTEX als »Bildner & Realisator« von In-

stallationen mit Malereien, skulpturalen Arbeiten, Fotoinstallationen u. Videoprojekten hervor. 1970–1995 war er Redaktionsmitgl. der Wiener Literaturzeitschrift »Wespennest«, 1972–1974 Herausgeber der literar. Zeitschrift »Aha«. R. lebt in Wien. Neben Hörspielen (Eingfahrn. 1978. Folgen eines Hörspiels. 1981. Die Liebe wird nie aufhören. Ein Verhörspiel. 1987; alle ORF) u. Drehbüchern für Fernsehfilme verfasste R. (zus. mit dem Regisseur Walter Bannert) das Drehbuch zum Kinofilm Die Erben (1982), der die Eingliederung zweier Jugendlicher aus unterschiedlichen gesellschaftl. Schichten in eine neofaschist. Jugendorganisation schildert. Seine von anschaul. Metaphern geprägte Lyrik (Friede den Männern. Salzb./Wien 1982) kreist um Erfahrungen des Einzelnen in seinem sozialen Umfeld u. um resignative Erinnerung an Vergangenes. Das Verhältnis Frau/Mann in seinen komplexen Gefühls- u. Bewusstseinsprozessen ist auch Thema des Romans Die Berliner Entscheidung (Salzb./Wien 1984): Die 1943 in einem frz. Lager geborene Jüdin Lena u. ihr um sechs Jahre jüngerer Freund Stefan, aufgewachsen im Wiederaufbau-Niederösterreich, reisen an Silvester nach Berlin, an den Ort ihres Kennenlernens. Der Aufenthalt im Osten der geteilten Stadt lässt Vergangenes u. Aktuelles, Persönliches u. Gesellschaftliches aufeinandertreffen – Lenas Verwandte führen das »andere« polit. System auf verschiedene Weise vor; die gemeinsame Vergangenheit Lenas u. ihres Onkels, ihrer Jugendliebe, bricht immer wieder in ihre Gegenwart ein; in Lenas Cousine verliebt, kommt Stefan Lenas Familie nur vermeintlich näher – u. bringt so die ambivalente Identität der Protagonisten als leidende Liebende ans Licht. Eurotunnel (mit Grafiken v. Waltraud Palme. o. O. [St. Pölten] 2005) enthält v. a. der brit. Hauptstadt London gewidmete Lyrik, beginnend mit dem Gedicht L in England aus dem Jahr 1968, das auf Briefe Georg Christoph Lichtenbergs anspielt, die dieser während seines zweiten England-Aufenthalts 1774/75 geschrieben hat. Nach zwei Abschnitten mit Gedichten, die in den Jahren 2000 u. 2001 verfasst wurden, erzählt das lyr. Ich im letzten, 1989 entstandenen Teil des

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Buches von Schuld u. Reue, der »Alltäglich- Richter, Falk, * 23.10.1969 Hamburg. – keit von Liebe Leidenschaft und Ehe« u. von Dramatiker u. Regisseur. Schmerz. Wie Das leere Kuvert (Weitra o. J. R. studierte Theaterregie sowie Linguistik u. [2002]) – nach Lösung der Bindung an die Region der Herkunft (Erinnerungen an die Philosophie in Hamburg u. wurde Ende der Kindheit u. Jugend in kräftigen Bildern) 1990er Jahre zunächst als innovativer Regiswerden in Gedichten über Paris neue Motive seur zeitgenössischer Texte bekannt. R.s u. Themen aufgenommen u. Reflexionen schriftstellerische Arbeiten sind aus diesem über Kunst möglich; von vergangener Liebe theaterprakt. Kontext zu verstehen: Sie weru. Trennungsschmerz geprägte Selbstbeob- den meist von ihm selbst uraufgeführt u. erachtung wird abgelöst durch Verheißung ei- halten ihren charakteristischen eingängignes »ichlosen Wonnegefühls«, eines »glück- alltagssprachl. Ton aus der Probenarbeit mit lichen Memento« –, versammelt Obachter den Schauspielern. R.s erste eigene Stücke, (Wien 2007) erzählende Lyrik als Orts- u. etwa die Trilogie Kult (Portrait. Image. Konzept. Zustandsbeschreibungen, erneut Erinnerun- Urauff. Hamburg 1994; Sektion. Urauff. gen an frühere Geliebte u. Auseinanderset- Hamburg 1995; Kult. Eine ultimative Show. zungen mit den Anfordernissen der Gegen- Urauff. Düsseldorf 1996) oder Nothing Hurts (Urauff. Utrecht 1999), das 2000 in R.s eigewart. In Fliege. Roman eines Augenblicks (Wien ner Regie zum Berliner Theatertreffen ein2010) erinnert sich der Erzähler in einem dem geladen wurde, trafen mit ihrer krit. SelbstZickzackflug einer Fliege ähnl. Prozess an bespiegelung des Medienschaffenden auf seine Eltern, an die durch Religion, Krieg u. Anhieb den Nerv des Publikums. Gott ist ein dörfl. Enge bestimmten Lebensverhältnisse, DJ (Urauff. Mainz 1999. Hörspielproduktion: an das Sterben des Vaters u. der Mutter, auch NDR 2000), das sich in polemischem Tonfall an das Sterben seines Onkels, mit dessen der Existenz zweier Künstler unter den BeTochter ihn erste erot. Erfahrungen in der dingungen umfassender massenmedialer BePubertät verbinden. Die Erinnerung, zu der obachtung widmet, ohne dabei aber das proauch die an die Familie seiner früheren Ehe- blematisch gewordene Subjekt auf der Bühne frau gehört – der mit der Hochzeit mit Karla völlig zu verabschieden, wurde international angestrebte Beginn eines »neuen Lebens«, aufgeführt u. reüssierte auch als Hörspiel, in verbunden mit einer »tiefgreifenden Abna- dem R. selbst eine der Hauptrollen spricht. belung« von der Herkunft, scheiterte, nicht Seitdem präsentiert sich R. als Teil einer euzuletzt am Schwiegervater – wird immer rop. »Neuen Welle« im Theater, deren andere wieder kontrastiert mit der »fortschreiten- Vertreter (Ravenhill, Kane, Churchill) er de[n] Gegenwart«, dem Alltag des Lebens ei- übersetzt u. (u. a. am Schauspielhaus Zürich nes Schriftstellers in einer Stadtrandsiedlung u. an der Schaubühne Berlin) inszeniert. In u. der abwechslungsreichen Beziehung zu seinen neueren Arbeiten wie PEACE (Urauff. zwei Frauen, einer Kulturjournalistin u. einer Berlin 2000) entwickelt R. seine Medienkritik Stadtarchäologin. anhand von polit. Ereignissen wie dem Weitere Werke: Jetzt bist aufgwocht. Heidelb. zweiten Irakkrieg. Um dem Anspruch eines 1973 (Dialektgedichte). – Im Büro kannst a vom solchen engagierten Theaters nach Aktualität Sessel falln ... ORF 1979 (Drehb.; Regie: Lukas u. formaler Offenheit nachzukommen, expeStepanik). – Kein Cognac zum Abschied. ORF 1985 rimentierte er mit einer modularen Auffüh(Drehb.; Regie: Tamas Ujlaki). – Mein Amazonas. rungspraxis, die über einen längeren ZeitORF 1988 (Drehb. zus. mit Susanne Zanke; Regie: raum hinweg zu einer vielschichtigeren Form S. Zanke). – Das ganze Leben. Neunundvierzig Beder Analyse kommen soll (Das System. Urauff. wohner eines Landes namens Österr. Im Gespräch Berlin 2004). mit E. A. R. Wien 1996. Bruno Jahn

Weitere Werke: Theaterstücke /Hörspiele: Alles. In einer Nacht. Urauff. Hamburg 1996. – Saturn Returnz. Ein Klangtagebuch. Hörspielproduktion: DLR Berlin 2000. – Electronic City. Urauff. Bochum

617 2003. – Sieben Sekunden (In God We Trust). Urauff. Zürich 2003. – Krieg der Bilder. Hörspielproduktion: DLR Berlin 2003. – Die Verstörung. Urauff. Berlin 2005. – Verletzte Jugend. Hörspielproduktion: RB 2006. – Eine kurze Verstörung. Hörspielproduktion: RB 2006. – Im Ausnahmezustand. Urauff. Berlin 2007. – Materialien: Das System. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu ›Unter Eis‹. Hg. Anja Dürrschmidt. Bln. 2004. Literatur: Anja Dürrschmidt: F. R. Zwischen Kammerspiel u. Multimedia. In: Werk-Stück. Regisseure im Porträt. Hg. dies. u. Barbara Engelhardt. Bln. 2003, S. 138–143. – Ulrich Seidler: Du sollst Dir keinen Begriff machen. Zu F. R. In: StückWerk 3. Arbeitsbuch. Hg. Christel Weiler u. Harald Müller. Bln. 2001, S. 121–123. Jan Behrs

Richter, Hans Werner, * 12.11.1908 Neu Sallenthin/Usedom, † 23.3.1993 München. – Romanautor, Erzähler, Verfasser von Hörspielen u. Kinderbüchern. Der Sohn eines Fischers wuchs seit 1910 in Bansin auf, machte 1924–1927 eine Buchhandelslehre in Swinemünde, arbeitete 1927–1933 mit Unterbrechungen als Buchhandelsgehilfe in Berlin u. betrieb danach vorübergehend eine kleine Leihbibliothek. 1930 trat er in die KPD ein, aus der er 1932 wegen »Trotzkismus« ausgeschlossen wurde, wandte sich dann der Sozialistischen Arbeiterpartei zu u. näherte sich 1933 wieder der KPD an. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris zunächst wieder im Buchhandel tätig, arbeitete er 1937–1939 bei verschiedenen Verlagen. 1940 zur Wehrmacht eingezogen, geriet er 1943 bei Monte Cassino in amerikan. Kriegsgefangenschaft. R. wurde in das Camp Ellis (Illinois) eingewiesen; 1944/45 gehörte er zur Redaktion der Zeitschrift »Lagerstimme«, deren verantwortl. Herausgeber er seit Mai 1945 war. Im Herbst desselben Jahres kam er nach Fort Kearney (Rhode Island), wo er an »Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA« (Faks.-Ausg. Mchn. u. a. 1986) mitwirkte. 1946 nach Deutschland entlassen, arbeitete R. seit der ersten Nummer an der zunächst von Alfred Andersch allein herausgegebenen Zeitschrift »Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation« (Nachdr. Nendeln 1975. Auswahlausg.n: Hg. Hans Schwab-Fe-

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lisch. Mchn. 1962. Hg. Hans A. Neunzig. Mchn. 1976) in München redaktionell mit u. war ab der vierten Nummer bis April 1947 Mitherausgeber. Wegen seiner polit. Orientierung wurde der »Ruf« von der amerikan. Besatzungsmacht verboten. Um das erste Heft einer neuen Zeitschrift vorzubereiten, die dann u. d. T. »Der Skorpion« über eine Nullnummer im Jan. 1948 jedoch nicht hinauskam, lud R. im Sept. 1947 zu einem Treffen von 16 ehemaligen »Ruf«-Mitarbeitern im Haus Ilse Schneider-Lengyels am Bannwaldsee bei Füssen ein, das als erste Tagung der dann so genannten Gruppe 47 gilt. R. war zentrale Instanz der Gruppe u. Koordinator ihrer Tagungen, zu denen er bis 1967 ein- bis zweimal jährlich einlud. Die von ihm 1952 als publizist. Plattform der Gruppe gegründete Zeitschrift »Die Literatur. Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne« wurde im selben Jahr nach 16 Ausgaben aus finanziellen Gründen eingestellt. Den Treffen der Gruppe 47, die sich zum damals wichtigsten literar. Forum der Bundesrepublik entwickelte, schlossen sich bald Verleger, Lektoren u. Kritiker an. Nach den Jubiläen 1972 u. 1977 (»Begräbnistagung«) fand ein allerletztes Treffen im Mai 1990 (»das letzte Aufgebot«) auf Schloss Dobrˇísˇ bei Prag statt, dem ursprünglich für Anfang Okt. 1968 geplanten Tagungsort. Von einigen Gruppenmitgliedern, darunter Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Günter Grass (s. Das Treffen in Telgte, 1979), Uwe Johnson u. Peter Weiss, erzählt R. in der Porträtsammlung Im Etablissement der Schmetterlinge (Mchn./Wien 1986. Neuausg. Bln. 2004). R. war Mitgründer des Grünwalder Kreises (1956), der eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus u. restaurativen Tendenzen forderte, Gründer des Komitees gegen Atomrüstung (1958) u. Präsident der Europäischen Föderation gegen Atomrüstung (1959). 1961 unterstützte er mit Grass u. anderen Autoren den Wahlkampf Willy Brandts; 1965 wurde das »Wahlkontor deutscher Schriftsteller« eingerichtet. Den Austausch zwischen Literatur u. Politik (»Geist und Macht«) förderte R. auch mit dem 1964 gegründeten »Literarischen Salon«. Im selben Jahr gab er eine

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Auswahl der Schriften u. Reden Walther Rathenaus (Ffm. Neuausg. 1986) heraus. Nach ersten literar. Versuchen in den 1930er Jahren – vorwiegend Kurzgeschichten, die von Berliner Zeitungen angenommen worden waren – veröffentlichte R. in der Kriegsgefangenschaft auch Gedichte. Das in der Tradition des Realismus stehende literar. Werk R.s, für dessen Form er selbst den Begriff des »magischen Realismus« wählte, war als »Schreiben gegen die verstreichende Zeit« von Krieg u. Nachkriegszeit bestimmt. Das »Magische« dieser realist. Ausdrucksweise bezog sich v. a. auf die innere Erlebniswelt des Menschen (»Die Aufgabe der neuen Literatur wird sein, in der unmittelbaren Aussage dennoch [...] hinter der Realität das Irrationale, hinter dem großen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß die Wandlung des Menschen sichtbar werden zu lassen«, Literatur im Interregnum. In: Der Ruf, 15.3.1947). Seine Erfahrungen während des Kampfes um Monte Cassino u. der Kriegsgefangenschaft in den USA verarbeitete R. in dem Roman Die Geschlagenen (Mchn. 1949. Neuausg. Mchn. 1978). Zu seinen historisch-biogr. Bezüge aufweisenden Romanen zählen ferner Sie fielen aus Gottes Hand (Mchn. 1951. Neuausg. Mchn. 1976), eine Montage der Lebensgeschichten von Tätern u. Opfern unterschiedlicher nationaler u. sozialer Herkunft zwischen 1939 u. 1950, Spuren im Sand (Mchn. u. a. 1953. Neuausg.n Mchn. 1977. Gött. 2004), eine Beschreibung seiner Kindheit u. Jugend, Du sollst nicht töten (Mchn. u. a. 1956. Neuaufl. Ffm. u. a. 1980), eine Schilderung des Zerfalls der sozialen u. sittl. Ordnung im Krieg am Beispiel einer Familie, u. Linus Fleck oder Der Verlust der Würde (Mchn. u. a. 1959. Neuausg. Mchn. 1978), eine »Satire« auf den westdt. Kulturbetrieb der unmittelbaren Nachkriegszeit. R.s Spätwerk, darunter der zarte Liebesroman Die Flucht nach Abanon (Mchn. 1980) u. der Roman Ein Julitag (Mchn. 1982. Neuausg. Bln. 2006), in dem sich eine Frau u. ein Mann an ihre gemeinsame Jugendzeit in Deutschland u. Frankreich in den 1930er Jahren erinnern, zeichnet sich im Vergleich mit dem Frühwerk durch sparsamere Figurencharakteristik aus. 1974 erschienen Briefe an einen jungen Sozialisten (Hbg.

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Neuausg. u. d. T. Von Erfahrungen und Utopien. Ffm. 1981. Erfahrungen mit Utopien. Mchn. 1990), in denen R. für einen »demokratischen Sozialismus« plädiert, 1989 »Lebensgeschichten« u. d. T. Reisen durch meine Zeit (Mchn./Wien). R. veröffentlichte auch Reisebeschreibungen u. Kinderbücher, arbeitete als Autor von Features u. Hörspielen für den Rundfunk u. gab Anthologien heraus, darunter Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener (Mchn. 1947). R. wurde u. a. mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin (1951, zus. mit Gerd Gaiser), dem (nur einmal verliehenen) René-SchickelePreis (1952), dem Kulturpreis des Deutschen Gewerkschaftsbundes (1972), dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1986), deren Mitgl. er seit 1974 war, u. dem Andreas-Gryphius-Preis (1986) ausgezeichnet; er gehörte auch der Akademie der Künste Berlin an. Weitere Werke: Pipapo. Die Gesch. eines Hörsp.s. NWDR 1955. – Almanach der Gruppe 47. 1947–62. Hg. in Zusammenarbeit mit Walter Mannzen. Reinb. 1962. 31964. – Wer will einen Esel? Bilder v. Traudl Weidinger. Mchn. 1962. Mchn. 1978. (Kinderbuch). – Menschen in freundl. Umgebung. Sechs Satiren. Bln. 1965. – Karl Marx in Samarkand. Eine Reise an die Grenzen Chinas. Fotos v. Antonie Richter. Neuwied/Bln. 1967. – Blinder Alarm. Gesch.n aus Bansin. Ffm. 1970. Neuausg. u. d. T. Gesch.n aus Bansin. Mchn. 1982. – Dtschld., deine Pommern. Wahrheiten, Lügen u. schlitzohriges Gerede. Hbg. 1970. 31974. 4., leicht gekürzte Aufl. Rostock 2008. – Rose weiß, Rose rot. Hbg. 1971. Überarb. Neuausg. Darmst./Neuwied 1981 (R.). – Kinderfarm, Ponyhof. Mchn. 1976 (Kinderbuch). – Wie entstand u. was war die Gruppe 47? In: H. W. R. u. die Gruppe 47. Hg. Hans A. Neunzig. Mchn. 1979. Neuausg. Mchn. 2007, S. 41–176. – Bärbel Hoppsala. Mchn. 1979 (Kinderbuch). – Die Stunde der falschen Triumphe. Mchn. 1983. Neuausg. Bamberg 1999 (R.). – Briefe. Hg. Sabine Cofalla. Mchn. 1997. Literatur: Friedhelm Kröll: Die ›Gruppe 47‹. Soziale Lage u. gesellschaftl. Bewußtsein literar. Intelligenz in der Bundesrepublik. Stgt. 1977. – Jérôme Vaillant: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945–49). Eine Ztschr. zwischen Illusion u. Anpassung. Mchn. u. a. 1978. – Merle Krueger: Der ›Dritte Weg‹ der ›jungen Generation‹: H. W. R. u. der ›Der Ruf‹. In: Nachkriegslit. in Westdtschld. Bd. 2. Hg. Jost Hermand,

619 Helmut Peitsch u. Klaus R. Scherpe. Bln. 1983, S. 28–40. – Erich Embacher: H. W. R. Zum literar. Werk u. zum politisch-publizist. Wirken eines engagierten dt. Schriftstellers. Ffm. u. a. 1985. – Dichter u. Richter. Die Gruppe 47 u. die dt. Nachkriegslit. Ausstellungskat., Akademie der Künste. Bearb. v. Jürgen Schutte. Bln. 1988. – Walter Schmitz: H. W. R. In: KLG. – Justus Fetscher, Eberhard Lämmert u. J. Schutte (Hg.): Die Gruppe 47 in der Gesch. der Bundesrepublik. Würzb. 1991. – Artur Nickel: H. W. R. Ziehvater der Gruppe 47. Eine Analyse im Spiegel ausgew. Zeitungs- u. Zeitschriftenartikel. Stgt. 1994. – Sabine Cofalla: Der ›soziale Sinn‹ H. W. R.s. Zur Korrespondenz des Leiters der Gruppe 47. Bln. 1997, 2., überarb. Aufl. Bln. 1998. – Franz Futterknecht: Nachkriegspositionen des ästhet. Bewußtseins. H. W. R.: ›Die Geschlagenen‹ (1949) u. ›Sie fielen aus Gottes Hand‹ (1951). In: Von Böll bis Buchheim: Dt. Kriegsprosa nach 1945. Hg. Hans Wagener. Amsterd./Atlanta 1997, S. 111–131. – S. Cofalla: H. W. R. – Anmerkungen zum Habitus u. zur sozialen Rolle des Leiters der Gruppe 47. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. Stephan Braese. Bln. 1999, S. 65–85. – Stuart Parkes u. John J. White (Hg.): The Gruppe 47. Fifty Years on a Reappraisal of its Literary and Poltical Significance. Amsterd./Atlanta 1999. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Die Gruppe 47. Ein krit. Grundriß. 3., gründlich überarb. Aufl. Mchn. 2004 (Text + Kritik, Sonderbd.). – Ders.: Die Gruppe 47. Reinb. 2004. – . Sebastian Mrozek: H. W. R. Zum Prosawerk eines verkannten Schriftstellers. Ffm. 2005. – Dominik Geppert: Von der Staatsskepsis zum parteipolit. Engagement. H. W. R., die Gruppe 47 u. die dt. Politik. In: Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–80. Hg. ders. u. Jens Hacke. Gött. 2008, S. 46–68. Bruno Jahn

Richter, Helmut, * 30.11.1933 Freudenthal (Bruntál/Tschechische Republik). – Erzähler, Lyriker, Verfasser von Reportagen, Hör-, Fernsehspielen u. Theaterstücken. Der Arbeitersohn kam als Elfjähriger nach Sachsen u. lebt seit 1950 in Leipzig. Nach Maschinenschlosserlehre, Besuch der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) u. Physikstudium arbeitete er bis 1961 als Prüfingenieur. Erste Gedichte ebneten ihm den Weg zum Studium am Johannes-R.-Becher-Literaturinstitut (1961–1964). Danach war er freier Schriftsteller u. Dozent am Literaturinstitut.

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1989 wurde er dort Professor, 1990 von der letzten SED/PDS-Regierung zum Leiter dieses Instituts berufen. Charakteristisch für R. ist die routinierte Nutzung der verschiedensten Gattungen u. Genres u. eine vielfältige Nebentätigkeit als Kulturfunktionär. Im Mittelpunkt seiner sprachlich wenig originellen Texte steht die Auseinandersetzung mit dem Alltag im sächs. Industrierevier. Aus seinen Erlebnissen beim Bau des Großkraftwerks Thierbach (bei Espenhain südlich von Leipzig) entstand die Reportage Schnee auf dem Schornstein (Halle 1969), die durchaus realistisch die konfliktreichen Beziehungen zwischen den Arbeitern beschreibt u. deshalb – wie Werner Bräunigs Romanfragment Rummelplatz (1965) – lange verboten war; ökologische Fragen treten indes zurück hinter naivem Technikoptimismus. Auch eine später überarbeitete Fassung (in: Über sieben Brücken mußt du gehn. Literarische Landschaften. Halle 1983) ist geprägt von dieser Haltung: Umweltprobleme sind entweder vom »Klassenfeind« verursacht oder Erblast der NS-Zeit. Der Roman Scheidungsprozeß (Halle 1971) thematisiert Fragen der Frauenemanzipation. Handlung u. Konfliktgestaltung bleiben durchsichtig u. werden häufig ersetzt durch Debatten u. Reflexionen der Figuren. Erfolgreicher als seine Texte waren die nach R.s Szenarien gedrehten Fernsehfilme (Scheidungsprozeß. 1973. Das Herz der Dinge. 1977. Über sieben Brücken mußt du gehn. 1978), v. a. aber der Titelsong des letztgenannten Films. 1982 gründete er die Kulturzeitschrift »Leipziger Blätter«. Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes u. der dt. Einigung legte er autobiogr. Texte vor (Wiedersehen nach Jahr und Tag. Lpz. 1998) sowie Gedichte, die die Ungerechtigkeiten der kapitalist. Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung kritisch beurteilen u. der Hoffnung auf ein Weiterwirken sozialistischer Ideale Ausdruck geben. Weitere Werke: Keine Zeit für Liebe. Halle 1967 (L.). – Mein anderes Land. Zwei Reisen nach Vietnam (zus. mit Rolf Floß). Halle 1970 (Reportage). – Schornsteinbauer. 1973 (Hörsp.). – Kommst du mit nach Madras? 1974 (Kom.). – Der Schlüssel zur Welt. Halle 1975 (E.en). – Was soll nun werden,

Richter wenn ich nicht mehr bin. Hundert Gedichte. Lpz. 2008. Hannes Krauss / David Clarke

Richter, Jeremias (Benjamin), * 10.3.1762 Hirschberg/Schlesien, † 4.5.1807 Berlin. – Chemiker.

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metrie [...] (3 Bde., Breslau u. a. 1792/93. Neudr. Hildesh. 1968). Die Erkenntnisse R.s gingen erst nach Anerkennung der Atomtheorie Daltons in die Chemie ein, obwohl sie unabhängig von der Atomhypothese sind. Da R. die Gewichte nicht auf eine Grundeinheit bezog, waren die Verhältnisse auch nicht ohne Weiteres einsichtig. Der wenig klare Stil, die terminolog. Unsicherheiten R.s u. die Zugrundelegung der (modifizierten) Phlogistontheorie trugen dazu bei, dass sein Werk selten rezipiert wurde, bis es Germain Henri Hess 1841 wiederentdeckte.

Nach dem Besuch des Gymnasiums seiner Heimatstadt trat R. 1778 in das preuß. Ingenieurcorps ein u. widmete sich im Selbststudium der Chemie. 1785 studierte er in Königsberg Mathematik u. Philosophie (u. a. bei Kant). 1789 erwarb er mit der Dissertation De usu matheseos in chymia den Doktorgrad u. arbeitete dann als Landmesser in Ober-GroßLiteratur: Germain Henri Hess: Über J. B. R.s Tschirnau, wo er sich ein kleines chem. Labor Arbeiten. In: Journal für prakt. Chemie 24 (1841), einrichtete. Seinen Lebensunterhalt verdiente S. 420–438. – Wilhelm Ostwald: J. B. R. In: Das er in der Folge als Gutachter, Übersetzer Buch der großen Chemiker. Hg. Günther Bugge. 6 chem. Literatur u. als Instrumentenbauer. Bd. 1, Weinheim 1984, S. 369–377. – Walter Herz: J. B. R. In: Schlesier des 16. bis 19. Jh. Breslau 1931. 1794 wurde er Bergsekretär u. 1796 BergNeudr. 1985, S. 235–240. – Stefan Büttner: R. In: probierer beim Oberbergamt Breslau, 1798 NDB. Fritz Krafft »zweiter Arcanist« (Chemiker) am Farblaboratorium der kgl. Porzellanfabrik u. 1800 zgl. Assessor bei der Bergwerks- u. Hüttenadmi- Richter, Johann Paul Friedrich ! Jean nistration in Berlin. Paul Hatte Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) die CheRichter, Joseph, auch: Obermayr, Eipelmie noch als bloße »Kunst« bezeichnet, da ihr dauer, * 16.3.1749 Wien, † 16.6.1813 die metaphys. Prinzipien u. mathemat. Wien. – Journalist, Verfasser von GedichStrukturen »rationaler« (d.h. exakter) Naten, Theaterstücken u. Romanen. turwissenschaften fehlten, so hatte sich R. schon in seiner Dissertation zum Ziel gesetzt, Nach dem Besuch des Gymnasiums u. dem demgegenüber die exakt proportionale Ge- Studium der Philosophie wandte sich der wichtszusammensetzung chem. Verbindun- Sohn eines Geschirrhändlers dem Wechselgen aufzuweisen. Auf dem Titelblatt des geschäft zu, das er später aber aufgab, um vierten (1795) der elf von ihm herausge- sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. brachten Hefte Ueber die neueren Gegenstände 1775 veröffentlichte er zus. mit Joseph Rader Chemie (Breslau 1792–1802) berief er sich ditschnigg von Lerchenfeld sein erstes Buch, deshalb – wie zu Beginn der Neuzeit ein Ga- die Gedichte zweyer Freunde (Wien). Die zahllilei oder Kepler für die Physik – auf Weish reichen in den folgenden Jahren publizierten 11,20, wonach Gott alles nach Maß, Zahl u. Lustspiele, Sittenstücke u. Travestien, RoGewicht eingerichtet habe. Durch eine große mane, Gedichte, Broschüren u. Flugschriften Zahl gewichtsanalyt. Bestimmungen wies er sind unterhaltsame, moralisierende oder saauf, dass Säuren u. Basen derartige feste Ver- tir. Gelegenheitsarbeiten ohne höheren litebindungsgewichte besitzen, u. stellte ent- rar. Anspruch. Popularität u. beträchtl. Einsprechende Neutralitätsreihen auf, mit deren nahmen verschaffte ihm das von ihm herHilfe sich ihre Zusammensetzung berechnen ausgegebene ABC-Buch für große Kinder (2 Bde., lasse. Er definierte diese Theorie als »Meß- Wien 1782. Neudr. Bln. 1952; Ausw.), das kunst chymischer Elemente« u. nannte sie aktuelle gesellschaftl. Missstände vom »Stöchiometrie«. In systemat. Form behan- Standpunkt der Aufklärung aus karikiert. delte er sie in den Anfangsgründen der Stöchyo- Seine krit. Einstellung zu Staat u. Kirche zeigt

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sich bes. in seinen Pamphleten, in denen er z.B. abergläub. Religionspraktiken verurteilte (Bildergalerie katholischer Misbräuche. Von Obermayr. Ffm./Lpz. 1784. Neudr. hg. v. Otto Maußer. Mchn. 1913) oder der Unzufriedenheit der Beamtenschaft mit den josephin. Reformen Ausdruck verlieh (Warum wird Kaiser Joseph von seinem Volke nicht geliebt? Wien 1787; an. Neudr. in: Literatur der Aufklärung 1765–1800. Hg. Edith Rosenstrauch-Königsberg. Bln./DDR 1988, S. 69–81). Ein bedeutsames kulturgeschichtl. Dokument ist R.s wirkungsmächtige Zeitschrift »Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran, über d’Wienstadt« (37 H.e, Wien 1785–97), fortgesetzt u. d. T. »Der wiederaufgelebte Eipeldauer« (24 H.e, Wien 1799–1801) u. »Briefe des jungen Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran« (133 H.e, Wien 1802–13). Die locker gefügte Fabel variiert ein Motiv, das sich seit Montesquieus Lettres persanes (1721) in der europ. Literatur großer Beliebtheit erfreute: die satir. Schilderung der eigenen Sitten u. Gebräuche aus der Perspektive eines Reisenden fremder Kultur. Der Erzähler ist ein einfältiger, aus dem Dorf Eipeldau stammender Bauernjunge, der zunächst wegen des Faschings, dann wegen eines Prozesses nach Wien kommt, Gefallen am städt. Leben findet u. durch die Heirat mit dem Stubenmädchen eines einflussreichen Hofrats das Amt eines Kanzleibeamten erringt, das ihm ein gutes Auskommen u. viel Muße sichert. So ist er in die Lage versetzt, ausgiebige Betrachtungen über private, lokale u. weltgeschichtl. Vorkommnisse u. Ereignisse anzustellen. Ob es sich dabei um die ehel. Untreue seiner Frau, den Schauspielbesuch – wobei der Berichterstatter immer wieder gegen Kotzebue polemisiert – oder die Jakobinerverfolgung handelt, stets wird das Geschehen mit Witz, Humor u. Ironie u. in stilisierter Mundart glossiert. Im Laufe der Jahre machte die Zeitschrift mehrere Veränderungen durch. 1802 übergibt der Eipeldauer seinem Sohn das Wort. In den letzten Jahrgängen verliert die Rahmenhandlung zunehmend an Bedeutung. Auch die polit. Tendenz wandelte sich. Als Reaktion auf die jakobin. Schreckensherrschaft u. die napoleonische Expansionspolitik trat an

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die Stelle einer eher aufklärerischen, weltläufigen eine konservative, patriot. Haltung, sodass der Kaiser R. regelmäßige Unterstützung aus »geheimen Polizeygeldern« (Pisk, S. 38) gewährte. Der Anklang, den das Periodikum beim breiten Publikum fand, veranlasste nicht nur R., sondern auch andere zeitgenöss. Schriftsteller, Einfälle aus dem »Eipeldauer« fortzuspinnen u. literarisch weiterzuverwerten. Die Hauptfigur brachte als Erster Ferdinand Eberl auf die Bretter des Wiener Volkstheaters, später verwendeten auch Joseph Alois Gleich, Adolf Bäuerle u. Louis Angely in ihren Possen Motive aus der Fabel. 1812–1819 wurde die Zeitschrift von Franz Karl Gewey, 1819–1821 von Bäuerle weitergeführt. Weitere Werke: Reise v. Wien nach Paris [...]. Wien 1781 (an.). – Bildergalerie klösterl. Misbräuche [...]. Von Obermayr. Ffm./Lpz. 1784. Neudr. hg. v. Otto Maußer. Mchn. 1913. – Bildergalerie weltl. Misbräuche [...]. Von Pater Hilarion. Ffm. 1785. – Die Frau Lisel u. die Schöne Nanette [...]. Wien 1786. 21795 (R.; an.). – Leben Friedrichs des Zweiten, Königs v. Preußen [...]. 4 Bde., Amsterd. 1789. 21789 (satir. Biogr.; an.). – Slg. der Theaterstücke. Wien 1792. – Sämmtl. Schr.en. 8 Bde., Wien 1809. 12 Bde., 1813. – Die Eipeldauer Briefe. Ausw. besorgt v. Eugen v. Paunel. 2 Bde., Mchn. 1917/18 (mit Registern v. Gustav Gugitz). – Die travestierte Alceste. In: Alkestis. Hg. Joachim Schondorff. Mchn./Wien 1969, S. 177–220 (Singspiel). – Briefe eines Eipeldauers über d’Wienstadt [...] (1785–1813). Ausgew. u. mit einem Nachw. v. Ludwig Plakolb. Mchn. 1970. Literatur: Hamberger/Meusel. – Wurzbach 26. – Goedeke 5, S. 318 f.; 6, S. 531; 11,2, S. 353–355, 476. – Hans Viktor Pisk: J. R. Versuch einer Biogr. u. Bibliogr. Diss. Wien 1926. – Gertrude Wild: J. R., der Verfasser der Eipeldauerbriefe als Dramatiker. Diss. Wien 1935. – Theodor Stöhr: Die Sprache in den Eipeldauerbriefen J. R.s [...]. Diss. Wien 1956. – Edith Rosenstrauch-Königsberg: Jakobin. u. präjakobin. Lit. in der Habsburger Monarchie. In: Wiss. Ztschr. der Karl-Marx-Univ. Leipzig. Gesellschafts- u. Sprachwiss. Reihe 32 (1983), S. 549–562. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österr. Aufklärung, 1781–95. Wien 1995. – Franz Kohlschein: Brauchtum in der Satire der Aufklärung: Zur ›Bildergalerie katholischer Mißbräuche‹ v. J. R. In: Österr. Zeitschrift für Volkskunde 55 (2001), S. 425–443. – Jeanne Benay: Ein früher, maskierter Eipeldauer. Josef R.s ›Der Spaßvogel‹

Richter (1778). Österr. Karnevalspresse im 18. Jh. In: La volonté de comprendre. Hg. Maurice Godé u. a. Bern u. a. 2005, S. 125–144. Peter Langemeyer

Richter, Jutta, * 30.9.1955 Burgsteinfurt/ Westfalen. – Kinder- u. Jugendbuchautorin.

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2000), erhielt R. den Deutschen Jugendliteraturpreis. Erzählt wird aus der Perspektive einer kindl. Ich-Erzählerin, die einen wirkl. Freund findet u. diesen dann auf Druck der Erwachsenen verrät. Hechtsommer (Mchn./ Wien 2004) ist eine aus dem Rückblick erzählte Geschichte über die Freundschaft zwischen Daniel, Lukas u. Anna. Die Kinder müssen erfahren, wie die Krebserkrankung von Gisela, der Mutter der Brüder, alles verändert. R. hat daneben zahlreiche Hörspiele, Kindertheaterstücke u. Lieder geschrieben. Bes. erfolgreich war das gemeinsam mit Konstantin Wecker produzierte Kinderbuch Es lebte ein Kind auf den Bäumen (Mchn./Wien 1999). Neben dem Deutschen Jugendliteraturpreis wurde R. mit weiteren Preisen ausgezeichnet (u. a. Luchs des Jahres, Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis, Premio Andersen, Hermann-Hesse-Stipendium).

R. wuchs im Ruhrgebiet u. im Sauerland auf. Mit 15 Jahren ging sie als Austauschschülerin für ein Jahr nach Detroit (USA). Dort führte sie eine Art Tagebuch. Mit der überarbeiteten Fassung Popcorn und Sternenbanner. Tagebuch einer Austauschschülerin (Freib. i. Br.) hatte sie 1975 ihr literar. Debüt. Nach dem Abitur studierte R. Katholische Theologie, Germanistik u. Publizistik in Münster. Seit 1978 ist sie freiberufl. Autorin u. lebt auf Schloss Westerwinkel in Ascheberg sowie in Lucca/ Toskana. R. schreibt v. a. Kinder- u. Jugendromane, die die Grenze zwischen Kinder- u. ErwachWeitere Werke: Die Puppenmütter. Modautalsenenliteratur überschreiten. Die ersten Tex- Neunkirchen 1980. – Gib mir einen Kuß, Frau te, etwa bis zu Die heilste Welt der Welt. Ein Jahr Nuß! Hbg. 1984. – Prinz Neumann oder Andere im Leben der Familie Feuerstein (Reinb. 1984), Kinder heißen wie ihr Vater. Weinheim/Basel 1987. sind stark autobiografisch geprägt. In diesem – Annabella Klimperauge. Gesch.n aus dem KinSinne sind für R. Geschichten »verkleidete derzimmer. Mchn. 1989. – Hexenwald u. Zaubersocken. Hbg. 1993. – Verlass mich nicht zur KirWirklichkeit«. Im Zentrum ihrer Texte steschenzeit. Liebesgedichte. Mchn./Wien 2000. – hen oftmals kindliche u. jugendl. Außensei- Hinter dem Bahnhof liegt das Meer. Mchn./Wien ter, es geht um die Frage, was mit Kindern 2001. – Sommer u. Bär. Eine Liebesgesch. Mchn./ passiert, wann u. auf welche Weise sie sich in Wien 2006. – Der Anfang v. allem. Mchn./Wien die Welt der Erwachsenen einzupassen haben 2008. u. ihre Kindheit, ja ihre Unschuld, verlieren. Literatur: Bruno Blume: Erinnerungen an eine Ihren literar. Durchbruch erreichte R. 1998 verlorene Kindheit. Versuch einer umfassenden mit dem poet. Roman für Kinder u. Erwach- Rezension. In: Bulletin Jugend & Lit. Geesthacht 32 sene Der Hund mit dem gelben Herzen oder die (2001), H. 2, S. 21. – Renate Raecke: J. R. In: LGL. – Geschichte vom Gegenteil (Mchn./Wien). Dieser Carsten Gansel: ›Geschichten sind verkleidete erzählt auf den ersten Blick die Geschichte Wirklichkeit‹. Gespräch mit J. R. In: Ders. u. Hereiner Freundschaft zwischen zwei Kindern u. mann Korte (Hg.): Kinder- u. Jugendlit. u. Narratologie. Gött. 2009, S. 223–231. Carsten Gansel einem kleinen, zotteligen, schwarzen Hund, der bes. Eigenschaften besitzt: Er kann kätzisch, rättisch u. auch menschisch sprechen. Richter, (Adrian) Ludwig, * 28.9.1803 Hund erzählt nun die Geschichte von G. Ott, Dresden, † 19.6.1884 Loschwitz bei Dresdem Schöpfer u. Namensgeber aller Dinge u. den; Grabstätte: Dresden, Äußerer KaLebewesen, u. von seinem Freund Lobkowitz. tholischer Friedhof. – Maler, BuchillusR.s Kinderroman ist eine Parabel mit religiöstrator; Verfasser einer Autobiografie. philosoph. Dimensionen, in der es um Fragen von Heimat u. Heimatverlust, Freundschaft, Der Sohn eines mittellosen Zeichners u. Mitgefühl, Sinn- u. Welterklärung geht. Für Kupferstechers wurde 1816–1823 in der ihren nächsten Kinderroman, Der Tag, als ich Dresdner Kunstakademie ausgebildet; die lernte die Spinnen zu zähmen (Mchn./Wien herrschende Kopiertechnik alter Meister ver-

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mochte ihn jedoch ebenso wenig zu über- David Friedrich u. die Malerei der Dresdner Rozeugen wie gesammelte Frankreich-Erfah- mantik. Lpz. 2005. Adrian Hummel / Red. rungen als Landschaftszeichner des russ. Fürsten Narischkin (1820/21). Erst ein StiRichter, Trude, eigentl.: Erna Barnick, pendium ermöglichte R. die ersehnte Italienauch: Gertruda Friedrichowna, * 19.11. Reise (1823–1826), intensive Kontakte zu den 1899 Magdeburg, † 4.1.1989 Leipzig. – Nazarenern um Friedrich Overbeck in Rom u. Erzählerin; Literaturwissenschaftlerin. das richtungweisende Studium »heroischer Landschaftsmalerei« bei Joseph Anton Koch. Nach dem Philosophie-, Germanistik- u. Ihm fühlte sich R. auch während seiner Tä- Theologiestudium in Berlin u. Frankfurt/M. tigkeit an der Zeichenschule der Meißner (Promotion 1924) unterrichtete die Tochter Porzellanmanufaktur (ab 1828) u. an der eines Oberpostrats an Höheren Schulen Kunstakademie Dresden (Dozent für Tier- u. Deutsch u. Religionslehre. Unter dem Pseud. Landschaftsmalerei, 1836–1871) verpflichtet. Trude Richter schrieb sie in ArbeiterzeitunEinen eigenen Stil entwickelte R. jedoch v. a. gen; 1931 trat sie der KPD bei, 1932 wurde sie durch die Hinwendung zu der auf zahllosen Erste Sekretärin des Bundes proletarisch-reWanderungen erlebten dt. Landschaft: Klas- volutionärer Schriftsteller. Von Festnahmen sizistisch stilisiert u. ohne symbolische durch die Gestapo bedroht, folgte sie im April Überfrachtung, begründeten Gemälde wie 1934 ihrem Lebensgefährten, dem SozialAufsteigendes Gewitter am Schreckenstein bei Aus- wissenschaftler Hans Günther, in die sowjet. sig (1835) R.s Ruf als bedeutendster Maler der Emigration. Sie arbeitete am Moskauer Spätromantik. Die materielle Not linderten Fremdsprachen-Institut u. am Pädagogischen freilich erst seine zahlreichen Holzschnitt-Il- Institut Odessa, publizierte Lehrbücher u. lustrationen zu bekannten Märchen- u. Ly- Anthologien zur dt. Literatur u. schloss ihre riksammlungen, wie Bechsteins Märchenbuch Habilitationsschrift ab. Am 5.11.1936 wurde (Lpz. 1853) u. Hebels Allemannischen Gedichten sie vom NKWD verhaftet u. ein Jahr später (Lpz. 1851), Erbauungsschriften (Für’s Haus. 4 unter dem Vorwurf des Trotzkismus u. der Bde., Dresden 1858–61) u. Klassikerausgaben Zusammenarbeit mit der Gestapo ins sibir. (Goethe-Album. Lpz. 1856). Diese Dürer u. Kolyma gebracht. Nach 20 Jahren ArbeitslaChodowiecki verpflichteten Illustrationen ger u. Verbannung rehabilitiert, kehrte sie steigerten seinen Bekanntheitsgrad enorm u. 1957 auf Vermittlung von Anna Seghers in lenkten die Textrezeption breiter Leser- die DDR zurück; dort wurde sie 1958 Doschichten mehrerer Generationen über die zentin am Literaturinstitut Johannes R. Behumorvolle Darstellung lebenstüchtiger An- cher in Leipzig, 1987 Ehrenmitgl. im Vorspruchslosigkeit u. beschaulicher Behaglich- stand des Schriftstellerverbandes der DDR. In der Verbannung verfasste wissenschaftkeit kleinbürgerlich-handwerklicher oder liche u. literar. Manuskripte (Hörspiele, bäuerlich-ländl. Idyllen im Sinne biedermeierl. Harmonisierung u. religiöser Fundierung Märchen, Kinderstücke) hat R. vor der Rückihrer Erfahrungswelt. Noch R.s lesenswerte, kehr verbrannt, um »das Hineinwachsen in formal an Goethes Wilhelm Meister orientierte die deutsche Gegenwart nicht [...] durch Lebenserinnerungen eines deutschen Malers (pos- philosophisches Gepäck aus einer überwuntum Ffm. 1885/86. Neu hg. v. Karl Wagner. denen Etappe« zu belasten. Ihre 1964 abgeBln. 1982. Würzb. 1985) interpretieren sei- schlossenen Lebenserinnerungen waren – nen Werdegang als göttlich gelenkten Rei- nach Intervention sowjetischer Stellen – lanfungsprozess u. enden bezeichnenderweise ge im Parteiarchiv der SED unter Verschluss. Ein Teil (Die Plakette. Halle 1972) beschreibt in vor dem Revolutionsjahr 1848. Literatur: R. u. sein Kreis. Ausstellungskat. proletkultartiger Begeisterung die Jahre bis Königst./Ts. 1984 (mit Bibliogr.). – Hans Joachim zur Verhaftung; die vollständige Fassung Neidhardt: L. R. Lpz. 1991. – Heinz Demisch: L. R. (Totgesagt. Halle/Lpz. 1989) ist ein erschütEine Revision. Bln. 2003. – Helmut Börsch-Supan: terndes Dokument der Lagerhaft u. zgl. der R. In: NDB. – Hans Joachim Neidhardt: Caspar Versuch einer nach wie vor überzeugten

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Kommunistin, ihren extremen polit. Erfahrungen nachträglich Sinn abzugewinnen (»Reifeprozeß«). Weitere Werke: Literaturgeschichtl. Lesebuch (aus dem Russischen übers.). Kiew 1935. – ›Das Glück des Bitteren‹. Reise durch die Lit. Halle 1969 (Ess.s). Literatur: Elisabeth Schulz-Semrau: ›Sie sind vergüteter Stahl...‹. Nachw. zu T. R.: ›Totgesagt‹. a. a. O. – David Pike: Dt. Schriftsteller im sowjet. Exil 1933–45. Ffm. 1981. Karl Deiritz / Hannes Krauss / Red.

Richthofen, Ferdinand (Paul Wilhelm) Frhr. von, * 5.5.1833 Carlsruhe/Oberschlesien, † 6.10.1905 Berlin. – Geologe u. Geograf.

ihren regionalen Unterschieden zu erfassen suchte. Das von R. auf seinen Reisen erworbene, im Zuge der dt. Kolonialexpansion politisch u. wirtschaftlich verwertbar gewordene Wissen – seine Erkenntnisse über die Bucht von Kiautschou führten zur Errichtung des dt. Pachtgebiets u. zur Gründung von Tsingtao – war das Fundament für seine spätere Hochschulkarriere. Seit seiner Rückkehr aus Übersee Vorstandsmitgl. der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, wurde er 1875, ohne sich je habilitiert zu haben, auf den GeografieLehrstuhl an der Universität Bonn, 1883 nach Leipzig u. 1886 nach Berlin berufen. Wegweisend für die Theorie der Entstehung des Lößes, der Struktur u. Genese der ostasiat. Gebirgsbögen sowie für die Methode der länderkundl. Darstellung wurde R.s in ihrem Detailreichtum bis heute von einem Einzelnen nicht überbotene Beschreibung China (5 Bde., Bln. 1877–1912). Über den engeren Rahmen der Geografie hinaus bedeutsam wurde sein auf teilweise schon publizierten Vorarbeiten beruhender Führer für Forschungsreisende (Bln. 1886).

R. entstammte dem 1741 in den Freiherrnstand erhobenen, seit 1661 adligen Geschlecht Praetorius. Nach dem Abitur in Breslau studierte er dort Naturwissenschaften u. promovierte 1856 in Berlin zum Dr. phil. Anschließend arbeitete er in der österr. k. k. Geologischen Reichsanstalt bei der Landesaufnahme. Aus dieser Zeit stammt die Geognostische Beschreibung der Umgegend von Weitere Werke: Die Metall-Produktion CaliPredazzo, Sanct Cassian und der Seisser Alpe in SüdTirol (Gotha 1860), in der R. die Dolomitstö- forniens u. der angrenzenden Länder. Gotha 1864. cke Südtirols erstmals als alte Korallenriffe – Aufgaben u. Methoden der heutigen Geographie. deutete. Mit seiner Teilnahme an der von Lpz. 1883. – Kiautschou. Bln. 1897. – Schantung u. seine Eingangspforte Kiautschou. Bln. 1898. Friedrich Graf zu Eulenburg geführten Literatur: Albert Kolb: F. Frhr. v. R. In: Geopreuß. Ostasien-Expedition begann ein graphers. Biobibliographical Studies. Bd. 7, Lonzwölfjähriger Aufenthalt in Übersee (1860 bis don 1984, S. 109–115. – Uta Lindgren: R. In: NDB. 1872). Der urspr. Plan, das damals noch un- – Ute Wardenga (Hg.): Special Issue: F. v. R. Bln. erforschte Ost-Turkestan zu bereisen, musste 2007. Ute Wardenga / Red. aufgegeben werden, jedoch erhielt R. Gelegenheit, als einer der ersten europ. Wissenschaftler zwischen 1868 u. 1872 dreizehn der Ricius, Ritius, Paulus, ital.: Riccio, * wohl damals achtzehn Provinzen Chinas zu erfor- zwischen 1480 u. 1485 (?), † 1541 (?). – schen. Die Reisen dienten hauptsächlich der Mediziner, Kabbalist, Fachschriftsteller. ersten systemat. wiss. Exploration der chines. Kohlenlagerstätten u. der großräumigen Er- R. war angeblich Sohn eines Trienter Münzfassung von Geländeverhältnissen, die eine juden dt. Herkunft (Reich, Reis?). Er besuchte spätere Trassierung innerchines. u. trans- Gymnasium u. Universität zu Pavia u. lehrte kontinentaler Eisenbahnlinien ermöglichen dort anschließend Philosophie, vielleicht sollte. Zu den Beobachtungen kam eine von auch Medizin. In dieser Zeit trat er zum der Handelskammer in Shanghai finanzierte Christentum über. Als Leibarzt Kaiser Maxigeografische Landesaufnahme, mit der R. die milians I. (etwa seit 1514) u. anderer Habskulturellen u. wirtschaftl. Verhältnisse nach burger, zeitweise auch im Dienst des Salzburger Bischofs Matthaeus Lang u. des Fürstbischofs von Brixen, gelangte R. zu

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Rickert

Weitere Werke: Compendium quo [...] aposReichtum u. Einfluss. Unter Karl V. wurde er geadelt (1529/30) u. erhielt das Schlossgut tolicam veritatem: Ratione, Prophetice, Talmudisvon Sprinzenstein/Oberösterreich zum Lehen tice, cabalistice [...] confirmat. Pavia 1507 (mit geändertem Titel auch 1511). – De sexcentum et tre(seitdem Frhr. von Sprinzenstein). decim mosaice sanctionis dictis [...] Ejusdem in R.’ Bedeutung liegt in der Vermittlung des Cabalistarum seu allegorizantium, eruditionem ital. Aristotelismus (Averroes u. Pomponazzi) ysagoge. Pavia 1510. Augsb. 1515. – Philosophica nach Deutschland, mehr noch in seiner Rolle prophetica ac talmudistica pro Christiana veritate als Übersetzer u. Interpret des Talmud u. der tuenda. Augsb. 1514. – De novem doctrinarum Kabbala, deren Lehrgehalt er mit christl. ordinibus et totius Perypatetici Dogmatis nexu. Heilswahrheiten in Einklang bringen wollte. Augsb. 1515. – Talmudica [...] commentariola. In einem frühen philosoph. Hauptwerk Augsb. 1519 (vier Traktate). – In Psalmum Beatus (Apostolorum simbolum a priori demonstrativus vir Commentariolum. Augsb. 1519. – Apologetica ad Eckiana responsio. o. O. u. J. [1519]. – Ad prindialogus. Augsb. 1514) ließ er z.B. den Theocipes, Magistratus, populosque Germaniae in Spilogen Gometius (d.h. Frederigo Gomez de rensi conventu oratio. Augsb. 1530. – Übersetzung: Lisboa, einen vom Judentum konvertierten Joseph Gecatilija: Portae Lucis Haec est porta Tetportugies. Franziskaner) u. drei Brüder, die ragrammaton. Augsb. 1516 (aus dem Hebräischen ihm als Gesprächstpartner gegenüberstehen, ins Lateinische). einen systemat. Beweis des Christentums Literatur: Theodor Wiedemann: Dr. Johann entwickeln. Briefkontakte ergaben sich u. a. Eck. Regensb. 1865, S. 335–344 (Werkverz.). – Leo Helbing: Dr. Johann Fabri. Münster 1951, S. 69 f. zu Reuchlin, Erasmus u. Pirckheimer. Auch in der österr. »sodalitas Collimitana« u. ö. – Gerhard Eis: Verschollene Schr. v. P. R.? In: Medizin. Monatsschr. 9 (1955), S. 180–182. – hat R. eine Rolle gespielt. Nach dem AugsFrançois Secret: Les Kabbalistes Chrétiens de la burger Reichstag (hier Bekanntschaft mit Renaissance. Paris 1964, S. 87 ff. – Joseph Leon Hutten u. Peutinger) entwickelte sich eine in Blau: The Christian Interpretation of the Cabala. mehreren Schriften ausgetragene Kontrover- Port Washington 1965, S. 65 ff. – Otto Kostenzer: se mit Johannes Eck (Disputation 1519). In Die Leibärzte Kaiser Maximilians I. in Innsbruck. Anlehnung an neuplaton. Vorstellungen ver- In: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmusefocht R. die Theorie, dass der Sternenhimmel ums Ferdinandeum 50 (1970), bes. S. 92–95. – beseelt sei (De anima coeli compendium. Augsb. Joachim Telle: Textnachweise zu den spätmittel1519. Wirkungen u. a. auf Postel). Entgegen alterl. Fachautoren [...]. In: Medizin. Monatsschr. 26 (1972), S. 564–571. – Encyclopaedia Judaica. den Vorstellungen anderer kath. Theologen Bd. 14, Jerusalem 1974, S. 164. – F. Secret: Aristote widersetzte sich R. der Bilderverehrung u. et les Kabbalistes Chrétiens de la Renaissance. In: versuchte einen Brückenschlag zwischen der Platon et Aristote à la Renaissance. Paris 1976, kath. u. der protestant. Partei (Statera pruden- S. 277–291. – Contemporaries. – Jaumann Hdb. – tum. Regensb. 1532). Auf dem Reichstag zu Bernd Roling: Aristotel. Naturphilosophie u. Speyer (1529) hielt er eine flammende Rede christl. Kabbalah im Werk des P. R. Tüb. 2007 (mit gegen die Türken (abgedr. in: Marquard Werkverz.). – Ders.: Der Streit zwischen R. u. Eck Freher: Germanicarum Rerum Scriptores. Bd. 3, um die Weltseele. In: Reuchlins Freunde u. Gegner. Hg. Wilhelm Kühlmann. Ostfildern 2010, Ffm. 1611, S. 379–386). R.’ kabbalist. TrakS. 125–142. Wilhelm Kühlmann tate (ges. in: De coelesti Agricultura libri IV. Augsb. 1541) wurden von Johannes Pistorius, einem bald darauf konvertierten Lutheraner, neu herausgegeben (Artis cabbalisticae [...] Rickert, Heinrich, * 25.5.1863 Danzig, scriptores. Bd. 1, Basel 1587. Neudr. Ffm. † 25.7.1936 Heidelberg. – Philosoph. 1970) u. wirkten so auf das einschlägige Der aus einer nationalliberalen Familie Schrifttum der Folgezeit. Erst durch die stammende R., dessen Vater zum Freundesfundamentale Untersuchung von Roling kreis der Eltern Max Webers gehörte, pro(2007) erschließen sich nun das komplexe movierte 1888 bei Wilhelm Windelband in intellektuelle Profil u. die große denkge- Straßburg mit Zur Lehre von der Definition schichtl. Bedeutung dieses Autors. (Freib. i. Br. 1888) u. habilitierte sich 1891 in

Rickert

Freiburg/Br., wo er 1894 a. o. sowie 1896 – als Nachfolger von Aloys Riehl – o. Prof. wurde. 1916 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl Windelbands in Heidelberg; 1933 wurde er mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. R. war der große Systematiker der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Anders als Kant u. die Marburger Schule betonte die südwestdt. Variante das Wertproblem als das philosoph. Fundamentalproblem. Philosophieren war für R. »ursprünglich Wissenschaft«, d.h. »Sache des theoretischen Menschen«. In einer auf den Lebens- oder Erlebnisbegriff ausgerichteten Philosophie wie derjenigen Diltheys sah R. daher nur eine vorkrit. Metaphysik, die er als »Rückfall in die Barbarei« (Lebenswerte und Kulturwerte. In: Logos 2, 1911/12, S. 155) kritisierte. Gemäß einer an Kant orientierten transzendentalen Geltungsreflexion entwickelte er eine Theorie der Erkenntnis als Gegenstandskonstitution, die aber, im Gegensatz zu Kant, bes. auf den Seinsunterschied von Denken u. Sein u. die sich daraus ergebenden Urteilsbereiche der Logik u. Ontologie abhebt. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Begriff u. Gegenstand war für R. das »heterothetische Prinzip« der Philosophie. Nach dem Grundsatz »Das Logische existiert nicht sondern gilt« (Der Gegenstand der Erkenntnis. Freib. i. Br. 1892, S. XI/XII. Rev. 31918. 61928 u. ö. Nachdr. der 2. Aufl.: Saarbr. 2006) kann der Gegenstand der Erkenntnis entweder als »extensive Mannigfaltigkeit« (das »Ganze der Wirklichkeit«, ihre Struktur, die nur »logisch existiert« u. somit dem Bereich der Geltung angehört) oder als »intensive Mannigfaltigkeit« (die »reale Wirklichkeit«, die Sinnlichkeit) erscheinen. Der so explizierte Gegensatz zwischen Geltung u. Existenz wurde für R. zum philosoph. Grundunterschied, der erkenntnistheoretisch das Wahrnehmbare vom Verstehbaren abhebt. Darüber hinaus bestimmte er methodologisch die Aufgaben der verschiedenen Wissenschaften u. begründet den grundsätzlich axiolog. Charakter der Philosophie: »Während die sensible Welt von den Einzelwissenschaften entweder generalisierend (als Natur, d.h. unter einem System von

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Gesetzen stehend) oder individualisierend (als Geschichte der Kultur) begriffen werden muß, hat die Erkenntnis der intelligiblen Welt, um das Verstehbare umfassend zu gliedern, nach einem System der Werte zu suchen« (Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Freib. i. Br. 1899. Tüb. 71926). R. sah also die Eigenart der von ihm sog. Kulturwissenschaften (Geisteswissenschaften) allein in der individualisierenden Begriffsbildung, die ihren Gegenstand, das historisch Bedeutsame, selbst erzeugt. Auf den mit R. befreundeten Max Weber u. seine Konzeption einer sozialwiss. Methodenlehre hat diese Theorie nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Der Begriff des Verstehens wurde somit von R. im Gegensatz zu den heute gängigen Theorien ganz vom Werthaften her erklärt. Sinn u. Bedeutung, als Gegenstände des Verstehens, waren R. »irreale Sinngebilde«, die als Werte am Realen »haften«. Diese Irrealität des Sinns ist der Hauptunterschied zu den sonst ähnl. Bedeutungstheorien Freges u. Husserls. In seinem Spätwerk versuchte R. allerdings im Sinn einer ontologischen, antisubjektivist. Wende, der zweigeteilten Erfahrungswelt eine dritte, »vorgegenständliche oder prophysische Art des Weltseins« anzufügen, ein »Drittes Reich«, in welchem R. eine Einheit der vormals unversöhnl. Gegensätze von Wirklichkeit u. Wertwelt denken wollte. Weitere Werke: Die Grenzen der naturwiss. Begriffsbildung. 2 Bde., Tüb. 1896–1902. Neuaufl. Hildesh. 2007. – Das Eine, die Einheit u. die Eins. Tüb. 1911. Rev. 1929. – Wilhelm Windelband. Tüb. 1915. – Die Philosophie des Lebens. Tüb. 1920. Nachdr. Saarbr. 2007. – System der Philosophie. Tüb. 1921. – Kant als Philosoph der modernen Kultur. Tüb. 1924. – Die Logik des Prädikats [...]. Heidelb. 1930. – Goethes Faust. Tüb. 1932. – Grundprobleme der Philosophie. Tüb. 1934. Nachdr. Saarbr. 2006. Ausgaben: Philosoph. Aufsätze. Hg. Rainer A. Bast. Tüb. 1999. – Briefe 1912–33 u. andere Dokumente. Martin Heidegger u. H. R. Aus den Nachlässen hg. v. Alfred Denker. Ffm. 2002. – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ed. Hg. R. A. Bast. Stgt. 2006 [2004?] ff. Literatur: Hanspeter Sommerhäuser: Emil Lask in der Auseinandersetzung mit H. R. Bln. 1965. – Hermann Seidel: Wirklichkeit u. Wert in

627 der Philosophie H. R.s. Bonn 1968. – Herbert Schnädelbach: Philosophie in Dtschld. 1831–1933. Ffm. 1983. – Hans-Ludwig Ollig (Hg.): Materialien zur Neukantianismus-Diskussion. Darmst. 1987. – Andreas Hoeschen u. Lothar Schneider: Zwei klass. Konzeptionen der Kulturwiss.: Hermann Paul u. H. R. In: IASL 27 (2002), H. 1, S. 54–72. – Jürgen Stolzenberg: H. R. In: DBE. – Wolfgang Schluchter: Werturteilsfreiheit u. Wertdiskussion: Max Weber zwischen Immanuel Kant u. H. R. In: Das Ethische in der Ökonomie. FS Hans G. Nutzinger. Hg. Thomas Beschorner. Marburg 2005, S. 39–65. – Peter U. Merz-Benz: Max Weber u. H. R. Die erkenntniskrit. Grundlagen der verstehenden Soziologie. Wiesb. 22007. Thomas Zwenger

Rideamus, eigentl.: Fritz Oliven, * 10.5. 1874 Breslau, † 30.6.1956 Porto Alegre/ Brasilien. – Librettist, Revuedichter, humoristischer Lyriker.

Riedel Bln./Mchn. 1922 (Operette, Textbd.). – ›Noch u. noch‹. 1924 (Revue, Textbd.). – Der neue Willi. 2 1924. – Wichtigkeiten. 1925. – Majestät läßt bitten [...]. Nach einem Lustsp. v. Rudolf Lothar u. Oscar Ritter-Winterstein. Musik v. Walter Kollo. 1930 (Textbd.). – Das lustige R.-Buch. 1932. Literatur: Volker Klotz: Ungebrochen durch vielerlei Brechungen: ›Die lustigen Nibelungen‹. Hinweis auf Oscar Straus’ burleske Operette v. 1904. In: MA-Rezeption 2. Hg. Jürgen Kühnel u. a. Göpp. 1982, S. 661–673. – Herbert A. Strauss u. Werner Röder (Hg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés. Mchn. 1983, S. 873–874. – Peter P. Pachl: R. (Fritz Oliven). In: Das (Musik-)Theater in Exil u. Diktatur. Vorträge u. Gespräche des Salzburger Symposions 2003. Hg. Peter Csobádi. Anif/Salzb. 2005, S. 670–676. – Ute-Christiane Hauenschild: R.: Die Lebensgesch. des Fritz Oliven. Bln. 2009 (Lit.- u. Werkverz.). Walter Pape / Red.

Nach dem Jura-Studium (Freiburg i. Br., München, Berlin) u. der Promotion war R. Riedel, Friedrich Just, * 10.7.1742 VieselRechtsanwalt, dann freier Schriftsteller in bach bei Erfurt, † 2.3.1785 Wien. – ÄsBerlin. Bereits seine Versepen vom dt. thetiker, Herausgeber. Durchschnittsbürger Willi wurden ein großer Der Sohn eines Pfarrers studierte nach dem Erfolg (Willis Werdegang. Scenen aus dem Fami- Besuch des Weimarer Gymnasiums in Jena, lienleben. Bln. 1902 u. 1924: 134. Tsd.); als Leipzig u. Halle, lehrte als Magister in Jena Schreiber von Vortragstexten für das Kaba- Philosophie u. beschäftigte sich v. a. mit äsrett, als Operettenlibrettist (teilweise zus. mit thet. Fragen. Die Freundschaft mit Klotz, für Hermann Haller u. Willi Wolf) für Walter dessen »Deutsche Bibliothek« er viele ReKollo, Eduard Künneke u. Oscar Straus schuf zensionen verfasste, verstrickte ihn bald in er witzige, geistreiche u. satir. Liedtexte. In dessen Kontroversen mit Nicolai u. Lessing. den 1920er Jahren war er dann auch Text1768 wurde R. nach Erfurt berufen, wo er dichter für die berühmten Berliner Haller- gemeinsam mit seinem Brieffreund Wieland Revuen. 1939 emigrierte R. nach Südamerika. die Universität im Sinn der Aufklärung reHeute ist er so gut wie vergessen. Über ihn formieren sollte. Das Projekt scheiterte v. a. selbst ist wenig bekannt. Seine Autobiografie am Widerstand der eingesessenen ProfessoRideamus. Von ihm selber. Die Geschichte eines ren. Als Wieland nach Weimar ging, suchte heiteren Lebens (Bln. 1951) erschöpft sich in auch R. eine neue Tätigkeit. Auf Empfehlung witzigen, meist privaten Episoden. Klotz’ holte ihn Sonnenfels nach Wien; die Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht Berufung an die Akademie der Künste wurde anders angegeben: Bln.): Berliner Bälle. 1905. – aber durch Intrigen seiner Erfurter Gegner Lenz u. Liebe. 1905. – Burlesken. 3 Einakter. 1906. verhindert. R. blieb dennoch in Wien u. lebte, – Hugdietrichs Brautfahrt. 1906 (Operette, Ge- von einigen Gönnern notdürftig unterstützt, sangstexte). – Reisemärchen. 1906. – Kleinigkeiten. von literar. Gelegenheitsarbeit u. der Her1907. – Die Erfindung der Sittlichkeit. 1909. – ausgabe diverser Zeitschriften (z.B. »Der Reinfälle! 1910. – Wilde Sachen. 1911. – Die lustiEinsiedler«, 1773/74; »Litterarische Monagen Nibelungen. 1911 (Operette, Gesangstexte). – Lustige Liebe. 1919. – Die Ehe im Kreise. 1921 te«, 1776/77; »Realzeitung«, 1780). Eine (Operette, Textbd.). – Wenn Liebe erwacht! Bln./ Geisteskrankheit führte zum frühen Tod. R.s Bedeutung liegt nicht in seinen literar. Mchn. 1921 (Operette, Textbd.). – Verliebte Leute. 1922 (Operette, Textbd.). – Der Vetter v. Dingsda. Schriften – frühen Satiren in Nachahmung

Riedemann

Liscows u. Popes –, sondern in seinen literaturtheoret. Äußerungen. Bereits seine Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (Jena 1767) hatte Lessings Lob gefunden. Die fiktiven Briefe Ueber das Publicum (Jena 1768) suchen, ausgehend von einer Polemik gegen Bodmers nach wie vor rationalistische, normative Ästhetik, eine neue, subjektivere Ästhetik zu begründen, in der das normative Element durch die Berücksichtigung von Zeitgeschmack, Nationalcharakter u. gesellschaftl. Bedingtheit der Autoren u. Rezipienten relativiert wird. Gleichzeitig aber unterläuft R. die Konsequenzen seines subjektiven Konzepts wiederum durch seom Postulat eines idealen Publikums sowie eines richtigen u. eines falschen Geschmacks. Damit verstrickt er sich in Widersprüche, die übrigens für viele der nachgottschedianischen Literaturtheorien kennzeichnend sind. Weitere Werke: Sämmtl. Schr.en. Wien 1786/ 87. – Briefe über das Publikum. Hg. Eckart Feldmeier. Wien 1973. Literatur: Richard Wilhelm: F. J. R. u. die Ästhetik der Aufklärung. Heidelb. 1933. – Eckart Feldmeier, a. a. O., Nachw. – Rita Terras: Wieland u. R. In: Christoph Martin Wieland. Hg. Hansjörg Schelle. Tüb. 1984. – Ulrich Joost: Lichtenberg als Literaturvermittler: Über F. J. R., Wielands ›Der neue Amadis‹ u. Ansteys ›The New Bathguide‹. In: Lichtenberg-Jb. 1992/93, S. 110–117. – Kristin Seiler: Die Stellung F. J. R.s in der Literaturgesch. u. sein Einfluß auf die Literaturtheorie unter bes. Berücksichtigung seiner Ästhetik. Diss. Halle 1998. – Roland Krebs: Wer ist die Schönste im ganzen Land? Über die Relativität des Schönen bei R., Wieland u. Heinse. In: ›Das Schöne soll sein‹. Aisthesis in der dt. Lit. FS Wolfgang F. Bender. Hg. Peter Heßelmann. Bielef. 2001, S. 129–148. Wynfrid Kriegleder

Riedemann, Ridemann, Rydeman, Ryedeman, Peter, auch: P. von Gmunden, * 1506 Hirschberg/Schlesien, † 1.12.1556 Protzko/Slowakei. – Prediger u. Gemeindevorsteher der Hutterischen Brüder, Verfasser religiöser Traktate u. Lieder. R., von Beruf Schuster, schloss sich um 1527 in Oberösterreich den Täufern an u. verbrachte seines Glaubens wegen neun Jahre in Gefängnissen, 1529–1532 in Gmunden/Ober-

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österr., 1533–1537 in Nürnberg, 1540–1542 in Marburg u. Schloss Wolkersdorf/Hessen. Seine beiden in Gefangenschaft verfassten umfangreichen Traktate, die Gmundener Rechenschaft (1529–32. Ed. in: Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 12, Gütersl. 1967) u. die Rechenschafft unserer Religion, Leer und Glaubens (1540/41), gehören zu den wichtigsten dogmat. Schriften der Täuferbewegung. Die Rechenschafft von 1540 begründet in dichtem Bezug auf die Hl. Schrift (etwa 1800 Bibelreferenzen) die Glaubens- u. Lebensprinzipien der Hutterer, u. a. die Ablehnung von Privateigentum u. Kriegsdienst. Die Schrift sollte auch nach außen, v. a. beim mähr. Adel, um Verständnis werben u. wurde – anders als die sonst nur handschriftlich verbreitete Hutterer-Literatur – ca. 1545 u. 1565 gedruckt (Nachdr. Berne/Ind. 1902. 1962). Im Zuge seiner Missionsreisen in Hessen u. Franken u. seiner seelsorgerischen Arbeit für die ständig verfolgten Hutterer in Mähren verfasste R. mindestens 37 Sendschreiben u. Briefe. Seine durchweg geistl. Liedertexte (45 gedruckt in: Die Lieder der Hutterischen Brüder. Scottdale 1914. Nachdr. Cayley 1974, S. 450–537) sind oft auf weltl. Melodien (Bremberger Ton, Berner Ton, Hildebrands Ton u. andere) eingerichtet. Ausgaben: Rechenschaft unserer Religion, Lehre u. Glaubens [...]. Falher 1988. – P. R.’s Hutterite Confession of Faith. Übers. (der Ausg. 1565) v. John J. Friesen. Waterloo 1999. – Doctrine et vie des anabaptistes houttériens. Exposé de notre religion, de notre doctrine et de notre foi. Hg. u. übers. v. François Caudwell. Charols 2007. Literatur: Ludwig Keller: P. R. In: ADB. – Lydia Müller: Der Kommunismus der Mährischen Wiedertäufer. Diss. Lpz. 1927. – Ernst Crous: P. R. In: Mennonit. Lexikon. Bd. 3 (1958), S. 500–505. – Robert Friedmann: P. R. In: Mennonite Encyclopedia. Bd. 4 (1959), S. 326–328. – Ders.: Die Schr.en der Huterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkat. [...] 1529–1667. Wien 1965, S. 91 f., 123–125. – Robert Charles Holland: The Hermeneutics of P. R. (1506–56) with Reference to I Cor. 5, 9–13 and II Cor. 6, 14–7, 1. Basel 1970. – Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer. Gesch. u. Deutung. Mchn. 21988, Register. – RSM 8, S. 651 f. – Walter Troxler: P. R. In: Bautz. – Werner O. Pachull: Weite Wege v. Mähren nach Hessen. Die zweite Missionsreise P. R.s. In: Außenseiter zwischen MA u. Neuzeit. FS Hans-

Riederer

629 Jürgen Goertz. Hg. Norbert Fischer u. a. Leiden u. a. 1997, S. 171–185 (Lit.). – Ursula Lieseberg: Die Lieder des P. R. Studien zum Liedgut der Täufer im 16. Jh. Ffm. 1998. – W. O. Packull: The Origins of P. R.’s ›Account of our faith‹. In: Sixteenth Century Journal 30 (1999), S. 61–69. – Gottfried Seebaß: Müntzers Erbe [...]. Gütersloh 2002, Register. – Martin Rothkegel: Learned in the School of David. P. R.’s Paraphrases of the Gospels. In: Commoners and Community. FS W. O. Packull. Hg. C. Arnold Snyder. Kitchener 2002, S. 233–256. – Andrea Chudaska: P. R. Von einer ›Bewegung im Übergang‹ zu den Hutterern. In: Mennonit. Geschichtsblätter 59 (2002), S. 186–191. – Dies.: P. R. Konfessionsbildendes Täufertum im 16. Jh. Gütersloh 2003. – W. O. Packull: P. R., Shaper of the Hutterite Tradition. Kitchener 2007. Hartmut Kugler / Red.

Riederer, Hartmut, * 11.7.1942 Kötzting/ Bayerischer Wald. – Schriftsteller, Maler u. Schauspieler. R., dessen Vater zuletzt Regierungspräsident Niederbayerns war, wuchs in Krumbach auf, studierte Theologie, Germanistik u. Philosophie u. a. bei Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner u. Bernhard Waldenfels in München. Seit 1979 lebt u. arbeitet er dort als Schriftsteller, Schauspieler u. Maler. R. wirkte in Filmen von Herbert Achternbusch mit u. war u. a. am Münchner Volkstheater tätig, zuletzt als Autor beim Münchener Puppentheater »Puppetplayers«. R.s Texte sind geprägt durch einen assoziierenden Schreibstil. Es dominieren Bildsequenzen, die bis in Details ausgeschmückt werden. Sie sind wie literar. Argumente eingesetzt; ihre Zusammengehörigkeit zeigt sich erst, wenn erkannt wird, worauf sie verweisen. Im Roman Knabenspielzeug (Mchn. 1985. Nachdr. 1993) schildert R. aus der Perspektive eines nicht bekannten Ich-Erzählers das Leben von fünf Zöglingen aus einem Wüsteninternat. Autobiografische Episoden aus dem Internat im Kloster Schäftlarn u. Situationen in der afrikan. Wüste wechseln einander ab. In infantiler Gestik nutzt er die Weltschöpfungsmöglichkeiten kindl. Denkens: Tatsachen u. Illusionen werden zu Sagen verarbeitet, die auf die Ideologie der dt. Kolonialzeit u. des Dritten Reichs anspielen.

In das Buch eingearbeitet sind u. a. Zitate führender Gestalten des Nationalsozialismus. Wichtigstes Thema ist der Umgang der Figuren mit ihrer unterdrückten Sexualität; um sie kreisen die meisten der erfundenen, doch stark christlich geprägten »Schöpfungsmythen«. Kritisch ist R.s Auseinandersetzung mit der dt. Geschichte auch im Puppenspiel Deutschland wo liegt es (Mchn. 1982). Er konfrontiert darin einen bauernschlauen Kasperl mit Sagengestalten u. anderen Figuren der Literatur. Ihrer heroischen Todesverfallenheit, von der sie ebenso mit dem Schwert wie mittels ihrer Worte künden, hält der bayerische Kasperl seinen Wunsch nach einem sinnenbetonten Leben entgegen. Gänzlich untauglich zu metaphys. Wehmut, übersteht er ihre ideolog. Anschläge unbeschadet. Was der Literaturkritik an R.s Büchern paradox, barock oder schlicht burlesk erscheint, hat durchaus System: »Denkt man das Denken zu Ende, so kippt es in den Unsinn um.« Die intermediale Anlage des Werks erweiterte R. in den 1990er Jahren u. erkundete den Übergang von Literatur u. Malerei. Biografisches u. Historisches wird in Bildern des Flusses bzw. Lebensstroms zum Teil traumhaft-überreal in Text u. Bild eingearbeitet (Die Donau I-III. Selbstverlag 1991–93). Seit 1993 ist R.s malerisches Werk in zahlreichen Einzelausstellungen gezeigt worden. Weitere Werke: Unter Ober König Sau. Gauting 1980 (Puppenspiel, zus. mit Susanne Forster u. Stefan Fiechert). – Angebot für Zögernde. In: Almanach (1983), S. 122–136 (P.). – Kaiser, wieviel Schritte darf ich tun? In: Literaturmagazin 16 (1985), S. 111–119 (P.). – Adam u. Apfel. Ebd. 18 (1986), S. 149–156 (P.). – Das große Arschloch. Ebd. 19 (1987), S. 105–108 (P.). – Da Riadara Dara Dar: ›König Ubu auf der Autobahn‹. In: Passauer Pegasus 6 (1988), H. 13, S. 69–106 (D.). – Vollgas. Mchn. 1989 (Theaterstück). – Am Ursprung der Donau. Selbstverlag 1999. – Rückwärts zu gehen scheinet der Strom. In: DonauWelten. Ein Flussbuch. Hg. Regina Hellwig-Schmid. Viechtach 2000, S. 139–148. – Sisyphos. Selbstverlag 2003 (Theaterstück). Literatur: Lutz Hagestedt: Spiele im Sand. In: SZ, 25.4.1985. – Bernhard Setzwein: H. R. trinkt mit mir am Starnberger See ein oder vielleicht auch zwei Weißbier. Ein Grantolettl aus Anlaß des 100.

Riederer Geburtstages v. Oskar Maria Graf. In: Passauer Pegasus 12 (1994), H. 23, S. 9–20. Waldemar Fromm

Riederer, Johann Fried(e)rich, * 20.2.1678 Nürnberg, † 25.6.1734 Nürnberg. – Lyriker, Satiriker, Fabeldichter, Übersetzer.

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war R. seit 1713 Mitgl. des Pegnesischen Blumenordens. Weitere Werke: Das poet. Scherz-Kabinett [...]. Nbg. 1711. o. O. 1713. – Eigentl. Portrait eines getreuen Schul-Lehrers [...] Herrn Samuel Fabers [...]. Lpz. 1716. Ausgabe: Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007.

Literatur: Bibliografien: Alberto Martino: Die Obwohl er gern Medizin studiert hätte, musste R. 1692 nach dem Tod des Vaters ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. Christoph Riederer, der Diakon an der 1994, S. 326. – Jürgensen, S. 673–678. – Weitere TiNürnberger Egidienkirche gewesen war, im tel: Georg Andreas Will: Nürnbergisches GelehrtenLexicon [...]. Tl. 3, Nürnb./Altdorf 1757, Alter von 14 Jahren das Gymnasium verlassen S. 317–321. – Franz Brümmer: J. F. R. In: ADB. – u. den Kaufmannsberuf ergreifen. Nach DBA. – Jürgensen, S. 670–678 u. Register. sechsjähriger Lehrzeit in Nürnberg (1692 bis Uta Schäfer-Richter / Red. 1698) ging er jeweils für einige Zeit nach London, Amsterdam, Paris, Lyon u. 1703 Riedesel, Johann Hermann, Frhr. zu Einach Wien, bis er 1708 nach Nürnberg zusenbach, * 10.11.1740 Höllrich/Unterrückkehrte, heiratete u. eine Handelsfirma franken, † 20.9.1785 Wien. – Diplomat u. eröffnete. Nachdem ein erneuter mehrjähriVerfasser von Reisebeschreibungen. ger geschäftl. Aufenthalt in Frankreich (ab 1720) nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein Nach dem (mutmaßl.) Besuch der Ritterakascheint, ließ sich R. abermals in Nürnberg demie zu Idstein/Taunus, dem Jurastudium nieder, wo er in seinen letzten Lebensjahren in Erlangen sowie Aufenthalten in RegensUnterricht in mehreren Sprachen erteilte. burg u. Wien brach R. Ende Dez. 1761 zu Neben den Geschäften entfaltete R. eine seiner Kavalierstour auf. Über Südfrankreich rege literar. Tätigkeit. Seinen Zeitgenossen kam er im Okt. 1762 nach Rom, wo er mit galt er v. a. als Kasual- u. Liederdichter, doch Winckelmann Bekanntschaft schloss. Im bildet das nur einen Schwerpunkt seines Sommer 1763 kehrte er in seine Heimat zuSchaffens (z.B. Leichen- Hochzeit- vermischt’- und rück; im Frühjahr 1765 begab er sich in geistliche Getichte. Nürnb. 1711). Aus literatu- württembergischen Diensten nach Lausanne, rhistor. Sicht ist R.s Sammlung Äsopischer wo er mit Ludwig Eugen, dem Bruder des Fabeln bedeutsam, weil sie zu den ersten dt. württembergischen Herzogs Karl Eugen, in Neubearbeitungen Äsops seit dem Humanis- Verbindung stand. mus (Steinhöwel) u. zu den Anfängen bür1766 begann R. eine beispiellose Europagerlich-aufklärerischer Fabelkultur gehört reise. Zunächst verbrachte er in Rom ein (Aesopi Fabuln, in teutsche Reimen nach jetziger Art knappes Jahr wieder in Gesellschaft Winund möglichster Kürtze gekleidet [...]. Coburg ckelmanns, in dessen Auftrag er 1767 als erster 1717). Daneben ist der Satiriker (z.B. in der Deutscher im 18. Jh. Sizilien, Malta u. ApuSatirenfolge Die abentheuerliche Welt in einer lien bereiste, um systematisch nach ZeugnisPickelheerings-Kappe [...]. Nürnb. 1718–19) u. sen der einstigen griech. Hochkultur zu suder Übersetzer R. zu beachten. Sein erfolg- chen. Sein in Gestalt zweier Sendschreiben an reichstes Werk war aber wohl Die bedenkliche Winckelmann abgefasster Reisebericht erund geheimnus-reiche Zahl Drey, in theologicis po- schien auf dessen Betreiben 1771 anonym in liticis und historicis (o. O. 21711. Ffm./Lpz. Zürich (Reise durch Sicilien und Großgriechen4 1732 u. ö.), das aus einem Verlöbniscarmen land. Zuletzt mit Kommentar Bln. 1965. Frz. hervorging u. in teils scherzhafter, teils u. engl. Übers. 1773). Diese Schilderung eines ernsthafter Manier eine Fülle von Details aus Landes mit immer noch lebendiger griech. dem Gebiet der Zahlensymbolik darbietet, Kultur prägte 1787 das Sizilienerlebnis Goeohne selbst zahlenmyst. Denken anzuhän- thes. Am 10.5.1768 begab sich R., wiederum gen. Unter dem Gesellschaftsnamen »Jriflor« als erster Deutscher im 18. Jh., auf eine Reise

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Riedrer

ins östl. Mittelmeer, die ihn über Smyrna, personal. Funktionsträger für Kaiser u. Reich. Hg. Ephesos u. die Kykladen nach Athen u. Kon- Anette Baumann. Köln u. a. 2003, S. 199–208. – stantinopel führte. In seinen Remarques d’un Thomas Freller: J. H. v. R.: der Mentor Goethes in voyageur moderne au Levant (Amsterd. 1773. Dt. Italien, Griechenland, Ägypten, Spanien u. England. In: Ders.: Adlige auf Tour: die Erfindung der zuerst Lpz. 1774. Zuletzt Darmst. 1942), in Bildungsreise. Ostfildern 2007, S. 170–181. denen er nach Winckelmanns Tod wieder die Albert Meier gewohnte frz. Sprache benutzte, lobt der Montesquieu-Verehrer R. die türk. Toleranz, Riedrer, Friedrich, * um 1450 Mühlhauer zeichnet ein illusionsloses Bild des mosen bei Engen/Kraichgau, † um 1510 wohl dernen Griechenland. Über Spanien, Portugal in Freiburg/Br. – Drucker; Verfasser eines u. Frankreich kam er Ende 1769 nach LonKanzleihandbuchs. don, von wo aus er auch Schottland u. Irland Dem urspr. leibeigenen R. ermöglichte seine bereiste. 1771 kehrte R. über Paris, Belgien u. die Herrschaft ab 1475 ein Studium an der UniNiederlande nach Hessen zurück u. wurde versität Freiburg/Br. Er schloss das Studium 1772 in Berlin zum Königlich Preußischen nicht ab, sondern wechselte ebenda in die Kammerherrn ernannt. Die Hoffnung, zum Funktion städt. Schreiberämter über. Von Gesandten in London bestellt zu werden, er- 1492 bis 1499 wirkte er erfolgreich als gefüllte sich nicht; im Juni 1773 folgte jedoch lehrter Drucker in Freiburg u. gelangte zu die Ernennung zum außerordentl. Gesandten relativem Wohlstand. 1493 veröffentlichte R. als eigenes Werk Preußens in Wien (größter Erfolg: Frieden von Teschen 1779). 1778 heiratete R. die den Spiegel der wahren Rhetoric, eine Mischung Hofdame Charlotte Mariana von Beeren; sein aus rhetorischem Theorieteil nach Cicero, tödlicher Reitunfall ereignete sich im Park prakt. Briefformularteil für den gesamten öffentl. u. privaten Bereich (einschließlich livon Schloss Schönbrunn. Literatur: Walther Rehm: J. H. v. R. In: Im- terar. Formen wie Scherzbriefe) u. einem abprimatur 8 (1938), S. 71–101. – Karl Siegmar Baron schließenden Teil zum Vertragswesen auf der v. Galéra: Vom Reich zum Rheinbund. Weltgesch. Basis des röm. Rechts. Das mehrfach aufgedes 18. Jh. in einer kleinen Residenz. Neustadt/ legte Werk (Straßb. 1505. 1507. 1517 [erw.]. Aisch 1961, S. 386–409.  Teodoro Scamardi: J. H. Augsb. 1535) ist das erste dt. Kanzleihandv. R. [...]. In: Ders.: La Puglia nella letteratura di buch, das humanist. Gelehrtenpositionen in viaggio tedesca. Lecce 1987, S. 33–58.  Helene die konkrete Rechts- u. Verwaltungspraxis zu Waltraud Haibach: J. H. R. [...]. Ein hess. Adliger überführen versucht. Es stellt eine für seine als Freund Winckelmanns u. Vertreter der europ. Zeit erstaunlich originäre Leistung dar, die Aufklärung im Dienst Friedrichs des Großen. In: gelehrtes Wissen mit anschaul. ErfahrungsArchiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 47 (1989), S. 137–180.  Karl H. L. Welker: J. W. R. potential zu verbinden weiß. Frhr. zu Eisenbach als Geheimer Rat in Osnabrück (1772–80). In: Osnabrücker Mitt.en 95 (1990), S. 107–128. – Ernst Osterkamp: J. H. v. R.s Sizilienreise. Die Winckelmannsche Perspektive u. ihre Folgen. In: Europ. Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Hans-Wolf Jäger. Heidelb. 1992, S. 93–106.  Gerhard Kalkhof: Der Wiss. wegen eine Reise v. der Altenburg nach Sizilien: der Humanist u. Diplomat J. H. R. In: Heimat im Bild 21/ 22 (1994), o. S. – Albert Meier: Sizilian. Enttäuschungen. J. H. R. u. J. W. Goethe in der Magna Graecia. In: Christiana Albertina. Forschungsber. u. Halbjahresschrift der Univ. Kiel 50 (2000), S. 5–19.  Cornelia Oelwein: R. In: NDB. – Karl H. L. Welker: J. W. R. zu Eisenbach. Zur Persönlichkeit eines Reichskammergerichtsassessors. In: Reichs-

Literatur: Erich Kleinschmidt: Humanismus u. urbane Zivilisation. In: ZfdA 112 (1983), S. 296–313 (mit älterer Lit.). – Ders.: R. In: VL. – Hermann Baumeister: Der frühe Freiburger Buchdruck. Kilian Fischer u. F. R. In: Aus dem Antiquariat Nr. 2 (2007), S. 87–98. Erich Kleinschmidt / Red.

Riefenstahl

Riefenstahl, Leni, eigentl.: Bertha Helene Amalie, * 22.8.1902 Berlin-Wedding, † 8.9.2003 Pöcking/Starnberg. – Regisseurin, Filmschauspielerin, Produzentin, Bildjournalistin, Ausdruckstänzerin. R. besuchte das Kollmorgen’sche Lyzeum in Berlin u. nahm später Unterricht in Malen u. Zeichnen an der Kunstakademie. 1918 begann sie eine Ausbildung an der Tanzschule Grimm-Reiter u. a. bei Eugenie Eduardowa u. Mary Wigman. Auf ihr Debüt 1923 als Tänzerin in München folgten ca. 70 Auftritte, etwa in Berlin, Zürich u. München. Bis zu einer Knieverletzung 1924 hatte R. ein Engagement bei Max Reinhardt am Deutschen Theater. Ihr Interesse für den Film führte 1924 zum Kontakt mit dem Gebirgs- u. Naturfilmregisseur Arnold Fanck. In dessen Film Der heilige Berg bekam R. 1926 ihre erste Spielfilm-Rolle u. begann ihre Filmausbildung. Nach Rollen in weiteren Bergfilmen, aber insg. nur mäßigem Erfolg führte R. 1932 erstmals selbst Regie. Für Das blaue Licht lieferte sie das Drehbuch, spielte die Hauptrolle u. leitete die Produktion, wofür sie die Goldmedaille auf der Biennale erhielt. Dieser Erstling erregte wegen seiner ungewöhnl. Techniken u. Einstellungen Aufsehen. Wirklich bekannt wurde R. durch den Auftrag, den 5. Reichsparteitag der NSDAP 1933 in Nürnberg zu filmen, woraus zunächst Sieg des Glaubens (1933), später eine Trilogie von Parteitagsfilmen mit dem international beachteten Triumph des Willens (1934) u. dem Kurzfilm Tag der Freiheit. Unsere Wehrmacht (1935) entstand, die sich den jeweils folgenden Parteitagen widmeten. Mit diesen Filmen wurde R. zur ersten weltweit bekannten Regisseurin. Kam der Auftrag zu Sieg des Glaubens noch vom Propagandaministerium, drehte R. den von der NSDAP finanzierten Triumph bereits auf ausdrückl. Wunsch Hitlers, den sie 1932 kennengelernt u. beeindruckt hatte. In der ersten großen NSSelbstinszenierung von 1933 erprobte R. ihre Verbindung von Körper- u. Massenästhetik mit modernen Inszenierungs- u. Schnittechniken. Die bereits hier erkennbare Faszination an der filmischen Inszenierung des Massenornamentes (Kracauer) erreichte mit dem

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noch elaborierteren Triumph eine Qualität des ästhetisch-polit. Films, die selbst Kritiker unwillig anerkannten. Diese von ihr als Dokumentarfilm bezeichnete Darstellung u. Glorifizierung nationalsozialist. Macht wurde 1935 auf der Biennale in Venedig u. 1937 in Paris bei der Weltausstellung prämiert u. ist vielleicht das einflussreichste Kunstwerk des Nationalsozialismus. R.s Verdichtung des Parteitages zum Film-Epos folgt der Idee der Verknappung, Beschleunigung u. Dramatisierung der Handlung zur rhythmisierten Apotheose von Macht u. Größe, zu der neben den Einstellungen u. inszenierten Symbolen (Fahnen, Flammen, Bühne) auch die Musik beitrug. Damit nähert dieser Film sich der Idee des Gesamtkunstwerks mit modernen Montage-Techniken an. Bei R. löst sich das Individuum in der Masse, der Gemeinschaft auf. Tag der Freiheit folgt der gleichen totalen Ästhetik, die auf umfassenden Effekt zielt. Die Olympia-Filme Fest der Völker u. Fest der Schönheit (1936) stellen den Höhepunkt des Schaffens von R. dar; beide setzen ebenfalls auf enormen techn. Aufwand zur Inszenierung eines Schönheitskultes, der nur scheinbar an die antiken Ideale anknüpft, ideologisch aber der Kunstdoktrin des Nationalsozialismus verpflichtet ist. Die Olympia-Dokumentation wurde noch 1948 vom IOC ausgezeichnet, obwohl der Triumph u. Olympia als wichtigste Propagandafilme des Nationalsozialismus gelten. 1941/42 arbeitete R. an Tiefland, für den sie sich nicht nur wie bei den älteren Filmen der NS-Ideologie andiente; hier kamen zwangsrekrutierte Sinti u. Roma als Komparsen zum Einsatz. Durch ihre technisch hervorragenden u. ideologisch zweifelhaften Arbeiten hatte sich R. den Ruf einer NS-Künstlerin erworben, wurde aber nach dem Krieg 1950 als »Mitläuferin« eingestuft. In der Folge wandte R. sich verstärkt der Fotografie zu. 1972 war sie als Korrespondentin bei den Olympischen Spielen, von 1962–1966 besuchte sie dreimal den Stamm der Nuba in Afrika, woraus zwei 1973 u. 1976 erschienene Bildbände hervorgingen (Die Nuba; Die Nuba von Kau, beide Mchn.), z.T. vorab publiziert in großen Magazinen (u. a. »Stern«). 1990 folgte ein Band Unterwasser-Fotografie. Auch die Bildästhe-

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tik der Fotobände ist kritisch betrachtet worden wegen der Faszination am geformten, muskulösen Körper u. der Inszenierung des Vitalen, Schönen u. Starken, die als Fortsetzung ihrer Filmästhetik interpretiert werden können. Susan Sontag hat dies als Faszinierender Faschismus (1975) kritisiert. Trotz der immer wieder bemerkten Nähe ihrer Bild-Ästhetik zur totalitären Politik des Nationalsozialismus kam es in den 1990er Jahren zu einer Renaissance der R.-Rezeption in Retrospektiven u. Ausstellungen. Bekannte Künstler wie Andy Warhol, Francis Ford Coppola u. Mick Jagger bekannten sich zu ihr, was auf eine von den polit. Dimensionen weitgehend gelöste Neubewertung R.s als Künstlerin hinweist. Sie hat sich in ihren Memoiren (Mchn. 1987) selbst zur unpolit. Künstlerin stilisiert, die sie nicht war, selbst wenn es je ihr Selbstverständnis gewesen sein sollte. Literatur: Susan Sontag: Faszinierender Faschismus. In: Dies.: Im Zeichen des Saturn. Mchn. 1980, S. 95–124 (Ess.s). – Rainer Rother: L. R. Die Verführung des Talents. Bln. 2000. – Jürgen Trimborn: R. Eine dt. Karriere. Biogr. Bln. 2002. – Jörn Glasenapp: R.-Renaissance. In: Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Dtschld. Hg. Torben Fischer u. Matthias Lorenz. Bielef. 2007, S. 214 f. Jan Andres / Sarah Skupin

Riegel, Werner, auch: Conrad Kefer, Lothar Leu, Scharbock, John Frieder, * 19.1. 1925 Danzig, † 11.7.1956 Hamburg. – Lyriker, Herausgeber.

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Hoddis, Huelsenbeck, Benn u. der junge Arno Schmidt. Vor allem die Benn’sche Diktion wirkt in R.s sarkastischen u. sensiblen, zgl. schnoddrigen u. intellektualist. Gedichten unverkennbar nach, wird aber selbstironisch reflektiert. R.s Reimtechnik ist witzig u. virtuos bis zum Manieristischen. Gleichgewichtig, wenn auch nicht immer literarisch gleichrangig steht neben der Lyrik die an Karl Kraus orientierte scharfsichtige u. scharfzüngige polit. Polemik gegen Restauration u. Militarismus, Kalten Krieg u. stalinist. Vereinnahmungsversuche. Gemeinsam veröffentlichten R. u. Rühmkorf im Todesjahr R.s 1956 den Band Heiße Lyrik (Wiesb.). Weitere Werke: Gedichte u. Prosa. Nachw. v. Peter Rühmkorf. Wiesb. 1962. – Der Admiral. Aus dem Nachl. hg. v. Gunnar Falk Fritzsche. Kieholm/ Stgt. 1995. – Zwischen den Kriegen. W. R., Klaus Rainer Röhl u. P. Rühmkorf. Briefw. mit Kurt Hiller 1953–71. Hg. Rüdiger Schütt. Nachw. v. P. Rühmkorf. Beitr. v. K. R. Röhl. Mchn. 2009. Literatur: Peter Rühmkorf: W. R. – ›beladen mit Sendung, Dichter u. armes Schwein‹. Zürich 1988 (darin: W. R.: Zwischen den Kriegen. Gedichte u. Prosa). – Hans J. Schütz: R. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988. – Lars Clausen: Die Finisten. In: Mittelweg 36 (1992), H. 5, S. 19–35. – Helmut Schmitz: W. R. and ›finismus‹. Between Commitment and Retreat. In: GLL 46 (1993), H. 4, S. 368–384. – Rainer Zekert: W. R. Ein Dichter aus Danzig. In: 1000 Jahre Danzig in der dt. Lit. Hg. Marek Jaroszewski. Danzig 1998, S. 201–211. – Dora Diamant: W. R. zwischen den Kriegen. Zur literar. Archäologie der Bundesrepublik. In: Welfengarten 10 (2000), S. 167–174. Heinrich Detering / Red.

R., Sohn eines Handelsgehilfen, wurde 1943 nach seinem Schulabgang zum Kriegsdienst Rieger, Franz, * 23.1.1923 Riedau/Obereingezogen u. zweimal verwundet. In der österreich, † 11.5.2005 Oftering/OberNachkriegszeit arbeitete er als Wald- u. Bauösterreich. – Roman- u. Hörspielautor, arbeiter, Nachtwächter u. Kontorbote. Zus. Lyriker. mit Peter Rühmkorf war er 1952–1956 Herausgeber u. zgl. einer der Hauptautoren der Der Sohn eines Lehrers war bis 1941 im FiZeitschrift »Zwischen den Kriegen«, die, um nanzdienst tätig, in den er nach Kriegsteilsich vom kommerziellen Literaturbetrieb ab- nahme u. Gefangenschaft in Italien u. den zugrenzen, nur hektografiert u. in kleinster USA 1946 zurückkehrte. 1955 schlug er die Auflage erschien. Halb ironisch, halb ernst Bibliothekarslaufbahn ein, die er bis 1983 gemeint im Blick auf die Gefahr eines neuen ausübte. Weltkriegs, bezeichneten R. u. Rühmkorf ihr R. gilt als literar. Außenseiter von hoher Programm als »Finismus«. Bewunderte, in sprachl. Souveränität. Nach seinem ersten Essays porträtierte Vorbilder waren u. a. Erzählband, Ein Zweikampf (Linz 1964), ge-

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lang ihm mit den Romanen Paß (Wien 1973) schärfer und eindringlicher nachzeichnen, als u. Die Landauer (Wien 1974) ein später die nicht alltäglichen, vielleicht weil deren Durchbruch. Unzugänglichkeit, Fremdheit Ereignisse sich tiefer ins Fleisch schneiden« u. Verstörung, Dorf u. ländl. Provinz be- (Rieger, OöN, 1993), kennzeichnen die Texte stimmen R.s Prosa thematisch wie figurativ. dieses zwar wenig zeitgemäß wirkenden, Mit der Präzision altmeisterl. Stiche werden aber souverän über die Sprache verfügenden Rituale des Alltags, Szenarien der Ausgren- Autors. zung, der Ohnmacht u. Erstarrung beschrieWeitere Werke: Vierfrauenhaus. Zürich 1981 ben, Spuren der Erinnerung an die 1930er (R.). – Brief an einen dt. Freund. In: Vom Reich zu Jahre u. den Krieg gesichert, die durchwegs Österr. Hg. Jochen Jung. Salzb. 1983. – Ein Leben, ein Leiden der Figuren sichtbar machen. Dem ein Ort, eine Zeit. In: Rauriser Jb. 1986 (E.). – vordergründigen Mangel an Geschehen be- Feinderfahrung. In: Reden an Österr. Hg. J. Jung. gegnet R. mit ausgreifender, die Statik der Salzb. 1988. – Querland. Weitra 1990. – Der Orkan. Weitra 1993 (R.). – Fleisch wie Gras. Weitra 1997 Verhältnisse erfassender Genauigkeit, mit ei(E.). – Die unverzichtbare Ohnmacht. Weitra 2000. ner Geometrie des Sehens u. Vermessens in- – Verschwinden, im Dunkeln. Weitra 2002 (R., L.). nerer u. äußerer Landschaften (z.B. in Feld- – Hörspiele: Der Landvermesser. ORF 1963. – Beiwege. Wien 1976), die auf Stifter zurückweist spiel einer Rebellion. ORF 1974. – Johannes Kepler u. ihn zgl. produktiv fortschreibt. Das Thema – Das andere Leben. ORF 1986. der tödl. Ausgrenzung psychisch Kranker Literatur: Norbert Mecklenburg: ›Die Krankwährend der NS-Zeit wirkt als Erfahrung heit des Dorfes‹. Über den Erzähler F. R. In: MAL auch auf patholog. Verhaltensweisen der Fi- 15 (1982), H. 2, S. 43–56. – Anna Mitgutsch: R. In: guren wie z.B. in Der Kalfakter (Zürich 1978), LuK 233/234 (1989). – Die Rampe. Sonderh. F. R. zgl. eine Gestaltung der Sprachlosigkeit im 1993. – Matthias Luserke: Über F. R.s Roman ›Inarchaisch-bäuerl. Raum. Zwischenzeit Karman ternat in L.‹ (1986). In: lit. für leser 24 (2001), (Zürich 1979) zeichnet eine Reise zu Plätzen S. 116–121. – A. Mitgutsch: Der Gestus der Vergeblichkeit. Laudatio zu F. R.s 80. Geburtstag. In: der Kindheit nach. Autobiografisches arbeitet LuK (2003). Primus-Heinz Kucher auch Internat in L. Darstellung eines empfindsamen Charakters (Graz 1986) auf, eine Rekonstruktion von Flucht- u. AnpassungsbeweRieger, Magdalena Sibylla, geb. Weissengungen in der Kälte kath. Erziehung vor u. see, * 29.12.1707 Maulbronn/Württembis 1938. Schattenschweigen oder Hartheim (Graz berg, † 31.12.1786 Stuttgart. – Verfasse1985) stellt sich in Form überlieferter Aufrin geistlicher Gedichte. zeichnungen des Hartheimer Pfarrers dem NS-Euthanasieprogramm, der Frage der Als einzige Tochter des evang. Theologen u. (Mit)Schuld u. jener des Widerstands. Das späteren Prälaten Philipp Heinrich WeissenFaktotum und die Lady (Graz 1988) behandelt see wurde R. von ihrem Vater sorgfältig, wie dagegen eine unerfüllte wie unzeitgemäße ein Sohn, unterrichtet. Ihr Mann, Emmanuel Liebe zu Kriegsende, während die Erzählun- Rieger (Bruder von Georg Konrad Rieger), gen in Unmögliche Annäherungen (Graz 1990) u. unterstützte sie, als sie begann, geistl. Lieder Um ihn herum (Weitra 1995) neuerlich R.s Welt nach den Sonntagsevangelien zu dichten. des Abgründigen, der stummen Tragödien Wegen jahrelanger Kopf- u. Nervenschmerhinter den Fassaden ausloten. Prägnanz zen wandte sie sich an den Arzt u. Dichter kennzeichnet auch den Lyrikband Am Tor Daniel Wilhelm Triller. Dieser konnte ihr meines Mundes. Gedichte (Weitra 1988. 51994), Linderung verschaffen, entdeckte u. veröfwährend der späte Roman Außer-Fern (Weitra fentlichte überdies ihren Versuch einiger geist1995) episodisch strukturiert Stationen aus lichen und moralischen Gedichte (Ffm. 1743. InR.s Kriegsgefangenschaft in Italien u. in den ternet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. USA 1944–1947 in kargem, lakon. Berichts- Paul Raabe. Mchn. 2007). Ihre Dichtungen stil aufzeichnet. »Behutsamkeit und Stille« stießen durch ihre ungekünstelte, oft (Mitgutsch) sowie die Erfahrung, »dass all- schwungvolle Sprache, ihre starke (pietistitägliche Erinnerungen und Einzelheiten sche) Religiosität, aber auch durch Humor u.

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Realitätssinn auf breites Interesse. Ihr pri- Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, märes Anliegen war es, die Beziehung der S. 1699–1701. Elisabeth Schneider-Böklen / Red. Seele zu Gott u. Jesus auszudrücken. Daneben schrieb sie auch Gelegenheits- u. LehrgeRieger, Sebastian, auch: Reimmichl, dichte u. konnte etwa sarkastisch über die * 28.5.1867 St. Veit in Defereggen, † 2.12. Unterdrückung der Frauen sagen: »Uns ist 1953 Heiligkreuz bei Hall/Tirol; Grabder Verstand im Mutterleib erfroren!« stätte: ebd. – Erzähler. Im Mai 1743 wurde R. durch die Universität Göttingen zur Poeta laureata erhoben, Der Sohn eines Händlers u. Bauern aus dem außerdem nahm die Deutsche Gesellschaft in Defereggental studierte Theologie in Brixen Göttingen sie im selben Jahr als Mitgl. auf. u. wurde 1891 Priester. Als Hilfspriester in In der Folgezeit wurde R. bis zur Mitte des Sexten begann er im »Tiroler Volksboten« 19. Jh. erwähnt (als »kindlich-einfältige See- Geschichten u. d. T. Was der Reimmichl erzählt le«, Glökler), auch Lieder von ihr standen zu veröffentlichen. Ab 1898 war R. Herausnoch in den evang. Gesangbüchern. Bis in die geber des in Tirol weit verbreiteten Blatts. Die Gegenwart erhielt sich ihr Lied Meine Seele meisten seiner Geschichten erschienen zuerst voller Fehle im württembergischen Anhang im »Volksboten« oder im »Reimmichlkalenzum EKG (Lied 446). Lion Feuchtwanger der« (seit 1925; 1920 als »Volkskalender« entriss R. der Vergessenheit: In seinem Dra- gegründet). Er selbst nannte den Kalender, ma Jud Süß (Mchn. 1918) wie auch in dem der bis heute unter diesem Namen in Nord- u. gleichnamigen Roman (Mchn. 1925) wird R. Südtirol erscheint, »das liebste und teuerste als Mätresse des württemberg. Herzogs dar- aller meiner Werke«. Von den mehr als 200 gestellt. Erzählungen u. Romanen wurden fast alle Weitere Werke: Geistlich- u. moral., auch zu- auch in Buchform veröffentlicht u. erreichten fällig-vermischter Gedichte neue Slg. [...]. Hg. Da- eine Gesamtauflage von über drei Millionen niel Wilhelm Triller. Stgt. 1746. Internet-Ed. in: Exemplaren. Zu den beliebtesten Titeln geDt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. P. Raabe. Mchn. hören Der Fahnlbua und andere Erzählungen 2007. – Geistlich- u. moralischer, auch zufällig- (Innsbr. 1926), Die Glocken von Hochwald vermischter Gedichte neueste Slg. [...]. Karlsr. (Innsbr. 1917), Der Judas von Haldernach 1754. Internet-Ed. ebd. (Innsbr. 1929) u. Weihnacht in Tirol (Innsbr. Ausgabe: Lebenslauf (entst. 1742). In: ›Mein 1911). Das Geheimnis von R.s Erfolg liegt in Herz brannte richtig in der Liebe Jesu‹. Autobiogr.n seiner Begabung als Erzähler, die Darstelfrommer Frauen aus Pietismus u. Erweckungsbewegung. Eine Quellenslg. Hg. M. H. Jung. Aachen lungskraft u. Erfindungsreichtum vereint, in der genauen Kenntnis der Menschen, für die 1999, S. 113–150. Literatur: Koch 5, S. 202–209. – Johann Philipp er schrieb, u. in seiner humorvollen, positiven Glökler: M. S. R., die lorbeergekrönte Dichterin. u. doch nicht unrealist. Lebensauffassung. In: Ders.: Aus der Frauenwelt. Stgt. 1868, S. 186–231. – Elisabeth Schneider-Böklen: M. S. R. [...]. In: Württemberg. Bl. für Kirchenmusik 57 (1990), S. 123–130. – Cornelia Niekus Moore: M. S. R., ›die Poetische Eh-frau‹. In: PuN 21 (1995), S. 218–231. – Rolf Scheffbuch: Lebensbilder württemberg. Frauen [...]. Neuhausen-Stgt. 1997. – Martin H. Jung: Frauen im Pietismus. Zehn Porträts [...]. Gütersloh 1998, S. 97–107. – Herbert Hummel: M. S. R., die gekrönte Dichterin. In: Schwabenspiegel [...]. Hg. Ulrich Gaier u. a. 2 Bde., Ulm 2003, Bd. 2, S. 697–702. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005,

Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Innsbr.): Aus den Tiroler Bergen. 1898. – Die schwarze Frau. E.en aus dem Tiroler Freiheitskrieg. 1909. – Das Auge der Alpen. 1924. – Das Schwarzblattl. 1928. – Ein verlorener Sohn. 1953. – ReimmichlHausbuch. 21989. Literatur: Reimmichl. Eines Volksdichters Leben u. Schaffen. Zum 60. Geburtstag R.s. Innsbr. 1927. – Herta Neurather: Reimmichl als Tiroler Volkserzähler u. Erzieher. Diss. Innsbr. 1950. – Der Pfarrer v. Tirol. Reimmichl u. seine Gesch.n. Mit einem Lebensbild v. Hans Brugger. Innsbr. 1972 (mit Bibliogr.). – Karl Erlacher: Gesch. u. Analyse der Südtiroler Kalender 1920–70. Diss. Padua 1983/84. – Paul Rainer: S. R. In: St. Antoniusblatt 7/8 (1984), S. 32 ff. – Ekkart Sauser: R. In: Bautz. –

Riegl Martin Reiter: Mei Liab ist Tirol – Ist mei Weh u. mei Wohl. Reimmichl – der Tag- u. Nachtschreiber Gottes (Biogr.). Schwaz 1992. – Wolfgang Hackl: Der Gast als Bedrohung. Reimmichls Kulturkampf gegen den Fremdenverkehr. In: Lit. u. Sprachkultur in Tirol. Hg. Johann Holzner. Innsbr. 1997, S. 359–379. – Hanns Humer: Geschichtenerzähler u. Zeitungsschreiber: vor 50 Jahren starb Monsignore S. R. bekannt als Reimmichl. In: Südtirol in Wort u. Bild 46/47 (2002/03), S. 29–31. – Hans Pörnbacher: R. In: NDB. Hans Pörnbacher / Red.

Riegl, Alois, * 14.1.1858 Linz, † 19.6.1905 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Kunsthistoriker. R. promovierte 1883 in Wien u. war anschließend Kustos der Textilsammlung am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie. Aus dem Umgang mit kunsthandwerkl. Objekten entstand die Studie Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (Bln. 1893. Neudr. Mchn. 1985), die – sich absetzend gegen die materiale Ästhetik Gottfried Sempers – für eine entwicklungsgeschichtl. Betrachtungsweise bahnbrechend wirkte. 1897 als Ordinarius an die Wiener Universität berufen, entwarf R. eine auf den Formgesetzen des Kunstwerks basierende Historische Grammatik der bildenden Künste (Köln 1966. Aus dem Nachl.). Seine explizit positivist. Auffassung des Kunstschaffens ließ keine geschmacksbedingten Qualitätsurteile zu u. erlaubte es, vermeintl. Verfallsepochen wie die Spätrömische Kunst-Industrie (2 Bde., Wien 1901 u. 1923. Neudr. Darmst. 1964. Zuletzt Neuausg. Bln. 2000) als konsequente Erscheinungen der Kunstentwicklung neu zu bewerten. Auch Das holländische Gruppenporträt (Wien 1902. 21931) rückte strukturelle Aspekte einer vernachlässigten Kunstgattung in den Mittelpunkt. Schließlich machte sich R. von 1902 bis zu seinem frühen Tod als österr. Generalkonservator um die Denkmalpflege verdient. R. ist Mitbegründer der Wiener Schule der Kunstgeschichte. Methodisch bedeutsam wurde der von ihm eingeführte Begriff des »Kunstwollens« als einer gestalterischen Triebkraft, welche die Kunstgeschichte analog zu allen anderen Kulturbereichen bestimme u. der jeweiligen Weltanschauung

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entspreche. Damit war R. gegenüber der normativen Ästhetik in der Lage, die geistige Komponente als geschichtsbildende Dimension der bildenden Kunst anzuerkennen. Diese bleibe für die empir. Forschung allerdings unzugänglich. Faßbar seien die Werke allein in ihrem formalen Bestand; jedes darüber hinausgehende Erkenntnisstreben sei metaphys. Spekulation. Obwohl er also wesentl. Ansätze vermittelte, gelangte R. nicht zu einer geistesgeschichtl. Kunstwissenschaft. Doch hat sich der viel kritisierte Begriff des »Kunstwollens« bis heute als fruchtbar erwiesen, er ist als Terminus über die kunsthistor. Fachgrenzen hinaus in die Allgemeinbildung eingegangen. Weitere Werke: Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Hg. Arthur Burda u. Max Dvorák. Wien 1908. Neudr. Mchn. 1987. – Ges. Aufsätze. Augsb. 1929. – Die Aufsätze. 2 Bde., Mchn. 1986. – Kunstwerk oder Denkmal? A. R.s Schr.en zur Denkmalpflege. Hg. Ernst Bacher. Köln u. a. 1995. Literatur: Dieter Bogner: Empirie u. Spekulation. A. R. u. die Wiener Schule der Kunstgesch. In: Wien um 1900. Kunst u. Kultur. Mchn. 1985, S. 437–446. – Jörg Oberhaidacher: R.s Idee einer theoret. Einheit v. Gegenstand u. Betrachter [...]. In: Wiener Jb. für Kunstgesch. 38 (1985), S. 199–218. – Wolfgang Kemp: A. R. In: Altmeister moderner Kunstgesch. Hg. Heinrich Dilly. Bln. 1990, S. 37–60. – Margaret Iversen: A. R. Cambridge/MA 1993. – Andrea Pinotti: Il corpo dello stile. Palermo 1998. – Sandro Scarrocchia (Hg.): A. R.: teoria e prassi della conservazione dei monumenti; antologia di scritti, discorsi, rapporti 1898–1905, con una scelta di saggi critici. Bologna 1995. – Heinz Horat: A. R.: der moderne Denkmalkultus. In: Ztschr. für Schweizerische Archäologie u. Kunstgesch. 53 (1996), S. 61–78. – Ulrike Krone-Balcke: R. In: NDB. – Georg Vasold: A. R. u. die Kunstgesch. als Kulturgesch.: Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten. Freib. i. Br. 2004. – Hand in Hand mit A. R. [...]. Ein Film v. Renzo Casetti. 2005. – Mechthild Fend: Körpersehen. Über das Haptische bei A. R. In: Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wiss. u. Ästhetik. Hg. Andreas Mayer u. Alexandre Métraux. Ffm. 2005, S. 166–202. – Maria Andaloro (Hg.): La teoria del restauro nel Novecento da R. a Brandi. Florenz 2006 (Kongressber.). – S. Scarrocchia: Oltre la storia dell’arte: A. R., vita e opere di un protagonista della cultura viennese. Mailand 2006 (Lit.). – Michael Gubser: Time’s Visible Surface: A. R. and the Discourse on History and Tem-

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637 porality in Fin-de-siècle Vienna. Detroit 2006. – Johannes Feichtinger: A. R. Wegbereiter einer relativierenden Wissenschaftsauffassung in der Wiener Moderne. Eine Skizze. In: FS Götz Pochat. Hg. Johann Konrad Eberlein. Wien 2007, S. 237–254. – A. R. (1858–1905): un secolo dopo. Rom 2008 (Kongressber. Dt. Archäolog. Institut). Edwin Lachnit / Red.

Riehl, Wilhelm Heinrich von (seit 1883), * 6.5.1823 Biebrich/Rhein, † 16.11.1897 München; Grabstätte: ebd., Alter Nördlicher Friedhof. – Kulturhistoriker, Soziologe, Novellist. Der Vater, herzoglich nassauischer Schlossverwalter in Biebrich, war ein literarisch u. ästhetisch gebildeter Autodidakt; ein selbstverschuldetes Nervenleiden trieb ihn 1839 in den Selbstmord. R. wurde an den Lateinschulen in Wiesbaden u. Weilburg/Lahn im Geist des klass. Altertums u. der protestant. Musikpflege erzogen. Der Nationalismus der Befreiungskriege wurde im dt. Südwesten unterdrückt. Die Unzufriedenen schauten nach Frankreich als dem Land der Freiheit. R. jedoch setzte den unglückl. Charakter seines 1789 geborenen Vaters mit dem der Revolution gleich u. erbaute sich an dem Erinnerungsbild des schlichten, frommen, heiteren Großvaters. Die familiäre Erfahrung u. Finanzlage veranlassten R. 1841 zum Theologiestudium (Marburg, Tübingen, Gießen, Herborn, Bonn). Die journalistischen u. novellist. Arbeiten dieser Zeit zeigen einen milden Konservatismus. Der Studentenroman Richard Zürbach (1843. In: Frankfurter Conversationsblatt, 1846) steht zwischen Auerbachs Frau Professorin u. Wilhelmine Canz’ Eritis sicut Deus. Von Rationalismus u. neuorthodoxem Kirchentum gleichermaßen abgestoßen, hing R. der bereits in die Enge getriebenen Vermittlungstheologie an. Auf dieser Gesinnung beruhte die lebenslange Freundschaft, die er 1843 mit Moriz Carriere in Gießen schloss. Vom geistl. Amt schreckte ihn schließlich die Kulturfeindlichkeit der Kirche ab. In den Journalistenjahren 1845–1853 schrieb R. 748 Zeitungsaufsätze zu Politik (etwa 200), Volkswirtschaft, Soziologie, Kirchenpolitik, Forst- u. Agrarwirtschaft. Im

Revolutionsjahr 1848 wurde er zum bewussten Konservativen. Die Arbeit als Redakteur des »Badischen Landtagsboten« (Dez. 1847 bis März 1848) u. der »Nassauischen allgemeinen Zeitung« (1848–1850) war seine polit. Schule. Danach stieß er zur angesehenen Augsburger »Allgemeinen Zeitung«. König Maximilian II. von Bayern berief R. 1854 zum »Oberredakteur der Presseangelegenheiten« ins Ministerium des kgl. Hauses u. des Äußern (bis 1856). Er lud ihn auch fortan zu den Zusammenkünften seines Dichter- u. Gelehrtenkreises ein. Auf Wunsch erhielt R. eine Ehrenprofessur an der staatswiss. Fakultät der Universität München. 1856 gab ihm der König den nie vollendeten Auftrag, alle Anstalten u. Maßregeln der dt. Staaten zur sozialen Reform u. Bekämpfung des Proletariats darzustellen. 1857 wurde er betraut mit der Leitung der statistisch-topograf. Gesamtdarstellung des Königreichs Bayern, Bavaria (5 Bde., Mchn. 1860–67). 1859 wurde R. Ordinarius für Kulturgeschichte u. Statistik. Seit Anfang der 1850er Jahre stellte R. seine Aufsätze zur zunächst dreibändigen Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik (Stgt.; als Bd. 4 folgte 1869 das Wanderbuch) zusammen. Sie lehrt, die natürl. Ungleichheit anzuerkennen u. den sozialen Frieden primär nicht ökonomisch, sondern ethisch herzustellen. Land und Leute (1853) enthält lokale volkskundl. Studien. R. erklärte den Band für grundlegend, weil das dt. Volk stets mehr die Sitte als das Gesetz, mehr das individuelle Leben der Gesellschaft als die ausgleichende Gewalt des Staates ausgebildet habe. Das war die Gegenposition zur liberalen (»Gothaer«) Partei, die der Aristokratie vorwarf, sie habe jahrhundertelang den dt. Nationalstaat verhindert. Die bürgerliche Gesellschaft (1851, nachträglich zum Bd. 2 erklärt) konstruiert die vier »organischen« Großgruppierungen des dt. Volkes: Bauern, Adel, Bürger u. Besitzlose. R.s Vorliebe gehört dem »beharrenden« Stand der Bauern, zu dessen Erhalt er dem König 1854 vorschlug, die unteilbaren Güter wiedereinzuführen u. den arbeitstüchtigen unter den verarmten Bauern den Grunderwerb zu erleichtern. Eine homogene Arbeiterklasse existiere in

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Deutschland nicht, wohl aber ein geistiges 1859. – Die dt. Arbeit. Stgt. 1861. – Gesch.n aus Proletariat, das mit seiner Theorie des Prole- alter Zeit. 2 Bde., Stgt. 1863/64. – Freie Vorträge. 2 tariats dieses erst herbeirede (u. von R. dafür Slg.en, Stgt. 1873–85. – Religiöse Studien eines heftig bekämpft wurde). Armut sei meist ein Weltkindes. Stgt. 1894. – Ein ganzer Mann. Stgt. 1897 (R.). – Gesch.n u. N.n. Gesamtausg. 7 Bde., Bewusstseinsphänomen u. stets individuell u. Stgt. 1898–1900. ethisch zu behandeln. Die Familie (1855) beLiteratur: Henry v. Simonsfeld: R. In: ADB. – handelt »die allgemeinsten Grundlagen des Marzell Janke: R.s Kunst der Novelle. Diss. Breslau organischen Volkstumes« gegenüber dem 1918. – Karl Muth: R.s 100. Geburtstag. In: »unorganischen« Getriebe des Staates u. der Hochland (1922/23). – Viktor v. Geramb: W. H. R. Wirtschaft. Die Erziehung zur Unterordnung Salzb. 1954. – Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der in der Familie sei das Gegengewicht gegen Volkstumsideologie. Ffm. 1971, S. 56–66. – Max die individualistische u. egoistische Rechts- Bucher u. a. (Hg.): Realismus u. Gründerzeit. Stgt. idee, auf welcher der Staat beruhe. Das Fa- 1975/76. Bd. 1, S. 88–93. Bd. 2, S. 369–378. – Peter milienrecht sei zu restaurieren (z.B. schwere Thiergen: W. H. R. in Rußland 1856–86. Gießen Strafe bei Ehebruch). Mit dieser Naturge- 1978. – Friedhelm Lövenich: Verstaatlichte Sittlichkeit. Die konservative Konstruktion der Leschichte wurde R. der Begründer einer merkbenswelt in W. H. R.s ›Naturgeschichte des Volkes‹. würdig enthistorisierten »historischen« Opladen 1992. – Andrea Zinnecker: Volkskunde Volkskunde. R.s »soziale Politik« entstammt auf dem Weg ins Dritte Reich – die R.-Rezeption. der Zeit der »Trennung von Staat und Ge- Münster 1996. – Arndt Brendecke: R. In: NDB. – sellschaft« (Conze). Der wirtschaftliche u. Kirsten Wiese: Erwanderte Kulturlandschaften. nationalstaatl. Aufschwung drängte sie ins Mchn. 2007. Werner Hahl / Red. Abseits. R.s Gegner waren Nationalliberale wie Freytag u. Treitschke, welche die Auflö- Riem, Andreas, * 22.8.1749 Frankenthal/ sung des Bauernstandes durch die Kapital- Pfalz, † 1807 Herford (?). – Theologe u. zirkulation u. die nat. Einheit erkannten. Publizist. Für die Modegattung des Historismus, die kulturgeschichtl. Novelle, war R. prädesti- Der Pfarrerssohn soll Theologie in Heidelniert. Seine insg. 50 Novellen aus tausend Jahren berg studiert u. dort Kontakt zu den frz. Lu(Reutlingen [1929]) sind Genrebilder mit mières aufgenommen haben. Zunächst rebiedermänn. Moral. In einer Kontroverse mit formierter Landprediger in Friedrichswalde Heyse plädierte R. für ein einfaches Erzählen in der Uckermark, übernahm er 1782 die ohne psycholog. Exkurse u. moralische Stelle des Predigers beim großen FriedrichsZweideutigkeit, damit Eltern u. Jugend die hospital in Berlin. R. verfasste 1786 nach dem Lektüre teilen können. Dem Bedürfnis nach Tod des Königs eine Gedächtnisrede auf FriedErwachsenenbildung entsprechend, hielt R. rich den einzigen (Bln.). Ästhetische Überleseit den 1860er Jahren etwa 900 Wandervor- gungen waren ihm nicht fremd (Über die Maträge zu 150 bis 200 Themen vor 300.000 lerei der Alten [...]. Bln. 1787). Wöllners Reaktionspolitik leitete eine Radikalisierung seiZuhörern. R.s Ansehen war um 1900 auf einem Tief- ner polit. Ansichten ein. Seine Schrift Fragpunkt. Es stieg mit dem Ansehen des Kon- mente über Aufklärung (Bln. 1788) erregte Aufservatismus u. unter der Herrschaft des Na- sehen u. erlebte in wenigen Wochen vier tionalsozialismus. Seine Lehre beeinflusste Auflagen. 1789 legte er seine Predigerstelle Soziologen wie Eberhard Gothein u. Gunther nieder. Mit Gottlob Nathanael Fischer gab er Ipsen sowie den Historiker Heinrich von die Monatsschrift »Berlinisches Journal für Aufklärung« (8 Bde., 1788–90) heraus. R. Srbik. wurde Sekretär der Berliner Akademie der Weitere Werke: Nassauische Chronik des Jahres 1848. Wiesb. 1849. Neuausg. Taunusstein 1979. Künste und mechanischen Wissenschaften u. – Musikal. Charakterköpfe. 3 Bde., Stgt. 1853–78. – 1791 Kanonikus in Herford. Er war Mitgl. der Hausmusik. 50 Lieder dt. Dichter in Musik gesetzt. Kurpfälzisch-bairischen u. der KursächsiStgt. 1855. – Die Pfälzer. Stgt. 1857. Neudr. Speyer schen ökonomischen Gesellschaft. Sein Ein1973. – Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stgt. treten für eine enge Anlehnung der preuß.

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Außenpolitik an Frankreich (Winke über Preußens inneres und äußeres Staatsinteresse. Germania, recte Dresden 1792) bewirkte 1793 seine Ausweisung aus Preußen. Er reiste nach Dresden, Frankfurt/M. u. durch ganz Europa u. verfasste anschließend die Reisebeschreibung Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland besonders in politischer Hinsicht in den Jahren 1785–1797 (8 Bde., Lpz. 1795–1801). Mit seinem scharfen Antiklerikalismus war R. ein typischer Vertreter der Spätaufklärung. Weitere Werke: Der Substitut des Behemot, oder Leben, Thaten u. Meinungen des kleinen Ritters Tobias Rosenmund. Eine Gesch. aus uralten Zeiten. Bagdad, recte Hbg. 1796. – Tgb. der merkwürdigsten Weltbegebenheiten. Mannh. 1799. Ausgabe: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Dtschld. [1798]. Mit einer Einl. zu Leben u. Werk des Autors von Walter Grab. Tüb. 1998. Literatur: Wagenmann: R. In: ADB. – Otto Tschirch: Gesch. der öffentl. Meinung in Preußen. Weimar 1933/34, 1. Buch, S. 127–154. – Walter Grab: A. R.s Weg vom Neologen zum Jakobiner. In: Außenseiter der Aufklärung. Hg. Günter Hartung. Ffm. 1995, S. 183–199. – Karl H. L. Welkcker: R. In: NDB. – Peter Weber: A. R.s Fragmente ›Über Aufklärung‹. In: Ders.: Literar. u. polit. Öffentlichkeit. Bln. 2006, 183–199. Jean Mondot / Red.

Riemer, Friedrich Wilhelm, auch: Silvio Romano, * 19.4.1774 Glatz/Schlesien, † 19.12.1845 Weimar; Grabstätte: ebd., Historischer Friedhof. – Altphilologe, Lyriker, Pädagoge. Der Sohn eines preuß. Militärbeamten besuchte ab 1787 das Breslauer MagdalenenGymnasium u. studierte seit 1794 Klassische Philologie in Halle. Gefördert durch den befreundeten Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf, etablierte sich R. in Halle 1798 als Privatdozent, musste die akadem. Laufbahn jedoch aus materiellen Gründen 1801 aufgeben. Im Hause des Jenaer Verlegers Fromann, in dessen Auftrag er an einem Griechisch-Deutschen Wörterbuch arbeitete, machte R. die Bekanntschaft Wilhelm von Humboldts. Empfohlen von Wolf, wurde R. im Nov. 1801 Hauslehrer der Humboldt’schen Kinder in Berlin. Humboldts Berufung als preuß. Gesandter beim Vatikan

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führte R. 1802 nach Rom. Ermutigt von Caroline von Humboldt, verlor sich R. in Illusionen über eine Liebesbeziehung. Auf Wunsch Humboldts musste R. im Sommer 1803 Rom verlassen. Mit dem Jenaer Kunstschriftsteller Carl Ludwig Fernow traf R. Anfang Sept. 1803 in Weimar ein u. wurde als Begleiter Fernows am 3.9. im Goethehaus empfangen. Goethe, dem ein Hauslehrer für den vierzehnjährigen Sohn August fehlte, verpflichtete wenig später R. Die Beziehung zwischen Goethe u. R. entwickelte sich zu einer bis zu Goethes Tod anhaltenden engen Gemeinsamkeit, in der R. die Rolle eines kenntnisreichen Beraters, Übersetzers, Korrektors, Reisegefährten, Hausgenossen, Trauzeugen Goethes, Ghostwriters von Briefen u. Texten (u. a. Elpenor, 1814), aber auch Rivalen in Liebesdingen ausfüllte. Zu Goethes Farbenlehre steuerte R. den Aufsatz Farbenbenennungen der Griechen und Römer bei. Die sprachl. Bearbeitung von Dichtung und Wahrheit lag in seiner Hand. 1812 bezog R. eine eigene Wohnung u. nahm eine bis 1821 währende Tätigkeit als Gymnasialprofessor auf. 1814 heiratete R. Caroline Ulrich, die im Haus im Frauenplan als Gesellschafterin Christiane Goethes lebte u. auch von Goethe umworben wurde. Seit 1814 an der Weimarer Bibliothek tätig, wurde R. 1827 ihr Oberbibliothekar. R. trug seit 1824 den Titel eines Dr. h.c., den Goethe anlässlich seines fünfzigjährigen Dienstjubliäums im Nov. 1824 für R. bei der Jenaer Universität erwirkt hatte. R. schrieb zahlreiche Festgedichte für den Hof, Jubiläen des Großherzogs, Goethes, die Vermählungen der Sachsen-Weimarischen Prinzessinnen. Unter dem Pseudonym Silvio Romano trat er mit eigenen Gedichten u. der poetisch belanglosen Sammlung Blumen und Blätter (Lpz. 1816 u. 1819) hervor. Bei aller Hingabe glaubte R. dennoch einen eigenen, seinen akadem. u. literar. Leistungen, den Verdiensten um Goethe angemessenen Lebensanspruch einfordern zu dürfen. R. erfuhr dabei kränkende Zurückweisungen, die nicht alle zu disziplinieren waren u. sich in Konflikten auch mit Goethe entluden. Sie trugen R. den Ruf ein, »launisch« zu sein. Diesem nicht hinterfragten Charakterbild

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folgte auch Thomas Mann in Lotte in Weimar (1939). 1831 bestellte Goethe R. neben Eckermann zum Herausgeber seines literar. Nachlasses. Es entstand die Vollständige Ausgabe letzter Hand (1832–42), wichtig durch die Aufnahme zahlreicher bis dahin ungedruckter oder noch nicht in einer Werkausgabe vertretener Stücke. R. edierte den Briefwechsel mit Zelter (Bln. 1833–36) u. die Briefe von und an Goethe (Lpz. 1846). 1841 erschienen R.s Mitteilungen über Goethe (Bln.). R. verzichtet im Gegensatz zu Eckermann in seinen »Gesprächen mit Goethe« auf poetische Hinzufügungen und Stilisierungen. Der Versuch einer Systematisierung der Person Goethes entzog dem Werk die verdiente Aufmerksamkeit als einem authentischen Zeugnis der Lebenswelt des Dichters. Weitere Werke: Gedichte. 2 Bde., Jena 1826. – Tagebücher. Hg. Arthur Pollmer. In: Jb. der Slg. Kippenberg 1, 3–5 (1921, 1923–25). Literatur: Arthur Pollmer: F. W. R. u. seine ›Mitteilungen über Goethe‹. Lpz. 1922. – Siegfried Reiter: Neue Mitt.en über F. W. R. In: Euph. 31 (1930), S. 119–134. – Axel Friedrichs: F. W. R. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4, Breslau 1931, S. 251–257. – Ida Hakemeyer: R.s Bearb. des UrElpenor. Diss. Gött. 1945. – Hans-Joachim Mähl: Novalis-Zitate in Goethes Gesprächen. Corrigenda zu F. W. R.s ›Mitteilungen über Goethe‹. In: Euph. 59 (1965), S. 150–159. – Werner Liersch: Goethes Doppelgänger. Die geheime Gesch. des Dr. R. Bln. 1999. – Klaus Manger: R. In: NDB. – Günter Burgmann: R. u. Wendriner: zwei Goethe-Verehrer aus Schlesien. In: Der Vertriebene 3 (2008), S. 27. Werner Liersch

Riemer, Johannes, auch: Clemens Ephorus Albilithanus, Johann Christlieb, Bellarminus Coccyx, Galanisantrus, Erasmus Grillandus, Michael Kautzsch, Philogamus aus Paphos, * 11.2.1648 Halle/Saale, † 10.9.1714 Hamburg. – Poet, Pädagoge, Pastor. Das Kind armer Eltern studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in Halle ab 1670 in Jena u. a. Philosophie, Theologie, Geschichte u. Rhetorik (Magister 1672) u. schloss sich hier bes. Erhard Weigel an. 1673 an das Gymnasium Augusteum Weißenfels berufen,

folgte er dort 1678 Christian Weise auf dem Lehrstuhl für Eloquenz u. Poesie. 1687 wurde er Oberpfarrer in Osterwieck/Kurbrandenburg. Seit dieser Zeit entstanden ausschließlich geistl. Schriften. R. schrieb die als Predigtanleitung gedachten Gleichnißreden (1690) u. gab Schriften heraus, die bereits in Weißenfels entstanden waren (Apophthegmatischer Vormund oder Oratorisches Lexikon, 1687, eine der frühesten Aphorismensammlungen, u. eine Zusammenfassung von Predigten, Weh und Wohl, 1689). 1691 promovierte er in Helmstedt zum Dr. theol. (De apostasia lucifericum angelis) u. ging als Superintendent nach Hildesheim. 1704–1714 war er Pastor primarius in Hamburg (Jacobikirche). R.s literar. Veröffentlichungen hatten mit seiner Lehrtätigkeit eingesetzt. 1678 schrieb er seine erste Tragikomödie für den Schulgebrauch, Glücklicher Bastard Oder Tyrannischer Großvater (Merseburg), zum Druck wurde sie in ein höf. Schauspiel umgearbeitet. 1679 erschien der Sammelband Der Regenten Bester Hoff-Meister (Lpz.) mit drei Schuldramen (Vom gequälten Liebessiege, Von der erlösten Germanie u. Von hohen Vermählungen). Weitere Schulkomödien folgten 1685 u. d. T. Amor Der Tyranne (Merseburg). Die Dramen spielen in höf. Kreisen; Leitmotiv ist die polit. Intrige; Adressaten waren vornehmlich die politisch Verantwortlichen. R.s Dramen wurden »zum politischen Bildungsinstrument des Bürgertums« (Krause, Feder), wobei die »Rechtfertigung der absoluten Gewalt« im Vordergrund stand. Aufführungen erlebten sie zu R.s Lebzeiten nicht nur in Weißenfels u. in anderen Schulen, sondern auch an Handwerker- u. Wanderbühnen. Nachhaltigen Einfluss hatte die anonym erschienene Lustige Rhetorica (Merseburg 1681), die später u. d. T. Der verbesserte Lustredner mehrfach aufgelegt wurde. 1681 brachte R. auch ein Kompendium der Redekunst u. Stilistik (Uber-Reicher Schatz-Meister. Lpz./Ffm. 1701 anonym u. d. T. Ein neues und sonderbares Hochdeutsches Complimentir-Collegium mit einer neuen, nicht von R. stammenden Vorrede) u. 1685 eine Hofredekunst (Standes-Rhetorica. Lpz. 1689 u. d. T. Neu-aufgehender Stern-Redner) heraus. R. wandte sich

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gegen die für die polit. Praxis unbrauchbar gewordene Schuloratorie; er orientierte sich stattdessen, unter Berufung auf Weise, an den Aufgaben in Staat u. Gesellschaft, die seine Schüler erwarteten. Auch in den gleichzeitig entstandenen, nach rhetorischen Grundmustern geschriebenen Romanen stellte R. die Praxis über die Theorie. Krause hat nachgewiesen, dass »für den politischen Roman die gleichen Inventions- und Dispositionsregeln Anwendung« fanden wie für eine akadem. Disputation. R.s frühester, Weise verpflichteter polit. Roman (Der Politische Maul-Affe. Lpz. 1679) erschien pseudonym. Didaktisches Ziel der Suche der Protagonisten nach einem polit. Maulaffen (»nichts anderes als ein einfältiger und dennoch hocheingebildeter Mensch«) ist Selbsterkenntnis u. Besserung der Menschen. In dem anonym erschienenen satir. Roman Die Politische Colica (Lpz. 1680), in dem er sich von Weises Einfluss befreite, beschreibt R. die bürgerl. Wirklichkeit der Zeit. Er wollte zeigen, wie der Bürger »sich und dem gemeinen besten« durch lasterhaftes Verhalten schade. Der letzte Roman, Der Politische Stock-Fisch (Merseburg 1681; neun Aufl.n bis 1734, davon sieben Raubdrucke u. d. T. Der verliebte Solande), ist nicht mehr im strengen Sinne der Gattung des polit. Romans zuzurechnen; er nimmt Elemente der galanten Literatur auf u. verweist, indem er adelige Verhaltensweisen schildert, auf deren Vorbildlichkeit für das aufstiegswillige Bürgertum (vgl. Hirsch). Die Romane fanden viele Nachahmer; R. wurde teilweise wörtlich zitiert, ohne jedoch genannt zu werden. Noch im 18./19. Jh. sind motivische u. verbale Entlehnungen nachweisbar (Krause, Feder). Daraus erklärt sich, dass R. in der Rezeptionsgeschichte neben drei tatsächlich verfassten Romanen bis zu neun weitere zugeschrieben wurden. Obwohl R. (neben Weise u. Beer) zu den bedeutendsten Autoren des mitteldt. Literaturkreises Ende des 17. Jh. zählt, bestand bis in jüngste Zeit ein Missverhältnis zwischen Bedeutung u. Rezeption. Wie bei anderen Autoren wurde für R. Gottscheds abfälliges Urteil maßgebend (Rezension der Trauerrede Maccabeus in den Beyträgen 1741). Die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jh. reduzierte R. auf einen

Riemer

Imitator Weises. Dass R.s Werke heute einer kritischeren Würdigung unterzogen werden, geht v. a. auf Krauses Untersuchungen u. seine Neuausgabe von R.s Schriften zurück. Ausgaben: Der Polit. Maul-Affe. Neudr. Hildesh. u. a. 1979. – Der Ausgekehrte Polit. FeuerMäuer-Kehrer. Nachdr. der Ausg. o. O. 1682. Stgt. 1996. – Werke. Hg. Helmut Krause. Bln. 1979–87. Bd. 1: Romane; Bd. 2: Dramen; Bd. 3: Rhetorik; Bd. 4: Vermischte Schr.en. – Verblühmtes Christenthum. Hg. ders. Bln. 1983. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 5, S. 3319–3349 (hier auch die R. fälschlich zugeschriebenen Werke bzw. umstrittenen Attributionen). – Weitere Titel: Joh. Jacob Rademann: Der im Tode annoch lebende R. Hbg. 1714. – Rudolf Becker: Christian Weises Romane u. ihre Nachwirkung. Diss. Bln. 1910. – August Friedrich Kölmel: J. R. 1648–1714. Diss. Heidelb. 1914. – Ernst Weißbrodt: R.s ›Politischer Maulaffe‹ (1679), die Quelle zu K. F. Meyers ›Schuß von der Kanzel‹? In: ZfdPh 57 (1932), S. 380 ff. – Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tüb. 1970. – Jürgen Mayer: Mischformen barocker Erzählkunst. Mchn. 1970. – HansDieter Bracker: J. R.s satir. Romane. In: JbDSG 19 (1975), S. 138–166. – Waldemar Huala: Die Romane J. R.s. Los Angeles 1975. Ann Arbor 1976. – Helmut Krause: Prolegomena zu einer J. R. Ausg. In: Jb. Int. Germ. 9 II (1977), S. 128. – Ders.: Mutmaßungen über R. In: Daphnis 6 (1977), S. 147–169. – Ders.: Feder contra Degen: [...]. Bln. 1979 (Lit.). – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Hg. Herbert Singer. Köln/Graz 3 1979. – Kenneth G. Knight: Weise, R. and the ›Political Novel‹. In: FS Leonhard Forster. BadenBaden 1982. – H. Krause: Das Motiv der Reise im polit. Roman. In: Daphnis 14 (1985), S. 325–339. – Ernst Osterkamp: ›Der im Tod annoch lebende R.‹. In: Michigan Germanic Studies 11 (1985), S. 185–202. – Lynne Tatlock: The Process of Recognitation in Satire and Realism. In: CG 18 (1985/ 86), S. 238–247. – Rainer Theobald: Der Graf v. Gleichen als barockes Puppenspiel. In: Daphnis 16 (1987), S. 679 ff. – Andrea Wicke: Gelehrte Autorschaft u. polit. Roman: Zu ausgew. Paratexten v. Weise, R., Ettner u. anderen Autoren. In: MorgenGlantz 12 (2002), S. 481–522. – Waldemar Fromm: R. In: NDB. – A. Wicke: Grenzen des Komischen um 1700. Zum Dissens zwischen J. R. u. Christian Weise über die Polit. Romane. In: Anthropologie u. Medialität des Komischen im 17. Jh. (1580–1730). Hg. Stefanie Arend. Amsterd. u. a. 2008, S. 295–323. Jutta Sandstede / Red.

Riemerschmid

Riemerschmid, Werner, * 16.11.1895 Maria Enzersdorf/Niederösterr., † 16.4. 1967 Mödling bei Wien. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Hörspielautor u. Übersetzer. R. studierte Kunstgeschichte u., nach Kriegseinsatz 1915–1917, Jura (Dr. jur. 1921) u. besuchte die Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Als Lektor u. Sekretär Wildgans’ am Burgtheater ab 1923 wurde R. mit Drama u. Bühne bekannt. 1928–1945 war er Dramaturg u. Spielleiter beim Wiener Rundfunk, dann freier Schriftsteller u. Rundfunkregisseur. Nach dramat. Versuchen (Die Heimfahrt Ottos III. 1928) war er mit dem Roman Das Buch vom lieben Augustin (Wien 1930) erfolgreich, ebenso mit dem »Kleinstadtroman« Die Frösche von Sumpach (Wien 1939). Der unter den schwierigen Verhältnissen der Nachkriegszeit entstandene Roman Schatten (Wien 1947) steht im Zeichen der Verdüsterung durch den Krieg, ebenso die Novelle Trakl (Wien 1947), die Trakls Lebensweg als »Absturz ins Dunkle« aus »Sehnsucht nach der Lust des Todes« nachzeichnet. R. war einer der wenigen österr. Vertreter des Schwarzen Humors u. ein Wegbereiter des Surrealismus in Österreich: »Unwetterrosen / hast du geschnitten, / Zwielicht getrunken / aus der Lache der Zeit« (aus: Im Auge ein Stern. In: Brandwache. Wien 1969). Weitere Werke: Der Königsmacher. 1938 (D.). – List, Lust u. Last. 1947 (Hörsp.). – Zwischen Hades u. Olymp. Wien 1955 (zwei Kom.n). – Wenn die Schatten länger werden. 1960 (Hörsp.). – Euer Ruhm ist nicht fein. Graz/Wien 1962 (E.en). – Lyrik: Das verzauberte Jahr. Wien 1936. – Der Bote im Zwielicht. Mchn. 1942. – Ergebnisse. Gedichte. Gedanken. Dichtungen in Prosa. Wien 1953. – Die Himmel wechseln. Graz/Wien 1960 (mit Bibliogr.). – Steinbrüche. Salzb. 1965. – Übersetzungen: Julien Green: Pilger auf Erden. Wien 1948. – Jean Cocteau: Taschentheater. Wien 1952. – Paul Valéry: Schlimme Gedanken u. a. Ffm. 1963. Literatur: Ernst Jirgal: W. R. In: Wort in der Zeit, H. 5 (1955), S. 39–41. – Ernst Randak: Wellenritte auf Widersprüchen. Ebd., H. 11 (1960), S. 7–13 (mit Bibliogr.). – Elisabeth Schicht u. Norbert Sprongel: ›Wer im Werk den Lohn gefunden...‹. Niederösterr. Dichter u. Komponisten der

642 Gegenwart. St. Pölten 1976, S. 145–148. – Über W. R. (1895–1967). In: LuK 313/314 (1997), S. 105–108. Hermann Schreiber / Red.

Riemkasten, Felix, * 8.1.1894 Potsdam, † 6.10.1969 Friedenweiler. – Romancier, Erzähler, Lyriker, Verfasser von Jugenderzählungen u. Yoga-Lehrbüchern. Der Handwerkerssohn studierte in Berlin u. war 1919–1931 Beamter in Braunschweig, ehe er sich 1932 als freier Schriftsteller in Berlin niederließ; später lebte er in Stuttgart u. zuletzt in Friedenweiler, wo er eine Yogaschule gründete. R. begann mit sozialen Romanen (Stehkragenproletarier. Lpz. 1920. Das neue Volk. Lpz. 1921) u. mit »Palmströmliedern« in der Nachfolge Morgensterns (Des Seiens Knörkel u. Der Schwung hinüber. Beide Bln. 1922), denen sich die Verssatire Petereit. Des deutschen Spießers Bilderbuch (Bln. 1935) anschloss. Populär machten ihn die anrührenden Geschichten um seine Tochter Mananne (Alle Tage Gloria. Bln. 1928. Ein Kind lebt in die Welt hinein. Bln. 1934) u. seine polit. Zeitromane (Der Bonze. 1930. Genossen. 1931. Der Götze. 1932. Weggetreten. 1934. Alle Bln.), in denen sich Gesellschaftssatire, Enttäuschung über u. Kritik am Marxismus mit menschlich mitfühlendem Humor verbinden. Ernsten Hintergrund bei optimist. Lebensphilosophie haben auch die Romane An den Kreuzwegen (Lpz. 1938) u. In Gottes eigenem Land (Lpz. 1939), während sich die weiteren Bücher (u. a. Die Reise des Herrn Löschke. Bln. 1935. Drei Brüder. Bln. 1936. Die junge Frau Greven. Lpz. 1937. Die Wunschlandreise. Bln. 1938. Ein streitbares Mädchen. Bln. 1939. Ein Mann ohne Aufsicht. Bln. 1940) ironisch-humorvoll dem Alltag zuwenden. Nach dem Krieg veröffentlichte R., der früher schon heitere Ratgeber (u. a. Des Gartens große Last wie Lust. Bln. 1939) geschrieben hatte, überwiegend Yoga-Bücher (u. a. Yoga für Sie. Büdingen-Gettenbach 1953. Einkehr in die heilende Stille. Freib. i. Br. 1962. 141995). Weitere Werke: Der Bund der Gerechten. Lpz. 1935 (Jugendbuch). – Ali, der Kater. Lpz. 1938. – Skihasenbrück. Innsbr. 1940 (R.). – Solche u. Solche. Typen aus der Nazizeit. Lahr 1947. – Erledigt, Maier, Punkt. Düsseld. 1950 (R.). – Wenn die Flügel

643 wachsen. Oldenb. 1950 (R.). – Die verborgene Kraft in uns. Schopfheim 1967. Dieter Sudhoff † / Red.

Ries Literatur: Dino Larese: M. R. Eine Lebensskizze. St. Gallen 1967. – Werner P. Heyd: M. R. Geige, Zwirn u. Federkiel. Eine Biogr. Donaueschingen 2002. Dino Larese † / Red.

Rieple, Max, * 13.2.1902 Donaueschingen, † 16.1.1981 Donaueschingen. – Lyriker, Verfasser von Reise- u. Erinnerungsbü- Ries, Riese, Adam, * 1492 Staffelstein/ Franken, † 30.3.1559 Annaberg/Erzgechern. birge. – Rechenmeister. R. wuchs in einer Donaueschinger Kaufmannsfamilie auf. Er verfasste bereits während der Schulzeit erste Gedichte u. ein Drama u. erhielt Geigenunterricht. Sein Wunsch, Musik zu studieren, wurde nicht erfüllt. Das Jura- u. Kunstgeschichtsstudium in Heidelberg, Freiburg/Br. u. München musste er wegen einer Erkrankung an Nierentuberkulose aufgeben. Nach langwierigen Kuren in der Schweiz führte er das Leben eines zurückgezogenen Rekonvaleszenten u. arbeitete im Geschäft der Eltern mit. Während des Zweiten Weltkriegs war R. kurze Zeit Soldat. Nach dem Krieg führte er das elterl. Geschäft weiter u. begann, sich kulturellen Aktivitäten zu widmen. Er war Mitbegründer der Donaueschinger Musiktage u. seit 1949 Leiter der Gesellschaft der Musikfreunde. Erst nach seiner Heirat 1956 fand er mehr Zeit für literar. Arbeiten, unternahm Weltreisen u. hielt Vorträge. R.s konservative Verwurzelung in Tradition, Heimat u. Eichendorff’scher Romantik steht nicht im Widerspruch zu seinem großen Interesse an der avantgardistischen Musik (Musik in Donaueschingen. Konstanz 1959), der er in den Donaueschinger Musiktagen ein Podium verschaffte (Hindemith, Stockhausen, Milhaud, Messiaen, Strawinsky). Seine Bücher behandeln die Landschaft der Heimat (Land um die junge Donau. Konstanz 1951), berichten von seinen Reisen (Wiedersehen mit Südtirol. Stgt./Bern 1967) u. enthalten Lieder u. Gedichte im Volkston (Die Räderspur. Todtmoos/Basel 1964).

Weitere Werke: Ausgew. Gedichte. Konstanz 1953. – Reiches Land am Hochrhein. Konstanz 1954 (Landschaftsstudien). – Damals als Kind. Freib. i. Br. 1955 (Erinnerungen). – Malerisches Elsaß. Bern/Stgt. 1964. – Verliebt in den Bodensee. Stgt. 1965 (Reisebuch). – Sonne über dem Neckarland. Stgt. 1966.

R. trat ab 1518 in Erfurt als Rechenmeister auf, gab dort im selben Jahr sein erstes Rechenbuch (Rechnung auff der linihen) heraus u. gründete wohl 1522 eine Rechenschule, bevor er 1522/23 in die aufstrebende Silberstadt Annaberg übersiedelte, in deren Bergamt er Rezessschreiber (1527–1536 in derselben Funktion auch in Marienberg tätig) u. ab 1532 Gegenschreiber war. Ab 1525 Bürger Annabergs, zgl. Hausbesitzer mit eigener Rechenschule, wurde R. 1539 zum Kurfürstlich-Sächsischen Hofarithmeticus ernannt. In dieser Eigenschaft verfasste er eine Bergrechnung (1554), eine Münzrechnung (1557, auch 1524) sowie Brotordnungen für Zwickau (1539 u. 1553) u. Leipzig (1557). Bekannt wurde er jedoch durch seine dt. Rechenbücher, von denen allein das zweite bis in die Mitte des 17. Jh. fast 100 Auflagen erfuhr (Rechenung auff der Linihen und Federn, in zal, maß und gewicht. Erfurt 1522). Ein drittes, das Große Rechenbuch, genannt Practica, erschien 1550 in Leipzig. Lehrbücher der Algebra (Rechnung der Coss. Zuerst 1524) blieben zu Lebzeiten ungedruckt. Das sprichwörtl. »nach Adam Riese« bezeugt, dass R. zum Rechenmeister der Deutschen wurde, wozu v. a. beitrug, dass er neben der Rechnung »auf Linien« (mit Rechensteinen auf dem Rechenbrett oder Abakus) auch das schriftl. Ziffernrechnen propagierte. Dieses erforderte die dezimale Schreibweise der indisch-arab. Ziffern, deren Überlegenheit in Deutschland erst durch R.’ Lehrbücher allg. deutlich wurde. Literatur: Hildegard Deubner: A. R., Rechenmeister des dt. Volkes. In: NTM Ztschr. für Gesch. der Naturwiss., Medizin u. Technik 7 (1970), S. 1–22, 99–114; 8 (1971), S. 58–69 (Bibliogr.). – Hans Wußing: A. R. Lpz. 1988 u. ö. – Wolfgang Kaunzner: A. R. Bayreuth 1992. – Willy Roch: A. R. Lpz. 1992. – Manfred Weidauer: Der (Erfurter) Rechenmeister A. R. Erfurt 1992. – Bernd Rüdiger:

Riesbeck Das zweite Rechenbuch. Eine moderne Textfassung mit Komm. u. metrolog. Anhang u. einer Einf. in Leben u. Werk des Rechenmeisters. Braunschw. 1992. – Christoph A. Schwengler: A. R., der Rechenmeister. Annaberg-Buchholz 1994. – Rainer Gebhardt u. Peter Rochhaus: Verz. der A.-R.-Drucke. Annaberg-Buchholz 1997 (Kat.). – Hans Burckhardt: Die Stellung des Rechenmeisters in der Reformation – A. R. der ›Luttrische‹. In: Familie u. Gesch. 6 (1997), S. 529–543. Neudr. AnnabergBuchholz 2002. – W. Kaunzner: A. R. im Spiegel seiner algebraischen Hss. Annaberg-Buchholz 1998. – H. Burckhardt: Maße, Münzen u. Gewichte in den Rechenbüchern u. mathemat. Texten v. A. R. Annaberg-Buchholz 2000. – Menso Folkerts: R. In: NDB. – Bernd Luderer u. W. Kaunzner: A. R. and his ›Coss‹: a Contribution to the Development of Algebra in 16th-Century Germany. Lpz. 2004. – R. Gebhardt (Hg.): Zur Wirkungsgesch. der Brotordnung v. A. R. Annaberg-Buchholz 2006. – P. Rochhaus: A. R., Vater des modernen Rechnens. Erfurt 2008. – Dt. Rechenbücher des 16. Jh. Die faksimilierten Rechenbücher v. Johannes Widmann, A. R., Jochen Albert u. Christoph Rudolff. Bln. 2008. Fritz Krafft

Riesbeck, Johann Kaspar, * 12.1.1754 Höchst, † 8.2.1786 Aarau. – Reiseschriftsteller, Essayist, Übersetzer. Der Sohn eines Webers u. Schnupftuchfabrikanten sollte Priester werden, studierte aber an der Universität Mainz u. für kurze Zeit in Gießen Jura, um sich auf den höheren Verwaltungsdienst vorzubereiten. Mit dem Tod des aufgeklärten Mainzer Kurfürsten Emmerich Josef, unter dessen Beratern R. bedeutende Gönner hatte, änderte sich seine Situation entscheidend. Zudem soll er, so sein Biograf Pezzl, aus »Temperamentshitze und Eifersucht« einen einflussreichen Domherrn tätlich angegriffen haben. 1775 verließ R. fluchtartig Mainz u. reiste über Nürnberg nach Wien, wo er für das »Theater am Kärntnertor« Bühnenstücke bearbeitete u. gelegentlich als Schauspieler auftrat. Hier entstand auch seine erste Übersetzung eines frz. Romans, die ihn in Kontakt zu Orell, Gessner, Füssli & Comp. brachte. Für den Zürcher Verlag führte er später die von dem kurtrierischen Kanzler Georg Michael Frank La Roche u. Johann Jacob Brechter begonnenen antiklerikalen Briefe über das Mönchswesen

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(4 Bde., Zürich 1771–81) fort. In der Vorrede des 4. Bandes schrieb R., er wolle Wahrheiten sagen, »die gesagt werden müssen, und die so wenige sagen wollen, weil sie das gewicht des Pfaffenarms im katholischen Deutschland fühlen«. 1777 ging R. über Prag u. Linz nach Salzburg, wo er als freier Schriftsteller vom väterl. Erbe lebte u. verschiedene polit. Aufsätze verfasste. Möglicherweise auf Vermittlung Goethes wurde er 1780 als Redakteur an die neu gegründete u. zunächst von Salomon Gessner redigierte »Zürcher Zeitung« berufen. Für den Verlag arbeitete er auch als Lektor, Korrektor u. Übersetzer von engl. u. frz. Reisebeschreibungen sowie von Swifts Mährchen von der Tonne (Zürich 1787) u. Lemuel Gulliver’s Reisen (Zürich 1788). Anfang 1783 musste er Zürich verlassen, weil er mit seinen die gesellschaftl. Doppelmoral entlarvenden Artikeln immer wieder beim Rat der Stadt Anstoß erregt hatte. R. ließ sich in Aarau nieder, wo er sein zweibändiges Hauptwerk, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder in Paris (Zürich 1783), beendete. Die anonym erschienenen Reisebeschreibungen, die in wenigen Jahren mehrere Auflagen erreichten u. als Übersetzungen auch in England, Frankreich, Italien, Holland, Irland u. Schweden weite Verbreitung fanden, machten den »reisenden Franzosen« zu einem viel zitierten Begriff. Der Erfolg des Werks beruhte darauf, dass R. nicht nur eines der gegen Ende des 18. Jh. häufigen Reisebücher mit genauen statist. Angaben u. exakten Landschafts- sowie Stadtbeschreibungen verfasst hatte, sondern dass er darüber hinaus ein Sittenbild seiner Zeit lieferte. Mit satir. Schärfe attackierte er Landesherren u. den Klerus, sparte aber auch nicht an Lob für einzelne Fürsten, die sich seiner Meinung nach bes. um ihre Untertanen kümmerten. R. konnte im Wesentlichen auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, die er während seiner zahlreichen Reisen zwischen 1770 u. 1780 gesammelt hatte. Seine Gegner versuchten die Reisebriefe als Schrift des Illuminatenordens zu diffamieren. Vom Erfolg des Buches profitierte R. nur in einem bescheidenen Maß. An Tuberkulose

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erkrankt u. verarmt, begann er eine Geschichte der Deutschen bis auf die Reformation (4 Bde., Zürich 1787–90), die Joseph Milbiller abschloss. Nach seinem Tod geriet R. weitgehend in Vergessenheit. Von seinem Hauptwerk ist bis heute keine vollständige Ausgabe mehr erschienen. 1967 brachte Wolfgang Gerlach eine erheblich gekürzte u. stilistisch bearbeitete Auswahl heraus, die R. wieder bekannt machte – allerdings v. a. seine topograf. Beschreibungen, die in zahlreiche Anthologien Eingang fanden. Die wiss. Beschäftigung mit R. steckt noch in den Anfängen. Literatur: Johann J. Pezzl: Biogr. Denkmal R.s. [...]. Kempten [bei Wien] 1786. – Leo Weisz: Die Redaktoren der Neuen Zürcher Ztg. [...] 1780–1848. Zürich 1961. – Rudolf Schäfer: J. K. R. [...]. Ffm.-Höchst 21971. – Wolfgang Griep: R.s Reise ODER das Tribunal der Messerschmiede. Ein Funkessay. In: Norddt. Beiträge 2 (1979), S. 54–76. – Françoise Knopper-Gouron: Cosmopolitisme et xénophobie chez les voyageurs allemands en Allemagne du Sud et en Autriche. In: Revue d’Allemagne 18 (1986), S. 650–662.  Hans Sarkowicz: J. K. R. – der berühmte Unbekannte aus (Ffm.) Höchst. In: Kiesstrasse Zwanzig Uhr. Huss’sche Universitätsbuchhandlung 1983–93. Hg. Jürgen Lentes. Ffm. 1993, S. 238–242. – Harald Schmidt: Fremde Heimat. Die dt. Provinzreise zwischen Spätaufklärung u. nat. Romantik u. das Problem der kulturellen Variation: Friedrich Nicolai, K. R. u. Ernst Moritz Arndt. In: Nat. Bewußtsein u. kollektive Identität. Hg. Helmut Berding. Ffm. 1994, S. 394–442. – Rolf Seiffert: ... nur Maulwurfhaufen: J. K. R., ein Aufklärer berichtet 1783 über seine Reise durch Mecklenburg. In: Mecklenburg-Magazin 19 (2003), S. 26. Hans Sarkowicz

Riese, Adam ! Ries, Adam

Riesser

1934 in die USA. Dort arbeitete er als Korrespondent für europ. Zeitungen. Während des Zweiten Weltkriegs war R. im amerikan. Nachrichtendienst tätig, das Kriegsende erlebte er als Kriegsberichterstatter in Berchtesgaden. 1948 kehrte er nach Berlin zurück; seit 1954 lebt er in der Schweiz. Bekannt wurde R. durch seine Biografie Joseph Goebbels (New York 1948. Wiesb. 1975) u. die Schilderung des Berliner Nachkriegslebens in Berlin-Berlin 1945–1953 (Bln. 1953. 2002). Einen Namen als populärer Bestsellerautor schuf sich R. durch Unterhaltungsromane, v. a. aber durch zahlreiche Biografien, z. B. Gustaf Gründgens (Hbg. 1965. Freib. i. Br. 1988), u. Sachbücher über kulturelle Themen wie Das gibts nur einmal. Das Buch des deutschen Films nach 1945 (Hbg. 1957). Insg. hat R. über 90 Bücher veröffentlicht. Weitere Werke: The Self-Betrayed. New York 1942. – The Nazis go Underground. New York 1944. – George 9-4-3-3. Zürich 1946 (Spionageroman). – Furtwängler. Bern 1953 (Biogr.). – Üb immer Treu u. Redlichkeit. Hbg. 1957 (R.). – Sein oder Nichtsein. Zürich 1963. Bearb. u. erw. Ausg. u. d. T. Das Schauspielhaus Zürich. Sein oder Nichtsein eines ungewöhnl. Theaters. Mchn./Wien 1988. – Das waren Zeiten. Wien/Mchn. 1977. Erw. Ausg. u. d. T. Das war ein Leben! 1986. Ffm. 1990 (Autobiogr.). – Meine berühmten Freunde. Freib. i. Br. 1987 (Erinnerungen). – Charlie Chaplin. Rastatt 1989 (Biogr.). – Romy Schneider. Rastatt 1990. – Die Frau mit den hundert Gesichtern. Requiem für Heidemarie Hatheyer. Düsseld. 1991. – Prozesse, die unsere Welt bewegten. Düsseld. 1992. Erftstadt 2004. Literatur: Christoph Eykmann: R.: The Nazis go Underground. In: Exil: Wirkung u. Wertung. Hg. Donald G. Daviau u. Ludwig M. Fischer. Columbia 1985. – Christoph Eyckman: C. R. In: Dt. Exillit., Bd. 3, S. 418–430.

Mechthild Hellmig / Red. Riess, Curt, auch: C. Riess-Steinam, Peter Brandes, C. R. Martin, Martin Amstein, * 21.6.1902 Würzburg, † 13.5.1993 Riesser, Gabriel, * 2.4.1806 Hamburg, Scheuren/Kt. Zürich. – Erzähler, Sach- † 22.4.1863 Hamburg; Grabstätte: ebd., buchautor. Jüdischer Friedhof. – Publizist; Jurist, Politiker.

Nach dem Studium in Berlin, Heidelberg, Paris u. München promovierte R., Sohn jüd. Eltern, zum Dr. phil. 1927–1933 arbeitete er u. a. als Theater- u. Filmkritiker für verschiedene Berliner Tageszeitungen. 1933 emigrierte er über Prag u. Wien nach Paris,

R. studierte Jura u. Philosophie u. promovierte 1826 in Heidelberg zum Dr. jur.; danach setzte er sein Studium in München fort. An seinem jüd. Religionsbekenntnis scheiterte das Gesuch an die badische Landesre-

Rietenburg

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gierung um eine Privatdozentur in Heidel- Christof Krause: R. In: NDB. – Arno Herzig: G. R. berg ebenso wie der Versuch, sich in Ham- Hbg. 2008. Ludger Heid / Red. burg als Advokat niederzulassen. Die erlebte Zurücksetzung veranlasste R. zu seiner viel Burggraf von Rietenburg ! Burggraf von beachteten Schrift Über die Stellung der Bekenner Regensburg des mosaischen Glaubens in Deutschland (Altona 1829). Seitdem gilt R. als der entschiedenste Rihlmann, Rühlmann, Andreas, * um 1630 Vorkämpfer für die bürgerl. Emanzipation (?) Querfurt/Sachsen. – Verfasser epischder Juden in Deutschland u. der dt. Ein- dramatisch-lyrischer »Streitschriften«. heitsbewegung. In zahlreichen Veröffentlichungen vertrat er nachdrücklich ihre polit., Aus den Vorreden von R.s Werken lässt sich sozialen u. religiösen Forderungen, er schuf entnehmen, dass er aus Querfurt stammt, sich seit 1832 mit der Herausgabe der Zeit- wenigstens zeitweise »Secretarius« war, von schrift »Der Jude« (Altona; bis 1835) eine etwa 1658–1664 in Hamburg lebte u. dort wirksame publizist. Plattform. Er verlangte vergeblich versuchte, durch Veröffentlichundie volle Emanzipation aus dem Grundsatz gen seinen berufl. Aufstieg zu befördern. Er der Rechtsgleichheit u. Gewissensfreiheit als klagt über »Verfolgung, und unglückliche Forderung polit. u. sozialer Sittlichkeit; das Widerwärtigkeiten«; andererseits zeigen ihn jüd. Zeremonialgesetz sollte beibehalten die Widmungen (an den Kaiser bzw. Christiwerden. 1832 erschien in Altona sein Buch na von Schweden) u. die seinen Werken beiBetrachtungen über die Verhältnisse jüdischer Un- gegebenen Gedichte namhafter Persönlichterthanen in der preußischen Monarchie. Von 1836 keiten nicht ohne Verbindungen. R. nennt seine Texte »Tractate«. Im ersten bis 1840 war er in Bockenheim bei Frankfurt/ Fall handelt es sich um die Umsetzung des M. schriftstellerisch tätig. 1840 u. 1842 erschienen R.s Jüdische Briefe (2 H.e, Bln.), in Kampfes zwischen Himmel u. Hölle, Laster u. Tugend, Frommen u. Bösen in eine Art denen er sich mit den antijüd. Auslassungen Schlachtbericht mit in Briefform gefassten Bruno Bauers u. mit dem literarisch-ästhet. militärischen Anweisungen, Plänen, VerAntijudaismus Wolfgang Menzels in dessen handlungen, mit Beschreibungen, Reden, Polemik gegen das »Junge Deutschland« Personallisten u. Verzeichnissen »der Gefanauseinandersetzte. Schon vorher war er mit genen, Verwundten und Toden« (Politischer einem Wort der Erwiderung auf die Flugschrift [...] theologischer Tractat von dem grossen Hauptkriege gegen Börne (Altenburg 1832) gegen die ju[...] zwischen den beyden ewigen Kronen, und denfeindl. Ausschlachtung der Briefe aus Paris höchsten Potentaten Himmels und der Erden [...]. aufgetreten. 1848 Mitgl. des Frankfurter Lübeck 1658. Ffm. 21660). Der zweite »TracVorparlaments, wurde R. im Okt. 1848 zum tat«, »nach Art deß vorigen ausgearbeitet«, Vizepräsidenten der Nationalversammlung hat als Rahmenthema den »Streit der Ehr und gewählt. Auf seine Initiative hin wurden die Liebe«, der in verschiedenen Formen – BrieBeseitigung jüd. Sondergesetze u. die formale fen, Gedichten, Erzählungen u. zwei SchauGleichberechtigung der Juden beschlossen. spielen – ausgefochten wird (Politischer Trac1850 ins Erfurter Unionsparlament gewählt, tat, von Staats- und Liebes-Sachen [...]. Ffm./Hbg. 1859 Mitgl. u. Vizepräsident der Hamburger 1664). Bürgerschaft, wurde er 1860 hier zum OberLiteratur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: gerichtsrat ernannt: zum ersten jüd. Richter Hugo Hayn u. Alfred N. Gotendorf: Bibliotheca in Deutschland. Ausgabe: Ges. Schr.en. Hg. Meyer Isler. 5 Bde., Ffm./Lpz. 1867. Nachdr. Hildesh. 2001. Literatur: Moritz Veit: Dem Andenken G. R.s. In: Preuß. Jbb. Bln. 1863. – Joseph Feiner: G. R.s Leben u. Wirken. Hbg. 1906. – Fritz Friedländer: Das Leben G. R.s. Bln. 1926. – Moshe Rinott: G. R. In: Leo Baeck Yearbook 7 (1962), S. 11–38. – Hans-

Germanorum erotica et curiosa. 9 Bde., Mchn. 1912–29. Nachdr. 1968, Bd. 6, S. 461–463. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 6, Hbg. 1873, S. 295 f. – Heiduk/Neumeister, S. 90 f., 231, 459. Ingeborg Springer-Strand / Red.

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Rilke, Rainer Maria, auch: René (Maria) R., * 4.12.1875 Prag, † 29.12.1926 Val-Mont bei Montreux; Grabstätte: Raron/Kt. Wallis, Kirche. – Lyriker, Prosaist, Essayist. R.s Leben u. die Genese seines dichterischen Werks bilden einen spannungsvollen Strukturzusammenhang, der sich als intentionale Einheit u. widersprüchl. Vielheit zgl. darstellt. In seiner Biografie ist die eigentümliche wechselseitige Durchdringung von gegebener Faktizität u. produktiver Innerlichkeit zu beachten, aber auch die Schwere derjenigen existentiellen Erfahrungen zu berücksichtigen, die sich sinngebender Bewältigung widersetzten. Es war v. a. die Kindheit, die für R. etwas Widerständiges behielt, das aufzuarbeiten u. schonungslos zu gestalten er nicht vermochte. R., als Generationsgenosse Georges u. Hofmannsthals einer der Erben des frz. Symbolismus, wuchs in Prag auf deutschsprachiger Insel inmitten des Tschechentums als geschwisterloses Kind aus einer unglückl. Ehe u. unter beengten bürgerl. Verhältnissen heran. Der Vater, der Herkunft nach Nordböhme, der es nur bis zum Inspektor einer k. k. Provinzeisenbahn brachte, sah für den Sohn die Offizierskarriere vor, die ihm selbst verschlossen geblieben war. Während die exzentrische, aus wohlhabender Prager Fabrikantenfamilie stammende Mutter Sophie, gen. Phia, geb. Entz, ihn in Mädchenkleider gesteckt hatte, schickte der Vater ihn auf die Militärschulen von St. Pölten u. MährischWeißkirchen (1886–1891). Der frühe Plan eines Militärschulromans wurde nie verwirklicht, aber auch nicht aufgegeben. Nach der Entlassung wegen »Kränklichkeit« besuchte R. einige Monate die Handelsakademie in Linz. Ab Mai 1892 wieder in Wien, bereitete er sich privat auf die gymnasiale Matura (1895) vor. R.s vielfältige literar. Aktivitäten der Prager Jahre, die sich wahllos an Vorbildern unterschiedl. Rangs von Liliencron bis Arent orientierten, lassen den künftigen Dichter noch kaum erahnen. Mit der Übersiedlung nach München (1897) – äußerlich zum Zweck der Fortsetzung des in Prag begonnenen

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Studiums der Kunst- u. Literaturgeschichte – u. der Liebesbegegnung mit Lou AndreasSalomé, der einstigen Freundin u. geistigen Partnerin Nietzsches u. späteren Schülerin Freuds, vollzog sich ein Durchbruch, der R.s Leben u. Schaffen die endgültige Richtung gab. Unter Nietzsches Einfluss setzte sich R. – bes. in dem für Lou geschriebenen Florenzer Tagebuch (April bis Juli 1898) – das Ziel einer unbedingten Dichterexistenz. Zu einer ersten Verwirklichung des Existenzentwurfs verhalfen ihm die beiden mit Lou Andreas-Salomé unternommenen Reisen nach Russland (1899 u. 1900). Von diesem Zeitpunkt an wird alles, was R. erlebt, integraler Bestandteil von Dasein u. Werk gleichermaßen. Die Begegnungen mit Frauen haben ihren Ort u. ihre Bedeutung v. a. im Zusammenhang des dichterischen Lebensentwurfs; die Länder u. Städte werden als »literarische Landschaften« erfahren oder in solche verwandelt. An diesem Prozess hat das umfangreiche Briefwerk R.s wesentl. Anteil. So wurde Russland, seine unermessl. Weite, seine von westl. Zivilisation noch wenig berührte Kultur u. die russisch-orthodoxe Religiosität als Lebensform bäuerl. Menschen, für R. – auch dank der persönl. Begegnungen mit Leo Tolstoj, Leonid Pasternak u. Spiridon Droshin, dem Bauerndichter – zu einer unverlierbaren seelisch-geistigen Heimat. Dem ordnet sich das erste vom Dichter noch später voll anerkannte Werk seiner frühen Schaffensphase zu, Das Stunden-Buch. Es entstand in seinen drei Teilen 1899, 1901 u. 1903 u. erschien 1905 im Insel Verlag Leipzig. Danach begab sich R. mit seinem Gesamtwerk unter den »Schutz« der Insel (28.9.1908 an Kippenberg). Das Stunden-Buch, als die »Gebete« eines russ. Mönchs u. Ikonenmalers konzipiert, ist ein Triptychon, das den Gedanken der Gott-Kreation durch die Kunst (Vom mönchischen Leben) mit dem des Weges eines Künstler-Ich zu sich selbst (Von der Pilgerschaft) u. den bedrohl. Existenzerfahrungen in der modernen Welt (Von der Armuth und vom Tode) verbindet. Das geschieht in einer Sprache, die – gemäß der Jugendstil-Ästhetik – mit ihren suggestiven Bildern, Rhythmen u. Reimklängen alle Inhalte fließen lässt u. die monist. Weltanschauung der Jahrhundert-

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wende in eine lyr. Großform umsetzt. Ein Pendant zum Stunden-Buch bilden die Geschichten vom lieben Gott (Lpz. 1904. U. d. T. Vom lieben Gott und anderes. Bln./Lpz. 1900), während sich Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1899. Bln./Lpz./Stgt. 1906) den heroischen Tagträumen des Militärschülers R. u. dem sinnl. Glück der Liebe zu Lou Andreas-Salomé verdankt. Der Cornet wurde als Nr. 1 der Insel-Bücherei (Lpz. 1912) R.s größter Publikumserfolg, bes. bei den Soldaten beider Weltkriege (Aufl. bis 2006: 1,14 Mio.). Mit dem Landschaftserlebnis Russland korrespondierte für R. in manchem die Natur um Worpswede/Westerwede, wo er den Versuch unternahm, in der Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff sesshaft zu werden (Heirat 1901, Geburt der Tochter Ruth 1902). R. schrieb die Künstlermonografie Worpswede (Bielef./Lpz. 1903). Das harte Gegenthema zu Russland bildet Paris, die Metropole westl. Kultur u. Zivilisation, in der R. erstmals 1902/03 Aufenthalt nahm u. die 1906–1910 zum Hauptort seiner mittleren Schaffensperiode wurde. Hier lernte er von Rodin, über den er eine Monografie schrieb (Bln. 1903) u. dessen Sekretär er zeitweilig war (in Meudon 1906/07), das »travailler toujours«, das konzentrierte »Schauen« u. Gestalten der »Dinge«, das noch dem impressionist. Buch der Bilder in seiner zweiten Ausgabe (Lpz. 1906. Bln. 11902) zugute kommt u. den Neuen Gedichten (Lpz. 1907. Der Neuen Gedichte anderer Teil. Lpz. 1908) zur Entstehung verhilft. Nicht nur Rodin, auch Cézanne wirkte – nach der berühmten Ausstellung im Salon d’Automne von 1907 – auf R.s Ästhetik (Briefe über Cézanne an Clara Rilke) u. unmittelbar auf die »Sachlichkeit« der Neuen Gedichte ein. Deren frühestes u. bekanntestes Stück, Der Panther, das den neuen Stil sogleich rein verwirklicht, entstand schon im Nov. 1902. Auf die chaotische soziale Realität der großstädt. Massengesellschaft, die ihm in Paris begegnete, antwortete R. mit den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Lpz. 1910). Der bereits 1903/04 begonnene tagebuchartige Roman verbindet bestürzende ParisEindrücke in der Tradition Baudelaires mit der Rekapitulation von Kindheitsängsten u.

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mit histor. Reminiszenzen u. beruht auf dem Bewusstsein einer bevorstehenden geschichtl. Veränderung apokalypt. Ausmaßes: »Paris [...] rast wie ein bahnverirrter Stern auf irgendeinen Zusammenstoß zu« (an Otto Modersohn, 31.12.1902). Nach R.s Worten führen die Aufzeichnungen »beinah zum Beweis [...], daß dieses so ins Bodenlose gehängte Leben unmöglich sei« (an Witold von Hulewicz, 13.11.1925). Doch R. verlangt vom Leser, sie »gegen den Strom« zu lesen (an Artur Hospelt, 11.2.1912), im Negativen das gemeinte Positive wahrzunehmen. Ein wesentl. Ertrag der Pariser Zeit sind auch die lyr. Zwiesprachen mit zwei Jungverstorbenen: Requiem. Für eine Freundin (d. i. Paula Modersohn-Becker) u. Für Wolf Graf von Kalckreuth (Lpz. 1909). Trotz ihres noch einmal ganz an der Ästhetik des »sachlichen Sagens« orientierten Kunstbegriffs verweisen diese Gedichte durch ihre eigene Praxis bereits in vielem auf die andersgearteten Duineser Elegien voraus. Dem zweiten Requiem entstammt ein Vers, der nach dem Zeugnis Benns für die gesamte expressionist. Generation Bedeutung erlangt hat: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.« Mit der Übertragung der Sonette aus dem Portugiesischen von Elizabeth Barrett Browning (Lpz. 1908) beginnt die Reihe der Nachdichtungen aus fremden Sprachen, die einen gewichtigen Teil von R.s Lebenswerk ausmacht. Während seiner Skandinavien-Reise (1904/ 05) besuchte R. Kopenhagen auf den Spuren Jens Peter Jacobsens, des bewunderten Meisters seiner impressionist. Entwicklungsphase, u. Sören Kierkegaards, ohne den man sich die radikalen Existenzerfahrungen seines dän. Alter ego Malte Laurids Brigge kaum denken kann. Die Einladung nach Schonen in Südschweden verdankte R. Ellen Key, der Verfasserin des Jahrhunderts des Kindes. Unter anderem war er zu Gast bei dem Ehepaar Gibson in Furuborg bei Göteborg, das die Reformideen der Jahrhundertwende mit dem Experiment einer ersten Gesamtschule in die Tat umsetzte. Wie R. sich in einer Rezension für Ellen Keys Buch eingesetzt hatte, so engagierte er sich jetzt für die reformerische Praxis (Aufsatz Samskola, Plan einer Schulgründung zus. mit Clara Rilke).

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Nach der »Wasserscheide« des Malte Laurids Brigge (an Lou Andreas-Salomé, 28.12.1911) steht R.s folgendes Lebensjahrzehnt ganz im Zeichen der Duineser Elegien (Lpz. 1923). Sie wurden im Jan. 1912 auf Schloss Duino an der Adria begonnen, wo R. als Gast seiner bedeutendsten Mäzenin, der Fürstin Marie von Thurn und Taxis, wohnte. Als Vorbereitungen des neuen Werks dienten R. die Reisen nach Ägypten (Jan. bis März 1911), das ihm im Tal der Könige das Urbild einer myth. Klage- u. Totenlandschaft für die 10. Elegie vermittelte, u. Spanien (Nov. 1912 bis Febr. 1913), wo er Toledo u. Ronda mit den Augen El Grecos sah. Das über menschl. Maß Hinausreichende dieser Landschaften, denen schon 1906/07 die Insel Capri u. 1909 die Provence mit Les Beaux präludierend vorhergingen, bereitete die Vision der »erhabenen« Welt der Elegien vor, »in der die uns übertreffenden Wesen, die ›Engel‹, zu Hause sind« (an Witold von Hulewicz, 13.11.1925). Die extrem lange u. schwierige Entstehungszeit erklärt sich aus dem hochgesteckten Ziel R.s, mit diesem Zyklus von zehn großen elegisch-hymn. Gesängen eine umfassende »Ontodizee« unter Einbeziehung aller positiven u. negativen Lebenserfahrungen, auch als rühmende Bejahung des Schmerzes u. des Todes, zu verwirklichen. Die Elegien sollten den positiven »Ausguß« des »Negativs« der »hohlen Form« des Malte Laurids Brigge (an Lotte Hepner, 8.11.1915) bilden. Das geistige Konzept u., dank dem Vorbild Klopstocks, die neue Form u. Sprache waren 1912 mit der Niederschrift der ersten beiden u. einiger Anfänge der weiteren Elegien bereits gefunden. Ergänzend wirkten danach Hölderlin, Trakl u., von Kippenberg vermittelt, Goethe ein. Aber die existentielle Krise R.s 1913–1915, die sich im Scheitern der mit vielen Hoffnungen im Hinblick auf die Werkvollendung begonnenen Liebesbegegnungen mit »Benvenuta«, der Pianistin Magda von Hattingberg, u. der Malerin Lou Albert-Lasard zeigte, schien für R. die Fortsetzung des Elegien-Zyklus unmöglich zu machen (Gedichte an die Nacht, Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens u. Klage). Vertieft u. verlängert wurde die Lebens- u. Schaffenskrise durch den Ersten Weltkrieg,

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der, bald in seiner ganzen Sinnlosigkeit erkannt, R. zur Sesshaftigkeit in München zwang. Unterbrochen wurde diese durch eine sechsmonatige Militärdienstzeit im Wiener Kriegsarchiv (Jan. bis Juni 1916). Vorher war überraschend, als einzige Förderung des großen Werkplans während des Kriegs, die 4. Elegie entstanden. Nach dem Krieg u. dem Ende der bayerischen Räterepublik, mit der er sympathisiert hatte, reiste R. überstürzt aus München u. Deutschland ab. Die bürgerl. Schweiz, wohin er einer Einladung zu Lesungen folgte, war ihm zunächst fremd. Außerdem gab es für ihn Schwierigkeiten mit der Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung. Mehr noch beanspruchte ihn die Suche nach dem Ort, der endlich die Vollendung der Elegien erlauben würde. Nachdem die Gastaufenthalte in Soglio (1919) u. Schloss Berg (1920/21) die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt hatten, fand R. Mitte 1921 die ersehnte Zuflucht in dem alten turmartigen Schlösschen Muzot bei Sierre im Rhônetal, das sein großbürgerl. Mäzen der Schweizer Jahre, Werner Reinhart, für ihn erwarb u. das Baladine Klossowska, R.s »Merline«, einrichten half, unterstützt von Nanny Wunderly-Volkart, der hilfreichsten Freundin seiner letzten Lebenszeit. In dem Elegien-Ort entdeckte R. zgl. auch die letzte der Elegien-Landschaften: Sein imaginativer Blick ließ ihn im Walliser Rhônetal die Provence u. Südspanien wiedererkennen. Nachdem sich ihm bei einem Kurzbesuch (Okt. 1920) auch Paris als über den Krieg hinweg unverändert gezeigt hatte u. ihm Valérys späte Lyrik begegnet war (Anfang 1921), gelang es R. im Febr. 1922, die Duineser Elegien mit erstaunlich genauem Anschluss an die alten Bruchstellen zu vollenden. Es entstanden innerhalb weniger Tage neu bzw. erhielten ihre endgültige Fassung die 7.-10. u. die 5. Elegie. Die 8. Elegie ist Rudolf Kassner gewidmet, der als Person u. mit seinem Werk großen Einfluss auf R. ausgeübt hatte. Die Welt der Elegien ist v. a. durch ihr »Personal«, ein eigentüml. Inventar mythopoetischer Figuren, gekennzeichnet: Neben den Engeln u. den Tieren gibt es die jungen Toten, die großen Liebenden, den Helden (6. Elegie), die Straßenakrobaten als Repräsen-

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tanten moderner menschl. u. künstlerischer Existenz (5. Elegie) u. nicht zuletzt den »schuldigen Flußgott des Bluts« (3. Elegie) als Mythisierung des Freud’schen Es. Wie 1912 auf Duino neben den ersten Elegien das ganz andersartige Marien-Leben (Lpz. 1913) niedergeschrieben wurde, so entstanden gleichzeitig mit den letzten Elegien die Sonette an Orpheus, die das eleg. »Klagen und Sagen« durch das orph. »Hören und Singen« ersetzen: »Und wir: Hörende endlich! Die ersten hörenden Menschen« (in: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 135). Die schon von den Elegien erstrebte »Rühmung« des Seins wird in den Sonetten über weite Strecken verwirklicht. Dementsprechend tritt an die Stelle der »schrecklichen« Elegien-Engel jetzt Orpheus, der vergöttlichte Dichter. Die dichterische Produktion spätestens der Jahre 1923–1926 zeigt erneut eine der für R. charakteristischen poetolog. Wendungen, sodass sich, unter Einwirkung Valérys, den er übersetzte, eine letzte Werkstufe ergab. In der neueren Forschung werden oft sogar schon die Sonette dieser spätesten Schaffensphase zugerechnet. Zu ihr gehören neben liedhaften »Naturgedichten« lyr. Konzentrate, die den magischen Möglichkeiten der Dichtungssprache ein Äußerstes abgewinnen (Mausoleum, Idol u. Gong). Eine eigene Werkgruppe bilden die z.T. ebenfalls die Walliser Landschaft feiernden frz. Gedichtzyklen Vergers suivi des Quatrains Valaisans (Paris 1926), Les Roses (Bussum 1927), Les Fenêtres (Paris 1927. Dt. v. Karl Krolow. Ffm. 1990) u. die große Zahl von Einzelgedichten in frz. Sprache. Seine letzten Lebensjahre verbrachte R. teils in Muzot, teils auf Reisen u. immer häufiger in Sanatorien, hauptsächlich in Ragaz u. Val-Mont bei Montreux. Während eines längeren Parisaufenthalts (Jan. bis Aug. 1925) pflegte er intensiv alte u. neue Beziehungen: mit Baladine Klossowska, deren später berühmte Söhne Balthus u. Pierre er tatkräftig förderte, Valéry, Gide u. Jules Supervielle. Die Pariser Zeit endete in einer Krise, in der nach einem Grundmuster des R.’schen Daseins auch die Ängste u. Heimsuchungen der Kindheit wiederkehrten (letzte Briefe an Lou Andreas-Salomé), wofür

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R. die freudian. Selbstdeutungsformel fand: »Das Ich versagt am Es« (27.10.1925, in: Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer. Wiesb. 1950, S. 50). Physisch meldete sich wohl in erster Linie die Krankheit, die Ende Nov. 1925 in Val-Mont als Leukämie diagnostiziert wurde. R. hat das Sanatorium nicht mehr verlassen. Er starb nach einem Jahr qualvollster körperl. Schmerzen kurz nach seinem 51. Geburtstag. In der bewegten Geschichte der R.-Rezeption überwog auf der trivialen Ebene, z.T. schon zu R.s Lebzeiten, eine schwärmerische Verehrung speziell des Frühwerks u. seines Autors, was nicht ohne Einfluss auf den Meinungsstreit in der dt. literar. Kritik über den Rang der R.’schen Dichtung blieb. Unabhängig davon wuchs deren Wirkung im Ausland kontinuierlich – gefördert durch die Übertragungen in alle Kultursprachen. Die Wirkung erreichte mehrere Dichtergenerationen, die von R. beeinflusst wurden, bes. jene englische, die mit W. H. Auden u. Stephen Spender in den 1930er Jahren hervortrat. Die zahllosen R.-Interpretationen haben sich lange Zeit meist auf isolierte Teilaspekte beschränkt, die als solche ernst zu nehmen sind: R.s Dichtung wurde gelesen als Dokument religiöser Erfahrung, als Verwirklichung eines absoluten Künstlertums, als eine nur philosophisch angemessen zu verstehende Dichtung, sei es phänomenologisch, existenzphilosophisch oder fundamentalontologisch im Sinne Heideggers; nicht zuletzt als ein tiefenpsychologisch zu erschließendes Werk. In größeren dichtungs- u. bewusstseinsgeschichtl. Zusammenhängen betrachtet, hat R. als moderner Dichter in seinem Werk eine Vielzahl von Bedeutungsebenen u. -sphären zgl. geschaffen u. den einzelnen Werkplänen auch unterschiedliche poetolog. Konzepte zugrunde gelegt. Zeichen dessen ist das unvermittelte Nebeneinander von Stunden-Buch u. Buch der Bilder sowie die parallele Entstehung der Neuen Gedichte u. des Malte Laurids Brigge u. schließlich die gleichzeitige Vollendung der Duineser Elegien u. der Sonette an Orpheus. Ein solcher Befund lässt sich als Hinweis auf eine starke Dominanz des Ästhetischen bei Unverbindlichkeit der Inhalte

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deuten. Richtiger scheint es, die verschiedenen Werkentwürfe, die immer auch geistige »Weltentwürfe« sind, als grundsätzlich gleichrangig zu werten u. poetologisch wie semasiologisch in der Pluralität einen wesentl. Strukturzug der R.’schen Dichtung zu sehen. Diese moderne, später auch von der Postmoderne reklamierte Qualität hat schon Musil als eine bes. »Bewegtheit des Sinnes« wahrgenommen: »Dieser Sinn entfaltet sich nicht gedeckten Rückens, an die Mauern irgendeiner Ideologie, Humanität, Weltmeinung gelehnt; sondern entsteht, von keiner Seite festgehalten oder gestützt, als ein der geistigen Bewegung frei und schwebend Überlassenes« (Tagebücher [...]. Hbg. 1955, S. 885). Damit korrespondiert recht genau R.s Deutung der eigenen Poetik u. Sprache: »Das Faßliche entgeht, es verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug« (an Ilse Jahr, 22.2.1923). Das »Faßliche« waren für R. die überlieferten Ideologien u. Glaubensformen als geistige Besitztümer, die in der Moderne ihren Besitzcharakter im Zuge eines tiefgreifenden Umlernens, einer Veränderung des Bewusstseins u. der Sprache, verlieren. In erster Linie ging es R. in Übereinstimmung mit den geistigen Haupttendenzen seiner Zeit (Lebensphilosophie, Kierkegaard-Wirkung, Heidegger) um das Freiwerden vom logo- u. anthropozentr. Subjekt-Objekt-Dualismus cartesian. Provenienz, der als ein rein possessives, die Wirklichkeit vergewaltigendes Verhältnis verstanden wurde. Das »Gegenübersein« (8. Elegie) von Mensch u. verdinglichter, fertig »gedeuteter Welt« (1. Elegie) hat R. auf verschiedenen Wegen aufzuheben versucht: im Stunden-Buch durch eine an christl. Mystik orientierte Sprache im Dienst einer Jugendstil-Poetik; in den Neuen Gedichten durch ein Gestalten der »Dinge« unter extremer Zurücknahme bewusster Subjektivität; schließlich im Spätwerk durch eine Reihe unterschiedl. Konzepte. Es stehen nebeneinander: die Engelsfigur als ideales, dem Bewusstsein Raum u. höchste Spannkraft gebendes Gegenüber, der »Weltinnenraum«, in welchem jede Grenze aufgehoben ist, das »Preisen« alles Seienden, die »Ver-

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wandlung« der sichtbaren Welt ins »Unsichtbare« als Mitvollzug einer umfassenden Veränderung der Welt im techn. Zeitalter u. das »Hören« des Orphischen Gesangs statt eines eigenmächtigen »Sagens«. Obgleich allen diesen »Lösungen« eine eminent poetolog. Funktion zukommt u. die entworfenen »Welt-Bilder« zunächst einmal sprachl. Konstrukte, kohärente Zeichenwelten sind, wollen die poet. Schöpfungen auch als Modelle möglicher neuer Denk- u. Lebensformen gelten. Es sind Modelle, die im Einzelnen einander widersprechen u. sich gerade deshalb als wechselseitige Ergänzung fordern: »[...] wo wir Eines meinen, ganz, / ist schon des andern Aufwand fühlbar« (4. Elegie). R. verstand seine Werkkonzepte u. Gedichte als partielle Sinnentwürfe, die er nach der Denkfigur der Komplementarität einander zuordnete. Seine Dichtung gehorcht den »ordres complémentaires« (Vergers), dem Gesetz des »reinen Widerspruchs« (R.s Epitaph). Aber R. ging es bei der Erfindung poetischer Sinnfiguren nicht um theoret. Welterkenntnis, sondern um den dichtungs- u. lebensprakt. Daseinsvollzug: »Denn wir leben wahrhaft in Figuren« – u. zwar in Figuren begrenzter Gültigkeit: »Eine Weile [...] / der Figur zu glauben. Das genügt« (Sonette an Orpheus I, 12 u. 11). In der 5. Elegie, unter der Nachwirkung von Picassos berühmten Saltimbanques als letzte für den Zyklus geschrieben, erscheinen die künstlerischen u. geistigen Probleme vor ihrer Bewältigung als »reines Zuwenig«, nach ihrer Lösung aber als »leeres Zuviel«. Und an der Figur, welcher der Übergang vom Vorher zum Nachher gelingt, wird nur noch der ganz abstrakte, unobjektivierbare »Umschlag« selbst gerühmt. Das meint wiederum die Preisgabe des Besitzanspruchs der Dichtung auf »objektive« Wahrheiten. Mit der so gewonnenen Offenheit u. Beweglichkeit der textinternen Sinnbezüge hat R.s dichterisches Werk im Zusammenhang der modernen Weltliteratur eine unverwechselbare Eigentümlichkeit erreicht. Weitere Werke: Leben u. Lieder. Straßb./Lpz. 1894. – Larenopfer. Prag 1896 (L.). – Wegwarten. Lieder, dem Volke geschenkt. 3 H.e, Prag 1896. – ›Jetzt u. in der Stunde unseres Absterbens‹. Szene.

Rilke Wegwarten II. Prag 1896. – Im Frühfrost. Ein Stück. Urauff. Prag 1897. – Traumgekrönt. Neue Gedichte. Lpz. 1897. – Advent. Lpz. 1898 (L.). – Ohne Gegenwart. Bln. 1898 (D.). – Am Leben hin. Novellen u. Skizzen. Stgt. 1898. – Zwei Prager Gesch.n. Stgt. 1899. – Mir zur Feier. Gedichte. Bln. 1899. – Die weiße Fürstin. Eine Szene am Meer. In: Pan 5, H. 4 (1900). Auch in: Die frühen Gedichte. Lpz. 21909. – Die Letzten. Bln. 1902 (3 Skizzen). – Das tägl. Leben. Mchn. 1902 (D.). – Das Testament. Ffm. 1974. – Übertragungen: Maurice de Guérin: Der Kentauer. Lpz. 1911. – Die Liebe der Magdalena. Ein frz. Sermon. Lpz. 1912. – Portugies. Briefe der Marianna Alcoforado. Lpz. 1913. – André Gide: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Lpz. 1914. – Die vierundzwanzig Sonette der Louize Labé. Lpz. 1918. – Paul Valéry: Gedichte. Lpz. 1925. Ausgaben: Ges. Werke. 6 Bde., Lpz. 1927–30. – Tagebücher aus der Frühzeit. Lpz. 1942. – Sämtl. Werke. 7 Bde., Wiesb. (später Ffm.) 1955–97 (krit. Ausg.). – Übertragungen. Ffm. 1975 (ersetzt durch Bd. 7 der Sämtl. Werke). – Komm. Ausg. 4 Bde., Ffm. 1996 (Supplementbd. 2003). – Briefe: Ges. Briefe. 6 Bde., Lpz. 1936–39 (Vorstufe: 7 EinzelBde., Lpz. 1929–37). – Briefe. Wiesb. 1950. – Briefe in 2 Bdn., Ffm./Lpz. 1991. – (Briefe an:) Gräfin Sizzo. Ffm. 1977. – Nanny Wunderly-Volkart. Ffm. 1977. – Karl u. Elisabeth v. der Heydt. 1905–22. Ffm. 1986. – (Briefw. u. a. mit:) Marie v. Thurn u. Taxis. Zürich 1951. – Lou Andreas-Salomé. Ffm. 1952 (erw. Ausg. 1975). – André Gide. Paris 1952. – Katharina Kippenberg. Wiesb. 1954. – Merline, d. i. Baladine Klossowska. Zürich 1954. – Inga Junghanns. Wiesb. 1959. – Marina Zwetajewa u. Boris Pasternak. Ffm. 1983. – Regina Ullmann u. Ellen Delp. Ffm. 1987. – Brüder Reinhart. Ffm. 1988. – Ellen Key. Ffm./Lpz. 1993. – Anton Kippenberg. 1906–26. Ffm./Lpz. 1995. – Magda v. Hattingberg d. i. Benvenuta. Ffm./Lpz. 2000. – Rodin [dt.]. Ffm./ Lpz. 2001. – Sidony Nádherny´ v. Borutin. 1906–26. Gött. 2007. Literatur: Bibliografien: Walter Ritzer: R. M. R.Bibliogr. Wien 1951. – Karl Klutz: R.-Bibliogr. 1975 ff. In: Bl. der R.-Gesellsch. 5 (1978) ff. (zuletzt in Bd. 23, 2000). – Indices: Russel E. Brown: Index zu R. M. R. ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Ffm. 1971. – Ulrich K. Goldsmith u. a.: A Verse Concordance to his Complete Lyrical Poetry. Leeds 1980. – Handbuch: Manfred Engel (Hg.): R.Hdb. Leben, Werk, Wirkung. Stgt./Weimar 2004. – Zeitschrift: Bl. der R.-Gesellsch. 1972 ff. – Biografien: Jean R. v. Salis: R. M. R.s Schweizer Jahre. Frauenfeld 1936. – Ingeborg Schnack: R. M. R. Chronik seines Lebens u. seines Werkes. 2 Bde., Ffm. 1975. 2., erg. Aufl. 1996. – Joachim W. Storck (Hg.): R. M.

652 R. 1875–1975. Mchn. 1975 (Ausstellungskat. Marbach). – Wolfgang Leppmann: R., sein Leben, seine Welt, sein Werk. Bern/Mchn. 1981. – Donald A. Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben R. M. R.s. Mchn. 1986. – Ralph M. Köhnen: R. In: NDB. – Zum Gesamtwerk: Eudo C. Mason: Lebenshaltung u. Symbolik bei R. M. R. Weimar 1939. Oxford 21964. – Hermann Kunisch: R. M. R. Dasein u. Dichtung. Bln. 1944. 2., stark erw. Aufl. 1975. – Otto Friedrich Bollnow: R. Stgt. 1951. – Käte Hamburger: Die phänomenolog. Struktur der Dichtung R.s. In: Dies.: Philosophie der Dichter. Stgt. 1966, S. 179–275. – Richard Jayne: The Symbolism of Space and Motion in the Works of R. M. R. Ffm. 1972. – Egon Schwarz: Das verschluckte Schluchzen. Poesie u. Politik bei R. M. R. Ffm. 1972. – Ulrich Fülleborn: ›Besitz‹ u. Sprache. Zur geschichtl. Bedeutung der Dichtung R. M. R.s. In: R. heute. Bd. 2, Ffm. 1976, S. 29–58. – August Stahl: R.-Komm. zum lyr. Werk. Mchn. 1978. – Ders.: R.Komm. zu den ›Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, zur erzähler. Prosa, zu den essayist. Schr.en u. zum dramat. Werk. Mchn. 1979. – Heinrich Imhof: R.s ›Gott‹. R. M. R.s Gottesbild als Spiegelung des Unbewußten. Heidelb. 1983. – Otto H. Olzien: R. M. R. Wirklichkeit u. Sprache. Stgt. 1984. – Rüdiger Görner (Hg.): R. M. R. Darmst. 1987. – Winfried Eckel: Wendung. Zum Prozeß der poet. Reflexion im Werk R.s. Würzb. 1994. – Hans Richard Brittnacher, Stephan Porombka u. Fabian Störmer (Hg.): Poetik der Krise. R.s Rettung der Dinge in den ›Weltinnenraum‹. Würzb. 2000. – Karine Winkelvoss: R., la pensée des yeux. Paris 2004. – Frühes und mittleres Werk: Ruth Mövius: R. M. R.s ›Stunden-Buch‹. Lpz. 1937. – Peter Demetz: René R.s Prager Jahre. Düsseld. 1953. – Paul Böckmann: Der Strukturwandel der modernen Lyrik in R.s ›Neuen Gedichten‹. In: WW 12 (1962), S. 321–354. – Brigitte L. Bradley: R. M. R.s ›Neue Gedichte‹. Ihr zykl. Gefüge. Bern/Mchn. 1967. – Wolfgang Müller: R. M. R.s ›Neue Gedichte‹. Vielfältigkeit eines Gedichttypus. Meisenheim am Glan 1971. – Judith Ryan: Umschlag u. Verwandlung. Poet. Struktur u. Dichtungstheorie in R. M. R.s Lyrik der mittleren Periode (1907–14). Mchn. 1972. – Hartmut Engelhardt (Hg.): Materialien zu R. M. R. ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Ffm. 1974. – Walter Simon (Hg.): R. M. R. ›Die Weise v. Liebe u. Tod‹. Texte u. Dokumente. Ffm. 1974. – Anthony R. Stephens: R.s ›Malte Laurids Brigge‹. Strukturanalyse des erzähler. Bewußtseins. Bern/Ffm. 1974. – Andrea Pagni: R. um 1900. Ästhetik u. Selbstverständnis im lyr. Werk. Nürnb. 1984. – Michael Kahl: Lebensphilosophie u. Ästhetik. Zu R.s Werk 1902–10. Freib. i. Br. 1999. – Sascha Löwenstein: Poetik u. Selbstverständnis.

653 Eine Einf. in R. M. R.s frühe Dichtungen (1884–1906). Würzb. 2004. – Spätwerk: Hans-Egon Holthusen: R.s ›Sonette an Orpheus‹. Mchn. 1937. – Hermann Mörchen: R.s ›Sonette an Orpheus‹. Stgt. 1958. – U. Fülleborn: Das Strukturproblem der späten Lyrik R.s. Heidelb. 1960. – Beda Allemann: Zeit u. Figur beim späten R. Pfullingen 1961. – Jacob Steiner: R.s ›Duineser Elegien‹. Bern/ Mchn. 1962. – A. R. Stephens: R. M. R.’s ›Gedichte an die Nacht‹. Cambridge 1972. Dt., stark verändert u. d. T. Nacht, Menschen u. Engel [...]. Ffm. 1978. – U. Fülleborn u. M. Engel (Hg.): R.s ›Duineser Elegien‹. 3 Bde., Ffm. 1982/83. – M. Engel: R. M. R.s ›Duineser Elegien‹ u. die moderne dt. Lyrik. Stgt. 1986. – Annette Gerok-Reiter: Wink u. Wandlung. Komposition u. Poetik in R.s ›Sonette an Orpheus‹. Tüb. 1996. – Silke Pasewalck: ›Die fünffingrige Hand‹. Die Bedeutung der sinnl. Wahrnehmung beim späten R. Bln./New York 2002. – Beziehungen: Friedrich Wilhelm Wodtke: R. u. Klopstock. Kiel 1951. – Herbert Singer: R. u. Hölderlin. Köln/Graz 1957. – Eudo C. Mason: R. u. Goethe. Köln/Graz 1958. – B. Allemann: R. u. Mallarmé. In: R. in neuer Sicht. Hg. K. Hamburger. Stgt. 1971, S. 63–82. – Maja Goth: R. u. Valéry. Aspekte ihrer Poetik. Bern/Mchn. 1981. – Andrea Corina Cervi: R. M. R. and J. P. Jacobsen. Diss. Cambridge 1986. – Dieter Lamping u. M. Engel (Hg.): R. u. die Weltlit. Düsseld. 1999. – Nachlass: R.-Archiv Gernsbach. – Berner R.-Archiv (Schweizerische Landesbibl.). – Literaturarchiv Marbach. Ulrich Fülleborn / Winfried Eckel

Rinckart, Martin, * 24.4.1586 Eilenburg/ Sachsen, † 8.12.1649 Eilenburg/Sachsen; Grabstätte: ebd. – Lutherischer Pfarrer; Dramatiker, Erbauungsschriftsteller, Kirchenlieddichter. An der Lateinschule seiner Heimatstadt wurde R., der Sohn des Böttchermeisters Georg Rinckart, im Sinne des christl. Humanismus luth. Prägung erzogen. 1601 trat er in die Thomasschule in Leipzig ein, wo er seit 1604 unter Leitung von Seth Calvisius im Thomanerchor sang. Bereits 1602 war er als Philosophie- u. Theologiestudent in Leipzig immatrikuliert, um sich auf den Schul- u. Kirchendienst vorzubereiten (Bakkalaureat 1609). 1610 wurde er an die Mansfelder Schule, 1611 ins Diakonat nach Eisleben u. 1613 ins Pfarramt von Erdeborn berufen. Nach Erlangung der Magisterwürde u. Dich-

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terkrönung in Leipzig erhielt er 1616 die Stelle eines Erzdiakons in seiner Heimatstadt. Nach R.s Tod sagte Neumeister von ihm, er sei ein »ebenso gelehrter wie frommer Mann; Verfasser vieler Dichtungen« (»doctus perinde ac pius: multorum Poeta Poematum«); seine zeittypische Ausbildung bzw. Karriere als luth. Geistlicher spiegelt sich in seinen literar. Tätigkeiten. R. war ein sehr produktiver Autor u. Musiker; unter seinem Namen erschien eine Vielzahl von Schriften. Der Eißlebische christliche Ritter (Eisleben 1613), ein schuldramat. Erstlingswerk, in dem zum ersten Mal in der dt. Dichtung die Parabel von den drei Ringen auftaucht, ging weiteren Reformations- bzw. Lutherdramen (z.B. Indulgentiarius confusus [...]. Eisleben 1618), zahlreichen Leichenpredigten, mehreren Erbauungsbüchern u. Liedersammlungen, Gelegenheitswerken zum Dreißigjährigen Krieg sowie einer Verslehre (Summarischer Discurs und Durch-Gang, von teutschen Versen, Fuß-Tritten und vornehmsten Reim-Arten. Lpz. 1645) voraus. Das bekannteste Werk, der Choraltext Nun danket alle Gott zu Sir 50, 24–26, wurde im Iesu Hertz-Büchlein (Lpz. 1636) erstmals veröffentlicht, obgleich das in Alexandrinern verfasste dt. Tedeum bereits zum Festvortrag in Eilenburg bei der Jahrhundertfeier der Augsburger Konfession 1630 entstand. Das Lied zeugt nicht nur von R.s Frömmigkeit u. luth. Geschichtsbewusstsein, sondern auch von seinem musikal. Können, denn er komponierte die Melodie selbst. Durchgängig kennzeichnet R.s Schaffen sein Sinn für konfessionelle Geschichte. In der aus mnemotechn. Gründen gereimten Kirchengeschichte für den Schulunterricht, Circulorum memoriae decas (Lpz. 1629), erscheint das Luthertum als Vollendung des göttl. Plans. Eine vorgesehene Reihe von sechs Dramen zur Entwicklung des Protestantismus sollte den Glauben der Zuschauer festigen, eine Intention, die in Der Eißlebische christliche Ritter bes. deutlich in Erscheinung tritt. Der apostrophierte Ritter ist der »letzte deutsche Wundermann«, d.h. Luther, u. in Anlehnung an den Paulusbrief Eph 6, 10–20 erscheint die Gestalt im Drama als heldenhafter Sieger über Papst, Calvin u. teufl. An-

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tichristen jegl. Gesinnung. Ein Lutherporträt schmückt den Druck, im dritten Akt wird das Kirchenlied Ein’ feste Burg gesungen, u. am Ende wird allein Luther von Christus in Gnade aufgenommen. Das fünfaktige Schuldrama war offenbar an nlat. Vorgängern wie Thomas Naogeorgs Pammachius u. Frischlin (vgl. dazu bes. Phasma. 1592) geschult, aber von seiner Intention her ähnelt es auch zeitgenöss. Werken von Andreas Hartmann, Martin Böhme u. Heinrich Kielmann. Es lag im Geist des Konfessionszeitalters, die Reformation zu feiern, u. dass R. Luthers Geburtsort im Titel ausdrücklich anführte, sollte nicht zuletzt R.s kirchenamtl. Verbindung zur Stadt festigen. Im Sinne dieser personalpolit. Tendenz wurden auch seine Mansfelder Landesherren einbezogen. Ihr Wappenschild, St. Georg mit dem Drachen, ist auf der Titelseite des Stücks abgebildet: Im Heimatland Luthers hätte man sich seit jeher zum Kampf gegen den Teufel bekannt wie nun auch in diesem dramat. Werk. Nicht ungeschickt verherrlichte der junge Dramatiker also seine vorabsolutist. Landesherren, indem er sich mit ihrem Kampf gegen das Böse identifizierte. Obwohl R. lokal geschätzt wurde, fiel das Urteil Neumeisters negativ aus: R. sei »von geringem Kunstverstand und wenig Geschmack« (»artis tamen ac elegantiae non multae«); R.s dichterisches Können u. literar. Themen waren zu sehr im 16. Jh. verhaftet, als dass sein Werk gegen einen Rist oder Gryphius hätte bestehen können. Immerhin war er ein Exponent des wichtigen Typus des dichtenden Geistlichen im Zeitalter des Konfessionalismus.

Literatur: Bibliografien: Heiduk/Neumeister, S. 87 f., 228, 452 f. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3350–3373. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 26, S. 204 f. – VD 17. – Weitere Titel: Albert Friedrich Wilhelm Fischer: Kirchenlieder-Lexikon [...]. Gotha 1878. Nachdr. Hildesh. 1967, Bd. 2, S. 101–104. – Bernhard Sowinski: Zur Mundart in den Dramen M. R.s. In: FS Karl Bischoff. Hg. Gunter Bellmann u. a. Köln/Wien 1975, S. 98–116. – Adalbert Elschenbroich: Der Eißleb. christl. Ritter v. M. R. Reformationgesch. als luth. Glaubenslehre im volkstüml. Drama des 17. Jh. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Brückner u. a. Wiesb. 1985, S. 559–578. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2, Tüb. 1987, Register. – HKJL Bd. 2, S. 381–399 u. Register. – Karl Dienst: M. R. In: Bautz. – Wilhelm Büchting: M. R., Leben u. Werk. Spröda 1996 (zuerst u. d. T.: M. R., ein Lebensbild des Dichters v. ›Nun danket alle Gott‹ auf Grund aufgefundener Manuskripte. Gött. 1903). – Gerlinde Schlenker: M. R. (1586–1649), Dichter, Musiker, Komponist. In: Philipp Melanchthon u. das städt. Schulwesen [...]. Hg. dies. Halle 1997, S. 141–144. – Georg Bießecker: M. R. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 255 f. – Matthias Wolfes: M. R. In: NDB. – Siegmar Keil: M. R. In: MGG 2. Aufl. (Pers.) Bd. 14 (2005), Sp. 173 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1702–1704. – Susan Lewis Hammond: Editing Italian Music for Lutheran Germany. In: Orthodoxies and Heterodoxies in Early Modern German Culture [...]. Hg. Randolph C. Head u. a. Leiden/Boston 2007, S. 117–137. – S. Keil: M. R. (1586–1649) u. seine Lutherdramen. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 15 (2008), S. 53–61. – Ders.: M. R.s Lutherdramen, eine Bestandsaufnahme. In: Luther 79 (2008), S. 95–108. – Ders.: ›Nun danket alle Gott‹. M. R.s Lied im Wandel der Zeiten. Mchn. 2009. Richard Erich Schade / Red.

Ausgaben: Der Eißleb. christl. Ritter. Hg. Carl Müller. Halle 1883. – M. R.s Geistl. Lieder nebst einer [...] nach den Quellen bearb. Darstellung des Lebens u. der Werke des Dichters. Hg. Johannes Linke. Gotha 1886. – Fischer-Tümpel 1, S. 452–478. – Der Müntzerische Bawren-Krieg [...]. Lpz. 1625. Nachdr. hg. u. mit einer Einf. vers. v. Fritz-Dieter Maaß. Hildesh. 1991. – Monetarius seditiosus sive incendia rusticorum bellica, et reliqua eius lustri memorabilia. Der Müntzerische Bawren-Krieg [...]. Lpz. 1625. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt.

Ring, Friedrich Dominikus, * 24.5.1726 Straßburg, † 8.2.1809 Karlsruhe. – Literator, Polyhistor, Historiker, Übersetzer. R. war Sohn eines Tischlers, geschickten Zeichners u. Mechanikers, der die Lektüre liebte. Ab 1734 besuchte R. das Gymnasium. 1740 schrieb er sich an der Straßburger Universität ein u. studierte anfangs recht breit Altphilologie, Philosophie, Naturrecht, Naturlehre, Mathematik u. Geschichte. Der renommierte Historiker Johann Daniel Schöpflin wurde auf den sprachbegabten Studenten

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aufmerksam u. beschäftigte ihn als Mitarbeiter bei griech. u. lat. Quelleneditionen. 1742 wurde R. Baccalaureus der Philosophie u. 1745 Magister der Theologie. Er besuchte weiterhin theolog. Vorlesungen, legte die Examina ab u. predigte erstmals 1748. 1751 trat er mit einem Stipendium eine Reise durch Deutschland an. Mehrere Monate hielt er sich in Leipzig u. an anderen Universitäten auf u. lernte so die wichtigsten Professoren u. Theologen kennen. Ende 1752 kehrte er nach Straßburg zurück. Da er keine Aussicht auf eine Pfarrstelle hatte, unterrichtete er junge Adlige. Schöpflin empfahl ihn als Hofmeister dem Generalleutnant von Muralt in Zürich für dessen einzigen Sohn. Von Mai 1753 an genoss R. drei Jahre lang das literar. Leben der Stadt u. begleitete seinen Eleven nach Metz, wo Muralt stationiert war. 1756 bekam er in Straßburg die Stelle eines »sonntäglichen Abendpredigers«, die er nach einigen Monaten aufgab, um in Colmar als Vizerektor des Gymnasiums zu arbeiten. In den Weihnachtsferien 1758 stellte er sich dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden u. dessen Gemahlin vor: Er sollte Prinzenerzieher des 4-jährigen Karl Ludwig (1755–1801) u. seines Bruders Friedrich (1756–1817) werden. Vor Antritt der Stelle erbat er sich die Erlaubnis, noch eine Reise nach Paris zu unternehmen, zu der er an Ostern 1759 aufbrach. Er besuchte die akadem. Institutionen u. Sehenswürdigkeiten sowie bekannte Gelehrte u. Künstler, u. a. d’Alembert, Diderot u. Rousseau, Boucher u. Wille. Im Nov. 1759 begann er seine Erziehungsarbeit am Karlsruher Hof. 1763 wurde er zum Hofrat, 1773 zum Geheimen Hofrat ernannt. 1763 heiratete er Karoline Christine Wieland, die jüngste Tochter des Karlsruher Geh. Rates u. Oberamtmanns Wieland. Von seinen sechs Kindern überlebten ihn nur ein Sohn u. eine Tochter. R. war Ehrenmitgl. der 1767 gegründeten Karlsruher »Societas latina«. Seine Bibliothek gehörte zu den drei größten in Karlsruhe. In literarischen Dingen war er di e Institution von Stadt u. Hof. R. wurde von einer unersättl. Neugier auf Ergebnisse der Wissenschaften u. literar. Neuigkeiten getrieben. »Kirchen- und Gelehrte Historie, Philosophie und Moral,

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Dichtkunst, Critik, griechische und lateinische Litteratur, Polymathie im eigentlichen Verstande waren es, worauf er ausginge und worinnen er Progreßen bis zum Erstaunen [...] gemacht hat.« (Nachlass, Hs. 483, 3, S. 31 v). Die Sammlung gelehrter Nachrichten u. von Anekdoten, das lebenslange Exzerpieren u. v.a. ein ausgedehnter Briefwechsel sind in den zahlreichen Bänden des Nachlasses in der Freiburger Universitätsbibliothek erhalten – dieser noch nicht systematisch gehobene Schatz muss heute als das bedeutendste Werk R.s gelten. Die ihn betreffende Kalliope-Liste enthält 1429 Brief-Nummern – darunter umfangreiche Briefwechsel mit Pfeffel, dem Basler Kupferstecher u. Kunsthändler Christian von Mechel (zugänglich durch das »Verbundsystem Nachlässe und Autographen«), Friedrich Justus Riedel, Ludwig Heinrich von Nicolay, Heinrich Leopold Wagner, Wieland usw. Das ungedruckte Tagebuch von 1753–1756 ist eine vorzügl. Quelle für das literar. Leben in Zürich, für den Umgang mit Bodmer, Breitinger, Wieland, Geßner u. a. Die Liste seiner Veröffentlichungen – oft kurze Abhandlungen u. Gelegenheitsgedichte – umfasst bei Jöcher (Bd. 6, 1819) 41 Nummern; eine vollständige Bibliografie liegt bisher nicht vor. Zahlreiche Beiträge zu verschiedenen Zeitschriften sind noch nicht erfasst. Besondere Verdienste hat sich R. als Übersetzer erworben. Von ihm wurde die Erstausgabe von Diderots Erzählung Regrets sur ma vieille robe de chambre, ou avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune (1772, mit Vorw. an den Leser v. R.) besorgt. Durch die Paragraphen (Ffm./Lpz. 1768) wurde er in eine literar. Fehde mit Klotz verwickelt. Das Büchlein handelt vom Untergang von Bibliotheken durch Feuer u. Wasser bis ins 18. Jh. hinein. Durch die Edition der Reden Schöpflins u. dessen Biografie machte sich R. unter Historikern u. Neulateinern einen Namen. Seine Bedeutung als Autor ist beschränkt. Aber als Zeuge u. »Spiegel« des gelehrten u. literar. Lebens in Deutschland u. Frankreich sollte er nicht vergessen werden. Weitere Werke: Nachlass: UB Freiburg (NL 10): Eine Mappe, 54 Kapseln. – Einzeltitel: Die Ringe, eine Abhandlung. Erlangen/Lpz. 1757. – Vita

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Joannis Danielis Schoepflini Franciae historiographi. Karlsr. 1764. Erw. Neuausg. 1768. – Opera oratoria edidit vitam auctoris notulasque adjectas. 2 Bde., Augsb. 1769. – Kurzgefaßte Gesch. der drey ersten Entdecker v. Amerika. Ffm. 1781. – Über den Kindermord. Hingeworfene Gedanken eines Nichtfakultisten. Ffm. 1782. – Schuzschrift für den Grafen Cagliostro. Kehl 1786. – Über die Reise des Zürcher Breytopfes nach Strasburg vom Jahr 1576. Bayreuth 1782. – Kayser Otto der Dritte gen. Mirabilia Mundi: Ein biogr. Gemälde aus dem zehnten Jahrhundert. Erlangen 1789. Literatur: Erich Schmidt: Ein Höfling über Klopstock (1879). In: Ders.: Charakteristika. Erste Reihe, Bln. 21902, S. 151–168. – Fritz Frankhauser: Briefe v. Gottlieb Konrad Pfeffel an F. D. R. In: Jb. für Gesch., Sprache u. Lit. Elsass-Lothringen 30 (1914), S. 25–124; 31 (1915), S. 74–108; 33 (1917), S. 71–151. – Gerhard Sauder: Kein Sturm u. Drang in Saarbrücken. Heinrich Leopold Wagners Hofmeisterzeit. In: Saarheimat 23 (1979), H. 3/4, S. 57–62. – Hans Georg Zier: Pfeffel u. Karlsruhe. In: Gottlieb Konrad Pfeffel. Satiriker u. Philanthrop (1736–1806). Eine Ausstellung der Bad. Landesbibl. Karlsruhe in Zus. mit der Stadt Colmar. Karlsr. 1986, S. 105–117. – Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben u. Werk. Aus zeitgenöss. Quellen chronologisch dargestellt. Bd. 1: Vom Seraph zum Sittenverderber, 1733–83, Sigmaringen 1987. – François Moureau: F. Dominicus R., éditeur de Diderot. In: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 16 (1994), Nr. 1, S. 113–123. – Wilhelm Kühlmann: Facetten der Aufklärung in Baden. Johann Peter Hebel u. die Karlsruher ›Lateinische Gesellschaft‹. Mit der zweisprachigen Ed. v. Hebels student. Reden (1776/ 77), übers. v. Georg Burkard. Freib. i. Br. u. a. 2009. Gerhard Sauder

Ring, Max, * 4.8.1817 Zauditz/Schlesien, † 28.3.1901 Berlin. – Journalist, Romancier, Reiseschriftsteller; Arzt. Der Sohn eines oberschles. Gutsbeamten studierte ab 1836 in Breslau u. Berlin Medizin; nach Promotion u. Staatsexamen (1840) ließ er sich in Gleiwitz nieder. In der Zeit der Agrarkrisen nach 1845 erlebte er die Not u. die sozialen Konflikte auf dem Land aus nächster Nähe; eine sozialkrit. Schrift über die Ursachen u. den Verlauf der schles. Hungertyphus-Epidemie wurde von der Zensur unterdrückt. Während der Revolution war R. antisemit. Verfolgungen ausgesetzt. Er ver-

legte die Praxis nach Breslau, kehrte 1850 nach Berlin zurück u. wurde ständiger Mitarbeiter der »Gartenlaube« u. Theaterkritiker der »Vossischen Zeitung«. Freundschaften verbanden ihn mit Varnhagen u. Theodor Mügge sowie mit zahlreichen Mitgliedern des literar. Vereins »Der Tunnel über der Spree«. 1856 heiratete er eine Tochter des Berliner Verlegers Carl Heymann. R. schrieb für den expansiven Markt der Zeitschriften sowie für Leihbibliotheken. Seine zahlreichen Erzähltexte, mit histor., sozialen u. gesellschaftl. Themen, wandten sich gegen den Klassenantagonismus u. traten für die Überwindung der sozialen Frage durch industriellen u. kulturellen Fortschritt ein (vgl. Berlin und Breslau 1847–1849. Bln. 1849). Erfolg hatte er v. a. mit mehreren Bänden Stadtgeschichten (ab 1852), in denen das städt. Leben der Kaufleute, Börsianer, Rentiers u. kleinen Leute geschildert wurde. Sie gehören in den literarhistor. Zusammenhang der Geheimnis- u. Großstadtromane in der Nachfolge Sues; Fontane hob ihre Trivialität hervor: »Charaktere, Situationen, Bilder, Stil, Verknüpfung, Lösung – alles verbraucht.« In den 1860er u. 1870er Jahren hat R. in Kriminalnovellen u. -geschichten immer wieder die Konflikte aufgegriffen, die durch spekulatives Geldverdienen u. durch »Industrierittertum« entstehen. Die illustrierte Prachtausgabe Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung (2 Bde., Lpz. 1883. Neudr. 1987) feiert auf der Basis seiner »Gartenlaube«-Feuilletons Geschichte u. Gegenwart der neuen Hauptstadt. Weitere Werke: Gedichte (zus. mit Moritz Fränkel). Lpz. 1840. – Die Genfer. Breslau 1850 (histor. Trauersp.). – Der große Kurfürst u. sein Schöppenmeister. 3 Bde., Breslau 1851. – Stadtgesch.n. Bln. 1852. – John Milton u. seine Zeit. Histor. Roman. Ffm. 1857. – Lorbeer u. Cypresse. Literaturbilder. Bln. 1869. – Die Weltgesch. ist das Weltgericht. Louis Napoleon Bonaparte. Bln. 1870. – In der Schweiz. Lpz. 1870 (Reiseber.e). – Hinter den Coulissen. Erinnerungen [...] aus der Theaterwelt. Lpz. 1872. – Lose Vögel. Bln. 1872 (E.en). – Der große Krach. Jena 1875. – Berliner Leben. Kulturstudien u. Sittenbilder. Lpz. 1882. – Berliner Kinder. 3 Bde., Bln. 1883 (R.). – Erinnerungen. 2 Bde., Bln. 1898.

657 Literatur: Michael Fraenkel: M. R. In: Der Oberschlesier 12 (1930), S. 510–517. – Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans [...]. Ffm. 1977. – Friederike Meyer: Zur Relation jurist. u. moral. Deutungsmuster v. Kriminalität in den Kriminalgesch.n der ›Gartenlaube‹ 1855–70. In: IASL 12 (1987), S. 156–189. Joachim Linder / Red.

Ringelnatz, Joachim, eigentl.: Hans Bötticher, auch: Pinko Meyer, Fritz Dörry, Gustav Hester, * 7.8.1883 Wurzen/ Sachsen, † 17.11.1934 Berlin. – Lyriker, Erzähler, Kabarettist, Rezitator, Maler. R., Sohn des gut situierten Tapetenentwerfers u. Jugendschriftstellers Georg Bötticher (lange Zeit Herausgeber von »Auerbachs Deutschem Kinderkalender«), hatte als äußerst lebhaftes, fantasievolles Kind disziplinarische Schwierigkeiten in der Schule u. wurde vom Königlichen Staatsgymnasium Leipzig verwiesen. Die anschließend besuchte Privatschule verließ er nach der Obersekunda »mit der Berechtigung zum Einjähr.-Freiwilligen Militärdienst«. Danach fuhr R. zunächst als Schiffsjunge unter erbärml. Bedingungen zur See; mit Unterbrechungen brachte er als Matrose u. als Freiwilliger bei der Marine bis 1905 insg. vier Jahre auf Segelu. Dampfschiffen zu. Diese jugendl. Fluchtzeiten beschrieb er später in dem Buch Was ein Schiffsjungen-Tagebuch erzählt (Mchn. 1911). Zwischendurch u. danach führte er ein unstetes Leben, absolvierte u. a. eine kaufmänn. Lehre in Hamburg, arbeitete als Hausmeister in einer Pension in England, war Lehrling in einer Dachpappenfabrik u. Angestellter in einem Münchner Reisebüro. Eine entscheidende Wendung nahm sein Leben, als er mit 25 Jahren das Künstlerlokal Simplicissimus der Kathi Kobus in München-Schwabing entdeckte u. dort Gelegenheit fand, eigene Verse vorzutragen, die durch Skurrilität u. unkonventionelle Thematik Erfolg hatten. Er wurde zum »Hausdichter« u. kaufte sich in der Nachbarschaft einen Tabakladen, den er schon nach neun Monaten wieder zumachte. Im »Simpl« lernte R. Schwabinger Prominenz kennen – Wedekind, Mühsam, Ludwig Scharf, Richard Seewald. Die Dichter u. Maler

Ringelnatz

ermunterten ihn zu Veröffentlichungen. 1909 bis 1913 erschienen insg. sieben Bändchen mit heiteren autobiogr. Geschichten, Kinderschnurren, grotesk-naiven Gedichten. Erfolgreich waren Die Schnupftabakdose. Stumpfsinn in Versen und Bildern von Hans Bötticher und Richard Seewald (Mchn. 1912) u. Ein jeder lebt’s. Novellen von Hans Bötticher (Mchn. 1913). Alle Veröffentlichungen bis zu dieser Zeit hatten zus. eine Auflage von nicht mehr als 3000 Exemplaren. Seinen kargen Lebensunterhalt musste R. als Bibliothekar bei der gräfl. Familie Yorck von Wartenburg in Schlesien (den Grundstock der riesigen Bibliothek bildete die berühmte Bücherei Tiecks) u. im Elternhaus des Balladendichters Börries von Münchhausen in Hannover verdienen. Nebenbei verdingte er sich als Fremdenführer auf einer Burg. Am 1.8.1914 schrieb er schwungvoll in sein Tagebuch: »Ich ziehe in den Krieg!«, als würde er in ein großes Abenteuer aufbrechen. Nach dem Krieg geriet R. beruflich ins Elend, versuchte sich wieder in unterschiedlichsten Branchen, u. a. in einer Gartenbauschule u. als Archivar im Berliner ScherlVerlag. Ein für sein Leben entscheidender Umschwung kam 1920 mit dem Engagement an Hans von Wolzogens Berliner Kleinkunstbühne »Schall und Rauch«. Zunächst dort u. künftig auf Tourneen durch die Kabaretts in ganz Deutschland u. den angrenzenden deutschsprachigen Städten trug R. (der sich seit 1919 Ringelnatz, nach dem seemänn. Namen für das glückbringende Seepferdchen, nannte) bis in sein Todesjahr eigene Dichtung vor. Seine außerordentlich lebendige Vortragsweise unterstützte den Verkauf seiner Bücher, v. a. der schnell sprichwörtlichen vom Seemann Kuttel Daddeldu (Bln. 1920. Nachdr. Zürich 1995. 2006) u. der Turngedichte in einem 16-Seiten-Heftchen (Bln. 1920. Nachdr. Zürich 1995). R. blieb ein unpolitischer, im Grunde unliterar. Außenseiter in der Not u. Hektik der Weimarer Republik. Er lebte u. spielte als verquerer Brettl-Philosoph öffentlich mit seiner Wehmut, beschrieb sie hintergründig als eine seine Jugendzeit vergoldende Erinnerung. Er erschloss der Lyrik kurios-logisch oder vertrackt-tragisch im erfinderischen

Ringmann

Spiel mit Wörtern u. Begriffen neue Gebiete u. Milieus: das Turnen u. das Fliegen, das Artisten- u. das Matrosendasein. Polgar sprach vom »waghalsigen Humor«, mit dem R. »den Stein der Narren entdeckt« habe; Hesse nannte ihn einen »adeligen Schwärmer edler Art mit einem Dichterherzen und einem kleinen Vogel im ritterlichen Kopf«. Er selber meinte über seine Kauzigkeit, er sei »etwas schief ins Leben gebaut«. Die 1400 Briefe von u. an R. in der achtbändigen Gesamtausgabe seiner Werke (Bln. 1983 ff. Hg. Walter Pape, auch als CD-Rom-Ausg., 2005) – befreundete Briefpartner sind neben seiner von ihm »Muschelkalk« genannten Frau u. a. Hesse, der Berliner Kunsthändler Alfred Flechtheim, die Schauspieler Asta Nielsen u. Paul Wegener, die Verleger Ernst Rowohlt u. Kurt Wolff – zeigen R. eher als einen Verzweifelten, Trauernden, »düster im Bunten«, der Groteske u. Komik als Lebensnotwendigkeit betrachtet. R. erhielt 1933 Auftrittsverbot in Deutschland; er starb verarmt mit 51 Jahren an einer Lungenkrankheit. Paul Claudel würdigte ihn mit der philosoph. Feststellung: »wie eng sind doch Ernst und Humor verwandt«. Weitere Werke: Simplicissimus, Künstlerkneipe u. Kathi Kobus. Hg. vom Hausdichter Hans Bötticher. Mchn. 1909. – Die Woge. MarineKriegsgesch.n. Mchn. 1922. – [...] liner Roma [...]. Mit 10 Bildern v. ihm selbst. Hbg. 1924. – Nervosipopel. Elf Angelegenheiten. Mchn. 1924. – Reisebriefe eines Artisten. Bln. 1927. – Allerdings. Bln. 1928 (G.e). – Als Mariner im Krieg (Pseud. Gustav Hester). Bln. 1928. Zürich 2004. – Matrosen. Erinnerungen, ein Skizzenbuch, handelt v. Wasser u. blauem Tuch. Bln. 1928. Hbg. 2005. – Flugzeuggedanken. Bln. 1929. – Mein Leben bis zum Kriege. Bln. 1931. – Kinder-Verwirrbuch mit vielen Bildern. Bln. 1931. 2008. – Die Flasche u. mit ihr auf Reisen. Bln. 1932. – Gedichte, Gedichte v. einstmals u. heute. Bln. 1934. – Der Nachl. Bln. 1935 (postum). – Zwieback amüsiert sich. Köstl. u. kuriose Begebenheiten mit gezeichneten Späßen v. ihm selbst. Hg. Helga Bemmann. Bln./DDR 1987. Ausgaben: Briefe. Hg. Walter Pape. Bln. 1988. – Das Gesamtwerk. Hg. ders. 7 Bde., Zürich 1994. – Sämtl. Gedichte. Zürich 1997. 2005. – Brief an Ernst Rowohlt. Ein Entwurf. Hg. Helmut Heintel. Stgt. 2001. – Sämtl. E.en. Zürich 2003. 2005. – Gedichte, P., Bilder. Hg. Frank Möbus u. Friederike

658 Schmidt-Möbus. Stgt. 2005. – Die Gedichte. Hg. Fritz u. Katinka Eycken mit Jakob Winter. Ffm. 2005. – Wie Daddeldu so durch die Welten schifft ... Autobiografisches u. Nachgelassenes. Hg. Abraham Melzer. Köln 2005. – Liebesgedichte. Ffm. 2005. – Daddeldus Seemannsgarn. Die schönsten E.en. Ffm. 2006. – Und auf einmal steht es neben dir. Ges. Gedichte. Ffm. 2007. – Das große Jubiläumsalbum. Königswinter 2008. Literatur: Erich Kästner: Die Groteske als Zeitgefühl. In: Leipziger Tageblatt, 1.6.1924. – Herbert Günther: J. R. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Hbg. 1964. 92006. – Walter Pape: J. R. Bln. 1974 (Monogr.). – Alfred Polgar: J. R. In: Ders.: Kleine Schr.en. Bd. 4, 1984, S. 118–125. – Curt Grützmacher: Wer war J. R.? Zum 50. Todestage. In: NDH 31 (1984), S. 768–776. – Peter Rühmkorf: J. R., das vervielfältigte Original. In: Ders.: Dreizehn dt. Dichter. Reinb. 1989, S. 50–61. – Helga Bemann: J. R. Leben u. Werk des Dichters, Malers u. Artisten. Ffm. u. a. 1996. – Dies: Vor Anker im ›simpl‹. J. R. u. der simplicissimus. In: Lit. in Bayern, Sonderh. (1996), S. 62–66. – Helmut Heintel: Originalgraph. Drucke zum Werk v. J. R. Ein Verz. der Künstler u. ihrer Arbeiten. Warmbronn 1998. – Frank Möbus u. a. (Hg.): R.! Ein Dichter malt seine Welt. Gött. 2000. – J. R. In: Text + Kritik 148 (2000) (Themenh.). – Stephan Huck (Hg.): R. als Mariner im Krieg 1914–18. Bochum 2003. – Claire Singe: J. R. Seemann, Lyriker, Artist u. Mann der 35 Berufe. Lpz. 2004. Arnd Rühle / Red.

Ringmann, Matthias, Beiname: Philesius Vogesigena, * 1482 Eichhoffen oder Reichsfeld/Elsass (?), † Aug. (?) 1511 St. Dié/Lothringen (?). – Humanistischer Dichter, Schriftsteller u. Übersetzer; Namengeber Amerikas. R. besuchte wahrscheinlich die Schule in Schlettstadt (Elsass), studierte später in Heidelberg (1498), zeitweise auch in Freiburg/ Br., wo er sich offenbar bes. dem gelehrten Kartäuserprior Gregor Reisch (mehrere Begleitgedichte in dessen Publikationen) anschloss. Um die Jahrhundertwende finden wir R. in Paris (Kontakte mit Faustus Andrelinus u. Faber Stapulensis). Daran schloss sich eine Episode als Schulmeister in Colmar an (1503), bis R. um 1504 nach Straßburg übersiedelte. In enger Verbindung mit Jacob Wimpfeling (zwei Briefe R.s in Herding/ Mertens 1990, s. Literaturverz.), den er gegen

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die Angriffe des Poeten Jacob Locher verteidigte, wirkte er hier als Korrektur der Druckereien von Johann Prüss d.Ä., Johann Grüninger u. Johann Knobloch. Während zweier Aufenthalte in Italien (1505 u. 1508) lernte er u. a. Giovanni Francesco Pico della Mirandola u. Lilio Gregorio Giraldi kennen. Renatus (René) II., Herzog von Lothringen, berief R. 1507 an das Vosgische Gymnasium (Gymnasium Vosagense) von St. Dié, von wo aus ihn Reisen nach Basel, Straßburg u. Nancy führten. R.s Nachruhm beruht auf Studien zu einer geplanten Ausgabe des Ptolemaios, dessen antikes Weltbild mit den neuen Entdeckungen zu harmonisieren war. Zus. mit dem aus Freiburg/Br. stammenden Kartografen Martin Waldseemüller (lat. Hylacomylus/Ilacomylus), gefördert auch von den Brüder Gautier u. Nicolas Lud, veröffentlichte R. 1507 in St. Dié (danach mehrere Auflagen bis mindestens 1545: Straßb. u. Venedig) als Anhang seiner Cosmographiae Introductio (Faksimiledr. hg. v. F. R. v. Wieser. Straßb. 1907) eine vollständige lat. Übersetzung der vier Reiseberichte des Florentiners Amerigo Vespucci über seine in Diensten der Spanier bzw. Portugiesen unternommenen Reisen (1499 bis 1502) nach Südamerika. In der Einleitung dieses Werkes schlug R. vor, den neuen Kontinent nach seinem angebl. Entdecker (»inventor«) »Amerika« zu nennen: »quasi Americi terram, sive Americam dicendam«. Waldseemüller schuf dazu einen Globus sowie eine 1900 wiederaufgefundene Karte (seit 2001 in der Library of Congress, Washington D. C. Faksimiledr. hg. v. J. Fischer u. F. R. v. Wieser. Innsbr. 1903. Nachdr. Amsterd. 1968. Abb. im Kat. Focus Behaim Globus. Bd. 2, Nürnb. 1992, S. 666 f.), auf der zum ersten Male der Name »Amerika« für die nordöstl. Region Südamerikas auftauchte. Erst seit Mercator (1538) wurde der Name nach u. nach als geograf. Bezeichnung für den ganzen Kontinent eingebürgert. Geografische Studien bildeten freilich nur einen kleinen Sektor in R.s weitgefächerter literar. Produktion. Unter seinen zahlreichen Gedichten (zuerst ges. in: Hemisticha poetarum. Straßb. 1505) ragt ein Lobgedicht auf die heimatl. Vogesen hervor (Carmen de Vogeso.

Ringmann

Gedr. zus. mit Michael Köchlins De imperii a graecis ad germanos translatione. Straßb. 1506. Abdr. in: Humanismus und Renaissance. Hg. Hans Rupprich. Bd. 2, Darmst. 1964, S. 78 f., 315–317). Für die muttersprachliche, auch kulturpatriotisch motivierte Einbürgerung der antiken Autoren stellte R.s Übersetzung der histor. Werke Caesars (Julius der erst Römisch Keiser von seinen Kriegen. Straßb. 1507 u. ö.) einen bedeutenden Fortschritt dar. Auch an anderen Editionen war R. beteiligt (Plautus-Ausgabe. Straßb. 1511). Pariser Anregungen wirkten wahrscheinlich nach in dem sprachpädagog. Versuch, mittels mnemotechn. Methoden (Bilderserie als Kartenspiel) das Erlernen der lat. Grammatik zu erleichtern (Grammatica figurata. St. Dié 1509. Neuausg. v. F. R. v. Wieser. Straßb. 1905). Andere Werke, wie die wegweisende Ausgabe des Ptolemaios (Straßb. 1513) u. ein dem Lothringer Herzog zugedachtes panegyr. Epos (Nanceis. St-Nicolas-du-Port 1518), wurden postum fertiggestellt u. veröffentlicht. Literatur: Charles Schmidt: Histoire Littéraire de l’Alsace. Bd. 2, Paris 1879. Nachdr. Hildesh. 1966, S. 87–132, 398–401 (Werkverz.). – Theodor Vulpinus: M. R. N. In: Jb. für Gesch., Sprache u. Lit. Elsaß-Lothringens 18 (1902), S. 127–130. – Karl Klement: Neue Belege für das Lebensbild des Philesius Vogesigena. Ebd. 20 (1904), S. 220, 298–301. – Richard Newald: Probleme u. Gestalten des dt. Humanismus. Bln. 1963, S. 443–457. – Worstbrock, S. 28 ff. u. ö. – Jean-Claude Margolin: Le Symbolisme dans la ›Grammatica Figurata‹ de M. R. (1509). In: Bulletin de l’Association G. Budé 97 (1979), S. 72–87. – Franz Laubenberger: R. oder Waldseemüller. Eine krit. Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika. In: Erdkunde. Archiv für wiss. Geographie 13 (1959), S.163–179. – Ders.: The Naming of America. In: Sixteenth Century Journal 13 (1982), S. 91–113. – Günther Hamann: Ein Überblick über Entstehung u. Quellen des Namens ›Amerika‹. In: MIÖG 63 (1955), S. 298–311. – Eberhard Schmitt (Hg.): Die großen Entdeckungen. Dokumente zur Gesch. der europ. Expansion, Bd. 2, Mchn. 1984, Nr. 3, S. 13–17. – Otto Herding u. Dieter Mertens: Jakob Wimpfeling. Briefw. 2 Bde., Mchn. 1990. – Michael Herkenhoff: Vom langsamen Wandel des Weltbildes: Die Entwicklung v. Kartographie u. Geographie im 15. Jh. In: Focus Behaim Globus. Ausstellungskat. des German. Nationalmuseums. Bearb. v. Karl Wilhelm Willers u. a. Nürnb. 1992, Bd. 1,

Ringoltingen

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S. 143–155; Bd. 2, S. 665–668. – Klaus Anselm Vogel: ›America‹. Begriff, geograph. Konzeption u. frühe Entdeckungsgesch. in der Perspektive der dt. Humanisten. In: Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett. Amerika im dt. Humanismus u. Barock. Hg. Karl Kohut. Ffm. 1995, S. 11–43, bes. S. 15–17. – François Joseph Fuchs in: NDBA. – HKJL, Bd 1, Sp. 344–361, 1170–1172. – Franz Josef Worstbrock: R. In: VL Dt. Hum. Wilhelm Kühlmann

Ringoltingen ! Thüring von Ringoltingen Ringseis, Johann Nepomuk von (seit 1834), * 17.5.1785 Schwarzhofen/Oberpfalz, † 22.5.1880 München; Grabstätte: Tutzing, Friedhof. – Publizist; Mediziner u. Politiker.

bieten der Wissenschaft. Mchn. 1855). Artikel für Joseph u. Guido Görres’ ultramontane Publikationsorgane (»Eos«, »Historisch-Politische Blätter«) wiesen ihn als streitbaren Erzkonservativen aus. R.’ Bekenntnis zur Unverzichtbarkeit strenger Gläubigkeit für den Gebrauch der menschl. Vernunft prägt selbst sein System der Medizin (Regensb. 1841). Reiner Naturwissenschaft abgeneigt u. dafür an Schellings Naturphilosophie orientiert, postuliert R. hier – viel kritisiert u. belächelt – einen Zusammenhang zwischen Krankheit u. menschl. Sündhaftigkeit. Die Abdankung Ludwigs I. (1848) brachte R. um seine Staatsämter (1852). Seine Erinnerungen (Hg. Emilie von Ringseis. 4 Bde., Regensb. 1886–92) werfen interessante Schlaglichter auf die »ultramontane Romantik« Münchner Provenienz.

Der Gastwirts- u. Bürgermeisterssohn stuLiteratur: Eberhard Dünninger: J. N. v. R. in dierte ab 1805 in Landshut Medizin; hier seiner Zeit. Regensb. 1987. Nachdr. 2005 (Biblioschloss er enge Freundschaft mit Johann Mi- gr.). – Gabriele Seefried: J. N. v. R. u. sein ›System chael Sailer u. dem Romantikerkreis um Sa- der Medizin‹. Diss. Würzb. 1990. – Paul Hoser: vigny, Schelling u. die Geschwister Brentano. Arzt u. Freund: J. N. v. R. In: König Ludwig I. v. 1812 glänzend promoviert, prädestinierten Bayern u. seine Zeitgenossen: biogr. Ess.s. Hg. Wilhelm Liebhart. Ffm./Wien u. a. 2003, ärztliches Renommee, entschiedene ReligioS. 245–258. – Eberhard J. Wormer: R. In: NDB. – sität u. schwärmerische Begeisterung für die Angela Heller-Wolfsteiner: J. N. v. R.: zum 125. konfessionell gebundene Romantik den von Todestag am 22. Mai 2005. In: Die Oberpfalz 93 Bildungsreisen (1813) u. Frankreichfeldzug (2005), S. 168–170. Adrian Hummel / Red. (1815) zurückgekehrten R. zum Begleiter des bayerischen Kronprinzen Ludwig auf dessen Italien-Reisen (1817 u. ö). Zunehmend miliRingwaldt, Bartholomäus, * 1530/1532 tant-patriotisch u. apologetisch-katholisch, Frankfurt/O., † 9.5.1599 Langenfeld/ avancierte R. zu einer führenden PersönlichNeumark. – Evangelischer Pfarrer, Verkeit der Münchner Gesellschaft mit enormem fasser geistlich-didaktischer Gedichte u. Einfluss auf die Kultur- u. GesundheitspoliDramen. tik von König Ludwig I.: Als Obermedizinalrat, verantwortlicher Reformer des baye- Die Biografie R.s kann zum größten Teil nur rischen Gesundheitswesens (ab 1825) u. Prof. aus seinen Schriften erschlossen werden: Er der Medizin (ab 1817, 1826 Ordinarius) hatte studierte ab Sommer 1543 Theologie in er maßgebl. Anteil an der Verlegung der Frankfurt/O. u. trat 1556 seine erste PfarrLandesuniversität nach München (1826) u. stelle an. 1559 war er Pfarrer in Pießke/Polen. deren personeller Ausstattung im Sinne einer 1566 bestellte ihn der Meister des Johanniantirationalist. Programmatik. In der bayeri- terordens zum Pfarrer in Langenfeld/Neuschen Ständekammer ab 1837 aktiv, profi- mark, wo er bis zu seinem Tod 1599 blieb. lierte sich R. auch durch aufsehenerregende Erst ab 1577 begann R., moraldidakt. Rektoratsreden wider verderbl. Areligiosität, Versgedichte, Komödien für Schulbühnen, zersetzenden Republikanismus oder flachen geistl. Lieder u. Kasualgedichte zu verfassen. Zeitgeist (Über den revolutionären Geist der Am bekanntesten wurde die Schilderung von deutschen Universitäten. Mchn. 1833. Über die Himmel u. Hölle in der Tradition der mitNothwendigkeit der Autorität in den höchsten Ge- telalterl. Visionsliteratur u. der luth. Predig-

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ten über »die letzten Dinge« in etwa 1350 Hildesh. u. a. 1977. – Lebensbilder der LiederdichKnittelversen u. d. T. Newezeittung: So Hanns ter u. Melodisten (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Bearb. Fromman mit sich auß der Hellen unnd dem Himel v. Wilhelm Lueken. Gött. (auch Bln.) 1957, bracht hat (Amberg 1582; 2., auf rd. 4000 S. 114–116. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2, Tüb. 1987, Register. – Karl Verse erw. Aufl. u. d. T. Christliche Warnung des Dienst: B. R. In: Bautz. – Johannes Block: B. R. In: trewen Eckarts [...]. Frankf./O. 1588), wo er auf Komponisten u. Liederdichter des Evang. GesangEckart, den Warner am Venusberg, zurück- buchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), griff. Das zweite Lehrgedicht in Knittelver- S. 256 f. – Matthias Wolfes: B. R. In: NDB. sen, Die lauter Wahrheit (Erfurt 1585), entwirft Walter E. Schäfer / Red. ein Bild des wahren Christen am Modell eines Kriegsmanns u. schildert Charakter- u. StanRinke, Moritz, * 16.8.1967 Worpswede. – destypen. Beide Schriften erreichten bis ins Dramatiker, Bühnenautor, Hochschul18. Jh. mehr als 40 (Eckart) bzw. 20 (Wahrheit) lehrer für Szenisches Schreiben. Neuausgaben. Ihre Motive wurden in der dramatischen (Andreas Hartmann) u. moral- Nach ersten Erfahrungen im Theater Johann didakt. Prosaliteratur (Johann Michael Kresniks spielte R., der im Deutschunterricht Moscherosch: Gesichte u. Insomnis cura paren- v. a. mit Dramen konfrontiert wurde, vertum) aufgegriffen. Speculum mundi, eine feine schiedene Theaterrollen; das Abitur legte er Comoedia (Frankf./O. 1589) bringt das gefährl. an der Rudolf-Steiner-Schule in Ottersberg ab Leben eines luth. Landpfarrers zur Darstel- u. absolvierte im Anschluss seinen Zivillung, der von seinem Grundherrn u. von dienst. Trotz des Scheiterns an der Hochkath. Geistlichen bedrängt wird. Sie wurde schule für Musik und Theater im Bereich 1610 durch den Rektor in Züllichau, Kaspar Regie studierte er 1989–1994 Angewandte Irmisch, R.s Schwager, auf der dortigen Theaterwissenschaft an der Universität GieSchulbühne aufgeführt. Kurz vor seinem Tod ßen bei Andrzej Wirth. In Kursen lernte er übersetzte R. eine lat. Komödie Daniel Cra- Heiner Müller, Robert Wilson, George Tabori mers, die einen histor. Vorfall, die Entfüh- u. Jan Grotowski kennen. Schon in dieser Zeit rung zweier sächs. Prinzen 1450, darstellte, begann R., für überregionale Theaterzeitu. gab sie u. d. T. Plagium. Oder diebliche entfü- schriften zu schreiben. 1994–1996 arbeitete rung zweyer jungen Herrn (o. O. 1597) heraus. In er als Volontär u. Feuilletonredakteur beim seinen geistl. Liedern folgt er der schlichten Berliner »Tagesspiegel«. Als freier Autor reüssierte er rasch u. gewann 1995 mit Ein Tag Lyrik Nicolaus Hermanns. Weitere Werke: Der 91. Psalm neben siben mit Marlene den Axel-Springer-Preis, 1997 andern schönen Liedern [...]. Frankf./O. 1577. – denselben Preis mit einem Bericht über die Evangelia, auff alle Sontag u. Fest [...] neben etzl. Love Parade. R. wurde als Dramatiker des Buspsalmen, in Reim u. Gesangweise vertieret [...]. Jahres 2001 ausgezeichnet u. avancierte zum Frankf./O. 1581. – Handbüchlein: Geistl. Lieder u. Lieblings- u. Vorzeigedramatiker von BunGebetlein, auff der Reiß, oder sonst in eigener not deskanzler Gerhard Schröder. [...]. Frankf./O. 1586. Eine Sammlung von Reportagen, Porträts Ausgaben: Wackernagel 1, S. 856 f., 860; 4, u. Szenen erschien 2001 u. d. T. Der Blauwal im S. 906–1065. – Dje lauter Warheit [...]. o. O. 1590. Kirschgarten. Erinnerungen an die Gegenwart Internet-Ed.: VD 16 digital. – Christl. Warnung des (Bln.) als witzig-sarkast. Gegenbild zur weit trewen Eckarts [...]. Frankf./O. 1590. Internet-Ed.: verbreiteten Modeströmung der PostmoderVD 16 digital. – Geistl. Lieder [...]. Hg. Hermann ne. Ähnliche Strukturmerkmale gelten für Wendelbourg. Halle 1858. – Ausgew. Werke. Hg. die Erfolge an den Theatern der Republik, die Federica Masiero. 2 Bde., Bln./New York 2007. R. seit 1995 feiert: Der graue Engel – Ein MoLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Johannes Bolte: B. R. In: ADB. – F. Sielek: B. R. nolog zu zweit (Bln. 1995) erweitert die Frankf./O. 1899. – Franz Wegner: Die christl. Schauspielerszenen Thomas Bernhards um Warnung des treuen Eckarts des B. R. Breslau 1909. überraschende absurde Varianten. Marlene Nachdr. Hildesh. u. a. 1977. – Erich Krafft: Das gibt inmitten von Koffergebirgen ihrem Speculum Mundi des B. R. Breslau 1915. Nachdr. Diener entsprechende Kleidungs- u. Kunst-

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metaphern auf den Weg – das Stück resultierte aus einer Begegnung des Autors mit der Schauspielerin Marianne Hoppe. In eleganter Überblendtechnik wird Hoppe zu Marlene, Marlene Dietrich zu Hoppe. Das mit dem Literaturpreis des PEN-Clubs Liechtenstein ausgezeichnete Stück Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte (in: Theater, Theater 7, 1997, S. 379–434) erlebte in Stuttgart 1999 seine Uraufführung. In dem Schauspiel in vier Tagen platzt der Römergermane Helmbrecht in eine Theaterprobe der Balkonszene von Romeo und Julia u. lässt die Puppen tanzen. Eine vergleichbare Thematik bestimmt das Stück Männer und Frauen (Urauff. Staatstheater Hannover 1999), in dem der Engel Heinrich auf die Welt entsandt wird, um einem zwischen Karriere u. Liebeslust schwankenden Gehirnforscher zu einer Frau zu verhelfen. 1999 folgte die Uraufführung von Stockholm-Syndrom am Schauspiel Bonn u. 2000 die des Stückes Republik Vineta (2008 verfilmt, Regie: Franziska Stünkel) am Thalia Theater (zu Beginn der Intendanz von Ulrich Khuon) – R.s bis dahin deutlichster Theatererfolg. Damit schloss R. seine Trilogie der Verlorenen ab. Republik Vineta wurde in einer Kritikerumfrage von »Theater heute« als »bestes deutschsprachiges Stück 2000/2001« ausgezeichnet; R. u. einige Schauspieler wurden zu einer Lesung ins Kanzleramt eingeladen. Das Stück wurde auch für das Kino verfilmt. Galt R. bis dahin als »Märchenprinz« (Spiegel, 15.4.2002) unter den Dramatikern, so wandte er sich in der Folge politischen u. histor. Stoffen zu: 2002 wurde seine Version des Heldenliedes Die Nibelungen in Worms uraufgeführt. Die Aufführung fand – auch durch die Aufzeichnung im ZDF – große Resonanz, wurde von der Presse u. Mediävistik allerdings eher skeptisch bewertet. Die Wucht des Stoffes geht in den witzigen, iron. Brechungen, die R. vornimmt, zwar verloren, kam beim Publikum jedoch an. Die Änderungen des Autors für Aufführungen in geschlossenen Theatern führten zu einer Urheberrechtsklage zwischen den Festspielen Worms u. dem Theater Freiburg unter der damaligen Intendantin Amélie Niemeyer; der Streit endete 2003 mit einem Vergleich: Unter dem geänderten Titel Kriemhilds Traum

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fand die Uraufführung in Freiburg 2002 statt. R.s Stück wurde ab 2006 in Worms wieder in zwei Teilen gespielt, wobei R. die Brunhild-Handlung erweiterte u. damit ein Zwei-Frauen-Stück schuf. R. selbst konnte sich als gern gesehener Gasts der Politprominenz 2002 als Inselschreiber von Sylt zurückziehen. Eine erste Filmarbeit, September (Mitarbeit am Drehbuch), u. ein polit. Stück, Die Optimisten (Urauff. Theater Bochum 2003), runden die Sylter Phase ab. Das »Geplauder« in Die Optimisten zeigt in typischer R.-Manier eine Reisegruppe in Nepal in einem von Terroristen umkreisten Hotel. Auf mehr Tiefsinn legt R. das 2005 erschienene Stück Café Umberto (Düsseldorfer Schauspielhaus u. ThaliaTheater Hamburg) an: Arbeitslose Akademiker u. Künstler diskutieren ihre aussichtslose Situation in einer Arbeitsagentur. R. besuchte zur Vorbereitung dieses Stückes eine Agentur in Berlin. Seine Tätigkeit als Hochschullehrer für Szenisches Schreiben hat R. in »Theater heute« (2006, H. 10, S. 36–42) dokumentiert. Eine zweite Sammlung von 36 Texten Kurzprosa veröffentlichte R. 2005: Das große Stolpern. Erinnerungen an die Gegenwart (Köln). Wiederum geht es, wie in Café Umberto, um Alltagsskizzen mit grotesk-komischer Zuspitzung; Politiker treten dem Autor auf die Füße, sie besitzen keinen Geruch, verkleiden sich, was R. »humoristisch« abtönt. Weitere Werke: Trilogie der Verlorenen. Stücke. Reinb. 2002. – Nibelungen-Festspiele Worms 2002 [Programmheft]. Worms, 2002. – Die Nibelungen: eine Aufführung der Nibelungen-Festspiele Worms. Fernsehaufzeichnung ZDF. Autor: M. R. Inszenierung: Dieter Wedel. ZDF u. a. 2002. – Die Nibelungen. Mit einem Nachw. v. Peter v. Becker. Reinb. 2002. – Die Nibelungen: Siegfrieds Frauen. Die letzten Tage v. Burgund. Mit einem Nachw. v. John v. Düffel. Überarb. u. erw. Neuausg. Reinb. 2007. Literatur: Rudolf Denk u. Klaus Hoggenmüller: ›Ich war der Snob von Sternheim‹. Bibliogr. Notizen zum Autor M. R. Von süchtigen Männern u. dem produktionsorientierten Literaturunterricht. In: Lit. im Unterricht 4 (2003), S. 129–137. – Christine Dössel: M. R. In: LGL. – Ulrich Fischer:

663 M. R. In: KLG. – M. R. Mein Leben. Ein Portrait v. Sabine Carbon. Arte (13.1.2008). Rudolf Denk

Rinser, Luise, * 30.4.1911 Pitzling/Obb., † 17.3.2002 Unterhaching bei München; Grabstätte: Wessobrunn. – Erzählerin, Essayistin. In ihrem wenig liebevollen Elternhaus wurde R. im kath. Glauben erzogen. Diese Erziehung war nicht nur streng, sie hatte zum großen Teil überaus autoritäre Züge, da die rebellische Tochter ihren Eltern ungehorsam u. einfach »anders« erschien. Geprägt wurde R. indes weniger vom Dogmen-Glauben der kath. Kirche als von der »Schönheit der barocken Kirchen und der Symbolik des Kultes«. Bereits mit 13 Jahren machte sich R. auf nach München, wo sie sich am dortigen Lehrerinnenseminar zur Volksschullehrerin ausbilden ließ. Nach dem Abitur studierte sie, ebenfalls in München, Pädagogik u. Psychologie. Ab 1934 arbeitete R. an verschiedenen oberbayer. Schulen als Aushilfslehrerin, u. a. 1935/36 im Moordorf Nicklheim, dessen Armut, gepaart mit ihrer eigenen Mittellosigkeit, sie zu ihrem späteren Roman Daniela (Ffm. 1953) inspirierte. Bereits in dieser Zeit verweigerte sich R. dem obligaten Eintritt in die NSDAP – eine Verweigerung, die sie auch später noch aufrechthielt, als sie eine Festanstellung als Lehrerin gefunden hatte. Der ständig drohenden Entlassung aus dem Schuldienst kam sie 1939 durch Kündigung zuvor. Im selben Jahr heiratete sie den Musiker u. Kapellmeister Horst Günther Schnell, mit dem sie seit 1935 verlobt war. Das Paar lebte in Braunschweig u. Rostock u. bekam zwei Söhne. Während des Krieges, 1942, wurde Schnell, gerade von R. getrennt, in die Wehrmacht einberufen u. nach Russland geschickt, wo er im folgenden Jahr in einer Strafkompanie starb. R. wurde zunächst nach Schlesien evakuiert, zog sich dann nach Kirchanschöring bei Salzburg zurück. Mit dem homosexuellen kommunist. Schriftsteller Klaus Herrmann ging sie 1943 eine Scheinehe ein. 1944 schließlich wurde R. wegen »Wehrkraftzersetzung« denunziert u. in Traunstein inhaftiert. Allein die schleppend arbeitende Bürokratie u. das Kriegsende in

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Bayern im April 1945 verhinderten ihre Verurteilung. R.s Verhältnis zum Nationalsozialismus wurde 1988 erneut aufgerollt u. kontrovers diskutiert, als man unter ihren frühen Publikationen in der Zeitschrift »Herdfeuer« ein Hitler-Gedicht fand, in dem R. den »Führer« als groß bezeichnet hatte. Diese Entdeckung – mag das Gedicht auch eine jugendl. Verirrung sein – konterkariert R.s Selbstdarstellung als eine konsequente Antifaschistin, die sich den Machthabern in jeder Beziehung verweigert habe. In dieselbe Richtung deutet die Tatsache, dass R. bis 1939 Mitgl. des NS-Lehrerbundes war u. ab 1936 der NS-Frauenschaft angehörte. Erste Geschichten in Zeitschriften veröffentlichte R. schon als junge Lehrerin. Peter Suhrkamp ermunterte sie zur Publikation der autobiografisch gefärbten Erzählung Die gläsernen Ringe (Bln. 1941). Dieses Buch, welches bei Kritik u. Publikum erfolgreich war, endet mit dem unzeitgemäßen Bekenntnis zum »scharfen, klaren Gesetz des Geistes«, das sich, wie R. aus der Rückschau schrieb, gegen die »irrationale Dumpfheit der Nazi-Mentalität« gerichtet habe. Nach der zweiten Auflage erhielt R. Publikationsverbot. Während der Haftzeit entstand auf Zeitungsrändern das Gefängnistagebuch (Mchn. 1946), ein Bericht über die grausamen Haftbedingungen im Nazi-Gefängnis, der sich durch eine kühle Beobachtungsgabe auszeichnet. Obwohl nicht immer frei von trivialen Zügen (Erste Liebe. Mchn. 1946, E.en. Hochebene. Kassel 1948, R.), zeigen R.s frühe Arbeiten bereits ihren später charakteristisch gewordenen Gestus: das unablässige, niemals zufrieden zu stellende Fragen nach dem Sinn der Welt. In der gesellschaftl. Sinnkrise der Nachkriegszeit, hervorgerufen durch die rasche Restaurationspolitik, verschafften R. die nüchterne Sicherheit des Erzählstils – geschult an der amerikan. Short Story – u. die konsequenten Charaktere ihrer Figuren eine breite Leserschaft. Noch heute bekannt u. seit dem Erstdruck 1948 mehrfach neu aufgelegt ist ihre Erzählung über den jüdischen »Heimatlosen« Jan Lobel aus Warschau (Kassel). Einen ähnlich lang anhaltenden Erfolg hatte die im selben Jahr erschienene Kurzgeschichte Die rote Katze. In den folgenden Jahrzehnten

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avancierte R. zu einer christl. Erbauungsschriftstellerin, in deren Denken sich Christliches u. Soziales unauflöslich miteinander verbanden. Sie galt dabei rasch als moralische Instanz u. erfüllte in immer umfangreicherem Maße das Bedürfnis ihrer Lesergemeinde nach Lebenshilfe, u. a. als Kolumnistin der Zeitschrift »Für Sie« (Gespräche über Lebensfragen. 1966. Gespräch von Mensch zu Mensch. 1967. Fragen, Antworten. 1968; alle Würzb. Hochzeit der Widersprüche. Percha/Kempfbausen 1973). Neben der Arbeit an ihrem belletrist. Œuvre reüssierte R. bis 1958 auch als Journalistin vornehmlich in Diensten der »Neuen Zeitung«, für die sie zahlreiche Literaturkritiken u. Aufsätze über polit. Themen verfasste; sie war zudem für den Rundfunk u. die »Zürcher Weltwoche« tätig. Ein Welterfolg in Millionenauflage, übersetzt in mehr als 20 Sprachen, wurde ihr Roman Mitte des Lebens (Ffm. 1950), der ihr auf Vorschlag Thomas Manns den René-Schickele-Preis einbrachte. In Montagetechnik mit grellen Effekten beschreibt R. den Weg der leidenschaftlichen, kompromisslosen Nina zu sich selbst. Die Fortsetzung der Lebensgeschichte Ninas, der Briefroman Abenteuer der Tugend (Ffm. 1957), entstand während R.s kath. Periode; ebenso wie in Die vollkommene Freude (Ffm. 1962) begreift R. Liebe jetzt als Entsagung u. Aufopferung der Frau, durch die sie die gottgewollte Ordnung anerkennt. Im ersten der beiden Romane verarbeitet R., ohne allerdings ein dezidiert autobiogr. Buch geschrieben zu haben, ihre Beziehung zu dem Verleger Fritz Landshoff, der seinerzeit unter einer heftigen Morphinsucht litt. Gerade die drei genannten Romane sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass R.s Werk zumeist der sog. »Frauenliteratur« zugerechnet wird. Nach der Beendigung ihrer Beziehung zu Landshoff, die später als Freundschaft wieder aufgenommen wurde, heiratete R. 1954 den Komponisten Carl Orff, dem sie zwei Jahre zuvor begegnet war. Mit ihm lebte sie ab 1955 gemeinsam im eigenen Haus in Dießen am Ammersee. Die Ehe mit dem genialen, aber oftmals depressiven Künstler gestaltete sich, je länger sie dauerte, desto schwieriger: Zwar konnte R. weiterhin als Schriftstellerin

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publizieren, doch in der Hauptsache bestand ihre Aufgabe darin, als »Frau Orff« den Terminplan ihres Mannes zu organisieren u. sich um die Pflichten des Alltags zu kümmern. Von ihren Kollegen etwa in der Gruppe 47, ja vom literar. Leben überhaupt, entfremdete sie sich dabei zusehends. Die Jahre, in denen R. mit Orff zusammenlebte, bis zur Scheidung der Ehe 1960, finden sich ausführlich dargestellt in den wohl stärksten Passagen ihrer ansonsten eher konventionellen, vielfach auf bloßes »name dropping« abzielenden Memoiren Saturn auf der Sonne (Ffm. 1994). Während der Ehe mit Orff lernte R. bald einen anderen Mann kennen, M. A., wie sie ihn in ihren Memoiren nannte, den Abt eines Klosters. Er wurde zu ihrer großen Liebe; freilich war diese Liebe zu keiner Zeit öffentlich lebbar, da M. A., als Ordensmann, an den Zölibat gebunden war u. ihn nicht aufgeben wollte. Nach der endgültigen Trennung von Orff siedelte R. nach Rom über, 1965 nach Rocca di Papa, einem kleinen Dorf in den Albaner Bergen, wo sie bis kurz vor ihrem Tod ein eigenes Domizil besaß. 1962 begegnete sie in Innsbruck dem berühmten kath. Theologen Karl Rahner, dem sie über 20 Jahre in enger Freundschaft verbunden blieb. Von dem umfangreichen Briefwechsel, den beide miteinander führten – es handelt sich um beinahe 2000 Briefe – wurden 1994 einige Auszüge in Buchform veröffentlicht. Enthalten aber sind in Gratwanderung. Briefe der Freundschaft an Karl Rahner. 1962–1984 (Hg. Bogdan Snela. Mchn. 1994) ausnahmslos die Schreiben aus R.s Feder; die Briefe ihres prominenten Gesprächspartners blieben ungedruckt, da der Jesuitenorden, dem Rahner angehört hatte, sie unter keinen Umständen publiziert sehen wollte. Während der Jahre als akkreditierte Journalistin beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1966) entwickelte R. allmählich eine krit. Haltung zur autoritären Dogmatik der kath. Kirche; sie trat gleichwohl niemals aus der Kirche aus, begleitete vielmehr deren weitere Entwicklung, die Anregungen des Konzils aufgreifend, mit einer Reihe theologischer Essays (etwa Zölibat und Frau. Würzb.

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1967. Laie, nicht ferngesteuert. Zürich 1967). Ihre Wut u. Enttäuschung über das schnelle Verdrängen der NS-Verbrechen gestaltete R. in dem Roman Der schwarze Esel (Ffm. 1974), einer Neubearbeitung von Die Stärkeren (Kassel 1948). Der Abscheu vor dem Egoismus der Wirtschaftswunder-Zeit bestärkte sie immer mehr in ihren sozialist. Überzeugungen. Ohne je einer Partei angehört zu haben, war R. zeitlebens eine politisch hochinteressierte u. sich einmischende Schriftstellerin. So unterstützte sie etwa die Ostpolitik Willy Brandts, demonstrierte zus. mit Günter Grass, Siegfried Lenz u. a. vor dem Raketenstandort der US-Armee in Heilbronn u. setzte sich mehrfach öffentlich für die SPD ein. Seit ihrem Engagement im Wahlkampf der rheinland-pfälz. SPD 1971 sah sich R. wiederholt grundlosen Diffamierungen ausgesetzt, die ihr Beihilfe zu den Terrorakten der RAF anzulasten versuchten, weil sie einmal Gudrun Ensslin u. Andreas Baader, die damals noch keine Terroristen waren, bei sich aufgenommen hatte. Erst 1977 wurde R. vom Bundestag rehabilitiert u. erhielt das Große Bundesverdienstkreuz. In den 1980er Jahren setzte sie sich für Friedens- u. Umweltpolitik ein. Die Fraktion DIE GRÜNEN nominierte sie 1984 für die Wahl zum Bundespräsidentenamt, bei der sie 68 von 1028 Stimmen erhielt. Neben der dt. Innenpolitik verfolgte R. auch die Weltpolitik mit großer Aufmerksamkeit. Ihre zahlreichen Reisen, mit denen sie, aus einem christl. Impetus heraus, die Lebenssituation der Menschen kennenlernen wollte, führten sie in viele Teile der Erde, etwa in den von Khomeini regierten Iran u. mehrmals in die beiden korean. Staaten. Bes. mit dem korean. Komponisten Isang Yun pflegte R. seit 1975 eine herzl. Freundschaft. Äußeres Dokument dieser Freundschaft ist der 1977 erschienene Dialog über ihn u. seine Musik, Der verwundete Drache (Ffm.). 1980 lernte R. den nordkorean. Diktator Kim Il Sung kennen, den sie fortan, bald als enge Freundin, bis zu dessen Tod öfter besuchte. Ihr Nordkoreanisches Reisetagebuch (Ffm. 1981) wurde zu der wohl umstrittensten Publikation R.s, weil sie sich darin, nach Meinung vieler, zu unkritisch gegenüber dem nord-

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korean. System zeigte. Kraft ihres stetig wachsenden Kontakts mit dem östl. Denken begann sich R. in der Folge für den Buddhismus zu begeistern. Sie führte sogar einige Gespräche mit dem Dalai Lama in dessen Regierungssitz Dharamsala, die sie 1995 in Buchform veröffentlichen ließ (Mitgefühl als Weg zum Frieden. Mchn. 1995). Radikale polit. Parteinahme u. religiöse Hingabe waren für R. zwei prinzipiell gleichberechtigte Wege zur Menschlichkeit. In der Erzählung Geh fort wenn du kannst (Ffm. 1959) entdeckt die kommunist. Widerstandskämpferin Angelina in sich die Bereitschaft zum Klosterleben. Deutlicher noch sind in Mirjam (Ffm. 1983), R.s feminist. Gestaltung des NT, der Revolutionär Jehuda (Judas) u. Jeschua (Jesus) ebenbürtige Antagonisten zur Verwirklichung der menschl. Freiheit. Die Ich-Erzählerin Mirjam (Maria Magdalena) trägt, beiden in Liebe verbunden, den Konflikt der konträren Lebensformen in sich aus. Mit Baustelle (1970), tagebuchähnl. Aufzeichnungen, denen mehrere weitere Bände folgten (Grenzübergänge. 1972. Kriegsspielzeug. 1978. Winterfrühling. 1982. Im Dunkeln singen. 1985. Wachsender Mond. 1988. Wir Heimatlosen. 1992. Kunst des Schattenspiels. 1997; alle Ffm.), fand R. die ihr gemäße Form der moralischen Stellungnahme zu polit. u. sozialen Problemen der Zeit. Reiseskizzen, Begegnungen, Reminiszenzen, Lektürefunde, Maximen werden (dem distanzierten Leser bisweilen zu arbiträr, selbstgerecht u. voller Eigenlob) im Sinne eines ganzheitlichen, von fernöstl. Weisheit u. Esoterik inspirierten Denkens, erkenntnisträchtig. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen publizierte R. ihre Aufzeichnungen allerdings nicht, um sich u. ihre Gedanken im kollektiven Gedächtnis zu verewigen. Entscheidend für sie, so heißt es in Winterfrühling, sei allein die Kommunikation mit den gegenwärtig lebenden Mitmenschen; die Tagebuchform sei eine probate Möglichkeit, das Gespräch mit ihnen aufzunehmen. In ihrem 1991 erschienenen Buch Abaelards Liebe (Ffm.) wendet sich R. wieder ihrem ureigenen Thema zu: dem Verzicht auf die Erfüllung der großen Liebe. Sie findet ihren Stoff diesmal in der Liebesgeschichte zwi-

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schen Abaelard u. Heloise, die sie – erzähl- min. Diss. Bern 1984. – Hans-Rüdiger Schwab technisch allzu konstruiert – ihrem gemein- (Hg.): L. R. Materialien zu Leben u. Werk. Ffm. samen Sohn Astrolabius (richtig: Astralabius) 1986. – Henning Falkenstein: L. R. Bln. 1988. – in den Mund legt. In Form eines Berichtes Monika Shafi: Utopische Entwürfe in der Lit. v. Frauen. Bern u. a. 1990. – Gudrun Gill: Die Utopie erzählt dieser die Geschichte seines Leidens Hoffnung bei L. R. Eine sozio-psycholog. Studie. an den selbstsüchtig auf den jeweils anderen New York u. a. 1991. – Thomas Lother: Die fixierten Eltern, dem »vollkommene[n] Schuldproblematik in L. R.s literar. Werk. Ffm. u. a. Paar«. Das Leitthema der Trinität, über das 1991. – Diana Orendi Hinze: The Case of L. R. A Astrolabius mit seinem Vater u. Lehrer dis- Past That Will Not Die. Gender, Patriarchy, and kutiert, greift diese Konstellation, die »andre Fascism in the Third Reich: The Response of WoTrinität«, auf u. führt im Gegenzug die men Writers. Hg. Eliane Martin. Detroit 1993, Möglichkeit einer sich verschenkenden Drei- 143–167. – Ursula Reinhold: Lit. als Lebenshilfe. Zum Literaturverständnis u. Werk v. L. R. In: ZfG 3 erbeziehung vor Augen. Ihr letztes Buch, die (1993), H. 3, S. 545–561. – Stephanie Grollmann: »Legende« Bruder Hund (Mchn. 1999), wirkt Das Bild des ›Anderen‹ in den Tagebüchern u. in seiner weltverbesserischen Naivität gera- Reiseber.en L. R.s. Würzb. 2000. – Selma Polat: L. dezu beklemmend. R. schildert darin die R.s Weg zur myth. Religiosität. Glaube erwachsen Geschichte Jesu aus den Augen eines Hundes, aus Erfahrung. Mit einem Interview. Münster der 2000 Jahre später als Mensch reinkarniert 2001. – Albrecht Classen: Abelard and Heloise’s ist. Damit macht sie sich, in Anlehnung an Love Story from the Perspective oft their Son den Sonnengesang des Franz von Assisi, da- Astrolabe. L. R.’s Novel ›Abelard’s Love‹. In: Rocky für stark, dass alles Lebendige, auch die Tiere, Mountain Review (2003), S. 9–31. – Sigrid Weigel, Jürgen Koepp u. Heike Schupetta: L. R. In: KLG. – in die christl. Heilsgemeinschaft hineinge- Michael Kleeberg: L. R. In: LGL. nommen wird. Darüber hinaus bemüht sie Ulrike Leuschner / Alexander Schüller sich um eine Versöhnung von christlichen u. buddhist. Vorstellungen. Trotz heftiger Angriffe seitens der Litera- Ripelin von Straßburg, Hugo ! Hugo turkritiker gehörte R. zu den beliebtesten u. Ripelin von Straßburg erfolgreichsten Autoren der dt. Nachkriegsgeschichte. Ihre Bücher wurden auch inter- Rismondo, Piero, * 15.2.1905 Triest, national stark beachtet u. bis heute in mehr † 9.2.1989 Wien. – Übersetzer, Essayist, als 25 Sprachen übersetzt. Bes. in den 1980er Dramatiker, Theaterkritiker. Jahren bekam R. einige renommierte Preise Nach vielseitigen Studien in Triest, Graz u. zugesprochen, u. a. 1984 die Johannes-BobWien lebte R. seit den 1920er Jahren in Wien rowski-Medaille der DDR, 1987 den Heinu. arbeitete als Theaterredakteur der »Wiener rich-Mann-Preis der Akademie der Künste Allgemeinen Zeitung« u. des »Echo«. 1938 der DDR u. 1988 den Elisabeth-Langgässer- Emigration nach Jugoslawien, von 1945 bis Preis der Stadt Alzey. 1952 Theaterleiter in Fiume (Rijeka). 1952 Weitere Werke: Der Sündenbock. Ffm. 1955 kehrte er nach Wien zurück u. wurde dort – (R.). – Septembertag. Ffm. 1964 (autobiogr. E.). – als langjähriger Leiter des Kulturressorts der Ich bin Tobias. Ffm. 1966 (R.). – Unterentwickeltes »Presse« u. viel beachteter, vornehm-zuLand Frau. Würzb. 1970 (Ess.). – Wie, wenn wir rückhaltender Theaterkritiker – zu einer beärmer würden oder Die Heimkehr des verlorenen stimmenden Persönlichkeit des kulturellen Sohnes. Starnberg-Percha 1974 (Ess.). – Bruder Feuer. Roman um Franz v. Assisi. Stgt. 1975. – Lebens seiner Wahlheimat. R. schrieb Bühnenstücke, die seine aktive Wenn die Wale kämpfen. Portrait eines Landes: Süd-Korea. Starnberg-Percha 1976 (Ess.). – Den Auseinandersetzung mit der altösterr. Kultur bezeugen (Grillparzer. 1936. Raimund. 1937. Wolf umarmen. Ffm. 1981 (Autobiogr.). Literatur: Anita Sauer: Die schreibende Frau in Der Herr Hofrat. 1947. Michaelerplatz. 1966), ist der Selbstdarstellung. Vergleichende Untersu- aber v. a. durch seine klaren, immer wieder chungen zu ausgew. Prosawerken v. Marieluise neu aufgelegten Übersetzungen wichtiger Fleisser, L. R., Ingeborg Bachmann u. Hilde Do- Texte der ital. Frühen Moderne (Svevo, Pi-

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randello) hervorgetreten. 1928 schon übertrug er Svevos Roman La coscienca di Zeno (u. d. T. Zeno Cosini. Basel. Neufassung Hbg. 1959). Während in den meist zuerst in der »Presse« abgedruckten Essays (Einfälle und Ausfälle. Eisenstadt 1978) kulturelles u. polit. Zeitgeschehen aus humanistisch-konservativer Sicht kritisch betrachtet wird, bietet die Biografie des Schauspielers Leopold Rudolf (Wien 1982) eine kleine Theatergeschichte Wiens im 20. Jh. Für das Wiener Burgtheater übersetzte R. die Bühnenfassungen des Candide von Roberto Guiccardini (1972) u. der Trilogie der Sommerfrische (Goldoni) von Giorgio Strehler (1974). R. erhielt 1979 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik sowie 1986 den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer. Weitere Werke: Dramen: Das unsichtbare Volk. 1947 (zus. mit Alexander Sacher-Masoch). – Dietro la Maschera. 1948. – Essays: ›...Der Zeit am Wort den Puls zu fühlen...‹. Feuilletons, Kritiken u. Artikel. Hg. W. A. Greinert. Wien 1999. – Übersetzungen: Alberto Moravia: Die Verachtung. Mchn. 1963 (R.). – Ders.: Ich u. Er. Mchn. 1971 (R.). – Luigi Pirandello: Mattia Pascal. Ffm. 1967 (R.). – Ders.: Einer, keiner, hunderttausend. Ffm. 1969 (R.). – Giose Rimanelli: Notturno für Trompete. Mchn. 1963 (R.). – Italo Svevo: Ein Mann wird älter. Reinb. 1960 (R.). – Ders.: Ein Leben. Reinb. 1962 (R.). – Ders.: Kurze sentimentale Reise. Reinb. 1967 (E.; zus. mit Karl Hellwig). – Ders.: Vom guten alten Herrn u. vom schönen Mädchen. Ffm. 1967 (R.). – Paolo Volponi: Ich, der Unterzeichnete. Ffm. 1964 (R.). Hans Peter Kunisch / Reinhard Urbach

Risse, Heinz, * 30.3.1898 Düsseldorf, † 17.7.1989 Solingen. – Romancier, Erzähler, Essayist. R., Sohn eines Arztes, meldete sich noch während seiner Düsseldorfer Gymnasialzeit mit 17 Jahren als Freiwilliger an die Westfront u. blieb bis Kriegsende Soldat. Danach studierte er Nationalökonomie u. Philosophie. Er promovierte 1921 bei Alfred Weber. Seit 1922 arbeitete R. als Wirtschaftsprüfer, zunächst im Ausland, ab 1932 in Solingen. Erst mit 50 Jahren begann er nebenbei zu schreiben; er war zeitlebens stolz darauf, nicht ausschließlich Schriftsteller zu sein.

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R.s erstes Buch war der Novellenband Irrfahrer (Hbg. 1948). Kurz darauf erschienen die Romane Wenn die Erde bebt (Mchn. 1950), der Rechenschaftsbericht eines Untersuchungsgefangenen, u. So frei von Schuld (Mchn. 1951), die spannende Geschichte eines Justizirrtums: Ein Unschuldiger begeht nach Strafverbüßung den Mord, der ihm vorgeworfen worden war. In der Folge veröffentlichte R. jedes Jahr ein Buch. Als illusionsloser Moralist beschrieb er Grenzsituationen des Lebens: Krieg u. Gefangenschaft, große u. vermeintlich kleine Verbrechen; er prangerte den privaten wie den gesellschaftl. Materialismus u. die hohle Betriebsamkeit des öffentl. Lebens an. In seinem erfolgreichsten Roman, Dann kam der Tag (Mchn. 1953. Vastorf 2000), in dem ein Generaldirektor an seinem 70. Geburtstag die Bilanz seines Lebens zieht, dann sein Geld verschleudert u. seine Fabrik in Brand steckt, übt R. zgl. versteckte Selbstkritik: »Das Pathos meiner Worte berührte mich unangenehm.« In der fingierten Festrede Dreiunddreißig seinesgleichen erst ein Fragezeichen? oder Die Bandwurmweisheit (Gifkendorf 1985) machte er sich lustig über Literaturkritik u. Literaturbetrieb, dem er sich ferngehalten hatte; die Rede ist in jener aufbauschenden »Jubelsprache« verfasst – einem »Phänomen der Leistungsgesellschaft« –, die er in seinem Essay über Das Zeitalter der Jubelsprache (Hbg. 1959) ironisiert hatte. Weitere Werke: Feiner Unsinn auf Staatskosten. Hbg. 1963 (Ess.). – Macht u. Schicksal einer Leiche. Krefeld 1967 (E.). – Berkeley u. der Demiurg. Bielef. 1983 (Ess.). – Der Diebstahl u. a. Nachrichten aus der Soziologie des Sports, der Moral u. der Sprache. Gifkendorf 1984 (Ess.). – Ringelreihen. Gifkendorf 1984 (R.). – Familienfürsorge. Gifkendorf 1985 (E.). – Fiscalia Curiosa. Gifkendorf 1986. – Es hätte anders ausgehen sollen. Gifkendorf 1988 (E.). – Fort geht’s wie auf Samt. Gifkendorf 1995 (E.). – Die Stadt ohne Wurzeln. Ausgew. v. Stephanie Risse. Mchn. 1995 (E.en). Literatur: Harry Pross: Über das Melancholische in der Kunst. Der Wirtschafts- als Sprachprüfer. In: Die Zeit, 14.11.1986. Arnd Rühle / Red.

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Rist, Johann, * 8.3.1607 Ottensen, † 31.8. 1667 Wedel bei Hamburg. – Pfarrer, Arzt; Lyriker u. Dramatiker. Der Pfarrerssohn wurde zunächst im elterl. Hause unterrichtet, besuchte von 1619 an die Gelehrtenschule in Hamburg u. seit 1626 das Akademische Gymnasium in Bremen. 1626 bis 1628 studierte er in Rostock Theologie, Naturwissenschaften, Pharmazie u. Medizin (bei Jakob Fabricius u. Angelus Sala) sowie 1629 u. 1630 in Rinteln (u. a. bei Josua Stegmann). Wo er sich in der folgenden Zeit bis zur Übernahme einer Hauslehrerstelle in Heide 1633 aufgehalten hat, lässt sich nicht nachweisen. Johann Hudemann erwähnt in seiner Leichenpredigt auf R. als weitere Stationen Leiden u. Utrecht. Dass R. sich schon früh als Stückeschreiber versuchte, zeigen zwei 1630 bzw. 1634 aufgeführte u. publizierte Dramen. 1635 wurde R. als Pastor nach Wedel berufen. Er heiratete im selben Jahr Elisabeth Stapel († 1662, zweite Ehe mit Anna Badenhaupt, † 1680) u. blieb bis zu seinem Tod in Wedel, v. a. wegen der Nähe des Städtchens zur Freien Reichsstadt Hamburg, die neben guten Predigern, der Stadtbibliothek u. Theateraufführungen auch die Gelegenheit bot, mit zahlreichen »Residenten zu sprechen«, »die Börse zu besuchen, um von Kaufleuten aus aller Welt Neuigkeiten zu erfahren«, u. in Wirtshäusern einzukehren, wo man »alle Stände treffe und mancher mehr Klugheit kann schöpfen / als wen er fünftzig Blätter in des Aristoteles Politika mit höchstem Fleisse hette durchstudiret«. Die Vorzüge der empir. Maximen verpflichteten frühneuzeitl. Naturkunde hatte R. schon in Rostock kennengelernt u. blieb ihr verpflichtet. Das Wedeler Pfarrhaus glich einem Labor, in dem Arzneien hergestellt wurden, u. beherbergte Sammlungen unterschiedl. Art. In der Tradition der »theologia medicinalis« stehend, züchtete R. Heilkräuter, ließ seinen Gemeindegliedern medikamentöse Hilfe zukommen u. fungierte somit als Arzt der Seele u. des Leibes zugleich. Seine wiss. Bemühungen zogen, wie R. stolz berichtete, viele Gelehrte an, die mit ihm diskutierten oder von ihm Rat erbaten.

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Besonderes Ansehen genoss freilich der Dichter R., der sich als Opitz’ Statthalter im Norden verstand u. dessen Reformbestrebungen er bekannt machte. Auf Empfehlung Harsdörffers wurde R. 1647 als »Der Rüstige« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Zwei Jahre vorher hatten ihn die Nürnberger für ihren Pegnesischen Blumenorden gewonnen. 1646 erfolgte die Dichterkrönung, u. ein Jahr darauf erhielt er das persönl. Adelsprädikat. Schließlich erhob ihn der Kaiser 1653 zum Comes Palatinus bzw. Pfalzgrafen. 1658 gründete R. den Elbschwanenorden, durch den er nach eigenen Angaben den Fruchtbringenden bedeutende Geister zuführen wollte; dass er damit auch mit anderen Dichterorden in Konkurrenz treten wollte, ist jedoch ziemlich sicher. Seine Gesellschaft wuchs rasch an, vereinigte Mitglieder sehr unterschiedl. Qualitäten u. zerfiel bald nach seinem Tod. Den Schwerpunkt seines Schaffens bilden geistl. Lieder, von denen viele schon früh in Gesangbücher aufgenommen wurden. In seiner geistl. Dichtung verarbeitet R. kongenial vielfältige Impulse der Frömmigkeit u. Meditationskultur des barocken Luthertums, u. a. das Paradiesgärtlein Johann Arndts (1612), die Meditationes Sacrae Johann Gerhards (1606) u. das Studii pietatis icon (1630) seines Rintelner Lehrers Josua Stegmann (Mager). Unter geistl. Poiesis versteht R. einen Prozess, in dem der Dichter den bibl. Sprachduktus u. somit die Sprache Gottes schöpferisch nachahmt, dadurch in kreativer Weise dem Schöpfer ähnlich wird, worin sich die Restitution der mit dem Sündenfall verloren gegangenen Gottesebenbildlichkeit (»imago Dei«) vollzieht: Durch die »fides poetica«, in der der eschatolog. Lobgesang der in das himml. Jerusalem Entrückten proleptisch hörbar wird, u. durch die geistlich-poet. Kreativität schafft sich Gott eine neue Kreatur. R. kooperierte mit mehreren Komponisten (u. a. dem Hamburger Ratsmusikdirektor Johann Schop u. dem Kantor des Hamburger Johanneum Thomas Selle), die eine große Anzahl seiner Gedichte vertonten, war indes auch selbst kompositorisch tätig. Damit war R. wesentlich an der Herausbildung einer Hamburger Liedschule beteiligt, aus der

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weitere Liederkomponisten hervorgingen. R. hat mehr als 650 geistl. Lieder geschaffen, die in zehn Sammlungen publiziert wurden. Schon die erste, Himlische Lieder (Lüneb. 1641/ 42. Nachdr. Hildesh. 2007), erfuhr zahlreiche Neuauflagen; auch die weiteren fanden große Verbreitung (z.B. Neue Himlische Lieder. Lüneb. 1651. Nachdr. Hildesh. 2007. Alltägliche Haußmusik. Lüneb. 1654. Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten. Hbg. 1664). Wie stark R. sein dichterisches Schaffen als ein solches begriff, das eingebettet ist in das Netzwerk der »societas literaria«, erhellt aus dem Umstand, dass er zahlreiche Dichter u. Gelehrte dazu zu animieren verstand, zu seinen Publikationen Widmungsgedichte beizusteuern, unter ihnen bedeutende Zeitgenossen wie Andreas Tscherning, Philipp von Zesen u. Justus Georg Schottelius. Begonnen hat R. freilich mit weltl. Poesie. Gleichzeitig mit seinem zweiten Drama veröffentlichte er die Gedichtsammlung Musa Teutonica (Hbg. 1634), die unterschiedl. Lyrikgattungen vereinigt. Mit der Behauptung, dass Opitz bereits Petrarca u. Ariost erreicht habe, weist R. in der Vorrede den häufig geäußerten Verdacht zurück, dass die dt. Sprache zu kunstvoller Poesie nicht tauge. Titel u. Andeutungen lassen sodann keinen Zweifel daran, dass er auch seine Gedichte als gelungene Exemplare dt. Kunstpoesie verstand. Dass die Sammlung, ein Jahr vor seiner Anstellung, einflussreichen Holsteinern gewidmet ist, macht die Funktion deutlich, die Publikationen für die soziale Sicherung der bürgerl. Intelligenz besaßen. Ähnliches gilt für Lobgedichte, die seine folgenden Sammlungen (z.B. Poetischer Lust-Garte. Hbg. 1638) in großer Zahl enthalten oder die als Einzeldrucke erschienen. Eindeutig sind auch die Motive dafür, dass er bereits 1638 den Gründer der Fruchtbringenden Gesellschaft preist, die in weiteren Vorreden oder Texten stets lobend erwähnt wird. Aus Rücksicht auf das – damals erstrebte – geistl. Amt entschuldigte sich schon der Vorredner der Musa-Sammlung für die »Amatoria«. Dennoch zollte er der Schäferlyrik in Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (Hbg. 1642) u. Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella (Hbg. 1651) Tribut,

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brachte sie aber pseudonym heraus. Erotische Freizügigkeit hat R. seinen Liebenden verwehrt, sie dafür jedoch mit Eigenschaften ausgestattet, die bürgerl. Eheidealen entsprachen. In das berühmte Venus-Gärtlein wurden 18 Daphnis-Lieder übernommen. Dramengeschichtlich interessant sind R.s Schauspiele: In seiner Perseus-Tragödie (Hbg. 1634) folgte er nicht den aus der klass. Tragödie hergeleiteten Normen, sondern orientierte sich am Drama der Wanderbühne. Statt des hohen Stils erscheint durchweg eine der Realität angeglichene Prosa, u. Komödienelemente finden sich außer in den Zwischenspielen auch in der Hauptaktion. An das allegor. Drama Irenaromachia (zus. mit Ernst Stapel. Hbg. 1630) knüpfen die Friedensspiele Das FriedeWünschende Teütschland (o. O. 1647) u. Das Friedejauchtzende Teutschland (Nürnb. 1653) an. Der Krieg, dessen Schrecken R. erstmals beim Schwedeneinfall 1643/ 44 erlebte, wird, ganz im Sinne der zeitgenöss. luth. Bußpredigt, als göttl. Strafe sowie als Bußruf verstanden. So erhalten die Spiele den Charakter von Bußpredigten, in denen die (auch sozialkritisch motivierte) Klage über die Lasterhaftigkeit breiten Raum einnimmt. Darüber hinaus nutzte R. die Stücke zur polit. Belehrung, wobei die Ratio Status mit dem verwerfl. Machiavellismus gleichgesetzt wird. Die Zwischenspiele, z.T. in Niederdeutsch, dienen als Beleg für die Verkehrtheit der Welt u. verspotten den Konkurrenten Zesen. Im Anschluss an Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele plante R. zwölf Monatsgespräche, von denen er sechs noch fertigstellen konnte (die weiteren sechs schrieb Erasmus Francisci). Sie alle folgen einem festen Schema; danach besuchen jeweils drei Elbschwanen-Mitglieder ihr Oberhaupt in Wedel, bewundern dessen Garten u. Haushalt u. tragen sodann in Diskussionen über ein festgelegtes Thema ihre Kenntnisse u. Argumente vor. So geht es z.B. in der »Jänners-Unterredung« darum, ob Wein, Milch, Wasser oder Tinte als Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt (Hbg. 1663) gelten müsse. R.s Beitrag bildet jeweils den Schluss der Gespräche, u. seiner Lobrede stimmen dann alle begeistert bei. Diese erstaunl. Selbstinszenierung hängt sicher mit

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der wiss. Neugier des Verfassers zusammen, durch die er Kenntnisse in vielen Wissensgebieten erlangen konnte, markiert aber auch das Bestreben, zur Verbreitung einer facettenreichen Wissenskultur in ebenso lehrhafter wie unterhaltsamer Weise beizutragen. R. wurde zu den führenden Poeten des Barock gezählt. Grimmelshausen kannte seine Texte u. würdigte ihn als »treudeutschen Rist«. Die ältere germanistische Forschung hat R. zu Unrecht als Vielschreiber missbilligt u. sich häufig nur für den Kirchenlieddichter interessiert, ohne R.s Œuvre allerdings angemessen innerhalb der histor. Koordinaten zu interpretieren. Die neuere Forschung strebt eine historisch präzisere Beurteilung an u. schenkt R. sowohl in musik-, theologieu. frömmigkeitsgeschichtl. Hinsicht (Küster, Krummacher, Mager, Steiger) als auch im Hinblick auf sein Wirken als Dramatiker u. kulturpolit. Stratege im norddt. Raume (Garber, Dammann, Mannack) das nötige Augenmerk. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Eberhard Mannack. Bd. 1 ff., Bln./New York 1967 ff. – Der Briefw. zwischen Sigmund v. Birken u. Georg Philipp Harsdörffer, J. R., Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm v. Stubenberg u. Gottlieb v. Windischgrätz. Hg. Hartmut Laufhütte u. Ralf Schuster. Tüb. 2007. – Teilausgabe: Dichtungen v. J. R. Hg. Karl Goedeke u. Edmund Goetze. Lpz. 1886. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 5, S. 3374–3432. – Pyritz 2. – VD 17. – Weitere Titel: Theodor Hansen: J. R. u. seine Zeit. Halle 1872. Neudr. Lpz. 1972. – Karl Theodor Gaedertz: J. R. [...]. In: Nd. Jb. 7 (1881), S. 101–172. – Wilhelm Krabbe: J. R. u. das dt. Lied. Diss. Bln. 1910. – L. Neubauer: Zur Gesch. des Elbschwanenordens. In: Altpreuß. Monatsschr. 47 (1910), S. 113–183. – Anna Maria Floerke: J. R. [...]. Diss. Rostock 1918. – Oskar Kern: J. R. als weltl. Lyriker. Marburg 1919. Neudr. New York 1968. – Alfred Jericke: J. R.s ›Monatsgespräche‹. Bln./Lpz. 1928. – Otto Heins: J. R. u. das niederdt. Drama des 17. Jh. Marburg 1930. – Rudolf Alexander Schröder: J. R. In: Ges. Werke 3. Ffm. 1952, S. 651–685. – R. Hinton Thomas: Poetry and Song [...]. Oxford 1963. – Rudolf Mews: J. R.s Gesellschaftslyrik [...]. Diss. Hbg. 1969. – Eberhard Mannack: J. R.s ›Perseus‹ [...]. In: Daphnis 1 (1972), S. 141–149. – Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltl. Barocklyrik [...]. Neumünster 1972. – Leif Ludwig Albertsen: Stroph. Gedichte [...]. In: DVjs 50 (1976), S. 84–102. – E. Mannack:

670 Hamburg u. der Elbschwanenorden. In: Sprachgesellsch.en, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. Martin Bircher. Hbg. 1978, S. 163–179. – Richard E. Schade: Baroque Biography: J. R.’s Self-Concept. In: GQ 51 (1978), S. 338–345. – Uwe Haensel: Musikal. Formprobleme der Hamburger Liedschule. In: Daphnis 8 (1979), S. 209–228. – Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral [...]. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. SaintEtienne 1980, S. 269–297. – Dieter Lohmeier u. Klaus Reichelt: J. R. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 347–364. – Conermann FG, Bd. 3, S. 567–572. – E. Mannack: J. R. [...]. Mchn. 1988. – Günter Dammann: J. R. als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. In: Literaten in der Provinz – provinzielle Lit.? Hg. Alexander Ritter. Heide 1991, S. 47–66. – Inge Mager: J. R.s ›Himmlische Lieder‹. In: Orthodoxie u. Poesie. Hg. Udo Sträter. Lpz. 2004, S. 63–83. – Johann Anselm Steiger: J. R. In: RGG 7 (42004), Sp. 528. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1709–1719. – Jens Kirchhoff u. Michael Kohlhaas: J. R. Dichter, Pastor u. Beobachter seiner Zeit. In: Ztschr. für niederdt. Familienkunde 82 (2007), S. 3–16. – K. Garber: Literar. u. kulturpolit. Statthalter im Norden Dtschld.s. Ein Portrait J. R.s. In: ›Ewigkeit, Zeit ohne Zeit‹. Gedenkschr. zum 400. Geburtstag des Dichters u. Theologen J. R. Hg. J. A. Steiger. Neuendettelsau 2007, S. 9–36. – HansHenrik Krummacher: Lehr- u. trostreiche Lieder. J. R.s geistl. Dichtung u. die Predigt- u. Erbauungslit. des 16. u. 17. Jh. Ebd., S. 37–76. – Konrad Küster: ›O du güldene Musik!‹. Wege zu J. R. Ebd., S. 77–179. – Johann Hudemann: Ars bene moriendi (Leichenpredigt auf J. R., 1667). Ebd., S. 215–271. – J. A. Steiger: ›O Ewigkeit, du Donnerwort‹. Zum 400. Geburtstag des Pastors, Dichters u. Arztes J. R. In: Dt. Pfarrerblatt 107 (2007), S. 128–133. – K. Küster: ›... alle Claves durchgangen‹. Vollchromatik bei J. R. u. Christian Flor (1662). In: Die Musikforsch. 60 (2007), S. 333–348. Eberhard Mannack / Johann Anselm Steiger

Ritschl, Albrecht (Benjamin), * 25.3.1822 Berlin, † 20.3.1889 Göttingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Theologe. Als Sohn des Generalsuperintendenten (Bischofs) von Pommern im Geist der preuß. Union erzogen, besuchte R. in Stettin die Schule, begann sein Theologie-Studium 1839 in Bonn, setzte es 1841–1843 in Halle fort u. beendete es dort mit dem philosoph. Doktorexamen, zu dem er die Dissertation Expositio doctrinae Augustini de creatione mundi, pec-

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cato, gratia (Halle 1843) eingereicht hatte. 1844 legte er in Stettin das kirchl. Examen pro licentia concionandi ab. Um die Universitätslaufbahn einzuschlagen, bezog er 1845 nach einem kürzeren Aufenthalt in Heidelberg bei Richard Rothe die Universität Tübingen, wo ihn Baur u. seine Schule anzogen. R. beteiligte sich an deren Erforschung des NT u. der Alten Kirche mit Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas (Tüb. 1846), womit er gleichzeitig in Bonn den theolog. Lizentiaten u. damit das Recht erwarb, dort Vorlesungen zu halten. Zunächst widmete sich R. fast ausschließlich der Auslegung des NT u. der Kirchengeschichte. Die Monografie Die Entstehung der altkatholischen Kirche (Bonn 1850) festigte seinen wiss. Ruf, wirkte sich aber erst in der völlig umgeschriebenen zweiten Auflage (1857), die mit der Tübinger Schule brach, förderlich für seine Laufbahn aus. 1852 wurde R. zum a. o. Prof. ernannt; aber erst die Berufung zum Ordinarius 1859 erlaubte ihm, einen eigenen Hausstand zu gründen. 1846 nahm R. einen Ruf an die Universität Göttingen an, wo er, wie schon in den letzten Bonner Jahren, zunehmend auch die systemat. Theologie (Dogmatik, Ethik) in Vorlesungen behandelte. Sein dreibändiges Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (Bonn 1870–74) verband in eigenwilliger Weise Dogmengeschichte, Exegese u. Dogmatik, um die beiden Grundgedanken des Christentums: »Reich Gottes« u. »Rechtfertigung«, herauszuarbeiten. Trotz des trockenen u. fast abweisenden Stils zog das mehrfach neu aufgelegte Werk viele Leser an, sodass der Lehrerfolg wuchs u. sich eine regelrechte Schule bildete, zu der auch jüngere Theologen im akadem. Lehramt hinzutraten (z.B. Wilhelm Herrmann, Adolf Harnack). Obwohl R. selbst eine recht konservative Haltung einnahm, bot doch der Ansatz seiner Theologie die Möglichkeit, die historisch-krit. Erforschung der christl. Urgeschichte mit einer neuen Sicht der Reformation zu verknüpfen u. sie für die kirchl. Praxis fruchtbar zu machen. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen führte R. die von der Aufklärung über Schleiermacher ererbte Synthese von Christentum u.

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Kultur weiter, sodass spätere Kritiker in ihm den Urheber des Kulturprotestantismus sahen. Eine Zusammenfassung seines biblizist. Systems gibt R. schließlich in dem urspr. für das Gymnasium konzipierten Unterricht in der christlichen Religion (Bonn 1875. 51895). In seiner Geschichte des Pietismus (3 Bde., Bonn 1880–86. Neudr. Bln. 1966) setzte sich R. mit dieser Bewegung innerhalb des Protestantismus auseinander, die nach seiner Meinung nichtreformator. Ursprungs ist. Trotz der – z.T. aus kirchenpolit. Gegensätzen erklärlichen – Blindheit für das Heimatrecht der Mystik in der evang. Kirche ist R.s Darstellung an Umfang u. Qualität bisher nicht übertroffen worden. Die Bewunderung für R. u. seine Schüler verkehrte sich unter dem Eindruck der Kulturkritik nach 1918 u. durch die Polemik der sog. Dialektischen Theologie (Karl Barth, Rudolf Bultmann) in Verachtung. R.s Schriften gerieten in Vergessenheit; seine Grundgedanken wirken jedoch bis heute weiter. Weitere Werke: Schleiermachers Reden über die Religion u. ihre Nachwirkungen auf die evang. Kirche Dtschld.s. Bonn 1874. – Über das Gewissen. Bonn 1876. – Theologie u. Metaphysik. Bonn 1881. 2 1887. Ausgaben: Ges. Aufsätze. Freib. i. Br./Lpz. 1893. N. F. 1896. – Kleine Schr.en. Hg. Frank Hofmann. Waltrop 1999 (mit Bibliogr.). – Vorlesung ›Theologische Ethik‹. Auf Grund des eigenhändigen Ms. hg. v. Rolf Schäfer. Bln. 2007. Literatur: Otto Ritschl: A. R.s Leben. 2 Bde., Freib. i. Br./Lpz. 1892–96. – Adolf v. Harnack: R. u. seine Schule. In: Ders.: Reden u. Aufsätze. Bd. 2, Gießen 1906, S. 345–368. – Karl Barth: Die protestant. Theologie im 19. Jh. Zollikon/Zürich 2 1952, S. 598–605. – Emanuel Hirsch: Gesch. der neuern evang. Theologie. Bd. 5, Gütersloh 1954, S. 557–559. – Rolf Schäfer: R. Tüb. 1968. – James Richmond: A. R. Gött. 1982. – Stephan WeyerMenkhoff: Aufklärung u. Offenbarung. Gött. 1988. – Joachim Ringleben (Hg.): Gottes Reich u. menschl. Freiheit. Gött. 1990. – Pierre Gisel (Hg.): A. R. Genf 1991. – Helga Kuhlmann: Die theolog. Ethik A. R.s. Mchn. 1992. – Frank Hofmann: A. R.s Lutherrezeption. Gütersloh 1998. – Folkart Wittekind: Geschichtl. Offenbarung u. die Wahrheit des Glaubens. Tüb. 2000. – Christine Axt-Piscalar: Das gemeinschaftl. höchste Gut. Der Gedanke des Reiches Gottes bei Immanuel Kant u. A. R. In: Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie

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u. die Theologie. Hg. Werner Thiede. Gött. 2004, S. 231–256. – Eilert Herms: A.R. In: RGG. – Arnulf v. Scheliha: Gebot u. Gewissen: systematischtheolog. Erwägungen im Anschluss an A. R., Karl Holl u. Emanuel Hirsch. In: Was tun? Luth. Ethik heute. Hg. Tim Unger. Hann. 2006, S. 103–129. – Friedrich Wilhelm Graf: R. In: NDB. Rolf Schäfer / Red.

Ritter Alexander, vermutlich zweite Hälfte des 15. Jh. – Spätmittelalterliche Versnovelle. Die vielleicht in Nürnberg entstandene Kurzerzählung von 259 Vv. Umfang ist anonym als Anhang zu Philipp Frankfurters Pfaffen vom Kahlenberg (1490) sowie als Nürnberger Einzeldruck von 1505 überliefert. Alexander, ein frz. Ritter, ist mit einer wunderschönen Frau verheiratet. Eines Tages hört er von einer noch schöneren Dame im fernen London u. reist mit einem Knecht dorthin. Die Frau verliebt sich sogleich in ihn u. gibt sich ihm zuhause in Abwesenheit ihres Mannes hin. Eine alte Dienerin verrät dem zurückgekehrten Ehemann alles, er beobachtet das schlafende Liebespaar, beherrscht seinen aufflammenden Zorn u. lässt beide in einem Turm gefangen setzen, anstatt sie mit dem Schwert zu erschlagen. Alexanders Frau erfährt durch den Knecht von dem Unglück u. eilt nach London. Nachdem sie die Kerkerwachen bestochen hat, tauscht sie mit ihrem Mann die Kleider u. wartet an seiner Stelle auf die Gerichtsverhandlung. Vor dem Gericht offenbart sie sich in einer Verteidigungsrede als Frau, die im eigenen Land als die Schönste gelte, von der größeren Schönheit der anderen gehört habe u. darauf neugierig geworden sei. Um sicherer reisen zu können, habe sie sich in Männerkleidern nach London begeben. Die schöne Dame sei bei ihrem Anblick in ihrem Hause zunächst sehr erschrocken, weil sie sie für einen Mann habe halten müssen. Doch als sie ihr ihre Brust gezeigt habe, sei die Angst verflogen u. beide Damen hätten lange miteinander gesprochen, bis sie schließlich eingeschlafen seien. Diese Geschichte beglaubigt die Französin durch die Präsentation ihres Busens vor den Richtern. Der – nun mehrfach – betrogene Ehemann entschuldigt sich bei der »ritterin«

(V. 211) u. lädt sie zu sich ein, wo sie der »bürgerin« weise die größere Schönheit zuspricht (V. 232). Nach einem Fest kleidet sie sich wieder in ihres Mannes Gewänder, reitet davon u. findet ihren Gatten unterwegs. Nachdem er alles erfahren hat, küsst er sie vielmals u. gelobt, niemals wieder gegen Treue u. Ehre zu handeln. Zus. kehren sie heim. Der Erzähler schließt mit einer kurzen Ermahnung der Frauen, die von dieser Erzählung lernen sollten, nicht so »heftig« (V. 259) u. nachtragend zu sein. Das sorgfältig komponierte Märe überrascht durch die Kombination der genre-typischen Ehebruchsgeschichte mit dem Motiv der Frauentreue: Indem die betrogene Gattin ihren Mann u. seine Geliebte selbstlos rettet, verstößt sie gegen »gender«-Klischees u. Rezeptionserwartungen gleichermaßen. Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 330–337. – Ders.: Schwankerzählungen des dt. MAs. Mchn. 1967, S. 207–212 (Übers.). – Jürgen Schulz-Grobert (Hg.): Kleinere mhd. Verserzählungen. Mhd./nhd. Stgt. 2006, S. 202–217. Literatur: Fischer 1966 (s. o.), S. 547. – Fischer 1967 (s. o.), S. 321. – Frieder Schanze: R. A. In: VL. – Ute v. Bloh: Die Sexualität, das Recht u. der Körper. Kontrollierte Anarchie in vier mittelalterl. Mären. In: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten u. Bildern des MAs u der Frühen Neuzeit. Hg. Ulrike Gaebel u. Erika Kartschoke. Trier 2001, S. 75–88. – Schulz-Grobert 2006 (s. o.), S. 290–292. Corinna Laude

Ritter Beringer ! Beringer Der Ritter vom Turn ! Marquard vom Stein Ritter von Staufenberg ! Peter Diemringer von Staufenberg Ritter, Carl, auch: Elias R., * 6.8.1779 Quedlinburg, † 28.9.1859 Berlin; Grabstätte: ebd., Marien- u. Nikolaifriedhof. – Geograf. Der Sohn eines kurfürstl. Leibarztes wurde von 1784 an von Johann Guts Muths am Salzmann’schen Internat Schnepfenthal unterwiesen. Das Kameralistikstudium in Halle

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finanzierte von 1796 an der Frankfurter Einsicht gibt. Wie Humboldt versuchte er, Bankier Johann Jakob Bethmann-Hollweg, Urformen u. -typen zu beschreiben, von dedessen Söhne R. 1798–1813 unterrichtete. In nen sich alle Erscheinungen ableiten ließen. dieser Zeit entstand Europa, ein geographisch- Im Anschluss an Pestalozzi sah R. das Ziel der historisch-statistisches Gemählde (2 Bde., Ffm. Geografie in der Bildung des Menschen zur 1804–07), in dem R. die damals noch vor- richtigen Anschauung des Weltganzen. Diese herrschende statistisch katalogisierende Me- war für ihn Ausdruck einer göttl. Weltordthode zugunsten eines beschreibenden Stils nung, als deren Teil sich der Mensch anhand zurückdrängte. Auf mehreren Reisen begeg- geografischer Erkenntnisse bewusst werde. nete er wiederholt Pestalozzi, der sowohl R.s Literatur: Hanno Beck: C. R. Genius der Geospätere, auf Anschauung beruhende Lehr- graphie. Bln. 1979. – Manfred Büttner: C. R. Zur methode als auch sein Wissenschaftsver- europ.-amerikan. Geographie an der Wende vom ständnis entscheidend beeinflusste. Von 1813 18. zum 19. Jh. Paderb. 1980. – C. R. Geltung u. bis 1819 forschte R. als Begleiter seiner Zög- Deutung. Bln. 1981. – Max Linke: C. R. In: Geolinge an der Universität Göttingen, vertiefte graphers. Biobliographical Studies. Bd. 5, London 1981, S. 99–108 (ohne Primärbibliogr.). – Andreas seine geograf. Studien u. schrieb die wichtige Schach: C. R. Münster 1996. – Ernst Martin: Das Einleitung u. die ersten beiden Bände seiner Verhältnis C. R.s zu Pestalozzi u. sein Einfluss auf Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Ge- die Geographie als Wiss. u. als Schulfach. Zürich schichte des Menschen [...] (Bln. 1817/18). Mit 2003. Dieter Löffler / Red. dieser in der Wissenschaftsgeschichte einmaligen Einzelleistung, zwischen 1822 u. 1859 auf 19 Teile u. fast 20.000 Seiten erweitert, Ritter, Gerhard, * 6.4.1888 Bad Soodenversuchte R., ein Weltkompendium zu lieAllendorf, † 1.7.1967 Freiburg/Br. – Hisfern. Aufgrund des zur Entstehungszeit der toriker. ersten Bände noch nicht absehbar rasch anwachsenden Wissens musste R.s Erdkunde Der evang. Pfarrerssohn (seine Brüder waren Torso bleiben. der Orientalist Hellmut u. der Theologe Karl 1820 wurde R. a. o. Prof. für Geschichte u. Reinhard Ritter) wurde nach der Promotion Geografie in Berlin u. übernahm die damit bei Hermann Oncken in Heidelberg (1911), verbundene Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Gymnasialdienst in Magdeburg, freiwilliger Kriegsschule, dem Ausbildungsinstitut des Kriegsteilnahme u. Habilitation 1921 in preuß. Generalstabs. Seit 1822 Mitgl. der Heidelberg 1924 Professor in Hamburg u. Preußischen u. mehrerer internat. Akademi- 1925 in Freiburg/Br., wo er bis zu seiner en der Wissenschaften, wurde R. 1825 einzi- Emeritierung als angesehener Lehrer wirkte. ger Ordinarius für Geografie in Deutschland, R.s wiss. Werk wurzelt in seiner luth. dessen Vorlesungen vor bis zu 400 Hörern ein Überzeugung, die über die Bekenntnisschrift gesellschaftl. Ereignis für die preuß. Elite u. Luther. Gestalt und Symbol (Mchn. 1925. Erw. Anziehungspunkt für internat. Gelehrte dar- u. d. T. Luther. Gestalt und Tat. 51949) hinaus stellten. 1828 gründete er die Gesellschaft für auch seine preußisch-konservative u. nat. Erdkunde zu Berlin, deren Vorsitz er viele Grundeinstellung formte. Die Ziele der Jahre innehatte. Französischen Revolution lehnte er als »egaNeben Alexander von Humboldt, mit dem litären Demokratismus« entschieden ab. Als er befreundet war, ist R. der Begründer der glänzender Erzähler griff R. große Themen modernen Geografie. Sie ersetzte als pro- der preuß. u. dt. Geschichte auf (Friedrich der blemorientierte, in physikal. (Natur) u. his- Große. Ein historisches Profil. Lpz. 1936. Heitor. (Kultur) Wissenschaft aufgeteilte Lan- delb. 31954. Engl. London 1968. Ital. Bologna deskunde die statist. Staatsgeografie (Einlei- 1970. Stein. Eine politische Biographie. 2 Bde., tung zur allgemeinen und vergleichenden Geogra- Stgt. 1931. Rev. 31958. Die Neugestaltung Euphie [...]. Bln. 1852). R. verstand Geografie als ropas im 16. Jahrhundert. Bln. 1950). Seine beschreibende Wissenschaft, die Anschauung Auseinandersetzung mit dem Problem des vermittelt, im Gegensatz zur rationalen, die Militarismus in Deutschland in Staatskunst

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und Kriegshandwerk (4 Bde., Mchn. 1954–68) S. 97–120. – Ders.: Ein wiss. ›Erfolgsautor‹ u. seine zeigt mit der weitgehenden Ausblendung des Verlage. G. R. 1923–67. In: Geschichtswiss. u. gesellschaftl. Bedingungsgefüges die Gren- Buchhandel in der Krisenspirale? Hg. Olaf Blaschke zen seiner histor. Methode. R., Ende 1944 u. a. Mchn. 2006, S. 51–70. Michael Behnen / Red. von der Gestapo verhaftet u. in ein Konzentrationslager gebracht, genoss in Fachwelt u. Ritter, Johann Wilhelm, * 16.12.1776 SaÖffentlichkeit großes Ansehen, nicht zuletzt mitz/Schlesien, † 23.1.1810 München. – aufgrund seiner tatkräftigen Bemühung um Chemiker, Physiker, Naturphilosoph. eine – begrenzt selbstkritische – Revision des dt. Geschichtsbildes nach 1945. 1949 wurde Der Pfarrerssohn immatrikulierte sich nach er Vorsitzender des dt. Historikerverbands, einer (1795 in Liegnitz abgeschlossenen) 1957 Mitgl. der Friedensklasse des Ordens Apothekerlehre 1796 in Jena, wo er sich in erster Linie naturwiss. Studien widmete. BePour le mérite. Weitere Werke: Studien zur Spätscholastik. 3 sondere Faszination übte der Galvanismus Bde., Heidelb. 1921–27. – Die Heidelberger Univ. auf ihn aus, die sog. tierische Elektrizität. Bd. 1: Das MA. Heidelb. 1936. 21986. – Machtstaat Binnen Kurzem eignete sich der Autodidakt u. Utopie. Mchn. 1940. U. d. T. Die Dämonie der R. derart gründliche Kenntnisse an, dass Macht. 61948. – Die Weltwirkung der Reformation. Alexander von Humboldt ihn 1797 als krit. Lpz. 1941. Mchn. 31969. – Europa u. die dt. Frage. Leser u. Kommentator seiner Versuche über die Mchn. 1948. Rev. u. d. T. Das dt. Problem. 1962. – gereizte Muskel- und Nervenfaser [...] auswählte. Carl Goerdeler u. die dt. Widerstandsbewegung. Ein viel beachteter, vor der Naturforschenden Stgt. 1954. – G. R. Ein polit. Historiker in seinen Gesellschaft zu Jena gehaltener Vortrag Briefen. Hg. Klaus Schwabe u. a. Boppard 1984 (mit führte zu R.s erstem Buch: Beweis, daß ein beBibliogr.). ständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Literatur: Eberhard Jäckel: G. R. Historiker in Thierreiche begleite (Weimar 1798); der experiseiner Zeit. In: Gesch. in Wiss. u. Unterricht 18 (1967), S. 705 ff. – Hans-Günther Zmarzlik: Le- mentell konkretisierte Leitgedanke lautet, bendige Vergangenheit. In: HZ 207 (1968), Elektrizität sei das Grundphänomen des LeS. 55–74. – Andreas Dorpalen: G. R. In: Dt. Histo- bens. In den folgenden Arbeiten dehnte R. riker. Bd. 1, Gött. 1971, S. 86–99. – Michael Mat- den Geltungsbereich des Galvanismus von thiesen: G. R. Studien zu Leben u. Werk bis 1933. 2 den organischen Produkten auf die anorgan. Bde., Egelsbach u. a. 1993. – Politik, Gesch., Recht Natur aus. Die Elektrizität wird als die u. Sicherheit. FS für G. R. Würzb. 1995. – Tobias Grundlage nicht nur der Oxydations-, sonKorenke: Historiker u. der NS. Anmerkungen aus dern aller chem. Prozesse demonstriert. InAnlaß eines Briefw.s zwischen G. R. u. Wilhelm dem R. die Kontakttheorie der Elektrizität Mommsen. In: Polit. Deutungskulturen. Hg. Othvon Volta u. die biologische von Galvani in mar Nikola Haberl u. a. Baden-Baden 1999, eine chemische umdeutete, wurde er zu eiS. 212–227. – Christoph Cornelißen: G. R. Geschichtswiss. u. Politik im 20. Jh. Düsseld. 2000. – nem der Begründer der Elektrochemie. R.s Immanuel Geiss: Alt-neues Licht auf G. R. In: wiss. Methode war zunächst induktiv, sie ließ Histor. Mitt.en 16 (2003), S. 230–251. – Helmut sich aber mehr u. mehr auf spekulative ExBöhme: G. R: Historiker u. ›Nationalpädagoge‹. In: trapolationen ein. Deutlich ist dabei der Neue polit. Lit. 48 (2003), H. 2, S. 185–192. – C. Einfluss Schellings, wie umgekehrt auch R.s Cornelißen: Im Einsatz für die ›wahre Volksge- konkrete Forschungsresultate die romant. meinschaft‹. Der Historiker G. R. im NS. In: Kar- Naturphilosophie inspirierten. rieren im NS. Hg. Gerhard Hirschfeld u. a. Ffm. u.a. R. gehörte zum näheren Freundeskreis der 2004, S. 319–339. – Ders.: ›Ausländ. Historie‹ u. Jenaer Frühromantiker – seine Stellung cha›dt. Geschichtswiss.‹. G. R. u. die ›Verwestlichung‹ rakterisierte Novalis: »Ritter ist Ritter, und der dt. Historiografie seit 1945. In: Histor. Denken u. gesellschaftl. Wandel. Hg. Tobias Kaiser u. a. Bln. wir sind nur Knappen.« Er stand aber auch in 2004, S. 149–170. – Ders.: Hans Rothfels, G. R. u. Verbindung mit Goethe u. später mit Herder, die Rezeption des 20. Juli 1944. Konzeptionen für die er in den Galvanismus einführte. R., der ein ›neues Dtschld.‹? In: Hans Rothfels u. die dt. u. a. mithilfe der Voltaischen Säule einen Zeitgesch. Hg. Johannes Hürter. Mchn. 2005, Prototyp des Akkumulators entwickelte, ge-

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lang 1801 einer der bedeutendsten Funde in anthropomorphes Naturdenken, Nacht, Tod, der Physik, als er, angeregt von Herschels Liebe. In der Mehrzahl frei assoziierender Entdeckung der infraroten Strahlen im Natur, sind die Fragmente spekulative ErörteSpektrum des Sonnenlichts, die Existenz der rungen von Möglichkeiten, die manchmal ultravioletten Strahlen nachwies. Das ab- zufällig auch spätere naturwiss. Entdeckunschließende Werk seiner Jenaer Zeit war Das gen vorauszuahnen scheinen; sie sollen die elektrische System der Körper (Lpz. 1805). In ihm kreative Fantasie freisetzen u. dadurch Einversucht R., den traditionellen Gegensatz von blicke gewähren, von denen man nach R. saLeitern u. Nichtleitern zu überwinden u. alle gen kann: »Man sieht hier mehr als man beKörper in einer einzigen Spannungsreihe zu greift.« ordnen, die sich zu einem elektr. Groß-SysWeitere Werke: Die Physik als Kunst. Mchn. tem der Erde summieren. Um seine Idee einer 1806. – Physisch-Chem. Abh.en in chronolog. Folgroßen, durch Elektrizität hervorgerufenen ge. 3 Bde., Lpz. 1806. – Briefe: Briefe eines romant. Einheit der Natur aufzuzeigen, war ihm Physikers. J. W. R. an Gotthilf Heinrich Schubert u. spekulatives Analogisieren ebenso wichtig an Karl v. Hardenberg. Hg. Friedrich Klemm u. Armin Hermann. Mchn. 1966. – Else Rehm: Unwie das Experiment. bekannte Briefe an Clemens Brentano. In: JbFDH Der seit 1804 mit Dorothea Weißgesang (1971), S. 330–369. – Dies.: Unbekannte Briefe an verheiratete R. hatte jahrelang als Privatge- Arnim, Savigny, Frommann, Schelling [...]. In: lehrter in Jena u. Weimar ohne festes Ein- JbFDH (1973), S. 1902–1940. – Jean-Paul Guoit: kommen gelebt. Eine sichere Zukunft ver- Sechs unveröffentl. Briefe. In: Centaurus 28 (1985), sprach daher der – ihm von seinem Freund S. 218–243. – Der Physiker des Romantikerkreises. Baader vermittelte – Ruf an die Bayerische J. W. R. in seinen Briefen an den Verleger Carl Akademie der Wissenschaften, dem er 1805 Friedrich Ernst Frommann. Hg. Klaus Richter. folgte. In München beschäftigte sich R. mit Weimar 1988. – Herausgeber: Beyträge zur nähern umstrittenen, seinem wiss. Nachruhm lange Kenntnis des Galvanismus u. der Resultate seiner abträgl. Experimenten zur Wünschelruten- Untersuchung. Jena 1800–05. Literatur: Wilhelm Ostwald: J. W. R. In: Ders.: gängerei u. zu Erzpendeln; ausführl. Darstellungen dieser von ihm als elektrische u. Abh.en u. Vorträge allg. Inhalts. Lpz. 1904, S. 359–383. – Wolfgang Hartwig: Physik als Kunst. magnet. Phänomene aufgefassten ErscheiÜber die naturphilosoph. Gedanken J. W. R.s. Diss. nungen gab er u. a. in Der Siderismus (Tüb. Freib. i. Br. 1955. – Walter D. Wetzels: J. W. R. 1808). R.s spätere Versuche zur Pflanzen- u. Physik im Wirkungsfeld der dt. Romantik. Bln./ Tierphysiologie (Elektrische Versuche an der Mi- New York 1973. – Hermann Berg u. Klaus Richter mosa pudica L, in Parallele mit gleichen Versuchen (Hg.): Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelekan Fröschen. Postum Mchn. 1811) wurden trochemie u. Photochemie v. J. W. R. Lpz. 1986. – W. D. Wetzels: J. W. R. Romantic Physics in Gerkaum noch zur Kenntnis genommen. Seine seit 1809 aus den Tagebüchern ge- many. In: Romanticism and the Sciences. Hg. Ansammelten u. zu Aphorismen zusammenge- drew Cunningham u. Nicholas Jardine. Cambridge stellten Notizen über verschiedene Gebiete 1990. – ›Fessellos durch die Systeme‹. Frühromant. Naturdenken im Umfeld v. Arnim, R. u. Schelling. der Naturwissenschaften, über Philosophie, Hg. Walther C. Zimmerli. Stgt.-Bad Cannstatt Religion, Kunst u. allg. Überlegungen ließ R. 1997. – K. Richter: J. W. R. Bibliogr. Erfurt 2000. – 1810 anonym erscheinen, zus. mit einer ver- Ders.: Das Leben des Physikers J. W. R. Weimar schlüsselten Autobiografie, die v. a. seine 2003. – Stefan Büttner: R. In: NDB. Jahre im Jenaer Romantikerkreis umfasst. Walter D. Wetzels / Red. Diese Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (Heidelb. Neudr. 1969. Neuausg. Ritter, Roman, * 2.4.1943 Stuttgart. – LyLpz. 1984), denen R. selbst eine Mittelstelriker. lung zwischen den stärker poetischen des Novalis u. den stärker naturwissenschaftli- Der Sohn eines Kriminalbeamten studierte in chen Lichtenbergs zuwies, kreisen um be- Tübingen, Hamburg u. München. Anschliekannte Themen der Romantik wie die orga- ßend arbeitete er als Mitherausgeber der nisch aufgefasste Einheit des Universums, »Literarischen Hefte«, als Redakteur der

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Zeitschrift »Kürbiskern«, im Verlag Auto- auch traditionelle Rheinweinseligkeit (Am renEdition u. als freier Journalist. Für R.s von Rhein und beim Wein. Lpz. 1–3 1884) zur polemischer Verve geprägte publizist. Tätig- Sprache brachte, hatte er großen Erfolg; keit ebenso wie für seine Lyrik wurden die durch Vertonungen bekannt wurden z.B. Die ideolog. Diskussionen u. polit. Ereignisse der Abendglocken u. Lied des Westfalen. Freundschaft Jahre um 1968 maßgebend. Seit seinem De- verband ihn mit Freiligrath, den er im Lonbüt Vorlesungen (Mchn. 1968) ist R. einer en- doner Exil unterstützte. gagierten Literatur verpflichtet, deren TradiLiteratur: Ferdinand Heyl: E. R. In: Nord u. tion er – etwa im Essay Die eiserne Lerche (In: Süd 52 (1890), S. 179–193. – Ludwig Fränkel: R. In: Kürbiskern 3, 1975, S. 74–86) – bis auf Georg ADB 53. – Uwe Eckardt: E. R. Zum Nachleben eines Herwegh zurückverfolgt. In seinen freiversi- ›poeta minor‹ in Wuppertal. In: Mitt.en des Stadtgen Gedichten thematisiert R. aus linksop- archivs [...] Wuppertal 11 (1986), S. 39–50. – Ernst positioneller Haltung polit. Ereignisse oder Dossmann: E. R. u. das Westfalenlied. In: Heimatpflege in Westfalen 14 (2001), S. 1–4. – Westf. deckt die immanente Politisierung des AllAutorenlex. Christian Schwarz / Red. tags auf. Dabei spricht sich in seinem von Wortspielen u. Parallelismen bestimmten Parlando demonstrativ ein stets empörungsRittershausen, Rittershaus, Konrad, auch: bereites Subjekt aus, das die Hoffnung auf die Conradus Rittershusius, * 1560 Braun»konkrete Utopie« nicht aufgeben möchte. schweig, † 1613 Altdorf bei Nürnberg. – Seit Mitte der 1980er Jahre sind keine GeRechtsgelehrter u. späthumanistischer dichte R.s mehr erschienen. Weitere Werke: Lyr. Tgb. Mchn. 1975. – Einen Fremden im Postamt umarmen. Mchn. 1975. – R. R. Ausgew. v. Klaus Pankow. Bln. 1986. Matías Martínez / Peer Trilcke

Rittershaus, (Friedrich) Emil, auch: F. E. Viggo, * 3.4.1834 Barmen, † 8.3.1897 Barmen; Grabstätte: Wuppertal, Lutherischer Friedhof. – Lyriker. Der Fabrikantensohn trat 1848 eine Lehre im väterl. Betrieb an, unternahm Geschäftsreisen durch Europa, eiferte früh der Vormärzlyrik nach u. schloss sich dem »Wupperbund zur Pflege der schönen Wissenschaften« an, wandte sich aber nach Heirat u. Geschäftsgründung mehr besinnl. Lyrik zu, die bald in der »Gartenlaube« erschien u. ihn, nach geschäftl. Misserfolgen, auch materiell über Wasser hielt. Daneben trat R., nun auch als Versicherungsagent tätig, seit 1860 mit Rezitationen u. Vorträgen auf. Mit seinen an Geibels Diktion orientierten Lyrikbänden (u. a. Gedichte. Elberfeld 1856. Bln. 101906. Neue Gedichte. Lpz. 1871. Bonn 6 1899), in denen er zunehmend nationales Gedankengut neben freimaurerischen Ideen (Freimaurerische Dichtungen. Lpz. 1870. 51897) vermittelte u. neben Zeitereignissen (Not der oberschles. Weber, Auswanderungswelle)

Philologe.

Die Familie stammte aus Minden an der Weser, der Großvater u. der Vater standen im Dienst der Fürsten von Braunschweig-Lüneburg. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Braunschweig studierte R. seit 1580 die Humaniora sowie Jurisprudenz in Helmstedt u. seit 1584 in Altdorf, wo der berühmte Jurist Obertus Giphanius (Hubert van Giffen) sein Lehrer war, mit dem er zus. mit einer Gruppe weiterer Schüler 1590 nach Ingolstadt wechselte. Dort hielt er auch Kontakt zu dem bedeutenden kath. Kontroverstheologen Gregor von Valencia SJ. Von Altdorf aus hatte er Bildungsreisen nach Franken u. Hessen, Frankfurt/M., Heidelberg u. Marburg unternommen, schließlich nach Böhmen, Prag, Österreich u. Ungarn. 1591 ging R. von Ingolstadt nach Basel, wo er zum Dr. jur. promoviert wurde. Anschließend lehrte er als Prof. der Institutionen an der »Academia Norica« in Altdorf bei Nürnberg, die erst 1622 den Status einer Volluniversität erreichte, u. gründete eine Familie; 1598 übernahm er in Altdorf auch die Professur der Pandekten u. das Amt des Ratskonsulenten der Reichsstadt Nürnberg. In Altdorf lehrte seit 1590 auch der in ganz Europa anerkannte Jurist Scipio Gentilis u. der aus Antwerpen stammende Petrus Wesenbeck. R. lehrte über

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Themen des privaten wie des öffentl. Rechts u. publizierte mehrere Schriften zur Theologie u. zu griech. u. röm. Autoren (Ausgaben von Boëthius, Oppian, Phaedrus, Photios). Er schrieb auch Gedichte in altgriech. Sprache u. soll in der Lage gewesen sein, sich bei einem Besuch des Erzbischofs von Konstantinopel in Altdorf mit diesem in griech. Sprache zu unterhalten. Auch als Briefschreiber zählt R. zu den führenden Autoren der späthumanist. Gelehrtenrepublik um 1600, er unterhielt Kontakte zu den berühmtesten Philologen u. Historikern seiner Zeit: Joseph Scaliger, Isaac Casaubon, Janus Dousa, Thuanus (JacquesAuguste de Thou), Justus Lipsius u. Daniel Heinsius. Zu seinen Schülern u. Vertrauten gehörte auch Kaspar Schoppe (Scioppius), der ihn später durch seine Konversion zum Katholizismus in Rom enttäuscht hat; an ihn ist Schoppes Brief gerichtet, in dem er, der frühere dt. Protestant, am 17.2.1600 als Augenzeuge von der Verbrennung Giordano Brunos auf dem Campo dei Fiori in Rom berichtet u. dabei erkennbare Schwierigkeiten hat, als Konvertit das schreckl. Ereignis gegenüber seinem protestant. Lehrer in Deutschland zu rechtfertigen. Vor allem die bedeutenderen unter den sehr zahlreichen Schriften R.s, die großen Rechtskommentare, wurden erst nach seinem Tode gedruckt u. erfuhren Neuauflagen bis ins 18. Jh. Sein Hauptwerk ist das Jus Justinianeum, eine ausführl. Darstellung der »Novellen«, die postum 1615 von seinen Söhnen Georg u. Nikolaus herausgegeben wurde; an den Ausgaben anderer Werke ist auch der Sohn Ludwig Rittershausen beteiligt. Weitere Werke: Theses de societate. Praes.: Johannes Busereuth, Resp.: K. R. Nürnb. 1586. – Oratio de Zaleuco et Charonda, et legum descriptione utriusque. Altdorf 1591. – Psalmi XC. paraphrasis epica. Nürnb. 1594. – Progymnasmata iuris, sive disputationes XXXVI. de iure civili. Praes.: K. R. Nürnb. 1598. – Oratio [...] de militia christiana [...]. Nürnb. 1599. – Theses de transactionibus. Praes.: K. R., Resp.: Daniel Venetus. Nürnb. 1600. – Partitiones iuris feudalis [...]. Hanau/Marburg 1603. Marburg 1615. – Zacharias Propheta [...]. Amberg 1603. – Consilia sive responsa Altdorfina de iure. Hanau 1603. – Liber commentarius in epistolas Plinii et Trajani [...]. Amberg 1609. – (Mit Daniel Heinsius:) Satirae

Rittershausen duae: Hercules tuam fidem sive Munsterus Hypobolimaeus emendatior [...]. Leiden 41609. – Theses de iure publico. Praes.: K. R., Resp.: Wolfgang Heinrich Ruprecht. Altdorf 1611. – Liber commentarius in Salvianum Massiliensem. Altdorf 1611. – Speculum principis civiliter boni. Lpz. 1612. – Ius Iustinianeum, hoc est, Novellarum [...] expositio methodica [...]. Hg. Georg u. Nicolaus R. Straßb. 1615. 31669. – Ioannis antiqui glossatoris summa in Novellas Iustiniani [...]. Ffm. 1615. – Novellae. Constitutiones Imperatorum Iustiniano anteriorum [...]. Ffm. 1615. – Dodecadeltos, sive in duodecim tabularum leges commentarius novus [...]. Straßb. 1616. – Differentiarum iuris civilis et canonici seu pontificii libri septem [...]. Straßb. 1618. – Commentarius novus, in quatuor libros Institutionum [...] Iustiniani [...]. Straßb. 1618. Erw. hg. v. Georg, Nikolaus u. Ludwig R. Straßb. 1649. 1659. – Herausgeber: (mit Gaspar Scioppius): Phaedrus: Fabularum Aesopiarum libri quinque. Leiden 1598. 1610 (mit Komm.; dieser auch in der Ed. Amsterd. 1698). – Salvianus Massiliensis: Opera. 2 Bde., Altdorf 1611. Ausgaben: Herausgeber: Sacra strena Altorfina [...]. Nürnb. 1602. Internet-Ed. in: CAMENA. – Apotheosis Iani Dousae patris [...]. Nürnb. 1605. Internet-Ed. in: CAMENA. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Jöcher. – August Ritter v. Eisenhart: K. R. In: ADB. – Roderich v. Stintzing u. Ernst Landsberg: Gesch. der dt. Rechtswiss. 3 Bde., Mchn. 1880–1910. Nachdr. Aalen 1978. – Gerhard Mummenhoff: Die Juristenfakultät Altdorf in den ersten fünf Jahrzehnten ihres Bestehens 1576–1626. Diss. Erlangen 1958. – Hans Wolff: Gesch. der Ingolstädter Juristenfakultät: 1492–1625. Bln. 1973. – Friedrich Merzbacher: K. R. In: Fränk. Lebensbilder 8 (1977), S. 109–122. – Frank-Rutger Hausmann: Zwischen Autobiogr. u. Biogr. Jugend u. Ausbildung des Fränkisch-Oberpfälzer Philologen u. Kontroverstheologen Kaspar Schoppe. Würzb. 1995. – Kaspar Schoppe (1576–1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation. Hg. Herbert Jaumann. Ffm. 1998 (Anh., S. 459–465: der lat. Brief Schoppes an R. mit dem Augenzeugenbericht vom Tod Giordano Brunos; Bibliogr.). – Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wiss. u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000. – Thomas Duve: K. R. In: NDB. Herbert Jaumann

Rittertreue

Rittertreue. – Höfisches Märe aus der zweiten Hälfte des 13. Jh.

678 Neuhochdeutsche Übertragung: Ulrich Pretzel: Dt. Erzählungen des MA. Mchn. 1971, S. 102–119. Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969, S. 188–193 u. ö. – Lutz Röhrich: Dankbarer Toter. In: EM, Bd. 3, Sp. 306–322. – A. van der Lee: Einige Beobachtungen zur Erzählstruktur des mhd. Märes ›Der dankbare Wiedergänger‹. In: ABäG 17 (1982), S. 69–78. – Fischer 21983, S. 426 f. (›Der dankbare Wiedergänger‹, Bibliogr.). – HansJoachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985, S. 319–325 u. ö. – K.-H. Schirmer: R. In: VL. – Sonja Zöller: ›Triuwe‹ gegen Kredit. Überlegungen zur mhd. Verserzählung ›R.‹. In: Der fremdgewordene Text. FS Helmut Brackert. Hg. Silvia Bovenschen. Bln. 1997, S. 58–72. Ulla Williams / Red.

Die wohl im späten 13. Jh. anonym entstandene Reimpaarerzählung (854 Verse) thematisiert »triuwe« als höchsten Wert im ritterl. Ehrenkodex. Der vorbildl. Ritter, Graf Willekin von Muntaburk, hat einen Großteil des väterl. Besitzes auf standesgemäßen kostspieligen Turnieren verbraucht u. bleibt nun untätig zu Hause, bis er nach Jahren zu einem Turnier um die Hand einer reichen Landesherrin eingeladen wird. Vom Vater knapp ausgestattet, sucht Willekin am Turnierort zunächst einen Geldgeber. Ein reicher Münzherr erklärt sich bereit, ihm Vorschub zu leisten, wenn Willekin die 70 Mark bezahle, die ihm ein in seinem Hause verstorbener Ritter schuldig blieb; diesen habe er aus Zorn Rittner, Tadeusz, Thaddäus, auch: Tomasz im Mist verscharren lassen. Willekin, der Czaszka, * 31.5.1873 Lemberg, † 19.6. selbst nur über 70 Mark verfügt, begleicht die 1921 Badgastein. – Dramatiker, Erzähler. Schuld u. sorgt für ein ehrenvolles Begräbnis R., dessen Vorfahren poln. Juden waren, kam des Ritters. Nun großzügig ausgestattet, fehlt mit elf Jahren nach Wien, wo er 1897 zum Dr. Willekin nur noch das richtige Pferd, als er jur. promovierte u. wie sein Vater, Minister einem fremden Ritter mit einem prächtigen Eduard Rittner, in den Staatsdienst (UnterRoss begegnet. Willekin muss ihm für das richtsministerium) eintrat. 1915/16 leitete R. Pferd die Hälfte des Gewinns bei einem Tur- das poln. Theater in Wien; nach dem Krieg niersieg versprechen. Nach Willekins Sieg u. (seine mehrmalige Kandidatur für die LeiHochzeit fordert der Fremde seinen Anteil an tung des Burgtheaters wurde wegen seines der Dame; als Willekin entsetzt ablehnt, stellt nat. Bekenntnisses zum Polentum abgelehnt) jener ihn vor die Wahl, auf Treue u. Ehre oder widmete er sich ausschließlich der schriftauf die Frau verzichten zu müssen. Als Wil- stellerischen Arbeit. Er schrieb nicht nur unlekin das Schlafgemach weinend dem Frem- zählige Zeitungsbeiträge in dt. u. poln. den überlässt, gibt dieser sich als der von Sprache, sondern auch Werke, in denen er seinen Schulden erlöste Tote zu erkennen u. v. a. die heuchlerische Gesellschaft kritisiert. verzichtet auf alle Ansprüche. Nach bestan- Seine Protagonisten siedelt er in einer gleidener Treueprobe kann Willekin glücklich chermaßen fiktiven wie realen Welt an, etwa leben. im Roman Geister in der Stadt (Wien 1921), in Das Märe verbindet mehrere Erzählmotive: dem es u. a. um die wechselnde Vorherrschaft Armut u. Reichtum, Brautwerbung, der der Intellektuellen u. Arbeiter geht, oder in dankbare Tote, Teilung der Hälfte. Konsti- dem satir. Drama Die Feinde der Reichen (als tutiv für die Erzählstruktur ist jedoch die Roman: Die andere Welt. Beide Wien 1921), die wiederholte Gegenüberstellung von materi- in einem kommunist. Staatsgebilde herrellem Gut u. dem immateriellen Wert der schen, jedoch keineswegs die »Freunde der »triuwe« als einer aus dem ritterl. Ehrenko- Armen« sind. In seinem Hauptwerk, der viel dex resultierenden verpflichtenden Lebens- gespielten Kriminalkomödie Wölfe in der Nacht haltung, deren Richtigkeit durch Willekin (Wien 1914), legt R. die Doppelmoral der Jubewiesen wird. risten bloß. Als sinnlich-lyr. Dichter mit Ausgabe: Marlis Meier-Branecke: Die Ritter- großem psycholog. Verständnis zeichnete sich R. mit dem Don-Juan-Drama Unterwegs treue. Krit. Ausg. u. Untersuchung. Hbg. 1969.

Rivander

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(Wien 1919) u. in der Sanatoriumskomödie Sommer (Wien 1912) aus. Mit Mord u. Selbstmord endet das Eifersuchtsdrama Das kleine Heim (Stgt. 1908), in dem das Schattendasein einer Frau neben ihrem selbstherrl. u. geachteten Mann u. ihr von der Gesellschaft als unmoralische Anmaßung verurteilter Ausbruchsversuch illustriert werden. R., einer der meist aufgeführten Autoren seiner Zeit, starb überraschend an einer Bauchfellentzündung. Weitere Werke: Drei Frühlingstage u. a. N.n. Bln. 1900. – Der dumme Jakob. Bln. 1910. – Der Mann im Souffleurkasten. Wien 1912. – Kinder der Erde. Wien 1914. – Das Zimmer des Wartens. Bln. 1918. Wien 1969 (autobiogr.). – Die Brücke. Bln. 1920 (R.). – Die von nebenan. Wien 1921. – Feuilletons u. Kritiken 1895–1925. Hg. Anna Milanowski. Oldenb. 2005. Literatur: Günther Wytrzens: Das Wiener Kunstleben der Jahrhundertwende in den poln. Feuilletons v. T. R. In: Studia Austro-Polonica 2 (1980), S. 195–207. – E. Wöhres-Ryszawy: T. R.s Dramen. Diss. Wien 1981 (mit Bibliogr.). – Anna Milanowski: T. R. Ein Leben u. Schaffen zwischen mehreren Kulturen u. Arten der literar. Kunst. In: Avantgardist. Lit. aus dem Raum der (ehemaligen) Donaumonarchie. Hg. Eva Reichmann. St. Ingbert 1997, S. 143–168. – Stefan Simonek: T. R.s literar. Debüt im Rahmen der Wiener Moderne. In: Recepcja literacka i proces literacki. Hg. German Ritz u. a. Krakau 1999, S. 87–115. – Agnieszka Palej: Interkulturelle Wechselbeziehungen zwischen Polen u. Österr. im 20. Jh. anhand der Werke v. Thaddäus R., Adam Zielin´ski u. Radek Knapp. Wroclaw 2004. – S. Simonek: Deterritorialisierte Texte. Am Beispiel v. T./Thaddäus R. u. Peter Altenberg. In: Ent-grenzte Räume. Hg. Helga Mitterbauer. Wien 2005, S. 337–352. – Rotraut Hackermüller: R. In: NDB. /

Rotraut Hackermüller / Red.

Ritz, Jakob Wilhelm ! Wilhelmi, Jakob Rivander, Zacharias, eigentl.: Z. Bachmann, * 1553 Loeßnitz im Erzgebirge, † 15.11.1594 Bischofswerda. – Evangelischer Theologe, Verfasser von historischen Werken, Dramatiker. R. studierte Theologie in Freiberg, bekam bereits 1574 seine erste Pfarrei u. wurde Diakon in Groß-Salza bei Magdeburg, 1581

in Luckenwalde, stieg zum Superintendenten in Forst auf, wurde jedoch 1591/92 nach Auseinandersetzungen mit (Krypto-)Calvinisten entlassen u. ging nach Bischofswerda. Aus Chroniken u. Manuskripten kompilierte er noch in Luckenwalde die Düringische Chronica (Ffm. 1581), welche Herkunft, Geschichte u. Taten der thüring. Herrscher bis in seine Gegenwart behandelt. Mit der Schrift Lupus excoriatus oder Schafpelz öffentlicher und heimlicher Calvinisten (Wittenb. 1582) zeigt sich R. als kämpferischer Lutheraner im Streit der Konfessionen. Um das zentrale Problem dieses Zwistes, den Abendmahlsstreit, kreist auch sein noch heute bekanntes »Lesedrama« Lutherus redivivus (o. O. 1593. Internet-Ed. in: VD 16 digital). Gleich dem Caesar Frischlins stehen nun Luther u. Melanchthon von den Toten auf, daneben prominente verfolgte Lutheraner wie Georg Müller u. Nikolaus Selnecker. Scharfe Polemik gegen Calvinisten u. Flacianer kennzeichnet die Komödie, in der nur Philippisten glimpflich davon kommen, da Melanchthon sich schließlich zu Luthers Abendmahlslehre bekennt. Predigten über Jesaja, zur Weihnachts- u. Passionszeit wurden, teils postum, gesammelt gedruckt, wie auch eine deutlich-deftige Heerpredigt wiedern Türcken (Dresden 1594. Internet-Ed. in: VD 16 digital), in der R. im Rückbezug auf den Türkenkrieg in Ungarn die Gläubigen zur inneren Umkehr, die Machthaber zur Besserung mahnt u. allen den nahenden Jüngsten Tag vor Augen stellt. In direktem Zusammenhang mit R.s Predigeramt stehen drei Exempelsammlungen, die ebenso wie die Geschichte Thüringens von großem kompilatorischem Fleiß (u. a. aus der Chronik Carios, Cyriakus Spangenberg, Nathan Chytraeus) zeugen. R. stellt v. a. BußExempel zusammen, die je nach Kontext gemäß dem Dekalog (Ander Theil Promptuarii Exemplorum. Ffm 1581, Fortführung der gleichnamigen Sammlung Andreas Hondorffs) oder jeweils nach den Festtagen des Kirchenjahres (Fest-Chronica. Erfurt 1591) geordnet sind bzw. lediglich thematisch zusammenhängen (New Historien- und Exempelbuch. Eisleben 1591).

Robert

Angeblich wurde R. samt seiner Familie im Auftrag des verfeindeten Superintendenten von Sorau vergiftet. Weitere Werke: Christl. Erinnerung zum neuen Jar vom alten u. neuen Calender. Wittenb. 1586. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Das drey u. funffzigste Cap. des Propheten Esaiae. Das ist Vom Leiden Sterben/ vnd Aufferstehung vnsers lieben Herrn vnd Heylandes Jhesu Christi. Wittenb. 1586. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – De arte amandi oder Freierbüchlein. Wittenb. 1594. – Ein newe Heerpredigt widern Türcken [...]. Coburg 1595. Literatur: Hugo Holstein: Die Reformation im Spiegelbilde der dramat. Litt. Halle 1886, S. 231 f. – Ders.: Z. R. In: ADB. – Wilhelm Schöpff: Doctor Z. R. Sein Leben u. seine Komödie ›Lutherus redivivus‹. In: Mitt.en des Geschichts- u. Altertums-Vereins zu Leisnig 13 (1908), S. 1–36. – Carl Göllner: Turcica. Bd. 3, Bukarest 1978, S. 546 f. – Wolfgang Brückner: Volkserzählung u. Reformation. Bln. 1974, bes. S. 513–519, 550–552 u. 602–605. – Jürgen Beyer: Z. R. In: EM. Jost Eickmeyer

Robert, (Ernst Friedrich) Ludwig, eigentl.: Lipman Levin, * 16.12.1778 Berlin, † 5.7. 1832 Baden-Baden. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. R. stammte aus einer jüd. Kaufmannsfamilie, trat aber, wie seine Schwester Rahel (verh. Varnhagen), zum Christentum über (Taufe 30.3.1819 in Frankfurt/M.). Seine ersten Gedichte erschienen in dem von Chamisso u. Varnhagen herausgegebenen »Musen-Almanach auf das Jahr 1804«. R. versuchte sich darin in romant. Formen (Romanze, Variation, Sonett, bibl. Ballade) ebenso wie in der klass. Elegie. Er beteiligte sich rege am literar. Leben Berlins, wobei er romant. Moden u. Formen verspottete, sich ihrer aber dennoch in Satire wie ernsthafter Gestaltung bediente. Neben die Lyrik trat bald das Drama als von ihm meistgeübtes Genre. R. verzeichnete einen ersten, wenn auch bescheidenen Erfolg mit einer »Zauberoper in drei Akten nach Gozzi«, Die Sylphen (Lpz. 1806), die von Friedrich Heinrich Himmel komponiert wurde (Urauff. Bln. 1806). Die Tochter Jephtha’s (Stgt. 1820. Urauff. Weimar 1811) benutzte bibl. Geschichte als Medium des Ausdrucks zeitgenössischer geschichtl. Bezüge zum Fall Preußens wie eigener religiöser Gedanken.

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R.s Übertritt zum Christentum war nicht ausschließlich aus Rücksicht auf gesellschaftl. Akzeptanz geschehen, sondern verband sich mit einer inneren Aneignung der christl. Religion. R. selbst hat bes. der Religionsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes, mit dem er in Berlin in Verbindung trat, großen Einfluss auf sich zugeschrieben. Er verwahrte sich gegen jede Orthodoxie u. Intoleranz. Wenn man mit den Juden die Erniedrigten u. Rechtlosen identifiziere, dann wolle er immer Jude bleiben, heißt es im Sonett Jude und Christ. Wenn hingegen Demut u. die Liebe auch der Hassenden den Christen ausmachen, dann sei er Christ – »das darf ich redlich sagen«. R.s bedeutendstes literar. Werk ist das Drama Die Macht der Verhältnisse (Stgt./Tüb. 1819. Urauff. 28.9.1813 in Breslau, in Berlin erst 1815). Ihm liegt ein antisemit. Vorfall in der Berliner Gesellschaft zugrunde, in den Achim von Arnim unrühmlich verwickelt war. R. lässt jedoch an die Stelle des religiösen Unterschieds den ständischen treten; das Stück spielt 1792, also vor dem eigentl. Beginn der jüd. Assimilation in Preußen. Aus dem Konflikt zwischen einem jungen Adligen u. einem nicht satisfaktionsfähigen bürgerl. Intellektuellen, die sich am Ende als Halbbrüder erweisen, entstehen unaufhaltsam Mord u. Selbstmord, sodass sogar der Versuch eines gütigen Fürsten misslingt, dem Mörder, der von dem ihm unbekannten Bruder provoziert worden war, Gnade angedeihen zu lassen. R. hat dem Stück theoret. Erörterungen zum »bürgerlichen Trauerspiel« beigegeben, die als Versuch zur Analyse der »Macht der Verhältnisse« gegenüber einzelnen persönl. Entscheidungen auf das Gesellschaftsdrama u. den Gesellschaftsroman im späteren 19. Jh. vorausweisen. R. hat sich weiterhin vielfältig als Verfasser von Dramen, Komödien, Literatursatiren, Erzählungen u. Gedichten betätigt, ohne freilich breite Anerkennung zu finden. Für kurze Zeit hielt er sich 1813/14 im diplomat. Dienst eines russ. Gesandten in Stuttgart auf. Danach lebte er verschiedentlich in Breslau, Karlsruhe, Stuttgart, Paris u. Dresden, er besuchte mehrfach Goethe in Weimar u. war mit Tieck befreundet. In Berlin wurde 1828

Roberthin

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Kleists Prinz Friedrich von Homburg in einer Bearbeitung R.s uraufgeführt. 1831 wich er der in Berlin grassierenden Cholera aus, zog nach Baden-Baden u. wurde dort 1832 ein Opfer des epidem. Typhus. Weitere Werke: Kassius u. Phantasus oder der Paradiesvogel. Eine erzromant. Komödie. Nebst einer empfehlenden Vorrede v. dem berühmten Hunde des Aubry. Bln. 1825. – Die Erfindung des Porzellanes. In: Tb. für Damen auf das Jahr 1831 (histor. N.). – Gedichte (= Schr.en Bd. 1 u. 2). Mannh. 1838. – Ein Schicksalstag in Spanien. Bln. 1839 (Kom.). Briefausgabe: Rahel Varnhagen v. Ense: Briefw. mit L. R. / Rahel Levin Varnhagen. Hg. Consolina Vigliero. Mchn. 2001. Literatur: Ernst Altendorff: L. R. Ein Beitr. zur Berliner Romantik. Diss. Lpz. 1923. – Margarete Cohen: L. R. Leben u. Werk. Diss. Gött. 1923. – Lothar Cahn: L. R.: Rahel’s Brother. In: Publications of the Leo Baeck Institute Yearbook 18 (1973), S. 185–199. – Miriam Sambursky: L. R.s Lebensgang. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 15 (1976), S. 1–22. – Gerhard Schulz: Die dt. Lit. zwischen Revolution u. Restauration. Bd. 2, Mchn. 1989. – Liliane Weissberg: Das Drama eines preuß. Patrioten: L. R.s ›Jephthas Tochter‹. In: Judentum zwischen Tradition u. Moderne. Hg. Gerd Biegel u. Michael Graetz. Heidelb. 2002, S. 95–116. – Thorsten Fitzon: ›Verwienerung‹ in Baden. L. R. Posse ›Staberl in höheren Sphären‹. In: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen 1800 u. 1850. Hg. Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. 2010, S. 509–534. Gerhard Schulz

Roberthin, Robertin, Robert, auch: Berrintho, * 3.3.1600 Saalfeld/Ostpreußen, † 7.4.1648 Königsberg. – Lyriker. Der Sohn eines Geistlichen besuchte die Schulen in Saalfeld, Rastenburg u. Königsberg, bevor er 1617 mit dem Studium in Königsberg begann. Auf kurfürstl. Empfehlung erhielt er ein Stipendium, das ihm den Besuch der Universitäten Leipzig (1619) u. Straßburg (1620/21) ermöglichte, wo er als Schüler Berneggers in dessen Haus lebte. Danach war er in Preußen u. Kurland als Hofmeister tätig u. reiste 1625, ebenfalls als Erzieher, in die Niederlande. 1626 besuchte er England u. hielt sich dann meist als Hof-

meister in Paris auf; dort wurde er 1629 dän. Gesandtschaftssekretär am frz. Hof. Kurzfristig kehrte er 1630 nach Königsberg zurück, ging aber bald als Begleiter des jungen Andreas Adersbach in die Niederlande, nach Frankreich u. Italien, wo er stets Verbindungen mit bedeutenden Gelehrten (Bernegger, Heinsius, Grotius) erneuerte oder anknüpfte. Die Gönnerschaft des kurfürstl. Hauses, um die sich R. wiederholt bemühte, sollte sich auf seine Karriere (u. auf den Werdegang des mit ihm befreundeten Dach) günstig auswirken. 1634 wurde R. Sekretär des Johanniterordens in der Mark Brandenburg, u. 1636 ernannte der Kurfürst Georg Wilhelm ihn zum Sekretär am Hofgericht in Königsberg. Für Dach konnte R. mit fürstl. Hilfe den Weg zu einer Professur an der dortigen Universität ebnen. Zum Zweck gegenseitiger künstlerischer Anregung u. Förderung veranlasste R. gesellige Zusammenkünfte von literarisch u. musikalisch interessierten Bürgern. Wohl in Anlehnung an ital. Privatsozietäten u. die Fruchtbringende Gesellschaft bildete sich um R. eine Gruppe von Dichtern u. Musikern, die in der Forschung als Königsberger Dichterkreis bezeichnet wird (Dach, Albert, Kaldenbach, Stobaeus, Adersbach, Mylius, Thilo u. Wilkow). In einem Dankgedicht Dachs an R. wird dessen Rolle als geistiger Mittelpunkt des Kreises deutlich: »Wirdt waß von uns gethan, daß etwas ist von Wehrt, Wir gehen erst zu dir, dein Rath wirdt erst begehrt« – u. über Dachs persönl. Verhältnis zu R. heißt es: »In Summa, Herr, ich bin gewesen wie dein Bruder, Ja wie dein eigen Kind« u. »Ich währe längst von hinnen, Wär ich ohn dich gewest«. R.s Lieder weisen ihn als formbewussten, regeltreuen Opitzianer aus. Sie wurden meist von Heinrich Albert vertont u. erschienen teils in Einzeldrucken, teils in Alberts Arien. Durch die Arien kannte auch Neumeister noch den »preußischen Dichter« mit seinen »gefälligen Oden«. Ausgaben: Gedichte des Königsberger Dichterkreises. Hg. Leopold Herrmann Fischer. Halle 1883. – Fischer-Tümpel 3, S. 38–40. – Alfred Kelletat: Simon Dach u. der Königsberger Dichterkreis. Stgt. 1986.

Robinson

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Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3460–3465. – Weitere Titel: Georg Christoph Pisanski: Leben Roberti Robertins, eines berühmten Preussen. In: Gesammlete Nachrichten zu Ergäntzung der Preußisch-Märkisch- u. Pohln. Gesch. 5. St. (1755), S. 188–200. – Briefe Georg Michael Lingelheims, Matthias Berneggers u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889. – Hermann Oesterley: R. R. In: ADB. – Ewald Schepper: R. R. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 562. – Heiduk/Neumeister, S. 89, 229, 457. – Thomas Bürger: Zwei Nachträge zur Opitz-Bibliogr.: Ein Brief an R. 1638 u. ein Thorner Druck des 6. Psalms. In: Chloe 10 (1990), S. 141–155. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 971 f.; Tl. 2, S. 1223 f. – Thomas Diecks: R. R. In: NDB. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/2, Tüb. 2006, Register. – Simon Dach (1605–59). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, passim. Ulrich Maché / Red.

Robinson, Therese Albertine Louise ! Talvj Rochau, August Ludwig von, * 20.8.1810 Harbke bei Helmstedt, † 15.10.1873 Heidelberg. – Politiker, Publizist, Historiker. Der in Wolfenbüttel vaterlos aufgewachsene R. studierte ab 1829 Rechtswissenschaften in Göttingen u. Jena u. schloss sich in dieser Zeit dem radikalen Flügel der Burschenschaft an. Nachdem er 1832 aus polit. Gründen von der Universität relegiert worden war, zählte er im Frühjahr 1833 zu den Teilnehmern des gescheiterten »Frankfurter Wachensturms«. Einer 1836 ausgesprochenen lebenslangen Zuchthausstrafe entzog er sich durch Flucht nach Paris, von wo aus er als Korrespondent für liberale dt. Zeitungen schrieb. Infolge einer Amnestie erlebte er die Revolutionszeit 1848/49 als Publizist in verschiedenen dt. Städten. Aus Berlin 1850 ausgewiesen, unternahm er zunächst eine längere Reise durch die Schweiz u. Italien u. ließ sich 1852 dauerhaft in Heidelberg nieder. Hier entstand sein wichtigstes Werk, Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (2 Bde., Stgt. 1853–69. Neudr. hg. v. Hans-Ulrich Wehler. Ffm. 1972). Auch verfasste er mehrere histor. Werke u. Reiseberichte u. gab als Vorsitzender des »Deutschen Nationalvereins« seit 1860 dessen

»Wochenschrift« heraus. Die Wahl in den Reichstag für die Nationalliberale Partei 1871 bedeutete für R. noch eine späte polit. Karriere. 1873 erlag er den Folgen eines Schlaganfalls. Die v. a. auf Heinrich von Treitschke zurückzuführende Rezeption von R.s Werk als opportunist. Anpassung an den machtpolit. Status quo ist in der neueren Forschung korrigiert worden. Tatsächlich ist R.s Vorstellung von »Realpolitik« als strateg. Reaktion auf das Scheitern der Revolution von 1848/49 zu werten, nicht aber als Aufgabe der damit verbundenen Ziele. Vielmehr wollte er unter pragmat. Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse dem liberalen Bürgertum einen Weg aufzeigen, wie es aus seiner gesellschaftl. Dominanz künftig auch eine polit. Vorrangstellung ableiten u. durchsetzen könne. Weitere Werke: Krit. Darstellung der Socialtheorie Fourier’s. Braunschw. 1840 (unter dem Pseud. A. L. Churoa). – Reiseleben in Südfrankreich u. Spanien. 2 Bde., Stgt. 1847. – Das Erfurter Parlament u. der Berliner Fuersten-Congress. Polit. Skizzen aus der dt. Gegenwart. Lpz. 1850. – Ital. Wanderbuch 1850–51. 2 Bde., Lpz. 1852. – Vier Wochen frz. Gesch. 1. Dec. 1851–1. Jan. 1852. Lpz. 1852. – Die Moriscos in Spanien. Lpz. 1853. – Gesch. Frankreichs vom Sturze Napoleons bis zur Wiederherstellung des Kaiserthums 1814–52. 2 Bde., Lpz. 1858. – Briefe eines Deutschen über die dt. Bundesreform. Heidelb. 1859 (an.). – Zur Orientierung im neuen Dtschld. Heidelb. 1868. – Gesch. des dt. Landes u. Volkes. 2 Tle., Bln. 1870–72. Literatur: Heinrich v. Treitschke: A. L. v. R. In: Preuß. Jbb. 32 (1873), S. 585–591. – Hans Lülmann: Die Anfänge A. L. v. R.s 1810–50. Heidelb. 1921. – Klaus Asche: Das Staatsdenken A. L. v. R.s. Helmstedt 1960. – Gustav Füllner: A. L. v. R. Wolfenbütteler Schüler, revoltierender Student, liberaler Realpolitiker u. Wolfenbütteler Reichstagsabgeordneter. In: Braunschweig. Jb. 54 (1973), S. 230–247. – Wolfgang Kraushaar: Realpolitik als Ideologie. Von L. A. v. R. zu Joschka Fischer. In: 1999. Ztschr. für Sozialgesch. des 20. u. 21. Jh. 3 (1988), S. 79–137. – Myounghag Chang: Macht u. Politik bei Hegel, Droysen u. R. Bln. 2000 (Mikrofiche-Ausg.). – Natascha Doll: Recht, Politik u. ›Realpolitik‹ bei A. L. v. R. (1810–73). Ein wissenschaftsgeschichtl. Beitr. zum Verhältnis v. Politik u. Recht im 19. Jh. Ffm. 2005. Roland Gehrke

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Rochholz, Ernst Ludwig, * 3.3.1809 Ansbach, † 28./29.11.1892 Aarau. – Volkskundler, Germanist, Lyriker. Der Sohn eines Ansbacher Juristen wuchs nach dem Tod des Vaters 1815 zunächst bei seinem Großvater mütterlicherseits, einem Förster, auf, ehe er eine kgl. Freistelle an einem dem Gymnasium zu Neuburg an der Donau angegliederten Erziehungsinstitut erhielt. Der Umgang mit ausschließlich kath. Mitschülern, Lehrern u. Geistlichen bestärkte ihn in seiner Distanz zur Kirche u. insbes. zum Ultramontanismus. Nach der Reifeprüfung 1827 nahm R., finanziell unterstützt von seiner ältesten Schwester u. ihrem Gatten, dem Universitätsprofessor Hamann, ein Studium der Rechtswissenschaften in München auf, wechselte jedoch, angeregt durch Vorlesungen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in der Philosophie u. bei Friedrich Thiersch in der Philologie, bald schon in die Germanistik u. in die Geschichtswissenschaft. Seit der Studienzeit war R. mit August von Platen bekannt. Kontakte zu Friedrich Rückert, die Hunziker erwähnt, lassen sich nicht nachweisen. R.’ polit. Gedichte erschienen seit 1829 in Cottas »Morgenblatt für die gebildeten Stände«. Wegen polit. Umtriebe am 26.1.1833 aus München ausgewiesen – R. hatte u. a. ein Spottgedicht auf König Ludwig I. verfasst – u. wegen des Verdachts der Teilnahme am Frankfurter April-Putsch polizeilich gesucht, siedelte R. in die Schweiz über. Im Juni 1833 trat er als Deutschlehrer in das Fellenberg’sche Erziehungsinstitut in Hofwyl ein, aus dem er aber nach Streitigkeiten mit seinem Vorgesetzten bald schon wieder ausschied. 1834 u. 1835 unterrichtete er in Bern – dort veröffentlichte er die Schulanthologie Die Lieder der Jugend –, von Nov. 1835 bis März 1836 erteilte er Deutschunterricht am Gymnasium zu Biel. Im März 1836 folgte er nach Befürwortung von Wilhelm Wackernagel Abraham Fröhlich im Amt des Hauptlehrers der dt. Sprache u. Literatur an der Kantonsschule zu Aarau. Versuche, in die bayer. Heimat zurückzukehren, scheiterten. Ab 1860 gab er die Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, »Ar-

Rochholz

govia«, heraus, von 1871–1887 in alleiniger Verantwortung. Obwohl er im April 1866 in den Ruhestand getreten war, übernahm R. 1870 die Leitung der kantonalen Altertumssammlung in Aarau. Die Gründung des Deutschen Reiches begrüßte er enthusiastisch. Eine Berufung an das Germanische Museum in Nürnberg lehnte er in den 1870er Jahren aus Altersgründen ab. Wissenschaftlich machte sich R. v. a. um die Erforschung dt. Sage u. Sitte in der Schweiz u. insbes. im Aargau verdient, deren Ergebnisse er in die Didaktik des Deutschunterrichts einzubringen suchte. 1884 verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Universität Bern die Doktorwürde. Die Poesie begleitete bis in seine letzten Lebensjahre seine volkskundl. Forschungen. Noch 1890–1892 publizierte er im »Kladderadatsch« polit. u. satir. Gedichte. Zu seinem 80. Geburtstag erschien 1899 die Anthologie Reichstreu – Denkfrei. Gedichte zu Schutz u. Trutz aus der Schweiz (Lpz.). Weitere Werke: Eidgenöss. Lieder-Chronik. Slg. der aeltesten u. werthvollsten Schlacht-, Bundes- u. Parteilieder vom Erlöschen der Zäringer bis zur Reformation. Bern 1835. 21842. – Der neue Freidank. Gesch. der dt. Lit. in Poesie u. Prosa. Aarau 1838. – Tragemunt. Neue Kinder-Gedichte in Räthselketten, Räthselsprüchen, Schwänken, Märchen, Erzählungen u. Lieder. Esslingen 1850. – Dt. Arbeits-Entwürfe zur Bildung des Denk- u. Sprachvermögens auf höheren Lehranstalten. Mannh. 1853. – Schweizersagen aus dem Aargau. 2 Bde., Aarau 1856. Nachdr. Zürich 31989. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94. – Alemann. Kinderlied u. Kinderspiel. Lpz. 1857. Nachdr. Genf 1979. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94. – Naturmythen. Neue Schweizersagen. Lpz. 1862. – Briefe über die dt. Rechtschreibung. Gerichtet an eine dt. Frau. Aarau 1864. – Der dt. Aufsatz. Wien 1866. – Dt. Glaube u. Brauch im Spiegel der heidn. Vorzeit. 2 Bde., Bln. 1867. – Drei Gaugöttinnen, Walburg, Verena u. Gertrud, als dt. Kirchenheilige. Lpz. 1870. Nachdr. u. d. T. Die Christianisierung der heidn. Bräuche u. Gottheiten. Die german. Ursprünge der dt. Kirchenheiligen u. Heiligenfeste v. Walburg, Verena u. Gertrud. Lpz. 2007. – Das Lebkuchenhaus. Zur Gesch. der Festbrode. In: Ztschr. für dt. Kulturgesch. N. F. 1 (1872), S. 161–181. – Liederfibel. Bildungsstufen der Kindheit in einem vollst. Chore dt. Dichter. Stgt. 1872. Lpz. 31875. – Die Schweizerlegende vom Bruder Klaus v. Flüe. Aarau 1874. – Aargauer

Rochlitz Weisthümer. Aarau 1876. – Dt. Volks- u. Heldenbücher für die Jugend. Lpz. 1876. Stgt./Lpz. 41883. – Tell u. Geßler in Sage u. Gesch. Nach urkundl. Quellen. Heilbr. 1877. – Die Aargauer Geßler in Urkunden v. 1250 bis 1513. Heilbr. 1877. – Wanderlegenden aus der oberdt. Pestzeit v. 1348 bis 1350. Aarau 1887. Literatur: Jakob Hunziker. E. L. R. Aarau 1893. Beilage zum Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1892/93. – Edward Schröder: E. L. R. In: ADB. – Anna Stüssi: E. L. R. In: DDL 3. Ausg. 13 (1991), Sp. 106–108. Ralf Georg Czapla

Rochlitz, (Johann) Friedrich, * 12.2.1769 Leipzig, † 16.12.1842 Leipzig. – Erzähler, Dramatiker, Komponist, Musikschriftsteller.

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den Ständen oder innerhalb des Bürgertums, dort hauptsächlich aus dem Kontrast zwischen Liebe u. Geld erwachsend, während Lebensbilder aus den unteren Schichten deren Bescheidenheit preisen (Mieze, 1817. In: Auswahl des Besten aus Friedrich Rochlitz’ sämtlichen Schriften. 6 Bde., Züllichau 1821/22). Die kürzeren Erzählungen werden von R. zumeist als »Skizzen« deklariert. Zu seinen längeren u. bes. charakterist. Arbeiten zählt der Roman Viktors Reise (1803. In: Charaktere interessanter Menschen, in moralischen Erzählungen. 4 Bde., Züllichau 1799–1803), der in einer ersten Fassung u. d. T. Karls Aufenthalt im Norden bereits 1797 erschienen war u. in der Nachfolge von Jakob Michael Reinhold Lenz eine weitere Variation der Hofmeister-Tragödien bietet. Bemerkenswert sind außerdem der Versuch zum psycholog. Verständnis Geisteskranker (Der Besuch im Irrenhause. 1804. In: Kleine Romane und Erzählungen. 3 Bde., Züllichau 1807), das zu Wackenroders Joseph Berglinger-Erzählung in Beziehung zu setzende Fragment Aus dem Leben eines Tonkünstlers (1802) sowie eine Reihe biografischer Darstellungen (u. a. Joachim von Sandrart, 1815. In: Neue Erzählungen. 2 Bde., Züllichau 1816).

R., Sohn eines Schneiders, erhielt seine erste musikal. Bildung an der heimatl. Thomasschule. An der Universität Leipzig studierte er Theologie, er entschied sich jedoch nach kurzer Hauslehrertätigkeit für den Beruf des freien Schriftstellers. 1798–1818 gab er die von ihm begründete »Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung« heraus, veröffentlichte Erzählungen u. hatte auch als Lustspieldichter Erfolg. Es ist die rechte nicht wurde 1800 unter Goethes Regie in Weimar aufgeWeitere Werke: Lustspiele für Privattheater. führt. Fortan blieb R. mit Goethe in Verbin- Lpz. 1795. – Lustsp.e. Züllichau 1803. – Parisade u. dung (Goethes Briefwechsel mit Friedrich Rochlitz. Brahman. Züllichau 1804 (D.). – Glycine. 2 Bde., Hg. Woldemar v. Biedermann. Lpz. 1887), Züllichau 1805 (R.). – Für Freunde der Tonkunst. 4 seiner Fürsprache verdankte er auch den Titel Bde., Lpz. 1830–32. Literatur: W. v. Biedermann: R. In: ADB. – eines Weimarischen Hofrats (1809). Adolf Stern: F. R. In: Ders.: Beiträge zur LiteraKorrespondenten R.’ waren neben Goethe u. a. Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Adam Mül- turgesch. [...]. Lpz. 1893, S. 175–236. – Hans Ehinger: F. R. Lpz. 1929. – Paul Wimmer: F. R. In: ler, Caroline Pichler, Schiller, Tieck, Carl Jb. des Wiener Goethe-Vereins 76 (1972), S. 86–104. Maria von Weber u. Wieland. Mit Wieland, – Patrick Kast: Die Musikanschauung F. R.’ – Basis Schiller u. Seume gab er ein »Journal für für Felix Mendelssohn Bartholdys Erfolge in Leipdeutsche Frauen von deutschen Frauen ge- zig. In: Mendelssohn-Studien 12 (2001), schrieben« (Lpz. 1805/06) heraus, er war au- S. 187–205. Gerhard Schulz ßerdem Mitarbeiter verschiedener literar. Zeitschriften. Als Musikschriftsteller in Rochow, Friedrich Eberhard von, * 11.10. Leipzig förderte er das Gewandhaus als mu1734 Berlin, † 16.5.1805 Reckahn bei sikal. Zentrum u. setzte er sich erfolgreich für Brandenburg. – Verfasser pädagogischer die Berufung Mendelssohn-Bartholdys als Schriften, Volksaufklärer u. Begründer Gewandhauskapellmeister ein. der ersten philanthropischen MusterSein literar. Werk geht über bürgerl. Unschule. terhaltungskunst nicht hinaus. Unter den Konflikten seiner Dramen wie Erzählungen R. stammte aus einer der ältesten, wohlhaüberwiegen Liebes- u. Eheprobleme zwischen bensten u. angesehensten Adelsfamilien der

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Mark Brandenburg. Vater u. Großvater R.s standen als Minister in preuß. Diensten. R. war das zehnte von 14 Kindern. Das Erwachsenenalter erreichten neben ihm aber nur zwei Schwestern. Seine Bildung erhielt R. ab 1738 durch insg. elf Hofmeister, er besuchte ab 1750 die Brandenburger Ritterakademie u. trat zum Jahreswechsel 1751/52 in die preuß. Armee ein. Im Frühjahr 1754 wurde er als Kornet in die Elitetruppe Eskadron Garde du Corps aufgenommen. Nach anfängl. Auszeichnungen im Siebenjährigen Krieg endete R.s Offizierskarriere im Sommer 1757 abrupt durch eine im selbstverschuldeten Duell zugezogene Verletzung. Während seiner Rekonvaleszenz soll der einstige Draufgänger eine Lebenskrise durchlebt haben. Eine ganz neue Lebensplanung wurde notwendig. Zunächst brachte R. sich genug Englisch bei, um den ersten Gesang von John Miltons Paradise lost (Erstausg. 1667) zu übersetzen. Am 4.1.1759 heiratete er seine Cousine zweiten Grades Christiane Louise von Bose, die 1746 als Waisenkind in die Familie R. nach Reckahn gekommen war. Wenig später beendete R. Silvius oder Versuch eines Jagdgedichts in zehn Gesängen (Reckahn, den 20.1.1759), ein Jahr später schrieb er eine ebenfalls die Jagd betreffende Hymne. Diese u. andere Dichtungen der frühen Jahre blieben zunächst unveröffentlicht. Durch seine Gattin u. ihren Bruder Friedrich Carl von Bose lernte R. den Leipziger Professor Christian Fürchtegott Gellert, den zu dieser Zeit bedeutendsten dt. Schriftsteller, kennen. Die erste Begegnung erfolgte nicht 1757, wie sich R. fälschlich erinnert, sondern 1760, nachdem man vorher ein gutes Jahr miteinander korrespondiert hatte. Gellert beeinflusste u. a. durch zahlreiche Lektüreempfehlungen R.s moralisch-aufgeklärte Gesinnung u. machte ihn schon früh mit den pädagogisch-philanthrop. Ideen Johann Bernhard Basedows bekannt. Nach dem Tod der geliebten Mutter im Sommer 1760 überschrieb der mittlerweile 70-jährige Vater dem Sohn die Güter. 1762 kaufte R. zudem eine Majorpräbende am Domstift Halberstadt. In den folgenden Jahrzehnten führte das Ehepaar ein Leben mit drei Wohnsitzen: Im Winter im Stadt-

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haus in der Kleinstadt Brandenburg bzw. ab 1798 im Aufklärungszentrum Berlin, die übrige Zeit auf Reckahn, u. bis zu 17 Wochen im Jahr wirkte R. als Domherr in der alten Kulturstadt Halberstadt. Parallel dazu erfolgten regelmäßig Reisen in weitere Zentren der Aufklärung, etwa nach Dessau u. Wörlitz zur Familie u. zum befreundeten Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, mit dem R. die Leidenschaft für die Parforcejagd ebenso wie die Sorge für die Wohlfahrt der Untertanen sowie Bildung u. Erziehung teilte. Diese erstaunl. Mobilität im Kutschenzeitalter führte das Ehepaar R. auch immer wieder nach Leipzig zu Gellert u. zur Messe, auch zur Verwandtschaft nach Weißenfels u. in Kurbäder, nach Bad Lauchstädt oder Bad Pyrmont sowie Bad Doberan. Auch führten die Rochows selbst ein offenes Haus mit zahlreichen Gästen. Das handschriftl. Gästebuch der R.’schen Musterschule in Reckahn verzeichnet über 1200 Namen, darunter die wichtigsten Persönlichkeiten der Berliner Aufklärung, alle führenden Philanthropen u. interessierte Besucher aus dem gesamten dt. Sprachraum u. mehreren europ. Staaten. R. setzte sich mit dem Gedankengut der gemeinnützigen ökonom. Aufklärung nicht nur theoretisch auseinander, er experimentierte auf seinen Ländereien auch praktisch damit. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte er Gesundheit u. Lebensstandard seiner Bauern u. Untergebenen zu verbessern, er befreite sie von Gebühren, verwandelte insbes. Gemeindewiesen in einzufriedendes Eigentum, um nach wenigen Jahren sattes Gras für das Vieh zu erhalten. Anonym verfasste R. im Auftrag des preuß. Königs Friedrich II. über diese landwirtschaftl. Erfolge das Schreiben eines Landwirts an die Bauren wegen Aufhebung der Gemeinheiten (Bln. 1769). Gemeinsam mit seiner Ehefrau richtete er auch eine Armenkasse ein, gab den zu seinen Gütern gehörenden mittellosen Soldatenfrauen Arbeit u. bezahlte einen Arzt für seine Untergebenen. Aberglaube u. mangelnde Bildung aber verhinderten zunächst die erfolgreiche Einführung vernünftiger Reformen. R. berichtete im Nachhinein in seiner Geschichte meiner Schulen (Schleswig 1795) über

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den Beginn seines umfassenden Schulreformwerks »theatralisch« als Geistesblitz eines Nachmittags. Tatsächlich aber dürfte der Gedanke einer Schulreform auf den R.’schen Gütern erst allmählich gereift sein. Wichtig waren hier R.s Tätigkeit als Domherr in Halberstadt sowie die Diskussionen mit Gellert u. mit dem ihm gleichgesinnten Fürsten von Anhalt-Dessau sowie schließlich auch mit Basedow. R. publizierte 1772, nun erstmals unter eigenem Namen, seinen Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute (Bln. 1772), eine method. Anleitung für Lehrer, Jungen u. Mädchen mit Grundkenntnissen im Lesen, Schreiben u. Rechnen durch Fragen zum Gebrauch ihres Verstandes zu führen. Nach dem Tod des Reckahner Dorflehrers stellte R. seinen ehemaligen Sekretär, den Halberstädter Domschüler Heinrich Julius Bruns, mit 180 (statt der bis dahin übl. 40) Taler Jahresgehalt ein. R. übte mit Bruns im wechselnden Rollenspiel über Wochen die Stoffvermittlung, schrieb kurzerhand ein Lesebuch für die Bauernkinder (Erstfassung im Selbstdruck als Bauernfreund, dann erweitert u. d. T. Der Kinderfreund. 2 Tle., Bln. 1776–79), ließ ein neues Schulhaus errichten u. eröffnete am 1.1.1773 die erste philanthrop. Reformschule, in der Schulgeldfreiheit herrschte u. die Kinder zunächst Plattdeutsch sprechen durften, um erst allmählich die Hochsprache zu erlernen. Nach u. nach schaffte R. neben Büchern auch weiteres Anschauungsmaterial für den auf prakt. Lebensklugheit u. das ländl. Leben ausgerichteten Unterricht an. Unter den bereits genannten interessierten Besuchern aus ganz Europa befanden sich zahlreiche Praktikanten, die sich über Wochen u. Monate die neue R.’sche Lehrart anzueignen suchten. R. kämpfte erfolgreich dafür, dass er auf seinen Reformschulen in Reckahn, Krahne u. Göttin gut ausgebildete Dorflehrer mit Ausnahmegenehmigung aus dem Lehrerseminar Halberstadt einstellen durfte u. dass diese vom preuß. Staat überdurchschnittlich hohe Gehälter bezogen, sodass sie keiner Nebentätigkeit nachgehen mussten. R. setzte sich maßgeblich für die Gründung eines Lehrerseminars am Dom in Halberstadt ein u. animierte den Fürsten von Anhalt-Dessau u.

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dessen Schwager Fürst von der Lippe-Detmold sowie seinen Neffen, den clevischen Regierungspräsidenten Eberhard von der Reck, jeweils zu solchen Einrichtungen. Auch unterstützte R. durch bedeutende Geld- u. Sachspenden sowie häufige Besuche das 1774 gegründete Dessauer Philanthropin, wohin er auch auf seine Kosten mittellose Kinder zur Erziehung u. Lehrerbildung schickte. Alle diese Initiativen wurden von R.s Ehefrau aktiv unterstützt, die u. a. für Mädchen der R.’schen Güter eine Näh- u. Hauswirtschaftsschule gründete. Das Ehepaar R. verkehrte mit hochrangigen preuß. Ministern – allen voran Karl Abraham Frhr. von Zedlitz – u. mit hervorragenden Vertretern der Aufklärungsgesellschaft. Das Versteigerungsverzeichnis von R.s umfangreicher Bibliothek enthält zentrale Schriften der pädagogischen, literar., polit. u. philosoph. Aufklärung. Diese wurden durch die wichtigsten Schriften zur Volksaufklärung komplettiert. R. war Mitgl. verschiedener der Aufklärung verpflichteter Gesellschaften: der Gesellschaft praktischer Erzieher, der Literarischen Gesellschaft zu Halberstadt, der Naturforschenden Freunde Berlin, auswärtiges Mitgl. der Schwedischen Gesellschaft der Erzieher zu Stockholm, der Königlich Südpreußischen ökonomischen Gesellschaft u. Ehrenmitgl. der Herzoglich Mecklenburgischen ökonomischen Gesellschaft; schließlich war R. Gründungsmitgl. u. erster Vorsitzender der Märkisch-ökonomischen Gesellschaft Potsdam. Ein langjähriger Freund u. Weggenosse würdigte R. u. a. als Meister der Lehrkunst mit wahrhaft philosophischem Geist u. Gefühl für Pflicht, mit liebenswürdiger Bescheidenheit u. einem die Wirklichkeit treffenden Sprachvermögen (Zerrenner 1805/ 2005). Den größten u. nachhaltigsten Erfolg hatte R. mit seinem in zwei Teilen 1776 u. 1779 erschienenen Kinderfreund – Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Bereits fünf Jahre nach der ersten Auflage waren 40.000 vom Autor autorisierte Exemplare gedruckt worden. Über fast 100 Jahre fanden vielfältige Umarbeitungen u. Nachdrucke im Unterricht Verwendung. Das Lesebuch setzte sich sowohl in evang. wie in kath. Regionen durch u.

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hatte grenzüberschreitende Wirkung auf das europ. Bildungswesen. Bekannt sind sieben Übersetzungen ins Französische, drei Übersetzungen ins Niederländische, vier ins Dänische u. zwei Übersetzungen in die poln. Sprache. Neuere Forschungen gehen von einer Gesamtauflage von »einigen Millionen« (Freyer 1989) bis in die 1860er Jahre aus. Damit ist R.s Kinderfreund bis heute ein Bestseller der Schulgeschichte geblieben. Weiterhin wurde die R.’sche Pädagogik über Carl Friedrich Riemanns Beschreibung der Reckahnschen Schule rezipiert. Der Autor hatte bereits 1780 über ein halbes Jahr Theorie u. Schulwirklichkeit der Musterschule in Reckahn studiert. Die vier Auflagen u. mehrere Raubdrucke fanden, auch durch Rezensionen u. Zeitschriftenaufsätze, europaweite Verbreitung bis hin nach Ungarn u. Schweden. Die R.’sche Pädagogik wurde von den »Klassikern des pädagogischen Alltags« (Tenorth) wie Friedrich Adolf Diesterweg, Bernhard Christoph Ludwig Natorp oder Johann Friedrich Wilberg weiter verbreitet. Zusätzlich war Wilberg, da er in der Reckahner Musterschule ausgebildet worden war, einer der wichtigsten originären Zeugen von R.s Pädagogik im 19. Jh. Die gen. »Schulmänner« vermittelten als Lehrerbildner R.s Pädagogik in die Schullehrerkonferenzgesellschaften u. späteren Lehrervereine des 19. Jh. In dieser Traditionslinie wurde die Erinnerung an R. durch eine vierbändige Ausgabe sämtlicher pädagog. Schriften (Jonas u. Wienecke. Bln. 1907–10) u. die wiss. Erforschung von R.s Leben u. Werk (Schmitt 2005) fortgeführt. Erwähnenswert bleibt schließlich die Aufnahme des bis heute in Reckahn versammelten originären Gesamtensembles von Herrenhaus (1729), Gutspark (ca. 1730), Barockkirche (1741) u. Schulhaus (1773) sowie der dort befindl. Museen, Schulmuseum u. Rochow-Museum, in das »Blaubuch« der Bundesregierung (Raabe 32006). Das damit verbundene Prädikat eines »kulturellen Gedächtnisort[s] mit besonderer nationaler Bedeutung« wurde aufgrund des auch im europ. Maßstab bahnbrechenden Reformwerk R.s verliehen.

Rochow Ausgaben: F. E. v. R.s sämtl. pädagog. Schr.en. Hg. Fritz Jonas u. Friedrich Wienecke. 4 Bde., Bln. 1907–10. – Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen, Bd. 1: Faksimiledr. der Ausg. Brandenburg u. Leipzig 1776 mit einem Nachw. v. Hanno Schmitt. Potsdam 2001. Bd. 2: Faksimiledr. der Ausg. Brandenburg u. Leipzig 1779 mit einem Nachw. v. Frank Tosch. Potsdam 2006 (erhältlich im Rochow-Museum). Literatur: Bibliografie: Theodor Schäfer: F. E. v. R. In: Monatsschrift für Innere Mission 26 (1906), S. 249–264. – Weitere Titel: Heinrich Gottlieb Zerrenner: Dem Andenken des Herrn Domkapitular’s F. E. v. R., des edeln u. unvergesslichen Schul- u. Kinderfreunds. Bln. u. Stettin 1805. Neudr. in: Wiederentdeckte Kostbarkeiten. Der Reckahner Salon im Rochowjahr. Hg. Hanno Schmitt u. Silke Siebrecht. Rochow-Museum Reckahn 2005, S. 15–28. – Michael Freyer: R.s ›Kinderfreund‹. Wirkungsgesch. u. Bibliogr. Bad Heilbrunn/Obb. 1989. – Vernunft fürs Volk. F. E. v. R. 1734–1805 im Aufbruch Preußens [= Kat. zur Dauerausstellung im Rochow-Museum]. Hg. H. Schmitt u. Frank Tosch. Bln. 2001. – Christine Mayer: F. E. v. R.’s Education of the Children in Rural Communities and its Impact on Urban Educational Reforms in the Eighteenth Century. In: Paedagogica Historica 39 (2003), H. 1/2, S. 19–35. – Annegret Völpel: R. In: NDB. – H. Schmitt: F. E. v. R. (1734–1805). Spuren u. Deutungen in zwei Jahrhunderten. In: Jb. für Histor. Bildungsforsch. 11 (2005), S. 351–381. – Blaubuch: Kulturelle Leuchttürme in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhlt u. Thüringen. Mit einem Anh.: Kulturelle Gedächtnisorte. Auf Veranlassung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur u. Medien bearb. v. Manfred Ackermann. Hg. Paul Raabe. Bln. 2006. – H. Schmitt: Volksaufklärung an der R.schen Musterschule in Reckahn. In: Volksaufklärung. Eine prakt. Reformbewegung des 18. u. 19. Jh. Hg. Holger Böning, H. Schmitt u. Reinhart Siegert. Bremen 2007, S. 163–178. – Anke LindemannStark: Waise, Gutsherrin, Gattin, Schwester u. Freundin. Biographisches zu Christiane Louise v. Rochow geb. v. Bose. In: Anmut u. Klugheit. Christiane Louise v. Rochow starb vor 200 Jahren. Begleitbuch zur Ausstellung im Rochow-Museum Reckahn vom 28.9.-14.12.2008. Hg. H. Schmitt, A. Lindemann-Stark u. S. Siebrecht unter Mitarbeit v. Johanna Goldbeck. Bln. 2008. – Homepage: www.rochow-museum.de Anke Lindemann-Stark / Hanno Schmitt

Rochowanski

Rochowanski, Leopold Wolfgang, * 3.8. 1885 Zuckmantel/Schlesien (heute: Zlaté Hory/Tschechien), † 13.9.1961 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Librettist, Kunsthistoriker, Verleger.

688 trachtungen über die Kunst des Tanzens. Zürich/ Lpz./Wien 1923. – Psychopath. Künstler. Lpz./ Wien 1923. – Columbus in der Slovakei. Olten [1935]. – Rändlaleut. Medan 1940. U. d. T. Die unendl. Straße. Wien 1946 (E.). – Einladung in die Wachau. Wien 1956. Literatur: Oswald Oberhuber u. Peter Weibel

Der Sohn eines Notars u. Chefredakteurs des (Hg.): Österr. Avantgarde 1900–38 [...]. Kat. zur »Wochenblattes aus Zuckmantel« übersie- Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan. Wien delte nach der Matura im dt. Staatsgymnasi- 1976, S. 146 f. – Ernst Fischer u. Wilhelm Haefs (Hg.): Hirnwelten funkeln. Lit. des Expressionisum Troppau nach Wien u. studierte dort mus in Wien. Salzb. 1988, S. 272–278, 393–395. – Philosophie u. Jura. 1912 gab er die Antho- Peter Bogner: ›Ewiger Avantgardist‹. L. W. R. u. die logie Hämetgsang (Freudenthal), eine Samm- Agathon-Galerie. In: ›Displaced‹. Paul Celan in lung mährischer u. schles. Mundartdichtung, Wien 1947–48. Hg. Peter Goßens u. a. Ffm. 2001, heraus; ab 1913 war er als Redakteur des S. 80–88. Herbert Ohrlinger / Red. »Illustrierten Wiener Extrablattes«, ab 1917 in der »Central-Correspondenz Wien« als Rock, Zé do ! Zé do Rock Berichterstatter für ausländ. Zeitungen tätig. Zur Zeit der Räterepublik lebte R. in München, wo der Band expressionistischer Lyrik, Roda Roda, Alexander, eigentl.: A. (Sándor) Friedrich Rosenfeld, auch: Nikolaus Abend-Morgen-Mittag (Wien 1920), entstand. Suchy, * 13.4.1872 Drnowitz/Mähren, In den 1920er Jahren initiierte R. gemein† 20.8.1945 New York; Grabstätte: Wien, sam mit Ludwig Steinmetz u. Ludwig SanZentralfriedhof. – Humorist, Satiriker, dow die künstlerische PropagandavereiniErzähler, Dramatiker, Feuilletonist, Kagung mit angeschlossener Aktionsbühne, barettist. »Der Bücherkasten«, trat mit seiner Frau Katja Kandinski als Tänzer auf u. besuchte Noch 1872 übersiedelte R.s Familie nach 1924 mit Marinetti u. Theo von Doesburg die Puszta Zdenci in Slawonien, wo der Vater die Wiener Kunstgewerbeschule bei Franz Cizek. Stelle eines Gutsverwalters übernahm. Von Daneben schrieb er ab 1921 für die »Prager 1890 bis 1893 studierte R. in Wien Jura u. Presse«, leitete 1923/24 den Thyrsos Verlag u. wurde zum Berufsoffizier ausgebildet; 1907 organisierte 1928 eine Ausstellung moderner wurde ihm die Offizierscharge aberkannt. österr. Kunst in Prag. Nach dem »Anschluss« Feingeschliffene, witzige Humoresken u. Österreichs an Hitler-Deutschland war R. mit kleine Geschichten über das k. k. Militär Publikationsverbot belegt. 1946–1948 gab er (erstmals 1901 im »Simplicissimus«, daneben in dem von ihm gegründeten Agathon Verlag in »Danzer’s Armee-Zeitung« u. ab 1905 in die »Agathon-Almanache« (Wien) heraus, in der »Muskete«) erregten den Unmut seiner die er u. a. Teile des Nachlasses von Otfried Vorgesetzten, 1901 ging er daher als OberKrzyzanowski aufnahm. Nach 1945 gelang es leutnant in die Reserve. Mit seiner Schwester Mi (Maria) zunächst R. nicht mehr, an seine Tätigkeit als Verunter dem Namen »Roda & Roda« eng zumittler zwischen den Künsten, die er in den sammenarbeitend (Milan reitet durch die Nacht. 1920er Jahren innegehabt hatte, anzuknüp2 fen. Bis zu seinem Tod war der heute Ver- Bln. 1900. 1910; E.), gab er mit Die Sommergessene als Kritiker bei Tageszeitungen tätig. königin (Bln. 1904. Neuaufl. u. d. T. Von Bienen, Drohnen und Baronen. Wien/Lpz. 1918) u. SolWeitere Werke: Nackte Inspirationen. Wien/ daten (Bln. 1904. Neuaufl. u. d. T. Der Schnaps, Zürich 1918 (N.n). – Der Phantast. Wien/Lpz./Zürich 1918 (Ep.). – Der Formwille der Zeit in der der Rauchtabak und die verfluchte Liebe. Bln. angewandten Kunst. Wien 1922 (= Werkschau der 1908) erstmals gesammelte Kostproben seiKunstgewerbeschule Wien). – Der Brennende nes satir. Talents. Er nimmt die Borniertheit Mensch. Aus den Tagebüchern Anton Hanaks. u. Ignoranz v. a. des k. k. Offiziersstandes, Wien 1923. – Der tanzende Schwerpunkt. Be- aber auch der altösterr. Gesellschaft aufs

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Korn, deren Sprache R. bis in feine Nuancen Mchn. 1908. – Der Sanitätsrat. Bln. 1912 (D., zus. mit Gustav Meyrink). – Bubi. Bln. 1912. 21913 zu imitieren versteht. 1904 ging R. nach Berlin, wo er als Vor- (Lustsp., zus. mit dems.). – Fünfhundert Schwänke. tragskünstler in Kabaretts bald ebenso Erfol- Bln. 1913. Neuausg. Mchn. 1989. – Die Sklavin aus Rhodus. Bln. 1913. Urauff. Mchn. 1912 (zus. mit G. ge feierte wie in Wien. Ab 1906 führte er den Meyrink). – Die Uhr. Bln. 1914. 21918 (zus. mit in Roda Roda geänderten Familiennamen u. dems.). – Das Rosenland. Hbg. 1918. o. O. 1995 übersiedelte nach München. Mit der Urauf- (Ess.). – Serb. Tgb. Wien 1918. – So jung u. schon... führung der »Schnurre« Der Feldherrnhügel an Bln. 1918 (E.en). – Die Staatsgewalten. Bln. 1919 der »Neuen Wiener Bühne« (Dez. 1909; mit (Lustsp.). – Die verfolgte Unschuld. Bln. 1920 Carl Rößler), die den Kadavergehorsam im (E.en). – Irrfahrten eines Humoristen 1914–19. Heer sowie die Unfähigkeit auch höchster Mchn. 1920. – Schwabylon oder der sturmfreie Offiziere ins Lächerliche zieht, erreichte seine Junggeselle. Mchn. 1921 (E.). – Ein Frühling in Popularität einen Höhepunkt: In Österreich- Amerika. Mchn. 1924 (E.). – Die 7 Leidenschaften. Ungarn sofort verboten, feierte das Stück im Wien 1924 (E.en). – Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (Karl Julius Deutschen Reich Triumphe (Bln. 1911. Weber). Wien 1925. – R. R.s Roman. Mchn. 1925. – 12–16 1919). Krokodilstränen. Wien 1933. – Schenk ein, Roda! Im Ersten Weltkrieg war R. Kriegsbericht- Aus slav. Quellen. Wien 1934. – R. R. u. die 40 erstatter für die »Neue Freie Presse«. In sei- Schurken. Wien 1935 (= Werkausw. in 3 Bdn.). – nen Kriegsfeuilletons zeigte sich bald, wie Die Panduren. Wien 1935. Neuaufl. u. d. T. Wilde sich lustige Satire in menschenverachtenden Herren – wilde Liebe. Wien 1953. U. d. alten T. Zynismus verwandeln kann – eine Tendenz, Ffm./Bln. 1992 (R.). – Die rote Weste. Mchn. 1947. – die sich etwa im Titel der Kriegserzählungen Polo. Mchn. 1980. Ffm./Bln. 1990 (R., verfasst für Russenjagd (Wien/Lpz. 1917) fortsetzte, die Olympiade 1936 in Berlin). – Welthumor in fünf Bdn. Bln. 1910 (hg. zus. mit Theodor Etzel). – wenngleich auch R. die Sinnlosigkeit des Das Schmuckkästchen. Mchn. 1989. Ffm./Bln. 1992 Kriegs zusehends in den Vordergrund rückte. (E.en). – R. R. erzählt. Wien/Darmst. 1990. Reinb. Nach Kriegsende kehrte er nach München 1993. – Der Ritt auf dem Doppeladler. Hg. Reinzurück, 1926–1928 lebte er in Paris, dann hard Deutsch. Wien 1993. Reinb. 1995 (E.en). – wieder in Berlin, wo er mit Stefan Zweig, Rote Weste u. Monokel. Das neue R.-R.-Buch. Hg. Heinrich Mann u. Kästner ebenso zusam- Hans Traxler. Wien 1999. Mchn. 2001. – Gesch.n mentraf wie mit Intellektuellen aus den Bal- aus Slavonien. P. Hg. Vlado Obad. Mchn. 1999. – kanländern, deren Literatur er als Übersetzer Das Beste v. R. R. Die amüsantesten Gesch.n des förderte. Zunehmend nahm die Arbeit für großen Humoristen der k.u.k. Monarchie. Textaden Film eine bedeutende Stelle ein: Mit usw. Fritz Molden. Wien 2003. – Küss die Hand, Papa! Gesch.n. Ausgew. v. Peter Weck. Wien 2005. Fritz Grünbaum schrieb er 1931 das DrehLiteratur: Ilse Stiaßny-Baumgartner: R. R.s buch für Liebeskommando, 1932 wurde Der Tätigkeit im Kriegspressequartier. Diss. Wien Feldherrnhügel als Tonfilm uraufgeführt. 1933 1982. – Rotraut Hackermüller: Einen Handkuß der konnte noch Das große Roda Roda Buch (Bln. Gnädigsten! R. R. Bildbiogr. Wien/Mchn. 1986. – Neuausg. Reinb. 1990) erscheinen, das im Vlado Obad (Hg.): R. R. Zagreb 1996. – Oskar nun schon nostalg. Rückblick auf die »gute Pausch: Rebellakatzenthier u. Artilleriehund. Die alte Zeit« maßgeblich am »habsburgischen Affäre Adele Sandrocks mit A. R. 1900/01. Mit einer Mythos« mitschrieb. Das Dritte Reich for- Ed. sämtl. Korrespondenzen. Wien u. a. 2001. derte R.s »Unschädlichmachung« – er ging Johannes Sachslehner / Red. zunächst nach Graz, im März 1938 in die Schweiz, auf Aufforderung der Behörden Rode, August von (geadelt 1803), * 22.12. emigrierte er Ende 1940 in die USA, wo er 1751 Dessau, † 16.6.1837 Dessau. – Ver1945 an Leukämie starb. fasser pädagogischer u. kunsthistorischer Weitere Werke: Dana Petrowitsch. Wien 1904 (D.). – Dieser Schurk’, der Matkowitsch. Wien 1904 (Schwänke). – Eines Esels Kinnbacke. Mchn. 1906. Neuaufl u. d. T. Schwefel über Gomorrha. Bln. 1909 (Schwänke). – Slav. Seelen. Schwänke u. Schnurren.

Schriften; Übersetzer. Als zehntes Kind eines fürstl. Hof- u. Amtsrats schlug R. mit einem juristischen sowie allgemeinbildenden Studium in Halle u.

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Leipzig die typische hofnahe Laufbahn ein: Hans-Heino Ewers: A. R.s Kinderschauspiele im 1771–1781 war er als Nachfolger Ernst Kontext v. Empfindsamkeit u. Philanthropismus. Wolfgang Behrischs Erzieher des Grafen In: Jb. der Jean-Paul-Gesellsch. 32/33 (1998), Franz von Waldersee in Dessau, ab 1776 dort S. 221–244. – Ders.: Familie im Kinderschauspiel des ausgehenden 18. u. frühen 19. Jh. In: Familiauch Hofmeister. Seit 1787 für Leopold III. enszenen. Hg. ders. Weinheim 1999, S. 25–40. – Friedrich Franz von Anhalt-Dessau zuneh- Ingo Pfeifer: A. R. als Übersetzer antiker Autoren. mend diplomatisch tätig, avancierte er 1807 In: Mitt.en des Vereins für Anhaltische Landeszum Minister u. wurde 1810 zum Wirklichen kunde 10 (2001/02), S. 123–133. – Martin StolzenGeheimrat ernannt. Nachdem man ihm 1813 au: A. v. R. – eine der markantesten Persönlichprofrz. Verhalten vorgeworfen hatte, wurde keiten im ›Musterstaat‹. In: Zerbster Volksstimme, R. quiesziert u. konnte erst 1817 wieder für 1.12.2001, S. 4. – A. F. G. E. v. R. In: Jürgen Dietden neuen Regenten Leopold Friedrich als rich Kurt Kiefer: Bio-bibliogr. Hdb. der Akademie Gemeinnütziger Wiss.en zu Erfurt. Erfurt 2005, Bibliothekar u. Sekretär arbeiten. S. 476 f. Gudrun Schury / Red. R.s erste Bücher entstanden im Zusammenhang mit dem Dessauer Philanthropin u. sind geprägt vom Aufklärungsoptimismus Rodenberg, Julius, eigentl.: J. Levy, des Wörlitzer Reformkreises. Im Briefwechsel * 26.6.1831 Rodenberg/Hessen, † 11.7. einiger Kinder (Dessau/Lpz. 1776) u. in den 1914 Berlin; Grabstätte: Berlin-FriedKinderschauspielen (Lpz. 1776) bemühte sich R. richsfelde, Zentralfriedhof. – Herausgeum kindgerechte Sprache u. Thematik sowie ber, Feuilletonist, Kritiker, Lyriker, Roum pädagog. Anschaulichkeit für Erzieher. man- u. Reiseschriftsteller. Seine Übertragungen frz., engl., ital. u. lat. Texte wurden von der Hofmeistertätigkeit Der Sohn eines jüd. Kaufmanns besuchte das angeregt. Bis heute gültig blieb die Überset- Gymnasium in Rinteln, wo er schon vor der zung des Goldenen Esels [...] des Apulejus (Des- Reifeprüfung (1851) seine ersten Lyriksau 1783 u. ö.). Daneben konnte sich R. mit sammlungen, Geharnischte Sonette für Schleswigdetailgenauen, gefällig formulierten kunst- Holstein (1850 u. 1851), veröffentlichte. Nach histor. Beschreibungen einen Namen machen, dem Studium in Marburg, Heidelberg, Götbes. mit der Beschreibung des fürstlich Anhalt- tingen u. Berlin promovierte R. 1856 zum Dr. Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens iur. in Marburg. Es folgten Jahre des Reisens, zu Wörlitz (Dessau 1788). Dessen Gestalter zunächst in Deutschland, dann in Frankreich, ehrte er als seinen engsten Freund mit der England u. 1858 nach Wales u. Irland. 1852 Biografie Leben des Herrn Friedrich Wilhelm von knüpften sich mit der Freundschaft zu BoErdmannsdorff (Dessau 1801), in der er ihn denstedt Verbindungen zum Großteil der zum gefühlvollen Künstlerarchitekten voll nationalliberalen Intelligenz, die R.s späterer geistigen Adels stilisiert. Auch dem Freund Arbeit als Zeitschriftenherausgeber zugute Friedrich von Matthisson widmete er einen kamen. Aus diesen Jahren stammen seine hymn. Nachruf in dessen Literarischem Nachlaß ersten längeren Werke, vornehmlich Reiseberichte (Ein Herbst in Wales. Hann. 1858). R.s [...] (Bln. 1832). Aus heutiger Sicht ist R. v. a. durch seine umfangreiches literar. Schaffen erreichte seiarchitekturkrit. Ansätze u. als Vertreter des nen Höhepunkt in dem Gesellschaftsroman aufgeklärten Dessau-Wörlitzer Reformden- Die Grandidiers (3 Bde., Stgt. 1878), der ein sorgfältiges Bild der Berliner Hugenottenkokens interessant. lonie zur Zeit des Deutsch-Französischen Weitere Werke: Übersetzungen: Des Publius Ovidius Naso Verwandlungen. Bln. 1791. – Des Kriegs zeichnet. Bedeutender ist R.s publizist. Tätigkeit. Marcus Vitruvius Pollio Baukunst. Lpz. 1796. Nachdem er 1859 Berlin zu seinem festen Literatur: Ludwig Arndt: A. v. R. in diplomat. Diensten. In: Anhaltische Geschichtsbl. 10 (1934), Wohnsitz gemacht hatte, begann er als HerS. 38–81. – Ders.: A. v. R. Versuch einer biogr. ausgeber des kurzlebigen »Deutschen MagaSkizze. In: Sachsen u. Anhalt. Bd. 12, Magdeb. zins« (Bln. 1861/62) seine eigentl. Karriere. 1936, S. 186–213. – HKJL 1750–1800, passim. – Nach ebenso kurzer Tätigkeit als Herausge-

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ber der Modezeitschrift »Der Bazar« grün- Bln./Weimar 1969. – Peter Goldammer: Theodor dete R. 1867 zus. mit Ernst Dohm die Mo- Storm u. J. R. In: Schr.en der Theodor-Storm-Genatsschrift »Der Salon für Literatur, Kunst sellsch. 22 (1973), S. 32–54. – Roland Berbig u. und Gesellschaft«. 1874 folgte in Zusam- Walter Hettche: Die Tagebücher Paul Heyses u. J. R.s. Möglichkeiten ihrer Erschließung u. Dokumenarbeit mit Gustav zu Putlitz u. Berthold mentation. In: Ed. v. autobiogr. Schr.en u. ZeugAuerbach die Gründung der »Deutschen nissen zur Biogr. Hg. Jochen Golz. Tüb. 1995, Rundschau« im Verlag der Gebrüder Paetel. S. 105–118. – Die Rundschau-Debatte 1877. Paul In bewusster Anlehnung an die großen engl. Lindaus Ztschr. »Nord und Süd« u. J. R.s »Deutsche u. frz. Vorbilder, »Quarterly Review« u. Rundschau«. Dokumentation. Hg. R. Berbig. Bern »Revue des deux mondes«, gelang es R., für 1998. – W. Hettche: Die Gedichte v. J. R., Wilhelm die nationalliberal orientierte »Deutsche Jensen u. Paul Heyse zum 70. Geburtstag Wilhelm Rundschau« repräsentativen Charakter im Raabes. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. 1999, gründerzeitlichen Deutschland zu beanspru- S. 144–156. – Jirí Vesely´ : Marie v. Ebner-Eschenchen. Die bedeutendsten Historiker (Sybel, bach u. J. R. In: Deutschböhm. Lit. Hg. Ingeborg Fialová-Fürstová. Olmütz 2001, S. 85–90. – Sina Mommsen, Droysen), Naturwissenschaftler Farzin: R. In: NDB. John Osborne / Red. (du Bois-Reymond), Politiker (Bamberger, Lasker) u. Kritiker (Herman Grimm, Justi, Fiedler, Hanslick, Frenzel, Scherer, Erich Rodrian, Fred, * 14.7.1926 Berlin, † 25.5. Schmidt) gehörten zum Kreis der Mitarbeiter. 1985 Berlin/DDR. – Kinderbuchautor, Vor allem aber wurde die Erzählprosa u. na- Publizist, Verlagsleiter. mentlich die Novelle gepflegt; nach dem Vorabdruck des Heiligen (1879/80) galt Con- Nach Kriegsende arbeitete R, gelernter Rerad Ferdinand Meyer beinahe als Hausautor; produktionsfotograf, Sohn eines Buchdruauch Werke von Keller, Storm, Fontane, ckers, in der SBZ als FDJ- u. KulturfunktioHeyse, Ebner-Eschenbach erschienen erst- när, ab 1952 als Lektor, 1955 als Cheflektor u. mals hier; von den bedeutenden Erzählern 1975 bis 1985 als Verlagsleiter des staatl. der Gründerzeit fehlte nur Raabe. Erst in den Kinderbuchverlags der DDR. Für die Ent1890er Jahren, mit dem Durchbruch des Na- wicklung einer »parteinehmenden« sozialist. turalismus u. der frühen Moderne, gab die Kinderliteratur in der DDR übernahm R. be»Deutsche Rundschau«, deren verantwortl. reits früh eine zentrale Rolle; »ausgehend Redakteur R. lebenslang blieb, ihre führende von klaren [...] Klassenpositionen«, förderte Stelle im dt. kulturellen Leben an S. Fischers er als Verleger auch »Kinderbücher, die in ihrem Anspruch [...] Grenzen erweitern«, die »Freie Bühne« ab. Weitere Werke: Die neue Sündfluth. 4 Bde., vorsichtig gesellschaftl. Widersprüche oder Bln. 1865. – Lorbeer u. Palme. 2 Festspiele zur Er- ökolog. Fragen thematisieren, förderte Auinnerung an die glorreiche Heimkehr unserer toren wie Peter Hacks, Benno Pludra, Joachim Truppen aus Frankreich im Sommer 1871. Bln. Nowotny u. pflegte besonders das künstle1872. – Studienreisen in England. Lpz. 1872. – risch aufwendig illustrierte Buch. In seinen Ferien in England. Bln. 1876. – Bilder aus dem eigenen, häufig von Werner Klemke illusBerliner Leben. 3 Bde., Bln. 1885–88. Neuausg. v. trierten Bilderbuchgeschichten versuchte R., Gisela Lüttig. Bln./DDR 1987. – Tagebücher. Ausw. »Grundwerte sozialistischer Erziehung«, z.B. hg. v. Ernst Heilborn. Bln. 1919. – Briefe: Conrad Solidarität, mit märchenhaften u. idyllisieFerdinand Meyer u. J. R. Briefw. Hg. August renden Elementen zu verbinden: »Es wäre Langmesser. Bln. 1919. – Brandes u. die ›Dt. ein tödlicher Fehler, die Elefanten und HunRundschau‹. Unveröffentlichter Briefw. Hg. Klaus Bohnen. Kopenhagen/Mchn. 1980. – Briefe an de, die Hasen und die Träumelein-Bäumelein Theodor Fontane. Hg. Walter Hettche. In: Fontane- auszulassen [...] also die Fantasie« (aus: Rede. 1976; zitiert nach: Für den Tag geschrieben. Hg. Bl. 45 (1988), S. 20–44. Literatur: Heinrich Spiero: J. R. Bln. 1921. – Marianne Konzag. Bln./DDR 1985). In Das Wilmont Haacke: J. R. u. die ›Dt. Rundschau‹. Wolkenschaf (Bln./DDR 1958. Weinheim/BaHeidelb. 1950. – Theodor Fontane: Briefe an J. R. sel/Bln. 2004. 2008) hilft ein Mädchen einem Eine Dokumentation. Hg. Hans Heinrich Reuter. vom Himmel gefallenen Wolkenschaf wieder

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zurück; Die Schwalbenchristine (Bln./DDR 1962. Weinheim/Basel/Bln. 2003) sorgt durch ihre Hartnäckigkeit dafür, dass Schwalben vor der Sprengung einer Ruine umquartiert werden. In Onkel Walter, kauf ein Krokodil (Bln./ DDR 1982. Stgt. 1984) offenbart R. skurrilen, nonsensnahen Humor. Die publizistischen, literaturkrit. u. programmat. Beiträge R.s, der in der DDR mit zahlreichen Staats- u. Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, sammelt der Band Für den Tag geschrieben. Weitere Werke: Der Prinz mit den schwarzen Füßen. Bln./DDR 1979 (Gesch.n u. G.e.). – Ein Wolkentier u. nochmal vier: 5 Bilderbuchgesch.n. Bln./DDR 1983, Stgt. 1984. – Die hellgrüne Tür. Gesch.n u. Anekdoten. Rudolstadt 1986. Literatur: Horst Beseler: Wir sagen: Der Fred. In: Beiträge zur Kinder- u. Jugendlit., H. 41 (1976). – Realitätsgewinn, Phantasie u. Wortkunst. F. R. zum Gedenken. In: Börsenblatt für den Dt. Buchhandel (Lpz.), Nr. 26 (1985). Horst Heidtmann / Red.

Röckel, Susanne, auch: Anne Spielmann, * 14.6.1953 Darmstadt. – Prosaschriftstellerin u. Übersetzerin.

1999) hervor. In dem Roman Aus dem Spiel (Mchn. 2002) wandte sich R. anschließend wieder einem Protagonisten zu, der aus seiner bisherigen Existenz herausfällt. Der von der Kritik hoch gelobte Erzählungsband Vergessene Museen (Ffm. 2009) zeigt, wie schon die früheren Werke R.s, den Einfluss der angelsächsischen fantast. Literatur. Für ihr literar. Werk wurde R. mehrfach ausgezeichnet (u. a. Förderpreis des Freistaats Bayern für Literatur 1989, Mara-CassensPreis des Hamburger Literaturhauses 1998, Tukan-Preis der Stadt München 1999). Daneben wirkt sie auch als Übersetzerin von Belletristik (u. a. A. S. Byatt: Stilleben. Ffm./ Lpz. 2000) u. Sachbüchern (u. a. Alexander Waugh: Das Haus Wittgenstein. Ffm. 2009). Vor allem Texte der Unterhaltungsliteratur übersetzt R. unter dem Pseudonym Anne Spielmann. Besondere Verdienste erwarb sie sich um die in Deutschland spät entdeckte amerikan. Schriftstellerin Paula Fox (geb. 1923), deren Werk in R.s Übertragungen erschien. Weiteres Werk: Bilder wie Blumen. Alte Druckkunst im neuen China. Gött. 2009. Literatur: Thomas Diecks: Die Beine greifen

Nach dem Studium der Germanistik u. Ro- aus. Unerhörte Begebenheiten in S. R.s Käfig. In: manistik in Berlin war R. als Filmkritikerin u. FAZ, 31.10.1994. – Sibylle Cramer: Spinnweben Lektorin tätig. Für ihr literarisches Debüt, die am Frankfurter Kreuz. S. R.s Gothic Novel Erzählung Palladion (Salzb. 1993), bekam sie ›Eschenhain‹. In: NZZ, 5.7.1997. – Dorothea den Gerhard-Fritsch-Preis des Otto Müller Dieckmann: Seegurken u. nasser Teer. S. R.s Eindrücke aus Schanghai. In: NZZ, 5.8.1999. – EberVerlags. Die Jurorin Sigrid Löffler würdigte hard Falcke: Als Walter Staub sein Handy abschalin ihrem Nachwort zur Taschenbuchausgabe tete. S. R. erzählt in ihrem neuen Roman von einem (Ffm./Lpz. 1993) die Geschichte einer Uni- Mann, der aus der Spur gerät. In: Die Zeit, versitäts-Sekretärin, die der Spielsucht ver- 12.9.2002. – Angelika Overath: Zur Didaktik des fällt, sozial immer weiter absteigt u. schließ- Glücks. S. R.s Roman ›Aus dem Spiel‹. In: NZZ, lich zu Tode kommt, als zeitlose Darstellung 8.10.2002. – Anja Witzke: S. R. In: LGL. – Sabine einer entfremdeten Existenz. Auch in R.s Doering: Erschöpft von Unentschlossenheit. Alles weiteren Werken stehen oft materiell oder so schön schäbig hier: S. R.s Aussteigerromanze. psychisch prekäre Existenzen im Mittel- In: FAZ, 4.2.2003. – Kolja Mensing: Steckt ein Lied punkt. So wohnen die Figuren des Romans in allen Dingen. In ihrem bemerkenswerten Erzählungsband ›Vergessene Museen‹ entwirft S. R. Eschenhain (Mchn. 1997), der auf die Erzähleine elegante Poetik des Alltags. In: FAZ, bände Der Kimonofärber (Salzb. 1990) u. Der 17.1.2009. – Kristina Maidt-Zinke: Wenn der Riese Käfig (Mchn./Lpz. 1994) folgte u. ebenfalls Amortortok erwacht. Im Mausoleum der unheiml. tödlich endet, bezeichnenderweise in einer Nichtigkeiten: S. R.s Erzählband ›Vergessene Muehemaligen Nervenheilanstalt. Aus einem seen‹. In: SZ, 4.7.2009. Volker Hartmann Lehraufenthalt an der Universität Shanghai 1997–1998 ging der sich gängigen GattungsRoedl, Urban ! Adler, Bruno Klassifikationen entziehende Prosaband Chinesisches Alphabet. Ein Jahr in Schanghai (Mchn.

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Röggla, Kathrin, * 14.6.1971 Salzburg. – Autorin.

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Rundschau«) spielt mit Denotation u. Konnotation, mit Neologismen, Austriazismen, Berlinismen u. idiomat. Wendungen. R. steht somit in sprachspielerischer u. sprachkrit. Tradition, zumal der österr. Avantgarde; ebenso schließt sie an Großstadtliteratur u. Literatur der Arbeitswelt an, nicht jedoch an Popliteratur u. Fräuleinwunder. Verglichen mit Alfred Döblin, Elfriede Jelinek, Arno Schmidt u. Douglas Coupland, nennt sie selbst als Vorbild zum einen Hubert Fichte, zum anderen die Collageverfahren der elektron. Musik.

Auf erste Schreibversuche im Kriminalgenre, intensive Theaterarbeit u. Mitgliedschaft in der Salzburger Literaturwerkstatt ließ die gebürtige Österreicherin u. heutige Wahlberlinerin R. ab 1989 ein Studium der Germanistik u. Publizistik folgen, das sie »erfolgreich abbrach« (so die Homepage der Autorin). Vom Studienschwerpunkt Medienwissenschaft u. von Kontakten zur SlamSzene dürfte jedoch die multimediale Einbettung ihres Schreibens herrühren: So geWeitere Werke: Vollst., regelmäßig aktualihen auch zahlreiche Hörspiele, akust. Instal- siertes Verz. der zahlreichen Veröffentlichungen, lationen, Netzradiobeiträge u. Audiofeatures Termine u. Preise unter www.kathrin-roeggla.de. sowie Videoperformances u. Hypertexte auf Literatur: Christa Gürtler: K. R. In: KLG. – ›Die sie zurück; charakteristisch sind ferner Ad- Leute wollen nicht zuerzählt werden!‹ [K. R. im aptionen ein u. desselben Sujets in mehreren Interview mit Helmut Böttiger.] In: Der TagesGattungen u. Medien. R. trat auch bei Per- spiegel, 7.5.2001. – Wiebke Eden: K. R.: ›Sprache formance-Wettbewerben auf; ihren Lesungen ist Tanz‹. In: Dies.: ›Keine Angst vor großen Gefühlen‹. Die neuen Schriftstellerinnen. Bln. 2001, wird Erlebnischarakter zugesprochen. Seit Mitte der 1990er Jahre veröffentlicht S. 105–114. – Thomas Kraft: K. R. In: LGL. – AnsR. Prosa, seit der Jahrtausendwende schreibt gar Warner: Molekülspiele in der projektbasierten Polis. Zur Anthropologie der New Economy in der sie auch für die Bühne: über Alltag, Hoffurbanen Pop-Lit. des 21. Jh. In: Germanist. Mitt.en nungen u. verpasste Chancen der Jugend 63 (2006), S. 93–105. – Christian Kremer: Milieu u. zwischen 1980 u. 1990 – z.B. in niemand lacht Performativität. Dt. Gegenwartsprosa v. John v. rückwärts (Salzb./Wien 1995. Ffm. 2004) u. Düffel, Georg M. Oswald u. K. R. Marburg 2008. Abrauschen (Salzb. 1997 u. ö.) –, über die Kathrin Klohs spätkapitalist. Spaßgesellschaft der neuen Berliner Republik – z.B. in Irres Wetter (Salzb./ Wien 2000. Ffm. 2002. Hörbuch Freib. i. Br. Röhl, Klaus Rainer, * 1.12.1928 Trocken2001) – oder über die Anforderungen von hütte bei Danzig. – Publizist, Historiker, New Economy, Globalisierung u. Neolibera- Romancier. lismus in der Arbeitswelt – z.B. in wir schlafen Nach der Kindheit in Danzig – einer seiner nicht (Ffm. 2004. 2006. Hörbuch Bln. 2004. Mitschüler war Günter Grass – wurde R. noch Radiobearbeitung 2004, BR. Theaterbearbei- kurz vor Kriegsende als Soldat im besetzten tung 2004, Urauff. Düsseldorfer Schauspiel- Dänemark eingesetzt. Nach dem Krieg legte haus). Als New-York-Stipendiatin des Litera- er in Stade das Abitur ab. Hier begann auch turfonds wurde R. Zeitzeugin der Anschläge die Freundschaft mit dem Lyriker Peter vom 11. September; noch mit Sauerstoff- Rühmkorf. Seit 1949 lebte der Schriftstellermaske begann sie die Arbeit an ihrer tage- sohn u. Verlegerenkel in Hamburg als Amabuchartigen Reportage really ground zero (Ffm. teurschauspieler u. Regisseur, daneben stu2001. Radiobearbeitung 2001, BR). dierte er Deutsch u. Geschichte. 1955 grünAls Stimmenteppich, Montage u. Partitur dete er zus. mit Rühmkorf u. Werner Riegel lobt das Feuilleton R.s urbanen, beschleu- die Studentenzeitschrift »Studentenkurier«, nigten Ton. Pop u. Theorie, Szene- u. Ju- die noch im selben Jahr in »konkret« umbegendjargon werden in konsequenter Klein- nannt wurde u. zu deren regelmäßigen Beischreibung rhythmisch gegeneinander ge- trägern auch Arno Schmidt gehörte. Mit ihrer schnitten; die experimentierfreudige Mischung aus »Sex und Sozialismus« wurde »Wahrnehmungspartisanin« (»Frankfurter »konkret« zu einem der populärsten undog-

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matisch-marxist. Blätter der 1960er u. frühen triebe von 1932. In dieser Arbeit, Nähe zum 1970er Jahre mit einer Spitzenauflage von Gegner (Ffm./New York 1994, wiederveröf200.000 Exemplaren. 1958 lernte R. seine fentlicht als Die letzten Tage der Republik von spätere Frau Ulrike Meinhof kennen (Heirat Weimar. Mchn. 2008), zieht R. eine Linie vom 1961, zwei Kinder, Trennung 1968), die punktuellen Zweckbündnis beider Parteien 1959–1969 Mitarbeiterin u. 1961–1964 bei der Zerstörung der Weimarer Republik Chefredakteurin von »konkret« war u. die zum Hitler-Stalin-Pakt 1939. Ausführlich Zeitschrift stärker politisch akzentuierte. schildert R. seine gewandelten Ansichten in 1973 schied er im Streit um Mitbestimmung dem Pamphlet Linke Lebenslügen (Bln. 1994). u. Konzeption aus der Redaktion aus u. R.s Texte zeichnen sich dabei weniger durch gründete mit Jochen Steffen u. Günter Wall- eigenständige polit. Konzepte als durch raff die weniger erfolgreiche Zeitschrift »das massive, pointierte Polemik aus. Diese richtet da«. Mit seinen Erinnerungen Fünf Finger sind sich gegen die sozialen Bewegungen der keine Faust (Köln 1974) schrieb der »Sozialist, 1960er Jahre, die R. selbst mitgetragen hatte, Ästhet, Individualist« (Steffen) eines der le- wie gegen ein angebl. Klima der »political bendigsten u. informativsten Zeugnisse aus correctness«, das Politik u. Medien in der bundesdt. linken Szene von den 1950er Deutschland bis heute beherrsche u. in der bis in die 1970er Jahre, das auch wegen poli- Tradition kommunistischer wie Goebtisch heikler Interna aus der Arbeit der bels’scher Propaganda stehe. Diesem Thema »konkret«-Redaktion (urspr. Finanzierung gilt auch R.s satir. Deutsches Phrasenlexikon. der Zeitschrift aus der DDR u. Mitgliedschaft Lehrbuch der politischen Korrektheit für Anfänger R.s in der illegalen KPD 1956–1964) Aufse- und Fortgeschrittene (Bln. 1995). R. gehört seit 1995 dem nationalliberalen hen erregte. Es folgte der Schlüsselroman Die Genossin (Wien/Mchn./Zürich 1975) über Ul- Flügel der FDP an. Obgleich er selbst sich als rike Meinhof. Der Roman soll »durch Ver- Gegner jeder Form von Totalitarismus sieht, dichtung zeitgeschichtlicher Tatsachen und wird er von außen meist der polit. Rechten Tendenzen« (Röhl) die bundesdt. Wirklich- zugeordnet. Heute publiziert R. seine Aufkeit der Jahre 1945–1975 darstellen u. erzählt sätze regelmäßig in der Preußischen Allgeden Weg der Protagonistin vom polit. Idea- meinen Zeitung (teilweise in: Du bist lismus zum Anarchismus u. schließlich Ter- Deutschland. Satiren aus der europäischen Provinz. rorismus. Er lässt R.s Verbundenheit mit Mchn. 2007), die von der Landsmannschaft Meinhof erkennen u. fand v. a. aus polit. Ostpreußen im Bund der Vertriebenen herGründen große Beachtung. In den 1980er ausgegeben wird. Jahren veröffentlichte R. Bücher über die SoWeitere Werke: Aufstand der Amazonen: zial- u. Kulturgeschichte der Frauen u. über Gesch. einer Legende. Düsseld./Wien 1982. – Die Sexualität, darunter die krit. Darstellung der verteufelte Lust: Die Gesch. der Prüderie u. der westdt. Frauenbewegung, Lustobjekt: Ein klei- Unterdrückung der Frau. Hbg. 1983. – Dt. Narner Irrtum und seine fatalen Folgen (Wien/Mchn./ renspiegel. Hypochonder u. Schutzheilige. Bln. 1998. – Riesen u. Wurzelzwerge. Das Dilemma der Zürich 1980). dt. Linken. Bln. 1999. – Verbotene Trauer. Ende der In der Folge wandte sich R. weiter von dt. Tabus. Mchn. 2002. – Dt. Tabus. Mchn. 2004. seinen früheren Ansichten ab. Dies wurde Literatur: Bettina Röhl: So macht Kommunisoffenkundig, als er in der Folge des »Histomus Spaß. Ulrike Meinhof, K. R. R. u. die Akte rikerstreites« von 1986/87 die Partei Ernst Konkret. Hbg. 2006. Noltes nahm, der die Frage erörterte, ob die Matías Martínez / Stefan Höppner Politik des Nationalsozialismus nur als Reaktion auf die massive Gewalt des Stalinismus Roehler, Klaus, * 25.10.1929 Königsee/ verständlich sei u. dafür u. a. von Jürgen HaThüringen, † 9.2.2000 Darmstadt. – Erbermas massiv kritisiert wurde. In der Folge zähler, Essayist, Rundfunkautor. promovierte R. bei Nolte über die Zusammenarbeit von Nationalsozialisten u. Kom- R. kam 1947 nach Westdeutschland u. arbeimunisten im Streik der Berliner Verkehrsbe- tete nach dem Abitur 1949–1955 als Porzel-

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landreher. Von 1954 bis 1957 studierte er terar. Revue mit Beiträgen v. Friedrich Christian Philosophie u. Geschichte in Erlangen. 1955 Delius, Günter Grass, Peter Härtling, R. u. andewurde er Mitgl. der Gruppe 47. Ab 1957 lebte ren). Ausgabe: Wespen im Schnee. 99 Briefe u. ein R. als freier Schriftsteller u. Kritiker in Frankfurt/M., bis er 1965 Lektor des Luch- Tgb. Gisela Elsner – K. R. Hg. Franziska Güntherterhand Verlags wurde, zunächst in Berlin u. Herold, mit einem Vorw. v. Reinhard Baumgart. Bln. 2001 (Briefe 1954–87). seit 1974 in Darmstadt, wo er bis zu seinem Literatur: Christoph Buchwald: Genau mit Tode lebte. 1990 trat er in den Ruhestand. In Sätzen. Zum Tod v. K. R. In: Börsenblatt für den dt. Berlin war R. 1965 Lektor des Wahlkontors Buchhandel (2000), H. 15, S. 34. dt. Schriftsteller, das die SPD im BundesInken Steen / Christine Henschel wahlkampf unterstützte u. dem u. a. Günter Grass, Peter Härtling, Hans Werner Richter u. Roehricht, Karl Hermann, * 12.10.1928 Klaus Wagenbach angehörten. Leipzig. – Romanautor, Lyriker, DramaDie mit seiner damaligen Frau Gisela Els- tiker; Maler. ner, mit der er von 1955 bis 1963 zusammenlebte, geschriebenen 32 Kürzestge- R., Sohn eines literarisch interessierten u. schichten u. d. T. Triboll – Leben eines erstaunli- politisch engagierten Konditors u. einer Mechen Mannes (Olten 1956) zeigen den Einbruch tallarbeiterin, war nach der Lehre als Versides Absurden in die bürgerl. Ordnung. Cha- cherungskaufmann tätig. Nach Arbeitsdienst rakteristisch für die folgenden Erzählungen seit Februar 1945 u. amerikan. GefangenR.s sind die scharfe Beobachtung u. die sachl. schaft arbeitete er in verschiedenen Berufen – Wirklichkeitsbeschreibung in knapper, prä- Hilfsarbeiter, Tischler, Gebrauchswerber u. a. gnanter Ausdrucksweise. Kritisch entlarvt er –, ehe er 1951 mit dem Studium der Malerei die Repressivität der Gesellschaftsordnung an der Hochschule für Bildende Künste in der ersten Wohlstandsgeneration, die den Berlin-Charlottenburg bei Ernst Schumacher Einzelnen in den Konflikt zwischen Konfor- begann, dessen Meisterschüler er 1956 war. mismus u. einsamer Weltflucht zwingt. Die 1958 beendete er das Studium. Es begann kühle Distanz im sprachl. Ausdruck u. die eine deutsch-deutsche Odyssee. 1956 bis 1957 Tendenz zu Stilexperimenten in den Erzäh- studierte er an der Akademie der Schönen lungen des Bandes Ein Blick in die Zukunft, jetzt Künste Palermo. Gleichzeitig veröffentlichte gleich, im Oktober (Darmst. 1978) verstärken er erste Gedichte u. Kurzgeschichten in der die pessimist. Grundstimmung, sei es in der Studentenzeitschrift »Colloquium« (WestAuseinandersetzung mit dem Zweiten Welt- berlin). 1960 siedelte R., weil er Neigungen krieg, der Studentenbewegung oder in fikti- zum ästhet. Realismus in der DDR u. einen ausgeprägten Sinn für Arme u. Entrechtete, ven Situationen, die das Verhältnis von für die »kleinen Leute«, die auch seine Bilder Herrschaft u. Beherrschten spiegeln. Schreiu. Bücher bevölkerten, hatte, nach Ostberlin ben war für R. der Kampf um den genauen über, wohin er nach einem kurzen Aufenthalt Ausdruck, um das entscheidende Detail, auch in Leipzig zurückkehrte. Sein erster Roman, um die Wendung ins Absurde im richtigen Tage eines Schwärmers (1959), wurde bisher Moment. In den 1990er Jahren veröffentnicht publiziert. In den 1960er Jahren musste lichte er keine literar. Arbeiten mehr. sich R. verschiedener Verfolgungen, BelästiWeitere Werke: Die Würde der Nacht. Mchn. gungen u. Belastungen durch staatl. Stellen 1958 (E.en). – Ein angeschwärzter Mann u. andere erwehren; das führte ihn 1969 zum VerGesch.n. Ffm. 1966 (E.en). – Achtung Abgrund. stummen u. in eine psychiatr. Klinik: Ein Darmst. 1985 (E.). – Herausgeber: Gesch.n aus der Gesch. der Bundesrepublik Dtschld. 1949–79. Jahr lang sprach er nicht. In den 1970er JahDarmst. 1980. Ffm. 31989. – Das Autobuch. ren hatte R., der inzwischen in der Nähe Gesch.n u. Ansichten. Darmst. 1983. – Liebesge- Berlins im Bezirk Frankfurt/O. lebte, mit dichte. Darmst. 1983. 21987. – (zus. mit Rainer Veröffentlichungen, Ausstellungen u. AufNitsche) Das Wahlkontor dt. Schriftsteller in Berlin. Versuch einer Parteinahme. Bln. 1990 (politisch-li-

Roehricht

führungen Erfolge, die von Eingriffen staatl. Institutionen begleitet wurden. Seit Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte R. in rascher Folge Monologe, Gedichte, Romane u. Erzählungen, die bedeutende Schriftsteller wie Erwin u. Eva Strittmatter, Christa u. Gerhard Wolf – die mit R. befreundet waren – schätzten. Ein immer wieder anklingendes Thema war der »Hinterhaushochmut«, R.s Begriff für sein soziales Trauma, bis 1945 sozial nur wenige Bildungsmöglichkeiten gehabt zu haben. Das erfolgreiche Hörspiel Private Galerie (1972) wurde mit seiner autobiogr. Anlage zu einem ersten »Geheimtipp« in der Kunstlandschaft u. in mehreren Ländern Europas u. nach 1989 mehrfach vom MDR gesendet. Im Erzählband Jahrmarkt (Bln./DDR 1976) wird R.s autobiografisch geprägtes Thema weitergeführt: die Entwicklung eines Künstlers, der sich allen sozialen Bestimmungen zu entziehen versucht u. v.a. aus dem Erlebnis der Natur u. aus der Auseinandersetzung mit der Tradition – in der Malerei mit den Naiven, in der Literatur u. a. mit Thomas Mann, Peter Hille – seine Kunst entwickelt, der sich verfolgt fühlt u. verfolgt wurde. R.s Hauptwerk ist die autobiogr. Romantrilogie Vorstadtkindheit, Großstadtmittag u. Waldsommerjahre (Bln./DDR 1979. Darmst. 1981. Bln./DDR 1980, 1981). Dem Schicksal des Malers Waldemar Landmann ist R.s Leben fast unverschlüsselt unterlegt. Die Trilogie beschreibt Künstler-Odysseen in Mitteleuropa sowie das Schicksal einfacher Menschen, denen Politik im Wesentlichen fremd bleibt. R. orientiert sich in seiner scheinbar naiven, jedoch in Wirklichkeit übersteigert sezierenden Betrachtung von Welt u. Leben deutlich an den simplizian. Schriften des 17. u. den empfindsamen Briefromanen des 18. Jh. Die Hauptfiguren sind vorwiegend Leidende; die äußere Beschädigung der Figuren ist immer Attribut ihres inneren Bedrohtseins. R., der nie Zugeständnisse an die DDR-Kulturpolitik machte, verließ im Juli 1984 die DDR, Heimat suchend in der Bundesrepublik, in Tyrlaching im Chiemgau. Dabei unterließ er es, für Journalisten überraschend, sich über seine Vergangenheit in der DDR zu äußern. 1989 kam er im wiedervereinigten Deutschland an

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u. siedelte wieder nach Berlin über, wo er heute lebt. Lebensverläufe. Innenansichten aus der DDR (Bln. 1991) ist eines der dokumentarisch genauesten Bücher über die Gründe für die Wende: R. war nicht Freund u. nicht Feind der DDR; dass er ein eigenes Leben in Kunst u. Selbstbestimmung führte u. dabei ein von der Kunst Besessener war, machte ihn zu einem ständig bedrängten Menschen. Auch der Maler R. hat mit seinen interieurähnl. Landschaften, in die Menschen selbstverständlich aufgenommen wurden, in zahlreichen Ausstellungen große Erfolge verzeichnet u. seine Bilder finden sich u. a. in der Galerie Neue Meister (Dresden), dem Staatlichen Museum Schwerin, der Ostdeutschen Galerie Regensburg u. der MoritzburgGalerie (Halle/S.). R. wurde u. a. mit dem Förderpreis der Großen Berliner Kunstausstellung 1957, dem Kunstpreis des Bezirkes Frankfurt/O. 1974 u. dem Kunstpreis der DDR 1979 ausgezeichnet. R. hat nie Aufsehen erregt, seine Odyssee vollzog sich still u. unauffällig. Dabei hat er immer treue verständnisvolle Freunde gehabt. Die beharrliche Stille – sein Hauptthema u. seine Hauptsehnsucht –, die aus Realitäten abgeleitet wird, in Büchern u. Bildern immer als Utopie erscheint, wird erst entdeckt werden müssen u. ließe dann einen herausragenden Schriftsteller u. Maler erkennen, der sich selbst als »Moralist und Chronist« sieht. Weitere Werke: Meine Privatgalerie. Bln./DDR 1975 (Monologe). – Aus Weinlaub eine Krone. Bln./ DDR 1975 (L.). – Puddelruß. Bln. 1975 (Kinderbuch). – Feldblumen in Biedermeiervase. Bln. 1977 (E.en). – Weinstock u. Kletterrose. Bln. 1980 (L.). – Die unzufriedenen Wörter. Bln. 1980 (M.). – Die verlorenen Eltern. Bln. 1982 (R.). – Erziehung eines Diebes. Bln. 1983 (Gesch.n). Literatur: Eva Strittmatter: Korrespondenz mit K. H. R. In: NDL, H. 11 (1976). – K. H. R. im Gespräch. In: NDL, H. 9 (1978). – Ernst-Otto Luthardt: Von Feldblumen u. Mauerblümchen. Ebd. – Klaus Walther: Kindheitsbilder, Kindheitsgesch.n. In: NDL, H. 12 (1979). – Günther Rücker: Dieser Maler aus Leutzsch. In: K. H. R.: Meine Privatgalerie Bln./DDR 1980. – Kurt Böttcher u. Johannes Mittenzwei: Zwiegespräch. Deutschsprachige Schriftsteller als Maler u. Zeichner. Lpz. 1980, S. 349–351. – Rüdiger Bernhardt: ›Waldsommer-

Röling

697 jahre‹. In: WB, H. 7 (1983). – Ders.: Abenteuerl. Leben in den verschiedenen Welten. In: LDZ, 20.8.1991. – Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Autorenlexikon. Ffm. 1995, S. 507–516. – Christa u. Gerhard Wolf: Unsere Freunde, die Maler. Hg. Peter Böthig. Bln. 1995, S. 31–33, 93.

Hood. Solange es Unrecht gibt. Hbg. 1994. – Die Burgunderin. Bergisch Gladbach 2007. Winfred Kaminski / Sonja Schüller

Röling, Johann, * 23.9.1634 Lütjenburg/ Ostholstein,, † 25./26.8.1679 Königsberg. Rüdiger Bernhardt – Professor der Poetik; Dichter.

Röhrig, Tilman, * 28.3.1945 Hennweiler/ Hunsrück. – Schriftsteller. R. absolvierte in Frankfurt/M. eine Ausbildung an der Schauspielschule, war daraufhin an mehreren Bühnen engagiert u. ist seit 1973 als freischaffender Schriftsteller, FilmFunk- u. Fernsehautor tätig. Während R. in seinen Kinderbüchern Alltagserfahrungen seiner jüngsten Leserschaft aufgreift (Immer Ärger mit Tina. Würzb. 1999) oder Sachfragen mithilfe von altersgerechten Rahmenerzählungen erläutert (Feuer und Asche über Pompeji. Vom Ausbruch des Vesuv. Hbg. 2000), widmet er sich in seinen Jugendbüchern v. a. Problemen der individuellen Emanzipation von jungen Menschen in Außenseiterpositionen (z.B. Thom’s Bericht. Mülheim/Ruhr 1973. Frederik Faber. Ravensburg 1980). Eine breite Leserschaft erreicht R. mit seinen histor. Romanen. Darin erzählt er zum einen von bekannten Persönlichkeiten, die ihre Zeit u. Umwelt politisch nachhaltig geprägt haben – wie etwa Hannibal (Dank gebührt Hannibal. Seine Alpenüberquerung mit 60000 Männern und 37 Elefanten. Würzb. 1981), den Stauferkaiser Friedrich II. (Wie ein Lamm unter Löwen. Bergisch Gladbach 1998) oder die Familie der Medici (Wir sind das Salz von Florenz. Bergisch Gladbach 2002); zum anderen erzählt R. aber auch von weniger bekannten histor. Personen (Mathias Weber, genannt der Fetzer. Neunkirchen 1975. Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück. Hbg. 1999. Übergebt sie den Flammen. Würzb. 1988). Daneben sind Künstlerbiografien Gegenstand seiner Romane (Riemenschneider. Mchn. 2007. Caravaggios Geheimnis. Mchn. 2009). Weitere Werke: Langes Zwielicht. Mülheim/ Ruhr 1974. – Herr Simsalo zaubert nur am Samstag. Ravensburg 1978. – In dreihundert Jahren vielleicht. Würzb. 1983. – Stadtluft macht frei. Gesch.n v. Brule bis Brühl. Köln 1985. – Robin

R. besuchte das Gymnasium in Lübeck u. seit 1652 das Pädagogium in Stettin. Vermutlich schon seit dieser Zeit war er mit Daniel Georg Morhof befreundet. 1656 ging er zum Theologiestudium nach Rostock, wo er auch Poetikvorlesungen u. -übungen von Andreas Tscherning besuchte. 1660 bewarb er sich beim Großen Kurfürsten mit Erfolg um die seit dem Tod Simon Dachs vakante Professur der Poetik in Königsberg. Aus der frühen Zeit sind nur wenige Gedichte (u. a. Threnopatria [...]. Rostock 1659) bekannt. In Rostock zus. mit Morhof am 26.7.1660 zum Magister promoviert, ging R. noch im selben Jahr nach Königsberg, trat aber, vermutlich wegen des Widerstands der bei der Berufung übergangenen Fakultät, sein Amt erst im Frühjahr 1661 an. Er schrieb seitdem regelmäßig die lat. Gedichte zu den Programmen der Universität zu Ostern, Pfingsten u. Weihnachten, führte seit 1667 die Aufsicht über das kurfürstl. Alumnat u. war im Sommer 1670 u. im Winter 1677/78 Rektor. In der Ausübung seines Lehramts war er anscheinend nachlässig; sowohl staatl. Beamte als auch Studenten klagten darüber. R.s Gehalt war nicht hoch u. wurde überdies nur schleppend ausbezahlt: Er war also schon aus finanziellen Gründen darauf angewiesen, auch als Verfasser von Gelegenheitsgedichten die Nachfolge Dachs anzutreten u. sich dafür honorieren zu lassen. Er schrieb mehr als 700 Gedichte zu Hochzeiten u. Begräbnissen u. tat das mit Geschick, aber ohne die Originalität Dachs. Immerhin wurde er damit auch außerhalb Königsbergs bekannt u. von Sigmund von Birken am 14.9.1669 zum Dichter gekrönt. Alle diese Gedichte erschienen nur als Gelegenheitsschriften. R.s einzige dichterische Buchveröffentlichung ist eine Sammlung recht nüchterner geistl. Lieder: Teutscher Oden son-

Roelli

derbahres Buch von geistlichen Sachen (Königsb. 1672). Weiteres Werk: Dissertatio de metro poetico. Präses: J. R.; Respondent: Jakob Klein. Königsb. 1661. Ausgaben: Hermann Osterley: J. R. In: AfLg 8 (1879), S. 173–200 (Ausw. v. Hochzeitsg.en). – Simon Dach, seine Freunde u. J. R. Hg. H. Osterley. Stgt. u. a. [1883]. Nachdr. Tüb. u. a. 1974, S. 231–345 (Ausw. v. geistl. Liedern). – FischerTümpel 3, S. 130–133. – Internet-Ed. etlicher Gelegenheitsschr.en in: VD 17. – Geistl. Lieder u. Oden. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: http://www.forschungen-engi.ch/projekte/koenigsberg.htm – VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Kopenhagen 1744, Bd. 1, S. 565 f. – Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführl. [...] Historie der Königsbergischen Univ. 2. Tl., Königsb. 1746. Nachdr. Aalen 1994, S. 402 f. – E. S.: J. R. In: ADB. – PaulGerhard Schultze: J. R., ein ostpreuß. Lyriker des 17. Jh. Diss. Königsb. 1926. – Hanswerner Heincke: J. R. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 564 – Heiduk/ Neumeister, S. 89, 229, 457. – D. Lohmeier: J. R. In: BLSHL, Bd. 10 (1994), S. 312 f. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1224. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1734–1737. – Simon Dach (1605–59). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, Register. Dieter Lohmeier / Red.

Roelli, Hans, * 7.9.1889 Willisau/Kt. Luzern, † 5.6.1962 Zürich. – Lyriker, Erzähler; Liedermacher, Sänger. Der Professorensohn wuchs in Zürich auf, besuchte das Gymnasium, brannte aber nach einem Konflikt mit dem Vater vor der Matura von zu Hause durch u. lebte ab 1909 als Senn u. Bauer in Wildhaus. Dort begann er Lieder im Stil der Wandervogelbewegung zu schreiben, die er zur Gitarre öffentlich vortrug. 1920–1930 war R. Kurdirektor in Arosa, danach lebte er als freier Schriftsteller u. Lautensänger in Zürich, wo sich seit den frühen 1930er Jahren ein Förderkreis, der sog. »Roelli-Bund«, um sein Werk bemühte. Im Druck zugänglich wurden seine Lieder in Publikationen wie Am Abend (Zürich 1929), Auf der Straße (Zürich 1940) oder Hundert Roelli-Lieder (Zürich 1951). Die Faszination von R.s naiv-epigonalen Liedern, die in der Schweiz zeitweise wie Volkslieder gesungen

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wurden, ist für den Nachgeborenen nur noch schwer verständlich u. hing wohl ursächlich mit ihrer Tendenz zur Zeit- u. Weltflucht zusammen. »Wir möchten ihm wünschen, daß er sich nicht mit der Zeit auseinanderzusetzen beginnt – wozu auch? Was könnte dergleichen frommen?« fragte Emil Staiger 1959, u. Robert Faesi erklärte 1965, der Grundakkord von R.s Lyrik klinge »völlig unzeitgemäss im Massenchor der an Problematik und Pessimismus erkrankten Kunst seiner Zeitgenossen. Um so wohltätiger empfindet man solche Dichtung des Rühmens inmitten der Lamentationen«. Literatur: Carl Alfred Stüssi: H. R. Leben u. Werk. Zürich 1965 (mit vollst. Bibliogr.). Charles Linsmayer / Red.

Römbell, Manfred, * 3.12.1941 Bildstock/ Saar. – Erzähler, Lyriker. Nach dem Gymnasium ließ sich R. zum Rechtspfleger ausbilden. Er besuchte einige Monate die Saarbrücker Werkkunstschule, arbeitete als Buchhändler u. dann als Rechtspfleger im Saarland u. in Berlin. Heute lebt R. als freier Schriftsteller in Saarbrücken. Seit 1968 veröffentlicht R. Erzählungen u. Gedichte. Zunächst erprobte er die Möglichkeiten kurzer Prosa. Für seine Dialoge Gesamtdeutsche Gespräche (SR 1968) erhielt er 1969 den Kurt-Magnus-Preis der ARD. In seinen Gedichten evoziert R. Landschaften der Grenze (Vogesenflut. Saarbr. 1984. Grenzüberschreitung. Saarbr. 1995). 2007 erschien in Blieskastel eine Auswahl aus seinem lyr. Schaffen (Was blieb von allen Blicken. Hundert Gedichte). Bes. erfolgreich war R.s Roman Rotstraßenzeit (Landau 1989. Blieskastel 41997), den er in der Folge weiterschrieb u. zur »Rotstraßentrilogie« erweiterte (Rotstraßenträume. Landau 1993. Blieskastel 2003. Rotstraßenende. Blieskastel 1996). Rotstraßenzeit erzählt mit autobiogr. Hintergrund von einer Kindheit in einem saarländischen Dorf in den Jahren 1945–1956. Die Folgebände verfolgen das Schicksal der Familie bis in die frühen 1970er Jahre weiter u. berichten vom Erwachsenwerden des jungen Andreas, der mit dem Verlust der ersten Liebe u. mit Schwierigkei-

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ten der Selbstfindung zu kämpfen hat u. am Ende seinem Heimatdorf den Rücken kehrt. Stets die zeitgeschichtl. Ereignisse spiegelnd, besitzt diese kleinbürgerl. Familiengeschichte für die Alltagsgeschichte des Saarlandes dokumentar. Wert. In dem Roman Doppelleben (Merzig 2009) knüpft R. an seine Trilogie an. Der Protagonist Andreas erfährt die gesellschaftl. Umbrüche der 1970er/1980er Jahre. Erotisches Glück u. Scheitern, Fahrten nach Frankreich, die Distanz zum bürgerl. Beruf u. die Konzentration auf das Romanschreiben werden geschildert. 1986 erhielt R. den Kunstpreis der Stadt Saarbrücken, 2002 den Otto-Weil-Preis der Stadt Friedrichsthal u. 2004 das Stipendium Schloss Wiepersdorf. Weitere Werke: Kurze Prozesse. Bln. 1973 (E.). – Richtig lebendig wird es auf dem Friedhof im Herbst. Mchn. 1976 (E.en). – Brennen mit Licht. Köln 1977 (E.en). – Das nächste Fest soll noch größer werden. Dillingen 1980 (E.en). – Durchsichtig ist das Land. Rastatt 1982 (L.). – FernsehSpott: vom täglich flimmernden Wahnsinn. Ffm. 2001 (Satiren). Ausgabe: Rotstraßentrilogie. Blieskastel 2004 (Schuber). Gerhard Sauder

Roes, Michael, * 7.8.1960 Rehde/Westfalen. – Schriftsteller, Ethnologe, Filmregisseur; Hochschuldozent.

Rösch von Geroldshausen

Ethnologen der Gegenwart werden Realität u. Einbildung sowie arab. Vergangenheit u. Gegenwart enggeführt. Die Verschmelzung von ethnolog. Erkenntnisinteresse u. poet. Darstellung prägt R.’ weitere Schriften, die immer Diskurse von Geschlecht, Raum u. Zeit in den Mittelpunkt rücken. In Der Coup der Berdache (Bln. 1999) u. Haut des Südens (Bln. 2000) widmet sich R. der nordamerikan. Kultur u. zeigt anhand der Begegnung von weißen mit indian. u. afroamerikan. Protagonisten die schwierige Notwendigkeit einer »interkulturellen« Verständigung auf. Die innerafrikan. Konflikte spitzt er in seiner Zukunftsvision David Kanchelli (Bln. 2001) zu, um in den letzten Jahren mit Krieg und Tanz (Bln. 2007) u. Perversion und Glück (Bln. 2007) die fluktuierenden Grenzen von Essay, Roman u. Feldforschung zu erkunden. Ich weiß nicht mehr die Nacht (Bln. 2008) widmet sich schließlich den mythengeschichtlich unterfütterten geschlechtl. Spannungen in einer niederrhein. Kleinstadt der Gegenwart. Literatur: Aufriß. Stück. Bad Homburg v. d. H. 1990. Urauff. Koblenz 1991. – Tischsitten. Stück. Bad Homburg v. d. H. 1991. – Cham. Stück. Bln. 1993. Urauff. Köln 1993. – Lleu Llaw Gyffes. Bln. 1994 (R.). – Madschnun al-Malik. Der Narr des Königs. Ein Schelmenstück. Ffm. 1997. Urauff. Düsseldorf 1998. – Durus arabij. Arab. Lektionen. Ffm. 1997 (G.e). – Nah Inverness. Bln. 2004 (R.). – Kain. Elegie. Bln. 2004. – Weg nach Timimoun. Bln. 2006 (R.). Christoph Schmitt-Maaß

Nach dem Studium der Psychologie, Philosophie u. Germanistik hielt sich R. zu Forschungszwecken im Nahen Osten u. in den Rösch von Geroldshausen, Georg, Jörg USA auf. 1991 promovierte er sich an der Resch, auch: Georg Reütter von Gayßspitz Freien Universität Berlin mit dem Essay (?), * 29.9.1501 Lienz/Osttirol, † 13.1. Jizchak. Versuch über das Sohnesopfer (Bln. 1992). 1565 Sterzing. – Kanzleisekretär; R. lebt in Berlin. Neben dem JahresstipendiSpruchdichter. um des deutschen Literaturfonds (1990) wurden ihm ein Stipendium der Stiftung R. gehört zur österr. Seitenlinie eines fränk. Preußische Seehandlung (1995), der Bremer Rittergeschlechts. Den 1526 in Innsbruck Literaturpreis der Rudolph-Alexander- ansässigen »Herrn Hofrete Jörgen Reschen Schröder-Stiftung (1997) sowie 2006 der Ali- latteinischen Schullmaister« ernannte König ce-Salomon-Poetik-Preis verliehen. Ferdinand 1532 zum Sekretär. In den AufBekannt wurde R. mit seinem viel gelobten gabenbereich des Beamten fielen u. a. Steuer-, Erfolgsroman Rub’ Al-Khali. Leeres Viertel (Ffm. Gerichts-, Wappen- u. Archivangelegenhei1996), in dem er paradigmatisch seine mul- ten. tiperspektiv. Erzählweise vorführte. Anhand R.s geringe literar. Produktion hängt mit der fiktiven Geschichte eines Arabien-Rei- seiner Berufstätigkeit eng zusammen. Eine senden des 18. Jh. u. eines fiktionalisierten anscheinend in kgl. Auftrag angefertigte Ge-

Rösler

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nealogia der Herzöge von Meran ist verschol- harmonisiert jedoch alles Problematische len. Sein Lanndtreim der Fürstlichen Graffschafft durch eine teils humorvolle, teils recht anTyrol (Erstdr. 1557 mit 311 Versen. Zweitdr. spruchslose Ausführung. 1558 mit 1015 Versen) beschreibt in ungeWeitere Werke: Hauptsache – man lacht! Bln. lenken Knittelversen Tirols Bodenschätze u. 1935. – Liebesbrief an den eigenen Mann. Mchn. Naturprodukte, nach Amtsbezirken verteilt. 1941. Ffm./Bln. 1991 (R.). – Die Reise nach MalDie aus einer Verwaltungsperspektive gege- lorca. Bln. 1957. – Adam in Evas Garten. Heidenbenen Darstellungen u. a. des Salzsiedens, heim 1958. – Meine Schwiegersöhne u. ich. Bln. Holzkohlebrennens machen das Gedicht 1963. Ffm./Bln. 1996. – Wohin sind all die Tage. Mühlacker 1964. Mchn. 1988. – Wohin sind all die kulturhistorisch interessant. Jahre, Tage, Stunden ... Die schönsten E.en vom Thematisch verwandt ist Ain Wunschspruch Meister der heiteren Unterhaltung in einem Bd. von allerlay Weldthendlen, Werckhleüten und Ge- Mchn. 1992. werben (Innsbr. 1560), dessen Titelblatt einen Literatur: Dietz-Rüdiger Moser: J. H. R. war »Georgen Reütter von Gayßspitz« als Autor der Chronist der Wirtschaftswunderjahre. In: Lit. nennt. Dieser Name ist nach Fischnalers an- in Bayern 56 (1999), S. 30–37. Georg Patzer / Red. sprechender, aber nicht zwingender Erklärung ein Pseud. für R. In dem Wunschspruch, einer langen Kette von Trinksprüchen, wird Rössler, Carl, Karl, auch: Franz Reßner, 227 Stände- u. Berufsgruppen, vorwiegend * 25.5.1864 Wien, † 13.2.1948 London; Handwerkern, das Weinglas in die Hand geGrabstätte: ebd., Golders Green. – Dradrückt. Ausgaben: Tiroler Landreim u. Wunschspruch v. allerlei Welthändeln [...]. Hg. Conrad Fischnaler. Innsbr. 1898. – Der Tiroler Landreim (1558). Hg. u. bearb. v. Franz Kirnbauer. Wien 1964. – Der Tiroler Landreim (1558). Internet-Ed.: www.sagen.at. Literatur: Erich Egg: Die Schätze Tirols in den Fresken des Innsbrucker Landhaussaales v. C. D. Asam [...]. In: Südtirol in Wort u. Bild 12 (1968), S. 15–20. – Südtirol im dt. Gedicht. Landschaft u. Schicksal. Hg. u. eingel. v. Eugen Thurnher. Bozen 2003. – Gertrud Pfaundler-Spat: Tirol-Lexikon [...]. Innsbr. 2005, S. 489. Hartmut Kugler / Red.

Rösler, Jo Hanns, * 7.4.1899 Königstein/ Ts., † 25.9.1966 München. – Romancier, Erzähler. Aus einfachen Verhältnissen stammend, besuchte R. das Königliche Gymnasium in Dresden u. veröffentlichte bereits mit 16 Jahren ein erstes Buch. Nach dem Krieg übersiedelte er nach Feilnbach/Obb., wo er bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller lebte. R. verstand sich als populärer u. unterhaltender Erzähler. In Meine Töchter und ich (Bln. 1958. Ffm./Bln. 1996), Meine Frau und ich (Nürnb. 1953. Hameln 1995) oder Liebesbrief an die eigene Frau (Mchn. 1940. Bln. 1988) spricht er Ehe- u. Erziehungskonflikte an,

matiker u. Schauspieler.

R., Sohn eines Rechtsanwalts, ergriff einen kaufmänn. Beruf, ging jedoch Ende der 1880er Jahre zum Theater. Unter seinem Pseud. stand er als Schauspieler (hauptsächlich im Fach der Heldenväter) sowie als Regisseur in häufig wechselnden Engagements auf Provinzbühnen der österr.-ungar. Monarchie, Deutschlands u. der Schweiz – später persiflierte er das Milieu der Schmiere gekonnt in dem Stilleben Hinterm Zaun (Mchn. 1908) –, dann auch in London (St. George’s Hall), München – hier dem Kreis um Max Halbe angehörend – u. Berlin (an Wolzogens »Überbrettl«). Ab 1906 lebte er als freier Schriftsteller vorwiegend in München u. ab 1928 in Berlin. 1933 emigrierte R., der jüd. Herkunft war, nach Wien, 1939 nach England; in London gehörte er der bayerischen Emigrantengruppe um Franz Xaver Aenderl an, ohne jedoch in der fremden Umgebung heimisch zu werden. R. begann als Schriftsteller mit ernsten Dramen: Zwar war sein Trauerspiel, die bibl. Parabel Der reiche Jüngling (Lpz. 1905), in England u. d. T. Great Possessions ein Bühnenerfolg, weltweite Berühmtheit jedoch erlangte er durch seine Komödien, insbes. Die fünf Frankfurter (Bln. 1912) über den Aufstieg des Hauses Rothschild, sowie den gemeinsam

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mit dem ihm befreundeten Roda Roda verfassten Militärschwank Der Feldherrnhügel (Bln. 1911), dessen Uraufführung 1909 in Wien zu baldiger Absetzung u. Skandalen führte. Der künstlerische Bogen dieser Stücke spannt sich vom schwankhaft-harmlosen Lustspiel (Eselei. Bln./Mchn. 1918) zur ironisch-kritischen, nie jedoch bösartig-aggressiven Satire, wie dem im Spannungsfeld zwischen menschl. Schwäche u. revolutionären Vorgängen stehenden Zeitstück Der pathetische Hut (Bln./Mchn. 1920). Das mehrfach verfilmte Lustspiel Die beiden Seehunde (Bln./ Mchn. 1917) entlarvt unter Verwendung des Harun-al-Raschid-Motivs Habgier u. Strebertum im Milieu der süddt. Kleinstadt. R. war zeit seines Lebens der Typus des Bohemiens u. Kaffeehaus-»sitzers«, dessen eigentl. Lebenselement das Theater darstellte. Als »Väterchen Rössler« wurde er, der Finder zahlreicher Lustspielstoffe u. pointierter -titel sowie Libretti für Operetten, Revuen etc., selbst Gegenstand zahlreicher Anekdoten. Literatur: ÖBL (mit weiterführender Lit. bis 1985). – Rotraut Hackermüller: Einen Handkuß der Gnädigsten. Roda Roda. Wien/Mchn. 1986 (Register). – Peter-Paul Schneider: ›Beinahe eine Inventaraufnahme‹: Die Briefe Heinrich Manns an C. R. 1939–46. In: Literaturmagazin 21 (1988), S. 39 ff. – Max Kaiser: C. R. In: NDB. – LöE. – Hdb. österr. Autorinnen u. Autoren jüd. Herkunft. 18. bis 20. Jh. Red. Susanne Blumesberger u. a. Bd. 2, Mchn. 2002. Elisabeth Lebensaft

Rößlin d.Ä., Rösslin, Eucharius, * um 1470 Waldkirch (?), † 23.9.1526 Frankfurt/M. – Medizinischer Fachschriftsteller. R. betätigte sich seit den 1490er Jahren als Apotheker in Freiburg/Br. (Bürgerrecht 1502), trat nach der Jahrhundertwende als »Arzt« auf u. erlangte die medizin. Doktorwürde; spätestens seit 1506 bis zu seinem Tode lebte er hauptsächlich als Stadtarzt in Frankfurt/M., gelegentlich auch in Worms (1513). Der als »Kreutterbu8 ch«- u. Kalenderverfasser hervorgetretene Frankfurter Stadtarzt Eucharius Rösslin († 1548) ist R.s gleichnamiger Sohn.

Rößlin d.Ä.

R. schuf mit seinem an »vernünfftige gelerte [d. h. lesefähige] frawen vnd hebammen« gerichteten »büchlin« geburtshilfl. Inhalts (Der Swangern Frauwen vnd hebammen Rosegarten. Straßb.: M. Flach 1513. Faks. mit Einf. v. Huldrych M. Koelbing. Dietikon-Zürich 1976; mit Nachw. v. Ortrun Riha u. Ulrich Tröhler. Wutöschingen 1994) eine Fachschrift, die dem vor, während u. nach der Geburt an Kindern aus »dummheit« u. »farlessigkeit« ungestraft geübten »mord« wehren sollte. Ausweislich seiner lehrdichterischen »Ermanung« zeigt er sich dabei als ein literarisch eigenständiger u. gestaltlich ambitionierter Sachbuchautor. Insg. gesehen bietet jedoch sein unter Mitwirkung namhafter Bildkünstler (Erhard Schön, Konrad Merkel) u. des Straßburger Arzthumanisten Johann Adelphus Muling (Mulich) entstandenes Werk eine weitgehend kompilatorischübersetzerische Leistung, die hauptsächlich mit den Gynaecia Muscionis (6. Jh.) bekannt machte. Schwerpunkte bilden geburtshilfl. Ratschläge; die geschilderten Maßnahmen reichen von Praktiken bei Normalgeburten bis hin zum Kaiserschnitt an einer toten Frau u. zur Bekämpfung von Kindbetterkrankungen, gelten aber auch der Säuglingspflege u. der Heilung von Kinderkrankheiten. R.s Versuch der Vermittlung gelehrt-lat. Wissens an medizin. Laiinnen u. Hebammen war ein ungewöhnl. Erfolg beschieden. Der Rosengarten erlebte zahlreiche Ausgaben (u. a.: o. O. [Hagenau]: H. Gran o. J. Nachdr. mit Begleittext v. Gustav Klein. Mchn. 1910. Auch: Nachdr. o. O. u. J. [Bln.: Schering 1979]. Augsb. 1547. Nachdr., hg. v. Ingo Schindera Ffm. [Hoechst] o. J. [um 1970]) u. fand bald Aufnahme im Ehestandsarzneibuch (Erfurt o. J. [1526] u. ö.) u. im Hebammenbu8 chlin (Hg. Adam Lonicer. Ffm. 1562 u. ö.); außerdem war er in einer von Walther Hermann Ryff besorgten Ausgabe auf dem Buchmarkt präsent (Ffm. 1545 u. ö.). Die von Eucharius Rösslin (Rhodion) d.J. rührende lat. Übersetzung (De partu hominis. Ffm. 1532 u. ö.) trug maßgeblich dazu bei, dass der Rosengarten bald zu den literar. Hilfsmitteln landessprachig gebundener Geburtshelfer in mehreren europ. Ländern gehörte (u. a. niederländisch 1516 u. ö., frz. 1536 u. ö., engl.

Rötscher

1540 u. ö.). Seine (qualitativ minderwertigen) Kindslagenbilder spielten fortan in der europ. Iconographia gyniatrica eine führende Rolle. Bildübernahmen etwa in Bearbeitungen der Secreta mulierum des (Ps.-)Albertus Magnus u. manche auszügl. Textwiedergabe im gynäkologisch-pädiatr. Schrifttum unterstreichen die frühneuzeitl. Wirkmacht des wohl wichtigsten Erstlings der gedruckten gynäkolog. Aufklärungsliteratur für die »gemeine Frau«. Ausgaben: E. Rösslin: When Midwifery Became the Male Physician’s Province. The Sixteenth Century Handbook ›The Rose Garden for Pregnant Women and Midwives. Newly Englished. Übers. u. Einl. v. Wendy Arons. Jefferson/London 1994. – E. Rösslin’s ›Rosengarten‹. Erste hochdt. Übers. 1994. Mit einem Begleittext v. Gustav Klein. In: Gynaecia Mustionis. Der Hebammenkatechismus des Mustio (dt. u. lat.) & E. Rösslin’s ›Rosengarten‹. Hg. Helmut Hess. Bd. 1, Ffm. 1997, Tl. 2, S. 89–190. – E. Rösslin’s ›Rosegarden‹. First Translation into Modern English (1995). In: Gynaecia Mustionis. The Midwives’ Catechism of Mustio (engl. u. lat.) & E. Rösslin’s ›Rosegarden‹. Bd. 2, Ffm. 1998, Tl. 2, S. 93–197. Literatur: Friedrich Wilhelm Emil Roth: E. R. d.Ä. In: ZfB 13 (1896), S. 289–311 (mit Textwiedergaben). – Carl Eduard Daniels u. Ernst Willem Moes: E. R.s ›Rosengarten‹. Ebd. 16 (1899), S. 113–126. – Karl Baas: E. R.s Lebensgang. In: Archiv für Gesch. der Medizin 1 (1908), S. 429–441 (mit Abdr. v. Briefen). – Gustav Klein: Zur Bio- u. Bibliogr. R.s u. seines Rosengartens. Ebd. 3 (1910), S. 304–334. – Oswald Feis: Unbekannte Briefe v. E. Roesslin (Vater u. Sohn). In: Sudhoffs Archiv 22 (1929), S. 102–104. – K. Baas: Ergänzungen zu E. R.s Lebensgang. Ebd. 30 (1937/38), S. 317 f. – Robert Herrlinger: Gesch. der medizin. Abb. Bd. 1, Mchn. 1967, S. 155. – Heinz H. Menge: Das ›Regimen‹ Heinrich Laufenbergs. Göpp. 1976, S. 102–111. – E. R. the Younger: On Minerals and Mineral Products. Hg. u. übers. v. Johanna Schwind Belkin u. Earle Radcliffe Caley. Bln./New York 1978, S. 1–7. – Jean-Pierre Kintz: La société strasbourgeoise du milieu du XVIe siècle [...]. Paris 1984, S. 163, 166 f. – Jean Lebeau u. Jean-Marie Valentin (Hg.): L’Alsace au siècle de la Réforme (1428–1621). Nancy 1985, S. 47. – Gundolf Keil: R. In: VL. – Jette Corfitzen: Die Übers. v. ›Der swangern frawen vnd hebammen rosegarten‹ (1513) ins Dänische. In: Niederdeutsch in Skandinavien IV. Hg. Hubertus Menke u. Kurt Erich Schöndorf. Bln. 1993, S. 154–158. – Britta-Juliane Kruse: Neufund einer

702 handschriftl. Vorstufe v. E. R.s Hebammenlehrbuch ›Der schwangeren Frauen und Hebammen Rosengarten‹ u. des ›Frauenbüchleins‹ Ps.-Ortolfs. In: Sudhoffs Archiv 78 (1994), S. 220–236. – G. Keil in: LexMA. – R. Jütte in: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. 1995, S. 310. – G. Keil: Nachw. In: Gynaecia Mustonis. Hg. Helmut H. Hess. Bd. 1, Ffm. 1997, S. 255–270; Bd. 2, 1998, S. 263–278. – Jean-Pierre Kintz: E. R. In: NDBA, Lfg. 32 (1998), S. 3262. – Ders.: R. In: NDB. Joachim Telle

Rötscher, Heinrich Theodor, * 20.9.1802 Mittenwalde bei Brandenburg, † 9.4.1871 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenfriedhof. – Philosoph, Gymnasiallehrer, Theaterkritiker u. Dramaturg. R. beschäftigte sich schon in seiner Gymnasialzeit mit den griech. Dramatikern u. lernte durch den Schauspieler Lemm die Kunst des Theatralischen kennen. R. studierte in Berlin u. Leipzig Philosophie u. Klassische Philologie, promovierte in Berlin u. habilitierte sich über Aristophanes und sein Zeitalter (Bln. 1827). 1830 folgte er einem Ruf als Gymnasiallehrer u. Professor nach Bromberg/Preußen. Neben seiner Unterrichtstätigkeit arbeitete R. an den umfassenden Abhandlungen zur Philosophie der Kunst (5 Abt.en, Bln. 1837–47) u. an seinem Hauptwerk Die Kunst der dramatischen Darstellung (3 Tle., Bln 1841–46) – von Hegel angeregt. Dieses Werk machte als erstes umfassendes Lehrbuch der Schauspielkunst (die »Bibel« der Schauspieler, Seidelmann) R. so bekannt, dass er 1845 als Nachfolger des Theaterkritikers Schulz die Theaterkritik der Spener’schen Zeitung übernehmen konnte. Auf Ludwig Tiecks Anregung wurde er von Minister Eichhorn aufgefordert, eine staatlich geförderte Theaterschule für Bühnenkünstler zu konzipieren. Die Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur von 1847 enthalten R.s Pläne, die – durch die Ereignisse von 1848 bedingt – nicht verwirklicht wurden. R.s Kritiken und dramaturgische Abhandlungen (Lpz. 1859) folgen, ähnlich wie Die Kunst der dramatischen Darstellung, Hegels ästhetischer Theorie. Das Drama führt eine Idee zur theatral. Verwirklichung, die Darsteller müssen »sich an die Rolle aufgeben«. R.s

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Röttger

Analysen gelten deshalb neben den Regie- Röttger, Karl, * 23.12.1877 Lübbecke/ konzepten den schauspielerischen Techniken Westfalen, † 1.9.1942 Düsseldorf. – Lyriu. Fertigkeiten. R.s Abhandlung Theater und ker, Dramatiker, Essayist, Erzähler, Pädramatische Poesie (in: Staats-Lexikon oder Ency- dagoge. klopädie der Staatswissenschaften. Hg. Carl v. Rotteck u. Carl Theodor Welcker. Bd. 15, Al- R. arbeitete ab 1905 als Lehrer in Düsseldorf. tona 1843, S. 388–408) ragt unter den vor- 1909 zog er nach Berlin u. war bis 1911 Mitmärzl. Reformprogrammen im Staats-Lexikon herausgeber der Zeitschrift »Charon«. 1911 hervor: Das Theater erhält einen klaren Bil- bis 1914 gab er »Die Brücke«, ein Ergändungsauftrag. R. fundiert die Theaterinsti- zungsorgan zum »Charon«, heraus. 1915 tutionen staatsrechtlich u. bildungstheore- kehrte R. in den Schuldienst nach Düsseldorf tisch. Er formuliert Reformprogramme u. zurück. R.s frühe Lyrik (Wenn deine Seele einfach wird. Spielpläne, fordert Theaterschulen u. vom Groß-Lichterfelde 1909. Tage der Fülle. Groß»Cultus« garantierte Gagen u. umreißt damit Lichterfelde 1910. Lieder von Gott und Tod. zum ersten Mal die Möglichkeiten eines gesicherten Schauspielerberufes unter Aner- Groß-Lichterfelde 1912) problematisiert die kennung der Gesellschaft. R. war gleichzeitig Suche nach Gott u. die Ferne von ihm. Erst Begründer eines modernen bürgerl. Reper- die 1914 einsetzende Legendendichtung ist toiretheaters mit garantierten Arbeits- u. von Heilsgewissheit geprägt. Als ein neues Spielplänen. Das am Ende des 19. Jh. in den Evangelium erzählt sie das Erdenleben Städten entstehende bürgerl. Stadttheater Christi zur Erbauung u. Erweckung. Die gekonnte R.s Vorschläge eines subventionierten hobene, sich zum Hymnus steigernde Prosa Theaters umsetzen. Viele Aspekte dieses aber bleibt konturlos u. vermag gerade die ird. Züge Christi nicht festzuhalten (ChristusSubventionstheaters gelten bis heute. Weitere Werke: Manfred [eigentl. Verf. Byron]. legenden. Bln.-Lichterfelde 1914. Der HeilandsBrandenburg 1828. – Das Schauspielwesen. Bln. weg. Bln. 1935). Daneben verfasste R. biogra1843. – Seydelman’s Leben u. Wirken. Bln. 1845. – fisch-novellist. Skizzen von Künstlern wie Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst. In: Bach, Rembrandt, Beethoven u. anderen (Ihr Ders.: Kritiken u. dramaturg. Abh.en. Lpz. 1859, schwebt, ihr Geister neben mir. Lpz. 1937), in S. 241–249. – Shakespeare in seinen höchsten denen der Künstler als wegweisendes Gestirn Charaktergebilden [...]. Dresden 1864. – Dramaeiner sinnsuchenden Menschheit verstanden turg. u. ästhet. Abh.en. Lpz. 1864. 1867. – Dramaturg. Probleme. Dresden 1865. – Entwickelung wird (Das Buch der Gestirne. Lpz. 1933). R.s dramat. Charaktere aus Lessings, Schillers u. Goe- Romane (Das Herz in der Kelter. Lpz. 1927. Dämon und Engel im Land. Bln. 1936. Kaspar thes Werken. Hann. 1869. Literatur: Meyers Konversations-Lexikon, Hausers letzte Tage. Bln. 1933) u. seine autoBd. 13, 1890. – Robert Klein: H. T. R.s Leben u. biogr. Erzählungen (Das Unzerstörbare oder die Wirken. Bln. 1919. – Johannes Günther: Der Vollendung des Einst. Lpz. 1937) stellen in weTheaterkritiker H. T. R. Lpz. 1921. – Susanne nig plast. Stil das Ringen um religiöse LeGhirardini-Kurzweil: Das Theater in den polit. benserkenntnis u. die Entsühnung von Strömungen der Revolution [...]. Diss. Mchn. 1960. Schuld dar. – Jörg Wiesel: Zum Verhältnis v. Theater u. Staat im Als Dramatiker suchte R. theoretisch (Zum Vormärz. H. T. R. u. der Chor. In: TheaterverhältDrama und Theater der Zukunft. Lpz. 1921) wie nisse im Vormärz. Hg. Maria Porrmann u. Florian schöpferisch das religiöse Drama zu erneuVaßen. Bielef. 2002, S. 25–42. Alain Michel / Rudolf Denk ern, indem er an die Stelle der dramat. Handlung die Botschaft des Heiligen setzte. Weitere Werke: Gespaltene Seelen. Mchn. 1918 (D.). – Haß. Mchn. 1918 (D.). – Die Religion des Kindes. Mchn. 1918. – Simson. Lpz. 1921 (D.). – Der treue Johannes. Lpz. 1921 (Märchensp.). – Das Kindertheater. Ffm. 1922. – Die sechs Schwäne. Lpz. 1922 (Märchensp.). – Die hl. Elisabeth. Mchn.

Rogel

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1926 (Legendensp.). – Zwischen den Zeiten. Mchn. 1927 (E.en u. Legenden). – Das Buch der Mysterien. Bln. 1929 (L.). Ausgabe: Ausgew. Werke in zwei Bdn. Hg. Hella Röttger u. Hans Martin Elster. Emsdetten 1958. Literatur: K. R. Hg. Joseph A. Kruse. Düsseld. 1977 (mit ausführl. Biblio- u. Biogr.). – Gerda Freise: ›Es gibt eine Grenze... wenn man nicht zum Schuft werden will!‹ Wider die Relativierung der Moral – Ahnungen u. Visionen meines Vaters K. R. v. 1933 bis 1942. In: Die Dt. Schule 92 (2000), H. 1, S. 116–118. Christian Schwarz / Red.

Rogel, Hans, * 1532 Augsburg (?), † 1592 Augsburg. – Schulmeister, Dichter, Formschneider, Drucker. Als Sohn eines Augsburger Lateinschullehrers hatte R. Anteil an der vielfältigen Reichsstadtkultur. Er war dort Lehrer an der dt. Schule u. übernahm 1559 das Amt eines Stadtgerichtsweibels. Als Briefmaler (als solcher bisweilen mit seinem gleichnamigen Sohn verwechselt), Drucker u. Verleger stattete er die Publikationen seines Hauses oft selbst mit Grafiken u. Versen aus. Er verfasste zwei Schulbücher, die Reimpaardichtung Von der Zerstörung der Stat Jerusalem (Straßb. 1548 u. ö.), Meisterlieder u. andere Versdichtungen. Ausgaben: Von der Zerstörung der Stadt Jerusalem [...]. Erfurt 1602. Internet-Ed.: SUB Gött. – Flugbl. Bd. 3, Nr. 180; Bd. 7, Nr. 10, 27, 42, 94, 101, 176. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Gustav Roethe: H. R. In: ADB. – Max Radlkofer: Die künstler. u. schriftsteller. Leistungen des H. R. [...]. In: Ztschr. des histor. Vereins für Schwaben u. Neuburg 24 (1897), S. 1–23. – Albrecht Hämmerle: Die Augsburger Meilenscheibe des Formschneiders H. R. In: Archiv für Postgesch. in Bayern 3 (1927), S. 16–18. – RSM 8, S. 662–664. Wolfgang Harms / Red.

Roggenbuck, Rolf ! Chotjewitz, Peter O. Rohde, Erwin, * 9.10.1845 Hamburg, † 11.1.1898 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Klassischer Philologe. Der Sohn eines Arztes studierte in Bonn, Leipzig u. Kiel. 1872 übernahm er eine a. o.

Professur in Kiel, er wurde o. Prof. 1876 in Jena, 1878 in Tübingen, 1886 in Leipzig u. im gleichen Jahr in Heidelberg. Nietzsche, dem er über Jahrzehnte, auch in gemeinsamen Besuchen Wagners, freundschaftlich verbunden war, begegnete R. zuerst während der gemeinsamen Studienzeit bei Ritschl in Leipzig. Dort empfing er in der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie, die er 1872 in Afterphilologie, Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner (Lpz.) gegen die Angriffe Wilamowitz-Möllendorffs verteidigte, wichtige Anregungen hinsichtlich der Bedeutung des Dionysischen bei den Griechen. Bahnbrechend für die Erschließung der spätantiken griech. Literatur ist sein frühes Meisterwerk Der griechische Roman und seine Vorläufer (Lpz. 1876. 31914. Neudr. mit Vorw. v. Karl Kerényi. Darmst. 1960), in dem er in einer neuen antibiogr., gattungsgeschichtl. Literaturgeschichtskonzeption die Phänomenologie u. Entwicklung der epischen Liebesdichtung u. des utopisch-fantast. Reiseromans in subtiler Zeichnung, bewundernswertem Stil u. geistreich genauer Darstellung vor Augen führt. Größere, weit in das 20 Jh. reichende Wirkung erzielte R. jedoch mit dem religionsgeschichtl. Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (2 Bde., Freib. i. Br./ Lpz. 1890–94. Tüb. 101925. Neudr. Darmst. 1980). Von der (vielfach bestrittenen) Identität von Lebensgeist u. Totenseele, Vitalseele u. Jenseitszustand im homerischen Griechentum ausgehend, zeichnet R. in subtiler wie profunder Untersuchung die Entwicklung der Vorstellungen der Griechen von der Seele u. vom Totenreich nach, ausgehend von Homer u. vorhomerischen Spuren über Entrückungsmythen, den Kult chthon. (Toten-) Gottheiten, über die Mysterienkulte u. den Ursprung der als Vergöttlichung zu begreifenden Unsterblichkeitserfahrung der Seele im ekstat. Dionysosdienst (dem Apollo assoziiert wurde) bis zu den Totenvorstellungen in der klass. Tragödie u. Lyrik u. den Konzeptionen der vorsokrat. u. platonischen Philosophie, wo die reife Darstellungskunst R.s ihren Gipfel erreicht. Das kompendiöse Werk bleibt, obwohl von der Forschung partiell überholt, die klass. Darstellung u. ein

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Zeugnis für die neuen Impulse der Altertumswissenschaft gegen Ende des 19. Jh. Ausgaben: Kleine Schr.en. Hg. Fritz Schöll. 2 Bde., Tüb./Lpz. 1901. – Briefw. Friedrich Nietzsches mit E. R. Hg. Elisabeth Förster-Nietzsche u. F. Schöll. Bln./Lpz. 1902. – Briefw. mit Franz Overbeck. Hg. u. komm. v. Andreas Patzer. Bln. 1990. Literatur: Otto Crusius: E. R. Tüb./Lpz. 1902. – Fritz Schöll: R. In: ADB. – Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Hbg. 1946, S. 22 ff. – Otto Regenbogen: E. R.s ›Psyche‹ u. die neuere Kritik. In: FS Alfred Weber. Hg. Edgar Salin. Heidelb. 1948, S. 359–396. – Max Wegner: Altertumskunde. Freib. i. Br./Mchn. 1951, S. 266 ff. – Walter F. Otto: Theophania. Hbg. 1956. – Hubert Cancik: R. In: NDB. – James D. Tabor: Death as Life and Life as Death. Revisiting R. In: Reading Religions in the Ancient World. Hg. David E. Aune. Leiden u. a. 2007, S. 27–38. – Gerhard Kaller: R. In: Bautz. Ulfert Ricklefs / Red.

Rohde, Hedwig (Marie), verh. Oelze, * 10.4.1908 Lankwitz bei Berlin, † 3.8. 1990 Berlin. – Lyrikerin, Dramatikerin, Erzählerin, Kritikerin. R.s Vater war Architekt, mütterlicherseits stammte sie aus einer musikal. Familie. Mit fünf Jahren kam sie nach Jena, wo sie das Lyzeum besuchte u. erste Erfahrungen in einer Zeitungsredaktion machte. Danach arbeitete sie in Bremen, Hannover u. Berlin als Schauspielerin u. Dramaturgin, schließlich als Redakteurin im Berliner Büro der »Kölnischen Zeitung«. R. war in ihrem Leben dreimal verheiratet: mit dem Schauspieler u. Regisseur Gunther Nauhart († 1940), dem Komponisten u. Dirigenten Horst Günther Schnell (gefallen 1943) u. von 1951 an mit dem Maler Richard Oelze, von dem sie sich 1957 trennte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte R. zunächst in Worpswede, seit 1957 wieder in Berlin, wo sie Literaturrezensionen u. Ballettkritiken schrieb. Bereits 1936 veröffentlichte sie die Erzählung Das dunkle Herz (Bln.). Es folgten Dramen, Romane u. Lyrik. R.s Texte zeichnen sich v. a. durch strenges Formbewusstsein aus, das die tiefenpsychologisch geprägten Inhalte kanalisiert u. gestaltet.

Rohlfs

Spurensuche in der Welt zwischen Wirklichkeit u. Unbewusstem ist, beeinflusst durch das Werk C. G. Jungs, das große Thema ihrer Literatur. So kann z.B. in ihrem Lyrikband Traummaterial (Bln. 1977) das Realitätsfragment des Traums das einzelne Gedicht strukturieren. Weitere Werke: Frühling im Okt. Bln. 1941 (P.). – Drachensee. Bln. 1942 (P.). – Der entgiftete Apfel. Bremen 1947 (R.). – Orest u. der Wal. Wiesb. 1963 (R.). – Wohnungssuche. Bln. 1987 (L.). Detlef Krumme / Red.

Rohlfs, Gerhard, * 14.4.1831 Vegesack bei Bremen, † 2.6.1896 Rüngsdorf bei Godesberg. – Forschungsreisender. Der Arztsohn R. verbrachte 18 Jahre in Afrika u. zählte zu den bekanntesten Forschungsreisenden seiner Zeit. Stationen seines abenteuerl. Werdegangs waren ein abgebrochenes Medizinstudium, Soldatenjahre u. a. in der Fremdenlegion in Algerien, Reisen als Abenteurer u. »Wundarzt« in Nordafrika, bis sich R. als ernsthafter Forschungsreisender allg. Anerkennung erwarb. 1862–1879 unternahm er sechs große Forschungsreisen, die ihn durch Nordafrika, Ägypten, Abessinien u. quer durch die Sahara über den Tschadsee bis an die Guineaküste führten. R.’ Hauptinteresse galt der geograf. Erforschung; darüber hinaus war er ein ausgewiesener Kenner des Lebens in Nordafrika. Mehrfach war R. – ein scharfer Kritiker des Sklavenhandels u. Befürworter eines Eingreifens der Europäer in Nord- u. Zentralafrika – in diplomatischer Mission unterwegs, so 1885 als dt. Generalkonsul auf Sansibar. R.’ stilistisch sicherlich nicht ausgefeiltes Werk, das neun Reisebeschreibungen u. zahlreiche Aufsätze umfasst, erreichte aufgrund der spannenden u. plast. Schilderungen zu seinen Lebzeiten einen großen Leserkreis. Werke: Reise durch Marokko [...]. Bremen 1868. – Reise durch Nordafrika [...]. 2 Bde., Gotha 1868–72. – Quer durch Afrika. 2 Bde., Lpz. 1874/ 75. Gekürzte Fassung hg. v. Herbert Gussenbauer. Stgt. 1984. – Drei Monate in der Libyschen Wüste. Kassel 1875. Neudr. Bonn 1985. Zuletzt Köln 1996.

Rohr Literatur: Konrad Günther: G. R. Freib. i. Br. 1912. – Dieter Wellenkamp: G. R. In: Frühe Wege zum Herzen Afrikas. Hg. Kurt Schleucher. Darmst. 1969. – Wolfgang Genschorek: Im Alleingang durch die Wüste. Lpz. 1982. – Anne Helfensteller (Hg.): Afrika-Reise. Leben u. Werk des Afrikaforschers G. R. Bonn 1998. – Horst Gnettner (Komm.) u. Philipp Remelé (Fotos): Fotografien aus der Libyschen Wüste: eine Expedition des Afrikaforschers G. R. in den Jahren 1873/74. Bremen 2002. – Rainer-K. Langner: Das Geheimnis der großen Wüste. Auf den Spuren des Saharaforschers G. R. Ffm. 2004. – H. Gnettner: Der Bremer Afrikaforscher G. R.: vom Aussteiger zum Generalkonsul. Bremen 2005 (Biogr.). – Manfred Walz u. Jürg Arnold: Ferdinand Freilighraths Lebensabend in Cannstatt u. Stuttgart (1868–76). Tl. 5: Freiligraths Beitr. zur Aufweichung des Afrikaforschers G. R. in der Neckarsulmer Aufweichungs-Anstalt. In: Grabbe-Jb. 25 (2006), S. 185–203. – Hans Kloft: Der Bremer Afrikaforscher G. R. – Materialien zur wiss. Erschließung Nordafrikas im 19. Jh. In: Histor. Geographie der Alten Welt. Grundlagen, Erträge, Perspektiven. FS Eckart Olshausen. Hg. Ulrich Fellmeth. Hildesh. 2007, S. 227–248. – Karin Kindermann: G. R. – Vom Abenteurer zum Forschungsreisenden. In: Das Große Spiel. Archäologie u. Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940). Hg. Charlotte Trümpler. Köln 2008, S. 48 ff. Bertram Turner / Red.

Rohr, Julius Bernhard von, * 28.3.1688 Elsterwerda bei Dresden, † 18.4.1742 Leipzig. – Kameralist. Als Sohn Julius Albert von Rohrs, eines kursächs. Kammerherrn u. Erziehers des Prinzen Friedrich August (des späteren August des Starken), erfuhr R. eine Bildung, die an den Idealen der Fürstenerziehung orientiert war. 1705–1710 studierte er u. a. bei Johann Caspar Funcke, Gottlieb Gerhard Titius u. Lüder Mencke in Leipzig. Sein wohl bedeutendster Lehrer war Christian Wolff, dem er 1712 nach Halle folgte. Ein Jahr später wurde R. Beisitzer in der Merseburgischen Stifts- u. ErblandRegierung, die er 1726–1731 in der Niederlausitz als Regierungsrat vertrat. 1732 kehrte er als Landkammerrat nach Merseburg zurück. Das von ihm vorgelegte Werkverzeichnis Historische Nachricht aller von ihm bisher in Druck gegebenen Bücher [...] (Lpz. 1735) benennt 29

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Schriften. Zu Beginn seiner moralphilosoph. Arbeiten steht die Einleitung der Klugheit zu leben (Lpz. 1715). Bereits hier wird die Nähe des überzeugten Lutheraners zum Gedankengut der Frühaufklärung spürbar. Dieser geistigen Haltung blieb R. auch in seinen anderen Publikationen, die den Versuch einer systemat. Glaubens-, Vernunfts- u. Tugendlehre darstellen, verpflichtet. Mit der Einleitung zur Staats-Klugheit (Lpz. 1718) u. der Einleitung zum allgemeinen bürgerlichen Recht (Nürnb. 1731) vertrat R. Positionen, die sich später in den Theorien des aufgeklärten Absolutismus finden. In sein moralphilosoph. Werk sind auch die Einleitung zur CeremonielWissenschafft der Privat-Personen (Bln. 1728) u. die Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren (Bln. 1729) einzuordnen. Zgl. bilden diese Bände auch ein Bindeglied zu R.s Arbeiten zur Haushaltungskunst. Seine ökonom. Werke stehen in der Tradition der Hausväterliteratur. R. reicherte den ökonom. Gegenstand mit jurist. Auffassungen, naturwiss. Erkenntnissen sowie philosoph. Aspekten an. Weitere Werke: Vollst. Haußhaltungs-Recht [...]. Lpz. 1716. – Compendieuse HaußhaltungsBibliotheck [...]. Lpz. 1716. – Erkänntniß der Glaubens-Lehren. Lpz. 1725. – Anweisung zur wahren Gemüths-Ruhe. Lpz. 1732. Ausgaben: Einl. zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Bln. 1728. Nachdr. hg. u. komm. v. Gotthard Frühsorge. Weinheim 1990 (auch Lpz. 1990). – Einl. zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren. Bln. 1733. Nachdr. hg. u. komm. v. Monika Schlechte. Lpz. 1989. 1990 (auch Weinheim 1990). Literatur: Carl Günther Ludovici: Ausführl. Entwurf einer vollst. Historie der Wolffischen Philosophie. Tl. 3, Lpz. 1738. – Theodor Inama v. Sternegg: J. B. v. R. In: ADB. – Ulrich Troitzsch: Ansätze technolog. Denkens bei den Kameralisten des 17. u. 18. Jh. Bln. 1966. – Monika Schlechte: Kunst der Repräsentation, repräsentative Kunst [...]. Diss. B, Techn. Univ. Dresden 1990. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1740 f. – Helen Watanabe-O’Kelly: From ›Société de plaisir‹ to ›Schönes Neben-Werck‹. The Changing Purpose of Court Festivals. In: GLL 45 (1992), S. 216–219. – Thomas Pittrof: Aus den Antiquitaeten die Raison entdecken. Zur Neuausg. der ›Ceremoniel-Wissenschafft‹ J. B. v. R. In: Euph. 87 (1993), S. 438–445. – Wolfgang Weber: J. B. v. R.s

707 ›Ceremoniel-Wissenschafft‹ (1728/29) im Kontext der frühneuzeitl. Sozialdisziplinierung. In: Zeremoniell als höf. Ästhetik in SpätMA u. früher Neuzeit. Hg. Jörg Jochen Berns u. a. Tüb. 1995, S. 1–20. – Martin Disselkamp: Barockheroismus [...]. Tüb. 2002, Register. Monika Schlechte / Red.

Rolandslied ! Konrad, Pfaffe Rollenhagen, Rollenhagius, Gabriel, auch: Angelius Lehrberè Liga (Anagramm), * 22.3.1583 Magdeburg, † um 1619 Magdeburg. – Späthumanistischer Prosaschriftsteller, Dramatiker, Lyriker u. Emblembuchautor. R. besuchte das von seinem Vater Georg Rollenhagen geleitete altstädt. Gymnasium zu Magdeburg (bis 1602) u. wandte sich darauf zum Studium v. a. der Rechtswissenschaft zunächst nach Leipzig (1602–1604), anschließend nach Leiden (1605). Zu seinen Frühwerken gehören eine Valediktionsrede (De schola Magdeburgensi. Magdeb. 1602. 1622) sowie die äußerst publikumswirksamen Vier Bücher Wunderbarlicher biß daher unerhörter und ungleublicher Indianischer Reisen (Magdeb. 1603. 21605. 31619. Raubdr. Alt-Stettin 1614. Helmstedt 1687. Ffm./Lpz. 1717. Nachdr. der Ausg. 1605: Stgt. 1995). Im Zwielicht von Lügenmärchen u. exot. Reisebeschreibungen werden hier für einen muttersprachlich orientierten Leserkreis Zeugnisse »curioser« Welterfahrung zusammengestellt: (Pseudo-) Alexanders Brief an Aristoteles über Indien, Plinius’ d.Ä. Beschreibungen Indiens (aus der Historia Naturalis), Lukians Wahre geschichten u. die Legende von des hl. Brandans Meerfahrt (nach einer 1517 erschienenen niederdt. Vorlage). Die im Anhang gesammelten Historien, Anekdoten u. »Paradoxa« will R. aus »Argumentlein und Hausschriftlein« entnommen haben, mit denen der Vater seinen Unterricht zu würzen beliebte. Schlaglichter auf R.s Familie, auf Lebensumstände u. persönl. Beziehungen (u. a. zu Janus Gruter, Friedrich Taubmann, Daniel Heinsius) wirft eine Sammlung lat. Gedichte u. Epigramme (Iuvenilia. Magdeb. 1606. Auszüge in: Janus Gruter: Delitiae Poetarum Germanorum. Bd. 5,2, Ffm. 1612, S. 884–902.

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Elektronisch lesbar in: CAMENA). Mit dem dramat. Werk des Vaters verwandt ist R.s deutsch geschriebenes Lustspiel Amantes amentes [...] Von der Leffeley [...] nach Art der jetzigen [...] Venus Soldaten (Magdeb. 1609. 1610. 1612. 1614. Die Ausg. 1614 enthält im Anhang eine Tageweiß vom Pyramo und Thysbe nach Ovid). Es lehnt sich stofflich an die Renaissancenovelle von Euryalus und Lucretia an u. übernimmt Motive der antiken Komödie. Die burleske Handlung verläuft doppelzügig. Dem Glück des Protagonisten, kaum gestört von der missglückten Werbung eines reichen Witwers, entspricht die Verlobung des Dienerpaars, das R. in niederdt. Mundart sprechen lässt. In umgearbeiteter Form fand das Werk Eingang in das Repertoire der Wanderbühnen. Ebenfalls breiter Resonanz erfreute sich der mittlerweile zum Vikar des Magdeburger Domkapitels (seit 1613 Protonotar) ernannte Autor mit seinem Nucleus Emblematum selectissimorum (2 Bde., Arnheim 1611/13. Frz. Köln 1611/13. Niederländ. Arnheim 1615/17. Engl. Bearb. durch Georg Whiston. London 1653. Neudr. Menston 1968). R. lieferte die lat. Verse (meist Distichen) zu den Abbildungen des niederländ. Kupferstechers Crispijn van de Passe (Crispinus Passaeus). Verwendet wurde dabei der Bildvorrat älterer Emblemsammlungen (u. a. Alciato, Sambucus, Joachim Camerarius). Gegenüber den Vorgängern bemühte sich R. jedoch um die enge Verbindung von Motto u. Subscriptio sowie um eine äußerst verknappte epigrammat. Auslegung. Damit zielte er auf die Aktivierung des Lesers, wobei die Kenntnis exegetischer Traditionen vorausgesetzt war. Die Bild-Text-Kombination des emblemat. Korpus erwies sich so als offene Darbietungsform, die abseits platter Didaxe auf die geistige Erschließung einer zunächst rätselhaften Wahrheit abzielte. Weiteres Werk: Novorum Epigrammatum Libellus. Wittenb. 1619. Neuausgaben des ›Nucleus Emblematum‹: Sinn-Bilder. Ein Tugendspiegel. Bearb. u. hg. v. Carsten-Peter Warncke. Dortm. 1983. – Nachdr. der Ausg. Köln 1611. Hildesh./New York 1985. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt Bd. 5, S. 3466–3475. – Weitere Titel: Karl Theodor Gaedertz: G. R. Lpz. 1881. – W. Seelmann: R. In: ADB.

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– Wolfgang Harms: Der Fragmentcharakter emblemat. Auslegungen u. die Rolle des Lesers. G. R.s Epigramme. In: Dt. Barocklyrik. Hg. Martin Bircher u. Alois M. Haas. Bern/Mchn. 1973, S. 49–64. Auch in ders.: Kolloquialität der Lit. Kleine Schr.en. Hg. Michael Schilling. Stgt. 2006, S. 177–190. – Rolf D. Fray (Hg.): Sankt Brandan [...]. Der erste Augsburger Druck v. Anton Sorg (um 1574) u. die Brandan-Legende aus G. R.s ›Vier Bücher v. Indian. Reisen‹. Stgt. 1985. Rez. dazu v. Ulrich Seelbach. In: Daphnis 15 (1986), S. 183–188. – Lubomir Konecˇny´ : Tracking R. in Prague. In: The GermanLanguage Emblem in its European Context. Exchange and Transmission. Hg. Anthony J. Harper u. Ingrid Höpel. Glasgow 2000, S. 167–181. – Ilja Veldman u. Clara Klein: The Painter and the Poet. The Nucleus Emblematum by De Passe and Rollenhagen. In: Mundus emblematicus. Hg. K. A. E. Enenkel u. A. S. Q. Visser. Turnhout 2003, S. 267–299. – Wilhelm Kühlmann: R. In: NDB. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1738–1740. Wilhelm Kühlmann

Rollenhagen, Rollenhagius, Georg(ius), * 22.4.1542 Bernau bei Berlin, † 10.5.1609 Magdeburg. – Satiriker, Dramatiker, Philologe. Der Sohn eines Tuchmachers u. Bierbrauers erhielt seine Ausbildung auf den Gymnasien von Prenzlau (1556) u. Magdeburg (1559/60). Die folgenden Studien in Wittenberg (immatrikuliert 30.9.1560), unterbrochen durch die Übernahme eines Rektorats in Halberstadt (1563–1565), umfassten neben den humanist. Fächern auch naturwissenschaftliche u. medizin. Vorlesungen. Mit dem Magistertitel (18.2.1567) trat R. alsbald die Stelle eines Prorektors am Magdeburger Gymnasium an (25.11.1567), das er als Rektor (seit 1575) zu einer der führenden dt. Gelehrtenschulen ausbaute. R.s Werk spiegelt die Anforderungen des Lehramts. Für die Schulbühne griff er nur auf bibl. Stoffe im Horizont einer genuin protestantischen Soziallehre zurück. Zunächst erschien ein Abraham-Drama (Magdeb. 1569. Hildesh. 1603), dann eine »schöne / tröstliche Comoedia oder Spiel vom heiligen Ehestand«, Tobias (Magdeb. 1576. 1612). Der Studiengefährte Thomas Brunner hatte hierzu die Vorlage geliefert. Die »deutsche Action« Vom reichen Man / und armen Lazaro

(Magdeb. 1590. 1612. 1622. Eisleben 1591) verstand sich als Bearbeitung eines Spiels von Joachim Lonemann. Dem Stück fügte R. eine parodist. Leichpredigt Über des Reichen Mannes Begräbnis hinzu (hg. u. erl. v. A. Freybe in: Kirchl. Ztschr. 3, 1892, S. 989–1008). Der Aufführung der antiken Musterautoren galten Erläuterungen zu Terenz (Terentius. Wie des Terentii sechs Lateinische Comoedien angeordnet / und in [...] Schulen [...] gespielet worden. Magdeb. 1612). Als Lehrer u. Philologe gab R. eine lat. Teilübersetzung der Ilias (Magdeb. 1573) u. der Odyssee (Magdeb. 1610; jeweils drei Bücher) sowie eine Fibel für den Elementarunterricht heraus. Dem Lese- u. Informationsinteresse eines breiten Publikums kam R. durch die anonyme Veröffentlichung historischer Flugschriften entgegen (Der Hinckende Both [...]. o. O. 1589–91). Einen herausragenden Platz in der dt. Literaturgeschichte verschaffte R. ein mehr als 20.000 Verse umfassendes komisch-parodist. Epos in vierhebigen Reimpaaren: Froschmeuseler. Der Frösch und Meuse wunderbare Hoffhaltunge (anonym Magdeb. 1595. 1596. 1600. 1608. 1615. 1618. 1621. 1626 u. ö. Vorläufig letzter Neudr. Ffm./Lpz. 1730. Hg. Dietmar Peil. Ffm. 1989, mit Komm.). Stoffliche Anregung boten das pseudohomerische kom. Kleinepos über den Krieg der Frösche u. der Mäuse (Batrachomyomachia; etwa 300 Verse), das R. durch eine Vorlesung des Wittenberger Professors Veit Oertel von Winsheim kennengelernt hatte, sowie ein ähnl. Gedicht des ital. Humanisten Elisius Calentinus. Das Werk zeigt Einflüsse der älteren Tierdichtung, v. a. des Reineke-Fuchs-Epos. Jedoch benutzte R. die eigenständig ausgebaute »aesopische Historia« v. a. in den Büchern 1 u. 11 überwiegend als Rahmen für Episoden, Exkurse u. Exempel. Dabei legte er auch Wert auf die Präsentation aktuellen Wissens (z.B. der Astronomie, Tierkunde u. Alchemie), somit auf das Profil eines polyhistorisch bewanderten Gelehrtendichters. Eingeschachtelt in die Haupterzählung sind Fabeln u. – bes. am Kapitelende – Sprichwörter, volksläufige Märchen u. Sagen, auch Anspielungen auf die antike Literatur, die klass. Mythologie u. die Bibel. R. wollte eine »förmlich deutsche Lection«, eine »Contrafactur dieser unser

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zeit« liefern. Dieser moralistische Anspruch erstreckte sich auf das private u. häusl. Leben (bes. Buch I), die Staats- u. Herrschaftsformen des weltl. bzw. geistl. Bereichs (bes. Buch II) wie auch auf die Diplomatie u. das Kriegswesen (bes. Buch III). Zu den Widersprüchen der zeitgenöss. Wirklichkeit, die an bibl. Normen gemessen wurde, bot das Handeln der anthropomorph gestalteten Tiere mit z.T. sprechenden Namen (Bausback, der Froschkönig; Bröseldieb, der Mäusekönig) einen ironisch-krit. Kommentar, der sich satirisch auch gegen die Leitbilder eines militärischen Heroismus wandte. R. erwies sich so als Anhänger eines irenisch gestimmten Reformationshumanismus. Die weite Verbreitung u. das fortdauernde Ansehen des Werks bewirkten Neubearbeitungen u. Anleihen noch im 17. u. 18. Jh., darunter Baldes Batrachomyomachia. Weitere Werke: Alte Newe Ztg. v. der Welt Lauff. o. O. 1592. – Astrologia judiciaria. In: David Origanus: Ephemerides novae. Frankf./O. 1599. – Abecedarium magdeburgense. Magdeb. 1603. – Paedia, quo pacto scholastica iuventus [...] ad mediocrem eruditionem manuduci possit, admonitio. Magdeb. 1619. Ausgaben: Froschmeuseler. Hg. Karl Goedeke. Lpz. 1876. Neudr. Nendeln 1974. – Spiel vom reichen Mann u. armen Lazaro. 1590. Hg. Johannes Bolte. Halle 1929. – Spiel v. Tobias. Hg. ders. Halle 1930. – Alte Newe Ztg. [...]. Hg. Eli Sobel. Berkeley 1958. – Briefe: An Rantzau. In: Bernleithner 1954 (s. u.). – An Tycho Brahe. In: Tychonis Brahe Dani Opera omnia. Hg. I. L. E. Dreyer. Bde. 7 u. 8, Kopenhagen 1924/25. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt Bd. 5, S. 3476–3491. – Weitere Titel: Alfred Herdt: Quellen u. Forsch.en zu G. R.s ›Froschmeuseler‹ u. seine Einwirkung auf Jacob Baldes ›Batrachomyomachia‹. Diss. Straßb./Kehl 1909. – Johannes Bolte: Quellenstudien zu G. R. In: Sitzungsber.e der preuß. Akademie der Wiss.en, philosoph.-histor. Klasse (1929), S. 668–689. – R. Stumpfl: Thomas Brunners ›Tobias‹ (1569) u. G. R.s Bühnenbearb. (1576). In: ZfdPh 57 (1932), S. 157–177. – Ernst Bernleithner: Humanismus u. Reformation im Werk G. R.s. Diss. masch. Wien 1954. – Eli Sobel: G. R. In: PMLA 70 (1955), S. 762–780. – Alois M. Haas: G. R.s ›Froschmeuseler‹. In: Das Tier in der Dichtung. Hg. Ute Schwab. Heidelb. 1970, S. 175–199. – Roland Richter: G. R.s ›Froschmeuseler‹. Bern/ Ffm. 1975. – Joachim Telle: Zu G. R.s ›Frosch-

Rollett meuseler‹. In: WBN 3 (1976), S. 256–259. – Helmut G. Krausse: Die Circe-Episode in R.s ›Froschmeuseler‹. In: Arcadia 15 (1980), S. 242–257. – Dietmar Peil: G. R. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 561–574. – Wilhelm Kühlmann: Kombinator. Schreiben – ›Intertextualität‹ als Konzept frühneuzeitl. Erfolgsautoren (R., Moscherosch). In: Intertextualität in der frühen Neuzeit. Hg. ders. u. Wolfgang Neuber. Ffm. u. a. 1994, S. 111–139. Auch in: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 227–244. – D. Peil: Zur konfessionellen Problematik in den Schuldramen G. R.s. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1995, S. 643–653. – Ders.: Der ›Hinckende Both‹, der ›Post Both‹ u. der ›Post Reuter‹: drei gereimte Flugschr.en aus der Zeit um 1589 u. die Probleme ihrer Ed. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd./Atlanta 1997, S. 209–229. – Ders.: Die Diskussion über die beste Verfassung im ›Froschmeuseler‹ (1595) vor dem Hintergrund der zeitgenöss. polit. Theorie. In: Staatstheoret. Diskurse im Spiegel der Nationallit.en v. 1500 bis 1800. Hg. Barbara Bauer u. Wolfgang G. Müller. Wiesb. 1998, S. 337–354. – Ders.: Die Schaubühne als ›pädagogische‹ Anstalt. Anmerkungen zu G. R.s ›Tobias‹. In: Prolegomena zur Kultur- u. Literaturgesch. des Magdeburger Raumes. Hg. Gunter Schandera u. Michael Schilling in Zus. mit Dieter Schade. Magdeb. 1999, S. 107–128. – Bernhard Jahn (Hg.): Tierepik u. Tierallegorese. Studien zur Poetik u. histor. Anthropologie vormoderner Lit. Ffm. u. a. 2004. – W. Kühlmann: R. In: NDB. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007 (passim, Register!). Wilhelm Kühlmann

Rollett, Hermann, * 20.8.1819 Baden bei Wien, † 30.5.1904 Baden bei Wien. – Lyriker, Dramatiker, Kunstschriftsteller. Noch während seines Studiums trat der Sohn eines auch schriftstellerisch tätigen Arztes 1842 mit natursymbolischen Liederkränzen (Wien) hervor. Bald schloss er sich der Vormärz-Lyrik an. Seit 1845 Zensurflüchtling – seine deutsch-kath. Frühlingsboten aus Österreich erschienen in Jena (21849) –, lebte er fortan in Deutschland, ständig von Ausweisung bedroht, ab 1851 in der Schweiz. 1854 zurückgekehrt, promovierte er 1857 zum Dr. phil. in Gießen u. wurde 1876 Archivar seiner Heimatstadt.

Rombach

R.s Lyrik ist in ihrem Freiheitsoptimismus u. Formbewusstsein am Vorbild Becks u. Grüns ausgerichtet (vgl. Wanderbuch eines Wiener Poeten. Ffm. 1846); bekannt wurde seine Anthologie Republikanisches Liederbuch (Lpz. 1848); im Nachmärz geriet das polit. Moment in den Hintergrund. Als Dramatiker machte sich R. mit dem Volksstück Thomas Münzer (in: Dramatische Dichtungen. 3 Bde., Lpz. 1851) einen Namen; später wandte er sich der Kunstschriftstellerei zu (z.B. Die Goethe-Bildnisse. Wien 1883). Weitere Werke: Frische Lieder. Ulm 1848. – Erzählende Dichtungen. Lpz. 1872. – Begegnungen. Wien 1903 (Autobiogr.). Literatur: Leopold Katscher: H. R.s Leben u. Werke. Wien 1894. – Johann Kamptner: H. R. Diss. Wien 1927. – Margareta Kulda: Moritz Kolbenheyer u. H. R. In: Biblos 50 (2001), S. 297–313. – Dies.: H. R. Kindheit u. Jugend (1819–42). Baden 2001 (Katalogblätter des Rollettmuseums Baden). Arno Matschiner / Red.

Rombach, Otto, * 22.7.1904 HeilbronnBöckingen, † 19.5.1984 Bietigheim-Bissingen; Grabstätte: ebd., Friedhof St. Peter. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Verfasser von Reisebüchern. In Frankfurt/M. arbeitete der Sohn eines Kunstmalers zunächst als Magistratsbeamter u. Journalist. 1928 legte er zwei Erzählbände, eine Gedichtsammlung u. zwei zeitkrit. Schauspiele vor, darunter das von Piscator inszenierte Stück Der heilige Krieg. Seit 1930 in Berlin ansässig, konzentrierte sich R. noch einige Jahre auf die Bühne u. das Hörspiel, bevor er als Erzähler zu dauerhaftem Erfolg gelangte. Zum Durchbruch verhalf ihm der (auch zweimal für das Fernsehen eingerichtete) »Schelmenroman« Adrian der Tulpendieb (Stgt. 1936), die Geschichte vom Aufstieg u. Fall eines holländ. Torfknechts aus dem 17. Jh. im Spekulationsfieber mit den neu eingeführten Tulpenzwiebeln. Bewusst suchte R. während der NS-Herrschaft »innere Zuflucht« in der Vergangenheit. Sein Ziel war die beispielhafte Vergegenwärtigung von Gestalten, »die man zeitlos human nennen könnte«. Durch histor. Quellen der »Großen Ravensburgischen

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Handelsgesellschaft« wurde Der junge Herr Alexius (Stgt. 1940), sein wichtigstes, in mehrere Sprachen übersetztes Werk, angeregt. Der Roman verbindet den Werdegang eines begabten Kaufmanns, der aus seiner oberschwäb. Heimat in die Welt aufbricht, mit dem farbenprächtigen Panorama der frühneuzeitl. Epochenschwelle. Jenseits aller modernen Form- u. Stilentwicklungen hielt R. auch nach 1945, nach Bietigheim zurückgekehrt, am Typus des anschaulich erzählten kulturgeschichtl. Romans mit humoristischen, versöhnenden Zügen fest. Lediglich mit dem 1956 erschienenen Heimkehrerroman Tillmann und das andere Leben (Stgt.) wandte er sich einem Stoff aus der Gegenwart zu. Zahlreiche Reisen führten R. von früh an v. a. nach Frankreich u. in den Mittelmeerraum. Ebenso wie seine heimatkundl. Streifzüge fanden sie in Darstellungen im essayist. Plauderton ihren Niederschlag. U. d. T. Vorwärts, rückwärts, meine Spur (Stgt. 1974) legte R. zu seinem 70. Geburtstag Geschichten aus meinem Leben vor. Er war Gründungsmitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Weitere Werke (Ort, wenn nicht anders angegeben: Stgt.): Ewige Wanderung. Bln. 1935 (R.). – Der standhafte Geometer. 1938 (R.). – Vittorino oder die Schleier der Welt. 1947 (R.). – Der Jüngling u. die Pilgerin. 1949 (R.). – Gordian u. der Reichtum des Lebens. 1952 (R.). – Ägypt. Reise. 1957. – Anna v. Oranien. 1960 (R.). – Der gute König René. 1964 (R.). – Glückl. Land. Am Bodensee u. Neckar, zwischen Ries u. Rhein. 1976 (Reiseskizzen). – Das, was dich trägt, ruht in dir selbst. 1979. – Der goldene Meilenstein. Röm. Veduten u. Gestalten. 1984. Literatur: Wilhelm Niemeyer: Frankreich im Werk O. R.s. In: Antares 4 (1956), S. 11–18. – Bernhard Zeller: Reichtum der Gestalten u. Bilder. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1984), S. 164–166. Hans-Rüdiger Schwab / Red.

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Rompler von Löwenhalt, Rumpler v. L., auch: Wahrmund von der Tannen, Jesajas, * 18.6.1605 Dinkelsbühl, † wohl kurz nach dem 7.7.1674; letztes Lebenszeugnis: Mömpelgard (Montbéliard). – Lyriker. R. war achtes Kind eines »Handelsmanns und Lebküchners« in Dinkelsbühl. Den Adelstitel seiner Vorfahren nahm er 1642 wieder auf. Das Geschlecht stammte aus dem Österreichischen. R. besuchte die Lateinschule (wohl in Rothenburg ob der Tauber) sowie die Universitäten Altdorf (1626), Tübingen (1628; Erwerb des Magistertitels) u. Straßburg (seit 1628; Jurastudium ohne Abschluss). Schon früh beschäftigte er sich mit Sprach- u. Literaturtheorie u. verfolgte die Publikationen eines Weckherlin u. Opitz (Begegnung 1630). In engem Kontakt stand er bald mit Berneggers Schülern Johannes Freinsheim u. Johannes Heinrich Boeckler. Der mittellose R. wurde offenbar gefördert durch Mitglieder kulturfreundlicher Adelsfamilien im Straßburger Umkreis: die Grafen von Rappoltstein, v. a. aber die Prinzessinnen Anna u. Elisabeth, Töchter des Markgrafen Georg Friedrich von Baden, der seinen Hof wegen der Kriegswirren nach Straßburg, ab 1638 nach Basel verlegt hatte. Als Erzieher des Ernst Christoph von Schaffalitzky, Sohn eines in württemberg. Diensten stehenden Militärs, reiste R. nach Paris (1641), musste aber nach dem Tod des Gönners vorübergehend nach Straßburg zurückkehren, um alsbald eine neue Anstellung im Dienste der beiden Prinzen Leopold Friedrich u. Georg von Württemberg zu finden. Zwischen 1642 u. 1644 hielt sich R., zeitweise zus. mit dem berühmten Kanzler u. polit. Schriftsteller Christoph Forstner, in Frankreich auf. In Paris machte er 1643 die Bekanntschaft Zesens, der sich durch R. zur Gründung der Deutschgesinneten Genossenschaft ermuntert fühlte u. ihn 1645 mit dem Beinamen »Der Freie« in diese Sozietät aufnahm. Am badischen Hof in Basel verbrachte R. die letzten Kriegsjahre (lebhafter Briefwechsel mit Boeckler) u. kehrte nach dem Friedensschluss nach Durlach zurück. Aus unbekannten Gründen muss R. die Gunst von

Rompler von Löwenhalt

Protektoren verloren haben. Jedenfalls finden wir ihn 1662 in einer nur »aus Mitleid« verliehenen Position am Hof Herzog Georgs II. von Württemberg-Mömpelgard (Hofmeister der Gattin des Herzogs). Zus. mit Johann Frischmann versuchte R. noch, in Mömpelgard eine Akademie zu gründen, wurde auch gelegentlich zu diplomat. Diensten herangezogen. Doch zuletzt genoss er den Ruf eines dem Trunk ergebenen Sonderlings, der in seiner strengen luth. Frömmigkeit, auch in seinem offenkundigen Widerwillen gegen die Zeitzeichen der von Ehrgeiz u. Schmeichelei gekennzeichneten Fürstenwirtschaft mit den Lebensverhältnissen in Unfrieden lebte. R. gehörte zu den Protagonisten der altdt. Literaturbewegung, die humanistische u. patriot. Gesinnungen verband, dabei aber auch – trotz mancher Regionalismen – die Impulse der Opitz’schen Literaturreform aufnahm (dazu die kulturhistorisch aufschlussreiche Vorrede in R.s Reimgebüsch, 1647). Zus. mit Freinsheim, mit Andreas Hecht, gen. Lucius, u. Peter Samuel Thiederich gründete R. 1633 in Straßburg die Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen, nicht ohne Aversionen gegen den mondänen Anstrich der Fruchtbringenden Gesellschaft u. durchaus in der älteren Tradition einer selbst den Meistersang einbeziehenden stadtbürgerl. Literaturpflege. Die literar. Zielsetzungen der »Spracharbeit« verknüpften sich für R. mit einer moral. Emphase, ausgerichtet an den religiösen Bemühungen der luth. Reformorthodoxie um das »wahre Christentum« (Ideal der »Redlichkeit« u. der gewissenhaften Lebensführung). Die von R. gegen den zeitgenöss. Prudentismus u. Machiavellismus angesprochenen »gründlich-gelährten, auch rechtschaffen-weisen und frommen Männer« fanden sich im engeren regionalen Umkreis (Moscherosch, Schneuber, Schill). Allein R. ging so weit, dass er in ausgetüftelten Überlegungen zur Reform der Rechtschreibung an den »ainfältigen schlag der bürger und bawern« anknüpfen wollte u. so seine Dichtungen durch etymolog. Spekulationen, archaische u. dialektale Sonderformen sowie orthograf. Experimente auch in der äußeren Erscheinungsform moderner Weltläufigkeit entfremdete.

Romulus

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Literatur: Werkverzeichnis: Dünnhaupt, Tl. 5 R.s Gedichte resultieren aus einer zwischen Wirkungswillen, Ratlosigkeit u. Ohnmacht (1991), S. 3492–3500. – Weitere Titel: Jan-Hendrik schwankenden Erregung über die politisch- Scholte: Wahrmund v. der Tannen. In: Neoph. 21 militär. Katastrophe Deutschlands u. über (1936), S. 265–287. – Ders.: Grimmelshausens Beziehungen zur Straßburger Tannengesellsch. In: den Verfall der moral. Lebensordnung. ErDichtung u. Volkstum 37 (1936), S. 324–339. – probte luth. Kategorien der Selbstanalyse, der Anna H. Kiel: J. R. v. L. Ein Dichter des Frühbarock. Kreuzestheologie u. der säkularen Ausge- Utrecht o. J. [1940]. – Virgil Moser: Dt. Orthograsetztheit führten zu Aufrufen, die tätiges phiereform des 17. Jh. Tle. 2 u. 3. In: PBB 70 (1948), Christentum u. Bußgesinnung anmahnten. S. 467–496; 71 (1949), S. 386–465. – Karl F. Otto: Die Unmittelbarkeit der persönl. Wirklich- Die Sprachgesellsch.en des 17. Jh. Stgt. 1972, keitserfahrung durchbrach bei R. immer S. 57–59. – Walter E. Schäfer: J. R. v. L. als Satiriker wieder Stilkonventionen poetischer Eleganz. u. die Straßburger Tannengesellsch. In: Daphnis 5 R. sah in seinem Vaterland den »schwam übel (1976), S. 127–143. – Ders.: Straßburg u. die Tanvergossenen Christenbluths«. Er blickte be- nengesellsch. Ebd., S. 531–547. – Wilhelm Kühlmann: R., Hecht u. Thiederich. In: JbDSG 25 troffen u. leidend in das »Janus«-Gesicht (1981), S. 171–195. – Ders.: Moscherosch u. die seiner Epoche, die ihn zwang, eigene Ob- Sprachgesellsch.en des 17. Jh. In: Bibl. u. Wiss. 16 dachlosigkeit im nostalg. Rückblick zu ver- (1982), S. 68–84. – Ders. u. W. E. Schäfer: Frühbaarbeiten. Er durchschaute die zeitgenöss. Le- rocke Stadtkultur am Oberrhein. Bln. 1983. – Jervin benslüge einer Koinzidenz von sozialer Jones: Sprachhelden u. Sprachverderber. Bln./New Rangordnung u. tugendhafter Lebensfüh- York 1995, Nr. 55, S. 417–419. – Monika Bopp: Die rung. Er wollte belehren u. wirken zur Er- ›Tannengesellschaft‹. Studien zu einer Straßburger mahnung u. Erbauung des »lieben Mitmän- Sprachgesellsch. v. 1633 bis um 1670. Ffm. u. a. schen«. So prägten sein lyr. Werk nicht 1998. – Jean-Pierre Kintz: J. R. v. L. In: NDBA, Lfg. scharfsinniger Witz, metaphor. Imagination 32 (1998), S. 3325. – Kühlmann/Schäfer 2001 (Abdr. der o. g. Aufsätze ders.). u. der Anspruch sinnreicher gedankl. FüWilhelm Kühlmann gung. Die Grundregeln der Opitz’schen Prosodie befolgte R. recht nachlässig u. ließ in Phraseologie u. populären Sentenzen immer Romulus. – Mlat. Fabelsammlung. wieder die »vox populi« laut werden. Auch Kasualgedichte dienten ihm zur moralischen, Die Kompilation von 98 Prosafabeln, die biblisch fundierten Lebenslehre. Geistliche vermutlich im 5. Jh. in Gallien zusammenLieder u. Meditationen verstand er als auf- gestellt wurde, bildet (neben Avian) die rüttelnden Zuspruch u. sozialdidakt. Appell. Grundlage der mittelalterl. Fabeltradition. Da die engsten Freunde der Tannengesell- Benannt ist sie nach einem Romulus, der sich schaft früh verstarben, andere Gefährten sich in der Widmungsepistel als Übersetzer vorerfolgversprechenderen Zielen zuwandten, stellt. Mehr als 60 Fabeln gehen auf eine erumgab R. bald ein Gefühl der Einsamkeit: schlossene Prosafassung (4. Jh.) der Gedichte »Beforab diser zeit / da alles in dem sauß / des Phaedrus zurück (erste Hälfte 1. Jh. n. und würbel umher laufft / da frömder völcker Chr.), der Rest auf verschiedene, kaum gesitten / So wol / als auch der Krieg / das Teu- nauer zu bestimmende Sammlungen »aesotsche land zerrütten. / Da Teutsche redlich- pischer« Fabeln. keit fast gar verloschen ist [...].« Seit dem 11. Jh. war das Fabelkorpus des R. Ausgaben: Des J. R. v. L. erstes gebüsch seiner in zahlreichen, z.T. voneinander abhängigen Reim-getichte. Straßb. 1647. Nachdr., hg. v. Wil- Bearbeitungen verbreitet; R. selbst ist in helm Kühlmann u. Walter E. Schäfer. Tüb. 1988 zwölf Handschriften überliefert. Im sog. Ro(mit Komm., umfangreichem Nachw. u. einem mulus Nilantinus (11. Jh.; 5 Hss.) sind Teile Verz. der Einzeldrucke, der Hss. u. der wiss. Lit.). – daraus mit veränderten Lehrakzenten weiAnna H. Kiel: Unveröffentlichte Briefe des J. R. v. L. tertradiert worden. Der Romulus LBG (auch In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 56 »erweiterter R.«, Ende 13. Jh., 17 Hss.), be(1943), S. 232–255. nannt nach den Aufbewahrungsorten der Haupthandschriften (London, Brüssel, Göt-

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tingen), ist u. a. Quelle der mittelniederdt. Übertragung des Gerhard von Minden (Wolfenbütteler Äsop) u. des davon ausgehenden Magdeburger Äsop. Einem relativ unveränderten Text verhalf Vinzenz von Beauvais (Mitte 13. Jh.) zu großer Popularität: Er nahm 29 Fabeln in zwei seiner Enzyklopädien auf. Bei Weitem den größten Erfolg im späteren MA aber hatte die Versfassung des sog. Anonymus Neveleti, die in mehr als 105 Handschriften erhalten ist. Ausgaben: Léopold Hervieux (Hg.): Les fabulistes latins [...]. Bd. 2, Paris 1884. 21894 Neudr. Hildesh. 1970 (enthält fast alle R.-Bearb.en). – Georg Thiele (Hg.): Der lat. Äsop des R. u. die Prosa-Fassungen des Phädrus. Heidelb. 1910 (mit Komm. u. Untersuchungen). – Harry C. Schnur (Hg.): Lat. Fabeln des MA. Mchn. 1979, S. 186–215 (Münchener R.; mit Übers.). Literatur: Gotthold E. Lessing: Romulus u. Rimicius. In: Werke. Bd. 7, 1770–73. Hg. Klaus Bohnen. Ffm. 2000, S. 417–446, 1030–1051 (Komm.). – Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Mchn. 1977, S. 58–85, 86–111 (Verwendung der Fabel in Unterricht u. Predigt). – Bernhard Kosak: Die Reimpaarfabel im SpätMA. Göpp. 1977, bes. S. 338–414 (Register zur Überlieferung sämtl. ›aesopischer‹ Fabeln). – Gerd Dicke: Äsop. In: VL (Nachträge u. Korrekturen), Sp. 141–165, bes. 144–157 (Lit.). Anette Syndikus

Roquette, Otto, * 19.4.1824 Krotoschin, † 18.3.1896 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Lyriker, Versepiker, Romancier, Philologe. Seit 1845 studierte der Sohn eines Landgerichtsrats (aus Refugié-Familie) Geschichte, Philosophie u. Literatur in Berlin, Heidelberg u. Halle, wo er – gefördert von Prutz – 1851 mit einer Arbeit über die Entwicklung des Dramas promovierte. »Freisinnig«, aber ohne »eigentlich politischen Sinn« (Geiger) hatte er in Berlin die Revolution erlebt; bedeutender wurden für ihn die Freundschaft Heyses, der Verkehr im Hause Kuglers u. 1852 der Kontakt zum »Tunnel über der Spree«. Die Begeisterung der Leser für das Versepos Waldmeisters Brautfahrt (Stgt. 1851. 791907), eines der erfolgreichsten Bücher seiner Zeit, erklärte Fontane als Flucht aus der polit. Enttäuschung; freilich weckte der »Zug reiner

Roquette

jugendlicher Begeisterung« (Prutz in: Deutsches Museum, 1851) bei der liberalen Kritik auch Hoffnung auf einen neuen »Frühling« dt. Lebens. Die dürftige Handlung – Reise des Prinzen Waldmeister zu seiner Hochzeit mit Prinzess Rebenblüthe – ist eine Allegorie der Waldmeisterbowle u. erledigt, anknüpfend an die Blumenromantik eines Ernst Schulze, die entzaubernde Naturwissenschaft der Botanik durch humorvolles Naturgefühl; die eingestreuten Lieder – wie Noch sind die Tage der Rosen [...] – gingen in die studentische u. bürgerl. Gemeinschaftskultur ein. R.s weiteres Schaffen blieb im Schatten dieses Erfolgs. Das Drama Gevatter Tod (Stgt. 1873), sein anspruchsvollstes Werk, wurde als ernstes Gegenstück zu Waldmeisters Brautfahrt gleichzeitig konzipiert: Eine »Faust«-Figur als Typus des modernen Wissenschaftlers lernt entsagend den Tod als Teil des Weltprinzips Liebe anzuerkennen; die christl. Religion weicht einem ideal motivierten Lebensdienst. R.s Folgedramen – wie Sebastian (1883; um Schillers Demetriusmotiv) – belegen, nach seiner eigenen Diagnose, die Krise dieser anspruchsvollen Gattung im Zeitalter der Massenunterhaltung. Seinem Liederbuch (Stgt. 1852. 21859 u. d. T. Gedichte. 31880) wurde »abstrakte Jugendlichkeit« vorgeworfen; den historisierenden Novellen – wie Hans Haidekuckuck (Bln. 1855), einer Historie aus dem Nürnberg des Hans Sachs, oder Große und kleine Leute in Alt-Weimar (Breslau 1886) – wurde die »alte Manier« (Geiger) bescheinigt. Am gesellig-literar. Leben Dresdens nahm R., 1853–1856 Lehrer am Blochmann’schen Gymnasium, eifrig teil, wie er auch in »NeuWeimar« ein gern gesehener Gast war. Von ihm stammt das Libretto zu Liszts Oratorium Legende der heiligen Elisabeth (1866). Eine berufl. Laufbahn sicherten ihm die literarhistor. Arbeiten Leben und Dichten Johann Christian Günthers (Stgt. 1860) u. die gegen Vilmars protestantisch geprägtes Werk gerichtete Geschichte der deutschen Litteratur [...] (2 Bde., Stgt. 1862/63). Nach einer Dozentur an der Berliner Kriegsakademie 1863 war R. ab 1869 Professor am Polytechnikum in Darmstadt. Weitere Werke: Der Tag v. St. Jacob. Stgt. 1852. – Dramat. Dichtungen. 2 Bde., Stgt. 1867. – Welt u. Haus. 2 Bde., Braunschw. 1871–75 (N.n). – Re-

Roquette benkranz zu Waldmeisters silberner Hochzeit. Stgt. 1876. – Das Buchstabirbuch der Leidenschaft. 2 Bde., Bln. 1878 (R.). – Siebzig Jahre. 2 Bde., Darmst. 1894 (Autobiogr.). – Von Tag zu Tage. Dichtungen. Aus dem Nachl. hg. v. Ludwig Fulda. Stgt. 1896. Literatur: Ludwig Geiger: O. R. In: Ders.: Dichter u. Frauen. Neue Slg. Bln. 1899, S. 290–321.

714 – Friedrich Winterscheidt: Die geistesgeschichtl. Grundlagen der dt. Unterhaltungslit. der Jahre 1850–60. Diss. Erlangen 1966, S. 220–223. – Hans Ester: O. R. kam zur rechten Zeit. In: Im Schatten der Literaturgesch. Hg. Jattie Enklaar. Amsterd. 2005, S. 75–90. Walter Schmitz / Red.

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